eBooks

Systemtheorie III: Steuerungstheorie

Grundzüge einer Theorie der Steuerung komplexer Sozialsysteme

0101
2014
978-3-8385-4122-8
978-3-8252-4122-3
UTB 
Helmut Willke

Der vorliegende einführende Band in die Systemtheorie widmet sich der Klärung der Bedingungen, unter denen Systemsteuerung als möglich erscheint. Denn die systemtheoretische Steuerungstheorie ist zwar von einer grundsätzlichen Steuerungsskepsis geprägt, schließt aber Möglichkeiten der Steuerung komplexer dynamischer Systeme keineswegs aus. Die moderne Systemtheorie kann inzwischen für sich in Anspruch nehmen, eine Theorie für die Theorie und eine Theorie für die Praxis zu sein. Tatsächlich wirkt die von der soziologischen Systemtheorie getragene Revolution des systemischen Denkens seit einigen Jahren in unterschiedlichste Praxisbereiche hinein und verändert die konzeptionellen und operativen Grundlagen für das Verständnis von Systemsteuerung. Jede Steuerungstheorie sieht sich heute mit einem Trümmerhaufen gescheiterter praktischer Steuerungsvorhaben und Steuerungshoffnungen konfrontiert. Überall ist das Scheitern politischer oder ökonomischer Steuerung mit Händen zu greifen. Für Gesellschaften stellt sich die Frage, wie ihnen der Aufbau intelligenter Infrastrukturen gelingt. Für Organisationen, vor allem Unternehmen, liegt der Fokus darauf, wie sie sich eine eigenständige Wissensbasis schaffen, und wie sie das erforderliche Wissensmanagement gestalten können. Der vorliegende Band bietet Grundlagen dafür, dieses geradezu flächendeckende Steuerungsversagen besser zu verstehen, und will dazu beitragen, adäquatere Konzeptionen und Vorstellungen von Systemsteuerung zu entwickeln.

<?page no="1"?> Eine Arbeitsgemeinschaft der Verlage Böhlau Verlag · Wien · Köln · Weimar Verlag Barbara Budrich · Opladen · Toronto facultas.wuv · Wien Wilhelm Fink · Paderborn A. Francke Verlag · Tübingen Haupt Verlag · Bern Verlag Julius Klinkhardt · Bad Heilbrunn Mohr Siebeck · Tübingen Nomos Verlagsgesellschaft · Baden-Baden Ernst Reinhardt Verlag · München · Basel Ferdinand Schöningh · Paderborn Eugen Ulmer Verlag · Stuttgart UVK Verlagsgesellschaft · Konstanz, mit UVK / Lucius · München Vandenhoeck & Ruprecht · Göttingen · Bristol vdf Hochschulverlag AG an der ETH Zürich <?page no="2"?> www.claudia-wild.de: [UTB-S]__Willke__Systemtheorie_3_Steuerungstheorie__[Druck-PDF]/ 11.12.2013/ Seite 2 www.claudia-wild.de: [UTB-S]__Willke__Systemtheorie_3_Steuerungstheorie__[Druck-PDF]/ 11.12.2013/ Seite 3 Helmut Willke Systemtheorie III: Steuerungstheorie Grundzüge einer Theorie der Steuerung komplexer-Sozialsysteme 4., überarbeitete Auflage UVK Verlagsgesellschaft mbH · Konstanz mit UVK/ Lucius · München <?page no="3"?> www.claudia-wild.de: [UTB-S]__Willke__Systemtheorie_3_Steuerungstheorie__[Druck-PDF]/ 11.12.2013/ Seite 4 www.claudia-wild.de: [UTB-S]__Willke__Systemtheorie_3_Steuerungstheorie__[Druck-PDF]/ 11.12.2013/ Seite 5 Prof. Dr. Helmut Willke lehrte seit 1983 Soziologie an der Universität Bielefeld; seit 2002 hat er eine Professur für Staatstheorie und Global Governance inne. Seit 2008 ist er Professor für Global Governance an der Zeppelin Universität in Friedrichshafen mit Gastprofessuren in Washington, D. C., Genf und Wien. 1994 erhielt er den Leibniz-Preis der Deutschen Forschungsgemeinschaft. Seine Forschungsschwerpunkte sind Systemtheorie, Staatstheorie, globale Steuerungsregime, globale Netzwerke und Wissensmanagement. Er ist Autor des Grundlagenwerks zum systemischen Wissensmanagement. Er hat langjährige Erfahrung als Berater in Politik, Wissenschaft und Wirtschaft. Online-Angebote oder elektronische Ausgaben sind erhältlich unter www.utb-shop.de. Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über-<http: / / dnb.ddb.de> abrufbar. Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. 3. Auflage: © Lucius & Lucius Verlagsgesellschaft mbH, Stuttgart 2001 4. Auflage: © UVK Verlagsgesellschaft mbH, Konstanz und München 2014 Einbandgestaltung: Atelier Reichert, Stuttgart Lektorat: Marit Borcherding, Göttingen Satz und Layout: Claudia Wild, Konstanz Druck: fgb · freiburger graphische betriebe, Freiburg UVK Verlagsgesellschaft mbH Schützenstr. 24 · D-78462 Konstanz Tel.: 07531-9053-0 · Fax 07531-9053-98 www.uvk.de UTB-Band Nr. 1840 ISBN 978-3-8252-4122-3 <?page no="4"?> www.claudia-wild.de: [UTB-S]__Willke__Systemtheorie_3_Steuerungstheorie__[Druck-PDF]/ 11.12.2013/ Seite 4 www.claudia-wild.de: [UTB-S]__Willke__Systemtheorie_3_Steuerungstheorie__[Druck-PDF]/ 11.12.2013/ Seite 5 5 Inhalt 1 Einführung 7 2 Demokratie als Steuerungsmodell komplexer Gesellschaften 19 2.1 Exkurs zum Markt als Steuerungsform 33 2.2 Ideen zur Revision der Demokratie als Steuerungsmodell 38 3 Hierarchie als Steuerungsprinzip komplexer Systeme 55 3.1 Kritik der Hierarchie 66 4 Das Problem der Koordination 73 4.1 Zur Logik von Verhandlungssystemen 90 5 Macht als Steuerungsmedium 117 5.1 Machtbasierte Infrastruktur-- der Fall Politik 130 5.2 Die Schwäche der Macht 137 6 Geld als Steuerungsmedium 147 6.1 Geldbasierte Infrastruktur-- der Fall Sozialstaat 152 6.2 Zur Logik geldgesteuerter Selektionen 157 6.3 Die Armut des Geldes 172 7 Wissen als Steuerungsmedium 177 7.1 Aufklärung über Expertise und Expertensysteme 180 7.2 Wissensbasierte Infrastruktur 192 7.3 Wissensmanagement der Organisation 209 7.4 Die Ignoranz des Wissens 237 8 Über Renitenz und Risiko 241 Literatur 243 Register 255 <?page no="5"?> www.claudia-wild.de: [UTB-S]__Willke__Systemtheorie_3_Steuerungstheorie__[Druck-PDF]/ 11.12.2013/ Seite 6 www.claudia-wild.de: [UTB-S]__Willke__Systemtheorie_3_Steuerungstheorie__[Druck-PDF]/ 11.12.2013/ Seite 7 <?page no="6"?> www.claudia-wild.de: [UTB-S]__Willke__Systemtheorie_3_Steuerungstheorie__[Druck-PDF]/ 11.12.2013/ Seite 6 www.claudia-wild.de: [UTB-S]__Willke__Systemtheorie_3_Steuerungstheorie__[Druck-PDF]/ 11.12.2013/ Seite 7 7 1 Einführung Die moderne Systemtheorie kann inzwischen für sich in Anspruch nehmen, eine Theorie für die Theorie und eine Theorie für die Praxis zu sein. »Es gibt nichts Praktischeres als eine gute Theorie«, so lautet eine Einsicht aus der Managementberatung. Tatsächlich wirkt die von der soziologischen Systemtheorie getragene Revolution des systemischen Denkens seit einigen Jahren in unterschiedlichste Praxisbereiche hinein und verändert die konzeptionellen und operativen Grundlagen für die Steuerung komplexer Systeme. Allerdings geschieht dies in einem Kontext, der zumindest in zweierlei Hinsicht von einer paradoxen Steuerungsskepsis geprägt ist. Zum einen hat sich eine systemische Steuerungstheorie damit auseinanderzusetzen, dass die neuere Systemtheorie Steuerung überhaupt nur in der Form der Selbststeuerung begreiflich machen kann. Sie betont mit triftigen Gründen die Eigenlogik, Autonomie und operative Geschlossenheit komplexer Systeme und schließt daraus, dass eine direkte externe Beeinflussung oder Steuerung keinen Erfolg haben könne. Zum anderen sieht sich jede Steuerungstheorie heute mit einem Trümmerhaufen gescheiterter praktischer Steuerungsvorhaben und Steuerungshoffnungen konfrontiert. Nicht nur die Praxis sozialistischer Gesellschaftssteuerung ist tragisch und mit unvorstellbaren Kosten gescheitert; auch die Praxis westlich-demokratischer Steuerung hat in unzähligen Bereichen tiefe Spuren der Enttäuschung, Konfusion und Resignation hinterlassen. Misslungene Steuerungsstrategien werden unter den Stichworten »Staatsversagen« und »Marktversagen« abgeheftet, wenn nicht gleich unter dem Titel einer »Logik des Misslingens« (Dörner 1989), von »Blundering into disaster« (McNamara 1987) oder von »Adventures in chaos« (Macdonald 1992). Außer den widersprüchlichen Rufen nach »Deregulierung« einerseits und »Gemeinwohlorientierung« andererseits sind bis heute kaum brauchbare Alternativen zu erkennen. Diese missliche Lage rechtfertigt wohl den Versuch eines neuen Anfangs. Neu an diesem Versuch ist in erster Linie die Absicht, die hochentwickelten Beobachtungs- und Konstruktionsinstrumente der neueren Systemtheorie zu nutzen, und sie in ein resonantes Verhältnis mit praktisch relevanten Steuerungsproblemen zu bringen. In theoretischer Sicht ist das Steuerungsproblem zentral, weil es die Frage nach der Möglichkeit und der Qualität der wechselseitigen Beeinflussung komplexer Systeme stellt. Bei aller Betonung der Eigenlogik und der operativen Geschlossenheit nicht trivialer Systeme ist die moderne Systemtheorie eine System-Umwelt-Theorie. Je deutlicher sie die Eigensinnigkeit und Unwww.claudia-wild.de: <?page no="7"?> [UTB-S]__Willke__Systemtheorie_3_Steuerungstheorie__[Druck-PDF]/ 11.12.2013/ Seite 8 www.claudia-wild.de: [UTB-S]__Willke__Systemtheorie_3_Steuerungstheorie__[Druck-PDF]/ 11.12.2013/ Seite 9 8 durchdringlichkeit selbstreferenzieller Systeme herausarbeitet, »desto dringender stellt sich die Frage, wie denn unter dieser Bedingung die Umweltbeziehungen des Systems gestaltet sind« (Luhmann 1993, S. 440). Auf dem Feld der Steuerungstheorie werden in den kommenden Jahren entscheidende Auseinandersetzungen stattfinden. Mit dem Zusammenbruch des praktizierten Sozialismus haben auch theoretische Konzeptionen der zentralisierten Planung, der hierarchischen Fremdsteuerung, der direkten autoritären Beeinflussung ihre verbliebene Basis an Glaubwürdigkeit und Reputation verloren. Der u. a. von der Systemtheorie (Foerster 1985b; Willke 1979; Willke 1983, Kap. 4) immer wieder monierte Widersinn einer Trivialisierung komplexer Sozialsysteme hat sich auch durch eine immer repressivere Praxis nicht halten lassen. Dieses praktische Scheitern einer Theorie (der Gesellschaftssteuerung) wird nicht ohne Auswirkungen auf »westliche« Vorstellungen der Gesellschaftssteuerung durch Politik bleiben. Fantasien der Machbarkeit, ja Erzwingbarkeit politischer Reformen, die vor allem das sozialdemokratische und das verbliebene sozialistische Denken noch prägen, geraten weiter in die Defensive. Die von oben verordnete Beglückung der Menschen durch Sozialstaat und Wohlfahrtsgesellschaft wird noch fragwürdiger werden. All dies kann in der gegenwärtigen historischen Epoche wenig überraschen. Überraschend dagegen ist die simultane Erfahrung der westlichen Demokratien, dass auch das offizielle Gegenprogramm des »Durchwurstelns«, des »Laisser-faire«, der Deregulierung und des Pluralismus an deutliche Grenzen des Ertrages und der Erträglichkeit gestoßen ist. Selbst in den USA, dem Hort des scheinbar freien Spiels der Kräfte in Politik und Ökonomie, im Wissenschaftssystem wie im Gesundheitssystem, in den Massenmedien wie im Außenhandel (»free trade«), wird inzwischen bloßes Durchwursteln und bloße Evolution nach Marktgesetzen als suboptimal eingeschätzt- - und in wichtigen Fällen sogar als selbstschädigend. Seitdem ist es schwieriger geworden, die Frage der Entwicklungsdynamik von Gesellschaften (und anderer großer Sozialsysteme) in endlosen Wiederholungen zwischen den Eckpunkten Staat und freier Markt, staatlicher Kontrolle und marktförmiger Freiheit, Planung und Evolution, hierarchischer Autorität und Selbstorganisation hin- und herzuschieben. Das Planungsmodell ist gründlich diskreditiert; aber auch das Marktmodell kommt in Verruf, seitdem insbesondere durch die globale Finanzkrise deutlicher beobachtbar wird, dass und wie Marktversagen und die marktproduzierten Fehlleistungen modernen Gesellschaften an die Substanz gehen. Eine Steuerungstheorie, die sich aus der doppelten Negation von Plan und Markt entfaltet, sieht sich konsequenterweise auch einer doppelten Frontstellung von Planungsverfechtern und Marktadepten gegenüber. Die verführerisch einfachen Antinomien (Gegensatzpaare oder Denkformen) von Plan und <?page no="8"?> www.claudia-wild.de: [UTB-S]__Willke__Systemtheorie_3_Steuerungstheorie__[Druck-PDF]/ 11.12.2013/ Seite 8 www.claudia-wild.de: [UTB-S]__Willke__Systemtheorie_3_Steuerungstheorie__[Druck-PDF]/ 11.12.2013/ Seite 9 9 Markt, Markt und Staat, Hierarchie und Freiheit, Hierarchie und Markt etc. wehren sich gegen das Eindringen eines störenden Dritten, das die übersichtlichen Grenzlinien durcheinanderbringt. Die resultierende Konfusion schlägt in der Regel auf das Dritte zurück und verhindert die Frage, ob es nicht eine alternative Form gäbe, welche die bisherigen Alternativen übergreift. Die zentrale theorie-strategische Herausforderung an die Steuerungstheorie ist es deshalb, in einem Feld zu operieren, das gar nicht an der Erprobung zusätzlicher Alternativen interessiert ist, sondern an der Perfektionierung der bereits etablierten Konzeptionen. Nach einer paradoxen Logik des »Mehr von demselben« gilt dies gerade auch dann, wenn diese Konzeptionen für alle erkennbar Misserfolge produzieren. Die intuitive Reaktion der betroffenen und interessierten Akteure ist nicht: »Lasst uns die Konzeptionen überprüfen und eventuell verwerfen«, sondern viel eher: »Lasst uns die Konzeptionen ausbauen, denn wir haben bereits so viel in sie investiert«. Jede Steuerungstheorie muss der Übermacht der etablierten Theorien zumindest so lange trotzen, bis sie begreiflich machen kann, weshalb Steuerung für den Fall nicht trivialer Systeme eine eigenständige Problem- und Fragestellung ist. Es kommt darauf an, plausibel zu machen, dass sich eine Steuerungstheorie sozialer Systeme weder in der Begrifflichkeit der Planungstheorien, noch in den Begriffen der Theorien naturwüchsiger Evolution fassen lässt, weil Steuerung weder auf externe Eingriffe noch auf interne Dynamiken alleine reduziert werden kann. Das theoretische Kernproblem jeder Steuerungstheorie ist deshalb die Fragen nach den möglichen Formen der geordneten Verschränkung von operativer Geschlossenheit und externer Anregung. Erst nach dieser Komplizierung besteht eine Chance, die vorherrschende Verengung des Denkens auf die Form Plan/ Markt oder Hierarchie/ Selbstorganisation aufzubrechen. In praktischer Sicht ist das Steuerungsproblem brisant, weil die Kunst der Systemsteuerung sich in einem erbärmlichen Zustand befindet. Zugleich wächst die Dringlichkeit praktischer Steuerungsprobleme. Ob Primärgruppe, Organisation oder Gesellschaft, ob Abteilung, gesellschaftliches Funktionssystem oder transnationaler Kontext-- auf jeder nur denkbaren Ebene nehmen die Steuerungsprobleme zu, und die Steuerungskapazitäten können nicht Schritt halten. Regionale Krisen wie der Krieg im ehemaligen Jugoslawien, die »operation hope« in Somalia, die französische Intervention in Mali oder die Auseinandersetzungen zwischen der UN und Nordkorea zeigen auf internationaler Ebene, wie schwierig die Steuerung komplexer Verhältnisse selbst bei scheinbar eklatanter Überlegenheit der eingreifenden Akteure ist. Vergleichbares gilt auf nationaler Ebene für eine Unzahl gesellschaftlicher Problemlagen, vom Drogenproblem über die Technologiesteuerung bis zur <?page no="9"?> www.claudia-wild.de: [UTB-S]__Willke__Systemtheorie_3_Steuerungstheorie__[Druck-PDF]/ 11.12.2013/ Seite 10 www.claudia-wild.de: [UTB-S]__Willke__Systemtheorie_3_Steuerungstheorie__[Druck-PDF]/ 11.12.2013/ Seite 11 10 vielfältigen Selbstgefährdung durch Umweltzerstörung und durch einen Raubbau an natürlichen und menschlichen Ressourcen. Dass sich die Lage der Entwicklungsländer trotz vielfältiger eigener und fremder Programme in kaum einer Hinsicht verbessert und in vielen Hinsichten verschlechtert hat, halten die meisten Beobachter bereits für normal (Moyo 2010). Selbst die am meisten entwickelten Ökonomien haben trotz jahrelanger Anstrengungen keine Mittel gegen eine degradierende Massenarbeitslosigkeit finden können. Wie sollen Steuerungsfragen dieser Größenordnung gelöst werden, so könnte man allerdings fragen, wenn wir nicht einmal in der Lage sind, die scheinbar kleinen Steuerungsprobleme der familiären Stabilität, der anspruchsvollen Erziehung von Kindern, der Versorgung mit Kindergartenplätzen, der Integrität kommunaler Lebenswelten, einer zukunftsorientierten Berufsausbildung etc. auch nur einigermaßen befriedigend zu behandeln. Vielleicht am erstaunlichsten an der Situation der modernen Gesellschaften ist, dass ungeheuer viele und vielfältige Programme, Initiativen, Projekte, Modellversuche und Veränderungsvorhaben in Gang gesetzt werden, ohne dass dies eine tiefsitzende Steuerungsskepsis überwinden könnte. Akteure und Publikum, Betreiber und Betroffene erwarten oft gar nicht, dass substanzielle Verbesserungen erreicht werden. Die Verhältnisse, sie sperren sich-- ohne dass sich genauer sagen ließe, was diese Verhältnisse so undurchschaubar und unveränderbar macht. All dies nährt die Vermutung, dass nicht einzelne Steuerungsfehler Erfolge im Sinne gelingender Systemsteuerung verhindern. Vielmehr scheint unser Verständnis des Problems der Steuerung komplexer Sozialsysteme insgesamt mangelhaft zu sein. Wäre diese Vermutung richtig, dann wüssten wir, warum es so wenig nützt, an den praktizierten Steuerungskonzeptionen herumzubasteln und sie im einen oder anderen Detail zu überarbeiten. Wenn Ökonomen, Politiker, Unternehmer oder Gewerkschafter jeden Monat neue Vorschläge zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit verkünden, sich aber über Jahre hinweg die Lage nur verschlechtert, dann ist zu befürchten, dass das ganze vorherrschende Modell der Steuerung des Arbeitsmarktes nichts taugt. Wenn über Jahrzehnte hinweg die staatliche Entwicklungshilfepolitik hauptsächlich viele kleine und einige große Katastrophen produziert, dann sollte sich irgendwann die Frage stellen, ob die vorherrschende Konzeption von Entwicklungshilfe überhaupt irgendetwas mit der Realität komplexer Sozialsysteme im Kontext fremder Kulturen zu tun hat. Wie für die Theorie, so könnte es auch für die Praxis der Steuerung angesichts dieser Penetranz von Misserfolg naheliegen, sich ganz aus dem Geschäft der Steuerung zurückzuziehen und auf Nichtsteuerung zu setzen. Demgegenüber möchte ich in diesem Buch das Argument entwickeln, dass Steuerung <?page no="10"?> www.claudia-wild.de: [UTB-S]__Willke__Systemtheorie_3_Steuerungstheorie__[Druck-PDF]/ 11.12.2013/ Seite 10 www.claudia-wild.de: [UTB-S]__Willke__Systemtheorie_3_Steuerungstheorie__[Druck-PDF]/ 11.12.2013/ Seite 11 11 unabdingbar ist, weil gerade komplexe Sozialsysteme weder ihrer Eigendynamik überlassen (siehe dazu Mayntz und Nedelmann 1987), noch von außen kontrolliert werden können. Ihre Eigendynamik treibt sie zwar zur maximalen Nutzung ihrer intern angelegten Möglichkeiten, aber ohne Rücksicht auf die widrigen Folgen (»negative Externalitäten«) für ihre Umwelt. Externe Kontrolle dagegen schnürt den Möglichkeitsraum eines Systems auf denjenigen einer Trivialmaschine ein und beraubt es so seiner kreativen und innovativen Züge. Die komplementären Mängel von selbstzerstörerischer Eigendynamik und unmöglicher Kontrolle bezeichnen ziemlich genau das Dilemma, das mit Hilfe eines brauchbaren Konzepts von Steuerung zu lösen wäre. Nehmen wir als ein erstes Beispiel das Auto (siehe dazu die Parallele im Einführungskapitel meiner Systemtheorie II). Seit 100 Jahren folgt die Entwicklung des automobilen Verkehrssystems hauptsächlich seiner Eigendynamik. Die grundlegende Technologie wird kontinuierlich variiert, aber nicht substanziell verändert. So gibt es eine schier unendliche Fülle von Modellen, Varianten, Veränderungen, mehr oder weniger neuen »features« und Spielereien; aber immer noch existieren weder ein brauchbares Elektroauto noch andere überzeugende Alternativen zum Auto. Die industrielle Produktionsform des Autos hat sich kontinuierlich fortentwickelt. Seit langem ist es ein millionenfach verkaufter Massenkonsumartikel. Das Auto ist billiger, standardisierter, in seinen Komponenten verlässlicher und sicherer geworden; aber nirgendwo in der Autoindustrie scheint es einen Bedarf an grundsätzlicher Reflexion der Folgekosten des Autos zu geben. Die begleitende Infrastruktur-- Straßennetz, Verkehrsschilder, Kraftfahrzeugämter etc.-- hat sich ebenfalls evolutionär fortentwickelt, ohne Neuerungen oder Brüche. Insgesamt aber erzeugen diese (und weitere) einzelne Strömungen der eigendynamischen Entwicklung des automobilen Verkehrssystems einen Mahlstrom an negativen Externalitäten, vom Verkehrsinfarkt der Städte über die Vergiftung von Boden, Luft und Wasser bis zur Zerstörung der Ozonschicht und einer möglichen globalen Klimaveränderung-- von den jährlich mehr als einer Million Verkehrsopfern auf der Welt insgesamt ganz abgesehen (siehe den Bericht der WHO unter tttp: / / www.focus.de/ panorama/ welt/ un-mehr-als-eine-million-verkehrstote-weltweit_aid_408400.html). Das Tückische an dieser Entwicklung ist, dass für sich betrachtet jedes einzelne Moment der Eigendynamik eben gerade kontrollierbar erscheint, noch nicht ganz den Punkt erreicht zu haben scheint, an dem das System insgesamt kippt. Im Zusammenwirken seiner vielen Elemente aber bewirkt das automobile Verkehrssystem eine geradezu unglaubliche Gefährdung seiner globalen Umwelt, seiner eigenen Bestandsvoraussetzungen, seiner eigenen Nützlichkeit und Legitimität. <?page no="11"?> www.claudia-wild.de: [UTB-S]__Willke__Systemtheorie_3_Steuerungstheorie__[Druck-PDF]/ 11.12.2013/ Seite 12 www.claudia-wild.de: [UTB-S]__Willke__Systemtheorie_3_Steuerungstheorie__[Druck-PDF]/ 11.12.2013/ Seite 13 12 Wäre externe Kontrolle eine Alternative zur Eigendynamik? Auf den ersten Blick ist zu sehen, dass der Moloch Straßenverkehr zu mächtig geworden ist, um noch von außen kontrolliert zu werden. Merkliche Eingriffe in Mobilität, Verfügbarkeit, Kostenstruktur oder gar Zulässigkeit des Autoverkehrs erscheinen von vornherein als aussichtslos-- nicht nur wegen des millionenfachen Aufschreis »freier Bürger«, die sich »freie Fahrt« auf die Stirn geschrieben haben, sondern weil mit spürbaren Eingriffen tatsächlich wichtige Funktionsvoraussetzungen einer hochindustrialisierten und hochmobilen Gesellschaft gefährdet wären. Also auf Kontrolle verzichten? Auch diese Option ist inzwischen nicht mehr akzeptabel, dazu ist das Problem zu akut und drängend. Sieht man genauer hin, so zeigt sich, dass die unvereinbaren Alternativen von ungebremster Eigendynamik und externer Kontrolle sich zu einer raffinierten Scheinlösung verbunden haben. Das System des automobilen Individualverkehrs insgesamt folgt einer unbeherrschten und in hohem Maße zerstörerischen Eigendynamik. Aber es erzeugt zugleich den Schein von Kontrolle und Kontrollierbarkeit, indem einzelne Momente des Systemzusammenhanges in die Form von isolierbaren Einzelproblemen gepackt und korrigierenden (regulativen und/ oder technischen) Anforderungen unterworfen werden. Neue Regeln erzwingen die Absenkungen der zulässigen Abgaswerte; der Katalysator wird eingeführt; neue Werte für Maximalverbrauch, neue Werte für die Zusammensetzung des Treibstoffes, höhere Steuern, Vorschriften für car pools; Verkehrsberuhigung, Spielstraßen, Flexibilisierung der Arbeits- und Schulzeiten zur Entzerrung der »Rushhours«; immer neue Programme zur Verlagerung von Straßenverkehr auf die Schiene, immer neue Programme zur Erhöhung der Attraktivität der öffentlichen Verkehrssysteme, immer neue Projekte zur Verbesserung der Schnittstellen zwischen den verschiedenen Verkehrsträgersystemen; Forschungsprojekte zur Automatisierung des Straßenverkehrs, Pilotprojekte zu elektronisch gestützten Verkehrsleitsystemen- - die Liste ließe sich beliebig fortsetzen mit Anstrengungen zurKontrolle einzelner Probleme und Auswüchse des Autoverkehrssystems. So entsteht der Eindruck, dass mit einer Vielzahl kontrollierender Eingriffe das System insgesamt unter Kontrolle gehalten oder sogar »verbessert« werden könnte. Tatsächlich aber verstärkt sich der Verdacht, dass mit dieser Art von Maßnahmen und Reformen die interessierten Akteure des Systems sich selbst und dem Publikum Kontrollierbarkeit, Planbarkeit und Beherrschbarkeit einreden, während das automobile Verkehrssystem insgesamt außer Kontrolle geraten ist. Die Problematik des Autoverkehrs ist nur eines von vielen Beispielen. Auf der Ebene ganzer Gesellschaften lag das Modell wettbewerbsorientierter evolutionärer Anpassung zum Beispiel den groß angelegten Sozialexperimenten <?page no="12"?> www.claudia-wild.de: [UTB-S]__Willke__Systemtheorie_3_Steuerungstheorie__[Druck-PDF]/ 11.12.2013/ Seite 12 www.claudia-wild.de: [UTB-S]__Willke__Systemtheorie_3_Steuerungstheorie__[Druck-PDF]/ 11.12.2013/ Seite 13 13 der »Reaganomics« in den USA und des »Thatcherismus« in Großbritannien zugrunde. Aber die Anpassung des Systems unter der Führung der »Selbstheilungskräfte« des Marktes hat die tiefliegenden gesellschaftlichen Verwerfungen und Asymmetrien eher verstärkt als korrigiert und mehr neue Probleme geschaffen als alte gelöst. Das Modell externer Kontrolle hat Ende der 1980er-Jahre die Führungen der osteuropäischen sozialistischen Systeme dazu verführt, sich einer Fülle von Detailreformen zuzuwenden und darüber die Unreformierbarkeit des Gesamtsystems des praktizierten Sozialismus aus den Augen zu verlieren. Viele ähnliche Illustrationen ließen sich anführen. Aus diesem beklemmenden Dilemma von selbstzerstörerischer Eigendynamik einerseits und einer verblendeten Illusion der Kontrolle andererseits soll nun Steuerung herausführen? Das bleibt abzuwarten. Jedenfalls ist genau dies der Anspruch einer systemtheoretischen Steuerungstheorie, welche die Erfahrung ernst nimmt, dass in vielen konkreten gesellschaftlichen Problemlagen sowohl die Verklärung des Durchwurstelns als selbstkorrigierende evolutionäre Anpassung gescheitert ist, wie auch die Verkürzung des Problems externer Kontrolle auf eine Sequenz isolierter Detaileingriffe. Allerdings geht es in der Theorieentwicklung nicht in erster Linie darum, eine Lösung des konkreten Problems anzubieten. Das muss den beteiligten Akteuren und Systemen schon selbst gelingen. Theorie kann aber eine unabdingbare Voraussetzung jeder praktischen Problemlösung schaffen, indem sie das Instrumentarium für Beobachtungen, Analysen und Strategien bereitstellt. Dies ist notwendig, um verstehen zu können, welche Art und Qualität von Problem vorliegt und welche Formen der Intervention sinnvoll sein könnten. So wie es ohne eine Theorie der Sternentwicklung unmöglich ist, etwa aus radioastronomischen Beobachtungen etwas Vernünftiges herauszulesen, so wüssten wir ohne eine plausible Beschreibung des Steuerungsproblems gar nicht, worauf wir bei der Beobachtung dahindriftender Sozialsysteme achten sollten. So wie ohne eine Theorie der Psyche individuelles Verhalten inkohärent und chaotisch erscheinen muss, mit der Folge, dass eine Beeinflussung dieses Verhaltens zum Zwang oder zum Glücksspiel verkommt, so ist die Beeinflussung komplexer Sozialsysteme ohne eine brauchbare Steuerungstheorie ein Vabanque-Spiel mit hohen Einsätzen. Im Umgang mit einfach strukturierten Systemen, mit dekomponierbaren (d. h. in handhabbare Einzelteile zerlegbare) Problemlagen und mit nicht organisierter Komplexität (siehe dazu Systemtheorie II, Kap. 2.4) gewinnen wir seit langer Zeit Erfahrungen, die im Umgang mit organisierter Komplexität nicht nur unbrauchbar sind, sondern sogar irreführend. Die unterschiedlichsten Formen der Beeinflussung sozialer Systeme, von familialer oder schulischer Erziehung über Organisationsmanagement bis zu politischen Programmen, von Systemtherapie über korporative Strategien bis zu Kriegen haben einen histowww.claudia-wild.de: <?page no="13"?> [UTB-S]__Willke__Systemtheorie_3_Steuerungstheorie__[Druck-PDF]/ 11.12.2013/ Seite 14 www.claudia-wild.de: [UTB-S]__Willke__Systemtheorie_3_Steuerungstheorie__[Druck-PDF]/ 11.12.2013/ Seite 15 14 risch gewachsenen Fundus an Ideen, Konzepten und Erfahrungen über erfolgreiche und erfolglose Beeinflussung geschaffen, der heute nahezu durchgängig kontraproduktiv und widersinnig geworden ist (aufschlussreiche historische Beispiele dafür bei Neustadt und May 1986). Dies ist die eigentliche Schwierigkeit einer Steuerungstheorie heute. Vielleicht war es aber immer schon die Schwierigkeit einer Steuerungstheorie, dass der direkte und umstandslos erscheinende Weg des hierarchischen Zwangs einerseits, des kurzsichtigen Durchwursteln andererseits natürlicher und machbarer erscheinen als der komplizierte Weg einer resonanten Verschränkung (d. h.: einer wechselseitig aufeinander Rücksicht nehmenden Verknüpfung) von Eigenlogik und extern vorgegebenen Möglichkeiten und Restriktionen. Weil aber in komplexen Problemkonstellationen weder Zwang noch Durchwursteln angemessen sind, führen sie nicht selten zu tragischen Lösungen, die das Problem nur verschlimmern. Ein anschauliches Beispiel dafür bietet die antike Tragödie Antigone des Sophokles. Im Kampf um Theben töten sich die Brüder Eteokles und Polyneikes, beides Söhne des Ödipus, gegenseitig. Eteokles, der die Stadt verteidigte, wird in Ehren begraben. Aber der Angreifer Polyneikes darf auf Befehl des neuen Herrschers von Theben, Kreon, nicht begraben werden. Zwischen den beiden Schwestern Antigone und Ismene kommt es zur Auseinandersetzung, weil Antigone entgegen dem Verbot auch Polyneikes, ihren Bruder, begraben will. Ismene beugt sich dem Zwang des Kreon und versucht sich mit Hinweis auf ihre Rolle als Frau durchzuwursteln: »Wir müssen einsehn, dass wir Frauen sind, mit Männern uns zu messen nicht bestimmt. -… Ich füge mich der Obrigkeit: Maßlos zu handeln hat ja keinen Sinn.« Treffend bezeichnet Antigone dieses Durchlavieren als »Klugheit« und »Vorwand«. Aber sie selbst hat dem Zwang des Kreon nichts anderes entgegenzusetzen als einen höheren Zwang, denjenigen der Götter und des Gebots an die Schwester, den toten Bruder zu bestatten. Sie versucht nicht, auf Kreon Einfluss zu nehmen, um ihn zur Rücknahme seines Verbots zu bringen. Im Gegenteil: Offen und trotzig gesteht sie ihre Tat und verweist auf ein höheres Gesetz: « So groß schien Dein Befehl mir nicht, der sterbliche Dass er die ungeschriebnen Gottgebote, Die wandellosen, konnte übertreffen.« Hat Kreon angesichts dieser erzwungenen direkten Konfrontation eine andere Möglichkeit, als auf seinem Gesetz zu bestehen und Antigone zum Tode zu verurteilen? Wenn sie ungestraft bliebe, dann wäre seine Autorität als König untergraben. Schlimmer noch: »Wenn sie sich ungestraft das leisten darf, Bin ich kein Mann mehr, dann ist sie der Mann! « Heutige Feministinnen werden dies zu interpretieren wissen. Antigone kommt es nicht darauf an, ein Problem in einer komplexen Konstellation zu lösen. Sie sieht von den meisten Momenten der Situation <?page no="14"?> www.claudia-wild.de: [UTB-S]__Willke__Systemtheorie_3_Steuerungstheorie__[Druck-PDF]/ 11.12.2013/ Seite 14 www.claudia-wild.de: [UTB-S]__Willke__Systemtheorie_3_Steuerungstheorie__[Druck-PDF]/ 11.12.2013/ Seite 15 15 ab-- vom Fluch des Ödipus, vom Kampf um Theben, von der Position des Königs, von ihrer Liebe zu Haimon (dem Sohn Kreons), von den Folgen ihres Handelns für ihre Schwester-- und verengt ihren Blick auf die Alternative gehorchen oder nicht gehorchen, begraben oder nicht begraben. Die vielleicht spannendste Rolle in der ganzen Tragödie ist Haimon zugeschrieben. Er hat einen einzigen großen Auftritt, einen langen Dialog mit seinem Vater, in welchem er grandios beginnt, als sei er steuerungstheoretisch geschult, sich dann aber von der Unnachgiebigkeit seines Vaters zunehmend irritieren lässt, schließlich bei Vorwürfen und Drohungen und Spott Zuflucht suchen muss und damit den tragischen Verlauf der Handlung nur noch beschleunigt. Gleich zu Beginn wird er von seinem Vater mit der unlösbaren Alternative konfrontiert: »Kommst du nun, Vor mir um deine Braut zu toben oder Liebst du den Vater stets, was er auch tut? « Aber anstatt sich auf diese tödliche Alternative einzulassen, spricht er wie ein geschickter Berater. Er versichert dem Vater, dass er seiner Weisung folge- - solange sie auf den rechten Weg führe. Er lässt offen, was der wirklich rechte Weg wäre und bringt nach einer längeren Tirade Kreons über Gehorsam und Renitenz eine weitere Perspektive ins Spiel, nämlich seine Rolle als einziger, der es wagt, dem König ungeschminkt Beobachtungen über die Stimmung des Volkes mitzuteilen. Behutsam arbeitet er darauf hin, seinem Vater begreiflich zu machen, dass eine Aufhebung des Verbots nicht Schwäche wäre, sondern Weisheit, nicht Unordnung und Aufruhr nach sich zöge, sondern Bewunderung für Großmut: »Auch für den Klugen ist doch keine Schande, Statt sich zu übernehmen viel zu lernen. Du siehst am winterlich geschwollnen Strom Den Baum, der nachgibt, seine Zweige retten, Was widersteht, reißt’s mit den Wurzeln fort. Und wenn der Steuermann das Segeltau Nur immer strafft und gar nicht lockern mag, Der kentert bald und fährt kieloben weiter. Drum beuge dich und wandle deinen Sinn! Hab ich, der Jüngre, auch ein Wort, ich meine, Weitaus der höchste Rang gebührt dem Mann, Dem von Natur der Weisheit Fülle ward. Doch in der Regel fällt es anders aus, Dann ist von Klugen lernen auch ein Lob.« Haimon benutzt sogar zwei explizite Bilder kluger Steuerung- - er spricht vom Baum, der sich dem Strom nicht entgegenstemmt und vom Steuermann, der auch nachlassen und nachgeben kann, um den Wind besser zu <?page no="15"?> www.claudia-wild.de: [UTB-S]__Willke__Systemtheorie_3_Steuerungstheorie__[Druck-PDF]/ 11.12.2013/ Seite 16 www.claudia-wild.de: [UTB-S]__Willke__Systemtheorie_3_Steuerungstheorie__[Druck-PDF]/ 11.12.2013/ Seite 17 16 nutzen. Aber es ist alles vergebens. Schnell spielt sich der zwischen Vater und Sohn übliche Machtkampf ein, bei dem beide nur verlieren können. Vielleicht wollte Sophokles in Wirklichkeit doch eine Einführung in die Steuerungstheorie schreiben. Denn er begnügt sich nicht mit diesem gescheiterten Versuch. Vielmehr inszeniert er einen in seiner Komplexität eindrucksvollen Steuerungsprozess, der zwar letztlich auch scheitert, weil die Akteure die Zeitdynamik des Geschehens nicht mehr im Griff haben, der aber exemplarisch aufweist, wie Steuerung funktionieren könnte. Schlüsselfigur ist der blinde (! ) Seher Teiresias. Ihm gelingt es, Kreon den umfassenderen Kontext der Entscheidungssituation vor Augen zu führen- - die Folgen seines Beharrens auf Antigones Tod für ihn selbst, für seine Familie, für die Stadt insgesamt. Er entzieht Kreon die Sicherheit einfacher Alternativen und deutet an, dass Kreons Unerbittlichkeit die Rache der Erinnyen gegen die Stadt heraufbeschwört. Nun endlich ist Kreon erschüttert, aber erstaunlicherweise muss er dies nicht als Niederlage Teiresias gegenüber eingestehen, sondern sich selbst in einem inneren Dialog mit dem Chor. So ist sein Nachgeben nicht mehr eine Frage von Behauptung oder Aufgeben, sondern von Einsicht in eine neue Notwendigkeit. Das Problem der Steuerung, so lässt sich aus diesem Beispiel ersehen, ist die Auflösung einer paradoxen Verstrickung des zu steuernden Systems. Verstrickt ist es in irgendeine Art von Widerspruch, den es nicht auflösen kann, weil dies eine Reformulierung der Identität des Systems voraussetzen würde. Diese kann das System gerade deshalb nicht leisten, weil es sich in eine Verstrickung hineinmanövriert hat, die es selbst als Bedrohung seiner Identität sieht. Eine Auflösung lässt sich auf dem scheinbar naheliegenden Weg von externem Zwang, hierarchischer Weisung oder direkter Intervention nicht erreichen, weil all dies die defensive Strukturierung des Systems nur verstärkt: »The harder you push, the harder the system pushes back.« In diesem Bereich spielen tagtäglich unzählige Teufelskreise misslingender Steuerung zwischen Ehepartnern, Eltern und Kindern, Lehrern und Schülern, rivalisierenden Gruppen, Ethnien oder Gesellschaften. In unserem Beispiel lässt sich nicht nur Kreon in diese selbstverstärkende Spirale hineintreiben, sondern auch Antigone und ebenso Haimon. Das Grundmuster ist ein Machtkampf, in dem beide Seiten nur die Alternative Sieg/ Niederlage sehen können (»Nullsummenspiel«). Was dagegen erforderlich wäre, deutet Haimon an und vollendet Teiresias: die Anreicherung der Situationsdynamik mit weiteren Alternativen. Erst eine solche Re-Kontextualisierung (»reframing«) gibt dem verstrickten System die Möglichkeit, die ursprüngliche Alternative zu unterlaufen und damit den Teufelskreis zu unterbrechen. Entscheidend ist, dass das betroffene System selbst die weiterführenden Optionen für sich erfinden muss, um sie wirksam <?page no="16"?> www.claudia-wild.de: [UTB-S]__Willke__Systemtheorie_3_Steuerungstheorie__[Druck-PDF]/ 11.12.2013/ Seite 16 www.claudia-wild.de: [UTB-S]__Willke__Systemtheorie_3_Steuerungstheorie__[Druck-PDF]/ 11.12.2013/ Seite 17 17 in seine Operationsweise einzubauen. Bei diesem Findungsprozess kann es von außen unterstützt werden- - durch Götter, Seher oder Orakelsprüche, soweit vorhanden, oder durch Berater, Mediatoren, unparteiische Dritte oder Steuerungsexperten in profaneren Settings. In einem entwickelteren und voraussetzungsreicheren Stadium kann es Systemen auch gelingen, die eigenen internen Kapazitäten für (Selbst-)Steuerung zu schaffen. Dazu müssen sie die Rolle des Beraters oder Mediators ins Innere des Systems bringen, ohne sie sogleich der Konformität der normalisierten systemischen Operationsweise zu unterwerfen. Wie schwierig und prekär solche Prozesse etwa in der politischen Realität sind, zeigen die Anstrengungen um eine Auflösung des israelisch-palästinensischen Konflikts oder des Konflikts in und um Irak oder Afghanistan. Diese Konflikte sind Musterbeispiele für eine jahrzehntelange Verstrickung in sich selbst nährende Teufelskreise von Gewalt und Gegengewalt. In beiden Fällen gibt es wohl nur Aussicht auf Lösungen, wenn sowohl externe Mediatoren Re-Kontextualisierungen erreichen, wie auch interne Revisionen der bislang leitenden Alternativen wirksam werden können. Um mit meinem Beispiel der Antigone nicht den Eindruck zu erwecken, dass der Versuch der Steuerung normalerweise in einer Tragödie endet, möchte ich ein weiteres Beispiel skizzieren. Es ist insofern ungewöhnlich, als es in diesem Fall um eine hoch professionalisierte Organisationsform zur Vermeidung Katastrophen geht. Das Beispiel betrifft die Steuerung lose verknüpfter Teams für die Durchführung des Flugbetriebs auf einem Flugzeugträger (siehe dazu die ausführlichen Berichte von Weick/ Roberts 1993 und LaPorte/ Consolini 1991). Das Steuerungsproblem ist leicht zu sehen: »… imagine that it’s a busy day, and you shrink San Francisco Airport to only one short runway and one ramp and one gate. Make planes take off and land at the same time, at half the present time interval, rock the runway from side to side, and require that everyone who leaves in the morning returns that same day. Make sure the equipment is so close to the edge of the envelope that it’s fragil. Then turn off the radar to avoid detection, impose strict controls on radios, fuel the aricraft in place with their engines running, put an enemy in the air, and scatter live bombs and rockets around. Now wet the whole thing down with sea water and oil, and man it with 20-years-olds, half of whom have never seen an airplane close-up. Oh and by the way, try not to kill anyone.« (Rochlin et al 1987, zit. bei Weick 1993, S. 357.) Wie lässt sich ein derart katastrophenanfälliges Chaos so steuern, dass tatsächlich so gut wie keine massiven Unfälle passieren? Schon die Fragestellung selbst weicht aufschlussreich von den üblichen Annahmen der Risikoforschung und der Idee »normaler Unfälle« (Perrow 1992) ab. In der Sichtweise <?page no="17"?> www.claudia-wild.de: [UTB-S]__Willke__Systemtheorie_3_Steuerungstheorie__[Druck-PDF]/ 11.12.2013/ Seite 18 www.claudia-wild.de: [UTB-S]__Willke__Systemtheorie_3_Steuerungstheorie__[Druck-PDF]/ 11.12.2013/ Seite 19 18 dieser Konzeptionen erscheinen Unfälle schon bei milden Graden an Komplexität soziotechnischer Systeme als unvermeidlich, weil die Risikopotenziale (Schwachstellen, Fehlerwahrscheinlichkeiten) der Systemelemente sich zu einer unbeherrschbaren Riskiertheit des Systems insgesamt verknüpfen. Beispiele dafür sind Katastrophen und Beinahe-Katastrophen beim Betreiben von Atomenergieanlagen (Tschernobyl, Three-Mile-Island, Fukushima), Supertankern (Valdez) oder bei Raumflügen (Challenger). Demgegenüber ist es tatsächlich auffällig, dass selbst bei überlasteten Flughäfen oder bei Flugzeugträgern in simulierten Gefechtssituationen nahezu keine massiven Unfälle passieren. Warum? Gäbe es eine plausible Antwort auf diese Frage, dann wäre man der Theorie einer Steuerung komplexer Sozialsysteme einen großen Schritt nähergekommen. Ich werde in den folgenden Kapiteln ausführlich auf diese Frage eingehen. Zuvor aber sollten wir, wie es sich für ein Einführungsbuch gehört, festeren Boden unter die Füße bekommen und uns zunächst einigen Grundlagen der Steuerungstheorie komplexer Systeme zuwenden. Was die allgemeinen Grundlagen systemtheoretischen Denkens angeht, verweise ich auf meinen Band »Systemtheorie I«, der in die Grundprobleme der Operationsweise und der Entwicklung komplexer Sozialsysteme einführt. Der Band »Systemtheorie II: Interventionstheorie« hängt bereits sehr eng mit dem Thema Steuerung zusammen. Er behandelt die jeder Steuerung vorgeschaltete grundsätzliche Frage, wie Intervention (als Basisoperation jeder Form der Beeinflussung komplexer Systeme) zu verstehen und zu praktizieren sein könnte. Mit dem vorliegenden Band schließe ich dieses Unternehmen der Einführung in Theorie und Praxis des systemischen Denkens ab. Wie schon beim Thema Intervention steht auch beim Problem der Steuerung immer auch die Frage im Hintergrund, ob und in welcher Weise die Einsichten der modernen Systemtheorie eine aufgeklärtere Praxis der Operationsweise von Sozialsystemen anregen könnten. <?page no="18"?> www.claudia-wild.de: [UTB-S]__Willke__Systemtheorie_3_Steuerungstheorie__[Druck-PDF]/ 11.12.2013/ Seite 18 www.claudia-wild.de: [UTB-S]__Willke__Systemtheorie_3_Steuerungstheorie__[Druck-PDF]/ 11.12.2013/ Seite 19 19 2 Demokratie als Steuerungsmodell komplexer Gesellschaften Nach dem Ende des Mythos vom Sozialismus ist nicht nur der Kapitalismus als Wirtschaftsform, sondern auch Demokratie als Operationsform moderner säkularer Gesellschaften auf sich selbst zurückgeworfen. Es stellt sich die Frage, ob Demokratie als eine Form der Selbstorganisation komplexer Sozialsysteme gelten kann, welche den Anforderungen gewachsen ist, denen sich am Anfang dieses Jahrhunderts die entwickelten Gesellschaften ausgesetzt sehen. Absichtlich verwende ich hier das Konzept der Demokratie nicht als bloßes politisches Herrschaftsprinzip, sondern verallgemeinert als Idee der Selbstorganisation komplexer Sozialsysteme. Damit kommt zum Vorschein, dass die Erfindung der neuzeitlichen Demokratie durch ihre Philosophen und Vordenker wie Hobbes, Locke, Rousseau, Montesquieu, Madison und viele andere nicht allein die Frage politischer Herrschaft betraf. Sie bezog sich auch auf das umfassendere Problem der Ordnung einer Gesellschaft, die dabei war, in allen ihren Momenten-- und nicht nur in der Frage ihrer Herrschaftsstruktur-- das Wagnis der Moderne einzugehen. Auf der anderen Seite erzwingt dieser Zugang zur Steuerungstheorie die Auseinandersetzung mit der Möglichkeit, dass nun, nachdem die Moderne jedenfalls in der Ersten Welt zur Entfaltung gekommen ist, Rückfragen an die Idee der Demokratie gestellt werden müssen. Inzwischen wird denkbar, dass die Ordnung hochkomplexer Gesellschaften durch Demokratie allein nicht mehr gewährleistet ist. Natürlich ist dieses Thema etwas heikel; deshalb will ich von vornherein klarstellen, dass es mir nicht um eine Demission der Demokratie geht, sondern um die Frage ihrer Revision unter dem Gesichtspunkt ihrer Tauglichkeit als Steuerungsmodell. In ihrem Bericht von 1991 an den Club of Rome konstatieren King und Schneider (1991, S. 69): »Die Demokratie ist kein Patentrezept. Sie bekommt nicht alles in den Griff, und sie kennt ihre eigenen Grenzen nicht.« Bevor wir jedoch daran gehen, die Grenzen des Modells der Demokratie unter Steuerungsaspekten zu erörtern, empfiehlt es sich, die Stärken und die Steuerungskapazität von Demokratie näher zu betrachten. Unter dem bezeichnenden Titel »Die Intelligenz der Demokratie« hat Charles Lindblom (1965) ihre vehemente Verteidigung als Steuerungsprinzip vorgelegt. Zurecht betont er die Vorzüge dezentraler, verteilter Informationsverarbeitung und Entscheidungsfindung, einer nicht hierarchischen Kontrollstruktur, eines iterativen und diskursiven Prozesses der Meinungsbildung, eines pluralistiwww.claudia-wild.de: <?page no="19"?> [UTB-S]__Willke__Systemtheorie_3_Steuerungstheorie__[Druck-PDF]/ 11.12.2013/ Seite 20 www.claudia-wild.de: [UTB-S]__Willke__Systemtheorie_3_Steuerungstheorie__[Druck-PDF]/ 11.12.2013/ Seite 21 20 schen Spiels der Kräfte ohne »von oben« vorgegebene Zielfunktion und andere Merkmale der Demokratie, die besonders deutlich im Kontrast zur Fehleranfälligkeit autoritärer Systeme hervortreten. Er bestätigt in der Sicht der Demokratietheorie, was etwa zur selben Zeit vor allem im Ansatz des »systems dynamics«, aber auch in der Kybernetik und den frühen »cognitive sciences«, in der Hierarchietheorie oder in der Organisationstheorie verhandelt wird: eine zunehmende Skepsis gegenüber der Planbarkeit und Steuerbarkeit komplexer Systeme und der Versuch, unter den Stichworten Dezentralisierung, Enthierarchisierung, Heterarchie oder polyzentrische Struktur angemessenere Vorstellungen über die Steuerung und Selbststeuerung komplexer Systeme zu entwerfen. Aber die Euphorie über die Intelligenz der Demokratie hält nicht lange an. Bereits ein Dutzend Jahre später fragt Lindblom besorgt, ob die Demokratie noch eine Zukunft habe (Lindblom 1977, S. 344). In einer Studie, die interessanterweise ausdrücklich steuerungstheoretisch angelegt ist (ebd. S. 11), vergleicht er Tausch, Autorität und Überredung (exchange, authority, and persuation) als grundlegende Methoden sozialer Steuerung und Kontrolle. Aus einer wohlbegründeten Skepsis gegenüber der Steuerungsleistung des Marktes einerseits, aber auch autoritärer Regime andererseits, kommt er zu einer historisch vielleicht verständlichen, aus heutiger Sicht aber merkwürdigen Überschätzung der Steuerungsleistung von Überredung (preceptoral systems). Darauf will ich nicht näher eingehen (siehe aber Willke 1992, Kap. 2.3). Interessanterweise sieht Lindblom den zentralen Mangel von Demokratie als Steuerungsprinzip moderner Gesellschaften darin, dass es den marktförmigen Austausch- und Anpassungsprozessen des formal demokratischen Spiels nicht gelingt, das faktische Übergewicht organisierter Akteure, vor allem der großen Korporationen, zu korrigieren. Damit aber bricht die fundierende Idee demokratischer Steuerung-- die Nutzung dezentraler Intelligenz für das kollektive Wohl und der Schutz der verteilten Entscheider vor der Übermacht einzelner Akteure-- zusammen: »It has been a curious feature of democratic thought that it has not faced up to the private corporation as a peculiar organization in an ostensible democracy. Enormously large, rich in resources, the big corporations, we have seen, command more resources than do most government units. They can also, over a broad range, insist that government meet their demands, even if these demands run counter to those of citizens expressed through their polyarchal controls.- … And they exercise unusual veto powers. They are on all these counts disproportionately powerful, we have seen. The large private corporation fits oddly into democratic theory and vision. Indeed, it does not fit« (Lindblom 1977, S. 356). <?page no="20"?> www.claudia-wild.de: [UTB-S]__Willke__Systemtheorie_3_Steuerungstheorie__[Druck-PDF]/ 11.12.2013/ Seite 20 www.claudia-wild.de: [UTB-S]__Willke__Systemtheorie_3_Steuerungstheorie__[Druck-PDF]/ 11.12.2013/ Seite 21 21 Dieser ebenso klarsichtige wie ratlose Schluss des Lindblom’schen Buches zeigt, wie grundlegend sich inzwischen die Situation verändert hat. Obwohl die großen Korporationen auch heute keinen Deut weniger die Praxis der Idee der Demokratie bedrohen, sticht doch sowohl ihre Machtfülle ins Auge wie auch ihre Hilflosigkeit und Ohnmacht in anderen Hinsichten. Die Auflösung dieses scheinbaren Widerspruchs führt zu einem Kernproblem des gegenwärtigen Steuerungsdilemmas: Demokratische Gesellschaftssteuerung ist heute infolge der Globalisierung der großen Konzerne noch anfälliger für deren Ansprüche und Vetomachtpositionen, noch abhängiger von deren Ressourcen, Expertise und Implementierungskompetenz. Zugleich aber sind die Konzerne und Korporationen in entscheidenden Hinsichten ihrerseits abhängiger geworden von den Vorleistungen der Politik und anderer gesellschaftlicher Funktionssysteme wie Erziehung, Wissenschaft, Gesundheitssystem, Rechtssystem und sogar Familie. Ich werde auf diesen Punkt zurückkommen. Hier geht es nur darum, die Komplizierung des Steuerungsproblems durch intensivere Verflechtungen, wechselseitige Abhängigkeiten und folgenreichere Verschachtelungen zwischen den Akteuren einer Gesellschaft zu bezeichnen. Entgegen Lindblom haben wir es nicht mit einem klargeschnittenen Konflikt zwischen demokratischer Legitimität und kapitalistischer Rentabilitätslogik zu tun, sondern mit der Dynamik einer Interaktion eigenlogischer Systeme, die ihre eigenen Blindheiten noch nicht sehen und sich von ihren wechselseitigen Abhängigkeiten noch unabhängig glauben. Demokratie als politisches Steuerungsprinzip gerät in die Defensive, so eine erste nahe liegende Schlussfolgerung, sobald das politische Funktionssystem nicht mehr als klare Spitze einer hierarchischen Ordnung dieser Gesellschaft dominiert. Haben sich die anderen Funktionssysteme, vor allem Ökonomie, Finanzsystem, Wissenschaft und Massenmedien, aus dem Schatten einer übergeordneten Politik herausbewegt, und widerspricht zudem ganz grundsätzlich das Strukturprinzip der funktionalen Differenzierung jeglichem Vorrang nur eines Funktionssystems, dann konkurriert politische Demokratie mit einer Vielzahl eigenlogischer und prinzipiell gleichrangiger Steuerungsformen. Die Frage ist dann, welches Steuerungsprinzip für die Gesellschaft insgesamt gelten soll. Mit dieser Frage haben wir uns dem zentralen Paradox der Steuerung moderner Gesellschaften genähert: Als Steuerungsmodell der Gesellschaft insgesamt ist »politische« Demokratie ausgeschlossen, will man nicht gegen die Logik funktionaler Differenzierung, also gegen die Logik der Modernität selbst, einen Primat der Politik gegenüber allen anderen Funktionssystemen der Gesellschaft erzwingen. Zugleich ist aber jede »undemokratische« Form der Gesellschaftssteuerung ausgeschlossen, will man nicht entgegen der <?page no="21"?> www.claudia-wild.de: [UTB-S]__Willke__Systemtheorie_3_Steuerungstheorie__[Druck-PDF]/ 11.12.2013/ Seite 22 www.claudia-wild.de: [UTB-S]__Willke__Systemtheorie_3_Steuerungstheorie__[Druck-PDF]/ 11.12.2013/ Seite 23 22 Logik der Moderne hinter die Errungenschaften der Menschenrechte und, darauf beruhend, die Errungenschaft der Nutzung individueller Varietät, Vielfalt und Interessiertheit zurückfallen. So bleibt als Entfaltung der Paradoxie wohl nur eine Revision der Idee der Demokratie als gesellschaftliches Steuerungsmodell. Diesem Vorhaben einer Revision des Modells der Gesellschaftssteuerung kommen inzwischen mehrere Denkbewegungen entgegen. Zum einen hat die Debatte über Unregierbarkeit herausgestellt, dass demokratische Politik allein nicht vor gesellschaftlichen Fehlentwicklungen bis hin zu Steuerungskatastrophen schützt. Herkömmliche demokratische Willensbildung und Entscheidungsfindung ist kurzfristig orientiert und vernachlässigt systematisch mittel- und langfristige Selbstgefährdungen von Gesellschaften: »Regierungen bevorzugen Lösungen, die kurzfristigen politischen Nutzen bringen, und vernachlässigen systematisch die langfristige Perspektive.-… Regieren verkommt zur regelmäßig wiederkehrenden Krisenbewältigung, zum Taumeln von einem Notfall in den anderen- - Finanzen, Soziales, Zahlungsbilanz, Arbeitslosigkeit, Inflation und dergleichen« (King und Schneider 1991, S. 104). Zum anderen belegt eine inzwischen weitverzweigte Debatte um den Übergang von government zu governance, dass eine brauchbare Form politischer Steuerung gerade in undurchsichtigen und schwierigen Problemfeldern nur noch durch die Einbeziehung zivilgesellschaftlicher Akteure und Organisationen realisierbar erscheint (Chhotray and Stoker 2010; Willke and Willke 2012). Schon vor der Diskussion um Unregierbarkeit hat Amitai Etzioni mit seinem bahnbrechenden Buch über »Die aktive Gesellschaft« (1971) Fundamente einer Steuerungstheorie komplexer Gesellschaften gelegt, die merkwürdigerweise bislang eher ignoriert als genutzt worden sind. Selbst Lindblom erwähnt diese Arbeit nicht ein einziges Mal, obwohl es ihm doch auch um die Frage grundlegender Formen sozialer Steuerung und Kontrolle geht. Der Grund dafür könnte sein, dass Etzioni ernsthaft eine Theorie der Steuerung anzielt (1971, Kap. 4), was nicht nur in einem amerikanischen Kontext gern als spekulativ abgewehrt wird. Jedenfalls ist bemerkenswert, dass die empirisch orientierten Überlegungen, aus denen Lindblom die Idee präzeptoraler Steuerung entwickelt, in allen drei behandelten Fällen (China, Kuba, Jugoslawien) dramatisch von der historischen Entwicklung widerlegt worden sind. Ebenso dramatisch hat sich auf der anderen Seite Etzionis Beschreibung entwickelter sozialistischer Gesellschaften bestätigt, die er als übersteuerte (»overmanaged«) Systeme charakterisiert, die den Bedürfnissen ihrer Mitglieder und Teilsysteme unempfänglich gegenüberstehen. Betrachten wir deswww.claudia-wild.de: <?page no="22"?> [UTB-S]__Willke__Systemtheorie_3_Steuerungstheorie__[Druck-PDF]/ 11.12.2013/ Seite 22 www.claudia-wild.de: [UTB-S]__Willke__Systemtheorie_3_Steuerungstheorie__[Druck-PDF]/ 11.12.2013/ Seite 23 23 halb die Grundzüge von Etzionis Idee der aktiven Gesellschaft etwas genauer (siehe dazu auch Willke 1992, Kap. 2.2). Idealerweise sucht Etzionis Steuerungstheorie die Bedingungen der Möglichkeit aktiver Gestaltung sozialer Realität primär in der Form der Gesellschaft und reduziert sie nicht auf die Rolle der Politik. Dies liegt einem amerikanischen Gesellschaftstheoretiker sicherlich näher als einem europäischen. In Kontinentaleuropa durchzieht die Staatszentriertheit der Gesellschaftstheorie seit Machiavelli über Hegel bis zu Max Weber ungebrochen bis heute die Debatte. Dadurch kommt der Politik geradezu zwangsläufig eine herausgehobene Rolle in der Prägung der Form der Gesellschaft zu. Es ist in dieser Tradition sehr schwer, überhaupt wahrzunehmen, dass die Gesellschaft insgesamt inzwischen vielleicht ihre eigenen Formvorstellungen entwickelt und realisiert hat. In der anglo-amerikanischen Tradition dagegen ist der Staat als Gegenstand gesellschaftstheoretischer Analyse nahezu verlorengegangen und muss erst mühsam wiederentdeckt werden (Evans 1985). Allerdings war die amerikanische Gesellschaftstheorie dadurch vor einer Überschätzung der Rolle der Politik bewahrt; es fiel ihr leichter, die Beiträge der anderen gesellschaftlichen Funktionssysteme in der Formung der Gesellschaft als ganzer wahrzunehmen. Eine beide Traditionen umschließende und aufhebende Position ist im Kontext einer systemtheoretischen Gesellschaftstheorie naheliegend, weil einerseits die Gesellschaft als das umfassende Sozialsystem verstanden wird, dem das politische System als differenziertes und spezialisiertes Funktionssystem angehört; weil sie andererseits das eigentliche Steuerungsproblem in der Organisation der Relationen zwischen unverzichtbaren, machtvollen, eigensinnigen, zugleich autonomen und interdependenten Akteuren und Funktionssystemen sieht. Etzioni stützt in seinen theoretischen Überlegungen diese aufhebende Position, indem er die Steuerungsfunktion des Staates für eine notwendige, aber nicht hinreichende Bedingung der Möglichkeit einer aktiven Gesellschaft begreift: »A society without a state is largely passive, and a state without a societal base is a control network with only a limited capacity for the mobilization of consensus.-… The state is more a mechanism of ›downward‹ political control than a mechanism of ›upward‹ societal consensus-formation« (Etzioni 1971, S. 106 f.). Zugleich vermittelt dieses Zitat, dass es nach Etzioni nicht genügt, wenn das politische System über eine staatliche Kontrollkapazität zur Implementation politischer Programme verfügt. In »postmodernen«, »aktiven« Gesellschaften ist ein komplementärer Prozess der Mobilisierung von Konsensus (»compliwww.claudia-wild.de: <?page no="23"?> [UTB-S]__Willke__Systemtheorie_3_Steuerungstheorie__[Druck-PDF]/ 11.12.2013/ Seite 24 www.claudia-wild.de: [UTB-S]__Willke__Systemtheorie_3_Steuerungstheorie__[Druck-PDF]/ 11.12.2013/ Seite 25 24 ance«, Akzeptanz) erforderlich, weil die eigendynamischen und innengeleiteten gesellschaftlichen Funktionssysteme ansonsten auf politische Intervention allergisch reagieren. Solange sich z. B. gesellschaftliche Gruppierungen nicht in Interessengruppen und korporative Akteure organisiert haben, sieht sich das politische System einer Gesellschaft ziemlich anderen Möglichkeiten und Schwierigkeiten sozialer Intervention gegenüber, als wenn diese Organisierung einen hohen Grad erreicht hat. Solange das Erziehungssystem, das Wissenschaftssystem oder etwa das Gesundheitssystem einer Gesellschaft nicht über professionalisierte Rollen, spezialisierte Organisationen und ein eigenständiges Kommunikationsmedium sich selbst autonom gesetzt haben, ist es für das politische System relativ einfach, in diesen Bereichen Veränderungen zu erreichen. Nach der Ausbildung von Autonomie und selbstreferenzieller Operationsweise lassen sich diese Funktionssysteme dagegen nur noch in höchst voraussetzungsvoller und spezifischer Weise von außen beeinflussen (siehe Systemtheorie II, Kap. 5). Ich möchte mich im Folgenden darauf beschränken, einige prägende Momente in Etzionis Steuerungskonzeption der aktiven Gesellschaft hervorzuheben. In ihnen unterscheidet sich die Form der aktiven Gesellschaft grundsätzlich von traditionellen Beschreibungen, vor allem von den in der Tradition von Locke und Tocqueville stehenden Gesellschaftstheorien, welche nur Individuen und individuelle Akteure kennen. Folgende Merkmale werde ich herausgreifen und kurz erläutern: • Die Hervorhebung des korporativen Systems (»collectivity«) als eigenständiger Handlungsrealität gegenüber individuellen Akteuren; • die Idee der systemischen Interaktion (»representational interaction«), die es erlaubt, Kommunikationen auf korporative Systeme zuzurechnen; • das Postulat der Selbsttransformation als Fähigkeit eines Systems, sich selbst aktiv nach einer bestimmten Idee oder Vision des Systems zu verändern; und • die Rolle des kollektiven Wissens als (gegenüber dem individuellen Wissen) eigenständiger Instanz der Identität und der Selbststeuerung eines Sozialsystems. Die formende Bedeutung kollektiven Handelns und kollektiver Akteure für gegenwärtige Gesellschaften unterstreicht Etzioni mit dem Konzept der »collectivity«: »A collectivity is a macro-scopic unit that has a potential capacity to act by drawing on a set of macroscopic normative bonds which tie members of a stratification category« (Etzioni 1971, S. 98). Um Missverständnisse zu vermeiden, übersetze ich hier den Begriff der »collectivity« mit »korporativem System«. Die »Inkorporierung« soll auf die wesentlichen Momente der <?page no="24"?> www.claudia-wild.de: [UTB-S]__Willke__Systemtheorie_3_Steuerungstheorie__[Druck-PDF]/ 11.12.2013/ Seite 24 www.claudia-wild.de: [UTB-S]__Willke__Systemtheorie_3_Steuerungstheorie__[Druck-PDF]/ 11.12.2013/ Seite 25 25 »collectivity«, die dichte soziale Vernetzung und die gemeinsame normative Bindung hinweisen. Die Fähigkeit korporativer Systeme zu kollektivem Handeln- - und zwar nicht im diffusen Sinne eines Massenphänomens, sondern im Sinne gerichteter strategischer Kommunikation auf der Basis der Verfügung über sozietale (gesellschaftliche, gesellschaftsweite) Ressourcen und der Verankerung im Stratifikationsmuster der Gesellschaft-- verbietet es, eine Gesellschaft auf die Aggregation atomistischer Individuen zu reduzieren. Wenn aber korporative Systeme wie Organisationen, Vereinigungen, Interessengruppen oder öffentliche Körperschaften gesellschaftlich relevant handeln können, dann stellt sich unweigerlich die Frage ihrer kollektiven Rechte und Pflichten, sowie die Frage ihrer Einpassung in das Steuerungsmodell der Demokratie. Die Entwicklung gesellschaftlicher Akteure außerhalb der Politik verändert die Regeln des politischen Spiels um individuelle und kollektive Güter und Rechte-- und sie verändert mithin die Steuerungsaufgabe und Steuerungsfähigkeit der Politik (Willke and Willke 2008). Aber es stellt sich auch die Frage der Beeinflussbarkeit und des Einflusses der korporativen Systeme, die Frage nach dem Modus und der Qualität der Interaktionen zwischen korporierten kollektiven Akteuren innerhalb und zwischen den Funktionssystemen einer Gesellschaft. Lindbloms Verdikt, dass große Korporationen nicht in den Rahmen der Demokratie passen, muss umgeschrieben werden, weil die Realität moderner Demokratie als Organisationsgesellschaften nur die Wahl lässt, entweder diese Realität zu verleugnen oder aber das Modell Demokratie aufzugeben. Längst gibt es keinen vernünftigen Zweifel mehr an der Beobachtung, dass nicht nur der engere Bereich der Politik, sondern die Gesellschaft insgesamt von Großorganisationen beherrscht wird, so dass der politische Prozess aus der strategischen Interaktion einer Vielzahl von öffentlichen und privaten Organisationen resultiert: »Eine wichtige Folge dieser Entwicklung ist die zunehmende Fragmentierung von Macht, die auf der Handlungsfähigkeit formaler Organisationen nach innen wie nach außen und auf ihrer Verfügungsgewalt über Ressourcen beruht; um das zu konkretisieren, braucht man nur an die großen Unternehmen, an Gewerkschaften und Wirtschaftsverbände oder an Ärzteverbände zu denken. In vielen Bereichen der Politik gilt daher, dass es der Staat längst nicht mehr mit einer amorphen Öffentlichkeit oder mit Quasi-Gruppen wie soziale Klassen zu tun hat, sondern mit korporativen Akteuren, die über eine eigene Machtbasis verfügen« (Mayntz 1993, S. 41). Es liegt auf der Hand, dass dies die Undurchschaubarkeit, Komplexität und die Schwierigkeit politischer moderner Demokratien steigert. Aber muss deswww.claudia-wild.de: <?page no="25"?> [UTB-S]__Willke__Systemtheorie_3_Steuerungstheorie__[Druck-PDF]/ 11.12.2013/ Seite 26 www.claudia-wild.de: [UTB-S]__Willke__Systemtheorie_3_Steuerungstheorie__[Druck-PDF]/ 11.12.2013/ Seite 27 26 halb das Modell Demokratie aufgegeben werden? Diese Frage wird uns durchgehend beschäftigen, denn es ist die zentrale Frage einer Steuerungstheorie moderner Gesellschaften. Aber bleiben wir zunächst bei Etzioni. Dieser bezeichnet es als eine zentrale Hypothese seiner Studie, dass im Gefüge der Typen von Interaktionen in modernen Gesellschaften sich charakteristische Verschiebungen ergeben. Während die Modi der direkten und der symbolischen Interaktion zwischen korporativen Systemen an Gewicht verlieren, steigt die sozietale Bedeutung der »repräsentationalen« oder systemischen Interaktion: »Representational interaction« nennt Etzioni eine über den institutionellen oder organisatorischen Apparat der korporativen Akteure geregelte Kommunikation, welche dem korporativen System insgesamt, nicht aber individuellen Akteuren, zugerechnet wird. Systemische Kommunikation und Interaktion wird zwar auch von kommunizierenden und handelnden Individuen, etwa Vorsitzenden, Vertretern oder Bevollmächtigten mitgetragen, ihre Inhalte und Wirkungen beziehen sich aber nicht auf diese Personen als Individuen, sondern als Repräsentanten des Systems. Ihre gesellschaftlichen Wirkungen entfalten systemische Kommunikationen aufgrund dieser Repräsentativität und ihrer Zurechnung auf das jeweilige korporative Sozialsystem, nicht aber, weil dort bestimmte Individuen handeln. Sinnvoll ist diese Verdichtung von Kommunikationen durch Repräsentativität, weil in komplexen und dichten Sozialbeziehungen nicht jede Person und jede Gruppe in der Fülle ihrer Besonderheiten zum Zuge kommen kann, ohne das System völlig zu überlasten. Empirischen Anschauungsunterricht dafür erteilt gegenwärtig der amerikanische Kulturkampf einer völlig überzogenen »political correctness«, wonach jede noch so idiosynkratische Gruppe der Mehrheit die umfassende Berücksichtigung ihrer Besonderheiten aufzwingen kann-- jedenfalls semantisch. In der Organisation komplexer Systeme sind viele Details der konkreteren Ebenen auf generalisierteren Stufen der Interaktion irrelevant, oder jedenfalls nicht unabdingbar wichtig. Der Aufbau organisierter Komplexität ist nur möglich, wenn die Dynamik und Varianz der konkreteren Ebenen durch Restriktionen der Relevanzgesichtspunkte kontrolliert und in vereinfachte Formen der Interaktion von Subsystemen gezwungen wird. In der naturwissenschaftlichen Theorie der Komplexität wird dies als Prinzip des »optimum loss of detail« bezeichnet: »The principle states that hierarchical control appears in collections of elements within which there is some optimum loss of the effects of detail. Many hierarchical structures will arise from the detailed dynamics of the elements, as in the formation of chemical bonds, but the optimum degree of constraint for hierarchical control is not determined by the detailed dynamics of the elements.-… hierarchical controls arise from a degree of <?page no="26"?> www.claudia-wild.de: [UTB-S]__Willke__Systemtheorie_3_Steuerungstheorie__[Druck-PDF]/ 11.12.2013/ Seite 26 www.claudia-wild.de: [UTB-S]__Willke__Systemtheorie_3_Steuerungstheorie__[Druck-PDF]/ 11.12.2013/ Seite 27 27 internal constraint that forces the elements into a collective, simplified behavior that is independent of selected details of the dynamical behavior of its elements« (Pattee 1973, S. 93). Mit der Unterscheidung von direkter, symbolischer und systemischer Interaktion bietet Etzioni ein leicht nachvollziehbares Konzept für die Erklärung der nach wie vor höchst umstrittenen Frage, wie nicht individuelles, kollektives oder systemisches Kommunizieren und Handeln vorstellbar sein soll. Er zeigt auf, dass das Handeln von Systemen über die Figur der Repräsentativität nicht nur möglich und normal, sondern eben für komplexe Gesellschaften und ihre Makrodynamik besonders bedeutsam ist. Diese frühen Hypothesen Etzionis sind in der nachfolgenden langjährigen Diskussion um die Theorie des Neokorporatismus eindrucksvoll bestätigt worden (Schmitter 1983; Willke 1983, Kap. 4). In korporatistischen Verhandlungssystemen, wie z. B. konzertierten Aktionen, kommunizieren die Vertreter von korporativen Systemen mit Wirkung für ihre Systeme und mit sozietalen Wirkungen, eben weil sie nicht als individuelle Personen, sondern als Repräsentanten von Systemen agieren. An diesen Fällen lassen sich auch einige der Konsequenzen systemischer Kommunikation gut beobachten: Entgegen naiven Vorstellungen von Kommunikation und Handeln kommt es für die Inhalte der systemischen Interaktion nicht nur- - und heute vielleicht nicht einmal mehr vorrangig-- auf die Intentionen oder Interessen der beteiligten Individuen an, sondern auch auf die Gesetzmäßigkeiten der Operationsweise der betroffenen handlungsfähigen und interessierten Sozialsysteme (siehe auch Systemtheorie II, Kap. 4.2). Dass die systemische Interaktion korporativer Akteure zum Normalfall gesellschaftlich relevanter Kommunikationen geworden ist, bedeutet allerdings nicht, dass die beteiligten Organisationen sich automatisch an einem übergeordneten Systeminteresse, etwa am öffentlichen Interesse oder am Gemeinwohl orientieren. Vielmehr ergibt sich, wie Renate Mayntz betont (1993, S. 52), eine Mehrebenenstruktur der Kommunikation, in welcher mehr oder weniger bornierte Partialinteressen und aufgeklärte, reflexive (und in diesem Sinne gemeinwohlorientierte) Interessen durcheinanderlaufen. Häufig kommt es in Großorganisationen, seien dies Unternehmen, Gewerkschaften oder Parteien, zu einem Konflikt zwischen eng und kurzfristig definierten Maximierungsinteressen einerseits und stärker fachlich und professionell orientierten mittelfristigen Optimierungsinteressen andererseits. Letztere ermöglichen eher Koalitionsbildungen, Verhandlungen, Kooperationen, Allianzen etc. Sie sind deshalb steuerungstheoretisch und -praktisch besonders interessant. <?page no="27"?> www.claudia-wild.de: [UTB-S]__Willke__Systemtheorie_3_Steuerungstheorie__[Druck-PDF]/ 11.12.2013/ Seite 28 www.claudia-wild.de: [UTB-S]__Willke__Systemtheorie_3_Steuerungstheorie__[Druck-PDF]/ 11.12.2013/ Seite 29 28 Ein dritter zentraler Aspekt des Steuerungsmodells der aktiven Gesellschaft ist die Fähigkeit zur Selbsttransformation sozialer Systeme, die über Homöostase und Ultrastabilität hinausgeht, indem sie Selbstthematisierung und Selbstbeschreibung (ausführlicher zu diesen Begriffen Systemtheorie I, Kap. 5.1) einschließt. »A societal unit has transformability if it also is able to set-- in response to external challenges, in anticipation of them, or as a result of internal developments- - a new self-image which includes a new kind and level of homeostasis and ultra-stability, and is able to change its parts and their combination as well as its boundaries to create a new unit. This is-… an ability to design and move toward a new system even if the old one has not become unstable.« (Etzioni 1971, S. 121, Hervorhebungen im Text). Etzioni sieht klar, dass die Fähigkeit zur Selbsttransformation mehr voraussetzt als bloße Anpassung an Umweltbedingungen oder -veränderungen. Die Ausbildung einer alternativen systemischen Identität ist ein intern ausgelöster Prozess, der auf interne Bedingungen des Systems antwortet. Also muss die betreffende soziale Einheit in der Lage sein, als System ihre internen Bedingungen zur Kenntnis zu nehmen und mit Blick auf alternative Realitäten Veränderungsprozesse abzuwägen und in Gang zu setzen. Auf der anderen Seite verändert die Fähigkeit sozialer Systeme zur Selbsttransformation grundlegend die Bedingungen, unter denen das politische System einer Gesellschaft arbeitet. Denn Selbsttransformation setzt die operative Autonomie des Systems voraus. Systemtheoretische Überlegungen haben sehr viel genauer spezifiziert, was unter operativer Autonomie eines Sozialsystems zu verstehen ist. Ein System erreicht Autonomie, wenn es auf der Grundlage einer selbstreferenziellen Operationsweise sich selbst steuert und spezifische, durch seinen Kommunikationscode und seinen Operationsmodus vorgezeichnete Umweltbeziehungen unterhält. Es ist dann autonom in dem Sinne, dass es nach Maßgabe seines eigenen Codes operiert und in dieser Tiefenstruktur seiner Selbststeuerung von seiner Umwelt unabhängig ist (siehe Systemtheorie I, Kap. 3 und Systemtheorie II, Kap. 4.1). Für hochdifferenzierte, komplexe Gesellschaften ist festzuhalten, dass Teilsysteme wie Politik, Ökonomie, Wissenschaft, Erziehung, Gesundheitswesen, Unterhaltungs- und Pop-Kultur, Recht, Sport etc. jeweils inzwischen hochkomplexe, selbstreferenzielle Systeme geworden sind. Ihre Operationsweise als soziale Systeme, d. h. die Strukturregeln und -muster der in ihnen ablaufenden Kommunikationen, richtet sich primär an internen Konditionalitäten aus und erst darauf aufbauend und nachrangig an externen Bedingungen. Die Operationsweise eines spezialisierten Systems gehorcht in erster Linie der Logik dieses Systems selbst; es kommt zu einer zirkulären Vernetzung seiner <?page no="28"?> www.claudia-wild.de: [UTB-S]__Willke__Systemtheorie_3_Steuerungstheorie__[Druck-PDF]/ 11.12.2013/ Seite 28 www.claudia-wild.de: [UTB-S]__Willke__Systemtheorie_3_Steuerungstheorie__[Druck-PDF]/ 11.12.2013/ Seite 29 29 Operationen, zu einer »basalen Zirkularität« (Maturana), nach welcher das System auf sich selbst reagiert, sich selbst Probleme schafft und nur nach Maßgabe der Logik seiner Selbststeuerung aus externen »Ereignissen« Informationen ableiten kann. So reagiert etwa das ökonomische System sensibel auf Schwankungen der Geldmenge oder der Inflationsrate, nicht aber auf eine Millionenzahl von Arbeitslosen, weil Letztere kein relevantes wirtschaftliches Datum darstellen. So reagiert das politische System sehr genau auf spezifisch politische Daten wie etwa Wahltermine, Wählerwanderungen oder neue korporative Akteure, aber nur sehr träge auf »objektiv« drängende Problemlagen wie etwa Überrüstung, Umweltzerstörung oder technologische »Restrisiken«, da diese nicht unmittelbar politische Relevanzkriterien ansprechen. Entgegen dieser zu beobachtenden Selbstreferenz und Selbstbeschränkung funktional spezialisierter Teilsysteme gehen gegenwärtige Theorien des Staates, des Rechts und der Politik immer noch von einem expansiven Politikverständnis aus. Dieses weist der Politik die hierarchische Spitze und mithin den Steuerungsprimat in der Gesellschaft zu. Die Politik als Teil ist für das Ganze der Gesellschaft verantwortlich und soll deshalb in der Lage sein, gesellschaftliche Teilbereiche in direktem Zugriff zu steuern. Eine entsprechende Auffassung des gegenwärtigen Wohlfahrts- und Interventionsstaates betont aus diesem Grund die Fähigkeit von Staat und Recht, von außen her innerhalb der jeweiligen Bereiche bestimmte Wirkungen zu erzielen. Nimmt man dagegen den Primat funktional differenzierter Teilsysteme in modernen Gesellschaften ernst und interpretiert ihn in diesem Sinne als die Ausbildung selbstreferenzieller Funktionssysteme für Teilaspekte des gesellschaftlichen Kommunikationszusammenhangs, dann lassen sich mit einer präziseren Fassung der Voraussetzungen und Folgen funktionaler Differenzierung und operativer Autonomie auch die Idee der aktiven Gesellschaft und ihr Steuerungsproblem präzisieren. Wenn Veränderungen, Reformen, Strukturwandel etc. in erster Linie innere Angelegenheiten der autonomen korporativen Systeme sind, dann gewinnen diese mit ihrer operativen Autonomie den Handlungs- und Entscheidungsspielraum, der diese verteilten, dezentralen und differenzierten Sozialsysteme innerhalb einer Gesellschaft zu aktiv handelnden Akteuren macht. Im Anschluss an Etzioni lässt sich deshalb formulieren, dass eine aktive Gesellschaft in dem Sinne und in dem Maße aktiv ist, als ihre verteilten korporativen Systeme zu eigener kollektiver Handlungs- und Selbststeuerungsfähigkeit gelangen. Daraus folgt eine Form der aktiven Gesellschaft, die nicht durch ein konsensgeleitetes, einheitliches »gesamtgesellschaftliches« Aktivitätsniveau gekennzeichnet ist, sondern durch eine Vielzahl konkurrierender und divergierender, zunächst und grundsätzlich in Dissens zueinander operierender Sozialsysteme, die aber- - darauf kommt es hier an- - je für sich das <?page no="29"?> www.claudia-wild.de: [UTB-S]__Willke__Systemtheorie_3_Steuerungstheorie__[Druck-PDF]/ 11.12.2013/ Seite 30 www.claudia-wild.de: [UTB-S]__Willke__Systemtheorie_3_Steuerungstheorie__[Druck-PDF]/ 11.12.2013/ Seite 31 30 Niveau eines aktiven gesellschaftlichen Teilsystems erreicht haben. Diese Form der Gesellschaft ist aktiv im Sinne eines eigendynamischen, nicht trivialen und selbsttransformierenden Systems, aber sie erreicht dieses Niveau einer »self-triggered transformability« als Folge einer ungesteuerten Kombination aktiver Teilsysteme. Die Fähigkeit großer Organisationen und korporativer Akteure zur Selbsttransformation beruht zwar auf einer Eigenkomplexität, die zu Selbstreferenzialität, zu Selbstthematisierung und operativer Geschlossenheit und mithin zu hohen Graden der Indifferenz und Unbeeinflussbarkeit dieser Systeme führt. Aber das heißt nicht, dass sie sich nicht verändern könnten. Was ihnen an direkter Zugänglichkeit für externe Interventionen abgeht, gewinnen sie an Sensibilität gegenüber internen Zuständen und Ereignissen. Dies kann so weit gehen, dass Systeme sich entlang der Richtschnur intern imaginierter Leitbilder verändern. Die Fähigkeit zur Selbsttransformation verweist auf die Rolle von Selbstbildern (»self-image«), Leitbildern und Visionen für die Selbstorganisation und Selbststeuerung von Systemen. Auch in dieser Hinsicht nimmt Etzioni eine Idee vorweg, die erst gegenwärtig wieder hoffähig wird: die Wiederentdeckung von Ideen, Werten und Visionen als Kriterien der Systementwicklung (siehe z. B. Majone 1993). Die Fähigkeit der politischen Systeme entwickelter Demokratien zur Selbsttransformation ist wesentlich, weil die Politik (als Bestandteil einer verteilten, polyzentrischen Form von Gesellschaft) vor historisch neuartigen Schwierigkeiten der Erfüllung ihrer gesellschaftlichen Steuerungsfunktion steht- - der Produktion und Durchsetzung kollektiv verbindlicher Entscheidungen. Die erprobten Mittel direkter Intervention und extern verfügter Veränderung, nämlich Macht und Geld, genügen angesichts der Komplexität, Undurchdringlichkeit und Innen-Orientierung korporativer Systeme nicht mehr (Näheres dazu in Kapitel 5 und 6). Damit haben diese Mittel nicht ausgedient; für die Masse der Routineprobleme und Alltagsinterventionen in überschaubaren und individualisierbaren Problemlagen sind sie auf der Höhe ihrer Zeit und inzwischen gewissermaßen perfektioniert. Aber mit Blick auf die qualitativ neuartigen Problemlagen von atomaren, biologischen und chemischen Gefährdungen, Umweltzerstörung, Massenarbeitslosigkeit, sozialem Elend, Drogenkonsum, organisierter Kriminalität, Finanzkrise, öffentliche Verschuldung etc. muten die herkömmlichen Mittel des Staates für regulative Politik an wie die Tomahawks der Indianer gegenüber den Winchester- Gewehren der Siedler. Wichtiger ist als eine Revision der Mittel der Politik ist zunächst eine Revision der Form der Demokratie als gesellschaftliches Steuerungsmodell. Grob vereinfacht lässt sich sagen, dass die Form des Wohlfahrtsstaates sich an der Herausforderung entfaltet hat, die individuellen Leiden an den Kosten <?page no="30"?> www.claudia-wild.de: [UTB-S]__Willke__Systemtheorie_3_Steuerungstheorie__[Druck-PDF]/ 11.12.2013/ Seite 30 www.claudia-wild.de: [UTB-S]__Willke__Systemtheorie_3_Steuerungstheorie__[Druck-PDF]/ 11.12.2013/ Seite 31 31 der Modernisierung zu lindern. Ein weitergehender Anspruch gesellschaftlicher Steuerung kommt zu seiner Form, wenn die Politik sich der Herausforderung stellt, die kollektiven Leiden an den negativen Externalitäten der Arbeitsweise der aktiven Gesellschaft auf ein systemverträgliches Maß zu bringen. Die gravierendste Veränderung sowohl in der Form der aktiven Gesellschaft wie in der korrespondierenden Form aktiver Gesellschaftssteuerung sehe ich in der gegenüber früheren gesellschaftsgeschichtlichen Formationen einschneidend gestiegenen Bedeutung von Wissen. Die gesellschaftliche Produktion, Allokation, Dislozierung und Verwendung von Wissen ist zum Angelpunkt der Ausbildung der aktiven Gesellschaft geworden: »Processes long considered largely the domain of economic and coercive factors are increasingly influenced by the allocation, withholding, and management of knowledge« (Etzioni 1971, S. 134). Sie werden auch zum Angelpunkt der Antwort auf die Frage werden, ob es gelingt, eine dem Entwicklungsstand der Gesellschaft entsprechende Form aktiver Steuerung zu schaffen. In Etzionis Theorie der aktiven Gesellschaft hat die Frage des Umgangs mit kollektivem Wissen als zentraler Ressource sozietaler Steuerung konstitutive Bedeutung. In der Anerkennung der formenden Rolle kollektiven Wissens kann er sich zwar auf wichtige Arbeiten der Wissenssoziologie berufen, doch bringt er insofern einen neuen Aspekt ins Spiel, als er in gesellschaftstheoretischer Absicht Wissen neben Macht und Geld als eigenständigen, in seiner Steuerungswirkung zumindest ebenbürtigen Faktor der säkularen Konstruktion gesellschaftlicher Realität ernst nimmt. Der erste Schritt hierzu ist ein Verständnis der Bedeutung des kollektiven Wissens gegenüber dem gewöhnlich im Vordergrund stehenden individuellen Wissen. Das in den gesellschaftlichen Operationsmodus eingegrabene und institutionalisierte Wissen, von Konventionen, Regelsystemen, der Sprache über spezialisierte Steuerungsmedien bis hin zu den identitätsstiftenden Symbolen und geschichtlich gewordenen Selbstverständnissen, ist in eigensinniger Weise unabhängig von individuellen Wissensbeständen. Es unterliegt autonomen Entwicklungsbedingungen und Dynamiken und zeigt deshalb sozietale Wirkungen, die von den Wirkungen individuellen Wissens grundverschieden sind. Dies werde ich in Kapitel 7 ausführen. Festzuhalten ist hier, dass Existenz und Relevanz kollektiven Wissens mit hinreichender Plausibilität zeigen, dass eine auf Individualmerkmale und individuelle Eigenschaften reduzierte Beobachtung nicht nur nicht ausreicht, sondern sogar irreführend ist. Ihr entgehen diejenigen Momente von Gesellschaft, welche diese als emergente Ebene der Systembildung über die bloße Aggregation von Individuen hinaus zu einer eigenständigen »sozialen Tatsache« machen. So kommt es z. B. für das Aktivitätsniveau und den Grad der Reflexionsfähigkeit sowohl von Gesellschaften wie von Organisation nicht nur auf die <?page no="31"?> www.claudia-wild.de: [UTB-S]__Willke__Systemtheorie_3_Steuerungstheorie__[Druck-PDF]/ 11.12.2013/ Seite 32 www.claudia-wild.de: [UTB-S]__Willke__Systemtheorie_3_Steuerungstheorie__[Druck-PDF]/ 11.12.2013/ Seite 33 32 Wissensbestände und das Lernverhalten ihrer Mitglieder an. Zumindest ebenso bedeutsam sind die in »standing operation procedures« und unpersönlichen Satzungen und Regelwerken eingelassenen Definitionen von systemischen und systemisch relevanten Erwartungen, die das Handeln der Mitglieder steuern. Steuernd wirkt dabei die organisierte Selektivität der in den spezifischen Regelsystemen stabilisierten Erwartungsmuster, die bestimmte Anschlüsse fördern und andere erschweren und den Fortgang der Operationen so in eine eigensinnige Ordnung bringen. Regelstrukturen, Sprachspiele und semantische Ordnungen sind es auch, die festlegen, wie soziale Systeme mit ihrem kollektiven Wissen umgehen, es erarbeiten, aufbereiten, einsetzen und auch, wie dieses Wissen revidiert und veränderten Umweltbedingungen und -restriktionen angepasst wird. Die Folge ist z. B., dass es innovative und regredierende, risikobereite und risikoscheue, verknöcherte und responsive Sozialsysteme gibt und dass die Differenz in hohem Maße durch die Art der systemisch organisierten Informations- und Wissensverarbeitung bestimmt ist (siehe dazu Systemtheorie II, Kap. 4). In der folgenden Tabelle fasse ich die hier hervorgehobenen vier Punkte der Konzeption Etzionis zusammen und beziehe sie einerseits auf die generelle Problemstellung einer Theorie aktiver Gesellschaften, auf welche sie antworten, und andererseits auf die spezifischen Steuerungsprobleme komplexer Sozialsysteme, die uns hier auch weiter beschäftigen werden. Mit der Betonung gesellschaftlicher Steuerungskonzeptionen (Lindblom, Etzioni) und der Vereinnahmung von Demokratie als Form der Selbstorganisation komplexer Sozialsysteme habe ich eine-- insbesondere von der Ökonomik gepflegte- - Tradition überspielt, nach der als Hauptformen der Tabelle 1.1: Die Konzeption Etzionis Theorieproblem Steuerungsproblem Antwort Etzionis trans-individuelle Handlungsebene Mechanismen der Bildung kollektiver Identität »collectivity« als eigenständige Systemebene trans-individuelle Zurechnung von Kommmunikationen organisierte Verantwortung systemische Interaktion (»representational interaction«) Wandel Wandel trotz operativer Schließung Selbsttransformation Generalisierung und Speicherung individueller Erfahrung Formung und Revision der systemischen Wissensbasis kollektives Wissen <?page no="32"?> www.claudia-wild.de: [UTB-S]__Willke__Systemtheorie_3_Steuerungstheorie__[Druck-PDF]/ 11.12.2013/ Seite 32 www.claudia-wild.de: [UTB-S]__Willke__Systemtheorie_3_Steuerungstheorie__[Druck-PDF]/ 11.12.2013/ Seite 33 33 Lösung komplexer Koordinationsaufgaben gewöhnlich nicht Demokratie und Hierarchie kontrastiert werden, sondern Markt und Hierarchie. Für die Wirtschaftswissenschaften mag dies sinnvoll sein, auch wenn Demokratie als Koordinationsmodell dabei herausfällt; für eine gesellschaftstheoretisch orientierte Soziologie ist diese Verkürzung des Interesses von der umfassenderen Form der Demokratie auf den Markt nicht nur widersinnig, sondern auch irreführend. Auf der anderen Seite muss sich allerdings auch eine soziologische Analyse der Steuerungsproblematik mit der Existenz des Marktes als Koordinationsmechanismus auseinandersetzen. Ich werde deshalb in einem Exkurs das Verhältnis von Demokratie- und Marktmodell unter Steuerungsgesichtspunkten beleuchten. 2.1 Exkurs zum Markt als Steuerungsform Soziologisch gesehen ist der »moderne« Markt ein abgeleitetes Phänomen. Der auf der Kunstfigur des »Homo oeconomicus« aufbauende Markt, in dem isolierte Individuen nach rationalen Kalkülen private Güter tauschen, setzt die Transformation der traditionalen Gemeinschaft zur modernen, funktional differenzierten Gesellschaft voraus, als Bedingung der Befreiung des ökonomischen Kalküls von den Bindungen der Familie, der Freundschaft, der Moral, der Religion oder der Herrschaft. An die Stelle dieser traditionalen treten allerdings andere Bindungen, die überhaupt erst die Stabilität des Marktes garantieren. Es sind dies Durkheims berühmte »nicht kontraktuellen Teile des Kontrakts«, also die institutionellen Rahmenregelungen, welche erst den Freiraum für eine so unwahrscheinliche Konstruktion wie die des freien Marktes schaffen: im Kern eine moderne freiheitliche politische Ordnung und ein diese Freiheiten prozessual abstützendes modernes Rechtssystem. Besonders deutlich hat Mark Granovetter (1992) herausgearbeitet, dass auch noch moderne Märkte in diesem Sinne in die Institutionen der sie tragenden Gesellschaften eingebettet sind. Sogar Ökonomen würden vermutlich zugeben, dass ein preisgesteuerter Markt nicht ohne eine Fülle von Rahmenregelungen funktionieren kann. Diese müssen kollektiv verbindlich gelten, können also in einer modernen Gesellschaft nur von der Politik bereitgestellt werden: Rechtssicherheit, Vertragsfreiheit, Eigentumsrechte, Rechtsdurchsetzungsgarantien, Selbstbeschränkung politischer Macht etc. Innerhalb dieser Einbettung erweisen Märkte ihre besondere Leistungsfähigkeit darin, unter der (keineswegs selbstverständlichen) Voraussetzung des freien Marktzugangs und des freien Austritts, über den Preismechanismus eine extrem schnelle und extrem kostengünstige Koordination zwischen Angeboten und Nachfragen zu bewerkstelligen. <?page no="33"?> www.claudia-wild.de: [UTB-S]__Willke__Systemtheorie_3_Steuerungstheorie__[Druck-PDF]/ 11.12.2013/ Seite 34 www.claudia-wild.de: [UTB-S]__Willke__Systemtheorie_3_Steuerungstheorie__[Druck-PDF]/ 11.12.2013/ Seite 35 34 Schnell ist die Koordination, weil sie einerseits in »Echtzeit« erfolgt: Anbieter und Nachfrager müssen im Prinzip nicht mehr lange über den angemessenen Preis verhandeln, sondern können auf kontinuierliche, mitlaufende Beobachtungen des Marktgeschehens zurückgreifen und daraus »auf der Stelle« den situativ angemessenen Preis errechnen; in den meisten Fällen ist sogar nicht einmal dies erforderlich, weil kontinuierlich angepasste Marktpreise feststehen, also überhaupt nicht mehr verhandelt werden. Zum anderen ist die Koordination wegen des kurzfristig organisierten Transaktionsgeschehens schnell: Idealtypisch gelten die Bedingungen der je gegebenen Situation, die Zukunft wird ausgeklammert oder diskontiert. (Dies lässt sich gut mit Vertragstypen vergleichen, bei denen die Zukunft eine bedeutende Rolle spielt, etwa Arbeits- oder Eheverträge). Dass der moderne Markt anders als frühere Formen wie Palavern, Ringtausch oder Basaren, massive Zeitersparnisse und Tempovorteile ermöglicht, ist unbestritten. Schwieriger ist die Frage der Kostengünstigkeit. Zwar zweifelt kaum jemand daran, dass moderne Warenmärkte eine besonders kosteneffiziente Form der Koordination von Angebot und Nachfrage darstellen- - sonst hätte sich diese Form nicht weltweit durchgesetzt und auch noch die machtgestütze Konkurrenz zentral verwalteter sozialistischer Quasi-Märkte aus dem Rennen geworfen. Auch stellt wohl niemand in Frage, dass es für »einfache« Güter und »einfache« Beziehungen zwischen Anbieter und Nachfragern keine effizientere Form als die des modernen Marktes gibt. Die Zweifel an der Kostengünstigkeit des Marktes beginnen dort, wo ökonomische Transaktionen den Rahmen einfacher, freier, kurzfristiger, direkter und insofern für alle Beteiligten gut überschaubarer Beziehungen zwischen Anbietern und Nachfragern sprengen. Der Markt selbst war eine geniale Erfindung zur Reduktion der Komplexität sozialer Austauschbeziehungen auf »rational choice«. Aber offensichtlich lässt die gesellschaftliche Evolution einen solchen, durch Reduktion eroberten Freiraum nicht lange unbesetzt. Er dient nur als Treibhaus für den Aufbau neuer Komplexität. Je stärker Marktbeziehungen nun ihrerseits dem Moloch Komplexität wieder anheimfallen, je komplexer sich die Produkte, Produktionsformen, Austauschbeziehungen, Zeithorizonte und Kosten-Nutzen-Kalküle von Anbietern und Nachfragern darstellen, desto problematischer wird die Annahme, dass der Markt kostengünstig ist, weil er praktisch ohne Transaktionskosten (ohne Verzögerung und ohne besondere Koordinationsanstrengung) funktioniert. »Invisible time« und »Invisible hand« als konstituierende Merkmale des idealen Marktes konnten gegenüber der Herausforderung durch Komplexität nicht bestehen. Aufschlussreich ist, dass die klarste Formulierung dieser Zweifel nicht im Rahmen einer Theorie des Marktes entwickelt wurde, sondern im Rahmen einer Theorie der Firma. 1937 veröffentlichte Ronald Coase einen inzwiwww.claudia-wild.de: <?page no="34"?> [UTB-S]__Willke__Systemtheorie_3_Steuerungstheorie__[Druck-PDF]/ 11.12.2013/ Seite 34 www.claudia-wild.de: [UTB-S]__Willke__Systemtheorie_3_Steuerungstheorie__[Druck-PDF]/ 11.12.2013/ Seite 35 35 schen klassischen Artikel über ebendiese »Theorie der Firma« (1937). Ausgangspunkt dafür war Ronald Coases Verwunderung darüber, dass offenbar nicht der Markt die alleinige Koordinationsinstanz für ökonomische Transaktionen ist (wie es die Theorie des Marktes vorsieht), sondern dass Firmen einen wichtigen Teil der notwendigen Koordination übernehmen. In einer von Märkten gesteuerten Ökonomie könnten diese nicht überleben, würden sie die von ihnen übernommenen Koordinationsaufgaben nicht effizienter verrichten als der Markt selbst: »Coase identified transaction-cost economizing as a primary reason for the existence of the firm (as an alternative to the ad hoc purchasing of services within a market)« (Cyert und March 1992, S. 219). Diese Beobachtung führte zu Coases zentraler Idee: Er schlug vor, Märkte und Firmen als alternative Modelle der Koordination ökonomischer Transaktionen zu verstehen und sie unter dem Gesichtspunkt ihrer Transaktions-Kosteneffizienz zu vergleichen. Transaktionskosten, so hat Douglas North (1990, S. 362) kompakt formuliert, sind die Kosten für die Schließung und Sicherung von Verträgen. Über den engeren wirtschaftswissenschaftlichen Kontext hinaus ist Coases Theorem höchst brisant. Denn es postuliert gegenüber dem liberalistischen Dogma moderner Gesellschaften, das auf pluralistische und dezentrale Selbstorganisation in demokratischen und marktförmigen Strukturen setzt, eine in manchen Hinsichten überlegene Koordinationsleistung hierarchischer Strukturen. Zwar spezifiziert Coase diese Hinsichten nicht, weil er Begriff und Inhalt von Transaktionskosten nicht operationalisiert; aber dies macht sein Argument noch massiver, weil es so verstanden werden kann, dass für alle nicht trivialen, komplexen Transaktionen Hierarchie die bessere (d. h. kostengünstigere) Wahl sei. Wie wir in Kapitel 3 sehen werden, stimmt Coases Theorem nahtlos mit Max Webers Idee der überlegenen Rationalität formal bürokratischer Steuerungsformen überein. Erstaunlicherweise wird auf diesen Zusammenhang bis heute kaum hingewiesen. Allerdings benötigten sogar die Wirtschaftswissenschaften über 35 Jahre, bis sie die Bedeutung der Ideen von Coase erkannten. Vor allem Oliver Williamson (1975; 1985; 1991) entdeckte zu Beginn der 1970er-Jahre Coase wieder und arbeitet seitdem am Ausbau und an der Operationalisierung einer Theorie der Transaktionen, Transaktionskosten und der Systeme der Koordination von Transaktionen. Für unseren Zusammenhang sind Coase und Williamson bedeutsam, weil sie direkt auf einen Vergleich der Koordinationsleistungen von Markt und Hierarchie zielen. Sollte sich herausstellen, dass für komplexe Transaktions- und Interaktionsbeziehungen mit hohen Transaktionskosten Hierarchie tatsächlich das überlegene Steuerungsmodell ist, dann hätte das Modell demokratischer Selbststeuerung im Kontext komplexer, wissensabhängiger Problemlagen schlechte Karten. <?page no="35"?> www.claudia-wild.de: [UTB-S]__Willke__Systemtheorie_3_Steuerungstheorie__[Druck-PDF]/ 11.12.2013/ Seite 36 www.claudia-wild.de: [UTB-S]__Willke__Systemtheorie_3_Steuerungstheorie__[Druck-PDF]/ 11.12.2013/ Seite 37 36 Wohlgemerkt sprechen sowohl Coase wie auch Williamson nicht von Demokratie, sondern vom Markt als Gegenmodell zur Hierarchie. Aber das ist die übliche Einseitigkeit von Ökonomen-- und wohl auch die berechtigte Angst davor, mit der Bevorzugung von Hierarchie Demokratie als Modell zu diskreditieren. Für eine soziologische und insbesondere für eine steuerungstheoretische Betrachtungsweise allerdings ist demokratisches Pathos wertlos, wenn sich nicht genauer begründen lässt, warum und in welchen Hinsichten Demokratie als Steuerungsmodell komplexer Gesellschaften vorzuziehen ist. Im folgenden Abschnitt werde ich zeigen, dass es eine Reihe guter Gründe gibt, der überkommenen Idee von Demokratie als Steuerungsmodell kritisch zu begegnen. Aber auch am Modell hierarchischer Steuerung lässt sich grundlegende Kritik üben-- sogar gerade im Kontext hochkomplexer Transaktions- und Interaktionsbeziehungen (siehe Kapitel 3.1). All dies führt dazu, gegenüber der Routine dogmatischer Rechtfertigungen gegenwärtiger Formen von Demokratie und Hierarchie konsequent und geduldig nach »dritten« Formen zu suchen, die der Herausforderung hoher organisierter sozialer Komplexität besser gewachsen sind. Sicherlich unterscheiden sich Demokratie und Markt als Steuerungsmodelle für die Koordination komplexer sozialer Systeme. Vor allem, darauf hat mich Fritz Scharpf in einem hilfreichen Kommentar hingewiesen, geht es im Fall des Marktes um die individuelle Verfolgung individueller Zwecke, während Demokratie die individuelle Partizipation an kollektiven Entscheidungen über kollektive Ziele meint. Da mich hier Markt ebenso wie Demokratie vorrangig als Modi der Systemsteuerung interessieren, betone ich eher die Gemeinsamkeiten der Makroeffekte beider Steuerungsformen. Sie liegen in den systemischen Effekten einer dezentralen, verteilten Koordination, die sich in beiden Fällen nicht in bloßer Aggregation erschöpft, sondern in einer Transformation der unterliegenden Rationalität-- auch wenn sie sich in beiden Fällen »hinter dem Rücken der Akteure« vollzieht. Bei gutem Verlauf erzeugen beide Koordinationsformen aus der Interaktion rationaler Egoisten dann »public virtues« (genauer: nicht beabsichtigte Kollektivgüter), wenn erwartet werden kann, dass die Interaktionen sich kontinuierlich in eine absehbare Zukunft fortsetzen werden (Axelrod/ Keohane 1985). Gegenüber den durchaus vorhandenen und wichtigen Unterschieden zwischen den Formen Markt und Demokratie hebe ich also hier ihre grundlegenden Affinitäten hervor, ihre funktionalen und strukturellen Übereinstimmungen. Der Markt lässt sich als »demokratisches« Modell eines Güteraustausches (»eine Mark =-eine Stimme«) verstehen, der von den Rücksichten auf Stand und Klasse, Moral und Religion, Familie und Freundschaft befreit und nach dem Prinzip »eine Person, eine Stimme« (bei der Bildung des Preises) organisiert ist. Demokratie kann als Markt für politische Herrschaft gelwww.claudia-wild.de: <?page no="36"?> [UTB-S]__Willke__Systemtheorie_3_Steuerungstheorie__[Druck-PDF]/ 11.12.2013/ Seite 36 www.claudia-wild.de: [UTB-S]__Willke__Systemtheorie_3_Steuerungstheorie__[Druck-PDF]/ 11.12.2013/ Seite 37 37 ten, strukturiert nach dem Prinzip »eine Person eine Stimme« (bei der Bildung politischer Repräsentation). Auf diesem Markt konkurrieren »politische Unternehmer« um Anteile an der Übertragung öffentlicher Macht (Schumpeter). Tatsächlich hat die letztere Sichtweise zu einer weitverzweigten und in Teilen überzogenen »Ökonomischen Theorie der Demokratie« geführt. Über diese Ähnlichkeit hinaus scheint mir die wichtigere Affinität von Demokratie und Markt darin zu bestehen, dass es homologe Formen der Koordination sind, die prinzipiell durch Selbstorganisation, Dezentralität, verteilte Intelligenz, weitgehende Autonomie der Teilsysteme, inkrementale Entscheidungsfindung, leichte Reversibilität der getroffenen Entscheidungen und insbesondere durch formale Gleichheit der Entscheider / Nachfrager/ Konsumenten/ Wähler gekennzeichnet sind. Charakterisiert sind beide Formen durch Kurzfristigkeit der Entscheidungslogik, Diffusität der Verantwortlichkeit, Anfälligkeit für Stimmungen, Moden, Trends und massenmediale Werbung und insbesondere eine immanente, schwer kontrollierbare Selbstgefährdung durch organisationale Verdichtung und Marktmachtbildung, die das konstituierende Prinzip des freien Wettbewerbs untergräbt. In Kapitel 3 werden wir feststellen, dass demgegenüber Hierarchie spiegelbildlich auf die jeweils andere Seite der Medaille setzt, also auf Fremdorganisation, Zentralisierung, hierarchisierte Intelligenz, Beschränkung der Autonomie der Teile, Top-down-Planung als Form der Setzung von Entscheidungsprämissen, Blockierung der Reversibilität der Entscheidungen und insbesondere auf die formalisierte Ungleichheit der Mitglieder auf den unterschiedlichen Ebenen der Hierarchie. Entsprechend ist Hierarchie anfällig für ihr »internes« Gegenmodell der informalen Organisation, der Verwischung hierarchischer Grenzen und Stufen, der Aufweichung klarer Verantwortlichkeit in »organisierter Unverantwortung« (Beck) und der Chaotisierung durch Informationsüberflutung. Spannend wird es erst bei der Frage der Mischformen von Demokratie und Hierarchie, etwa des Einbaus von internen Märkten in (hierarchische) Organisationen oder des Einbaus von kontextueller Steuerung in die Institutionen der Demokratie-- also bei der Frage, ob die reinen Typen von Demokratie und Hierarchie, Markt und Organisation sich zu viablen »dritten« Formen der Steuerung hoher organisierter Komplexität fortentwickeln lassen. Ich werde in Kapitel 4 diesen Faden wieder aufnehmen. Wie schon erwähnt, werde ich in den Kapiteln 5 bis 7 die steuerungstheoretische Bedeutung der Steuerungs- und Transaktionsmedien Macht, Geld und Wissen ausführlich erörtern. Zuvor aber sind mehrere Lücken zu füllen. In einem ersten Schritt möchte ich unterschiedliche Vorschläge für eine Revision des Steuerungsmodells demokratischer Gesellschaften auswerten. Danach präsentiere ich in Kapitel 3 Hierarchie als zweites zentrales Steuerungswww.claudia-wild.de: <?page no="37"?> [UTB-S]__Willke__Systemtheorie_3_Steuerungstheorie__[Druck-PDF]/ 11.12.2013/ Seite 38 www.claudia-wild.de: [UTB-S]__Willke__Systemtheorie_3_Steuerungstheorie__[Druck-PDF]/ 11.12.2013/ Seite 39 38 modell für komplexe Sozialsysteme. Auch hier schließt sich ein Abschnitt über die Frage der Revision des Hierarchiemodells an. In Kapitel 4 diskutiere ich im Rahmen des allgemeinen Problems der Koordination die Frage, ob Verhandlungssysteme die gesuchte dritte Form der Steuerung sein könnten. 2.2 Ideen zur Revision der Demokratie als-Steuerungsmodell Wir haben bereits gesehen, dass Lindbloms Vermutung nicht gerade bestätigt worden ist, die Demokratie könne sich zwischen der Skylla des Marktversagens und der Charybdis des Versagens eines autoritären, hierarchischen Staates fortentwickeln zu dem »präzeptoralen System« einer belehrten und lernenden Gesellschaft. Dennoch bleibt seine Idee wertvoll und aufschlussreich. Denn in dieser dritten Form kommt ein alter Traum politischer Erneuerung zum Ausdruck, der Rousseau ebenso bewegt hat wie John Stuart Mill, Hobbes ebenso wie Tocqueville Er wird immer dann besonders virulent, wenn sich einmal mehr gezeigt hat, dass weder Autorität noch Tausch, weder physischer Zwang noch materieller Anreiz genügen, um jene humane Qualität gesellschaftlicher Organisation zu erreichen, die reflektiert, dass sowohl Menschen wie soziale Systeme ihre Kommunikationen auf Expertise und Unterscheidungsvermögen aufbauen und insofern wissensbasiert operieren. Wie Autorität und Tausch ist auch Erziehung als abstraktes Prinzip unbestimmt und lässt sich in ihren Konsequenzen für die Strukturierung politischer Prozesse erst abschätzen, wenn die Kriterien offenliegen, nach denen Belehrung tatsächlich stattfinden oder realisiert werden soll. Präzeptorale Formen reichen von Indoktrination, Gedankenkontrolle und Propaganda über Information, Werbung, Schulung, und Überredung bis zu Ermahnung, Erziehung, Wissensvermittlung und Beratung. Präzeptorale Formen zielen immer auf den »neuen Menschen«; aber die Frage ist, nach welchem Bild dieser neue Mensch geformt sein soll. Bereits die traditionellen Antworten auf diese Frage spiegeln die notwendige Paradoxie jeder Erziehung, die zuerst darin begründet lag, dass der Erzieher, und sei er Gott, auf der Freiheit zur Perfektion bestehen musste, ohne diesen Zwang zur Freiheit präzeptoral begründen zu können. Heute wird die Paradoxie präzeptoraler Absichten dadurch verschärft, dass auch der Zögling um dieses Dilemma jeder Erziehung wissen kann und deshalb auch Selbstveränderung nur noch Einsicht in die Notwendigkeit operationalisiert. Solange es nur um die Verhältnisse zwischen Personen ging, um Lehrer und Schüler, Aufklärer und Unwissende, Herrscher und Beherrschte, Freie und zu Befreiende, ließ sich die doppelte Paradoxie jeder Erziehung <?page no="38"?> www.claudia-wild.de: [UTB-S]__Willke__Systemtheorie_3_Steuerungstheorie__[Druck-PDF]/ 11.12.2013/ Seite 38 www.claudia-wild.de: [UTB-S]__Willke__Systemtheorie_3_Steuerungstheorie__[Druck-PDF]/ 11.12.2013/ Seite 39 39 im Wohlgefallen eines Fortschritts zur Mündigkeit auflösen. Aber mit der Verdichtung sozialer Strukturen und gesellschaftlicher Organisiertheit wurde Erziehung bereits im 19. Jahrhundert mit Hegel und Marx zu einer sich selbst dementierenden Aufklärung über Fortschritt, die Theodor Adorno dann auf den Begriff der »negativen Dialektik« brachte. Jedenfalls im Bereich sozialer Relationen und Operationen war Fortschritt nicht mehr von den Kosten des Fortschritts zu trennen und der Weg gesellschaftlicher Selbstbewegung von der Dialektik als Aufklärung zur negativen Dialektik gestaltete sich sehr kurz. Auch Lindblom gesteht ohne Umschweife zu, dass die Versuche der politisch organisierten gesellschaftlichen Erziehung der Massen in der UdSSR, in China oder Kuba nicht besonders erfolgreich waren. Die Perversion der gemeinten Überzeugungsarbeit scheint bei Lindblom deutlich auf, wenngleich er die zugrundeliegende Paradoxie nicht bemerkt: »Für die UdSSR, Kuba und China gilt gleicherweise, dass die Schablone für den neuen Menschen aus Elementen sozialistischen Gedankenguts, George Orwells Roman ›1984‹ und der Wertewelt des viktorianischen Englands modelliert worden ist-… Bei dieser neuen Persönlichkeit sind zwei Eigenschaften unabdingbar: ›Erziehung‹ versucht Menschen zu schaffen, die kollektiven Interessen ›autonom‹ dienen, d. h. die aus eigener Initiative das tun, was man ihnen in anderen Gesellschaften befehlen oder wozu man sie überreden müßte. ›Erziehung‹ hat außerdem Menschen zu schaffen, die sich für besondere Aufgaben dem Staat und der Partei freiwillig zur Verfügung stellen« (Lindblom 1980, S. 103). Heute, über 30 Jahre später, wissen wir genauer, wie selbstzerstörerisch diese Versuche waren. Dennoch erledigt diese Einsicht nicht die Relevanz des präzeptoralen Modells politisch-ökonomischer Organisation moderner Gesellschaften. Denn auch liberale Demokratien haben der Versuchung präzeptoraler Lenkung der Freiheit nicht widerstanden. Sie sind aber aufgrund ihrer Offenheit der Paradoxie von Überredung stärker ausgesetzt und mussten und konnten deshalb diese Paradoxie besser verstecken, was Lindblom in einem erstaunlich gebauten Argument konstatiert und zugleich zur Stützung der »Normalität« präzeptoraler Systeme nutzt: »Wenn sich Herrschaft und Autorität im liberalen Verfassungsstaat des Westens hinter einer Rhetorik der Partizipation und Initiative verbergen, dann darf es nicht überraschen, sie auch in einer präzeptoralen Ideologie verschleiert zu finden« (Lindblom 1980, 112). Aber er geht einen Schritt weiter und hebt diejenigen Aspekte der präzeptoralen Gesellschaftssteuerung hervor, die heute und auch im Fall liberaler Demokratien besonderes Augenmerk verdienen: Zum einen sind das einige bemerkenswert humane Elemente der präzeptoralen Vision sozialer <?page no="39"?> www.claudia-wild.de: [UTB-S]__Willke__Systemtheorie_3_Steuerungstheorie__[Druck-PDF]/ 11.12.2013/ Seite 40 www.claudia-wild.de: [UTB-S]__Willke__Systemtheorie_3_Steuerungstheorie__[Druck-PDF]/ 11.12.2013/ Seite 41 40 Organisation, die etwa in dem berühmten Wort Maos ausgedrückt sind, wonach von allen Dingen in der Welt Menschen das Kostbarste sind. Als Vision vom erzogenen und schließlich mündigen Bürger ist diese Formel nicht zwingend weniger attraktiv und weniger human als die nach wie vor dominanten Formeln vom marktrationalen und machtrationalen Bürger. Sie spiegelt den in allen präzeptoralen Versuchen durchscheinenden Vorbehalt gegen zu hohe Spezialisierung, Einseitigkeit und gegen Kästchendenken und trifft sich darin einerseits mit aktuellen Entwicklungen in der Organisations- und Unternehmenssteuerung (ausführlicher dazu Systemtheorie II, Kapitel 4); und andererseits mit neueren Überlegungen zu den Folgekosten und Risiken hochgetriebener Spezialisierung und Differenzierung moderner Gesellschaften (dazu Willke 1993b; (Willke 2007a; Willke 2009). Hier genau, im Bereich hochkomplexer liberaler Demokratien, könnte das Modell einer präzeptoralen Steuerung die Brisanz gewinnen, die es für unterentwickelte sozialistische Gesellschaften wie Kuba oder China längst verloren hat. Denn es ist kaum erkennbar, wie das Marktmodell gesellschaftlicher Selbstorganisation auf der einen Seite, das Machtmodell politischer Steuerung der Gesellschaft auf der anderen Seite ausreichen könnten, um die manifesten Funktions- und Steuerungsprobleme in den Griff zu bekommen, welche in wesentlichen Merkmalen auf eine wild gewordene Marktlogik einerseits, eine stumpf gewordene Machtlogik andererseits zurückgehen. Bei einer ganzen Reihe unzweifelhaft drängender, explosiver und risikoreicher Problemlagen wie etwa der gegenwärtig laufenden Zerstörung des tropischen Regenwalds und der schützenden Ozonschicht, aber auch bei Problemen wie dem der Abfallbeseitigung, des Raubbaus an endlichen Energieträgern, der Vergiftung von Boden, Wasser und Luft, des Drogenkonsums etc. verquicken sich zudem ökonomische Borniertheit und politische Machtlosigkeit, so dass es nicht viel Vorstellungsvermögen braucht, um zu erkennen, dass die Logiken des Marktes und der Macht allein für zu viele Problemlagen keine ausreichenden Lösungen in Aussicht stellen. Tatsächlich spielt Lindbloms dritte Steuerungsform neben Macht und Markt gerade bei den genannten Problemen eine besondere Rolle. Die Bildung neuer individueller und kollektiver Verhaltensweisen ist einerseits unabdingbare Voraussetzung für nachhaltige Problemlösungsstrategien; andererseits wissen wir inzwischen aus Erfahrung, dass sich die erforderlichen Verhaltensänderungen weder befehlen noch kaufen lassen. Aufklärung und Erziehung sind deshalb notwendige zusätzliche Steuerungsformen, auch wenn längst nicht klar ist, wie dieses »people processing« wirksam gestaltet werden könnte, ohne die betroffenen Personen- - und das sind in der Regel wir alle- - zu Schulkindern zu degradieren. Die meisten staatlichen Aufklärungskampagnen sind eher abschreckende Beispiele. Andererseits gibt es <?page no="40"?> www.claudia-wild.de: [UTB-S]__Willke__Systemtheorie_3_Steuerungstheorie__[Druck-PDF]/ 11.12.2013/ Seite 40 www.claudia-wild.de: [UTB-S]__Willke__Systemtheorie_3_Steuerungstheorie__[Druck-PDF]/ 11.12.2013/ Seite 41 41 ermutigende Beispiele für erfolgreiche Lernprozesse in Teilbereichen des Umweltschutzes, der Abfallvermeidung, des Umgangs mit Aids, des Schutzes von Nichtrauchern etc. besonders dann, wenn die Kampagnen von privaten Organisationen und Betroffenengruppen getragen werden. Vielleicht ist es der wichtigste Beitrag Lindbloms zum Projekt der Revision der Demokratie, dass er die beengende Alternative von Markt und Staat aufgebrochen und mit der Vision eines durch präzeptorale Elemente durchsetzten Systems angereichert hat. Nach vielen desillusionierenden Erfahrungen kann man heute wissen, dass alle bislang vorgeschlagenen »dritten Wege«, einschließlich Lindbloms präzeptoralem Regime, konzeptionell zu einfach angesetzt und gerade in weniger entwickelten Gesellschaften praktisch chancenlos waren. Eine Anreicherung der Demokratie setzt wohl eine bereits hochentwickelte Form von Demokratie voraus-- eine Bedingung, die in China, Kuba oder Jugoslawien nicht gegeben war. Theoretisch gesehen, ist selbst in hochentwickelten Demokratien ein Erfolg präzeptoraler Elemente unwahrscheinlich, weil die Schwierigkeiten der verändernden Intervention in komplexe personale oder soziale Systeme sehr viel grundsätzlicher sind, als bislang angenommen. Erst auf dem Hintergrund einer elaborierten Systemtheorie, Kommunikationstheorie, Theorie der Beobachtung und einer Interventionstheorie lässt sich begreifen, wie voraussetzungsvoll gelingende Intervention ist-- und mithin, wie schwierig die kontrollierte Veränderung sozialer Systeme. Auch Etzioni schlägt eine Weiterentwicklung des Steuerungsmodells moderner Gesellschaften vor, um über die Beschränkungen der gegenwärtigen Form von Demokratie hinaus zu gelangen. Nicht zufällig zielt sein Vorschlag in eine ähnliche Richtung wie der Lindblom’sche, auch wenn er ein anderes Begriffsinstrumentarium verwendet. Sein Ausgangspunkt ist die Unterscheidung zweier Arten von Ressourcen der Systemsteuerung, Konsens und Kontrolle. Konsens erzeugt die Art von Kohäsion und Zusammenhang, die eher passive Sozialsysteme des Typs Gruppe und Gemeinschaft kennzeichnen, während Kontrolle das Hauptmerkmal eher aktiver und zielorientierter Sozialsysteme wie Organisationen und staatlicher Einheiten ist. Allerdings, so Amitai Etzioni, verfügen alle konkreten Sozialsysteme über beide Momente in unterschiedlichen Gewichtungen, so dass ein bestimmtes System im Laufe seiner Entwicklung unterschiedliche Mischverhältnisse ausbilden und so auch unterschiedliche Identitäten annehmen kann: »Societal units may be thus viewed in terms of a ›two-dimensional activeness space‹. They may be characterized as commanding varying degrees of controlling and consensus-forming capacities. Above all, it is important to note that there is no necessary contradiction between cohesive units <?page no="41"?> www.claudia-wild.de: [UTB-S]__Willke__Systemtheorie_3_Steuerungstheorie__[Druck-PDF]/ 11.12.2013/ Seite 42 www.claudia-wild.de: [UTB-S]__Willke__Systemtheorie_3_Steuerungstheorie__[Druck-PDF]/ 11.12.2013/ Seite 43 42 and control networks; both are important for increasing the societal capacity to act, and active units command both cohesive and control elements« (Etzioni 1971, S. 109). Etzioni überträgt diese Grundidee auf ganze Gesellschaften und kommt, je nach Mischungsverhältnis von Konsens- und Kontrollkapazitäten, zu vier idealtypischen Ausprägungen von gesellschaftlichen Systemen der Selbststeuerung (siehe Tabelle 2.1). »To start with an elementary classification derived from the basic components of societal guidance, four types of societies suggest themselves: (1) those low in both control and consensus-building, passive societies, a type approximated by many underdeveloped nations; (2) those whose control capacities are less deficient than their consensus-building mechanisms, overmanaged societies, a type approximated by totalitarian states; (3) those whose consensus-building is less deficient than their control capacities, drifting societies, a type approximated by capitalistic democratic societies; (4) and societies effective in both realms, active societies, a type which is a ›future system‹ or societal design« (Etzioni 1971, S. 466). Bemerkenswert ist die Einordnung gegenwärtiger demokratischer Industriegesellschaften als dahintreibend. Diese frühe Diagnose Etzionis, die vor allem vom Bild der USA geprägt und auf diese bezogen war, ist auch heute keineswegs überholt. Alle westlichen Demokratien haben sich von ihren je gegenwärtigen Problemen treiben lassen und ihre Zuflucht in kurzfristigem Krisenmanagement gesucht. Wäre der Gewöhnungseffekt nicht so massiv, so müssten wir entsetzt sein über die Steuerungsleistung moderner Demokratien: Sie schieben ein Millionenheer von Arbeitslosen vor sich her und Schuldenberge, die jedes Vorstellungsvermögen übersteigen; sie vergeuden knappe Ressourcen, als gäbe es kein Morgen und vernachlässigen Zukunftsinvestiti- Tabelle 2.1: Steuerungstypen nach Etzioni Kontrolle Konsens schwach stark schwach passiv übersteuert stark dahintreibend aktiv <?page no="42"?> www.claudia-wild.de: [UTB-S]__Willke__Systemtheorie_3_Steuerungstheorie__[Druck-PDF]/ 11.12.2013/ Seite 42 www.claudia-wild.de: [UTB-S]__Willke__Systemtheorie_3_Steuerungstheorie__[Druck-PDF]/ 11.12.2013/ Seite 43 43 onen, als gäbe es keine nächsten Generationen. Sie lassen sich von der Rücksicht auf den nächsten Wahltermin beherrschen und missverstehen diese Borniertheit als Herrschaft des Volkes. Sie unterwerfen sich Technologien-- Beispiele: Autoverkehr, Energieerzeugung oder das globale Schattenbankensystem--, die den Verwertungsinteressen privater Anleger entsprechen, ohne die sozialen Auswirkungen, Folgekosten, Risiken und mögliche Alternativen ernsthaft zu prüfen. Die gesellschaftliche Steuerungsleistung politischer Demokratie ist bewundernswert, vergleicht man sie mit derjenigen anderer real existierender politischer Formen. Aber sie ist miserabel, sobald man sich von diesem bequemen Maßstab löst. Gemessen an ihren selbsterzeugten Problemen gleicht politische Demokratie mit fortschreitender Entwicklungsdynamik moderner Gesellschaften einem Kamikazeunternehmen. Solange es möglich war, alle internen Widersprüche politischer Demokratie mit Verweis auf abschreckende Alternativen (und äußere Bedrohung) zu überspielen, war auch die Legitimität des Projekts nahezu selbstverständlich. Aber diese Automatik hat sich mit der Implosion des Sozialismus und der Explosion der sozialen und ökologischen Probleme moderner Demokratien überlebt (Rosenau 1999). Entweder die Demokratie als Steuerungsmodell korrigiert ihren Kurs oder sie gerät in Gefahr abzustürzen. Die von Etzioni vorgeschlagene Kurskorrektur geht denn auch genau in Richtung einer verbesserten Fähigkeit zu Selbststeuerung. Sie soll dadurch erreicht werden, dass gegenüber den (weniger defizienten) Mechanismen der Konsensbildung »von unten nach oben« verstärkt Instrumente und Netzwerke der Kontrolle und Steuerung »von oben nach unten« etabliert werden. Etzioni hält es für geboten, die Regierungsfähigkeit demokratischer Systeme zu verbessern, weil ansonsten die in repräsentativen systemischen Kommunikationen formulierten Programme, Projekte oder gar Visionen keine Chance auf eine Realisierung haben. Eine zu stark gewichtete Konsens-Komponente überflutet das System mit Ansprüchen, Anforderungen, partikularen Interessen, Einzelvorhaben, Gruppenegoismen etc., ohne dass komplementäre Möglichkeiten bereitstünden, die Anspruchsinflation durch eine Konfrontation mit den Restriktionen der Durchführung und der Systemverträglichkeit zu dämpfen-- Restriktionen wie zum Beispiel Durchsetzungsprobleme, Kosten, Widersprüche zwischen Programmen, mittelfristige Folgen für soziale, sozietale und ökologische Zusammenhänge. Selbstverständlich kann eine einfache Vier-Felder Schematik (Etzioni) oder ein Drei-Formen-Modell (Lindblom) nicht die Problematik und die Tragweite einer Revision des Demokratiemodells einfangen. Sie können aber vielversprechende Richtungen aufzeigen und eingefahrene Alternativen-- wie die zwischen Markt und Staat, zwischen Konsens und Kontrolle-- überwinwww.claudia-wild.de: <?page no="43"?> [UTB-S]__Willke__Systemtheorie_3_Steuerungstheorie__[Druck-PDF]/ 11.12.2013/ Seite 44 www.claudia-wild.de: [UTB-S]__Willke__Systemtheorie_3_Steuerungstheorie__[Druck-PDF]/ 11.12.2013/ Seite 45 44 den helfen. Die wichtigste Leistung beider Modelle scheint mir deshalb darin zu bestehen, Visionen einer »besseren« Demokratie zu entwerfen. Beide Autoren haben ein feines Sensorium für die Steuerungsdefizite sowohl des Marktes als auch des Staates, sowohl der konsensorientierten als auch der kontrollorientierten Modellen der Organisation komplexer Sozialsysteme. Sie beide präsentieren elaborierte Konzeptionen eines dritten Weges, der die humanen und emanzipatorischen Errungenschaften der traditionellen Form von Demokratie bewahrt, zugleich aber ihre Steuerungskapazität verbessern soll. Ohne eine solche Weiterentwicklung, das ist ihre gemeinsame Botschaft, läuft auch das so erfolgreiche Demokratiemodell Gefahr, an der neuen Wirklichkeit hochkomplexer, interdependenter und eigendynamischer Sozialsysteme zu scheitern. In neueren Arbeiten verdeutlichen beide Autoren, dass sie eine solche Gefahr als durchaus realistisch ansehen. Als Steuerungstheoretiker müssen sie sich mit der zutiefst paradoxen Erfahrung auseinandersetzen, dass nach einer gewissen Erschütterung der eingeschliffenen Regeln und Selbstverständlichkeiten in den westlichen Demokratien und einem gewissen Aufbruch der demokratischen Verhältnisse Ende der 1960er- und Anfang der 1970er-Jahre in den dann folgenden 20 Jahren eine tiefgreifende Restauration formaler, repräsentativer, von den etablierten Parteien dominierter demokratischer Herrschaft stattfand. Für sich genommen, wäre dies wenig bemerkenswert: democracy as usual. Ihre Brisanz erhält diese Rückkehr zum Bewährten erst im Kontext einer gleichzeitig hereinbrechenden gesellschaftlichen Entwicklungsdynamik, welche in einem Schwung von »Postmodernisierung« das Gesicht moderner Gesellschaften verändert hat. Neue Technologien, neue Risiken, neue Wissensbestände und Wissensdefizite; Informatisierung, Digitalisierung und Vernetzung; Internationalisierung, Globalisierung und neue Regionalisierung; eine Ausweitung der wechselseitigen Abhängigkeiten und Unkalkulierbarkeiten, ein hitziger werdender Wettbewerb der (westlichen) ökonomischen, sozialpolitischen und technologischen Systeme bei gleichzeitiger intensiver Kooperation und transnationaler Verflechtung etc.; insgesamt eine dramatische Steigerung der Komplexität und Dynamik individueller, sozialer und gesellschaftlicher Kommunikationen in unterschiedlichsten Zeithorizonten und mit nicht mehr beherrschbaren kombinatorischen Folgen. All dies überrollt die herkömmlichen Formen und Verfahren der Demokratie. Die Kluften zwischen Politikern und Experten, Repräsentanten und Betroffenen, nationalen Belangen und transnationalen Zwängen, Risikogebern und Risikonehmern, kurzfristigen und mittelfristigen Kalkülen, individuellen und kollektiven Rationalitäten etc. wachsen sich zu potenziellen Sprengsätzen eines Systems aus, von dem nicht mehr klar ist, was es im Innersten noch zusammenhält. Die Demokratie als Steuerungsform gerät <?page no="44"?> www.claudia-wild.de: [UTB-S]__Willke__Systemtheorie_3_Steuerungstheorie__[Druck-PDF]/ 11.12.2013/ Seite 44 www.claudia-wild.de: [UTB-S]__Willke__Systemtheorie_3_Steuerungstheorie__[Druck-PDF]/ 11.12.2013/ Seite 45 45 zwischen die Mühlsteine einer »postmodernen« Individualisierung einerseits (Welsch 1994, S. 20) und einer technologiegetriebenen Globalisierung andererseits-- allerdings ohne dass dies den politischen Akteuren bislang besonders aufgefallen wäre (siehe dazu Willke 1993a). Unter diesen Umständen ist es bemerkenswert, dass sowohl Etzioni wie auch Lindblom- - wenn auch mit unterschiedlichen Gründen- - in neueren Arbeiten von der Idee abrücken, gegenwärtige demokratische Gesellschaften wären kontrollierbar, planbar und in diesem Sinne steuerbar. Sie reagieren auf die angedeuteten Umwälzungen, indem sie aus ihren mehrdimensionalen Modellen demokratischer Steuerung das Element der auf Expertise gestützten Kontrolle und Belehrung nahezu gänzlich verschwinden lassen. In einer resümierenden Arbeit über die Schwierigkeiten des Versuchs, Gesellschaften zu verstehen und zu formen, kontrastiert Lindblom (1990) nun die beiden Modelle einer wissenschaftlichen Gesellschaft (»scientific society«) und einer selbststeuernden Gesellschaft (»self-guiding society«). Er kritisiert alle Versuche einer »wissenschaftlichen« Gesellschaftssteuerung, von Platon über Saint-Simon und Marx bis zu modernen Systemanalytikern als illusorisch und irregeleitet, weil Vernunft Macht nicht ersetzen könne. Eine idealtypische Gegenüberstellung beider Modelle ergibt folgenden Befund: »The one puts science, including social science, at center stage. In that model, social problem solving, social betterment, or guided social change (regarded as roughly synonymous) calls above all for scientific observation of human social behavior such that ideally humankind discovers the requisites of good people in a good society and, short of the ideal, uses the results of scientific observation to move in the right direction. Social science also of course studies and learns how to go where it has learned society ought to go. In contrast, the model of the self-guiding society brings lay probing of ordinary people and functionaries to center stage, though with a powerful supporting role played by science and social science adapted to the lay role in probing volitions.-… The self-guiding society displays much less hostility to power; there, authorized power has a necessary and honorary contribution to make to problem solving, even if it often degenerates into playing politics« (Lindblom 1990, S. 214 u. 222). Gegenüber seinen eigenen früheren Vorstellungen einer (auch) präzeptoralen Gesellschaftssteuerung gewinnt das Element der machtgestützten Durchsetzung der- - hauptsächlich von den betroffenen Laien und nicht von fernen Experten-- beschlossenen politischen Veränderungsvorhaben die Oberhand. Lindblom begründet dies vor allem mit der Erfahrung, dass eine ganze Reihe von Großproblemen im Kontext der gegebenen Institutionen, Prozesse und Routinen unlösbar geworden sind. Nicht, weil dafür keine vernünftigen, wiswww.claudia-wild.de: <?page no="45"?> [UTB-S]__Willke__Systemtheorie_3_Steuerungstheorie__[Druck-PDF]/ 11.12.2013/ Seite 46 www.claudia-wild.de: [UTB-S]__Willke__Systemtheorie_3_Steuerungstheorie__[Druck-PDF]/ 11.12.2013/ Seite 47 46 senschaftlich fundierten Lösungsvorschläge vorlägen, sondern weil im Rahmen der geltenden demokratischen Entscheidungsprozesse niemand die für eine Problemlösung nötige Kosten tragen möchte und die nötige Mobilisierung leisten kann oder will. Probleme wie die Reform des Gefängnissystems, die Jugendkriminalität in Städten oder die Zerstörung der Umwelt sind theoretisch durchaus lösbar, aber es fehlt der politische Wille, sie zu lösen-- und dieser politische Wille lässt sich nicht durch Expertise ersetzen: »For such problems, all solutions remain closed off unless and until people experience sufficient distress to induce them to reconsider the institutions, social processes, or behavioral patterns up to that moment regarded as parameters. Expert opinion and social research on policies for such problems come to nothing in the absence of a reconsideration of volitions, nor can social scientists or experts of any other kind themselves accomplish the reconsideration.-… If people do not feel an aversion to a situation or state of affairs, they cannot formulate it as a problem, nor will they seek to escape from that state of affairs, nor is there any reason why they should or would« (1990, S. 217, Hervorhebung H. W.). Lindblom kommt hier zu Schlussfolgerungen, die ziemlich frappierend den systemtheoretischen Konzeptionen der Selbststeuerung komplexer Sozialsysteme und der Unwahrscheinlichkeit gelingender Intervention in komplexe Problemlagen entspricht (siehe dazu ausführlich Systemtheorie II, bes. Kap. 5). Allerdings scheint seine Perspektive zu sehr von den Erfahrungen misslingender oder gar unmöglicher Reformen (in einem amerikanischen Kontext) geprägt zu sein, so dass an manchen Stellen der Eindruck entsteht, er schütte das Kind mit dem Bade aus. Zur besseren Übersicht kontrastiere ich die unterschiedlichen gesellschaftlichen Steuerungmodelle von Lindblom in Abbildung 2.1. Insbesondere scheint mir zu kurz zu kommen, dass moderne Demokratien wesentlich von einer fortgeschrittenen funktionalen Differenzierung der gesellschaftlichen Teilsysteme geprägt sind. Fortgeschrittene funktionale Differenzierung bedeutet, dass sich die Funktionssysteme (Politik, Ökonomie, Wissenschaft, Erziehung, Gesundheitssystem etc.) nicht nur aufgrund ihrer Eigensinnigkeit und Eigendynamik politisch schwerer erreichen und steuern lassen, sondern dass sie auf der anderen Seite eigenständige interne Problemlösungskapazitäten ausbilden, einschließlich spezifischer professioneller und organisatorischer Expertise. Es ist deshalb gar nicht nötig, aus der (berechtigten) Ablehnung des »wissenschaftlichen« Modells heraus nun Selbststeuerung vorrangig oder gar ausschließlich auf die schwachen Schultern von Laien zu verlagern. Die Hauptlast der Selbststeuerung tragen in hochorganisierten Gesellschaften nicht isolierte Einzelne, sondern organisierte und korporative <?page no="46"?> www.claudia-wild.de: [UTB-S]__Willke__Systemtheorie_3_Steuerungstheorie__[Druck-PDF]/ 11.12.2013/ Seite 46 www.claudia-wild.de: [UTB-S]__Willke__Systemtheorie_3_Steuerungstheorie__[Druck-PDF]/ 11.12.2013/ Seite 47 47 Akteure, die in der Lage sind, kollektives Handeln in differenzierten, lokalen und vernetzten Organisationen und Gruppierungen zu mobilisieren. Korporative Akteure können sich- - und sie tun dies in der Regel auch- - von den Interessen und Absichten ihrer Mitglieder unabhängig machen, obwohl es diese Mitglieder sind, welche den korporativen Akteur zunächst schaffen: »Once individual actors create a corporate actor- - vest authority and resources in it and entrust it with the right to represent them, to act and negotiate in their name-- this actor usurps new competences, mobilizes new resources and engages in new fields of activity in pursuit of its own interest in survival and power« (Flam 1990, S. 9). Aus diesem Grund ist es unabdingbar, neben Personen auch korporativen und anderen kollektiven Akteuren eine eigenständige Handlungs- und Strategiefähigkeit zuzuschreiben. Hinzu kommt, dass moderne Demokratien eine ganze Reihe von komplexen Sachfragen von Mehrheitsentscheidungen freigestellt und professionellen Organisationen oder Einrichtungen überantwortet haben. Gerichte bis hin zum Verfassungsgericht, Untersuchungskommissionen, Zentralbanken, Regulierungsbehörden (»regulartory agencies«), Ethikkommissionen im Forschungssystem etc. setzen zur Erfüllung ihrer Aufgaben »eher auf Qualitäten Markt wissenschaftliche Gesellschaft selbst-steuernde Gesellschaft Präzeptorales System Hierarchie Evolution der Gesellschaftsformen Quelle: Eigene Darstellung Abbildung 2.1: Evolution der gesellschaftlichen Steuerungsmodelle nach Charles Lindblom <?page no="47"?> www.claudia-wild.de: [UTB-S]__Willke__Systemtheorie_3_Steuerungstheorie__[Druck-PDF]/ 11.12.2013/ Seite 48 www.claudia-wild.de: [UTB-S]__Willke__Systemtheorie_3_Steuerungstheorie__[Druck-PDF]/ 11.12.2013/ Seite 49 48 wie Expertise, Professionalismus, Unabhängigkeit und Kontinuität (…) als auf direkte demokratische Verantwortlichkeit« (Majone 1993, S. 104). Insofern ist in meiner Sicht die Stoßrichtung der Lindblom’schen Kritik zwar richtig und berechtigt. Er lässt sich aber von der etwas grobschlächtigen Dichotomie von wissenschaftlicher und selbststeuernder Gesellschaft zum entgegengesetzten Extrem einer Laienherrschaft hinreißen, die angesichts der unwiderruflichen Verwissenschaftlichung, Technisierung, Komplizierung und Vernetzung aller Momente gesellschaftlicher Wirklichkeit hoffnungslos alteuropäisch erscheint. Zwar gibt es seit einigen Jahren eine unüberhörbare Diskussion über die Einführung oder Erweiterung von Möglichkeiten des Volksentscheids in westliche Verfassungen (Beedham 1993)- - dem würde Lindbloms Argument entsprechen. Aber die meisten der in der Debatte für Volksentscheide angeführten Argumente sprechen weniger für eine Stärkung direkter Demokratie als für eine Stärkung des Subsidiaritätsprinzips. Kernpunkt der Auseinandersetzung ist deshalb gerade nicht Laienherrschaft, sondern die Selbststeuerung der in einer bestimmten Sache oder Problemlage betroffenen und kompetenten Sozialsysteme. Die überkommene Form repräsentativer Demokratie bewegt sich auf der Grenzlinie zwischen einer latenten und einer manifesten Krise, nicht weil sich »oben« die Experten befinden und »unten« die Laien, welche nach Lindblom nun ihren Leidensdruck selbst in Veränderungsenergie umsetzen müssen, sondern weil in den politischen Zentren Repräsentanten ohne Expertise und ohne professionelle Schulung für ihre spezifische Aufgabe sitzen, welche die Sprache der dezentral verteilten Experten, Involvierten und Professionellen gar nicht mehr verstehen können. Den Hauptmangel von Lindbloms revidiertem Modell einer selbststeuernden Gesellschaft sehe ich deshalb darin, dass er die »mittlere« intermediatisierende Ebene der Gruppierungen, Organisationen und Korporationen vernachlässigt. Betont man diese Ebene, dann verliert der Gegensatz von wissenschaftlicher und selbststeuernder Gesellschaft seine Schärfe. Dann kommt in den Blick, dass auch eine selbststeuernde Gesellschaft auf eine möglichst intelligente Verknüpfung von dezentraler Expertise und dezentraler Mobilisierung von Macht zur Durchsetzung wissensbasierter Veränderungsstrategien angewiesen ist. Das Großproblem Umweltzerstörung bietet dafür einen harten Anschauungsunterricht: Es ist schwer zu sehen, wie etwa im Bereich alternativer Verkehrssysteme der »normale« Bürger als Laie zu Vorstellungen und dann zur Mobilisierung von politischer Macht kommen könnte, um in diesem extrem komplexen und verschachtelten Problemfeld umweltverträglichere Lösungen herbeizuführen. Nicht nur sind einige der folgenreichsten Risiken des Individualverkehrs wie Zerstörung der Ozonschutzschicht, Zerstörung der Wälder oder Vergiftung der Luft gerade nicht unmittelbar erfahrbar, so dass auch kein unmittelbarer Leidensdruck entwww.claudia-wild.de: <?page no="48"?> [UTB-S]__Willke__Systemtheorie_3_Steuerungstheorie__[Druck-PDF]/ 11.12.2013/ Seite 48 www.claudia-wild.de: [UTB-S]__Willke__Systemtheorie_3_Steuerungstheorie__[Druck-PDF]/ 11.12.2013/ Seite 49 49 steht; vielmehr scheinen praktische Verbesserungen deshalb so schwer durchsetzbar zu sein, weil jede Lösung zunächst mehr Verlierer als Gewinner, mithin mehr Widerstand als Zustimmung, mehr Kosten als Nutzen erzeugt. Solange es nicht gelingt, qua Überzeugung, Expertise, Ausgleichsmaßnahmen, Verhandlungskunst und generalisierter politischer Macht aus dieser Mechanik der Verhinderung von Veränderung auszubrechen und eine zumindest mittelfristige Perspektive der Problemlösung-- und das heißt der Verteilung von Nutzen und Kosten-- zu etablieren, solange bleiben auch bei einer verstärkten Beteiligung von Laien und einer verstärkten Berücksichtigung von (durch Betroffenheit generierten) individuellen Machtpotenzialen die gegenwärtigen Großprobleme unlösbar. Einen anderen Weg back to basics verfolgt Amitai Etzioni in seinen späteren Arbeiten. Angesichts einer manifesten Unfähigkeit selbst entwickelter Demokratien zu aktiver und prospektiver (d. h. zukunftsweisender und zukunftsverantwortlicher) Selbststeuerung teilt er mit Lindblom das Ziel, neue Formen und Verfahren der demokratischen Aktivierung von Machtpotenzialen zu entwickeln. Während Lindblom gegenüber einer als zu gewichtig eingeschätzten Rolle von Wissenschaftlichkeit, Vernunft und Sachverstand nun den »gesunden Menschenverstand« des Laien ins Spiel bringt, setzt Etzioni auf Moral. Beide Auswege aus der Steuerungskrise des Demokratiemodells müssen systemtheoretisch aufgeklärten Europäern Schauer über den Rücken jagen. Aber in den USA funktionieren Begriffe und Konzeptionen anders (Ackerman 1991, Kap. 1). Dort hat die Erneuerung der Demokratie aus der Erneuerung von Familie, Kommune und »communities« eine Tradition, die bis zur Landung der Mayflower zurückreicht. Die »praktische Vernunft« des einfachen Bürgers ebenso wie die »kommunitarischen Werte« der primären Lebensgemeinschaften sind sicherlich die stärksten Wurzeln der amerikanischen Demokratie-- und insofern ist es schon weniger verwunderlich, dass sowohl Lindblom wie auch Etzioni darauf zurückkommen. Lindblom sieht die Intelligenz der Demokratie durch die partikulare Intelligenz der Experten und Wissenschaftler graduell ausgehebelt; er plädiert deshalb für eine Verstärkung der Mechanismen der Selbststeuerung und dafür, die Aktivitäts- und Machtpotenziale der vielen Laien besser zu nutzen. Komplementär dazu postuliert Etzioni eine folgenreiche Verzerrung unseres Verständnisses kollektiver Entscheidungsfindung durch die massive Vorherrschaft des »rational-choice-Modells«, also eines Modells der Person als isoliertem rationalem Akteur. Er argumentiert, dass es für die Konstruktion eines viablen (lebensfähigen) Steuerungsmodells moderner Gesellschaften nicht ausreiche, wenn rationale Individuen gemäß ihrer je privaten und egoistischen Kosten-Nutzen-Kalküle zwischen Optionen auswählen; denn in diesem Prozess gesellschaftsweit summierter Egoismen verkümmerten gemeinwww.claudia-wild.de: <?page no="49"?> [UTB-S]__Willke__Systemtheorie_3_Steuerungstheorie__[Druck-PDF]/ 11.12.2013/ Seite 50 www.claudia-wild.de: [UTB-S]__Willke__Systemtheorie_3_Steuerungstheorie__[Druck-PDF]/ 11.12.2013/ Seite 51 50 schaftliche Werte und die Rücksicht auf gemeinschaftliche Güter. Zugleich aber kritisiert er »starke« Kommunitaristen wie Sanders, MacIntyre oder Walzer, die wiederum einseitig auf die Steuerungswirkung gemeinschaftlicher Moral setzten und darüber das Individuum und seine individuellen Rechte vernachlässigten. »… those who recognize only the primacy of the community and consider individual rights either secondary and derivative or assert simply that ›there are no such rights‹ (MacIntyre 1984, p. 69), open the door to the intolerance, or worse, the tyranny found not only in totalitarian ideologies but also in absolutist theology and authoritarian political philosophies. Equally unacceptable are positions that focus exclusively on individual rights, particularly the extreme libertarian stand; few endorse policy ideas such as those that allow an individual the right to choose whether or not he or she wishes to defend his or her country (Nozick 1974). This may leave few to defend a country-… The problems of the libertarian position hold for other common goals we all value, from concern for future generations to the condition of the environment (Etzioni 1991, S. 66). In diesem Dilemma versucht Etzioni eine vermittelnde Synthese beider Positionen, ein Modell des »I & We«, das er allerdings nicht sehr weit ausarbeitet. Immerhin stellt er die entscheidende Frage nach der angemessenen Balance beider Momente und illustriert die Konsequenzen jeglicher Einseitigkeit bezeichnenderweise an unterschiedlichen Modellen der Gesellschaftssteuerung: »Wherein lies the proper balance? While no simple guideline suggests itself, the social-historical context provides an important criterion: societies that lean heavily in one direction tend to ›correct‹ in the other. Thus, communist societies have been moving recently to enhance individual liberties. At the same time, American society, believing itself to have tilted too far toward Me-ism [hier: Kunstwort aus Me und ism, H. W.] and interest-group dominance, has been shifting toward a greater emphasis on national priorities and obligations to the community. Other such ›balancing‹ criteria remain to be evolved (Etzioni 1991, S. 67). Immerhin hat die jüngste Geschichte dieses Argument eindrucksvoll bestätigt. Die kommunistischen Gesellschaften sind auch- - und vielleicht sogar vorrangig-- an ihrem Mangel an individuellen Freiheiten zerbrochen; und in den USA ist ein Präsident und eine Administration 2013 zum zweiten Mal an die Macht gekommen, die ausdrücklich die Verpflichtungen der einzelnen für die Gemeinschaft und für kollektive Güter (z. B. ein brauchbareres Gesundheitssystem und Erziehungssystem) wieder stärker betonen. <?page no="50"?> www.claudia-wild.de: [UTB-S]__Willke__Systemtheorie_3_Steuerungstheorie__[Druck-PDF]/ 11.12.2013/ Seite 50 www.claudia-wild.de: [UTB-S]__Willke__Systemtheorie_3_Steuerungstheorie__[Druck-PDF]/ 11.12.2013/ Seite 51 51 Der Generaleinwand gegen diese wohldurchdachten und ernstzunehmenden Ideen zur Revision des Steuerungsmodell Demokratie ist, dass beide Autoren die Wirkung des einen Faktors unterschätzen, der wie kein zweiter die Problematik der Steuerung moderner Gesellschaften prägt: funktionale Differenzierung. Die Radikalisierung der »gesellschaftlichen Arbeitsteilung« zur funktionalen Autonomie und zur operativen Geschlossenheit der gesellschaftlichen Teilsysteme erzeugt erst die zentrifugale Dynamik, der die westlichen Demokratien auch nicht durch den Rückgriff auf gesunden Menschenverstand und Moral entrinnen können. Im Gegenteil: Um die eigensinnigen Funktionssysteme und die sie prägenden Organisationen und Assoziationen dazu zu bringen, miteinander zu kommunizieren, bedarf es nicht nur einer elaborierten Verhandlungslogik und voraussetzungsvoller Fähigkeiten des kollektiven und strategischen Handelns (Elster 1987, Kap. 1.4). Darüber hinaus ist genau das nötig, was den gesunden Menschenverstand ebenso überfordert wie eine auf die eigene »community« bezogene Binnenmoral- - nämlich die Fähigkeit zur Reflexion des Teils auf die Bedingungen der Möglichkeit des Ganzen. In der politischen Praxis vor allem der west- und nordeuropäischen Demokratien entwickelte sich in den 1970er-Jahren als Reaktion auf zunehmende Probleme der Regierbarkeit eine Form der kollektiven Entscheidungsfindung und Interessenmediatisierung, die in der wissenschaftlichen Diskussion unter dem Titel Neokorporatismus Aufmerksamkeit fand. Praxis und Theorie des Neokorporatismus sind für eine Steuerungstheorie moderner Gesellschaften aufschlussreich, weil sie als Versuch verstanden werden können, in einem gesellschaftlichen Großexperiment die Grenzen des politischen bzw. parlamentarischen Demokratiemodells neu zu definieren. Im Kern ging es (und geht es nach wie vor) darum, eine Form des Demokratiemodells zu erfinden, die den Ursprung des Modells in der vom Primat der Schichtendifferenzierung geprägten liberalen, bürgerlichen Gesellschaft des späten 18. und 19. Jahrhunderts aufhebt in einer Revision, welche die humanen und emanzipatorischen Errungenschaften der demokratischen Revolutionen bewahrt und zugleich den Weg für eine Berücksichtigung der Folgen funktionaler Differenzierung freigibt. Eine besonders massive Folge ist die Multiplizierung, Pluralisierung und Dezentrierung von Machtbasen in unterschiedlichsten organisierten Sozialsystemen (Organisationen, Professionen, Assoziationen, Korporationen, Netzwerken etc.) innerhalb einer Gesellschaft. Die Politik als ihrerseits ausdifferenziertes Teilsystem mit der Funktion, für die Gesellschaft insgesamt die erforderlichen kollektiv verbindlichen Entscheidungen zu treffen und durchzusetzen, kann nicht einmal mehr hoffen, diese Aufgabe ohne die Beteiligung der großen Quasi-Gruppen und ihrer korporativen Akteure <?page no="51"?> www.claudia-wild.de: [UTB-S]__Willke__Systemtheorie_3_Steuerungstheorie__[Druck-PDF]/ 11.12.2013/ Seite 52 www.claudia-wild.de: [UTB-S]__Willke__Systemtheorie_3_Steuerungstheorie__[Druck-PDF]/ 11.12.2013/ Seite 53 52 lösen zu können (Mayntz 1993, S. 42). Gerade in Politikfeldern, in denen sich machtvolle autonome Verbände herausgebildet haben, nämlich in der Wirtschafts-, Gesundheits-, Sozial-, Wissenschafts-, Energie- oder Verkehrspolitik, kann von einer unabhängigen Entscheidungskompetenz der Politik keine Rede sein. Gewerkschaften, Unternehmerverbände, Krankenkassen, Ärzteverbände, Krankenhausträger, Wohlfahrtsverbände, Wissenschaftsvereinigungen, Automobilklubs, regionale Energieverbände etc. sind Beispiele für eine Vielzahl gesellschaftlicher Akteure, die nicht zum engeren Bereich der Politik gehören- - und ohne deren Beteiligung in den entsprechenden Politikfeldern dennoch keine nachhaltige Politik gemacht werden kann. Idee und Praxis des Neokorporatismus kommt hier das Verdienst zu, die gesellschaftsgeschichtlich allmählich gewachsene Struktur der Interessenmediatisierung in komplexen, hochorganisierten Gesellschaften ans Tageslicht gebracht und einer demokratietheoretischen Überprüfung zugänglich gemacht zu haben (Schmitter 1983). Sie haben eine Praxis, die lange als Pluralismus, Politikberatung, »pressure-group-politics«, Verbändepolitik etc. verbrämt wurde, aus dem demokratischen Halbdunkel gezerrt und die Frage unabweisbar gemacht, ob Demokratie als Steuerungsmodell einer komplexen Organisationsgesellschaft haltbar ist oder nicht. Wie nicht anders zu erwarten, sind die Antworten auf diese Frage sehr unterschiedlich ausgefallen (Czada u. a. 1993; Lehmbruch 1984; Lehmbruch 1979; Nollert 1992; Willke 1983, bes. Kap. 4.2). Bei aller Heterogenität lassen sich folgende Einsichten festhalten: 1. Die Wahrscheinlichkeit gelingender Gesellschaftssteuerung durch Konzertierung der betroffenen Interessen in neokorporatistischen Verhandlungssystemen ist in Verhandlungsdemokratien höher als in Demokratien mit polarisierendem Mehrheitswahlrecht, also z. B. in der Schweiz, Deutschland, Niederlanden oder Österreich höher als in Großbritannien, Neuseeland oder Frankreich (Schmidt 1993, S. 385). 2. Die auffälligsten Ausnahmen von dieser Regel sind die USA und Japan. Aufgrund ihrer zersplitterten politischen Struktur sind die USA trotz eines ausgeprägten Mehrheitswahlrechts auf Verhandlungen angewiesen- - aber es fehlen hochorganisierte Verbände vor allem in den wirtschafts- und sozialpolitischen Politikfeldern, welche die Notwendigkeit einer Konzertierung erzwingen könnten. Japan dagegen ist trotz eines Mehrheitswahlrechts aufgrund seiner kulturellen Tradition durchgehend auf Konzertierung ausgerichtet. Es hat denn auch in den 1970er-Jahren die deutlichsten technologie- und wirtschaftspolitischen Erfolge einer konzertierten Gesellschaftssteuerung aufweisen können. 3. Die Hauptschwierigkeit einer Stabilisierung sozietaler Verhandlungssysteme in den neokorporatistischen Ländern liegt darin, Asymmetrien in <?page no="52"?> www.claudia-wild.de: [UTB-S]__Willke__Systemtheorie_3_Steuerungstheorie__[Druck-PDF]/ 11.12.2013/ Seite 52 www.claudia-wild.de: [UTB-S]__Willke__Systemtheorie_3_Steuerungstheorie__[Druck-PDF]/ 11.12.2013/ Seite 53 53 den Kosten-Nutzen-Relationen der involvierten Verbände und Korporationen zu vermeiden. Einige Akteure verfügen über mehr Drohpotenzial und Vetomacht als andere, was eine angemessene (d. h. gesamtsystemisch optimale) Kompromissbildung erschwert. 4. Der massivste Druck auf entwickelte Demokratien, ihre Formen der Entscheidungsfindung, Konzertierung und Steuerung zu überdenken, kommt nicht mehr von innen, sondern von außen-- von einem schärferen und folgenreicheren internationalen Wettbewerb der nationalen wissenschaftlich-technologischen, wirtschaftspolitischen und sozialpolitischen Steuerungsmodelle, einschließlich ihrer Infrastruktursysteme der zweiten Generation (Datensuperhighways, neue Verkehrsleitsysteme, neue Energieleitsysteme, neue Fortbildungssysteme). 5. Dieser Druck führt gegenwärtig dazu, dass die noch relativ vereinzelten neokorporatistischen Verhandlungssysteme (konzertierte Aktionen, Sozialräte, runde Tische) in ein allgemeineres Modell der Verhandlungsdemokratie überführt werden. An diesem Punkt steht in Praxis und Theorie eine Revision des Steuerungsmodells der politischen Demokratie zur Debatte, weil inzwischen die Evidenz überwältigend scheint, dass die Koordinationsleistung der repräsentativen-parlamentarischen Demokratie für die Bedarfe hochkomplexer, differenzierter Gesellschaften suboptimal geworden ist. Ich werde auf das Problem der Verhandlungssysteme in Abschnitt 4.1 ausführlicher eingehen. Zunächst möchte ich das zweite große Modell der Steuerung komplexer Systeme diskutieren, das Modell der Hierarchie. Erst wenn wir die Steuerungsproblematiken beider Großmodelle, Demokratie und Hierarchie, umrissen haben, können wir daran gehen, die Idee der Verhandlungssysteme als mögliches alternatives Modell der Steuerung komplexer, funktional differenzierter Sozialsysteme eingehender zu prüfen. <?page no="53"?> www.claudia-wild.de: [UTB-S]__Willke__Systemtheorie_3_Steuerungstheorie__[Druck-PDF]/ 11.12.2013/ Seite 54 www.claudia-wild.de: [UTB-S]__Willke__Systemtheorie_3_Steuerungstheorie__[Druck-PDF]/ 11.12.2013/ Seite 55 <?page no="54"?> www.claudia-wild.de: [UTB-S]__Willke__Systemtheorie_3_Steuerungstheorie__[Druck-PDF]/ 11.12.2013/ Seite 54 www.claudia-wild.de: [UTB-S]__Willke__Systemtheorie_3_Steuerungstheorie__[Druck-PDF]/ 11.12.2013/ Seite 55 55 3 Hierarchie als Steuerungsprinzip komplexer Systeme Selbst für eingefleischte Demokraten hört der Spaß an Demokratie an der Grenze zum »Staat« und seinen Organisationen auf. Es scheint unvorstellbar, dass Ministerien, Bürokratien, Ämter, Polizei oder Armee demokratisch organisiert sein könnten. Warum eigentlich? Was sind die Vorteile von Hierarchie als Steuerungsprinzip und wie lässt sie sich angesichts der offensichtlich »undemokratischen« Qualität des Prinzips an sich legitimieren? Diese Fragen stellen sich nicht nur bezogen auf ganze Gesellschaften. Schon auf den ersten Blick entpuppen sich ausnahmslos alle Teilbereiche moderner Gesellschaften durchsetzt vom Steuerungsmodell der Hierarchie-- und wir scheuen uns dennoch nicht, diese als demokratisch zu bezeichnen. Bei Gefängnissen und Militäreinheiten hält sich die Verwunderung noch in Grenzen. Aber warum müssen auch Krankenhäuser, Universitäten, Unternehmen, Klöster, Sportvereine, Schulen und Familien hierarchisch strukturiert sein? Was macht Hierarchie so erfolgreich, dass man sich keine Organisation ohne die Bestandteile hierarchischer Ordnung vorstellen kann? Wenn Demokratie die entscheidende Erfindung zur Befreiung des Menschen aus Abhängigkeit und Unmündigkeit ist, warum hält sich dann Hierarchie so hartnäckig? Die Antwort findet sich mit Blick auf die Effektivität und Effizienz kooperativer Aufgabenbewältigung. Um zu zeigen, wie universell diese Antwort ist, lasse ich zunächst einen biologisch interessierten Physiker zu Wort kommen: « Hierarchical organization is so universal in the biological world that we usually pass it off as the natural way to achieve simplicity or efficiency in a large collection of interacting elements. If asked what the fundamental reason is for hierarchical organization, I suspect most people would simply say, ›how else would you do it? ‹« (Pattee 1973, S. 73, Hervorhebung H. W.). Für den soziologischen Bereich hat nach Max Weber, der diese Antwort für bürokratische Ordnung im Allgemeinen begründet, vor allem Chester Barnard in seinem Klassiker über »The functions of the executive« (1938, bes. S. 60 f.) die Bedeutung kooperativer Effektivität und Effizienz für die Stabilisierung von Kooperation hervorgehoben. Die Behauptung lautet also: Bestimmte Arten von Aufgaben lassen sich bei bestimmten Ansprüchen an die Art der Aufgabenbewältigung am besten in der Form der Hierarchie bearbeiten. Damit sind wir bei einem wichtigen Punkt, nämlich dem Zusammenwww.claudia-wild.de: <?page no="55"?> [UTB-S]__Willke__Systemtheorie_3_Steuerungstheorie__[Druck-PDF]/ 11.12.2013/ Seite 56 www.claudia-wild.de: [UTB-S]__Willke__Systemtheorie_3_Steuerungstheorie__[Druck-PDF]/ 11.12.2013/ Seite 57 56 spiel zweier Seiten in der Form der Aufgabe, um die es geht: Es gibt keine Aufgabe, keine Probleme im luftleeren Raum, sondern immer nur im Kontext sozialer, zeitlicher, sachlicher, operativer und kognitiver Bedingungen (ausführlich zu diesen Dimensionen Systemtheorie I, Kapitel 4). Außerdem stellen sich Aufgaben oder Probleme nicht unabhängig von Erwartungen an die Art der Problemlösung, etwa Erwartungen hinsichtlich der Wirkungen auf die beteiligten Akteure, der Zeitbedarfe, der Kosten, der Nutzen, der vorausgesetzten und der resultierenden Wissensbestände. Jedes Problem wird also in seiner Qualität als eine Form mit zwei Seiten definiert. Auf der einen Seite nimmt es Form an durch seine Situierung in einem äußeren Kontext von Bedingungen, die das Problem im Reich der Objekte (sachlich-räumlich-zeitlicher Möglichkeiten und Restriktionen) verorten. Zum Beispiel lässt sich die Absicht, einen Menschen auf den Mond zu bringen, als Problem erst mit Rücksicht auf sachliche, räumliche und zeitliche Möglichkeiten und Restriktionen des Zusammenspiels der notwendigen Objekte definieren. Wenn die Tankfüllung der Rakete nicht ausreicht, um die Schwerkraft der Erde zu überwinden, dann wird es sich nicht umgehen lassen, das Problem umzudefinieren. Auf der anderen Seite gewinnt ein Problem Profil am Maßstab subjektiver Erwartungen von Akteuren (Personen, Organisationen, kollektive Akteure, andere handlungsfähige Einheiten), die das Problem durch die Festlegung darüber definieren, was als Lösung akzeptabel ist und was nicht. Wenn zum Beispiel die relevanten Akteure erwarten, dass ein arbeitsfähiger Reaktortyp innerhalb der nächsten 20 Jahre serienreif sein soll, dann muss das Problem außerhalb der Option eines Fusionsreaktors bestimmt werden. Bereits die Unterscheidung dieser beiden Seiten mit jeweils (mindestens) fünf unterschiedlichen Dimensionen ergibt einen stark differenzierten, mehrdimensionalen Kriterienraum, der bestimmten Typen oder Arten von Problemen unterschiedliche Orte zuweist. Für bestimmte Cluster von Problemen haben sich in der gesellschaftsgeschichtlichen Entwicklung entsprechende Formen oder Modelle der Problemlösung herausgebildet. Demnach ist es nur eine Fleißaufgabe, dem Steuerungsmodell Demokratie als Problemlösungsform einen bestimmten Typus von Problemen zuzuordnen und dem Steuerungsmodell Hierarchie einen kontrastierenden Typus von Problemen. Natürlich eröffnet dies auch die Möglichkeit, für weitere, empirisch vorfindliche Cluster von Problemen andere Steuerungsmodelle (Problemlösungsformen) zu entdecken oder zu erfinden. Irritierend könnte sein, dass Steuerungstheoretiker von Hobbes und Rousseau bis zu Etzioni und Lindblom ihr Hauptinteresse auf die verschiedenen Steuerungsmodelle richten, diese Modelle penibel entwickeln, elaborieren, ihre Vorzüge und Nachteile abwägen etc., sich aber nur sehr pauschal <?page no="56"?> www.claudia-wild.de: [UTB-S]__Willke__Systemtheorie_3_Steuerungstheorie__[Druck-PDF]/ 11.12.2013/ Seite 56 www.claudia-wild.de: [UTB-S]__Willke__Systemtheorie_3_Steuerungstheorie__[Druck-PDF]/ 11.12.2013/ Seite 57 57 um die Typik der Probleme kümmern, die erst den Bedarf für dieses oder jenes Modell schaffen. Immerhin ist auch bei den Klassikern klar, dass sie von bestimmten Problemdefinitionen und -konstellationen ausgehen, die dann stark beeinflussen, welche Problemlösungsmodelle (Steuerungsformen) brauchbar erscheinen und welche nicht. Bei Hobbes und Rousseau lässt sich schön nachvollziehen, dass die Definition der Spezifität des Problems aus der jeweiligen Definition der Natur des Menschen folgt. Bei Etzioni und Lindblom ist es dann die Natur der Gesellschaft, welche die Leitprobleme vorgibt. Ohne hier ins Detail gehen zu können, lohnt es doch, kurz diesen Mechanismus zu betrachten. Hobbes nutzt die ersten neun Kapitel seines »Leviathan«, um die Natur des Menschen zu erhellen. Er beschreibt den Menschen als Wesen, das nach Selbsterhaltung und Lustgewinn strebt, dessen stärkste Triebkräfte mithin die Furcht vor einem gewaltsamen Tode und das egoistische Streben nach den angenehmen Dingen des Lebens sind. Dementsprechend sucht er nach einem Steuerungsmodell für eine Gesellschaft, die diese Menschen im Zaume halten soll-- und wir werden nie wissen, ob nicht umgekehrt das Steuerungsmodell des Leviathan, das er im Kopf hat, seine Ansichten über die Natur des Menschen geformt haben. Rousseau dagegen, der die Menschen für im Grunde gut und belehrbar, die besitzindividualistische Gesellschaft dagegen als deformiert und amoralisch begreift, setzt dementsprechend auf ein Steuerungsmodell, in welchem die Individuen im Rahmen demokratischer Regeln möglichst umfassend zur Geltung kommen sollen, jedenfalls solange sie sich infolge einer moralischen Erziehung als gesellschaftsfähig und als resistent gegenüber den Verführungen des Egoismus erweisen. Im Rückblick fällt doch auf, dass sich heute ein gesellschaftliches Steuerungsmodell nicht mehr auf die »Natur« des Menschen gründen lässt. Je detaillierter die Erkenntnisse und Konstruktionen der Biologie, Soziobiologie, Psychologie oder Sozialpsychologie werden, desto klarer erscheint, dass wir nichts über die wirkliche, objektive, wahre Natur des Menschen aussagen können (Watzlawick 1985). Vielen Beobachtern erscheint es heute plausibler, bestimmte Annahmen über die »Natur« der Gesellschaft zu machen und daraus das passende Steuerungsmodell für diese Gesellschaft abzuleiten. Weder Lindblom noch Etzioni, um nur zwei Beispiele zu nennen, sind ganz frei von dieser Anwandlung. Ich habe bereits angedeutet, dass ich beide Ausgangspunkte, die »Natur« des Menschen ebenso wie die »Natur« der Gesellschaft, für ungeeignet halte, um zu einem brauchbaren Steuerungsmodell moderner Gesellschaften zu gelangen. In den Vordergrund möchte ich vielmehr die Art der Probleme stellen, die es zu lösen gilt. Die Gesellschaftsgeschichte belehrt uns, dass für einen bestimmten Typus von Problemen Demokratie ein ziemlich geeignetes <?page no="57"?> www.claudia-wild.de: [UTB-S]__Willke__Systemtheorie_3_Steuerungstheorie__[Druck-PDF]/ 11.12.2013/ Seite 58 www.claudia-wild.de: [UTB-S]__Willke__Systemtheorie_3_Steuerungstheorie__[Druck-PDF]/ 11.12.2013/ Seite 59 58 Modell der Problemlösung abgibt, während für einen anderen Typus Hierarchie das offenbar erfolgreichere Modell ist. Um welche Arten von Problemen handelt es sich? Der einfachere Fall ist Hierarchie. Wie Max Weber in seinen Analysen der Bürokratie beispielhaft gezeigt hat, kommen die Stärken der Hierarchie dann zum Tragen, wenn die zu bearbeitenden Probleme die Form einfacher (binärer) logischer Konditionalsequenzen aufweisen und sich deshalb arbeitsteilig in einzelne Schritte aufteilen und in den Teillösungen auch wieder zu einer Gesamtlösung des Problems zusammensetzen lassen. Es handelt sich um kollektiv relevante, von einzelnen nicht lösbare, umfassende, aber klar geschnittene, oft komplizierte, aber »gut geordnete« Probleme, deren Lösung das geordnete, organisierte Zusammenwirken fachlich kompetenter Rollenträger erfordert. In Max Webers eigener Beschreibung: »Mehr als die extensive und quantitative ist aber die intensive und qualitative Erweiterung und innere Entfaltung des Aufgabenkreises der Verwaltung Anlaß der Bürokratisierung. Die Richtung, in der sich diese Entwicklung vollzieht und ihr Anlaß können dabei sehr verschiedenartig sein. In dem ältesten Land bürokratischer Staatsverwaltung, Aegypten, war es die technisch-ökonomische Unvermeidlichkeit gemeinwirtschaftlicher Regulierung der Wasserverhältnisse für das ganze Land von oben her, welche den Schreiber- und Beamtenmechanismus schuf, der dann in der außerordentlichen, militärisch organisierten Bautätigkeit schon in früher Zeit seinen zweiten großen Geschäftskreis fand. Meist haben, wie schon erwähnt, in der Richtung der Bürokratisierung Bedürfnisse gewirkt, welche durch die machtpolitisch bedingte Schaffung stehender Heere und die damit verbundene Entwicklung des Finanzwesens entstanden. Im modernen Staat drängen aber nach der gleichen Richtung außerdem die durch steigende Kompliziertheit der Kultur bedingten wachsenden Ansprüche an die Verwaltung überhaupt.-… Von wesentlich technischen Faktoren endlich kommen die spezifisch modernen, teils notwendigerweise, teils technisch zweckmäßigerweise, gemeinwirtschaftlich zu verwaltenden Verkehrsmittel (öffentliche Land- und Wasserwege, Eisenbahnen, Telegraphen usw.) als Schrittmacher der Bürokratisierung in Betracht« (Weber 1972, S. 560 f.) Ein Teil dieser Probleme, etwa Steuererhebung oder die Aufstellung von Heeren, können sicherlich auch anders gelöst werden, etwa in der Form einer Pfründenverwaltung oder eines Lehenswesens. Aber Weber lässt keinen Zweifel daran, dass die Erfindung bürokratisch-hierarchischer Organisationsformen eine eminente Kulturleistung darstellt, weil sie die technisch überlegene und formal rationalste Form der Problemlösung sei: <?page no="58"?> www.claudia-wild.de: [UTB-S]__Willke__Systemtheorie_3_Steuerungstheorie__[Druck-PDF]/ 11.12.2013/ Seite 58 www.claudia-wild.de: [UTB-S]__Willke__Systemtheorie_3_Steuerungstheorie__[Druck-PDF]/ 11.12.2013/ Seite 59 59 »Der entscheidende Grund für das Vordringen der bürokratischen Organisation war von jeher ihre rein technische Ueberlegenheit über jede andere Form. Ein voll entwickelter bürokratischer Mechanismus verhält sich zu diesen genau wie eine Maschine zu den nicht mechanischen Arten der Gütererzeugung. Präzision, Schnelligkeit, Eindeutigkeit, Aktenkundigkeit, Kontinuierlichkeit, Diskretion, Einheitlichkeit, straffe Unterordnung, Ersparnisse an Reibungen, sachlichen und persönlichen Kosten sind bei streng bürokratischer, speziell: monokratischer Verwaltung durch geschulte Einzelbeamte gegenüber allen kollegialen oder ehren- und nebenamtlichen Formen auf das Optimum gesteigert« (Weber 1972, S. 561f, Hervorhebungen H. W.). Max Weber bringt also ausdrücklich die Art der Aufgaben und die Form der optimalen Steuerung in einen engen Zusammenhang. Sein Bezugspunkt für die Organisation staatlicher Aktivität und Aufgabenerledigung sind die großen Gemeinschaftsaufgaben: die Herstellung kollektiver Güter unter verhältnismäßig überschaubaren, kalkulierbaren, nur allmählich sich verändernden Umfeldbedingungen. Sein Begriff von Kompliziertheit ist geprägt vom Modell technisch komplizierter mechanischer Maschinen des 19. Jahrhunderts. Seine Idee von Rationalität ist diejenige einer hierarchischen Arbeitsteilung entlang einer logischen, abgestuften Ordnung von Zwecken und Mitteln. Die Funktionalität von Hierarchie zur Lösung großer Gemeinschaftsaufgaben hängt demnach davon ab, ob die anstehenden Aufgaben so zerlegt (dekomponiert) werden können, dass jede Teilaufgabe entsprechend ihrer Verortung in der Struktur der Gesamtaufgabe auf einen passenden Ort in der Struktur der hierarchischen Organisation verteilt werden kann. Jedes befasste Element der Hierarchie übernimmt gemäß seiner Stellung und Spezialisierung einen Teilaspekt der Aufgabe; und schließlich werden die Teilleistungen entlang der hierarchischen Ordnung wieder zu einer Gesamtlösung zusammengeführt. Voraussetzungen einer »Passung« von Aufgabenstruktur und Steuerungsstruktur sind also einerseits eine hierarchisch dekomponierbare Aufgabe und andererseits eine hierarchisch aggregierbare Zusammenführung der Teilleistungen. Diese Übereinstimmung von Aufgabenstruktur und Steuerungsstruktur zerbricht, sobald Komplexaufgaben auftreten, die weder hierarchisch dekomponierbar noch aggregierbar sind, etwa weil zwischen Teillösungen auf unterschiedlichen Ebenen laterale Beziehungen bestehen, die Querschnitts-Verknüpfungen, Ebenen-übergreifende Koordination, hierarchiefreien Diskurs, hohe Entscheidungsautonomien vor Ort etc. verlangen (ausführlich dazu unten Kapitel 3.1). Mit Phillip Herbst (1976, S. 1821; vgl. <?page no="59"?> www.claudia-wild.de: [UTB-S]__Willke__Systemtheorie_3_Steuerungstheorie__[Druck-PDF]/ 11.12.2013/ Seite 60 www.claudia-wild.de: [UTB-S]__Willke__Systemtheorie_3_Steuerungstheorie__[Druck-PDF]/ 11.12.2013/ Seite 61 60 auch Willke, 1983, Kap. 4.1) lässt sich dieser Zusammenhang in folgender Weise schematisch darstellen (vgl. Abbildung 3.1 und 3.2). Vielleicht die aufschlussreichste Erörterung des evolutionären Sinns hierarchischer Ordnung findet sich bei Herbert Simon in einem Text über »Die Architektur der Komplexität« (1978). Simon nähert sich der Hierarchie X X X X X X X X X O O O O O O O O O O O Quelle: Eigene Darstellung ( O = Struktur der Aufgaben; X = Struktur des Steuerungsregimes) Abbildung 3.2: Inkompatibilität von Problemstruktur und Steuerungsstruktur Quelle: Eigene Darstellung O O O O O O O O O X X X X X X X X X ( O = Struktur der Aufgaben; X = Struktur des Steuerungsregimes) Abbildung 3.1: Passung von Problemstruktur und Steuerungsstruktur <?page no="60"?> www.claudia-wild.de: [UTB-S]__Willke__Systemtheorie_3_Steuerungstheorie__[Druck-PDF]/ 11.12.2013/ Seite 60 www.claudia-wild.de: [UTB-S]__Willke__Systemtheorie_3_Steuerungstheorie__[Druck-PDF]/ 11.12.2013/ Seite 61 61 unter dem Blickwinkel einer allgemeinen Systemtheorie und entdeckt, dass hierarchische Systeme sich in Subsysteme aufteilen lassen, die wiederum ihre eigenen Subsysteme haben und so fort. Er fragt nach dem evolutionären Vorteil dieser Subsystembildung und stellt fest, dass es über Subsystembildung möglich wird, in beliebig staffelbaren Untereinheiten des Gesamtsystems stabile Teillösungen für bestimmte Probleme (z. B. Überleben, Stoffwechsel, den Bau einer Pyramide oder die Steuerverwaltung eines Landes) zu erfinden, zu konservieren und bei Bedarf zur Verfügung zu stellen, so dass nicht für jede neue Aufgabe alle Elemente der Problemlösung neu erfunden und entwickelt werden müssen. Dieser evolutionäre »Trick« oder Kunstgriff ermöglicht biologischen und sozialen Systemen den Aufbau einer Komplexität, die ohne hierarchische Ordnung völlig undenkbar wäre (Simon verdeutlicht dies am Beispiel zweier Uhrenbauer, von denen der eine nach jeder Störung oder Unterbrechung immer neu beginnt, während der andere Teilgruppen zusammenbaut, also Teillösungen stabilisiert- - und damit trotz einer bestimmten Rate von Störungen und Fehlern unvergleichlich öfters erfolgreich ist als sein unorganisierter Kollege). In den Untereinheiten einer Hierarchie lassen sich demnach stabile Konfigurationen erarbeiten und lokale Erfahrungen speichern, auch wenn noch keine Gesamtlösung erkennbar ist und niemand weiß, wie eine solche aussehen könnte. Auf der anderen Seite erlaubt diese Vorgehensweise hierarchischen Organisationen wie Unternehmen oder Ministerien, Teillösungen variabel zu verknüpfen und daraus innovative Problemlösungen zu bauen, die als Gesamtlösungen die Fähigkeiten des Systems überfordert hätten (beliebte Beispiele dafür sind das Manhattan-Projekt des Baus der erste Atombombe oder das Apollo-Projekt der Landung auf dem Mond). Das Geheimnis hierarchischer Systeme ist nach Simon also ihre »Nahezu-Zerlegbarkeit« (near-decomposability) oder, moderner formuliert, ihre Modularität. Sie sind ohne den Verlust von Gesamteigenschaften nicht ganz zerlegbar- - ein ganz zerlegbares System wäre eben eine bloße Aggregation von unzusammenhängenden Teilen. Sie sind aber auch nicht in einer Einszu-eins-Relation in allen Hinsichten verknüpft und in ihren Teilen voneinander abhängig-- dies wäre der Fall eines voll vernetzten System, in dem kein Element sich verändern kann, ohne dass diese Veränderung sich unmittelbar auf das ganze System auswirkt. Modularität bezeichnet genau den Grenzfall, in dem die Subsysteme in bestimmten, für das System strategisch wichtigen Momenten zusammenhängen und über selektive Schnittstellen (Interfaces) miteinander kommunizieren, in vielen anderen Momenten und Hinsichten aber voneinander unabhängig sind, so dass nicht alle Ereignisse in den Subsystemen auch für das Gesamtsystem relevant sind, weil sie in der internen Operationsweise der Subsysteme abgearbeitet und durch Schwellenwerte, <?page no="61"?> www.claudia-wild.de: [UTB-S]__Willke__Systemtheorie_3_Steuerungstheorie__[Druck-PDF]/ 11.12.2013/ Seite 62 www.claudia-wild.de: [UTB-S]__Willke__Systemtheorie_3_Steuerungstheorie__[Druck-PDF]/ 11.12.2013/ Seite 63 62 Relevanzkriterien oder ähnliches daran gehindert werden, auf das Gesamtsystem einzuwirken. Bereits in den 1950-Jahren hat Talcott Parsons (1960), der Max Webers Werks sehr genau kannte, Hierarchie als eine Form von Organisation verstanden, welche die Trennung von Ebenen mit dem Ziel erlaubt, Bereiche, Kompetenzen, Arbeitszusammenhänge und soziale Konstellationen gegeneinander autonom zu setzen und dennoch über klar definierte Eingriffs- und Durchgriffsmöglichkeiten eine »Konditionierung von Autonomie« zu erreichen: »Hierarchie schützt vor den unberechtigten Eingriffen anderer in die eigene Arbeit und bezeichnet exakt und präzise die wenigen Stellen, von denen Eingriffe erwartet werden müssen und denen Eingriffe zugemutet werden können« (Baecker 1994, S. 24). Anders gesagt: Nicht alles, was in den Subsystemen passiert, ist für das Gesamtsystem bedeutsam. Um das Gesamtsystem zu verstehen, ist es deshalb nicht erforderlich, alle Einzelheiten der Operationsweise der Teile zu überblicken. Damit stehen »Unterteile, die zu verschiedenen Teilen gehören, (…) untereinander nur in kollektiven Interaktionsverhältnissen-- Einzelheiten ihrer Interaktion können vernachlässigt werden« (Simon 1978, S. 112, Hervorhebung H. W.). Erst diese Besonderheit erlaubt es uns, die Interaktion komplexer Systeme als kollektive Interaktionen zu beobachten, ohne dass wir im Einzelnen die Feinheiten der internen Prozesse und Dynamiken kennen müssen: »Darum ist die Tatsache, dass viele komplexe Systeme eine nahezu auflösbare hierarchische Struktur haben, ein wesentlicher Vereinfachungsfaktor, der uns befähigt, solche Systeme und ihre Teile zu verstehen, zu beschreiben und sogar zu sehen. Oder wir sollten diese Aussage vielleicht anders herum machen: Wenn es bedeutende Systeme in der Welt gibt, die komplex sind, ohne hierarchisch zu sein, dann können sie in erheblichem Umfang unserer Beobachtung und unserem Verständnis entschlüpfen« (Simon 1978, S. 112). Diese Aussage von Herbert Simon beleuchtet den Kern der Problematik einer Steuerungstheorie komplexer (nicht hierarchischer) Systeme. Insbesondere der letztere Satz muss als prophetische Vision unserer heutigen Schwierigkeiten im Umgang mit heterarchischen, vernetzten, wechselwirkenden Systemen gewertet werden. Tatsächlich lässt sich mit Hilfe einer konstruktivistischen Erkenntnistheorie (siehe dazu Systemtheorie II: Interventionstheorie, Kap. 2) heute besser verstehen, dass wir nicht sehen können, was wir nicht wissen. Wir können hierarchische Systeme beobachten, wenn wir brauchbare Vorstellungen davon haben, was eine Hierarchie ausmacht. Wir können aber nicht hierarchische Systeme, etwa komplexe Netzwerke, <?page no="62"?> www.claudia-wild.de: [UTB-S]__Willke__Systemtheorie_3_Steuerungstheorie__[Druck-PDF]/ 11.12.2013/ Seite 62 www.claudia-wild.de: [UTB-S]__Willke__Systemtheorie_3_Steuerungstheorie__[Druck-PDF]/ 11.12.2013/ Seite 63 63 chaotische Systeme, verzweigte Heterarchien, überhaupt nicht wahrnehmen, geschweige denn beschreiben und verstehen, wenn wir nicht vorgängig eine Vorstellung von der »Realität«, d. h. der Funktions- und Operationsweise dieser Systemformen entwickelt-- und das meint: erfunden-- haben. Auf der anderen Seite heißt dies, dass ein Beobachter oder eine Forscherin sehr wohl eine Organisation verstehen kann, ohne die in ihr tätigen Mitglieder ganz zu verstehen, oder einen Menschen verstehen kann, ohne die Funktionsweise seiner Muskelzellen im Detail zu verstehen. So hat kaum jemand Bedenken, ein Auto oder einen Computer zu bedienen, selbst er oder sie nicht wei" wie die Komponenten dieser Maschinen funktionieren. Allerdings schadet es nicht, wenigstens ein elementares Verständnis der Komponenten oder Untereinheiten oder Mitglieder eines Systems selbst und ihres Zusammenspiels im System zu besitzen. Denn bestimmte Eigenschaften der Komponenten begrenzen die Möglichkeiten des Systems im Sinne von Restriktionen, die nicht hintergehbar sind. So lässt sich auf einem einfachen Laptop mit einem Pentium Prozessor nun einmal keine komplexe Wettersimulation darstellen, auch wenn der Prozessor ansonsten innerhalb einer sehr weiten Spannbreite nicht determiniert, wozu der Computer als Gesamtsystem eingesetzt werden kann; sondern im Gegenteil: Das Gesamtsystem als eine bestimmte Form des Zusammenspiels seiner Komponenten (hier zum Beispiel: Tastatur, Monitor, Software, Graphiksystem etc.) »nutzt« den Prozessor so vielfältig, dass Prozesse und Ergebnisse möglich sind, an die niemand bei dessen Konstruktion gedacht hat. Auch wenn die physiologischen Eigenschaften von Muskelzellen ausschließen, dass der Mensch mit seinen Muskeln denkt, so lassen diese Eigenschaften doch einen sehr weiten Spielraum in der Konstitution von Gesamtsystemen, von der muskulären Figur eines Karl Valentin bis zu der eines Arnold Schwarzenegger- - je nachdem, was das Gesamtsystem bereit ist, aus seinen Komponenten zu machen. Gilt das alles auch für Gesellschaften? Lässt sich wirklich behaupten, dass deren Komponenten, ihre Funktionssysteme, Organisationen, Gruppen und Mitglieder, nur lose determinieren, welche Form und welche Eigenschaften eine Gesellschaft annimmt? Lässt sich begründen, dass die Form einer Gesellschaft bestimmt, welche Merkmale der Komponenten zu einer bestimmten Konfiguration zusammengeführt und genutzt werden, so dass scheinbar dieselben Komponenten zu völlig unterschiedlichen Gesamteigenschaften zusammenwirken? Aus der Sicht des Hierarchiemodells von Simon jedenfalls sind diese Annahmen gut begründbar. Da ein hierarchisches System sich aus der Komposition von Teileinheiten (Komponenten, Modulen) ergibt, die nicht in der Fülle ihrer Eigenschaften aufeinander wirken und miteinander zusammenhängen, sondern nur in hoch selektiven strategischen Momenten, resultieren <?page no="63"?> www.claudia-wild.de: [UTB-S]__Willke__Systemtheorie_3_Steuerungstheorie__[Druck-PDF]/ 11.12.2013/ Seite 64 www.claudia-wild.de: [UTB-S]__Willke__Systemtheorie_3_Steuerungstheorie__[Druck-PDF]/ 11.12.2013/ Seite 65 64 die Merkmale des Gesamtsystems weniger aus dem Was der Komponenten als aus dem Wie ihres Zusammenspiels. Betrachten wir unter diesem Aspekt noch einmal die in Kapitel 2 verhandelten Gesellschaftsmodelle von Etzioni und Lindblom. Beide Autoren argumentieren, dass qualitativ erheblich unterschiedliche Arten von Gesellschaften aus prinzipiell denselben Komponenten dadurch entstehen, dass Art und Qualität des Zusammenspiels dieser Komponenten verändert werden. Ein Zusammenwirken der Personen, Gruppen, Organisationen und korporativen Akteure unter der Leitidee maximaler Kontrolle ergibt eine »übersteuerte« Gesellschaft, ein Zusammenspiel unter dem Leitgedanken maximaler konsensueller Abstimmung ergibt eine »dahintreibende« Gesellschaft. Machen rationale Expertise, Fachwissen und wissenschaftlich begründbare Lösungen die Qualität des Zusammenhangs der Komponenten einer Gesellschaft aus, so würde Lindblom von einer »wissenschaftlichen« Gesellschaft reden, während er eine »selbststeuernde« Gesellschaft diagnostiziert, wenn die Komposition der Elemente vom Machtkampf interessierter Betroffener als Laien bestimmt ist. Was steht nun aber hinter solchen unterschiedlichen Ideen des Zusammenspiels der Komponenten eines komplexen Systems? Alles, was wir bisher über Demokratie und Hierarchie als die Großmodelle der Steuerung komplexer Systeme gehört haben, führt zu dem Schluss, dass dieser Hintergrund nichts anderes ist als die dominante Perzeption der dominanten Aufgaben, um deren Lösung es im Systemkontext geht. Wird die Aufgabe als Zähmung der Bestie Mensch definiert, als Zähmung einer widerspenstigen Natur durch technische Großprojekte, als arbeitsteilige und effiziente Lösung kollektiver Probleme der Erzeugung klar definierter öffentlicher oder privater Güter in überschaubaren und berechenbaren Kontexten, so spricht alles für das Steuerungsmodell der Hierarchie. Beschreibt die vorherrschende Definition die anstehenden Aufgaben dagegen als Befreiung der Individuen von gesellschaftlichen Deformationen, als die Herstellung eines harmonischen Verhältnisses zwischen Mensch und Natur, als die verteilte Lösung vieler lokaler, unklar definierter, kurzfristiger und kontinuierlich sich verändernder Teilprobleme, dann lässt sich wenig am Steuerungsmodell Demokratie aussetzen. Was immer sonst noch für oder gegen diese Modelle sprechen mag: Ihre wirksamste Verankerung finden sie nicht in irgendwelchen »konkreten« Motiven, Leidenschaften oder Interessen, sondern in den luftigen Höhen von Vorstellungen über notwendige kollektive Aufgaben und mögliche kollektive Lösungen. Darin kommt zum Ausdruck, dass Steuerung und Steuerungsmodelle logischerweise nur Sinn machen, wenn es etwas zu steuern gibt. Dies ist der Fall, wenn der bloße naturwüchsige Ablauf der Ereignisse von Beobachtern/ Akteuren-- aus welchen Gründen auch immer-- als nicht akzeptabel beurwww.claudia-wild.de: <?page no="64"?> [UTB-S]__Willke__Systemtheorie_3_Steuerungstheorie__[Druck-PDF]/ 11.12.2013/ Seite 64 www.claudia-wild.de: [UTB-S]__Willke__Systemtheorie_3_Steuerungstheorie__[Druck-PDF]/ 11.12.2013/ Seite 65 65 teilt wird. Steuerung zielt immer auf eine verändernde Beeinflussung des naturwüchsigen Ablaufs der Ereignisse, setzt also voraus, dass eine beobachtungs- und beurteilungsfähige, also im Kern distinktionsfähige Instanz zwischen dem vorgestellten Ergebnis einer natürlich-evolutionären Entwicklung und dem vorgestellten Ergebnis einer intentional (mit bestimmten Absichten) beeinflussten Entwicklung einen Vergleich anstellt. Weil diese Vorstellungsfähigkeit-- soweit wir wissen-- der natürlichen Evolution fehlt und in diesem Sinne die Evolution dem Aspekt der Zukunft keinerlei Relevanz zumessen kann, also ausschließlich aus vergangenen Ereignissen resultiert, unterscheiden sich Evolution und Steuerung fundamental vor allem in der Zeitdimension. Ich komme darauf zurück. Hier geht es um die Erkenntnis, dass komplexe (psychische und soziale) Systeme, die über die Fähigkeit zu interner Repräsentation, Reflexion und Projektion verfügen, sich ihrer Identität, ihrer Geschichtlichkeit und mithin ihrer Veränderbarkeit bewusst werden können. Veränderung ist damit nicht mehr ein Vorrecht natürlich-evolutionärer Variation, sondern auch eine gezielt herstellbare Möglichkeit der Selbststeuerung komplexer Systeme. Mit der Möglichkeit gewollter Veränderung kommt allerdings zugleich auch ein kompetitiver Zwang zur Veränderung in die Welt, weil verbesserte Wettbewerbsfähigkeit eines Konkurrenten die anderen zum Nachziehen zwingt. Die Organisationsform eines Systems, die Form seiner Selbststeuerung, gerät damit in das Spannungsfeld kompetitiver Zwänge. Dies führt uns zurück zu Max Weber. Die Erfindung der monokratischen (hierarchischen) formalen Bürokratie ist für Weber gerade auch in welthistorisch vergleichender Analyse »nach allen Erfahrungen die an Präzision, Stetigkeit, Disziplin, Straffheit und Verlässlichkeit, also: Berechenbarkeit für den Herrn wie für die Interessenten, Intensität und Extensität der Leistung, formal universeller Anwendbarkeit auf alle Aufgaben, rein technisch zum Höchstmaß der Leistung vervollkommenbare, in all diesen Bedeutungen: formal rationalste, Form der Herrschaftsausübung.- … Man hat nur die Wahl zwischen ›Bureaukratisierung‹ und ›Dilettantisierung‹ der Verwaltung« (Weber 1972, S. 128, Hervorhebungen H. W.). Über 70 Jahre später urteilt ein anderer intimer Kenner hierarchischer Systeme eher noch euphorischer: »At first glance, hierarchy may seem difficult to praise.-… Yet 35 years of research have convinced me that managerial hierarchy is the most efficient, the hardiest, and in fact the most natural structure ever devised for large organizations.-… the theorists’ belief that our changing world requires an <?page no="65"?> www.claudia-wild.de: [UTB-S]__Willke__Systemtheorie_3_Steuerungstheorie__[Druck-PDF]/ 11.12.2013/ Seite 66 www.claudia-wild.de: [UTB-S]__Willke__Systemtheorie_3_Steuerungstheorie__[Druck-PDF]/ 11.12.2013/ Seite 67 66 alternative to hierarchical organization is simply wrong, and all their proposals are based on an inadequate understanding of not only hierarchy but also human nature« (Jaques 1991, S. 108). Diese starke Behauptung ist Grund genug, sich nun diesen Alternativen zur Hierarchie zuzuwenden. 3.1 Kritik der Hierarchie Wenn die zentrale Legitimation für Hierarchie als Steuerungsform sozialer Systeme ist, dass sie Aufgaben effektiver und effizienter bewältigt als jede andere Form (Max Webers »formal rationalste Form der Herrschaftsausübung«), dann muss jede Kritik ins Mark treffen, die der Hierarchie genau diese Qualität streitig macht. Wie aber kann es sein, dass seriöse Wissenschaftler behaupten, Hierarchie sei die rationalste Maschine der Aufgabenbewältigung, während andere, nicht minder seriöse Beobachter genau das Gegenteil postulieren? Die Antwort ist einfach: Sie reden von unterschiedlichen Aufgaben und Aufgabenverteilungen. Immer geht es um kollektive Aufgaben, die das Zusammenspiel, also irgendeine Form der Kooperation, mehrerer Personen verlangen. Die Frage ist, wie diese Aufgabe auf die Personen verteilt werden kann und welche Art von Beiträgen die kooperierenden Personen leisten. P. G. Herbst (1976, S. 31) unterscheidet drei Grundkonstellationen: 1. Eine Person-- eine Aufgabe: Dies ist der Ort monokratischer hierarchischer Organisation, weil jede Person eine abspaltbare Teilaufgabe übernimmt, für die sie spezialisiert ist. Die Teilaufgaben werden entlang der Hierarchie zusammengeführt, so dass sich am Ende die Teillösungen zur Gesamtlösung der Aufgabe fügen. Beispiele dafür sind umfangreiche und aufwendige Aufgaben wie etwa die Finanzverwaltung eines Landes, die weltweite Organisation der katholischen Kirche oder die Organisation einer großen Armee. Keine einzelne Person könnte die Gesamtaufgabe leisten oder auch nur die Feinheiten und Details der Aufgabe überblicken. Erforderlich ist also einerseits die Kooperation vieler Spezialisten, andererseits eine Form der Koordination der Kooperation, welche die Teilbeiträge in der »richtigen« Weise zusammenführt. 2. Jede Person- - jede Aufgabe: Eine bestimmte Aufgabe wird von mehreren Personen kooperativ erledigt, wobei jede Person kompetent ist, d. h. so vielseitige Erfahrung hat oder so ausgebildet ist, jeden Teilaspekt der Aufgabe zu übernehmen. Ein Beispiel dafür ist eine autonome Arbeitsgruppe im Automobilbau, die aus dreißig Komponenten ein nahezu fertiges Auto herstellt. Jedes Mitglied der Gruppe beherrscht jeden Aspekt des Zusamwww.claudia-wild.de: <?page no="66"?> [UTB-S]__Willke__Systemtheorie_3_Steuerungstheorie__[Druck-PDF]/ 11.12.2013/ Seite 66 www.claudia-wild.de: [UTB-S]__Willke__Systemtheorie_3_Steuerungstheorie__[Druck-PDF]/ 11.12.2013/ Seite 67 67 menbaus und kann dort eingreifen, wo es gerade notwendig ist. Weitere Beispiele wären ein Team von Anwälten oder von Ärzten, die an einem sehr schwierigen und komplexen Fall arbeiten, bei dem es darauf ankommt, dass jeder jeden Aspekt des Falles versteht. Offensichtlich lässt diese Organisationsform sehr viel mehr Flexibilitäten, mehr Selbstbestimmung und mehr Raum für Eigeninitiative zu als eine monokratisch-hierarchische Form, in der nahezu alles festliegt. Auf der anderen Seite ist dies eine extrem aufwendige Art der Aufgabenerledigung, die von den Beteiligten nicht nur integrierte fachliche Kompetenzen erfordert, sondern auch die Fähigkeit, in Gruppen oder Teams ohne hierarchische Struktur kooperativ und produktiv zusammenzuarbeiten-- eine keineswegs selbstverständliche Fähigkeit. 3. Jede Person- - überlappende Aufgaben: Eine dritte, vermittelnde Form ergibt sich nach Herbst schließlich als eine Art Matrix-Organisation, wenn die Systemmitglieder weder nur jeweils eine einzige Aufgabe beherrschen, noch jeweils alle erforderlichen Kompetenzen in sich vereinigen, sondern dank überlappender Kompetenzen jedes Mitglied der Gruppe oder der Organisation fähig ist, mehrere (zwei bis vier) Teilaufgaben zu erledigen. Dies erlaubt es, je nach Situation flexibel zu reagieren, unterschiedlich variierbare Teilteams zusammenzustellen und die gerade erforderliche Kombination von Kompetenzen zu bündeln. In der praktischen Gestaltung von Organisationsformen der Kooperation gibt es über diese drei Grundformen hinaus weitere Varianten. So treibt der Wettbewerbsdruck insbesondere die Entwicklung von Unternehmensformen in immer neue Richtungen der Erweiterung und Kombination der Grundformen. Jede Kritik am Prinzip der Hierarchie sollte allerdings berücksichtigen, dass die Grenzen des Organisationsmodells der Hierarchie gerade aus dessen Leistungsfähigkeit resultieren: Der Aufbau immer komplexerer Systeme mit Hilfe hierarchischer Strukturen führt zu dem Punkt, an welchem der Aufwand und die Kosten für hierarchisch korrekte Kommunikationen zwischen den betroffenen Komponenten und Ebenen für das Ganze untragbar oder konterproduktiv werden und deshalb neue Formen der Organisation von Komplexität erfunden werden müssen. Die Leistungsfähigkeit von Hierarchie ermöglicht Steigerungsprozesse, die Hierarchie zugleich voraussetzen und überfordern. Solche Steigerungsprozesse lassen sich in folgenden Dimensionen beobachten: • In sachlicher Hinsicht steigt die Komplexität der verwendeten und produzierten Gegenstände, Instrumente, Maschinen, Technologien etc. Eine Autobahn ist ein unvergleichlich komplexerer Gegenstand als eine Dorfstraße; ein Computer, eine Rauchgasentschwefelungsanlage oder ein <?page no="67"?> www.claudia-wild.de: [UTB-S]__Willke__Systemtheorie_3_Steuerungstheorie__[Druck-PDF]/ 11.12.2013/ Seite 68 www.claudia-wild.de: [UTB-S]__Willke__Systemtheorie_3_Steuerungstheorie__[Druck-PDF]/ 11.12.2013/ Seite 69 68 Kommunikationssatellit setzen unvergleichlich komplexere Instrumente und Technologien voraus als ein Pflug oder eine Pferdekutsche. Während ein einfacher Handwerker durchaus noch Adam Smiths berühmte Stecknadeln alleine fertigen könnte, wenn auch sehr zeitaufwendig, so ist klar, dass niemand mehr die Fülle der Kompetenzen hat, um ein modernes Auto oder gar Flugzeug zu bauen. Die Komplexität der Sachen hat Folgen für die Komplexität der Organisationsform, in welcher diese Sachen hergestellt und genutzt werden. Insbesondere weitverzweigte Hierarchien versuchen, die sachliche Komplexität ihrer Operationen durch immer monströsere Regelwerke aufzufangen, indem sie die Quantität ihrer Regeln buchstäblich ins Uferlose treiben-- und sie müssen es nach der Logik der Hierarchie auch, weil alles, was präzise beschrieben und vorgeschrieben werden kann, auch präzise beschrieben und vorgeschrieben wird, um die unlösbare Aufgabe der Kontrolle wenigstens scheinbar zu lösen. Dies gilt für »Dienstanweisungen« in Ministerien ebenso wie für Beschaffungsvorschriften von Universitäten, für die Ausschmückung von Steuerrichtlinien ebenso wie für die Spezifikationen im militärischen Beschaffungswesen: »Military specification MIL-F-1499F describes, in 18 pages exactly what must go into a fruitcake-… there is a 20-page specification for towels, a 20-page specification for underwear, and a 16-page specification for plastic whistles, a 17-page specification for olives, a 20-page specification for hot chocolate-…« (Gansler 1989, S. 191). • In der sozialen Dimension nimmt die Komplexität der Kommunikationen und Interaktionen zu, weil für immer mehr Aufgaben mehrere Menschen, Gruppen oder Systeme mit mehreren spezialisierten Kompetenzen zusammenarbeiten müssen. Konnte man früher noch seine Schulausbildung bei einem einzelnen Schulmeister und selbst eine Universitätsausbildung im Wesentlichen bei einem einzelnen Lehrer absolvieren, so bedarf dies heute einer aufwendigen Koordination unzähliger Personen, Stellen, Institutionen etc. Ähnliches gilt etwa für den Bau eines Hauses oder gar einer Fabrik. Verursacht wird diese Komplexitätssteigerung dadurch, dass bei verdichteten und technisch mediatisierten Sozialbeziehungen zusätzliche Aspekte, Auswirkungen, Risiken, unerwünschte Nebenfolgen, Abstimmungserfordernisse etc. zu berücksichtigen sind. Selbst die Produktion eines sachlich so einfachen Dinges wie eines Hamburgers erfordert heute in der Sozialdimension eine aufwendige Koordination von arbeitsrechtlichen, lebensmittelrechtlichen, hygienischen, abfallwirtschaftlichen, unternehmensrechtlichen und vielen <?page no="68"?> www.claudia-wild.de: [UTB-S]__Willke__Systemtheorie_3_Steuerungstheorie__[Druck-PDF]/ 11.12.2013/ Seite 68 www.claudia-wild.de: [UTB-S]__Willke__Systemtheorie_3_Steuerungstheorie__[Druck-PDF]/ 11.12.2013/ Seite 69 69 anderen Aspekten- - eben weil in allen diesen Hinsichten sozial unerwünschte Nebenfolgen auftreten könnten. • In der zeitlichen Dimension kumulieren heute vermutlich besonders massive- - und zugleich besonders schwer zu beobachtende- - Komplexitätssteigerungen. Abzulesen ist dies an Vokabeln wie Zeitdruck, Zeitknappheit, Dynamik, Temposteigerung, »Real-time«-Koordination, langfristige Folgen, chaotische Prozesse etc. Jedes Sozialsystem konstituiert seine eigene Zeitlichkeit (Luhmann 1978), und so kommt es unweigerlich zu immer komplexeren Interferenzen zwischen den Zeitlichkeiten, Zeitrechnungen und Zeitdynamiken unterschiedlicher Systeme. Im Ergebnis bedeutet dies, dass es in der Koordination verschiedener Systeme schwieriger wird, passende Zeitfenster (»windows of opportunity«) zu finden, in denen gegenüber abschließenden Sachzwängen und Zeitdynamiken überhaupt noch Offenheit für die Möglichkeit wechselseitiger Beeinflussung gegeben sind. Einerseits sind heute zeitliche Abstimmungen bis in den Nanobereich von Sekunden möglich und erforderlich, etwa in der Abfolge von Datenpaketen in den Glasfaserkabeln von Hochleistungsinformationsnetzen; andererseits reicht der Planungshorizont für Produkte wie Jet-Turbinen, Atomkraftwerke oder öffentliche Infrastruktursysteme über 20 oder gar 30 Jahre hinaus. • In räumlicher Hinsicht sind die Verdichtung der Sozialbeziehungen und die damit einhergehende Komplexitätssteigerung leichter auszumachen. Wenige Aspekte des täglichen Lebens entziehen sich noch der doppelten Dynamik von Globalisierung und gleichzeitiger Regionalisierung. Komplexe Produkte jeglicher Art, von Konferenzen bis zu Computern, verlangen und erzeugen ein globales Zusammenspiel von Komponenten, Akteuren und Kommunikationen. Selbst die Schnittblumen auf dem Schreibtisch kommen per Jet aus Afrika. Amerikanische Softwarefirmen lassen Module in Indien entwickeln und per Satellit in die USA überspielen. Einige multinationale Konzerne verfügen inzwischen über eigene globale Kommunikationsnetze, die eine Nahezu-Echtzeit-Koordination ihres weltweiten Produktions- und Vertriebsnetzwerkes erlauben. Über diese traditionellen Dimensionen hinaus gewinnen zwei weitere Dimensionen an Bedeutung: • In operativer Hinsicht schlagen die geschilderten Komplexitätssteigerungen auf die Handlungsfähigkeiten selbstorganisierender, selbststeuernder und selbstbewusster Systeme durch. Allerdings nicht nur in dem Sinne, dass es schlicht mehr und machtvollere Akteure gibt, z. B. mehr Nationen in der UN, mehr Mitglieder in der EU, mehr organisierte Lobbyisten in Washington, mehr Interessengruppen innerhalb einer Universität etc., <?page no="69"?> www.claudia-wild.de: [UTB-S]__Willke__Systemtheorie_3_Steuerungstheorie__[Druck-PDF]/ 11.12.2013/ Seite 70 www.claudia-wild.de: [UTB-S]__Willke__Systemtheorie_3_Steuerungstheorie__[Druck-PDF]/ 11.12.2013/ Seite 71 70 sondern vor allem auch in dem Sinne, dass Handlungen und Handlungsstrategien wählbar, kontingent und riskant werden: »Das System, das unter dem Aspekt der Beherrschung der Umwelt, der operativen Autonomie und der Selbststeuerungsfähigkeit gegenüber den Ereignissen der Umwelt eine einzigartige Lösung darstellt, wird nun aufgrund der sich entwickelnden operativen Komplexität sich selbst zum Problem. Es produziert Optionen in einem Ausmaß, das immer schwieriger zu verarbeiten ist. Für die Lösung des Problems der Autogenese handelt es sich das Folgeproblem der Autokatalyse ein: wie der Zauberlehrling im Märchen, wird es von den eigenen Fähigkeiten in höchste Bedrängnis gebracht. Systemintern wird alles möglich, da alles- - selbst die eigenen Strukturen und Prozesse-- zur Disposition stehen« (Willke 1993c, S. 107). Damit kommt ein Grad an Unsicherheit und Unvorhersehbarkeit in die Welt, der entsprechende Formen und Mechanismen der Absorption von Unsicherheit, des Umgangs mit Risiken, der Verarbeitung von Kontingenz verlangt. Sicherlich haben moderne Gesellschaften Erfahrungen damit. Das Projekt der Moderne war im Kern nichts anderes: die Ablösung der traditionalen, religiös verankerten Gewissheiten durch säkulare Machbarkeit und Kontingenz. Aber viele Gründe sprechen dafür, dass die für diesen Umbruch entwickelten Instrumentarien, vor allem positives Recht, formale Hierarchie als Organisationsform und Demokratie als Herrschaftsform, an die Grenzen ihrer Leistungsfähigkeit und Belastbarkeit stoßen. Die Kritik der Hierarchie ist ein Ausdruck der Erfahrung dieser Grenzen. • Schließlich die kognitive Dimension: Es bedarf keiner großen Begründung, dass die »Verwissenschaftlichung der Welt« atemberaubende Ausmaße angenommen hat. Nahezu jede Handlung, jede Entscheidung, jeder Gedanke, jede Kommunikation erfordert Expertenwissen. Für Personen bedeutet dies lebenslanges Lernen, kontinuierliche Weiterbildung, rasche Wissensrevision, größere Spezialisierung und größere Abhängigkeiten vom Wissen anderer. Noch einschneidender allerdings scheint zu sein, dass das von Personen unabhängige Wissen sich in unüberschaubaren Wucherungen vermehrt und eine systematisch und systemisch bedingte »neue Unübersichtlichkeit« (Habermas) erzeugt, der gegenüber sich die Figur des sinnsuchenden Privatgelehrten mit Bleistift und Notizblock seltsam hilflos ausmacht. Bereits gedruckte Bücher machen sich von ihren Autorinnen und Lesern unabhängig, weil kein Autor kontrollieren kann, was seine Leser »verstehen« werden, und jeder Leser etwas anderes »liest«. Bücher kumulieren das in ihnen festgehaltene Wissen in labyrinthischen Bibliotheken. Sie machen dieses Wissen von den zeitlich/ räumlich/ sozialen Beschränkungen direkter mündlicher Kommunikation unabhängig <?page no="70"?> www.claudia-wild.de: [UTB-S]__Willke__Systemtheorie_3_Steuerungstheorie__[Druck-PDF]/ 11.12.2013/ Seite 70 www.claudia-wild.de: [UTB-S]__Willke__Systemtheorie_3_Steuerungstheorie__[Druck-PDF]/ 11.12.2013/ Seite 71 71 und steigern so die Möglichkeiten überraschender Verwendungen des Wissens. Verstärkt gilt dies für Expertensysteme, Regelwerke, Datenbanken, programmproduzierte Daten, anonymisierte Hypertexte in Computernetzen, Standardprotokolle für Schnittstellen, Symbolsysteme wie Programmiersprachen, maschinell verkörpertes Produktionswissen, in Regelprogrammen festgehaltenes Organisationswissen etc. Diese Komplexität des Wissens hat Folgen für die Komplexität der Organisationsformen, in denen Probleme formuliert und bearbeitet werden können. Betrachtet man den Zusammenhang der Komplexitätssteigerungen in den genannten sechs Dimensionen für dieses Jahrhundert, für die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg, für das zurückliegende Jahrzehnt, dann kann nicht mehr überraschen, dass Steuerungsformen, die im Prinzip am Beginn des Projekts der Moderne entstanden waren, an harte Grenzen stoßen. Bemerkenswerterweise sind Radikalisierungen der Grundmodelle Demokratie und Hierarchie historisch gescheitert, sowohl die übersteigerte Hierarchie in der Form des faschistischen oder stalinistischen Führerprinzips, wie auch die übersteigerte Demokratie in der Form von egalitären Kommunen oder »Volksdemokratien«. In einer Übersteigerung scheint daher keine Lösung zu finden zu sein. Sie könnte stattdessen in einer Moderierung liegen, die darauf hinausläuft, dass Demokratie und Hierarchie Steuerungsmodelle unter vielen anderen sind-- sogar unter einigen, die erst noch erfunden werden müssen. <?page no="71"?> www.claudia-wild.de: [UTB-S]__Willke__Systemtheorie_3_Steuerungstheorie__[Druck-PDF]/ 11.12.2013/ Seite 72 www.claudia-wild.de: [UTB-S]__Willke__Systemtheorie_3_Steuerungstheorie__[Druck-PDF]/ 11.12.2013/ Seite 73 <?page no="72"?> www.claudia-wild.de: [UTB-S]__Willke__Systemtheorie_3_Steuerungstheorie__[Druck-PDF]/ 11.12.2013/ Seite 72 www.claudia-wild.de: [UTB-S]__Willke__Systemtheorie_3_Steuerungstheorie__[Druck-PDF]/ 11.12.2013/ Seite 73 73 4 Das Problem der Koordination Schon Adam und Eva hatte Schwierigkeiten mit der Koordination ihrer Absichten und Handlungen-- und sie waren nur zu zweit, sieht man einmal von der Schlage ab. Zwar wissen wir empirisch nicht allzu viel über den Fall, aber aus den unterschiedlichen Versionen des narrativen Materials muss man wohl schließen, dass dieser erste Versuch der Koordination zweier individueller Handlungsstrategien fehlgeschlagen ist. Herkömmliche Handlungs- und Akteurstheorien sind wenig geeignet, die Problematik der Koordination komplexer Systeme angemessen zu behandeln, weil sie gewissermaßen mit der Nase auf den konkreten Ereignissen kleben. Sie sind sehr gut darin, die Beweggründe einzelner Akteure und ihre Handlungskonstellationen zu beschreiben, aber sie sehen den Wald vor lauter Bäumen nicht. Damit sind sie nicht wertlos, aber wenn man an genau diesem Wald interessiert ist, also, an den Zusammenhängen und Systemlogiken, welche erst bestimmte Handlungen hervorbringen, dann ist ein anderer Ansatz unabdingbar. Für eine Steuerungstheorie steht zunächst die Frage im Vordergrund, weshalb komplexe Systeme (wie vor allem Gesellschaften) überhaupt Steuerungsregime benötigen, Regierungen brauchen und sich selbst damit die Aufgabe der politischen Steuerung verschreiben und vorschreiben. Die allgemeinste Antwort auf diese Frage ist, dass das Zusammenspiel vieler Menschen in einem sozialen System zwei Leistungen erfordert, wenn man Chaos und Anarchie vermeiden möchte. Diese Leistungen sind Koordination und Kooperation. Erst danach, wenn diese Grundvoraussetzungen gegeben sind, kommen die Aufgaben der Lösung konkreter Steuerungsprobleme ins Spiel. Koordination bezeichnet den grundlegenden Prozess der Abstimmung einer gemeinsamen Perspektive. Wie das Wort selbst schon andeutet geht es darum, Ordinaten im Sinne eines gemeinsamen Vermessungssystems zu etablieren, um wissen zu können, in welchem Rahmen bzw. innerhalb welcher Koordinaten des sozialen Raumes man sich bewegt. So wie etwa in der Geografie Koordinaten auf einer Weltkarte es erlauben, gewissermaßen jeden Punkt der Erde genau zu bezeichnen, so ermöglichen soziale Koordinaten die Abstimmung gemeinsamer Aktivitäten trotz der prinzipiellen Unterschiedlichkeit der handelnden Menschen. Beispielsweise sind die zehn Gebote der katholischen Kirche oder die Scharia des Islam ein Netz von Koordinaten, welche das Handeln von Menschen koordinieren sollen. Moderne Formen solcher Koordinatennetze mit weitreichender systemischer Wirkung stellen vor allem die Verfassungen gegenwärtiger Demokratien dar. Koordination ermöglicht es damit, an jedem Punkt einer Handlungssequenz genau zu <?page no="73"?> www.claudia-wild.de: [UTB-S]__Willke__Systemtheorie_3_Steuerungstheorie__[Druck-PDF]/ 11.12.2013/ Seite 74 www.claudia-wild.de: [UTB-S]__Willke__Systemtheorie_3_Steuerungstheorie__[Druck-PDF]/ 11.12.2013/ Seite 75 74 bezeichnen, ob die ablaufenden Handlungen noch innerhalb des Rahmens liegen oder schon außerhalb- - z. B. als legal oder illegal, moralisch oder unmoralisch, heilig oder profan, demokratisch oder undemokratisch etc. zu verstehen oder einzuschätzen sind. Heute haben wir es auf der Ebene von Gesellschaften mit dem Problem der Koordination von vielen Millionen von Menschen, Familien und vielen Tausenden von Organisationen und anderen Sozialsystemen zu tun. Vermutlich gibt es eine ungeheure Vielfalt von Koordinationsmechanismen, die zum großen Teil von den Sozialwissenschaften noch wenig zur Kenntnis genommen und noch weniger untersucht worden sind. Sieht man sich nach übergreifenden Systematisierungen von Koordinationsformen um, so überrascht, dass die meisten Autoren ein (nur) dreiteiliges Klassifikationsschema verwenden und nur wenige darüber hinausgehen. Der Grund für diese Beschränkung dürfte sein, dass zwei möglichst stark differierende Idealtypen kontrastiert werden und dann zur Lösung der Abgrenzungsprobleme ein dritter Typus eingeführt wird. Ein weiterer Grund könnte allerdings auch darin bestehen, dass tatsächlich für das Problem der Koordination sehr komplexer Systeme nur zwei Haupttypen der Steuerung empirisch vorfindlich sind. Sehen wir uns eine Reihe dieser Vorschläge an. Wilfried Gotsch (1987, S. 36; dort auch Nachweise der Literatur) nennt in einer Literaturübersicht beispielhaft folgende Vorschläge, zu denen ich vier weitere (Mayntz 1993; Scharpf 1993b; Streeck und Schmitter 1985; Williamson 1985) hinzufüge (siehe Tabelle 4.1). An dieser, die wesentlichen Positionen erfassenden, aber nicht streng repräsentativen, Übersicht fällt auf, dass die etablierte Zwei-Seiten-Form diejenige von Hierarchie und Markt ist, moderiert durch das dritte Modell der Solidarität. Anstelle von Hierarchie werden auch die Begriffe Staat, Politik oder Zwang verwendet, und an der Stelle von Solidarität tauchen häufiger andere Bezeichnungen der Hybridform auf. Nur in zwei Fällen gibt es eine vierte Form, nämlich bei Dahl/ Lindblom eine Unterform von Hierarchie und bei Streeck/ Schmitter eine (im Titel) mit Fragezeichen versehene Form des »private governance« mit der Übernahme quasipolitischer Aufgaben durch private korporative Akteure. Ich halte, wie bereits ausgeführt, die Grund-Dichotomie von Markt und Hierarchie für fehlgeleitet und ziehe diejenige von Demokratie und Hierarchie vor. Zum einen wird damit deutlicher, dass es nicht um den Vergleich einer politischen/ administrativen (Hierarchie) und einer ökonomischen Koordinationsform (Markt) geht, sondern um den Vergleich zweier Koordinationsmodelle, welche prinzipiell für jede Art von Koordinationsaufgabe geeignet sind. Denkbar ist also, dass die Ökonomie nach einem Marktmodell oder nach einem hierarchischen Modell-- etwa in Form einer Zentralverwalwww.claudia-wild.de: <?page no="74"?> [UTB-S]__Willke__Systemtheorie_3_Steuerungstheorie__[Druck-PDF]/ 11.12.2013/ Seite 74 www.claudia-wild.de: [UTB-S]__Willke__Systemtheorie_3_Steuerungstheorie__[Druck-PDF]/ 11.12.2013/ Seite 75 75 tungswirtschaft- - koordiniert wird; und denkbar ist auch, dass politische Herrschaft sich nach den Prinzipien von Demokratie oder nach den Prinzipien der Hierarchie (Diktatur, Führerprinzip) ordnet. Vergleichbares gilt für jeden anderen Funktionsbereich von Gesellschaft, sei dies Wissenschaft, Erziehungssystem, Gesundheitssystem oder Religion. Stellt man das Problem der Koordination komplexer Transaktionen in den Mittelpunkt, dann ist es kaum sinnvoll, unterschiedliche Bereiche wie Politik und Ökonomie zu kontrastieren. Vielmehr käme es darauf an, unterschiedliche Modelle der Koordination für dieselben Bereiche vergleichend zu analysieren und einzuschätzen. Tabelle 4.1: Vorschläge für die Unterscheidung der Steuerungsformen Autor Hauptformen dritte Form vierte Form Dahl, Lindblom 1953 Hierarchie Markt Verhandlung Polyarchie Williamson 1975 Hierarchie Markt Williamson 1985 Hierarchie Markt relationaler Vertrag Lindblom 1977 Politik(Staat) Markt Überredung Ouchi 1980 Hierarchie Markt Clan Kaufmann 1983 Hierarchie Markt Solidarität Offe 1984 Staat Markt Solidarität Streeck Schmitter 1985 Staat Markt Solidarität (community) Verbände (associations) Hegner 1986 Hierarchie Markt Solidarität Traxler, Vobruba1987 Zwang Tausch Solidarität Scharpf 1993 Hierarchie Markt Verhandlungssysteme Mayntz 1993 Hierarchie Markt Policy-Netzwerke <?page no="75"?> www.claudia-wild.de: [UTB-S]__Willke__Systemtheorie_3_Steuerungstheorie__[Druck-PDF]/ 11.12.2013/ Seite 76 www.claudia-wild.de: [UTB-S]__Willke__Systemtheorie_3_Steuerungstheorie__[Druck-PDF]/ 11.12.2013/ Seite 77 76 Konsequent wäre es deshalb, wenn Ökonomen, die sich auf den Bereich der Ökonomie beschränken, die Dichotomie von Hierarchie und Markt verwendeten, um unterschiedliche Koordinationsformen für den Bereich der Ökonomie zu kontrastieren (ein gutes Beispiel dafür ist Oliver Williamson); und wenn Politikwissenschaftler, die sich auf Modelle der Herrschaft beschränken, die Dichotomie von Hierarchie und Demokratie benutzten, um kontrastierende Herrschaftsformen zu bezeichnen (problematisch ist also deshalb beispielsweise Charles Lindblom). Für Gesellschaftswissenschaftler stellt sich das übergreifende Problem des Vergleichs von Koordinationsformen in allen Bereichen komplexer Transaktionen, einschließlich Politik und Ökonomie. Hierarchie lässt sich problemlos als allgemeines Modell einer ungleichrangigen, fremdbestimmten und zentralisierten Koordination verwenden. Seltsamerweise haben wir dagegen keinen übergreifenden Begriff für gleichrangige, selbstorganisierende und dezentrale Koordination, sondern sind entweder auf den politisch vorgeprägten Begriff der Demokratie oder auf den ökonomisch vorgeprägten Begriff des Marktes verwiesen. Der Begriff Evolution wäre denkbar, bezeichnet aber zu stark naturwüchsige Prozesse der Koordination, als dass ich ihn in unserem Zusammenhang verwenden wollte. Mangels einer besseren Alternative möchte ich deshalb hier auch für die allgemeinere soziologische Perspektive die Dichotomie von Hierarchie und Demokratie zugrunde legen. Dies zwingt dazu, für den Bereich von Politik Demokratie als Herrschaftsform zu spezifizieren, während sie ansonsten als allgemeines Modell der Koordination komplexer Transaktionen verstanden wird-- so dass man etwa die Frage nach demokratischer versus hierarchischer Koordination in der Schule, der Universität, im Krankenhaus oder in Kirchen stellen kann. Auch ist die Problematik der »Demokratisierung« traditionsreich genug, um Demokratie als allgemeines Koordinationsmodell plausibel zu machen- - vorausgesetzt, man fasst unter demos einen jeweils durch Mitgliedschaft oder Betroffenheit eingegrenzten Kreis von Akteuren. Schließlich hat diese Begriffsfassung den Vorteil, dass die inzwischen doch elaborierten Ideen zur Revision der Demokratie unmittelbar auch für eine Revision des allgemeinen Koordinationsmodells demokratischer Selbststeuerung genutzt werden können. Für sämtliche Autoren ist klar, dass sich die empirische Vielfalt möglicher Koordinationsformen nur schlecht in eine einfache Dichotomie pressen lässt. Sie alle sehen sich deshalb gedrängt, zumindest eine intermediäre Form der Koordination bereitzustellen. Überwiegend bekommt sie den Namen Solidarität. Auch dies ist eine bemerkenswert schlechte Wahl. Die Konzeption der Solidarität holt eine vormoderne, »gemeinschaftliche« Form der Koordination von Primärgruppen aus der Versenkung und presst sie in den Kontext moderner, hochdifferenzierter Gesellschaften. Von dieser Kritik möchte ich <?page no="76"?> www.claudia-wild.de: [UTB-S]__Willke__Systemtheorie_3_Steuerungstheorie__[Druck-PDF]/ 11.12.2013/ Seite 76 www.claudia-wild.de: [UTB-S]__Willke__Systemtheorie_3_Steuerungstheorie__[Druck-PDF]/ 11.12.2013/ Seite 77 77 nur diejenigen Autoren (wie etwa Franz-Xaver Kaufmann) ausnehmen, die ausdrücklich darauf verweisen, dass ein ›Überleben‹ vormoderner, gemeinschaftlicher Koordinationsformen zur Abstützung und Unterfütterung der anonymen, modernen Formen nötig sei. Das Argument ist respektabel, solange es darum geht, dass in Primärgruppen wie Familien, Freundesgruppen, Verwandtschaften etc., und in Primärumwelten wie Nachbarschaften, dauerhaften und engen Geschäftsbeziehungen und ähnlichem tatsächlich Personen nicht nur egoistisch auf ihren Vorteil bedacht handeln, sondern langfristige und umfassende wechselseitige Verbindungen eingehen, die ein Verrechnen der Einzelhandlungen nach unmittelbaren Kosten und Nutzen überflüssig machen. Solidarität bezeichnet hier einen Modus der Koordination, der sich nicht auf »rational choice«, schon gar nicht auf die Kunstfiguren des Homo oeconomicus, des Homo politicus oder sonstiger Homunculi reduzieren lässt (Hutter und Teubner 1993). Vielmehr gibt es in diesen verbliebenen Winkeln der Lebenswelt noch jene herzerfrischende Irrationalität altruistischer, sorgender, beschützender und bisweilen aufopfernder Handlungsmuster, die einer rationalistischen oder ökonomistischen Sichtweise unbegreiflich bleiben müssen. In diesem Sinne versteht zum Beispiel Habermas das Konzept der Solidarität: »Moderne Gesellschaften werden durch Geld, administrative Macht und Solidarität zusammengehalten; dabei ist Solidarität vielleicht ein zu großes Wort fürs kommunikative Alltagshandeln, für die Routinen der Verständigung, für die stillschweigende Orientierung an Werten und Normen, für mehr oder weniger diskursive Auseinandersetzungen in der Öffentlichkeit.- … Alle meine theoretischen Arbeiten haben als Fluchtpunkt den Imperativ, menschenwürdige Verhältnisse zu schaffen, in denen sich eine erträgliche Balance zwischen Geld, Macht und Solidarität einspielen kann« (Habermas 1994, Hervorhebung H. W.). Auf der anderen Seite aber sollte genauso klar sein, dass wir ins Reich der Mythen geraten, wenn wir diese Art von Solidarität auch für die Beziehungen zwischen den kollektiven und korporativen Akteuren moderner Gesellschaften annehmen. Genau deshalb ist es irreführend, über Demokratie und Hierarchie hinaus Solidarität als drittes Grundmodell der Koordination komplexer Gesellschaften zu postulieren. Zwar gibt es einen klaren Bedarf für zumindest eine dritte intermediatisierende Koordinationsform-- wie wir gesehen haben, verzichtet kaum ein Autor darauf. Aber die Suche danach ist schwieriger, wenn man den »Ebenenfehler« vermeiden will, eine für Primärsysteme geeignete Koordinationsform umstandslos auf hochdifferenzierte Gesellschaften zu übertragen. <?page no="77"?> www.claudia-wild.de: [UTB-S]__Willke__Systemtheorie_3_Steuerungstheorie__[Druck-PDF]/ 11.12.2013/ Seite 78 www.claudia-wild.de: [UTB-S]__Willke__Systemtheorie_3_Steuerungstheorie__[Druck-PDF]/ 11.12.2013/ Seite 79 78 Wer die Frage nach wirkungsvollen Koordinations- und Steuerungsformen stellt, findet natürlich keine Tabula rasa vor. Im Bereich der politischen Willensbildung (Etzionis Aufwärtsstrom der Herstellung von Konsens) gibt es alle Varianten, vom unmittelbaren Volksentscheid und direkter Demokratie nach dem Vorbild Schweizer Landgemeinden, bis zu stark oligarchischen, mehrstufig repräsentativen Systemen, in denen die Wahlbürger in mehrjährigem Abstand über die Zusammensetzung einer entfernten Elite entscheiden. Im Bereich der administrativen Durchsetzung legislativer und politischer Entscheidungen (Etzionis Abwärtsstrom der Kontrolle und Steuerung) reichen die Modelle von Max Webers klassischer bürokratischer Hierarchie über partiell autonome (lose gekoppelte) Regulierungsinstanzen bis zu engmaschigen, proporz-abhängigen Verhandlungssystemen, in denen endgültige Entscheidungen erst vor Ort und im Einzelfall erreichbar sind. Ich möchte dieser Palette von Modellen kein weiteres hinzufügen. In der Sicht einer Steuerungstheorie komplexer Gesellschaften geht es vielmehr darum, den Fokus von der Verengung auf das politische System zu lösen und ihn auf das Zusammenspiel der differenzierten Funktionssysteme einer Gesellschaft neu einzustellen. Sicherlich rechnen bereits pluralistische und neokorporatistische Politikmodelle mit dem Einfluss organisierter gesellschaftlicher Akteure-- Interessengruppen, Verbände und Korporationen aus den verschiedenen Funktionssystemen- - auf die Politik und mit einem gewissen Einfluss der Politik auf diese Akteure (Schmitter 1983). Aber immer geht es um die herausgehobene Rolle der Politik in der Gestaltung gesellschaftlicher Verhältnisse. Für die Politikwissenschaft im Allgemeinen, und Regierungslehre, politische Demokratietheorie und Policy-Analyse im Besonderen ist dies natürlich die angemessene Fragestellung (Chhotray and Stoker 2010). Für eine Steuerungstheorie auf der Ebene moderner Gesellschaften empfiehlt es sich dagegen, den Blick auf das Geflecht von Beziehungen zwischen allen sozietalen Akteuren zu richten-- korporative und kollektiv handlungsfähige Akteure in allen Funktionssystemen der Gesellschaft, die aufgrund ihrer Autonomie, Expertise, Ressourcen, Organisationsfähigkeit und ihrer für die Gesellschaft insgesamt unverzichtbaren Funktionen und Leistungen mitbestimmen, was in einem bestimmten Gesellschaftssystem möglich ist und was nicht (Willke and Willke 2012). Dieses Beziehungsgeflecht wird auf der Ebene organisierter oder korporativer Akteure in der Organisationssoziologie vom Inter-Organisations-Ansatz und von der Netzwerkanalyse durchleuchtet- - und es ist keine Frage, dass diese Forschungsrichtungen wichtige Erkenntnisse über das Zusammenspiel relevanter Akteure in einem Organisations-Cluster oder einem »Issue-network« erbringen (einen informativen Überblick bietet hierzu Türk 1989). Eine systemtheoretische Perspektive kann hieran anknüpfen. Als eigenstänwww.claudia-wild.de: <?page no="78"?> [UTB-S]__Willke__Systemtheorie_3_Steuerungstheorie__[Druck-PDF]/ 11.12.2013/ Seite 78 www.claudia-wild.de: [UTB-S]__Willke__Systemtheorie_3_Steuerungstheorie__[Druck-PDF]/ 11.12.2013/ Seite 79 79 digen und zusätzlichen Gesichtspunkt kann sie einbringen, dass und in welcher Weise die spezifische Form moderner Gesellschaften die grundlegenden Restriktionen und Möglichkeiten der Kommunikation zwischen sozialen Systemen definiert. In einer primär funktional differenzierten Gesellschaft sind diese sozialen Systeme in unterschiedliche Funktionssysteme als »Muttersysteme« eingebettet-- also etwa Unternehmen in die Ökonomie, Schulen in das Erziehungssystem und Kliniken in das Gesundheitssystem. Deshalb können diese korporativen Akteure nicht einfach miteinander kommunizieren, als wären sie per Du. Aufgrund ihrer unterschiedlichen Einbettung (»embeddedness«) sehen sie nicht nur die Welt in je idiosynkratischer, eigensinniger Weise, sondern sie können ohne elaborierte Übergangs- und Transformationsmaßnahmen gar nicht verstehen, wovon die anderen reden. Es ist ein wenig so, als stießen in einer primär schichtungsmäßig differenzierten (z. B. mittelalterlichen) Gesellschaft ein Bauer und ein Fürst (oder Bischof ) direkt und ohne Vermittlung aufeinander-- sie hätten sich wenig zu sagen, und sie würden wenig voneinander verstehen. Auch in moderne Gesellschaften dürfte sich einiges von dieser Verständnis- und Sprachlosigkeit zwischen den Schichten hinübergerettet haben. Die einschneidenderen Barrieren für gelingende Kommunikation verlaufen heute allerdings nicht mehr entlang von Schichtdifferenzen. Vielmehr bilden sie sich, wie erwähnt, als Folge der Autonomisierung und operativen Abschließung der Funktionssysteme, die ihre eigenen Spezialsprachen, Relevanzkriterien, Exklusionen und Eigen-Sinnigkeiten entwickeln und so die Kommunikation zwischen Spezialisten zum Problem werden lassen. Die andere Seite der Medaille ist zum Glück, dass zugleich der Bedarf an Kommunikationen zwischen den Funktionssystemen durch ihre je eigene exklusive (und damit: exkludierende) Zuständigkeit drastisch verringert ist-- sonst hätten wir tatsächlich eine moderne babylonische Sprachverwirrung. »Nur« an den Grenzstellen und in Grenzfragen sind Kommunikationen erforderlich, und nur an diesen Orten brauchen funktional differenzierte Systeme Spezialeinrichtungen für Übersetzungsleistungen. Der Primat funktionaler Differenzierung in modernen Gesellschaften bedeutet damit zugleich auch, dass ein Großteil der Beziehungen zwischen korporativen Akteuren von Indifferenz geprägt ist-- und nicht etwa von Solidarität oder gemeinschaftlicher Nähe. Er hat die Form routinisierter und normalisierter Leistungsbeziehungen, die im Rahmen historisch gewachsener (oder erkämpfter) Autonomien und auf der Basis funktionaler Interdependenz aller arbeitsteilig spezialisierter Sozialsysteme als unproblematisch und wechselseitig gewinnbringend angesehen werden. So leistet das Gesundheitssystem Heilung, die Ökonomie Versorgung und Vorsorge, das Erziehungssystem sekundäre Sozialisation, das Familienwww.claudia-wild.de: <?page no="79"?> [UTB-S]__Willke__Systemtheorie_3_Steuerungstheorie__[Druck-PDF]/ 11.12.2013/ Seite 80 www.claudia-wild.de: [UTB-S]__Willke__Systemtheorie_3_Steuerungstheorie__[Druck-PDF]/ 11.12.2013/ Seite 81 80 system primäre Sozialisation und emotionale Bedürfnisbefriedigung, das Wissenschaftssystem wissensbasierte Erklärungen, die Justiz innere und das Militär äußere Sicherheit etc., und eben die Politik kollektiv verbindliche Entscheidungen über Art und Qualität der kollektiven Güter. Jedes Funktionssystem leistet seinen spezialisierten Beitrag für die Gesellschaft und ihre Mitglieder insgesamt. Eine Gesellschaft wäre nicht überlebensfähig, wenn auch nur eine dieser Funktionen ausfallen würde-- was z. B. beim Religionssystem nicht mehr und etwa beim Sportsystem noch nicht ohne Weiteres einsichtig ist. Die Routinisierung und Normalisierung der Leistungsbeziehungen bedeutet praktisch, dass die interne Operationsweise eines Teilsystems alle anderen »nichts angeht«, jedenfalls solange zwei Bedingungen erfüllt sind. Einerseits muss diese Operationsweise gewissen Mindeststandards operativer Fairness, Humanität und Effizienz genügen, andererseits darf diese Operationsweise nicht negative Externalitäten hervorbringen, welche die anderen Funktionssysteme massiv schädigen. Wem diese Sichtweise befremdlich erscheint, der vergegenwärtige sich, dass für die Beziehungen zwischen Personen genau dasselbe gilt. Selbst innerhalb einer Gesellschaft, einer Region oder einer Stadt stehen sich die meisten Menschen in den meisten Beziehungen gänzlich indifferent gegenüber: Es geht mich nichts an, wie der andere intern operiert (also: denkt und fühlt), solange er gewisse Mindeststandards erfüllt und mich (und in besonderen Fällen auch andere) nicht schädigt. Diese institutionalisierte Indifferenz ist sowohl im Verhältnis zwischen Personen wie zwischen Sozialsystemen eine zentrale Voraussetzung von Freiheit (Scholz 1982). Unter Steuerungsgesichtspunkten ergibt sich dadurch eine geradezu geniale Form verteilter Selbststeuerung durch institutionalisierte Indifferenz. Trotz der und gegengewichtig zu den durch funktionale Differenzierung potenzierten Interdependenzen bricht nicht das völlige Chaos notwendiger Abstimmung und Koordination aus, weil sich generalisierte Regelsysteme ausbilden, die einen Großteil der notwendigen Koordination in Hintergrundsroutinen erledigen. Genau die Ausnutzung dieser genialen Selbststeuerung macht den Kern des klassischen liberalen Modells der Gesellschaftssteuerung aus: Autonomie und Selbstorganisation der Teile und (möglichst geringfügige) Rahmengesetzgebung seitens der Politik für das Zusammenspiel der Teile im Ganzen der Gesellschaft. Es lohnt sich festzuhalten, dass das liberale Modell der Gesellschaftssteuerung tatsächlich den Bedingungen der Moderne insofern besonders angemessen ist, als es besser als jedes andere in der Praxis erprobte Modell geeignet ist, mit den Folgen des sich durchsetzenden Primates funktionaler Differenzierung fertig zu werden. Die Grenzen des liberalen Modells beziehen sich auf die Grenzen, innerhalb derer die <?page no="80"?> www.claudia-wild.de: [UTB-S]__Willke__Systemtheorie_3_Steuerungstheorie__[Druck-PDF]/ 11.12.2013/ Seite 80 www.claudia-wild.de: [UTB-S]__Willke__Systemtheorie_3_Steuerungstheorie__[Druck-PDF]/ 11.12.2013/ Seite 81 81 Autonomie von Teilsystemen erträglich erscheint, also die gerade genannten beiden Bedingungen tolerierbarer Autonomie (Willke 2003). Die eine Bedingung, nämlich die Erfüllung von Mindeststandards operativer Fairness, Humanität und Effizienz, ist seit Langem Gegenstand einer an- und abschwellenden Debatte um Maßstab und Inhalt der »internen Konstitution« der verschiedenen Funktionssysteme und ihrer spezialisierten Organisationen. Passen autoritär geführte Schulen, hierarchisch organisierte Krankenhäuser, paternalistisch geordnete Unternehmen, von Ordinarien beherrschte Universitäten, auf Prügelstrafe gegründete Familien, ein auf die Nichtigkeit des Individuums zielendes Militär etc. in den Rahmen einer sich als »demokratisch« verstehenden Gesellschaft? Wohl kaum. Aber an welchem Maßstab sind die erforderlichen internen Reformen auszurichten? Ist der Maßstab der politischen Demokratie geeignet oder bedarf es anderer Maßstäbe? Nach heftigen Debatten (Willke 1970; Willke 1993b, Kap. 4), vielen Experimenten, vielen Misserfolgen und einigen Erfolgen, nach Wellen der Demokratisierung (etwa der Schulen und Universitäten), der Humanisierung (etwa der Arbeitswelt) und der Effizienzsteigerung (etwa von Unternehmen und Verbänden) hat sich heute in vielen Bereichen eine labile Balance zwischen Humanität und Effizienz eingependelt, die bis auf ein sehr allgemeines Prinzip der Fairness inhaltlich unbestimmt bleibt (Rawls 1981). Nach wie vor schwankt die Diskussion um interne Reformen der Schulen, Universitäten, Krankenhäuser oder Unternehmen zwischen den als widersprüchlich verstandenen Forderungen nach mehr Humanität und nach mehr Effizienz hin und her-- und es ist kein Ende abzusehen. Vielleicht manifestiert sich in dieser Unentschiedenheit auch die Intelligenz inkrementalistischer (schrittweise sich voran tastender) Reformen in der Demokratie: Weder die einseitige Betonung von Effizienz wie im Japan der 1970er-Jahre oder im China der Gegenwart, noch die einseitige Betonung von Humanität wie etwa im Schweden der 1980er-Jahre (Hinrichs und Merkel 1987) scheinen stabile, zukunftsträchtige Modelle zu sein. Nicht einmal die Mischmodelle USA (mit klarer Betonung der Effizienz) und Deutschland (mit gewerkschaftsgestützter Betonung der Humanität) können sich als optimierte Hybride empfehlen. So bleibt in diesem Feld und hinsichtlich dieser Bedingung tolerierbarer Autonomie der Funktionssysteme alles offen. Wir müssen abwarten, ob und wann es gelingt, komplexere Verschränkungen von Humanität und Effizienz zu etablieren, in denen der destabilisierende Antagonismus zwischen den beiden Zielgrößen aufgehoben werden kann. Auch wenn Indifferenz der Normalfall der Beziehung zwischen autonomen Systemen ist, so fällt er doch bei den meisten Beobachtern unter den Tisch, eben weil es der Normalfall ist. Dabei wird allerdings übersehen, dass <?page no="81"?> www.claudia-wild.de: [UTB-S]__Willke__Systemtheorie_3_Steuerungstheorie__[Druck-PDF]/ 11.12.2013/ Seite 82 www.claudia-wild.de: [UTB-S]__Willke__Systemtheorie_3_Steuerungstheorie__[Druck-PDF]/ 11.12.2013/ Seite 83 82 die Möglichkeit der Indifferenz auf unwahrscheinlichen Voraussetzungen beruht, die keineswegs selbstverständlich sind. Zwei dieser Voraussetzungen möchte ich herausgreifen. Auf der allgemeinsten Ebene des Gesellschaftsmodells ist es die Rolle der Politik; auf der Ebene der handelnden Personen sind es die Folgen der Professionalisierung. Ein liberalistisches Gesellschaftsmodell, im Wesentlichen geprägt von Selbstorganisation und Indifferenz, ist nur möglich, wenn die Politik sich selbst eine höchst unwahrscheinliche Selbstbeschränkung auferlegt. Erst wenn die Politik nicht mehr für alles zuständig und verantwortlich ist, gewinnt sie die Freiheit für Indifferenz und damit die Möglichkeit, Selbstorganisation und Eigendynamik anderer Bereiche zuzulassen. Das Musterbeispiel hierfür ist die Trennung von Seelenheil und politischer Herrschaft, die Säkularisierung der Politik durch die Entscheidung, die Frage des religiösen Glaubensbekenntnisses aus der Verantwortung der Politik zu entlassen und sie der persönlichen Entscheidung jedes (in dieser Frage dann als autonom gedachten) Individuums zu überantworten. Diese grundlegende Veränderung der Rolle der Politik fiel nicht leicht. Erst als die religiösen Bürgerkriege des 16. und 17. Jahrhunderts die noch jungen Nationen Europas an den Rand der Selbstzerstörung brachten, gelang die Trennung von Religion und Politik als letzte Rettung und als erster entscheidender Schritt in dem bis heute andauernden Prozess funktionaler Differenzierung. Paradoxerweise war dieser erste Schritt der Selbstbeschränkung des absoluten Machtanspruchs der Politik zugleich der Beginn einer radikalen Steigerung ihres Machtpotenzials durch die Monopolisierung der Ausübung legitimer Gewalt in der Gesellschaft. Auf der anderen Seite beginnen sich mit diesem historischen Einschnitt die Rollen von Klerikern (Kirchenfürsten) und Politikern (weltlichen Fürsten) zu differenzieren, begleitet von der allmählichen Ausbildung »professioneller« Rollen für Handwerker, Künstler, Krieger, Lehrer, Mediziner etc. Für unseren Problemzusammenhang interessiert der komplexe Prozess der Professionalisierung vor allem, weil zur Rolle des Professionellen immer auch Regeln der Selbstkontrolle und Selbststeuerung gehören (»Deontologien« oder Standesrechte oder Ehrenkodexe). Das heißt: Gerade weil das Handeln der Professionellen von außen nicht mehr ohne Weiteres zu kontrollieren ist- - wenn jeder verstehen könnte, was vor sich geht, ließe sich schlecht von Profession reden--, muss die Steuerung ins Innere, in die Profession selbst verlagert werden, soll überhaupt eine Kontrolle stattfinden. In dem Maße, wie eine interne Kontrolle und Steuerung gelingt, ist eine externe Steuerung überflüssig und die traditionelle Instanz der sozietalen Kontrolle, die Politik, kann sich von dieser Aufgabe entlasten-- die sie sowieso faktisch nicht leisten könnte. Und schließlich hat die Profession als korporativer Akteur ein genuines eigenes Interesse an Selbstkontrolle und Selbststeuerung, weil dies ihre <?page no="82"?> www.claudia-wild.de: [UTB-S]__Willke__Systemtheorie_3_Steuerungstheorie__[Druck-PDF]/ 11.12.2013/ Seite 82 www.claudia-wild.de: [UTB-S]__Willke__Systemtheorie_3_Steuerungstheorie__[Druck-PDF]/ 11.12.2013/ Seite 83 83 Autonomie und gesellschaftliche Sonderstellung schützt, und sie vor ›unprofessionellen‹ Eingriffen der Politik bewahrt. So greifen die Motive für Entlastung und Selbststeuerung aufs Schönste ineinander und alle können glücklich sein, solange das Modell funktioniert. Es funktioniert dort, wo Indifferenz (aufgrund routinisierter Interdependenz) die Beziehungen zwischen Experten regiert. Schwieriger wird es, wenn diese Beziehungen konflikthaft sind, oder wenn aus bestimmten Gründen eine professionsübergreifende, und mithin funktionssystemübergreifende Kooperation erforderlich erscheint. Konflikthafte Beziehungen zwischen Funktionssystemen (und ihren Professionellen) sind überraschend selten, aller Leidenschaft der Profession der Soziologen für Konflikte zum Trotz. Worüber sollten sich Lehrer auch groß mit Ärzten streiten, oder Professoren mit Pfarrern, oder Offiziere mit Berufssportlern, oder Politiker mit Künstlern? Im Wesentlichen haben sie einander nichts zu sagen, sie leben in unterschiedlichen Welten und sprechen unterschiedliche Sprachen. Nur in den Grenzbereichen der jeweiligen professionellen Aktivität stoßen sie aufeinander. Dort kommt es natürlich zu Konflikten. Aber charakteristisch an diesen Konflikten ist eine Semantik der Abgrenzung, der Verwahrung gegen Übergriffe, der Grenzüberschreitung, der Bestreitung von Kompetenzen im Grenzbereich etc. Sie folgen einer Logik der »negativen Koordination«, wie sie vielfach von Fritz Scharpf beschrieben worden ist (1993b): Es geht hauptsächlich um die Abwehr oder Vermeidung von Störungen, um Geplänkel im Grenzbereich ohne den Zuständigkeitsbereich und die Kompetenz der anderen Seite grundsätzlich in Frage zu stellen, um die Profilierung der eigenen Identität anhand brauchbarer Konflikte. Grundsätzlich anders stellt sich die Lage dar, sobald die Beziehungen zwischen Experten (und zunehmend auch: Expertinnen) weder indifferent sind, noch konflikthaft, sondern wenn aus irgendwelchen Gründen über bloße Interdependenz und normalisierten Leistungsaustausch aktive Koordination erreicht werden soll. Während Konflikt zwischen Experten ziemlich unproblematisch ist (weil in der Regel folgenlos und nur der Abgrenzung dienend), ist Koordination ein kaum lösbares Problem. Dies widerspricht allen naturwüchsigen Vorstellungen des Problemgehalts von Konflikt und Koordination. Deshalb sind einige Erläuterungen hierzu angebracht. Problematisch ist Koordination in den Dimensionen Bedarf, Kosten und Risiken. Schon die Feststellung eines Koordinationsbedarfs setzt die Existenz von »Über-Experten« voraus, die über einen spezifischen Bereich auf den Zusammenhang eines Gesamtsystems hinausblicken können. Genau hier aber laufen weitreichende Umwälzungen ab. Ausnahmslos müssen die angestammten Experten für das Ganze, seien dies leitende Politiker für eine Gesellschaft, Schumpeter’sche Unternehmer für Konzerne, leitende Ärzte für <?page no="83"?> www.claudia-wild.de: [UTB-S]__Willke__Systemtheorie_3_Steuerungstheorie__[Druck-PDF]/ 11.12.2013/ Seite 84 www.claudia-wild.de: [UTB-S]__Willke__Systemtheorie_3_Steuerungstheorie__[Druck-PDF]/ 11.12.2013/ Seite 85 84 Kliniken, Direktoren für Forschungsinstitute, Rektoren für Schulen oder Hausväter für Familien von ihren Thronen heruntersteigen und sich in die Reihen der nur partiell Kompetenten einreihen. Keine einzelne Person (vielleicht mit Ausnahme einiger Systemtheoretiker) überblickt mehr das Ganze eines komplexen Systems. Wer soll in dieser Situation einen Bedarf an Koordination feststellen und das Ensemble der betroffenen Professionellen davon überzeugen? Eine naheliegende Lösung ist, präzise für diese Aufgabe eine eigene Expertenrolle auszuwerfen, also Koordinatoren oder Integratoren auszubilden, die diese Rolle übernehmen können. Tatsächlich ging die Entwicklung besonders in großen Bürokratien und großen Unternehmen in diese Richtung. So wurden zwischen Ministerien »interministerielle Ausschüsse« und andere koordinative Einrichtungen geschaffen oder innerhalb von Ministerien Abstimmungsgremien mit Spezialisten (meistens Haushaltsexperten) für die Koordination von Programmen. Unternehmen richteten je nach Ebene und Komplexität unterschiedliche »integrative Instanzen« ein, von Verbindungsrollen über Projektteams, Koordinationsteams und Integrationsrollen bis zu Integrationsabteilungen: »As a result, when groups in an organization need to be highly differentiated, but also require tight integration, it is necessary for the organization to develop more complicated integrating mechanisms. The basic organizational mechanism for achieving integration is, of course, the management hierarchy.- … However, organizations faced with the requirement for both a high degree of differentiation and tight integration must develop supplemental integrating devices, such as individual coordinators, cross-unit teams, and even whole departments of individuals whose basic contribution is achieving integration among other groups (Lawrence und Lorsch 1969a, S. 13. Vgl. dazu auch Galbraith 1973, S. 46; Lawrence und Lorsch 1969b). Vergleichbare integrative Instanzen auf der Ebene der Interorganisationsbeziehungen sind vor allem Personalunion (»interlocking directorates«), gemeinsame Tochterunternehmen (»joint ventures«), systemüberspannende Rollen (z. B. der Hausbanken) und spezielle Organisationen mit der Hauptaufgaben der Koordination (»coordinating agencies«). Dennoch drängt sich bei genauerem Hinsehen der Eindruck auf, dass diese Anstrengungen zur Schaffung von Koordinationsexperten und spezialisierten Instanzen der Koordination nicht besonders erfolgreich sind und allzu häufig in den Defiziten negativer Koordination stecken bleiben. Der Grund dafür scheint zu sein, dass sehr schnell auch professionelle Koordinatoren von den zu koordinierenden Akteuren nur als weitere Experten im Kreis anderer Experten gesehen werden, <?page no="84"?> www.claudia-wild.de: [UTB-S]__Willke__Systemtheorie_3_Steuerungstheorie__[Druck-PDF]/ 11.12.2013/ Seite 84 www.claudia-wild.de: [UTB-S]__Willke__Systemtheorie_3_Steuerungstheorie__[Druck-PDF]/ 11.12.2013/ Seite 85 85 die ihr Spezialinteresse vertreten wie alle anderen auch. Zudem haben sie keine besonderen Druckmittel in der Hand, um Koordination durchzusetzen. Einen praktischen Anschauungsunterricht hierfür bieten die Schwierigkeiten der »Projektorganisation« in europäischen und amerikanischen Unternehmen. Obwohl im Prinzip und theoretisch Projektteams sich besonders eignen, für ein bestimmtes übergreifendes Projekt (etwa die Entwicklung eines neuen Prototyps, eines neuen Produkts, einer neuen Dienstleistung) Experten aus den unterschiedlichen relevanten Bereichen der Organisation in einem Team zusammenzufassen, um über alle Abteilungsgrenzen hinweg das Projekt in den Mittelpunkt zu stellen, zeigt die organisationale Praxis doch ein ganz anderes Bild: »Die Abteilungen stellen ihre (dringend benötigten) Mitarbeiter nur ungern und oft halbherzig für die Teamarbeit ab, die Projektteamleiter haben oft weder die erforderlichen Anweisungsbefugnisse noch ein energisches, durch die Gratifikationsstruktur wirklich forciertes Interesse am Projekterfolg. Projekte bilden oft eine Art Miniaturmodell der betrieblichen Machtstruktur dar (statt eine kompetente Mischung), und der Projektfortschritt und -erfolg läßt sich im Prozeß nur schwer kontrollieren. Die strukturellen Vorkehrungen legen den Beteiligten oft genug Spielstrategien nahe, die milde formuliert, nicht eben auf den Projekterfolg orientiert sind« (Ortmann 1994, S. 166) So schwierig es ist, im Kontext komplexer Systeme einen Bedarf an Koordination festzustellen und den funktional orientierten Spezialisten plausibel zu machen, so aufwendig ist es, Zahlungswillige zu finden, welche die Kosten der Koordination tragen. Natürlich hängen beide Punkte zusammen. Wenn ich den Bedarf an Koordination nicht einsehe, will ich dafür auch nichts bezahlen. Auf der Ebene von Gesellschaften führt dies inzwischen zu potenziell disruptiven Fragen nach den Kosten der Politik (zur spezielleren Frage der Kosten des Rechtstaats siehe Scharpf 1970 und allgemeiner Willke 1993a). Auf der Ebene von Unternehmen, insbesondere Konzernen, droht die komplementäre Frage nach dem Sinn der Zentrale (Naujoks 1994; (Quinn 1992); ausführlicher dazu auch oben Kapitel 2.2.). Der einfach erscheinende Ausweg, die Kosten nach den jeweiligen unterschiedlichen Nutzen zu verteilen, ist in aller Regel verschlossen, weil die Berechnung der Nutzen Szenarien des »Was-wäre-gewesen-wenn« erfordern, die empirisch nicht handhabbar sind. Der Ausweg, die Kosten zuerst aufzubringen und dann den gemeinsamen Gewinn entsprechend zu verteilen, scheitert in der Regel daran, dass der gemeinsame Gewinn sich aus der Summe der Gewinne der einzelnen Geschäftsbereiche, Kostenzentren, Wertschöpfungsstufen etc. zusammensetzt und damit unklar bleibt, wer warum <?page no="85"?> www.claudia-wild.de: [UTB-S]__Willke__Systemtheorie_3_Steuerungstheorie__[Druck-PDF]/ 11.12.2013/ Seite 86 www.claudia-wild.de: [UTB-S]__Willke__Systemtheorie_3_Steuerungstheorie__[Druck-PDF]/ 11.12.2013/ Seite 87 86 wie viel Nutzen aus der Koordination gezogen hat. Damit bleiben Koordinationsverhandlungen der Logik von Trittbrettfahrern verhaftet, wonach jeder ein rationales Interesse daran hat, möglichst wenig (an Kosten der Koordination) beizutragen, aber möglichst viel (vom Nutzen der Koordination) einzuheimsen (grundlegend Hardin 1968; siehe auch Willke 1986). Beispielsweise berichten Womack und Mitarbeiter in ihrer Analyse der Automobilindustrie von einem typischen Entwicklungsprojekt bei General Motors, welches im Laufe von acht Jahren (1981 bis 1989) drei Projektleiter entnervt aufgeben ließ und erst 1990 tatsächlich ein neues Modell zustande brachte. Honda entwickelte das entsprechende Konkurrenzmodell nach einem späten Start 1986 innerhalb von drei Jahren und brachte es im Herbst 1989 auf den Markt. »Woran liegt der Unterschied zwischen beiden Systemen? Unserer Meinung nach in der Macht und der Karriereleiter des Teamleiters«: »In westlichen Teams sollte der Leiter treffender Koordinator genannt werden, dessen Aufgabe darin besteht, die Teammitglieder davon zu überzeugen, dass sie zusammenarbeiten sollen. Dies ist eine frustrierende Rolle, weil der Leiter wirklich nur begrenzte Autorität besitzt; daher behaupten nur wenige Teamleiter, dass ihnen diese Rolle gefällt. Viele Führungskräfte sehen diese Position als Sackgasse an, in der Erfolg wenig bringt, Misserfolg jedoch äußerst sichtbar ist-… Die schlanken Produzenten wenden eine Variante des shusa-Systems an, das Toyota eingeführt hatte- … Shusa ist der Boss, der Teamleiter, dessen Aufgabe es ist, ein neues Produkt zu entwerfen und durchzukonstruieren und es in die Produktion zu bringen. In den besten japanischen Unternehmen ist die Position des shusa mit großer Macht ausgestattet und ist vielleicht die erstrebenswerteste im Unternehmen« (Womack u. a. 1991b, S. 118). Wie immer die Einschätzung des japanischen Modells bei genauerem Hinsehen ausfällt-- klar ist, dass am Beispiel der Projektteams die Schwierigkeiten der Koordination differenzierter, eigen-sinniger und eigen-mächtiger Abteilungen besonders deutlich hervortreten. Solange es nicht gelingt, den gewachsenen und eifersüchtig auf ihre Besonderheit bedachten Teilen den produktiven Sinn einer Zusammenarbeit deutlich zu machen und eigene Anreize und Karrieremuster für erfolgreiche Koordinationsleistungen zu etablieren, solange bleibt Projektarbeit nur Schlagwort. Diese Überlegungen lassen sich als Problem der Risiken der Koordination verallgemeinern. Gegenüber einem intuitiven Vorverständnis, wonach Koordination im Prinzip immer sinnvoll sei, gilt es in einer theoretisch aufgeklärten Perspektive festzuhalten, dass Koordination für die zu koordinierenden Elemente (Personen, Gruppen, Subsysteme, Funktionssysteme bis hin zu <?page no="86"?> www.claudia-wild.de: [UTB-S]__Willke__Systemtheorie_3_Steuerungstheorie__[Druck-PDF]/ 11.12.2013/ Seite 86 www.claudia-wild.de: [UTB-S]__Willke__Systemtheorie_3_Steuerungstheorie__[Druck-PDF]/ 11.12.2013/ Seite 87 87 ganzen Gesellschaften) erhebliche Risiken bergen kann. Zunächst einmal widerspricht Koordination der Logik der Differenzierung, die überhaupt erst zu der Ausbreitung von autonomen Einheiten geführt hat, die nun koordiniert werden sollen. Jede Koordination riskiert deshalb die Vorteile der Komplexifizierung von Systemen durch Differenzbildung, d. h. die Vorteile des Aufbaus interner Komplexität (Eigenkomplexität) von Systemen durch Differenzierungen der unterschiedlichsten Art. Selbst noch einer der perfektesten Koordinationsmechanismen der Moderne, der Markt, auf dem die Akteure um private ökonomische Güter konkurrieren, versteckt die Risiken der Koordination schamhaft in der Möglichkeit falscher Preise insbesondere durch Monopolbildung, in der Möglichkeit von Bankrotten, in der behaupteten Kreativität der Zerstörung. In den Worten von Dirk Baecker zeigen sich diese Risiken auch an den Schwierigkeiten der ökonomischen Theorie »Informations-, Risiko- und Anreizkonzepte zu entwickeln, die die Funktion von Marktpreisen, also das Zusammenspiel von Markt- und Preismechanismus, angemessen abbilden können. Unklar ist vor allem, wie ein Preissystem informationseffizient (oder gar paretoeffizient) funktionieren kann, in dem Preise einerseits arbiträr und riskant gesetzt und andererseits als Daten behandelt werden; in dem es sich lohnt (trotz eines die Existenz eines Gleichgewichts gefährdenden Kostenaufwands), nach weiteren Informationen zu suchen, obwohl die Preise bereits alle relevanten Informationen ›bündeln‹. Unklar ist, ob und für wen Preise Informationen sind und wie in einer Marktwirtschaft Preisinformationen produziert, verteilt und manipuliert werden können (Baecker 1988, S. 245 f.). Ich möchte diese Unklarheiten als Ausdruck einer Ausblendung des Problems der Risiken der marktförmigen Koordination verstehen. Die professionellen Ökonomen sind seit Adam Smith so beschäftigt damit, das Wunder der Koordination qua unsichtbarer Hand zu zelebrieren, dass unklar bleibt, welche Risiken in dieser Unsichtbarkeit liegen. Bei der politischen Form dieses Koordinationsmechanismus, der Form demokratischer politischer Wahl, sind die implizierten Risiken sowohl am auffälligsten wie wohl auch am besten untersucht. Ich belasse es hier bei den Stichworten Tyrannei der Mehrheit, Herrschaft der Mediokrität, Zynismus der Demagogen, Wettkampf der Werbestrategien, Verdrängung der Sachfragen durch Telegenität der Personen etc. Beim zweiten großen Koordinationsmechanismus der Moderne, bei Hierarchie, sind die Risiken der Koordination leichter zu sehen. Ich habe einige davon in Kapitel 3 erörtert. Das zentrale Risiko von Koordination, so lässt sich nun zusammenfassend folgern, ist Gleichschaltung oder, weniger dramatisch ausgedrückt, Entdifferenzierung. Wenig überraschend ist dies insofern, als der Bedarf für Koordiwww.claudia-wild.de: <?page no="87"?> [UTB-S]__Willke__Systemtheorie_3_Steuerungstheorie__[Druck-PDF]/ 11.12.2013/ Seite 88 www.claudia-wild.de: [UTB-S]__Willke__Systemtheorie_3_Steuerungstheorie__[Druck-PDF]/ 11.12.2013/ Seite 89 88 nation als Bedarf nach einer Rückbindung differenzierter Teile an irgendeine Form von Einheit auftritt. So kann es leicht passieren, dass der Prozess der Koordination als Herstellung von Einheit missrät oder so missverstanden oder missbraucht wird. Das wirkliche Problem von Koordination ist nicht die Schaffung von Einheit, sondern die Herstellung der erforderlichen und unabdingbaren Einheit unter der Bedingung, dass die Autonomie, Vielfalt, Varietät und Innovativität der Teilsysteme des Ganzen möglichst schonend erhalten bleiben. Mit Blick auf die Politik zwischen der EU und ihren Mitgliedstaaten kommt Fritz Scharpf zu der diesen Sachverhalt treffenden Beschreibung »autonomieschonend und gemeinschaftsverträglich« (1993a). Die Frage ist, wie diese Quadratur des Kreises gelingen kann. Ausgangspunkt jeder Überlegung zum Problem der Koordination ist die Frage des Zusammenhangs unterschiedener Teile oder Momente. Vergegenwärtigen wir uns noch einmal die drei Haupttypen der Systemdifferenzierung (ausführlich dazu Systemtheorie I, Kapitel 6.2 und Systemtheorie II, Kapitel 2): segmentäre, geschichtete und funktionale Differenzierung (siehe dazu auch den folgenden schematischen Überblick in Tabelle 4.2). Es zeigt sich, dass die Art der Aufgliederung eines Zusammenhangs in Bestandteile die Bedingungen definiert, unter denen diese Bestandteile in ihre Ordnung (zurück-)finden können. Anders ausgedrückt: Die Merkmale der Teile geben die Restriktionen vor, unter welche die Koordination des Systemzusammenhangs gestellt ist. Tabelle 4.2: Systemdifferenzierung und Systemkoordination Differenzierungsformen Differenzierungsform segmentär stratifikatorisch funktional Gliederungs- Prinzip gleiche Teile ungleiche Teile ungleiche Teile (ungleichartig + gleichrangig) Verhältnis der Teile Autonomie Interdependenz Autonomie + Interdependenz Zusammenhang zerlegbares System nicht zerlegbares System nahezu zerlegbares System Ordnungsprinzip Ordnung durch Fluktuation Ordnung durch Hierarchie Ordnung durch Verflechtung Quelle: Eigene Darstellung <?page no="88"?> www.claudia-wild.de: [UTB-S]__Willke__Systemtheorie_3_Steuerungstheorie__[Druck-PDF]/ 11.12.2013/ Seite 88 www.claudia-wild.de: [UTB-S]__Willke__Systemtheorie_3_Steuerungstheorie__[Druck-PDF]/ 11.12.2013/ Seite 89 89 Bislang haben wir uns ausführlich mit den Koordinations- oder Ordnungsformen Demokratie (einschließlich Markt) und Hierarchie beschäftigt. Ordnung durch Verflechtung oder Vernetzung steht noch aus. Allerdings schimmerten bei den Erörterungen von Demokratie und Hierarchie als Steuerungsformen komplexer Gesellschaften immer schon Andeutungen einer »dritten« Form durch-- vor allem, weil sich nicht lange verheimlichen lässt, dass gerade in hochkomplexen Systemen sowohl die Arten der Aufgliederung wie auch die Arten der Koordination der Systemteile sich nicht auf die Zweiteilung Demokratie/ Hierarchie reduzieren lassen. Erinnern wir uns, dass die Diskussion um Steuerungsformen (»governance structures«) zunächst strikt zweigleisig lief: Auf der einen Seite findet sich der politikwissenschaftliche Diskurs über Regierungsformen, den ich an den herausragenden Vertretern Charles Lindblom und Amitai Etzioni illustriert habe. Auf der anderen Seite steht der wirtschaftswissenschaftliche Diskurs über Organisationsformen der Ökonomie, der lange Zeit in der fruchtlosen Dichotomie von »Markt versus Plan« befangen blieb und erst mit der Wiederentdeckung von Ronald Coase durch Oliver Williamson neue Impulse empfing. Coase hatte die ebenso geniale wie frühreife Idee (übrigens im doppelten Sinne: historisch frühreif, weil sie für seine Profession über 30 Jahre zu früh kam; und individuell frühreif, weil Coase seine Idee bereits im Alter von 21 Jahren für sich ausformuliert hatte), die Idee nämlich, dass der Markt nur für ganz bestimmte Bedingungen und Kosten von Transaktionen die optimale Organisationsform darstellt, während unter anderen Bedingungen die Firma als hierarchische Organisation die bessere Alternative bietet. Für Williamson war dies der Anstoß zur Entwicklung einer allgemeinen Transaktionskosten-Ökonomie mit dem Ziel, ökonomische Transaktions- oder Koordinationsformen je nach ihren spezifischen Transaktionskosten-Kalkülen zu unterscheiden. Erstaunlicherweise fanden diese beiden, von zwei unterschiedlichen Disziplinen getragenen Diskursstränge lange Zeit nicht zueinander, obwohl die Parallelität ihrer Leitprobleme geradezu nach einer transdisziplinären vergleichenden Perspektive verlangte. Was immer die genaueren Gründe dafür gewesen sein mögen, jedenfalls zeigt sich, dass das Denken in der einen Form-- bei den Politologen die Form Politik/ Markt und bei den Ökonomen die Form Hierarchie/ Markt-- jeweils das Denken in der anderen Form blockiert. Erst als beide Lager mit ihrer je eigenen Form zunehmend unzufrieden wurden und sich auf die Suche nach dritten Alternativen machten, weichten die Fronten hinreichend auf, um Grenzübertritte als möglich erscheinen zu lassen. Allerdings nicht bei den Hauptprotagonisten selbst! Wie ich ausgeführt habe, verrennen sich sowohl Lindblom wie Etzioni in einigermaßen attaviswww.claudia-wild.de: <?page no="89"?> [UTB-S]__Willke__Systemtheorie_3_Steuerungstheorie__[Druck-PDF]/ 11.12.2013/ Seite 90 www.claudia-wild.de: [UTB-S]__Willke__Systemtheorie_3_Steuerungstheorie__[Druck-PDF]/ 11.12.2013/ Seite 91 90 tische »dritte« Formen, indem sie auf den Laien bzw. auf Moral setzen; und auch Williamson führt die Form des »relational contract« als dritte Alternative ein, ohne jede Bezugnahme auf die politikwissenschaftliche Diskussion und mit der alleinigen Absicht, in einer mikroanalytischen Perspektive die Idee einer Transaktionskosten-Ökonomik weiterzutreiben (Williamson 1985, S. 1 f.). Aber bei Beobachtern dieser beiden getrennten Diskussionen formierte sich doch allmählich der Gedanke, dass hier ein übergreifendes Problem der Koordination oder der Steuerung komplexer Sozialsysteme zugrunde liegen könnte. Diesen transdisziplinär operierenden Beobachtern wenden wir uns nun zu. 4.1 Zur Logik von Verhandlungssystemen Ich habe bereits erwähnt, dass in der Organisationstheorie die Frage der Verflechtungen zwischen unterschiedlichen Organisationen im Interorganisationsansatz und in der Netzwerkanalyse seit längerer Zeit aufmerksam beobachtet wird. Eine ähnliche Fragestellung verfolgen auf nationalstaatlicher Ebene neokorporatistische Ansätze, und auf transnationaler und globaler Ebene Ansätze des Übergangs von government zu governance (Willke 2007b), die zudem eine ausdrückliche steuerungstheoretische Komponente mitführen. Auch auf der Ebene internationaler Beziehungen gewannen in den 1980er-Jahren Ideen an Einfluss, die vom simplen Modell entweder kooperativer oder konflikthafter Beziehungen abrückten und komplexere Verschränkungen von Kooperation und Konflikt in den Beziehungen zwischen Nationen zuließen (Campbell u. a. 1992); (Benner, Reinicke and Witte 2004; Bexell, Tallberg and Uhlin 2010). Aus unterschiedlichen Richtungen und Quellen formte sich allmählich eine neue Sichtweise zur Frage der Koordination autonomer Systeme. Geprägt ist sie dadurch, dass der immer schon verspürte Bedarf nach einer »dritten« Form der Koordination nach und nach an der Idee von Netzwerken oder Verhandlungssystemen kondensierte. Gegenüber allen bisherigen Vorschlägen für dritte Formen hatte diese Idee den Vorzug, nicht auf vormoderne Koordinationsformen zurückgreifen zu müssen, sondern im Gegenteil auf eine prägnant moderne, gerade für hohe organisierte Komplexität besonders geeignete Form zu weisen. In der deutschsprachigen Diskussion war es vor allem Fritz Scharpf, der im Zuge der politikwissenschaftlichen Analyse der Praxis des Föderalismus auf Formen der Politikverflechtung stieß. Gegenüber der verfassungsrechtlich vorgesehenen Trennung der föderalen Ebenen ergab sich als empirischer Befund die Existenz vielfältiger Verhandlungssysteme, in denen Vertreter des Bundes und der Länder nach gemeinsam tragfähigen Lösungen ihrer Abstimmungsprobleme suchten, anstatt es auf Konflikte und die Durchsetzung norwww.claudia-wild.de: <?page no="90"?> [UTB-S]__Willke__Systemtheorie_3_Steuerungstheorie__[Druck-PDF]/ 11.12.2013/ Seite 90 www.claudia-wild.de: [UTB-S]__Willke__Systemtheorie_3_Steuerungstheorie__[Druck-PDF]/ 11.12.2013/ Seite 91 91 mativer Machtpositionen ankommen zu lassen. Obwohl beispielsweise dem Bund im Bundesfernstraßenbereich die alleinige Entscheidungskompetenz zustand, stieß er beim Versuch der Durchsetzung dieser Kompetenz auf Grenzen, weil ihm für die Durchführung seiner Entscheidungen der Verwaltungsunterbau fehlt (Scharpf u. a. 1976). Die Länder haben dadurch in der Praxis die Möglichkeit, Entscheidungen des Bundes, denen sie ablehnend gegenüberstehen, durch Verzögerungen, Hindernisse, Umwege etc. so massive Schwierigkeiten in den Weg zu legen, dass der Bund besser dazu übergeht, sich vorher mit den Ländern abzustimmen, um zu einer gemeinsam tragfähigen Entscheidung zu kommen. Mit der Einführung von »Gemeinschaftsaufgaben« und »Investitionshilfen« in das Grundgesetz im Zuge der Verfassungsreformen des Jahres 1969 wurde diese Praxis in wichtigen Bereichen »normalisiert«. Die Idee von Verhandlungssystemen gewann als eine Form der Abstimmung und Koordination Anerkennung, weil Verhandlungssysteme geeignet erschienen, die strikten Trennungen zu überwinden, welche die föderale Kompetenzverteilung einerseits, das Subsidiaritätsprinzip andererseits erzwingen. Anstatt zähneknirschend die Entscheidungen der jeweils anderen »vertikalen« Ebenen hinzunehmen, ermöglichen Verhandlungssysteme der betroffenen Akteuren, sich im Vorfeld einer Entscheidung über ihre Vorstellungen zu verständigen und so zumindest den Versuch zu machen, nach brauchbaren Kompromissen zu suchen. Allerdings war und ist diese vertikale Politikverflechtung nicht ohne Gefahren und Probleme. Eine schleichende Verlagerung faktischer Kompetenzen und Gewichte von den Kommunen zu den Ländern und von den Ländern zum Bund ist im »kooperativen Föderalismus« der Bundesrepublik seit den 1970er-Jahren unverkennbar. Ein weiterer Effekt liegt »in ihrer Tendenz zur Autonomisierung sektoral definierter Politikbereiche gegenüber der territorialen Perspektive in den Entscheidungssystemen des Bundes, der einzelnen Länder und der Gemeinden. Am sinnfälligsten erscheint dieser Effekt auf der Gemeindeebene, wo die Bund/ Länder-Programme mit so hohen Zuschüssen versehen ankommen, dass die eigene Abwägung zwischen konkurrierenden kommunalpolitischen Prioritäten dadurch ohne weiteres außer Kraft gesetzt werden kann« (Scharpf und Schnabel 1979, S. 39). Schließlich spricht Scharpf mit Blick auf die Ausdehnung der vertikalen Politikverflechtung auf die europäische Ebene von einer »Politikverflechtungs- Falle« (Scharpf 1985), in der sich die Akteure in Verhandlungssystemen verfangen, wenn alle an einer Entscheidung beteiligt sind, aber keine Ebene mehr eigenverantwortlich politisch handeln und somit auch keine klare, <?page no="91"?> www.claudia-wild.de: [UTB-S]__Willke__Systemtheorie_3_Steuerungstheorie__[Druck-PDF]/ 11.12.2013/ Seite 92 www.claudia-wild.de: [UTB-S]__Willke__Systemtheorie_3_Steuerungstheorie__[Druck-PDF]/ 11.12.2013/ Seite 93 92 zurechenbare Verantwortung übernehmen kann. Die innerstaatliche Politikverflechtung »reduziert das Niveau demokratischer Selbstbestimmung, indem sie Entscheidungen verkoppelt, die nach der Logik des Trennsystems entweder auf Bundesebene oder in den Ländern in voller parlamentarischer Verantwortung getroffen werden könnten. Den Preis zahlen in erster Linie die Parlamente auf beiden Ebenen, die über die zwischen den Regierungen bzw. Bürokratien geführten Verhandlungen erst nachträglich informiert und dann in der Regel mit vollendeten Tatsachen konfrontiert werden« (Scharpf 1992b, S. 19). Von vornherein sollte also klar sein, dass Koordination in und durch Verhandlungssysteme keine Patentlösung für die Abstimmungsprobleme komplexer Sozialsysteme darstellt. Dennoch ist es ein ernstzunehmender Versuch, die Grenzen und Beschränkungen des föderativen Systems demokratischpolitischer Entscheidungsfindung zu überwinden. Nicht zufällig nisten sich Verhandlungssysteme an den Grenzflächen von Demokratie und Hierarchie eines vertikal-föderativen politischen Systems ein. Denn hier schneiden sich die Erfordernisse von Beteiligung, Mitentscheidung und politisch zurechenbarer Verantwortlichkeit einerseits mit den Zwängen fachlich kompetenter, längerfristiger und problemangemessener Entscheidung andererseits. Anscheinend lassen sich beide Momente nicht ohne Weiteres zu einer gemeinwohlorientierten Lösung verknüpfen, solange eine bloß formal klare Kompetenzenverteilung den (offenen oder verdeckten) Widerstand der nachrangigen Akteure provoziert. Die Parallelen zum gegenwärtigen Umbau von Organisationsstrukturen, insbesondere in Unternehmen, von stark formalisierten Hierarchien zu »schlankeren«, weniger hierarchischen und auf eigenverantwortliche Geschäftsfelder oder Produktgruppen setzenden Netzwerken ist offensichtlich (siehe Systemtheorie II: Kap. 4). Im Kontext des Ansatzes und der Arbeiten des Max-Planck-Instituts für Gesellschaftsforschung in Köln haben Renate Mayntz und Fritz Scharpf die Idee der Koordination durch Verhandlungssysteme und vernetzte Akteurskonstellationen verallgemeinert und empirisch an unterschiedlichen Politikbereichen erprobt. Im Fall moderner Gesellschaften, deren Funktionssysteme hohe Autonomie und Eigendynamik ausgebildet haben, tritt neben die Notwendigkeit vertikaler (föderaler) Koordination zunehmend ein Bedarf an horizontaler Koordination zwischen prinzipiell gleichrangigen und gleichgeordneten Systemen. Dies umso mehr, je stärker die Politik ihre angestammte Rolle einer hierarchischen Spitze der Gesellschaft verliert und sich mit anderen eigenmächtigen und eigensinnigen Kollektiven abstimmen muss, um überhaupt zu Lösungsstrategien für komplexe gesellschaftliche Problemlagen zu kommen: <?page no="92"?> www.claudia-wild.de: [UTB-S]__Willke__Systemtheorie_3_Steuerungstheorie__[Druck-PDF]/ 11.12.2013/ Seite 92 www.claudia-wild.de: [UTB-S]__Willke__Systemtheorie_3_Steuerungstheorie__[Druck-PDF]/ 11.12.2013/ Seite 93 93 »Das Aufkommen von Politiknetzwerken hat daher zwei wichtige Implikationen: es ist ein Zeichen für einen ›schwachen‹ Staat, aber es signalisiert gleichzeitig Sensibilität für die erhöhte Komplexität politischer Herrschaft und für zunehmende Konsensbedürfnisse in modernen demokratischen Gesellschaften« (Mayntz 1992, S. 21). Netzwerke von handlungsfähigen Organisationen, Kollektiven oder Korporationen können als der Normalfall der Verflechtung wechselseitig abhängiger und wechselseitig interessierter Akteure angesehen werden. Zwar hat erst der Erfolg der »Netzwerkanalyse« als akademischer Teildisziplin das Thema populär gemacht und insbesondere die quantitative Analyse von Politik- und Interorganisationsnetzwerken vorangetrieben; dass in hochgradig arbeitsteiligen und mithin wechselseitig abhängigen Organisationsbeziehungen Vernetzungen aufgebaut und gepflegt werden, kann aber kaum überraschen. Bemerkenswert ist dagegen, dass auf der Makroebene von gesellschaftlichen Funktionssystemen zunehmend auch Netzwerke zwischen prinzipiell konkurrierenden Akteuren entstehen- - als Reaktion auf den bei aller Konkurrenz gewichtiger werdenden Abstimmungsbedarf. So hat Rogers Hollingsworth (1990) selbst für die traditionell auf »free enterprise« eingeschworene amerikanische Wirtschaft einen historischen Trend von vereinzelnder Konkurrenz zu »promotional networks« festgestellt. In solchen Netzwerken arbeiten Firmen, die sich besonders dynamischen und risikoreichen Umweltveränderungen ausgesetzt sehen, im präkompetitiven (vorwettbewerblichen) Bereich zusammen mit dem Ziel, gemeinsam günstigere infrastrukturelle Voraussetzungen (Forschung und Entwicklung, Wissenssysteme, Ausbildung, Kommunikationsstrukturen) zu schaffen. In einer eigenen Untersuchung haben wir diese Entwicklung am Fall der amerikanischen Halbleiterindustrie bestätigt gefunden (Willke/ Krück/ Thorn 1995). Ende der 1979er- und Anfang der 80er-Jahre drohte diese Industrie unter den konzertierten und strategisch gezielten Angriffen der japanischen Konkurrenz zusammenzubrechen. Erst unter diesem Druck und nach jahrelangen kontroversen Diskussionen fand sich ein Großteil dieser Industrie in einem »promotional network« zusammen und überzeugte sogar die amerikanische Bundesregierung von der Notwendigkeit einer Kooperation von Politik und Ökonomie. Die resultierende konzertierte Initiative zur Förderung der Halbleiterindustrie (»Sematech«) war in ihrer ersten Fünfjahresphase von 1987 bis 1992 so erfolgreich, dass sie inzwischen zum Muster für eine Reihe weiterer Programme im Bereich strategischer Technologien avanciert ist. Parallel zu den »promotionalen« Netzwerken der Ökonomie haben sich in der Politik unterschiedliche Formen von Policy-Netzwerken etabliert, deren wesentliche Neuerung darin zu sehen ist, dass sie zwischen traditionell <?page no="93"?> www.claudia-wild.de: [UTB-S]__Willke__Systemtheorie_3_Steuerungstheorie__[Druck-PDF]/ 11.12.2013/ Seite 94 www.claudia-wild.de: [UTB-S]__Willke__Systemtheorie_3_Steuerungstheorie__[Druck-PDF]/ 11.12.2013/ Seite 95 94 konkurrierenden oder indifferenten Akteuren Prozesse der Abstimmung und Koordination schaffen (Mayntz 1993). Unter dem Druck unkontrollierbarer Dynamiken, Risiken und Folgeprobleme des »normalen« politischen Handelns sehen alle beteiligten kollektiven Akteure einen unabweisbaren Bedarf zumindest für die wechselseitige Kontrolle ihres Chaotisierungspotenzials. Zielt diese Art der »negativen Koordination« auf Schadensbegrenzung, so gelingt unter günstigen Voraussetzungen- - zu denen immer häufiger die Perzeption einer bedrohlichen äußeren Konkurrenz zählt-- auch gelegentlich eine »positive Koordination« der in einem Policy-Netzwerk verbundenen Akteure. Damit ist gemeint, dass über die bloße Selbstbeschränkung auf wechselseitig verträgliche Optionen des Handelns der Akteure hinaus in abgestimmten Strategien gemeinsame Mehrwerte im Sinne eines Positivsummenspiels ermöglicht werden (Scharpf 1992a, S. 101). So plausibel und harmlos dies klingt, so schwierig ist positive Koordination in der Praxis, weil sie Vertrauen, Selbstbindung, Rücksichtnahmen und eine zumindest mittelfristige Perspektive voraussetzt-- und genau dies ist in der Praxis der Politik (und nicht nur dort) der Ausnahmefall. Sind aber diese Voraussetzungen gegeben, insbesondere die Absicht, kollektiv vorteilhafte Ergebnisse zu erzielen, dann kann man mit Renate Mayntz den Übergang von der Form und Logik des Netzwerks zu derjenigen eines Verhandlungssystems feststellen: »Verhandlungssysteme werden stabilisiert, wenn es Regeln gibt, die bei der Definition annehmbarer Kompromisse behilflich sein können.- … Diese Regeln mögen sich an einem fairen Austausch orientieren, an Reziprozität oder an einer gerechten Verteilung von Kosten und Nutzen einer gemeinsamen Entscheidung (oder einer bestimmten Problemlösung); in jedem Fall verlangen sie grundsätzlich jedem Teilnehmer eine freiwillige Beschränkung seiner Handlungsfreiheit ab, indem er die möglicherweise divergierenden Interessen anderer Teilnehmer sowie die Auswirkungen der jeweils eigenen Handlungen auf sie berücksichtigt-… Aber noch mehr ist im Spiel. Dort, wo eine begrenzte Zahl korporativer Akteure in einem bestimmten Bereich- - einem Politiksektor, einem Wirtschaftszweig, einem technologischem Gebiet-- sich stillschweigend auf die Einhaltung von Regeln geeinigt haben, welche die Reichweite für willkürliche und egoistische Handlungen begrenzen, kann sich ein Muster von gegenseitig akzeptierten organisatorischen Identitäten, Kompetenzen und Interessenssphären entwickeln« (Mayntz 1992, S. 27 f., Hervorhebung H. W.). Allerdings ist bei der Beurteilung der Leistungsfähigkeit von Verhandlungssystemen eine Schwierigkeit zu berücksichtigen, welche gerade gegenüber den konkurrierenden Modellen marktförmiger Demokratie und bürokratiewww.claudia-wild.de: <?page no="94"?> [UTB-S]__Willke__Systemtheorie_3_Steuerungstheorie__[Druck-PDF]/ 11.12.2013/ Seite 94 www.claudia-wild.de: [UTB-S]__Willke__Systemtheorie_3_Steuerungstheorie__[Druck-PDF]/ 11.12.2013/ Seite 95 95 förmiger Hierarchie besonders wichtig ist: die stark ins Gewicht fallenden Transaktionskosten (d. h.: Kosten der Findung und Stabilisierung von Lösungen), sobald das zu behandelnde Problem auch Verteilungskonflikte beinhaltet. In der pluralistischen Konkurrenzdemokratie werden Verteilungsfragen durch Stimmenverhältnisse und die Formierung von Mehrheiten ebenso neutralisiert wie im idealen Markt durch den anonymen Preismechanismus. In der idealen Hierarchie ist die Zustimmung der Betroffenen zu den Entscheidungen der vorgesetzten Ebenen durch die Trennung von (System-)Zwecken und (Gehorsams-)Motiven (Luhmann 1973, S. 128) nicht erforderlich und so das Transaktionskostenproblem ebenfalls neutralisiert. In Verhandlungssystemen dagegen treten gerade Verteilungskonflikte offen zutage. Darauf hat vor allem Fritz Scharpf hingewiesen (1992, S. 76). Er betont, dass in Verhandlungssystemen zwei widersprüchliche Logiken zusammentreffen: Zum einen-- wie auf dem Markt-- die egoistischen Interessenkalküle der Beteiligten, die je nach Machtverhältnissen und Ressourcenverteilungen die Basis der Austauschverhältnisse im Verhandlungssystem bilden; zum anderen-- wie in Organisationen, die durch freiwillige Mitgliedschaft geprägt sind-- Selbstbindungen der Beteiligten durch normative Verpflichtungen auf Gerechtigkeit oder Fairness dieser Austauschverhältnisse in der Verfolgung der gemeinsamen Ziele. Diese normativen Bindungen mäßigen eine zu massive oder zu offensichtliche Durchsetzung egoistischer Interessen zugunsten der Chancen längerfristiger und dauerhafter Beziehungen. Sie widersprechen also keineswegs einer »rationalen« Verhandlungsstrategie der Akteure, sobald die Nutzen von kontinuierlichen Beziehungen die Vorteile einer kurzfristigen Maximierungsstrategie überwiegen. Bei Verteilungskonflikten aber wird es sehr schwierig, die Spannung zwischen den beiden widersprüchlichen Logiken auszuhalten und in ein längerfristiges Positivsummenspiel umzubiegen. Gelingen kann dies beispielsweise durch Ausgleichszahlungen für den Nachgebenden oder durch »Paketlösungen«. Die Stärke von Verhandlungssystemen liegt demnach darin, die streng egoistische Logik des Marktes und die streng paternalistische Logik der Hierarchie verknüpfbar und teilweise kompatibel zu machen. Da die Widersprüchlichkeit der beiden Logiken natürlich nicht verschwindet, gelingt die Kompatibilisierung immer nur als Balanceakt. Ohne kunstvolle Steuerungsleistungen verkommen Verhandlungssysteme schnell zu bloß marktförmigen Austauschbeziehungen, in denen jeder seinen kurzfristigen Vorteil sucht; oder sie verdichten sich zu umfassend geregelten Organisationen, denen die Leichtigkeit, Responsivität und Fluidität von Verhandlungssystemen abhandengekommen ist. Die Art der erforderlichen Steuerungsleistung lässt sich mit Hilfe des »Coase-Theorem« der ökonomischen Theorie der Institutionen (1960) präzisieren: Coase begründet, dass hierarchische Koordination unter <?page no="95"?> www.claudia-wild.de: [UTB-S]__Willke__Systemtheorie_3_Steuerungstheorie__[Druck-PDF]/ 11.12.2013/ Seite 96 www.claudia-wild.de: [UTB-S]__Willke__Systemtheorie_3_Steuerungstheorie__[Druck-PDF]/ 11.12.2013/ Seite 97 96 zwei Bedingungen durch marktgesteuerte Verträge ersetzt werden könne: wenn die Transaktionskosten vernachlässigbar und wenn keine Verteilungskonflikte zu lösen sind. Umgekehrt ist eine hierarchische Austauschstruktur der marktförmigen Koordination nur solange überlegen, wie die organisationalen Transaktionskosten niedrig, unternehmerische Fehlentscheidungen selten und die Ressourcenbeschaffung durch die Organisation-- etwa durch die Größe der Nachfrage (economies of scale)- - billiger ist als für individuelle Nachfrager (Coase 1937, S. 390). Steuerung in Netzwerken und Verhandlungssystemen muss deshalb darauf gerichtet sein, die Transaktionskosten der Koordination und die Sichtbarkeit von Verteilungsproblemen möglichst gering zu halten. Gelingt dies, dann lassen sich die spezifischen Stärken von Verhandlungssystemen ausspielen: ihre-- gegenüber dem Markt-- stärkere Langfristorientierung und Kohärenz; und ihre-- gegenüber der Hierarchie-- stärkere Flexibilität und Responsivität. Gelingt dies nicht, dann laufen Netzwerke oder Verhandlungssysteme in eine »Verflechtungsfalle« (Scharpf ) in dem Sinne, dass die beteiligten Systeme in Form einer negativen Koordination nur das zulassen, was ihre eigene Position nicht stört. Für einen allmählichen historischen Lernprozess mag die Form der negativen Koordination genügen. Angesichts der Dynamik und Riskiertheit gegenwärtiger Veränderungen in internationalen, nationalen und regionalen Kontexten aber erscheint es tollkühn, sich auf ein evolutionäres Versuchund-Irrtum-Verfahren zu verlassen. Mit Blick auf Europa kommt Fritz Scharpf deshalb zu folgendem Urteil: »So sehr es zutrifft, dass moderne Rechts- und Verfassungssysteme jahrhundertelange Erfahrungen speichern-…, sowenig können wir uns angesichts revolutionärer Veränderungen der politischen, ökonomischen und institutionellen Rahmenbedingungen allein auf die langsam akkumulierenden Lerneffekte von Versuch und Irrtum verlassen. Aber während die Evolution von Institutionen und das inkrementale Lernen ohne einen Begriff ihres Gegenstandes auskommen, braucht die Design-Perspektive eine zutreffende Vorstellung von den zu lösenden Problemen und von der Funktionsweise der verfügbaren Konstruktionselemente. Wo diese fehlt, kommt es leicht zur intellektuellen Regression in jene simplen Dichotomien von Markt-versus-Staat oder Unabhängigkeit-versus-Zentralismus, wie sie den institutionellen Umbau in Europa immer noch irreführen« (Scharpf 1992a, S. 104). Ein anderer aufschlussreicher Anwendungsfall ist die Bildung von Netzwerken und Verhandlungssystemen als Formen der Kooperation zwischen Firmen. Von strategischen Allianzen bis zu lockeren Einkaufsverbunden gibt es eine <?page no="96"?> www.claudia-wild.de: [UTB-S]__Willke__Systemtheorie_3_Steuerungstheorie__[Druck-PDF]/ 11.12.2013/ Seite 96 www.claudia-wild.de: [UTB-S]__Willke__Systemtheorie_3_Steuerungstheorie__[Druck-PDF]/ 11.12.2013/ Seite 97 97 Fülle unterschiedlicher Formen der zwischenbetrieblichen Vernetzung mit dem Ziel, die Vorteile von Kooperation zu nutzen, ohne gleich in das Korsett eines Firmenzusammenschlusses (»merger«) gezwungen zu sein. Im Zuge der Diskussion um »schlankes Management« und »schlanke Organisation« und der damit verbundenen Empfehlung an die Firmen, sich auf ihr Kerngeschäft und ihre Kernkompetenzen zu konzentrieren, kommt es in bisher vertikal stark integrierten Branchen (z. B. Auto, Stahl, Chemie, Möbel, Textil oder Elektro; siehe die Nachweise bei (Semlinger 1993, Fn. 6) zu Prozessen »vertikaler Disaggregation« oder »Funktionsexternalisierung«. Damit ist gemeint, dass etwa eine Autofirma, die bislang nahezu alle Komponenten und Zwischenprodukte des Autos selbst entwickelt und produziert hat, Schritt für Schritt Komponenten oder Teilleistungen von selbständigen Zulieferern fertigen lässt. Dies hat den Vorteil, dass Komponenten wie Einspritzanlagen, ABS-Systeme, Sitze, Armaturen oder Leistungen wie Design, Patentmanagement oder Werbung, die inzwischen sehr komplex und aufwendig geworden sind, von Spezialfirmen entwickelt und gefertigt werden, während sich die Autofirma auf ihre eigene Spezialität- - die Entwicklung und Fertigung des Gesamtsystems ›Auto‹-- konzentriert. »Eine strategisch motivierte Funktionsexternalisierung führt zu einer Restrukturierung nicht nur einzelner Organisationen, sondern der gesamten Wert-(schöpfungs)kette. In vielen der genannten Beispiele wird infolge der Ausgliederung betrieblicher Funktionen oder Teilfunktionen die unternehmungsinterne, hierarchische Koordination nicht durch eine rein marktvermittelte Beziehung ersetzt. Stattdessen werden langfristige Vereinbarungen mit Zulieferern oder Abnehmern abgeschlossen,-… Auf diese Weise entstehen institutionelle Arrangements, die als (interorganisationale) Netzwerke bezeichnet werden können« (Sydow 1992, S. 243). Ein Nachteil dieses Arrangements könnte allerdings sein, dass nun die Autofirma nicht mehr einfach selbst die Details der Herstellung der Komponenten bestimmen kann. In diesen und anderen Fällen der Netzwerkbildung beobachtet Walter Powell (1990, S. 305), dass »all of the parties to network forms of exchange have lost some of their ability to dictate their own future and are increasingly dependent on the activities of others.« Die beteiligte Organisation verliert also ein gewisses Maß an Kontrolle und sieht sich zur Kooperation mit mehreren Zulieferern gezwungen. Hinzu kommt, dass die Autofirma bestimmte interne Design-, Planungs- und Produktionsdaten gegenüber den Zulieferern offenlegen muss, weil diese sonst nicht zur passenden Zeit, in entsprechender Menge und Spezifikation geeignete Komponenten herstellen können. Viele Firmen scheuen diese Öffnung, weil sie <?page no="97"?> www.claudia-wild.de: [UTB-S]__Willke__Systemtheorie_3_Steuerungstheorie__[Druck-PDF]/ 11.12.2013/ Seite 98 www.claudia-wild.de: [UTB-S]__Willke__Systemtheorie_3_Steuerungstheorie__[Druck-PDF]/ 11.12.2013/ Seite 99 98 Missbrauch befürchten und sich nicht vorstellen können, dass durch Kooperationsbeziehungen (etwa in Zulieferernetzwerken) auch entsprechende normative Regeln der Fairness und Selbstbindung sich etablieren. Funktionieren kann also diese Form des Zusammenspiels nur, wenn sich tatsächlich eine veränderte Logik der Kooperation zwischen autonomen Akteuren herausbildet, nach welcher die vernetzten Firmen die wechselseitigen Abhängigkeiten nicht für opportunistische Übervorteilung nutzen, sondern dafür, längerfristige gemeinsame Nutzen zu erreichen. Es erscheint ziemlich unwahrscheinlich, dass Produktions- oder Dienstleistungseinheiten die Autonomie marktförmiger oder die Sicherheit hierarchischer Beziehungen zugunsten der Risiken und Unsicherheiten netzwerkförmiger Koordination aufgeben, solange sie als autonome Akteure im Markt eine Überlebenschance oder als spezialisierte Subsysteme in einer Hierarchie ihr Auskommen finden. Genau diese Voraussetzungen sind allerdings fraglich geworden, seit nicht mehr die industrielle Massenproduktion das Leitbild moderner Produktionsformen ist, sondern die Notwendigkeit »flexibler Spezialisierung« in massiv kundenorientierten Märkten. Hier spielen neben dem Preis zunehmend qualitative Merkmale wie Qualität, Zuverlässigkeit, Innovationsgehalt, Problemlösungskapazität, Schnelligkeit, Umweltverträglichkeit und Service eine Hauptrolle. Diese Merkmale verändern das Anforderungsprofil an Unternehmen in einer Weise, die zunehmend weder von einzelnen hochintegrierten Korporationen noch von marktgesteuerten Kooperationen erfüllt werden kann. Die genannten Anforderungen erzwingen veränderte Strategien der korporativen Akteure zumindest in drei Dimensionen (siehe zu diesen Dimensionen Semlinger 1993, S. 313): • Eine optimierte Markt- und Produktstrategie verlangt die Verkürzung der Produktlaufzeit durch schnellere Innovationen und variablere Typen, die durch mehr Produktvarianten den spezifischen Kundenwünschen besser entspricht. Kürzere Produktzyklen bedeuten auch kürzere Fristen für Erforschung, Entwicklung und Erprobung neuer Typen. • Eine optimierte Produktions- und Rationalisierungsstrategie verlangt eine Optimierung des Gesamtprozesses der Produktion, sowie eine Kombination von Standardisierung in den Bauteilen und Zwischenprodukten und Flexibilisierung in den Endprodukten. In vielen Firmen und Sektoren-- vor allem auch im Dienstleistungssektor, etwa bei Banken und Versicherungen-- verlangt die Realisierung dieser Strategie eine umfassende Neudefinition des Geschäftsprozesses im Sinne eines »business reengineering« (Hammer and Champy 1994), um gegenüber den etablierten Routinen des Unternehmens die spezifische Leistung für den Kunden tatsächlich in den Vordergrund stellen zu können. <?page no="98"?> www.claudia-wild.de: [UTB-S]__Willke__Systemtheorie_3_Steuerungstheorie__[Druck-PDF]/ 11.12.2013/ Seite 98 www.claudia-wild.de: [UTB-S]__Willke__Systemtheorie_3_Steuerungstheorie__[Druck-PDF]/ 11.12.2013/ Seite 99 99 • Eine optimierte Organisationsstrategie verlangt die Verbesserung der Selbststeuerungsfähigkeit der einzelnen Fertigungsstufen, sowie eine Verbesserung der Integration der Teilleistungen. Voraussetzung hierfür ist einerseits eine Dezentralisierung und Enthierarchisierung der Entscheidungsprozesse (etwa durch partiell autonome Gruppen, Teilfirmen oder Geschäftseinheiten) und andererseits eine korporative Kontextsteuerung, die den Zusammenhang der dezentral hergestellten Produktkomponenten gemäß der »Mission« des Unternehmens leistet (ausführlich dazu Systemtheorie I, Kap. 6 und Systemtheorie II, Kap. 5.2; sowie grundsätzlich (Willke 1992, Kap. 4). Der entscheidende Punkt ist nun, dass diese optimierten Strategien sich nicht einfach in die bestehenden marktförmigen oder hierarchischen Muster der Koordination einbauen lassen. Erforderlich scheint dafür vielmehr ein eigenständiger Modus der Koordination, eben die Form des horizontalen Netzwerkes zu sein. Den Grund dafür haben wir bereits bei der Analyse von Policy-Netzwerken gestreift: Horizontale Netzwerke kollektiver und korporativer Akteure sind in dem Balanceakt zwischen zu enger Koppelung und zu loser Verknüpfung der autonomen Komponenten des Netzes immer der Gefahr ausgesetzt, dass sich das Netzwerk in die einfacheren und handlicheren »Standardformen« marktförmiger oder hierarchischer Koordination auflöst. Erst wenn es gelingt, dass sich die beteiligten Akteure die eigenständige Logik und die spezifischen Stärken einer netzwerkförmigen Koordination begreiflich machen, steigen auch die Chancen für das koordinierte Gesamtsystem, den Balanceakt durchzuhalten-- und damit als gemeinsamen Gewinn die Früchte einer komplexeren Systemarchitektur zu ernten. Vergegenwärtigen wir uns noch einmal resümierend und schematisch die Kräfte und Motive der Herausbildung einer neuen, komplexeren Form der Koordination autonomer Akteure, die zugleich in wechselseitigen Abhängigkeitsbeziehungen stehen. (Zur Erinnerung: Dies ist kein Widerspruch, weil sich die Autonomie auf die Selbststeuerung der Systemoperationen und die eigenständige Systemlogik bezieht, die Abhängigkeit aber auf den Austausch erforderlicher Ressourcen und arbeitsteilig produzierter Bausteine der Systemoperationen.) Ausgangspunkt ist ein Problemdruck, der unmissverständlich signalisiert, dass die herkömmlichen Lösungen suboptimal sind. Ohne einen solchen Leidensdruck gibt es für die meisten Akteure keinen Grund, sich in das Abenteuer der Erprobung neuer Koordinationsformen zu stürzen. Im Falle des normalen Versagens der Politik entsteht für die Gesellschaft der Problemdruck vor allem daraus, dass politische Strategien mit den herkömmlichen Mitteln des Rechts gerade die drängendsten und kostspieligsten Probwww.claudia-wild.de: <?page no="99"?> [UTB-S]__Willke__Systemtheorie_3_Steuerungstheorie__[Druck-PDF]/ 11.12.2013/ Seite 100 www.claudia-wild.de: [UTB-S]__Willke__Systemtheorie_3_Steuerungstheorie__[Druck-PDF]/ 11.12.2013/ Seite 101 100 leme (wie Arbeitslosigkeit, Drogenabhängigkeit, organisierte Kriminalität, Umweltzerstörung, Auflösung der Familien etc.) nicht einmal annähernd in den Griff bekommen (Stichwort Staatsversagen). Im Falle des normalen Versagens einer marktförmig organisierten Ökonomie entsteht für die Gesellschaft der Problemdruck insbesondere daraus, dass ökonomische Strategien nach der herkömmlichen Rationalität der Kapitalverwertung zentrale Aspekte der Zukunftsvorsorge vernachlässigen (Stichwort Marktversagen)-- zum Beispiel mittel- und langfristige Investitionen in Infrastruktur, Ausbildung, angewandte Grundlagenforschung, Zukunftstechnologien, Abfallvermeidung, Ressourcenschonung etc. Wenn diese Einschätzung auch nur einigermaßen zutrifft, dann liegt der Bedarf an einer Form der Koordination auf der Hand, welche es der Politik erlaubt, die destruktiv gewordene Position einer hierarchischen Spitze der Gesellschaft zu räumen und sich als Experte unter anderen (notwendigen) Experten in problemadäquate, diskursiv operierende Verhandlungssysteme einzureihen. Gleichzeitig benötigt man eine Koordinationsform, welche es korporativen Akteuren nahelegt, die Schumpeter’sche Fluchtlinie einer »schöpferischen Zerstörung« zu verlassen und Perspektiven der produktiven Verschränkung von Konkurrenz und Kooperation zu eröffnen. Die bereits genannten und weithin beobachtbaren Veränderungen in den Grundstrategien von Unternehmen-- den Produkt-, den Produktions- und den Organisationsstrategien-- zeichnen die Richtung vor, in der ein dritter Modus der Koordination qualitativ andere Leistungen erbringen muss als marktförmige und hierarchische Koordination: Gefragt sind die Unterstützung und Absicherung flexibler Spezialisierung, eine Orientierung auf die Optimierung des Gesamtprozesses für ein bestimmtes Produkt oder eine bestimmte Dienstleistung, sowie die institutionelle und operative Verankerung von Kontextsteuerung (im Sinne einer Kombination von Selbstorganisation der autonomen Akteure oder Teilbereiche auf der einen Seite und Aufgabenorientierung- - »mission«- - des Ganzen, d. h. der Gesamtheit des Netzwerkes auf der anderen Seite). Es wäre zweifelsohne fahrlässig zu erwarten, dass eine so voraussetzungsvolle Koordinationsform sich widerspruchsfrei realisieren ließe. Klaus Semlinger (1993, S. 316) bezeichnet in dem bereits herangezogenen Text drei zentrale Widersprüche, die sich aus dem Versuch ergeben, die für Netzwerk- Interaktionen angemessenen Strategien auszuführen. Ich gebe in der folgenden Tabelle einen Überblick über Strategien, Probleme und Widersprüche: Tatsächlich produzieren die (durch die Umweltdynamik erzwungenen) Veränderungsstrategien eine Serie von Widersprüchen, die es verbieten, die genannten Strategien als Patentlösungen zu begreifen. Aber sie zeigen in der Definition der leitenden Probleme eine Richtung des Denkens an, das in <?page no="100"?> www.claudia-wild.de: [UTB-S]__Willke__Systemtheorie_3_Steuerungstheorie__[Druck-PDF]/ 11.12.2013/ Seite 100 www.claudia-wild.de: [UTB-S]__Willke__Systemtheorie_3_Steuerungstheorie__[Druck-PDF]/ 11.12.2013/ Seite 101 101 erstaunlichem Maße den Grundannahmen der entwickelten soziologischen Systemtheorie entspricht: Zum einen entspricht dieses Denken unter dem Stichwort der Optimierung des Gesamtprozesses der systemtheoretischen Betonung der systemischen Qualitäten eines Operationszusammenhanges, der gerade nicht als bloße Summe oder Aggregation seiner Bestandteile zu verstehen ist, sondern als eine emergente (d. h. gegenüber den Merkmalen der Bestandteile qualitativ neue) Einheit. Entgegen dem herkömmlichen Verständnis ist dieses Ganze weniger als die Summe ihrer Teile, weil es auf der synergetischen Reduktion der Operations- und Transaktionskosten beruht, auf einer Einschränkung der abstrakten Möglichkeiten der Teile zugunsten der konkreten Operationsweise des Ganzen. Zum anderen entspricht es unter dem Stichwort der Kontextsteuerung dem systemtheoretischen Grundgedanken einer nicht linearen Beziehung zwischen einem (autonomen) System und seiner durch die Systemoperationen betroffenen Umwelt. Jedes System-in-Umwelt nutzt die Möglichkeiten (Chancen und Risiken) seiner Umwelten und sieht sich auf der anderen Seite Restriktionen durch seine Umwelten ausgesetzt. Kontextsteuerung meint, dass selbst bei schädlichen Folgen (»negativen Externalitäten«) der Systemoperationen für die Systemumwelt die Akteure in dieser Umwelt nicht direkt und direktiv auf das System zugreifen sollten, weil sie sonst dessen Autonomie gefährden. Möglich ist aber, dass Akteure und Systeme in der Umwelt eines Systems Kontextbedingungen so setzen, dass das betreffende (fokale) System seine Optionen nach dem Gesichtspunkt höchstmöglicher Umweltverträglichkeit und Kompatibilität auswählt. Und schließlich entspricht dieses Denken unter dem Stichwort »flexible Spezialisierung« dem vielleicht inzwischen praktisch wichtigsten Grundproblem einer systemtheoretischen Konzeptualisierung der organisierten Komplexität eines Systems. Tabelle 4.3: Merkmale der Koordinationsform Netzwerk Strategie Problem Widerspruch Produktstrategie flexible Spezialisierung Flexibilität und Effizienz Produktionsstrategie Optimierung des Gesamtprozesses Komplexität und Qualität Organisationsstrategie Dezentrale Kontextsteuerung Kontext und Autonomie (Quelle: adaptiert nach Semlinger 1993, S. 316; Teubner/ Willke 1984) <?page no="101"?> www.claudia-wild.de: [UTB-S]__Willke__Systemtheorie_3_Steuerungstheorie__[Druck-PDF]/ 11.12.2013/ Seite 102 www.claudia-wild.de: [UTB-S]__Willke__Systemtheorie_3_Steuerungstheorie__[Druck-PDF]/ 11.12.2013/ Seite 103 102 Organisierte Komplexität entsteht entlang der Linien von Arbeitsteilung und funktionaler Differenzierung durch eine im Prinzip schrankenlose Steigerung des Optionenreichtums spezialisierter Funktionsbereiche. Diese arbeitsteilige und modulare Architektur von Komplexität beschleunigt die Geschwindigkeit der Evolution, die Rate der Innovativität, die Möglichkeiten der Bewahrung und inkrementalen Verbesserung funktionierender Teillösungen, wie vor allem Herbert Simon in seinen frühen Arbeiten herausgestellt hat (Simon 1978). Aber diese Architektur von Komplexität erzeugt inzwischen immer drängendere Folgeprobleme-- ein Punkt, der auch in der systemtheoretischen Diskussion bislang vernachlässigt worden ist. In der organisationssoziologischen Literatur tauchen diese Folgeprobleme zwar schon früh in der Unterscheidung Differenzierung/ Integration auf, aber Problemdefinition und Lösungsvorschläge halten sich eng an die Linie einer Balancierung funktionaler Differenzierung durch Einrichtungen der Re- Integration in verschachtelteren, aber prinzipiell nach wie vor hierarchischen Strukturen (Lawrence und Lorsch 1969b). Erst Mitte der 1980er-Jahre bricht sich mit der Idee der Geschäftsfeldgliederung ein neues Strukturprinzip für komplexe Organisationen Bahn. Eine Geschäftsfeldgliederung verfolgt das Ziel, die grundsätzliche Problematik einer nicht mehr zu bändigenden funktionalen Differenzierung mit einem neuartigen Ansatz zu lösen: »Diesem Prinzip zufolge gliedert sich ein Unternehmen primär nicht nach funktionalen Gesichtspunkten- … sondern es bildet in sich selbst Subeinheiten, die im Grunde genommen wie eigenständige Unternehmen konzipiert sind und als solche auch agieren können. Der Grad der unternehmerischen Eigenständigkeit kann bis zur rechtlichen Verselbständigung gehen, er kann sich aber auch nur auf die unternehmerische Verantwortung für die Kostenseite beziehen (in diesem Falle spricht man gerne von Cost Centern). Wichtig ist an dieser Differenzierungsform, dass sie sich am Prinzip des ›Unternehmerischen‹ orientiert und nicht an einer an Fachgesichtspunkten ausgerichteten Teilfunktion« (Wimmer 1994b, S. 12). Nicht zufällig führt die Praxis der Geschäftsfeldgliederung für komplexe Organisationen zu einer mehr oder weniger losen Kopplung der Geschäftsfelder in Netzwerken von Organisationen und Teilorganisationen. Wieder erweist sich, dass die Aufhebung der Folgeprobleme hochgetriebener Hierarchisierung einerseits, funktionaler Differenzierung andererseits nicht grundsätzlich und wirksam genug bewerkstelligt werden kann, wenn man sich mit Programmen der Enthierarchisierung oder Re-Integration begnügt. Der Einbau von marktförmigen Koordinationselementen in eine Hierarchie schafft weder einen Markt noch eine hybride Form, sondern eine dritte eigenständige <?page no="102"?> www.claudia-wild.de: [UTB-S]__Willke__Systemtheorie_3_Steuerungstheorie__[Druck-PDF]/ 11.12.2013/ Seite 102 www.claudia-wild.de: [UTB-S]__Willke__Systemtheorie_3_Steuerungstheorie__[Druck-PDF]/ 11.12.2013/ Seite 103 103 Gestalt- - das Netzwerk lateral verknüpfter, partiell autonomer Einheiten. Laterale Verknüpfung meint, dass aufgaben- oder prozessorientierte Querverbindungen vorrangig sind und hierarchischen Bindungen nur subsidiär. Die Teile agieren nicht unabhängig voneinander, sondern sie konstituieren in der Art ihrer Kopplung ein Gesamtsystem. Wie zielgerichtet (oder missionsorientiert oder synergetisch oder kooperativ) allerdings dieses Gesamtsystem tatsächlich operiert, hängt vom Management der Kopplung ab, d. h. in der Praxis der Unternehmen von der dann neu zu definierenden Rolle des obersten Managements (Wimmer 1994a). Zunahme an Komplexität Zunahme an Koordinationsbedarf Problemdruck Produktstrategien Produktionsstrategien Organisationsstrategien Logik der Vernetzung Kompatibilität von Autonomie und Kontext Form der Koordination Quelle: Eigene Darstellung flexible Spezialisierung Optimierung des Gesamtprozesses Kontextsteuerung Abbildung 4.1: Herausbildung netzwerkförmiger Koordination <?page no="103"?> www.claudia-wild.de: [UTB-S]__Willke__Systemtheorie_3_Steuerungstheorie__[Druck-PDF]/ 11.12.2013/ Seite 104 www.claudia-wild.de: [UTB-S]__Willke__Systemtheorie_3_Steuerungstheorie__[Druck-PDF]/ 11.12.2013/ Seite 105 104 Besonders aufschlussreich scheint mir zu sein, dass dieser Prozess der Herausbildung netzförmiger Koordination nicht nur auf den hier hervorgehobenen Ebenen der Gesellschaft und des Funktionssystems Wirtschaft zu beobachten ist, sondern erstaunlich synchron auf allen Ebenen der Ausformung sozialer Systeme, von der Ebene internationaler Beziehungen bis zu derjenigen von Gruppen, insbesondere der Familie. Während der 1980er-Jahre löste sich die jeweils hierarchische, hegemoniale Struktur beider Seiten der Ost-West-Konfrontation in differenzierteren Machtkonstellationen internationaler Ordnung auf. Weder die USA für den Westen noch die UdSSR für den Osten sahen sich länger in der Lage, die Lasten des jeweiligen Hegemons alleine zu tragen und drangen auf Lastenverteilungen (»burden sharing«) etwa der Militärkosten, Stationierungskosten und der Kosten »weltpolizeilicher« Maßnahmen (Calleo 1987). Auch auf internationaler Ebene entwickelten sich damit komplexere Verschränkungen von Konkurrenz und Kooperation, die bereits vor dem Fall des Sozialismus in ein neues Regime internationaler Ordnung mündete (Axelrod und Keohane 1985; Keohane 1983; Keohane 1984). Für die Ordnung der Familie in hochentwickelten westlichen Gesellschaften scheint die Zeit einer »einfachen« hierarchischen Ordnung ebenfalls zu Ende zu gehen. Mit der Emanzipation der Frau, aber auch der Kinder, kommt es zu komplexeren Koordinationsformen zwischen hochgradig autonomen und gleichzeitig voneinander abhängigen Personen. Dass die moderne Kleinfamilie-- sofern als vollständige Familie überhaupt noch vorhanden-- sich in ihrer Koordinationsweise einem Verhandlungssystem annähert, werden viele Eltern, und insbesondere die Ehemänner und Väter, nicht nur bestätigen, sondern wohl auch mit ambivalenten Gefühlen betrachten. Es dürfte dieselbe Ambivalenz sein, die auch Verhandlungssysteme auf anderen Ebenen als Balanceakt charakterisieren: Die in diese Koordinationsform eingebauten Widersprüche zwischen Flexibilität und Effizienz, Komplexität und Qualität, Kontext und Autonomie machen sie zu einem schwer aushaltbaren und schwer steuerbaren Modus der Kompatibilisierung divergierender Logiken und Rationalitäten. Die Quote des Misslingens ist hoch. Aber sie ist in erster Linie Ausdruck der Wirkung divergierender und hochgespannter Anforderungen an einen Systemzusammenhang (Familie, Organisation, Gesellschaft, internationale Beziehungen), der nicht mehr hierarchisch und nicht mehr marktförmig, zugleich aber häufig noch nicht netzwerkförmig zu stabilisieren ist. Auch hier zeigen sich ambivalente Folgen der Auflösung von Hierarchien in lose gekoppelten Netzwerken. Die in die Form des Netzwerkes eingebauten Widersprüche sind schwer auszuhalten, und die Logik von Verhandlungssystemen verlangt eine hohe Toleranz für Ambivalenzen und Ungleichgewichte, die sich nur mittelbar und mittelfristig auflösen lassen. Es wäre <?page no="104"?> www.claudia-wild.de: [UTB-S]__Willke__Systemtheorie_3_Steuerungstheorie__[Druck-PDF]/ 11.12.2013/ Seite 104 www.claudia-wild.de: [UTB-S]__Willke__Systemtheorie_3_Steuerungstheorie__[Druck-PDF]/ 11.12.2013/ Seite 105 105 deshalb illusorisch, allein aufgrund eines externen Problemdrucks und der Notwendigkeit komplexerer Interaktionsbeziehungen zu erwarten, dass sich Netzwerke und Verhandlungssysteme gewissermaßen naturwüchsig durchsetzen. Der Reiz einer Kooperation ohne zu enge Bindungen, einer Kombination von Flexibilität und erhöhter Effizienz scheint für viele Systeme, vor allem politische und korporative Akteure stark genug zu sein, so dass sich empirisch geradezu eine Welle von Kooperationen in den unterschiedlichsten Formen von Netzwerken-- von strategischen Allianzen über Verschränkungen von öffentlichen und privaten Akteuren etwa in Regionalkonferenzen bis zu Zulieferernetzwerken-- herausbilden. Die Frage ist aber, wie stabil diese Netzwerke sind und in welchem Sinne sie als erfolgreich oder erfolglos beschrieben werden können. Empirische Untersuchungen zeigen, dass etwa die Hälfte aller strategischen Allianzen nach relativ kurzer Zeit wieder aufgelöst wird. Selbst bei den fortdauernden Kooperationen ist es schwierig zu bestimmen, ob sie im Sinne der ursprünglichen Absichten und Erwartungen erfolgreich sind (Ortmann 1994, S. 156). Im deutschen Sprachraum hat neben Semlinger und Ortmann auch Gernot Grabher (1993) gegenüber einer in der Literatur überwiegend optimistischen Beurteilung der Leistung von Netzwerken auf deren eingebaute Schwachstellen und Widersprüche hingewiesen. In systemtheoretischer Sicht ist weder diese Skepsis noch der hohe Grad des Scheiterns von Netzwerken überraschend. Die Kooperation autonomer Systeme ohne die »unsichtbare Hand« des Marktes und ohne die »eiserne Faust« der Hierarchie verlangt besondere Fähigkeiten und Voraussetzungen in der Operationsweise dieser Systeme. Die wichtigsten sind Langfrist-Orientierung, Reflexionsfähigkeit und Selbstbeschränkung (ausführlich dazu Systemtheorie I, Kapitel 4.4 und 6, sowie Systemtheorie II, Kapitel 4.4 und 5.1). Mit einem glücklich gewählten Begriff bezeichnet M. Rogers (1974) die Gesamtheit der Voraussetzungen, die es einem System überhaupt erst ermöglicht, praktisch wirksam (und nicht nur formal) in einen anspruchsvolleren Steuerungsmodus zu wechseln, als »infra-resources«. Tatsächlich geht es darum, bei den einzelnen Mitgliedern eines Kooperationszusammenhangs die internen Voraussetzungen für eine gelingende Zusammenarbeit zu schaffen. Für Netzwerke und Verhandlungssysteme ist die Fähigkeit zu langfristigen Kalkülen-- und in diesem Sinne Strategiefähigkeit-- zentral, weil sonst die Verführung der »einfacheren« kurzfristigen Marktlogik durchschlägt und die nicht triviale Netzwerklogik ruiniert. (Ein entsprechendes Argument liegt übrigens der Fähigkeit zur Bildung langer Handlungsketten in Norbert Elias’ Theorie des Zivilisationsprozesses zugrunde; tatsächlich läuft die Bildung von Netzwerken und Verhandlungssystemen darauf hinaus, zivilisiertere Formen der Interaktion autonomer Systeme zu schaffen). <?page no="105"?> www.claudia-wild.de: [UTB-S]__Willke__Systemtheorie_3_Steuerungstheorie__[Druck-PDF]/ 11.12.2013/ Seite 106 www.claudia-wild.de: [UTB-S]__Willke__Systemtheorie_3_Steuerungstheorie__[Druck-PDF]/ 11.12.2013/ Seite 107 106 Der Aufbau von Reflexionskapazität ist unabdingbar, weil im Kontext von Verhandlungssystemen die Eigen-Logik und Eigen-Sinnigkeit der beteiligten Systeme von diesen selbst aufgearbeitet werden muss zu einem aufgeklärten Egoismus, zur Einsicht in die Notwendigkeit einer Rücksichtnahme auf die anderen Akteure im eigenen Interesse an einem kombinatorischen Gewinn. Vermutlich gelingt dies nur, wenn jedes Mitglied davon ausgehen kann, dass auch die anderen sich entsprechend verhalten-- und genau dies ist der Grund, warum der Aufbau von Vertrauen in Netzwerken eine so entscheidende Rolle spielt. Im Zusammenspiel dieser »aufgeklärten Egoisten« entsteht, wenn alles gut geht, die unwahrscheinliche Qualität einer dezentralen Integration, in welcher das Ganze (das Netzwerk, das Verhandlungssystem) gerade darin seine verbindliche und verbindende Identität gewinnt, dass es den Mitgliedern das Recht auf eine partiell autonome Operationsweise zubilligt und sich nicht in den Kern ihrer Selbststeuerung einmischt. Offenbar lässt sich eine solchermaßen elaborierte Identität eines Kooperationsmodus nur entfalten, wenn die Mitglieder bereits eine hohe Toleranz für Ambiguität und Differenz mitbringen. (Nebenbei: Ein entsprechendes Argument liegt neueren Gerechtigkeitstheorien, etwa von Rawls oder Habermas, zugrunde; tatsächlich erfordern funktionierende Verhandlungssysteme die Verankerung von Prinzipien der Fairness der Austauschbeziehungen- - was allerdings durchaus mit Machtdifferenzen vereinbar ist). Beide Momente, Langfristigkeit und Reflexionsfähigkeit, bilden die Grundlage für die Fähigkeit eines Systems, sich selbst zu beschränken. Damit ist gemeint, dass sich die ausgeprägte Autonomie und Eigendynamik der Mitgliedssysteme für ein jeweiliges Gesamtsystem nur erträglich gestaltet, wenn sie durch Rücksichtnahmen moderiert ist, die insbesondere die negativen Externalitäten der je eigenen Operationsweise betreffen. Dass diese Forderung nicht ganz so utopisch und naiv ist wie sie klingt, lässt sich daran ablesen, dass einigermaßen zivilisierte Menschen eine solche Rücksichtnahme alltäglich praktizieren. Voraussetzung ist allerdings sowohl bei Personen wie bei Sozialsystemen, dass ihnen alternative Optionen ihres Handelns zur Verfügung stehen. Ohne hier ins Detail zu gehen (siehe aber Systemtheorie II, Kapitel 4.3) lässt sich festhalten, dass der Kern des für die Einübung elaborierter Koordinationsformen nötigen Lernprozesses darin zu sehen ist, dass die sich koordinierenden Akteure zusätzliche Optionen entwickeln, die über die tradierten Selbstverständlichkeiten und Routinen hinausführen. Häufig stellt sich heraus, dass kooperationswillige Systeme nicht nur über mehr Handlungs- und Strategiealternativen verfügen als ihnen selbst klar ist, sondern dass Optionen mit weniger schädlichen externen Auswirkungen ohne zusätzlichen Aufwand oder sogar kostengünstiger realisiert werden können. <?page no="106"?> www.claudia-wild.de: [UTB-S]__Willke__Systemtheorie_3_Steuerungstheorie__[Druck-PDF]/ 11.12.2013/ Seite 106 www.claudia-wild.de: [UTB-S]__Willke__Systemtheorie_3_Steuerungstheorie__[Druck-PDF]/ 11.12.2013/ Seite 107 107 Empirisch erweist sich vor allem im internationalen Vergleich, dass eine erfolgreiche Übernahme der genannten anspruchsvollen Voraussetzungen für Kooperation nicht nur vom Problemdruck und vom guten Willen der Akteure abhängen, sondern sehr weitgehend auch von spezifischen »Stilen«, Traditionen, Leitwerten und Mustern organisationaler und korporativer Interaktion. Prämiert zum Beispiel eine (nationale, sektorale oder funktionsspezifische) Kultur vor allem individuelle Leistungen, rücksichtslose Konkurrenz, den Einzelkämpfer, den einsamen Helden etc., dann kann wenig verwundern, dass Kooperation auch für Organisationen in den jeweiligen Bereichen nicht groß geschrieben wird. Fordert und fördert dagegen eine Kultur sozusagen von Kindesbeinen an die Gruppe, das Team, Zusammenarbeit, Rücksichtnahme, Begrenzung der Individualität etc., dann ist auch zu erwarten, dass in der Interaktion von Organisationen ähnliche Werte gelten. Zum Beispiel unterstützt eine kulturelle Disposition in Japan die Fähigkeiten zur Kooperation, zur Konsensfindung, zur Kompromissbildung bei Differenzen, zu geduldiger und langfristiger Abstimmung eher als etwa die in den USA geltenden kulturellen Leitwerte. Während amerikanische Firmen in der Regel bis heute dem Modell reiner Konkurrenz auf einem »freien Markt« anhängen und sich gerne als Einzelkämpfer stilisieren, denen Kooperation mit anderen Firmen als Einschränkung ihrer Unabhängigkeit zuwider ist, arbeiten japanische Firmen traditionellerweise in großen Verbunden zusammen. Als Zusammenfassung einer detaillierten empirischen Studie kontrastiert Michael Gerlach die Unterschiede in folgender Weise: »Together, these results indicate that the Japanese corporate network represents a relatively well-ordered structure of relationships among highly differentiated firms and that understanding the precise contours of this structure requires consideration of a set of complex and overlapping structures. The finding that industrial firms share similar positions in the network based on keiretsu ties is striking, given that analyses started from the level of network relationships were coded without regard to formal affiliations. The existence of other forms of coordination among these firms, such as group presidents’ councils, only reinforces the importance of alliance forms in the Japanese corporate network. Unlike the relatively fragmented, loosely organized ties typically discerned in the American corporate network, the reality in Japan appears far closer to one of coherent and enduring cliques among affiliated financial institutions and industrial firms.-… In reality, Japan’s diversified group structure probably represents an attempt by member firms to gain the benefits both of sharing downside risks and creating strategic complementarities for upside gains« (Gerlach 1992, S. 135 f.). <?page no="107"?> www.claudia-wild.de: [UTB-S]__Willke__Systemtheorie_3_Steuerungstheorie__[Druck-PDF]/ 11.12.2013/ Seite 108 www.claudia-wild.de: [UTB-S]__Willke__Systemtheorie_3_Steuerungstheorie__[Druck-PDF]/ 11.12.2013/ Seite 109 108 Auch die Japaner haben allerdings die netzwerkförmige Koordination großer Konglomerate nicht am Reißbrett erfunden, sondern in einem langen und schwierigen historischen Prozess gegen eine lange Tradition übermäßig ausgeprägter Hierarchie durchgesetzt. Ein Vergleich der Strukturen der alten Zaibatsu mit den modernen (Nachkriegs-)Keiretsu zeigt die Unterschiede (siehe Abbildungen 4.2 und 4.3). In einer eigenen Untersuchung haben wir im Detail untersucht, wie schwierig es für die amerikanische Halbleiterindustrie war, sich vom Leitbild kompromissloser Konkurrenz zu trennen und sich selbst zumindest zu Kooperation im vorwettbewerblichen Raum zu zwingen. Und auch dies gelang nur nach mehrjährigen kontroversen Debatten innerhalb des Verbandes der Halbleiterindustrie und unter dem Damoklesschwert einer gegenüber der japanischen Konkurrenz rapide erodierenden Produktionsbasis. Um eine solche Kooperation im präkompetitiven Forschungs- und Entwicklungsbereich zu ermöglichen, mussten zum Beispiel eine ganze Reihe von Anti-Trust-Gesetzen geändert werden, die noch aus der Zeit der Großen Depression der 1930er-Jahre stammten. Inzwischen allerdings lässt sich ein Prozess grundlegender Umorientierung beobachten, so dass das Kooperationsmodell der Halbleiterindustrie (»Sematech«) im Kontext einer vorsichtig Eigentümerfamilie Holding Abhängige Einheiten Abbildung 4.2: Kontrollstrukturen in Zaibatsu <?page no="108"?> www.claudia-wild.de: [UTB-S]__Willke__Systemtheorie_3_Steuerungstheorie__[Druck-PDF]/ 11.12.2013/ Seite 108 www.claudia-wild.de: [UTB-S]__Willke__Systemtheorie_3_Steuerungstheorie__[Druck-PDF]/ 11.12.2013/ Seite 109 109 aktiven Industriepolitik der neuen Administration zum Vorbild für eine Reihe weiterer Kooperationsvorhaben in strategisch wichtigen Industrien- - wie Flachbildschirme oder Ionenlithographie- - geworden ist (ausführlich Willke/ Krück/ Thorn 1995). »While U. S. firms have been recently active in international business alliances, collective industrial research is considerably less advanced here than in Japan or Western Europe, where research consortia have proven to be valuable in eliminating costly, duplicative R&D-… But is was not until 1984 that Congress passed the National Cooperative Research Act, easing antitrust laws and permitting collaborative research among competing firms. Since then, more than 100 R&D consortiums have been founded-…« (Powell 1990, S. 317). Vergleichbares gilt für die weltweite Umstrukturierung der Autoindustrie durch den Aufbau von kooperativ orientierten Zulieferernetzwerken. Anders als in Japan waren in den USA-- und weniger extrem in Europa-- die Beziehungen zwischen Autofirmen und ihren Zulieferern geprägt von gegenseitigem Misstrauen, vorenthaltenen Informationen, wechselseitigen Schuldzuschreibungen und kurzfristigen Rentabilitätskalkülen. Unter der Netz der Kern rmen (Quelle: adaptiert nach Gerlach 1992, S. 110) eigenständige Geschäftseinheiten Abbildung 4.3: Netzwerkstrukturen des Keiretsu <?page no="109"?> www.claudia-wild.de: [UTB-S]__Willke__Systemtheorie_3_Steuerungstheorie__[Druck-PDF]/ 11.12.2013/ Seite 110 www.claudia-wild.de: [UTB-S]__Willke__Systemtheorie_3_Steuerungstheorie__[Druck-PDF]/ 11.12.2013/ Seite 111 110 Schockwirkung der Womack-Studie (Womack u. a. 1991a), einem internationalen Vergleich der Organisation und Produktivität der Automobilindustrie, setzte eine Umorientierung ein, die in zentralen Punkten der Logik kooperativer Netzwerke folgt. Sie setzt bewusst auf längerfristige Orientierung, Verstetigung, Vertrauensbasierung, Selbstorganisation und das Zusammenspiel autonomer Teilleistungen: »Im Extremfall wird heute von einem Automobilzulieferer verlangt, dass er-- für das jeweilige Teil oder die besondere Baugruppe als jeweils einzige Bezugsquelle (single sourcing)-- wesentliche Entwicklungsarbeiten nach dem Lastenheft des Automobilherstellers und zeitgleich mit dessen Modellentwicklung übernimmt (simulaneous engineering). Die Produktion und Anlieferung erfolgt dann entsprechend einem fast bis zuletzt noch veränderbaren Abruf mehrmals täglich und ohne weitere Eingangskontrollen (zero-defect-quality) unmittelbar in die laufende Endmontage (just-in-time und in-due-order). Und um diese enge Verschränkung der Entwicklungs- und Produktionsprozesse zu ermöglichen, besteht eine unmittelbare informationstechnische Vernetzung (on-line Datenfernübertragung) zwischen den Produktionsstätten von Abnehmern und Zulieferer, die zudem räumlich möglichst nahe beieinander liegen müssen« (Semlinger 1993, S. 320). Diese Beschreibung könnte die Frage provozieren, warum dann die Autofirma nicht gleich die Zulieferer in den eigenen Konzern einverleibt und der eigenen (hierarchischen) Ordnung unterstellt. Die Antwort darauf ist, dass es präzise die Vorteile einer dezentralen, netzwerkförmigen Koordinationsform sind, die dies verhindern- - jedenfalls solange, wie die schwierige Balancierung des Netzwerkes gelingt. Im Fall von Autozulieferernetzwerken und ähnlicher Konstellationen von Unternehmens-, Organisations- und Akteursnetzwerken lassen sich die Vorteile eines Netzwerkes so beschreiben: • Die Kernfirma nutzt die verteilte Intelligenz unabhängiger Firmen, die ihre eigene Expertise, Entwicklungskapazität, Erfahrung und ihr eigenes Produktions-Know-how als Spezialisten einbringen. Powell (1990) bezeichnet die Nutzung und Produktion von Know-how als einen von drei zentralen Vorteilen von Netzwerken gegenüber Hierarchien oder Märkten. In einer Gesamtfirma oder in einem Konzern müssten sich die Abteilungen der Linie und dem Stil des Hauses beugen. • Die Kernfirma erspart bürokratischen Überbau, der in der Zentrale für die »Leitung« der Abteilungen nötig wäre. Entscheidungen, Korrekturen, Lösungen für unerwartete Probleme werden schneller, weil sie vor Ort oder gar unmittelbar in Zusammenarbeit mit dem Kunden ausgeführt werden. Geschwindigkeit ist nach Powell der zweite wesentliche Vorteil <?page no="110"?> www.claudia-wild.de: [UTB-S]__Willke__Systemtheorie_3_Steuerungstheorie__[Druck-PDF]/ 11.12.2013/ Seite 110 www.claudia-wild.de: [UTB-S]__Willke__Systemtheorie_3_Steuerungstheorie__[Druck-PDF]/ 11.12.2013/ Seite 111 111 von Netzwerken (siehe dazu auch das reiche empirische Material bei Peters 1993). • Die Zulieferer (hochprofessionalisierte Designteams, Anwaltskanzleien, Logistikfirmen, Ingenieurbüros etc.) arbeiten auf eigene Rechnung und müssen sich somit den Marktzwängen aussetzen. An die Stelle von Vorschriften, Kontrollen, Besprechungen und Rapports tritt das-- in Grenzen-- feinnervige, schnelle und transaktionskostengünstige Informationsgeflecht des Marktes. • Die Zulieferer können ihre Kernkompetenz(en) in eigener Regie entwickeln und eine unabhängigere Position gegenüber den ansonsten (in der Regel) mächtigeren Kernfirmen aufbauen. • In der Kombination von Flexibilität und Effizienz bietet das Netzwerk bessere Ansatzpunkte für nützliche Fehler, Lernen und Innovation. • In der Kombination von Komplexität und Qualität erlaubt ein Netzwerk schnellere Reaktionen auf Marktfluktuationen, politische Regulierungen und ökologische Risiken, weil nicht langwierige hierarchische Entscheidungen abzuwarten sind, sondern Probleme in Parallelprozessen und in simultaner Entwicklung kooperativ gelöst werden können. Die Verantwortlichkeit für bestimmte Elemente oder Teilprodukte kann nicht mehr so leicht in einer unübersichtlichen Hierarchie versteckt werden, da jede autonome Einheit für ihren Bereich selbst geradestehen muss. • In der Kombination von Kontext und Autonomie liegt die Chance, durch wenige fokussierende Kontextvorgaben die Eigendynamik vieler kleinerer autonomer Systeme zu bewahren und zugleich eine gemeinsame Zielsetzung oder »Mission« zu generieren, die Kräfte und Motivationen bündelt. Dies gelingt nur auf der Basis eines über wiederholte und dichte Interaktion generierten Vertrauens, der nach Powell dritten kritischen Ressource von Netzwerken. Ein extremes-- und extrem erfolgreiches-- Beispiel dafür ist die Firma ABB, welche nach einer radikalen Transformation in eine Netzwerkstruktur 5000 (! ) autonome operative Einheiten umfasst, die von einer für andere Konzerne unvorstellbar kleinen Kerneinheit fokussiert werden (ausführlich zu diesem Fall (Peters 1992, S. 44). Fassen wir die Merkmale der unterschiedlichen Koordinationsformen kontrastierend zusammen, so ergibt sich folgende Übersicht (siehe Tabelle 4.4). Um die Unterscheidungen anschaulicher zu machen, möchte ich zunächst nur zwei gegenläufige Dimensionen herausgreifen und in die daraus folgende Matrix die Hauptformen der Koordination komplexer Systeme einordnen. Die beiden Dimensionen sind Autonomie und Kohärenz. In beiden Dimensionen kontrastieren marktförmige und hierarchische Koordination maximal, während Netzwerke eine dritte, intermediäre, aber eigenständige Form bilden. <?page no="111"?> www.claudia-wild.de: [UTB-S]__Willke__Systemtheorie_3_Steuerungstheorie__[Druck-PDF]/ 11.12.2013/ Seite 112 www.claudia-wild.de: [UTB-S]__Willke__Systemtheorie_3_Steuerungstheorie__[Druck-PDF]/ 11.12.2013/ Seite 113 112 Demokratische oder marktförmige Koordination lässt den Akteuren maximale, eine (idealtypische) monokratische Hierarchie minimale Autonomie. Kohärenz im Sinne einer missionsorientierten Zielgerichtetheit ist dagegen in Hierarchien maximal, bei marktförmiger oder demokratischer Koordination dagegen minimal ausgeprägt. (Deshalb spricht Etzioni, wie wir gesehen haben, von ausgeprägt demokratischen Gesellschaften als »drifting societies«). Netzwerke dagegen liegen in beiden Dimensionen in einem mittleren Bereich. Zwischen die reinen Typen der Hauptformen eingelagert gibt es eine Fülle hybrider Koordinationsmuster, die von routinisierten Marktbeziehungen bis zu untergeordneten Geschäftsfeldern eines Konzerns, von Franchising-Systemen bis zu Matrixorganisationen reichen. Schematisch vereinfacht ergibt sich folgendes Bild (siehe Abbildung 4.4). Spreizt man die Dimensionen der Kontrastierung etwas stärker auf, so wird allerdings schnell deutlich, dass die drei Hauptformen (Demokratie/ Markt, Hierarchie und Netzwerk) nur besonders markante Kondensierungen im Kontext einer Fülle möglicher Muster der Koordination sind: »Markets, hierarchies, and networks are pieces of a larger puzzle that is the economy«, Tabelle 4.4: Übersicht über kritische Merkmale der Koordinationsformen Merkmal Form der Koordination Markt Hierarchie Netzwerk Normative Basis Vertrag: Eigentumsrechte Anstellung: Weisungsrechte Komplementarität: Austausch Leitdifferenz Preise Positionen Relationen Beziehung der Akteure unabhängig einseitig abhängig wechselseitig abhängig Operationsmedium Geld Macht Wissen Modus der Variation sozial: Wettbewerb um andere Präferenzen sachlich: Wettbewerb um andere Programme zeitlich: Wettbewerb um größere Schnelligkeit Modus der Interaktion Indifferenz und Opportunismus Indifferenz und Misstrauen Interessiertheit und Vertrauen (Quelle: adaptiert nach Powell 1990, S. 300 und 324 mit eigenen Ergänzungen) <?page no="112"?> www.claudia-wild.de: [UTB-S]__Willke__Systemtheorie_3_Steuerungstheorie__[Druck-PDF]/ 11.12.2013/ Seite 112 www.claudia-wild.de: [UTB-S]__Willke__Systemtheorie_3_Steuerungstheorie__[Druck-PDF]/ 11.12.2013/ Seite 113 113 sagt Powell (1990, S. 301). Aus soziologischer Sicht kann man ergänzen: Sie sind Versatzstücke eines viel umfassenderen Puzzles-- das der Gesellschaft und gesellschaftlicher Koordination insgesamt. Auch aus dieser Sicht könnte es überraschen, dass gegenwärtige hochkomplexe Gesellschaften trotz aller offensichtlichen Schwierigkeiten sich mit »Standardmodellen« der Koordination begnügen. Unsere technologische Fantasie greift weit über das Bestehende hinaus und entwickelt eindrucksvolle Visionen einer Informationsgesellschaft, gar einer Wissensgesellschaft. Aber die institutionelle Seite dieser Visionen bleibt unterbelichtet. Auch diesen Gedanken möchte ich anhand einer Abbildung veranschaulichen. Spannen wir ein Neun-Felder-Schema auf, indem wir zum einen die Dimension Autonomie/ Abhängigkeit am mittleren Punkt der losen Kopplung aufteilen und zum anderen die Dimension Misstrauen/ Vertrauen um den mittleren Punkt der Indifferenz, dann erweist sich, dass unsere drei Hauptformen der Koordination durch eine Reihe anderer durchaus bekannter Formen ergänzt werden können. Auffällig ist, dass sich in den ausgewählten Dimensionen- - und viele andere sind denkbar! - - nur an bestimmten Kreuzungen feste Formen kondensieren, während andere Kreuzungspunkte von eher offenen, hybriden Formen besetzt sind (siehe Abbildung 4.5). Quelle: Eigene Darstellung Modelle der Systemsteuerung Hierarchie Apathie von unten Aktives Netzwerk Markt Einzelkämpfersyndrom Hybrid Hybrid Engagement Kohärenz Flache Hierarchie Kontextsteuerung Matrix Gesteuerte Autonomie Dezentrale Koordination Allianzen Abbildung 4.4: Kontrastierung der Hauptformen in den Dimensionen Autonomie und Kohärenz <?page no="113"?> www.claudia-wild.de: [UTB-S]__Willke__Systemtheorie_3_Steuerungstheorie__[Druck-PDF]/ 11.12.2013/ Seite 114 www.claudia-wild.de: [UTB-S]__Willke__Systemtheorie_3_Steuerungstheorie__[Druck-PDF]/ 11.12.2013/ Seite 115 114 Seit einiger Zeit sind in Gesellschaftstheorie, Politikwissenschaft, Organisationstheorie und Managementforschung Beobachtungsinstrumente entwickelt worden, die es erlauben, über die herkömmliche Zwei-Formen-Lehre von Demokratie und Hierarchie (Markt und Hierarchie) hinaus auch Netzwerke und Verhandlungssysteme als eigenständige Formen der (Selbst-)Steuerung komplexer Systeme wahrzunehmen. Dies war Gegenstand der zurückliegenden Kapitel. Damit ist die Entwicklung aber noch nicht zu Ende. Schon macht sich ein verstärktes und vielfältiges Interesse zum Beispiel für Governance-Modelle der Steuerung breit (Willke 2006; Willke 2007b), und es ist anzunehmen, dass auch die jetzt noch mit einem Fragezeichen versehenen Räume als hybride oder gar eigenständige Modi der Steuerung rekonstruiert werden, wenn die Zeit dafür reif ist. Nachdem in den zurückliegenden Kapiteln die Formen der Steuerung im Vordergrund standen, wenden wir uns nun einzelnen Steuerungsmedien zu. Entsprechend der Zielsetzung dieser Einführung geht es mir dabei nicht um erschöpfende Analysen, sondern darum, anhand der unterschiedlichen Wirkungsweisen der Steuerungsmedien Macht, Geld und Wissen einen genaueren Einblick in die Operationsprobleme der Steuerung komplexer Sozialsys- Vertrauen Misstrauen Indifferenz Quelle: Eigene Darstellung Autonomie Abhängigkeit lose Kopplung (ungeregelte) Konkurrenz Hierarchie (formale) Demokratie regulierte Anarchie arbeitsteilige Kooperation Diskurssysteme Kommunitarismus ? Netzwerke ? ? ? ? Abbildung 4.5: Mehrdimensionale Kontrastierung von Kooperationsformen <?page no="114"?> www.claudia-wild.de: [UTB-S]__Willke__Systemtheorie_3_Steuerungstheorie__[Druck-PDF]/ 11.12.2013/ Seite 114 www.claudia-wild.de: [UTB-S]__Willke__Systemtheorie_3_Steuerungstheorie__[Druck-PDF]/ 11.12.2013/ Seite 115 115 teme zu ermöglichen. Vorrangige Absicht ist es dabei, begreiflich zu machen, warum, inwiefern und mit welchen Konsequenzen wir uns auf dem Weg zu einer primär wissensbasierten Gesellschaft befinden, in der die wissensbasierte Operationsweise von Organisationen zu einer vielschichtigen Herausforderung wird. <?page no="115"?> www.claudia-wild.de: [UTB-S]__Willke__Systemtheorie_3_Steuerungstheorie__[Druck-PDF]/ 11.12.2013/ Seite 116 www.claudia-wild.de: [UTB-S]__Willke__Systemtheorie_3_Steuerungstheorie__[Druck-PDF]/ 11.12.2013/ Seite 117 <?page no="116"?> www.claudia-wild.de: [UTB-S]__Willke__Systemtheorie_3_Steuerungstheorie__[Druck-PDF]/ 11.12.2013/ Seite 116 www.claudia-wild.de: [UTB-S]__Willke__Systemtheorie_3_Steuerungstheorie__[Druck-PDF]/ 11.12.2013/ Seite 117 117 5 Macht als Steuerungsmedium Unser Thema ist das Problem der Steuerung komplexer Sozialsysteme. Die Leitfragen sind: Wie ist es möglich, eine Vielzahl von Akteuren, Gruppen, Organisationen, Motiven, Interessen, Werten, Logiken etc. so zu koordinieren, dass über alle Gegensätze und Widersprüche hinweg kollektives Handeln und die Stabilisierung der Einheit des Sozialsystems gelingen können? Wie ist es im Rahmen sozialer Systeme möglich, diese Leistungen zu erbringen, ohne sich täglich neu darüber verständigen zu müssen, was warum wie entschieden werden soll? Wie ist es möglich, die Ordnung eines komplexen Sozialsystems kontinuierlich zu reproduzieren und dennoch auf sich verändernde Umstände, Interessenlagen, Chancen, Risiken und Restriktionen zu reagieren? Die erste Frage nach den Möglichkeiten der Koordination haben wir bislang unter dem strukturellen Aspekt der Steuerungsformen und dem funktionalen Aspekt der Kosten-Nutzen-Verhältnisse unterschiedlicher Formen betrachtet. Nun wenden wir uns dem prozessualen Aspekt der Machtbildung zu und werden danach den operativen Aspekt der Leistung von Macht für Steuerungszwecke aufgreifen. Die zweite Frage nach der Möglichkeit dauerhafter Ordnung wirft das Problem von Regeln und Regelsystemen auf. Die dritte Frage schließlich, diejenige nach der Möglichkeit der Anpassung von Ordnungen, wird uns unter dem Stichwort der Revision von Machtbeziehungen beschäftigen. Es mag viele Gründe für ein System geben, sich auf die Kosten der Koordination einzulassen. Der klarste und einfachste Grund dürfte aber nach wie vor sein, dass diejenige Instanz, die Koordination wünscht, mit überlegener Macht ausgestattet ist. Das gilt für einen despotischen Räuberhaufen genauso wie für eine zivilisierte Hierarchie: Der Schwächere gibt nach. Der ganze Witz der Struktur darin liegt, dass die Spitze- - ob Räuberhauptmann oder Ressortchefin- - bestimmt und das Ziel vorgibt, während die anderen sich danach ausrichten. Wie aber kommt es zu überlegener Macht? Warum entwickelt sich gerade Macht zu einem Steuerungsmedium par excellence? Kern der spezifischen Steuerungsleistung von Macht ist die besondere, »symbiotische« Verknüpfung von Macht und physischer Gewalt (Luhmann 1975a, S. 60). Die ursprünglichste Art der Steuerung von Menschen ist wohl der physische Zwang zu einem bestimmten Verhalten. Überlegene physische Gewalt reduziert für den Unterlegenen die Zahl der Optionen auf eine einzige-- es bleibt ihm nichts anderes übrig, als nachzugeben und zu gehorchen. Aber physische Gewalt hat eine entscheidende Schwäche: Sie muss präsent sein, oder sie <?page no="117"?> www.claudia-wild.de: [UTB-S]__Willke__Systemtheorie_3_Steuerungstheorie__[Druck-PDF]/ 11.12.2013/ Seite 118 www.claudia-wild.de: [UTB-S]__Willke__Systemtheorie_3_Steuerungstheorie__[Druck-PDF]/ 11.12.2013/ Seite 119 118 wirkt nicht. Für Gewaltverhältnisse genügt sie also, aber sie alleine taugt nicht für den Aufbau von Machtbeziehungen. An einer wichtigen Stelle des modernen Diskurses über Macht hat Thomas Hobbes diese Schwäche präzise gesehen. Gegenüber der bis dahin herrschenden aristotelischen Lehre von der notwendigen Ungleichheit der Menschen, wonach einige zum Befehlen und die anderen zum Dienen geschaffen seien, beharrt Hobbes auf der prinzipiellen Gleichheit der Menschen: »Denn, was die Körperstärke betrifft, so ist der Schwächste stark genug, den Stärksten zu töten-- entweder durch Hinterlist oder durch ein Bündnis mit anderen, die sich in derselben Gefahr wie er selbst befinden. Und was die geistigen Fähigkeiten betrifft, so finde ich, dass die Gleichheit unter den Menschen noch größer ist als bei der Körperstärke-…« (Hobbes 1984, S. 94). Überlegene physische Gewalt allein reicht demnach nicht sehr weit. Schon der nächste Schlaf oder eine Krankheit oder ein Hinterhalt können für den Stärkeren den Tod bedeuten. Kein Wunder deshalb, dass Hobbes nach verlässlicheren Formen der Herstellung gesellschaftlicher Ordnung sucht. Er findet sie in der Möglichkeit des freien Vertrages zwischen unabhängigen Individuen, die sich im wechselseitigen Interesse an der Beendigung des Zustandes eines »Krieges aller gegen alle« darauf einigen, ihre individuellen Rechte an der Ausübung von Gewalt auf eine souveräne Instanz zu übertragen (den Leviathan oder Staat). Seine Hoffnung ist, dass der neue Souverän die Bürger vor innerer und äußerer Gewalt schützt, selbst aber kein Interesse an einer absolutistischen Wendung seiner Macht gegen die eigenen Bürger hat. Für unsere Zwecke greife ich aus der Hobbes’schen Herrschaftstheorie nur den Aspekt des Übergangs von physischer Gewalt zu organisierter Macht heraus. Der Kernsatz ist: Macht beruht auf Organisation-- und nur vermittelt über Organisation ist die Möglichkeit der Drohung mit physischer Gewalt über die aktuelle Situation hinaus von Bedeutung. Damit sind die »natürlichen« Verhältnisse auf den Kopf gestellt. Nicht der Stärkere bestimmt, sondern die Klügere, nämlich die Person, die organisieren kann. Heinrich Popitz (1968) hat dies in drei Miniaturen zu Prozessen der Machtbildung eindrucksvoll nachgezeichnet. Er beschreibt Strategien der Machtbildung, die jeweils auf Unterschieden der Organisationsfähigkeit beruhen und denjenigen überlegene Macht verschaffen, die sich besser (d. h. schneller, effizienter oder effektiver) organisieren. Zunächst zeigt er, dass die Privilegierten die größeren Chancen haben, sich schnell und wirkungsvoll zu organisieren, weil ihr gemeinsames Interesse an der Verteidigung ihrer Position und an der Abwehr der Habenichtse organisationsfähiger ist als das Interesse <?page no="118"?> www.claudia-wild.de: [UTB-S]__Willke__Systemtheorie_3_Steuerungstheorie__[Druck-PDF]/ 11.12.2013/ Seite 118 www.claudia-wild.de: [UTB-S]__Willke__Systemtheorie_3_Steuerungstheorie__[Druck-PDF]/ 11.12.2013/ Seite 119 119 der Nichtprivilegierten an der Änderung der Situation. Ähnliches gilt, zweitens, für die »produktive Überlegenheit von Solidaritätskernen«. Damit ist gemeint, dass Gruppen, die-- aus welchen Gründen auch immer-- den qualitativen Sprung zu solidarischem, kooperativem Handeln geschafft haben, zahlreiche Chancen finden, »die Gesamtleistung der Gruppe über die Summe möglicher Einzelleistungen hinaus zu steigern« (Popitz 1968, S. 20). Damit verstärken sich die Nutzen der Solidarität und die gestärkte Solidarität verbessert die Leistung der Gruppe. Eine dritte Strategie schließlich stabilisiert die Ordnung der Macht durch die Macht der Ordnung. Die Organisierung von Machtbeziehungen führt zu einem System der Umverteilung, welches die Mächtigen privilegiert und die Schwachen ausbeutet: »Jede Machtordnung muß als ein System gesehen werden, in dem die Macht, die die Ordnung ordnet, sich ständig wieder neu bildet. Im Fall eines relativ konstanten Machtgefälles heißt das lediglich, dass sich in diesen Prozessen auch die gegebene Machtverteilung reproduziert.-… (Am Anfang) muß dieses System überdies noch recht häufig durch direkte Gewaltanwendungen abgesichert werden. Wie wir wissen, lassen sich solche Maßnahmen mit der Zeit umsetzen in bloße Drohungen. Aber auch diese Drohungen brauchen schließlich kaum mehr ausdrücklich ausgesprochen zu werden, sie verstehen sich von selbst. Das System der Umverteilung funktioniert wie von allein, es gewinnt eine selbständige, freischwebende Funktionssicherheit. Gewalt tritt nur noch als Notmaßnahme zur Behebung gelegentlicher Störungen in Erscheinung. Sie ist eigentlich-… nicht mehr da. Sie ist nicht Kennzeichen des Systems, sondern seiner Defekte« (Popitz 1968, S. 30f ). Dieses Zitat zeigt besonders schön den schleichenden Übergang von trivialer Gewalt über die Drohung mit Gewalt zu einer Form der Organisation von Ungleichheiten, die ihren Ursprung in Gewalt hinter der Fassade von Ordnung versteckt und als Ordnung sich selbst freischwebend reproduzieren kann. Ins Grundsätzlichere gewendet und theoretisch aufwändiger verstärkt Niklas Luhmann dieses Argument (Luhmann 1975a). Er begreift Macht als Kommunikationsmedium, d. h. als Zusatzeinrichtung zur Sprache mit der Leistung, situationsspezifisch verdichtete Kommunikationen schnell und effektiv zu ermöglichen, indem sie neben bestimmten Inhalten auch die Motive zur Übernahme der Kommunikationsofferten einschließen. Um dies zu verstehen, muss man sich vor Augen halten, dass Luhmann Kommunikation nicht als Übertragung von fertigen Informationen von einer Person zur anderen versteht (Sender-Empfänger-Modell), sondern als Steuerung von Selektionsleistungen. In jeder sozialen Situation, in der Kommunikation stattfindet, gibt es für jeden Akteur immer mehr offene Alternativen, <?page no="119"?> www.claudia-wild.de: [UTB-S]__Willke__Systemtheorie_3_Steuerungstheorie__[Druck-PDF]/ 11.12.2013/ Seite 120 www.claudia-wild.de: [UTB-S]__Willke__Systemtheorie_3_Steuerungstheorie__[Druck-PDF]/ 11.12.2013/ Seite 121 120 als er faktisch realisieren kann. Die Auswahl aus diesen Alternativen (der Orientierung, der Bezugnahme, des Handelns) kann ein Akteur nach seinen eigenen Präferenzen steuern; er kann sich darin aber auch in einem Verständigungs- und Abstimmungsprozess von anderen abhängig machen-- indem er sich auf Kommunikationen einlässt, in welchen bestimmte Selektionen (Orientierungen, Bezugnahmen, Handlungsalternativen) zur Übernahme angeboten werden. In der Kommunikation kommt es deshalb zunächst einmal zur gemeinsamen Definition der Situation, zur Abstimmung einer Weltsicht, innerhalb der Verständigung möglich wird. Jedes Sich-Einlassen auf Kommunikation bedeutet deshalb zwingend, sich äußerer Einflussnahme auszusetzen. Sobald ich Kommunikationsofferten annehme, übernehme ich Vorselektionen, die ein anderer getroffen hat; jede meiner Aussagen mutet dem anderen Vorselektionen zu, die nicht die seinen sind. Allerdings ist bloße Kommunikation von »gelingender Verständigung« weit entfernt (siehe auch Systemtheorie I, Kapitel 5.1). Zum einen kann ich die Kommunikationsofferten ja ablehnen und stattdessen eigene andere anbieten-- auch das Beharren auf Dissens ist Kommunikation. Zum anderen, und grundsätzlicher, sind Kommunikationen Versuche der Beeinflussung eines Systems, das nur über die Barriere seiner operativen Geschlossenheit überhaupt zugänglich ist (siehe zum Konzept operativer Geschlossenheit Systemtheorie I, Kapitel 3.2 und Systemtheorie II, Kapitel 3.1). Aus diesem Grund ist sprachliche Kommunikation jenseits einer dünnen Oberfläche scheinbarer Selbstverständlichkeiten äußerst unzuverlässig und ungenau. Jeder versteht, was er will, solange nur Sprache als Kommunikationsmedium zur Verfügung steht. Die Erfindung der Rhetorik in der griechischen Klassik belegt eindrucksvoll diese eingebaute Schwäche der Sprache: Wenn es eines solchen (rhetorischen) Aufwandes bedarf, um Rede wirkungsvoll zu gestalten, dann kann »normale« Sprache nicht sehr wirkungsvoll sein. Ein anderer Weg, die Leistungsfähigkeit von Sprache zu steigern, eröffnete sich mit der gesellschaftsgeschichtlichen Herausbildung symbolisch verdichteter Medien der Kommunikation (grundsätzlich hierzu Luhmann 1975b, S. 170ff; 1984, S. 193ff ). Darunter versteht Luhmann Einrichtungen wie Macht, Geld, Wissen, Liebe etc. in ihrer Eigenschaft, komplexe Sachverhalte in symbolischer Verdichtung zu kommunizieren: Ein Polizist braucht Autofahrern nicht umständlich zu erklären, was zu tun sei; er hebt die Kelle, das Symbol der Macht-- und fertig. Im Supermarkt verhandle ich nicht stundenlang, um einen Korb Waren zu erwerben. Ich bezahle den ausgewiesenen Geldbetrag-- und fertig. Eine Liebende muss ihrem Geliebten nicht jeden Tag aufs Neue ausführlich erläutern, dass und warum sie ihn liebt. Ein Blick im Medium der Liebe genügt-- und so erspart man sich viele Gelegenheiten zu Missverständnissen. <?page no="120"?> www.claudia-wild.de: [UTB-S]__Willke__Systemtheorie_3_Steuerungstheorie__[Druck-PDF]/ 11.12.2013/ Seite 120 www.claudia-wild.de: [UTB-S]__Willke__Systemtheorie_3_Steuerungstheorie__[Druck-PDF]/ 11.12.2013/ Seite 121 121 Trotz dieser frappierenden Steigerung der Leistungsfähigkeit von Kommunikation durch symbolisch generalisierte Medien ziehe ich es vor, nicht von Kommunikationsmedien zu sprechen, sondern von Steuerungsmedien. Ich hebe also auf den Aspekt der Steuerung ab, der jeder Kommunikation innewohnt. Der zentrale Unterschied zwischen normaler Sprache und Steuerungsmedien liegt in der drastisch gesteigerten Steuerungskapazität von Medien, die sich genau deshalb entwickelt haben, weil Sprache allein, wie schon der Turmbau zu Babel zeigte, zur Steuerung komplexer Systeme nicht ausreicht. Wenn wir zugrunde legen, dass Kommunikation als Steuerung von Selektionsleistungen definiert ist, dann ist der Kern einer Steigerung der Wirksamkeit von Kommunikation die Verbesserung ihrer Steuerungsleistung. Tatsächlich, so haben wir gesehen, ist die kritische Schwachstelle sprachlicher Kommunikation die Unkalkulierbarkeit ihrer Wirkung. Wie aber kann ich der Wirkung meiner Kommunikationsofferte Nachdruck verleihen? Indem ich ihr eine (implizite) Drohung oder einen (impliziten) Anreiz mit auf den Weg gebe. Dadurch kopple ich meine bloße Offerte mit Motiven für die Übernahme meines Angebots durch meinen Kommunikationspartner. Ich mache ihm einen Vorschlag, den er im eigenen Interesse nicht ablehnen sollte. Schwierig ist dieses Geschäft, weil die erforderliche Kopplung einen Unterbau an Verweisungen voraussetzt, der nur durch Organisation glaubhaft gemacht werden kann. Im Falle von Macht ist dies noch ziemlich offensichtlich. Machtbasierte Kommunikation reduziert die Unkalkulierbarkeit der Wirkungen sprachlicher Kommunikation auf die wenigen Optionen-- oder im Extremfall: auf die einzige--, welche mit den Kontextmarkierungen vereinbar ist, die der in der Kommunikation mitgemeinte Machtanspruch setzt. Ob ich als Adressat der Kommunikation auf diese Kontextmarkierungen achte, hängt dann nicht mehr von der kommunizierenden Person ab, sondern von meinem Verhältnis zu dem implizierten Machtanspruch. Kann ich es mir leisten, gegenüber einem mir nicht genehmen Steuerungsansinnen (einer Kommunikationsofferte) einfach aus dem Feld zu gehen (»exit«) oder lauthals meinen Widerspruch zu artikulieren (»voice«), dann habe ich offensichtlich ein ziemlich lockeres Verhältnis zu dem zugrundeliegenden Machtanspruch. Koche ich innerlich über die Impertinenz des Steuerungsanspruchs, füge mich aber trotzdem- - etwa wenn mich ein Sachbearbeiter der Universitätsverwaltung belehrt, wie ein korrekter Antrag auf die Genehmigung eines Dienstdruckers zu meinem Dienstcomputer auszusehen habe- -, dann müssen die Gründe für meine organisationale Verstrickung in diese Form der Kommunikation ziemlich überzeugend sein. Der paradigmatische Fall machtbasierter Kommunikation ist die Kommunikation in hierarchischen Organisationen. In Hierarchien lassen sich alle Perwww.claudia-wild.de: <?page no="121"?> [UTB-S]__Willke__Systemtheorie_3_Steuerungstheorie__[Druck-PDF]/ 11.12.2013/ Seite 122 www.claudia-wild.de: [UTB-S]__Willke__Systemtheorie_3_Steuerungstheorie__[Druck-PDF]/ 11.12.2013/ Seite 123 122 fektionen und alle Perversionen der Systemsteuerung durch Macht studieren. In Kapitel 3 haben wir Hierarchie als Steuerungsform genauer betrachtet und gesehen, dass der Sinn von Hierarchie-- für bestimmte Aufgabenstellungen-- in ihrer singulären Effizienz und Effektivität für kooperative Aufgabenbewältigung liegt. Jetzt ist nachzutragen, wie es hierarchischen Systemen gelingt, angesichts der generellen Unzuverlässigkeit und Unbeeindruckbarkeit von Menschen, angesichts der Chaotik ihrer Umwelten, angesichts von Zeitknappheit, Informationsdefiziten, Zufällen, unwägbaren Risiken und dem Rest der conditio socialis dennoch und gegen alle Wahrscheinlichkeit komplexe Aufgaben zu lösen. Die zentralen Kategorien für die Erklärung dieser Ungereimtheit sind Ordnung und Einfachheit. Die entsprechenden Gegenbegriffe, die uns später beschäftigen werden, sind Chaos und Komplexität. Solange Menschen und ihre Organisationen mit Platons Demiurgen Ordnung für »gänzlich besser« halten als Chaos, besteht für Hierarchie wenig Gefahr, obsolet zu werden. Hierarchie ist die Verkörperung einer einfachen Ordnung. Eine minimale Ausstattung an Regeln genügt, um ganze Heere von Soldaten, Sklaven, Arbeitern, Beamten, angestellten Ingenieuren oder Programmierern in eine Ordnung zu bringen, die jeder versteht. Einfach ist die Ordnung der Hierarchie, weil eine einzige Differenz, diejenige von Oben und Unten, genügt, um die in der Hierarchie ablaufenden (koordinativen) Kommunikationen sowohl inhaltlich wie motivational zu steuern. Im Prinzip genügt es zu wissen, dass die Vorgesetzte immer Recht hat und dass Anordnungen von oben mit Gehorsam von unten zu beantworten sind. Die Begründung für diese Regeln ist einfach, unterliegt aber einer seltsamen Metamorphose. Bei der Entstehung einer Hierarchie ist die Begründung seit Kain und Abel nackte Gewalt. Aber sehr schnell kann sich eine Hierarchie aus sich selbst-- d. h. aus ihrer Effektivität heraus-- rechtfertigen. Was insbesondere Armeen und Verwaltungsbürokratien für viele (interne und externe) Beobachter zu Apotheosen des Unmenschlichen macht, ist nichts anderes als die Logik einer funktionierenden Ordnung, die in der Tat deshalb funktioniert, weil sie sich von den in ihr handelnden Personen weitgehend unabhängig gemacht hat: »The system, then, to which we give the name ›organization‹ is a system composed of the activities of human beings. What makes these activities a system is that the efforts of different persons are here coordinated. For this reason their significant aspects are not personal. They are determined by the system either as to manner, or degree, or time. Most of the efforts in cooperative systems are easily seen to be impersonal. For example, a clerk writing on a report form for a corporation is obviously doing something at a place, on a form, and about a subject that clearly never could engage <?page no="122"?> www.claudia-wild.de: [UTB-S]__Willke__Systemtheorie_3_Steuerungstheorie__[Druck-PDF]/ 11.12.2013/ Seite 122 www.claudia-wild.de: [UTB-S]__Willke__Systemtheorie_3_Steuerungstheorie__[Druck-PDF]/ 11.12.2013/ Seite 123 123 his strictly personal interest. Hence, when we say that we are concerned with a system of coordinated human effort, we mean that although persons are agents of the action, the action is not personal in the aspect important for the study of cooperative systems. Its character is determined by the requirements of the system, or of whatever dominates the system« (Barnard 1938, S. 77, Hervorhebungen H. W.). Chester Barnard hat vor bald 100 Jahren etwas verstanden und elegant formuliert, was vielen Kritikern der Systemtheorie noch heute entgeht: dass die Betonung der systemischen Dynamik und Determinierung von Akteurshandeln, gerade in Organisationen, keineswegs eine Vernachlässigung oder gar ein Ignorieren von Akteuren bedeutet (siehe zu einer gewissen Annäherung Mayntz 2013). Vielmehr sind, was die Systemtheorie unentwegt betont, bei jeder Kommunikation Akteure notwendig beteiligt. Das ist nicht besonders schwer zu sehen. Wichtiger ist, dass durch die unterschiedlichsten Formen der Kontextuierung, Einbettung oder systemischen Vereinnahmung das Handeln der Akteure vorrangig von Imperativen des (jeweiligen) Systems gesteuert wird, und die Motive und Interessen der Akteure in den Hintergrund treten. Dies ist dann nicht nebensächlich, sondern kritisch, wenn man nicht Psychologie betreibt, sondern Steuerungstheorie. Natürlich wissen wir inzwischen, dass selbst Armeen und Verwaltungsbürokratien nicht ausschließlich den Gesetzen einer entmenschlichten Ordnung gehorchen. Aber es ist lehrreich, sich zunächst einmal klar zu machen, dass Hierarchien Instrumente der Koordination weitverzweigter Handlungszusammenhänge sind, die Leistungen erbringen können, welche einzelnen Menschen oder unkoordinierten Gruppen unmöglich sind. Mit Hilfe machtbasierter Kommunikation erlauben sie die zielorientierte Steuerung komplexer Prozesse-- z. B. die Eroberung fremden Territoriums oder die flächendeckende Eintreibung von Steuern oder die Entwicklung eines Software-Pakets, das kein einzelner Mensch mehr überschauen kann. Die Affinität von Hierarchie und Macht ergibt sich daraus, dass Hierarchie Macht und Macht Hierarchie verstärkt und sich so ein selbstverstärkender Reproduktionszirkel einspielt, der seine Legitimität aus seiner Effektivität zieht-- auch wenn die Ursprünge einer bestimmten Hierarchie einmal in brachialer Gewalt gelegen haben mögen. Hierarchie bietet schon nach kurzer Anlaufzeit die von Popitz erwähnte »selbständige, freischwebende Funktionssicherheit«, hinter der die Macht, die sie trägt, unsichtbar wird, weil jeder sie für selbstverständlich nimmt. Machtbasierte Kommunikation in Hierarchien ist aber nur der Extremfall einer synergetischen Selbstverstärkung von Steuerungsform und Steuerungsmedium. Auch im Kontext anderer Steuerungsformen gibt es machtbasierte <?page no="123"?> www.claudia-wild.de: [UTB-S]__Willke__Systemtheorie_3_Steuerungstheorie__[Druck-PDF]/ 11.12.2013/ Seite 124 www.claudia-wild.de: [UTB-S]__Willke__Systemtheorie_3_Steuerungstheorie__[Druck-PDF]/ 11.12.2013/ Seite 125 124 Kommunikation. Allerdings werden dann die erforderlichen Regelwerke und die Begründungen für Legitimität aufwendiger. Für Demokratie als Steuerungsform genügt ebenfalls eine einzige Differenz, diejenige von Mehrheit und Minderheit, um die Machtverhältnisse grundsätzlich zu klären: Die Mehrheit bestimmt, die Minderheit gibt nach. Aber jenseits dieser simplen Ordnung beginnt das Chaos. Da sowohl Mehrheit wie Minderheit Kollektive sind, in der Regel eine Pluralität von individuellen, kollektiven, korporativen und anderen organisierten Akteuren, gibt es alle Möglichkeiten, bei jeder neuen Frage oder sogar bei derselben Frage zu einem anderen Zeitpunkt die Mehrheitsverhältnisse zu ändern. Genau daraus bezieht machtbasierte Kommunikation in der Form der Demokratie ihre motivationale Energie: Jede Minderheit hat die Chance, zu einem späteren Zeitpunkt Mehrheit zu werden- - und die Mehrheit muss damit rechnen, schon bei der nächsten Wahl zur Minderheit zu werden. Diese Veränderungschance moderiert die Machtausübung durch die Mehrheit; und sie stärkt die Folgebereitschaft der Minderheit, die sich an die Spielregeln hält, weil sie erwarten kann, dass auch »ihre« Minderheit dies tut, wenn sie selbst einmal zur Mehrheit geworden ist. Für viele (externe und interne) Beobachter ist die Form der Demokratie die perfektionierte Unordnung, weil (nahezu) jederzeit (nahezu) alles wieder über den Haufen geworfen werden kann. Gegenüber der simplen Ordnung der Hierarchie realisiert Demokratie tatsächlich eine viel schwerer zu durchschauende Ordnung durch Fluktuationen (ein von Ilya Prigogine geborgter Begriff ), die genau deshalb funktioniert, weil sie sich von fluktuierenden Interessen, Trends, Richtungen, Überzeugungen etc., insgesamt von wechselnden Mehrheiten abhängig macht. Wie wir in Kapitel 2 gesehen haben, ist für Charles Lindblom in dieser Variabilität die einzigartige evolutionäre Effektivität, die Intelligenz von Demokratie als Steuerungsform begründet. Einschränkend muss man auch hier hinzufügen, dass dies nicht generell, sondern nur für bestimmte Aufgaben gilt; aber wenn die Aufgabe heißt, die sich permanent ändernden Präferenzen von Millionen von autonomen Individuen zu bündeln und in eine handhabbare Ordnung zu bringen, welche die Autonomie der Individuen achtet (und auch noch achtet, wenn sie in der Minderheit sind), dann ist Demokratie weitgehend unbestritten die optimale Steuerungsform. Wie wir ebenfalls schon gesehen haben, wird diese Aussage problematischer und schließlich wohl unhaltbar, sobald sich (auch aufgrund der in die Demokratie eingebauten evolutionären Dynamik) die Aufgabenstellung erweitert und nun die Kontrolle von Risiken auf der Tagesordnung steht, die sich Mehrheitsentscheidungen nicht mehr beugen-- das heißt konkret: die nicht dadurch erträglich werden, dass sie von einer Mehrheit in Kauf genommen werden (Caplan 2008; Willke 2009). <?page no="124"?> www.claudia-wild.de: [UTB-S]__Willke__Systemtheorie_3_Steuerungstheorie__[Druck-PDF]/ 11.12.2013/ Seite 124 www.claudia-wild.de: [UTB-S]__Willke__Systemtheorie_3_Steuerungstheorie__[Druck-PDF]/ 11.12.2013/ Seite 125 125 Wie Hierarchie ist auch Demokratie- - bei all ihrer Konsensabhängigkeit-- eine Steuerungsform komplexer Sozialsysteme und deshalb eine Herrschaftsform. Sie konstituiert ein »allgemeines Gewaltverhältnis« der Bürger eines politischen Systems, nach welchem die Mehrheit kollektiv verbindliche Entscheidungen treffen kann, denen dann alle unterworfen sind. Machtbasierte Kommunikation im Kontext von Demokratie hat durchaus ähnliche Voraussetzungen wie im Falle von Hierarchie. Sie setzt zum einen eine (reale oder unterstellte) Erklärung der Mitgliedschaft voraus, einen »Gesellschaftsvertrag«, in dem die Rechte der Mitgliedschaft und die Pflichten des Gehorsams gegenüber kollektiv verbindlichen Entscheidungen begründet werden. In aller Regel erfolgt der Eintritt in Hierarchien jedenfalls formal freiwillig, aber es gibt Ausnahmen wie Zwangsrekrutierung, Gefängnis und ähnliches. Zum anderen erfordert machtbasierte Kommunikation eine verbindliche Entscheidung, etwa in der Form eines Gesetzes oder einer Anweisung. Und schließlich muss die Kommunikation als machtbasiert erkennbar sein, indem zumindest implizit die Möglichkeit von Sanktionen bei Nichtbefolgen des Gesetzes oder der Anweisung mitkommuniziert wird. Demokratie ist also keineswegs herrschaftsfrei, sondern im Gegenteil als Steuerungsform in ihrer Effektivität davon abhängig, dass die Produktion und die Durchsetzung der kollektiv verbindlichen Entscheidungen, d. h. die Sicherung der erforderlichen Kollektivgüter, verlässlich funktioniert. Die Differenz zu Hierarchie als Steuerungsform zeigt sich vor allem bei der Frage, von wem und wie die kollektiv verbindlichen Entscheidungen getroffen werden. In der idealtypischen monokratischen Hierarchie, etwa einem Familienbetrieb alter Art, einem klassischen Ministerium oder einer Armeeeinheit, entscheidet der Chef (der Hierarch) alleine und in alleiniger Verantwortung. Daraus resultieren die bekannten Vorteile der Schnelligkeit, der geringen Transaktionskosten, der Klarheit, Langfristigkeit etc. und die ebenso bekannten Nachteile, vor allem die Verengung der kognitiven Basis der Entscheidungsfindung auf die Instanz des Hierarchen. Die Vorteile und Nachteile einer demokratischen Entscheidungsfindung sind ebenso bekannt, so dass ich hier nicht weiter darauf eingehen muss. Wenn die Entscheidungen erst einmal gefallen sind, dann unterscheidet sich machtbasierte Kommunikation in Demokratien und in Hierarchien kaum. Auch in einer demokratischen Steuerungsform müssen die Mitglieder sich den getroffenen Entscheidungen unterwerfen, bis hin zum Einberufungsbefehl oder zur Verurteilung zu einer Gefängnisstrafe. Aber auf der Seite der Entscheidungsfindung bringt die Erfindung von Demokratie als Steuerungsform zwei wesentliche Fortschritte: Sie nimmt die prinzipielle Gleichheit, Autonomie und Würde jedes ihrer Mitglieder ernst und sichert sie durch Grundrechte und Minderheitenschutz ab; diese Einschätzung macht <?page no="125"?> www.claudia-wild.de: [UTB-S]__Willke__Systemtheorie_3_Steuerungstheorie__[Druck-PDF]/ 11.12.2013/ Seite 126 www.claudia-wild.de: [UTB-S]__Willke__Systemtheorie_3_Steuerungstheorie__[Druck-PDF]/ 11.12.2013/ Seite 127 126 Demokratie normativ wünschenswert und human hochherzig. Darüber hinaus respektiert Demokratie die prinzipielle Gleichheit der »geistigen Fähigkeiten« der Individuen, die bereits Thomas Hobbes beobachtet hatte, und schließt daraus, dass es keinen vernünftigen Grund gibt, irgendeine mündige Person von der kollektiven Entscheidungsfindung auszuschließen. Diese Einsicht macht Demokratie für bestimmte Problemstellungen zum überlegenen Steuerungsmodell und insbesondere für komplexe, dynamische Kontextbedingungen zu einer notwendigen Form. Diese unglaublich weitsichtigen und wohl auch riskanten Einsichten der frühen Demokratietheoretiker haben der Demokratie als Steuerungsform noch eine recht lange Zeit massive Anfeindungen eingebracht-- und sie hat alle nur denkbaren Taktiken provoziert, trotz formaler Demokratie einige gleicher zu machen als gleich-- vom Dreiklassenwahlrecht bis zur Organisierung von »political action committees«. Erst sehr viel später hat sich (an einigen wenigen Orten) die Einsicht durchgesetzt, dass für entwickelte Industriegesellschaften im Besonderen und für hochkomplexe, dynamische und intransparente Entscheidungskonstellationen im Allgemeinen Demokratie nicht nur eine wünschenswerte, sondern eine notwendige (wenngleich wohl keine hinreichende) Form ist: Weil erst die Partizipation aller Betroffenen an der Entscheidungsfindung, das Zusammenspiel der unterschiedlichsten Interessen, Meinungen, Kenntnisse, Erfahrungen und Motive, die erforderliche kognitive Komplexität zusammenführt, die für brauchbare Entscheidungen unabdingbar ist (Landemore and Elster 2012). Die herkömmliche Definition, wonach Macht die Fähigkeit ist, einem anderen seinen Willen auch gegen dessen Widerstand aufzuzwingen, ist für uns wenig brauchbar. Sie orientiert sich zu sehr an physischer Gewalt und verkennt die Bedeutung der Generalisierung und Symbolisierung von Zwangsmöglichkeiten durch den Aufbau organisierter Macht. Als Ausgangspunkt ist diese Definition dennoch wichtig, weil sie unmissverständlich verdeutlicht, dass von Macht nur dann die Rede sein kann, wenn ihre Aktivierung eine Verweisung auf tatsächliche oder erwartete Sanktionen enthält, die den Machtanspruch letztlich durch physische Gewaltanwendung durchsetzen könnte. Damit passt dieser Machtbegriff problemlos für das allgemeine politische Gewaltverhältnis zwischen Souverän und Bürger- - etwa in den Ausdrucksformen des Kriegsdienstes oder der Steuerpflicht: in letzter Instanz können diese Pflichten durch physische Gewaltanwendung erzwungen werden. Es passt ebenso gut für alle besonderen Gewaltverhältnisse, etwa Armee, Polizei, Verwaltungsbürokratie, Schule (sofern ihr die Sanktion der körperlichen Züchtigung zusteht) bis hin zur Familie, sofern dort die Sanktion der körperlichen Strafe ausgeübt wird. Die letzten beiden Beispiele zeigen im Übrigen, dass eine längst überfällige Diskussion immerhin begonnen hat, <?page no="126"?> www.claudia-wild.de: [UTB-S]__Willke__Systemtheorie_3_Steuerungstheorie__[Druck-PDF]/ 11.12.2013/ Seite 126 www.claudia-wild.de: [UTB-S]__Willke__Systemtheorie_3_Steuerungstheorie__[Druck-PDF]/ 11.12.2013/ Seite 127 127 welche Formen sozialer Systeme noch als besondere Gewaltverhältnisse verstanden werden sollen und welche nicht. Zugleich klärt diese Begriffsfassung, dass vieles, was wir umgangssprachlich als ›Macht‹ oder als mächtig bezeichnen, streng genommen mit Macht nichts zu tun hat. Der praktisch wichtigste Fall ist die Rede von der »Macht der Konzerne«. Private Wirtschaftsunternehmen besitzen häufig einen immensen Einfluss, aber sie haben keine Macht, weil sie ihre (möglichen oder angedrohten) Sanktionen eben nicht auf physische Gewalt zurückführen können. Sie sind in der Lage Zahlungen zu verweigern, Investitionen zu stoppen und Personen oder Organisationen wirtschaftlich zu ruinieren. Aber sie können in demokratisch verfassten Gesellschaften keine Macht ausüben, da ihnen keine legitime Gewaltausübung zusteht. Dies bedeutet zum Beispiel, dass ich mich dem Einfluss eines noch so einflussreichen Konzerns entziehen kann, wenn ich auf die Sanktionen nicht reagiere, über die er verfügt. Bin ich wirtschaftlich gesichert oder interessiert mich Geld nicht besonders, dann hat ein Wirtschaftsunternehmen kaum Ansatzpunkte, um auf mich Einfluss zu nehmen. Passt mir etwa als Mitarbeiter eine seiner Kommunikationsofferten nicht, dann kann ich auf Beförderung verzichten oder sogar kündigen, aber die Organisation kann mich nicht zwingen. Sie spricht eine geldbasierte Sprache, nicht aber eine machtbasierte. Schwierig wird der Fall allerdings, wenn geldbasierte Kommunikation auf wirtschaftliche Sanktionen verweist, die eine Person in eine existentielle Notlage bringen. In diesem extremen Fall wirkt eine wirtschaftliche Sanktion faktisch wie physische Gewaltanwendung. Entgegen den Verblendungen eines Manchester-Kapitalismus und seines Nachtwächterstaates verlangt nach heutigen sozialstaatlichen Vorstellungen eine solche Situation nach politischem Handeln. Wirtschaftliche Verelendung und Existenzbedrohung aktiviert eine öffentliche Schutzpflicht, als handelte es sich um illegitime Gewaltausübung. Ansonsten aber, unterhalb dieses extremen Niveaus, haben wirtschaftliche Sanktionen zwar viel mit Einfluss, aber nichts mit Macht zu tun. Vergleichbares gilt etwa für die »Macht« der Kirche, der Wissenschaft, der Medizin etc. Macht macht überhaupt nur dort Sinn, wo widersprüchliche Intentionen oder Interessen aufeinanderstoßen. Bei Konsens oder Indifferenz läuft Macht ins Leere. Widersprüche dagegen erfordern eine Entscheidung für eine unter mehreren möglichen Optionen. Die Entscheidung kann auf vielfältige Weise erreicht werden, durch Überzeugung, Einsicht, Kompromiss, durch Ausgleichszahlungen für den Nachgebenden, durch langfristige Paketlösungen etc.-- und eben auch durch Macht. In diesem Sinne liegt die Funktion jeder Einflussnahme, auch derjenigen über Macht, wie Niklas Luhmann sagt, in der Regulierung von Kontingenz: Sie ist eine Chance, »die Wahrscheinlichkeit des Zustandekommens unwahrscheinlicher Selektionswww.claudia-wild.de: <?page no="127"?> [UTB-S]__Willke__Systemtheorie_3_Steuerungstheorie__[Druck-PDF]/ 11.12.2013/ Seite 128 www.claudia-wild.de: [UTB-S]__Willke__Systemtheorie_3_Steuerungstheorie__[Druck-PDF]/ 11.12.2013/ Seite 129 128 zusammenhänge zu steigern« (Luhmann 1975a, S. 12). Macht beeinflusst also die im Prinzip kontingenten Kommunikationen und damit die Handlungsselektionen eines Akteurs durch implizierte Verweise auf die Möglichkeiten physischer Gewalt und lenkt sie in eine Richtung, die nicht den naturwüchsigen Vorstellungen des Akteurs entspricht, sondern den Absichten der Instanz oder derjenigen, die Macht ausüben. Erst wenn man Macht in dieser Weise als einen Modus der Einflussnahme versteht, dessen Besonderheit in der Verweisung auf die Möglichkeit physischer Gewaltanwendung liegt, kommt die spezifische Steuerungskapazität von Macht in den Blick. Machtbasierte Kommunikation wirkt auch dort noch, wo ansonsten himmelhohe Unterschiede des Einflusses, der Bildung, des Reichtums, des Prestiges etc. bestehen. Sie wirkt auf eine souveräne Egalität der Menschen vor dem allgemeinen und gleichen Gesetz, wenn und solange die politische Ordnung solche Gesetze vorgibt. In demokratisch verfassten Gesellschaften garantiert, jedenfalls im Prinzip, machtbasierte Kommunikation die Erhaltung jener Gleichheit der elementaren Rechtspositionen autonomer Individuen, die Ausgangspunkt für den Gesellschaftsvertrag zwischen diesen Individuen ist. Für Demokratien wie für andere komplexe, eigendynamische Sozialsysteme gilt, dass gelingende Steuerung eine Frage des Überlebens ist, weil ein System in der Lage sein muss, gegenüber der naturwüchsigen Entwicklung zur Entropie Regeln (Gesetze) für unwahrscheinliche Selektionszusammenhänge zu stabilisieren, um seine organisierte Komplexität zu erhalten: »The existence and persistence of rules, combined with their relative independence of idiosyncratic concerns of individuals, make it possible for societies and organizations to function reasonably reliably« (Cyert und March 1992, S. 231, Hervorhebung H. W.). Deshalb ist in der Regel das Problem nicht zu viel, sondern zu wenig Macht. Deshalb benötigen komplexe Systeme zur Reproduktion ihrer Identität mehr Macht als triviale; und deshalb kommt irgendwann der Punkt, an dem Macht insgesamt nicht mehr ausreicht, um die erforderlichen »unwahrscheinlichen« Selektionen anzuleiten. In einem frappierenden Maße beziehen sich gegenwärtige Diskussionen um Staatsversagen, Organisationsversagen, ›Reinventing Government‹ (Osborne/ Gaebler 1993), Neubau der Verwaltung, Restrukturierung von Unternehmensprozessen (Hammer 1994), ›Liberation Management‹ (Peters 1992), Deregulierung, Regionalisierung etc. auf die Erfahrung, dass machtbasierte Kommunikation für eine Steuerung hochkomplexer Systemprozesse nicht ausreicht. Bei aller Generalisierung und Abstraktion ist Macht doch darauf angewiesen, ihre Verankerung in funktionierender Organisation und <?page no="128"?> www.claudia-wild.de: [UTB-S]__Willke__Systemtheorie_3_Steuerungstheorie__[Druck-PDF]/ 11.12.2013/ Seite 128 www.claudia-wild.de: [UTB-S]__Willke__Systemtheorie_3_Steuerungstheorie__[Druck-PDF]/ 11.12.2013/ Seite 129 129 letztlich in realisierbaren Sanktionen glaubhaft zu machen. Je differenzierter, professioneller und situationsabhängiger aber die zu verrichtenden Aufgaben ausfallen, desto schwieriger und kostspieliger wird machtgestützte Kontrolle-- und desto fadenscheiniger wird der Anspruch machtbasierter Kommunikation: »Je mehr ein moderner Staat seine Herrschaft auf Organisationen sowie mittels Organisationen ausübt, desto antiquierter wird die Vorstellung, dass sich die Staatsautorität primär auf die Monopolisierung physischer Gewalt gründe« (Geser 1990, S. 412). Für den Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit hat Norbert Elias (1977) die Verlagerung des (externen) Fremdzwanges zum (internen) Selbstzwang als notwendigen Bestandteil des Prozesses der Zivilisierung meisterlich beschrieben. Heute geht es um einen vergleichbaren Prozess der Zivilisierung machtbasierter Operationen in modernen hierarchischen Systemen. Ein wichtiger Unterschied ist allerdings festzuhalten: In gegenwärtigen säkularen Gesellschaften lässt sich Selbstzwang immer weniger-- und faktisch wohl gar nicht mehr-- auf solche internalisierten Normen gründen, deren Übertretung der handelnde Akteur aus realer Angst vor Höllenpein und ewiger Verdammung vermeidet. Was aber bleibt dann an realen Sanktionsdrohungen internalisierter Normen? Die Antwort ist unausweichlich: nichts! Dies bedeutet, dass der moderne Zivilisierungsprozess einer Verlagerung von Fremdkontrolle auf Selbstkontrolle nicht mehr auf machtbasierte Kommunikation gestützt werden kann, sondern andere Steuerungsmedien diese Aufgabe übernehmen müssen. Nur noch als letzte Instanz für das Grobe ist Macht dann gefragt, als »Infra-Ressource« im Sinne von Mary Rogers (1974) in der Funktion, die in undurchsichtigen Entscheidungssituationen erforderliche Feinsteuerung durch andere Steuerungsmedien infrastrukturell abzustützen. Wir beobachten hier eine ziemlich gravierende Verschiebung des Modus Operandi der Steuerung komplexer Systeme. Während sich politische Systeme, ihre Verwaltungseinrichtungen und die Vielzahl öffentlicher Organisationen (Anstalten, Körperschaften, Institutionen) von Universitäten bis zu Kindergärten dem nahenden Orkan der Veränderung gegenüber noch weitgehend blind und taub stellen, sind vor allem Unternehmen seit einigen Jahren der unbarmherzigen Gewalt dieser Veränderung ausgesetzt. Entsprechend hoch sind die Verluste. Aber auf der anderen Seite lassen sich an einigen Unternehmen beispielhaft die Konturen eines alternativen Steuerungsmodus studieren. Ich werde in den folgenden beiden Kapiteln darauf zurückkommen. Zuvor sollten wir uns möglichst klar vor Augen führen, warum Macht als Steuerungsmedium dennoch nicht ausgedient hat. <?page no="129"?> www.claudia-wild.de: [UTB-S]__Willke__Systemtheorie_3_Steuerungstheorie__[Druck-PDF]/ 11.12.2013/ Seite 130 www.claudia-wild.de: [UTB-S]__Willke__Systemtheorie_3_Steuerungstheorie__[Druck-PDF]/ 11.12.2013/ Seite 131 130 5.1 Machtbasierte Infrastruktur-- der Fall Politik Mit der spezifischen Fähigkeit des Menschen, aus unterschiedlichen Handlungsalternativen auszuwählen und so Kontingenzen zu ordnen, ist unabdingbar auch die Möglichkeit für Widerspruch, Konkurrenz und Konflikt gegeben. Zwischen Akteuren kommt es zu Auseinandersetzungen, weil die Selektionsstrategien des einen (ego) diejenigen eines anderen (alter) stören können, sobald diese Strategien sozial verzahnt sind. Für dieses ursprüngliche Ordnungsproblem haben sich historisch sehr unterschiedliche Lösungen herausgebildet- - traditionale Ordnungen nach unvordenklichen Regeln, religiös-moralische Ordnungen nach den von den Göttern vorgegebenen Regeln, despotische Ordnungen nach dem Recht des Stärkeren, kommunitarische Ordnungen nach den Regeln einer Hausgemeinschaft etc. Das Ordnungsproblem war »einfach« zu lösen, solange der Maßstab der Ordnung von einer einzelnen Instanz gesetzt wurde, von Tradition, Gott, dem Herrscher, Hausvater etc. Noch Niccolo Machiavelli verfällt einer solchen einfachen Ordnung, wenn er die Staatsräson dem Machtwillen des Fürsten unterordnet. Erst bei Thomas Hobbes tritt das Dilemma einer beginnenden Moderne voll zutage. Einerseits wird nach den Religionskriegen und dem Verfall der Autorität der Religion die Notwendigkeit einer säkularen, von den Menschen selbst gemachten Ordnung deutlich; andererseits aber zwingt die Idee der Gleichheit der Menschen und die damit eingeleitete Erfindung des autonomen Individuums, anzuerkennen, dass diese säkulare Ordnung nicht mehr von dem einen großen Herrscher oder dem übermächtigen Fürst geschaffen werden kann, sondern irgendwie von allen Bürgern gemeinsam und gleichberechtigt. Hobbes genialer Ausweg aus diesem Dilemma ist die Verknüpfung eines Gesellschaftsvertrages zwischen den autonomen, gleichen und gleichberechtigten Bürgern und eines Herrschaftsvertrages zwischen der Gesamtheit der Bürger und dem Souverän, der nun kraft der ihm übertragenen Rechte die Ordnung der Gesellschaft bestimmt. Insofern ist Habermas zuzustimmen: »Wenn man aus Kantischer Perspektive auf Hobbes zurückblickt, drängt sich eine Lesart auf, die in Hobbes eher den Theoretiker eines bürgerlichen Rechtsstaates ohne Demokratie als den Apologeten des unbeschränkten Absolutismus erblickt« (Habermas 1992, S. 118). Warum aber diese Komplizierung? Welche Schwierigkeit sieht Hobbes bei der Errichtung einer politischen Ordnung der Gesellschaft, die ihn dazu zwingt, über den Gesellschaftsvertrag zwischen unabhängigen Individuen hinaus eine Herrschaftsordnung zu begründen, die dem Souverän absolute Macht gibt (von welcher nur das »forum internum« der inneren Überzeuwww.claudia-wild.de: <?page no="130"?> [UTB-S]__Willke__Systemtheorie_3_Steuerungstheorie__[Druck-PDF]/ 11.12.2013/ Seite 130 www.claudia-wild.de: [UTB-S]__Willke__Systemtheorie_3_Steuerungstheorie__[Druck-PDF]/ 11.12.2013/ Seite 131 131 gungen ausgenommen ist)? Es ist die Ohnmacht des Vertrages gegen Vertragsbruch. Auch ein abgeschlossener Vertrag schützt nicht gegen opportunistisches Handeln eines Vertragspartners, der sich beispielsweise einer kostspieligen oder risikoreichen Pflicht aus dem Vertrag entziehen will, wenn nicht eine außerhalb des Vertrages liegende Macht die Einhaltung von Verträgen garantiert: »Der bloße Vertrag ohne Begründung einer gemeinsamen Macht, welche die einzelnen durch Furcht und Strafe leitet, genügt für die Sicherheit nicht-…« (Hobbes, de Cive V, zit. nach Fetscher 1984, S. XXIV). In modernen Gesellschaften übernimmt diese Funktion das Recht. Das Recht konstituiert jene gemeinsame Macht, welche die Einhaltung gültiger Verträge garantiert. Zwar beruht es selbst auf einem als demokratischer Gesellschaftsvertrag zustande gekommenen Metavertrag, aber dieser Vertrag transformiert sich selbst durch seinen Vollzug von einer konsensbasierten zu einer machtbasierten Übereinkunft, weil sein Gegenstand die Regelung von Machtverhältnissen ist. Der entscheidende Punkt ist nun, dass innerhalb des Geltungsbereichs dieses Metavertrages keine Verträge über Machtverhältnisse gültig abgeschlossen werden können, die dessen Regelungen widersprechen. Dies ist die Grundlage der Monopolisierung legitimer Gewaltausübung durch den neuzeitlichen Staat und es bedeutet, moderner gesprochen, die Kompetenz-Kompetenz der Politik für die Regelung von Machtverhältnissen. Notwendig ist diese ganze Konstruktion, weil konsensbasierte Verträge allein keine funktionierende soziale Ordnung begründen können. Konsens allein ist zu leicht aufkündbar, als dass davon die Sicherung der für notwendig erachteten Kollektivgüter abhängig gemacht werden könnte. Eine funktionierende soziale Ordnung braucht Einrichtungen, welche im Ernstfall ein Mitglied dazu zwingen können, den vereinbarten Beitrag zur Herstellung und Sicherung der Kollektivgüter zu leisten. Gegen Opportunismus, Trittbrettfahrerverhalten oder Vertragsbruch ist kein anderes Kraut gewachsen. Auch nicht in der Form des Diskurses. Denn auch ein gelingender Diskurs kann keine Verbindlichkeit schaffen, die über die je momentane und revidierbare Zustimmung der Beteiligten hinausgeht. Habermas sieht das Problem durchaus, jedenfalls seit er sich intensiver mit dem Rechtssystem beschäftigt. Was (im folgenden Zitat) so klingt, als könne er das Diskursprinzip als fundierendes retten, ist tatsächlich das Eingeständnis, dass es rechtlich institutionalisierte, d. h. normativ abgesicherte und mithin nicht durch ein kommunikatives Arrangement, sondern durch legitime Gewaltausübung garantierte Regeln sind, die eine soziale Ordnung begründen, in welcher dann in der Tat Diskurse über Normen möglich sind: »Wenn aber Diskurse (und, wie wir sehen werden, Verhandlungen, deren Verfahren diskursiv begründet sind) den Ort bilden, an dem sich ein <?page no="131"?> www.claudia-wild.de: [UTB-S]__Willke__Systemtheorie_3_Steuerungstheorie__[Druck-PDF]/ 11.12.2013/ Seite 132 www.claudia-wild.de: [UTB-S]__Willke__Systemtheorie_3_Steuerungstheorie__[Druck-PDF]/ 11.12.2013/ Seite 133 132 vernünftiger Wille bilden kann, stützt sich die Legitimität des Rechts letztlich auf ein kommunikatives Arrangement: als Teilnehmer an rationalen Diskursen müssen die Rechtsgenossen prüfen können, ob eine strittige Norm die Zustimmung aller möglicherweise Betroffenen findet oder finden könnte. Mithin besteht der gesuchte interne Zusammenhang zwischen Volkssouveränität und Menschenrechten darin, dass das System der Rechte genau die Bedingungen angibt, unter denen die für eine politisch autonome Rechtsetzung notwendigen Kommunikationsformen ihrerseits rechtlich institutionalisiert werden können« (Habermas 1992, S. 134). Zum Vorschein kommt hier, dass das Steuerungsmedium Macht als letzte Instanz nicht durch andere Steuerungsmedien ersetzbar ist. Es bildet die Grundlage sozialer Ordnung, auf der sich im Laufe der Gesellschaftsgeschichte mit Hilfe anderer Steuerungsmedien höchst unwahrscheinliche Steigerungen organisierter Komplexität erreichen lassen. Aber ohne dieses Fundament ist soziale Ordnung nicht in kollektiv verbindlichen Übereinkünften zu verankern. Sichtbaren Ausdruck findet dies vor allem in der Errichtung einer machtbasierten öffentlichen Infrastruktur. Mit der Organisierung, Institutionalisierung und Monopolisierung öffentlicher physischer Gewaltausübung und schließlich mit ihrer Unterwerfung unter Regeln der Legalität und der Legitimität ändert sich das Phänomen selbst, um das es geht: Als Basismechanismus bleibt Gewalt natürlich und einfach Gewalt, doch verändert es seine soziale Realität durch einen elaborierten Überbau der symbolischen Generalisierung zu Macht und Herrschaft: »Das ermöglicht es, physische Gewalt durch Entscheidungen zu dirigieren, die ihrerseits organisatorisch und/ oder rechtlich konditioniert werden können. Und daraus ergibt sich eine völlig veränderte Konstellation in der Frage des Zugangs zur Gewalt« (Luhmann 1981, S. 157). Eine veränderte Konstellation ergibt sich allerdings nicht nur in der Frage des Zugangs, sondern insbesondere auch in der Frage der Bedeutung von Gewalt. In seiner generalisierten Form als politische Macht wird Gewalt zu einer symbolischen Realität, einem spezialisierten Medium der Kommunikation, welches eigenen Regeln und Gesetzmäßigkeiten unterworfen ist- - denen eines kommunikativ konstituierten symbolischen Systems (das dann in die Form des Rechts gegossen werden kann) (ausführlich dazu Willke 2005). Von den vielfältigen Konsequenzen, die hieraus zu ziehen sind, steht im Hinblick auf die Begründung der Funktion des Staates eine im Vordergrund: In seiner Definition bezeichnet Max Weber (1972, S. 822) den Staat als »diewww.claudia-wild.de: <?page no="132"?> [UTB-S]__Willke__Systemtheorie_3_Steuerungstheorie__[Druck-PDF]/ 11.12.2013/ Seite 132 www.claudia-wild.de: [UTB-S]__Willke__Systemtheorie_3_Steuerungstheorie__[Druck-PDF]/ 11.12.2013/ Seite 133 133 jenige menschliche Gemeinschaft, welche innerhalb eines bestimmten Gebietes- - dies: das ›Gebiet‹, gehört zum Merkmal- - das Monopol legitimer physischer Gewaltsamkeit für sich (mit Erfolg) beansprucht«. Mit der Aufgabe einer Kasernierung oder Monopolisierung physischer Gewalt ist die Funktion des Staates aber gänzlich unzulänglich beschrieben. Denn dies beschränkt den Staat auf eine regulative Rolle im Verhältnis von Individuum und Gesellschaft. Diese Beschreibung vernachlässigt die zumindest ebenso bedeutsame Rolle des Staates als Strukturelement einer gesellschaftlichen Ordnung, welche sich als System symbolisierter und institutionalisierter Bedeutungen gegenüber der Ebene der Individuen autonom gesetzt hat. In traditioneller Begrifflichkeit hat Weber (1972, S. 822) dies durchaus gesehen, wenn er in Abgrenzung von »Staat« definiert: »›Politik‹ würde für uns also heißen: Streben nach Machtanteil oder nach Beeinflussung der Machtverteilung, sei es zwischen Staaten, sei es innerhalb eines Staates zwischen den Menschengruppen, die er umschließt.« Tatsächlich kann Macht als eine Erstkodierung physischer Gewalt am Maßstab sozialer Akzeptanz/ Nichtakzeptanz verstanden werden, wobei dieser Maßstab sich auf das Problem der Durchsetzbarkeit kollektiv verbindlicher Entscheidungen bezieht. Diese Kodierung transformiert die an einzelne Personen gebundene physische Gewalt in soziale Herrschaftsbeziehungen, die dann von bestimmten Personen gelöst und in symbolischen Strukturen (wie z. B. Regeln, Konventionen und Normen) organisiert, tradiert und auf Dauer gestellt werden kann. Das Recht leistet eine Zweit-Codierung von Gewalt, wenn die Formen der Ausübung von Macht noch ihrerseits nach dem Kriterium von rechtmäßig/ nicht rechtmäßig geregelt werden. Politik schließlich kann als Dritt-Codierung von Gewalt aufgefasst werden, solange man ihr die Aufgabe zuschreibt, die Legitimität gesellschaftlicher Ordnung zu garantieren, indem sie über die Kriterien der Gerechtigkeit von Gesetzgebung und über konstitutionelle Arrangements für den Ausgleich widersprüchlicher Auffassungen von Gerechtigkeit entscheidet. Diese allgemeine Charakterisierung von Macht, Recht und Politik muss spezifiziert werden, sobald Politik (auf dem historischen Hintergrund des Investiturstreits und der Religionskriege) sich zu einem funktional ausdifferenzierten Teilsystem von Gesellschaft entwickelt. Denn nun wird die durchaus alte Zuständigkeit der Politik unter anderem auch für die Herstellung kollektiv verbindlicher Entscheidungen zu einer exklusiven »Funktion«. Und damit ändert sich Grundlegendes: Vor allem impliziert die Monopolisierung legitimer öffentlicher Macht im politischen System, dass diese Macht nicht nur zur Abwehr illegitimer Gewalt von Staats wegen, also von oben nach unten eingesetzt wird, sondern auch zur positiven Durchsetzung privater Rechte von Bürgern, die auf eigene Durchsetzungsrechte verzichtet haben im Verwww.claudia-wild.de: <?page no="133"?> [UTB-S]__Willke__Systemtheorie_3_Steuerungstheorie__[Druck-PDF]/ 11.12.2013/ Seite 134 www.claudia-wild.de: [UTB-S]__Willke__Systemtheorie_3_Steuerungstheorie__[Druck-PDF]/ 11.12.2013/ Seite 135 134 trauen darauf, dass z. B. die Einhaltung (legaler) privater Verträge öffentlich abgesichert ist (Luhmann 1981, S. 158 u. 167 ff.). Schon diese hier nur skizzierte Argumentation zeigt, dass die in der Staatstheorie das Feld beherrschende Begründung des Staates als Monopol legitimer physischer Gewaltausübung nicht nur defizitär, sondern auch irreführend ist. Die Beschreibung trifft zwar gewissermaßen den Ausgangspunkt des Staates, aber gerade nicht mehr die Realität einer Gesellschaft, welche mit der Ausdifferenzierung eines politischen Systems das Problem der Gewalt in politischen Verfahren der Machtkontrolle aufhebt. Der Ausgangspunkt-- die Kontrolle illegitimer Gewaltausübung-- wird überlagert von den Folgeproblemen dieser Kontrolle. Folgeprobleme ergeben sich aus der Frage, welchen Bedarf an kollektiv-verbindlichen Entscheidungen die Gesellschaft insgesamt und die anderen ausdifferenzierten Subsysteme haben und wie die Durchsetzung dieser Entscheidungen glaubhaft gemacht werden kann. Systemtheoretisches Denken verweist darauf, dass komplexe Gesellschaftssysteme auf sich selbst reagieren, also z. B. eine Gesellschaft nach den ersten Schritten und Erfolgen einer Monopolisierung der Gewaltausübung nicht mehr die ursprüngliche ist (grundlegend Luhmann 1984, S. 599). Eine von vielen Folgen dieses Monopolisierungsprozesses ist der allmähliche Aufbau einer über politische Entscheidungen konstituierten machtbasierten Infrastruktur der Gesellschaft. Sie dient dazu, die Durchsetzung kollektiv-verbindlicher Entscheidungen zu ermöglichen und glaubhaft zu machen. Sie umfasst vor allem Polizei, Militär, Gerichte, Gefängnisse, Ministerial- und Verwaltungsbürokratien, aber auch Aspekte von Schulen, Kammern, Anstalten und Körperschaften des öffentlichen Rechts. An der Tatsache, dass auch relativ »staatslose« Gesellschaften wie die USA oder Großbritannien eine solche machtbasierte Infrastruktur aufweisen, zeigt sich noch einmal deutlich, dass der Staat mit dieser Infrastruktur nicht gleichgesetzt werden darf. Vielmehr muss man schließen, dass eine primäre Funktion der Politik-- die Stabilisierung von Ordnung und Frieden durch die Fähigkeit, kollektiv-verbindliche Entscheidungen zu treffen und durchzusetzen, notfalls mit Gewalt- - zum Aufbau einer machtbasierten Infrastruktur führt. Der Staat dagegen (oder ein funktionales Äquivalent dafür) ist Ausdruck der Idee einer bestimmten Ordnung der Macht und mithin der Idee einer bestimmten Selbstorganisation der Politik (ausführlich hierzu Willke 1992). In diese Idee können im Laufe der Gesellschaftsgeschichte noch ganz andere Bestimmungsgründe einfließen als nur das Problem personenbezogener physischer Gewalt. Zu erwarten ist dies insbesondere dann, wenn in einer weiteren Stufe der Zivilisierung sich die Vorstellung durchsetzt, dass es neben personaler physischer Gewalt noch andere, nicht weniger folgenreiche Formen der Gewalt gibt. <?page no="134"?> www.claudia-wild.de: [UTB-S]__Willke__Systemtheorie_3_Steuerungstheorie__[Druck-PDF]/ 11.12.2013/ Seite 134 www.claudia-wild.de: [UTB-S]__Willke__Systemtheorie_3_Steuerungstheorie__[Druck-PDF]/ 11.12.2013/ Seite 135 135 Beim Stichwort Infrastruktur kommt meistens diejenige großtechnischer Systeme für Verkehr, Energieverteilung und Fernkommunikation (Post, Telekommunikation) in den Sinn. Im Grunde sind diese Infrastruktursysteme Relikte des Merkantilismus und keinesfalls notwendig öffentliche Einrichtungen, wie sowohl ein internationaler Vergleich wie auch die in Europa nun flächendeckende Deregulierung und Privatisierung dieser Systeme zeigt. Es gibt wenig überzeugende Gründe, die Funktionen dieser großtechnischen Systeme als öffentliche Aufgaben wahrzunehmen. Private Unternehmen können diese Aufgaben genauso gut und häufig effizienter übernehmen. Bei genauerem Hinsehen erweist sich, dass ein genuin öffentliches Interesse sich nicht an den Einrichtungen selbst begründen lässt, sondern nur an denjenigen Aspekten ihrer Operationsweise, die mit Sicherheit und ordnungspolitischen Grundentscheidungen (wie z. B. Standards, flächendeckende Versorgung, Verhinderung von Kartellen und Monopolen, Verbot bestimmter Inhalte) zu tun haben. Solche Kontextregeln kann die Politik aber ziemlich einfach durch gesetzliche Rahmen schaffen; sie ist nicht gezwungen, die Einrichtungen selbst als öffentliche zu betreiben. Ganz anders liegen die Verhältnisse beim Typus machtbasierter öffentlicher Infrastruktur. Diese betrifft den Kern der Funktion des politischen Systems im Rahmen moderner Gesellschaften: die Monopolisierung der Ausübung legitimer Macht durch die alleinige Kompetenz, kollektiv verbindliche Entscheidungen zu treffen und durchzusetzen. Primärer Inhalt dieser Kompetenz ist die Herstellung und Sicherung von Kollektivgütern. Kollektivgüter sind die in der Differenz privat/ öffentlich als öffentlich definierte Güter (Malkin/ Wildavsky 1991; siehe Tabelle 5.1). Diese Definition ist eine politische Entscheidung und zwingt in der Regel einer Minderheit den Willen der Mehrheit auf. Aus diesem Grund ist auch ein gesonderter Begriff der meritorischen Güter nicht sinnvoll. Nach Musgrave (1978, S. 76 ff ) z. B. sind meritorische Güter sozial hoch geschätzte Güter (wie z. B. Schulfrühstück oder Sozialwohnungen), die aus einem paternalistischen Schutzinteresse öffentlich gestützt werden. Aber das gilt für alle öffentlichen Güter. Auch nationale Sicherheit oder Straßenbeleuchtung folgen aus einem Schutzinteresse, an denen bestimmte Personen und Gruppen kein Interesse haben. Die primäre Realisierung (Materialisierung) von Kollektivgütern geschieht im Aufbau von öffentlichen Infrastrukturen. Insofern hängen Kollektivgüter und Infrastrukturen eng zusammen. Letztere sind öffentliche Komplementär- und Supporteinrichtungen zur Ermöglichung und Ergänzung privater Aktivität. So gibt die machtbasierte Infrastruktur den Rahmen an Sicherheit (externe und interne Sicherheit) und Ordnung (Prozessordnungen für das Rechtssystem, Regulierung von Standards) ab, innerhalb dessen Verträge und <?page no="135"?> www.claudia-wild.de: [UTB-S]__Willke__Systemtheorie_3_Steuerungstheorie__[Druck-PDF]/ 11.12.2013/ Seite 136 www.claudia-wild.de: [UTB-S]__Willke__Systemtheorie_3_Steuerungstheorie__[Druck-PDF]/ 11.12.2013/ Seite 137 136 die wirksame Durchsetzung privater Rechte nicht mit Faustrecht, sondern durch die geregelte Aktivierung öffentlicher Gewalt möglich ist. Im Steuerungsmedium Macht realisiert das politische System einer Gesellschaft eine spezifische Art von Entscheidungen-- den Typus autoritativer Entscheidungen. Gegenüber distributiven oder kognitiven sind autoritative Entscheidungen dadurch gekennzeichnet, dass sie auf dem Machtanspruch des Souveräns beruhen. Sie sind allen anderen Entscheidungskriterien, die in anderen Entscheidungssituationen höchst wirksam sein können, vorgeordnet-- wenn und solange der Souverän darauf besteht. Das kann zu grotesken Ergebnissen führen. So kann die Legislative eines amerikanischen Bundesstaates als Souverän beschließen, dass es die Evolutionstheorie nicht gibt und dass ein Gott den Menschen geschaffen hat. Lehrer in öffentlichen Schulen zum Beispiel müssen sich dann an diese Entscheidung halten und müssen ihre eigenen (kognitiven) Entscheidungen hintanstellen-- oder auswandern. Und so kann das französische Parlament als Souverän der Regierung die Kompetenz verleihen zu beschließen, dass alle Anglizismen und Amerikanismen aus der französischen Sprache zu verschwinden haben. Alle öffentlichen Akteure und alle von öffentlichen Aufträgen abhängigen Privaten sind an diese autoritative Entscheidung gebunden, ob sie sie nun albern finden oder nicht. Andererseits haben autoritative Entscheidungen etwa gegenüber massiver ökonomischer »Macht« eine manchmal erstaunliche Wirksamkeit. Will ein Milliardenkonzern in einem geschützten Gebiet eine Teststrecke bauen und sagt ein kleiner Amtsrichter nein, so nützt auch die geballte ökonomische Macht dem Konzern nicht das Geringste. Die Teststrecke wird nicht gebaut. Ähnliches gilt gegenüber der »Macht« der Religion, der »Macht« von Verbänden oder der »Macht« der Wissenschaft. Möchte beispielsweise die Wissenschaft, vertreten durch einzelne Forscher oder Wissenschaftsorganisationen, Forschungen an Embryonen oder an genetisch verändertem Material durchführen und entscheidet die Politik als Souverän dagegen, dann kann eine solche Forschung legal nicht durchgeführt werden. In politisch verfassten Gesellschaften ist das Steuerungsmedium Macht und die zu seiner Aktivierung eingerichtete machtbasierte Infrastruktur die letzte Instanz. Jedenfalls in demokratischen Gesellschaften liegt der Sinn dieser Vormachtstellung darin, dass nur so die elementaren Rechte der Bürger wirksam zu schützen sind. Dieser Schutz aber ist überhaupt die Grundlage des Gesellschaftsvertrages und des in ihm implizierten Herrschaftsvertrages, in welchem sich autonome Individuen bereitfinden, auf die eigene Durchsetzung ihrer Rechte zu verzichten und diese Kompetenz einem Souverän zu übertragen. Überließe man die Rechtsdurchsetzung etwa dem Steuerungsmedium Geld, so könnten zwar die Reichen ihre Rechte durch entsprechende Zahwww.claudia-wild.de: <?page no="136"?> [UTB-S]__Willke__Systemtheorie_3_Steuerungstheorie__[Druck-PDF]/ 11.12.2013/ Seite 136 www.claudia-wild.de: [UTB-S]__Willke__Systemtheorie_3_Steuerungstheorie__[Druck-PDF]/ 11.12.2013/ Seite 137 137 lungen sichern, nicht aber die Mittellosen. Es gäbe dann auch keine Mittel dagegen, neben den üblichen Waren und Leistungen auch »ungewöhnliche« Waren auf dem Markt zu handeln-- etwa Seelenheil, das Leben, bestimmte Organe oder die eigene Ehre. Zum Schutz gegen solche Perversionen der ökonomischen Logik kannte schon das römische Recht die »res extra commercium«. Heute wächst die Einsicht, dass ganze Klassen von Gütern und Leistungen, insbesondere im Bereich der Qualität des Lebens und der Qualität der Umwelt, dem Einfluss des Steuerungsmediums Geld entzogen werden müssen. Sicherlich hängt die genauere Form der Definition öffentlicher Güter von der Form der Politik ab: Eine sozialistische, eine sozialdemokratische, eine liberalistische oder eine konservative Politik wird Art und Ausmaß öffentlicher Güter je unterschiedlich definieren. Aber gemeinsam ist jeder Form demokratischer Politik, dass über das Steuerungsmedium Macht autoritative Entscheidungen ermöglicht werden, die keiner anderen Logik verpflichtet sind als der Logik kollektiver Güter und individueller Rechte. Insofern trägt die Idee des Herrschaftsvertrages zwischen autonomen Individuen auch heute noch. Aber sowohl die Formen für kollektives Entscheiden wie auch die Arten der notwendigen Kollektivgüter haben sich inzwischen unter dem Druck hoher organisierter Komplexität erheblich gewandelt. Einigen Aspekten dieses Wandels wenden wir uns nun zu. 5.2 Die Schwäche der Macht In einer eigenartig paradoxen Bewegung schlägt die besondere Stärke des Steuerungsmediums Macht in Schwäche um, wenn die Umstände einer Situation oder einer systemischen Operation dazu zwingen, die Möglichkeit der Sanktionierung mit physischer Gewalt nicht nur aus sicherer Distanz zu signalisieren, sondern diese Gewalt tatsächlich auch anzuwenden. Erinnern wir uns an die oben zitierte Aussage von Popitz, wonach in gut organisierten Zusammenhängen Gewalt nur noch als Notmaßnahme auftritt, und sie eigentlich nicht mehr da ist: »Sie ist nicht Kennzeichen des Systems, sondern seiner Defekte« (1968, S. 31). Ganz ähnlich formuliert Luhmann zum Verhältnis von Macht und Zwang: »Macht verliert ihre Funktion, doppelte Kontingenz zu überbrücken, in dem Maße, als sie sich dem Charakter von Zwang annähert. Zwang bedeutet Verzicht auf die Vorteile symbolischer Generalisierung und Verzicht darauf, die Selektivität des Partners zu steuern. In dem Maße, als Zwang ausgeübt wird- - wir können für viele Fälle auch sagen: mangels Macht Zwang ausgeübt werden muß- -, muß derjenige, der den Zwang <?page no="137"?> www.claudia-wild.de: [UTB-S]__Willke__Systemtheorie_3_Steuerungstheorie__[Druck-PDF]/ 11.12.2013/ Seite 138 www.claudia-wild.de: [UTB-S]__Willke__Systemtheorie_3_Steuerungstheorie__[Druck-PDF]/ 11.12.2013/ Seite 139 138 ausübt, die Selektions- und Entscheidungslast selbst übernehmen; die Reduktion der Komplexität wird nicht verteilt, sondern geht auf ihn über« (Luhmann 1975a, S. 9). Vermutlich ist diese Formulierung überzogen. So trifft sie nicht auf Situationen zu, in denen machtbasierte Organisationen routinemäßig Zwang ausüben, etwa bei polizeilichen Verhaftungen, bei Zwang in Erziehungssystemen oder bei militärischen Einsätzen. Aber die Aussage trifft den Nagel auf den Kopf für Fälle, in denen ein machtbasiertes System glaubt, den Schein ungetrübter Mächtigkeit aufrechterhalten zu müssen, während tatsächlich die Leistungen, die es von seinen Mitgliedern oder von seinen Interaktionspartnern erwartet, mit Zwang nicht zu bekommen sind, sondern nur durch eine eigenmotivierte, über bloße Pflichterfüllung hinausgehende, professionelle Leistung. Beispiele dafür sind Fachleute wie Ärztinnen, Elektroniker, Dechiffriererinnen oder Psychologen in einer Armee. Es macht keinen Sinn, ihnen eine besonders hohe Qualität ihrer Arbeit zu befehlen. Sie hätten leichtes Spiel, einen Vorgesetzten auszubremsen. Auch auf Professionelle in Ministerien, Erziehungsanstalten und sogar in Universitäten macht machtbasierte Kommunikation wenig Eindruck, wenn sie ihre professionellen Kompetenzen betrifft. Offensichtlich bedarf es hier anderer Mittel der Motivation und mithin anderer Steuerungsmedien, um die gewünschten Resultate zu erzielen. Am ausführlichsten wird diese Bewegung wohl in der Organisationsliteratur an den Veränderungen der Rolle des Managements analysiert. Längst ist hier klar, dass es auch in einer formal hierarchisch geordneten Organisation nicht ausreicht, wenn Vorgesetzte Befehle erteilen. Schon 1938 formuliert Chester Barnard: »It is precisely the function of the executive to facilitate the synthesis in concrete action of contradictory forces, to reconcile conflicting forces, instincts, interests, conditions, positions, and ideals« (1938, S. 21). Je professioneller, dynamischer und komplexer eine Organisation ist, desto weniger können ihre Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter durch machtbasierte Kommunikation und ihren implizierten Zwang gesteuert werden. Was Frederick Taylor und Henry Ford noch mit einer minutiösen Zerteilung der organisierten Arbeit in einzelne, leicht quantifizierbare und kontrollierbare Teilaufgaben zu bewerkstelligen versuchten, ist nach der »postfordistischen« Revolution der Produktionsform endgültig Geschichte. Wer heute seine Mitarbeiter zwingen muss, hat schon verloren. Allerdings ist Zwang auch gar nicht mehr besonders gefragt, seit sich herausgestellt hat, dass Geld als alternatives Steuerungsmedium oft effektiver und produktiver ist. Nachdem sogar sozialistische Betriebe diese Lektion gelernt haben, lohnt es sich nicht mehr, dieses Thema zu vertiefen. Eher ist die Frage, ob in manchen Hinsichten nicht auch schon das Steuerungsmewww.claudia-wild.de: <?page no="138"?> [UTB-S]__Willke__Systemtheorie_3_Steuerungstheorie__[Druck-PDF]/ 11.12.2013/ Seite 138 www.claudia-wild.de: [UTB-S]__Willke__Systemtheorie_3_Steuerungstheorie__[Druck-PDF]/ 11.12.2013/ Seite 139 139 dium Geld Grenzen seiner Wirksamkeit erreicht hat, so dass es notwendig wird, nach weiteren Steuerungsressourcen Ausschau zu halten. Bleiben wir aber zunächst noch bei den Schwächen der Macht. Während Unternehmen sich unter dem unnachsichtigen Druck des Marktes verhältnismäßig schnell auf wirksamere und angemessenere Formen der Steuerung umgestellt haben, liegen die massivsten Defizite nicht ganz überraschend bei der Politik als dem System, das bislang machtbasierte Kommunikation in reinster Form und durchaus auch erfolgreich als Basis seiner Operationsweise nutzt. Auch wenn immer noch gilt, dass die gesellschaftliche Funktion der Politik in der Produktion und Durchsetzung kollektiv verbindlicher Entscheidungen zu sehen ist, so haben sich inzwischen doch nachhaltig die Bedingungen sowohl der Findung wie auch der Durchsetzung von Entscheidungen geändert (siehe auch Kapitel 2.2). Hochentwickelte Demokratien bewegen sich immer klarer auf eine Form politischer Steuerung zu, in welcher die Politik selbst bei funktionierender demokratischer Interessenmediatisierung nicht mehr allein über gesellschaftsweit verbindliche Regeln entscheiden kann, weil ihr die unabdingbare Expertise und die erforderliche Durchführungskapazität fehlen. Aus diesem weiten Feld möchte ich hier nur einen Punkt herausgreifen: die Veränderung in der Form der Güter, die in der Differenz und im Zusammenspiel von öffentlichen und privaten Akteuren hergestellt werden. Ausgangspunkt ist die klassische Unterscheidung zwischen öffentlichen und privaten Gütern von Robert Musgrave (1978, S. 57). Danach lassen sich Güter zum einen danach unterscheiden, ob ihr Konsum rivalisiert oder nicht, ob das Gut also nur entweder von A oder von B genutzt oder verbraucht werden kann; und zum anderen kann man Güter danach unterscheiden, ob ein Ausschluss vom Konsum (etwa durch Eigentum, Eingrenzung oder Beschränkung auf nur bestimmte Nutznießer) möglich ist oder nicht. Diese beiden Differenzen ergeben folgende Vier-Felder-Tabelle (siehe Tabelle-5.1; vgl. auch Systemtheorie II: Interventionstheorie, Kapitel 5.2). Damit sind die Möglichkeiten der Systematisierung unterschiedlicher Typen von Gütern nicht erschöpft. Insbesondere werden in der ökonomischen Diskussion noch private Güter mit »externen Effekten«, Clubgüter etc. und vor allem die wichtige Kategorie der »Verteilungsprobleme« behandelt, welche mit der Kategorisierung der Güter untrennbar verbunden ist (diesen Hinweis verdanke ich Fritz Scharpf ). Ich beschränke mich hier auf die Grundfälle. Gegenüber der Einteilung von Musgrave haben Malkin und Wildavsky (1991) argumentiert, dass die Differenz von privaten und öffentlichen Gütern nicht in irgendwelchen Wesensmerkmalen der Güter begründet ist, sondern ausschließlich in der autoritativen politischen Entscheidung, bestimmte Güter als Kollektivgüter und andere als private Güter zu definiewww.claudia-wild.de: <?page no="139"?> [UTB-S]__Willke__Systemtheorie_3_Steuerungstheorie__[Druck-PDF]/ 11.12.2013/ Seite 140 www.claudia-wild.de: [UTB-S]__Willke__Systemtheorie_3_Steuerungstheorie__[Druck-PDF]/ 11.12.2013/ Seite 141 140 ren. So werden gegenwärtig etwa Güter wie Postdienste, Eisenbahndienste, oder Telekommunikationsleistungen umdefiniert und nicht mehr als öffentliche, sondern als private Güter betrachtet. Umgekehrt könnte es sich als nötig erweisen, etwa bestimmte Qualitäten der natürlichen Umwelt als Kollektivgüter zu definieren. Auch wird eine konservative Politik andere Definitionen von privat und öffentlich setzen als eine sozialdemokratische oder eine grüne Politik. Gegenüber dem Idealtypus verbindlichen politischen Entscheidens sind in komplexen vernetzten Gesellschaften die Möglichkeiten der Politik in vielen Fällen, vor allem bei vielschichtigen, übergreifenden Problemlagen, auf die Teilnahme an sozietalen Verhandlungssystemen beschränkt. Sie kann nicht mehr autoritativ ohne Rücksicht auf verteilte Information, verteilte Expertise und verteilte Implementationsmöglichkeiten entscheiden. Daraus folgt, dass die Dichotomie von privaten und öffentlichen Gütern um eine dritte Kategorie von Gütern erweitert werden muss, welche aus der prinzipiell gleichgeordneten Verhandlung zwischen privaten und politischen Akteuren als gemeinsam herzustellendes Gut resultiert. Ich schlage vor, diese dritte Art kollaterale Güter zu nennen. Es sind Güter, an denen ein öffentliches Interesse besteht, deren Produktion auch eine Positivsummenbilanz erzeugt, deren Herstellung aber weder spontan auf dem Markt erfolgt, noch autoritativ von der Politik dekretiert werden kann. Aus der Sicht des politischen Systems als des mit der Definitionskompetenz ausgestatteten Funktionssystems der Gesellschaft lässt sich die Unterscheidung in folgender Weise schematisieren: Der exemplarische Fall eines kollateralen Gutes ist das gemischte, duale System der Berufsausbildung. Auf der einen Seite kann die Politik durch eine autoritative Entscheidung die Firmen nicht dazu zwingen, Lehrlinge vernünftig auszubilden, weil dies eine qualitative Leistung ist, die sich nicht mit Zwang durchsetzen lässt. Auf der anderen Seite produziert die Privatwirtschaft selbst keine gut ausgebildeten Lehrlinge, ja die Logik des Marktes verhindert dies sogar, denn eine Firma, die Geld für diese Leistung abzweigt, hätte gegenüber einer konkurrierenden Firma, die ohne diesen zusätzlichen Tabelle 5.1: Arten von Gütern nach Musgrave Konsum Ausschluss möglich nicht möglich Rivalisierend privates Gut gemischtes Gut nicht rivalisierend gemischtes Gut öffentliches Gut <?page no="140"?> www.claudia-wild.de: [UTB-S]__Willke__Systemtheorie_3_Steuerungstheorie__[Druck-PDF]/ 11.12.2013/ Seite 140 www.claudia-wild.de: [UTB-S]__Willke__Systemtheorie_3_Steuerungstheorie__[Druck-PDF]/ 11.12.2013/ Seite 141 141 Aufwand wirtschaftet, Wettbewerbsnachteile. Früher oder später müsste also die gemeinwohlorientierte, altruistische Firma vom Markt verschwinden. Das Dilemma lässt sich nur lösen, wenn beide Seiten, die öffentliche und die private, in einer bestimmten Weise zusammenarbeiten. Aufgabe der Politik ist es, eine Rahmenordnung zu schaffen, die garantiert, dass alle einschlägigen Firmen Lehrlinge ausbilden (oder äquivalente Lasten tragen), so dass keine einzelne Firma Wettbewerbsvorteile hat, wenn sie sich vor dieser Aufgabe drückt. Die Rolle der Firmen ist es, mit Hilfe dieser Rahmenordnung eine Qualität der Ausbildung zu schaffen, welche die Leistungsfähigkeit der Wirtschaft insgesamt verbessert. Die für eine Gesellschaft schlechteste Lösung wäre eine Kombination von Politikversagen und Marktversagen, also gar keine Berufsausbildung, weil dann sowohl die einzelnen Arbeitnehmer wie die Wirtschaft insgesamt ein geringeres Ausbildungsniveau und deshalb eine geringere Produktivität hätten. Für die USA, die dieser schlechtesten Lösung nahekommen, formuliert die MIT-Commission on Industrial Productivity: »Although everyone sees the need for a better-skilled work force, no one is willing to act alone to improve education« (1990, S. 21). Weitere Beispiele für kollaterale Güter sind die Vorsorge gegen bestimmte Gesundheitsrisiken wie Aids oder Drogenkonsum, die Vermeidung gefährlicher Abfälle, die Schonung der Umwelt, die adäquate familiale und quasifamiliale Versorgung von Kindern, die Nutzung menschen- und umweltfreundlicher Technologien, die Nutzung gemeinschaftlicher Verkehrsmittel, die Erreichung eines möglichst hohen Bildungs- und Qualifikationsniveaus, die Schaffung neuer Schlüsseltechnologien, die Schaffung hochqualifizierter Arbeitsplätze etc. Auffällig ist an allen diesen Beispielen, dass es sich nicht um »harte«, leicht quantifizierbare und automatisierbare Güter und Leistungen handelt, sondern um bestimmte Qualitäten der individuellen, sozialen und natürlichen Welt und bestimmte Qualitäten des Verhaltens von Individuen und sozialen Systemen. Kollaterale Güter sind dadurch gekennzeichnet, dass ihr Konsum zu bestimmten Zeiten und in bestimmten Hinsichten rivalisiert und zu anderen Tabelle 5.2: Definition der Typen von Gütern Art des Gutes Rolle der Politik öffentliches Gut Politik will und kann bereitstellen privates Gut Politik kann, will aber nicht bereitstellen kollaterales Gut Politik will, kann aber nicht allein bereitstellen Quelle: Eigene Darstellung <?page no="141"?> www.claudia-wild.de: [UTB-S]__Willke__Systemtheorie_3_Steuerungstheorie__[Druck-PDF]/ 11.12.2013/ Seite 142 www.claudia-wild.de: [UTB-S]__Willke__Systemtheorie_3_Steuerungstheorie__[Druck-PDF]/ 11.12.2013/ Seite 143 142 Zeiten und in anderen Hinsichten nicht; und dass ihre Nutzung manchmal die Nutzung durch andere ausschließt und manchmal nicht. Wenn z. B. ein hochqualifizierter Techniker oder eine fähige Ärztin für eine bestimmte Firma arbeiten, dann ist die Nutzung ihrer Qualifikation exklusiv und nur die jeweilige Firma erhöht ihr eigenes Qualifikationsniveau. Wenn diese Personen aber auf dem Arbeitsmarkt sind, dann erhöht ihre Qualifikation das Niveau der Wirtschaft und das Leistungsspektrum der Gesellschaft insgesamt. Heute hängt die Wohlfahrt gerade entwickelter Nationen von nicht trivialen Faktoren ab: Faktoren wie Qualifikationsniveau der Menschen, Produktivität der Produktionssysteme, Intelligenz der Managementsysteme, Innovativität der Forschungs- und Entwicklungslabors, Erfindung neuer Finanzierungsinstrumente, Niveau der Spar- und Investitionsquote, Intelligenz und Umweltfreundlichkeit der Produkte und Dienstleistungen etc. Der springende Punkt ist nun, dass genau diese nicht trivialen Faktoren in den Ritzen der herkömmlichen Differenz von öffentlichen und privaten Aufgaben, öffentlichen und privaten Gütern verschwinden. Da sie sich in die herkömmlichen Denkschemata nicht einordnen lassen, fühlt sich jede Seite berechtigt, der anderen Versagen vorzuwerfen und sich selbst aus der Verantwortung herauszustehlen. So lässt sich seit Langem ein Ritual der Beschwörung von Staatsversagen einerseits, von Marktversagen andererseits beobachten; und je nach politischer Konstellation kommt es zu weiteren Runden von Verstaatlichung versus Privatisierung, der Schaffung neuer Regelsysteme versus Deregulierung und umgekehrt. Aus unserer Perspektive ist klar zu erkennen, dass damit das Problem insgesamt verfehlt wird. Erforderlich scheint vielmehr zu sein, zu neuen Formen der Kooperation zwischen öffentlichen und privaten Akteuren zu kommen, zu neuen Formen der Verknüpfung von Konkurrenz und Kooperation zwischen Organisationen, zu neuen Formen der Produktion kollateraler Güter, an denen die Gesellschaft insgesamt ein elementares Interesse hat, die aber weder die Politik noch der Markt jeweils alleine hervorbringen können. Die Schwäche der Macht im Kontext komplexer Systeme hängt an der Verlagerung der Gewichte von trivialen auf nicht triviale Faktoren, an dem einschneidenden Bedeutungszuwachs von qualitativen Momenten gegenüber quantitativen Größen in der Operationsweise dieser Systeme. Mit der Unwahrscheinlichkeit des sozialen Arrangements wächst der Bedarf an Steuerung, denn nur aktive Steuerung rettet ein System vor der nivellierenden und simplifizierenden Gewalt natürlicher Entropie. Auch bloße naturwüchsige Evolution reicht für hochkomplexe Sozialsysteme nicht aus, da es seit dem aktiven Eingreifen des Menschen und seiner Systeme in die Natur eine Evolution der Evolution gibt, die zwar nicht notwendig ist, aber möglich, und die in ihrer Möglichkeit Steuerung notwendig macht. Deshalb lasst sich <?page no="142"?> www.claudia-wild.de: [UTB-S]__Willke__Systemtheorie_3_Steuerungstheorie__[Druck-PDF]/ 11.12.2013/ Seite 142 www.claudia-wild.de: [UTB-S]__Willke__Systemtheorie_3_Steuerungstheorie__[Druck-PDF]/ 11.12.2013/ Seite 143 143 nachvollziehen, warum der Macht in relativ einfachen Gemeinschafts- und Gesellschaftsformationen eine herausragende Bedeutung zukommt, nicht nur für das Hobbes’sche Problem der Ordnung, sondern für die Steuerung sozialer Prozesse insgesamt. Und die gewaltige Tradition der Macht als Steuerungsmedium könnte der Grund dafür sein, dass es heute selbst angesichts nachhaltig veränderter Bedingungen schwer fällt, die paradoxe Schwäche der Macht überhaupt zu sehen. Wäre all dies nur eine akademische Frage, so könnten wir uns zurücklehnen. So einfach liegen die Dinge aber nicht. Die beiden hier hervorgehobenen Momente, der zunehmende Steuerungsbedarf komplexer Sozialsysteme einerseits und die darin implizierte Schwäche der Macht andererseits können sich zu einer explosiven Mischung verdichten. Getroffen hat die mögliche Katastrophe bislang hauptsächlich die entwickelteren sozialistischen Gesellschaften. Sie sahen sich gezwungen, ihren steigenden Steuerungsbedarf durch mehr Macht und mehr Zwang zu decken und legten genau dadurch ihre innere Schwäche bloß. Das ist bekannt und inzwischen Geschichte. Die »Arroganz der Macht« ist aber nicht auf sozialistische Gesellschaften beschränkt. Die USA des Vietnamkrieges, das Großbritannien des Nordirland-Konflikts, die Bundesrepublik des RAF-Konflikts, das Frankreich der Mai-Unruhen waren nahe daran, in die explosive Falle einer Steigerung ihrer Ohnmacht durch Macht zu tappen. Sie alle setzten auf mehr Macht in einer Situation, in der Macht bereits kontraproduktiv wirkte und es nötig gewesen wäre, auf andere Mittel der Steuerung zu setzen. Natürlich ist man im Nachhinein manchmal klüger, und ich werde diese Beispiele deshalb nicht ausschmücken. Es kommt mir hier darauf an, zu zeigen, dass ein Verständnis des Steuerungsmediums Macht sich nicht in theoretischem Geplänkel erschöpft, sondern beträchtliche praktische Auswirkungen haben kann. Diese sind nicht auf die Ebene der Gesellschaft beschränkt. Besonders folgenschwer für Personen wie für Gesellschaften insgesamt sind möglicherweise die Veränderungen der sozialen Ordnung der Familie, die dadurch eintreten, dass in demokratischen Wohlfahrtsgesellschaften das Modell der primär machtgesteuerten Familie ausläuft. (Ich will trotz massiver gegenteiliger Evidenz nicht bestreiten, dass die personalen Beziehungen zwischen Eltern und Kindern, sowie zwischen Ehepartnern eher vom Steuerungsmedium Liebe geprägt sein können. Deshalb rede ich im Zusammenhang der Relevanz von Macht nicht von personalen Beziehungen, sondern von der sozialen Ordnung der Familie). So wie in der Schule körperliche Züchtigung bis vor kurzem üblich und zulässig war, so blicken wir auf eine triste Geschichte der Gewalt des Mannes über die Frau und der Gewalt der Eltern über die Kinder zurück. Aus vielen Gründen ändert sich diese traditionale soziale Ordnung der Familie. Die Frage ist, ob und wie der Übergang zu <?page no="143"?> www.claudia-wild.de: [UTB-S]__Willke__Systemtheorie_3_Steuerungstheorie__[Druck-PDF]/ 11.12.2013/ Seite 144 www.claudia-wild.de: [UTB-S]__Willke__Systemtheorie_3_Steuerungstheorie__[Druck-PDF]/ 11.12.2013/ Seite 145 144 einer anderen Form der Selbststeuerung gelingt und welche Vorkehrungen getroffen werden können, um auch auf der Ebene der Familie die Falle der Arroganz der Macht zu vermeiden. Stehen keine alternativen Mechanismen und Medien der Selbststeuerung zur Verfügung, so wird Scheidung der einzige Ausweg aus einer Situation misslingender machtbasierter Steuerung sein. Bei zwei berufstätigen Ehepartnern hat die Frage, wessen Beruf, wessen Arbeitsort (und mithin welcher Wohnort) und wessen Zeitmanagement bei Unvereinbarkeit Vorrang haben soll, vermutlich wenig mit Liebe zu tun und lässt sich deshalb auch nicht über das Steuerungsmedium Liebe klären. Sie hat dagegen wohl viel mit Macht zu tun, aber sie lässt sich heute auch nicht mehr legitim über das Steuerungsmedium Macht klären. Was also tun? Alois Hahn (1989) hat bei Konflikten dieser Art in jungen Ehen eine Strategie der Dissensvermeidung festgestellt, die Verständigung dadurch erlaubt, dass nicht konsensfähige Fragen schlicht als nicht wesentlich definiert werden und die Divergenzen latent bleiben. Keine besonders überzeugende Lösung. Faktisch sind Ehen und Familien mit ihren diversen Emanzipationsproblemen weitgehend allein gelassen und müssen sich irgendwie durchschlagen-- in 30 bis 50 Prozent der Fälle ist Scheidung die Folge. Die Prozentzahlen anderer Formen von Misserfolg werden nicht gemessen. Im Lichte meiner Argumentation in den ersten drei Kapiteln dürfte es nicht überraschen, dass ich die Lösung dieses Dilemmas in der Form des Verhandlungssystems vermute. Ich nehme an, dass das wachsende Gewicht der individuellen Autonomie der Familienmitglieder und die daraus folgende Komplexität der Interaktionsbeziehungen in der Familie eine Form der Selbststeuerung erzwingt, die einem lose gekoppelten Netzwerk nahekommt. Vertrauen als notwendige Voraussetzung für die Stabilität von Netzwerken wird sich zum operativen Steuerungsmedium entwickeln-- jedenfalls sehe ich keinen anderen Kandidaten für diese heikle Aufgabe. Innerhalb des Kontextes einer vertrauensbasierten Selbststeuerung ist dann durchaus denkbar, dass in den personalen Beziehungen der Familienmitglieder das Medium Liebe zur Geltung kommt. Aber das ist ein zu weites Feld für ein Einführungsbuch. Auch auf der Ebene von Organisationen lassen sich analoge Bewegungen beobachten, was ich in den Kapiteln 3 und 4 in den Grundzügen ausgeführt habe. Allerdings scheinen Organisationen im Verhältnis Person-Organisation dem Dilemma der Ohnmacht von Macht leichter ausweichen zu können, weil sie-- im Gegensatz etwa zum Sozialsystem der Familie-- wirksam auf das Steuerungsmedium Geld umschalten können (Näheres dazu im folgenden Kapitel). Erstaunlich ist eher, wie schwer sie sich tun, die offensichtlich erfolgreiche Motivations- und Steuerungswirkung von Geld jenseits von Personen auch auf systemische Beziehungen zwischen unterschiedlichen Einwww.claudia-wild.de: <?page no="144"?> [UTB-S]__Willke__Systemtheorie_3_Steuerungstheorie__[Druck-PDF]/ 11.12.2013/ Seite 144 www.claudia-wild.de: [UTB-S]__Willke__Systemtheorie_3_Steuerungstheorie__[Druck-PDF]/ 11.12.2013/ Seite 145 145 heiten der Organisation und auf die Beziehungen zwischen abhängigen Organisationen zu übertragen (intrasystemische und intersystemische Beziehungen). In den Interaktionen zwischen Abteilungen, Ebenen, Divisionen etc. einer Organisation herrscht in der Regel noch ein archaisches Modell von Anweisung und Befolgung vor. Auch im Verhältnis zu ihren Zulieferern versuchen Abnehmerfirmen in eine dominante Machtposition zu kommen, wann immer sie eine Chance dazu sehen. Nur allmählich bricht sich die Einsicht Bahn, dass dies kontraproduktiv sein könnte und dass eine über Geld gesteuerte marktförmige Koordination effektiver und effizienter wäre. Noch fremder scheint insbesondere amerikanischen, aber auch europäischen Firmen das japanische Modell zu sein, wonach die Beziehungen zwischen vertikal arbeitsteiligen Firmen statt von »cut-throat-competition« von Kooperation und vertrauensbasierter Steuerung geprägt sind-- und die Firmen sich bereiterklären, in die Vertrauensbildung erhebliche Geduld, Zeit, Energie und Aufmerksamkeit zu investieren. Alles in allem ist das Steuerungsmedium Macht also keineswegs überflüssig geworden, sondern bietet in der Form machtbasierter Infrastruktur sozialer Systeme die Grundlage für die Durchführung kollektiv verbindlicher Entscheidungen. Je komplexer und intransparenter aber die Operationszusammenhänge werden, welche für die Reproduktion eines Systems notwendig sind, desto weniger lässt sich die Selbststeuerung des Systems auf Macht allein gründen. Macht ist für das Grobe zuständig und ausreichend; ihre Kunst beschränkt sich auf negative Sanktion und Abschreckung. Für die filigrane Operationsweise hochkomplexer Systeme bedarf es differenzierter wirkender Steuerungsformen und Steuerungsmedien; und erforderlich ist insbesondere die Möglichkeit der positiven Sanktionierung, um auf die Motivationslagen autonomer Akteure zugreifen zu können. Da trifft es sich gut, dass mit der Erfindung des Geldes ein Steuerungsmedium in Erscheinung tritt, das in nahezu idealer Weise die Voraussetzungen für eine feinfühlige, positiv sanktionierende Steuerung erfüllt. <?page no="145"?> www.claudia-wild.de: [UTB-S]__Willke__Systemtheorie_3_Steuerungstheorie__[Druck-PDF]/ 11.12.2013/ Seite 146 www.claudia-wild.de: [UTB-S]__Willke__Systemtheorie_3_Steuerungstheorie__[Druck-PDF]/ 11.12.2013/ Seite 147 <?page no="146"?> www.claudia-wild.de: [UTB-S]__Willke__Systemtheorie_3_Steuerungstheorie__[Druck-PDF]/ 11.12.2013/ Seite 146 www.claudia-wild.de: [UTB-S]__Willke__Systemtheorie_3_Steuerungstheorie__[Druck-PDF]/ 11.12.2013/ Seite 147 147 6 Geld als Steuerungsmedium Steuerung ist nur dann erforderlich und ergibt nur dann Sinn, wenn ein handlungsfähiges System daran interessiert ist, dass eine naturwüchsige, ohne weiteres Zutun ablaufende Operation anders ausfällt. Steuerung verändert Präferenzen und mithin Selektionen in einem Kontext, in dem mehr als eine Option realisierbar ist und in dem die Andersartigkeit der Optionen für die Absicht der Steuerung einen Unterschied macht. Möchte zum Beispiel ein Teamleiter, dass sein Mitarbeiter eine präzise und knappe Zusammenfassung der Ergebnisse einer langwierigen Teamsitzung schreibt, dann ist eine steuernde Einflussnahme überflüssig, wenn der Mitarbeiter nach seinem Rollenverständnis dies sowieso tut. Eine steuernde Einflussnahme ist aber auch dann sinnlos, wenn der Mitarbeiter beim besten Willen die Inhalte der Sitzung nicht verstanden hat oder nicht konzise formulieren kann. Ist er dagegen nur faul und braucht eine besondere Motivierung, um gut zu arbeiten, dann ist Steuerung angezeigt. Steuerung zielt also darauf, »unwahrscheinliche« Selektionen von Optionen zu fördern, um so die Trajektorien der ablaufenden Kommunikationen in eine bestimmte Richtung zu bringen. Die operative Steuerung kann immer nur das zu steuernde System selbst ausführen, da niemand sonst in seine internen Handlungsabläufe eingreifen kann, ohne die Autonomie und Integrität des Systems zu zerstören. Operative Steuerung ist immer Selbststeuerung. Eine kontextuelle Steuerung allerdings ist auch von außen möglich, weil sie nicht in die interne Operationsweise eingreift, sondern Bedingungen setzt, an denen sich das zu steuernde System in seinen eigenen Selektionen orientieren kann, und bei Gelingen im eigenen Interesse orientieren wird. Es liegt auf der Hand, dass eine solche Einflussnahme umso besser funktioniert, je stärker das zu steuernde System auf den Steuerungsanreiz anspricht; und umgekehrt. Einen störrischen Esel kann ich mit dem Stock traktieren- - es wird nichts bewirken. Einem Atheisten kann ich mit Höllenstrafen drohen-- es wird ihn nur amüsieren. Ebenso klar ist, dass Systeme besonders zuverlässig auf Steuerungsanreize ansprechen, die im Medium ihrer Selbststeuerung formuliert sind. Wirtschaftsunternehmen reagieren äußerst sensibel auf Preissignale, politische Parteien auf Wählerwanderungen, Kirchen auf Häretiker, Forschungsinstitute auf neue Erkenntnisse etc. Für den Menschen hat Thomas Hobbes zwei leitende Motive und mithin zwei Ansatzpunkte für (operative und kontextuelle) Steuerung ausgemacht: zum einen die Angst vor Gewalt und Tod-- dies ist die Basis für die Wirksamkeit machtbasierter Kommunikation; und zum anderen die Begierde nach den angenehmen Dingen des Lebens-- dies ist der Grund für die Wirksamwww.claudia-wild.de: <?page no="147"?> [UTB-S]__Willke__Systemtheorie_3_Steuerungstheorie__[Druck-PDF]/ 11.12.2013/ Seite 148 www.claudia-wild.de: [UTB-S]__Willke__Systemtheorie_3_Steuerungstheorie__[Druck-PDF]/ 11.12.2013/ Seite 149 148 keit geldbasierter Kommunikation. Auf einen möglichen dritten Ansatzpunkt komme ich im anschließenden Kapitel zurück. Auch in dieser Fassung zeigt sich ein wichtiger Unterschied zwischen Macht und Geld als Steuerungsmedien. Macht ist an die glaubhafte Drohung mit Gewalt gebunden, Geld an das glaubhafte Versprechen einer Zahlung. Die Furcht vor Gewalt weist eine stark dichotome Verteilung auf. Sie ist entweder existent oder nicht existent. Es scheint nachrangig zu sein, ob ich einige, viel oder sehr viel Furcht habe; sobald ich Gewalt glaubhaft befürchten muss, werde ich meine Selektionen entsprechend steuern. Zudem hat die extreme Form von Gewalt, der Tod, den Nachteil, dass er nur einmal eintreten kann. (Diese etwas seltsame Formulierung ist nicht als Sarkasmus gemeint, sondern soll nur einen steuerungstheoretischen Unterschied markieren). Die Begierde nach angenehmen Dingen dagegen ist nach allen Erfahrungen praktisch grenzenlos (siehe auch Simmel 1989, S. 268 u. 327 f.). Ist eine Kategorie von Bedürfnissen gestillt, so meldet sich schon eine weitere zu Wort. Mit Geld lassen sich auch noch gut verdienende Professionelle, auch noch Multimillionäre und selbst Billionäre steuern. Selbst extreme Ausmaße von Reichtum lassen sich beliebig steigern. Geringfügige Unterschiede in den Gehältern treiben Legionen von Menschen in die lebenslange Ochsentour von »Karrieren«. Und wenn weise gewordene Männer es tatsächlich schaffen sollten, auszusteigen und sich dem wirklichen Leben zuzuwenden, dann steigen dafür ihre emanzipierten Frauen ein und versuchen, Karriere zu machen. Bevor ich ausführlicher auf die Konfusionen eingehe, die das Steuerungsmedium Geld anrichten kann, müssen wir uns allerdings erst um das »normale« Funktionieren dieses Medium kümmern. Für das Argument dieses Kapitels interessiert uns Geld in seiner Leistung als Medium der Steuerung komplexer Sozialsysteme. Geld ist sozial definiert (und durch eine politische Rahmenordnung abgesichert) als generalisierte Ressource, die im qualitativen Rahmen der Re commerciae (der legalerweise handelbaren Güter) und im quantitativen Rahmen seines Wertes die freie Befriedigung der Begierde nach den angenehmen Dingen des Lebens ermöglicht. Der Hi-Fi-Anhänger kann ein Vermögen für seine Apparate ausgeben, ein Gourmet für Kaviar, eine Professorin für Bücher. Mit der Ausnahme von Virtuosen der Askese ist Individuen diese Begierde in verlässlicher Weise eingebaut, auch wenn sie sich als autonome Personen verstehen. Der direkte Anknüpfungspunkt für die Steuerungswirksamkeit des Geldes ist deshalb die besondere »symbiotische« Verbindung zwischen Geld und physischer Bedürfnisbefriedigung. (Bei Macht, so hatten wir oben in Kapitel 5 gesagt, ist es die symbiotische Verbindung zwischen Macht und physischer Gewalt). Nicht ganz überraschend ist damit die Basis jeder Systemsteuerung die Steuerung von Menschen in ihrer Existenz als körpergebundene Einheiten. <?page no="148"?> www.claudia-wild.de: [UTB-S]__Willke__Systemtheorie_3_Steuerungstheorie__[Druck-PDF]/ 11.12.2013/ Seite 148 www.claudia-wild.de: [UTB-S]__Willke__Systemtheorie_3_Steuerungstheorie__[Druck-PDF]/ 11.12.2013/ Seite 149 149 Allerdings nur die Basis. Auf diesem Fundament können sich über abgeleitete und systemisch konditionierte Bedürfnisse höchst elaborierte und unwahrscheinliche Prozeduren und Regelsysteme geldbasierter Steuerung erheben, die ihren Ursprung in körperlichen Bedürfnissen kaum mehr verraten. Ja, es hat den Anschein, als wären es erst die in und durch Organisationen konditionierten Bedürfnisse, welche die traditionalen Selbstbegrenzungen und rituellen Korrekturen von zu viel Reichtum, etwa durch »potlach« (einem Fest, auf dem Überschuss vergeudet wird), korrumpieren und eine nach oben offene Skala symbolisch vermittelter Bedürfnisse schaffen. So schafft die typische Karriere vom Trainee zum leitenden Manager in einem Konzern erst Bedürfnisse nach einem kleinen Abteil in einem Gemeinschaftsbüro, dann nach einem kleinen eigenen Büro, dann nach einem etwas größeren Büro, dann nach einem mittleren, großen, höher gelegenen Büro, dann Eckbüro, dann mit Vorraum, dann mit angegliedertem Waschraum, dann-…. Und das ist nur der Raum. Weitere Möglichkeiten der Steigerung sind Ausstattung, Sekretärinnen, Assistenten, Dienstwagen, Firmenkreditkarte, Funktelefon, Pager, Zugang zum Firmenflugzeug und so fort ohne wirkliches Ende. Gibt es ein körperliches Bedürfnis nach einem 60 qm großen Büro? Ein körperliches Bedürfnis nach einem Funktelefon? Wenn nicht, warum wirkt es dann als Bedürfnis und kann erfolgreich für geldbasierte Steuerung genutzt werden? Geld wie Macht greifen zwar letztlich auf den Menschen zu, aber das einzigartige Potenzial dieser Steuerungsmedien erschließt sich erst einer Sichtweise, die organisierte Sozialsysteme als eigenständige, nach kurzer Anlaufzeit »freischwebende« Verdichtungen unwahrscheinlicher Kommunikationen begreifen, deren Eigendynamik fortwährend Konfigurationen erzeugt, die nicht mehr auf das Handeln, Planen und Wollen von Personen zu reduzieren sind. Zwar würde sich ohne die beteiligten Menschen nichts bewegen, aber die Dynamik komplexer Sozialsysteme ist aus den Interessen und Motiven von Personen allein nicht zu erklären. Sprache und Kommunikation insgesamt sind gut untersuchte Anwendungsfälle dieser Regel. So sind an Kommunikationen zwar immer Menschen beteiligt (wenn wir hier vom kommunikativen Verhalten intelligenter Tiere absehen), aber die Möglichkeiten, Formen, Dynamiken und Folgen von Kommunikationen hängen vom anonymen Regelsystem der Sprache ebenso ab wie von sozial definierten Perzeptionen, von organisationalen Selektivitäten ebenso wie von technischen Medien der Kommunikation, von pragmatischen Regeln und mythischen Überformungen ebenso wie von operativen Zwängen. Deshalb kann Hans-Georg Gadamer zu Recht behaupten, dass es korrekter wäre zu sagen, dass die Sprache uns spricht, als dass wir die Sprache sprechen (siehe auch Systemtheorie II, Kapitel 2.2). <?page no="149"?> www.claudia-wild.de: [UTB-S]__Willke__Systemtheorie_3_Steuerungstheorie__[Druck-PDF]/ 11.12.2013/ Seite 150 www.claudia-wild.de: [UTB-S]__Willke__Systemtheorie_3_Steuerungstheorie__[Druck-PDF]/ 11.12.2013/ Seite 151 150 Selbst für Nichtsystemtheoretiker ist diese formative Gewalt der Systeme gegenüber den kommunikativen Absichten von Personen erfahrbar. Man braucht nur den Weg eines Neulings durch die professionellen Organisationen moderner Gesellschaften verfolgen, um zu sehen, wie radikal selbst vernünftige und wohlmeinende Individuen von ihren Systemen auf Linie gebracht werden: ob junge Lehrer von Schulen, Staatsanwälte von ihren Behörden, Rechtsanwältinnen von ihren Anwaltsfirmen, Assistenten von ihren Universitäten, Pfarrerinnen von ihren Kirchen oder Ärztinnen von ihren Kliniken, sie alle beginnen, wenn es gut läuft, mit hochherzigen Ideen von Menschlichkeit und Veränderung und nahezu alle enden, wenn es normal läuft, im professionellen Zynismus der Ohnmächtigen (Goldner 1977; Sloterdijk 1983, S. 549ff ). Es besteht also wenig Anlass für den üblichen Hochmut der Personen gegenüber der Bedeutung von Sozialsystemen. Sucht man nach Aufklärung, so stellt sich heraus, dass der Hauptverdächtige nicht das Steuerungsmedium Macht ist, sondern Geld. Selbst ein Diktator kann einen Herzchirurgen schwerlich zu einer erfolgreichen Operation zwingen; aber Geld könnte wirken. Es ist hinreichend bekannt, dass sich Forschungsleistungen nicht erzwingen lassen, ja Zwang geradezu kontraproduktiv wäre. Geld dagegen wirkt selbst bei Forschern, die schon ziemlich viel davon haben. Professionelle Deformationen entstehen, so scheint es, weniger auf dem direkten Weg eines organisationalen oder institutionellen Zwangs, als vielmehr in einem indirekten Prozess schleichender Zermürbung durch die Summe vieler kleiner Kniefälle vor der Begierde nach den angenehmen Dingen des Lebens. Mit dem Steuerungsmedium Geld hat sich die Moderne ein offenbar sehr zweischneidiges Instrument der Systemsteuerung geschaffen. Die Vorteile der Möglichkeit einer positiv sanktionierenden Feinsteuerung sind ohne die Schattenseite einer »Monetarisierung« der Person und einer Vermarktung der Lebenswelt nicht zu haben. Was aber sind die Vorteile einer positiv sanktionierenden Feinsteuerung im Einzelnen? Wie gelingt es dem Geld, Steuerungswirkungen zu erzielen, vor denen Macht, Moral, Tradition und anderes kapitulieren müssen? Was macht die besondere Leistungsfähigkeit des Steuerungsmediums Geld aus? Unser erster Ausgangspunkt ist wieder einmal die Unwahrscheinlichkeit gelingender sprachlicher Kommunikation. In die natürliche Sprache sind so viele Fallen des Missverstehens, der Täuschung, des Irrtums, der Zweideutigkeit eingebaut, dass sie für die Oberfläche routinisierter Abstimmung durchaus genügt, nicht aber für die in organisierten Systemen unter der Oberfläche brodelnde Chaotik verdichteter Kommunikationen: »Mit der Sprache entsteht aber zugleich die Unwahrscheinlichkeit, dass eine derart künstliche Synthese von Information, Mitteilung und Verstewww.claudia-wild.de: <?page no="150"?> [UTB-S]__Willke__Systemtheorie_3_Steuerungstheorie__[Druck-PDF]/ 11.12.2013/ Seite 150 www.claudia-wild.de: [UTB-S]__Willke__Systemtheorie_3_Steuerungstheorie__[Druck-PDF]/ 11.12.2013/ Seite 151 151 hen trotzdem angenommen und operativ weiterverwendet wird.- … Gerade die Elaboration von Sprache gefährdet die Autopoiesis sozialer Systeme. Deshalb kommt es zu genau hier ansetzenden evolutionären Neubildungen; oder genauer gesagt: die sozio-kulturelle Evolution hat Chancen, Systeme mit höherer Komplexität aufzubauen dann und nur dann, wenn sie dieses spezifische Problem der Ablehnungswahrscheinlichkeit von zunehmend unwahrscheinlichen Annahmezumutungen lösen kann« (Luhmann 1988, S. 235). Markante Lösungen des Problems sind die symbolisch generalisierten und funktional spezifizierten Kommunikations- und Steuerungsmedien. Sie steuern verdichtete und spezialisierte Kommunikationen über die Untiefen umgangssprachlicher Verständigung hinweg und ermöglichen so den Aufbau weiterer, noch unwahrscheinlicherer systemischer Komplexität. Mit Max Weber, Talcott Parsons, Niklas Luhmann und vielen anderen gehen wir heute ziemlich übereinstimmend davon aus, dass in einem intrikaten Wechselspiel von zufälligen Variationen, passenden Selektionen und gelegentlichen Stabilisierungen (Retentionen) die Ausformung spezialisierter Funktionssysteme als Prozess der »okzidentalen Rationalisierung« und die Bildung funktionsspezifischer Steuerungsmedien (»media of interchange«, Kommunikationsmedien) in einer bestimmten gesellschaftsgeschichtlichen Konstellation gelingt und den Durchbruch zur Moderne markiert. Was die Steuerungseffekte dieser Medien betrifft, so bleibt die Besonderheit von Macht, dass aufgrund ihrer Sensitivität für Leib und Leben von Menschen ihre legitime Ausübung in die Kasernierung und in das Monopol staatlicher Aufsicht abgedrängt bleibt, während Geld im Gegensatz dazu zwar seine zentrale Funktion ebenfalls innerhalb seines speziellen Funktionssystems der Ökonomie übernimmt, darüber hinaus aber eine flächendeckende Steuerungswirkung entfaltet, weil es sich als ideales Mittel der kontextuellen Konditionierung von selbststeuernden Systemen unterschiedlichster Art entpuppt. Im gegenwärtigen Zusammenhang interessiert uns Geld deshalb weder in seiner traditionellen Rolle als Tauschmedium, als Recheneinheit oder als Medium der Wertaufbewahrung, noch in seinem »normalen« systemtheoretischen Verständnis als Medium der Selbststeuerung einer Ökonomie, die sich über die Operation der Zahlung am Maßstab von Preisen zirkulär organisiert und als Funktionssystem selbst reproduziert (dazu grundlegend Baecker 1988 und Luhmann 1988). In steuerungstheoretischer Perspektive interessiert vielmehr die besondere Eigenschaft des Mediums Geld (genauer: der vom Geldmedium induzierten Kommunikationslogik), über die Grenzen der eigentlichen Ökonomie hinauszuwirken und Transaktionen jeglicher Art mit dem Virus des ökonomischen Kalküls zu infizieren. Der paradigmawww.claudia-wild.de: <?page no="151"?> [UTB-S]__Willke__Systemtheorie_3_Steuerungstheorie__[Druck-PDF]/ 11.12.2013/ Seite 152 www.claudia-wild.de: [UTB-S]__Willke__Systemtheorie_3_Steuerungstheorie__[Druck-PDF]/ 11.12.2013/ Seite 153 152 tische Fall dafür ist die Interferenz von Ökonomie und Politik mit der Erfindung und Entwicklung des Sozialstaats seit der Reformulierung der Aufgaben der Politik im ausgehenden 19. Jahrhundert. Seit Beginn der Moderne war das Verhältnis von Ökonomie und Politik dadurch gekennzeichnet, dass die Politik die Kontextbedingungen für die Operationsweise einer freischwebenden, selbststeuernden und operativ geschlossenen Ökonomie lieferte. Innere und äußere Sicherheit, Rechtssicherheit, die Institute des Privateigentums, Vertragsfreiheit und einiges mehr sind die unabdingbaren Voraussetzungen einer modernen Ökonomie, die sie nicht selbst schaffen kann, sondern als Vorleistung der Politik ihrer Operationsform zugrunde legt. Auf der anderen Seite produziert genau diese freischwebende Ökonomie im Manchester-Kapitalismus des 19. Jahrhunderts mit Verelendung, Landflucht, Proletarisierung und der Zerstörung der traditionalen Lebensverhältnisse von Großfamilien, Dorfgemeinschaften und nachbarschaftlichen Solidarbeziehungen eine politisch so hochexplosive Situation, dass die Politik die gesellschaftlichen Externalitäten der Ökonomie nicht mehr ignorieren konnte. Seitdem definieren die Spezifika der Verflechtung von Politik und Ökonomie den Entwicklungspfad moderner Gesellschaften (Streeck 2011; Willke 2002). Ich möchte diese Verflechtung zunächst aus der Sicht der Politik, dann aus derjenigen der Ökonomie betrachten. 6.1 Geldbasierte Infrastruktur-- der Fall Sozialstaat Für die Politik bedeutete diese Verflechtung die Notwendigkeit des Aufbaus einer geldbasierten Infrastruktur. Die Frage bleibt bis heute, ob man dies als eine legitime, genuin politische Aufgabe rechtfertigen kann und ob damit die Grenze zwischen Politik und Ökonomie als jeweils operativ geschlossene Funktionskreise porös geworden ist. Dass Armut in der »ausgebildeten bürgerlichen Gesellschaft« nicht nur ein ökonomisches und mithin privates Problem ist, sondern auf den Kern des persönlichen und öffentlichen Status eines Individuums ausstrahlt, dies hat Hegel in einer Deutlichkeit gesehen, die vielen gegenwärtigen Philosophen und Theoretikern der Politik abgeht. Hegel (1983 (1819/ 20) S. 194 ff.) nennt die »moralische Degradation«, welche Arme trifft, die daran gehindert sind, die Kirchen zu besuchen, »weil es ihnen an Kleidern fehlt oder weil sie auch an dem Sonntage arbeiten müssen«. Und er nennt die Benachteiligungen, die daraus erwachsen, dass der Arme weder die Rechtspflege noch die Gesundheitspflege noch die »Hervorbringungen der Kunst« ausreichend nutzen kann: »Der Arme fühlt sich von allem ausgeschlossen und verhöhnt, und es entsteht notwendig eine innere Empörung.« Diese Empörung, von der Marx später sagt, dass sie nicht ausreiche (Avineri 1976, S. 304 Fn. 44), wird in der Gerechtigkeitstheorie von Rawls <?page no="152"?> www.claudia-wild.de: [UTB-S]__Willke__Systemtheorie_3_Steuerungstheorie__[Druck-PDF]/ 11.12.2013/ Seite 152 www.claudia-wild.de: [UTB-S]__Willke__Systemtheorie_3_Steuerungstheorie__[Druck-PDF]/ 11.12.2013/ Seite 153 153 (1981, S. 531) und der Staatstheorie von Nozick (1974, S. 239) zur Kategorie des Neides verniedlicht. Das nimmt sich umso seltsamer aus, als beide Autoren die politische Qualität tragender Institutionen der Ökonomie- - Eigentum, Marktstrukturen, Steuersystem, etc.- - durchaus sehen und eine bestimmte redistributive Funktion des Staates anerkennen. Als unanständig gilt beiden aber die Frage nach der tatsächlichen Durchsetzbarkeit abstrakter Möglichkeiten und Rechtspositionen. Rawls (1981, S. 523 f.) greift gar auf Wilhelm v. Humboldt zurück, um die Idylle einer gerechten »social union« zu beschreiben: »We are led to the notion of the community of humankind the members of which enjoy one another’s excellences and individuality elicited by free institutions, and they recognize the good of each as an element in the complete activity the whole scheme of which is consented to and gives pleasure to all«. Hegel (1983, S. 193) dagegen hatte lapidar festgestellt: »Die Entstehung der Armut ist überhaupt eine Folge der bürgerlichen Gesellschaft, und sie ergibt sich im ganzen notwendig aus derselben«. Innerhalb eines halben Jahrhunderts mussten die damals entwickelten Industriegesellschaften, vor allem England, das Deutsche Reich und Frankreich, auf die politischen Folgen der von der bürgerlichen Gesellschaft produzierten Armut reagieren. In den 1860er-Jahren entstanden in Deutschland Arbeiterparteien und Gewerkschaften und für das politische System stellte sich die »soziale Frage«. Ab 1883 wurden unter Bismarck die ersten Sozialgesetze, das Krankenversicherungsgesetz, das Unfallversicherungsgesetz und das Invalidenversicherungsgesetz verabschiedet, nicht ohne politische Auseinandersetzungen und Kompromisse (Alber 1989, S. 45 f.). Die relevanten Akteure des politischen Systems sahen es (ob aus Angst oder aus Einsicht) als notwendig an, einige der massivsten Folgen der gesellschaftssystemisch produzierten Armut durch politische Entscheidungen abzumildern. Sie veränderten damit die Aufgaben der Politik und die herrschende Staatsidee vom eher liberalistischen Laisser-faire-Staat zum eher paternalistischen Sozialstaat (ausführlich dazu Willke 1994). Ich möchte also die erste der oben gestellten Fragen damit beantworten, dass ich den Aufbau einer öffentlichen geldbasierten Infrastruktur als legitime Aufgabe der Politik betrachte. Unstrittig ist es eine legitime Aufgabe des Staates, die Ausübung von Gewalt zu kontrollieren. Gemeint ist damit traditionellerweise die Gewalt von Personen gegen Personen. Jedenfalls im Kontext entwickelter Gesellschaften ist diese Einschränkung auf Personen als Verursacher von Gewalt nicht mehr haltbar. Denn warum sollte eine Körperverletzung durch einen Schlag anders zu werten sein, als eine solche durch Arbeitswww.claudia-wild.de: <?page no="153"?> [UTB-S]__Willke__Systemtheorie_3_Steuerungstheorie__[Druck-PDF]/ 11.12.2013/ Seite 154 www.claudia-wild.de: [UTB-S]__Willke__Systemtheorie_3_Steuerungstheorie__[Druck-PDF]/ 11.12.2013/ Seite 155 154 unfälle, armutsbedingte Krankheit, Unterernährung, Obdachlosigkeit oder verschmutzte Umwelt? Natürlich sind Grenzen und Stoppregeln erforderlich. Bei physischer Gewalt ist dies die Grenze der notwendigen Selbsthilfe (Notwehr). Bei Gewalt durch Folgen der Armut ist dies die Grenze der zumutbaren Selbsthilfe, also die durch das Subsidiaritätsprinzip bezeichnete Eigenverantwortlichkeit. In dem Maße also, in dem Personen für ihre Armut nicht selbst verantwortlich sind, sondern die Armut aus bestimmten Momenten der Gesellschaftsentwicklung resultiert, erwächst dieser Gesellschaft-- wie bereits Hegel eingestehen musste-- eine eigene Verantwortung für die Kontrolle auch dieser Form der Gewalt. Der Politik moderner Gesellschaften ist hier eine neue Aufgabe erwachsen, die entsprechend die Bereitstellung eines neuen Kollektivguts-- soziale Sicherheit-- verlangt. Allerdings macht dies die Beantwortung der zweiten Frage umso schwieriger. Zusätzlich zur klassischen Funktion der Repression personaler physischer Gewalt geht es hier um die Funktion der Restitution im Sinne einer Wiedereinsetzung in den minimalen Stand persönlicher Bedürfnisbefriedigung. Die staatliche Funktion der Restitution ist genau dort legitim, wo sie durch Armut verursachten Schaden für Leib und Leben einer Person verhindern soll, wenn und soweit diese Armut nicht individuell zurechenbar ist. Inzwischen bedarf es keiner größeren Begründung mehr, dass die Funktion der Repression physischer Gewalt eine elaborierte machtbasierte staatliche Infrastruktur erfordert. Denn die Prüfung der Frage, ob eine illegitime Gewaltausübung vorliegt, involviert z. B. mit Polizei, Staatsanwaltschaft, Gerichten und Gutachtern routinemäßig einen immensen Apparat. Dann kann es kaum überraschen, dass auch die Prüfung der Frage der Bedürftigkeit und der Zurechenbarkeit bei Armut einen vergleichbaren Aufwand erfordert. Die der Kontrolle nachgelagerte, der Abhilfe dienende geldbasierte staatliche Infrastruktur umfasst etwa Versorgungs-, Sozial- und Arbeitsämter und Pflichtversicherungen; Gesundheitsämter, Sozialstationen, etc., soweit sie Beratungen, Gutachten und kostenlose minimale Gesundheitssicherung leisten; unter Umständen Wohnungsämter und Sozialwohnungen bis hin zu »food stamps« oder öffentlich subventionierten Kantinen. Allerdings bleibt ein wichtiger Unterschied zwischen machtbasierter und geldbasierter Infrastruktur: Das politische System und sein Staat können ein Monopol der Kontrolle physischer Gewaltausübung beanspruchen, im Sinne einer Kompetenzkompetenz für diese Kontrolle, weil nur so die Funktion der Politik-- die Durchsetzung kollektiv-verbindlicher Entscheidungen-- erreichbar ist. Von einem Monopol des Einsatzes von Geld (und wie ich in Kapitel 7 argumentieren werde: von Wissen) kann keine Rede sein. Allerdings ist für die Fälle Geld und Wissen ein Monopol weder erforderlich noch sinnvoll. Es ist nicht sinnvoll, weil dies die Autonomie von Ökonomie und Wissenschaft <?page no="154"?> www.claudia-wild.de: [UTB-S]__Willke__Systemtheorie_3_Steuerungstheorie__[Druck-PDF]/ 11.12.2013/ Seite 154 www.claudia-wild.de: [UTB-S]__Willke__Systemtheorie_3_Steuerungstheorie__[Druck-PDF]/ 11.12.2013/ Seite 155 155 zerstören würde; und es ist nicht erforderlich, weil im Gegensatz zur Staatsaufgabe der Repression die Aufgaben der Redistribution und der Prävention keinen ausschließlichen, umfassenden Zugriff auf die entsprechenden Ressourcen (Geld und Wissen) voraussetzen-- es genügt ein selektiver, abgeleiteter Zugriff zu dem Zweck, bei Erhaltung der Autonomie der Teilsysteme (Ökonomie und Wissenschaft) eine kontrollierende kontextuelle Steuerung zu ermöglichen. Selbst noch der Anspruch an Kontrolle ist reduziert: zum einen durch die Subsidiaritätsregel, zum anderen durch das Prinzip funktionaler Differenzierung und den daraus folgenden Primat dezentraler Autonomie. Dies klingt komplizierter als es ist. Denn im Hinblick auf das Problem der Armut und auf den Aufbau einer geldbasierten Infrastruktur gibt es spätestens seit der Etablierung der »sozialen Marktwirtschaft« ein elaboriertes Modell für eine (teilweise weitgehende) kontextuelle Steuerung der Ökonomie, ohne dass die spezifische, autonome Operationsweise der Ökonomie dadurch untergraben würde. Schwierigkeiten könnte das bisherige Argument zur Verflechtung von Politik und Ökonomie bereiten, weil ich die Qualitäten »Abhängigkeit« und »Autonomie«‹ als widerspruchsfrei kombinierbar behandle. Tatsächlich steht außer Frage, dass in modernen demokratischen Gesellschaften Politik und Ökonomie vielfältig voneinander abhängen. Keines der beiden Systeme könnte ohne die Vorleistungen des jeweils anderen als autonome Einheit bestehen (und weitere kommen natürlich hinzu, werden aber im Moment vernachlässigt). Autonomie meint also nicht Unabhängigkeit von Vorleistungen, externen Ressourcen, Kontextbedingungen etc. Autonomie bezieht sich vielmehr ausschließlich auf die interne funktionsspezifische Operationsweise des jeweiligen Systems. Trotz hochgradiger Verflechtung lässt sich sinnvoll von Autonomie sprechen, solange garantiert ist, dass die Ökonomie ihre elementaren Operationen der Zahlungen an Preisdifferenzen orientiert und alle übrigen Parameter als Datenkranz interpretiert; und die Politik ihre elementaren Operationen der kollektiv verbindlichen Entscheidung an demokratischen Machtdifferenzen orientiert und alle übrigen Parameter als »constraints« der Machbarkeit versteht. Einsichtig wird diese kunstvolle Konstruktion vor allem an Gegenmodellen. Das sozialistische Modell setzte auf Abhängigkeit aller Systeme von der Politik ohne jeweils eigene Autonomie. Zahlungen waren deshalb nicht marktpreisorientiert, sondern an politischen (Plan-)Kriterien ausgerichtet. Forschung war nicht wissensorientiert, Erziehung nicht kompetenzorientiert, Kunst nicht ästhetisch orientiert, sondern jeweils massiv deformiert durch politische Rücksichtnahmen, welche die freie Entfaltung der spezifischen Eigendynamik, Innovativität, Renitenz und Eigensinnigkeit der Bereiche erstickte. All dies ist bekannt und inzwischen Geschichte. Ein anderes <?page no="155"?> www.claudia-wild.de: [UTB-S]__Willke__Systemtheorie_3_Steuerungstheorie__[Druck-PDF]/ 11.12.2013/ Seite 156 www.claudia-wild.de: [UTB-S]__Willke__Systemtheorie_3_Steuerungstheorie__[Druck-PDF]/ 11.12.2013/ Seite 157 156 Gegenmodell ist der klerikale Gottesstaat, der sich gegenwärtig in einigen fundamentalistisch geprägten islamischen Gesellschaften durchsetzt. Auch hier gilt, dass alle Lebensbereiche, einschließlich der Politik, von der Religion abhängig sind, ohne über eigene Autonomie zu verfügen. Ohne Zweifel wird das Ergebnis das gleiche sein wie bei sozialistischen Gesellschaften: Die Eindämmung der Dynamik und Innovativität spezialisierter Funktionssysteme wird zwar umso eher gelingen, je geringer das Entwicklungsniveau dieser Gesellschaften ist. Aber auf Dauer wird sich erzwungene Simplizität und die Unterordnung der gesellschaftlichen Evolutionsdynamik unter religiöse Gebote nicht halten lassen, weil Macht, auch religiös unterfütterte Macht, dafür nicht ausreicht. Immerhin ließe sich auch für westliche Demokratien die Frage stellen, ob mit der Entfaltung der Wohlfahrtsgesellschaft und der anscheinend immer umfassenderen Zuständigkeit der Politik für alle nur denkbaren sozialen Übel nicht faktisch doch die Politik die Führung der Gesellschaft übernommen und gerade auch der Ökonomie ihre operativen Autonomie entwunden hat. Unter Gesichtspunkten der Sozialpolitik, Arbeitsmarkt- und Subventionspolitik, Wettbewerbs- und Antikartellpolitik und verstärkt auch der Umweltpolitik gibt es kaum noch Unternehmensentscheidungen, die nicht von politischen Vorgaben und Auflagen konditioniert wären. Zwischen 40 und 50 Prozent des Sozialprodukts (des erwirtschafteten Reichtums) wird von öffentlichen Haushalten aufgesogen und umgewälzt, wenn man die Sozialversicherungen und Parafisci (staatlichen Nebenbudgets) dazurechnet. Kann unter diesen Umständen die Ökonomie noch nach ihren eigenen Regeln operieren und Zahlungen ausschließlich an Preisdifferenzen orientieren? Sie kann und sie tut es. Es gibt keinen vernünftigen Zweifel daran, dass etwa die schwedische, dänische oder holländische Ökonomie privatwirtschaftlich operiert, obwohl der Wohlfahrtsstaat in diesen Ländern vergleichsweise weit vorangeschritten ist. Die Entwicklungen der letzten Jahre deuten eher darauf hin, dass ein Überziehen der wohlfahrtsstaatlichen Komponente, welches die Autonomie der Ökonomie in Gefahr brächte, Gegenmaßnahmen bewirkt, die eine Rückführung des Umfangs staatlicher Aufgaben nach sich ziehen. Bezeichnenderweise kann man häufiger sogar noch das komplementäre Argument hören: Gerade aufgrund ihres unersättlichen Finanzbedarfs seien die politischen Systeme moderner Demokratien so sehr auf die Leistungsfähigkeit ihrer Ökonomien angewiesen, dass von einer Autonomie der Politik nicht die Rede sein könne. Gegenüber hinderlichen politischen Auflagen könnten die Unternehmen immer mit Investitionsverweigerung, Arbeitsplatzabbau, Verlagerung der Produktion ins Ausland und Ähnlichem drohen und damit die Kollusion der Politik erzwingen. <?page no="156"?> www.claudia-wild.de: [UTB-S]__Willke__Systemtheorie_3_Steuerungstheorie__[Druck-PDF]/ 11.12.2013/ Seite 156 www.claudia-wild.de: [UTB-S]__Willke__Systemtheorie_3_Steuerungstheorie__[Druck-PDF]/ 11.12.2013/ Seite 157 157 Gegen dieses Argument sprechen Beobachtungen wie diejenige, dass zum Beispiel in der Bundesrepublik trotz weltweit hoher Lohn- und Lohnnebenkosten, trotz massiver Umweltschutzauflagen, etc. kein Exodus der Firmen feststellbar ist. Ohne die Problematik hier zu vertiefen lässt sich festhalten, dass Verflechtung und Autonomie sich nicht ausschließen, sondern sehr wohl kombinierbar sind, wenn und solange die Kernbereiche der Selbststeuerung und der operativen Geschlossenheit wechselseitig respektiert werden. Dass dies bislang leidlich funktioniert, lässt sich zum einen mit verfassungsrechtlichen Regeln erklären, die etwa in der Bundesrepublik für alle wichtigen Funktionssysteme eine Kernbereichsgarantie enthalten, im Übrigen aber wohl am ehesten mit dem Mangel an ernsthaften Alternativen. Wenn eine Weiterentwicklung des Funktionsprinzips moderner Gesellschaften absehbar ist, dann definitiv nicht in Richtung einer Entdifferenzierung, auch nicht in Richtung einer weiteren Verschärfung der funktionalen Differenzierung und ihrer zentrifugalen Dynamik, sondern eine Entwicklung in Richtung einer komplexeren Verschränkung von Autonomie und Interdependenz, einer stärkeren Vernetzung der Funktionssysteme in Formen der Kopplung, die je nach Problemlage losere oder engere Bindungen und Selbstbindungen zulassen. 6.2 Zur Logik geldgesteuerter Selektionen Unter dem Titel »Das Geld in den Zweckreihen« entwickelt Georg Simmel in seiner Philosophie des Geldes eine faszinierende Beschreibung der Wirkung des Geldes auf die Architektur von Zwecken. Die Fähigkeit, Zwecke zu setzen, zu verfolgen und gelegentlich zu erreichen, unterscheidet handlungsfähige Systeme von naturwüchsigen Prozessen. Die Verfolgung von Zwecken ist mithin die elementare Operation von Steuerung im Sinne der Selektion aus Optionen. Dies beginnt im Falle von Menschen bei einfachsten Projekten wie Jagen, Bauen oder dem Herstellen künstlicher Gegenstände, und es bekommt eine erste reflexive Qualität mit der Herstellung und Nutzung von Werkzeugen. Ähnlich wie nach ihm Norbert Elias geht Simmel davon aus, dass die Gesellschaftsgeschichte das, was wir Fortschritt nennen, der Fähigkeit von Menschen und sozialen Systemen verdankt, einfache und kurzfristige Handlungszusammenhänge nach und nach in komplexe und langfristige Architekturen zusammenzufügen, um so höchst »unwahrscheinliche« und künstliche Zwecke zu erreichen: »Die Kulturentwicklung geht, mit einem Wort, auf Verlängerung der teleologischen Reihen für das sachlich Naheliegende und Verkürzung derselben für das sachlich Fernliegende. Und hier tritt der äußerst wichtige <?page no="157"?> www.claudia-wild.de: [UTB-S]__Willke__Systemtheorie_3_Steuerungstheorie__[Druck-PDF]/ 11.12.2013/ Seite 158 www.claudia-wild.de: [UTB-S]__Willke__Systemtheorie_3_Steuerungstheorie__[Druck-PDF]/ 11.12.2013/ Seite 159 158 Begriff des Werkzeugs in unsere Erwägungen des Zweckhandelns ein« (Simmel 1989, S. 261). Es macht die Größe des Simmel’schen Denkens aus, dass er nicht bei dieser Erkenntnis stehen bleibt und die Komplizierung der Zweckreihen auf die Kapazitäten psychischer Systeme begrenzt- - vielleicht änderte er auch deshalb den ursprünglichen Titel seiner Abhandlung von Psychologie des Geldes in Philosophie des Geldes. Er sieht, dass über manuelle Werkzeuge hinaus auch soziale Werkzeuge, insbesondere soziale Institutionen dazu verhelfen, dass Personen sich bei der Realisierung von Zwecken engagieren können, die den einzelnen überfordern müssten und »der Einzelne Zwecke erreichen kann, zu denen sein bloß persönliches Können niemals zureichen würde« (Simmel 1989, S. 262). Den Schlusspunkt der Elaborierung von Zwecken setzt Simmel bei der Einrichtung des Geldes als der reinsten Form des Werkzeugs: »Es ist eine Institution, in die der Einzelne sein Tun oder Haben einmünden lässt, um durch diesen Durchgangspunkt hindurch Ziele zu erreichen, die seiner auf sie direkt gerichteten Bemühung unzugänglich wären« (Simmel 1989, S. 263). Für steuerungstheoretische Überlegungen ist das Simmel’sche Argument besonders aufschlussreich. Wie kann es gelingen, so war unsere Ausgangsfrage, unwahrscheinliche Selektionen von Handlungsoptionen zu fördern und für die Schaffung künstlicher Realitäten zu nutzen? Simmels Argument weist dem Geld bei dieser Aufgabe eine besonders wirksame Rolle zu, weil es »das Mittel schlechthin« ist, das der »Grenzenlosigkeit des menschlichen Wollens« zugleich allen Raum gibt und es konditionierbar macht über ebenso unendliche Differenzierungen und Differenzen, die mit Geld herstellbar sind. In diesem Punkt treffen sich Hobbes und Simmel. Beide sehen nicht nur, dass der menschliche Wunsch nach angenehmen Dingen praktisch grenzenlos ist, sondern sie sehen genau in dieser vermeintlichen Schwäche den entscheidenden Hebel für die Errichtung einer sozialen Ordnung, die in ihren Voraussetzungen und Folgen weit über den Handlungsrahmen autonomer Individuen hinausreicht. In sachlicher Hinsicht, so betonen Ökonomen bei der Charakterisierung des Geldes als Tauschmedium, befreit Geld von der Verengung der Tauschmöglichkeiten auf Naturaltausch, d. h. auf den direkten Austausch von Gütern zwischen Käufer und Verkäufer. Damit hebt sich der Handel von den sozialen, territorialen, zeitlichen und sachlichen Begrenzungen des unmittelbaren Austausches zwischen anwesenden Personen ab. Zugleich verlangt der Höhenflug des Handels gänzlich neue soziale Institutionen der Absicherung, Standardisierung, Regulierung etc., so dass zu Recht der blühende Fernhandel der Renaissancestädte Italiens als Wiege der Moderne <?page no="158"?> www.claudia-wild.de: [UTB-S]__Willke__Systemtheorie_3_Steuerungstheorie__[Druck-PDF]/ 11.12.2013/ Seite 158 www.claudia-wild.de: [UTB-S]__Willke__Systemtheorie_3_Steuerungstheorie__[Druck-PDF]/ 11.12.2013/ Seite 159 159 bezeichnet wird. Geld bewirkt eine sachliche Generalisierung von Wahlchancen, die für die mittelalterliche Welt unvorstellbar schien. Ungewöhnliche, fernliegende, exotische Güter und Dienstleistungen gelangen in den Warenkorb wählbarer Güter, sofern nur das Geld dafür aufgebracht wird. Dies betrifft nicht nur Seide, Safran oder Spitzen, sondern auch Güter, deren Disponibilität die geltende soziale Ordnung transformiert. Gegenüber dem umständlichen und sowohl sozial wie territorial begrenzten mittelalterlichen Lehenswesen lassen sich nun über den Geldmechanismus Söldnerheere aufstellen. Als einer der Ersten hat Niccolò Machiavelli die soziale Brisanz dieser über Geld eröffneten Wahlmöglichkeit erkannt und zwei Kapitel seines »Principe« den unterschiedlichen Arten von Heeren gewidmet. Auch die mittelalterliche Tradition festgefügter Gilden von Handwerkern mit ihren engen Begrenzungen von Profit, Reichtum und Luxus gerät unter dem Druck des Geldes ins Wanken. Im 16. Jahrhundert beginnt der Merkantilismus die enge Wirtschaftsordnung der Zünfte und Städte abzulösen und den sich anbahnenden Territorialstaaten eine volkswirtschaftliche Perspektive zu eröffnen. Insbesondere in Österreich und im Deutschen Reich entwickelt sich die Kameralistik als frühe wirtschaftswissenschaftliche Fundierung des Merkantilismus. Kernidee des Merkantilismus ist die Steuerung der Wirtschaftspolitik mit dem Ziel, den öffentlichen Reichtum zu mehren, um die Macht des Staates zu stärken. Öffentlicher Reichtum dient dem Unterhalt stehender Heere, dem Aufbau eines Berufsbeamtentums, der Ausrüstung kolonialer Expeditionen etc. Ziel des merkantilistisch inspirierten Handelns ist also nicht Reichtum, sondern Macht. Die Füllung der Staatskassen ist nur Mittel zum Zweck. Hier beginnt die politische Karriere des Geldes als zweckrational eingesetztes Mittel, als »Mittel schlechthin« für die Förderung staatlich-politischer Zwecke. Betrachtet man diese Entwicklungsdynamik aus der Perspektive der Steuerung komplexer Systeme, so fällt auf, dass die sachliche Generalisierung von Wahlchancen den Bereich genuin ökonomischer Operationen ausdehnt, indem ein weites Spektrum von Gütern und Dienstleistungen ausschließlich nach Kriterien geldgesteuerter Zahlungen verfügbar wird. Zugleich aber offenbart Geld eine expansive Nützlichkeit auch für außerökonomische Zwecksetzungen. Geld macht die Operationen der anderen Funktionssysteme anfällig für die Idee der Steigerung, die jedem »rationalen« Wirtschaften zwingend eingebaut ist. Auch Kirchen, Universitäten, Krankenhäuser, Armeen, Schulen, Verwaltungsapparate und selbst noch Sportvereine können nun auf die Idee kommen, ihre je idiosynkratischen autonomen Operationen durch die Infusion von Geld zu steigern. Wohlgemerkt werden sie dadurch nicht zu Wirtschaftsunternehmen, denn sie bleiben ihrer funktionsspezifischen Logik verhaftet, zudem steuern sie ihre Operationen nach wie vor nach <?page no="159"?> www.claudia-wild.de: [UTB-S]__Willke__Systemtheorie_3_Steuerungstheorie__[Druck-PDF]/ 11.12.2013/ Seite 160 www.claudia-wild.de: [UTB-S]__Willke__Systemtheorie_3_Steuerungstheorie__[Druck-PDF]/ 11.12.2013/ Seite 161 160 ihren eigenen Leitdifferenzen (Operationscodes). Aber die Schnittstellenprobleme werden drängender und es bedarf eines inzwischen elaborierten Regelsystems, um jeweils legale Konditionierung von illegalen Einflussnahmen zu trennen. Entgegen vorschnellen Schlüssen der Entdifferenzierer belegt gerade die klare Differenz von legalen Konditionierungen einerseits und illegalen Formen der Einflussnahme (wie Korruption, Ämterkauf, Bestechung, Kauf von akademischen Titeln, Doping, Freikauf vom Kriegsdienst, Kauf von Ersatzorganen etc.), dass trotz der Nutzung der Steuerungsleistung von Geld die autonome, operativ geschlossene Funktionsweise dieser Systeme nicht durchbrochen werden soll. Der Grund liegt auf der Hand: Die Gesellschaft insgesamt hat die evolutionäre Chance, ihre Eigenkomplexität zu steigern, wenn und nur wenn die spezialisierten Funktionssysteme die Möglichkeiten der Steigerung ihrer Leistungen durch Geld nutzen und zugleich den Fallen einer Simplifizierung der Gesellschaftsordnung durch Entdifferenzierung und Konfusion entgehen. Über den geduldigen und langfristigen Lernmechanismus des Rechts sind moderne Demokratien um einiges klüger als manche ihrer Soziologen, welche die Dialektik von Autonomie und Interdependenz der Funktionssysteme noch nicht verstanden haben. In der sozialen Dimension verändert das Steuerungsmedium Geld die Ordnungsfunktion hierarchischer Differenzierung (z. B. in festgefügte Stände). An deren Stelle setzt es eine fluktuierende Ordnung der Indifferenz. Geld ist charakterlos, kriterienlos und differenzlos gegenüber den bis in die frühe Moderne hinein gewichtigen Differenzen von Abstammung, Geschlecht, Stand, Glaube, Alter, sozialer Zugehörigkeit etc. Es nivelliert gnadenlos die bis dahin handlungsleitenden Unterschiede und bewirkt in der entfalteten Form, dass die Menschen nicht nur vor dem Gesetz gleich sind, sondern auch vor dem Preisschild: »Das Geld hat jene sehr positive Eigenschaft, die man mit dem negativen Begriff der Charakterlosigkeit bezeichnet. Dem Menschen, den wir charakterlos nennen, ist es wesentlich, nicht durch die innere und inhaltliche Dignität von Personen, Dingen, Gedanken sich bestimmen zu lassen, sondern durch die quantitative Macht, mit der das Einzelne ihn beeindruckt, vergewaltigt zu werden. So ist es der von allen spezifischen Inhalten gelöste und in reiner Quantität bestehende Charakter des Geldes, der ihm und den nur nach ihm gravitierenden Menschen die Färbung der Charakterlosigkeit einträgt- - die fast logisch notwendige Schattenseite jener Vorteile des Geldgeschäftes und der spezifischen Höherwertung des Geldes gegenüber qualitativen Werten« (Simmel 1989, S. 273, Hervorhebung H. W.). Kein Wunder deshalb, dass für eine lange Übergangsperiode die literarisch auffälligsten Figuren (und vielleicht auch im realen Leben) diejenigen des <?page no="160"?> www.claudia-wild.de: [UTB-S]__Willke__Systemtheorie_3_Steuerungstheorie__[Druck-PDF]/ 11.12.2013/ Seite 160 www.claudia-wild.de: [UTB-S]__Willke__Systemtheorie_3_Steuerungstheorie__[Druck-PDF]/ 11.12.2013/ Seite 161 161 Neureichen, des Geizigen, des Emporkömmlings, des verarmten Adligen sind, einschließlich der dies alles begleitenden Suche nach neuen guten Gründen für Liebe, Ehe und Familie. In der sozialen Dimension bewirkt das Steuerungsmedium Geld eine globale De-Differenzierung der Wahlchancen. Ein mäßig begabter, gleichwohl erfolgreicher Schauspieler kann ein größeres Haus kaufen als ein Professor, eine Klatschkolumnistin ein flotteres Auto fahren als eine Augenchirurgin etc. und es gibt in der Marktwirtschaft keine Instanz, die dieser schreienden Schmach Einhalt gebieten könnte. Gegenüber den klaren hierarchischen Ordnungen des Mittelalters bringt der Einfluss des Geldmediums der Moderne eine Ordnung, die auf den ständigen Fluktuationen sich bindender und sich lösender sozialer Beziehungen gründet. In den meisten Hinsichten sind diese Beziehungen durch Indifferenz gekennzeichnet, wie wir schon gesehen haben. Geld als die »Indifferenz selbst« (Simmel 1989, S. 484) eignet sich in besonderem Maße dafür, in die permanenten Fluktuationen eine Ordnung zu bringen, die mit der Fähigkeit zur Auflösung und Rekombination von Beziehungen Kontingenzen mobilisiert, anstatt sie ruhigzustellen. Mit offenen Kontingenzen allein ist natürlich kein Staat zu machen. Was garantiert, dass diese Kontingenzen zu sinnvollen Handlungsmustern und zweckrationalen Strategien verkoppelt werden? Welche Konditionierungen ordnen das Chaos indifferenter Selektionsmöglichkeiten zu genau den Verkettungen von Handlungen, die verbürgen, dass elaborierte systemische Zwecksetzungen erreicht werden, obwohl keine einzelne Person mehr kontrollieren kann, was abläuft? Eine Konditionierung durch Macht bringt durchaus Erstaunliches zustande. Damit lassen sich weitverzweigte Hierarchien von Personen, Ämtern, Abteilungen und Zwecken aufbauen, die in ihrem geordneten Zusammenspiel höchst unwahrscheinliche und elaborierte Ergebnisse hervorbringen. Immer aber ist Steuerung durch Macht gebunden an hohe Kosten der Kontrolle, an eine geringe Tiefenwirkung (»span of control«) und vor allem an die geringe Elastizität ihres symbiotischen Mechanismus der physischen Gewalt. Eine Konditionierung durch Geld hat andere Stärken und Schwächen. In der sozialen Dimension verknüpft das Medium Geld nicht Vorgesetzte und Untergebene, sondern die Teilnehmer an Tauschbeziehungen. Es transportiert als Mittel der Motivation bestimmter Handlungsselektionen nicht die implizite Drohung mit physischer Gewalt, sondern das Versprechen von Zahlungen, d. h. künftigen Nutzens. Während Drohungen und negative Sanktionierung immer Gefahr laufen, Widerstand und Gegengewalt zu provozieren, scheint sich die positive Sanktionierung durch hohe Elastizität und die Erweiterung von Handlungsspielräumen auszuzeichnen. Die »Charakterlosigkeit« des Geldes auch als Steuerungsmedium drückt sich in seiner Indifwww.claudia-wild.de: <?page no="161"?> [UTB-S]__Willke__Systemtheorie_3_Steuerungstheorie__[Druck-PDF]/ 11.12.2013/ Seite 162 www.claudia-wild.de: [UTB-S]__Willke__Systemtheorie_3_Steuerungstheorie__[Druck-PDF]/ 11.12.2013/ Seite 163 162 ferenz gegenüber den verschiedenen Zwecken aus, die spezifische Akteure mit ihren Zahlungsversprechungen verbinden. Als Käufer kann es mir egal sein, was der Verkäufer mit dem Geld anfängt, das er von mir bekommen hat. Er kann sich ganz andere Zwecke setzen, als ich sie gutheißen würde-- es geht mich nichts an. Im Zuge laufender Transaktionen wechselt das Geld seine qualitative Farbe wie ein Chamäleon. Es passt sich vollendet seiner jeweiligen Umgebung an, verschmilzt mit dem jeweiligen Kontext und löst sich doch in jeder nächsten Transaktion wieder vollständig davon. Es wirkt wie ein idealer Katalysator, dessen Stärke in seiner Indifferenz gegenüber den besonderen Zwecken des jeweiligen Handlungskontextes liegt. Es verdient festgehalten zu werden, dass jede preisorientierte Zahlung als ökonomische Operation im strengen Sinne definiert ist. Selbst wenn die Zahlung selbst nicht ökonomischen Zwecken dient, etwa politischen, karitativen oder erzieherischen, so bleibt sie eine ökonomische Operation, solange mit dem Geld auch jeder andere Verwendungszweck hätte verfolgt werden können. Entscheidend ist die Codierung der Operation nach Zahlung/ Nichtzahlung; und immer, wenn statt einer Zahlung für eine bestimmte Transaktion auch eine Nichtzahlung möglich wäre, handelt es sich um eine genuin ökonomische Operation. »Die Orientierung an anderen Werten (etwa denen der caritas, der politischen Opportunität, des Rechts usw.) bleibt selbstverständlich möglich, denn die ausgeschlossenen Drittwerte können auf der Ebene der Programme des Wirtschaftssystems durchaus berücksichtigt werden« (Luhmann 1988, S. 246). Neben der sachlichen und sozialen Dimension des Handelns ist auch die zeitliche Dimension der Systemsteuerung Veränderungen unterworfen, welche die Entfaltung des Mediums Geld mit sich bringen. Nicht nur in Fragen der Systemsteuerung wird die Bedeutung des Faktors Zeit häufig sträflich vernachlässigt. Wir haben kein Sensorium für Zeit und müssen Zeit deshalb immer mitdenken. Kein Wunder, dass das oft schief geht. Insbesondere fällt es dem menschlichen Denken schwer, sich zeitlich abhängige Systemdynamiken vorzustellen und etwa die kontra-intuitiven Wirkungen exponentialer Wachstumsraten einzukalkulieren (Dörner 1984; 1989; Forrester 1972; 1982). Wir haben gesehen, dass die Verwendung des Mediums Geld die Wahlchancen (im Sinne kontingenter Optionen) sachlich generalisiert und sozial indifferent macht. Nun müssen wir uns dem schwierigeren Gedanken zuwenden, dass die Verwendung von Geld auch die Zukunft in einer perplexen Weise disponibel werden lässt und deshalb zu Zwecken der Systemsteuerung eine möglicherweise diabolische Wirkung entfaltet. Die ökonomische Theorie kennt als reguläre Funktion des Geldes die Wertaufbewahrung. Während Güter verderben oder verrotten können, leicht zu zerstören und schwer zu verstecken sind etc., macht sich Geld von diesen <?page no="162"?> www.claudia-wild.de: [UTB-S]__Willke__Systemtheorie_3_Steuerungstheorie__[Druck-PDF]/ 11.12.2013/ Seite 162 www.claudia-wild.de: [UTB-S]__Willke__Systemtheorie_3_Steuerungstheorie__[Druck-PDF]/ 11.12.2013/ Seite 163 163 Einschränkungen der Verwendbarkeit weitgehend unabhängig. Insbesondere macht Geld ihren Inhaber unabhängig davon, zu welchem Zeitpunkt er es verwenden will: »… weil es keine konkrete, seine Verwendung präjudizierende Eigenschaften besitzt, sondern nur das Werkzeug zur Erlangung konkreter Werte ist, so ist die Freiheit seiner Verwendung ebenso groß in Bezug auf die Zeitmomente, in denen, wie auf die Gegenstände, für die es ausgegeben wird« (Simmel 1989, S. 270). Dieser generellen Indifferenz des Geldes gegenüber dem Faktor Zeit steht aber eine vielleicht noch wichtigere zeitliche Konditionierbarkeit geldbasierter Transaktionen gegenüber. Auf der einen Seite erreicht Geld eine Temporalisierung der Wahlchancen in dem Sinne, dass ein Akteur darüber entscheiden kann (also: Wahlmöglichkeiten hat), zu welchem Zeitpunkt er den Wert, den sein Geld symbolisiert, in Transaktionen realisiert. Er kann jetzt verzichten, um zu einem günstigeren Zeitpunkt zu kaufen oder zu verkaufen; er kann sparen, um jetzt nicht erreichbare Güter oder Leistungen später doch erwerben zu können; er kann jetzt Geld verleihen, um später noch mehr davon zu haben etc. Auf der anderen Seite ermöglicht gerade diese zeitliche Indifferenz des Geldes zeitliche Konditionierungen geldlicher Transaktionen nach Kriterien ihrer Wirtschaftlichkeit. Die Relevanz des Geldes expandiert auch in die Zeitdimension. In sachlicher Hinsicht bedeutet die Expansivität des Geldes, wie erwähnt, dass auch höchst unwahrscheinliche Güter und Dienstleistungen über Geld zugänglich werden. Kein Mensch »braucht« ein Auto mit 320 PS oder ein Haus mit einem Dutzend Schlafzimmern oder eine Sammlung von Tausend Paar Schuhen oder 500 Fernsehkanäle zur Auswahl. Aber all dies und viel mehr kann man legal erwerben. In sozialer Hinsicht weitet Geld die möglichen Kontakte und Transaktionsbeziehungen gesellschaftsweit (und inzwischen global) aus und expandiert über alle traditionalen Grenzen. Die Indifferenz des Geldes schafft mithin Freiheiten des Austausches, die keine andere Gesellschaftsform bietet. Tatsächlich realisiert das Steuerungsmedium Geld einen grundlegenden Teil neuzeitlicher »Freiheit als Indifferenz«, um einen Titel von Frithard Scholz (1982) zu zitieren, die darin besteht, in geldbasierten Transaktionen Selbstbestimmung verwirklichen zu können, anstatt (auch darin) durch traditionale und in diesem Sinne alteuropäische Differenzierungen gebunden zu sein. Schon in diesen beiden Sinndimensionen sind die ökonomischen und gesellschaftlichen Transformationen, die aus der Entfaltung des Geldmediums folgen, ziemlich durchschlagend. Aber sie sind einigermaßen begriffen und in ihren Konsequenzen jedenfalls in wichtigen Punkten überschaubar. Von den Veränderungen in der dritten Dimension der Zeit lässt sich das <?page no="163"?> www.claudia-wild.de: [UTB-S]__Willke__Systemtheorie_3_Steuerungstheorie__[Druck-PDF]/ 11.12.2013/ Seite 164 www.claudia-wild.de: [UTB-S]__Willke__Systemtheorie_3_Steuerungstheorie__[Druck-PDF]/ 11.12.2013/ Seite 165 164 schwerlich behaupten. Die temporalen Konditionen und Konditionierungen wirtschaftlicher Entscheidungen sind selbst in der Ökonomie eher Kunst als erprobte Praxis. Sie gestalten sich umso undurchsichtiger, je unvorhersehbarer und risikoreicher die Zukunft wird. Zwei unterschiedliche Einschätzungen in der Managementliteratur mögen dies für den Fall wirtschaftlicher Unternehmen verdeutlichen. In einer zusammenfassenden Auswertung zahlreicher Studien, die über mehrere Jahrzehnte und international streuen, kommt Elliott Jaques (1991) für den Zusammenhang von Zeit und Hierarchie zu bemerkenswerten Schlussfolgerungen. Er prüfte die Aufgaben von Mitarbeitern und Managern darauf, für welche Zeitspanne sie in ihrer jeweils langfristigsten Aufgabe verantwortlich waren. Diese Zeitspanne nennt er den »responsibility time span« der Rolle. Ein Werkstattleiter, der hauptsächlich dafür verantwortlich ist, den Arbeitsprozess des nächsten Tages zu ordnen, wie ebenso für die Arbeitseinteilung des nächsten Monats, hat eine Verantwortungs-Zeitspanne von einem Monat. Ein Entwicklungschef, der hauptsächlich in der Fehlerbehebung des aktuellen Modells engagiert ist, zugleich aber für die Vorbereitung der Arbeiten am übernächsten Modell in drei Jahren verantwortlich zeichnet, hat eine Verantwortungszeitspanne von drei Jahren. Frappierend ist nun das empirische Ergebnis seiner Studien: »To my great surprise, I found that in all types of managerial organization in many different countries over 35 years, people in roles at the same time span experience the same weight of responsibility and declare the same level of pay to be fair, regardless of their occupation or actual pay. The time-span range runs from a day at the bottom of a large corporation to more than 20 years at the top, while the felt-fair pay ranges from $15,00 to $1 million and more« (Jaques 1991, S. 113 f.). Aber damit nicht genug. Als zweites überraschendes Ergebnis fand Jaques, dass die Differenzierung hierarchischer Ebenen sehr präzise entlang bestimmter Zeitfristen verläuft. Für ihn sind es weder die sachliche Schwierigkeit oder Wichtigkeit der Aufgabe noch die soziale Kompetenz der Personen, sondern ausschlaggebend deren Verantwortungs-Zeitspanne, welche ihre hierarchische Ebene definieren: »I found several such discontinuities that appeared consistently in more than 100 studies. Real managerial and hierarchical boundaries occur at time spans of three months, one year, two years, five years, ten years, and twenty years« (Jaques 1990, S. 115). Auf der anderen Seite des Spektrums stehen Untersuchungen zu den Mustern und Verteilungen der tatsächlichen Aktivitäten von Managern. Frank <?page no="164"?> www.claudia-wild.de: [UTB-S]__Willke__Systemtheorie_3_Steuerungstheorie__[Druck-PDF]/ 11.12.2013/ Seite 164 www.claudia-wild.de: [UTB-S]__Willke__Systemtheorie_3_Steuerungstheorie__[Druck-PDF]/ 11.12.2013/ Seite 165 165 Schirmer (1991) sichtet in einem Überblick 40 Jahre »Work Activity«-Forschung und präsentiert Ergebnisse, die vor allem die extreme Zerstückelung des managerialen Arbeitstages, die Notwendigkeit reaktiven Handelns auf Kosten geplanter Aktivitäten und den scharfen Mangel an auch nur mittelfristiger Orientierung und Perspektive hervorheben. Wie lassen sich nun die formalen Verantwortungs-Zeitspannen und die realen Verteilungen von Aktivitäten unter einen Hut bringen? Ich habe nicht den Eindruck, dass gegenwärtig irgendjemand eine gute Antwort auf diese Frage hätte. Aus systemtheoretischer Sicht lässt sich die Aussage wagen, dass die zeitbezogenen Unterschiede zwischen den hierarchischen Ebenen durch unterschiedliche temporale Kontexte gekennzeichnet sind, innerhalb derer die Fragmentierung der Aktivitäten stattfindet. Zu Reflexion und Kontemplation wird immer zu wenig Zeit sein, aber die praktisch wichtigere Frage ist wohl, worauf und auf welchen Zeithorizont sich die überhaupt stattfindende Reflexion bezieht. Insgesamt verdeutlichen die Studien jedenfalls, wie durchschlagend das Steuerungsmedium Geld auch die Zeitdimension beherrscht und differentielle Zahlungen (Gehaltsunterschiede) Akteure ohne Mühe dazu bringen, sich immer weiter aus der Gegenwart in die Zukunft hinauszulehnen und zukünftige Gegenwarten zu relevanten Ereignissen für die gegenwärtige Gegenwart zu machen. Zugleich bewirken differenzielle Zahlungen nicht nur, wie Luhmann anmerkt, dass man bereit ist, »mehr oder weniger unangenehme Arbeit zu leisten, nur weil man dafür mit Geldsymbolen entschädigt wird« (1988, S. 240); Manager jedenfalls sind auch noch bereit, sich ihren Tag, ihre Aufmerksamkeit und ihr Denken in eine Serie von Flüchtigkeiten zerstückeln zu lassen, die kaum der Reflexion und noch weniger der Vision, sondern eher der Reaktion, des »trouble-shooting« und des Krisenmanagements dienen. Dennoch scheint »Vision« dasjenige zu sein, wofür einerseits Manager überproportional bezahlt werden und was auf der anderen Seite des Tauschverhältnisses der Mehrwert ist, den sie für ihre Firma erbringen. In seinem Loblied auf die Hierarchie, ebenso wie auf die Manager, meint Jaques, dass mit höherer hierarchischer Ebene die Komplexität der Aufgaben zunehme, und deshalb die Leistung des Managements darin bestehe, den Wert der Arbeit der Untergebenen durch zusätzliche Erfahrung, höheres Wissen und geistige Durchsetzungskraft zu steigern. »What they add is a new perspective, one that is broader, more experienced and, most important, one that extends further in time« (Jaques 1990, S. 117; Hervorhebung H. W.). Man mag angesichts der hartnäckigen Kritik am Management vieler Firmen, angesichts verbreiteter Strategien der Enthierarchisierung von Organisationen und der Autonomisierung von Arbeitsgruppen und Geschäftseinheiten seine Zweifel an Jaques etwas undifferenzierter Aussage haben. Aber in der Betonung der <?page no="165"?> www.claudia-wild.de: [UTB-S]__Willke__Systemtheorie_3_Steuerungstheorie__[Druck-PDF]/ 11.12.2013/ Seite 166 www.claudia-wild.de: [UTB-S]__Willke__Systemtheorie_3_Steuerungstheorie__[Druck-PDF]/ 11.12.2013/ Seite 167 166 besonderen Bedeutung der Zeitdimension möchte ich ihm zustimmen. Wenn jemand tatsächlich Perspektive und Vision in eine Organisation bringt, dann ist sie oder er äußerst wertvoll für dieses System. Die Frage bleibt natürlich, welche Kompetenzen und Erfahrungen jemanden mit der Gabe ausstatten, die Zukunft ins Auge zu fassen. In einer steuerungstheoretischen Perspektive ist bemerkenswert, dass das Medium Geld mit der Temporalisierung von Wahlchancen die Möglichkeiten der Verkettung von Handlungen in die Zukunft ausdehnt und damit Zukunft für steuernde Eingriffe zugänglich macht. Dies ist nicht so selbstverständlich, wie es heute klingt. Sicherlich kann jeder irgendwelche Pläne schmieden und irgendetwas unternehmen, damit diese sich erfüllen. Das ist nicht gemeint. Hier geht es um die kontrollierte, zweckrationale und möglichst berechenbare Beeinflussung komplexer Sozialsysteme, die so organisiert sind, dass sie Ziele erreichbar machen, die ein Individuum niemals erreichen könnte. Ich habe oft hervorgehoben, dass eine punktgenaue operative Steuerung komplexer Systeme unmöglich ist (siehe Systemtheorie I, Kapitel 6 und Systemtheorie II, Kapitel 2). Was Macht und Geld für Steuerungsabsichten so attraktiv erscheinen lässt, ist, dass beide Medien eine kontextuelle Steuerung auch komplexer Systeme erlauben. Kontextsteuerung kann darauf verzichten, Einzelheiten zu regeln. Stattdessen schafft sie generalisierte Motivationen dafür, die eigendynamischen und eigensinnigen Operationen eines Systems in eine bestimmte Richtung (Qualität, Perspektive, Vision) zu lenken. Ausgeprägter noch als Macht erlaubt die Fluidität und Elastizität des Steuerungsmediums Geld die Kombination von generalisierter Wirkung und differenzierter Dosierung, so dass sich geradezu unvermeidlich eine freischwebende Ordnung durch positive Anreize etabliert, die hinter dem Rücken der Akteure operiert und von den Akteuren selbst nur noch als unsichtbar steuernde Hand wahrgenommen wird, wenn überhaupt. Beobachten lässt sich dies zum Beispiel an der gelegentlich anzutreffenden Verwunderung von Professionellen, Selbständigen, Managern, sogar Professoren darüber, dass sie sich von ihrer »Arbeit« die Gesundheit und das Leben ruinieren lassen und als »Workaholics« dennoch davon nicht lassen können. Während der naturbelassene Mensch zu arbeiten aufhört, wenn sein Tagewerk für sich und seine Familie genug zum Überleben erbracht hat, verstrickt sich der moderne Mensch in die kollektive Hysterie verzehrender Arbeit um des Geldes oder gar um der Arbeit selbst willen. Vielleicht ist das Fortschritt. Georg Simmel führt diese Entwicklung darauf zurück, dass in archaischen Gesellschaften die Konsumption gegenüber der Produktion vorrangig ist. Die hauptsächlich agrarische Produktion betont den unmittelbaren Konsum der Güter und ein Verständnis von Arbeit, die nicht um des Besitzes <?page no="166"?> www.claudia-wild.de: [UTB-S]__Willke__Systemtheorie_3_Steuerungstheorie__[Druck-PDF]/ 11.12.2013/ Seite 166 www.claudia-wild.de: [UTB-S]__Willke__Systemtheorie_3_Steuerungstheorie__[Druck-PDF]/ 11.12.2013/ Seite 167 167 willen geschieht, sondern zur Deckung der elementaren Bedürfnisse (1989, S. 299 f.). Dieser Gedanke lässt sich dahin erweitern, dass in agrarischen Gesellschaften die Produktion von den Möglichkeiten des elementaren Konsums in Grenzen gehalten wird, während frühe Hochkulturen mit Handwerksbetrieben und Manufakturen der Eigendynamik der Produktion schon erheblich freieren Lauf lassen. Industrielle Gesellschaften verlagern ihre ökonomische Aufmerksamkeit noch weiter ins Vorfeld von Konsum und Produktion auf Investitionen als derjenigen Bedingung, die bestimmte Formen von Produktion und Konsum erst ermöglicht. Dies ist die hohe Zeit des Kapitals und des Kapitalismus-- der allerdings Veränderungen bevorzustehen scheinen. Denn insbesondere bei Schlüsseltechnologien, neue Standards schaffenden Produkten und ganze Sektoren definierende Basisinnovationen reichen noch so massive Investitionen nicht aus. Vielmehr kommt es nun vermehrt auf die Qualität von Inventionen an. Diese sind allerdings-- wie wir in Kapitel 7 sehen werden-- nicht durch Geld allein hervorzubringen. (Zur Veranschaulichung dieses Gedankens siehe Abbildung 6.1). Ich habe bereits erwähnt, dass in entwickelten Volkswirtschaften die Arbeitskosten bei Hochtechnologieprodukten gegenüber den Wissenskosten kaum mehr ins Gewicht fallen; die Bedeutung von Invention lässt sich daran messen, dass Quelle: Eigene Darstellung Archaische Gesellschaft Frühe Hochkulturen Moderne Gesellschaft Wissens- Gesellschaft Produktion Produktion Produktion Produktion Konsumtion Konsumtion Konsumtion Konsumtion Investition Investition Invention Abbildung 6.1: Rückverlagerung ökonomischer Steuerung im Zuge gesellschaftlicher Evolution <?page no="167"?> www.claudia-wild.de: [UTB-S]__Willke__Systemtheorie_3_Steuerungstheorie__[Druck-PDF]/ 11.12.2013/ Seite 168 www.claudia-wild.de: [UTB-S]__Willke__Systemtheorie_3_Steuerungstheorie__[Druck-PDF]/ 11.12.2013/ Seite 169 168 inzwischen etwa 50 Prozent der Investitionen der Privatwirtschaft nicht materieller Art sind (siehe oben Kapitel 6.1). Über die bislang behandelten drei Dimensionen hinaus hat die Verkettung von Handlungen durch Steuerungsmedien auch noch eine operative und eine kognitive Dimension (zur Herleitung und Unterscheidung dieser Dimensionen siehe Systemtheorie I, Kapitel 4). Ich möchte diese beiden Dimensionen nur kurz streifen und dann nach den symbolischen auf die diabolischen Wirkungen des Geldes eingehen. Steigerungsmöglichkeiten in der operativen Dimension beruhen auf der Reflexivität des Geldes als abstraktes, generalisiertes Symbolsystem. Reflexivität meint, dass eine Operation oder ein Prozess auf sich selbst (rekursiv) angewendet wird: Lernen des Lernens, »l’art pour l’art«, Sprechen über Sprache (Metakommunikation), Spielen des Spielens, Normieren der Normierung, Entscheiden über Entscheidungen etc. Geld generiert nicht nur Zahlungsversprechen, sondern es gibt auch Gelegenheit, virtuelle, überzogene, künstliche Zahlungsversprechen in die Welt zu setzen und dann mit ihnen zu arbeiten, als wären sie real. Mit Geld lässt sich Geld kaufen und verkaufen, Geld kann auf sich selber angewendet und zu virtuellen Gebäuden von schwindelerregender Komplexität aufgetürmt werden- - die dann allerdings reale Wirkungen und Folgen haben können. Begonnen hat die symbolische Überziehung des Geldes bereits im 12. Jahrhundert mit der Erfindung des Wechsels, zu dem später Schuldverschreibungen, Wertpapiere und andere Finanzierungsinstrumente traten, die allerdings noch ziemlich eng an reale Voraussetzungen als Sicherheiten gebunden waren. Am 15. August 1971 wurde Geld als Zahlungsversprechen zur reinen Form, als Präsident Nixon die Bindung des Dollars an den Goldstandard aufhob (Ende des »Bretton-Wood-Systems«). Seitdem entbehrt das Geld formal jeder realen Grundlage. Es wird in massiver Weise selbst zum Handelsgut auf Finanzmärkten und zunehmend zum Objekt für Spekulationen, die den Wert von Geld (in Form bestimmter Währungen) fluktuieren lassen. Im Kern geht es hier um reine Transaktionen ohne Gegenstandsbezug, motiviert und gesteuert von minimalen Differenzen der Erwartungen, Informationen, Expertise und Risikofreude global verteilter Akteure, die ihre Transaktionen elektronisch über multiple globale Informations- und Kommunikationsnetze koordinieren und abwickeln. Die großen Brocken dieser »virtuellen Ökonomie« sind Staatsanleihen, Aktien-, Fonds- und Versicherungspapiere, Optionsscheine, »junk bonds«, Verträge auf zukünftige Rechte (»futures«) und ein bunter Strauß weiterer »derivativer« Finanzinstrumente einschließlich der unkontrollierbar fluktuierenden Milliarden (man schätzt heute ein Volumen von etwa zwei Tausend Milliarden! ) an Eurodollars. Das weltweite Schattenbanken-System hat vor <?page no="168"?> www.claudia-wild.de: [UTB-S]__Willke__Systemtheorie_3_Steuerungstheorie__[Druck-PDF]/ 11.12.2013/ Seite 168 www.claudia-wild.de: [UTB-S]__Willke__Systemtheorie_3_Steuerungstheorie__[Druck-PDF]/ 11.12.2013/ Seite 169 169 der globalen Finanzkrise 2008 den nahezu unvorstellbaren Umfang des regulären Finanzsystems erreicht, und nach einer kurzen Unterbrechung durch die Krise sich weiter entfaltet (Krugman 2009; Tarullo 2012). Wie jeder reflexive Mechanismus (der Begriff kommt von Luhmann 1971, S. 92) zielt die Logik der operativen Reflexivität des Geldes auf Metasteuerung. Kommunikation über Kommunikation ist der Versuch, die Wirkungen von Sprache zu steuern, indem man (er-)klärt, wie die Wirkung der Sprache gemeint war. Das Lieben der Liebe versucht, die Liebe auf die Liebe hinzusteuern, und sie von der Fixierung auf Personen zu bewahren. »L’art pour l’art« versucht, die Kunst in eine Richtung zu steuern, in der Kunst nicht mehr dem Erleben, sondern dem Denken gefällt. Die Reflexivität des Geldes steigert den Handlungsraum geldbasierter Transaktionen buchstäblich ins Astronomische. Die intendierte Steuerung bezieht sich monomanisch auf die reine Steigerung von Transaktionen, die außerhalb des möglichen Profits keine Zwecke und keine Wertanbindung mehr haben, und die deshalb die Logik der operativen Geschlossenheit der Ökonomie am reinsten verwirklichen- - bis hin zu einer Virtualisierung oder gänzlichen Auflösung der Bindung geldbasierter Transaktionen an den symbiotischen Mechanismus der Bedürfnisbefriedigung. Mit Blick auf das Problem der Steuerung komplexer Systeme droht mit der Entfaltung der operativen Reflexivität des Geldes eine Umkehrung des Leitproblems der Steuerung. Die Frage, wie und mit welchem Erfolg Geld zur kontextuellen Steuerung komplexer Systeme eingesetzt werden kann, verblasst hinter der ungleich dramatischeren Frage, welche Akteure, Institutionen und Regelsysteme eine virtuelle Ökonomie kontrollieren könnten, die sich zum Vorreiter von Globalisierung, Digitalisierung, globaler Vernetzung, Virtualisierung und Wissensbasierung gemacht hat, und die weder von territorial gebundenen nationalen Akteuren noch von den schwach gerüsteten internationalen und transnationalen Institutionen zur Raison gebracht werden kann. Allerdings ist auch nicht wirklich klar, ob eine solche Kontrolle möglich oder gar notwendig ist. Zwar gab es seit 1987 mindestens zwei gewaltige elektronische Börsenkräche, die vor allem durch automatisch ablaufende Computertransaktionen ausgelöst wurden. Erstaunlich ist dennoch, dass diese Wertkorrekturen, die formal größer waren als die Börsenverluste der Weltwirtschaftskrise, in der realen Ökonomie wenig Auswirkungen hatten und vom Publikum wenig beachtet wurden. »The crash of October 19 happened in cyberspace. It was one of cyberspace’s first real disasters. But it was not precipitated by information of a strictly financial nature. In fact, while investors grew panicky in the <?page no="169"?> www.claudia-wild.de: [UTB-S]__Willke__Systemtheorie_3_Steuerungstheorie__[Druck-PDF]/ 11.12.2013/ Seite 170 www.claudia-wild.de: [UTB-S]__Willke__Systemtheorie_3_Steuerungstheorie__[Druck-PDF]/ 11.12.2013/ Seite 171 170 summer of 1987, the world’s underlying economic situation had changed very little« (Kurtzman 1993, S. 113). Die Hilflosigkeit nachträglicher Kontrollen brachte der britische Historiker Paul Johnson auf den Punkt: »What has happened shows the two distinct time frames under which we now operate. On the one hand, there was the crash. It happened worldwide and was over within a matter of minutes. It was electronic. On the other hand, now the governments of the world will have to take a look at events. Studies will be commissioned, inquiries will be held. It will take months, perhaps years, before the reports are finished and legislative action is taken. And when the governments finally do act, because of the time lag, the situation may have already changed dramatically. Or worse, when the reports are released, no one will any longer be interested in what they say« (zit. in Kurtzman 1993, S. 118). Die Wucherungen der virtuellen Ökonomie weisen bereits deutlich über die operative Dimension der Handlungsverkettung hinaus auf die kognitive Dimension. Die Transaktionen in der virtuellen Ökonomie hängen kaum noch von den traditionellen wertbildenden Faktoren wie Rohstoffe, Arbeit und produktivem Aufwand ab, sondern von minimalen Informations- und Wissensdifferenzen. Diese lassen sich in maximaler Weise ausbeuten, wenn sie als geeignete Indikatoren in hochkomplexe mathematische Modelle erwarteter Preisveränderungen eingesetzt und mit Hilfe automatisierter elektronischer Programme praktisch ohne Zeitverzug in Kauf- oder Verkaufsentscheidungen umgesetzt werden. Die Wissensbasierung dieser Transaktionen ist beeindruckend. Die mathematischen Modelle stammen von Nobelpreisträgern, die elektronische Hard- und Software-Ausrüstung der neuen Börsen, Maklerhäuser und Investitionsfirmen sind »state-of-the-art« und die Kommunikations- und Informationsnetze der spezialisierten Firmen (Reuters, AT&T, MCI, Sprint, Kreditkartenfirmen, Globex in Chicago, Salomon, und eine Reihe kleinerer Spezialfirmen wie z. B. High Frequency Economics in New York, die für 15,000 Dollar pro Jahr weltweite Zinsprognosen liefert) stellen alles Bisherige in den Schatten. Die Folge ist der Aufbau von Beobachtungsinstrumenten und -möglichkeiten, die Unterschiede relevant machen, die bislang überhaupt nicht bemerkt, geschweige denn genutzt worden sind: »The new megabyte standard has been built to take advantage of miniscule changes in price-- not just the price of stocks and bonds but the price of anything that can be charted, bundled, and traded. It was created to make profits from shifts that in the past would simply have been ignored« <?page no="170"?> www.claudia-wild.de: [UTB-S]__Willke__Systemtheorie_3_Steuerungstheorie__[Druck-PDF]/ 11.12.2013/ Seite 170 www.claudia-wild.de: [UTB-S]__Willke__Systemtheorie_3_Steuerungstheorie__[Druck-PDF]/ 11.12.2013/ Seite 171 171 (Kurtzman 1993, S. 39; Hervorhebung H. W.); ausführlich dazu (Willke, Becker and Rostasy 2013). Mit zunehmender Wissensbasierung wird die Steuerung von Handlungsketten voraussetzungsvoller und von elaborierten Programmen und Technologien abhängig, die keineswegs jedem zur Verfügung stehen. Im Einzelnen werde ich darauf im folgenden Kapitel zurückkommen. Hier möchte ich hervorheben, dass die neuen Möglichkeiten und Zwänge der kognitiven Konditionierung von Zahlungsentscheidungen paradoxe Folgen zeitigen. Zum einen expandierte die Steuerungskapazität des Mediums Geld in Differenzen hinein, die bislang übersehen oder schlicht als irrelevant behandelt wurden. Damit kommen Ansatzpunkte für kontextuelle Steuerung in den Blick, die belegen, dass das Potenzial marktförmiger Steuerung noch keineswegs ausgeschöpft ist. Andererseits aber scheint die majestätische Indifferenz des Geldes gefährdet durch Differenzen der Expertise. Ob sich diese Differenzen durch Lernen, Ausbildung etc. egalisieren lassen, ist eher fraglich. Schließlich ist bereits absehbar, dass nun die Logik des Geldes die Logik des universal zugänglichen und frei verfügbaren Wissens infiziert und es sich lohnt, Wissen geheim zu halten, abzuschotten und privilegiert zu nutzen. Zur besseren Übersicht fasse ich die Überlegungen dieses Abschnittes in einer Tabelle zusammen (siehe Tabelle 6.1). Am Beginn dieses Abschnitts stand Georg Simmels Aussage, die Charakterlosigkeit und Indifferenz des Geldes sei die fast logisch notwendige Schattenseite seiner Vorteile. Wir betrachten uns nun diese Schattenseite etwas genauer, um zu einer abgerundeteren Einschätzung der Steuerungswirkung des Geldmediums kommen zu können. Tabelle 6.1: Dimensionen und Wirkungen des Geldes als Steuerungsmedium Dimension Steuerungswirkung ökonomisch sozietal sachlich Generalisierung der Wahloptionen Idee der Steigerung sozial De-Differenzierung der Wahloptionen Ordnung der Indifferenz zeitlich Temporalisierung der Wahloptionen Disponibilität der Zukunft operativ Reflexivität der Wahloptionen Virtuelle Ökonomie kognitiv Wissensbasierung der Wahloptionen Monetarisierung des Wissens Quelle: Eigene Darstellung <?page no="171"?> www.claudia-wild.de: [UTB-S]__Willke__Systemtheorie_3_Steuerungstheorie__[Druck-PDF]/ 11.12.2013/ Seite 172 www.claudia-wild.de: [UTB-S]__Willke__Systemtheorie_3_Steuerungstheorie__[Druck-PDF]/ 11.12.2013/ Seite 173 172 6.3 Die Armut des Geldes Buddhistische Mönche, Franziskaner, Eremiten und Säulenheilige aller Art schwören dem Geld ab und verpflichten sich freiwillig auf Armut. Warum? Geld scheint unerwünschte Wirkungen zu haben, die sich nur dann kontrollieren lassen, wenn man sich radikal von ihm unabhängig macht. Nun hat jedes Ding auf dieser Welt Schattenseiten-- warum sollte das Geld eine Ausnahme sein? Die menschlichen Kosten des Geldmechanismus, die ei nem Humanisten auffallen würden, hat Georg Simmel unter Stichworten wie Geldgier, Geiz, Verschwendung, Zynismus und Blasiertheit ausreichend beschrieben (1989, S. 304). Wer sich daran stört und um sein Seelenheil fürchtet, der ist tatsächlich gezwungen, sich in irgendeiner Weise von den Wirkungen des Geldes auf den Charakter der Person unabhängig zu machen. Worin aber bestehen die sozialen, vor allem die organisationalen und sozietalen Schattenseiten des Geldes? Sie treten hervor, wenn Organisationen und gesellschaftliche Funktionssysteme sich auf Geld einlassen, ohne darüber Rechenschaft abzulegen, dass die Symbolik des Geldes und die darin begründete Generalisierungsleistung nicht zu bekommen ist ohne die komplementäre Diabolik des Geldes: »Eine Einsicht, die weithin verlorengegangen zu sein scheint, ist jedoch: dass mit dem Sýmbolon zugleich auch das Diábolon gesetzt ist. Die Einheit der Differenz kann in Richtung auf das Zusammen des Unterschiedenen, aber auch in Richtung auf das Auseinander artikuliert werden-…. Symbolisch generalisierte Kommunikationsmedien sind diabolisch generalisierte Kommunikationsmedien. Das, was verbindet, und das, was trennt, wird aneinander bewusst« (Luhmann 1988, S. 258). Was können wir aus diesen etwas kryptischen Aussagen herauslesen? Die am wenigsten problematischen Wirkungen entfaltet das Geld in der Ökonomie selbst, als einem der autonomen Funktionssysteme der Gesellschaft. Die Ökonomie profitiert von der Symbolik des Geldes in allen oben behandelten fünf Dimensionen. Sie erweitert den Raum der Handlungsoptionen in unvorstellbarem Ausmaß, aber sie kontrolliert diese Expansion an der Logik des Geldes, die innerhalb der Ökonomie kongenial zum Operationsmodus des Funktionssystems arbeitet und deshalb die Autonomie und Eigengesetzlichkeit der Ökonomie trägt. Innerhalb der Ökonomie strahlt die Symbolik des Geldes in vollem Glanz und lässt keinen Winkel unausgeleuchtet. Die Schatten, die dieser Glanz wirft, treffen die Funktionssysteme der Gesellschaft außerhalb der Ökonomie. Sie müssen sich der expansiven Dynamik des Geldes erwehren, um ihre eigene Autonomie, ihre eigene Logik <?page no="172"?> www.claudia-wild.de: [UTB-S]__Willke__Systemtheorie_3_Steuerungstheorie__[Druck-PDF]/ 11.12.2013/ Seite 172 www.claudia-wild.de: [UTB-S]__Willke__Systemtheorie_3_Steuerungstheorie__[Druck-PDF]/ 11.12.2013/ Seite 173 173 und die spezifische Rationalität ihrer Zwecke zu bewahren. Es ist nicht ganz leicht zu sehen, warum dies so schwer fallen sollte. Immerhin verfügen etwa die Politik mit dem Medium Macht oder die Wissenschaft mit dem Medium Wissen über eigene Steuerungsmedien mit eigener Bedeutung. Die auseinandersetzende und letztlich zersetzende- - und in diesem Sinne diabolische- - Wirkung des Geldes scheint dort einzurasten, wo andere Funktionssysteme aus internen Gründen Immunschwächen zeigen und die schwierige Balance von Autonomie und Interdependenz zu verlieren beginnen. Der Kern des Problems der Balance betrifft die Dignität von Zwecken, oder genauer: von sozietalen Funktionen. Solange klar ist, dass in funktional differenzierten Gesellschaften keine einzelne Funktion einen Primat beanspruchen kann, ohne die delikaten Interdependenzbeziehungen zu ruinieren, solange kann es gelingen, die Ordnung einer Gesellschaft auf den Pluralismus divergierender Zwecke zu gründen und aus der wechselseitigen Beschränkung der Zwecke der Gefahr des Absolutismus nur eines Zweckes gegenzusteuern. So klischeehaft es klingt, so richtig bleibt doch, dass die sozialistischen Gesellschaften in erster Linie daran gescheitert sind, dass sie die Zwecke der Politik absolut gesetzt und alle anderen gesellschaftlichen Funktionen zu Befehlsempfängern degradiert haben. Für demokratische Industriegesellschaften bleibt die vorrangige Gefahr diejenige eines Absolutismus ökonomischer Zwecke, wenn sie es zulassen, dass die Expansivität der Ökonomie eine gesellschaftliche Ordnung der Indifferenz schafft, in der die Zukunft ökonomisch disponibel wird, eine virtuelle Ökonomie die reale Ökonomie der Güter und Dienstleistungen erstickt, und eine fortschreitende Monetarisierung des Wissens die einzige Instanz stranguliert, die unabhängige Situationsdefinitionen produzieren könnte. Der Ansatzpunkt für Abhilfe ist also nicht die Ökonomie, sondern das Zusammenspiel der spezialisierten Funktionssysteme moderner Gesellschaften. Jedes autonom gesetzte Funktionssystem arbeitet zunächst nach einer Logik der Steigerung, weil interne Stoppregeln fehlen und selbstreferenzielle Operationen sich selbst verstärken. Restriktionen müssen deshalb von außen kommen. Erst auf einer sehr reflektierten Stufe der Entwicklung wird ein System in der Lage sein, diese externen Restriktionen zu antizipieren und vorsorglich intern zur berücksichtigen. So wie sich Sozialität in menschlichen Beziehungen auch erst einstellt, wenn Personen sich in ihren- - prinzipiell absoluten-- Freiheiten wechselseitig begrenzen und die eigene Freiheit in der Freiheit des anderen notwendig ihre Grenze findet, so gilt auch für Sozialsysteme, dass Kompatibilität und Kooperation nur um den Preis eingegrenzter Autonomien zu bekommen sind. Die Eingrenzung betrifft die Auswahl von Optionen, nicht die elementare Operationsweise und Selbststeuerung. Stehen aber mehrere Optionen zur Auswahl, dann wird ein System die für seine <?page no="173"?> www.claudia-wild.de: [UTB-S]__Willke__Systemtheorie_3_Steuerungstheorie__[Druck-PDF]/ 11.12.2013/ Seite 174 www.claudia-wild.de: [UTB-S]__Willke__Systemtheorie_3_Steuerungstheorie__[Druck-PDF]/ 11.12.2013/ Seite 175 174 Umwelt verträglichere wählen, wenn es annehmen kann, dass andere Systeme dies umgekehrt auch tun. Dieser ebenso schlichte wie wirksame Mechanismus der Reziprozität scheint auf organisationaler und vor allem auf sozietaler Ebene dadurch aus der Balance zu geraten, dass die beteiligten Menschen in ihrer Beschränkung zu Störfaktoren im filigranen Arrangement der sozietalen Architektur werden. Simmel hat dies in aller Schärfe gesehen: »Es bedarf wohl keines besonderen Nachweises, dass diese Vordatierung des Endzwecks an keiner Mittelinstanz des Lebens in solchem Umfange und so radikal stattfindet als am Geld. Niemals ist ein Objekt, das seinen Wert ausschließlich seiner Mittlerqualität, seiner Umsetzbarkeit in definitivere Werte verdankt, so gründlich und rückhaltlos zu einer psychologischen Absolutheit des Wertes, einem das praktische Bewußtsein ganz ausfüllenden Endzweck aufgewachsen.- … Indem sein Wert als Mittel steigt, steigt sein Wert als Mittel, und zwar so hoch, dass es als Wert schlechthin gilt und das Zweckbewußtsein an ihm definitiv Halt macht. Die innere Polarität am Wesen des Geldes: das absolute Mittel zu sein und eben dadurch psychologisch für die meisten Menschen zum absoluten Zweck zu werden, macht es in eigentümlicher Weise zu einem Sinnbild, in dem die großen Regulative des praktischen Lebens gleichsam erstarrt sind« (Simmel 1989, S. 298; letzte Hervorhebung H. W.). Dem ist für die Ebene des Psychischen nichts hinzuzufügen. Simmels klarsichtige Beobachtung eröffnet eine Perspektive, in der zudem zu erkennen ist, dass auch die großen Regulative des sozietalen Lebens zu erstarren drohen. Der durchschlagende Erfolg der Steuerungswirkung geldbasierter Kommunikationen im praktischen Bewusstsein der meisten Menschen macht es für Sozialsysteme schwierig, sich dem Sog der Verengung der Endzwecke auf Mehrung des Profits entgegenzustemmen. Das ist umso erstaunlicher, als in der Operationslogik der Politik, der Wissenschaft, des Gesundheitssystems, der Religion, der Kunst, des Erziehungssystems, der Familie etc. das Profitmotiv ein degenerativer Fremdkörper ist, der die Realisierung der eigenen Zwecke und die Wirksamkeit der eigenen großen Regulative nur behindert. Solange es aussichtslos erscheint, die Mehrzahl der Menschen zu Franziskanern oder zu Systemtheoretikern zu machen, bleibt das praktische Problem, wie sich die autonome Operationsweise der Funktionssysteme (außerhalb der Ökonomie) gegen den Virus der Logik geldbasierter Kommunikationen besser immunisieren ließe. Der Kampf ist keineswegs verloren. Immer noch schottet sich etwa das Erziehungssystem oder die Forschung in den entwickelten Demokratien Europas ziemlich erfolgreich gegen eine Steuerung durch Geld ab, auch wenn die ersten Breschen einer Kienbaum-Optimierung in ihre <?page no="174"?> www.claudia-wild.de: [UTB-S]__Willke__Systemtheorie_3_Steuerungstheorie__[Druck-PDF]/ 11.12.2013/ Seite 174 www.claudia-wild.de: [UTB-S]__Willke__Systemtheorie_3_Steuerungstheorie__[Druck-PDF]/ 11.12.2013/ Seite 175 175 Wälle geschlagen sind. Die teilweise gelingende Reform des Gesundheitssystems in Deutschland und die größtenteils misslingende Reform in den USA zeigen unterschiedliche Fähigkeiten der relevanten Akteure, die Logik des Gesundheitssystems von einer Überfremdung durch Geld freizuhalten. Selbst das Sportsystem beginnt sich gegen seine Kolonialisierung und Ausbeutung durch das Profitmotiv zu wehren (Bette 1995). Aber der Kampf wird schwieriger, weil, wie Simmel schon sah, die großen Regulative alternativer Zwecke zu erstarren drohen. Aus einer zunächst unvermuteten Richtung könnte allerdings Bewegung in das System kommen. In vieler Hinsicht hat das Geld sein Spiel reflexiver Steigerung und diabolischer Zersetzung so weit getrieben, dass es an empfindlichen Punkten zu seinem Ausgangspunkt zurückkehrt: an seine Anbindung an die Befriedigung menschlicher Bedürfnisse und an seine symbiotische Verknüpfung mit dem menschlichen Streben nach den angenehmen Dingen des Lebens. Je massiver die diabolische Wirkung des Geldes zu Bewusstsein kommt, in der gegenwärtigen Verfassung die Produktion der angenehmen Dinge nur um den Preis einer mitlaufenden Zerstörung der natürlichen Grundlagen des Wirtschaftens leisten zu können, desto problematischer und risikoreicher wird der Genuss dieser angenehmen Dinge. Tatsächlich stecken wir zumindest in den Anfängen einer grundlegenden Umorientierung des Wirtschaftens aufgrund des externen Drucks einer teilweise unwiederbringlich zerstörten Umwelt und einer paradoxen Verarmung der Qualität des Lebens inmitten eines gigantischen Angebots an Gütern und Dienstleistungen. Immerhin ist es nicht ausgeschlossen, dass die Ökonomie im eigenen Interesse an der Erhaltung ihrer Operationslogik diesen externen Druck internalisiert und für eine Reorganisation der Selektion ihrer Optionen nutzt, wenn ganze Regionen- - und ihre Menschen- - am Wohlstandsmüll, an schädlichen Nebenwirkungen von Produktion und Konsum, an den verdeckten Risiken nicht beherrschter Technologien zugrunde zu gehen drohen. Man sollte sich wohl keine Illusionen darüber machen, wie stark der dafür erforderliche Leidensdruck sein muss. Aber er wird kommen. Dirk Baecker hat diesen Zusammenhang in eine schöne theoretische Figur gefasst. Er geht einen Schritt über Luhmanns Unterscheidung von symbolischer und diabolischer Wirkung des Geldes hinaus und schließt einen dritten Gesichtspunkt ein, den er die metabolische Wirkung des Geldes nennt: »Die Metabolik des Geldes-… ist bisher noch nicht systematisch in eine Medientheorie aufgenommen worden, kann aber den zahlreichen Forderungen gerecht werden, das Geld auch auf eine theoretisch kontrollierte Weise ökologisch beobachten zu können. Hier geht es um die Frage der Auswirkungen des Geldmechanismus auf den Stoffwechselprozeß der <?page no="175"?> www.claudia-wild.de: [UTB-S]__Willke__Systemtheorie_3_Steuerungstheorie__[Druck-PDF]/ 11.12.2013/ Seite 176 www.claudia-wild.de: [UTB-S]__Willke__Systemtheorie_3_Steuerungstheorie__[Druck-PDF]/ 11.12.2013/ Seite 177 176 Gesellschaft, also etwa um das Problem, in welchem Ausmaß ökologische Rücksichten in dem dem Geldmedium verdankten Entscheidungsdruck und in die dem Geldmedium angepaßten Entscheidungsverfahren überhaupt eingebaut werden können« (Baecker 1990, S. 24). Gelänge es, die notwendige Einheit von symbolischer Generalisierung des Geldmediums und seiner diabolischen Inklusions- und Expansionsdynamik in einer Metabolik des Geldes aufzuheben, die den Stoffwechselprozess moderner Gesellschaften von der freien Radikalität geldbasierter Kommunikationen entgiftet, dann wäre ein wichtiger Schritt getan, um diese Gesellschaften als funktional differenzierte Systeme zu stabilisieren. Erst dann wäre eher gewährleistet, dass das paradoxe Verhältnis von Autonomie und Interdependenz tatsächlich in der notwendigen Schwebe gehalten und nicht zugunsten nur einer Seite trivialisiert wäre. Wie aber sollen diese Zusammenhänge ins Bewusstsein der Menschen kommen, wenn die meisten diabolischen Wirkungen des Geldmediums unserem sinnhaften Sensorium nicht zugänglich sind? Wir riechen nun einmal eine schädliche Ozonkonzentration in der Luft nicht und bemerken Krebs erst, wenn es zu spät ist. Wir fühlen ausgetretene Radioaktivität nicht und können mit unseren Augen nicht sehen, dass die Verwüstung der Erde zunimmt. Die Hilfseinrichtung, die hier zum Zuge kommen könnte, ist die Wissenschaft-- und mit ihr das nach Macht und Geld dritte zentrale Steuerungsmedium moderner Gesellschaften: das Wissen. <?page no="176"?> www.claudia-wild.de: [UTB-S]__Willke__Systemtheorie_3_Steuerungstheorie__[Druck-PDF]/ 11.12.2013/ Seite 176 www.claudia-wild.de: [UTB-S]__Willke__Systemtheorie_3_Steuerungstheorie__[Druck-PDF]/ 11.12.2013/ Seite 177 177 7 Wissen als Steuerungsmedium Auch in archaischen, intermediären und frühmodernen Gesellschaften war adäquates Wissen Voraussetzung für das Handeln, Planen und Entscheiden. Jede Hebamme oder Priesterin, jeder Jäger, Bauer oder Waffenschmied nutzte spezielles Wissen, das in langen Erfahrungsketten überliefert und in eigener Praxis angeeignet wurde. Vor 2500 Jahren breiteten Platon und Aristoteles ein Wissen aus, das wenige heute für sich reklamieren können. Was also unterscheidet das Wissen der Moderne von früheren Formen? Die Erfindung des Buchdrucks in der Mitte des 15. Jahrhunderts war einer der bedeutendsten Auslöser für tiefgreifende Veränderungen in der Verteilung und Nutzung des Wissens (Gieseke 1988; Luhmann 1990a, S. 597). Schon seit dem 12. Jahrhundert waren mit der Gründung der ersten europäischen Universitäten in Bologna und Paris Orte der organisierten Sammlung, Vermittlung und Mehrung des Wissens geschaffen worden, die zwar lange noch der Vormundschaft der Religion unterstanden, mit den Konfessionsspaltungen des 16. Jahrhunderts aber einen langwierigen Weg der Autonomisierung einschlugen (Stichweh 1991, S. 15ff u. 38). Die parallel dazu in einigen Klöstern, sowie von Künstlern und Handwerkern vorangetriebene Idee des Experiments kann als die dritte Säule angesehen werden, auf der schließlich eine neue Architektur des Wissens wachsen konnte. Eine Blüte erreichte diese historische Entwicklung in der klassischen deutschen Universität der Humboldt’schen Reformen, die eine beispiellose Autonomie, Eigendynamik und Innovativität der Wissenschaft, und hier insbesondere der Naturwissenschaften, ermöglichte. Seit dem Zweiten Weltkrieg- - und nicht zuletzt durch den Krieg selbst und durch den ihm folgenden Kalten Krieg-- müssen moderne Gesellschaften in der Frage der Organisation und Wirkung von Wissen wiederum ein neues Kapitel aufschlagen. Bezeichnenderweise nicht so sehr aufgrund interner Entwicklungen des Wissenschaftssystems, als vielmehr aufgrund neuer Probleme und Chancen aus den intensiver werdenden Verflechtungen des Wissenschaftssystems mit anderen Funktionssystemen der Gesellschaft. Die interne Operationslogik der Wissenschaft hat sich endgültig auf eine selbstreferenzielle, rekursive, operativ geschlossene und in diesem Sinne autonome Prozessierung von Kommunikationen eingespielt, die sich der Leitdifferenz (dem Code) von Wahr/ Unwahr verdankt (Luhmann 1990a, S. 271). Seit Thomas. S. Kuhns bahnbrechenden Untersuchungen zur Veränderung wissenschaftlicher Paradigmen lässt sich der Code Wahr/ Unwahr genauer beschreiben: Es geht um Kommunikationen, die im Diskurs der (anerkannten) Mitglieder einer »scientific community« zum gegenwärtigen Zeitpunkt <?page no="177"?> www.claudia-wild.de: [UTB-S]__Willke__Systemtheorie_3_Steuerungstheorie__[Druck-PDF]/ 11.12.2013/ Seite 178 www.claudia-wild.de: [UTB-S]__Willke__Systemtheorie_3_Steuerungstheorie__[Druck-PDF]/ 11.12.2013/ Seite 179 178 überwiegend als wahres Wissen bzw. als nicht wahres Wissen unterschieden werden. Von wenigen Anomalien abgesehen, wie Konkordate deutscher Universitäten mit der Kirche oder politische Verbote bestimmter Theorien in einigen amerikanischen Südstaaten, genießt das Wissenschaftssystem moderner Demokratien eine im Grundsatz nicht bedrohte, sondern im Gegenteil verfassungsrechtlich abgesicherte Autonomie. Es ist der Erfolg dieser Art von Wissenschaft, der sie nun in Schwierigkeiten bringt. Der Erfolg trägt ein Doppelgesicht. Zum einen kann die Wissenschaft einen internen Erfolg insofern aufweisen, als sie in ihrem ureigenen Geschäft der Suche nach »Wahrheit« jedem anderen Funktionssystem, einschließlich der Religion, den Rang abgelaufen hat. Es ist ihr gelungen, zufriedenstellend funktionierende Erklärungen für eine Fülle von Rätseln zu finden, die bislang nur durch Glauben oder, soweit jemand das aushalten konnte, durch Ignoranz zu neutralisieren waren. Die Bewegungen der Gestirne, die Bewegungen der Evolution, die Bewegungen der Psyche, die DNA-basierte Selbststeuerung der Zelle oder die kommunikationsbasierte Selbststeuerung sozialer Systeme und Millionen anderer Probleme lassen sich heute mit geltendem Wissen erklären und rekonstruieren. Soweit es also tatsächlich Kern der Arbeitsweise des Wissenschaftssystems sein sollte, zweckfreie und reine Erkenntnis an und für sich zu produzieren, ist es in einem so hohen Maße erfolgreich, dass kein einzelner Mensch die Fülle der Ergebnisse mehr nachvollziehen kann. Von den Lebensläufen der Quarks über die mentalen Grundlagen psychischer Prozesse und kognitiver Komplexität bis zu schwarzen Löchern irgendwo im Weltraum bleibt kein Winkel unausgeleuchtet, unabhängig davon, ob sich damit etwas anfangen lässt oder nicht. Aber genau da liegt ein Problem. Mit so vielen Erklärungen und Rekonstruktionen der Wissenschaft hat sich praktisch etwas »anfangen« lassen, dass inzwischen bei allen Beteiligten die Erwartung etabliert ist, dass sich die Leistungen des Wissenschaftssystems für jeweils eigene Zwecke nutzen lassen. Dies ist die Janusseite des Erfolgs der Wissenschaft. Es sind externe Erfolge, die nicht mehr ihrer Kontrolle unterliegen und die auf einer Verwendung wissenschaftlichen Wissens beruhen, welche die Produzenten des Wissens in aller Regel weder bedacht noch gewollt haben. Von hier aus gibt es zwei Möglichkeiten. Die eine firmiert unter dem Stichwort einer Ausbeutung der Wissenschaft zu entfremdeten Zwecken; die andere unter dem Stichwort einer wissensbasierten Steuerung von sozialen Systemen. Wie leicht zu sehen ist, wiederholt sich hier das Schicksal sowohl des Steuerungsmediums Macht wie das des Geldes. Beide können der entfremdenden Ausbeutung ihres Potenzials etwa für destruktive oder monopolistische Zwecke ebenso dienen wie der produktiven und Optionen schaffenden Steuerung sozialer Systeme. Ebenso lässt sich die Wissenschaft dafür <?page no="178"?> www.claudia-wild.de: [UTB-S]__Willke__Systemtheorie_3_Steuerungstheorie__[Druck-PDF]/ 11.12.2013/ Seite 178 www.claudia-wild.de: [UTB-S]__Willke__Systemtheorie_3_Steuerungstheorie__[Druck-PDF]/ 11.12.2013/ Seite 179 179 ausnutzen, Wasserstoff- und Neutronenbomben zu bauen, politisch Missliebige psychiatrisch zu diffamieren oder Informationen kunstvoll zur Desinformation zu verwenden. Der entscheidende Punkt ist nun, dass sich diese beiden Möglichkeiten nicht prinzipiell voneinander unterscheiden. Beide nutzen verfügbares Wissen für die Steuerung sozialer oder soziotechnischer Prozesse. Der Unterschied beschränkt sich auf die unterlegten Zwecke, Ziele oder Werte- - und darüber kann man streiten, ohne dass die Wissenschaft diesen Streit autoritativ schlichten könnte. Die Zivilisierung des Steuerungsmediums Macht ist-- einigermaßen und mit erheblichen Rückfällen-- in der elaborierten Form des demokratischen Verfassungsstaates gelungen. Zumindest einige Erfolge der Zivilisierung des Geldmediums gehen auf das Konto einer »Sozialen Marktwirtschaft«, des Wohlfahrtsstaats und ähnlicher Formen der Anbindung der Operationsweise der Wirtschaft an grundlegende Menschenrechte. Die Zivilisierung des Steuerungsmediums Wissen dagegen hat kaum begonnen. Viel zu fasziniert starren wir noch auf die Erfolge und Errungenschaften der Wissenschaften, auf Nobelpreise und Entdeckungen, als das uns dämmern könnte, die Zeit der Unschuld wissenschaftlicher Erkenntnisse sei vorbei. Dabei ist keineswegs ausgeschlossen, dass die Vorteile einer weiteren Expansion des Wissens die Nachteile überwiegen, dass bei allen Kosten und Missbräuchen des Wissens das Projekt der Aufklärung nach wie vor gültig und nicht zusätzliches Wissen, sondern zusätzliche Ignoranz das Problem ist. Dennoch klingt die Strategie verdächtig, die Probleme des Wissens durch mehr Wissen beheben zu wollen. Zu häufig schon war dieses »Mehr-vondemselben« ein sicheres Rezept für Scheitern und für ungewollte Katastrophen. Vorläufig aber scheint diese Erfahrung weder innerhalb des Wissenschaftssystems, noch für andere Organisationen und Funktionssysteme besonders beeindruckend zu sein. Im Gegenteil: Vom Schüler bis zur Universitätsprofessorin, vom Lehrling bis zur Vorstandsvorsitzenden, vom Gerichtsreferendar bis zur Verfassungsrichterin gilt ohne Einschränkung das Gesetz, dass mehr Wissen das bessere Wissen sei. Die zaghaften Versuche, auch die Qualität und das Wozu des Wissens ins Spiel zu bringen, sind nicht sehr weit gediehen. Zugegebenermaßen ist das auch ein gefährliches Spiel; denn wer will über die Qualität des Wissens befinden? Bevor ich auf diese Frage zurückkomme, müssen wir uns selbst noch mehr Wissen verschaffen: Wissen über die Operationsweise und die Steuerungsfunktion des Wissens. <?page no="179"?> www.claudia-wild.de: [UTB-S]__Willke__Systemtheorie_3_Steuerungstheorie__[Druck-PDF]/ 11.12.2013/ Seite 180 www.claudia-wild.de: [UTB-S]__Willke__Systemtheorie_3_Steuerungstheorie__[Druck-PDF]/ 11.12.2013/ Seite 181 180 7.1 Aufklärung über Expertise und-Expertensysteme Das Schlüsselwort für den Zusammenhang von Wissen und Steuerung ist Beratung. Sicherlich hatten auch Fürsten immer schon Erzieher und Berater und selbst die Katholische Kirche hatte in der Einrichtung des Konzils eine lange Tradition organisierter Beratung des Papstes. Aber erst im Übergang vom Mittelalter zur frühen Neuzeit gaben die Entwicklung der Universitäten und ihre organisierte Pflege der Gelehrsamkeit den Anstoß, das dort sich herausbildende Potenzial an vor allem zunächst theologischer, dann juristischer Expertise für die Regierungsgeschäfte zu nutzen. Im Laufe des 14. und 15. Jahrhunderts verschwanden nach und nach die Räte als Gremien ständischer Interessenvertretung und wurden durch »gelehrte Räte« der für den Fürsten tätigen Gelehrten ersetzt: »Wenn Kontrolle des Herrschers nur noch marginal mittels ständischer Interessenartikulation möglich ist, kann man den Versuch unternehmen, Kontrollchancen auf dem Weg der gelehrten Beratung des Herrschers zu finden« (Stichweh 1991, S. 157). Heute ist Beratung ein Schlagwort für alle Lebenslagen, alle Probleme und Ebenen sozialer Systeme. Von Verbraucherberatung und Familienberatung über Berufsberatung, Studienberatung, Organisations- und Unternehmensberatung bis zu Politik- und Systemberatung (Beispiele: amerikanische Unternehmer beraten die russische Regierung in Sachen Kapitalismus; ein ehemaliger deutscher Bürgermeister beriet eine vom jugoslawischen Bürgerkrieg verwüstete Stadt beim Wiederaufbau) gibt es praktisch keinen Lebensbereich und keine Aktivität, die sich von Beratung nicht irgendetwas erhoffen kann. Ob diese das Gewünschte zu liefern vermag, ist eine ganz andere Frage. In Band 2 dieser Einführungs-Trilogie (Systemtheorie II: Interventionstheorie) habe ich das Problem der Beratung in Bereichsstudien zur Familientherapie, Organisationsberatung und politischer Intervention vor allem aus der Perspektive der Schwierigkeiten gelingender Intervention ausführlich behandelt. Hier möchte ich das Thema Beratung aus der Sicht der Leistungen und der Wirkungen des Steuerungsmediums Wissen betrachten. Dies ist beileibe kein neues Thema. Einen der besten Texte dazu hat Amitai Etzioni schon vor rund 40 Jahren in vier Kapiteln seiner »Active Society« geschrieben. Er beschreibt die Ausgangssituation in einer Formulierung, die heute noch ohne jeden Abstrich gültig ist: »From a historical viewpoint, the societal foundations of knowledge are changing: Post-modern societies and collectivities increasingly use knowwww.claudia-wild.de: <?page no="180"?> [UTB-S]__Willke__Systemtheorie_3_Steuerungstheorie__[Druck-PDF]/ 11.12.2013/ Seite 180 www.claudia-wild.de: [UTB-S]__Willke__Systemtheorie_3_Steuerungstheorie__[Druck-PDF]/ 11.12.2013/ Seite 181 181 ledge to shape their relations to each other and to guide their own transformations. Because of this trend (however uneven it may be), the significance of knowledge as a variable which partially explains differences in societal conduct is increasing. In particular, the differences in the societal organization of the production and utilization of knowledge are of increasing importance in determining the realization of macroscopic goals.-… Processes long considered largely the domain of economic and coercive factors are increasingly influenced by the allocation, withholding, and management of knowledge« (Etzioni 1971, S. 133 f., Hervorhebung H. W.). In einer sehr allgemeinen Form lässt sich Wissen in seiner gesellschaftlichen Doppelfunktion definieren als die Kondensierung (Verfestigung) brauchbarer Beobachtungen einerseits und als kognitiv stilisierter Sinn andererseits (Luhmann 1990a, S. 123 u. 138). Ganz analog, nur in einer etwas traditionelleren Begrifflichkeit, hatte schon Etzioni festgelegt: »First, it provides a relation to reality by containing information about the non-social environment, other actors, and the actor himself. Second, knowledge, in conjunction with religion and ideology, provides ›meaning‹, an important bond that ties actions and actors to one another and affects societal commitments« (1971, S. 136). Wissen erzeugt demnach geltende Definitionen für Realität und geltende Definitionen für deren Bedeutung. Beide Aspekte stehen in loser Kopplung untereinander und können deshalb in Grenzen unabhängig voneinander variieren. Es ist also möglich, dass sich über eine Zeitlang neue oder nicht »passende« Beobachtungen kondensieren, ohne dass sich Bedeutungen ändern. Umgekehrt lassen sich übereinstimmende Beobachtungen mit sehr unterschiedlichen Bedeutungen versehen. Eine erste grundlegende Schwierigkeit von wissensbasierter Beratung kommt ins Spiel, wenn man zur Kenntnis nimmt, dass Wissen nichts mit »Tatsachen« im Sinne einer unverrückbaren objektiven Richtigkeit oder Wahrheit zu tun hat. Streng nach der obigen Definition liefert Wissen stattdessen interpretierte Beobachtungen. Beobachtungen ihrerseits sind auch nicht mehr das, was sie vielleicht einmal waren: erhaschte Zipfel einer ewigen Wahrheit, die es aufzudecken gilt. Vielmehr hängen sie, wie wir spätestens seit Immanuel Kant wissen, vom Sensorium und vom Instrumentarium des Beobachtens ab. Als epistemologischer Minimalkonsens kann inzwischen wohl gelten, dass jede Erkenntnis, gleich in welcher Disziplin, auf Beobachtung beruht; dass Beobachtung auf der Verarbeitung von Differenzen beruht; und dass Beobachtung eine interne Operation des beobachtenden Systems ist (ausführlich dazu Systemtheorie II, Kapitel 2.2). Die Konstituierung eines <?page no="181"?> www.claudia-wild.de: [UTB-S]__Willke__Systemtheorie_3_Steuerungstheorie__[Druck-PDF]/ 11.12.2013/ Seite 182 www.claudia-wild.de: [UTB-S]__Willke__Systemtheorie_3_Steuerungstheorie__[Druck-PDF]/ 11.12.2013/ Seite 183 182 Gegenstandes und der darauf bezogenen Beobachtungen beginnt also mit erkenntnisleitenden Differenzen, Leitdifferenzen, die das meiste ausschließen und nur noch einen engen Fokus fundamentaler Relevanzen zulassen, die von diesem Punkte aus allerdings unendlich verzweigen. So kann die Definition des Gegenstandes und Erkenntnisbereichs von Soziologie mit sehr unterschiedlichen Leitdifferenzen einsetzen und entsprechend zu äußerst unterschiedlichen Theoriearchitekturen führen. Leitdifferenzen können etwa Individuum/ Gesellschaft, Gemeinschaft/ Gesellschaft, Konsens/ Konflikt, herrschende/ beherrschte Klasse, Basis/ Überbau, Lebenswelt/ System, Struktur/ Funktion oder eben System/ Umwelt sein. Innerhalb dieser Leitdifferenzen gibt es prinzipiell beliebige Verzweigungen nachrangiger semantischer Differenzen, allerdings mit jeder Differenz auch Festlegungen, die andere Optionen ausschließen. Beginnt man mit der Leitdifferenz von System und Umwelt-- und noch einmal: dies ist nicht zwingend, sondern kontingent--, so stößt man unmittelbar auf den (heilsamen) Zwang, die Besonderheit/ Gemeinsamkeit sozialer Systeme gegenüber Systemen einer anderen Emergenzstufe zu präzisieren. Aus heutiger Sicht lässt sich vielleicht sagen, dass der größte Erkenntnisgewinn systemtheoretischen Denkens in der Soziologie bislang genau darin liegt, die Vor- und Parallelarbeiten systemischen Denkens in den unterschiedlichsten Disziplinen, vor allem aber in Biologie, Psychologie, »cognitive sciences« und Linguistik, für die Frage der Besonderheit und Gemeinsamkeit sozialer Systeme gegenüber anderen Systemen begreifbar gemacht zu haben. In der Biologie (Evolutionstheorie, Embryologie und Kognitionsbiologie) und in der Psychologie (Persönlichkeits-, Entwicklungs- und Denkpsychologie) hatte die Leitdifferenz System/ Umwelt ihre heuristische Fruchtbarkeit vielfältig bewiesen, so dass die soziologische Systemtheorie mit einem reichen Netz interdisziplinärer Anschlussmöglichkeiten arbeiten konnte. (Natürlich brachte ihr das den Vorwurf der »Übernahme« biologistischer bzw. psychologistischer Konzepte und ähnliche Vorwürfe ein.) Der darin zugleich begründete Anreiz, gegenüber biologischen und psychischen Systemen die Eigensinnigkeit sozialer Systeme zu begründen, führte zu der wohl folgenreichsten theorie-architektonischen Weichenstellung in der soziologischen Systemtheorie: nämlich der Intuition, als Element sozialer Systeme nicht Menschen, sondern Kommunikationen zu begreifen (Luhmann 1984, Kap. 4). Zusätzliche Plausibilität gewinnen diese Überlegungen aus zwei Richtungen. Zum einen hat Gregory Bateson gezeigt, dass »mentale Systeme« Informationen nur dadurch gewinnen können, dass sie vergleichen, das heißt auf Unterschiede reagieren. Grundlage jeder Informationsverarbeitung und damit jeder Kommunikation und jedes Verstehens ist nach Bateson das Prozessieren von Differenzen: »Man sollte sich immer an die Tatsache erinnern, <?page no="182"?> www.claudia-wild.de: [UTB-S]__Willke__Systemtheorie_3_Steuerungstheorie__[Druck-PDF]/ 11.12.2013/ Seite 182 www.claudia-wild.de: [UTB-S]__Willke__Systemtheorie_3_Steuerungstheorie__[Druck-PDF]/ 11.12.2013/ Seite 183 183 dass Information die Umwandlung eines Unterschieds ist« (Bateson 1983, S. 412). Auch hiernach lautet die Antwort auf die Frage: Wie ist Beobachtung möglich? Durch das Setzen und Prozessieren von Differenzen. Zum anderen hat neben Bateson auch Heinz von Foerster auf die grundlegende Bedeutung von Differenzen hingewiesen. Er schlägt vor, die Prozesse des Erkennens als unbegrenzte rekursive Errechnungsprozesse (also: das rekursive Errechnen von Errechnungen von-…) aufzufassen (Foerster 1985a, S. 44). Angestoßen wird dieser Errechnungsprozess z. B. in neuronalen Netzen durch Differenzen in Form unterschiedlicher Intensitäten von Erregungsursachen, nicht aber durch die Art, das »Was« oder die physikalische Natur einer Erregungsursache: »The natural world has a small or non-existent role in the construction of scientific knowledge« (Collins 1981, S. 3). Damit untermauert Heinz von Foerster seine zentrale Idee der Möglichkeit einer »Ordnung aus Chaos« (»order from noise«), also einer Selbstorganisation und Selbstreproduktion komplexer Systeme, und Collins belegt, dass selbst naturwissenschaftliche »Tatsachen« die Konstruktionen interessierter Forscher sind. Dies erlaubt es, die spezifische erkenntnisleitende »distinction« der Systemtheorie-- nämlich: System/ Umwelt-- mit der allgemeinen (Hobbes’schen/ Parsons’schen) Grundfrage der Soziologie ebenso zu verbinden wie mit der Frage der Evolution von Wissensordnungen: Wie ist die Ordnung der Ordnung möglich? Es ist dabei hilfreich, Systembildung als Problemlösung zu begreifen, welche sich von Unordnung ebenso unterscheidet wie von perfekter Ordnung. Systembildung ist eine Strategie der Erzeugung selektiver oder reduktiver Ordnung. Für psychische und soziale Systeme ebenso wie für Wissenssysteme und andere symbolische Ordnungen bedeutet dies, dass in der Systembildung als solcher bereits Kontingenz impliziert ist, dass also die Ordnung eines Systems so oder eben auch anders ausfallen könnte. Systeme entstehen dann, wenn zwei Bedingungen erfüllt sind: Wenn zu einem durch die Schaffung von Grenzen gegenüber dem Zufall kontingenter Ereignisse in der Welt Inseln eingeschränkter Beliebigkeit oder partieller Ordnung entstehen, und wenn zum anderen die Relationen zwischen den eingegrenzten Teilen aus Zeitgründen nicht mehr voll realisiert werden können und deshalb nach einem bestimmten Suchmuster nur noch bestimmte selektive Relationen zwischen den Teilen bevorzugt werden. So zeigen die wissenschaftssoziologisch orientierten »Laborstudien«, dass auch die Produktion naturwissenschaftlichen Wissens diesen teilweise chaotischen Pfad zur Ordnung finden (KnorrCetina 1984; 1988). Diese Koinzidenz von produktiver Relationierung und Selektivität der Relationen grenzt Systeme sowohl gegen Unordnung wie auch gegen Überordnung (perfekter Ordnung im Sinne der Realisierung aller möglichen Relationen) ab und konstituiert die fundamentale Differenz von System und <?page no="183"?> www.claudia-wild.de: [UTB-S]__Willke__Systemtheorie_3_Steuerungstheorie__[Druck-PDF]/ 11.12.2013/ Seite 184 www.claudia-wild.de: [UTB-S]__Willke__Systemtheorie_3_Steuerungstheorie__[Druck-PDF]/ 11.12.2013/ Seite 185 184 Umwelt. Ein System ist deshalb gerade nicht ein Zusammenhang von Elementen, sondern die Selektivität eines bestimmten Zusammenhangs, sowohl gegenüber der Umwelt als auch gegenüber den eigenen kontingenten Möglichkeiten. Ein Wissenssystem unterscheidet sich von einer Sammlung von »Fakten« durch eine innere Systematisierung, die von ihren realisierten Verknüpfungen ebenso charakterisiert ist wie von ihrer negativen Selektivität, d. h. dem bewussten Ausschluss möglicher Verbindungen. Erst diese Reduktion von Möglichkeiten der Relationierung schafft Freiheitsgrade und Zeit für Variation und kontrollierte Strukturänderung, lässt also gegenüber der Selbstlähmung perfekter Interdependenz eine Dynamik der Systemprozesse zu, die Wissensrevision einschließt. Dies ist wichtig, weil weder vollkommenes Chaos noch vollkommene Ordnung evolvieren können und deshalb jedes informationell geschlossene Wissenssystem zur Ideologie verkommt, die Revisionen nicht mehr zulässt. (Scholastisches Denken war also insofern konsequent, als es annahm, dass weder Gott noch der Teufel sich ändern könnten). Evolution beruht vielmehr auf einer spezifischen, wechselseitigen »Infizierung« von Chaos und Ordnung, von Zufall und Notwendigkeit. In einer treffenden Formulierung mit Bezug auf die Gesellschaft sagt Pierre Proudhon: « La plus haute perfection de la société se trouve dans l’union de l’ordre et de l’anarchie« (zitiert bei Ulrich Dierse 1984, S. 1296). So lässt sich sagen, dass die erkenntnisleitende Fragestellung systemischen Denkens darin besteht, die Bedingungen der Möglichkeit dynamischer, evolvierender Ordnungen- - einschließlich semantischer Ordnungen und Wissenssysteme-- zu analysieren. Dementsprechend ist das Grundproblem einer systemisch orientierten Erkenntnistheorie, wie eine selektive, komplexe, dynamische und selbstbezügliche Ordnung begriffen werden kann, die für sich selbst nicht nur Chaos oder Selbstlähmung erzeugt. Und das Grundproblem einer systemisch orientierten Theorie der Beratung ist, wie professionelles Wissen wirksam gemacht werden kann, obwohl es vorläufig, reversibel, hypothetisch, beobachterabhängig, insgesamt also relativistisch gehalten werden muss, wenn es professionelles Wissen sein soll. An dieser Stelle ist eine systemtheoretisch informierte Epistemologie zugleich radikaler und gemäßigter als der »radikale« Konstruktivismus: Sie ist radikaler, weil sie jede Bedingung der Möglichkeit von Beobachtung an ein operationsfähiges System knüpft, wobei zwingend gilt, dass es sich bei einer Beobachtung »um eine in Bezug auf Umwelt kontaktunfähige und in diesem Sinne blinde Operation handeln muss« (Luhmann 1990b, S. 38), weil jede Beobachtung als Operation des beobachtenden Systems nach dessen idiosynkratischen Operationsregeln erfolgt. Insofern gibt es nicht einmal ein Schlüssel-Schloss-Verhältnis, von dem etwa Ernst v. Glasersfeld noch ausgeht (Glasersfeld 1985, S. 20). Die Operationen eines Systems arbeiten auf Anregung <?page no="184"?> www.claudia-wild.de: [UTB-S]__Willke__Systemtheorie_3_Steuerungstheorie__[Druck-PDF]/ 11.12.2013/ Seite 184 www.claudia-wild.de: [UTB-S]__Willke__Systemtheorie_3_Steuerungstheorie__[Druck-PDF]/ 11.12.2013/ Seite 185 185 und nach Verstörung durch Perturbationen (Irritationen) der Umwelt, aber sie versuchen nicht, die Umwelt »aufzuschließen«, um Erkenntnisse über sie zu erlangen. Erkenntnisse gibt es nur innerhalb und für das beobachtende System, wenn und soweit die Beobachtungen für das System Folgen zeigen oder Folgerungen ermöglichen: »Man kann auch sagen: Beobachten ist Erkennen, soweit es Redundanzen benutzt und erzeugt- - Redundanz verstanden im Sinne von systeminternen Beschränkungen des Beobachtens mit der Folge, dass eine bestimmte Beobachtung andere wahrscheinlich bzw. unwahrscheinlich macht« (Luhmann 1990b, S. 40). Eine systemische Epistemologie ist andererseits gemäßigter-- und insofern der Möglichkeit zufriedenstellender Beratung nicht prinzipiell verschlossen- -, indem sie problemlos von einer existierenden Außenwelt ausgeht, mit der ein über das Aufnehmen von Differenzen kanalisierter Kontakt möglich ist-- wenngleich nur »als Bedingung der Wirklichkeit der Operationen des Systems selbst« (Luhmann 1990b, S. 40). Alles, was im System möglich ist, sind Operationen des Systems, mithin konditionalisiert durch den selbstreferenziellen und geschlossenen Operationsmodus des Systems. Über Beobachtungen als einer besonderen Operation des Systems kann das System aber Ereignisse der Außenwelt als Anlass für interne Schlussfolgerungen und Unterstellungen nehmen und beliebig komplexe (interne) BOTBOT-Schleifen (Beobachtung-Operation-Test-Beobachtung -Operation-Test) aufbauen- - kurz: es kann in »Trial-and-error«-Verfahren und Experimenten intern aufgebaute Annahmen auf ihre Brauchbarkeit und Umweltadäquanz, bzw. Umweltverträglichkeit prüfen. Insofern wäre es sinnvoller, statt von Konstruktivismus von Experimentalismus zu sprechen, denn sowohl Organismen, wie in den meisten Fällen auch psychische und soziale Systeme konstruieren nicht planvoll interne Realitäten, sondern bauen sie evolutionär und inkremental in Serien von Experimenten auf. Auf Gesellschaften bezogen, hat Cornelius Castoriadis dies in eine knappe Formel gefasst: »Keine Gesellschaft könnte existieren, ohne die Produktion ihres materiellen Lebens und ihre Reproduktion als Gesellschaft zu organisieren. Wie aber diese Organisation auszusehen hätte, entzieht sich Naturgesetzen und rationalen Überlegungen« (1990, S. 250). Inzwischen ist allerdings (wieder einmal) zweifelhaft, ob hochentwickelte Gesellschaften sich in der Formung ihrer Ordnung Evolution und Inkrementalismus noch leisten können. Zuzustimmen ist Castoriadis darin, dass eine rationale Ordnung im Sinne einer zentralen, generalstabsmäßigen Planung gesellschaftlicher Ordnung ausgeschlossen ist, und nach dem Scheitern des geplanten Sozialismus bleibt diesem Modell auch wenig Attraktivität. Aber <?page no="185"?> www.claudia-wild.de: [UTB-S]__Willke__Systemtheorie_3_Steuerungstheorie__[Druck-PDF]/ 11.12.2013/ Seite 186 www.claudia-wild.de: [UTB-S]__Willke__Systemtheorie_3_Steuerungstheorie__[Druck-PDF]/ 11.12.2013/ Seite 187 186 der Bedarf gerade auch der entwickelten Gesellschaften an Experimenten, Projekten, Modellversuchen, wissensbasierten Strategien und kontextueller Steuerung ist unabweisbar, seit klar ist, dass die Risiken der sozialen und soziotechnischen Evolution weder kontrollierbar noch akzeptierbar sind. Beratende Kommunikation eröffnet Möglichkeiten, unterschiedliche Diagnosen zu testen und auf ihre Brauchbarkeit zu überprüfen. Das besondere Geschick von Beratungsexpertinnen besteht wohl zu einem guten Teil darin, ihre Diagnosen tatsächlich als präsumtive Konstruktionen zu behandeln und auf bestimmte Anzeichen hin zu revidieren-- und dies so lange, bis sich jene besondere Qualität einer wechselseitig akzeptablen und brauchbaren Systemdiagnose herauskristallisiert, welche die Eigen-Operationen dieses Systems bezeichnet und generiert. In einem sehr grundsätzlichen Sinne geht es um den Aufbau von Äquivalenzstrukturen im Sinne von Weick (1985, S. 130 f.) zur Überbrückung von operativer Geschlossenheit und basaler Zirkularität; um die Regulierung von zufälliger Variation im Sinne einer Rekonstruktion von »order from noise« (v. Foerster 1985a); um die Konstruktion von Ordnungen, in denen die Konstruktionen von Wirklichkeiten anderer Systeme einen Spielraum haben; und schließlich um Verstehen im Sinne der Rekonstruktion der Selbstbeschreibung eines Systems durch einen Beobachter. Anders gesagt: Der Aufbau von Erkenntnis lässt sich als das experimentelle Erlernen interner Operationen oder Operationssequenzen begreifen, welche eine brauchbare Koordination oder »Passung« von Systemverhalten einerseits und prinzipiell unbekannten Umweltgesetzen andererseits ermöglichen. In Varelas Worten: Erkenntnis erfordert, »kognitive Systeme in eine Situation zu versetzen, in der endogene und exogene Faktoren einander über einen länger andauernden Geschichtsprozess definieren, wobei die Viabilität der Koppelung der einzige Erfolgsmaßstab ist und jede Art optimaler Überlebenstüchtigkeit ohne Bedeutung bleibt« (Varela 1990, S. 116). Aus dem bisher Ausgeführten lässt sich schließen, dass jede Form von Ordnung primär aus den Operationsbedingungen und Regelhaftigkeiten des beschreibenden Systems resultiert, sie folgt nicht oder nur lose gekoppelt aus Merkmalen irgendeines »Gegenstandes« der Erkenntnis. Begreift man als Programm wissensbasierter Beratung die Beobachtung, Beschreibung und kontrollierte Veränderung sozialer Ordnungen, genauer der Ordnungen sozialer Systeme, dann ergibt sich die ernüchternde Einsicht, dass die »Richtigkeit« beratender Intervention prinzipiell kontingent und nur durch die Operationsregeln der Beobachter einerseits, die Kohärenzbedingungen für die Möglichkeit von Kommunikation zwischen Beobachtern andererseits kontrolliert ist: »Soziale Realität ist zum Beispiel das, was im Beobachten einer Mehrheit von Beobachtern als ihnen trotz ihrer Unterschiedenheit übereinstimmend gegeben beobachtet werden kann« (Luhmann 1990b, S. 41). <?page no="186"?> www.claudia-wild.de: [UTB-S]__Willke__Systemtheorie_3_Steuerungstheorie__[Druck-PDF]/ 11.12.2013/ Seite 186 www.claudia-wild.de: [UTB-S]__Willke__Systemtheorie_3_Steuerungstheorie__[Druck-PDF]/ 11.12.2013/ Seite 187 187 Bezüglich der scheinbar klarsten soziologischen Kategorie, dem »Handeln«, hatte schon Alfred Schütz gegen Max Weber das Erforderliche gesagt: »Es bleibt also dem Beobachter-- sei es dem Partner in der Sozialwelt, sei es dem Soziologen-- überlassen, den Anfangs- und Endpunkt eines fremden Handelns, nach dessen gemeintem Sinn geforscht wird, aus eigener Machtvollkommenheit zu fixieren, da ja der objektive Verlauf keinerlei Kriterien für eine Abgrenzung der ›einheitlichen‹ Handlung bietet. Dies aber führt zu einer unauflöslichen Paradoxie« (Schütz 1974, S. 82, Hervorhebung H. W.). Es sind diese Kohärenzbedingungen von Kommunikation, die in anfänglich kontingente Setzungen und Unterstellungen sukzessive die Restriktionen einbauen, welche als Anschlusszwänge, Regelmuster, Gestaltformen etc., Einschluss und Ausschluss weiterer Annahmen bestimmen und so auch den Prozess der Beratung im Laufe seiner eigenen Geschichte nach und nach auf dasjenige einengen, was in der Kommunikation zwischen Beratungssystem und beratenem System tragfähig wird. Besser als der modernere Begriff des mentalen Modells bezeichnet derjenige des Imaginären die Qualität des Konstruierten und Imaginierten jeder »Bedeutung« als Grundlage von Erkenntnis. Mit Blick auf geschichtliche Bedeutungen schreibt Castoriadis: »Was beim geschichtlichen Handeln der Menschen tatsächlich herauskommt, ist von den Urhebern sozusagen niemals gewollt worden-… Als entscheidendes Problem erweist sich jedoch, dass sich diese von niemandem so gewollten Resultate in gewisser Weise als ›kohärent‹ darstellen, dass sie eine ›Bedeutung‹ besitzen und einer Logik zu gehorchen scheinen, die keine bloß ›subjektive‹ ist (das heißt von einem Bewußtsein getragen, von jemandem aufgestellt worden ist), aber auch keine ›objektive‹ (wie die, die wir in der Natur zu finden meinen)« (Castoriadis 1990, S. 78). Das Imaginäre ist ein Zusammenhang von Vorstellungen, der sich »hinter dem Rücken der Akteure« aus den in die Sprache eingebauten Bedingungen kohärenter Kommunikation bildet. Wie wir in Kapitel 7.3 sehen werden, hängt die spezifische Lernfähigkeit sozialer Systeme von der Qualität von Imaginationen ab, die aus dem Zusammenwirken vieler organisationsrelevanter Kommunikationen »hinter dem Rücken der Akteure« eine emergente Realität ergeben, die-- in Regeln, Verfahren, Muster, Wissenssysteme und andere symbolische Ordnungen gebracht-- die eigenständige Identität des Sozialsystems ausmacht. Ein solcher Konstitutionsprozess ist auch Grundlage systemisch orientierter Beratung. Er ließe sich als diskursiver Konstruktivismus bezeichnen. Der <?page no="187"?> www.claudia-wild.de: [UTB-S]__Willke__Systemtheorie_3_Steuerungstheorie__[Druck-PDF]/ 11.12.2013/ Seite 188 www.claudia-wild.de: [UTB-S]__Willke__Systemtheorie_3_Steuerungstheorie__[Druck-PDF]/ 11.12.2013/ Seite 189 188 Begriff verweist hinreichend deutlich auf die konstitutive Bedeutung der jeweiligen »community of observers«. Solche Gemeinschaften reichen von einem Beratungssystem als dem Ergebnis der Auseinandersetzung und des Zusammenspiels von Berater und Klient bis hin zu den für den wissenschaftlichen Erkenntnisprozess maßgeblichen »scientific communities«. Und er macht deutlich, dass die Zuweisung von Bedeutungen nicht ad hoc erfolgt, sondern im Kontext eines übergreifenden »Bedeutungsuniversums« (Castoriadis 1990, S. 251), welches als jeweiliger Zeitgeist, als herrschendes Paradigma, als dominantes Vokabular weder von Einzelnen gemacht oder gewollt ist, noch irgendeiner objektiven Gesetzmäßigkeit entspricht. Stattdessen stellt sie nichts anderes dar, als die momentan geltende Regelstruktur anschließbarer gesellschaftlicher Kommunikationen, also präzise: die momentan geltende soziale Ordnung. Wissen im Allgemeinen und Expertise als systematisiertes und organisiertes Wissen im Besonderen verändern soziale Ordnung kontinuierlich, seit die Betonung in der Verteilung und Verwendung von Wissen nicht mehr auf altem, traditionalem, unvordenklichem Wissen liegt, sondern auf neuem Wissen. Die Umkehrung der Zeitorientierung von der Vergangenheit auf die Zukunft, welche die Neuzeit kennzeichnet, erfasst also auch das Medium des Wissens. Sie hat wesentlichen Anteil daran, dass die kollektive und gesellschaftliche Wirkung des Wissens sich nicht mehr in der Tradierung der bestehenden »alten« Ordnung erschöpft, sondern sich in Richtung Steuerung transformiert, also in Richtung einer gezielten Veränderung naturwüchsiger Verläufe auf projektierte Zwecke und »unwahrscheinliche« Trajektorien. Die revolutionäre Idee der Machbarkeit sozialer Verhältnisse gründet schon bei Machiavelli nicht mehr nur auf dem gezielten Einsatz von Macht, sondern auch von Wissen (gelehrte Abhandlung über die verschiedenen Typen von Söldnerheeren! ). Giambattista Vico vertrat zu Beginn des 18. Jahrhunderts die Idee einer Säkularisierung der Geschichte und wagte die Behauptung, dass die historische Welt vom Menschen gemacht sei. Unter dem Eindruck der Französischen Revolution und ihrer Auswüchse vertrat schließlich Saint- Simon die Idee, dass die Revolutionierung der Gesellschaft weder den Metaphysikern noch den Juristen überlassen werden könne, sondern dass eine wirkliche Reorganisation der Gesellschaft nur unter der Führung von Industriellen und Wissenschaftlern gelingen könne. Seitdem schreitet neben der Industrialisierung auch die Verwissenschaftlichung der Gesellschaft voran. Von der Industrialisierung, der arbeitsteiligen Organisierung und maschinellen Unterstützung des Fleißes (»industrious«), erhoffte man sich die Befreiung von elementarer Not und die Segnungen eines breit gestreuten Wohlstands der Nationen. Bei allen Schattenseiten dieses Prozesses bleibt beeindruckend, in welchem Maße selbst die kühnsten <?page no="188"?> www.claudia-wild.de: [UTB-S]__Willke__Systemtheorie_3_Steuerungstheorie__[Druck-PDF]/ 11.12.2013/ Seite 188 www.claudia-wild.de: [UTB-S]__Willke__Systemtheorie_3_Steuerungstheorie__[Druck-PDF]/ 11.12.2013/ Seite 189 189 Erwartungen übertroffen worden sind (ausführliches empirisches Material dazu für den Fall der Bundesrepublik bei Alber 1989 und international vergleichend bei Flora 1986). Von der Verwissenschaftlichung erhoffte man sich zunächst vor allem Rationalität, Vernunft und Aufklärung. Diesbezüglich ist allerdings eher bemerkenswert, in welchem Maße selbst die bescheidensten Erwartungen enttäuscht worden sind. In einer klassischen Zielverschiebung scheint das Projekt der Aufklärung auch erst einmal zurückgestellt zu sein und Verwissenschaftlichung sich darauf zu richten, technische Projekte zu realisieren. Ein Mann auf dem Mond hat sich für die politische Programmatik der USA faktisch als dringlicher erwiesen als die Beseitigung des Analphabetismus oder gar der Armut. Der Bau eines weiteren Teilchenbeschleunigers für Milliarden von ECU ist den europäischen Demokratien faktisch wichtiger als der Kampf gegen Fremdenhass und engstirnigen Nationalismus. Trotz Habermas sind dies schlechte Zeiten für Vernunft und Aufklärung. Wenn ich dennoch für die Gegenwart von einer neuen Etappe der Verwissenschaftlichung sprechen möchte, so liegt dies daran, dass das, was fortschrittliche Philosophen seit Vico und Saint-Simon vergeblich gefordert haben, nun durch den weit wirksameren Zwang eines globalen ökonomischtechnologischen Wettbewerbes zur Überlebensfrage wird: Wie lassen sich die personalen, organisationalen und systemischen Ressourcen an Intelligenz, Innovativität und Invention fördern und nutzen, um das strategische Ziel der Wettbewerbsfähigkeit zu erreichen oder zu erhalten? Im frontalen Zugriff erwies sich das aufklärerische Projekt von Rationalität und Vernunft als zu hoch gegriffen. Durch die Hintertür allerdings könnte es gehen. Sobald Aufklärung nicht vornehmlich der Erbauung und dem herrschaftsfreien Diskurs dient, sondern der Sicherung der materiellen Wohlfahrt der Nationen, gibt es ein neues Spiel. Nun lässt sich risikolos prognostizieren, dass sogar Politik und Wirtschaft das Projekt der Volksaufklärung neu entdecken werden, wenn auch in der praktischen Absicht der optimalen Nutzung humaner und systemischer Ressourcen. Kaum sinnvoll ist es, an dieser Stelle etwas von einer neuen Dialektik der Aufklärung oder einer alten Bigotterie zu murmeln. Es ist nun einmal unvergleichlich wirkungsvoller, wenn das MITI (das japanische Technologieministerium) mit Zahlen über Bildungsstand, Fort- und Weiterbildung, Nutzung von »human resources« und Akademisierung der Berufe hantiert (als entsprechendes Werk eines ehemaligen hochrangigen Vertreters des MITI siehe Sakaiya 1991), als wenn dies Philosophen oder Soziologen tun. Ein funktionierendes duales System der Berufsausbildung ist ein weit schlagkräftigeres Argument für gelingende Aufklärung als jedes Traktat über das Wehen des Geistes. Erst wenn ein Mangel an neuen Ideen sich auf das Bruttosozialprodukt auswirkt, wird die Idee neuer Ideen politikfähig. Heute ist klar, dass <?page no="189"?> www.claudia-wild.de: [UTB-S]__Willke__Systemtheorie_3_Steuerungstheorie__[Druck-PDF]/ 11.12.2013/ Seite 190 www.claudia-wild.de: [UTB-S]__Willke__Systemtheorie_3_Steuerungstheorie__[Druck-PDF]/ 11.12.2013/ Seite 191 190 sich das Qualifikationsprofil der erwerbstätigen Bevölkerung zugunsten hochqualifizierter Tätigkeiten und zu Lasten einfacher Tätigkeiten verschieben wird. Dies bedeutet, dass bei einem ungefähr gleichbleibenden Anteil mittelqualifizierter Tätigkeiten ein deutlich höherer Bedarf an hochqualifizierter Ausbildung besteht, während einfache Qualifikationen, wie etwa ein Hauptschulabschluss, immer weniger nachgefragt werden. Eine parallele Entwicklung verschärft die damit angedeutete Problematik. Die Frage der globalen Wettbewerbsfähigkeit nationaler Ökonomien ist ja nicht nur ein belangloses Spiel um Zahlen über Exportüberschüsse, Führerschaft in Schlüsseltechnologien oder die Verwendung von Supercomputern. Die relative Leistungsfähigkeit einer Nationalökonomie schlägt unbarmherzig durch auf den Lebensstandard, das Beschäftigungsniveau und in vielen Hinsichten auf die Qualität des Lebens der Bevölkerung der betreffenden Nation, solange es noch national und mithin territorial definierte politische Systeme sind, welche die Gesamtheit kollektiver Güter und zentrale Momente der sozialen Versorgung und Absicherung in der Wohlfahrtsgesellschaft organisieren. Trotz globaler Verflechtung und internationaler wechselseitiger Abhängigkeiten kann deshalb einer Gesellschaft die relative Wettbewerbsfähigkeit ihrer Wirtschaft nicht gleichgültig sein. Deshalb wird die Wettbewerbsfähigkeit zum Thema und zum Problem der nationalen Politik. Die liberalistische Position, wonach sich die Wettbewerbsfähigkeit ohne äußeres Zutun durch den Markt selbst regelt, ist unhaltbar geworden, seit klar ist, dass der Markt nicht nur in kritischen Hinsichten versagt, sondern vor allem seit entwickelte Gesellschaften legitimerweise mit der Idee des Sozialstaates darauf reagieren, dass das komplexe, hochorganisierte und global vernetzte Marktgeschehen die Einflussmöglichkeiten von Individuen übersteigt (Willke 2003). Die humanen Kosten der Marktdynamik lassen sich deshalb nicht mehr umstandslos auf die betroffenen Individuen abwälzen. Vielmehr hat sich herausgestellt, dass kollektive Absicherungen gegen die unbeherrschbaren Risiken des Marktes durch Sozialversicherungen und Sozialleistungen unabdingbar sind, wenn eine Gesellschaft ein minimales Maß menschenwürdiger sozioökonomischer Ordnung gegenüber der Anarchie des Marktes etablieren will. Im Zuge fortschreitender Entwicklung ist heute zu erkennen, dass die üblichen Indikatoren und Zahlen zur »Leistungsfähigkeit« einer Nationalökonomie nur sehr begrenzt aussagekräftig sind oder gar in die Irre führen. Hält man daran fest, dass die Ökonomie nicht Selbstzweck ist, sondern den Sinn hat, einen verbesserten Lebensstandard und eine optimale Lebensqualität zu schaffen, dann wird man nicht umhinkönnen, neue Kriterien für die Qualität einer Ökonomie zu entwickeln. Allein die Tatsache, dass heute multinationale und transnationale Konzerne in vielen Schlüsselbereichen-- von <?page no="190"?> www.claudia-wild.de: [UTB-S]__Willke__Systemtheorie_3_Steuerungstheorie__[Druck-PDF]/ 11.12.2013/ Seite 190 www.claudia-wild.de: [UTB-S]__Willke__Systemtheorie_3_Steuerungstheorie__[Druck-PDF]/ 11.12.2013/ Seite 191 191 Computern über Autos und Autozubehör bis zur Unternehmensberatung-- in engen Oligopolen den Weltmarkt beherrschen (Esser 1993, S. 32ff ), bricht die für herkömmliche Indikatoren maßgebliche Bindung zwischen dem Ort der Produktion und dem Ort der Abschöpfung des ökonomischen Mehrwerts auf. Es kommt also weniger darauf an, wo etwas produziert wird, und es wird wichtiger, von wem Mehrwert geschaffen wird und an wen die Früchte der Arbeit fließen. Robert Reich (1991) spricht in diesem Zusammenhang vom »virtuellen Unternehmen«, das sich territorial ungebunden diverse Teilleistungen in einem kooperativen Netzwerk organisiert, die es für die Herstellung eines bestimmten hochwertigen Gutes benötigt. Gegenüber der globalen Beweglichkeit der Korporationen und der radikalen Ungebundenheit der Finanzmärkte sitzen territorial gebundene politische Systeme wie gestrandete Wale in der Falle ihrer Immobilität. Sie müssen zusehen, wie Unternehmen Teile oder die Gesamtheit ihrer Aktivität ins Ausland verlegen, wenn dort attraktivere Bedingungen vorherrschen. Sie sind machtlos, wenn lokale Niederlassungen globaler Firmen ohne Rücksicht auf territoriale Interessen handeln, wenn unerreichbare Konzernzentralen die Geschäftspolitik lokaler Unternehmen bestimmen, wenn Standorte aufgegeben werden, weil konkurrierende Standorte im Ausland bereit sind, höhere Risiken und geringere Absicherungen zu akzeptieren. Angesichts dieser Schwierigkeiten ist es umso befremdlicher, dass entscheidende gesellschaftliche und politische Akteure immer noch auf Indikatoren wie Außenhandelsbilanzen, Bruttosozialprodukt und quantitatives Wachstum starren. Demgegenüber gibt es eine Fülle an Evidenzen und Begründungen dafür, dass die einzig stabile Ressource einer territorial gebundenen Körperschaft-- ob Region, Nation oder überregionale Einheit wie die EU- - die im Territorium verankerte Intelligenz ist. Diese »eingebettete Expertise« umfasst drei Bereiche: die Intelligenz ihrer Infrastruktur, die organisational gebundene Expertise impliziten Wissens und das Bildungs-, Qualifikations- und Lernniveau der Bevölkerung. Tatsächlich ist, wie Peter Sloterdijk sagt, Intelligenz das letzte utopische Potenzial (1994, S. 55). Aber sie ist dies vor allem in dem Sinne, dass selbst entwickelte Gesellschaften bislang die Nutzung dieses Potenzials den Utopien überlassen, anstatt es selbst handfest zur Wirkung zu bringen. Was sind nun die Konturen und Regeln des neuen Spiels? Ich werde diese Frage an zwei Fällen eingebetteter Expertise analysieren. Zunächst auf der Ebene von Gesellschaften anhand der Bemühungen um den Aufbau einer wissensbasierten Infrastruktur; und dann auf der Ebene von Organisationen anhand des Problems des Wissensmanagements in Unternehmen. <?page no="191"?> www.claudia-wild.de: [UTB-S]__Willke__Systemtheorie_3_Steuerungstheorie__[Druck-PDF]/ 11.12.2013/ Seite 192 www.claudia-wild.de: [UTB-S]__Willke__Systemtheorie_3_Steuerungstheorie__[Druck-PDF]/ 11.12.2013/ Seite 193 192 7.2 Wissensbasierte Infrastruktur »If you can touch it, it’s not real« (Manager, zit. bei Peters, 1992, S. 8) Der Aufbau einer wissensbasierten öffentlichen Infrastruktur stellt zwei sehr unterschiedliche Fragen an die Politik: Zunächst ist zu prüfen, ob die Übernahme dieser Aufgabe ein legitimes Unterfangen ist, oder ob die Politik hier eine Funktion usurpiert, die sie in einer funktional differenzierten, demokratischen Gesellschaft nichts angeht. Lässt sich die Legitimität der Aufgabe als staatliche begründen, dann bleibt die Frage, in welcher Art und Weise die Politik die Schaffung einer öffentlichen wissensbasierten Infrastruktur leisten kann und soll. Bei dieser neuen Aufgabe ist von vornherein ausgeschlossen, dass die Politik Wissen, Wissensproduktion oder Wissensverwendung monopolisiert. Aber sie kann angesichts der sich dramatisierenden Wissensabhängigkeit moderner Gesellschaften dies auch nicht gänzlich dem Wissenschaftssystem, privaten Organisationen oder Individuen überlassen. Nach einem auf Expertise bezogenen Subsidiaritätsprinzip müssen umfassendere Institutionen oder Sozialsysteme und schließlich in letzter Instanz die Politik als Ort kollektiv verbindlicher Entscheidungen in der Lage sein, all das Wissen durch Gegenwissen kontrollieren zu können, was konkrete Gefahren für Leib und Leben der Bürger heraufbeschwört. Da derartige konkrete Gefährdungen heute nicht mehr zu bestreiten sind, obliegt es dem Staat, und zwar ganz im Rahmen der klassischen Definition seiner Aufgabe, eine wissensbasierte Infrastruktur aufzubauen, die den Einsatz des erforderlichen Gegenwissens leistet und kontrolliert. Beispiele hierfür lassen sich vor allem in Bereichen finden, in denen wissensbasierte Technologien heute die Spitze der Entwicklung markieren. Besonders gravierend ist der Fall der Nutzung der Atomenergie. Hier stand anfangs der Politik und ihren Entscheidungsgremien das notwendige Gegen- Wissen weder zur Verfügung, noch waren Verfahren vorgesehen, anderweitig vorhandenes zu nutzen, um das in interessierten Organisationen und Funktionssystemen entwickelte Wissen kontrollieren zu können (Kitschelt 1989). Vergleichbares gilt für Kommunikationstechnologien, Raumfahrt, neue Transportsysteme wie Hochgeschwindigkeitszüge oder Magnetbahnen, neue Arzneimittel, umweltgefährdende Produktionstechnologien, neue Waffentechnologien und -systeme, einschneidende Veränderungen der Nahrungsmittelproduktion etc. Je mehr in allen diesen Bereichen Wissen zur Grundlage von Produkten, Verfahren und intendierten Wirkungen wird, desto <?page no="192"?> www.claudia-wild.de: [UTB-S]__Willke__Systemtheorie_3_Steuerungstheorie__[Druck-PDF]/ 11.12.2013/ Seite 192 www.claudia-wild.de: [UTB-S]__Willke__Systemtheorie_3_Steuerungstheorie__[Druck-PDF]/ 11.12.2013/ Seite 193 193 gravierender wirkt sich der entsprechende Mangel an Wissen (Gegen-Wissen, Kontroll-Wissen, Steuerungs-Wissen) aus. Der Rechtsstaat wurde hervorgetrieben durch einen Mangel an Macht, welche der Anwendung illegitimer Gewalt Einhalt hätte gebieten können. Der Sozial- und Wohlfahrtsstaat wurde erzwungen durch einen Mangel an Geld, dessen Einsatz die gewalttätigen Folgen der Armut hätte erträglich machen können. Ganz analog muss man heute feststellen, dass ein Mangel an Wissen eine neue Staatsfunktion fordert, einen präventiven Staat, weil mit der Ausbreitung wissensbasierter Technologien das individuelle und kollektive Risiko eines unkontrollierten Wissens sich selbstzerstörerisch auswirken kann. Dass mit der modernen Bedeutung der Ressource Wissen eine neue Qualität gesellschaftlicher Problemlagen und staatlicher Aufgaben ins Spiel kommt, haben Beobachter von ganz unterschiedlichen Fluchtpunkten aus gesehen. So unterschied Daniel Bell bereits vor etwa 20 Jahren (1976, S. XV) verschiedene Formen von Infrastruktur nach dem »Gut«, das diese Infrastrukturen prozessieren. Schematisch zusammengefasst, ergibt sich folgendes Bild (siehe Tabelle 7.1). In erster Linie unter dem Aspekt der vorrangig verwendeten Medien kommt Dieter Freiburghaus (1991) zu vier unterschiedlichen Phasen der Entwicklung der Mittel staatlichen Handelns, die gut mit den hier zugrunde gelegten drei Formen von Infrastruktur zusammenpassen. Wiederum schematisch komprimiert lässt sich dieser Vorschlag in folgender Weise darstellen (siehe Tabelle 7.2). Zum Vergleich möchte ich im nächsten Schema einige Aspekte der hier unterschiedenen Formen von staatlicher Infrastruktur zusammenfassen Tabelle 7.1: Typen der Infrastruktur nach Bell (1976) Form der Infrastruktur prozessiertes Gut Träger (Beispiele) Transportnetz Bewegung von Personen und Gütern Straßen, Kanäle, Schienen, Flughäfen Energienetz Übertragung von Energie Elektrizitäts-, Gas-, Ölleitungen Telekommunikationsnetz Übertragung von Informationen Telefon, Radio, TV Datennetz Austausch von Dateien, Bildern, Multimedia- Produkten Datenaustauschnetze wie lokale und regionale Netze Quelle: Bell (1976) <?page no="193"?> www.claudia-wild.de: [UTB-S]__Willke__Systemtheorie_3_Steuerungstheorie__[Druck-PDF]/ 11.12.2013/ Seite 194 www.claudia-wild.de: [UTB-S]__Willke__Systemtheorie_3_Steuerungstheorie__[Druck-PDF]/ 11.12.2013/ Seite 195 194 (siehe Tabelle 7.3). Wichtig ist dabei, dass zwar die Ausbildung unterschiedlicher Infrastrukturen nach wie vor in einer klaren historischen Ordnung erfolgt. Aber die verschiedenen Infrastrukturen lösen sich natürlich nicht ab, sondern sie überlagern sich zu einem verwickelten Zusammenhang von Infrastrukturen, die jeweils auf bestimmte gesellschaftliche Problemlagen bezogen sind und ihr Gewicht aus der relativen Dominanz des jeweiligen Problems beziehen. Ebenso wie die Ausbildung der »Organisationsgesellschaft« das politische Funktionssystem zu der Einsicht zwingt, dass die Existenz großer Organisationen eine neue Kategorie möglicher Bedrohung elementarer Rechtsgüter der Bürger mit sich bringt, so zwingt die Ausbildung der »Wissensgesellschaft« zu der Einsicht in eine neue Rolle der Politik in der Prävention von individuell nicht zurechenbaren fatalen Irrtümern und der Kontrolle indivi- Tabelle 7.2: Medien und Machtbasen nach Freiburghaus Jahrhundert Medium Machtbasis Leitwissenschaft 15. bis 17. Gewalt Armee, Polizei Militärwissenschaften 18. bis 19. Recht Sanktionssysteme Rechtswissenschaft 19. bis 20. Geld Fiskalische Disponibilität Politische Ökonomie 20. bis 21. Information Zentralität der Position in den Kommunikationsnetzen Informatik, Kybernetik Quelle: Freiburghaus (1991) Tabelle 7.3: Gesellschaftliche Problemlagen, Knappheiten und öffentliche Infrastruktur Problem Knappes Gut Infrastruktur Träger (Beispiele) Gewalt Macht Macht-basiert Polizei, Militär, Gerichte Armut Geld Geld-basiert Finanzämter, Sozialämter, Sozialwohnungen Ignoranz Wissen Wissens-basiert Forschungsinstitute, Expertensysteme, Beratungsinstitutionen Quelle: Eigene Darstellung <?page no="194"?> www.claudia-wild.de: [UTB-S]__Willke__Systemtheorie_3_Steuerungstheorie__[Druck-PDF]/ 11.12.2013/ Seite 194 www.claudia-wild.de: [UTB-S]__Willke__Systemtheorie_3_Steuerungstheorie__[Druck-PDF]/ 11.12.2013/ Seite 195 195 duell nicht zurechenbarer Risiken. Aber auch hier wäre es unverantwortlich, das Kind mit dem Bade auszuschütten. Die kontextuelle Kontrolle verzweigter Konzerne und korporativer Akteure durch politische Gegenmacht und fiskalische Ressourcen muss die Autonomie der internen Operationsweise dieser Systeme respektieren und auf direkte Interventionen zugunsten einer Anleitung zur Selbstkorrektur verzichten, will sie nicht die evolutionären Vorteile und zivilisatorischen Errungenschaften hoher Organisiertheit und operativer Autonomie verspielen. Der Preis für die Respektierung dieser internen Autonomie ist die politische Kompetenz für die Kontrolle von »public bads«, also von negativen Externalitäten der Operationsweise von Organisationen, wenn diese öffentliche Güter beeinträchtigen. Für die Ressource Wissen und das Risiko von Ignoranz trifft dieses Argument in analoger Weise zu. Auch hier ist die neuartige Bedrohung insbesondere durch wissensbasierte Technologien biologischer, chemischer, atomarer und informationeller Art offensichtlich genug. Aber die Autonomie der Wissenschaft ist ein kostbares Gut und wesentlicher Bestandteil der Modernität hochentwickelter Gesellschaften. Niemand, der darum weiß, wird sie leichtfertig aufs Spiel setzen. Dennoch resultieren auch aus der Operationsweise von Wissenschaft negative externe Effekte, insbesondere in Form schwer kalkulierbarer technologischer Risiken, die oft erst erkennbar werden, wenn Inventionen in Innovationen umgesetzt werden. Es ist nun genau eine solche prozessuale Betrachtung der Wirkung von Wissen und der Entstehung von negativen Externalitäten, die es erlaubt, die einschnürende Dichotomie von Autonomie versus Kontrolle aufzuheben. So lassen sich dann variable Mischverhältnisse von Autonomie und Kontrolle denken, je nachdem, wie weit entfernt wissenschaftliche Operationen von einem sozial relevanten Anwendungsbezug entfernt sind. Systemtheoretisch kann man diese Dimension auch als Differenz von Beobachtung und Operation, von Erleben und Handeln formulieren: Mit zunehmendem Handlungsbezug steigt die Wahrscheinlichkeit der in einer wissenschaftlich/ technischen Innovation involvierten Riskanz; mit zunehmendem Handlungsbezug muss deshalb mit sozial relevanten negativen Externalitäten gerechnet werden; mit zunehmendem Handlungsbezug ist deshalb eine politische Kontrolle wissensbasierter Technologien eine dringlichere Option. Insgesamt lässt sich also wohl begründen, dass der Aufbau einer wissensbasierten Infrastruktur dann eine legitime Staatsaufgabe ist, wenn sie das unabdingbare Kontroll- und Steuerungswissen betrifft, welches das politische System braucht, um verantwortlich über Themen zu entscheiden, die aufgrund ihrer Wissensabhängigkeit eine konkrete Gefährdung der Bürger als Nutzer, Anlieger etc. nicht ausschließen lassen (ausführlicher dazu Willke 1992, Kapitel 3.3). Diese Formulierung macht die Legitimität des staatliwww.claudia-wild.de: <?page no="195"?> [UTB-S]__Willke__Systemtheorie_3_Steuerungstheorie__[Druck-PDF]/ 11.12.2013/ Seite 196 www.claudia-wild.de: [UTB-S]__Willke__Systemtheorie_3_Steuerungstheorie__[Druck-PDF]/ 11.12.2013/ Seite 197 196 chen Handelns davon abhängig, wie deutlich der Handlungsbezug der verhandelten Wissensformen, Technologien, Strategien, Instrumente, Modelle etc. ausgeprägt ist. Ist ein Handlungsbezug der zur Debatte stehenden Wissensformen nur sehr entfernt erkennbar, dann überwiegt gegenüber dem Kontrollbedarf der Politik der Autonomiebedarf des Wissenschaftssystems. Ist der Handlungsbezug konkret spürbar, messbar, nachweisbar oder mit vernünftiger Wahrscheinlichkeit plausibel zu machen, dann verschieben sich die Gewichte. Unvermeidbar wird die Frage der Legitimität damit zu einer Frage der Abwägung, aber das ist keineswegs eine neue Erscheinung (Scharpf 2007; Scharpf 2012), sondern betrifft alles öffentliche Handeln, das in die Beziehungen mehrerer autonomer Akteure oder Systeme eingreift. Für den Fall der Abstimmung zwischen der Autonomie des Wissenschaftssystems einerseits und der legitimen Kontrollbefugnisse des politischen Systems andererseits lässt sich dieser Zusammenhang verdeutlichen, indem verschiedene Arten wissenschaftlicher Operationen in einem Koordinatenkreuz mit den Dimensionen Autonomie (Komponente des Beobachtens oder Erlebens und deshalb der Handlungsentlastung) und Kontrolle (Komponente der Operation oder des Handlungsbezuges) eingeordnet werden. Dabei reicht das Spektrum von nahezu gänzlich unkontrollierten und weitestgehend autonomen Formen wie Fundamentalkritik, Theorieentwicklung und Grundlagenforschung über Mittellagen etwa bei anwendungsorientierter Industrieforschung bis zum umgekehrten Mischungsverhältnis bei der Erprobung von Risikotechnologien. Diese unterschiedlichen Formen oder Ausprägungen wissenschaftlicher Tätigkeit spiegeln wider, dass es in modernen Gesellschaften zwar mit dem Wissenschaftssystem ein ausdifferenziertes und operativ spezialisiertes Funktionssystem für wissenschaftliche Kommunikationen gibt; doch existieren gleichzeitig vielfältige »centers of expertise« (Jasanoff 1990, S. 76), die operatives Wissen produzieren und verwalten, und die somit in den gesellschaftlich umfassenden Prozess der Allokation und Dislozierung von Wissen eingreifen. Zu beantworten ist noch die zweite Frage nach der Art und Weise der praktischen Herstellung einer wissensbasierten Infrastruktur. Zum einen gibt es eine jahrhundertelange Tradition der Realisierung einer wissenschaftlichen Infrastruktur, vor allem in der Gründung von Universitäten und speziellen Forschungseinrichtungen. Heute besteht diese Seite der wissensbasierten Infrastruktur z. B. in Deutschland aus einer fein abgestuften Reihe unterschiedlich ausgerichteter Forschungseinrichtungen, die im Verhältnis ihrer »Grundausstattung« zur zusätzlich notwendigen »Drittmittelausstattung« erstaunlich genau die Abstufungen unterschiedlicher Typen der Forschung widerspiegeln. <?page no="196"?> www.claudia-wild.de: [UTB-S]__Willke__Systemtheorie_3_Steuerungstheorie__[Druck-PDF]/ 11.12.2013/ Seite 196 www.claudia-wild.de: [UTB-S]__Willke__Systemtheorie_3_Steuerungstheorie__[Druck-PDF]/ 11.12.2013/ Seite 197 197 Die Grundausstattung bezeichnet die von öffentlichen Haushalten zweckfrei, d. h. ohne spezifischen Forschungsauftrag zur Verfügung gestellten Mittel. Die Drittmittel kommen von öffentlichen oder privaten Einrichtungen der Forschungsförderung mit unterschiedlichen Graden der Bindung der Mittel an spezifische Forschungsaufträge. Das Verhältnis von Grundausstattung und Drittmittel bezeichne ich als die Quote der Autonomie einer Forschungseinrichtung. An der Spitze einer Skala, die mit hundertprozentiger Grundausstattung beginnt und bei anwendungsorientierten Einrichtungen der Entwicklung praktischer Produkte endet, stehen universitäre Forschungsinstitute der Fundamentalkritik, wie Institute für Philosophie oder Gesellschaftstheorie. Sie sind autonom und in ihrer Unabhängigkeit durch die Wissenschaftsfreiheit des Grundgesetzes gedeckt. Am Ende der Skala finden sich F&E-Einrichtungen (Einrichtungen für Forschung und Entwicklung), die gar keine oder eine vernachlässigbare Grundausstattung erhalten (siehe Tabelle 7.4). Interessanterweise haben sich aber in den letzten Jahrzehnten eine Reihe unabhängiger Forschungseinrichtungen etabliert, die sich vor allem unter ökologischen Gesichtspunkten auf die Kritik und Kontrolle der »normalen« Forschung und Entwicklung konzentrieren. Dazu gehören Forschungs- und Tabelle 7.4: Autonomie-Quotient unterschiedlicher Teile der wissensbasierten Infrastruktur Typ der Forschung Grad der Autonomie Institution (Beispiele) Fundamentalkritik 100 % Forschungsinstitut für Systemtheorie Grundlagenforschung 80-100 % Universitäten Max-Planck-Institute Anwendungsorientierte Grundlagenforschung ca. 50 % Großforschungseinrichtungen angewandte Forschung ca. 30 % Fraunhofer-Institute Entwicklung marktfähiger Technologien und Expertise 0-20 % F&E-Abteilungen privater Unternehmen; Ressortforschung der Ministerien (Nachweise für die einzelnen Einrichtungen bei Hohn und Schimank 1990; zur Grundförderung der Großforschungseinrichtungen S. 234, der Fraunhofer Gesellschaft S. 174. Eine Liste der 13 Großforschungseinrichtungen der BRD findet sich dort auf S. 234, eine Liste der Forschungseinrichtungen der Bundesministerien auf S. 297). <?page no="197"?> www.claudia-wild.de: [UTB-S]__Willke__Systemtheorie_3_Steuerungstheorie__[Druck-PDF]/ 11.12.2013/ Seite 198 www.claudia-wild.de: [UTB-S]__Willke__Systemtheorie_3_Steuerungstheorie__[Druck-PDF]/ 11.12.2013/ Seite 199 198 Laboreinrichtungen von Greenpeace ebenso wie unabhängige Test-Institute oder von privaten Stiftungen getragene wissenschaftliche Einrichtungen mit Aufträgen wie Friedensforschung, Rüstungskontrollforschung, Schutz der Meeressäuger etc. (Thränhardt 1992, S. 226). Neben dieser langen Tradition der Herstellung einer öffentlichen wissenschaftlichen und wissensbasierten Infrastruktur einer Gesellschaft beginnt im 19. Jahrhundert der Aufbau technischer Infrastruktursysteme der Individual- Telekommunikation über öffentliche Netze (Mayntz u. a. 1988, S. 236). »Die Netze der Individualkommunikation (Telegraph, Telefon, Telex, Telefax) wurden weltweit als öffentliche Unternehmen mit Versorgungspflicht organisiert.-… Gemeinsam war ihnen eine standardisierte Technik, die wirtschaftlich mit den Attributen eines natürlichen Monopols verbunden war« (Mestmäcker 1993, S. 132). Gegenwärtig nimmt eine dritte Stufe der Entwicklung Gestalt an. Unter dem Schlagwort »Information-Superhighway« beschäftigt dieses Thema zunehmend die Fantasie von Befürwortern und Gegnern. Inzwischen haben die USA eine gewisse Führungsrolle in den Planungen und in Modellversuchen zum Datenhighway übernommen. Al Gore, damals US-Senator für Tennessee und heute Vizepräsident der USA, sprach bereits 1991 von einer neuen Herausforderung: »Today, there is a new infrastructure challenge« (Gore 1991, S. 188). Zunächst ging es im Rahmen einer »Super-Computer-Initiative« darum, das »National Research and Education Network« (NREN) auf der Grundlage des bestehenden Internet auszubauen (dessen Grundlagen nicht zufällig ihrerseits von DARPA, dem »Defense Advanced Research Projects Agency« finanziert und gefördert wurden). Bereits Ende der 1980er-Jahre hatte die amerikanische National Science Foundation ein Hochgeschwindigkeitsnetz finanziert, um die 16 Supercomputer-Zentren der Vereinigten Staaten zusammenzuführen (übrigens mit externen Verbindungen, etwa zum europäischen CERN). Der Aufbau des NREN sollte im ersten Jahr etwa eine Milliarde Dollar und für die erste Planungsphase von fünf Jahren insgesamt zwei Milliarden Dollar kosten- - das sind etwa die Kosten eines einzigen B-2 Bombers (Fisher 1991, S. 182). Richtig Schwung bekam die Idee des Datensuperhighways mit dem Regierungswechsel Anfang 1993. Bereits Mitte dieses Jahres legte die Clinton-Regierung dem Kongress den Vorschlag eines »National Information Infrastructure«-Gesetzes vor mit dem Ziel, ein übergreifendes nationales Netz der Kommunikationsnetze zu konstruieren, »a seamless web of communications networks, computers, databases, and consumer electronics that will put vast amounts of information at users’ <?page no="198"?> www.claudia-wild.de: [UTB-S]__Willke__Systemtheorie_3_Steuerungstheorie__[Druck-PDF]/ 11.12.2013/ Seite 198 www.claudia-wild.de: [UTB-S]__Willke__Systemtheorie_3_Steuerungstheorie__[Druck-PDF]/ 11.12.2013/ Seite 199 199 fingertips. Development of the NII can help unleash an information revolution that will change forever the way people live, work, and interact with each other« (The National Information Infrastructure: Agenda for Action, Executive Summary, S. 1). Aufschlussreich ist, dass bereits dieser Vorschlag ziemlich detailliert die Rolle der Regierung (der Politik) im Prozess der Schaffung der NII ausführt. Danach soll der Beitrag der Politik von folgenden Prinzipien geleitet sein: • Enge Zusammenarbeit mit Wirtschaft, Gewerkschaften, Wissenschaft, der Öffentlichkeit, Kongress, Länder (states) und Kommunen. • Förderung privater Investitionen durch entsprechende Steuer und Regulierungspolitik. • Sicherung des Prinzips des »Allgemeinen Zugangs« mit dem Ziel, die Informations-Ressourcen zu einem vertretbaren Preis zugänglich zu machen. • In der Rolle eines Katalysators technische Innovation und neue Anwendungen zu fördern. • Förderung einer nahtlosen, interaktiven, anwenderfreundlichen Operationsweise der NII. • Sicherung der Informationssicherheit und der Zuverlässigkeit des Netzwerks. • Verbesserung des Managements der Radiofrequenzen. • Schutz der intellektuellen Eigentumsrechte (Copyright, Patentschutz). • Förderung der föderalen und internationalen Kooperation. • Sicherung des Zugangs zu Informationen der Regierung und Verbesserung der Beschaffungsverfahren für öffentliche Aufträge. Insgesamt hat der NII das Ziel einer Stärkung der nationalen Wettbewerbsfähigkeit der USA im internationalen, insbesondere im triadischen Konkurrenzkampf (d. h. im Wettbewerb der drei Hauptakteure USA, Japan und Europa): »An advanced information infrastructure will enable U. S. firms to compete and win in the global economy, generating good jobs for the American people and economic growth for the nation« (The National Information Infrastructure: Agenda for Action, Executive Summary, S. 2 f.; Hervorhebung H. W.). Eine wesentliche Leistung dieser Infrastruktur aus Netzwerken von Datenleitungen (Datennetzen) besteht darin, territorial ungebundene translokale Kommunikationen zu erleichtern, indem Informationen schnell und kostengünstig gefunden, ausgetauscht und verwendet werden können. In einer informations- und wissensabhängigen Gesellschaft hat diese Leistung ganz <?page no="199"?> www.claudia-wild.de: [UTB-S]__Willke__Systemtheorie_3_Steuerungstheorie__[Druck-PDF]/ 11.12.2013/ Seite 200 www.claudia-wild.de: [UTB-S]__Willke__Systemtheorie_3_Steuerungstheorie__[Druck-PDF]/ 11.12.2013/ Seite 201 200 offensichtlich grundlegende Auswirkungen auf eine ganze Reihe von Faktoren der Produktivität, Innovativität und mithin auf die Leistungs- und Wettbewerbsfähigkeit einer nationalen (und auch regionalen oder lokalen) Ökonomie. Der Aufbau einer wissensbasierten Infrastruktur der zweiten Generation (»intelligente Infrastruktur«) wird damit zum Joker im globalen technologisch-ökonomischen Wettbewerb der Nationen. So wie die öffentliche Infrastruktur an Energie- und Versorgungsleitungen, Straßen und Schienen das Potenzial der Manufakturen und Fabriken der ersten und zweiten industriellen Revolution erst zur Entfaltung bringt, so scheint es die Infrastruktur an Kommunikationsnetzen für den elektronisch vermittelten, digitalisierten Datenaustausch zu sein, welche das Potenzial der dritten industriellen Revolution erst zur Realität werden lässt: »The Administration is moving to correct chronic underinvestment in infrastructural technologies essential to innovation and improvements in manufacturing. Sometimes called generic technologies because of their broad industrial utility, infrastructural technologies underpin the Nations’s economic competitiveness.-… To capture the economic benefits of innovation, the Nation also requires other elements of a broadly supporting infrastructure, which enhances industry’s ability to assimilate and capitalize on new technologies and new technical and scientific information. These critical elements include a modern manufacturing base, an advanced transportation system, and, as the Nation and world proceed further into the Information Age, a National Information Infrastructure« (Clinton 1993, Hervorhebung H. W.). Solange Wettbewerbsfähigkeit und wirtschaftliches Wachstum vornehmlich von den Faktoren Arbeit, Kapital und Boden abhing, war eine politische Steuerung der Ökonomie über Landgewinnung oder über Programme der Schulung, Ausbildung und Qualifizierung möglich. Dagegen entzog sich die Ökonomie einer solchen direkten Beeinflussung mit der zunehmenden Bedeutung von Geld und Zahlungsoperationen als internen Referenzparametern des ökonomischen Handelns. Jegliche externe Intervention wurde als Störung und Verzerrung der autonomen Funktionsweise der Ökonomie gewertet, soweit sie nicht, wie etwa die Antikartellgesetzgebung gerade der Sicherung des Wettbewerbs selbst diente. Im Ordoliberalismus und im Ökonomiemodell der »Chicago Schule« zählte nur das als ökonomisch valide, was sich auf dem Markt durchsetzte; und der »Wettbewerb als Entdeckungsverfahren« (Friedrich von Hayek) galt bereits als ausreichendes Modell der Evolution und Selbststeuerung der Ökonomie. Allerdings gibt es keinen Grund, die Leistung dieser auf Selbstreferenz und Selbstorganisation beruhenden Operationsweise der Ökonomie gering <?page no="200"?> www.claudia-wild.de: [UTB-S]__Willke__Systemtheorie_3_Steuerungstheorie__[Druck-PDF]/ 11.12.2013/ Seite 200 www.claudia-wild.de: [UTB-S]__Willke__Systemtheorie_3_Steuerungstheorie__[Druck-PDF]/ 11.12.2013/ Seite 201 201 zu schätzen. Sie ermöglichte eine Eigendynamik, Innovativität und Produktivität moderner »westlicher« Ökonomien, die wohl erst heute aus dem Vergleich mit dem leidvollen Konkurs des Modells einer politisch abhängigen, sozialistischen Ökonomie adäquat eingeschätzt werden kann. Meine Vermutung ist dennoch, dass Idee und Realität einer autonomen, operativ geschlossenen und selbstreferenziell sich steuernden Ökonomie ihren Zenit überschritten haben. Kernpunkt der gegenwärtigen Veränderungen ist, wie oben ausgeführt, die Wissensabhängigkeit eines nicht mehr vernachlässigbaren Anteils der neuen Produkte, Produktionsverfahren, Dienstleistungen und Finanzierungsinstrumente. Sicherlich war auch bislang wirtschaftliches Produzieren nicht ohne Wissen möglich. Aber es war ein Wissen, das in Schule und Berufsausbildung langfristig erworben wurde und langfristig angewendet werden konnte. Heute diffundiert die Wissensabhängigkeit in alle Phasen des Produktionszyklus, von der Idee eines neuen Produktes bis zum Recycling der Restbestandteile. Zugleich ändert sich das Tempo der Veränderung der Wissensbasis so, dass eine kontinuierliche Revision der Wissenskomponenten der Produktion unumgänglich ist. Damit aber werden Erzeugung, Anwendung und Revision von Wissenskomponenten zum integralen Bestandteil des unternehmerisch-ökonomischen Handelns. Und die infrastrukturellen Voraussetzungen dieses Handelns transformieren sich gegenwärtig von den Infrastrukturen des Industriezeitalters zu »intelligenten« elektronischen Infrastrukturen der zweiten Generation: »No nation can operate a 21st-century economy without a 21st-century electronic infrastructure, embracing computers, data communication, and the other new media. This requires a population as familiar with this informational infrastructure as it is with cars, roads, highways, trains, and the transportation infrastructure of the smokestack period« (Alvin Toffler, zit. bei Peters, 1992, S. 111). Bereits in den Kapiteln 5 und 6 haben wir am Fall der machtbasierten und der geldbasierten Infrastrukturen erster Ordnung gesehen, dass sie ein wesentliches Kollektivgut darstellen. Ihre Funktion ist, die Transaktionskosten politischen und ökonomischen Handelns insgesamt zu senken, in gewissen Fällen so weit zu senken, dass überhaupt Transaktionen eines bestimmten Typs zustande kommen. Transaktionskosten sind die Kosten für die Verhandlung, Prüfung und Durchsetzung von Vereinbarungen über Transaktionen, wobei diese sowohl Waren und auch Dienstleistungen umfassen können. In einer knapperen Formulierung sind Transaktionskosten »the costs of measuring and enforcing agreements« (North 1990, S. 362). Ein zunehmend wichtiger Faktor dieser Kosten ist die Sammlung und Übermittlung der einer Vereinbarung oder Dienstleistung zugrundeliegenden Informationen. <?page no="201"?> www.claudia-wild.de: [UTB-S]__Willke__Systemtheorie_3_Steuerungstheorie__[Druck-PDF]/ 11.12.2013/ Seite 202 www.claudia-wild.de: [UTB-S]__Willke__Systemtheorie_3_Steuerungstheorie__[Druck-PDF]/ 11.12.2013/ Seite 203 202 Hauptgründe für Transaktionskosten sind: • Kosten der Sammlung und Übermittlung von Informationen • Opportunitätskosten begrenzter Rationalität (begrenzter Zugang zu Informationen) • Ungewissheit und Komplexität der Transaktionsbeziehungen • Kosten von Opportunismus (kurzfristige Orientierung vs. Systemrationalität) • Marktzugangsbarrieren • Kosten differentieller Unwissenheit • »asset specificity« (langfristige Festlegung auf bestimmte Typen von Transaktionen (siehe Gilbert 1992, S. 412)). Auch im spezielleren Kontext der Wirtschaft lässt sich eine historische Entwicklung der Art der vorrangigen Transaktionskosten beobachten. Das ist wenig überraschend, weil die spezifische Operationsweise der Wirtschaft bestimmt, welche Art von Transaktionskosten dabei anfallen. 1. Das Marktmodell der Wirtschaft setzt eine machtbasierte Infrastruktur voraus, also neben innerer und äußerer Sicherheit auch Rechtssicherheit und (durchsetzbare) Vertragsfreiheit. Zentrale Transaktionskosten sind hier die Sicherung und Durchsetzung von Tauschbeziehungen. Die machtbasierte Infrastruktur dient der Senkung dieser Kosten. 2. Das Unternehmens-/ Markt-Modell der Wirtschaft, geformt durch die erste und zweite industrielle Revolution, setzt eine geldbasierte Infrastruktur im Sinne von öffentlichen Sicherungs- und Versicherungssystemen gegen die Folgen der Inhumanität des Kapitals und die Chaotik des Marktes voraus. Zentrale Transaktionskosten sind hier die Messung adäquater Leistungen in Arbeitsverhältnissen, deren Randbedingungen (Unfall, Arbeitslosigkeit etc.) nicht voraussehbar sind. Die geldbasierte Infrastruktur dient der Senkung dieser Kosten. 3. Das Hochtechnologie-Modell der Wirtschaft, geformt durch die dritte industrielle Revolution, setzt eine wissensbasierte Infrastruktur im Sinne von Experten- und Support-Systemen voraus- - gegen die spezifischen Risiken großtechnischer und risikotechnischer Systeme, der Informatisierung und der Wissensabhängigkeit der Produktion. Dies gilt vor allem für Betriebe mit spezialisierter Expertise und differenzierten Märkten, die in ihren Transaktionen auf dezentrale kooperative Netzwerke angewiesen sind. Hier entfaltet sich eine »logic of connective action«, die denjenigen Systemen nutzt, welche entsprechende Expertise im Umgang mit zugänglichen Informationen und Transaktionsleitsystemen entwickeln: »Indeed, creating institutions that provide low costs of transacting in economic <?page no="202"?> www.claudia-wild.de: [UTB-S]__Willke__Systemtheorie_3_Steuerungstheorie__[Druck-PDF]/ 11.12.2013/ Seite 202 www.claudia-wild.de: [UTB-S]__Willke__Systemtheorie_3_Steuerungstheorie__[Druck-PDF]/ 11.12.2013/ Seite 203 203 markets is the key issue to creating productive economies« (North, 1990, S. 362). (Vgl. zu dieser historischen Entwicklung Tabelle 7.5). »Intelligente« Transaktionsleitsysteme der zweiten Generation sind z. B. die unterschiedlichen geplanten oder bereits in Pilotprojekten etablierten Daten- Superhighways; Personen- und Güter-Superhighways mit elektronischen Verkehrsleitsystemen (die gegenwärtig vor allem auf kommunaler Ebene projektiert sind); Forschungsverbunde; Technologietransfereinrichtungen; Technologiedisseminationssysteme; regionale und globale Datenbanken zu Opportunitäten und Risiken; Verhandlungssysteme für Standardisierung und Sicherheitsstandards. Zentrale Transaktionskosten, welche durch diese neuen Infrastruktursysteme verringert werden sollen, sind hier die Prozessierung von Informationen und Kommunikationen zur Koordination und Kontrolle nicht hierarchischer Netzwerkbeziehungen zwischen zugleich interdependenten und konkurrierenden Systemen. Die wissensbasierte Infrastruktur dient der Senkung dieser Kosten: »To the extent that new forms of cooperation between organizations are enabled, ›intelligent networks‹ provide new sources of competitive advantage« (Gilbert 1992, S. 408). Ein weiteres Ziel von Transaktionsleitsystemen ist die Erleichterung der (informationellen) Verknüpfung von Unternehmen. Bei zunehmendem Austausch wissenschaftlicher, technischer medizinischer und massenmedialer Daten zwischen Unternehmen und Organisationen sind erheblich gesteigerte Netzkapazitäten schon aus Zeitgründen unabdingbar. Tabelle 7.5: Dominante Transaktionskosten und erforderliche Infrastruktur Modell der Firma Dominante Transaktionskosten Notwendige Infrastruktur Beispiele Marktmodell Durchsetzung von Verträgen Machtbasierte Infrastruktur Rechtssicherheit; Eigentumsrechte Unternehmens/ Markt-Modell Messung adäquater Leistungen in Austauschbeziehungen macht- und geldbasierte Infrastruktur Zwangsversicherungen; Solidargemeinschaften Hochtechnologie- Modell Koordination interdependenter Beziehungen macht-, geld- und wissensbasierte Infrastruktur Transaktionsleitsysteme; Innovationsdisseminationssysteme Quelle: Eigene Darstellung <?page no="203"?> www.claudia-wild.de: [UTB-S]__Willke__Systemtheorie_3_Steuerungstheorie__[Druck-PDF]/ 11.12.2013/ Seite 204 www.claudia-wild.de: [UTB-S]__Willke__Systemtheorie_3_Steuerungstheorie__[Druck-PDF]/ 11.12.2013/ Seite 205 204 Um sich die Übertragungsleistung deutlich zu machen, muss man sich vorstellen, dass bei einer Leistung von etwa 600 Mbit/ s der gesamte Inhalt der Encyclopedia Britannica mit etwa 13 Millionen Wörtern in knapp einer Sekunde (! ) übertragen werden kann. Allerdings steigt bei Sprache und vor allem bei bewegten Bildern die Datenmenge stark an. Dass sich für diese Leistungen tatsächlich ein Bedarf entwickelt, zeigen Beispiele aus der Praxis, bereits laufende Pilotprojekte und Prognosen. Arbeiten z. B. verteilte Entwicklungslabors einer Weltfirma in der Form der »parallelen Entwicklung« zusammen, so dauert der Austausch einer komplexen CAD-Datei bei einer Netzleistung von 64 kbit/ s einen ganzen Arbeitstag oder länger. Mit heutigen LTE-Netzen geht das in Sekunden. Der Unterschied ist nicht nur ein zeitlicher: Er verändert die Arbeitsweise verteilter Kooperation von einem Nacheinander in eine tatsächlich »parallele« Entwicklung mit all ihren Vorteilen eines sofortigen Austausches, sofortiger Korrekturen und einer weitgehenden Annäherung an die Situation direkter Interaktion unter Anwesenden. Aus all dem lässt sich schließen, dass die Wissensbasierung von Organisationen im allgemeinen und von Unternehmen im Besonderen bereits jetzt ein wichtiges Kriterium der Qualität und mithin der Wettbewerbsfähigkeit einer nationalen Ökonomie darstellt. In sachlicher Hinsicht findet dies seinen Ausdruck etwa in der Definition von »High Tech« Produkten. Sie sind dadurch charakterisiert, dass ein verhältnismäßig hoher Teil der Produktkosten (mehr als 10 Prozent; bei einigen Schlüsselprodukten kann der Anteil allerdings erheblich höher liegen) durch die notwendigen Forschungs- und Entwicklungskosten verursacht sind. Wichtiger sind aber inzwischen die enormen F&E-Kosten bestimmter Schlüsseltechnologien, wie etwa neue Speicherchips, neue integrierte Schaltungen und ähnliches, welche nur unter ganz besonderen Bedingungen überhaupt über das Produkt selbst amortisiert werden können. Die Frage ist hier, wer in welchen Hinsichten und in welcher Form für diese F&E-Kosten aufkommen kann und soll. Im Bereich der EU ist der Anteil an Hochtechnologieprodukten, vor allem an Mikroelektronik, am BSP deutlich geringer als bei den wichtigsten Konkurrenten im globalen Wettbewerb, USA und Japan. Da diese Produkte Schlüsseltechnologien betreffen und deshalb in viele nachgeordnete Sektoren der Wirtschaft ausstrahlen, liegt auf der Hand, dass diese Schwäche Konsequenzen für die Wohlfahrt der betroffenen Nationen hat. Mit noch differenzierteren Indikatoren lässt sich die relative Stärke und Schwäche einer Volkswirtschaft genauer aufschlüsseln. Interessant ist vor allem die Unterscheidung zwischen »fortgeschrittener« Technologie (F&E- Aufwand zwischen 3,5 und 8,5 Prozent) und »Spitzentechnologie« (F&E- Aufwand über 8,5 Prozent). Fortgeschrittene Technologien wie z. B. speiwww.claudia-wild.de: <?page no="204"?> [UTB-S]__Willke__Systemtheorie_3_Steuerungstheorie__[Druck-PDF]/ 11.12.2013/ Seite 204 www.claudia-wild.de: [UTB-S]__Willke__Systemtheorie_3_Steuerungstheorie__[Druck-PDF]/ 11.12.2013/ Seite 205 205 cherprogrammierbare CNC-Werkzeugmaschinen und hochwertige Autos sind wirtschaftlich wichtig, weil sie das Massengeschäft etwa beim Export hochwertiger Güter ausmachen. Spitzentechnologien sind wirtschaftlich brisant, weil sie als Schlüsseltechnologien die Positionen im zukünftigen Geschäft mit hochwertigen Gütern bestimmen. In sozialer Hinsicht verändern sich die Kontextbedingungen des unternehmerischen Handelns durch den steigenden Bedarf an »Personalentwicklung« als Ausdruck der laufenden Veränderung der personalen Wissensbasis der organisierten Arbeit, sowie an »Organisationsentwicklung« (Wimmer 1992) als Ausdruck der tiefgreifenden Veränderungen der Organisationsformen, in denen heute eine hochspezialisierte und hochkomplexe Arbeitsteilung konkurrenzfähig geordnet werden muss. In einer etwas dramatischen Formulierung sagt der IBM-Personalentwickler Jürgen Fuchs: »Heute aber, in der sich entwickelnden Dienstleistungs-Kommunikations- und Informationsgesellschaft, wird das Know-how zum entscheidenden knappen Gut: der Mensch mit seiner fachlichen und persönlichen Kompetenz. Die Macht des Kapitals wird abgelöst durch die Macht des Know-how. Und die neuen Machthaber sind die Know-how-Träger« (Fuchs 1992, S. 21). Vielleicht am nachhaltigsten allerdings verändert sich unternehmerisches Handeln aufgrund der Wissensabhängigkeit der Produktion in der zeitlichen Dimension. Wissensintensive Produktion braucht mehr Entwicklungszeit und längere Zeitperspektiven für unternehmerische Strategien: Nachdem Sony die amerikanische Firma Materials Research gekauft hatte, fühlte sich deren amerikanischer Präsident endlich frei, langfristige Forschung zu betreiben: »›I’m no longer concerned with quarterly profits‹ he said, with great relief. ›I can think of projects that take two years. It’s a wonderful way to live‹« (zit. in Reich 1991, S. 151). Oder: Der Präsident von Genentech, immerhin zu der Zeit die größte amerikanische Biotechnologie-Firma, sagte, nachdem sie von Roche Holdings (Schweiz) gekauft wurde: »We have so much we want to do. The quarterly pressures of the stock market, though real and understandable, inevitably inhibit the brain trust here on these 30 acres« (Wall Street Journal vom 5. Februar 1990, S. A 3). Da aber gleichzeitig im internationalen Konkurrenzkampf der Zeitdruck steigt, kommt es zu ganz neuen Formen des »Parallelprozessierens« von Forschung, Design und Entwicklung, Erprobung und Produktionsvorbereitung, welche gegenwärtig etwa in der Autoindustrie dazu führen, dass im Vergleich zu Europa ein neues Modell in Japan in der Hälfte der Zeit entwickelt und auch in der Hälfte der Arbeitsstunden produziert wird (Linden 1991, S. 134). Die wohl dramatischten Verkürzungen der Zeithorizonte spielen sich im globalen Finanzsystem ab. Der Hochfrequenzhandel nutzt Zeitdifferenzen im Millisekundenbereich. Dieser Turbohandel hat sich etwa im eurowww.claudia-wild.de: <?page no="205"?> [UTB-S]__Willke__Systemtheorie_3_Steuerungstheorie__[Druck-PDF]/ 11.12.2013/ Seite 206 www.claudia-wild.de: [UTB-S]__Willke__Systemtheorie_3_Steuerungstheorie__[Druck-PDF]/ 11.12.2013/ Seite 207 206 päischen Aktienhandel von 5 Prozent im Jahre 2006 auf 37 Prozent im Jahre 2012 vervielfacht (Kremer 2013). Aus all dem möchte ich den etwas paradoxen Schluss ziehen, dass die kontextuelle Einbindung der Wirtschaft in ihrer postfordistischen, posttayloristischen und posthierarchischen Entwicklungsstufe über den Hebel der Wissensabhängigkeit des Wirtschaftens bessere Ansatzpunkte bietet als bei einer Ökonomie, deren Operationslogik ausschließlich vom selbstreferenziellen Verweisungszusammenhang preisorientierter Geldzahlungen geprägt ist. Zugleich aber ist diese kontextuelle Einbindung außerordentlich schwierig und prekär, weil sie nicht in interventionsstaatlich gewohnter Manier über autoritative Weisungen, Gesetze, Richtlinien etc. gelingen kann, sondern nur über aufwendige diskursive Abstimmungsprozesse in unterschiedlichen Akteurnetzwerken von Politik, Wissenschaft und Wirtschaft, in denen keines der gesellschaftlichen Funktionssysteme eine Vorrangstellung beanspruchen kann (Willke 1992, Kap. 3 und 4; Willke/ Krück/ Thorn 1995). Ob die gesellschaftlichen und korporativen Akteure in den beteiligten Funktionssystemen moderner Gesellschaften die Einsicht und Weitsicht für die Etablierung der für diesen Diskurs notwendigen Netzwerke und Verhandlungssysteme aufbringen werden, hängt weniger vom guten Willen ab als vielmehr vom Problemdruck, den eine Ökonomie für ihre Gesellschaft erzeugt. Der globale Wettbewerb, der mit dem Ausbruch des »Kalten Friedens« (Garten 1992) voll entbrannt ist, wird für diesen Problemdruck allerdings schneller und gründlicher sorgen, als vielen Akteuren lieb sein kann. Industrielle Netze dienen vor allem der Stützung und Beschleunigung verteilter Entwicklungs- und Herstellungsverfahren (»parallel engineering«, »parallel R&D«). Sogar zwischen konkurrierenden Firmen innerhalb Europas gibt es im vorwettbewerblichen Bereich Projekte überregionaler Zusammenarbeit mit Hilfe leistungsfähiger Netze. Das Projekt AIT (Advanced Information Technology in Design and Manufacturing) zum Beispiel verbindet neun europäische Firmen der Automobil- und Luftfahrtbranche zur Koordination gemeinsamer Forschungs- und Entwicklungsaktivitäten. Die EU-Kommission fördert das Programm mit EU-Mitteln, weil sie sich davon eine Erhöhung der Wettbewerbsfähigkeit europäischer Firmen gegenüber konkurrierenden Akteuren im weltweiten Wettbewerb verspricht (Daimler- Benz HighTechReport 3/ 1994, S. 11). Nicht zufällig taucht hier wieder der Begriff des Netzwerkes auf, der bereits in Kapitel 4 im Zentrum stand. Tatsächlich hängen die Karriere netzwerkförmiger Koordination komplexer Systeme einschließlich der Schaffung von Verhandlungssystemen einerseits und der Bedarf an intelligenten Datennetzen andererseits eng zusammen. Netzwerke setzen etwas voraus, das sich vernetzen lässt, im Fall intelligenter Systeme also verteilte Intelligenz im <?page no="206"?> www.claudia-wild.de: [UTB-S]__Willke__Systemtheorie_3_Steuerungstheorie__[Druck-PDF]/ 11.12.2013/ Seite 206 www.claudia-wild.de: [UTB-S]__Willke__Systemtheorie_3_Steuerungstheorie__[Druck-PDF]/ 11.12.2013/ Seite 207 207 Gegensatz etwa zu der hierarchisch geordneten Intelligenz monokratischer Administrationen. Anders formuliert: Je weniger die Intelligenz eines Systems an einer einzelnen Stelle, einem einzigen Gremium, einer Hauptabteilung, einer zentralen Datenbank, einem sakrosankten Glaubens-, Regel- oder Expertensystem konzentriert werden kann, desto deutlicher besteht der Bedarf an einer verteilten Organisation der Intelligenz und an entsprechenden Vernetzungen der relevanten Akteure und Einheiten. Dieser Zusammenhang zwischen der Form optimaler Koordination in einem bestimmten Ordnungsmodell einerseits und den Technologien vernetzter Kommunikation andererseits bildet den Kern des notwendigen Diskurses über eine öffentliche wissensbasierte Infrastruktur. Im Rahmen eines hierarchischen Ordnungsmodells perfektionieren Datenbahnen nur die Mängel und Missstände einer Informationsüberlastung der Zentrale. Andererseits bleiben verteilte Netze wirkungslos oder jedenfalls suboptimal, wenn sie auf Telefon und Post angewiesen sind. Und schließlich haben leistungsfähige Glasfaser-Datennetze keine öffentlich legitime Funktion, wenn sie vorrangig der Buchung von Urlaubsreisen, der Bestellung von Onlinevideos und der Verteilung von Cyberdreck und Netzjunk dienen. Wenn dagegen das Ordnungsmodell einer Gesellschaft sich von den reinen Typen der Hierarchie und der marktförmigen Demokratie zu lösen beginnt, um der gewachsenen gesellschaftlichen Eigenkomplexität gerecht zu werden, dann erfordert dieser Umbruch neben einer Transformation der Formen der Kommunikation auch eine neue Konfiguration der Technologien der Kommunikation. Die Formen der Kommunikation nähern sich, wie wir in Kapitel 4 gesehen haben, dem Idealtypus des Verhandlungssystems an, weil hochkomplexe Sozialsysteme anders nicht mehr angemessen zu koordinieren sind-- wobei angemessen meint, dass die Innovativität, der Optionenreichtum, der Reichtum an Unterschieden, Lebensqualitäten, Ausdrucksmöglichkeiten, Individualitäten und Autonomien sonst nicht zu erhalten sind. (Ich erinnere daran, dass dies nicht umsonst zu bekommen ist, sondern sein Korrelat darin findet, was etwa Richard Rorty und Jürgen Habermas »Solidarität« nennen, was aber sicherlich noch genauer und jenseits alteuropäischer Begrifflichkeit gefasst werden muss; siehe Habermas 1992, S. 59 u. 388; Rorty 1989). Die Technologien der Kommunikation stehen mit der Viabilität möglicher Formen in einem sehr viel engeren Zusammenhang als Philosophen und auch Soziologen gewöhnlich annehmen. Immerhin sieht Jürgen Habermas inzwischen den Ausgangspunkt systemtheoretischer Besorgnisse: »In einer vollständig dezentrierten Gesellschaft bleibt ja für eine gesamtgesellschaftliche Kommunikation, für die Selbstthematisierung und Selbsteinwirkung der <?page no="207"?> www.claudia-wild.de: [UTB-S]__Willke__Systemtheorie_3_Steuerungstheorie__[Druck-PDF]/ 11.12.2013/ Seite 208 www.claudia-wild.de: [UTB-S]__Willke__Systemtheorie_3_Steuerungstheorie__[Druck-PDF]/ 11.12.2013/ Seite 209 208 Gesellschaft im Ganzen, kein Ort übrig, weil sie zentrifugal in Teilsysteme auseinandergefallen ist, die nur noch in ihrer je eigenen Sprache mit sich selbst kommunizieren können (1992, S. 76). Aber er verkennt, dass systemtheoretisch informiertes Nachdenken über Gesellschaften und ihrer Steuerungsprobleme mit der Feststellung dieses Dilemmas erst beginnt. Zur Debatte steht dann ein Ordnungsmodell für die Gesellschaft insgesamt, aber auch für ihre Funktionssysteme, ihre Organisationen, ja selbst ihre Primärgruppen wie Familie. Es muss damit zurechtkommen, dass jeder Akteur in seiner eigenen Sprache, seiner eigenen Perspektive, seiner Autonomie und Eigensinnigkeit zu kommunizieren versucht-- und dies gerade in den kritischen Fällen misslingt. Hinzu kommt, dass die Lösung dieses Zentralproblems moderner Gesellschaften weder in den traditionalen Funktionen und Leistungen des Rechtssystems liegt, noch in der alle Differenzen überdeckenden Sauce der Solidarität. Erforderlich sind elaboriertere Formen des Rechts einerseits (Willke 1983, bes. Kapitel 2) und eine Respezifikation der Idee von Solidarität unter dem Gesichtspunkt der Erhaltung und Förderung von Differenzen (Willke 1993b, Kapitel 3). Auch Habermas spricht von einem »Netzwerk von Diskursen und Verhandlungen« als dem Herzstück einer deliberativen Politik. Aber er hat dabei die Formen einer bürgerlichen Öffentlichkeit vor Augen, die vor der kognitiven Komplexität der zu entscheidenden Fragen nur formal noch nicht kapituliert hat: »Der Bedarf an funktionaler Koordination, der heute in komplexen Gesellschaften entsteht, läßt sich freilich nicht mehr nach dem überschaubaren Modell arbeitsteiliger Kooperation zwischen Einzelnen und Kollektiven decken, sondern nur noch über indirekte Steuerungsleistungen des administrativen Systems. Dahl {hier: Robert Dahl 1989: Democracy and its Critics} hat nun die Gefahr erkannt, dass die im engeren Sinne ›kognitiven‹ Steuerungsprobleme die anderen, nämlich moralischen und ethischen Probleme, an den Rand drängen und die Problemlösungsfähigkeit des demokratischen Verfahrens überfordern. Vielfältige Symptome für eine solche kognitive Überforderung der deliberativen Politik stützen die inzwischen verbreitete Annahme, dass eine nach demokratischen Verfahren ablaufende diskursive Meinungs- und Willensbildung zu wenig komplex ist, um das operativ notwendige Wissen aufnehmen und verarbeiten zu können« (Habermas 1992, S. 388 f.). Dieses aufschlussreiche Textstück zeigt zum einen, dass Habermas die Steuerungsleistungen des administrativen Systems weit überschätzt und übersieht, dass moderne Demokratien die entscheidende funktionale Koordination in Verhandlungssystemen unter bloßer Beteiligung des politisch-administrativen <?page no="208"?> www.claudia-wild.de: [UTB-S]__Willke__Systemtheorie_3_Steuerungstheorie__[Druck-PDF]/ 11.12.2013/ Seite 208 www.claudia-wild.de: [UTB-S]__Willke__Systemtheorie_3_Steuerungstheorie__[Druck-PDF]/ 11.12.2013/ Seite 209 209 Systems als gleichberechtigtem Akteur unter anderen Akteuren leisten. Zum anderen zeigt es, dass Habermas beim Stichwort der Kommunikationskreisläufe immer noch an Gespräche zwischen Menschen denkt, während das für die Systemkoordination operativ notwendige Wissen in einer verteilten, dezentralen und hochgradig diffusen und fluktuierenden wissensbasierten Infrastruktur aus vielfältigen »centers of expertise« verstreut ist. Die praktisch entscheidende Frage ist nun, wie sich diese Form der Wissensbasis einer Gesellschaft dennoch für die Ziele einer »vernünftigen« Politik nutzen lässt. Und die Antwort darauf bleibt defizitär, solange man dabei die technologischen Voraussetzungen und Implikationen eines gesellschaftsweiten ›Diskurses‹ in Hochleistungs-Datennetzen ignoriert. Das Problem ist also nicht, wie Habermas meint, dass die Diskurse zwischen Einzelnen und Kollektiven ins Hintertreffen geraten, weil nur die Steuerungsleistungen des administrativen Systems die notwendige Koordination moderner Demokratien gewährleisten können. Das drängendere Problem besteht darin, dass die Steuerungsleistungen von Politik und Verwaltung auch nicht ansatzweise ausreichen, um die Probleme kollateraler Ignoranz und systemischer Risiken zu lösen, in die hochkomplexe Gesellschaften unweigerlich geraten. Gefragt sind deshalb Koordinationsformen und Technologien der globalen wissensbasierten Kommunikation, welche die »Intelligenz der Demokratie« mit der Wissensbasierung einer »Aktiven Gesellschaft« verknüpfen und dafür sorgen, dass das verteilt vorhandene Wissen der erwähnten unzähligen »centers of expertise« tatsächlich für einen Diskurs verfügbar wird, der die normalisierte Borniertheit des offiziellen Wissens aufbricht (siehe als Beispiel die Fallstudie in Kap. 7.3). Für Gesellschaften lässt sich gegenwärtig noch nicht prognostizieren, ob intelligente wissensbasierte Infrastrukturen diese hochgespannten Erwartungen erfüllen können, oder ob sie nur wieder die Trivialisierung der Möglichkeiten der Moderne darstellen werden. Auf der konkreteren Ebene der Organisationen stellt sich ein paralleles Problem, das zunehmend unter dem Titel von Wissensmanagement Aufmerksamkeit auf sich zieht. 7.3 Wissensmanagement der Organisation In einer frühen Studie über organisationale Intelligenz listet Harold Wilensky die Merkmale des Typus von Information auf, der gegenüber bloßen Fakten die Eigenschaft qualitativ hochwertiger Expertise aufweist: »High-quality intelligence designates information that is clear, because it is understandable to those who must use it; timely because it gets to them when they need it; reliable because diverse observers using the same prowww.claudia-wild.de: <?page no="209"?> [UTB-S]__Willke__Systemtheorie_3_Steuerungstheorie__[Druck-PDF]/ 11.12.2013/ Seite 210 www.claudia-wild.de: [UTB-S]__Willke__Systemtheorie_3_Steuerungstheorie__[Druck-PDF]/ 11.12.2013/ Seite 211 210 cedures see it in the same way; valid because it is cast in the form of concepts and measures that capture reality (the tests include logical consistency, successful prediction, congruence with established knowledge or independent sources); adequate because the account is full (the context of the act, event, of life of the person or group is described); and wide-ranging because the major policy alternatives promising a high probability of attaining organizational goals are posed or new goals suggested« (Wilensky 1967, S. VIII u. IX). Nur wenig übertreibend kann man sagen, dass der Rest seines Buches der Aufgabe gewidmet ist, zu erläutern, warum in komplexen Organisationen diese Art von intelligenter Information nicht zu bekommen ist. Einige der Gründe: • Es besteht die Schwierigkeit, hochgradig verteiltes Wissen an dem Ort zusammenzubringen, an dem die Entscheidung fällt (Wilensky 1967, S. 41). • In allen komplexen Systemen sind Hierarchie, Spezialisierung und Zentralisierung die Hauptgründe dafür, dass Wissen deformiert und abgeblockt wird (S. 42). • Jeder Geschäftszweig, jede Division und jede Abteilung wird zum Wächter ihrer eigenen Ziele, Standards und speziellen Kompetenzen, so dass die engstirnige lokale Loyalität Kooperation und Informationsaustausch verhindert (S. 48). • Dieser Provinzialismus produziert irreführende oder irrelevante Information ohne Zusammenhang mit den Bedarfen der Organisation insgesamt (S. 50). • Territoriale Differenzierung und Spezialisierung verstärkt Bürokratisierung und macht den Transfer von Ressourcen und Informationen von einem Ort zum anderen schwierig und kostspielig (S. 55) etc. Damit ist das Dilemma des Wissensmanagements in komplexen Organisationen einigermaßen umschrieben. Einerseits steigt der Bedarf an Wissen, Wissensbasierung, intelligenter Information, sowie an Infrastrukturen und Technologien des Transfers von Wissen; andererseits machen es die Merkmale organisierter Komplexität (Differenzierung, Spezialisierung, verteilte Dislozierung, lokale Autonomie) nahezu unmöglich, das vorhandene und erforderliche Wissen so zu aktivieren und zu koordinieren, dass es gemäß der Mission des Gesamtsystems an den Stellen verfügbar wird, wo die jeweils notwendigen Entscheidungen fallen. Nun ist spätestens seit Frederick Taylor klar, dass arbeitsteilig produzierende Organisationen immer auch wissensbasierte Systeme sind, in denen sich <?page no="210"?> www.claudia-wild.de: [UTB-S]__Willke__Systemtheorie_3_Steuerungstheorie__[Druck-PDF]/ 11.12.2013/ Seite 210 www.claudia-wild.de: [UTB-S]__Willke__Systemtheorie_3_Steuerungstheorie__[Druck-PDF]/ 11.12.2013/ Seite 211 211 das Wissen von Personen und das in die Operationsweise der sozialen Systeme eingelassene Wissen zu einer prekären Kombination ergänzen: »Management of industry became to an increasing degree management of knowledge. Taylorism was a new expression of a knowledge-based scientific approach to management« (Forslin 1990, zit. bei Pawlowsky 1992 S. 199; siehe auch Systemtheorie II: Kapitel 4). Beide Aspekte der Wissensbasierung von Organisationen sind lose verkoppelt und variieren deshalb in Grenzen unabhängig voneinander. So kommt es, dass intelligente Personen in dummen Organisationen operieren können, und umgekehrt. Die eine Seite, die Wissensbasierung und Intelligenz von Personen, steht natürlich seit Langem im Zentrum der unterschiedlichsten wissenschaftlichen Disziplinen und praktischer Strategien von Ausbildung, Fortbildung, Weiterbildung, Umschulung, Höherqualifizierung etc. Die andere Seite, die Wissensbasierung und Intelligenz von Organisationen dagegen ist sowohl in der Forschung wie in der Praxis stark unterbelichtet. Ich wende mich zunächst eher kursorisch der personalen Seite von Wissensmanagement zu, um dann ausführlicher auf die organisationale Seite zu sprechen zu kommen. Will ein Unternehmer, Manager, Projektleiter, Vorgesetzter, Teamleiter etc. die »passende« Person für eine bestimmte Aufgabe finden, so stehen einige Punkte außer Frage: 1. Die allgemeine und spezielle Qualifikation der Person ist heute wichtiger als früher und wird weiterhin wichtiger, weil die Anforderungen für die zu leistenden Aufgaben an Kompetenzen und Wissen steigen. 2. Ein Qualifikationsprofil veraltet heute schneller und wird obsolet, weil Typus und Qualität der Aufgaben sich ändern und weil sich mit neuen Produkten, Verfahren, Leistungen etc. jeweils neue Aufgaben stellen; damit gehört zur sekundären Qualifikation einer Person heute, dass sie lernfähig und lernbereit ist. 3. Kompetenzen und Expertise einer Person in einem bestimmten Feld können hinderlich sein, wenn sich (etwa aufgrund technologischen Wandels oder veränderter Kundenwünsche oder ökologischer Restriktionen) das Feld radikal wandelt, und die Person nicht fähig und bereit ist, das bereits erworbene Wissen zu revidieren. Personen brauchen heute deshalb die tertiäre Qualifikation der im Prinzip kontinuierlichen Wissensrevision, die Vergessen und Verlernen einschließt. 4. Personen arbeiten heute immer weniger als isolierte Individuen und immer mehr als Mitglieder einer Gruppe oder eines Teams. Damit werden weiche Qualifikationen wie Teamfähigkeit, Kommunikationsfähigkeit und andere gruppendynamisch relevante Qualitäten wichtiger. Die fachliche Qualifikation allein genügt nicht-- wenn sie es je tat. <?page no="211"?> www.claudia-wild.de: [UTB-S]__Willke__Systemtheorie_3_Steuerungstheorie__[Druck-PDF]/ 11.12.2013/ Seite 212 www.claudia-wild.de: [UTB-S]__Willke__Systemtheorie_3_Steuerungstheorie__[Druck-PDF]/ 11.12.2013/ Seite 213 212 5. Komplementär- - und in manchen Hinsichten im Widerspruch- - zur Teamfähigkeit verlangt die Wiederentdeckung teilautonomer, eigenverantwortlicher und selbststeuernder Teams im Kontext flacher Hierarchien und »schlanker Organisationen« individuelle Qualifikationen, die sich mit dem Begriff der kontextuierten Identität umschreiben lassen. Damit ist gemeint, dass eine Person im Rahmen ihrer Tätigkeit für eine komplexe Organisation je nach relevantem Kontext in unterschiedliche Identitäten »morphiert« und trotz dieser wiederholten Metamorphosen für sich identisch bleibt. Verwandt ist diese Denkfigur mit der Idee »multipler Selbste« (Wiesenthal 1990), die darauf verweist, dass eine Person nur dann sowohl zu lokaler wie auch zu strategischer Handlungsfähigkeit kommt, wenn sie je nach Anforderung der Situation unterschiedliche Selbste ausbildet- - und nach Möglichkeit dabei nicht schizophren wird. Diese Reihung von erwarteten Qualifikationen an ein ideales Mitglied eines professionellen teilautonomen Teams (im Rahmen einer komplexen vernetzten Organisation) zeigt zugleich, wie wenig die überkommenen Erziehungs- und Ausbildungseinrichtungen geeignet sind, diese hochgespannten Anforderungen zu stützen. In vielen Hinsichten fördern sie diametral entgegengesetzte Fähigkeiten und belegen schlagend die These von der »Institutionalisierung der Dummheit durch öffentliche Schulen« (Sloterdijk). Praktisch heißt dies wohl, dass die entsprechend dezentral und wissensbasiert operierenden Organisationen sich ihre Mitglieder in erster Linie selbst heranbilden und ansonsten weiterhin darauf warten müssen, dass die Erziehungs- und Ausbildungssysteme moderner Gesellschaften aus ihrem Dornröschenschlaf erwachen. Tatsächlich sind deshalb »training on the job«, spezialisierte interne und externe Weiterbildung und schlichtes Durchwursteln und Ausprobieren gegenwärtig noch Hauptformen der Anpassung an dynamische Veränderungen in den Anforderungen, denen sich die Mitglieder moderner Organisationen gegenübersehen. Immerhin gibt es inzwischen eine Diskussion über die Veränderung der Inhalte der Berufsausbildung und ihre Anpassung an kontinuierlich neu entstehende (und vergehende) Berufsbilder; es gibt eine Diskussion über die Rolle der Fachhochschulen gegenüber den klassischen Universitäten und die Verteilung von Theorie und Praxis, Forschungswissen und Erfahrungswissen in beiden Bereichen; es gibt Überlegungen zur Verkürzung, Entschlackung etc. von Studiengängen, zur Neuorientierung der Prüfungsanforderungen, zum Einsatz neuer Medien in der Ausbildung und Erziehung; und es gibt viele weitere Aspekte einer schwelenden Unzufriedenheit mit der Ausrichtung und den Ergebnissen des Erziehungssystems moderner Gesellschaften. All dies sind erfreuliche und notwendige erste Schritte. Aber man sollte sich <?page no="212"?> www.claudia-wild.de: [UTB-S]__Willke__Systemtheorie_3_Steuerungstheorie__[Druck-PDF]/ 11.12.2013/ Seite 212 www.claudia-wild.de: [UTB-S]__Willke__Systemtheorie_3_Steuerungstheorie__[Druck-PDF]/ 11.12.2013/ Seite 213 213 keine Illusionen über Geschwindigkeit und Reichweite kommender Reformen machen. Es wird noch viel Leidensdruck nötig sein, bis die entscheidenden politischen Akteure (und das sind in aller Regel nicht die Bildungs- und Wissenschaftspolitiker) einsehen müssen, dass die Wohlfahrt einer Nation bereits jetzt vom Kompetenzniveau der Bevölkerung abhängt- - und die Bedeutung dieses Aspekts in Zukunft noch mehr zunehmen wird. In der Zwischenzeit gibt es einen Hoffnungsschimmer in der Tatsache, dass die Wissensabhängigkeit der Operationsweise komplexer Organisationen sich auf zwei Pfeiler verteilt. Während Organisationen in der Tragfähigkeit des einen Pfeilers, der Qualität ihrer Mitglieder, stark von externen Systemen und Vorleistungen abhängig sind, auf die sie wenig Einfluss haben, können sie den zweiten Pfeiler, ihr kollektives Wissen, selbst verstärken. Dieser zweite Pfeiler setzt sich aus Wissensbausteinen und bestimmten Mustern ihrer Verknüpfung zusammen und bildet insgesamt die Wissensbasis der Organisation. Erst beide Pfeiler zusammen bieten gegenüber den Kontingenzen und Anforderungen einer dynamischen Umwelt einigermaßen Gewähr dafür, dass die notwendigen Anpassungen gelingen, weil sich Schwächen der einen Seite durch Stärken der anderen kompensieren lassen: »… when individual comprehension proves inadequate, one of the few remaining sources of comprehension is social entities. Variations in the development of these entities may spell the difference between prosperity and disaster« (Weick/ Roberts 1993, S. 378). Vielen fällt es schwer, sich überhaupt organisationales Wissen vorzustellen, also Wissen, das nicht in den Köpfen von Menschen gespeichert ist, sondern in den Operationsformen eines sozialen Systems. Organisationales oder institutionelles Wissen steckt in den personenunabhängigen, anonymisierten Regelsystemen, welche die Operationsweise eines Sozialsystems definieren. Vor allem sind dies Standardverfahren (»standing operating procedures«), Leitlinien, Kodifizierungen, Arbeitsprozessbeschreibungen, etabliertes Rezeptwissen für bestimmte Situationen, Routinen, Traditionen und die Merkmale der spezifischen Kultur einer Organisation. »Einzelne Personen verlassen Organisationen, Vorstände wechseln, unternehmenspolitische Leitlinien, Führungsgrundsätze, Kulturen und Werthaltungen ebenso wie Kenntnisse über spezifische Arbeitsabläufe aber überdauern zumeist den personellen Wechsel.-… Damit ist dieses Wissen der Organisation zugleich das, was an ›Gewissheit‹ von den Organisationsmitgliedern über die relevante Wirklichkeit geteilt wird.-… Voraussetzung dafür ist, dass dieses Wissen kommunizierbar, konsensfähig und integrierbar ist« (Pawlowsky 1992, S. 202 f.). Besonders auffällig ist dieses überindividuelle organisationale Wissen bei traditionsreichen Firmen, in die Mitglieder nicht einfach eintreten, sondern in <?page no="213"?> www.claudia-wild.de: [UTB-S]__Willke__Systemtheorie_3_Steuerungstheorie__[Druck-PDF]/ 11.12.2013/ Seite 214 www.claudia-wild.de: [UTB-S]__Willke__Systemtheorie_3_Steuerungstheorie__[Druck-PDF]/ 11.12.2013/ Seite 215 214 die sie allmählich hineinwachsen, indem sie den Stil des Hauses, die Werthaltungen, Routinen und Standardverfahren der Firma übernehmen. Die großen Kirchen sind noch eindrucksvollere Beispiele. Viele von ihnen bewahren seit Hunderten, einige seit Tausenden von Jahren, eine spezifische Identität, die allen Wechsel der Personen überdauert. Ihr institutionelles Wissen ist in »heiligen« Büchern und interpretierenden Texten aufgeschrieben und stellt die Urform eines Expertensystems dar, welches nahezu unverändert von einer Generation auf die nächste überliefert wird. Selbst noch für Schulen, Universitäten und einige Fachverwaltungen bilden jahrhundertealte Traditionen die Basis ihres organisationalen Wissens, das in Routinen, Regeln und Ritualen festgehalten ist und sich in der Regel als stärker erweist als die Absichten und Motive der durchlaufenden Generationen von Mitgliedern. Trotz veränderter Umstände und veränderter Personen ist es oft schwierig und manchmal unmöglich, eine etablierte Organisation zu verändern. Selbst noch für haarsträubenden Unsinn finden sich in den Mythen von Organisationen Ansatzpunkte und Legitimationen- - und deshalb überlebt der Unsinn. Im Extremfall wissen alle Mitglieder einer Organisation, dass eine bestimmte Regel kontraproduktiv ist-- dennoch gilt die Regel, und alle richten sich nach ihr. Auch angesichts dieser Ungereimtheiten ist die Idee der Wissensbasierung von Organisationen keineswegs unumstritten. Nicht nur »normale« Personen, sondern auch Sozialwissenschaftler empfinden es als anstößig, jenseits des Menschen auch sozialen Einheiten zu konzedieren, sie könnten Wissen erwerben, lernen und eine eigene wissensbasierte Identität ausbilden. Der habituelle Hochmut des Menschen, der sich für die Krone der Schöpfung hält, macht vor den Toren der Wissenschaft nicht halt. Gewöhnlich fällt das Argument, dass nur Menschen, nicht aber Organisationen denken könnten. Mag sein, dass Menschen denken können. Für unser Problem ist das unerheblich. Denn schon handeln genügt. Jedes Handeln in einer kognitiv anspruchsvollen Situation, also das, was wir intelligentes Handeln nennen, erfordert eine Wissensbasis. Sobald man sieht, dass Organisationen handeln können, und zwar als eigenständige kollektive oder korporative Akteure (Flam 1990), steht außer Frage, dass sie auch eine eigenständige, kollektive oder korporative Wissensbasis für dieses Handeln brauchen. Um der Wissensbasis einer Organisation auf die Spur zu kommen, kann man nach dem abrufbaren Wissen der Organisation fragen. Wo und in welcher Form wird dieses Wissen gespeichert? Wie, von wem und in welchen Situationen wird es abgerufen? Wie erwirbt, speichert, verwaltet und verändert die Organisation dieses Wissen? Es geht also um den Aufbau, die Verwendung und das Management des organisationalen Wissens. Die Wissensbasis einer Organisation ist zwar von den Personen getrennt, kommt aber nicht unabwww.claudia-wild.de: <?page no="214"?> [UTB-S]__Willke__Systemtheorie_3_Steuerungstheorie__[Druck-PDF]/ 11.12.2013/ Seite 214 www.claudia-wild.de: [UTB-S]__Willke__Systemtheorie_3_Steuerungstheorie__[Druck-PDF]/ 11.12.2013/ Seite 215 215 hängig von den Mitgliedern und ihrem Wissen in Gang. (Ganz analog sind die Strukturen, Regeln und Semantiken der Kommunikation zwar getrennt von Personen, aber Kommunikation findet nicht unabhängig von Personen und ohne ihr Zutun statt). Eine wichtige Frage ist deshalb das Zusammenspiel von individuellem und organisationalem Wissen und der Zusammenhang der entsprechenden Lernprozesse. Ich komme auf diesen Punkt zurück. Organisationen erlangen ihr Wissen, indem ein für die Organisation relevantes Wissen von Personen formuliert, aufgeschrieben (oder in einer sonstigen Notation festgehalten) und schließlich dieses symbolisch repräsentierte/ kodierte Wissen in eine Wissensbank eingebracht wird, die in den Routineabläufen der Organisation genutzt wird. Der Wartungsplan für eine Maschine zum Beispiel oder die Vorgehensweise beim Anschluss einer Mitarbeiterin an das E-Mail-Netz oder die Regeln der Liturgie des Karfreitags existieren zunächst als Wissen in den Köpfen von Personen, welche dieses Wissen entwickelt oder mitgebracht haben. Es kann abgefragt, aufgeschrieben und als Arbeitsanweisung in den Akten der Hauptabteilung gespeichert werden. Die »Absonderung« des Wissens von konkreten Personen wiederholt sich in der Absonderung der Welt des Managements von irgendeiner »Firsthand«-Wirklichkeit: »Bei Lichte betrachtet lebt Management in einer Scheinwelt der Simulacra, erzeugt von Zahlen, Reports, Konferenzen, Protokollen, Eindrücken, Gesprächen, Notizen, Bemerkungen- … « (Neuberger 1994, S. 3). Das Wissen wird so als abstrakt symbolisiertes Wissen unabhängig von den das Wissen liefernden Personen und kann als organisationales Wissen weitergegeben, geheim gehalten, verändert etc., sogar verkauft werden. Soweit nichts Besonderes. Interessant wird organisationales Wissen dadurch, dass es- - wie jedes symbolische System- - schon bei geringer Eigenkomplexität ein Eigenleben beginnt, indem es in reflexiven Schleifen zum Gegenstand organisationalen Wissens und anderer Formen des Selbstbezugs der Organisation wird. Eine Organisation weiß also, dass sie etwas weiß, und sie kann auf dieses Wissen reagieren und damit arbeiten. Eine Organisation entwickelt ein Bild von sich selbst, und sie redet mit sich selbst (Weick 1985, S. 195). Damit ist gemeint, dass das Selbstbild, die Identität, die Kultur, ja sogar einzelne Merkmale oder Strategien der Organisation zum Gegenstand organisationsspezifischer Kommunikationen werden. Diese Kommunikationen sind weitgehend thematisch und motivational von personalen Kriterien gereinigt. Sie kondensieren an systemischen Erwartungen, Zurechnungen, Kriterien, Rationalitäten und »beweisen« darin die reale Existenz einer Organisation. Ihre Identität ist darin zu sehen, dass die Organisation ihre spezifischen- - und von anderen Systemen, Umweltsegmenten und ihren eigenen Mitgliedern unterscheidbaren-- Operationen unter selbstdefinierte und kontrollierte Kriterien bringt. <?page no="215"?> www.claudia-wild.de: [UTB-S]__Willke__Systemtheorie_3_Steuerungstheorie__[Druck-PDF]/ 11.12.2013/ Seite 216 www.claudia-wild.de: [UTB-S]__Willke__Systemtheorie_3_Steuerungstheorie__[Druck-PDF]/ 11.12.2013/ Seite 217 216 Wie soll das gehen? Der Kern der Idee kollektiven Wissens ist die Beobachtung, dass der Gehalt dieses Wissens nicht von den einzelnen Wissenspartikeln geprägt ist, welche in den Köpfen von Personen oder sonst wie dokumentiert vorhanden sind, sondern von den Relationen und Verknüpfungsmustern zwischen diesen Wissenselementen. Die Verknüpfungen selbst konstituieren das eigenständige kollektive oder systemische Wissen der Organisation. Denn in die Art der Verknüpfungen, der Bahnung, Prägung, Konfirmierung und Institutionalisierung bestimmter Muster, gehen die Lernerfahrungen der Organisation als System ein. Diese Fundierung organisationalen Wissens bedeutet auch, dass die Grundelemente der Relationsmuster nicht Personen sind, sondern Handlungen und Kommunikationen, die sich von konkreten Personen lösen und in abstrakte Regeln einbinden lassen. Der Übergang vom lokalen personalen Wissen zu kollektivem systemischen Wissen geschieht demnach in zwei Stufen der Abstraktion: Zum einen residiert die Intelligenz des Systems in der Intelligenz der Muster der Relationierung von Elementen, wobei diese Elemente selbst durchaus einfach sein können. Aus der lokalen, regelgeleiteten Interaktion der Elemente lassen sich über entsprechend elaborierte Verknüpfungsmuster höchst unwahrscheinliche und komplexe globale Formen der Interaktion und Verkettung erzeugen, welche die Intelligenz sowohl der Elemente wie auch der lokalen Muster weit übersteigen. Zum anderen befreien sich diese Muster von der Trägheit konkreter Menschen, indem Kommunikationen und zurechenbare Handlungen als Elemente dienen, die sich über Regelsysteme gewissermaßen schwerelos und flexibel in Beziehungen bringen lassen. Karl Weick und Karlene Roberts fassen die hier einschlägigen Arbeiten von Sandelands, Stablein und Hutchins zusammen: »The important lessons-… are that connections between behaviors, rather than people, may be the crucial ›locus‹ for mind and that intelligence is to be found in patterns of behavior rather than in individual knowledge.-… The lessons we use from Hutchins’ work include the importance of redundant representation, the emergence of global structure from local interactions, and behavioral dependencies as the substrate of distributed processing« (1993, S. 359 f.). So wie Bücher als Wissensbasis des Wissenschaftssystems ein Eigenleben führen, das sich weder auf die Intentionen der Autoren noch auf die Interessen und Absichten der Leser reduzieren lässt, sondern viel maßgeblicher vom überindividuellen Wehen des Geistes in allen seinem Formen, von Paradigmen bis zu Moden, bestimmt wird, so fängt die Wissensbasis einer Organisation an, sich eigendynamisch zu bewegen und den Paradigmen, Trends und Moden der Organisationswelt mehr oder weniger träge zu folgen. Es ist somit <?page no="216"?> www.claudia-wild.de: [UTB-S]__Willke__Systemtheorie_3_Steuerungstheorie__[Druck-PDF]/ 11.12.2013/ Seite 216 www.claudia-wild.de: [UTB-S]__Willke__Systemtheorie_3_Steuerungstheorie__[Druck-PDF]/ 11.12.2013/ Seite 217 217 bewegtes und bewegendes Teil eines weiten Zusammenhangs symbolischer Systeme (Semantiken, Wissenssysteme, Überzeugungen, Glaubenssysteme), die in der Interpretation und Vermittlung einzelner Köpfe als mentaler Systeme (»minds«) ineinandergreifen und aus dieser Interaktion unprognostizierbare und häufig überraschende kombinatorische Figuren erzeugen. Insbesondere kondensieren organisationsbezogene Kommunikationen zu Erwartungen und Erwartungsmustern, die sich von den Erwartungen der Mitglieder unterscheiden. Diese Erwartungsmuster sind die Grundlagen für weitere normative und kognitive Verfestigungen. Sie geben das Raster vor, in dem organisationales Entscheiden abläuft. Genau deshalb ist es möglich und sinnvoll, in Differenz zu personalen Entscheidungen von spezifischen organisationalen Entscheidungen zu sprechen: Sie folgen eigenen Erwartungsstrukturen und sind nur aus diesen heraus zu erklären und zu verstehen. In komplexen Organisationen gilt dies auch für die verschiedenen Wissenssysteme selbst. In ihren Unterschieden und Parallelitäten spiegeln sie den Zustand der Organisation. In ihren Widersprüchen untereinander stellen sie klar, dass selbst und gerade eine gelingende Integration die Differenzierung der Organisation nicht aufhebt und in ihren unterschiedlichen Interpretationsmöglichkeiten (soweit gegeben) repräsentieren die Wissenssysteme die Offenheit und Flexibilität, die für kontextsensitives Handeln und Entscheiden unabdingbar sind. Zusammengenommen können sie sich sehr schnell zu Wissensgebirgen auftürmen, die kein Individuum mehr überblickt. Kein Individuum verfügt heute über das erforderliche Wissen, um einen modernen Computer, ein Auto oder ein Flugzeug zu bauen. Organisationen aber »können« das. Und präzise in diesem Sinne sind heute komplexe Organisationen intelligenter als jeder Mensch. Erstaunlich viele Organisationen existieren auch sehr viel länger als Menschen. Die katholische Kirche, die alten Universitäten, das englische Königshaus, der Kongress der Vereinigten Staaten, einige Handwerkskammern, die Bank von England, die Hansestädte, der Supreme Court der USA, einige kirchliche Orden, die Sozialdemokratie und viele andere Organisationen, Institutionen und Verbände haben über Jahrhunderte hinweg Wissen angesammelt und in Regelsystemen, Datenbanken, Expertensystemen und einer organisationsspezifischen Wissensbasis präsent halten können. Keinem Menschen gelingt das, weil mit dem Tode sein mental gebundenes Wissen unwiederbringlich verloren geht. Sicherlich haben auch Organisationen ihre Lebenszyklen. Sie entstehen, wachsen, kommen zur Reife und verschwinden irgendwann von der Bildfläche oder gehen in anderen Organisationen auf. Da ihre Wissenssysteme aber von vornherein in Form von geschriebenen Regeln, Akten, Zahlen, Daten, formulierten Erfahrungsgrundsätzen, Prozessablaufdiagrammen etc. als symbolische Systeme verkörpert sein müssen, <?page no="217"?> www.claudia-wild.de: [UTB-S]__Willke__Systemtheorie_3_Steuerungstheorie__[Druck-PDF]/ 11.12.2013/ Seite 218 www.claudia-wild.de: [UTB-S]__Willke__Systemtheorie_3_Steuerungstheorie__[Druck-PDF]/ 11.12.2013/ Seite 219 218 um zugänglich und handhabbar zu sein, ist es leichter, diese Wissenssysteme zu kopieren und selbst beim Untergang der Organisation zu erhalten. Auch dieser Aspekt bringt Organisationen bezüglich der Sammlung und Erhaltung von Wissen gegenüber Menschen in einen klaren Vorteil. Auf dieser elementaren Ebene des Aufbaus einer Wissensbasis hinken soziale Systeme allerdings einen entscheidenden Schritt hinter den Möglichkeiten von Menschen als mentalen Systemen her: Nur Menschen schaffen neues Wissen. Jedenfalls bisher. Nicht die Autofirma, sondern der einzelne Ingenieur oder eine von Personen geprägte Arbeitsgruppe entwickelt ein neues Patent, ein neues Verfahren etc. Nicht die Klinik, sondern eine einzelne Ärztin oder Pflegerin kommt auf einen neuen Gedanken. Nicht das Ministerium, sondern ein einzelner Beamter oder eine Politikerin führt eine neue Regel ein. Nicht die Universitäten, sondern einzelne Forscher oder Forschungsteams entwickeln Neues. Dieses Handikap sozialer Systeme liegt darin begründet, dass sie nur über die Einbeziehung von Personen ihr systemspezifisches Wissen aktivieren können- - zwar hochgradig unabhängig von den Motiven und Präferenzen von Personen, aber doch nicht unabhängig von den Personen als (aktive) »Leseköpfe« der Daten. Aber die Organisationen sind den Menschen dicht auf den Fersen. Die systemische Autonomisierung der Verwendung von Wissen nimmt zu, in dem Organisationen auch Regeln über die Erzeugung, Verwendung und Gestaltung von Regeln in ihre Wissensbasis aufnehmen. Damit ist der entscheidende Schritt von der bloßen Ansammlung von Wissen zum Lernen getan. In der organisationssoziologischen Literatur gibt es eine breiter werdende Übereinstimmung darüber, dass Organisationen eigenständig lernen können, indem sie systemische Lernprozesse installieren, die nicht unabhängig, aber getrennt und nur lose gekoppelt mit dem Lernen der Mitglieder des Systems arbeiten. Nach einer zusammenfassenden Definition ist organisationales Lernen ein Prozess, »der eine Veränderung der Wissensbasis der Organisation beinhaltet, der im Wechselspiel zwischen Individuen und der Organisation abläuft, der in Interaktion mit der internen und/ oder externen Umwelt stattfindet, der durch Bezugnahme auf existierende Handlungstheorien in der Organisation erfolgt und der zu einer Systemanpassung der internen bzw. an die externe Umwelt und/ oder zu erhöhter Problemlösungsfähigkeit des Systems beiträgt« (Pawlowsky 1992, S. 204). Uneinigkeit herrscht darüber, was die Voraussetzungen, Formen und Folgen organisationalen Lernens sind. In aller Regel, so zeigt Peter Pawlowsky in einem informativen Überblick über die Literatur (1992, S. 204), kommen die Autoren zu drei Formen oder Stufen des Lernens: einer ersten Stufe des <?page no="218"?> www.claudia-wild.de: [UTB-S]__Willke__Systemtheorie_3_Steuerungstheorie__[Druck-PDF]/ 11.12.2013/ Seite 218 www.claudia-wild.de: [UTB-S]__Willke__Systemtheorie_3_Steuerungstheorie__[Druck-PDF]/ 11.12.2013/ Seite 219 219 einfachen, mechanischen oder operativen Lernens; einer zweiten Stufe des evolutiven, akkomodierenden Lernens; und schließlich einer dritten Stufe des rückbezüglichen, organismischen, generativen oder integrierten Lernens. Unabhängig von der verwendeten Begrifflichkeit ist klar, dass erst auf der zweiten und dritten Stufe ein aktiver Umgang mit Wissen beginnt, und dass erst auf der dritten Stufe eine eigenständige, aktive Fortentwicklung des vorhandenen Wissens möglich ist. Wie aber soll man sich konkret vorstellen, dass »eine Organisation« aktiv mit ihrer Wissensbasis umgeht, sie fortentwickelt und dabei möglicherweise sogar zu neuem Wissen kommt? Schließlich hat eine Organisation kein Gehirn, das auf eine neue Idee, zu einer neuen Einsicht kommt, welche dann der Welt verkündet werden kann. Nahezu alle Autoren im Bereich organisationalen Lernens werden an diesem kritischen Punkt blass und unsicher. Bevor sie sich dem Vorwurf aussetzen, Organisationen zu vermenschlichen und ihnen ein Gehirn anzudichten, greifen sie doch lieber auf eine Form des Zusammenspiels von Mensch und Organisation zurück, in welchem der Mensch es ist, der die neuen Einsichten hat und sie an die Organisation weitergibt. Man kommt aus dieser Falle alteuropäischen, menschenzentrierten Denkens nur heraus, wenn man sieht, dass im Medium der Kommunikation Menschen und Organisationen eigene Individualität ausbilden können. In erfreulicher Klarheit argumentieren auch hier Weick/ Roberts, die nicht nur plausibel die Eigenständigkeit eines »collective mind« in Organisationen begründen, sondern auch die Beziehungen zwischen individueller und organisationaler Wissensbasierung in einer sehr prägnanten Formulierung klar herausstellen: »We were able to talk about group mind without reification, because we grounded our ideas in individual actions and then treated those actions as the means by which a distinct higher-order pattern of interrelated activities emerged. This pattern shaped the actions that produced it, persisted despite changes in personnel, and changed despite unchanging personnel.-… But neither did we reify individual entities, because we argued that they emerge through selective importation, interpretation, and re-enactment of the social order that they constitute« (Weick/ Roberts 1993, S. 374). Eine systemtheoretische Sicht erlaubt, hieran anzuknüpfen und auf der Basis einer kommunikationstheoretischen Fassung sozialer Systeme deren Eigenständigkeit als instituierte Ordnungen mit generalisierten Regelsystemen und handlungsformenden Interaktionsmustern noch detaillierter zu begründen. Ausgangspunkt sind neuere Überlegungen in der Physiologie und Biologie der Erkenntnis (Jean Piaget, Humberto Maturana, Francisco Varela, Gerhard Roth), die herausstellen, dass die Arbeitsweise mentaler Systeme damit <?page no="219"?> www.claudia-wild.de: [UTB-S]__Willke__Systemtheorie_3_Steuerungstheorie__[Druck-PDF]/ 11.12.2013/ Seite 220 www.claudia-wild.de: [UTB-S]__Willke__Systemtheorie_3_Steuerungstheorie__[Druck-PDF]/ 11.12.2013/ Seite 221 220 umschrieben werden kann, dass sie Differenzen prozessieren und aus diesem Prozessieren neue Informationen ableiten. Bestimmte Instrumente der Beobachtung (z. B. Sensoren) nehmen bestimmte Differenzen wahr und transformieren sie in Informationen, die ihrerseits das Ausgangsmaterial weiterer Beobachtungen sein können. Neue Erkenntnisse sind damit abhängig von neuen Beobachtungsmöglichkeiten (z. B. neuen Sensoren, Instrumenten oder Konzepten) und neuen Verfahren der Prozessierung von Differenzen, z. B. neuen Regeln der Verknüpfung oder der Selektion von Informationen. Wenn dies ein plausibler Rahmen für die Erklärung von Wissensbasierung und Lernfähigkeit mentaler Systeme ist, dann erscheint die Idee eines genuin organisationalen Lernens gar nicht mehr so furchterregend. Warum sollen nicht auch Organisationen und andere Sozialsysteme Differenzen prozessieren und aus diesem Prozessieren neue Informationen ableiten können? Was sie dazu brauchen, sind spezifisch organisationale Beobachtungsinstrumente einerseits und Inferenzmaschinen andererseits, die aus diesen Beobachtungen Informationen ableiten. Ein gewisses Problem liegt noch darin, dass Organisationen keine Augen und keine Ohren und auch sonst keine brauchbaren Sensorien haben. Was tun? Organisationen haben für die Methode dieses Problems eine geradezu geniale Lösung gefunden, die allerdings nicht gerne thematisiert wird, weil sie dem Menschen wenig schmeichelt. Organisationen instrumentalisieren nämlich für ihre spezifischen Zwecke ein »fremdes« System, das zum einen sehr gut ausgebildete Fähigkeiten zur Beobachtung und zur Inferenz mitbringt, und das zum anderen in einer bemerkenswerten Plastizität diese Fähigkeiten weitgehend von den eigenen Absichten und Motiven zu entkoppeln und einer Fremdsteuerung zu unterwerfen bereit ist, wenn die Bedingungen stimmen: der Mensch. Organisationen richten sich also Menschen als Mitglieder so zu, wie sie sie für die eigenen Zwecke brauchen. Es beginnt mit der Trennung von Amt und Person, von Zweck und Motiv und endet mit der Trennung von personaler Sprache und Organisationssprache, persönlicher Präferenzen und Kriterien und organisationaler Präferenzen und Kriterien. Wie Muskelzellen ihre Mitochondrien, so bauen Organisationen ein autonomes fremdes System in symbiotischer Verknüpfung in ihre eigene autonome Operationsweise ein, um die spezifischen Fähigkeiten der »Gäste« für die eigenen Zwecke zu nutzen. Chris Argyris und Donald Schön bezeichnen in ihrer Arbeit über organisationales Lernen die Mitglieder als »Agenten« des Lernens der Organisation (Argyris/ Schön 1978). Sie nehmen an, dass ein Sozialsystem durch seine Mitglieder handelt, Differenzen wahrnimmt und mithin lernt. Systemtheoretische Überlegungen können hieran anschließen. Allerdings betonen sie sehr viel deutlicher die Selbstreferenzialität und operative Geschlossenheit (mit <?page no="220"?> www.claudia-wild.de: [UTB-S]__Willke__Systemtheorie_3_Steuerungstheorie__[Druck-PDF]/ 11.12.2013/ Seite 220 www.claudia-wild.de: [UTB-S]__Willke__Systemtheorie_3_Steuerungstheorie__[Druck-PDF]/ 11.12.2013/ Seite 221 221 ihren Folgen), die komplexe Sozialsysteme nach kurzer Anlaufzeit erreichen. Dies impliziert, dass die Koppelung zwischen Organisation und ihren Mitgliedern loser ist, als Argyris/ Schön annehmen, und dass Eigendynamik und Eigensinn der Organisation es schwierig machen, in einer kalkulierbaren Weise das Lernen und das Wissensmanagement der Organisation zu steuern. Über die parasitäre Verwendung des Menschen schaffen es Organisationen tatsächlich, als Organisationen in systemspezifischer Weise Differenzen zu prozessieren und neue Informationen zu generieren. Mit Hilfe des Menschen, aber unabhängig von konkreten einzelnen Individuen erzeugen Organisationen so ihre eigene Wissensbasis und definieren die Verwendung des Wissens nach eigenen Kriterien und Zielsetzungen. So lässt sich erklären, dass die meisten Menschen in Organisationen Differenzen beobachten und Informationen ableiten, an denen sie selbst nicht das geringste Interesse haben. Warum würde ein Sachbearbeiter in einer Krankenversicherung jahrelang Zahlen addieren und Rechnungen vergleichen wollen? Warum sollte die Mitarbeiterin eines Geheimdienstes einen Teil ihres Lebens damit verbringen, Satellitenfotos auszuwerten? Wer käme als Privatperson auf die Idee, einige Jahrzehnte lang fremde Kinder in lärmenden Großgruppen mit Buchstaben und Zahlen vertraut zu machen? Es ist nachgerade unvorstellbar, zu welchen Handlungsweisen Organisationen Menschen bringen. Insofern scheint es zumindest für den Fall von Organisationsgesellschaften etwas verwegen, von der Autonomie des Menschen ohne Einschränkung zu reden. Allerdings gilt das symbiotische Verhältnis zwischen Mensch und Organisation für beide Seiten. Menschen können Organisationen auch für ihre eigenen Zwecke nutzen, wenn sie über bestimmte Ressourcen verfügen. Nur diese Seite beachten March/ Olsen (1990, S. 380), wenn sie formulieren: »Organisationen werden als Instrumente von Individuen interpretiert«. Wenn mehrere oder gar viele Personen dies versuchen, dann kommt es zu jenen überraschenden und kontraintuitiven Konstellationen des »kollektiven Handelns« im Kontext organisierter Sozialsysteme, die das Sozialsystem selbst als kollektiven Akteur konstituieren und gleichzeitig überindividuelle (kollektive, organisierte) Präferenzen etablieren, die nicht mehr linear auf die Präferenzen der Individuen rückführbar sind: »Any complex system is both one and multiple. Multiple because of the subsets which comprise it and which are engaged in many games of interdependence and interaction. Some people’s objectives are others’ means; as a result of retroaction, effects become causes, the logic of the actors becomes entangled and produces perverse effects, thus contributing as much to the increase in possibilities as to the appearance of the unplanned, the paradoxical« (Caspar 1990, S. 714). <?page no="221"?> www.claudia-wild.de: [UTB-S]__Willke__Systemtheorie_3_Steuerungstheorie__[Druck-PDF]/ 11.12.2013/ Seite 222 www.claudia-wild.de: [UTB-S]__Willke__Systemtheorie_3_Steuerungstheorie__[Druck-PDF]/ 11.12.2013/ Seite 223 222 Für die Organisation als kollektivem Akteur können demnach ganz andere Differenzen wichtig werden als für die einzelnen Mitglieder. Sie kann als Organisation eigene Selektivitäten ausbilden und aus der Notierung dieser selegierten Differenzen Informationen ableiten, die nur für sie selbst als Organisation relevant sind, aber nicht unbedingt die Mitglieder oder Mitarbeiter als Personen interessieren. In diesem Sinne lässt sich davon sprechen, dass Organisationen ihre eigene Wissensbasis aufbauen, ihr eigenes Wissen für eigene Zwecke verwenden und schließlich auch ein eigenes Wissensmanagement betreiben. Ein theoretisch vernachlässigter und praktisch besonders wichtiger Faktor der operativen Verselbstständigung der Organisation und ihrer Wissensbasis ist die eigenständige Zeitstruktur organisationaler Operationen. Sozialsysteme folgen nach kurzem Anlauf ihrer eigenen »Systemzeit«, erzwingen eigene Fristen, Termine, Zeitdrucke, Prozesstempi etc. ohne Rücksicht auf die Zeitlichkeit ihrer Mitglieder. Dies heißt auch, dass Organisationen schneller oder langsamer lernen können als ihre Mitglieder (oder die Umwelt), sich schneller oder langsamer an neue Konstellationen anpassen als andere Systeme. Synchronisierung und Diachronisierung sind deshalb zentrale Bestandteile des organisationalen Wissensmanagements. Auch in der Zeitdimension realisieren Organisationen »unwahrscheinlichere« Konstellationen und Kriterien als Personen. Viele Firmen und Institutionen haben einen langfristigen Zeithorizont von 30 und mehr Jahren, etwa für ihre Forschungs- und Entwicklungsaktivitäten. Für ein Unternehmen wie Daimler-Benz stellt deren Vorstandsvorsitzender fest: »Großunternehmen müssen so geführt werden, dass sie Generationen überleben können« (Reuter 1993, S. 93, Hervorhebung H. W.). Auf der anderen Seite kann der langfristige Zeithorizont etwa bei Devisenhandelsfirmen auf zehn (! ) Minuten schrumpfen-- der kurzfristige besteht dann in Bruchteilen von Sekunden bei automatisiertem Hochfrequenzhandel (MacKenzie 2009; Ortega and Martin 2009). Regeln der Zurechnung verteilen die Verantwortlichkeiten zwischen Personen und Organisation und heben das Handeln der Organisation erkennbar von dem Handeln der Mitglieder ab. Damit ist auch eine formale Trennung zwischen Person und Organisation, sowie zwischen personalem und organisationalem Wissen erreicht. Dies führt zu Verwicklungen und Komplikationen, etwa wenn ein Minister zurücktreten muss, weil er etwas nicht wusste, was seine Organisation wusste, aber nicht wissen durfte. Oder der Geschäftsführer eines Unternehmens wird bestraft, weil er wusste, dass sein Unternehmen Know-how verkaufte, das andere Unternehmen nicht wissen dürften. Die ehemalige Stasi der ehemaligen DDR wäre ein unerschöpfliches Studienobjekt für geradezu groteske Zusammenhänge und Differenzen von <?page no="222"?> www.claudia-wild.de: [UTB-S]__Willke__Systemtheorie_3_Steuerungstheorie__[Druck-PDF]/ 11.12.2013/ Seite 222 www.claudia-wild.de: [UTB-S]__Willke__Systemtheorie_3_Steuerungstheorie__[Druck-PDF]/ 11.12.2013/ Seite 223 223 personalem und organisationalem Wissen, Wissensverwendung und Wissensmanagement. Die Erfindung abstrakter, überindividuell geltender Regeln ist das Kernstück des Prozesses der Absonderung organisationaler Identität und Wissensbasierung. Regelsysteme steuern die organisationalen Abläufe und mithin auch die Prozesse, die organisationsspezifisches Wissen konstituieren und speichern. Regeln sind ihrerseits symbolische Systeme, die sich als Gegenstand regelgeleiteter Bearbeitung eignen. Mit der Aufstellung von Regeln für die Erzeugung und Verwendung von Regeln wird ein Regelsystem reflexiv und beginnt, sich selbst zu steuern. So genügen beispielsweise einfache Regeln für relevante Differenzen und die Ableitung von Informationen für den Aufbau einer Wissensbasis als einfachste (lineare, mechanische) Form des Lernens. Reflexive Regeln über den Umgang mit dieser Wissensbasis begründen bereits eine zweite Stufe des reflexiven (evolutiven, akkommodierenden) Lernens, das zu anderem, neuem Wissen führen kann, wenn die Bearbeitung der vorhandenen Informationen überraschende, »unwahrscheinliche« Kombinationen erzeugt. Ein Beispiel dafür: Ein großer amerikanischer Konzern für Flugkörper (Lockheed Missile and Space, Inc.) installiert für ein anspruchsvolles, zeitlich extrem gedrängtes Projekt der Entwicklung einer neuen Rakete ein vernetztes System des »Engineering Data Management«. Im Projekt arbeiten etwa 800 Ingenieure an etwa 500 Computern der unterschiedlichsten Art (vom Cray bis zum PC) zusammen, um in der kritischen Phase des Produktdesigns parallele Entwicklungs-, Design- und Revisionsprozesse (»review«) zu realisieren. Das Engineering Data Management System ist so ausgelegt, dass alle Kommentare, Verbesserungsvorschläge, Revisionen, angenommene und abgelehnte Veränderungen, die online vorgenommen werden können, gespeichert werden und jederzeit abrufbar sind. Der Schritt zu reflexivem Lernen besteht hier darin, dass dieses Prozesswissen in den laufenden Entwicklungsprozess zurückgespielt wird, um eine Verbesserung des Prozesses zu erreichen: »Before reengineering a major portion of the missile system, staff members ›replayed‹ the engineering process, reviewing the considerations and decisions that had been made along the way.-… Finally, by archiving the review process and the comments registered during it, the (data management system) captures for perpetuity a substantive and previously shortlived knowledge base« (Wallace 1994, S. 68). Über Reflexivität hinaus führt die Fähigkeit zur Reflexion, wenn sie für ein System etabliert ist, zu Regeln über die gezielte Veränderung von Wissen als Bestandteil einer Strategie der Veränderung der eigenen Identität (siehe dazu Systemtheorie I, Kapitel 4.4). Bezüglich des Lernens erreicht ein System <?page no="223"?> www.claudia-wild.de: [UTB-S]__Willke__Systemtheorie_3_Steuerungstheorie__[Druck-PDF]/ 11.12.2013/ Seite 224 www.claudia-wild.de: [UTB-S]__Willke__Systemtheorie_3_Steuerungstheorie__[Druck-PDF]/ 11.12.2013/ Seite 225 224 durch Reflexion die Ebene des generativen (organismischen, integrierten) Lernens und damit die Fähigkeit »(for) continually expanding its capacity to create its future« (Senge 1990, S. 14). Auf dieser Stufe kann man ernsthaft von einer »lernenden Organisation« sprechen, einer Organisation also, die neues Wissen produziert und ein aktives Wissensmanagement betreibt (siehe die schematische Darstellung der drei genannten Stufen in Abbildung 7.1). Für die Praxis der Unternehmensberatung, zum Beispiel, ist die Stufe des reflexiven Lernens besonders wichtig, weil ihre Meisterung Voraussetzung dafür ist, dass die Firma lernen kann, dass sie lernen muss. Normalerweise tun sich Organisationen, ähnlich wie Menschen, die Mühe des Lernens erst an, wenn es sich nicht mehr vermeiden lässt, also kurz vor oder in einer Krise. Eine Krise ist deshalb zwar ein guter Auslöser fürs Lernen, aber ein schlechter Lehrmeister. Denn das, was in einer Krise gelernt wird, ist in aller Regel zu eng auf Krisenbewältigung ausgerichtet und vernachlässigt die Frage nach den tiefersitzenden und längerfristigen Ursachen der Krise. Ist nun eine Firma in wiederholte Krisen hineingeschlittert, weil sich Umweltbedingungen kontinuierlich und dynamisch verändern, dann könnte ein Reflexionsprozess einsetzen. Er könnte die Firma zu der Einsicht führen, dass die nächste Krise sicher kommen wird. Dies wäre der geeignete Zeitpunkt, krisenunabhängiges Lernen einzurichten und prophylaktisch Strategien im Umgang mit der kommenden Krise zu erarbeiten-- die genau auf- Quelle: Eigene Darstellung Stufen des Lernens Umwelt Umwelt Umwelt System System System Systemziele Stufe 1: Operantes Konditionieren single loop learning Stufe 2: Lernen des Lernens double loop learning Stufe 3: Re ektiertes Lernen Deutero learning Abbildung 7.1: Stufen des Lernens <?page no="224"?> www.claudia-wild.de: [UTB-S]__Willke__Systemtheorie_3_Steuerungstheorie__[Druck-PDF]/ 11.12.2013/ Seite 224 www.claudia-wild.de: [UTB-S]__Willke__Systemtheorie_3_Steuerungstheorie__[Druck-PDF]/ 11.12.2013/ Seite 225 225 grund dieser Strategien verhindert oder zumindest gemildert werden soll. Es liegt auf der Hand, dass nur solche Organisationen die Stufe reflexiven Lernens erreichen können, die nicht ausschließlich an kurzfristiges Operieren gebunden sind, sondern sich zumindest in einigen Hinsichten einen mittel- oder langfristigen Handlungshorizont erlauben. Organisationales Lernen ist nicht auf Krisenbewältigung beschränkt, sondern richtet sich auf alle Aspekte der Operationsweise einer Organisation, von der Veränderung der Organisationsform über die Modifikation des Produktdesigns bis zur Optimierung des Prozesses der Erstellung einer Leistung oder eines Produkts. Die Intelligenz einer Organisation erweist sich in der Fähigkeit, die vorhandene Wissensbasis zu nutzen, zu verbessern und zu transformieren (Götz and Schmid 2004; Willke 2011). Das ist leichter gesagt als getan. Wissensmanagement in Organisationen steckt immer noch in den Kinderschuhen. Selbst Firmen und Einrichtungen, die auf professionelle, wissensbasierte Leistungen ausgerichtet sind, wie etwa Beratungsunternehmen, Zeitungen, Fachzeitschriftenverlage, Fachkliniken, Schulbehörden, Bibliotheken etc., unterscheiden sich in ihrem Wissensmanagement kaum von den Manufakturen des 17. Jahrhunderts. Nahezu alles Wissen steckt in den Köpfen von Menschen; es gibt Listen, Karteikästen und ähnliches; aber das gesamte Arrangement ist eher darauf angelegt, den Zugang und die allgemeine Nutzung des Wissens zu verhindern, als zu fördern. Ältere Kollegen lieben es, die Jungen gegen die Wand laufen zu lassen, im besten Fall, damit sie »eigene Erfahrungen« machen. Das mühsam und aufwendig erworbene Wissen wird entsprechend eifersüchtig gehütet und nur in strategisch günstigen Momenten angedeutet. Vor allem gibt es ein Übermaß an »Verhinderungswissen«, also Wissen darüber, dass (weniger: warum) etwas nicht geht, nicht funktionieren kann, keine Chance hat etc. insbesondere, wenn es etwas Neues ist. Einige Ausnahmen gibt es allerdings von diesem Regelfall. So ist bekannt, dass das japanische MITI ein weltweites Informations- und Beobachtungsnetz ausgelegt hat, um relevantes Wissen aufzuspüren: technologische Neuerungen, neue Patente, interessante Produkte, Veränderungen des »Lifestyle« etc. Die meisten amerikanischen Profiteams in den großen Sportarten haben ein verzweigtes Netz von »scouts«, also geschulten Beobachtern, die an Schulen möglichst früh Talente entdecken sollen, welche für die eigenen Teams interessant sein könnten. In dieser Hinsicht dürften Football- und Basketball-Teams fortgeschrittener sein als die meisten Industriefirmen, welche sich noch weitgehend auf den Zufall eingehender Bewerbungen verlassen. Einige Bibliotheken haben inzwischen brauchbare elektronische Informations- und Retrievalsysteme; und die OECD verkauft ihre Statistiken heute auf CD oder DVD. <?page no="225"?> www.claudia-wild.de: [UTB-S]__Willke__Systemtheorie_3_Steuerungstheorie__[Druck-PDF]/ 11.12.2013/ Seite 226 www.claudia-wild.de: [UTB-S]__Willke__Systemtheorie_3_Steuerungstheorie__[Druck-PDF]/ 11.12.2013/ Seite 227 226 Aufschlussreiche Beispiele für organisationales Wissensmanagement geben jene höchst seltenen Fälle ab, in denen komplexe und risikoreiche soziotechnische Systeme nicht einfach auf »normal accidents« (Perrow 1992) warten, bis sie passieren, sondern in denen die Vermeidung von Katastrophen absolute Priorität hat: Flugsicherung im Allgemeinen und der Betrieb eines Flugzeugträgers im Besonderen. Hier können sich die Organisationen keine Unfälle leisten, weil jeder Unfall einer Katastrophe gleichkäme. Tatsächlich sind in der weltweiten Flugsicherung ebenso wie beim Betrieb von Flugzeugträgern Unfälle sehr selten. Wie gelingt den Organisationen diese bemerkenswerte Leistung? Im Gegensatz zu den in Praxis und Organisationstheorie im Vordergrund stehenden »normalen« Organisationen, die sie als »trial-and-error, failuretolerant, low-reliability organizations« bezeichnen, sprechen Todd LaPorte und Paula Consolini (1991) für den Ausnahmefall von einer »high-reliability organization«. Sie ist von hoher Riskanz (massive Schäden bei einem Fehler) und geringem Risiko (Fehlerneigung) geprägt und zeichnet sich dadurch aus, dass eine sehr riskante Technologie so in ein soziales System eingebunden wird, dass Fehler mit schweren Konsequenzen nahezu ausgeschlossen sind (LaPorte/ Consolini 1991, S. 23). Für unseren Zusammenhang ist die Frage vorrangig, wie solche Hochleistungsorganisationen lernen und wie sie das für eine sichere Operationsweise nötige Wissen organisieren. LaPorte und Consolini bieten zwei Elemente einer Erklärung an. 1. Zum einen beobachten sie ein Muster des Entscheidungsprozesses, das sich deutlich von inkrementalem (d. h. einem schrittweisen Versuch-und- Irrtum-Verfahren) Entscheiden entfernt und sich in Richtung einer proaktiven und präventiven Strategie des Entscheidens bewegt. Dieses Muster umfasst und fördert vier Elemente: - »reporting errors without encouraging a lax attitude toward the commission of errors; - initiatives to identify flaws in SOPs (standard operating procedures) and nominate and validate changes in those that prove to be inadequate; - error avoidance without stifling initiative or operator rigidity; and - mutual monitoring without counterproductive loss of operator confidence, autonomy and trust« (1991, S. 29). Entscheidend ist, dass jedes dieser Elemente Lernprozesse anstößt oder in Gang hält, in denen die Erfahrungen der Mitglieder in eine Überprüfung und Verbesserung der organisationalen Operations- und Entscheidungsmuster münden. Fehler sind zum einen zwar möglichst zu vermeiden, aber sie <?page no="226"?> www.claudia-wild.de: [UTB-S]__Willke__Systemtheorie_3_Steuerungstheorie__[Druck-PDF]/ 11.12.2013/ Seite 226 www.claudia-wild.de: [UTB-S]__Willke__Systemtheorie_3_Steuerungstheorie__[Druck-PDF]/ 11.12.2013/ Seite 227 227 sind auf der anderen Seite die wichtigsten Anlässe fürs Lernen, so dass es darauf ankommt, sie zu nutzen, wenn sie passieren. »Hot washups«, d. h. die sofortige Auswertung und Revision (»debriefing«) einer abgelaufenen Operation oder eines durchgeführten Projekts schöpft den Wissens-Mehrwert einer individuellen oder Team-Erfahrung für die Organisation und ihre Interaktionsmuster insgesamt ab, weil jede verpasste Lern-Lektion einen untragbaren Schaden heraufbeschwören könnte. 2. Das zweite Element der Erklärung der besonderen Operationsweise einer Hochleistungs-Organisation betrifft eine bemerkenswerte Fluidität und Kontextsensitivität von Koordinationsstrukturen. Damit ist gemeint, dass das System in der Lage ist, je nach der Besonderheit der Entscheidungssituation die Form des Entscheidens zu variieren, ohne dass die Variationen die Grundregeln des Entscheidens außer Kraft setzen würden. Unterscheidet man dreistufig zwischen normalen Operationen, verdichteten Operationen und Krisenoperationen, so liegt auf der Hand, dass ein einziges Muster der Koordination kaum optimal auf alle drei Typen der Operationsweise angepasst sein kann. Wenn nicht voraussehbar ist, wann und unter welchen Umständen die Organisation von normal auf verdichtet oder gar auf Krise heraufschalten muss und wenn keinerlei Zeit bleibt, um sich in der Situation selbst über geeignete Koordinationsformen klar zu werden, dann empfiehlt sich-- das sah schon Ross Ashby in der frühen Kybernetik-- ein ultrastabiles System mit der Fähigkeit, bei Bedarf automatisch auf die optimal geeignete Steuerungsform umzuschalten. Tatsächlich haben LaPorte und Consolini in Hochleistungsorganisationen diese Fähigkeit beobachten können: »Extensive field observations on board both aircraft carriers and within air-traffic control centers found an unexpected degree of structural complexity and highly contingent, layered authority patterns that were hazard related. Peak demands or high-tempo activities became a solvent of bureaucratic forms and processes. The same participants who shortly before acted out the routine, bureaucratic mode switched to a second layer or mode of organizational behavior. And, just below the surface, was yet another, preprogrammed emergency mode waiting to be activated by the same company of members. There appear to be richly variegated overlays of structural complexity comprised of three organizational modes available on call to the members of hazard-related units. Authority structures shifted among (a) routine or bureaucratic, (b) high-tempo, and (c) emergency modes as a function of the imminence of overload and breakdown. Each mode has a distinctive pattern, with characteristic practices, communication pathways, and leadership perspectives« (1991, S. 31, Hervorhebungen H. W.). <?page no="227"?> www.claudia-wild.de: [UTB-S]__Willke__Systemtheorie_3_Steuerungstheorie__[Druck-PDF]/ 11.12.2013/ Seite 228 www.claudia-wild.de: [UTB-S]__Willke__Systemtheorie_3_Steuerungstheorie__[Druck-PDF]/ 11.12.2013/ Seite 229 228 Man beachte vor allem die Einsicht, dass es die gleichen Personen sind, die je nach geltendem (eingeschaltetem) Modus der Koordination tatsächlich unterschiedlich kommunizieren, interagieren und in einer anderen Weise zu Entscheidungen gelangen. Erst das Zusammenspiel von Personen, die gelernt haben, mit unterschiedlichen Modi umzugehen, und von systemischen Mustern und Regelsystemen, in denen die Intelligenz der Organisation eingelagert ist, ergeben insgesamt die Fähigkeit der Organisation, mit qualitativ unterschiedlichen Stufen von Anforderungen fertig zu werden, ohne ihre Strukturen aufzugeben oder jeweils neu erfinden zu müssen. Charakteristisch für den Unterschied zwischen »normalen« und den gerade beschriebenen Organisationen ist die Art der Sozialisierung von Anfängern. In hochriskanten Organisationen kann es sich niemand leisten, Neulinge vor die Wand laufen zu lassen, denn dies könnte katastrophale Folgen für alle haben. Aber die sorgfältige Einweisung von Neuen dient nicht nur diesen, sondern ist der Anlass für eine Rekapitulation des organisationalen Wissens durch und für die Alten: »When experienced insiders answer the questions of inexperienced newcomers, the insiders themselves are often resocialized. This is significant because it may remind insiders how to act heedfully and how to talk about heedful action. Newcomers are often a pretext for insiders to reconstruct what they know but forgot« (Weick/ Roberts 1993, S. 367, Hervorhebung H. W.). Das Management organisationalen Wissens ist gerade für professionelle Dienstleistungsunternehmen- - Anwaltsfirmen, Kliniken, Beratungsunternehmen, Architekturbüros, Ausbildungsunternehmen, Forschungsinstitute, Datenbank-Anbieter etc.-- der Kern des Geschäftsprozesses und mithin die Basis ihrer Wertschöpfung. Eine Reihe weitsichtiger Firmen hat dies verstanden. Sie haben ganz unterschiedliche Systeme und Prozesse der Erhebung, Dokumentation und Dissemination ihres organisationalen Wissens etabliert und vor allem Anreize zur Nutzung und Pflege ihrer Wissenssysteme geschaffen. Ein weiteres Beispiel: Die ebenfalls weltweit aktive Beratungsfirma Arthur Andersen & Co stattete Ende der 1980er-Jahre jede(n) ihrer 600 Berater(innen) mit einem Computer aus und installierte ein firmeninternes »Bulletin board«. Jedes Firmenmitglied ist verpflichtet (! ), mindestens einmal pro Woche das »board« zu konsultieren: »It allows you to ask questions and get answers to questions from peers all around the world. For each of the six hundred people directly on our network, they probably have another ten they relate to closely, so we can essentially network to 6,000 minds. The system forces people to be more <?page no="228"?> www.claudia-wild.de: [UTB-S]__Willke__Systemtheorie_3_Steuerungstheorie__[Druck-PDF]/ 11.12.2013/ Seite 228 www.claudia-wild.de: [UTB-S]__Willke__Systemtheorie_3_Steuerungstheorie__[Druck-PDF]/ 11.12.2013/ Seite 229 229 precise in the questions they ask and in the repsonses they present. One of the things that Group Talk (hier: der Name des »board«, H. W.) does is to allow us to build a new culture. What happens also is a new form of training. People learn by interacting. We call it just-in-time knowledge information transfer« (Robert Elmore, Managing Director of Business Systems Consulting at AA&Co, zit. in (Quinn 1992, S. 266, Hervorhebung H. W.). Andererseits vergeuden die meisten Firmen ihre Wissensressourcen oder verstecken sie in verstaubten Archiven. In einer empirischen Untersuchung des betrieblichen Umgangs mit Wissen bei Entwicklungsvorhaben fanden Veronika Lullies und Mitarbeiter, dass in keinem einzigen (! ) der untersuchten 17 Betriebe ein »vertikaler Wissenstransfer« in dem Sinne stattfand, dass das Management die Mitarbeiter nach ihren Erfahrungen bei durchgeführten Projekten auch nur fragte, »geschweige denn, dass dieses Wissen systematisch erhoben und erörtert worden wäre« (Lullies u. a. 1993, S. 80). Der erste Schritt zu einer besseren Nutzung dieser Ressourcen ist, wie immer, sich mehr Klarheit darüber zu verschaffen, worum es überhaupt geht, mehr Aufmerksamkeit und Problembewusstheit herzustellen (grundlegend dazu Quinn 1992). Häufig stellt sich dann heraus, dass Ansätze zum Wissensmanagement durchaus vorhanden sind und gering erscheinende Veränderungen erhebliche Verbesserungen erbringen. Ich werde auf den nächsten Seiten Ansätze zum organisationalen Wissensmanagement in den systemtheoretisch relevanten fünf Dimensionen skizzieren. Zum einen möchte ich damit zeigen, dass spezifisch systemisches Wissensmanagement durchaus Traditionen hat; zum anderen sollte deutlich werden, dass es noch mehr als genug zu tun gibt, um die vorhandenen Wissensressourcen optimal zu nutzen. 1. Traditionellerweise manifestiert sich organisationales Lernen und organisationales Wissensmanagement am deutlichsten in Strukturreformen. Seit ihrer Entstehung machen Organisationen in Schüben Veränderungen ihrer Struktur durch, hauptsächlich angestoßen durch Anforderungen ihrer Umwelten, zunehmend aber auch als bewusste Maßnahme, um neue Erkenntnisse der Beratung, der Organisationsentwicklung oder der internen Reflexion einzubauen. Beispiele für solche Schübe sind der Übergang vom Handwerksbetrieb zur Manufaktur, von der Manufaktur zur Fabrik, vom Familienbetrieb zum Betrieb mit »fremdem« Leitungspersonal (»Manager«), vom ganzheitlichen Betrieb zum funktional arbeitsteiligen Betrieb etc. In neuerer Zeit lässt sich eine schnellere Abfolge solcher Schübe beobachten-- wenig überraschend, da sich auch die Umweltbedingungen, die Technologien, Arbeitsformen und Kundenwünsche rascher ändern. <?page no="229"?> www.claudia-wild.de: [UTB-S]__Willke__Systemtheorie_3_Steuerungstheorie__[Druck-PDF]/ 11.12.2013/ Seite 230 www.claudia-wild.de: [UTB-S]__Willke__Systemtheorie_3_Steuerungstheorie__[Druck-PDF]/ 11.12.2013/ Seite 231 230 Für unseren Zusammenhang ist wichtig, dass sich in dieser Strukturentwicklung der Kern des herkömmlichen organisationalen Lernens manifestiert. Es ist die Organisation, die ihre Form ändert und darüber die Interaktionen und Operationen ihrer Mitglieder in andere Bahnen und Zusammenhänge lenkt. Mit den gegebenen Personen als Mitgliedern sind in einer strikt funktional differenzierten Organisation bestimmte Prozesse und Operationszusammenhänge möglich und andere nicht; wäre die Organisation in Geschäftseinheiten gegliedert, so wären mit denselben Personen ganz andere Möglichkeiten gegeben und tatsächlich würden sie, wie viele Veränderungsstudien zeigen, auch andere Operationsweisen realisieren. Wiederum erweist sich, dass personales und organisationales Lernen nicht deckungsgleich sind, wenngleich beides zusammenspielen muss, um bleibende Veränderungen zu stiften. 2. Ebenfalls eine sehr alte Form organisationalen Wissens und Wissensmanagements betrifft das personale Wissen der Organisation. Personen wissen etwas über ihre Organisation; die Organisation weiß allerdings auch etwas über ihre Mitglieder. Der zweite Aspekt ist mit der Problematik des personenbezogenen Datenschutzes stärker ins Bewusstsein gerückt, aber das personale Wissen der Organisation reicht etwas weiter. Es betrifft vor allem die Kompetenzen und Karrieren der Mitglieder von der ersten Beurteilung und dem ersten Arbeitstag an, reicht über Einschätzungen, Urteile und Prognosen der Personalentwicklung und Personalplanung und streift die Labyrinthe der Familien-, Kranken- und anderer Geschichten. Komplementär dazu speichert die Organisation in ihren Mythen und Heldensagen, ihren Horrorstories und Abschreckungsbeispielen informelles Wissen über Personen, Teams, Gruppen, »die« Leute der Abteilung X, »den« Außendienst etc., als Elemente der Organisationskultur (und ihrer Subkulturen). Diese Mythen und Stories sind wichtig für das kollektive Wissen der Organisation »because stories organize know-how, tacit knowledge, nuance, sequence, multiple causation, means-end relations, and consequences into a memorable plot.-… And a repertoire of war stories, which grows larger through the memorable exercise of heed in novel settings, is mind writ large« (Weick/ Roberts 1993, S. 368). Ein wichtiger werdender Aspekt des personalen Wissens einer Organisation besteht aus Informationen über Personen in den relevanten Umwelten des Systems. Wissen über Kooperationspartner, Konkurrenten, Kunden, potenzielle Kunden, relevante externe Experten oder Gewerkschaftsfunktionäre ist ebenso kritisch wie insbesondere bei neuen Projekten (Pilotprojekten, Bauvorhaben, Umstrukturierungen und ähnlichem) Wissen über relevante Politiker, Verwaltungsbeamte, Umweltschützerinnen, Mitglieder von sozialen <?page no="230"?> www.claudia-wild.de: [UTB-S]__Willke__Systemtheorie_3_Steuerungstheorie__[Druck-PDF]/ 11.12.2013/ Seite 230 www.claudia-wild.de: [UTB-S]__Willke__Systemtheorie_3_Steuerungstheorie__[Druck-PDF]/ 11.12.2013/ Seite 231 231 Bewegungen etc. Und schließlich betrifft ein dritter Aspekt des personalen Wissens einer Organisation, der in aller Regel völlig unterentwickelt ist, Informationen über nachrückendes »Talent«. Wie bereits erwähnt, scheint es, als haben nur einige Profiteams in sehr populären Sportarten (in den USA) Talentsuche zu einer hohen Kunst entwickelt, während industrielle Firmen-- von Institutionen und Administrationen ganz zu schweigen-- bestenfalls Beziehungen zu bestimmten Universitäten oder Lehrstühlen haben, von denen sie sich irgendwie talentierten Nachwuchs erhoffen. Defizite im personenbezogenen Wissensmanagement von Organisationen können in ihren destruktiven Wirkungen und Kosten gar nicht hoch genug eingeschätzt werden. Beteiligte berichten übereinstimmend, dass viele Firmen über die Anschaffung eines Computers für 20.000 Euro mehr Aufhebens machen als über die Einstellung eines Mitarbeiters, der sie im Laufe weniger Jahre Millionen kosten wird. Selbst heute, nach der Entdeckung von »Kundenorientierung« im Kontext des Modells der schlanken Organisation, nutzen wenig Firmen die Expertise ihrer Kunden, weil sie diese nicht kennen oder ihr personales Wissen über Kunden nicht wirksam in den Geschäftsprozess einfließen lassen. 3. Eine dritte Dimension des Wissens der Organisation bezieht sich auf Prozesswissen. Die entsprechende Stufe organisationalen Lernens richtet sich auf die Optimierung von Geschäftsprozessen. Etwas irreführend läuft dies manchmal unter dem Titel der Restrukturierung. Dabei geht es gerade nicht um Strukturveränderung, sondern um eine das gesamte System umfassende Analyse des Prozesses der Herstellung einer bestimmten Leistung oder eines Produkts in der Absicht, diesen Prozess aus der Sicht des Abnehmers (des internen oder externen Kunden) zu optimieren: »Gegenstand des ›Business Reengineering‹ sind Unternehmensprozesse, nicht Organisationseinheiten.-… Ressorts sind auf einem Organigramm deutlich sichtbar, Unternehmensprozesse dagegen nicht. Organisationseinheiten tragen Namen, Unternehmensprozesse in aller Regel nicht.-… Ebenso wie Unternehmen Organisationspläne haben, können sie auch Unternehmensprozessdarstellungen verwenden, die zeigen, wie die Arbeit durch das Unternehmen ›fließt‹« (Hammer/ Champy 1994, S. 153 f.). Strukturveränderungen folgen deshalb aus einer Neugestaltung von umfassenden systemischen Prozessen. Das Ziel ist geradezu, diese Prozesse möglichst ungehindert durch barocke Strukturen der internen Aufspreizung und Arbeitsteilung als systemische Gesamtheiten zu organisieren, sie schlank, schnell und flexibel zu gestalten, damit der Fokus der Organisation auf ihre Leistungen gerichtet bleibt, anstatt sich in internen Spielen um Macht, Einfluss und Bedeutung zu verzetteln. <?page no="231"?> www.claudia-wild.de: [UTB-S]__Willke__Systemtheorie_3_Steuerungstheorie__[Druck-PDF]/ 11.12.2013/ Seite 232 www.claudia-wild.de: [UTB-S]__Willke__Systemtheorie_3_Steuerungstheorie__[Druck-PDF]/ 11.12.2013/ Seite 233 232 Auch in der Optimierung der Prozesse steckt genuin organisationales Lernen. (Übrigens haben lange zuvor die sich modernisierenden Gesellschaften in jahrhundertelangen Lernprozessen ihre politischen Prozesse der Entscheidungsfindung und Gesetzgebung optimiert und genau darin systemisches Wissen angesammelt, das indessen noch nicht die Köpfe aller ihrer Bürger erreicht hat). Auch Prozessoptimierung verändert die Operationsweise von Organisationen in systemischer Weise, so dass ihre Mitglieder gewissermaßen zwanglos und hinter ihrem Rücken zu neuen Formen der Kommunikation und des Arbeitens geführt werden. In einer ausgeprägt hierarchischen Organisation mit stark formalisierten und zentralisierten Prozessen laufen deshalb Kommunikationen vielfach gefiltert von unten nach oben und zwängen sich durch mehrschichtige Engpässe. Es ist für Mitglieder in einem solchen Kontext schlicht sinnlos, Informationen direkt, schnell und unbürokratisch an den Ort zu bringen, an dem sie gebraucht werden-- im Gegenteil, sie müssen für die Nichteinhaltung des Dienstwegs mit Nachteilen rechnen. In einem Team, einer semi-autonomen Arbeitsgruppe oder einer flachen, vernetzten Hierarchie dagegen laufen die Kommunikationen deshalb auf anderen Bahnen, weil eine Prämie auf Gruppenleistung, Projektqualität und Mehrwert für den Kunden steht, und die Prozessregeln der Organisation entsprechende Kommunikationen unterstützen. Prozesswissen bezieht sich auch auf die schwierige Frage der Synchronisierung und Diachronisierung unterschiedlicher Zeitrechnungen, Tempi und Taktraten, denen die Organisation intern und extern ausgesetzt ist. Intern kommt es darauf an, die unterschiedlichen Subsystemzeiten und Zeitperspektiven der autonomen Einheiten (Abteilungen, Divisionen, Geschäftseinheiten, Projektteams) unter einen Hut zu bekommen, damit die differenzierten und verteilten Prozesse nicht aneinander vorbei laufen. Traditionelle temporale Konflikte sind etwa die unterschiedlichen Zeitvorstellungen der Entwicklungs- und der Marketingabteilung- - weshalb es sich lohnt, diese strikte Funktionsteilung aufzuweichen oder gar ganz aufzulösen und zu einer integrierten Prozess- oder Projektorganisation zu wechseln. Externe temporale Abstimmungen sind mit den Zeitperspektiven von Zulieferern (»just in time«), von Kunden und von Konkurrenten zu leisten. Über diese durchaus bekannten Aspekte des organisationalen Prozesswissens hinaus führen neuere Vorstellungen darüber, wie der kritische Faktor Zeit in den »Wettbewerbsvorteil Geschwindigkeit« umgemünzt werden könnte. Im Kern geht es um eine Verdichtung und um ein Ineinanderschieben der herkömmlichen Ablaufphasen der Herstellung eines Produkts oder einer Leistung- - von der Produktidee, der Konzeptdefinition über Produktdesign, Entwicklung, Test, Erprobung, Korrektur bis zu Produktion, Vertrieb und Marketing. So ist beispielsweise die oft im Vordergrund der <?page no="232"?> www.claudia-wild.de: [UTB-S]__Willke__Systemtheorie_3_Steuerungstheorie__[Druck-PDF]/ 11.12.2013/ Seite 232 www.claudia-wild.de: [UTB-S]__Willke__Systemtheorie_3_Steuerungstheorie__[Druck-PDF]/ 11.12.2013/ Seite 233 233 Diskussion stehende Produktion in zeitlicher Hinsicht inzwischen bei vielen Produkten nahezu vernachlässigbar, während die Engpässe bei Design, Forschung und Entwicklung oder Lagerhaltung und Auslieferung entstehen. Eine prozessoptimierende Reaktion darauf ist »Synchron-Entwicklung« (»parallel engineering« oder »concurrent engineering«): Der komplexe Design- und Entwicklungsprozess wird in Teilprozesse auseinandergezogen, die gleichzeitig nebeneinander herlaufen und nun kunstvoll untereinander verflochten und abgestimmt werden müssen, um die Entwicklungszeit für ein neues Produkt radikal zu verkürzen (wie aufwendig dies ist, zeigt an einer Fallstudie Wallace 1994; siehe auch die Darstellung des Unternehmensprozesses von Texas Instruments bei Hammer/ Champy, 1994, S. 156). Einen aufschlussreichen (und kostspieligen) Fall des Misslingens einer Synchronisierung unterschiedlicher Zeitkriterien beschreiben Hammer und Champy am Konflikt zwischen dem Zentralen Distributionszentrum (ZDZ) und den Regionalen Distributionszentren (RDZ) eines Konzerns (1994, S. 18 f.) Obwohl für eine bestimmte Region das ZDZ und das RDZ in ein und demselben Gebäude untergebracht sind, und man deshalb bei einem fehlenden Produkt kurz über den Flur vom RDZ zum ZDZ gehen könnte, um herauszufinden, ob im Zentrallager etwas vorhanden ist, dauerte tatsächlich die Abwicklung einer solchen Anfrage elf (11! ) Tage: »Ein Grund, weshalb der Prozeß so lange dauert, ist die Tatsache, dass ein RDZ nach der Reaktionszeit auf Kundenaufträge beurteilt wird, das ZDZ hingegen nicht. Für die Beurteilung seiner Leistung werden andere Kriterien herangezogen: Lagerkosten, Lagerumschlag und Lohnkosten. Wenn das ZDZ sich bei der Ausführung eines Eilauftrags eines RDZ sputet, schadet es damit seiner eigenen Leistungsbewertung. Daher macht das RDZ nicht einmal den Versuch, das ZDZ auf der anderen Seite des Korridors zur Ausführung eines Eilauftrags zu bewegen. Statt dessen läßt es die Waren von einem anderen RDZ über Nacht per Luftfracht einfliegen. Die Kosten? Jedes Jahr entstehen allein Luftfrachtkosten in Millionenhöhe; in jedem RDZ gibt es eine Abteilung, die nichts anderes tut, als zusammen mit anderen RDZs Waren ausfindig zu machen. Die gleichen Waren werden häufiger bewegt und verladen, als es der gesunde Menschenverstand zulassen würde. Sowohl die RDZs als auch das ZDZ erfüllen ihre Aufgaben, aber das Gesamtsystem funktioniert damit nicht« (Hammer/ Champy 1994, S. 19). 4. Eine weitere Dimension organisationalen Wissens, die gegenwärtig besondere Aufmerksamkeit findet, lässt sich als Projektwissen bezeichnen. Gemeint ist damit eine, nicht nur in den Köpfen von Personen, sondern auch in etablierten Verfahrensweisen, Lösungsmodellen, Standardinstruwww.claudia-wild.de: <?page no="233"?> [UTB-S]__Willke__Systemtheorie_3_Steuerungstheorie__[Druck-PDF]/ 11.12.2013/ Seite 234 www.claudia-wild.de: [UTB-S]__Willke__Systemtheorie_3_Steuerungstheorie__[Druck-PDF]/ 11.12.2013/ Seite 235 234 menten etc. gespeicherte Expertise im Management von Projekten. Projekte sind integrierte Lösungen für ein Problem, das in Zusammenarbeit mit dem Kunden definiert wird. Entgegen dem »garbage can«-Modell der Organisation (Cohen/ March/ Olsen 1990) genügt es also nicht, dass eine Firma fertig bereitliegende Lösungen anbietet, die sich in irgendeinem Kontext bewährt haben und zum Lieblingsinstrumentarium der Firma avanciert sind. Vielmehr ist eine entscheidende Voraussetzung für ein gelingendes Projekt, dass das Problem aus der Sicht des Kunden, mit dessen Hilfe und eigener Expertise, möglichst adäquat rekonstruiert und auf die spezifischen Kompetenzen des Anbieters bezogen wird. Zum Beispiel kann sich herausstellen, dass eine brauchbare Lösung gar nicht möglich ist, ohne eine dritte Firma von vornherein einzubeziehen und sie mit einem Teil des Projekts zu betrauen. So stellte sich in dem bereits erwähnten Fall der amerikanischen Raketenfirma Lockheed heraus, dass die verlangte drastische Reduktion der Design- und Entwicklungszeit von fünf auf zwei Jahre nur realisierbar war, wenn eine weitere Spezialfirma die gesamte Infrastruktur (Software, Softwareentwicklung, Support) für das Onlinemanagement der Design- und Entwicklungsdaten übernehmen würde (Wallace 1994, S. 63). Die erforderliche Zusammenarbeit hatte nur dann Aussicht auf Erfolg, wenn beide Firmen bereit waren, das Risiko einer vorbehaltlosen gleichberechtigen Kooperation einzugehen. Der Punkt ist nun, dass hierfür die Bereitschaft der betroffenen Personen zwar eine notwendige, nicht aber auch schon hinreichende Bedingung ist. Hinzukommen musste ein in die Firmenkulturen eingebautes Projektwissen, das sich in Regelsystemen für Kooperation, Offenheit, Risikobereitschaft und Fairness ausdrückt- - und nicht mühsam für jedes neue Projekt neu erfunden werden muss. Die kritische Leistung des organisationalen Projektwissens im Verhältnis zum Projektwissen von Personen scheint zu sein, die Integration der verschiedenen erforderlichen Bausteine von Expertise zu einem kohärenten Projektentwurf zu stützen. In der Wissensbasis der Organisation müssen Erfahrungen über gelungene bzw. misslungene Projekte dokumentiert sein, aus denen sich Regeln, Standardverfahren und Ausnahmeregelungen für die Koordination und das Management von Projekten ergeben. Eine verbreitete Form dafür ist heute die Entscheidung einer Organisation für die Verwendung einer bestimmten Projektmanagementsoftware mit spezifischen Anpassungen und Elaborationen für die Bedarfe der Organisation. Dies kann dies zur Grundlage eines Prozesses der »automated knowledge capture« (Quinn 1992, S. 166) werden, in welchem die Organisation systematisch das in Projekten gewonnene Wissen abschöpft, dokumentiert und zugänglich macht. Projektwissen kann sich auch auf eine unternehmensinterne Aufgabe, etwa die Gesamtheit eines Produktentwicklungsprozesses als Projekt der Prowww.claudia-wild.de: <?page no="234"?> [UTB-S]__Willke__Systemtheorie_3_Steuerungstheorie__[Druck-PDF]/ 11.12.2013/ Seite 234 www.claudia-wild.de: [UTB-S]__Willke__Systemtheorie_3_Steuerungstheorie__[Druck-PDF]/ 11.12.2013/ Seite 235 235 duktinnovation, beziehen. Ähnlich wie die Firma Lockheed hat z. B. Kodak seinen Produktentwicklungsprozess mit Hilfe computerunterstützter Methoden (CAD/ CAM) völlig neu gestaltet und die Möglichkeiten der neuen Technologien zugleich genutzt, um das sich entwickelnde Projektwissen zu dokumentieren, zu speichern und für Revisionen zugänglich zu machen: »Die Technologie, die es Kodak ermöglichte, seinen Produktentwicklungsprozess neu zu gestalten, ist eine integrierte Produktkonstruktionsdatenbank. Tag für Tag werden dort die Arbeiten der einzelnen Ingenieure aufgezeichnet und zu einem kohärenten Ganzen zusammengeführt. Jeden Morgen überprüfen die Konstruktionsteams und die einzelnen Ingenieure die Datenbank, um festzustellen, ob die gestrige Arbeit eines Kollegen für sie oder für die Gesamtkonstruktion ein Problem aufgeworfen hat. Falls dem so ist, lösen sie das Problem sofort, nicht erst nach Wochen oder Monaten vergeudeter Arbeit« (Hammer/ Champy 1994, S. 65). 5. Einen letzten, übergreifenden Typus von systemischem Wissen bezeichne ich als Steuerungswissen. Es ist ein Reflexionswissen der Organisation über ihre Identität und ihre Mission (Zielsetzungen). Für die Organisation beantwortet dieses Wissen die Frage, wozu und wofür sie überhaupt tätig ist. Auf Festreden und in Mission-Statements trägt die Organisation dieses Wissen, auf einige Schlagworte verkürzt, zwar vor sich her, doch es entfaltet seine Wirkung hauptsächlich als latentes Wissen, als gar nicht weiter thematisierte Selbstverständlichkeiten der Operationsweise, in welche die Mitglieder hineinwachsen, ohne es zu bemerken. Vor allem in Krisen wird dieses latente Wissen manifest und steuert das Krisenmanagement des Systems. Das organisationale Steuerungswissen wird zum Thema für das Wissensmanagement, weil Organisationen es sich nicht mehr leisten können oder wollen, die Wirkungsweise ihres Steuerungswissens auf Krisenmanagement zu beschränken. Je klarer eine Organisation in ihrer Selbstbeschreibung Vorstellungen (im Sinne kollektiver mentaler Modelle) darüber entwickelt, »wer« sie sein möchte und welche Art von Identität aus einer Bandbreite alternativer kontingenter Identitäten sie in ihrer spezifischen Operationsweise realisieren möchte, desto stärker wird sie ihr Steuerungswissen als Expertise der Selbststeuerung pflegen und managen müssen. Je weniger die Entwicklung von Organisationen, Institutionen und anderen Formen organisierter Sozialsysteme bloßer Evolution überlassen bleiben kann und soll, weil die Risiken dieser Entwicklungsstrategie inzwischen zu hoch geworden sind, desto klarer geht es für komplexe Systeme um die Erfindung und gezielte Realisierung gewünschter möglicher Identitäten. Steuerungswissen zielt auf Organisationsdesign und auf die Kreation einer singulären Organisationskultur, eines idiosynkratischen »Stils des Hauses«, der offensiv als <?page no="235"?> www.claudia-wild.de: [UTB-S]__Willke__Systemtheorie_3_Steuerungstheorie__[Druck-PDF]/ 11.12.2013/ Seite 236 www.claudia-wild.de: [UTB-S]__Willke__Systemtheorie_3_Steuerungstheorie__[Druck-PDF]/ 11.12.2013/ Seite 237 236 Markenzeichen des Systems Verwendung findet. Offensichtlich wird Identität für komplexe Organisationen zu wichtig, als dass sie der Evolution oder einzelnen Menschen überlassen werden könnte. Ich fasse die Kernpunkte zu den Dimensionen des Wissensmanagements in einer Übersicht zusammen (siehe Tabelle 7.6). Interessanterweise unterscheidet Sonja Sackmann (1992) in einer geistreichen empirischen Studie zur Differenzierung organisationalen Wissens (im Anschluss vor allem an Fritz Heider) vier Formen kognitiver Strukturierung (also der Verortung und des Managements von Wissen) von Personen: 1. Begriffe, um Dinge oder Ereignisse zu bezeichnen und zu beschreiben; 2. Erklärungen, um die Struktur eines Ereignisses zu erläutern; 3. Lektionen in der Form von Rezepten oder Vorschriften für Korrekturen; und 4. Begründungen für die Ursachen eines Ereignisses. Entsprechend unterscheidet sie vier Typen organisationalen Wissens als Aspekte einer Organisationskultur, die sie in folgender Weise definiert: • »dictionary knowledge« (Begriffswissen) enthält die Normalsprache eines Kollektivs zur Beschreibung des »Was« einer Situation. Es definiert z. B., was ein Problem, eine Leistung oder eine Beförderung ist. • »directory knowledge« (Handlungswissen) enthält die anerkannten Erklärungen der Ursache-Wirkungs-Zusammenhänge. Es betrifft das »Wie« von Dingen und Ereignissen und definiert z. B., wie es zu einem Problem oder zu einer Beförderung kommt. • »recipe knowledge« (Rezeptwissen) enthält Regelsysteme für Korrektur- und Verbesserungsstrategien. Es organisiert Ideen des »Sollens« und definiert etwa, wie ein bestimmtes Problem angepackt werden soll oder was man tun sollte, um befördert zu werden. Und schließlich • »axiomatic knowledge« (Grundsatzwissen) bezieht sich auf letzte Gründe und Erklärungen für bestimmte Ereignisse. Es antwortet auf die Frage Tabelle 7.6: Dimensionen des Wissensmanagements Dimension Wissensform Systemproblem sozial Personenwissen »human-resources«-Management sachlich Strukturwissen Restrukturierung zeitlich Prozesswissen Prozess-optimierung operativ Projektwissen Integration von Expertise kognitiv Steuerungswissen Erfindung von Identität Quelle: Eigene Darstellung <?page no="236"?> www.claudia-wild.de: [UTB-S]__Willke__Systemtheorie_3_Steuerungstheorie__[Druck-PDF]/ 11.12.2013/ Seite 236 www.claudia-wild.de: [UTB-S]__Willke__Systemtheorie_3_Steuerungstheorie__[Druck-PDF]/ 11.12.2013/ Seite 237 237 nach dem »Warum« und kann in der Regel nicht hinterfragt oder auf noch tiefere Gründe zurückgeführt werden. Es definiert z. B., warum in einer Organisation ein bestimmtes Problem entsteht oder warum bestimmte Personen befördert worden sind (Sackmann 1992, S. 141 f.). In ihrer Untersuchung unterschiedlicher Bereiche eines Konzerns findet Sonja Sackmann tatsächlich klare Unterscheidungen dieser Wissenstypen, wobei die Differenzierungen des Begriffswissens am deutlichsten sind, während eher überraschend sich nur eine einzige übergreifende Form des Handlungswissens herauskristallisierte. Die Ergebnisse zum Rezeptwissen waren nicht schlüssig. Das eruierte Grundsatzwissen ist aufschlussreich, weil es zum einen nur in der Gruppe des Top-Managements überhaupt auftauchte und auf den unteren Ebenen nicht manifest, vermutlich aber latent vorhanden war (Sackmann 1992, S. 153). In meiner Sicht stimmen die von Sonja Sackmann unterschiedenen Typen des organisationalen Wissens gut mit den entsprechenden vier Wissensformen überein, die ich oben beschrieben habe. Auffällig ist, dass die personale und die zeitliche Dimension fehlen. Erklärbar ist dies nach meinem Eindruck dadurch, dass schon Fritz Heider für die Ebene der Personen das Wissen über Personen nicht thematisiert. Erst die neuere Idee der Selbstreferenzialität macht diese Form des Wissens zum Thema, nun allerdings nicht nur für Personen, sondern auch für Sozialsysteme. Ganz ähnlich ist auch die Idee eines Prozesswissens und einer Prozessoptimierung neueren Datums. Gerade die temporale Dimension wird traditionellerweise vernachlässigt, und so ist es nicht überraschend, dass sie auch bei Fritz Heider und bei anderen fehlt. Ganz ohne Zweifel ist mit diesen Ausführungen das Thema »Wissensmanagement der Organisation« als Teilaspekt der Problematik von Wissen als Steuerungsmedium nicht erschöpft. Da es sich bei diesem Buch um eine Einführung handelt, möchte ich hier dieses Thema jedoch abschließen. Allerdings nicht, ohne zuvor nicht zumindest einen kurzen Blick auf die Schattenseite des Wissens zu werfen. 7.4 Die Ignoranz des Wissens Wissen ist untrennbar mit Nichtwissen als der anderen Seite der Form des Wissens verbunden, sonst könnten wir nicht von Wissen reden. Dass jedes neue Wissen mehr Nichtwissen miterzeugt, ist ebenso klar wie die Einsicht, dass Wissen nicht alle Probleme löst (Japp 1996, S. 87 ff.; Luhmann 1997, S. 1088 ff.). Mir geht es in der folgenden Überlegung nicht um diesen Aspekt. Vielmehr möchte ich hervorheben, dass auf der Seite des Wissens <?page no="237"?> www.claudia-wild.de: [UTB-S]__Willke__Systemtheorie_3_Steuerungstheorie__[Druck-PDF]/ 11.12.2013/ Seite 238 www.claudia-wild.de: [UTB-S]__Willke__Systemtheorie_3_Steuerungstheorie__[Druck-PDF]/ 11.12.2013/ Seite 239 238 durch das gegebene Wissen selbst neue Probleme entstehen, die eine Steuerungstheorie nicht ignorieren kann. Erstaunlicherweise hat in den Sozialwissenschaften das Nachdenken über Formen des Missmanagements von Wissen eine stärkere Tradition als die Erarbeitung konstruktiver Ideen über Wissensmanagement. Unter dem Stichwort pathologischer Formen des Lernens haben sowohl Karl Deutsch wie Amitai Etzioni oder Argyris/ Schön bestimmte Gefahren des Umgangs mit Wissen thematisiert. Deutsch nennt zwei pathologische Lernformen: ein Lernen aus der Überbetonung der Vergangenheit (des Gedächtnisses), welches zu einer »konservativen« Organisation führt; und Lernen mit starrem Blick auf die Zukunft, welches die Gefahr einer »missionarischen« Organisation heraufbeschwört (Deutsch 1970). Ganz ähnlich nennt Etzioni Systeme, deren Lernprozesse auf eine Überbetonung von Kontrolle gerichtet sind »übersteuerte« Systeme; und solche, deren Lernen vom Zwang zum Konsens gekennzeichnet ist, »dahintreibende« Systeme. Stärker auf Organisationen bezogen unterscheiden March und Olsen (1990, S. 386) drei Arten pathologischen Lernens, die durchweg auf unvollständigen Lernzyklen in der Sequenz von Ereignissen, Individualhandlungen, Organisationshandlungen und Folgen dieser Handlungen beruhen. Störungen im Verhältnis von personalem und organisationalem Lernen sind der Kern dieser Pathologien. Im ersten Fall des »rollenbeschränkten Erfahrungslernen« hat individuelles Lernen kaum Auswirkungen auf das Verhalten dieser Person, weil die Rolle ihr Verhalten übermäßig dominiert. Beispielsweise schickt eine Firma einen Mitarbeiter auf einen Fortbildungskurs für Kommunikationstechniken; er lernt diese Techniken zwar pflichtbewusst, wendet sie aber nie an, weil er in seiner Rolle als untergeordneter Sachbearbeiter keine Anlässe für aktive Kommunikationen sieht. Im zweiten Fall des »abergläubischen Erfahrungslernens« ist die Verbindung zwischen dem organisationalen Handeln und der Reaktion der Umwelt getrennt, weil die Interpretation der Umweltreaktion fehlerhaft ist, so dass das daraus resultierende Lernen zwar stattfindet, aber fehlgeleitet ist und mithin nicht zielsicher wirken kann. So nimmt etwa eine Autofirma anhand ihrer Verkaufszahlen wahr, dass ein bestimmtes Modell sich nicht verkauft und interpretiert dies als eine Frage des Preises. Aber auch mehrfache Preissenkungen fruchten nichts, weil die Kunden nicht mit dem Preis unzufrieden sind, sondern mit der Zuverlässigkeit dieses Modells. So »lernt« die Firma zwar aus den Reaktionen der Kunden, aber sie lernt das Falsche. Einen dritten Typus nennen March/ Olsen (1990) »präorganisationales Erfahrungslernen«. Hier ist die Verbindung zwischen individuellem Handeln und dem Handeln der Organisation unterbrochen-- mit der Folge, dass Lernprozesse der Person sich nicht auf die Organisation auswirken können. <?page no="238"?> www.claudia-wild.de: [UTB-S]__Willke__Systemtheorie_3_Steuerungstheorie__[Druck-PDF]/ 11.12.2013/ Seite 238 www.claudia-wild.de: [UTB-S]__Willke__Systemtheorie_3_Steuerungstheorie__[Druck-PDF]/ 11.12.2013/ Seite 239 239 Auch hier findet Lernen statt, führt jedoch nicht zu Veränderungen auf der Seite der Organisation, weil die Übertragung des neuen Wissens in die Wissensbasis der Organisation nicht funktioniert. Ohne dies näher auszuführen, nehmen die Autoren wohl zu Recht an, dass ein Großteil des (misslingenden) Lernens in Politik und Forschung in diese Kategorie fällt. Chris Argyris und Donald Schön, die 1978 einen frühen Klassiker zum organisationalen Lernen geschrieben haben, legen knapp 20 Jahre später (Argyris/ Schön 1996) einen zweiten Band vor, der vor allem die Hindernisse und Schwierigkeiten »produktiven« Lernens der Organisation betont: »Indeed, much of what would count as organizational learning, in the overarching sense, works counter to the kinds of organizational learning we consider most desirable« (Argyris/ Schön 1996, S. XXI). Nach meiner Argumentation in Kapitel 7.3 sind einige der Gründe für dieses Misslingen darin zu suchen, dass es zum einen keine brauchbaren Mechanismen der Codierung und Symbolisierung des personalen Wissens in einer Form der Dokumentation gibt, die für die Organisation als System lesbar ist. Zum anderen sind auf der Seite des Systems Einrichtungen wie Datenbanken, Expertensysteme oder Informationsnetze erforderlich, in welche die relevante Expertise von Personen eingegeben, gespeichert und in einer Weise organisiert wird, die das Wissen leicht zugänglich abrufbar und revidierbar hält-- genau dies ist die Funktion des organisationalen Wissensmanagements. Es ist dann schon eine Frage, die den Rahmen des Wissens sprengt, warum Organisationen (und in noch weitaus prekärerer Weise Gesellschaften) sich eine so frappierende Ignoranz im Bereich ihres Wissensmanagements leisten. Vielleicht stehen wir doch erst ganz am Anfang der vielbeschworenen Wissensrevolution und pfeifen nur mutig im dunklen Wald unserer Ignoranz. <?page no="239"?> www.claudia-wild.de: [UTB-S]__Willke__Systemtheorie_3_Steuerungstheorie__[Druck-PDF]/ 11.12.2013/ Seite 240 www.claudia-wild.de: [UTB-S]__Willke__Systemtheorie_3_Steuerungstheorie__[Druck-PDF]/ 11.12.2013/ Seite 241 <?page no="240"?> www.claudia-wild.de: [UTB-S]__Willke__Systemtheorie_3_Steuerungstheorie__[Druck-PDF]/ 11.12.2013/ Seite 240 www.claudia-wild.de: [UTB-S]__Willke__Systemtheorie_3_Steuerungstheorie__[Druck-PDF]/ 11.12.2013/ Seite 241 241 8 Über Renitenz und Risiko Der Schluss eines Buches über Steuerungstheorie ist der geeignete Ort für eine kurze Reflexion über die Grenzen der Steuerung. Zwar ist es gerade die Kernaussage dieses Buches, dass die Möglichkeiten der Steuerung komplexer Systeme scharf auf die beiden Formen der (internen) Selbststeuerung und der (externen) Kontextsteuerung begrenzt sind. Steuerung ist deshalb Einmischung in eigene Angelegenheiten. Jede andere Form der Fremdsteuerung beeinträchtigt die Autonomie eines operativ geschlossenen, nicht trivialen Systems. Aber genau hier liegt der Haken. Nach meinem Argument ist Steuerung im Sinne einer kontrollierten Beeinflussung eines fremden Systems auch in zwei pathologischen Fällen möglich-- und nicht nur möglich, sondern der wenig erhebende historische Normalfall: Wenn ein externer Akteur ein System trivialisiert, wie etwa die »normale« Schule das Schulkind; oder wenn ein System sich gegenüber externen Ansprüchen selbst trivialisiert, wie etwa Gläubige gegenüber den Ansprüchen »normaler« Kirchen und Sekten. Wird in dieser Weise Autonomie und Selbstbestimmung vorenthalten oder aufgegeben, dann ist das Geschäft der Steuerung einfach-- zu einfach. Gegenüber jedem Steuerungsanspruch empfehle ich deshalb die Tugend der Renitenz. Widerspruch und Widerstand geben Zeit und Anlass für die Prüfung der Frage, ob der Steuerungsanspruch legitim in dem Sinne ist, dass er die Autonomie und die Selbstbestimmung des zu steuernden Systems respektiert. Zugleich prüft Renitenz die Ernsthaftigkeit des Steuerungsvorhabens. Sicherlich folgt daraus das Risiko, dass manche legitime und vernünftige Steuerungsabsicht misslingt oder sich zumindest ihre Realisierung verzögert. Tant pis. Gegenüber der Gewalt, den Kosten und dem Leid allgegenwärtiger normalisierter Trivialisierung wiegt dieses Risiko gering. Die Grundhypothese dieses Buches ist, dass die Selbststeuerung eines komplexen Systems angemessener und produktiver ist als der Versuch externer Steuerung, und dass nur die Absicht der Koordination autonomer Akteure externe Steuerung in Form einer Kontextsteuerung legitimiert, die als wechselseitige Abstimmung die Form eines Dialogs über die Verträglichkeit von Optionen annimmt. Wenn dies einigermaßen plausibel ist, dann ist angesichts der ubiquitären Tendenz zur Trivialisierung Renitenz gegenüber Steuerungsversuchen angebracht. Gegenüber der in allen Bereichen von Gesellschaft, Organisation und persönlichen Beziehungen vorfindlichen Fixierung auf Kontrolle, Beherrschbarkeit und Machtausübung lässt sich eine vernünftigere Idee von Steuerung nur schrittweise und allmählich durchsetzen. Renitenz ist der notwendige erste Schritt. Der Rest ist Risiko. <?page no="241"?> www.claudia-wild.de: [UTB-S]__Willke__Systemtheorie_3_Steuerungstheorie__[Druck-PDF]/ 11.12.2013/ Seite 242 www.claudia-wild.de: [UTB-S]__Willke__Systemtheorie_3_Steuerungstheorie__[Druck-PDF]/ 11.12.2013/ Seite 243 <?page no="242"?> www.claudia-wild.de: [UTB-S]__Willke__Systemtheorie_3_Steuerungstheorie__[Druck-PDF]/ 11.12.2013/ Seite 242 www.claudia-wild.de: [UTB-S]__Willke__Systemtheorie_3_Steuerungstheorie__[Druck-PDF]/ 11.12.2013/ Seite 243 243 Literatur Ackerman, Bruce. 1991. We the People. Foundations. Cambridge, Mass.: Harvard Univ. Press. Alber, Jens. 1989. Der Sozialstaat in der Bundesrepublik 19501983. Frankfurt/ New York: Campus. Alexander, Paul. 1992. Heimat oder Asyl? Ein Beitrag zur Entwicklungspolitik. Ulm: Schulz. Argyris, Chris und Donald Schön. 1978. Organizational learning A theory of action perspective. Reading, Mass.: AddisonWesley. Argyris, Chris. 1990. Overcoming Organizational Defenses: Facilitating Organizational Learning. Boston: Allyn. Avineri, Shlomo. 1976. Hegels Theorie des modernen Staates. Frankfurt: Suhrkamp. Axelrod, Robert und Robert Keohane. 1985. »Achieving Cooperation under Anarchy: Strategies and Institutions.« In: World Politics, Vol. 38, No. 1, 226254. Baecker, Dirk. 1988. Information und Risiko in der Marktwirtschaft. Frankfurt: Suhrkamp. Baecker, Dirk. 1990. »Die Metamorphosen des Geldes.« In: Delfin XIV, 2, 1726. Baecker, Dirk. 1994. »Experiment Organisation.« In: Lettre International, 2226. Barnard, Chester. 1938. The functions of the executive. 20. Auflage 1971. Cambridge, Mass.: Harvard Univ. Press. Bateson, Gregory. 1983. Ökologie des Geistes. Frankfurt: Suhrkamp. Beedham, Brian. 1993. »A better way to vote.« In: Economist. Special Edition: 150 Economist years, 710. Bell, Daniel. 1976. The Coming of PostIndustrial Society. A Venture in Social Forecasting. Zuerst 1973. New York: Basic Books. Benner, Thorsten, Wolfgang Reinicke, und Jan Witte. 2004. »Multisectoral networks in global governance: towards a pluralistic system of accountability.« In: Government and Opposition 39 (4), 191-210. Bette, Karl und Uwe Schimank, 1995. Doping im Hochleistungssport. Anpassung durch Abweichung. Frankfurt: Suhrkamp. Bexell, Magdalena, Jonas Tallberg, und Anders Uhlin. 2010. »Democracy in global governance: The promises and pitfalls of transnational actors.« In: Global Governance 16, 81-101. Calleo, David. 1987. Beyond American Hegemony. New York: Basic Books. Campbell, John, Rogers Hollingsworth, und Leon Lindberg. 1992. The Governance of the American Economy. New York/ Cambridge: Cambridge Univ. Press. Caplan, Bryan. 2008. The myth of the rational voter: Why democracies choose bad politics. Paperback edition with a new preface by the author. Princeton and Oxford: Princeton Univ. Press. Caspar, C. 1990. »Investing in Intelligence? « In: Futures, 710729. <?page no="243"?> www.claudia-wild.de: [UTB-S]__Willke__Systemtheorie_3_Steuerungstheorie__[Druck-PDF]/ 11.12.2013/ Seite 244 www.claudia-wild.de: [UTB-S]__Willke__Systemtheorie_3_Steuerungstheorie__[Druck-PDF]/ 11.12.2013/ Seite 245 244 Castoriadis, Cornelius. 1990. Gesellschaft als imaginäre Institution. Entwurf einer politischen Philosophie. (Zuerst auf französisch 1975). Frankfurt: Suhrkamp. Chhotray, Vasudha, and Gerry Stoker. 2010. Governance Theory and Practice: A-Cross-Disciplinary Approach. New York: Palgrave MacMillan. Clinton, William. 1993. »Technology for America’s economic growth: A new direction. Washington, D. C. White House, Office of the Press Secretary, 22. Februar 1993.« Access via Gopher document retrieval at Gopher@cyfer.esusad.gov. Coase, Ronald. 1937. »The nature of the firm.« In: Economica N. S., 4, 386405. Coase, Ronald. 1960. »The problem of social cost.« In: Journal of Law and Economics, 3, 144. Cohen, Michael, James March, und Johan Olsen. 1990. »Ein Papierkorb-Modell für organisatorisches Wahlverhalten.« In: Entscheidung und Organisation, hrsg. von James March. Wiesbaden: Gabler. Collins, Harry. 1981. »Stages in the empirical programme of relativism.« In: Social Studies of Science, 11, 310. Cyert, Richard und James March. 1992. »An Epilogue.« In: Cyert, Richard und James March, A Behavioral theory of the firm. 2. Auflage, 214246. Cambridge, Mass.: Harvard Univ. Press. Czada, Roland und Manfred Schmidt (Hrsg.). 1993. Verhandlungsdemokratie, Interessenvermittlung und Regierbarkeit. Opladen: Westdeutscher Verlag. Deutsch, Karl W. 1970. Politische Kybernetik. Modelle und Perspektiven. Zuerst 1966. Freiburg: Rombach. Dierse, Ulrich. 1984. »Ordnung.« In: Historisches Wörterbuch der Philosophie. Band 6, hrsg. von Joachim Ritter und Karlfried Gründer. Basel/ Stuttgart: Schwabe. Dörner, Dietrich. 1984. »Modellbildung und Simulation.« In: Roth, Erwin und Klaus Heidenreich (Hrsg.), Sozialwissenschaftliche Methoden. Lehr und Handbuch für Forschung und Praxis. München: Oldenbourg. Dörner, Dietrich. 1989. Die Logik des Misslingens. Reinbek: Rowohlt. Elias, Norbert. 1977. Über den Prozeß der Zivilisation, Bd. 2. Frankfurt: Suhrkamp. Elster, Jon. 1987. Subversion der Rationalität. Frankfurt: Campus. Esser, Josef. 1993. »Technologieentwicklung in der Triade. Folgen für die europäische Technologiegemeinschaft.« In: Politik und Technologieentwicklung in Europa, herausgegeben von Werner Süß und Gerhard Becher, 2142. Berlin: Duncker & Humblot. Etzioni, Amitai. 1971. The Active Society. Zuerst 1968. New York: Free Press. Etzioni, Amitai. 1991. »Contemporary liberals, communitarians, and individual choices.« In: SocioEconomics. Toward a new synthesis, hrsg. von Amitai Etzioni und Paul Lawrence, 5974. Armonk, New York/ London: Sharpe. Evans, Peter et al. 1985. Bringing the State back in. Cambridge, Mass.: Cambridge Univ. Press. Fetscher, Iring. 1984. »Einleitung.« In: Zu Thomas Hobbes: Leviathan. Frankfurt: Suhrkamp. <?page no="244"?> www.claudia-wild.de: [UTB-S]__Willke__Systemtheorie_3_Steuerungstheorie__[Druck-PDF]/ 11.12.2013/ Seite 244 www.claudia-wild.de: [UTB-S]__Willke__Systemtheorie_3_Steuerungstheorie__[Druck-PDF]/ 11.12.2013/ Seite 245 245 Fisher, Sharon. 1991. »Whither NREN? « In: Byte, July, 181189. Flam, Helena. 1990. »Corporate Actors: Definition, Genesis, and Interaction.« In: MPIFG Discussion Paper 90/ 11 in Köln, MPI für Gesellschaftsforschung. Flora, Peter. 1986. Growth to limits: The Western European Welfare States since world war II. Berlin: de Gruyter. Foerster, Heinz v. 1985. »Das Konstruieren einer Wirklichkeit.« In: Watzlawick, Paul (Hrsg.), Die erfundene Wirklichkeit. 2. Aufl., S. 3960. München/ Zürich: Piper. Foerster, Heinz v. 1985b. Sicht und Einsicht. Braunschweig/ Wiesbaden: Vieweg & Sohn. Forrester, Jay. 1972. Der teuflische Regelkreis. Das Globalmodell der Menschheitskrise. Stuttgart: DVA. Forrester, Jay. 1982. »Global Modelling Revisited.« In: Futures 14, April, 95110. Freiburghaus, Dieter. 1992. »Le Developpement des Moyens de L’Action Etatique.« In-: CharlesAlbert Morand, Hg., L’Etat propulsif. Contribution à l’étude des instruments d’action de l’Etat. Paris: Publisud. Fuchs, Jürgen. 1992. »Vom Taylorismus zum Organismus Wie Unternehmen leben lernen.« In: IBM Nachrichten 42, Heft 308, 1423. Galbraith, Jay. 1973. Designing complex organizations. Reading, Mass.: Addison Wesley. Gansler, Jacques. 1989. Affording Defense. Cambridge, Mass.: MIT Press. Garten, Jeffrey. 1992. A cold peace. America, Japan, Germany, and the Struggle for Supremacy. A Twentieth Century Fund Book, New York: Times Books. Gerlach, Michael. 1992. »The Japanese corporate network: a blockmodel analysis.« In: Administrative Science Quarterly 37, 105139. Geser, Hans. 1990. »Organisationen als soziale Akteure.« In: Zeitschrift für Soziologie 19, 401417. Gieseke, Michael. 1988. Der Buchdruck in der frühen Neuzeit. Habilitationsschrift Bielefeld. Gilbert, Lee. 1992. »A transaction costs model of international information technology transfers: the dynamics of intelligence and control.« In: The global issues of information technology management. Hrsg.von Palvia Shailendra u. a., 403426. Harrisburg, Penns.: idea group publishing. Glasersfeld, Ernst v. 1985. »Einführung in den radikalen Konstruktivismus.« In: Watzlawick, Paul (Hrsg.): Die erfundene Wirklichkeit, 1638. München/ Zürich: Piper. Götz, Klaus, und Michael Schmid. 2004. Praxis des Wissensmanagements. München: Vahlen. Goldner, Fred u. a. 1977. »The production of cynical knowledge in organizations.« In: American Sociological Review 42, 539551. Gore, Al. 1991. A National Vision. In: Byte, July 1991, 188189. Gotsch, Wilfried. 1987. »Soziologische Steuerungstheorie.« In: Gesellschaftssteuerung zwischen Korporatismus und Subsidiarität, hrsg. von. Manfred Glagow und Helmut Willke. 2744. Berlin: AJZ. Grabher, Gernot, Hg. 1993. The embedded firm. London/ New York: Routledge. <?page no="245"?> www.claudia-wild.de: [UTB-S]__Willke__Systemtheorie_3_Steuerungstheorie__[Druck-PDF]/ 11.12.2013/ Seite 246 www.claudia-wild.de: [UTB-S]__Willke__Systemtheorie_3_Steuerungstheorie__[Druck-PDF]/ 11.12.2013/ Seite 247 246 Granovetter, Mark. 1992. »Economic action and social structure: the problem of embeddedness.« In: Decision Making. Alternatives to rational choice models. Hrsg. Mary Zey, 304333. Newbury Park u. a.: Sage. Habermas, Jürgen. 1992. Faktizität und Geltung. Frankfurt: Suhrkamp. Habermas, Jürgen. 1994. »Balance zwischen Geld, Macht und Solidarität. Interview.« In: Kölner StadtAnzeiger Nr. 138 v. 17.6. 1994, S. 20. Hahn, Alois. 1989. »Verständigung als Strategie.« In: Kultur und Gesellschaft: Verhandlungen des 24. Deutschen Soziologentags. Hrsg. Max Haller et. al., 346359. Frankfurt/ New York: Campus. Hammer, Michael und James Champy. 1994. Business Reengineering. Die Radikalkur für das Unternehmen. Englische Ausgabe 1993. Aus dem Englischen von Patricia Künzel. Frankfurt/ New York: Campus. Hardin, Gerrett. 1968. »The Tragedy of the Commons.« In: Science 162: 1243-48. Hegel, Georg F. W. 1983 (1819/ 20). Philosophie des Rechts. Hrsg von Dieter Henrich. Frankfurt: Suhrkamp. Herbst, Phillip. 1976. Alternatives to Hierarchies. Leiden: Nijhoff. HighLevel, Group on the information society. Europe and the global information society. Recommendations to the European Council. 1994. Brüssel. Hinrichs, Karl und Wolfgang Merkel. 1987. »Der Wohlfahrtsstaat Schweden: Was bleibt vom Modell? « In: Aus Politik und Zeitgeschichte B 51/ 87 v. 19.12.1987, 2338. Hobbes, Thomas. 1984. Leviathan. Zuerst 1651. Hrsg. und eingeleitet von Iring Fetscher. Frankfurt: Suhrkamp. Hohn, HansWilly und Uwe Schimank. 1990. Konflikte und Gleichgewichte im Forschungssystem. Frankfurt/ New York: Campus. Hollingsworth, Rogers. 1990. »The Governance of American Manufacturing Sectors: The Logic of Coordination and Control.« In: MPIFG Discussion Paper 90/ 4. Köln. Hutter, Michael und Gunther Teubner. 1993. »The parasitic role of hybrids.« In: Journal of Institutional and Theoretical Economics 149, 4, 706715. Japp, Klaus. 1996. Soziologische Risikotheorie. Weinheim/ München: Juventa. Jaques, Elliott. 1991. »In praise of hierarchy.« In: Markets, hierarchies and networks. The coordination of social life. Hrsg. Grahame Thompson, Frances Jennifer, Rosalind Levacic, und Jeremy Mitchell, 108118. London u. a.: Sage. Jasanoff, Sheila. 1990. »American Exceptionalism and the Political Acknowledgment of Risk.« In: Daedalus. Proceedings of the American Academy of Arts and Sciences. Vol. 119, Fall 1990, 6182. Keohane, Robert. 1983. »The demand for international regimes.« In: International Regimes. Hg. Stephen Krasner, 141171. Ithaca und London: Cornell Univ. Press. Keohane, Robert. 1984. After Hegemony. Cooperation and Discord in the World Political Economy. Princeton N. J.: Princeton Univ. Press. <?page no="246"?> www.claudia-wild.de: [UTB-S]__Willke__Systemtheorie_3_Steuerungstheorie__[Druck-PDF]/ 11.12.2013/ Seite 246 www.claudia-wild.de: [UTB-S]__Willke__Systemtheorie_3_Steuerungstheorie__[Druck-PDF]/ 11.12.2013/ Seite 247 247 King, Alexander und Bertrand Schneider. 1991. »Die globale Revolution. Ein Bericht des Rates des Club of Rome.« In: SpiegelSpecial (Nr. 2/ 1991) Kitschelt, Herbert. 1989. Explaining Technology Policies. Competing Theories and Comparative Evidence. unveröff. Mskpt. ZiF Bielefeld. KnorrCetina, Karin. 1984. Die Fabrikation von Erkenntnis: Zur Anthropologie der Naturwissenschaft. Frankfurt: Suhrkamp. KnorrCetina, Karin. 1988. »Das naturwissenschaftliche Labor als Ort der »Verdichtung« von Gesellschaft«. In: Zeitschrift für Soziologie 17, 2, 85101. Krasner, Stephen, Hg. 1983. International Regimes. Cornell Studies in Political Economy. Ithaca und London: Cornell Univ. Press. Kremer, Dennis. 2013. »Computer drücken den Dax.« In: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung Nr. 16 vom 21. April 2013, 37. Krugman, Paul. 2009. The return of depression economics. And the crisis of 2008. New York: Norton. Kurtzman, Joel. 1993. The death of money. How the electronic economy has destabilized the world’s markets and created financial chaos. New York u. a.: Simon & Schuster. Landemore, Hélène, and John Elster (Hrsg.). 2012. Collective wisdom: principles and mechanisms. Cambridge: Cambridge Univ. Press. LaPorte, Todd und Paula Consolini. 1991. »Working in practice but not in theory: theoretical challenges of HighReliability Organizations«. In: Journal of Public Administration Research and Theory, 1, 1991, 1947. Lawrence, Paul und Jay Lorsch. 1969a. Developing Organizations: Diagnosis and Action. Reading, Mass.: AddisonWesley. Lawrence, Paul und Jay Lorsch. 1969b. Organization and Environment. Managing Differentiation and Integration. Homewood, Ill.: Irwin. Lehmbruch, Gerhard. 1984. »Concertation and the structure of corporatist networks.« In: Order and conflict in contemporary capitalism, Hrsg. John Goldthorpe. 6080. Oxford. Lehmbruch, Philippe C. und Gerhard Schmitter. 1979. Trends toward Corporatist Intermediation. Beverly Hills/ London: Sage. Lindblom, Charles. 1965. The Intelligence of Democracy. Decision making through mutual adjustment. New York: Free Press. Lindblom, Charles. 1977. Politics and Markets. New York: Basic Books. Lindblom, Charles. 1980. Jenseits von Markt und Staat. Eine Kritik der politischen und ökonomischen Systeme. Stuttgart: KlettCotta. Lindblom, Charles. 1990. Inquiry and Change. The troubled attempt to understand and shape society. New Haven/ London/ New York: Yale Univ. Press. Linden, Frank. 1991. »Der Durchbruch.« In: manager magazin 10/ 1991, 132141. Luhmann, Niklas. 1971. Soziologische Aufklärung 1. 2. Aufl. Opladen: Westdeutscher Verlag. Luhmann, Niklas. 1973. Zweckbegriff und Systemrationalität. Zuerst 1968. Frankfurt: Suhrkamp. Luhmann, Niklas. 1975a. Macht. Stuttgart: Enke. <?page no="247"?> www.claudia-wild.de: [UTB-S]__Willke__Systemtheorie_3_Steuerungstheorie__[Druck-PDF]/ 11.12.2013/ Seite 248 www.claudia-wild.de: [UTB-S]__Willke__Systemtheorie_3_Steuerungstheorie__[Druck-PDF]/ 11.12.2013/ Seite 249 248 Luhmann, Niklas. 1975b. Soziologische Aufklärung 2. Opladen: Westdeutscher Verlag. Luhmann, Niklas. 1978. »Temporalization of Complexity.« In: Geyer, Felix/ Johann v.d. Zouwen. Sociocybernetics, Bd. 2, 95111, Leiden: Nijhoff. Luhmann, Niklas. 1981. Ausdifferenzierung des Rechts. Frankfurt: Suhrkamp. Luhmann, Niklas. 1984. Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie. Frankfurt: Suhrkamp. Luhmann, Niklas. 1988. Die Wirtschaft der Gesellschaft. Frankfurt: Suhrkamp. Luhmann, Niklas. 1990a. Die Wissenschaft der Gesellschaft. Frankfurt: Suhrkamp. Luhmann, Niklas. 1990b. Soziologische Aufklärung 5. Konstruktivistische Perspektiven. Opladen: Westdeutscher Verlag. Luhmann, Niklas. 1993. Das Recht der Gesellschaft. Frankfurt: Suhrkamp. Luhmann, Niklas. 1997. Die Gesellschaft der Gesellschaft, 2 Bände. Frankfurt: Suhrkamp. Lullies, Veronika, Heinrich Bollinger und Friedrich Weltz. 1993. Wissenslogistik. Über den betrieblichen Umgang mit Wissen bei Entwicklungsvorhaben. Frankfurt/ New York: Campus. Macdonald, Douglas. 1992. Adventures in chaos: American intervention for reform in the Third World. Cambridge, Mass.: Harvard Univ. Press. MacKenzie, Michael. 2009. »High frequencey trading dominates the debate.« In: Financial Times Wednesday October 21, 2009, 3. Majone, Giandomenico. 1993. »Wann ist PolicyDeliberation wichtig? « In: PVSSonderheft 24/ 1993. PolicyAnalyse. Kritik und Neuorientierung. Hrsg. von Adrienne Héritier, 97115. Malkin, Jesse und Aaron Wildavsky. 1991. »Why the traditional distinction between public and private goods should be abandoned.« Journal of theoretical politics 3, 4, 355378. March, James, Hrsg. 1990. Entscheidung und Organisation. Zuerst 1988. Wiesbaden: Gabler. Mayntz, Renate. 1992. »Modernisierung und die Logik von interorganisatorischen Netzwerken.« In: Journal für Sozialforschung 32, 1932 Mayntz, Renate. 2013. »Erkennen, was die Welt zusammenhält. Die Finanzmarktkrise als Herausforderung für die soziologische Systemtheorie.« In: MFIfG Discussion Paper 13/ 2. Available at www.mpifg.de. Mayntz, Renate. 1993. »PolicyNetzwerke und die Logik von Verhandlungssystemen.« In: PVS Sonderheft 24/ 1993. PolicyAnalyse. Kritik und Neuorientierung. Hg. von Adrienne Héritier, 3956. Mayntz, Renate und Birgitta Nedelmann. 1987. »Eigendynamische soziale Prozesse. Anmerkungen zu einem analytischen Paradigma.« In: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 39, 4, 648668. Mayntz, Renate u. a. 1988. Differenzierung und Verselbständigung. Zur Entwicklung gesellschaftlicher Teilsysteme. Frankfurt: Campus. McGowan, Francis. 1993. »TransEuropean networks: utilities as infrastructures.« In: Utilities policy 3, 3, 179186. <?page no="248"?> www.claudia-wild.de: [UTB-S]__Willke__Systemtheorie_3_Steuerungstheorie__[Druck-PDF]/ 11.12.2013/ Seite 248 www.claudia-wild.de: [UTB-S]__Willke__Systemtheorie_3_Steuerungstheorie__[Druck-PDF]/ 11.12.2013/ Seite 249 249 McNamara, Robert. 1987. Blundering into Disaster. Surviving the first century of the nuclear age. With a new Foreword. New York: Pantheon. Mestmäcker, ErnstJoachim. 1993. »Über den Einfluß von Recht, Ökonomie und Technik auf Systeme globaler Kommunikation.« In: Berichte und Mitteilungen der MaxPlanckGesellschaft 4/ 93, 130146. MITCommission, Michael Dertouzos, Richard Lester, und Robert Solow. 1990. Made in America. Regaining the productive edge. Zuerst 1989. New York: Harper. Moyo, Dambisa. 2010. Dead Aid: Why Aid is Not Working and How There is Another Way for Africa. London: Penguin. Musgrave, Richard u. a. 1978. Die öffentlichen Finanzen in Theorie und Praxis, Bd. 1. Zuerst 1973. Tübingen: Mohr. Naujoks, Henrik. 1994. »Konzernmanagement durch Kontextsteuerung. Die Relevanz eines gesellschaftstheoretischen Steuerungskonzepts für betriebswirtschaftliche Anwendungen.« In: Managementforschung 4. Dramaturgie des Managements. Laterale Steuerung. Hrsg. Georg Schreyögg und Peter Conrad, 105142. Berlin/ New York: de Gruyter. Neuberger, Oswald. 1994. »Zur Ästhetisierung des Managements.« In: Managementforschung 4. Dramaturgie des Managements. Laterale Steuerung. Hg. Georg Schreyögg und Peter Conrad, 170. Berlin/ New York: de Gruyter. Neustadt, Richard und Ernest May. 1986. Thinking in time: the uses of history for decisionmakers. New York: Free Press. Nollert, Michael. 1992. Interessenvermittlung und sozialer Konflikt. Über Bedingungen und Folgen neokorporatistischer Konfliktregulierung. Pfaffenweiler: Centaurus. North, Douglass. 1990. »A transaction cost theory of politics.« In: Journal of Theoretical Politics 2, 4, 355367. Nozick, Robert. 1974. Anarchy, State, and Utopia. New York: Basic Books. Ortega, Edgar, and Eric Martin. 2009. »High-speed trading in the U. S. stock market may face its biggest threat.« In: Bloomberg News. Available at www.bloomberg.com/ apps/ news? pid=20601087&sid=aZwoslIGa5JQ. Last visited on July 27, 2009. Ortmann, Günther. 1994. »Lean« Zur rekursiven Stabilisierung von Kooperation. In Managementforschung 4. Dramaturgie des Managements. Laterale Steuerung. Hrsg. Georg Schreyögg und Peter Conrad, 143184. Berlin/ New York: de Gruyter. Osborne, David, und Ted Gaebler. 1993. Reinventing Government. How the entrepreneural spirit is transforming the public sector. New York: Plume. Parsons, Talcott. 1960. Structure and process in modern societies. Glencoe: Free Press. Pattee, Howard. 1973. »Physical basis and origin of control.« In: Hierarchy theory. The challenge of complex systems. Hrsg. Howard Pattee, 72108. New York: Braziller. Pawlowsky, Peter. 1992. »Betriebliche Qualifikationsstrategien und organisationales Lernen.« In: Managementforschung 2, hrsg. von Wolfgang Staehle und Peter Conrad. 177238. Berlin/ New York: de Gruyter. <?page no="249"?> www.claudia-wild.de: [UTB-S]__Willke__Systemtheorie_3_Steuerungstheorie__[Druck-PDF]/ 11.12.2013/ Seite 250 www.claudia-wild.de: [UTB-S]__Willke__Systemtheorie_3_Steuerungstheorie__[Druck-PDF]/ 11.12.2013/ Seite 251 250 Perrow, Charles. 1992. »Unfälle und Katastrophen ihre Systembedingungen.« In: Journal für Sozialforschung 32, 6175. Peters, Tom. 1992. Liberation management. Necessary Disorganization for the nanosecond nineties. New York: Fawcett. Popitz, Heinrich. 1968. Prozesse der Machtbildung. Reihe Recht und Staat, H. 362/ 363. Tübingen: Mohr. Powell, Walter. 1990. »Neither market nor hierarchy: network forms of organization.« In: Research in Organizational Behavior 12, 295336. Quinn, James. 1992. Intelligent enterprise. A knowledge and service based paradigm for industry. New York: Free Press. Rawls, John. 1981. A Theory of Justice. 11. Aufl. Zuerst 1971. Cambridge, Mass.: Harvard Univ. Press. Reich, Robert. 1991. The Work of Nations. Preparing ourselves for 21st Century Capitalism. New York: Knopf. Reuter, Edzard. 1993. Horizonte der Wirtschaft. Über die Herausforderungen unserer Zeit. Stuttgart: DVA. Rogers, Mary. 1974. »Instrumental and infraresources: the bases of power.« In: American Journal of Sociology 79, 6, 14181433. Rorty, Richard. 1989. Kontingenz, Ironie und Solidarität. Frankfurt: Suhrkamp. Rosenau, James. 1999. »The future of politics.« In: Futures 31, 1005-16. Sackmann, Sonja. 1992. »Culture and Subcultures: An analysis of organizational knowledge.« In: Administrative Science Quarterly 37, 140161. Sakaiya, Taichi. 1991. The knowledgevalue revolution or a history of the future. New York/ Tokio/ London: Kodansha. Scharpf, Fritz. 1970. Die politischen Kosten des Rechtsstaats. Eine vergleichende Studie der deutschen und amerikanischen Verwaltungskontrollen. Tübingen: Mohr. Scharpf, Fritz. 1985. »Die PolitikverflechtungsFalle: Europäische Integration und deutscher Föderalismus im Vergleich.« In: Politische Vierteljahresschrift, Jg. 26, Heft 4, 323356. Scharpf, Fritz. 1992a. »Die Handlungsfähigkeit des Staates am Ende des Zwanzigsten Jahrhunderts.« In: Staat und Demokratie in Europa. Hrsg. Beate KohlerKoch, 93115. Opladen: Leske + Budrich. Scharpf, Fritz. 1992b. »Versuch über Demokratie in Verhandlungssystemen.« MPIFG Discussion Paper 92/ 9. Köln. Scharpf, Fritz. 1993a. Autonomieschonend und gemeinschaftsverträglich: Zur Logik der europäischen Mehrebenenpolitik. MPIFG Discussion Paper 93/ 9. Köln. Scharpf, Fritz. 1993b. »Positive und negative Koordination in Verhandlungssystemen.« In: PVSSonderheft 24/ 1993: PolicyAnalyse. Kritik und Neuorientierung. Hrsg. von Adrienne Héritier, 5783. Scharpf, Fritz. 2007. »Reflections on multi-level legitimacy.« MPIfG Working Paper 07/ 3. Available at www.mpifg.de. <?page no="250"?> www.claudia-wild.de: [UTB-S]__Willke__Systemtheorie_3_Steuerungstheorie__[Druck-PDF]/ 11.12.2013/ Seite 250 www.claudia-wild.de: [UTB-S]__Willke__Systemtheorie_3_Steuerungstheorie__[Druck-PDF]/ 11.12.2013/ Seite 251 251 Scharpf, Fritz. 2012. »Legitimacy intermediation in the multilevel European polity and its collapse in the Euro crisis.« MPfG Discussion paper 12-6. Available at http: / / www.mpifg.de/ pu/ mpifg_dp/ dp12-6.pdf.« Scharpf, Fritz, Bernd Reissert, und Fritz Schnabel. 1976. Politikverflechtung: Theorie und Empirie des kooperativen Föderalismus in der Bundesrepublik. Kronberg/ Ts: Athenäum. Scharpf, Fritz und Fritz Schnabel. 1979. »Steuerungsprobleme der Raumplanung.« In: Politische Vierteljahresschrift Sonderheft 10/ 1979, 1257. Schirmer, Frank. 1991. »Aktivitäten von Managern: Ein kritischer Review über 40 Jahre Work ActivityForschung.« In: Managementforschung 1. Hrsg. Wolfgang Staehle und Jörg Sydow, 205254. Berlin/ New York: de Gruyter. Schmidt, Manfred. 1993. »Theorien in der international vergleichenden Staatstätigkeitsforschung.« In: PVSSonderheft 24/ 1993. PolicyAnalyse. Kritik und Neuorientierung. Hrsg. von Adrienne Héritier, 371393. Schmitter, Philippe C. 1983. »Democratic Theory and Neocorporatist Practice.« In: Social Research, Vol. 50, Nr. 4, 885928. Scholz, Frithard. 1982. Freiheit als Indifferenz. Alteuropäische Probleme mit der Systemtheorie Niklas Luhmanns. Frankfurt: Suhrkamp. Schütz, Alfred. 1974. Der sinnhafte Aufbau der sozialen Welt. Eine Einleitung in die verstehende Soziologie. Zuerst 1932. Frankfurt: Suhrkamp. Semlinger, Klaus. 1993. »Effizienz und Autonomie in Zulieferungsnetzwerken-- Zum strategischen Gehalt von Kooperation.« In: Managementforschung 3. Hrsg. Wolfgang Staehle und Jörg Sydow, 309354. Berlin/ New York: de Gruyter. Senge, Peter. 1990. The Fifth Discipline. New York: Doubleday. Simmel, Georg. 1908. Soziologie: Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung. 4. Aufl. Berlin 1958. Berlin: Duncker & Humblot Simmel, Georg. 1989. Philosophie des Geldes. Gesamtausgabe Band 6. Hrsg von David Frisby und Klaus Köhnke. Frankfurt: Suhrkamp. Simon, Herbert. 1978. »Die Architektur der Komplexität.« In: Türk, Klaus (Hg.). Handlungssysteme, 94112. Zuerst 1967. Opladen: Westdeutscher Verlag. Sloterdijk, Peter. 1983. Kritik der zynischen Vernunft. 2 Bde. Frankfurt: Suhrkamp. Sloterdijk, Peter. 1994. »Interview.« In: FAZMagazin v. 9.9. 1994, Heft 758, 5455. Stichweh, Rudolf. 1991. Der frühmoderne Staat und die europäische Universität. Frankfurt: Suhrkamp. Streeck, Wolfgang und Philippe Schmitter. 1985. »Community, market, state- - and associations? The prospective contribution of interest governance to social order.« In: European Sociological Review 1, 119138. Streeck, Wolfgang. 2011. »The crises of democratic capitalism.« In: New Left Review 71 (Sept Oct 2011), 5-29. Sydow, Jörg. 1992. »Strategische Netzwerke und Transaktionskosten. Über die Grenzen einer transaktionstheoretischen Erklärung der Evolution strategischer Netzwerke.« In: Managementforschung 2. Hrsg. Wolfgang Staehle und Peter Conrad, 239312. Berlin/ New York: de Gruyter. <?page no="251"?> www.claudia-wild.de: [UTB-S]__Willke__Systemtheorie_3_Steuerungstheorie__[Druck-PDF]/ 11.12.2013/ Seite 252 www.claudia-wild.de: [UTB-S]__Willke__Systemtheorie_3_Steuerungstheorie__[Druck-PDF]/ 11.12.2013/ Seite 253 252 Tarullo, Daniel. 2012. »Shadow banking after the financial crisis. Speech.« Available at http: / / www.federalreserve.gov/ newsevents/ speech/ tarullo20120612a.pdf. Thränhardt, Dietrich. 1992. »Globale Probleme, globale Normen, neue globale Akteure.« In: Politische Vierteljahresschrift 33, 2, 219234. Türk, Klaus. 1989. Neuere Entwicklungen in der Organisationsforschung. Ein Trend Report. Stuttgart: Enke. Varela, Francisco. 1990. Kognitionswissenschaft- - Kognitionstechnik. Eine Skizze aktueller Perspektiven. Zuerst 1988. Frankfurt: Suhrkamp. Wallace, Scott. 1994. »Accelerating Engineering Design.« In: Byte, July, 6276. Watzlawick, Paul. 1985. Die erfundene Wirklichkeit. 2. Aufl. München/ Zürich: Piper. Weber, Max. 1972. Wirtschaft und Gesellschaft, 5. Aufl. Tübingen: Mohr. Weick, Karl. 1985. Der Prozeß des Organisierens. Frankfurt: Suhrkamp. Weick, Karl und Karlene Roberts. 1993. »Collective mind in organizations: Heedful interrelating on flight decks.« In: Administrative Quarterly 38, 357381. Welsch, Wolfgang. 1994. »Die Normalität des Chaos. Nachrichten aus der Postmoderne.« In: Theoretische Zumutungen. Vom Nutzen der systemischen Theorie für die Managementpraxis. Hrsg. Klaus Götz, 1526. Heidelberg: Carl Auer. Wiesenthal, Helmut. 1990. Unsicherheit und MultipleSelfIdentität: Eine Spekulation über die Voraussetzungen strategischen Handelns. MPIFG Discussion Paper 90/ 2, Köln. Wilensky, Harold. 1967. Organizational Intelligence. Knowledge and Policy in Government and Industry. New York: Basic Books. Williamson, Oliver. 1975. Markets and Hierarchies: Analysis and Antitrust Implications. New York: Free Press. Williamson, Oliver. 1985. The economic institutions of capitalism. Firms, Markets, Relational Contracting. New York/ London: Free Press. Williamson, Oliver und Sidney Winter, Hg. 1991. The nature of the firm: Origins, Evolution, and Development. New York: Oxford Univ. Press. Willke, Gerhard. 2002. Keynes. Eine Einführung. Frankfurt: Campus. Willke, Gerhard. 2003. Neoliberalismus. Frankfurt/ New York: Campus. Willke, Gerhard und Helmut Willke. 1970. »Die Forderung nach Demokratisierung von Staat und Gesellschaft.« In: Beilage zur Wochenzeitung Das Parlament B 7/ 70 v. 14.2.1970, 33 ff. Willke, Helmut. 1979. Leitungswissenschaft in der DDR. Berlin: Duncker & Humblot. Willke, Helmut. 1983. Entzauberung des Staates. Überlegungen zu einer gesellschaftlichen Steuerungstheorie. Königstein/ Ts.: Athenäum. Willke, Helmut. 1986. »The Tragedy of the State. Prolegomena to a Theory of the State in Polycentric Society.« In: ARSP LXXII, 455-467. Willke, Helmut. 1992. Ironie des Staates. Grundlinien einer Theorie des Staates polyzentrischer Gesellschaft. Frankfurt: Suhrkamp. Willke, Helmut. 1993a. »Abwicklung der Politik.« In: Politik ohne Projekt? Nachdenken über Deutschland. Hrsg. Siegfried Unseld., 5484. Frankfurt: Suhrkamp. <?page no="252"?> www.claudia-wild.de: [UTB-S]__Willke__Systemtheorie_3_Steuerungstheorie__[Druck-PDF]/ 11.12.2013/ Seite 252 www.claudia-wild.de: [UTB-S]__Willke__Systemtheorie_3_Steuerungstheorie__[Druck-PDF]/ 11.12.2013/ Seite 253 253 Willke, Helmut. 1993b. Systemtheorie entwickelter Gesellschaften. 2. Aufl. Weinheim: Juventa. Willke, Helmut. 1993c. Systemtheorie. 4. Aufl. Stuttgart: UTB. Willke, Helmut. 1994. »Die Steuerungsfunktion des Staates aus systemtheoretischer Sicht. Schritte zur Legitimierung einer wissensbasierten Infrastruktur.« In: Staatsaufgaben. Hrsg. Dieter Grimm, 685711. BadenBaden: Nomos. Willke, Helmut. 1995. »Zum Problem der Steuerung wissensbasierter Systeme.« In: Wissensmanagement. Management organisatorischen Wissens. Jahrbuch für Managementforschung, Band 6. Hrsg. von Georg Schreyögg und Peter Conrad. Berlin/ New York: de Gruyter. S. 263-304 Willke, Helmut. 2005. Symbolische Systeme. Weilerswist: Velbrück. Willke, Helmut. 2006. Global governance. Bielefeld: transcript. Willke, Helmut. 2007a. »Politische Strukturbildung der Weltgesellschaft. Symbolordnung und Eigenlogik lateraler Weltsysteme.« Pp. 134-56. In: Weltstaat und Weltstaatlichkeit. Beobachtungen globaler politischer Strukturbildung, hrsg. von Mathias Albert und Rudolf Stichweh. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften. Willke, Helmut. 2007b. Smart governance. Governing the global knowledge society. Frankfurt/ New York: Campus. Willke, Helmut. 2009. Governance in a disenchanted world. The end of moral society. Cheltenham/ Northampton, Mass.: Edward Elgar. Willke, Helmut. 2011. Einführung in das systemische Wissensmanagement. 3. erweiterte Auflage. Heidelberg: Auer. Willke, Helmut, Eva Becker, und Carla Rostasy. 2013. Systemic risk. The myth of rational finance. Frankfurt/ New York: Campus. Willke, Helmut, und Gerhard Willke. 2008. »The corporation as a political actor? A systems theory perspective.« Pp. 552-74. In: Handbook of Research on Global Corporate Citizenship, hrsg. von Andreas Georg Scherer and Guido Palazzo. Cheltenham/ Northampton, Mass: Edward Elgar. Willke, Helmut, und Gerhard Willke. 2012. Political governance of global capitalism. A reassessment beyond the crisis. Cheltenham/ Northampton, Mass.: Edward Elgar. Willke, Helmut, Carsten Krück und Chris Thorn. 1995. Benevolent Conspiracies. The role of enabling technologies in the welfare of nations. Berlin/ New York: de Gruyter. Wimmer, Rudolf. 1992. »Der systemische Ansatz mehr als eine Modeerscheinung? « In: Managerie. 1. Jahrbuch. Systemisches Denken und Handeln im Management, 70104. Heidelberg: Auer. Wimmer, Rudolf. 1994a. »Die Funktion des General Managements unter stark veränderten wirtschaftlichen Rahmenbedingungen.« In: Managerie. Jahrbuch für systemisches Denken und Handeln im Management. Heidelberg: Auer. Wimmer, Rudolf. 1994b. »Die permanente Revolution. Aktuelle Trends in der Gestaltung von Organisationen.« Unveröff. Manuskript. Wien: OSB. Womack, James, Daniel Jones, und Daniel Roos. 1991a. The machine that changed the world. Zuerst 1990. New York: Harper. <?page no="253"?> www.claudia-wild.de: [UTB-S]__Willke__Systemtheorie_3_Steuerungstheorie__[Druck-PDF]/ 11.12.2013/ Seite 254 www.claudia-wild.de: [UTB-S]__Willke__Systemtheorie_3_Steuerungstheorie__[Druck-PDF]/ 11.12.2013/ Seite 255 <?page no="254"?> www.claudia-wild.de: [UTB-S]__Willke__Systemtheorie_3_Steuerungstheorie__[Druck-PDF]/ 11.12.2013/ Seite 254 www.claudia-wild.de: [UTB-S]__Willke__Systemtheorie_3_Steuerungstheorie__[Druck-PDF]/ 11.12.2013/ Seite 255 255 Register A Abhängigkeit 55, 99, 113, 155 Antigone 14, 16, 17 Arbeitskosten 167 Armut 152, 153, 154, 155, 172, 189, 193 Aufgabenstruktur 59 Auto 11, 63, 66, 68, 97, 110, 161, 163, 217 Automobilindustrie 86, 110 Autonomie 7, 24, 28, 29, 37, 51, 62, 70, 78, 80, 81, 83, 88, 92, 98, 99, 101, 104, 106, 111, 112, 113, 124, 125, 144, 147, 154, 155, 156, 157, 160, 172, 176, 177, 178, 195, 196, 197, 208, 210, 221, 241, 251 B Beobachter 10, 63, 66, 122, 124, 186, 187, 193 Beobachtung 13, 25, 31, 35, 41, 62, 170, 174, 181, 183, 184, 185, 186, 195, 216, 220 Beratung 38, 180, 181, 184, 185, 186, 187, 229 Bürokratie 58, 65 C Chaos 17, 73, 80, 122, 124, 161, 183, 184, 252 collectivity 24 D Datenbank 207, 228, 235 Datenhighway 198 Demokratie 19, 20, 21, 25, 26, 30, 32, 36, 37, 38, 41, 43, 44, 48, 49, 51, 52, 53, 55, 56, 57, 64, 70, 71, 74, 76, 77, 78, 81, 89, 92, 94, 112, 114, 124, 125, 126, 130, 207, 209, 250 Demokratisierung 76, 81, 252 diabolisch 172 Differenzbildung 87 Diskurs 59, 89, 131, 177, 189, 206, 209 Diskursprinzip 131 Dissens 29, 120 Durchwursteln 8, 14, 212 E Effektivität 55, 122, 123, 124, 125 Effizienz 55, 80, 81, 104, 105, 111, 122, 251 Eigendynamik 11, 12, 13, 46, 82, 92, 106, 111, 149, 155, 167, 177, 201, 221 Einbettung 33, 79, 123 Einfluss 14, 78, 90, 127, 137, 161, 213, 231 Entdifferenzierung 87, 160 Entwicklungshilfepolitik 10 Erkenntnistheorie 62, 184 Erwartung 178 Erziehung 10, 13, 21, 28, 38, 39, 40, 46, 57, 155, 212 EU 69, 88, 191, 204, 206 Europa 96, 109, 135, 199, 205, 244, 250 Evolution 8, 9, 34, 65, 76, 96, 102, 142, 151, 167, 178, 183, 184, 185, 200, 235, 251, 252 Expertensystem 207 Expertise 21, 38, 45, 46, 48, 49, 64, 78, 110, 139, 140, 168, 171, 180, 188, 191, 192, 202, 209, 211, 231, 234, 235, 239 F Fairness 80, 81, 95, 98, 106, 234 Familie 16, 21, 33, 36, 49, 79, 104, 126, 143, 144, 161, 166, 174, 180, 208 <?page no="255"?> www.claudia-wild.de: [UTB-S]__Willke__Systemtheorie_3_Steuerungstheorie__[Druck-PDF]/ 11.12.2013/ Seite 256 www.claudia-wild.de: [UTB-S]__Willke__Systemtheorie_3_Steuerungstheorie__[Druck-PDF]/ 11.12.2013/ Seite 257 256 Flugsicherung 226 Fundamentalkritik 196, 197 G Geld 30, 31, 37, 77, 114, 120, 127, 136, 138, 140, 144, 147, 148, 149, 150, 151, 154, 157, 158, 159, 160, 161, 162, 163, 165, 166, 167, 168, 169, 171, 172, 174, 175, 176, 193, 200, 246 Geschäftsfeldgliederung 102 Gesellschaftssteuerung 7, 8, 21, 22, 31, 39, 45, 50, 52, 80, 245 Gewalt 17, 82, 117, 118, 119, 122, 123, 126, 127, 128, 129, 132, 133, 134, 136, 137, 142, 143, 147, 148, 150, 153, 154, 161, 193, 241 Gewaltausübung 127, 131, 132, 134, 154 Gewaltverhältnis 125, 126 Globalisierung 21, 44, 45, 69, 169 Grundlagenforschung 100, 196 H Halbleiterindustrie 93, 108 Heterarchie 20 Hierarchie 9, 33, 35, 36, 37, 53, 55, 56, 58, 59, 60, 61, 62, 64, 66, 67, 68, 70, 71, 74, 76, 77, 78, 87, 89, 92, 95, 96, 98, 102, 105, 108, 111, 112, 114, 117, 122, 123, 124, 125, 164, 165, 207, 210, 232 Hybridform 74 I Ignoranz 178, 179, 195, 209, 237, 239 Indifferenz 30, 79, 80, 81, 82, 83, 113, 127, 160, 161, 162, 163, 171, 173, 251 Individualisierung 45 Industrialisierung 188 Information 38, 69, 140, 150, 183, 198, 199, 200, 206, 209, 210, 243 Informationsverarbeitung 19, 182 Infrastruktur 11, 100, 130, 132, 134, 135, 136, 145, 152, 153, 154, 191, 192, 193, 194, 195, 196, 197, 198, 199, 202, 203, 207, 209, 234, 253 Innovativität 88, 102, 142, 155, 177, 189, 200, 201, 207 Integration 99, 102, 106, 217, 234, 247, 250 Intelligenz 19, 20, 37, 49, 81, 110, 124, 142, 189, 191, 206, 209, 211, 216, 225, 228 Intervention 9, 13, 16, 18, 24, 30, 41, 46, 180, 186, 200 Interventionsstaates 29 Invention 167, 189 K Kirche 66, 73, 127, 178, 180, 217 Kohärenz 111, 112, 113 Kollektivgut 201 Kommunikation 25, 26, 27, 70, 79, 119, 120, 121, 123, 125, 127, 128, 129, 132, 138, 139, 147, 149, 150, 169, 182, 186, 200, 207, 209, 215, 219, 232, 249 Kommunikationsmedium 24, 119, 120 Kompetenz 83, 91, 131, 135, 136, 164, 195, 205 Komplexität 13, 16, 18, 25, 26, 30, 34, 36, 44, 60, 61, 67, 68, 70, 71, 84, 87, 90, 93, 101, 102, 104, 111, 122, 126, 128, 132, 137, 138, 144, 151, 165, 168, 178, 202, 208, 210, 251 Komplexitätssteigerung 68, 69 Konditionierung 62, 151, 160, 161 Konkurrenz 34, 93, 94, 100, 104, 107, 108, 130, 142 Konsens 41, 42, 43, 78, 127, 131, 182, 238 Konstruktivismus 184, 185, 187, 245 Konsumption 166 Kontext 7, 9, 10, 16, 22, 23, 35, 36, 44, 45, 46, 56, 76, 85, 92, 104, 106, <?page no="256"?> www.claudia-wild.de: [UTB-S]__Willke__Systemtheorie_3_Steuerungstheorie__[Druck-PDF]/ 11.12.2013/ Seite 256 www.claudia-wild.de: [UTB-S]__Willke__Systemtheorie_3_Steuerungstheorie__[Druck-PDF]/ 11.12.2013/ Seite 257 257 108, 111, 112, 123, 125, 142, 147, 153, 162, 188, 202, 212, 221, 231, 232, 234 Kontextsteuerung 99, 100, 101, 166, 241, 249 Kontingenz 70, 127, 137, 183, 250 Kontrolle 8, 11, 12, 13, 20, 22, 41, 43, 45, 64, 68, 78, 82, 94, 97, 124, 129, 134, 154, 161, 169, 178, 180, 194, 195, 196, 197, 203, 238, 241 Kontrollkapazität 23 Kontrollstruktur 19 Konzern 110, 136, 149, 223 Koordinationsmodell 33, 76 Kopplung 102, 113, 121, 157, 181 Krise 48, 169, 224, 227 Kybernetik 20, 227, 244 L Legitimität 11, 21, 43, 123, 124, 132, 133, 192, 195 Leidensdruck 48, 99, 175, 213 Leitdifferenz 177, 182 Lernen 70, 96, 111, 168, 171, 218, 220, 223, 224, 225, 227, 229, 230, 232, 238, 239, 249 Lernprozess 96 M Macht 25, 30, 31, 33, 37, 40, 45, 48, 49, 50, 53, 77, 86, 114, 117, 118, 119, 120, 121, 122, 123, 126, 127, 128, 129, 130, 131, 132, 133, 134, 135, 136, 137, 139, 142, 143, 144, 145, 148, 149, 150, 151, 156, 159, 160, 161, 166, 173, 176, 178, 179, 188, 193, 205, 231, 246, 247 Management 97, 103, 128, 165, 211, 214, 215, 223, 228, 229, 234, 253 Markt 8, 9, 33, 34, 35, 36, 37, 40, 41, 43, 74, 76, 86, 87, 89, 95, 96, 98, 102, 107, 112, 114, 137, 140, 141, 142, 190, 200, 202, 247 Marktlogik 40, 105 Mehrebenenstruktur 27 Metabolik 175, 176 Modularität 61 Monopolisierung 82, 129, 131, 132, 133, 134, 135 Moral 33, 36, 49, 50, 51, 90, 150 Muster 93, 94, 99, 112, 187, 216, 226, 227 N Neokorporatismus 27, 51, 52 Netzwerk 93, 94, 99, 100, 101, 103, 106, 111, 112, 144, 191, 208 Netzwerkanalyse 78, 90 O Ökonomie 8, 21, 28, 35, 46, 74, 76, 79, 89, 93, 100, 151, 152, 153, 154, 155, 156, 164, 168, 169, 170, 172, 173, 174, 175, 190, 200, 204, 206, 249 Operationslogik 174, 175, 177, 206 Operationsmodus 28, 31, 172, 185 Operationsweise 17, 18, 24, 27, 28, 61, 62, 63, 80, 101, 105, 106, 115, 135, 139, 142, 145, 147, 152, 155, 173, 174, 179, 195, 199, 200, 202, 211, 213, 220, 225, 226, 227, 232, 235 Ordnung 19, 21, 32, 33, 55, 59, 60, 61, 88, 89, 104, 110, 117, 118, 119, 122, 123, 124, 128, 130, 131, 132, 133, 134, 135, 143, 158, 159, 160, 161, 166, 173, 183, 184, 185, 186, 188, 190, 194, 201, 244 Organisationsfähigkeit 78, 118 Organisationsstrategie 99 P Paradox 21 Politikverflechtung 90, 91, 251 Prävention 155, 194 Problemlösung 13, 46, 49, 56, 58, 61, 94, 183 Produktion 30, 31, 68, 86, 98, 110, 125, 139, 140, 142, 156, 166, 175, 183, 185, 191, 201, 202, 205, 232 <?page no="257"?> www.claudia-wild.de: [UTB-S]__Willke__Systemtheorie_3_Steuerungstheorie__[Druck-PDF]/ 11.12.2013/ Seite 258 www.claudia-wild.de: [UTB-S]__Willke__Systemtheorie_3_Steuerungstheorie__[Druck-PDF]/ 11.12.2013/ Seite 259 258 Produktstrategie 98 Projektorganisation 85, 232 Projektwissen 233, 234 Prozesswissen 223, 231, 232 Q Qualifikation 142, 211 Qualifikationsniveau 142 R Rationalität 35, 36, 59, 100, 173, 189, 202, 244 Recht 28, 29, 70, 106, 122, 130, 131, 133, 137, 149, 158, 248, 249, 250 Redistribution 155 Reflexion 11, 51, 65, 223, 229, 241 Reflexionskapazität 106 Reflexivität 168, 169, 223 Regel 9, 15, 40, 47, 52, 83, 85, 92, 107, 111, 124, 125, 128, 135, 145, 149, 178, 207, 213, 214, 218, 224, 231, 237 Regelsystem 149, 223 Regionalisierung 44, 69, 128 Renitenz 15, 155, 241 Repräsentativität 26, 27 Repression 154, 155 Revision 19, 22, 30, 37, 38, 41, 43, 51, 53, 76, 117, 201, 227 Risiko 87, 193, 195, 226, 234, 241, 243 S Säkularisierung 82, 188 Selbstbeschränkung 29, 33, 82, 94, 105 Selbstkontrolle 82, 129 Selbstorganisation 8, 9, 19, 30, 32, 35, 37, 40, 80, 82, 100, 110, 134, 183, 200 Selbstreferentialität 30, 220, 237 Selbststeuerung 7, 20, 24, 28, 29, 30, 35, 42, 46, 48, 49, 65, 76, 80, 82, 99, 106, 144, 145, 147, 151, 157, 173, 178, 200, 235, 241 Selbstthematisierung 28, 30, 207 Selbsttransformation 24, 28, 30 Selbstzwang 129 Solidarität 74, 76, 77, 79, 119, 207, 208, 246, 250 Sozialismus 8, 13, 19, 43, 104, 185 Sozialstaat 8, 152, 153, 243 Sprache 31, 48, 119, 120, 121, 127, 136, 149, 150, 168, 169, 187, 204, 208, 220 Staat 8, 9, 23, 25, 29, 39, 41, 43, 55, 58, 74, 93, 96, 118, 129, 131, 132, 133, 134, 153, 154, 161, 192, 193, 247, 250, 251, 252 Staatszentriertheit 23 Steuerung 7, 9, 10, 13, 15, 16, 17, 18, 20, 21, 22, 31, 36, 37, 38, 40, 43, 45, 51, 53, 59, 64, 73, 74, 78, 82, 90, 96, 114, 117, 119, 121, 123, 128, 129, 139, 142, 143, 144, 145, 147, 148, 155, 157, 159, 161, 166, 167, 169, 171, 174, 178, 180, 186, 188, 200, 241, 249, 253 Steuerungsbedarf 143 Steuerungsform 33, 40, 44, 66, 122, 123, 124, 125, 126, 227 Steuerungskapazität 19, 44, 121, 128, 171 Steuerungsmedium 117, 123, 129, 132, 136, 137, 138, 143, 144, 145, 147, 148, 150, 160, 161, 163, 165, 171, 176, 177, 237 Steuerungsprinzip 19, 20, 21, 55 Steuerungsproblem 7, 9, 17, 23, 29 Steuerungsskepsis 7, 10 Steuerungsstruktur 59, 60 Steuerungswissen 195, 235 Straßenverkehr 12 Subsidiaritätsprinzip 91, 154, 192 symbolisch 120, 121, 149, 151, 215 Symbolsystem 168 Synchronisierung 222, 232, 233 Systemdifferenzierung 88 Systemtheorie I 11, 13, 18, 24, 27, 28, 32, 40, 46, 56, 62, 88, 92, 99, 105, <?page no="258"?> www.claudia-wild.de: [UTB-S]__Willke__Systemtheorie_3_Steuerungstheorie__[Druck-PDF]/ 11.12.2013/ Seite 258 www.claudia-wild.de: [UTB-S]__Willke__Systemtheorie_3_Steuerungstheorie__[Druck-PDF]/ 11.12.2013/ Seite 259 259 106, 120, 139, 149, 166, 168, 180, 181, 211, 223 Systemtheorie II 11, 13, 18, 24, 27, 28, 32, 40, 46, 62, 88, 92, 99, 105, 106, 120, 139, 149, 166, 180, 181, 211 T Team 67, 85, 107, 227, 232 Teamleiter 86, 147, 211 Teilsystem 51, 133 Temporalisierung 163, 166 Tragödie 14, 15, 17 Transaktion 162 Transaktionskosten 34, 35, 89, 90, 96, 101, 125, 201, 202, 203, 251 Transaktionsleitsysteme 203 Transformation 33, 36, 111, 207 U Übertragungsleistung 204 Umweltzerstörung 10, 29, 30, 48, 100 Unordnung 15, 124, 183 Unregierbarkeit 22 Unterscheidung 27, 41, 56, 75, 102, 139, 140, 168, 175, 204 USA 8, 13, 42, 49, 50, 52, 69, 81, 104, 107, 109, 134, 141, 143, 175, 189, 198, 199, 204, 217, 231 V Verflechtung 44, 89, 93, 152, 155, 157, 190 Verhandlungsdemokratie 53, 244 Verhandlungslogik 51 Verhandlungssystem 95, 104, 106 Verkehrssystem 11, 12 Verkettung 166, 168, 216 Vernetzung 25, 28, 44, 48, 89, 97, 110, 157, 169 Vertrauen 94, 106, 113, 134, 144 Verwissenschaftlichung 48, 70, 188, 189 Vielfalt 22, 74, 76, 88 Vision 24, 39, 41, 62, 165, 166, 245 W Wettbewerbsfähigkeit 65, 189, 190, 199, 200, 204, 206 Widerspruch 16, 99, 121, 130, 212, 241 Wissen 24, 31, 32, 37, 70, 114, 120, 154, 165, 171, 173, 176, 177, 178, 179, 180, 181, 184, 188, 192, 193, 195, 196, 201, 208, 209, 210, 211, 213, 214, 215, 216, 217, 218, 219, 222, 223, 225, 226, 229, 230, 231, 232, 234, 235, 236, 237, 238, 239, 248 Wissen der Organisation 213, 214, 216, 230 Wissensabhängigkeit 192, 195, 201, 202, 205, 206, 213 Wissensbasierung 169, 170, 171, 204, 209, 210, 211, 214, 219, 220, 223 Wissenschaftssystem 8, 24, 80, 178, 192, 196 Wissensgesellschaft 113, 194 Wissenskosten 167 Wissensmanagement 209, 211, 221, 222, 223, 224, 225, 226, 229, 231, 235, 237, 238, 253 Wissensrevision 70, 184, 211 Wissenssystem 184 Wohlfahrtsgesellschaft 8, 156, 190 Z Zahlung 148, 151, 162 Zeitspanne 164 Zeitstruktur 222 Zivilisierung 129, 134, 179 Zulieferer 110, 111 Zwang 13, 14, 16, 38, 65, 74, 117, 137, 138, 140, 143, 150, 182, 189, 238 Zynismus 87, 150, 172