Sprachwandel
Von der unsichtbaren Hand in der Sprache
0716
2014
978-3-8385-4253-9
978-3-8252-4253-4
UTB
Rudi Keller
Eine natürliche Sprache ist eine spontane Ordnung; dabei ist sie weder Naturphänomen noch Artefakt, sondern ein Phänomen der dritten Art. Ihr gegenwärtiger Zustand ist - von wenigen Ausnahmen abgesehen - unbeabsichtigter, unreflektierter Nebeneffekt von Wahlhandlungen der einzelnen Sprecher im Zuge ihrer kommunikativen Bemühungen.
<?page no="0"?> Rudi Keller Sprachwandel 4. Auflage A. Francke <?page no="1"?> Eine Arbeitsgemeinschaft der Verlage Böhlau Verlag · Wien · Köln · Weimar Verlag Barbara Budrich · Opladen · Toronto facultas.wuv · Wien Wilhelm Fink · Paderborn A. Francke Verlag · Tübingen Haupt Verlag · Bern Verlag Julius Klinkhardt · Bad Heilbrunn Mohr Siebeck · Tübingen Nomos Verlagsgesellschaft · Baden-Baden Ernst Reinhardt Verlag · München · Basel Ferdinand Schöningh · Paderborn Eugen Ulmer Verlag · Stuttgart UVK Verlagsgesellschaft · Konstanz, mit UVK / Lucius · München Vandenhoeck & Ruprecht · Göttingen · Bristol vdf Hochschulverlag AG an der ETH Zürich UTB 1567 <?page no="3"?> Rudi Keller Sprachwandel Von der unsichtbaren Hand in der Sprache 4., unveränderte Auflage A. Francke Verlag Tübingen <?page no="4"?> Abdruck der Fotoserie »10 Minuten vor dem Centre Pompidou« mit freundlicher Genehmigung von Hans Nickl, München. 4., unveränderte Auflage 2014 3., durchgesehene Auflage 2003 2., überarbeitete und erweiterte Auflage 1994 1. Auflage 1990 © 2014 · A. Francke Verlag Tübingen Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Rudi Keller Jahrgang 1942, war Professor für Germanistische Sprachwissenschaft an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf. Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Gedruckt auf chlorfrei gebleichtem und säurefreiem Werkdruckpapier. Internet: http: / / www.francke.de E-Mail: info@francke.de Einbandgestaltung: Atelier Reichert, Stuttgart Druck und Bindung: Friedrich Pustet GmbH, Regensburg Printed in Germany UTB-Band-Nr. 1567 ISBN 978-3-8252-4253-4 <?page no="5"?> It is more important that a proposition be interesting than that it be true. But of course a true proposition is more apt to be interesting than a false one. (Whitehead 1933, S. 313) <?page no="7"?> Inhalt Teil I 1. Das Problem des Sprachwandels . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17 1.1. Warum ändert sich die Sprache? . . . . . . . . . . . . . . . 17 1.2. Organismus oder Mechanismus? . . . . . . . . . . . . . . . 20 1.3. Intentionen, Pläne und Bewußtsein . . . . . . . . . . . . . 25 1.4. Wesen, Wandel und Genese . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 30 2. Vermutende Geschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 37 2.1. Sprachursprung. Eine Geschichte und ihre Interpretation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 37 2.2. Das Mandevillesche Paradox . . . . . . . . . . . . . . . . . . 51 2.3. Conjectural History . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 57 3. Im Gefängnis der Dichotomien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 62 3.1. Natur versus Kunst - Gefühl versus Verstand . . . . 62 3.2. Argumente im Gefängnis: Schleicher, Müller, Whitney . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 72 3.3. Ist die Sprache von Menschen gemacht? . . . . . . . . . 81 Teil II 4. Das Wirken der unsichtbaren Hand . . . . . . . . . . . . . . . . . 87 4.1. Sprache - ein Phänomen der dritten Art . . . . . . . . 87 4.2. Invisible-hand-Erklärungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 95 4.3. Kausale, finale und funktionale Erklärungen . . . . 109 4.4. Maximen sprachlichen Handelns . . . . . . . . . . . . . . . 125 4.5. Stase und Dynamik der Sprache . . . . . . . . . . . . . . . 131 7 Vorwort zur vierten Auflage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 Vorwort zur zweiten Auflage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10 Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13 <?page no="8"?> 5. Diskussion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 147 5.1. Lüdtkes Sprachwandelgesetz . . . . . . . . . . . . . . . . . 147 5.2. Natürlichkeitstheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 155 5.3. Diachronie oder Synchronie? . . . . . . . . . . . . . . . . . . 167 5.4. Chomskys I-Sprache . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 171 5.5. Poppers Welt 3 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 181 6. Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 191 6.1. Sprachwandel als evolutionärer Prozeß . . . . . . . . . 191 6.2. Resümee und Plädoyer für Erklärungsadäquatheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 206 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 217 Rezensionen der ersten Auflage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 227 Namenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 228 Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 231 8 <?page no="9"?> Als sich im Frühjahr 2014 zeigte, dass die dritte Auflage des „Sprachwandels“ in wenigen Monaten ausverkauft sein würde, hat sich der Verlag sehr schnell zu einer vierten Auflage entschlossen. Darüber freut sich ein Autor natürlich, aber es freuen sich auch - wie ich weiß - zahllose Kolleginnen und Kollegen, die dieses Buch in ihren Seminaren zum Thema Sprachwandel zur Lektüre empfehlen. Dass es vier Auflagen erleben würde, war im Jahr 1990, dem Jahr der ersten Auflage, für mich nicht abzusehen. (Wenngleich die damalige Lektorin Frau Dr. Petra Begemann ziemlich bald die Vermutung äußerte: „Das wird mal ein Longseller.“) Abzusehen war es für mich deshalb nicht, weil es zunächst in der Community der deutschen Sprachhistoriker auf eine Mischung aus Unverständnis und herber Kritik stieß. Was die Kritiker vor allem monierten, war zweierlei: Das Buch sei nicht empirisch und der Autor habe ja keine Ahnung von Sprachgeschichte. Und beides war korrekt! Was sie nicht erkannt hatten, war, dass es sich bei der vorgestellten Theorie um eine Metatheorie handelt, die naturgemäß nicht den Anspruch erheben kann, empirisch zu sein. Sie erläutert, welches Design eine (empirische) Theorie von Sprachwandel haben muss, wenn sie beansprucht, erklärungsadäquat zu sein: Sie muss das Design einer Invisible-hand-Theorie haben. Düsseldorf, Juni 2014 9 <?page no="10"?> Das Leitmotiv vieler Wissenschaften der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts war die Suche nach Entwicklungstheorien. Dies gilt auch für die Sprachwissenschaft. Ein Leitmotiv vieler Wissenschaften unserer Tage ist die Suche nach Theorien spontaner Ordnungen, das heißt Ordnungen, die entstehen, ohne vorbedacht oder geplant zu sein. Spontane Ordnungen gibt es in allen Bereichen; im Bereich der belebten und unbelebten Natur ebenso wie im Bereich der Kultur: Die Spirale einer Galaxis oder die eines sprießenden Farnblattes im Frühjahr, eine Dünenlandschaft in der Westsahara, eine Buckelpiste im Skigebiet - oder eine sogenannte natürliche Sprache. Spontane Ordnungen im soziokulturellen Bereich sind typischerweise Epiphänomene individueller Handlungen, die ganz anderen Motiven folgen als dem, eine Ordnung hervorzubringen. Das gilt für die Buckelpiste gleichermaßen wie für das Deutsche. Die einen halten die Untersuchung von Sprachen wie Deutsch oder Englisch für kein seriöses wissenschaftliches Unterfangen, weil sie ‘ja nur’ Epiphänomene sind (s. S.157f.). Andere sehen in dieser Eigenschaft gerade einen Reiz ihres Untersuchungsgegenstandes. Das vorliegende Buch wurde geschrieben, um darzulegen, was es heißt, eine natürliche Sprache unter dem Aspekt einer spontanen Ordnung zu betrachten, und um zu zeigen, was daraus folgt. Einer natürlichen Sprache kommt unter all den spontanen Ordnungen einer Kultur ein ganz besonderer Status zu. Es dürfte - neben der Volkswirtschaft - keine spontane Ordnung geben, deren Erforschung ein eigener Wissenschaftzweig gewidmet ist, und es dürfte - als Folge daraus - keine spontane Ordnung geben, die so gut erforscht ist wie die bzw. eine natürliche Sprache. Die Sprache kann nachgerade als prototypisches Beispiel einer spontanen Ordnung im Bereich des Soziokulturellen angesehen werden. eine bemerkenswerte Beachtung auch außerhalb der Fachgrenzen gefunden hat, vor allem unter Philosophen, Soziologen und Nationalökonomen. Vertretern dieser Fachrichtungen bin ich in besonderer 10 <?page no="11"?> Weise zu Dank verpflichtet für die Einladungen zu Vorträgen und all die Anregungen und Ermutigungen, die mir zuteil wurden. " # $ cher Strukturen kann einerseits in ihrem besonderen Verhältnis von Ordnung und Unordnung begründet sein, andererseits in der Beziehung von Einfachheit und Komplexität. Das gilt nicht nur für Sprachen. Wissenschaftler (nahezu) aller Disziplinen sind Spezialisten im Auffinden des Einfachen in oder hinter dem Komplexen. “Ein komplexes Ding ist etwas, dessen Bestandteile so angeordnet sind, wie es wahrscheinlich nicht durch den Zufall allein zustande gekommen sein kann”, definiert Richard Dawkins.* Eine Sprache ist solch ein “komplexes Ding”. Ihre Komplexität ist im Gegensatz zu der einer Symphonie nicht im Hinblick auf einen zu erschaffenden Endzustand erzeugt. Vielmehr ist sie “im Rückblick definiert”.** Die besondere Struktur einer Sprache begründet sich aus ihrer Vergangenheit. Diese Sichtweise mißt der Sprachgeschichte eine neue Rolle bei. Ihre Aufgabe besteht nicht allein darin, vergangene Zustände aufzuspüren, sondern die Gegenwart zu rekonstruieren aus der Perspektive ihrer Evolution. Die zentrale Botschaft dieses Buches lautet: Der gegenwärtige Zustand unserer Sprache ist das unbeabsichtigte Ergebnis der Wahlhandlungen der Sprecher und ihrer Vorfahren. Die Rekonstruktion dieses Geneseprozesses ist ein zentraler Baustein einer erklärenden Theorie eines Sprachzustandes. % # ein Kapitel reicher sein als der Text der ersten Auflage. Einer der Rezensenten, Erhard Albrecht, hat zu Recht darauf hingewiesen, daß eine Auseinandersetzung mit der Theorie des sogenannten natürlichen Wandels ein Desiderat sei. Ein solches Kapitel war bereits für die erste Auflage vorgesehen. Daß es schließlich doch fehlte, lag ausschließlich an meiner damaligen Unfähigkeit, eine konstruktive Kritik an der Natürlichkeitstheorie zu üben, mit der ich zufrieden war. & ' + / 6 & der Zustand der Zufriedenheit unerreichbar ist. Das Buch spiegelt eher den Zustand, mit dem ich mich zufrieden gab . Was die Leserschaft betrifft, so ergibt sich ein differenzierteres Bild. Das Buch hat viel Beachtung erfahren, wobei die positive Resonanz die kritische oder gar negative deutlich überwog. (Ein Verzeichnis der bislang 11 *Dawkins 1986/ 87, S. 20 **Dawkins 1986/ 87, S. 21 <?page no="12"?> 12 erschienenen Rezensionen ist dem Literaturverzeichnis angehängt.) Positive wie negative Reaktionen provozierte nicht zuletzt der Stil, in dem das Buch geschrieben ist. Sie reichten von enthusiastischer Zustimmung bis zu der Ansicht, er sei einer wissenschaftlichen Abhandlung nicht angemessen. Mein Ziel war und ist es, so zu schreiben, daß dem Text die Mühen der Forschung nicht mehr anzumerken sind. Bei Texten sollte, wie bei Akrobaten, das Verhältnis von Einfachheit und Komplexität genau andersherum sein als es bei spontanen Ordnungen ist. Der Leser sollte die Chance haben, Komplexität hinter der Einfachheit und der scheinbaren Leichtigkeit zu entdecken. Eine bestimmte Sorte der vorgebrachten Kritik resultiert daraus, daß das Buch mit einer Erwartungshaltung gelesen wurde, die es enttäuscht. Deshalb eine explizite Warnung: Ich beabsichtige nicht, einen Überblick über existierende Theorien des Sprachwandels zu geben. Das haben andere Autoren bereits getan, so zum Beispiel Aitchison 1991, Dauses 1990, Lass 1980 oder Windisch 1988. Theorien anderer Autoren sind lediglich inbezug auf die in diesem Buch vorgestellte Theorie erwähnt. Weder die Aufnahme noch die Nichtaufnahme einer Theorie eines anderen Autors ist Zeichen eines Werturteils. Es ist auch nicht beabsichtigt, sprachgeschichtliche Untersuchungen vorzulegen. Sprachgeschichtliche Hinweise dienen ausschließlich der Erläuterung der hier vorgelegten Theorie. & > ? / Entstehen dieses Buches beigetragen haben, bin ich sehr dankbar. Zu nennen sind in erster Linie die Rezensenten sowie diejenigen, die mir in persönlichen Briefen und Gesprächen ihre Meinungen gesagt haben. Ganz besonders danke ich Petra Radtke für ihre aufmerksame Lektüre und die zahllosen Gespräche. Peter Schmitz hat die Korrekturarbeiten besorgt sowie das Namens- und Sachregister auf den neuesten Stand gebracht. Auch ihm sei hiermit sehr herzlich gedankt. Schließlich bin ich dem Verlag, und da vor allem Dr. Petra Begemann, für die Zusammenarbeit, ihre Zuverlässigkeit und die vorzügliche Betreuung zu großem Dank verpflichtet. Ich wünschte mir, die akzeptierend kritische Auseinandersetzung mit der hier vorgelegten Theorie hielte an, und danke bereits heute all denen, die sich in Zukunft daran beteiligen. Düsseldorf, Juni 1994 <?page no="13"?> Vorwort Als ich vor etwas mehr als zehn Jahren Robert Nozicks Buch “Anarchie, Staat, Utopia”, ein Werk über politische Philosophie, las, wurde ich infiziert von einer Idee, die mir bis dahin fremd gewesen war: von der “Zwillingsidee”, wie von Hayek sie nannte, der spontanen Ordnung und der Erklärung mittels der unsichtbaren Hand. “Derartige Erklärungen haben etwas Schönes an sich” * , bemerkt Nozick. Aber es war nicht nur die dieser Zwillingsidee inhärente intellektuelle Ästhetik, die mich anzog, sondern das Gefühl, daß hier Konzepte vorlagen, ausgearbeitet von der politischen Philosophie und der Nationalökonomie, die sich einer Adaption durch die Sprachwissenschaft geradezu aufdrängten. In der Tat war die Übernahme durch die Sprachwissenschaft von Sozialphilosophen und Nationalökonomen der sozialevolutionären Richtung in den letzten zwei Jahrhunderten auch immer wieder explizit angeregt worden. Aber da sich die Lektüre von Wissenschaftlern weitgehend an die durch Erfordernisse der Universitätsorganisation vorgegebenen Strukturen und Fakultätsgrenzen hält, war dieses Angebot offenbar überhört worden. Das vorliegende Buch stellt den Versuch dar, das Angebot anzunehmen und zu Nozicks Gedanken einer erklärenden politischen Theorie Analoges für den Bereich der Sprache zu entwickeln. Noam Chomsky hat meines Wissens als erster mit Nachdruck die Forderung erhoben, daß das Ziel einer Syntaxtheorie Erklärungsadäquatheit sein müsse. Doch was für den eingeschränkten Bereich der Syntax gilt, gilt für jede empirische Theorie: Sie muß nicht nur sagen, was der Fall ist, sie sollte auch sagen, warum es der Fall ist. In diesem Buch wird eine evolutionäre Theorie der Sprache vorgestellt, die “Zwillingsidee” eines Sprachbegriffs mit 13 * Nozick o.J., S. 32 <?page no="14"?> dem dazugehörigen Erklärungsmodus, in deren Rahmen sprachliche Erscheinungen im Prinzip erklärbar sind; und zwar erklärbar im strengen Sinne, vorausgesetzt, daß die zur Erklärung notwendigen Rand- und Rahmenbedingungen bekannt sind. Ich versuche, die evolutionäre Auffassung der Sprache systematisch und mit vielen wissenschaftshistorischen Einsprengseln darzustellen. Denn um die Lösung eines Problems begreifen zu können, muß man das Problem, das zu lösen sie beansprucht, verstanden haben; und dazu wiederum ist es nützlich, die gescheiterten Versuche einer Lösung zu kennen sowie die Gründe ihres Scheiterns. Die Linguistik gilt in der Öffentlichkeit wie in Studentenkreisen nicht gerade als amüsant. Das hat ihr Gegenstand, die Sprache samt ihrer geschichtlichen Entwicklung, nicht verdient. Man stellt sich beim Schreiben meist fiktive Leser vor, “denen” man schreibt. Meine fiktiven Leser stammen aus drei Gruppen: den interessierten Laien, den Studierenden und den Fachleuten. Um vor allen Dingen die ersten beiden nicht abzuschrecken, habe ich mich bemüht, griesgrämigen Stil ebenso zu vermeiden wie linguistischen Spezialjargon. Wo Spezialkenntnisse erforderlich sind, werden sie im Text eingeführt und erläutert. Ich habe versucht, auch Kompliziertes unkompliziert darzustellen, ohne zu simplifizieren; mit welchem Erfolg, das wird sich zeigen. In der langen Zeit, in der die hier vorgestellten Gedanken sich entwickelten, lagerten, reiften, zum Teil auch abhingen, habe ich mit so vielen Leuten darüber diskutiert in Kolloquien, Vorträgen und Seminaren, daß es mir nicht möglich ist, all denen, die es verdient hätten, namentlich zu danken. So muß ich mich darauf beschränken, nur diejenigen zu nennen, denen ich in besonderer Weise zu Dank verpflichtet bin. Erica C. García hat das Entstehen dieser Theorie stets mit wohlwollender und hilfreicher Kritik begleitet. Von Anfang an fand ich Verständnis und fachliche Unterstützung bei Helmut Lüdtke. Viktor Vanberg bin ich vor allem für seine kritischen Kommentare zu meinen früheren Überlegungen zur soziokulturellen Evolution dankbar. Friedrich August von Hayek hat mir besonders in der Anfangsphase durch seine Ermutigungen und durch zahllose Literaturhinweise dabei geholfen, mich in einem unbekannten Gebiet zurechtzufinden. Roger Lass’ Kommentare zum Problem von Erklärung und Pro- 14 <?page no="15"?> gnose haben manche Modifikation früherer Textfassungen provoziert. Brigitte Nerlich hat den gesamten Text einer abschließenden kritischen Lektüre unterzogen. Axel Bühler verdanke ich zahllose kritische Kommentare zum Manuskript, wovon ich aus Zeitgründen jedoch bislang nur einen geringen Teil verarbeiten konnte. Ihnen allen sei hiermit sehr herzlich gedankt. Besonderer Dank gilt Michael Theisen und Susanne Creutz, die den Text in den Computer getippt haben. Durch ihre kritische Aufmerksamkeit wurden manche Inkonsistenzen und Fehler verhindert; sollte der vorliegende Text arm an pfälzer Idiotismen und gemeindeutschen Stilblüten sein, so ist dies ebenfalls im wesentlichen ihr Verdienst. Dieses Thema wird für mich noch lange nicht abgeschlossen sein. So bin ich auch weiterhin für Korrekturen, Kritik und Anregungen dankbar. Düsseldorf 1989 R. Keller 15 <?page no="17"?> T EIL I 1. Das Problem des Sprachwandels 1.1. Warum ändert sich die Sprache? In Zentralaustralien, wo der Murray und Darling River zusammenfließen, lebt ein kleines Volk von Ureinwohnern, das sich gezwungen sah, seine Bezeichnung für Wasser innerhalb von fünf Jahren neunmal zu ändern; jedesmal, weil ein Mann gestorben war, der das jeweilige Wort für Wasser als Name trug. 1 Es fällt uns schwer, so etwas nachzuvollziehen. Ob australische Ureinwohner nachvollziehen könnten, daß sich hierzulande Leute massenhaft dem Waldlauf verschrieben haben, nachdem das Wort “Jogging” dafür propagiert worden war? Wie auch immer, beide Beispiele machen deutlich, daß uns die Sprache auch noch zu anderen Zwecken dient, als nur dazu, Gedanken auszutauschen oder wahre Aussagen über die Welt zu machen. Sprachen sind in permanentem Wandel begriffen. Walther von der Vogelweide ist von uns etwa fünfundzwanzig Generationen entfernt. Wenn wir durch eine Zeitmaschine zu ihm ins Jahr 1200 versetzt werden würden, hätten wir größte Mühe, uns auch nur annähernd mit ihm zu verständigen. Mauthner weist darauf hin, daß auch ein Zeitgenosse Walthers, der “nun noch, etwas mehr als 700 Jahre alt, in voller Frische des Geistes und Körpers leben würde (…) seinen Jugendgenossen” nicht mehr verstehen würde. 2 Mit Goethe, von dem uns etwa 180 Jahre trennen, hätten wir zwar keine fundamentalen Verständigungsschwierigkeiten wie mit Walther, aber wir würden auf Schritt und Tritt anecken und nachfragen müssen. “Der beste Champion für meines Weibes 1 Strehlow 1907-1915, S. 55. Zit. nach Boretzky 1981, S. 75 2 Mauthner 1912/ 1982, S. 7 17 <?page no="18"?> Ehre” 3 soll kein Boxer sein, sondern ein ritterlicher Beschützer. Chapeau war das geläufige Wort für einen Tanzherrn; wir würden nicht verstehen, was es heißt, brustkrank zu sein oder beythätig 4 sein zu wollen. Wenn ein Kind in einem Schulaufsatz die Goethesche Konstruktion “Regen wirkt um desto unangenehmer als…” 5 verwenden würde, so würde dies heute als Ausdrucksfehler quittiert werden. Merkwürdig nannte man noch zu Goethes Zeiten nicht etwas Seltsames, sondern etwas, das man sich merken sollte, etwas Wichtiges also. Die Beispiele ließen sich beliebig fortsetzen. Selbst wenn wir uns nur eine Generation zurückversetzen und beispielsweise eine Zeitung aus den fünfziger Jahren durchblättern, ist uns manches recht fremd: So meldet die Rheinische Post am 1.12.1951, daß eine Sonderkommission der Polizei “für Hinweise aus dem Publikum, die zur Ergreifung der Täter führen, eine Belohnung von 10000 Mark ausgesetzt” hat. Heute würde man statt “Publikum” “Bevölkerung” und statt “Mark” “DM” schreiben. Deutlich ist die Sprache der Modewerbung und die der Heiratsanzeigen von unserer heutigen Sprache verschieden: Geworben wird beispielsweise für ein “Fesches Damenkleid”, ein “Flottes Damenkleid in neuartigem Schnitt”, ein “Tageskleid mit neuartigen Taschen” oder für einen “Eleganten Damen-Mantel mit neuartigem, reichbesetztem Kragen. Die richtige Ergänzung: die modische Kappe”. Das alles gibt es auch für “stärkere Damen”. Herren werden “Herren-Normalschlüpfer” angepriesen; für Damen gibt es entsprechend “Damen-Strickschlüpfer”. In Heiratsanzeigen sucht beispielsweise eine “lebensfrohe, gut aussehende Blonde” oder ein “Fräulein, 39/ 1,62, schlank…” oder ein “Frl., 48 J.” oder ein “Jg. Mädel 24/ 1,70” einen Mann fürs Leben. Während die meisten Herren Bekanntschaft mit einem “aufrichtigen Mädel” oder einem “lieben, treuen Mädel”, auf jeden Fall aber mit einem “Mädel” suchen, wünschen sich viele Damen einen “guten Ehekameraden”. Kurzum, wir finden in einer Zeitung, die in der Mitte des 20. Jahrhunderts gedruckt wurde, eine nahezu beliebige Menge 18 3 Goethe Wörterbuch 1985, 2. Bd. 4 “brustkrank” heißt “lungenkrank”; “ich will beythätig sein” heißt “ich will mitmachen” 5 Goethes Werke 1908, 45. Band, S. 291 <?page no="19"?> 19 von Ausdrücken und Ausdrucksweisen, die heute im gleichen Kontext undenkbar wären. In einigen Bereichen ist das mehr, in anderen etwas weniger der Fall. Warum ist das so? Warum ändert sich die Sprache überhaupt? Ist unsere Sprache von heute nicht, so wie sie ist, in Ordnung? Haben Sie etwas daran auszusetzen, das Sie geändert wissen wollten? Nein, im allgemeinen sind uns ja eher die sich anbahnenden Änderungen suspekt als die alten Zustände… Man denke etwa an die “neue” Wortstellung in komplexen “weil”-Sätzen (die nun in der kolloquialen Sprache wie “denn”-Sätze und nicht mehr wie “da”-Sätze strukturiert sind): “Ich muß mich beeilen, weil ich will noch etwas einkaufen, bevor die Läden zumachen.” Es ist wie in der Kleidermode: Neuerungen kommen uns meist erst einmal barbarisch vor, und wenn sie gang und gäbe geworden sind, belächeln wir die vorherige Version. Dies scheint ein universelles Spiel zu sein und ein Spiel ohne Ende. Könnten wir uns eine Sprache vorstellen, die sich nicht verändert? Ist das überhaupt eine vernünftige Frage? Müßten wir nicht vielmehr die Frage stellen, ob wir uns ein Volk vorstellen können, das seine Sprache nicht verändert? Ich werde auf diese Alternative zurückkommen. Stellen Sie sich für einen Augenblick vor, Sie würden als Linguist an einer Expedition in ein unerforschtes Land teilnehmen. Würden Sie damit rechnen, auf eine Sprache zu stoßen, die durch alle Zeiten hindurch konstant geblieben ist? Mit Sicherheit nicht, aber warum nicht? Eine solche Sprache hätte zweifellos einige Vorteile: Die Verständigung wäre über Generationen hinweg frei von “unnötigen” Erschwernissen, die Weitergabe von Traditionen wäre einfacher, Probleme mit den Jugendlichen könnten von den Alten nicht auf die Sprache geschoben werden, und die Theoretiker des Sprachverfalls wie die Sprachpuristen hätten Zeit für nützliche Dinge. Aber auch ein Nachteil ist schnell zur Hand: Die Sprache eines Volkes muß doch mit der gesellschaftlichen Entwicklung Schritt halten. “Die sprachliche Bewältigung der sich ständig verändernden Umwelt des Menschen fordert einen ununterbrochenen Ausbau des Wortschatzes.” 6 6 Fleischer 1971, S. 9 <?page no="20"?> Fordert sie das wirklich? Spinnen wir doch unser Gedankenspiel ein wenig weiter. Nehmen Sie an, Sie würden auf ein Völkchen treffen, dessen Umwelt und Zivilisation sich, soweit man zurückblicken kann, nicht verändert hat. Würden Sie dann berechtigt sein, daraus die Erwartung abzuleiten, daß sich in der Sprache dieses Völkchens kein Wandel vollzogen hat? Nein, auch dann nicht. An unserer eigenen Sprache können wir das leicht erkennen. Welche Veränderungen in unserer Umwelt sollen es denn gewesen sein, die den Wandel von Gauch zu Kuckuck, von Party zu Fête, von billig zu preiswert, von Schlüpfer zu Slip, von weil mit Inversion zu weil ohne Inversion notwendig gemacht haben? Auf der anderen Seite können wir noch problemlos das alte germanische Wort Boot verwenden, um atomgetriebene Unterwasserfahrzeuge zu bezeichnen. Die Tätigkeit eines Kameramannes, der eine elektronische Kamera bedient, können wir getrost noch drehen nennen. Neuerungen in unserer Welt sind weder notwendig noch hinreichend für Veränderungen in unserer Sprache. Die Idee, daß es so sei, hängt mit der Ideologie zusammen, daß es die Aufgabe der Sprache sei, die Welt abzubilden (nach Möglichkeit eindeutig), und daß Kommunizieren seinem Wesen nach darin bestehe, wahre Aussagen über die Welt zu treffen. Aber dies ist nur ein Aspekt des Kommunizierens. Kommunizieren heißt zuallererst auf bestimmte Art und Weise beeinflussen wollen. 1.2. Organismus oder Mechanismus? Ich habe es bereits angedeutet: Es ist gar nicht so einfach, in bezug auf den Wandel der Sprache die richtigen Fragen zu stellen. Aber es ist unbedingt notwendig, bei der Theoriebildung von vornherein in die Irre führende Fragestellungen zu vermeiden. “Our questions fix the limits of our answers.” 7 Die Schwierigkeiten liegen in unserem Fall daran, daß Wahrnehmungen und Denkmodelle, die dem Wortschatz in der Alltagssprache zugrunde liegen, Prozessen permanenten Wandels nicht angemessen sind. 20 7 Stam 1976, S. 1 <?page no="21"?> Die Universalität des Wandels natürlicher Sprachen wurde von Linguisten meines Wissens nie in Zweifel gezogen. Wenn es auf alle Sprachen zutrifft, daß sie permanentem Wandel unterliegen, so liegt der Verdacht nahe, daß es auch eine wesentliche Eigenschaft der natürlichen Sprachen ist, sich ständig zu ändern (wenngleich das nicht daraus folgt! ). “Daß die Sprache in einem beständigen Wandel begriffen ist, ist etwas von ihrem Wesen Unzertrennliches”, schrieb Hermann Paul. 8 Warum das so ist, dafür wird bis auf den heutigen Tag nur sehr schwach argumentiert. Ich werde auf die Argumente noch detaillierter eingehen; vorab aber noch eine kleine Warnung vor einem Fehlschluß: Wer erfolgreich dafür argumentiert, daß die Veränderlichkeit (bzw. die Veränderbarkeit) der Sprache wesentlich ist (beispielsweise mit dem korrekten Argument, daß dies aus ihrer Konventionalität bzw. aus ihrer Arbitrarität folge), der hat damit weder dafür argumentiert, daß sich eine Sprache auch tatsächlich ändert, noch dafür, daß sich alle Sprachen tatsächlich ändern, und schon gar nicht dafür, daß dies notwendigerweise der Fall ist. Denn aus der Möglichkeit des Wandels folgt nicht die Faktizität, und somit auch weder die Universalität noch die Notwendigkeit des Wandels. Es ist kein Widerspruch, von etwas zu sagen, es sei zwar veränderbar, habe sich aber noch nie verändert. Und es ist auch kein Widerspruch zu sagen, alle Sprachen seien einem permanenten Wandel unterworfen, aber das sei nicht notwendigerweise der Fall. (So wie etwa in allen Industrienationen Coca-Cola getrunken wird, ohne daß dies eine wesentliche Eigenschaft von Industrienationen wäre.) Die Veränderbarkeit der Sprache folgt in der Tat aus deren Arbitrarität, die wiederum aus ihrer Konventionalität folgt. (Wenn es zu einer Verhaltensweise keine gleichgute Alternative gäbe, würden wir sie nicht konventionell nennen. 9 ) Die Universalität des Wandels scheint zunächst einmal eine empirische Feststellung zu sein. Für die Notwendigkeit des Wandels müssen die Argumente erst noch gefunden werden. 21 8 Paul 1910, S. 369 9 Dies hat vor allem David Lewis (1969/ 1975, S. 71) gezeigt. <?page no="22"?> Das Begreifen von Prozessen permanenten Wandels scheint Menschen von jeher besondere Schwierigkeiten zu machen. 10 Der Grund dafür liegt vermutlich in der Tatsache, daß es in unserem alltäglichen Leben keine anschaulichen und erfahrbaren Vorbilder dafür gibt. Sinnliche Vorbilder gibt es lediglich für den Prozeß des Werdens: die Ontogenese in der belebten Natur und die Tätigkeit des Handwerkers. Beiden ist gemeinsam, daß es sich um zielgerichtete Prozesse handelt, um Prozesse also, bei denen die Idee des Produkts vor seiner Vollendung existiert. Wir werden sehen, daß beide Modelle in die Sprachtheorie Eingang gefunden haben. Auch der Wortschatz unserer Alltagssprache ist von diesen Denkmodellen geprägt. Wir haben einen Wortschatz der Schöpfung und einen des Wachstums. Was uns fehlt, ist ein Wortschatz der Evolution. Auch für die Sprachwissenschaft gilt, was Konrad Lorenz für die Biologie feststellte: “Wenn man versucht, den Vorgang des großen organischen Werdens zu schildern und dabei der Natur gerecht zu werden, so findet man sich immer wieder dadurch behindert, daß der Wortschatz der Kultursprache zu einer Zeit entstand, in der die Ontogenese, d.h. das individuelle Werden der Lebewesen, die einzige Art der Entwicklung war, die man kannte.” 11 Und die individuelle Tat des Handwerker-Schöpfers die einzige Form des Erzeugens nicht-natürlicher Produkte war, die man kannte; dies könnte man für den Bereich des Kulturellen hinzufügen. Die Wörter “Entwicklung” und “Evolution” selbst suggerieren die dem Evolutionsgedanken völlig inadäquate Vorstellung des Auspackens (cf. “development”), des Entfaltens von etwas im Keim bereits Vorhandenem. (Dies mag Darwins Grund dafür gewesen sein, das Wort “Evolution” in der ersten Auflage seines Werkes “The Origin of Species” gar nicht zu verwenden. 12 ) Die Prozesse permanenten Wandels, die uns als Vorbilder dienen könnten, vollziehen sich entweder zu langsam, als daß wir sie als Wandlungsprozesse in einem Leben überschauen könnten, wie etwa die Evolution der belebten Natur. Oder aber wir nehmen die Veränderungen nicht als permanente Wand- 22 10 cf. Wildgen 1985 11 Lorenz 1973, S. 47 12 Toulmin 1972/ 1978, S. 386, Anm. 228 <?page no="23"?> 23 lungsprozesse wahr, obwohl ihre Geschwindigkeit in bezug auf die Dauer unseres Lebens dies erlauben würde. Dies trifft für den Wandel der Moral und der Sitten, der Religiosität, der Schönheitsvorstellungen und für den Wandel der Sprache zu. Diese Phänomene scheinen wir meist unter der Perspektive des Verfalls wahrzunehmen. An ihnen üben wir Kulturpessimismus. Es wird bisweilen behauptet, den Menschen würde der Wandel ihrer Sprache nicht bewußt werden, weil er sich zu langsam und in zu kleinen Schritten vollzöge. Beides ist jedoch nicht der Fall. Es gibt sehr schnelle und sprunghafte Veränderungen. Man denke etwa an die Aufgabe der Inversion nach weil in der gesprochenen Rede (weil das klingt so besser) oder an die Tendenz, die Satzklammer zu vermeiden (“wir laden ein zu einem Gespräch”), oder etwa an den sprunghaften Bedeutungswandel von ökologisch. Ich glaube, der Sprachwandel wird durchaus bemerkt, aber er wird nicht als permanenter Prozeß wahrgenommen. Die typische Form, den Wandel der Sprache wahrzunehmen, scheint darin zu bestehen, ihn als Verfall zu erleben. Ist es nicht merkwürdig, daß unterschiedliche Verfallstheoretiker seit mehr als 2000 Jahren immer wieder den zunehmenden Verfall ihrer jeweiligen Muttersprache beklagen, ohne je ein Beispiel für eine tatsächlich verfallene Sprache vorweisen zu können? Es scheint auch niemanden zu geben, der bereit wäre, den Verfall seiner e i g e n e n individuellen Sprache zu bedauern: “Ach, was schreibe ich für ein verkommenes Deutsch im Vergleich zu meinen Großeltern! ” Sprachverfall ist immer Verfall der Sprache der anderen. Das sollte stutzig machen. In bezug auf den Wandel der Sprache haben wir die Wahl zwischen zwei Fragen: “Warum ändert sich die Sprache? ” oder “Warum ändern die Sprecher die Sprache? ” Ich will die erstere die organistische Version nennen und die zweite die mechanistische. Beide Versionen sind tückisch. Sie laden zu unangemessenen Antworten ein. Betrachten wir zunächst die organistische Version. Hypostasierungen, Metaphern und Anthropomorphisierungen sind in der Wissenschaftssprache wie auch in der Alltagssprache gang und gäbe. Von der Elektrizität sagen wir, daß sie fließt, von Genen, daß sie egoistisch sind, Luftdruckveränderungen werden <?page no="24"?> 24 zu Hochs und Tiefs hypostasiert, die wandern, Fronten bilden und sich zurückdrängen lassen. Solche Redeweisen sind bequeme Abkürzungen. Unproblematisch sind sie deshalb, weil mindestens die jeweiligen Fachleute über nicht-hypostasierende, nicht-metaphorische oder nicht-anthropomorphisierende Explikationen verfügen. Die Frage “Warum ändert sich die Sprache? ” präsupponiert “Die Sprache ändert sich”. Das Besondere an dieser Hypostasierung ist, daß auch die Fachleute nicht über eine Auflösung verfügen, die wörtlich genommen werden darf. Wir wissen natürlich, daß es nicht die deutsche Sprache ist, die etwas tut, wenn sie sich verändert. Wir wissen, daß es etwas damit zu tun hat, daß Leute sie verwenden. Aber was? Die Verdinglichung der Sprache zieht, wie die Geschichte zeigt, nahezu notwendigerweise die Vitalisierung nach sich. Denn wenn die Sprache schon ein Ding ist, so ist sie doch kein totes. Die Sprache lebt. In ihr “wirken” Kräfte, 13 sie “wächst”, “altert” und “stirbt”. 14 Die Vitalisierung der Sprache wiederum lädt zu Anthropomorphisierungen geradezu ein: Die Sprache “sucht nach Lösungen”, sie “merzt aus”, sie “verführt”, sie “kämpft ums Dasein” und “siegt”. 15 Und weil die Sprache das alles recht klug und geschickt tut, wird sie zu guter Letzt noch mit einem “Geist” versehen, der in ihr “waltet”. 16 So wird unversehens aus dem artspezifischen Kommunikationsverfahren 17 des homo sapiens sapiens ein animal rationale mit allerhand wundersamen Fähigkeiten. Die These, daß die Sprecher ihre Sprache verändern, die von der mechanistischen Version der Frage präsupponiert wird, ist nicht minder irreführend. “Haben Sie oder habe ich Englisch ‘geschaffen’? ” fragt Chomsky rhetorisch. 18 Meine Großmutter würde die Feststellung, sie habe - wenn auch nur ein bißchen - die deutsche Sprache verändert, mit Sicherheit als Vorwurf empfinden und zu Recht weit von sich weisen. 13 cf. L. Weisgerber 1971, S. 9; de Saussure 1916/ 1967, S. 7, S. 110 14 Schleicher 1863, S. 6 f. 15 cf. Schleicher 1863, S. 29 16 Grimm 1968, S. 6 17 Lüdtke 1980, S. 3 18 Chomsky 1980/ 1981, S. 18 <?page no="25"?> 25 Beide Redeweisen, die organistische wie die mechanistische, haben etwas Irreführendes an sich. “Warum ändert sich die Sprache? ” ist zu hypostasierend, so als sei Sprache ein Ding mit ihm innewohnenden Lebenskräften, ein Organismus, wie man im 19. Jahrhundert zu sagen pflegte. “Warum ändern die Sprecher ihre Sprache? ” klingt zu aktiv, zu intentional, so, als hätten sie es geplant und dann willentlich getan; als sei die Sprache ein von Menschen gemachtes Artefakt, ein Mechanismus, den sie herzustellen und umzubauen imstande wären. Die beiden Redeweisen sind den beiden eingangs erwähnten Modellen des Werdens nachkonstruiert: der Ontogenese und dem Handwerk. Beide sind als Modelle für die einem permanenten Wandel unterliegende Sprache ungeeignet, und zwar im wesentlichen aus drei Gründen: 1. Die Ontogenese wie die Fähigkeit des Handwerkers sind zielgerichtet, d.h. das Endprodukt ist genetisch oder konzeptionell vorweggenommen. Für die Entwicklung der Sprache trifft dies nicht zu. 2. Die Ontogenese wie die Tätigkeit des Handwerkers haben ein Ende. (Dies folgt aus 1.) Es ist erreicht, wenn das vorweggenommene Endprodukt entstanden ist. Das “Leben” der Sprache hingegen ist eine potentiell unendliche Geschichte. 3. Ontogenese wie die Tätigkeit des Handwerkers sind individuelle Prozesse. Wenn ein Artefakt nicht von einem Individuum geschaffen werden kann, so aus kontingenten Gründen. Kollektive zielgerichtete Handlungen sind quasi individuell; meist gibt es eine zentrale Planungsinstanz, der die Tat zugeschrieben werden kann: “Brunelleschi hat die Domkuppel gebaut.” Der Wandel der Sprache wie auch die biologische Evolution sind kollektive Phänomene. Für sie ist es kennzeichnend, daß Populationen an den Prozessen beteiligt sind. 1.3. Intentionen, Pläne und Bewußtsein Ein mancher glaubt, des Rätsels Lösung zu kennen. Sie lautet: “Natürlich ist die ‘mechanistische’ Version die korrekte; sie bedarf lediglich eines Zusatzes! ‘Die Sprecher verändern ihre <?page no="26"?> 26 Sprache’ klingt doch nur deshalb so unangemessen, weil die Sprecher ihre Sprache nicht intentional und planvoll verändern, sondern weil sie es unbewußt tun.” Wäre somit die folgende Aussage angemessen und korrekt? (1) “Die Sprecher verändern ihre Sprache; aber sie tun es nicht intentional und nicht planvoll, sondern unbewußt.” Ich denke, daß diese “Lösung” mehr Probleme aufwirft als sie löst. Das erste Problem besteht in der Tatsache, daß es sich hierbei um eine kollektivistische Aussage handelt. Was heißt es denn, von 80 Millionen Menschen zu sagen, sie täten etwas unbewußt? Was tut denn dann jeder einzelne unbewußt? Solange nicht die Logik des Zusammenhangs zwischen einer Kollektivaussage und den korrespondierenden Individualaussagen geklärt ist, ist eine solche Kollektivaussage ohne erklärende Kraft. Das zweite Problem besteht darin, daß in dieser Aussage drei Begriffe in verwirrender Weise zusammengebracht werden. Es handelt sich dabei um eine Begriffsverwirrung mit Tradition: Intentional, geplant und bewußt werden zusammen in einen Topf geworfen. Ich will zeigen, daß die Aussage nichts erklären kann, sondern sich bei genauem Hinsehen als nichtssagend und irreführend erweist. Beginnen wir mit dem Ausdruck intentional. Unter Handlungstheoretikern herrscht im allgemeinen Einigkeit darüber, daß Handlungen notwendigerweise intentional sind: Eine Aktivität einer Person als Handlung interpretieren heißt, ihr Intentionen zu unterstellen. Ich glaube, daß diese Aussage wahr ist und zweideutig. Zweideutig ist sie, weil “ihr” sowohl an “Person” als auch an “Aktivität” gebunden sein kann. Diese Zweideutigkeit ist allerdings ungefährlich, und zwar aus folgendem Grund: Eine Handlung hat einen Zweck, eine Person hat eine Absicht (und nicht ungekehrt). Die Formulierung der Absicht eines Handelnden ist immer zugleich eine Formulierung des Zwecks seiner Handlung. Die Absicht des Handelnden ist immer die Erfüllung des Zwecks seiner Handlung. (Dies ist keine Aussage über die Welt, sondern über die Semantik der Wörter Zweck und Absicht! ) Was als Erfüllung des Zwecks einer Handlung gilt, gilt also zugleich als Realisierung der Absicht des Handelnden. Deshalb <?page no="27"?> 27 ist es unschädlich, Intention in dem Sinne äquivok zu verwenden, daß man unter der Intention einer Handlung ihren Zweck und unter der Intention eines Handelnden dessen Absicht bei seinem Tun verstehen kann. Eine andere Zweideutigkeit ist nicht so ungefährlich: die Zweideutigkeit des Wortes Absicht. Ihr ist es zu verdanken, daß intentional bisweilen mit geplant verwechselt wird. Die auf ein zukünftiges Tun gerichtete Absicht ist nicht identisch mit der Absicht, in der eine Handlung vollzogen wird. Wenn ich sage, daß ich die Absicht habe, nächste Woche meinen Gartenzaun zu streichen, sage ich nichts darüber aus, in welcher Absicht ich den Zaun streichen werde. Ich sage damit nichts darüber aus, welchem Zwecke die Handlung des Streichens dient. Ich streiche den Zaun in der Absicht, ihn haltbarer zu machen. Meine heutige Absicht, nächste Woche den Zaun zu streichen, steht in keinerlei logischer Beziehung zu der Absicht, in der der Zaun gestrichen wird. Kurz: die Absicht, in der etwas getan wird, ist nicht zu verwechseln mit der Absicht, etwas zu tun. Die Absicht, den Zaun zu streichen, kann vage sein oder unwiderruflich. Die Absicht, in der der Zaun gestrichen wird, kann weder vage noch unwiderruflich sein. Eine Absicht, etwas zu tun, ist ein Vorsatz, ein Plan, eventuell eine Selbstverpflichtung. Die Absicht, in der eine Handlung vollzogen wird hingegen, betrifft die Logik des Handelns. Eine Handlung ist vollständig bestimmt, wenn das beabsichtigte Ergebnis und die beabsichtigte(n) Folge(n) der Handlung genannt sind. 19 Es ist hingegen eine Handlung in keiner Weise charakterisiert, wenn gesagt wird, daß ihr Vollzug beabsichtigt ist. Wenn wir für den Rest dieses Kapitels der Klarheit halber für die Absicht-in-der-etwas-getan-wird Absicht z (Zweck) und für die Absicht-etwas-zu-tun Absicht v (Vorsatz) schreiben, so können wir sagen, daß, wenn von der Intentionalität einer Handlung die Rede ist, ausschließlich die Absichten z von Interesse sind. Es mag biographisch interessant sein, welche meiner Absichten v ich in die Tat umsetzte, handlungstheoretisch stellt sich nur die Frage nach den Absichten z meiner Handlungen. 19 cf. Keller 1977, S. 19 <?page no="28"?> Eine Verwechslung der beiden Typen von Absichten schafft Verwirrung. Aus der Annahme, daß jede Handlung per definitionem beabsichtigt z ist, folgt nicht, daß es zu jeder Handlung eine Absicht v gab. Wenn ich mich anschicke, die Tür zu öffnen, so spreize ich den Daumen vom Zeigefinger, um die Klinke greifen zu können. Diese Handlung dient selbstverständlich einer Absicht z . Sie ist zweckorientiert, aber ich nehme sie mir weder jemals vor, noch plane ich sie. Die häufig vorgetragene These, daß jede Handlung geplant sei, daß es für jede Handlung einen Handlungsplan gäbe, beruht auf einer Verwechslung von Absicht z und Absicht v. Darüber hinaus führt diese Annahme geradewegs ins Verderben des iterativen Regresses: Da Planen eine Handlung ist, müßte, wenn jede Handlung geplant sein sollte, auch das Planen geplant sein und somit auch das Planen des Planens und das Planen des Planens des Planens usw. Natürlich ist dieses Argument mißgünstig. Ein Handlungsplantheoretiker 20 würde leugnen, daß Planen in seinem Sinne eine Handlung ist. Aber dann sollte er sagen, was Planen in seinem Sinne bedeutet. Halten wir also fest: Aus der Tatsache, daß etwas intentional war, folgt nicht, daß es geplant war. Der Sprachwandel könnte also intentional sein (was nicht der Fall ist! ), ohne geplant zu sein. Er könnte darüber hinaus sogar geplant sein (was manchmal der Fall ist! ), ohne intentional zu sein. Wie dies möglich ist, kann ich allerdings an dieser Stelle noch nicht erläutern (cf. Kapitel 4.4.). Intentional und geplant sind voneinander unabhängige Prädikate. Wenden wir uns nun unserem dritten Begriff zu: bewußt bzw. unbewußt. Die These, der Sprachwandel werde nicht intentional, sondern unbewußt vollzogen, legt einen Gegensatz nahe. Die Annahme, daß intentionale Phänomene notwendigerweise auch bewußte Phänomene seien, beruht vermutlich ebenfalls auf der Nichtunterscheidung von Absischt v und Absicht z . Denn was absichtsvoll v ist, ist auch notwendigerweise bewußt. Einen Vorsatz 28 20 cf. z.B. Wunderlich 1976, S. 37 f.; Ronneberger-Sibold 1980, S. 25, 33, 134, 135; Rehbein 1977 <?page no="29"?> 29 fassen heißt, sich bewußt etwas vornehmen. Hingegen ist mir längst nicht alles, was ich absichtsvoll z tue, bewußt. Bewußt ist uns sozusagen nur die große Linie: Wir haben bestimmte Handlungsziele, die wir zu erreichen suchen, die Tür öffnen, zur Arbeit fahren, den Zaun streichen etc. Sie sind allesamt komplexer Natur und uns (normalerweise) auch bewußt. In ihrem Dienste stehen jedoch eine Menge von Handlungen, die uns normalerweise nicht bewußt sind, obgleich sie auch absichtsvolle z Handlungen darstellen: die Hand öffnen, den Fuß vom Gaspedal nehmen, den Pinsel abstreifen etc. All diese Handlungen beherrschen wir blind. Solange das Kuppeln, Bremsen, Schalten und Lenken bewußte Handlungen sind, kann einer nicht gut Auto fahren. Es scheint so zu sein: Um bewußt fahren zu können, muß man z.B. unbewußt schalten können; um bewußt reden zu können, muß man unbewußt einen Relativsatz konstruieren können. Wir müssen unser Bewußtsein für das Wesentliche freihalten. Wir vollziehen also ständig intentionale Handlungen, die uns unbewußt sind. Auf der anderen Seite gibt es Verhaltensweisen, Ticks etc., die nicht intentional, aber bewußt sind. Mir ist normalerweise bewußt, wenn ich erröte, zittere oder niese. Wir können also festhalten: Intentional und bewußt sind ebenfalls voneinander unabhängige Prädikate. Intentional (im Sinne von absichtsvoll z ) dient der handlungslogischen Charakterisierung, bewußt dient der psychologischen Charakterisierung. Das Fazit ist: Intentional und planvoll sind keine Synonyme; intentional und unbewußt sind keine Gegensätze. Damit wird aber unsere Aussage (1) zu einer schlichten Aufzählung von Negativeigenschaften: Die Sprecher verändern ihre Sprache nicht intentional, nicht planvoll und nicht bewußt. Diese Aussage ist in der Tat im großen und ganzen wahr. Das ist aber auch alles. Was wir suchen, ist eine positive Antwort auf die Frage, wie und warum unsere Sprache, möglicherweise jede Sprache, möglicherweise mit Notwendigkeit durch die Sprecher ständig verändert wird. <?page no="30"?> 30 1.4. Wesen, Wandel und Genese Das Problem stellt sich also folgendermaßen dar: Wir kommunizieren so, wie wir eben kommunizieren; Wichtiges, Belangloses, schriftlich, mündlich, Privates, Öffentliches etc. An die Sprache selbst denken wir dabei im allgemeinen so wenig, wie wir beim Einkaufen an die Inflation denken. Durch eben dieses tägliche millionenfache Benutzen unserer Sprache verändern wir sie ständig; oder vorsichtiger gesagt: erzeugen wir eine permanente Veränderung unserer Sprache. In der Regel beabsichtigen wir dies nicht. Es ist den meisten von uns gleichgültig. Die meisten Veränderungen bemerken wir gar nicht. Einige finden wir ärgerlich oder unschön, andere halten wir für wünschenswert; aber eine bestimmte Veränderung können wir im allgemeinen weder gezielt verhindern noch gezielt hervorbringen. (Auf den Einfluß gezielter Sprachpolitik und Sprachplanung werde ich in einem späteren Kapitel gesondert eingehen (cf. Kapitel 4.4.)). Die Frage ist also: Wieso erzeugen wir durch unser tägliches Kommunizieren einen Wandel? Welches sind die Mechanismen dieser ständigen Veränderung? Auf einen Faktor wurde traditionellerweise deutlich hingewiesen: die Artikulationsökonomie. Aber wenn das der einzige die Entwicklung bestimmende Faktor wäre, sollten Sprachen im Laufe der Zeit immer “ökonomischer” werden, was evidentermaßen nicht der Fall ist (cf. Kapitel 4.5. und 5.1.). Wenn wir wüßten, welches die Mechanismen des sprachlichen Wandels sind, wüßten wir mehr über unser tägliches Kommunizieren. Denn offenbar kommunizieren wir doch auf eine Art und Weise, die die Veränderung unseres Kommunikationsmittels bewirkt. Dies schließt nicht aus, daß es unfunktionale Zufallsprozesse gibt. Aber die sind per definitionem nicht erklärbar. (1) Wenn wir wüßten, wozu wir Sprache verwenden, wüßten wir, warum sich durch unser Kommunizieren unsere Sprache ändert. Die Frage, auf welche Weise der Prozeß des Wandels unserer Sprache vonstatten geht, ist somit keine historische, sondern eine systematische. Die Veränderungen von morgen sind die Folgen unseres Kommunizierens von heute. Eine Theorie des Wandels <?page no="31"?> 31 21 Ullmann-Margalit 1978, S. 280 ist also zugleich eine Theorie der Funktion(en) und Prinzipien unseres Kommunizierens. Die Kenntnis der Mechanismen des Wandels hat einen funktionsanalytischen Aspekt. (2) Wenn wir wüßten, warum sich unsere Sprache ständig wandelt, wüßten wir, wozu wir sie verwenden. Satz (2) ist die Umkehrung von Satz (1). Die Kenntnis der Funktion(en) eines Gegenstandes ist eng verwandt mit der Kenntnis, warum es diesen Gegenstand gibt. (3) Wenn wir die Funktionen unseres Kommunizierens kennen würden, wüßten wir etwas über die Logik der Genese unserer Sprache. Eine Theorie der Entstehung von Geld impliziert eine Theorie der Funktion von Geld. Für den Bereich der sozialen Institutionen gilt dieser Zusammenhang in besonderer Weise, wenn auch nicht mit Notwendigkeit. Eine Institution kann ehedem aus Funktionen heraus entstanden sein, die von den Funktionen, die ihre heutige Fortdauer begründen, verschieden sind. Es könnte sein, daß aus einer Methode, Schlachten zu simulieren, das Spiel namens “Schach” entstanden ist. Wenn alte Funktionen obsolet geworden sind, muß die betreffende Institution nicht notwendigerweise untergehen; sie kann “umfunktioniert” werden. “This relation between the functional analysis of an item and a causal-genetic account of its presence, although often close (…), is by no means necessary”, schreibt Edna Ullmann-Margalit. 21 Dies ist nur als Warnung vor voreiligen Schlüssen zu verstehen, nicht als Versuch, den Zusammenhang von Funktionsanalyse und Theorie der Genese herunterzuspielen. Einen solchen Zusammenhang finden wir sowohl bei Artefakten als auch in der belebten Natur. Wenn ich die Funktion der Windrispe in einer Dachstuhlkonstruktion kenne, habe ich zugleich eine gute Hypothese darüber, warum sie “da ist”. Wenn ich die Funktion der Niere kenne (um Ullmann- Margalits Beispiel aufzugreifen), habe ich eine gute Hypothese darüber, warum sie “entstanden” ist. (Auf die fundamentalen Unterschiede des evolutionären Entstehens der Niere und des handwerklichen Entstehens von Dachstühlen will ich hier nicht <?page no="32"?> eingehen.) In ganz besonderer Weise gilt dieser Zusammenhang für soziale Phänomene und Institutionen wie Recht, Geld, Märkte, Moral oder Sprache. Ich will versuchen, dies an einem Beispiel zu exemplifizieren. In einer Fotoserie mit dem Titel “10 Minuten vor dem Centre Pompidou” hat der Architekt Hans Nickl 22 die Genese einer Struktur festgehalten (Abb. 1). Schaulustige formieren sich auf dem Platz vor dem Centre Pompidou in Paris zu zwei Ringen, um zwei Gruppen von Straßenkünstlern oder Gauklern zuzuschauen. Es handelt sich hierbei um die Dokumentation der Genese eines - wenn man so will - einfachen Beispiels einer sozialen Struktur. Die Struktur entsteht wie der Wandel unserer Sprache, ohne Plan, ohne Verabredung; sie entsteht spontan. Man nennt so etwas eine spontane Ordnung. 23 Keiner der Schaulustigen wird das Entstehen eben dieser Struktur beabsichtigt haben. Die meisten werden überhaupt nicht bemerkt haben, daß sie durch ihr Handeln zur Genese einer solchen Struktur beigetragen haben. Den meisten wird das gleichgültig gewesen sein. Was ich nun anhand dieses Beispiels behaupten und exemplifizieren möchte, ist dies: Man kann das Wesen dieser sozialen Struktur nicht verstehen, wenn man die Logik ihrer Genese nicht verstanden hat. Dazu ist es wiederum notwendig, die Funktion des Handelns der an der Struktur beteiligten Individuen zu begreifen. Eine nur geometrische Beschreibung der erzeugten Struktur würde nicht zu ihrem Verständnis führen. Die gleiche Geometrie könnte von einer Kompanie Soldaten gebildet werden, die von ihrem Kompaniechef den Befehl erhalten hat, sich in der-und-der Weise in Kreisen mit etwa dem-und-dem Durchmesser aufzustellen. Die beiden Strukturen, die auf der Fotografie und die fiktive, könnten more geometrico identisch sein; aber als soziale Phänomene wären sie ihrem Wesen nach grundverschieden. Eine Struktur, wie die abgebildete, entsteht offenbar dadurch, daß jeder einzelne, der zu ihrer Entstehung beiträgt, seinen Platz nach der Maßgabe wählt, daß er 22 Nickl 1980. Den Hinweis auf diese Abbildung verdanke ich Bruno Strecker. 23 cf. von Hayek: “Bemerkungen über die Entwicklung von Systemen von Verhaltensregeln” in von Hayek 1969 32 <?page no="33"?> 33 24 cf. von Hayek 1956. Diesen Literaturhinweis verdanke ich V. Vanberg. (a) möglichst gut sieht, (b) sich nicht exponiert und (c) einer gewissen Anzahl von Menschen ermöglicht, ebenfalls möglichst gut zu sehen. Dies muß man wissen, um diese Struktur zu verstehen. (Kindergarten-Kinder würden vermutlich nur nach der Maxime (a) handeln und auf diese Weise eine ganz andere Struktur, nämlich Menschenknäuel, erzeugen.) Ein Gegenstand (im allgemeinsten Sinne) verhält sich zu seiner Funktion wie eine Handlung zu ihrem Zweck bzw. (was synonym damit sein soll) zu ihrer Intention. Somit ist bei sozialen Phänomenen wie diesem die Analyse der Handlungszwecke konstitutiv für das Verständnis der erzeugten Struktur. Zugleich ist das Verständnis der Erzeugungsweise konstitutiv für das Verständnis der Struktur selbst. Daß die Analyse der Handlungszwecke auch konstitutiv für das Verständnis des Wandels ist, läßt sich an diesem Beispiel weniger gut zeigen, da es sich um eine stabile Struktur handelt. Das heißt aber nichts anderes als dies: Die genannten Handlungsfunktionen (a) bis (c) erzeugen eine Struktur, die (relativ) stabil ist. Wenn die Leute ausschließlich nach Maßgabe (a) handeln würden (wie Kindergarten-Kinder), so würde vermutlich eine sich ständig wandelnde Struktur entstehen, nämlich ein ständiges Gedränge nach vorne. Ich habe, und darauf will ich ausdrücklich hinweisen, nur von Funktionen der Handlungen gesprochen; nicht von der Funktion der Kreisstruktur. Das hat seinen guten Grund. In einem abgeleiteten Sinne kann man ja auch der Kreisstruktur die Funktion zusprechen, 24 einer gewissen größeren Anzahl von Menschen passable Zuschaumöglichkeiten zu gestatten. Daß die Funktion der Struktur mit der Funktion der sie erzeugenden Handlungsweise auf diese Art korrespondiert, daß die Struktur die Erfüllung der Funktion der Handlungen erlaubt, ist nicht selbstverständlich. Weil es in unserem Beispiel der Fall ist, ist die Struktur relativ stabil. Daß es auch anders sein kann, zeigt das Beispiel des Kinderverhaltens. Ein Handeln ausschließlich nach Zweck (a) <?page no="34"?> 34 Abbildung 1 <?page no="35"?> 35 <?page no="36"?> führt gerade nicht zu einer Struktur, die diesen Zweck zu erfüllen imstande ist. Darin ist ihre Instabilität begründet. Eine solche Struktur hat Eigenschaften, die Friedrich Engels der Geschichte zuschreibt: “Was jeder einzelne will, wird von jedem anderen verhindert, und was herauskommt, ist etwas, das keiner gewollt hat.” 25 In den nächsten Kapiteln möchte ich die Zusammenhänge von Fragen nach dem Wesen, der Genese und dem Wandel in bezug auf die Sprache näher verfolgen. Ich werde, wie es sich gehört, mit dem Ursprung der Sprache beginnen. 25 Engels an Joseph Bloch am 21./ 22.9.1890. Marx/ Engels 1967, Werke Bd. 37, S. 464 36 <?page no="37"?> 37 2. Vermutende Geschichte 2.1. Sprachursprung. Eine Geschichte und ihre Interpretation Die Societé de Linguistique de Paris, die im Jahre 1865 gegründet worden war, machte mit einem Problem, das mehr als einhundert Jahre die europäische Sprachphilosophie umgetrieben hatte, kurzen Prozeß: Sie legte in Artikel II ihrer Satzung fest, daß keine Vorträge und Arbeiten akzeptiert würden, die den Sprachursprung zum Gegenstand haben. 26 Man hatte sozusagen die Nase voll vom wilden Denken à la Condillac, Süßmilch, Herder und wie sie alle hießen. Um am Prestige der Naturwissenschaften teilhaben zu können, mußten sich die Sprachforscher der Empirie verpflichten. “We have to investigate what is”, sagte der Präsident der Philological Society of London, Alexander J. Ellis in einer programmatischen Rede im Jahre 1873. 27 Inzwischen ist ein weiteres Jahrhundert vergangen, und wir können uns dem Problem des sogenannten Ursprungs der Sprache wieder etwas unbelasteter nähern. Ich werde eine Geschichte erzählen, ein Märchen von einem Affenmenschen. Das Vorbild zu dieser Geschichte stellt Streckers Geschichte von den Kleinweltnern dar. 28 Es handelt sich wirklich um ein Märchen, nicht um die Rekonstruktion vergangener Wirklichkeit. Welchen Wert ein solches Märchen haben kann, werde ich im Anschluß daran erörtern. Es war einmal eine Horde von Affenmenschen. Affenmenschen, das sind Leute, die das Stadium des Affe-Seins gerade 26 Bulletin de la Societé de Linguistique de Paris I (1871), p. III. cf. Stam 1976, S. 259 27 Zit. nach Stam 1976, S. 259 28 Strecker 1987. Cf. auch Heringer 1985 <?page no="38"?> 38 hinter sich gelassen haben, aber noch nicht so weit sind, daß man sie einfach zu den Menschen zählen dürfte. Denn Affenmenschen haben keine Sprache. Die Affenmenschen verfügen aber, wie ihre nächsten Verwandten, die Menschenaffen, über ein reichhaltiges Repertoire von Lautäußerungen. Die Choleriker unter ihnen keiften und knurrten, wenn sie zornig waren, die Angeber schlugen sich auf die Brust und röhrten, wenn sie imponieren wollten. Sie bleckten die Zähne, wenn sie etwas lustig fanden, hatten Knurrlaute der Behaglichkeit - und sie hatten einen gellenden Schrei der Angst. All diese Äußerungen waren noch weit davon entfernt, sprachliche Zeichen zu sein. Sie dienten nicht der Kommunikation in unserem heutigen menschlichen Sinne, sondern waren der natürliche Ausdruck innerer Ereignisse; Symptome des Gefühlslebens, unserem Angstschweiß vergleichbar, oder dem Lachen, Weinen oder Erröten. Mit solchen Erscheinungen kommuniziert man nicht über seine Gefühle, aber sie verraten unter Umständen etwas darüber. Symptome können ähnliche Effekte hervorrufen wie sprachliche Zeichen. In dieser Horde war ein Affenmensch, der von der Natur etwas benachteiligt war. Er war kleiner, schmächtiger als die andern und überaus ängstlich. Wir wollen ihn Karlheinz nennen. Karlheinz war aufgrund seiner schwächlichen Natur von Kind an darauf angewiesen, in vielem ein bißchen gewitzter zu sein als die andern. Er mußte die mangelnde körperliche Kraft und seinen geringeren sozialen Status ausgleichen, wenn er sich nicht hoffnungslos von den andern unterbuttern lassen wollte. So kam es vor, daß die Stärkeren ihn einfach vom Futterplatz verscheuchten; an die Leckerbissen ließen sie ihn ohnehin nie ran. Aber mit seiner Behendigkeit und seiner schnellen Auffassungsgabe konnte er manche Benachteiligung oft auch kompensieren. Eines Tages ereignete sich ein Zwischenfall, der von entscheidender Bedeutung für die Zukunft der gesamten Affenmenschheit werden sollte. Die Horde verweilte friedlich an ihrem Futterplatz, die Ausbeute des Tages verzehrend. Wie immer gab es kleinere Rangeleien und gelegentliches Geschubse. Karlheinz war wieder einmal ziemlich an den Rand gedrängt, als er durch das Laubwerk einer Hecke das Augenpaar eines Tigers erblickte. <?page no="39"?> 39 Ihre Blicke hatten sich getroffen. Zu Tode erschrocken stieß Karlheinz einen schrillen Angstschrei aus. Im selben Augenblick stob die Horde auseinander. Ein jeder suchte die Rettung auf dem nächstgelegenen Baum, denn ein Angstschrei ist Symptom einer akuten Gefahr. Darauf waren sie alle von Kindesbeinen an konditioniert. Karlheinz war wie versteinert. Das Erlebnis unmittelbarer Todesnähe hatte ihn zur Flucht unfähig gemacht. Zu seiner vollständigen Verblüffung jedoch schlossen sich die beiden Tigeraugen zu einem ganz untigerhaften Blinzeln, und ihr Besitzer trabte irritiert davon. Die vermeintlichen Tigeraugen gehörten einem harmlosen Buschschweinchen. Karlheinz war das Opfer seiner lebhaften Fantasie und ängstlichen Natur geworden. Ist “Opfer” das richtige Wort? Als Karlheinz verstört, hilflos und ein wenig verschämt um sich blickte, sah er, daß er ganz alleine war; alleine mit all dem Fressen, das die anderen bei ihrer Flucht zurückgelassen hatten. Der Ausdruck der Angst auf seinem Gesicht wich einem Lächeln, nachdenklich und ein wenig schelmisch zugleich. Noch konnte er es nicht ganz fassen. Tage und Wochen gingen dahin, und immer wieder beim täglichen Gerangel um die besten Stücke der Beute kam die Versuchung über ihn, was ihm versehentlich passierte, nun willentlich zu tun. Was Karlheinz nicht ahnen konnte, war, daß sich mit dieser Versuchung bereits das Ende des paradiesischen Zustandes naturhaften Kommunizierens abzeichnete. Und schließlich kam, was kommen mußte. Wieder einmal mußte er mitansehen, wie die feisten Bonzen der Horde die besten Stücke unter sich aufteilten, während er in ohnmächtiger Wut und hungrig abseits hockte. Da erlag er der Versuchung. Er stieß einen gellenden Schrei der Angst aus, und wiederum war in Sekundenschnelle die Horde samt dieser widerlichen Bonzen wie vom Erdboden verschwunden. Da lagen sie nun, die Leckerbissen, in Hülle und Fülle. Vor lauter Aufregung fand Karlheinz gar nicht die Ruhe, sie auch wirklich zu genießen. (Vielleicht hinderte ihn auch sein schlechtes Gewissen daran.) Aber der erste Schritt war getan, und beim nächsten Mal fiel es Karlheinz bereits leichter. Mit der Zeit wurde <?page no="40"?> er nachgerade kaltschnäuzig. Er fand Gefallen an seinem Trick und übertrieb. So konnte es nicht ausbleiben, daß ihm bald einer auf die Schliche kam. Als Karlheinz aus purem Leichtsinn bereits zum zweiten Mal am selben Nachmittag seinen Angstschrei produzierte, blieb dieser andere nach ein paar fluchtartigen Sprüngen unversehens hocken, schaute zurück und machte sich sodann ebenfalls über die Nahrung her. Karlheinz war ein wenig irritiert, aber nicht sonderlich gestört, denn für zwei reichte es allemal. Bald aber begann der Mitwisser sein Wissen auch praktisch zu nutzen und - wie Karlheinz - ebenfalls zu übertreiben. Die Zahl derer, die die Täuschung durchschauten, und schließlich auch die der Nachahmer wuchs geradezu inflationär an. Das Gemeinwesen durchlebte eine äußerst kritische Zeit. Die naturhafte Kommunikation hatte ihre Unschuld verloren. Jeder mißtraute jedem. Die Bonzen versuchten die alte Ordnung wieder zu restaurieren, indem sie jeden Mißbrauch des Warnschreis ahndeten. Aber einmal erworbenes Wissen läßt sich nie wieder tilgen. Es wurde vielmehr durch jeden neuen Mißbrauch wie durch jeden Ahndungsversuch von neuem ins Gedächtnis zurückgerufen. Der ständige Mißbrauch des Angstschreis stellte eine Gefahr für den physischen Bestand der ganzen Horde dar. War es doch überlebensnotwendig gewesen, dem Schrei der Angst blind vertrauen zu können. Damit war nun ein für allemal Schluß. Wer bestehen wollte in dieser korrupten Zeit, mußte hellhörig sein. Er mußte lernen, den echten Angstschrei von der Fälschung zu unterscheiden, was sich für die meisten nicht als allzu schwierig erweisen sollte. (Wie wir aus unseren eigenen Erfahrungen und unserem Umgang mit kleinen Kindern wissen, ist nichts schwieriger, als gekonnt zu heucheln; als täuschend echt Gefühle auszudrücken, die man nicht empfindet! ) Je mehr gelernt hatten, das Original von der Fälschung zu unterscheiden, desto seltener war Karlheinzens Trick Erfolg beschieden. Karlheinz war der Resignation nahe. Nahezu alle wußten, daß Karlheinz mit seinem Schrei nichts anderes wollte, als die anderen zum Abhauen zu bewegen. Dieses Wissen führte natürlich zunächst dazu, daß sie bei jedem Angstschrei erst einmal einen prüfenden Blick auf die Szene warfen, ehe sie sich entschlossen zu fliehen oder zu bleiben. Zugleich eröffnete dieses Wissen eine völlig neue Di- 40 <?page no="41"?> 41 mension affenmenschlichen Zusammenlebens! Der Zusammenbruch der Möglichkeit, mit dem Angstschrei zu täuschen, war die Geburt der Möglichkeit einer neuen Form des Kommunizierens. Und wieder war Karlheinz wesentlich beteiligt. Wieder einmal, in gewohnter Manier, war die ganze Horde versammelt am Futterplatz, um sich über die gesammelte und erjagte Beute herzumachen. Und wieder einmal herrschte eher Not als Überfluß. Die, die ohnehin zu fett waren, saßen wie immer in der Mitte und machten die Sache unter sich aus. Ein paar minderwertige Stücke gaben sie gnädig ab an das Volk ihrer Weiber, die davon auch noch ihre Kinder zu ernähren hatten, während die anderen, und es war der überwiegende Teil der Horde, mit dem auskommen mußten, was sie sich ergattern konnten. Darauf, daß die Bonzen etwas übriglassen würden, darauf konnten sie an einem Tag wie heute nicht hoffen. Karlheinz hatte längst aufgehört, den Trick mit dem Angstschrei noch einmal zu versuchen. In einer angespannten Atmosphäre wie der heutigen hätte er sich damit nur noch unbeliebter machen können, als er ohnehin schon war. Und im übrigen hätte er unnötigerweise die Aufmerksamkeit der anderen auf sich gelenkt. Denn auch das hatte er gelernt: Wenn man sich in solch einer Situation etwas ergattern wollte, mußte man es möglichst heimlich tun; unauffällig heranmachen, dann ein schneller Griff und nichts wie weg. Die Bonzen wußten sich dieser lästigen flinken Schar von Dieben kaum zu erwehren. Scheuchte man links einen weg, wurde von rechts etwas geklaut. Da geschah es: Bebend vor Zorn und Entnervung richtete sich einer der Bonzen auf, wandte drohend seinen Blick auf die Schar der Habenichtse, wobei er besonders Karlheinz fixierte, und stieß brüllend den Schrei der Angst aus. Er, der bisher von diesem Trick nie Gebrauch gemacht hatte, weil er es nicht nötig hatte, er griff im Zustand der blanken Wut zu diesem Mittel, um Karlheinz und Konsorten deutlich zu machen, daß er wollte, daß sie verschwinden. Er brauchte sich nicht zu bemühen, den Schrei besonders echt hervorzubringen. Die, denen es oft gelungen war, ihn damit hereinzulegen, würden schon erkennen, was er damit beabsichtigte. Im Gegenteil, sein Schrei sollte als Imitation des Angstschreis kenntlich sein, damit er seinen Zweck erfüllte. <?page no="42"?> 42 29 Zitiert nach Arens 1969, S. 120. Die Frage lautete im Original: “En supposant les hommes abandonnés à leurs facultés naturelles, sont-ils en état d’inventer le langage? ” Denn den Eindruck tatsächlicher Angst wollte er Karlheinz und den anderen gegenüber nun wirklich nicht erwecken. Es mußte deutlich sein, daß der Schrei nicht Reflex seiner Angst, sondern Ausdruck seines Willens war. Der Schrei des Bonzen war die erste kommunikative Handlung, die je vollzogen worden war; die erste Äußerung, die im vollen Sinn des Wortes ein Fall von Kommunikation war. Zugegeben, vom Schrei des Bonzen bis zur Regierungserklärung eines Bundeskanzlers war noch ein weiter Weg. Aber das schwierigste Stück war geschafft. Das Märchen von Karlheinz erhebt keinen Realitätsanspruch. Aber es sagt etwas über die Realität aus. Es zeigt, wie der Übergang vom naturhaften Kommunizieren hätte vonstatten gehen können. Es handelt sich nicht um eine historische Rekonstruktion, sondern um eine philosophische. Nicht die Fakten sollen stimmen, sondern die logischen Eigenschaften der Geschichte. Dazu gehört: (i) die Schritte vom naturhaften Angstschrei zum intentionalen kommunikativen Akt müssen plausibel sein. Die Herleitung darf weder Löcher noch Sprünge enthalten; und (ii) die Voraussetzungen, die bezüglich der Fähigkeiten der Affenmenschen gemacht werden, müssen realistisch sein. Die Geschichte würde wertlos sein, wenn sie Karlheinz unrealistisch große intellektuelle Fähigkeiten unterstellen würde. Betrachten wir für einen Augenblick die gedanklichen Probleme, mit denen sich die Sprachursprungstheoretiker des 18. Jahrhunderts herumzuschlagen hatten. Sie sind der Preisfrage, die die preußische Akademie der Wissenschaften im Jahre 1769 gestellt hat, anzusehen. Sie lautete: “Sind die Menschen, wenn sie ganz auf ihre natürlichen Fähigkeiten angewiesen sind, imstande, die Sprache zu erfinden? (…)” 29 Wer sich auf diese Frage einläßt, ist verloren. Er gerät in das Dilemma, das Johann Peter Süßmilch 1766 in hinreichender Klarheit formuliert hat: “Die Sprache ist das Mittel zum Gebrauch der Vernunft zu gelangen, ohne Sprache oder andere gleichgültige Zeichen ist keine Ver- <?page no="43"?> 43 nunft. Wer also die Werke des Verstandes will hervor bringen, der muß sich im Gebrauch der Sprache befinden. (…) Die Sprache, oder der Gebrauch der lautbaren Zeichen ist ein Werk des Verstandes. (…) Folglich hat derjenige, welcher die Sprache gebildet hat, sich schon im Gebrauch der Vernunft befinden müssen. Könnte der Mensch für den Erfinder angenommen werden, so müßte er sich schon vor Erfindung der Sprache in dem Gebrauch einer Sprache befunden haben (…) welches doch als unmöglich erwiesen ist.” 30 Süßmilch hat aus diesem Dilemma den Schluß gezogen, daß die Sprache dem Menschen nur von Gott gegeben sein kann. Zu dem Gedanken, daß die Sprache keinen Ursprung hat, sondern Ergebnis eines evolutionären Prozesses ist, war man zu Süßmilchs Zeiten noch nicht fähig. Die Frage ist ja nicht, wie ein voll entwickelter Mensch zu einer voll entwickelten Sprache gekommen ist, sondern wie aus der tierhaften Kommunikationsfähigkeit von Vormenschen menschliche Kommunikationsfähigkeit von Menschen werden konnte. Unser Märchen zeigt einen Weg. Wir brauchen nicht den Anspruch zu erheben, daß es vermutlich oder mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit so war. Es genügt, wenn es logisch möglich ist, daß es so war; wenn es nicht ausgeschlossen ist, daß es so war. Was heißt “so” war? Das “so” bezieht sich ausschließlich auf den Sukzeß der Schritte. Die Entwicklung erstreckte sich in Wahrheit vielleicht über eine Million Jahre. Ist es nicht ein bißchen wenig, wenn es uns lediglich gelingt, eine mögliche Logik der Abfolge der Schritte zu rekonstruieren? Eine Rekonstruktion einer Logik der Abfolge der Schritte der Sprachentstehung ist mehr als eine Theorie der Entstehung der Sprache. Sie ist zugleich eine Theorie des Wesens der Sprache; eine Theorie dessen, was wir “Kommunikation im menschlichen Sinne” zu nennen bereit sind. Anthropologen der Neuzeit wie Sprachphilosophen des 18. Jahrhunderts haben bei ihren Überlegungen zum Sprachursprung eines stets vergessen: Wer sich darüber Gedanken machen will, wie oder wann der Mensch zur Sprache im menschlichen Sinne gekommen sein konnte, der muß sich darüber Gedanken machen, was er als Sprache in unserem Sinne zu akzeptieren bereit ist. Es genügt ja nicht, Kehlkopfbil- 30 Süßmilch 1766, Vorrede, ohne Seitenzahl <?page no="44"?> dungen und Gehirnvolumina von Vor- und Frühmenschen zu untersuchen, um sich dann die Frage zu stellen, ob sie möglicherweise bereits Sprache gehabt haben können. Kommunizieren in irgendeinem Sinne können vermutlich alle tierischen Lebewesen. Somit kommt es darauf an, darzulegen, welche Art und Weise zu kommunizieren als Kommunizieren im menschlichen Sinne verstanden werden kann. “Kommunizieren im menschlichen Sinne” ist nicht gleichbedeutend mit “über eine Sprache im menschlichen Sinne verfügen”. Die Fähigkeit zur Kommunikation ist dem Sprachbesitz logisch vorgängig. Eine Sprache erleichtert das Kommunizieren, ist aber nicht Bedingung seiner Möglichkeit. Kommunizieren unter Zuhilfenahme konventioneller Mittel, wie z.B. sprachlicher Zeichen, ist ein spezieller Fall von Kommunikation; wenngleich es heutzutage für uns die normale und überwiegend praktizierte Art und Weise zu kommunizieren ist. Sie ist uns so geläufig, daß bei vielen sogar die Meinung vorherrscht, das gemeinsame Verfügen über einen Zeichenvorrat sei die logische Voraussetzung (die Bedingung der Möglichkeit) dafür, überhaupt kommunizieren zu können. Wenn dem so wäre, ließe sich weder das phylogenetische Problem, wie wir als Art zur Sprache kamen, noch das ontogenetische Problem, wie kleine Kinder ihre Muttersprache erwerben können, sinnvoll stellen. Denn die Bildung von Regelhypothesen setzt (unter anderem) gelungene Kommunikation voraus. Das Märchen von Karlheinz stellt nicht die Entstehung einer Sprache dar, sondern die Voraussetzung dazu: die Entstehung und das Wesen der Fähigkeit zu kommunizieren im menschlichen Sinne. Die Genese dieser Fähigkeiten vollzieht sich in sieben Stufen, die wir nun der Reihe nach betrachten wollen. Die erste Stufe Karlheinz besitzt, wie alle anderen Mitglieder der Horde auch, die Fähigkeit, einen Angstschrei hervorzubringen. Dieser Angstschrei steht ihm nicht zur Disposition. Er ist eine Reaktion auf die Wahrnehmung von Gefahr. Die Affenmenschen sind weder in 44 <?page no="45"?> 45 31 cf. Wilson 1975, S. 581 der Lage, ihn willentlich hervorzubringen, noch ihn willentlich zu unterlassen (etwa um den Feind nicht auf sich aufmerksam zu machen). Ebenso ist es mit dem Fluchtverhalten. Es ist die Reaktion auf die Wahrnehmung des Angstschreis. Das Ganze hat den Charakter einer Kettenreaktion: Die Wahrnehmung der Gefahr löst den Schrei aus, und die Wahrnehmung des Schreis löst das Fluchtverhalten aus. Der Schrei ist natürliches Anzeichen, Symptom der Angst; er ist Teil des Angstverhaltens, wie etwa bei uns Schweißausbruch, Harndrang oder Blaßwerden Teil des Angstverhaltens sein können. Die Reaktionskette von der Wahrnehmung der Gefahr bis zur Flucht ist typisches Beispiel für natürliche Kommunikationsprozesse, wie sie in der belebten Natur allenthalben vorkommen: Kommunikation zwischen zwei tierischen Artgenossen A und B liegt genau dann vor, wenn A eine Verhaltensweise zeigt, die die Wahrscheinlichkeit des Auftretens einer bestimmten Verhaltensweise bei B verändert. 31 Die Wahrscheinlichkeit, daß ein Affenmensch schnellstmöglich auf den nächsten Baum klettert, wird durch den Angstschrei verändert, nämlich äußerst hoch. Im Unterschied zur Kommunikation im menschlichen Sinne ist der Angstschrei weder an jemanden gerichtet, noch zielt er darauf ab, verstanden zu werden. Denn er zielt auf überhaupt nichts ab. Die zweite Stufe Karlheinz täuscht sich. Das kann jedem passieren und ist nicht das Entscheidende. Entscheidend ist, daß er erkennt, daß er sich getäuscht hat und damit erlebt, daß die Ursache des Fluchtverhaltens der anderen nicht die Gefahr darstellt, sondern der Schrei. War für ihn, wie für die anderen auch, bislang Gefahr- Schrei-Flucht ein komplexes, sozusagen ganzheitliches Erlebnis, so war er nun im Begriff, folgende beiden Erfahrungen zu machen: <?page no="46"?> 46 1. Schreien kann ich auch, ohne daß Gefahr gegenwärtig ist, und 2. das Fluchtverhalten der anderen ist eine Folge des Schreis und nicht der Gefahr. Noch ist es eher eine Ahnung als eine Erfahrung. Mit dieser Ahnung bahnt sich das an, was Linguisten “Versetzung” (“displacement”) 32 nennen, die Fähigkeit, einen Ausdruck in Abwesenheit seines Referenten zu artikulieren. Auch Menschenkinder verfügen über diese Fähigkeit noch nicht mit den ersten Wörtern. Diese beiden Erfahrungen sind die notwendige Voraussetzung dafür, einen Laut intentional hervorzubringen. Wem es “unwahrscheinlich” erscheint, daß Karlheinz beide Erfahrungen zugleich zu machen imstande war, der kann die Geschichte “verlangsamen”, indem er ihn zunächst nur diese erste Erfahrung machen läßt. Karlheinz könnte diese Erfahrung erst aus einem Spieltrieb ein paarmal wiederholen, um dann allmählich die zweite Entdeckung zu machen. Die dritte Stufe Karlheinz macht sich die beiden Erfahrungen zunutze. Er bringt den Angstschrei hervor in der Absicht, bei den anderen ein Fluchtverhalten auszulösen, um die Nahrung für sich alleine zu haben. Damit hat zum ersten Mal ein Affenmensch eine Handlung vollzogen. Aber sie war noch weit davon entfernt, eine kommunikative Handlung zu sein. Die Handlung war zwar intentional und gerichtet; das bringt sie in die Nähe einer kommunikativen Handlung. Aber sie zielte nicht darauf ab, verstanden zu werden; das unterscheidet sie von einer kommunikativen Handlung. Karlheinzens Handlung ist ein Beispiel für folgendes Schema: S tut a in der Absicht, (1) H zu der Reaktion r zu bringen. Es ist in unserem Schema (1) nichts darüber gesagt, auf welche Weise die intendierte Reaktion zustande kommt. In unserem 32 Lyons 1977/ 1980, S. 94. Siehe auch Hockett, Altmann 1968. <?page no="47"?> 47 Falle wird man annehmen können, daß das Fluchtverhalten eine konditionierte Reaktion auf den Angstschrei ist. Auch Menschen handeln bisweilen nach Schema (1): in die Hände klatschen, um Spatzen zu vertreiben; eine halbnackte Frau auf einem Werbeplakat abbilden, um die Blicke auf das Plakat zu lenken, sind Beispiele dafür. Die vierte Stufe Karlheinz übertreibt die Häufigkeit seiner Täuschung und setzt damit zunächst einen Prozeß der Abstumpfung in Gang. Die Konditionierung wird gelockert. Es entsteht das, was man “verzögerte Reaktion” nennt. Einer flieht nicht mehr blind. Zwischen die Wahrnehmung des Schreis und die Flucht tritt ein Moment der Vergewisserung. Damit ist eine große Entdeckung verbunden, die Karlheinzens Entdeckung in der zweiten Stufe ähnlich ist. Der, der nicht mehr blind flieht, erlebt und macht die Erfahrung, daß seine Flucht nicht mehr von einer Gefahr ausgelöst wurde, sondern von einem Schrei; bzw. daß Gefahr und Schrei nicht notwendigerweise Teil einer einzigen Situation sind. Er entdeckt, von der Seite des Hörers, was Karlheinz von der Seite des Schreiers entdeckt hatte. Diese beiden aufeinander bezogenen Entdeckungen sind entscheidende Schritte auf dem Weg vom zwanghaften Reiz-Reaktions-Verhalten zu freiem kommunikativen Handeln. Sie bedeuten die Befreiung von der Macht des Stimulus. War der andere erst einmal vom Zwang zu fliehen befreit, konnte er auch bald den Trick selbst anwenden. Er war damit vom Mitesser zum Mitwisser geworden. Die fünfte Stufe Wenn erst einmal jemand nach dem Schrei auf Flucht verzichtet hat, wird die Entdeckung der Freiheit vom Stimulus des Schreis bald Schule machen. Das Moment der Vergewisserung, verzögerte Reaktion wird zum normalen Verhalten. Für einen beliebigen Affenmenschen X und einen beliebigen Affenmenschen Y gilt schließlich: <?page no="48"?> 33 cf. Keller 1974 Y weiß, daß X den Angstschrei in der Absicht imitiert, bei Y die Reaktion der Flucht hervorzurufen, um ihn vom Futterplatz loszuwerden. X weiß dies von Y ebenfalls. Wenn X schreit undY nicht flieht, wird X mit der Zeit erkennen, daß Y ihn durchschaut hat; d.h., daß Y genau deshalb nicht flieht, weil er weiß, daß X den Angstschrei imitiert hat, um Y zur Flucht zu veranlassen. Wenn Y X durchschaut hat, und wenn X dies bekannt ist, so wird auch X Y durchschauen, wenn Y versucht, den Trick einzusetzen, und Y wird dies ebenfalls erkennen. Damit ist wiederum ein entscheidender Schritt getan: Wenn wir den Satz “(daß) der imitierte Angstschrei dazu dient, den anderen zur Flucht zu veranlassen” mit “p” bezeichnen, können wir den nun erreichten Wissensstand von X und Y wie folgt darstellen: 1. X weiß, daß p. 1'. Y weiß, daß p. 2. X weiß, daß Y weiß, daß p. 2'. Y weiß, daß X weiß, daß p. 3. X weiß, daß Y weiß, daß X weiß, daß p. 3'. Y weiß, daß X weiß, daß Y weiß, daß p. Das heißt für unsere Geschichte: Jeder kennt den Trick (1 und 1'); jeder weiß, daß der andere den Trick auch kennt (2 und 2'); und jeder weiß, daß er vom anderen durchschaut wird (3 und 3'). Eine solche Struktur der Kenntnisse nennt man gemeinsames oder kollektives Wissen. 33 Die sechste Stufe Als kollektives Wissen bezüglich des Tricks mit dem Angstschrei erreicht war, war er hinfällig geworden. Hier ist die Geschichte an einem kritischen Punkt angelangt. Die Horde könnte von nun an dem Untergang geweiht sein, da der natürliche Warnmechanismus nicht mehr funktioniert. Eine andere Möglichkeit wäre, daß der Trick, nachdem er obsolet geworden war, mit der Zeit 48 <?page no="49"?> 49 wieder in Vergessenheit geriete, und die Horde zum kommunikativen Urzustand zurückgefunden hätte. (In beiden Fällen hätten wir von Karlheinz nie etwas gehört.) In unserer Geschichte trat eine Differenzierung ein. Die meisten lernten, den echten vom geheuchelten Angstschrei zu unterscheiden. Wenn gelegentlich vom einen oder anderen ein echter Schrei für einen geheuchelten oder ein geheuchelter für einen echten gehalten wurde, so war das für den einzelnen Betrogenen zwar ärgerlich oder tödlich, aber für die Horde insgesamt nicht existenzgefährdend. Das Stadium, in dem die Fähigkeit zur Imitation ausschließlich in betrügerischer Absicht genutzt wurde, kann von sehr langer Dauer gewesen sein. Die Fähigkeit selbst ist bis heute nicht in Vergessenheit geraten; wir nennen sie “Heucheln” oder “Simulieren”. Das Wissen um die Fähigkeit, den Angstschrei zu imitieren, bewirkte vermutlich erhöhte Sorgfalt auf der Seite des Wahrnehmenden. Er leitete den Schritt ein vom Hören zum Zuhören. Auf der anderen Seite ermöglichte dieses gemeinsame Wissen den entscheidenden Schritt von der manipulativen Nutzung dieser Fähigkeit zur kommunikativen Nutzung. Die siebte Stufe Der siebte Schritt ist ein winziger Schritt, aber er ist der entscheidende. Wenn ich meiner Frau während eines Vortrags heimlich zu verstehen geben will, daß ich ihn todlangweilig finde, so kann ich dies tun, indem ich ihr zugewandt Gähnen simuliere. Die Simulation des Gähnens muß zwei Bedingungen erfüllen: (i) Sie muß als Simulation des Gähnens erkennbar sein. (ii) Sie muß als Simulation des Gähnens erkennbar sein. Das heißt, sie muß dem echten Gähnen hinreichend ähnlich und vom echten Gähnen hinreichend verschieden sein. Genau diese Eigenschaften hatte (mutatis mutandis) der “Angst”-Schrei des Bonzen. Die Ähnlichkeit seines Schreis mit dem echten Angstschrei machte deutlich, was er beabsichtigte (nämlich die anderen zum Abhauen zu bewegen). Die Verschie- <?page no="50"?> 50 34 “genau dann” stimmt vermutlich nicht, da diese Formulierung wahrscheinlich nicht hinreichend ist. Die äußerst umfangreiche Diskussion des Griceschen Grundmodells kann in diesem Rahmen nicht dargestellt werden. Siehe dazu Meggle 1979. 35 “Und es gibt Tiersprachen, die Vorläufer der menschlichen Sprache sind - trotz Chomksy.” (Popper/ Eccles 1977/ 1982, S. 53) denheit seines Schreis vom echten Angstschrei machte ihn als simulierten kenntlich, und machte somit zweierlei deutlich: (i) daß er dies beabsichtigte, und (ii) daß die anderen merken sollten, daß er dies beabsichtigte. Die Handlung des Bonzen ist somit ein Beispiel für folgendes Schema: S tut a in der Absicht, (1) H zu der Reaktion r zu bringen, (2) H zu erkennen zu geben, daß S die Absicht (1) verfolgt, und (3) H zu erkennen zu geben, daß S möchte, daß H's Grund, r zu tun (mindestens zum Teil) darin besteht, daß H die Absicht (1) erkannt hat. Dies ist eine Formulierung (eine der vielen) des sogenannten Griceschen Grundmodells. Es definiert, was es heißt, zu kommunizieren im menschlichen Sinne. Der Vollzug von a stellt (genau 34 ) dann einen Versuch von S dar, mit H zu kommunizieren, wenn er die Absichten (1), (2) und (3) damit zu erfüllen trachtet. Diese Bedingung ist für den Schrei unseres Bonzen erfüllt: Er hat den simulierten Angstschrei hervorgebracht in der Absicht, (1) Karlheinz dazu zu bringen abzuhauen, (2) Karlheinz zu erkennen zu geben, daß er ihn dazu bringen will abzuhauen, und (3) Karlheinz zu erkennen zu geben, daß sein Grund zum Abhauen diese (in (2) erwähnte) Erkenntnis sein soll. Karlheinz hat den Bonzen genau dann verstanden, wenn er dessen Absichten erkannt hat. Wenn alles gut gegangen ist, dann ist hiermit gezeigt, daß es nicht ausgeschlossen ist, daß sich die Fähigkeit, im menschlichen Sinne zu kommunizieren, schrittweise aus der Fähigkeit, im tierischen Sinne zu kommunizieren, entwickelt haben könnte. 35 Es <?page no="51"?> 51 ist darüber hinaus gezeigt, worin das Kommunizieren im menschlichen Sinne besteht, und daß dazu keine Sprache notwendig ist. Der Bonze hat, was er wollte, mit nichtkonventionellen ikonischen Mitteln zu erkennen gegeben. Eine Sprache benutzen heißt konventionelle Mittel benutzen, um dem anderen zu erkennen zu geben, wozu man ihn bringen will. Diese Mittel können selbstverständlich ebenfalls ikonischer oder teilweise ikonischer oder vollkommen unikonischer Natur sein. 2.2. Das Mandevillesche Paradox Unsere Geschichte trägt paradoxe Züge. Eine so segensreiche und ihrem Wesen nach kooperative Institution wie die Sprache soll entstanden sein aus dem Bestreben, die anderen übers Ohr zu hauen? Ist es nicht plausibler anzunehmen, daß Sprachfähigkeit entstand aus dem Wunsch, einander zu unterstützen, sich zu verständigen, etwa zur Optimierung des Jagderfolges? 36 “Unter allen Lebenden wurde es allein dem Menschen gegeben zu sprechen, da nur er es nötig hatte”, schrieb Dante in seiner Schrift “De vulgari eloquentia” (“Über das Dichten in der Muttersprache”) 37 etwa im Jahre 1305. Leibniz war im Jahre 1710 noch ähnlicher Meinung: “Ich glaube, daß wir ohne den Wunsch, uns verständlich zu machen, in der Tat niemals die Sprache gebildet haben würden”, 38 schrieb er in seiner Berliner Akademie-Abhandlung “De originibus gentium ductis potissimum ex indicio linguarum” (“Kurzgefaßte Erwägungen über die Ursprünge der Völker, hauptsächlich aufgrund sprachlicher Beobachtungen”). Die Sache hat zwei Haken: Der Wunsch, der Bedarf oder das Bedürfnis erklärt noch nicht den Besitz. Der Wunsch, fliegen zu können, läßt uns keine Flügel wachsen, und der Wunsch nach ewigem Frieden hat der Menschheit schon manchen Krieg beschert. Zudem müßte plausibel gemacht werden, wie der allge- 36 cf. beispielsweise Hildebrand-Nilshon 1980 37 zit. nach Arens 1969, S. 56 38 zit. nach Arens 1969, S. 95 (Original in Miscellania Berolinensia, Berlin 1710, S. 1-16) <?page no="52"?> meine Wunsch, sich verständlich zu machen, ohne Sprache hätte entstanden sein können. Kurzum, ich glaube, daß dieser zunächst plausibel erscheinende Ansatz zu starke Voraussetzungen macht. Die Geschichte von Karlheinz setzt lediglich den Wunsch voraus, den Hunger zu stillen. Die Stärke einer Erklärung wächst mit der Schwäche der vorausgesetzten Annahmen. Die Geschichte macht außerdem Gebrauch von einer alten Denkfigur, deren Struktur und Geschichte ich im folgenden etwas eingehender darstellen will. Wenn wir uns die Welt anschauen, in der wir leben, so stellen wir fest, daß es Völker gibt mit einer hochentwickelten Technologie und Völker mit weniger entwickelter Technologie. Manche Völker bearbeiten ihre Äcker mit der Hacke und mit Muskelkraft, andere mit Maschinen und Traktoren. Die mit Maschinen und Traktoren produzieren mehr und werden reicher als die mit der Hacke und den Muskeln. Nun könnte man vielleicht wie folgt argumentieren: I. Es gibt Fleißigere und Faulere auf der Welt. Die Fleißigeren streben nach mehr, entwickeln Maschinen und Motoren und werden somit im Endeffekt reicher. Ihr Reichtum ist also eine Folge ihres Fleißes. Man könnte aber auch so argumentieren (und vorsichtshalber will ich dazusagen, daß beide Argumentationen hier nur Spielcharakter haben sollen): II. Es gibt Fleißigere und Faulere auf der Welt. Die Fauleren waren immer schon zu faul, zu hacken und ihre Felder mit Muskelkraft zu bearbeiten. Ihre Faulheit brachte sie dazu, sich alle möglichen Dinge auszudenken, um sich die Arbeit leichter zu machen. So entwickelten sie schließlich Maschinen und Traktoren, um sich völlig von der Arbeit mit Muskelkraft zu befreien. Die Fleißigeren hingegen waren sich noch nie zu schade, selbst Hand anzulegen. Und so hacken sie heute noch. Ihre Armut ist also eine Folge ihres Fleißes und der Reichtum der anderen eine Folge ihrer Faulheit. Fazit: Reichtum und hochentwickelte Technologie sind die Folge der Faulheit der Menschen. Was ist dem Argument II und der Geschichte von Karlheinz gemeinsam? 52 <?page no="53"?> 53 39 von Hayek 1969, S. 127f. 40 Ab 1704 verzichtete er auf das “de”. Dreierlei: die paradoxe Struktur, der latente Zynismus und die Stärke der Argumentation. Nützliche und positiv bewertete gesellschaftliche Phänomene werden erklärt als Konsequenzen mißbilligenswerter Motive der Mitglieder der Gesellschaft. Darin liegt das Paradoxe dieser Denkfigur. Zynisch wird sie, wenn man sie (unzulässigerweise) prognostisch wendet und moralische Maximen daraus ableitet: Wenn Du es zu etwas bringen willst, solltest Du faul sein, denn der Fleißige bleibt stets arm. Die Stärke der Argumentation liegt in der Schwäche der Prämissen. Die Annahme, daß Affenmenschen eigennützig und gefräßig sind, ist ärmer als die Annahme, daß sie hilfreich und uneigennützig sind. Wenn man die Entstehung einer positiven Erscheinung auch unter der Annahme, daß die Menschen nach schlechten Motiven handeln, erklären kann, so sollte man es tun. Sollten ein paar gute darunter sein, so werden sie schon nicht schaden. Diese Denkfigur wird das Mandevillesche Paradox genannt. Sie ist nach einem Mann benannt, der das europäische Denken vermutlich weit nachhaltiger beeinflußt hat, als sein Bekanntheitsgrad vermuten läßt. Friedrich August von Hayek schreibt ihm gar zu, daß seine Überlegungen “den endgültigen Durchbruch im modernen Denken über die Zwillingsideen der Evolution und der spontanen Bildung einer Ordnung bezeichnen”. 39 Wer ist dieser Mann, und worin besteht sein Beitrag zu unseren Fragestellungen? Er heißt Bernard (de 40 ) Mandeville, wurde 1670 in oder bei Rotterdam geboren, als Sproß einer angesehenen und wohlhabenden Hugenottenfamilie. 1689 promovierte er zum Doktor der Philosophie, zwei Jahre später zum Doktor der Medizin, beides in Leiden. Um Englisch zu lernen, reiste er etwa 1696 nach London. Dort heiratete er drei Jahre später eine Engländerin und blieb daselbst bis ans Ende seiner Tage. Er praktizierte als Facharzt für Nerven- und Magenleiden. Im Januar des Jahres 1733 verstarb er in Hackney bei London. <?page no="54"?> 54 Mandeville hatte es in seinem Leben auf eine stattliche Anzahl von Publikationen gebracht. 41 Doch davon soll uns hier nur eine interessieren: die Bienenfabel. Was sich zu einem Skandalbuch entwickelte, begann ziemlich harmlos. Im Jahre 1705 erschien unter dem Titel “The Grumbling Hive: or, Knaves Turn’d Honest” (“Der brummende Bienenstock, oder die ehrlich gewordenen Schurken”) in einer Sixpenny-Ausgabe (und gleich darauf als Raubdruck) eine in Knittelversen wacker gereimte Satire auf die zeitgenössische englische Gesellschaft: “These Insects liv’d like Men, and all Our Actions they perform’d in small” Es “war wohl nicht viel mehr als eine Übung in der neuen Sprache, die er liebgewonnen und in so kurzer Zeit meisterhaft zu beherrschen gelernt hatte”. 42 Der Inhalt des Gedichtes ist schnell erzählt. Es war die Moral der Geschichte, die ihre Brisanz ausmachte. Ein Bienenstock lebte in Macht und Wohlstand; Handel, Künste und Wissenschaften blühten, aber unter den Bürgern war kaum ein Anständiger. Faul waren sie und korrupt, eitel und arbeitsscheu; es gab “Kuppler, Spieler, Parasiten, Quacksalber, Diebe und Banditen”. Die Juristen, die Ärzte, die Soldaten und Minister, sie alle waren letztlich “Schurken”. “Es gab kein Fach und Amt im Land, Wo Lug und Trug ganz unbekannt.” Aber dennoch prosperierte die Gemeinschaft. “Trotz all dem sündlichen Gewimmel War’s doch im Ganzen wie im Himmel.” Denn bei genauerem Hinsehen erwiesen sich eben diese Laster als “des Handels wahre Triebkraft” und Ursache des allgemeinen Wohlstandes. Kurzum: “Der Allerschlechteste sogar Fürs Allgemeinwohl tätig war! ” 41 Siehe das Verzeichnis seiner Schriften in Mandeville 1980, S. 437 f. 42 von Hayek 1969, S. 128 <?page no="55"?> 55 Genau dieses ist die Urform des Mandevilleschen Paradoxes. Der Wohlstand des Volkes war nicht Ergebnis der Tugenden seiner Bürger, sondern ihrer Untugenden und Laster. Aber die Geschichte geht noch weiter: Als sich schließlich einige auch noch bei den Göttern über die Untugenden ihrer Mitbienen beschwerten (während sie sich die eigenen gerne verziehen), wurde es Jupiter zuviel. Er rief: “… “Genug. So seid befreit denn vom Betrug! ” Sofort geschah’s - und Redlichkeit Erfüllt nun alle weit und breit” Aber damit war der Untergang des Bienenvolkes vorgezeichnet: Die Juristen hatten nichts mehr zu tun, die Schmiede und die Scharfrichter wurden arbeitslos. “Die Priester tun selbst ihre Pflicht Und brauchen die Vikare nicht” Handel und Gewerbe liegen darnieder, und schließlich fristet der Bienenstock sein jämmerliches, aber “exemplarisch reines Leben” in einem hohlen Baum. “Dort haust er nun in Seelenfrieden.” Die Moral von der Geschichte: “… für Tugend hat’s In großen Staaten nicht viel Platz (…) Von Lastern frei zu sein, wird nie Was andres sein als Utopie” Und schließlich: “Wer wünscht, daß eine goldene Zeit zurückkehrt, sollte nicht vergessen: Man mußte damals Eicheln essen.” Neun Jahre nach Veröffentlichung dieses Gedichtes im Jahre 1714 wurde es, versehen mit Kommentaren zu einzelnen Versen, die an Umfang das ursprüngliche Gedicht um ein Vielfaches überschritten, von neuem veröffentlicht unter dem Titel “Die Bienenfabel: oder, Des Einzelnen Laster des Ganzen Gewinn” <?page no="56"?> 43 Mandeville 1980, S. 403 44 Münstermann 1960 45 Münstermann 1960, S. 1 (“The Fable of the Bees: or, Private Vices Publick Benefits”). Von nun an wurde dieser Text bekannt und zum Skandal. Er erlebte in den folgenden Jahren bis 1732, sukzessive um Ergänzungen angereichert, sieben weitere Auflagen. 1729 wurde der erste Band um einen zweiten ergänzt, der unter dem Titel “The Fable of the Bees, Part II. By the Author of the First” erschien. Das Ganze hatte nun den Charakter einer sozialphilosophischen Abhandlung, zu der das ursprüngliche Gedicht nur noch der Aufhänger war. Das Leitmotiv der Abhandlung war, daß jede einzelne Untugend, vom Suff über die Eitelkeit, die Faulheit bis hin zur Hurerei einen segensreichen Beitrag zum Wohlstand und dem Wohlergehen der Gemeinschaft leistet. Dieser Gedanke ist wirklich skandalös. Man kann verstehen, daß ein Gericht 1723 befand, daß “diese Prinzipien (…) die unmittelbare Tendenz zum Umsturz aller Religion und bürgerlicher Herrschaft, zur Beseitigung allen Pflichtgefühls gegenüber dem Allmächtigen und aller Liebe zu unserem Vaterlande (haben)”. 43 Auch auf einige heutige Leser hat die Bienenfabel nichts von ihrem Reiz eingebüßt: So schreibt etwa Münstermann in seiner Dissertation “Mandevilles Bienenfabel“: 44 “Dieser vergessene Hugenotte ist Anhänger und Verkünder des Naturalismus, einer Weltanschauung, die ihre zerstörerischen Kräfte nach wie vor entfaltet und als deren radikalster Vertreter im politischen Bereich der moderne Sowjetstaat anzusehen ist. (…) In der vorliegenden Arbeit soll nachgewiesen werden, daß Mandevilles naturalistische Philosophie eine für die Weltbetrachtung und Weltgestaltung höchst unzulängliche Lehre darstellt.” 45 Kehren wir nach diesem Exkurs wieder zu den für die Weltbetrachtung eher segensreichen Aspekten seiner Lehre zurück. Worin bestehen sie? Was hat dies alles mit der Sprache und der Theorie ihres Entstehens und ihrer Entwicklung zu tun? Das ursprüngliche Paradox erwies sich im Zuge seiner Ausarbeitung und Kommentierung als Spezialfall eines viel allgemeineren Phänomens. Die Entdeckung, daß moralisch zu mißbilligende Bestrebungen der Individuen auf der Ebene der Gesell- 56 <?page no="57"?> 57 46 Die erste deutsche Übersetzung der Bienenfabel erschien 1761. 47 Vanberg 1982, S. 43 48 Ferguson 1767/ 1904, S. 170 schaft durchaus billigenswerte Auswirkungen haben können, daß “der Einzelnen Laster des Ganzen Gewinn” bedeuten können, war der Keim der Erkenntnis, daß es gesellschaftliche Phänomene gibt, die durch Handlungen der Individuen hervorgebracht werden, ohne von diesen intendiert zu sein. Was Mandevilles Gedanken so skandalös machte, sozusagen die Entdeckung “jener Kraft, die stets das Böse will und stets das Gute schafft”, wie Goethe das Paradox reformulierte, 46 spielte in der späteren philosophischen Nutzanwendung und auch für unseren Zusammenhang keine Rolle mehr. “Böse” Handlungen können “gute” Strukturen erzeugen, ebenso wie “gute” Handlungen “böse” Strukturen erzeugen können. Die Erzeugung der Institution der Folter, der peinlichen Befragung, durch das gutgemeinte Verbot, Leute aufgrund von Indizienprozessen mit dem Tode zu bestrafen, ist ein Beispiel dafür. Man wird leicht Beispiele für alle vier Kombinationen von “gut” und “böse” finden können. Die Lehre, die wir aus der Verallgemeinerung des Mandevilleschen Paradoxes ziehen können, besteht darin, “daß die Frage nach den Motiven individuellen Handelns ausdrücklich getrennt (werden muß) von der Frage nach den sozialen Auswirkungen dieses Handelns.” 47 In der Geschichte von Karlheinz wurde dieser Gedanke beherzigt. Für die Theorie der Sprache ist er von entscheidender Bedeutung. 2.3. Conjectural History “Wenn die Menschen dem augenblicklichen Antrieb ihres Geistes folgen, indem sie sich bestreben, Unangenehmes zu entfernen, oder sichtbare und naheliegende Vorteile zu erreichen, gelangen sie zu Zielen, die selbst ihre Phantasie nicht voraussehen konnte.” Dies schrieb im Jahre 1767 Adam Ferguson, 48 ein Philo- <?page no="58"?> 58 soph der sogenannten Schottischen Schule. Es ist das Verdienst der schottischen Philosophen jener Zeit, den Mandevilleschen Gedanken zum Leitmotiv ihrer sozialphilosophischen Überlegungen gemacht und in hinreichender Klarheit ausformuliert zu haben. Ferguson schreibt weiter: “Jeder Schritt und jede Bewegung der Menge wird sogar in Zeitaltern, die man erleuchtete nennt, mit gleicher Blindheit für die Zukunft gemacht und die Nationen stoßen im Dunkeln auf Einrichtungen, die in der Tat das Ergebnis menschlichen Handelns sind, nicht die Durchführung eines menschlichen Plans” (“… and nations stumble upon establishments, which are indeed the result of human action, but not the execution of any human design”). 49 Damit hat Ferguson “nicht nur die beste Kurzfassung von Mandevilles zentralem Problem gegeben”, wie von Hayek bemerkt, “sondern auch die beste Definition der Aufgabe einer jeden Sozialtheorie”. 50 Wie es sich auch immer mit den Aufgaben der anderen Sozialtheorien verhalten mag, für die Sprachwissenschaft gilt von Hayeks Einschätzung, wenn sie als Sozialtheorie verstanden wird, uneingeschränkt: Die Sprache ist in der Tat “the result of human action, but not the execution of any human design”. In welchem Sinne sie dies ist, werde ich in Kapitel 4.1. ausführen. Mandevilles Bienenfabel hat nicht nur zur Entdeckung eines Phänomenbereichs geführt, den viele für den Gegenstand der Sozialwissenschaften par exellence halten, sondern er hat auch einen Modus der Erklärung solcher Phänomene vorgeführt. Wieder waren es die Moralphilosophen der Schottischen Schule, die die Ausarbeitung der Mandevilleschen Idee besorgten. Dugald Stewart (1753-1828) machte sich, wie alle Philosophen der Schottischen Schule, Gedanken über das Entstehen und die Dynamik gesellschaftlicher Institutionen: Wenn wir die geistigen Fähigkeiten, die Sitten und die gesellschaftlichen Einrichtungen unserer Zeit mit denen eines wilden Stammes vergleichen, schreibt Stewart, so stelle sich unwillkürlich die Frage “by what gradual steps the transition has been made from the first simple efforts of an uncultivated nature, to a state of things so wonderfully artificial and complicated. Whence has arisen the systemat- 49 Ferguson 1767, S. 187/ 1904, S. 171 (Hervorhebung R.K.) 50 von Hayek 1969, S. 141 f. <?page no="59"?> 59 ical beauty which we admire in the structure of a cultivated language; (…) Whence the origin of the different sciences and of the different arts? ” 51 Bei den Fragen dieser Art sei allerdings von der Geschichte wenig Auskunft zu erhoffen, so daß wir gezwungen seien, Fakten durch Vermutungen zu ersetzen ((to supply) “the place of fact by conjecture”). Wenn es uns unmöglich ist, so schreibt Stewart weiter, den Prozeß zu rekonstruieren, durch den ein bestimmtes Phänomen erzeugt worden ist, so ist es doch vielfach wichtig zu zeigen, wie es hätte erzeugt worden sein können. Sicher hat das gewisse Nachteile, denn “it is impossible to determine with certainty what the steps were by which any particular language was formed”. Wenn es jedoch gelingt, auf der Basis unserer Kenntnisse der Prinzipien menschlicher Natur zu zeigen, wie die verschiedenen Teile der Sprache hätten allmählich entstanden sein können, so werde unser Geist nicht nur zu einem bestimmten Grade befriedigt, sondern es werde auch jener trägen Philosophie (“indolent philosophy”) ein Schlag versetzt, die immer dann, wenn sie zu einer Erklärung unfähig ist, auf ein Wunder zurückgreift. “To this species of philosophical investigation which has no appropriate name in our language, I shall take the liberty of giving the title of Theoretical or Conjectural History.” 52 Eine Conjectural History ist, wie Dugald Stewart ausdrücklich betont, keine historische Untersuchung, sondern eine philosophische. Die Geschichte von Karlheinz ist eine Conjectural History. Sie zeigt, wie die Fähigkeit zur Kommunikation im menschlichen Sinne hätte entstanden sein können. Sie zeigt dies allein auf der Basis billigerweise zugestandener Fähigkeiten, ohne Gott oder ein Wunder zu bemühen. Aber die Geschichte von Karlheinz ist eine Conjectural History von besonderer Art, ebenso wie die Bienenfabel als Conjectural History besonderer Art angesehen werden kann. Das Besondere ist durch die Art ihres Explanandums begründet. Beides sind Conjectural Histories der Entstehung solcher “Einrichtungen”, die - in Fergusons Worten - das Ergebnis menschlichen Handelns sind, nicht aber die Durch- 51 Stewart 1858/ 1971, S. 33, Peardon 1966, S. 14 (“Read by Mr. Stewart, January 21, and March 18, 1793”) 52 Stewart 1858/ 1971, S. 34. Zur geschichtsphilosophischen Würdigung cf. Kittsteiner 1980, S. 179 ff. <?page no="60"?> 60 führung eines menschlichen Plans: die Kommunikationsfähigkeit in der einen Geschichte, materieller Wohlstand in der anderen. Conjectural Histories dieser Art zeichnen sich aus durch einen besonderen Pfiff. Betrachten wir die Geschichte, die vermutlich die bekannteste ihrer Art darstellt, und die diesem Typus von Conjectural History ihren Namen gegeben hat. Sie stammt ebenfalls von einem Moralphilosophen der Schottischen Schule, von Adam Smith. In seinem 1776 erschienenen Werk “An Inquiry into the Nature and Causes of the Wealth of Nations” (“Eine Untersuchung über Natur und Wesen des Volkswohlstandes”) diskutiert Smith die für die einheimische Wirtschaft schädliche Wirkung von Monopolprivilegien. In diesem Zusammenhang schreibt er unter anderem: “Nun ist aber das jährliche Einkommen jeder Gesellschaft immer genau so groß wie der Tauschwert des gesamten Jahreserzeugnisses ihrer Erwerbstätigkeit, oder besser gesagt, es ist dieser Tauschwert selber. Da nun jedermann nach Kräften sucht, sein Kapital in der heimischen Erwerbstätigkeit und diese Erwerbstätigkeit selbst so zu leiten, daß ihr Erzeugnis den größten Wert erhält, so arbeitet auch jeder notwendig dahin, das jährliche Einkommen der Gesellschaft so groß zu machen, als er kann. Allerdings strebt er in der Regel nicht danach, das allgemeine Wohl zu fördern, und weiß auch nicht, um wieviel er es fördert. Indem er die einheimische Erwerbstätigkeit der fremden vorzieht, hat er nur seine eigene Sicherheit im Auge und indem er diese Erwerbstätigkeit so leitet, daß ihr Produkt den größten Wert erhalte, verfolgt er lediglich seinen eigenen Gewinn und wird in diesem wie in vielen anderen Fällen von einer unsichtbaren Hand geleitet, einen Zweck zu fördern, den er in keiner Weise beabsichtigt hatte. Auch ist es nicht eben ein Unglück für die Gesellschaft, daß dies nicht der Fall war. Verfolgt er sein eigenes Interesse, so fördert er das der Gesellschaft weit wirksamer, als wenn er dieses wirklich zu fördern beabsichtigt.” 53 Wir haben es hier sozusagen mit einer ernsthaften Version des Mandevilleschen Paradoxes zu tun. Werden in der Bienenfabel in karikierender Überzeichnung die Laster der Individuen als die 53 Smith 1776/ 1920, S. 235 f. <?page no="61"?> 61 das Gemeinwohl erzeugenden Motive gesehen, so ist es bei Adam Smith das Streben nach der “eigenen Sicherheit” und nach Eigennutz. Ohne mich hier auf die Diskussion um die freie Marktwirtschaft, das laissez-faire und den im letzten Satz des Zitates anklingenden evolutionären Optimismus einlassen zu wollen, möchte ich die Struktur der Smithschen Argumentation deutlich machen: (1) Kaufleute verfolgen gemeinhin ihre eigenen Interessen. (2) Jeder Kaufmann wird (wenn der Staat ihn gewähren läßt) sein Kapital so anlegen, daß es optimalen Gewinn bringt bei optimaler Sicherheit. (3) Optimaler Gewinn der einzelnen Kaufleute ergibt notwendigerweise optimales Einkommen der Gesellschaft, d.h. optimalen Wohlstand. (1) ist eine Prämisse über die Natur des Menschen im allgemeinen und die Kaufleute im besonderen. (2) ist eine plausible Hypothese über die Handlungsweise der Individuen auf der Basis der allgemeinen Prämisse (1) über die menschliche Natur und der besonderen Umstände. (3) ist eine Art “Hochrechnung” der kollektiven Konsequenzen, die notwendigerweise eintreten (würden), wenn die Mehrheit der Kaufleute nach der hypothetisch unterstellten Maxime (2) handelt (handeln würde). Das Ganze ist eine Erklärung der Genese von Volkswohlstand und zugleich eine Explikation der Natur und des Wesens des Volkswohlstandes. Diesen Typus von Erklärungen nennt man in Anlehnung an die Smithsche Metapher eine Invisible-hand-Erklärung bzw. eine Erklärung mittels der unsichtbaren Hand. Als vorläufiges Zwischenresümee können wir festhalten: Eine Invisible-hand-Erklärung ist eine Conjectural History eines Phänomens, das Ergebnis menschlichen Handelns, nicht aber Durchführung eines menschlichen Plans ist. <?page no="62"?> 62 3. Im Gefängnis der Dichotomien 3.1. Natur versus Kunst - Instinkt versus Vernunft Mit der Entdeckung solcher Phänomene, die Ergebnis menschlicher Handlungen sind, nicht aber Durchführungen menschlichen Plans, war von Anfang an bis auf den heutigen Tag die Einsicht verbunden, daß die menschlichen Sprachen zu diesem Phänomenbereich gehören. Dies gilt auch für den Erklärungsmodus solcher Phänomene: die Conjectural History beziehungsweise die Erklärung mittels der unsichtbaren Hand. “Von Theorien dieses Typs”, schreibt Friedrich August von Hayek, “ist die ökonomische Theorie, die Theorie der Marktordnung freier menschlicher Gesellschaften, bislang die einzige, die systematisch über eine lange Zeitspanne hinweg weiterentwickelt wurde; und zusammen mit der Linguistik (Hervorhebung R.K.) ist sie vielleicht eine der wenigen, die der eigentümlichen Komplexität ihres Erfahrungsobjektes wegen einer solch sorgfältigen Ausarbeitung bedarf. Obwohl jedoch die gesamte ökonomische Theorie (und, wie ich glaube, die linguistische Theorie) als nichts anderes als ein Bemühen verstanden werden kann, aus den Regelmäßigkeiten individuellen Verhaltens den Charakter der daraus resultierenden Ordnung zu rekonstruieren, kann schwerlich gesagt werden, daß die Nationalökonomen sich völlig darüber bewußt sind, daß es diese Aufgabe ist, der sie nachgehen.” 54 Linguisten wird man unter die letzte Bemerkung getrost subsumieren dürfen. Man kann sogar sagen, daß die Überlegungen der schottischen Moralphilosophen den Sprachwissenschaftlern des 19. und 20. Jahrhunderts weitgehend unbekannt geblieben sind. Dies ist um so befremdlicher, als kaum einer jener Philoso- 54 von Hayek 1969, S. 150 <?page no="63"?> 63 phen versäumt hatte, die Sprache explizit beim Namen zu nennen. Gibt es eine Erklärung für dieses Versäumnis? Wir leben in einer von Dichotomien geprägten Kultur. Dichotomien bestimmen unser Denken: Gott und Teufel, Himmel und Hölle, gut und böse, langue und parole, Natur und Kunst, Gefühl und Verstand, und viele andere mehr. Die Dichotomien “Natur versus Kunst” und “Instinkt versus Vernunft” haben sich für das Verständnis dessen, was Kultur ist, und dessen, was eine Sprache ist, als besonders hinderlich erwiesen. Die Annahme, daß die Welt fein säuberlich in zwei vollständig disjunkte Gegenstandsbereiche aufteilbar sei, in den Bereich derjenigen Dinge, die es von Natur aus gibt, und den Bereich derjenigen, die künstlich, also vom Menschen gemacht sind, ist so alt wie das abendländische Denken selbst. Ihren philosophisch prägenden Ausdruck fand sie in Platons Unterscheidung von physei und nomo bzw. in Aristoteles’ Unterscheidung von physei und thesei. Sie findet sich wieder in dichotomischen Unterscheidungen unserer Tage wie: “natürliche Sprache versus künstliche Sprache”, “natürliche Tatsachen versus institutionelle Tatsachen”, “Gesetze versus Regeln”, um nur einige zu nennen. So schreibt beispielsweise Max Müller (1892): “Es gibt zwei Hauptabteilungen menschlicher Wissenschaft, die nach dem ihnen zugrunde liegenden Stoffe die physikalische und die historische heißen mögen. Die physikalische Wissenschaft hat es, wie man gesagt hat, 55 mit den Werken Gottes, die historische mit denen des Menschen zu thun.” 56 Und Henri Frei bemerkt 1929: “La règle grammaticale n’a rien de commun avec la loi linguistique; la première est conventionelle (thesei on), la seconde naturelle (physei on).” 57 Die Dichotomie “natürlich versus künstlich” hat eine mit ihr verwandte und nicht minder irreführende Parallele: “Instinkt versus Vernunft” bzw. “Gefühl versus Verstand”. So wie auf der Ebene der Dinge Artefakte von Naturphänomenen unterschieden werden, so wird auf der Ebene des Verhaltens das vernunft- 55 Der Einschub “wie man gesagt hat” fehlt noch in der Ausgabe von 1866. 56 Müller 1892, S. 20 57 Frei 1929, S. 24 geleitete <?page no="64"?> Verhalten vom instinkt- oder gefühlgeleiteten Verhalten unterschieden. Und dabei fällt die vielleicht großartigste und sicherlich entscheidende menschliche Fähigkeit unter den Tisch: die Fähigkeit, Bräuche bzw. Traditionen zu bilden, die Fähigkeit zu regelgeleitetem Verhalten. Wenn ich einen deutschen Satz korrekt bilde oder den Verzehr von Hundefleisch verabscheue oder lieber Hosen statt Röcke trage oder es vorziehe, auf einem Stuhl statt auf dem Fußboden sitzend zu essen, folge ich damit meiner Vernunft oder meinem Instinkt? Keinem von beiden! Ich folge Traditionen, die sich hierzulande herausgebildet haben; ich folge sozialen Regeln. “Diese falsche Zweiteilung in ‘natürlich’ und ‘künstlich’ ”, schreibt von Hayek, “ebenso wie die ähnliche und verwandte in ‘Gefühl’ und ‘Verstand’ ist im hohen Maß verantwortlich für die bedauerliche Vernachlässigung des wesentlich exosomatischen Prozesses der kulturellen Evolution, der die moralischen Traditionen hervorbringt (wir können hier hinzufügen: ebenso wie die menschliche Sprache (R.K.)), die das Entstehen der Zivilisation bestimmt haben.” 58 In seinem Aufsatz “Die überschätzte Vernunft” macht von Hayek deutlich, daß Vernunft und Intelligenz nicht die Voraussetzung zur Etablierung von Regelsystemen ist, sondern deren Folge. Die menschliche Fähigkeit zu intelligentem, planvollem, vernünftigem Handeln setzt in der Tat die Existenz von Systemen sozialer Regeln voraus. “Die wahre Alternative zu Gefühl ist nicht Verstand, sondern die Befolgung traditioneller Regeln, die nicht ein Erzeugnis des Verstandes sind.” 58 Man muß weder klug sein, um Regeln folgen zu können, noch um zur Etablierung von Bräuchen beizutragen. Wir folgen Regeln nicht, weil wir wissen, daß es vernünftig ist oder klug, das zu tun. Regeln folgt man, weil es die andern genauso tun. Wir kennen im allgemeinen weder den Nutzen oder die Funktion eines bestimmten Regelsystems, eines bestimmten Brauchs, noch können wir abschätzen, was passieren würde, wenn wir ihn abschaffen oder durch einen andern ersetzen würden. Die Geschichte “erfolgreicher” Missionierungen liefert zahllose Beispiele für die unabsehbaren und vielfach katastrophalen Folgen von 64 58 von Hayek 1983, S. 170; cf. auch von Hayek 1988, Kap. I <?page no="65"?> 65 “vernunftgeleiteten” Eingriffen in vermeintlich primitive Bräuche von vermeintlich Wilden durch vermeintlich Zivilisierte. “Verhalten zu lernen, ist nicht ein Ergebnis des Verstehens, sondern vielmehr dessen Quelle. Der Mensch erwirbt Intelligenz, weil es eine Tradition gibt, die er erlernen kann.” 59 Vernunftgeleitetes Verhalten ist “sehend”. Regeln folgen wir “blind”, wie auch unseren Instinkten. 60 Soziale Regeln werden gleichsam zu unserer zweiten Natur. 61 Sie sind ein Teil meines Ich; und in der Tat ist es ja auch von Fall zu Fall nicht sehr einfach herauszufinden, ob eine bestimmte Verhaltensweise von angeborenen Instinkten oder von “ansozialisierten” Regeln gesteuert ist. Man muß vorausschauend sein, um intelligent handeln zu können, denn Intelligenz ist die Fähigkeit, Probleme lösen zu können, ohne auszuprobieren. Um Regeln folgen zu können, bedarf es keiner Vorausschau. Es genügt, ein vorliegendes Problem zurückschauend als ein schon einmal dagewesenes einem Typ zu subsumieren. Regeln können unser Handeln rechtfertigen. Was aber rechtfertigt unsere Regeln? Sie bedürfen keiner Rechtfertigung, denn sie selbst stellen die Basis des Rechtfertigens dar. Und somit auch die Basis rationalen Handelns. Die Fähigkeit, sich von Regeln leiten zu lassen, ist sowohl phylowie ontogenetisch der Fähigkeit, sich von Vernunft leiten zu lassen, vorgängig. Kinder entwickeln Riten und handeln nach ihnen, längst bevor sie zu vernunftgeleitetem Handeln in der Lage sind. Der Brauch steht zwischen Instinkt und Vernunft. Wozu hat der Mensch die Fähigkeit zum Brauch? Die Frage ist falsch gestellt. Denen, die sie hatten - aus welchen Gründen auch immer -, war sie von Nutzen. Zur Fähigkeit zum Brauch gehört vor allen Dingen die Fähigkeit, über die angeborenen Reaktions- und Verhaltensweisen hinaus Verhaltensweisen von Artgenossen zu erlernen; d.h. in ähnlichen Fällen sich ähnlich zu verhalten wie die anderen bzw. einige andere. “Die große Verlängerung des Kindheits- und Jugendalters war wahrscheinlich der letzte entscheidende Schritt der biologischen Evolution, bis die gelern- 59 von Hayek 1983, S. 166 60 Wittgenstein P.U. § 219 61 Darauf hat bereits Cicero hingewiesen: Consuetudine quasi alteram guandam naturam effici. (De Finibus Bonorum et Malorum V. 25.74) <?page no="66"?> 66 ten Regeln über die angeborenen Reaktionen die Oberhand gewannen.” 62 Nebenbei bemerkt: In manchen ideologisch befrachteten Auseinandersetzungen wird häufig so getan, als stelle sich die Frage, ob “mehr angeboren” oder “mehr erlernt” ist. Das heißt, es wird so getan, als handele es sich dabei um eine Opposition, bei der ein Mehr auf der einen Seite ein Weniger auf der anderen zur Folge habe. Dem ist nicht so. 63 Denn jedes Lernen setzt voraus, daß die Fähigkeit dazu angeboren ist. Auch wenn man den Fall unterstellt, daß Lernfähigkeit selbst erlernt sein kann, so müssen wir letztlich für diese erworbene Lernfähigkeit eine Lernfähigkeit voraussetzen, die selbst nicht erlernt ist. 64 “The innate is not only what is not learned, but what must be in existence before all individual learning in order to make learning possible,” 65 schreibt Konrad Lorenz. Kehren wir zurück zur Frage des Nutzens: Worin mag der Nutzen bestanden haben, den die Fähigkeit, regelgeleitete Verhaltensweisen herauszubilden, für die Menschen bedeutete? Es gibt eine allgemeinere Antwort und eine speziellere. Beginnen wir mit der allgemeineren: Wir können feststellen, daß die drei Fähigkeitstypen, sich instinktiv, regelgeleitet und vernunftgeleitet zu verhalten, korrespondieren mit der Anpassungsgeschwindigkeit eines Lebewesens an eine veränderte Umwelt. Betrachten wir eine Passage von Volker Beeh, in der er erläutert, was es heißt, sich zu verhalten: “Als einen Grenzfall von Verhalten könnte man sich z.B. ein konstantes, starres vorstellen, wie z.B. eine unaufhörliche Fortbewegung. Unabhängig davon, ob es jemals ein solches Verhalten gegeben hat oder nicht, ist klar, daß man mit dem Begriff des Verhaltens meist solche Vermögen verbindet, die dem Organismus ermöglichen, relativ zu bestimmten Umweltbedingungen verschiedene Vorgänge in die Wege zu leiten. Das Vermögen hierzu muß wiederum im Organismus angelegt sein, da die Delegation der Entscheidung an die Umwelt im allgemeinen 62 von Hayek 1983, S. 165 63 cf. die Diskussion in Beeh 1981, S. 92 ff. 64 cf. Beeh 1981, S. 99 65 Lorenz 1965, S. 44 <?page no="67"?> 67 schlecht honoriert würde. Selektiven Vorteil bieten nur solche Vermögen, die in der Regel eine für den Organismus günstige Wahl treffen. Da das Verhältnis der von der Umwelt in eigener Initiative getroffenen, aber für einen bestimmten Organismus günstigen Entscheidungen normalerweise zu schlecht ist, haben nur solche Gattungen die Chance ihrer Erhaltung, die möglichst viele dieser Entscheidungen ‘in die eigene Hand’ nehmen. Die Individuen dieser Gattungen müssen mit einer Organisation ausgerüstet sein, die es ihnen ermöglicht, ungünstige Situationen in günstigere umzuwandeln.” 66 Unsere Instinkte stellen eine solche Organisation dar. Es ist beispielsweise sehr vorteilhaft für einen Menschen, instinktiv die Augen zu schließen, wenn ein fliegender Gegenstand sich seinem Gesicht nähert. Dieses instinkthafte Verhalten wurde von der Art “gelernt”, und zwar dadurch, daß Individuen, die in gewissen Situationen eine ausgeprägtere Fähigkeit hatten, die Augen zu schließen, eine größere Überlebensund/ oder Reproduktionswahrscheinlichkeit hatten als die anderen, so daß diese Fähigkeit mit höherer Wahrscheinlichkeit an die Nachkommenschaft vererbt wurde als ihr Fehlen. Individuell Angeborenes ist in diesem Sinne von der Gattung “Erlerntes”. “Lernprozesse” dieser Art sind sehr zeitraubend. Die Geschwindigkeit, mit der eine Art auf eine veränderte Umwelt genetisch reagiert, spielt sich in Zeiträumen von Hunderttausenden von Jahren ab. Regeln sozialen Verhaltens passen sich auch nicht von heute auf morgen veränderten Bedingungen an. Aber die Dimensionen der Veränderungsgeschwindigkeiten sind doch ganz andere. Bräuche können sich schon in zehn, zwanzig Jahren spürbar ändern. Während instinktgeleitetes und regelgeleitetes Verhalten im Prinzip konservativ ist, trifft dies für vernunftgeleitetes Handeln gerade nicht zu. Vernunftgeleitetes Handeln orientiert sich (idealisierend gesehen) ausschließlich an der Logik des zu lösenden Problems und gerade nicht an der Art und Weise, wie es andere lösen, oder wie es “schon immer gemacht wurde”. Die jeweils höhere Anpassungsgeschwindigkeit an veränderte Bedingungen wird allerdings bezahlt mit jeweils geringerem 66 Beeh 1981, S. 94 f. <?page no="68"?> Bestätigungsgrad, d.h. mit höherem Risiko. Das instinktgeleitete Verhaltensrepertoire ist millionenfach und jahrtausendelang bewährt. Es ist zwar unflexibel, aber in höchstem Maße zuverlässig. Das regelgeleitete Verhaltensrepertoire ist ebenfalls mitunter millionenfach und jahrzehntebis jahrhundertelang bewährt. Es ist sozusagen von mittlerer Flexibilität bei mittlerer Zuverlässigkeit. Es verbindet Stereotypie des Handelns mit relativ hohem Bewährungsgrad. Vernunftgeleitetes Handeln ist demgegenüber höchst riskant. Es erlaubt vollständige Anpassung an jede neue Bedingung, bei vollem Risiko des Scheiterns. In großem Stil das vollständig Verkehrte zu tun, ist ausschließlich dem Menschen gegeben. Denn das setzt die Fähigkeit zu vernunftgeleitetem Handeln voraus. Unsere allgemeine Antwort auf die Frage nach dem Nutzen, den die Fähigkeit zu regelgeleitetem Verhalten für die Menschen bedeutet, ist also: Regelgeleitetes Verhalten erlaubt es, auf Probleme, die sich stellen, flexibler und spezieller zu reagieren, als es das instinktgeleitete Verhaltensrepertoire ermöglicht. Betrachten wir nun eine speziellere Antwort auf diese Frage. In dem bereits erwähnten Aufsatz “Die überschätzte Vernunft” schlägt von Hayek die folgende vor: “Die angeborenen Instinkte des Menschen sind nicht für eine Gesellschaft geschaffen wie die, in der er heute lebt. Die Instinkte waren dem Leben in den kleinen Gruppen angepaßt, in denen er in den Jahrtausenden der Entwicklung des Menschengeschlechts zusammengeschlossen war. (…) Die ausgedehnte Gesellschaft ist das Ergebnis der Entwicklung gewisser überlieferbarer Verhaltensregeln, die ihm oft sagen, daß er nicht tun soll, was seine Instinkte verlangen.” 67 Kurzum: Der Nutzen der Systeme sozialer Regeln, die sich herausgebildet haben, bestand darin, daß sie die Bildung von Großgesellschaften ermöglichten. Von Hayek handelt ausschließlich von, wie er sagt, “Moralregeln”; aber ich vermute, daß es sich dabei um einen Anglizismus handelt; “Moral” ist verstanden im Sinne der “Moral Philosophy” eines David Hume oder Adam Smith, so daß wir “Moralre- 68 67 von Hayek 1983, S. 164 <?page no="69"?> 69 68 Zur Theorie und zur Evolution komplexer Gesellschaften siehe Corning 1983 69 von Hayek 1983, S. 165 geln”, ohne dem Text Gewalt anzutun, getrost mit “Regeln des sozialen Zusammenlebens” übersetzen können. Ich möchte von Hayeks Ansatz ein bißchen weiterspekulieren, denn er scheint mir plausibel zu sein. Vor allen Dingen möchte ich ihn für die Sprachbetrachtung nutzbar machen. Großgesellschaften haben im Vergleich zu kleinen Horden den Vorteil, daß sie über eine Fülle von Kenntnissen und Fähigkeiten verfügen können, die die Kapazität eines jeden Einzelnen bei weitem übersteigt. In Verbindung mit dem Prinzip der Arbeitsteilung können somit die einzelnen Mitglieder einer Großgesellschaft in den Genuß von Gütern, Leistungen und Fähigkeiten gelangen, die sie als Einzelne oder in kleiner Gruppe hervorzubringen nie imstande wären. 68 Allerdings bedarf das Leben in einer Großgesellschaft völlig anderer Formen des sozialen Verhaltens. Das Leben in der Horde war geprägt durch “eine eng umschriebene Kooperation einander kennender Individuen, die geleitet war von ihrer gemeinsamen Wahrnehmung der Geschehnisse, die ihnen gemeinsam sichtbar wurden und von allen gemeinsam als potentielle Quelle von Nahrung oder Gefahr erkannt wurden.” 69 Das Machtgefüge in der Horde dürfte die Struktur einer Hackordnung gehabt haben, ausgefochten jeweils nach dem Prinzip der Macht des Stärkeren. Um in der Lage zu sein, größere Gemeinschaften zu bilden, müssen das Prinzip des gemeinsamen Zusammenwirkens auf ein allen vor Augen befindliches konkretes Ziel und das Prinzip der Macht des Stärkeren ersetzt werden durch abstraktere Prinzipien und Verhaltensregeln. Der Brauch ist gleichsam die Urform abstrakter Handlungsprinzipien. In einer bestimmten Situation nach einem Brauch zu handeln, heißt, vom konkreten Fall zu abstrahieren und ihn unter einen Typus zu subsumieren, in dem “man” sich so und so verhält. Eine Sprache ist ein Brauch; ein (mittlerweile) gigantischer Brauch, um bestimmte Dinge zu bewirken. Damit eine größere Gemeinschaft entstehen kann, ist es vor allen Dingen erforderlich, Gewalt zu reglementieren, bezie- <?page no="70"?> 70 hungsweise Gewalt durch gewaltfreie Verhaltensalternativen zu ersetzen. Die fundamentalen Institutionen der Gewaltsubstitution sind Recht, Markt und Sprache. Diese Zusammenstellung mag auf den ersten Blick abenteuerlich erscheinen. Ob der Sprache dabei eine gewisse Priorität zukommt, wie Adam Smith im zweiten Kapitel des “Volkswohlstandes” vermutet, sei dahingestellt. Ich will erläutern, was diese drei “Bräuche” verbindet. Der Brauch des Rechts dient dazu, Regelungen von Konflikten einem (neutralen) Dritten zu übertragen. Der Einzelne tritt seinen Anspruch auf Selbsthilfe oder Vergeltung ab an eine Instanz, die ihm im Gegenzug Schutz vor unangemessenen, unbilligen bzw. unverdienten Selbsthilfe- oder Vergeltungsmaßnahmen anderer gewährt. Recht ist somit ein Tauschgeschäft: Ich gebe meinen Anspruch auf Vergeltung einem Dritten (einem Staat, einem Häuptling, der Mafia o.ä.) und bekomme dafür Schutz vor Willkürhandlungen der anderen. Markt und Sprache dienen verwandten Zwecken. Beide sind Institutionen, die dazu dienen, den anderen zu etwas Bestimmtem zu bringen. Der Markt ist die Institution, die ich bemühe, wenn ich einen dazu bringen will, mir etwas Bestimmtes zu geben; die Sprache ist die Institution, derer ich mich bediene, wenn ich einen dazu bringen will, etwas Bestimmtes zu tun bzw. zu glauben. Die archaische Alternative zu Markt und Sprache ist Gewalt: zum Handel der Raub oder der Diebstahl, zur Kommunikation der Zwang. 70 Handel treiben heißt, vereinfacht gesagt, einem, der hat, was man braucht, und braucht, was man hat, zu geben, was man hat, um von ihm zu bekommen, was man braucht. Kommunikation heißt, vereinfacht gesagt, dem anderen Wünsche bzw. Überzeugungen zu erkennen zu geben, in der Hoffnung und der Absicht, daß dies für den anderen ein Grund sein möge, den Wunsch zu erfüllen bzw. die Überzeugung zu übernehmen. Kommunikation und Handel liegt dasselbe Prinzip zugrunde: Wenn Du den andern dazu bringen willst, etwas Bestimmtes zu 70 cf. Mandeville 1924, Bd. 2, S. 289 <?page no="71"?> 71 tun, so gib ihm einen Grund, es von sich aus zu tun. Zu bekommen, was ich brauche, ist unter Umständen ein guter Grund für mich, Dir von dem, was ich habe, zu geben, was Du möchtest. Zu erfahren, daß Du etwas für wahr hältst, ist unter Umständen ein guter Grund für mich, dies ebenfalls für wahr zu halten. Zu wissen, daß Du möchtest, daß ich etwas Bestimmtes tue, kann unter Umständen ein guter Grund für mich sein, es zu tun. Der Kauf unter Verwendung von Geld ist ein Spezialfall des hier beschriebenen Handels im allgemeinen. Geld ist ein konventionelles Mittel, das Verfahren zu beschleunigen. Es verkürzt meine Suche nach einem, der hat, was ich brauche, und braucht, was ich habe, da Geld etwas ist, das nahezu jeder brauchen kann. Ebenso ist Kommunikation unter Verwendung einer Sprache ein Spezialfall des hier beschriebenen Kommunizierens im allgemeinen. Sprache ist ein konventionelles Mittel, das Verfahren zu beschleunigen, zu verfeinern und vielfach es auch erst zu ermöglichen. Sie erleichtert oder ermöglicht es, dem andern zu erkennen zu geben, wozu man ihn bringen möchte. In den letzten beiden Sätzen ist zugegebenermaßen eine gefährliche Verkürzung verborgen, wenn man sie auf unsere heutige, voll entwickelte Sprache bezieht. Die Sprache hat sich (wie übrigens auch die Geldwirtschaft) verselbständigt, so daß eine instrumentalistische Perspektive zu kurz greift. Ein Vergleich mag dies deutlich machen: “Das Schachspiel ist ein konventionelles Mittel, um jemanden matt zu setzen.” Was ist daran komisch? Die unangemessene instrumentalistische Perspektive. Schach verhält sich zu Mattsein anders als ein Bohrer zu Löchern. Denn die Existenz von Löchern ist logisch unabhängig von der Existenz von Bohrern, und “Loch” ist definierbar ohne im Definiens Gebrauch von “Bohrer” zu machen. Voll entwickelte Sprachen wie die gegenwärtigen menschlichen Sprachen sind also genau genommen nicht nur gute Instrumente, gewisse Dinge zu tun, sondern sie konstituieren auch erst die Dinge, die man mit ihnen tun kann; so wie das Schachspiel das Mattsein erst konstituiert. Kehren wir zurück zu der zu Beginn dieses Kapitels besprochenen Dichotomie “Natur versus Kunst”. Im 19. Jahrhundert waren die Sprachwissenschaftler geradezu fixiert auf diese Dichotomie, so daß es ihnen trotz unablässiger Bemühungen un- <?page no="72"?> 71 von Hayek 1969, S. 131 72 Schleicher 1868, S. 206 möglich wurde, einen der Sprache angemessenen Sprachbegriff zu entwickeln. Im folgenden Kapitel möchte ich diese Fixierung exemplarisch darstellen. 3.2. Argumente im Gefängnis: Schleicher, Müller, Whitney “Die griechische Unterscheidung (…) zwischen dem, was natürlich (physei), und dem, was künstlich oder konventionell (thesei oder nomo) ist”, wurde, mit von Hayeks Worten, “zu einer so festen Tradition (…), daß sie sich wie ein Gefängnis auswirkte, aus dem heraus erst Mandeville einen Ausweg zeigte.” 71 Da die Linguisten in ihrer überwiegenden Mehrheit diesen Ausweg übersehen hatten, mußten sie noch für lange Zeit Opfer ihrer selbstgewählten Beschränkungen bleiben. Ich will anhand einiger Argumente von August Schleicher, Max Müller und William D. Whitney die Art dieser Beschränkungen aufzeigen. Das Leitmotiv vieler Wissenschaften war im 19. Jahrhundert die Suche nach Entwicklungsgesetzen. Charles Lyell, Herbert Spencer, Charles Darwin, Karl Marx, sie alle beteiligten sich im Rahmen ihrer Wissenschaften an dieser Suche; wie erfolgreich, ist, wie wir wissen, bis heute noch nicht ganz ausdiskutiert. Die Bemühungen der Linguisten jedenfalls waren durchaus respektabel. Die vergleichende Sprachwissenschaft hatte eine Reihe von Lautgesetzen indogermanischer Sprachen zutage gefördert. Auf dem Wege der Rückextrapolation der entdeckten Gesetzmäßigkeiten glaubte man sogar, die indogermanische Ursprache rekonstruieren zu können bzw. rekonstruiert zu haben. August Schleicher veröffentlichte 1868 sogar eine kleine Fabel in dieser Sprache. “Theils um darzuthun, daß, wenn auch mit mühe, zusammenhängende sätze in indogermanischer ursprache gebildet werden können, theils animi causa, machte ich den versuch in dieser erschlossenen sprache einige zeilen zu schreiben.” 72 72 - <?page no="73"?> 73 Das liest sich dann so: Avis, jasmin varná na á ast, dadarka akvams, tam, vágham garum vaghantam, tam, bháram magham, tam, manum áku bharantam. Avis akvabhjams á vavakat: kard aghnutai mai vidanti manum akvams agantam. [Ein] schaf, [auf] welchem wolle nicht war sah rosse, das [einen] schweren wagen fahrend, das [eine] große last, das [einen] menschen schnell tragend. [Das] schaf sprach [zu den] rossen: [Das] herz wird beengt [in] mir, sehend [den] menschen [die] rosse treibend. Aus heutiger Sicht ist dies natürlich geistreicher Unsinn. Denn die vergleichende Methode führt nicht notwendigerweise zum Ursprünglichen. Sie geht von der völlig ungesicherten Prämisse aus, daß das an zwei (oder mehr) Dingen Gemeinsame auch das ihnen Ursprüngliche ist. Daß alle indogermanischen Sprachen sich aus einer einzigen Wurzel entwickelt haben sollen, ist außerdem noch eine vollständig ungesicherte Hypothese. Wie dem auch sei, darüber, daß Sprachen sich entwickeln, und zwar sowohl ständig als auch notwendigerweise, war man sich einig. Uneinig war man sich hingegen in der Frage, warum dies so ist; uneinig war man sich über den ontologischen Status, das Wesen der Sprache. Verbunden damit war natürlich ein Dissens über den Status der aufgefundenen Regularitäten der Entwicklung. August Schleicher hatte in seiner Schrift “Die Darwinsche Theorie und die Sprachwissenschaft” eine extreme, dafür aber auch sehr klare Ansicht vorgetragen: “Die Sprachen sind Naturorganismen, die, ohne vom Willen des Menschen bestimmbar zu sein, entstunden, nach bestimmten Gesetzen wuchsen und sich entwickelten und wiederum altern und absterben; auch ihnen ist jene Reihe von Erscheinungen eigen, die man unter dem Namen ‘Leben’ zu verstehen pflegt. Die Glottik, die Wissenschaft der Sprache, ist demnach eine Naturwissenschaft (…).” 73 Woher weiß Schleicher das so genau? “Die Beobachtung ist die Grundlage des heutigen Wissens.” 74 Denn die Linguistik ist wie 73 Schleicher 1863, S. 6f. 74 Schleicher 1863, S. 9 <?page no="74"?> 74 die Biologie eine Naturwissenschaft, in der “nur die durch sichere, streng objective Beobachtung festgestellte Tatsache und der auf diese gebaute richtige Schluß Geltung hat”. 75 Man kann sich, aus heutiger Sicht, nur wundern über die erkenntnistheoretische Unbefangenheit eines so großen Wissenschaftlers. Wie wenig einen doch die “streng objective Beobachtung” vor Irrtümern bewahren kann! Die Diskrepanz zwischen Schleichers wissenschaftlicher Leistung und seiner erkenntnistheoretischen Reflektiertheit ist bereits Whitney aufgefallen: “The name of August Schleicher cannot be uttered by any student of comparative philology of the present generation without respect and admiration. (…) There is, unfortunately, no necessary connection between eminence in one of these characters and in the other; many a great comparative philologist has either left untouched the principles and laws underlying the phenomena with which he deals, or has held respecting them views wholly superficial, or even preposterous and absurd.” 76 Schleichers unsinnige Ansichten über das Wesen der Sprache waren sicherlich motiviert durch den innigenWunsch, am Prestige der erfolgreichen Naturwissenschaftler partizipieren zu dürfen. Dieser Wunsch war damals weit verbreitet (und ist bis heute noch nicht ganz verschwunden). “Die Naturwissenschaft zieht als Triumphator auf dem Siegeswagen einher, an den wir alle gefesselt sind”, schrieb der Sprachwissenschaftler Wilhelm Scherer. 77 Er hätte vielleicht eher schreiben sollen “… auf dem wir alle mitfahren wollen”. Schleicher macht die Linguistik zu einer Naturwissenschaft mit einem einfachen Trick. Er nimmt die Metapher, daß die Sprache ein Organismus sei, wörtlich, um dann daraus seine Schlüsse zu ziehen: “Die Beobachtung lehrt nun aber, dass alle lebendigen Organismen (…) sich nach bestimmten Gesetzen verändern”, 78 und zwar lehrt sie uns das mit “unumstösslicher Gewissheit”. 79 Er versucht die These von der Naturwissenschaftlichkeit der Linguistik zusätzlich zu stützen, indem er Ähnlich- 75 Schleicher 1863, S. 6 76 Whitney 1873, S. 208/ 209 77 Scherer 1874, S. 412 78 Schleicher 1863, S. 9 79 Schleicher 1863, S. 10 <?page no="75"?> 75 keiten zwischen ihr und “der Darwinschen Theorie” aufzeigt. 80 Etwa, daß die Zelle in der Biologie der Wurzel in der Ursprache entspreche, 81 oder: “Von Sprachsippen (…) stellen wir ebenso Stammbäume auf, wie dies Darwin (…) für die Arten von Pflanzen und Thieren versucht hat.” 82 Vom Geist Darwins, an dessen Ruhm er sich gerne anlehnen würde, ist bei Schleicher jedoch wenig zu spüren. So ist ihm beispielsweise völlig entgangen (und mit ihm all jenen, die ihn auch heute noch einen Darwinisten nennen), daß sein Vergleich des “Lebens” einer Sprache mit dem Wachsen, Altern und Absterben einer Pflanze kein Beispiel für Darwinismus ist, sondern den untauglichen Versuch darstellt, einen evolutionären Prozeß als ontogenetischen begreifen zu wollen. Für diesen Vergleich hätte er nicht auf Darwin warten müssen. Das Wachsen, Leben und Sterben eines Lebewesens weist keinerlei relevante Ähnlichkeiten auf mit dem, was man metaphorisch “das Leben eines sprachlichen Organismus” nennen könnte. Was führt Schleicher zu der Auffassung, daß (um in der Sprache der Zeit zu bleiben) ein sprachlicher Organismus ein Naturorganismus sei? “Organismus” hieß damals nicht per se “Naturorganismus”. 83 Humboldt beispielsweise ließ keinen Zweifel daran, daß der sprachliche Organismus nur in und durch die Menschen besteht. Schleicher bediente sich eines Kriteriums, das von Befürwortern wie von Gegnern seiner Auffassung gleichermaßen akzeptiert war: Die Abhängigkeit bzw. Unabhängigkeit vom menschlichen Willen wurde als das entscheidende Kriterium der Natürlichkeit oder Künstlichkeit eines Phänomens angesehen. Für Naturorganismen ist charakteristisch, daß sie sich entwikkeln, “ohne vom Willen des Menschen bestimmbar zu sein”. 84 Die Entwicklung einer Sprache ist nicht vom Menschen bestimmbar. Somit ist die Sprache ein Naturorganismus und die Wissenschaft derselben eine Naturwissenschaft. 80 cf. Keller 1983, S. 34 81 Schleicher 1863, S. 25 82 Schleicher 1863, S. 14 83 Zur Unterscheidung von Organismus und Mechanismus s. Kant 1974, § 65 84 Schleicher 1863, S. 6f. <?page no="76"?> Dies ist die Struktur des Arguments, dessen entscheidende Schwäche in der obersten Prämisse enthalten ist. Sie befindet sich innerhalb des Gefängnisses der Natur-Kunst-Dichotomie. Es ist aufschlußreich, Max Müllers Argumentation zu betrachten. Max Müller war im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts einer der bekanntesten Sprachwissenschaftler. Er lebte in Oxford, war ein bedeutender Sanskritologe, Herausgeber und Übersetzer des Rigveda. Seine Berühmtheit in Europa und den USA verdankte er jedoch in erster Linie seiner Fähigkeit zu populärer und angenehm lesbarer Darstellung des zeitgenössischen Standes der Linguistik. Die “Lectures on Language”, die Vorlesungen, die er in den Jahren 1861 und 1863 am Königlichen Institut zu London gehalten hatte, waren ein Bestseller, der in viele Sprachen übersetzt wurde. Meiner Darstellung liegt die 15. Auflage, eine “vom Verfasser autorisierte deutsche Ausgabe” mit dem Titel “Die Wissenschaft der Sprache” zugrunde. Um die Pointe vorwegzunehmen: Müller gelangt zu einem ähnlichen Ergebnis wie Schleicher. Aber er argumentiert subtiler. Er kritisiert sogar Schleichers Argumentation, weil er erkennt, wie schwach sie ist: “Wenn die Sprache wachsen soll, so bedarf sie eines Bodens dazu, und dieser Boden kann nur der Mensch sein. Die Sprache vermag nicht durch sich selbst zu bestehen. Wenn Friedrich Schlegel von der Sprache redet, als von einem Baum, der Knospen und Schösslinge hervortreibe in Gestalt von Verbal- und Nominalendungen, oder wenn Schleicher sie ansieht als ein Ding für sich, als ein organisches Wesen, das ein ihm eigenes Leben führe, zur Reife gelange, Nachkommenschaft hervorbringe und dann ganz und gar dahinsterbe, so ist dies als eine jenen Gelehrten eigentümliche Mythologie zu betrachten; und wenn wir auch nicht umhin können metaphorische Ausdrücke zu gebrauchen, so sollten wir doch immer auf unserer Hut sein, damit wir nicht zu weit fortgerissen werden durch die Worte, deren wir uns bedienen.” 85 Dies kann man voll und ganz unterschreiben; aber ist es nicht ein zu großes Zugeständnis für jemand, der - wie er sagt - “es fortwährend als eine ausgemachte Sache angenommen (hat), 76 85 Müller 1892, S. 44 f. <?page no="77"?> 77 dass die Wissenschaft der Sprache (…) zu den Naturwissenschaften gehöre, und dass deshalb ihre Methode derjenigen gleichen solle, welche man in der Botanik, Geologie, Anatomie und anderen Zweigen des Naturstudiums mit so großem Erfolge befolgt hat”? 86 Ist es nicht zwingend notwendig, die Sprachwissenschaft zu den “historischen Wissenschaften” zu zählen, die es “mit (den Werken) des Menschen zu thun” haben? Die “physikalische Wissenschaft”, d.h. die “Naturwissenschaft”, hat es doch “mit den Werken Gottes” zu tun. 87 Max Müller wagt sich noch einen Schritt weiter heraus: Nicht einmal die Bibel behauptet, daß die Sprache Gottes Werk sei! “Denn in der Bibel (Genesis II, 19 (R.K.)) gibt nicht der Schöpfer jedem Ding seinen Namen, sondern Adam.” 88 In der Tat spricht alles dagegen, die Sprachwissenschaft zu den Naturwissenschaften zählen zu dürfen, und alles dafür, daß es sich um eine “historische Wissenschaft” handelt. Hinzu kommt, daß die Sprache historischen Veränderungen unterliegt. “Die historischen Umgestaltungen der Sprache können schneller oder langsamer erfolgen, aber sie finden statt zu allen Zeiten und in allen Ländern.” 89 Wie kommt Müller aus dieser anscheinend ausweglosen Argumentationsposition wieder heraus? “Als ich für die Wissenschaft der Sprache einen Platz in der Reihe der Naturwissenschaften forderte (Anm: Schleicher (…) hat später dieselbe Ansicht angenommen), war ich darauf vorbereitet, manchen Einwürfen zu begegnen.” 90 Sein zentrales Argument ist dies: “Nach alledem hat man geschlossen, dass die Sprache, da sie im Gegensatz zu allen anderen Naturereignissen historischen Abänderungen unterworfen sei, sich nicht in derselben Weise wie der Stoff aller anderen Naturwissenschaften behandeln lasse. Dieser Einwand ist auch scheinbar wohl begründet, wenn wir ihn jedoch sorgfältiger prüfen, so finden wir bald, dass er ganz und 86 Müller 1892, S. 20 87 Müller 1892, S. 20 88 Müller 1892, S. 29 89 Müller 1892, S. 34 90 Müller 1892, S. 27 <?page no="78"?> 78 gar auf einer Verwirrung des Ausdrucks beruht (Hervorheb. R.K.). Wir müssen nämlich zwischen historischen Veränderungen und natürlichem Wachsthum unterscheiden. Die Kunst, die Wissenschaft, die Philosophie und die Religion haben alle ihre Geschichte; die Sprache lässt, wie jedes andere Naturprodukt, genau genommen, nur ein Wachsthum zu.” 91 Der Begriff des Wachstums scheint in der damaligen Zeit in England eine große Rolle gespielt zu haben. So bemerkt Herbert Spencer in dem 1864 erstmals erschienenen dritten Teils seines Werkes “Die Prinzipien der Biologie”, “dass die Gesellschaft nicht gemacht ist, sondern von selbst wächst.” (Hervorheb. R.K.) 92 Was ist Müllers Kriterium dafür, Geschichte von Wachstum zu unterscheiden? Es ist unser bekanntes Kriterium der willentlichen Beeinflußbarkeit durch den Menschen: “Man möge (…) erwägen, dass, wenn schon die Sprache fortwährend Veränderungen ausgesetzt ist, der Mensch dennoch nicht die Macht besitzt, sie hervorzubringen oder zu verhindern. Wir könnten eben so gut daran denken, die Gesetze des Blutumlaufes zu verändern oder unserer Länge eine Elle hinzuzusetzen, als die Gesetze der Rede abzuändern oder nach Belieben neue Wörter zu erfinden.” 93 Also ist die Sprache ein Naturphänomen. Hier haben wir es wieder, das Argument im Gefängnis der natürlich-künstlich Dichotomie. Selbstverständlich gab es auch die andere Position, die komplementäre. William D. Whitney war einer ihrer Vertreter. Nach ihm ist die Sprachwissenschaft “eine der vornehmlichsten historischen oder Geisteswissenschaften”. 94 Warum ist sie das? Das Kriterium ist konstant: “Wir dürfen den wesentlichen Unterschied zwischen den Gegenständen der Naturwissenschaft und dem der Sprachwissenschaft nicht übersehen, müssen anerkennen, daß wir es hier mit menschlichen Einrichtungen zu thun haben, bei denen überall jene unfassbare und unmessbare Kraft, der menschliche Wille (…) wirksam ist.” 95 91 Müller 1892, S. 37 92 Spencer 1876, S. 379 (cf. auch II. Theil, I. Cap.) 93 Müller 1892, S. 37 94 Whitney 1874, S. 686 95 Whitney 1876, S. 283 <?page no="79"?> 79 Direkt auf Schleichers Bemerkung, daß die Sprachen nicht vom Willen des Menschen bestimmbar seien, schreibt Whitney: “If the voluntary action of man has anything to do with making and changing language, then language is so far not a natural organism, but a human product. And if that action is the only force that makes and changes language, then language is not a natural organism at all, nor its study a natural science.” 96 Bemerkenswert ist Whitneys vorsichtige Ausdrucksweise. Er behauptet nicht, daß die Menschen ihre Sprache machen und verändern, sondern daß willentliche Handlungen “etwas damit zu tun haben”, bzw. daß Handlung “die einzige Kraft darstellt”. Diese Ausdrucksweise wäre durchaus kompatibel mit der These, daß eine Sprache Ergebnis menschlicher Handlungen, nicht aber Durchführung eines menschlichen Plans ist. Whitney ist dieser Auffassung in einigen seiner Formulierungen in der Tat sehr nahe gekommen. Wenn wir dann allerdings lesen: “(…) of somewhat the same character is a Beethoven symphony, a Greek temple, an Egyptian pyramid”, 97 so müssen wir doch konstatieren, daß der entscheidende Unterschied zwischen einem Artefakt und einer sogenannten natürlichen Sprache von Whitney nicht erkannt wurde. Er suchte den Ausweg aus dem Gefängnis in der richtigen Richtung, was nicht zuletzt durch die Wahl des Begriffes der Institution deutlich wird: “If we are to give language a name which shall bring out its essential character most distinctly and sharply (…), we shall call it an INSTITU- TION, one of the institutions that make up human culture.” 98 Wenn ihm aber das Wesen der Sprache so deutlich gewesen wäre, wie er vorgibt, und wie es bisweilen scheint, so wäre ihm sicherlich auch deutlich geworden, daß in diesem Sinn eine Symphonie, ein Tempel oder eine Pyramide gerade keine Institutionen sind. Betrachten wir die drei Autoren Schleicher, Müller und Whitney abschließend noch einmal gemeinsam: Was eint sie und was trennt sie? 96 Whitney 1873, S. 301 97 Whitney 1873, S. 301 f. 98 Whitney 1873, S. 316 <?page no="80"?> Schleicher und Müller betrachten die Sprache als Naturphänomen, Whitney als Kulturphänomen. Für Schleicher ist die Sache sonnenklar: Die Sprache ist ein Organismus; Organismen leben und sterben; was lebt und stirbt ist Teil der Natur. Die Linguistik ist somit eine Naturwissenschaft. Diese Position vertritt Schleicher platt und ohne Wenn und Aber. Müller kommt im Endeffekt zum gleichen Ergebnis, aber ihm ist dabei spürbar unwohl. Whitney kommt zum konträren Ergebnis, und ganz wohl scheint ihm dabei auch nicht zu sein. Verblüffenderweise finden sich bei beiden Autoren Passagen, die sich nicht nur sehr ähnlich sind, sondern den Mandevilleschen Ausweg aus dem Gefängnis deutlich markieren. Max Müller schreibt: “Der Prozess, durch den die Sprache feste Gestalt gewinnt, (…) vereinigt in sich die beiden entgegengesetzten Elemente der Notwendigkeit und des freien Willens (Hervorheb. R.K.). Obgleich das Individuum der Hauptfaktor bei der Hervorbringung neuer Wörter und neuer grammatischer Formen zu sein scheint, so ist es dies doch nur, nachdem seine Individualität in der gemeinsamen Tätigkeit der Familie, des Stammes oder der Nation, der es angehört untergegangen ist. (…) Der Einzelne ist als solcher machtlos, und die scheinbar von ihm entwickelten Erfolge hängen von Gesetzen ab, die er nicht beherrscht, und von der Mitwirkung aller derer, die mit ihm zusammen eine Klasse, einen Körper, ein organisches Ganzes bilden.” 99 Man verspürt das Bemühen um einen Ausweg, die Nähe zu der Idee, daß die Sprache die nichtintendierte kollektive Folge intentionaler Handlungen der Individuen ist. Seine Überlegungen zielen in die richtige Richtung, ohne daß er sich von seinem vitalistischen Erbe à la Schleicher völlig zu trennen vermag. Bemerkenswert ist allerdings seine Feststellung, daß das Werden der Sprache einem Zusammenspiel von freiem Willen und Notwendigkeit zu verdanken ist. Auf diesen Aspekt werden wir zurückkommen müssen! Whitneys entsprechende Passage lautet: “The desire of communication is a real living force, to the impelling action of which every human being, in every stage of culture, is accessible; and so far as we can see, it is the only force that was equal to initiating 80 99 Müller 1892, S. 40 <?page no="81"?> 81 the process of language-making, as it is also the one that has kept up the process to the present time. I t w o r k s b o t h c o n s c i o u s l y a n d u n c o n s c i o u s l y , a s r e g a r d s t h e f u r t h e r c o n s e q u e n c e s o f t h e a c t .” 100 Müllers Zusammenspiel von Wille und Notwendigkeit findet sich bei Whitney wieder als Zusammenspiel von Bewußtem und Unbewußtem. Auch an diesen Aspekt werden wir uns zu erinnern haben. Wie ist es möglich, daß zwei Wissenschaftler von höchstem Range in ihren Ansichten über das Wesen der Sprache und ihres Werdens weitgehend übereinstimmen können, und dennoch der eine zu dem Schluß kommt, die Sprache sei ein Naturphänomen, während der andere zu dem Schluß kommt, sie sei von Menschen gemacht? 3.3. Ist die Sprache von Menschen gemacht? Machen wir einen Sprung in die Gegenwart. Noam Chomsky widmet sich in seinem Buch “Regeln und Repräsentationen” der Frage, ob Sprachen “von Menschen gemacht” seien, und ob sie “somit einem theoretischen Zugang offenstehen, der sich deutlich von dem der Naturwissenschaften unterscheidet.” 101 Ich will Chomskys grundsätzliche Argumentation nicht angreifen, denn er hat meines Erachtens recht mit der Ansicht, daß der Ausgang dieser Frage für seine Fragestellung irrelevant ist. Er ist darauf aus, die mentalen Strukturen ausfindig zu machen, die die Fähigkeit eines idealisierten Sprechers, über die Grammatik einer Sprache zu verfügen, repräsentieren, wobei im Zentrum des Interesses der Kernbereich der Grammatik steht, über den wir Menschen von Geburt an verfügen, und der somit (im Prinzip) allen Sprachen gemeinsam ist. Für diese Fragestellung ist sogar der Aspekt, daß die Sprache vom Sprecher zum Zwecke des Kommunizierens verwendet wird, unerheblich. Chomskys Problem ist in der Tat möglicherweise ein empirisch-naturwissen- 100 Whitney 1873, S. 355 (Auf diese Passage weist auch Darwin (1893), S. 110, Anm. 53 hin.) 101 Chomsky 1980/ 81, S. 18 <?page no="82"?> 82 schaftliches, vorausgesetzt, daß die Prämisse korrekt ist, “that grammar has to have a real existence, that is, there is something in your brain that corresponds to the grammar.” 102 Ich will ihm also nicht vorwerfen, daß er die Frage, ob Sprachen “von Menschen gemacht sind”, für relativ irrelevant hält. Bemerkenswert ist vielmehr, daß er sich nicht in der Lage sieht, diese Frage überhaupt sinnvoll zu interpretieren bzw. zu stellen. Schauen wir uns die Passage an. Im Zuge eines Kommentars zu der These, daß wir unsere Sprache “geschaffen” hätten, schreibt er: Diese Behauptung “ist bestenfalls ziemlich mißverständlich formuliert. Haben wir als Individuen unsere Sprache geschaffen? D.h. haben Sie oder habe ich Englisch ‘geschaffen’? Dies scheint entweder sinnlos oder falsch zu sein. Wir hatten bezüglich der Sprache, die wir erworben haben, überhaupt keine Wahl; sie entwickelte sich einfach in unserem Geist aufgrund unserer internen Ausstattung und der Umwelt. Wurde die Sprache von unseren Ururahnen ‘geschaffen’? Einer solchen Frage einen Sinn abzugewinnen, fällt schwer. In der Tat gibt es für die Annahme, die Sprache sei ‘geschaffen’ worden, genausowenig Grund wie für die Annahme, das visuelle System des Menschen und die verschiedenen Ausprägungen, die es annimmt, seien ‘von uns geschaffen’(…).” 103 Chomsky vermischt zwei verschiedene Probleme: Habe ich meine Sprache selbst geschaffen? Nein, natürlich nicht. Meine Sprachkompetenz entwickelte sich in den ersten Jahren meines Lebens, ohne daß ich etwas dafür oder dagegen hätte tun können, in der Tat aufgrund meiner “internen Ausstattung und der Umwelt”. Wenn wir die These, daß (beispielsweise) Englisch von Menschen gemacht ist, interpretieren als die These, daß die Individualkompetenzen der Englischsprecher von ihnen selbst gemacht sind, so ist sie wahrscheinlich “sinnlos oder falsch”. Aber wer sollte diesen Unsinn je vertreten haben? Die Frage, wie Menschen(-kinder) in den Besitz ihrer Muttersprache kommen, Chomskys Kernproblem, ist jedoch vollständig verschieden von der Frage, wie der Zustand dessen, was man heute “englische Sprache” nennt, zustande gekommen ist. Die Antwort auf die 102 Chomsky 1982, S. 107 103 Chomsky 1980/ 81, S. 18 f. <?page no="83"?> 83 erste Frage ist von der Antwort auf diese zweite Frage weitgehend unabhängig. “Wurde die Sprache von unseren Ururahnen ‘geschaffen’? ” Es ist Chomskys eigenwilliger Sprachbegriff, der es ihm unmöglich macht, diese Frage als sinnvoll zuzulassen. Chomsky ist der Meinung, daß das, was wir landläufig “eine Sprache”, also beispielsweise “die deutsche Sprache” nennen, ein abstraktes Phantasma ist, dem erstens keine wirkliche Existenz zukommt, und das zweitens von keinerlei linguistischem Interesse ist. Real und interessant ist ausschließlich die im Gehirn eines Sprechers “repräsentierte” Individualkompetenz, was Chomsky neuerdings I-Grammatik (internalized grammar) nennt. Von der in meinem Kopf befindlichen Repräsentation kann man in der Tat nicht sinnvoll fragen, ob sie vom Menschen gemacht sei oder nicht. Chomsky ignoriert dabei jedoch die Tatsache, daß zwischen meiner Kompetenz in meinem Kopf und “der deutschen Sprache” im hypostasierten Sinne, im Sinne geltender Konventionen, ein wechselseitiges Beeinflussungsverhältnis besteht; und daß meine Kompetenz in meinem Kopf nur insofern von linguistischem Interesse ist, wenn man von patholinguistischen Fragestellungen absieht, als sie konventionskonform ist. Auf diesen Problembereich werde ich in Kapitel 5.4. noch ausführlicher eingehen. Kehren wir zurück zur Ausgangsfrage am Ende des letzten Kapitels: Wie kommt es, daß bei weitgehend gleichen Ansichten über die Sprache der eine zu dem Schluß kommen kann, sie sei von Menschen gemacht, während der andere sie für ein Naturphänomen hält? Der Grund dafür liegt in der Unklarheit des Prädikats “von Menschen gemacht”. Es ist in bemerkenswerter Weise zweideutig. Ein Gegenstand (im weitesten Sinne) kann entweder insofern von Menschen gemacht sein, als er A: Ergebnis menschlicher Handlungen ist, oder er kann in dem Sinne “von Menschen gemacht” sein, daß er B: aufgrund menschlicher Intentionen entstanden ist. Nun impliziert zwar B A, aber A impliziert nicht B. Das heißt, beide Kriterien treffen vielfach zusammen, aber nicht notwendigerweise. Diese relative Unabhängigkeit wurde von den Lingui- <?page no="84"?> 104 Whitney 1873, S. 301 105 “&” steht für “sowohl als auch”; “/ ” steht für “eines von beiden, nicht aber beides”; “ ➝ ” steht für “impliziert”. sten des 19. Jahrhunderts nicht gesehen. Diejenigen, die, wie Schleicher und Müller, dafür argumentieren wollten, daß die Sprache ein Naturphänomen sei, leugneten, daß auf die Sprache Kriterium B zutrifft: Die Entwicklung der Sprache (ihr “Wachsthum”) ist nicht von Menschen “bestimmbar”, sie ist unabhängig vom Willen des Einzelnen. Diejenigen, die, wie Whitney, dafür argumentieren wollten, daß die Sprache eine menschliche Institution und kein Naturphänomen sei, stützten sich darauf, daß A zutrifft, “that action is the only force that makes and changes language”. 104 Damit befinden sich die beiden Parteien jedoch nicht im Widerspruch! Beide haben recht, denn beide Positionen sind miteinander vereinbar. Der vermeintliche Widerspruch entstand erst dadurch, daß die einen sich gezwungen sahen, den unzulässigen Schluß von nicht- B auf nicht-A zu vollziehen, und die anderen sich gezwungen sahen, den unzulässigen Schluß von A auf B zu vollziehen. Oder anders ausgedrückt: Da sie stillschweigend davon ausgingen, daß A ÷ B, sahen sie sich zu der Dichotomie (-A & -B) / (A & B) gezwungen. Alles, was nicht natürlich ist, hatte künstlich zu sein. 105 Aus der Tatsache, daß zwar B A impliziert, nicht aber A B impliziert, folgt, daß die “klassische” Dichotomie durch eine Trichotomie ersetzt werden muß. Denn B ➝ A ist äquivalent mit -(-A & B). Also verbleiben die drei restlichen Möglichkeiten: (-A & -B) / (A & B) / (A & -B). Oder anders ausgedrückt: 1. Es gibt Dinge, die nicht Ziel menschlicher Intentionen sind und (somit auch) nicht Ergebnisse menschlicher Handlungen (der aufrechte Gang, die Bienensprache, das Wetter, die Alpen). 2. Es gibt Dinge, die Ergebnisse menschlicher Handlungen sind und Ziel ihrer Intentionen (der Kölner Dom, ein Kuchen, das Ghetto in Soweto, Esperanto). 3. Es gibt Dinge, die Ergebnisse menschlicher Handlungen, nicht aber Ziel ihrer Intentionen sind (die Inflation der DM, 84 <?page no="85"?> 85 der Trampelpfad über den Rasen, das Ghetto in Harlem, unsere Sprache). Die Dinge der ersten Art sind unstrittig Naturphänomene, die der zweiten Art ebenso unstrittig Artefakte. Die Dinge der dritten Art haben mit den beiden anderen jeweils ein Kriterium gemeinsam. Sie sind, wie die der zweiten Art, Ergebnisse menschlichen Handelns, und sie sind, wie die der ersten Art, nicht Ziel menschlicher Intentionen. So konnten sie, je nachdem, welchem Kriterium das größere Gewicht beigemessen wurde, wahlweise den Artefakten oder den Naturphänomenen zugeschlagen werden. Ich nenne die Dinge, die Ergebnisse menschlicher Handlungen, nicht aber Ziel ihrer Intentionen sind, “Phänomene der dritten Art”. Das Aufgeben der klassischen dichotomischen Unterteilung wissenschaftlicher Explananda zugunsten dieser Trichotomie läßt sich graphisch wie folgt veranschaulichen: Explananda Naturphänomene Ergebnisse menschlichen Handelns Artefakte Phänomene der dritten Art Phänomene der dritten Art sind natürlich genau jene Fergusonschen “establishments, which are indeed the results of human action, but not the execution of any human design”. 106 Was ich behaupten möchte, ist erstens, daß natürliche Sprachen Phänomene der dritten Art sind, keine Naturphänomene und keine Artefakte. Zweitens möchte ich behaupten, daß die Betrachtung der Sprache als Phänomen der dritten Art genau das leistet, was die Sprachwissenschaftler des 19. Jahrhunderts sich wünschten, und was bis heute ein Desiderat ist: ein Sprachbegriff, der dem ewigen Wandel der Sprache gerecht wird. 106 Ferguson 1767, S. 187 <?page no="87"?> 87 T EIL II 4. Das Wirken der unsichtbaren Hand 4.1. Sprache - ein Phänomen der dritten Art Fassen wir die Quintessenz der beiden letzten Kapitel noch einmal zusammen: Es gibt einen grundlegenden Irrtum, der es seinen Verfechtern unmöglich macht, das Wesen der menschlichen Kultur im allgemeinen und das der Sprache im besonderen zu begreifen. Er läßt sich wie folgt formulieren: Die Welt zerfällt ohne Rest in zwei Arten von Phänomenen; solche, die von Gott gemacht sind (bzw. die es von Natur aus gibt), und solche, die von Menschen gemacht sind. Tertium non datur. Die Werke Gottes sind Naturphänomene, die des Menschen Artefakte. Naturphänomene sind vom Willen des Menschen unabhängig und somit Gegenstand der Naturwissenschaften, Artefakte sind Produkte willentlicher Handlungen und somit Gegenstand der Geistes- und Kulturwissenschaften. Soweit der Grundirrtum. Er führt zu einer Fehleinschätzung der Sprache und der Sprachwissenschaft. Wer die Linguistik zu den Naturwissenschaften zählen wollte, konnte sich auf die Tatsache berufen, daß die Entwicklung der Sprache vom Willen des Menschen unabhängig ist; wer die Linguistik zu den Geisteswissenschaften zählen wollte, konnte sich auf die Tatsache berufen, daß es nur die sprachlichen Handlungen der Menschen sein können, die die Entwicklung der Sprache hervorbringen. Der Ausweg aus diesem Dilemma liegt in der Erkenntnis, daß die unterstellte Dichotomie “Naturphänomen vs. Artefakt” auf einer unerkannten Zweideutigkeit des Prädikats “von Menschen gemacht” beruht. Oder anders ausgedrückt, daß es neben Naturphänomenen und Artefakten noch Phänomene einer dritten Art gibt, und die Sprache ein ebensolches ist. Interessant ist es, auch <?page no="88"?> 88 hier anzumerken, daß sich Goethe offenbar über die Existenz solcher Phänomene im klaren war: “Das dritte, was mich beschäftigte, waren die Sitten der Völker. An ihnen zu lernen, wie aus dem Zusammentreffen von Notwendigkeit und Willkür, von Antrieb und Wollen, von Bewegung und Widerstand ein drittes hervorgeht, was weder Kunst noch Natur, sondern beides zugleich ist, notwendig und zufällig, absichtlich und blind. Ich verstehe die menschliche Gesellschaft.” 107 Ich habe bereits in Kapitel 1.2. darauf hingewiesen, daß unsere Umgangssprache sich einer angemessenen Darstellung evolutionärer Prozesse vielfach sperrt. Wir sehen dies auch hier. Bemerkenswerterweise haben wir die Adjektive natürlich und künstlich, aber wir haben kein Adjektiv, das die Eigenschaft, ein Phänomen der dritten Art zu sein, bezeichnet. Dies liegt vermutlich daran, daß letztere (in einem noch näher zu erläuternden Sinne) evolutionäre Phänomene sind. Dabei unterscheiden wir die beiden Arten, auf die etwas von Menschen gemacht sein kann, durchaus. Aber wir tun es terminologisch völlig unangemessen. So wie wir korrekterweise natürliche Blumen von künstlichen unterscheiden, so unterscheiden wir zwischen natürlichen Zahlungsmitteln (Geld) und künstlichen Zahlungsmitteln (Geldsurrogaten), zwischen einer natürlich gewachsenen Stadt und einer künstlichen (auf dem Reißbrett entworfenen) Stadt, zwischen einem natürlichen Alphabet und einem künstlichen, und schließlich zwischen natürlichen Sprachen und künstlichen. Daß wir die Unterscheidung treffen, ist korrekt, aber wie wir sie benennen, ist irreführend. Denn natürliche Zahlungsmittel, Städte, Alphabete und Sprachen haben eines gemeinsam: Sie sind, im Gegensatz zu natürlichen Blumen, nicht natürlich. Es sind menschliche Erzeugnisse, kulturelle Institutionen. Wodurch unterscheiden sie sich von ihren künstlichen Pendants, die ja ebenfalls menschliche Erzeugnisse sind und “Kulturphänomene”? Unsere gängige umgangssprachliche Antwort lautet: Während die einen geplant sind, sind die anderen organisch gewachsen. Hier haben wir es wieder, das in Kapitel 3.2. beschriebene Gefängnis in Form fossiler Ausdrucksweise. 107 Goethe 1952, S. 85 <?page no="89"?> 89 108 Haakonssen 1981, S. 24. Diesen Literaturhinweis verdanke ich von Hayek. Im Grund genommen treffen wir also auch in unserer Umgangssprache die im letzten Kapitel eingeführte trichotome Unterscheidung; aber wir treffen sie in dichotomer Terminologie. Wir unterscheiden bei Dingen, die nicht-natürlich sind, zwischen “natürlichen” und “künstlichen”, wobei die “natürlichen” unter den nicht-natürlichen unsere Phänomene der dritten Art sind. Die Trichotomie stellt sich somit in unserer Umgangssprache etwa wie folgt dar: Die Dinge natürlich künstlich (? ) künstlich natürlich die Alpen, Blumen, Esperanto, Deutsch, “gewachsene” Flüsse, Bienen- Papierblumen, Städte, der Franc, das sprache … EUR, lateinische Alphabet … Trabantenstädte, Morsealphabet … Wir erkennen daran, daß wir umgangssprachlich das Adjektiv “natürlich” zweideutig verwenden. Daß wir auch die Phänomene der dritten Art “natürlich” nennen, liegt vermutlich daran, daß diese Phänomene in der Tat sowohl Züge von Naturphänomenen als auch Züge von Artefakten tragen. “The things in this category”, schreibt Haakonssen, 108 “resemble natural phenomena in that they are unintended and to be explained in terms of efficient causes, and they resemble artificial phenomena in that they are the result of human action (…).” Schauen wir uns die wesentlichen Eigenschaften von Phänomenen der dritten Art genauer an, indem wir zunächst ein Beispiel betrachten: <?page no="90"?> 90 Straßenverkehrsforscher nennen ein bestimmtes Phänomen, das sich täglich auf unseren Autobahnen ereignet, den Stau aus dem Nichts. Es ist ein Phänomen der dritten Art, an dem sich die typischen Eigenschaften dieser Spezies gut demonstrieren lassen. Ich will eine mögliche Genese eines solchen Staus in einem sehr vereinfachten Modell darstellen. Nehmen wir an, auf einer dichtbefahrenen Strecke - sie sei der Einfachheit halber einspurig - fahren Autos mit einem Abstand von ca. 30 m in einer Geschwindigkeit von 100 km/ h, und ein Fahrer bremst plötzlich (die Gründe sind irrelevant) auf 90 km/ h ab. Nennen wir dieses Fahrzeug, oder den Fahrer, “a” und die darauffolgenden “b”, “c” usw. Wenn b nun a’s Bremslichter sieht, wird er ebenfalls abbremsen; da b nicht weiß, auf welche Geschwindigkeit a herunterbremst, wird b, um “Sicherheitsspielraum” zu haben, eher ein bißchen zu stark abbremsen als zu schwach. Er wird vielleicht von 100 auf 85 km/ h herunterbremsen. C steht vor dem analogen Problem: Exakt auf 85 km/ h herunterzubremsen, ist zu riskant, denn er weiß ja nicht genau, wie stark b bremst. Sein Streben nach Sicherheit wird ihn dazu führen, eher stärker als nötig zu bremsen; er wird seine Geschwindigkeit vielleicht auf 80 km/ h reduzieren. Wie das weitergeht, können wir hochrechnen: s ist zum Stillstand gekommen und mit ihm alle seine Nachfolger. Dies ist ein vereinfachtes Modell. Die Wirklichkeit ist weitaus dramatischer, da sich die Geschwindigkeit von Auto zu Auto nicht linear verringern dürfte. Aber für unsere Zwecke ist das Beispiel gut genug. Der Stau, der ab dem Fahrzeug s eingetreten ist, ist in gewisser Weise von den Fahrern der Fahrzeuge a bis s “gemacht”. Sie haben ihn erzeugt durch ihre Handlungen, ohne daß die Erzeugung des Staus zu den Intentionen der einzelnen Handelnden gehörte. Jeder einzelne hat lediglich angemessen auf die Handlungen seines Vordermannes reagiert, unter Wahrung seines legitimen Sicherheitsbedürfnisses, und so, ohne dies zu beabsichtigen oder auch nur davon zu wissen, eine höchst gefährliche Situation erzeugt. (Das Kuriose an so einem Stau ist, nebenbei bemerkt, daß die, die ihn “gemacht” haben, nicht “in ihn hineingekommen” sind.) <?page no="91"?> 91 Phänomene der dritten Art sind, wie dieser Stau auch, in aller Regel kollektive Phänomene. Sie entstehen durch Handlungen vieler, und zwar dadurch, daß die das Phänomen erzeugenden Handlungen gewisse Gleichförmigkeiten aufweisen, die für sich genommen irrelevant sein mögen, in ihrer Vielfalt jedoch bestimmte Konsequenzen zeitigen. Die Gleichförmigkeit in unserem Stau-Beispiel besteht darin, daß jeder der beteiligten Fahrer nach der Maxime handelt: Lieber ein bißchen zu stark bremsen als ein bißchen zu schwach. Seine Intentionen sind darauf gerichtet, dem Vordermann nicht aufzufahren; über seinen Beitrag zur Erzeugung eines “Staus aus dem Nichts” wird er sich im allgemeinen nicht im klaren sein. Der Stau ist somit ein Epiphänomen der Handlungen des Abbremsens mit “Sicherheitszugabe”. Um dies in der Sprache der Handlungstheorie ausdrücken zu können, muß man ihr Vokabular etwas erweitern. In der Theorie des individuellen Handelns unterscheidet man gemeinhin das Ergebnis einer Handlung von ihren Folgen. 109 Ergebnis einer Handlung h nennt man das Ereignis, das eingetreten sein muß, damit die Handlung h überhaupt als vollzogen gilt. Ist das Ergebnis von h eingetreten, so sagt man von der Handlung h, sie sei gelungen. So ist die Handlung des Türschließens gelungen, wenn das Ergebnis, nämlich daß die Tür geschlossen ist, erreicht ist. (Was auch immer einer getan haben mag, die Handlung des Türschließens gilt als nicht vollzogen, wenn die Tür schließlich nicht zu ist.) Die Intention, das Ergebnis einer Handlung zu verwirklichen, habe ich primäre Intention genannt. 110 Handlungen werden normalerweise nicht um ihrer Ergebnisse willen vollzogen, sondern um ihrer Folgen willen. Die angestrebten Wirkungen des Ergebnisses einer Handlung h nennt man die (intendierten) Folgen dieser Handlung. Treten die intendierten Folgen einer Handlung nicht ein, so sagt man, sie sei nicht erfolgreich. Eine Handlung kann also gelungen sein, ohne erfolgreich zu sein. (Wenn ich die Tür schließe, damit der Raum wärmer wird, so kann es passieren, daß die Tür zwar geschlossen ist, die intendierte Folge, die Erwärmung des Rau- 109 Es gibt verschiedene Terminologien. Ich verwende hier die, die ich in Keller 1977a expliziert habe. 110 Keller 1977a, S. 19 <?page no="92"?> 92 mes, aber dennoch nicht eintritt.) Die Intention, die Folge(n) einer Handlung zu verwirklichen, habe ich sekundäre Intention genannt. Nach dieser terminologischen Festlegung sollte man den Stau weder Ergebnis noch Folge der ihn erzeugenden Handlungen nennen. Es handelt sich um eine Art nicht-intendierter Folge. Auch diese Redeweise ist jedoch irreführend. Denn der Stau ist ja nicht die nicht-intendierte Folge der einzelnen Handlungen. Der Stau ist eine Art nicht-intendierter Folge all der (betreffenden) Handlungen zusammengenommen. Nicht-intendierte Folgen der einzelnen Handlungen gibt es eine ganze Menge, von denen die meisten uninteressant sind: Dem einen kippt die Thermosflasche um, dem anderen rutscht die Aktentasche vom Sitz etc. Die Folge, die für das Entstehen des Staus relevant ist, ist ja gerade n i c h t nicht-intendiert. Eine Minderung der Geschwindigkeit, und zwar eher zu viel als zu wenig, ist durchaus intendiert. Daraus jedoch entsteht das nicht-intendierte Phänomen. Das Besondere an diesen nicht-intendierten Folgen, die Phänomene der dritten Art darstellen, ist, daß sie eintreten s o s i c h e r w i e d a s A m e n i n d e r K i r c h e ; vorausgesetzt, daß die sie erzeugenden Handlungen gelungen sind. In der Tat handelt es sich hierbei um kausale Konsequenzen der Ergebnisse der sie erzeugenden Handlungen. Wenn die Handlungen der Fahrer a bis s gelungen sind, die Geschwindigkeit des eigenen Wagens in Relation zu der des jeweiligen Vordermannes hinreichend zu vermindern, inklusive einer Sicherheitsmarge, so ist deren kausale Konsequenz der Stillstand. Bisweilen wird behauptet, in Kultur- oder Handlungswissenschaften sei die Annahme von Kausalitäten fehl am Platz. 111 Dies ist natürlich ein Irrtum. Richtig ist, daß kulturelle Phänomene nicht a u s s c h l i e ß l i c h kausal erklärt werden können; kausale Anteile kann eine Erklärung im Bereich der Kulturwissenschaften jedoch durchaus besitzen. Diese Erklärung eines Phänomens der dritten Art muß sogar, um angemessen zu sein, einen solchen Anteil haben. Denn Phänomene der dritten Art sind immer zusammengesetzt aus einem Mikrobereich, der intentional ist, und einem Makrobereich, der kausaler Natur ist. Den Mikrobereich bilden 111 Coseriu 1958/ 1974, S. 23, S. 95 ff.; Cherubim 1983, S. 9; Ronneberger-Sibold 1980, S. 37 <?page no="93"?> 93 die an der Erzeugung des Phänomens beteiligten Individuen bzw. ihre Handlungen; in unserem Beispiel die abbremsenden Autofahrer. Den Makrobereich bildet die durch den Mikrobereich hervorgebrachte Struktur; in unserem Fall der “Stau aus dem Nichts”. Wir können also resümieren: Ein Phänomen der dritten Art ist die kausale Konsequenz einer Vielzahl individueller intentionaler Handlungen, die mindestens partiell ähnlichen Intentionen dienen. Daß beim Prozeß des Werdens bzw. des Wandels einer Sprache solcherlei zwei Faktoren eine Rolle spielen, blieb, wie wir in Kapitel 3.2. gesehen haben, sowohl Max Müller als auch Whitney nicht verborgen: Max Müller erkannte, daß dieser Prozeß “in sich die beiden entgegengesetzten Elemente der Notwendigkeit und des freien Willens (vereinigt)”, 112 während Whitney bemerkte, daß der Prozeß des “language-making (…) works both consciously and unconsciously, as regards the further consequences of the act”. 113 Deutlicher als von jedem anderen wurden zu jener Zeit die Eigenschaften der Phänomene, die ich Phänomene der dritten Art genannt habe, von einem Mann gesehen, der wiederum kein Sprachwissenschaftler war, sondern Nationalökonom: von Carl Menger. In seinem 1883 erschienenen Werk “Untersuchungen über die Methode der Socialwissenschaften und der politischen Ökonomie insbesondere” widmete er ihnen ein ganzes Kapitel. Sein “Zweites Capitel” des dritten Buches trägt die Überschrift: “Ueber das theoretische Verständniss jener Socialerscheinungen, welche kein Product der Uebereinkunft, bezw. der positiven Gesetzgebung, sondern unreflectirte Ergebnisse geschichtlicher Entwickelungen sind”. Als “vielleicht das merkwürdigste Problem der Socialwissenschaften” kennzeichnet er die Fragen: “Wieso vermögen dem Gemeinwohl dienende und für dessen Entwickelung höchst bedeutsame Institutionen ohne einen auf ihre Begründung gerichteten Gemeinwillen zu entstehen? ” 114 “Welcher Natur - dies ist die für unsere Wissenschaft bedeutungsvolle Frage - sind nun alle die obigen Socialerscheinun- 112 Müller 1892, S. 40 113 Whitney 1873, S. 355 114 Menger 1883/ 1969, S. 163 <?page no="94"?> 94 gen” 115 (nämlich “die Sprache, die Religion, das Recht, ja der Staat selbst (…), die Erscheinungen der Märkte, der Concurrenz, des Geldes”) 116 “und wie vermögen wir zu einem vollen Verständnisse ihres Wesens und ihrer Bewegung zu gelangen? ” 117 In weitgehender Übereinstimmung mit der Auffassung der Sprache als einem Phänomen der dritten Art schreibt er: “Das Recht, die Sprache, der Staat, das Geld, die Märkte, alle diese Socialgebilde in ihren verschiedenen Erscheinungsformen und in ihrem steten Wandel sind zum nicht geringen Theile das unreflectirte Ergebniss socialer Entwickelung.” 118 Gegen zwei Arten von Scheinerklärungen wendet er sich mit Vehemenz: - gegen das “pragmatische Verständnis” und - gegen die Organismusmetaphorik. “Der nächstliegende Gedanke, um zum Verständnisse der socialen Institutionen, ihres Wesens und ihrer Bewegung zu gelangen, war, dieselben als das Ergebniss menschlicher, auf ihre Begründung und Gestaltung gerichteter Berechnung zu erklären.” 119 Dies ist in Mengers Sprache das “pragmatische” Verständnis. Dieser pragmatische “Erklärungsmodus” habe zwar “den Vortheil, alle socialen Institutionen (…) unter einem gemeinsamen, leicht verständlichen Gesichtspunkte zu interpretiren”; sein Nachteil jedoch ist, daß er “den realen Verhältnissen inadäquat und durchaus unhistorisch” sei. 120 Zu den “nichtssagenden” Erklärungsversuchen, so fährt Menger fort, “gehört vor allem der Versuch jener, welche das obige Problem schon dadurch gelöst zu haben vermeinen, dass sie den hier in Rede stehenden Werdeprocess als einen “ o r g a n i s c h e n ” bezeichnen”. 121 Carl Mengers abschließende Definition des Phänomenbereichs, den ich den Bereich der Phänomene der dritten Art genannt habe, lautet: 115 Menger 1883/ 1969, S. 164 116 Menger 1883/ 1969, S. 163 117 Menger 1883/ 1969, S. 164 118 Menger 1883/ 1969, S. 164 119 Menger 1883/ 1969, S. 166f. 120 Menger 1883/ 1969, S. 167 121 Menger 1883/ 1969, S. 167 <?page no="95"?> 95 “Die Socialphänomene, deren Ursprung ein “organischer” ist, charakterisiren sich (…) dadurch, dass dieselben sich als die unbeabsichtigte Resultante individueller d.i. individuelle Interessen verfolgender Bestrebungen der Volksglieder darstellen, demnach (…) die unbeabsichtigte sociale Resultante individualteleologischer Factoren sind.” 122 Damit hat Carl Menger die Theorie der Phänomene der dritten Art im wesentlichen vorweggenommen. Was in dieser Schrift unklar geblieben ist, ist die Frage, welches denn nun der adäquate Erklärungsmodus solcher Phänomene ist. Zu erfahren ist lediglich, daß die Erklärung in “ s p e c i f i s c h s o c i a l w i s s e n s c h a f t l i c h e r Weise zu geschehen” habe, im Rahmen der “theoretischen Socialforschung”. 123 Das nächste Kapitel ist dem Erklärungsmodus gewidmet, den ich für den adäquaten halte. 4.2. Invisible-hand-Erklärungen Auf dem Balkan sollen alle Leute Knoblauch essen; die Erklärung dafür - so habe ich gehört - sei die: Einer soll einmal versehentlich damit angefangen haben, und die übrigen sollen gewußt haben, daß man den Knoblauchgeruch des anderen dann nicht als unangenehm wahrnimmt, wenn man selbst Knoblauch gegessen hat. Eine Möglichkeit, Pointen kaputt zu machen, besteht darin, sie zu analysieren. Ich will es dennoch tun. Worin also besteht die Pointe dieser Erklärung? Offenbar in dem Überraschungseffekt, den sie enthält. Die Erklärung ist, wenngleich völlig unplausibel, logisch möglich. Die naheliegende Erklärung, daß alle Knoblauch essen, weil er allen schmeckt, wird ersetzt durch die skurrile These, daß alle Knoblauch essen, weil keiner den Geruch ausstehen kann. In der Tat ist es so: Wenn jeder einzelne der als unangenehm empfundenen Situation, Knoblauchgeruch ausgesetzt zu sein, dadurch begegnet, daß er selbst Knoblauch ißt, so 122 Menger 1883/ 1969, S. 182 123 Menger 1883/ 1969, S. 169 <?page no="96"?> werden auf lange Sicht alle regelmäßig Knoblauch essen, wenn nur einer, aus welchen Gründen auch immer, einmal damit angefangen hat. Vorausgesetzt, daß die Prämissen stimmen, folgt das Ergebnis zwingend. In den Termini des hier vorgestellten theoretischen Rahmens gesprochen ist in dieser Geschichte der allgemeine Usus, Knoblauch zu essen, ein Phänomen der dritten Art; die Tatsache, daß alle Knoblauch essen, weil keiner den Geruch mag, ein Mandevillesches Paradox, und die Erklärung des allgemeinen Usus eine Erklärung mittels der unsichtbaren Hand. Ich möchte nun die Form einer Erklärung mittels der unsichtbaren Hand oder, wie ich sie auch nennen werde, einer Invisiblehand-Theorie 124 erläutern. Doch zunächst zum Namen selbst. Die Wahl dieses Namens hat Vor- und Nachteile. Von Nachteil ist, daß die Metapher der unsichtbaren Hand jemanden, dem sie nicht als Terminus geläufig ist, eher in die Irre führt, indem sie suggeriert, es handle sich um etwas Geheimnisvolles, Undurchschaubares. Das Gegenteil ist jedoch der Fall. Eine Invisiblehand-Theorie will Strukturen erklären und Prozesse sichtbar machen. Und zwar solche Strukturen, die Menschen, ohne daß sie dies beabsichtigen oder auch nur merken, wie “von unsichtbarer Hand geleitet”, 125 erzeugen. Die Metapher der unsichtbaren Hand ist von Adam Smith geprägt, der sie, außer in der berühmten (in Kapitel 2.3. zitierten) Passage, bereits vorher in anderen Werken verwendet hatte. 126 Der Nachteil dieser Metapher, für den Laien eher irreführend zu sein, wird durch den Vorteil aufgewogen, daß sie im Bereich der politischen Philosophie sowie der Theorie der Volkswirtschaft allgemein bekannt und eingeführt ist. Den Ausdruck “invisible-hand explanation” selbst scheint Robert Nozick geprägt zu haben: “Derartige Erklärungen haben etwas Schönes an sich. Sie zeigen, wie eine Gesamtstruktur oder ein Gesamtsystem, von dem 96 124 Die Regeln der Wortbildung des Deutschen erlauben es leider nicht, analog zu den englischen Ausdrücken “invisible-hand explanation” und “invisible-hand theory” ähnlich elegante deutsche Ausdrücke zu bilden. “Unsichtbare-Hand-Erklärung” ist leider ein Monstrum vom Typ “Flache-Land- Bevölkerung”. (cf. Vanberg 1984) 125 Smith 1776/ 1920, S. 235 126 Siehe dazu Cropsey 1979 sowie Ullmann-Margalit 1978, S. 287 <?page no="97"?> 97 man glauben mochte, es könne nur durch die gezielten Bemühungen eines einzelnen oder einer Gruppe zustandekommen, vielmehr durch einen Vorgang geschaffen und aufrechterhalten wurde, bei dem keineswegs die Gesamtstruktur oder das Gesamtsystem ‘vorschwebte’. Nach Adam Smith sprechen wir von Erklärungen mittels der unsichtbaren Hand.” 127 Ganz allgemein können wir, wiederum mit Robert Nozick, sagen: “Eine Erklärung mittels der unsichtbaren Hand erklärt etwas, was wie das Ergebnis eines absichtsvollen Planes eines Menschen aussieht, auf eine Weise, die nichts mit irgendwelchen Absichten zu tun hat.” 128 Sie ist eine Art genetischer Erklärung. 129 Sie erklärt ein Phänomen, ihr Explanandum, indem sie erklärt, wie es entstanden ist oder hätte entstanden sein können. Ihr charakteristischer Bereich sind soziale Institutionen wie z.B. Geld, Moral, Sprache, Geschmack, Ghettos etc.; soziokulturelle Ordnungen also, bei denen man leicht auf die Idee kommen könnte (und auch tatsächlich vielfach gekommen ist), sie seien von einer zentralen Planungsinstanz, einem Erfinder, Gott oder Zentralkommitee final erschaffen worden. All diesen Institutionen, es handelt sich natürlich ausnahmslos um Phänomene der dritten Art, ist, wie wir bereits im vorigen Kapitel gesehen haben, eigen, daß sie sowohl auf einer Mikroebene als auch einer Makroebene wahrnehmbar und beschreibbar sind. Aber aus der Wahrnehmung auf dem einen Bereich folgt nicht notwendigerweise eine auf dem anderen. Wir können es chic finden, von zwei gleichartigen Produkten das teuerere zu wählen; gleichzeitig können wir die Inflation bedauern. Wir können den Wandel unserer Sprache als Verfall bejammern, ohne ihn mit unseren eigenen Sprachgewohnheiten in Beziehung zu bringen. “Die jungen Leute können echt keine Grammatik mehr, weil die lernen das ja nicht mehr in der Schule! ” Kurzum: die Betrachtung der Makroebene der sozialen Institution ist prinzipiell unabhängig von der Betrachtung der Mikroebene der sie erzeugenden individuellen Handlungsweisen. Das gilt nicht nur im Alltag, sondern auch für wissenschaftliche Betrachtungsweisen. Wir können eine Karte Manhattans zeichnen, die die Wohnbezirke 127 Nozick o.J., S. 32 128 Nozick o.J., S. 32 129 Hempel 1965, S. 447 <?page no="98"?> 98 der verschiedenen ethnischen Gruppen abbildet, ohne die Frage der Entstehung dieser ethnischen Segregation überhaupt zu stellen. Wir können sogar ein diachrones Kartenwerk erstellen, aus dem beispielsweise zu ersehen ist, daß und bis wann etwa Harlem Judenviertel war und ab wann es von Schwarzen besiedelt wurde, ohne auf die Bewegungen der Bewohner und deren Motive zu rekurrieren. In der Sprachwissenschaft ist eine solche Vorgehensweise durchaus die Regel. Sprachgeschichten stellen im allgemeinen fest, daß bestimmte Wörter “andere verdrängen” oder “ablösen”, “sich ausbreiten”, “vorrücken”, “eindringen”, und wie die hypostasierenden Metaphern alle heißen mögen. 130 Ein Zusammenhang mit dem Sprachverhalten der sprechenden Individuen, die diese “Ausbreitungen”, “Vorstöße” und “Ablösungen” hervorbringen, wird in den seltensten Fällen auch nur versucht. Das heißt, man verzichtet auf Erklärungsversuche und gibt sich mit Beschreibungen dessen, was der Fall ist bzw. war, zufrieden; oder man hält gar Deskription versehentlich für Erklärungen. 131 Eine Erklärung einer solchen zweischichtigen sozialen Institution kann nur darin bestehen, daß die zweite Schicht, die Makroebene der Institution, von der ersten Schicht, der Mikroebene des sozialen Handelns der Individuen, hergeleitet wird. Genau das möchte eine Invisible-hand-Theorie leisten. Edna Ullmann- Margalit charakterisiert sie wie folgt: “An invisible-hand explanation explains a well-structured social pattern or institution. It typically replaces an easily forthcoming and initially plausible explanation according to which the explanandum phenomenon is the product of intentional design with a rival account according to which it is brought about through a process involving the separate actions of many individuals who are supposed to be minding their own business unaware of and a fortiori not intending to produce the ultimate overall outcome.” 132 “Ihre wahre Definition”, schrieb Wilhelm von Humboldt in bezug auf die Sprache, “kann (…) nur eine genetische seyn.” 133 130 cf. Wimmer 1983 131 cf. Köhler, Altmann 1986, S. 254 132 Ullmann-Margalit 1978, S. 267 133 von Humboldt 1836/ 1907, S. 46 <?page no="99"?> 99 Dies trifft im Grunde auf alle Phänomene der dritten Art zu. Harlem ist ein schwarzes Ghetto, ebenso wie Soweto. Aber beide sind voneinander wesensmäßig verschiedene Phänomene. Während das eine “organisch gewachsen”, also ein Phänomen der dritten Art ist, 134 ist das andere das Artefakt von Rassisten. 135 Zum Verständnis eines Phänomens der dritten Art gehört die Kenntnis seines Bildungsprozesses ebenso wesensmäßig wie die Kenntnis des Resultats des Bildungsprozesses. Denn das Phänomen der dritten Art ist nicht eines von beiden - Bildungsprozeß oder Resultat -, sondern beides zusammen. Was wir vereinfachend Resultate nennen - das Neuhochdeutsche, die gegenwärtige Moral, die Kaufkraft der D-Mark, das Ghetto Harlem - sind ja keine End-Resultate von Bildungsprozessen, sondern Episoden in Prozessen kultureller Evolution, die weder einen benennbaren Beginn noch ein benennbares Ende haben. Eine Erklärung mittels der unsichtbaren Hand spiegelt die drei wesentlichen Eigenschaften von Phänomenen der dritten Art wider: (i) die Tatsache, daß sie prozessualer Natur sind; (ii) die Tatsache, daß sie sich aus einer Mikro- und einer Makroebene konstituieren, und (iii) die Tatsache, daß sie sowohl etwas mit Artefakten als auch mit Naturphänomenen gemeinsam haben. Eine Invisible-hand-Theorie enthält - idealtypisch ausformuliert - drei Stufen: 1. die Darstellung bzw. Benennung der Motive, Intentionen, Ziele, Überzeugungen (und dergleichen), die den Handlungen der Individuen, die an der Erzeugung des betreffenden Phänomens beteiligt sind, zugrunde liegen, einschließlich der Rahmenbedingungen ihres Handelns; 2. die Darstellung des Prozesses, wie aus der Vielzahl der individuellen Handlungen die zu erklärende Struktur entsteht; und 134 Zur Theorie der “residential segregation” siehe Schelling 1969. 135 Es wird selbstverständlich nicht in Abrede gestellt, daß bei der “organischen” Bildung von Ghettos rassistische Motive ebenfalls eine Rolle spielen. Aber sie wirken auf andere Weise. <?page no="100"?> 3. die Darstellung bzw. Benennung der durch diese Handlungen hervorgebrachten Struktur. Ein einfaches Beispiel stellt die Theorie der Trampelpfade dar: Über die Rasenflächen unserer Universität zieht sich ein Netz von Trampelpfaden. Dieses Netz von Pfaden ist denkbar klug, ökonomisch und durchdacht “angelegt”. Ganz offensichtlich ist seine Struktur sinnreicher als die Struktur der von den Architekten geplanten Pflasterwege. Mehr noch, auf einer Karte, auf der die Gebäude und sonstigen Einrichtungen samt ihrer Funktionen eingetragen wären, nicht aber die Wege, auf einer solchen Karte ließe sich antizipieren, wo Trampelpfade entstehen. Das System der Trampelpfade ließe sich mit weitaus größerer Treffsicherheit vorhersagen als das System der von Architekten geplanten Pflasterwege. Woran liegt das? Das System der Trampelpfade hat eine “rationalere” Struktur; es ist “intelligenter” und als Lösung des Verkehrsproblems eleganter. Ganz offensichtlich wurde aber zur Erzeugung des Systems der Trampelpfade weitaus weniger Intelligenz eingesetzt als zum Entwurf des Netzes von Pflasterwegen. Die “Intelligenz” des Systems der Trampelpfade ist nicht der Intelligenz seiner Erzeuger zu verdanken, sondern deren Faulheit. Meine Invisible-hand-Theorie dieses Systems ist also folgende: Ich habe die Hypothese, daß die meisten Menschen sich darin ähnlich sind, daß sie es vorziehen, kürzere Wege zu gehen statt längere. Ich beobachte, daß die gepflasterten Wege dieser Tendenz nicht entsprechen, da sie vielfach nicht die kürzesten Verbindungen zwischen denjenigen Punkten sind, die Universitätsangehörige gehäuft aufsuchen. Ich weiß, daß Rasen an Stellen, über die häufig gegangen wird, verkümmert. Ich nehme also an, daß das System der Trampelpfade die nicht-intendierte kausale Konsequenz derjenigen (intentionalen, finalen) Handlungen ist, die darin bestehen, bestimmte Ziele zu Fuß zu erreichen unter der Maxime der Energieersparnis. Diese Theorie enthält die drei Stufen des idealtypischen Modells: Es werden die erzeugenden Handlungsmotive genannt (die Strecke nach Maßgabe der Maxime der Energieersparnis wählen); der Invisible-hand-Prozeß besteht im allmählichen Zerstören des Rasens an der häufig begangenen Strecke; die dritte Stufe stellt die dadurch mit der Zeit verfestigte Struktur dar, deren Darstellung ich mir hier geschenkt habe. 100 <?page no="101"?> 101 Diese Theorie bildet auch, wie gefordert, die drei wesentlichen Eigenschaften eines Phänomens der dritten Art ab: die Prozeßhaftigkeit, die Konstitution aus Mikro- und Makroebene und die Tatsache, daß es sowohl Züge eines Artefakts als auch Züge eines Naturphänomens enthält. Die Theorie enthält einen finalen Erklärungsteil, wie es für Artefakterklärungen kennzeichnend ist, und sie enthält einen kausalen Erklärungsteil, wie es für Naturphänomenerklärungen kennzeichnend ist. Eine Invisible-hand-Erklärung erklärt ihr Explanandum, ein Phänomen der dritten Art, als die kausale Konsequenz individueller intentionaler Handlungen, die mindestens partiell ähnliche Intentionen verwirklichen. Obwohl ich noch nie die Entstehung eines Trampelpfades empirisch beobachtet habe, denke ich, daß diese Theorie im wesentlichen korrekt ist. (Wenngleich sie besser formuliert werden kann, als ich es getan habe.) Woher nehme ich diese Zuversicht? Könnte sie nicht ebenso falsch sein wie die Knoblauchtheorie? Was macht eine Invisible-hand-Erklärung zu einer guten Erklärung? Betrachten wir noch einmal die dreigliedrige Struktur einer Erklärung mittels der unsichtbaren Hand. Sie enthält, wie jede Erklärung 1. Formulierungen der Prämissen, der Antezedenzbedingungen; 2. Allgemeine Gesetze; 3. Beschreibung bzw. Benennung des zu erklärenden Phänomens. 1. und 2. zusammengenommen bilden das Explanans; 3. ist das Explanandum. Bei einem Phänomen der dritten Art kommt aufgrund der Antezedenzbedingungen, die Handlungen von Individuen enthalten, kraft allgemeiner Gesetze ein Prozeß in Gang, der sogenannte Invisible-hand-Prozeß, an dessen Ende das zu erklärende Phänomen steht. Unsere Trampelpfadtheorie enthält als Prämissen zweierlei: zum einen Aussagen zur Handlungsökologie, das sind empirische Aussagen über die Beschaffenheit (Gebäude, Funktionen etc.) des Universitätscampus einschließlich der Beschreibung der Verkehrsnotwendigkeiten zwischen den relevanten Punkten des <?page no="102"?> 102 Campus; zum anderen gehören zu den Prämissen Aussagen über Handlungsmaximen, Motive, Gewohnheiten etc. der handelnden Individuen, in unserem Fall die Prämisse, daß Universitätsangehörige dazu neigen, Fußwege nach Maßgabe der Energieersparnis zu wählen. Die allgemeinen Gesetze können logisch-mathematischer oder kausaler Natur sein. Das Trampelpfad-Beispiel macht Gebrauch von einem allgemeinen Kausalgesetz, welches besagt, daß Rasen an Stellen, die in einer bestimmten Häufigkeit betreten werden, verkümmert oder abstirbt. Die Knoblauchtheorie macht Gebrauch von einem logisch-mathematischen Gesetz; wenn nahezu alle Kontaktpersonen von Knoblauchessern Knoblauch essen, breitet sich das Knoblauchessen epidemisch aus. In beiden Fällen tritt das Explanandum notwendigerweise ein, vorausgesetzt, daß die Prämissen stimmen. Unsere Ausgangsfrage war: Unter welchen Bedingungen ist eine Erklärung mittels der unsichtbaren Hand eine gute Erklärung? Gut ist sie vor allem, wenn sie wahr ist; wahr ist sie, wenn die Prämissen wahr sind, die allgemeinen Gesetze Gültigkeit haben und der Invisible-hand-Prozeß mit Notwendigkeit zum Explanandum führt. Der Wahrheitswert einer Invisible-hand-Theorie ist jedoch meist nicht feststellbar, da die Wahrheit der wesentlichen Prämissen nicht feststellbar ist. Der Wahrheitswert von Aussagen über Motive, die Handlungsweisen zugrunde liegen, kann vielfach sowohl aus technischen als auch aus psychologischen Gründen weder verifiziert noch falsifiziert werden. Darüber hinaus ist der Invisible-hand-Prozeß der Beobachtung oft entzogen. Eine Invisible-hand-Erklärung ist meist eine vermutende Geschichte (s. Kapitel 2.3.). Dies alles muß jedoch den Erklärungswert einer Erklärung mittels der unsichtbaren Hand nicht schmälern. Denn sie kann gut oder schlecht sein unabhängig von der Feststellbarkeit ihres Wahrheitswertes. Gut ist sie, wenn die Prämissen plausibel sind und der Invisible-hand-Prozeß zwingend ist. Plausibel und zwingend zu sein, ist das entscheidende Adäquatheitskriterium einer Invisible-hand-Theorie. Die Knoblauchtheorie war zwingend. Darin liegt ihr Wert als verblüffende Anekdote. Aber ihre Prämisse ist nicht plausibel. <?page no="103"?> 103 Wenn ich Knoblauchgeruch nicht ausstehen könnte, würde ich eher Knoblauchesser meiden als selbst Knoblauch essen; denn ich würde den Geruch auch an mir nicht mögen und vor allen Dingen vermeiden wollen, andere mit einem Geruch zu belästigen, den sie so wenig wie ich ausstehen können. Die Stärke der Trampelpfadtheorie liegt hingegen in der Plausibilität der Annahme, daß Leute eher dazu neigen, kürzere Wege als längere zu gehen, und der Unerbittlichkeit, mit der - wenn die Prämisse wahr sein sollte - unter gegebenen Umständen Trampelpfade entstehen. Nehmen wir an, zwischen dem Eingang zur Universitätsbibliothek und dem Eingang zur Mensa liegt eine große Rasenfläche; die gepflasterten Wege führen rechtwinklig um die Rasenfläche herum. Dies ist die ideale Voraussetzung für das Entstehen eines Trampelpfades. Läßt sich prognostizieren, daß tatsächlich einer entsteht? Wenn diese Situation jetzt in der Bundesrepublik gegeben wäre, wäre ich bereit, darauf zu wetten, wenn auch nicht um meinen Kopf. Wie würde aber unser Urteil ausfallen, wenn wir uns diese Situation jetzt in Nord-Korea vorzustellen hätten; oder vor 200 Jahren in Berlin; oder in 200 Jahren hierzulande? Ich wäre zu keiner Wette bereit. Denn mir fehlen die Kenntnisse, um abschätzen zu können, wie die Leute handeln würden: Gibt es Verbote, den Rasen zu betreten? Welche Kraft haben solche Verbote? Wie diszipliniert sind die betreffenden Leute? Welche Haltung haben sie Regelverstößen gegenüber? Welche Haltung haben sie Rasenflächen gegenüber? Ich wäre nicht einmal bereit, bezüglich meines eigenen Verhaltens eine längerfristige Prognose zu wagen. Gegenwärtig bin ich beispielsweise bereit, hin und wieder abkürzend über einen Rasen zu gehen; nicht aber über ein Blumenbeet oder eine blühende Krokuswiese. Wird in 25 Jahren meine Bereitschaft, über den Rasen zu gehen, eher größer sein oder eher geringer, etwa weil ich den Schutz, den ich Blumen zukommen lasse, dann auch Gras zubillige? Beides könnte möglich sein. Das zeigt, daß Erklärungen mittels der unsichtbaren Hand nur in sehr eingeschränktem Sinne von prognostischem Wert sind. Sie erlauben allenfalls Prognosen hypothetischer Natur: “Wenn die Leute nach den-und-den Maximen handeln, wird unter den- <?page no="104"?> 104 und-den Rahmenbedingungen die-und-die Struktur entstehen.” Wir kennen solcherart “Prognosen” aus dem Bereich der Volkswirtschaft; und von daher wissen wir auch, wie unzuverlässig sie sind. Für komplexere Phänomene der dritten Art, als ein System von Trampelpfaden es darstellt, lassen sich partikuläre Prognosen ohnehin nicht treffen, sondern allenfalls allgemeine strukturelle, sogenannte “pattern predictions”. Das Fallgesetz erlaubt Voraussagen über dasVerhalten eines Apfels. Sogenannte Marktgesetze hingegen erlauben keine Voraussagen über den Beschäftigungszustand des Arbeitslosen Meier; allenfalls über die Entwicklung “der Arbeitslosigkeit”. Man kann die Prognose wagen, daß unbetonte Silben im Deutschen sich weiterhin “abschleifen”; ob haben in ein paar hundert Jahren zu ham geworden sein wird, läßt sich nicht prognostizieren. Es läßt sich vermuten. Invisible-hand-Theorien haben keinen prognostischen Wert in dem Sinne, in dem beispielsweise physikalische Theorien von prognostischemWert sind. Der Grund liegt in der Nicht-Prognostizierbarkeit der Prämissen. Was sie erlauben, sind Trendextrapolationen: “Wenn das-und-das der Fall sein wird, werden sich wohl die Leute so-und-so verhalten, und dann werden die-und-die Strukturen entstehen.” Volkswirtschaftler mögen Anlaß haben, den Mangel an prognostischem Wert ihrer Invisible-hand-Theorien zu bedauern; für die Linguistik ist dies kein Manko. Denn erstens ist es für den Bereich der Geistes- und Sozialwissenschaften ein Irrtum anzunehmen, daß die “Wissenschaftlichkeit” einer Theorie mit dem Maß ihres Prognosewertes korrespondiere, und zweitens besteht ja auch wenig praktischer Bedarf an linguistischen Prognosen. Eine Invisible-hand-Theorie ist vor allem von diagnostischem Wert. Sie erklärt, salopp gesagt, nicht wie es weitergeht, sondern wie es dazu gekommen ist. Aber, so ließe sich einwenden, wozu soll eine Diagnose taugen, wenn nicht zu einer Orientierung für die Zukunft? Der Witz einer medizinischen Diagnose beispielsweise liegt doch darin, Basis für die Therapie zu sein. Diagnosen erstellt man nicht um ihrer selbst willen. Um den Wert einer diagnostischen Theorie unserer Sprache einschätzen zu können, müssen wir uns an das erinnern, was in <?page no="105"?> 105 136 Lass 1980, S. 9 Kapitel 1.4. gesagt worden ist: Wesen,Wandel und Genese stehen bei Phänomenen der dritten Art in enger Verbindung. Es ist nicht unsere Aufgabe, die Struktur des Spätneuhochdeutschen vorauszusagen, sondern dazu beizutragen zu verstehen, was wir tun, wenn wir kommunizieren. Wenn wir die Maximen und Regeln unseres Kommunizierens verstanden haben, dann haben wir auch verstanden, warum sich unsere Sprache im Laufe der Zeit verändert hat, und warum sie sich weiterhin ändern wird. Denn die Veränderungen von morgen sind die kollektiven Konsequenzen unseres kommunikativen Handelns von heute. Wir müssen diejenigen Maximen, Motive und Regeln unseres kommunikativen Handelns aufzudecken versuchen, die die Invisible-hand- Prozesse in Gang setzen, an deren Ende die zu erklärenden Strukturen stehen. Trotz ihres eingeschränkten Prognosewertes sind (gute) Invisible-hand-Erklärungen Erklärungen im strengen Sinne. Roger Lass 136 beispielsweise vertritt in seinem Buch “On Explaining Language Change” die Auffassung, für Sprachwandel könne es keine Erklärungen geben, da es im Bereich der Sprache keine Gesetze gebe. Deshalb ließe sich Sprachwandel auch nicht prognostizieren. Hier wird Wahres mit Falschem vermischt. Wahr ist, daß es im Bereich menschlichen Handelns kein Gesetz gibt, demgemäß Leute unter bestimmten Bedingungen eines von zwei Homonymen meiden, oder unter bestimmten Bedingungen quer über den Rasen gehen. Wahr ist außerdem, daß aus diesem Grund das Verschwinden eines bestimmten Homonyms oder das Entstehen eines bestimmten Trampelpfades nicht prognostizierbar ist. Falsch ist, daß es aus diesem Grund keine Erklärung im strengen Sinne dafür geben könne. Denn hier werden Gesetze an der falschen Stelle gesucht und gefordert. Das Handeln der Leute gehört zu den Antezedenzbedingungen, und für deren Zutreffen gibt es keine Gesetze. Gesetze erlauben zu prognostizieren, wenn die Antezedenzbedingungen erfüllt sind. Wenn die Sprecher einer Sprache aufhören, ein bestimmtes Wort zu verwenden, verschwindet es aus der Sprache; wenn oft auf dieselbe Stelle eines Rasens getreten wird, stirbt an dieser Stelle der Rasen ab. Der korrekte Eindruck der Trivialität dieser Prognosen liegt an der Stärke der zugrundeliegenden Gesetze! <?page no="106"?> 106 Sprachwandel ist (im Prinzip) erklärbar auf der Basis von Gesetzen. Aber er ist nicht prognostizierbar, und zwar nicht aus Mangel an Gesetzen, sondern weil das Erfülltsein der Prämissen nicht vorhersagbar ist. Dies hat die Sprache mit sogenannten chaotischen Systemen, wie z.B. dem Wetter, gemeinsam: “Es muß betont werden, daß das Verhalten chaotischer Systeme nicht an sich indeterministisch ist. Es läßt sich sogar mathematisch beweisen, daß die Anfangsbedingungen hinreichend sind, um das ganze künftige Verhalten des Systems exakt und eindeutig festzulegen. Die Schwierigkeit entsteht, wenn wir versuchen, diese Anfangsbedingungen zu benennen”. 137 Meist stellen wir erst post festum auf der Basis der Existenz des Explanandums fest, daß die Prämissen erfüllt waren. Das heißt, wir kennen das Explanandum, kennen die Gesetze und rekonstruieren die Prämissen. Dies ist der Witz der diagnostischen Erklärung. Trendextrapolationen sind nicht Prognosen auf der Basis unsicherer Gesetze, sondern auf der Basis unsicherer Prämissen. 138 Invisible-hand-Erklärungen tragen oftmals ein Moment der Überraschung in sich. 139 Das mag dazu beitragen, daß sie, wie Nozick findet, “etwas Schönes an sich [haben]”. 140 Darin ist jedoch mehr zu sehen als nur ihr Unterhaltungswert. Das Moment der Überraschung steht vielmehr in innerem Zusammenhang mit ihrer explanativen Stärke. Verantwortlich für die Stärke der Erklärungskraft einer Theorie ist nämlich nicht allein ihre Wahrheit oder Stringenz. Zirkuläre Erklärungen sind ein Beispiel für wahre Erklärungen ohne explanative Kraft. Sie bilden das eine Extrem eines Kontinuums. Ziemlich weit am anderen Ende sind Erklärungen mittels der unsichtbaren Hand angesiedelt. Der Parameter für die Plazierung auf dem Kontinuum der Erklärungsstärke ist der “Abstand” des Bereiches, aus dem die erklärenden Begriffe stammen, zu dem Bereich des Explanandums. Die zirkuläre Erklärung stellt ein Extrem dar; der Abstand der Explanans-Begriffe zum Explanandum ist gleich null. Die Begriffe sind identisch. In der Invisible-hand-Erklärung ist diese Entfernung typischerweise 137 Davies 1987/ 88, S. 79f. 138 cf. Keller 1989 139 cf. Ullmann-Margalit 1978, S. 271 140 Nozick o.J., S. 32 <?page no="107"?> 107 sehr groß. Während die zentralen Begriffe des Explanans meist dem Bereich der Psychologie und der Soziologie angehören, gehört das Explanandum meist zu Bereichen wie Rechts- und Staatsphilosophie, Linguistik, Nationalökonomie und dergleichen, oder es stellt geometrische und sonstige Strukturen dar. Offenbar empfinden wir Erklärungen als um so befriedigender, je weniger die verwendeten Begriffe prima facie mit dem Erklärungsgegenstand zu tun haben. Verstärkt wird diese Distanz vielfach noch durch die Mandevillesch-paradoxe Form der Erklärung (Faulheit - intelligente Struktur der Trampelpfade, Egoismus des Einzelnen - Wohlstand aller, Sicherheitsstreben - Verkehrsstau). Rádl, ein Kenner der Philosophie der schottischen Aufklärer, hat in seinem Werk “Geschichte der biologischen Theorie” diese Erklärungsweise die “psychologisch-logische Methode” genannt. Er charakterisiert sie so: Es werde mit einer “psychologischen Gesellschaftsanalyse” begonnen, mit dem Ziel, ein oder zwei “Grundprinzipien” herauszukristallisieren und sie als “treibende Kraft” aufzufassen. Sodann werde “deduziert”, “was in einer Gesellschaft geschehen würde”, welche die eruierten Grundprinzipien befolgte. Mit dem Ausdruck “psychologischlogische Methode” hat Rádl diesen Erklärungsmodus treffend charakterisiert. Die Invisible-hand-Theorie stellt die Verallgemeinerung dieser Methode dar. 141 Betrachten wir ein Beispiel aus der deutschen Sprache: In unserer Sprache unterliegen Ausdrücke, die dazu dienen, auf Frauen zu referieren, immer wieder der Pejorisierung. Dieses Schicksal hat das Wort “Weib” ereilt, das Wort “Frauenzimmer”, und auch an dem Wort “Frau” scheint es nicht vorbeizugehen. Wie kommt das? Vertreter linearen Denkens könnten latente Frauenfeindlichkeit der Gesellschaft hinter diesem Trend wittern, die die einzelnen Sprecher dazu führt, solch ein Wort mit der Zeit immer “ein bißchen pejorativer” zu verwenden. Aber wie macht man das, ein Wort “ein bißchen pejorativer” verwenden? Alma Graham postuliert “the tendency in the language that I called ‘praise him/ blame her’ ”. 142 141 Rádl 1909, S. 125 f. 142 Graham 1975, S. 61 <?page no="108"?> Die Pejorisierung der Ausdrücke “Weib”, “Frau” u.a. wurde jedoch nicht durch die Maxime “blame her”, sondern eher durch die Maxime “praise her” hervorgebracht. Es handelt sich abermals um ein Mandevillesches Paradox, bei dem jeder stets das Gute will und die Pejorisierung schafft. In einer Gesellschaft, die, wie die unsere, in höfischer Tradition steht, gibt es ein Galanteriegebot Frauen gegenüber. Männer helfen Frauen in den Mantel, bieten ihnen einen Stuhl an, geben ihnen Feuer und dergleichen. Teil dieses Galanterieverhaltens ist es, daß die Tendenz besteht, Frauen gegenüber oder beim Reden über Frauen Ausdrücke zu wählen, die eher einer höheren Stil- oder Sozialebene angehören als einer niedrigeren. Die Maxime heißt also nicht “blame her”, sondern salopp gesagt “greife im Zweifel bei deiner Wortwahl lieber eine Etage zu hoch als eine zu niedrig”. Das führt mit der Zeit dazu, daß immer tendenziell das “nächsthöhere” Wort zum unmarkierten Normalausdruck wird, während das ehedem normale pejorisiert wird. So ist heute in Restaurants die Toilettenaufschrift “Damen” die normale, während “Frauen” eher dem Stil öffentlicher Bedürfnisanstalten entspricht. Die Formulierung “Wie geht es Ihrer Frau? ” gilt in manchen Situationen als unziemlich; man sollte “Frau Gemahlin” oder “Gattin” sagen. Die genannte Maxime gilt natürlich nur, wenn das Galanteriespiel gespielt wird. Wo dies nicht angesagt ist, kann es nachgerade beleidigend oder peinlich sein, auf Frauen mit dem Ausdruck “Damen” zu referieren. In dem Satz “die Männer und Frauen, die unschuldige Opfer des Überfalls geworden sind …” wäre ja eine Ersetzung von “Männern und Frauen” durch “Damen und Herren” geradezu pietätlos. Das heißt, die Wortwahl in diesem Wortfeld hat nichts zu tun mit allgemeiner Hochachtung oder Geringschätzung, mit allgemeiner Höflichkeit oder mit dem objektiven sozialen Stand der betreffenden Personen, sondern damit, ob es geboten ist, das Galanteriespiel zu spielen oder nicht. Somit haben Tennisclubs “Damenabteilungen”; Kliniken haben “Frauenabteilungen”, in denen sich jedoch “Damentoiletten” befinden. “Damenrechtlerin” klingt ebenso kurios wie “Frauenwahl” bei einer Tanzveranstaltung. Fazit: das Motiv der Galanterie auf der Ebene der Individuen führt auf der Ebene der Sprache langfristig wie von unsichtbarer 108 <?page no="109"?> 109 Hand geleitet zur Pejorisierung. Es handelt sich dabei um eine Form der Inflation. 143 An diesem Beispiel läßt sich nochmals die Frage des Nutzens einer Erklärung mittels der unsichtbaren Hand verdeutlichen. Gesetzt den Fall, meine Erklärung dieser Pejorisierung sei eine gute Erklärung, was leistet sie und was leistet sie nicht? Sie taugt nicht zu einer Prognose über die Bedeutungsentwicklung der Wörter “Frau” oder “Dame”. Sie erlaubt jedoch die strukturelle Prognose, daß es auch weiterhin zu Pejorisierungen kommen wird, wenn das Galanteriegebot weiterhin in Kraft bleibt. Ob das Galanteriespiel noch lange gespielt wird, hängt von vielen gesellschaftlichen Faktoren ab, zu denen ich mich hier nicht äußern möchte. Die Erklärung ist jedoch, wie ich finde, durchaus von diagnostischem Wert. Dieser steigt darüberhinaus in dem Maße, in dem sie durch linguistisch-zeitgeschichtliche Untersuchungen detaillierter und subtiler gemacht wird. Sie gibt uns Aufschluß über einen Aspekt unseres Sprechens, eine seiner Funktionen und deren makrostrukturelle Auswirkungen. “(…) als Theoretiker wissen wir nichts über die Sprache der Menschen, solange wir ihr Sprechen nicht verstehen”, 144 sagt Peter F. Strawson, ein wenig übertreibend. Aber es würde sich nicht um eine Übertreibung handeln, wenn es nicht im Grunde wahr wäre. 4.3. Kausale, finale und funktionale Erklärungen Der Vergleich des Erzeugungsprozesses sprachlicher Phänomene mit dem eines Trampelpfads ist nicht neu. Fritz Mauthner hatte ihn bereits 1912 bemüht, und zwar ganz in unserem Sinne: “Wenn sämtliche Bauern eines Dorfes den Weg z.B. zur nächsten Kirche oder zum Wirtshaus am bequemsten da zu finden glauben, wo sie eine bestimmte Wiese kreuzen, so (…) wird sich ein ganz mechanisch ausgetretener Pfad bilden, auf welchem kein 143 Zur Inflation im kulturellen Bereich siehe Gombrich 1979/ 1983, Kap. II. 144 Strawson 1971/ 1974, S. 55 <?page no="110"?> 110 Gras mehr wächst. (…) Man wird dann bildlich ganz hübsch von einem Naturgesetz sprechen können. (…) Es gibt (…) freilich kein aktives Naturgesetz, welches das Dorf auf den nächsten Weg trieb (…); es gibt kein Dorf, sondern nur Bauern; (…) es gibt nur einerseits fester gestampfte Lehmklumpen, andererseits die Tritte der schreitenden Bauern (…). Nur daß jedesmal, wo der höchst individuelle Bauer sein individuelles Bein augenblicklich zu einem Schritte in einer bestimmten Richtung hebt, ein psychologischer Faktor mit tätig ist, der je nach Umständen Wille oder Gewohnheit heißt. (…) Ganz ebenso steht es um diejenigen Bewegungen des Menschen, die unter dem Namen Sprache zusammengefaßt werden.” 145 Dies schrieb Mauthner im Hinblick auf die These der Junggrammatiker, daß Lautgesetze ausnahmslos gültig seien. Er hatte offenbar das Zusammenspiel von finalen und kausalen Momenten deutlich gesehen. Das Zusammenwirken zweier Faktoren beim Prozeß der Sprachveränderung bzw., was das gleiche bedeutet, des Werdens eines Sprachzustandes, war, wie wir gesehen haben, bereits im späten 19. Jahrhundert bekannt. Max Müller schrieb: “Der Prozess, durch den die Sprache feste Gestalt gewinnt (…), vereinigt in sich die beiden entgegengesetzten Elemente der Notwendigkeit und des freien Willens”; 146 und William D. Whitney schrieb etwas später: “The process of language-making (…) works both consciously and unconsciously, as regards the further consequences of the act”. 147 Trotz dieser richtigen und entscheidenden Erkenntnis ist es beiden Linguisten nicht gelungen, sie für einen konsistenten Sprachbegriff, der den Entwicklungsgedanken impliziert, fruchtbar zu machen. Das Zusammenspiel zweier “entgegengesetzter” Faktoren scheint ja doch generell ein Merkmal evolutionärer Prozesse zu sein. Dem von Max Müller für den Bereich der Sprachentwicklung beobachteten Zusammenspiel der beiden Faktoren “freier Wille und Notwendigkeit” entspricht im Bereich der Entwicklung der belebten Natur das Zusammenspiel der Faktoren “Zufall und Notwendigkeit”. 145 Mauthner 1912/ 1982, Bd. 2, S. 93 f. 146 cf. Kap. 3.2. 147 cf. Kap. 3.2. <?page no="111"?> 111 Merkwürdigerweise wurde dieser Müller-Whitneysche Ansatz nicht weiterverfolgt. Er geriet vielmehr, zumindest im Bereich der Sprachwissenschaft, wieder in Vergessenheit. Anstatt sich zu überlegen, wie dieses Zusammenspiel aussehen könnte, konzentrierte man sich wieder auf den alten Holzweg, auf die Frage nämlich, ob die Sprachentwicklung ein finaler oder ein kausaler Prozeß sei. “Die Zeit ändert alles; und es gibt keinen Grund, warum die Sprache diesem allgemeinen Gesetz enthoben sein sollte”, steht in de Saussures 148 “Cours” in entwaffnender Einfachheit; und in Umkehrung der Dinge schreibt Armin Ayren: “Sprache lebt, und was lebt, wandelt sich”. 149 Eugenio Coseriu war unter den zeitgenössischen Linguisten der erste der mir bekannten Autoren, der die Frage nach den kausalen Ursachen des Sprachwandels fundamental kritisierte und entschieden zurückwies. In seinem bereits 1958 in Spanisch erschienenen Werk “Synchronie, Diachronie und Geschichte”, das auch heute noch als eine grundlegende Arbeit zur Theorie des Sprachwandels angesehen werden kann, schreibt Coseriu: “Diese Vorstellung einer ‘Kausalität’ (…) ist ein Rest von der alten Auffassung der Sprachen als ‘natürlicher Organismen’ sowie des positivistischen Traums, die vermeintlichen ‘Gesetze’ der Sprache (oder der Sprachen) zu entdecken und die Sprachwissenschaft in eine den Naturwissenschaften analoge ‘exakte Wissenschaft’ umzuwandeln.” 150 Nun ist, wie neuere Arbeiten zur Grammatiktheorie gezeigt haben, dieser “positivistische Traum” durchaus zum Teil Wirklichkeit geworden. Wer, wie Chomsky und seine Schule, nach den genetisch determinierten Strukturen der menschlichen Sprachen sucht, bewegt sich im Bereich der Humanbiologie 151 und mag die Verfahren der Naturwissenschaften, die “galileische Methode”, wie diese bisweilen genannt werden, möglicherweise zu Recht für sein Tun reklamieren. Da jedoch von der historischen Entwicklung der Sprachen der genetisch determinierte Teil unseres Sprachvermögens (wenn man von den phylogenetischen Veränderungen unserer Art absieht) unberührt bleibt, und dieser lediglich den beschrän- 148 de Saussure 1916/ 1967, S. 91 149 Ayren 1986, S. 110 150 Coseriu 1958/ 1974, S. 152 151 cf. Grewendorf, Hamm, Sternefeld 1987, S. 22 ff. cf. Kap. 5.3. <?page no="112"?> kenden Rahmen des möglichen Wandels abgibt, hat Coseriu mit dieser Auffassung im wesentlichen recht: Kausale Theorien sind dem Wandel der Sprache unangemessen. Wo er jedoch seine Alternative formuliert, tut er kund, daß auch er noch (oder wieder) im Gefängnis der natürlich-künstlich-Dichotomie einsitzt: “In den Naturphänomenen ist zweifellos äußere Notwendigkeit oder Kausalität zu suchen, bei den Kulturphänomenen dagegen innere Notwendigkeit oder Finalität.” 152 Die Finalitätsthese folgert Coseriu aus der korrekten Prämisse, daß die Sprache “nicht etwa ein Naturgegenstand (…), sondern ein Kulturgegenstand” 153 ist, daß sie eine “von Menschen geschaffene (…) Welt” 154 sei, samt der falschen dogmatischen Prämisse, daß von Menschen geschaffene Kulturgegenstände notwendigerweise finalistisch erklärt werden müßten, “da die freien, menschlichen Tätigkeiten stets durch ihr Wozu und nicht durch ihr kausales Warum motiviert sind.” 155 Wie bei Autoren des 19. Jahrhunderts, die sich in der natürlichkünstlich-Dichotomie verfangen hatten, ist auch bei Coseriu ein Unbehagen und ein Streben nach einem Ausweg zu spüren. Selbstverständlich ist auch ihm klar, daß die Sprecher den Wandel ihrer Sprache im allgemeinen nicht beabsichtigen, und daß er ihnen als Wandel im allgemeinen nicht bewußt ist. So kritisiert er zu Recht Henri Freis Begriff der “finalité inconsciente”, der unbewußten Finalität, als Verunklarung, ohne ihn allerdings klären zu können: “Richtig (…) ist allein die Tatsache, daß - besondere Fälle (…) ausgenommen - die Finalität spontan und unmittelbar bei einem Ausdrucksbedürfnis erscheint und nicht als überlegte Absicht, die interindividuelle Sprache zu verändern.” 156 Aber in welchem Sinne ist es dann noch gerechtfertigt, von Finalität zu reden? Wie wir gesehen haben, spielt beim Wandel der Sprache Finalität in der Tat eine Rolle; in Verbindung jedoch mit kausalen Prozessen. 152 Coseriu 1958/ 1974, S. 166 f. cf. auch Coseriu 1983 153 Coseriu 1980, S. 143 154 Coseriu 1958/ 1974, S. 155 155 Coseriu 1980, S. 142 156 Coseriu 1958/ 1974, S. 170 f. 112 <?page no="113"?> 113 Die Ergebnisse finaler, oder wie ich vorzugsweise sagen möchte, intentionaler 157 Handlungen kumulieren unter bestimmten Bedingungen und lassen Strukturen entstehen, die nicht im Bereich der Finalität der einzelnen Handlungen der Individuen liegen. Die Kumulation ist ein kausales Phänomen. Somit haben beide, die Finalisten wie die Kausalisten, einen Anteil an der Wahrheit. Ihr Irrtum liegt in der Ausschließlichkeit bzw. darin, daß beide das Zusammenwirken von finalen und kausalen Prozessen nicht erkennen. Dieses Unvermögen mag an der Einseitigkeit der Betrachtungsperspektive liegen. Denn wer eine sprachliche Veränderung aus der Perspektive des Sprachphänomens sieht, der nimmt sie als kausal verursachte wahr. Und so ist es ja auch: Die Tatsache beispielsweise, daß die Leute - aus welchen Gründen auch immer - ihre Ausdruckspräferenz verändert haben, verursachte, daß “englisch” in der Bedeutung “engelhaft” aus unserer Sprache verschwunden ist. Das Nicht-mehr-Verwenden eines Ausdrucks läßt die Lehr-lern-Stafette abreißen, und dies verursacht (im streng kausalen Sinne) das “Verschwinden” dieses Ausdrucks aus der Sprache. Wer hingegen eine sprachliche Veränderung aus der Perspektive der kommunizierenden Menschen betrachtet, der wird nur Finalität entdecken. Allerdings (im allgemeinen) nicht auf die Veränderung gerichtete Finalität, sondern auf den Erfolg des jeweiligen einzelnen kommunikativen Ziels gerichtete Finalität. Wer vom “englischen Mädchen” sprach und beabsichtigte, damit auf ihre engelhafte Gestalt zu verweisen, der setzte zu einer gewissen Zeit den Erfolg seiner kommunikativen Unternehmung aufs Spiel, insofern das Risiko groß war, mißverstanden zu werden. Seine Wahl zu Ungunsten des Wortes “englisch” (in dieser Bedeutung) war also nicht verursacht - etwa durch die Homonymie -, sondern begründet in dem Wunsch, nicht mißverstanden zu werden. Die Homonymie stellt nicht die Ursache des Wandels dar, sondern, wie Coseriu korrekt feststellt, eine Bedingung, unter der Sprecher gemeinhin dazu neigen, für eines 157 Eine finalistische Erklärung ist eine vorwärtsgerichtete intentionale Erklärung; sie klärt die Wozu-Frage. Die Warum-Frage muß jedoch nicht notwendigerweise nach den Ursachen fragen; sie kann nach den Gründen fragen. Eine Antwort auf die Frage nach Gründen ist ebenfalls eine intentionale Erklärung, eine rückwärtsgerichtete intentionale Erklärung. <?page no="114"?> 114 der beiden Homonyme einen alternativen Ausdruck zu wählen, in Situationen, in denen sie glauben, sonst möglicherweise mißverstanden zu werden. Damit wird aber nicht der Wandel der Sprache zu einem finalen Phänomen, denn er ist ja nicht beabsichtigt. Final ist lediglich die Wahl eines alternativen Ausdrucks in mißverständlichen Kontexten. Der daraus resultierende Wandel ist dessen kausale Konsequenz. Betrachten wir die beiden folgenden Typen von Feststellungen, wie man sie in jeder Sprachgeschichte vorfinden kann: (1) Die Ursache für das Verschwinden von englisch 1 (‘engelhaft’) aus unserer Sprache war die Homonymie mit englisch 2 (‘britisch’). (2) Englisch 1 ist aus unserer Sprache verschwunden, weil es homonym war zu englisch 2 . Sind diese Feststellungen also falsch? Oder sind sie ohne erklärende Kraft? Sie sind nicht ganz falsch und erwecken den Anschein erklärender Kraft. Doch bei genauerem Hinsehen erkennt man sofort, daß die Homonymie weder notwendig noch hinreichend war für das Verschwinden von englisch 1 : Wäre englisch 1 nicht verschwunden, wenn es nicht mit einem anderen Wort homonym gewesen wäre? Vielleicht nicht, vielleicht aber doch; man weiß es nicht. Mußte englisch 1 aufgrund der Homonymie notwendigerweise verschwinden? Nein. Denn erstens gibt es in unserer Sprache genug Homonyme, ohne daß sogenannte Homonymenflucht eingetreten wäre, und zweitens hätte englisch 2 verschwinden und durch ein anderes Wort ersetzt werden können. Woran liegt es, daß manche Linguisten Aussagen wie (1) oder (2) so bereitwillig für Erklärungen halten? Wie kann man überhaupt auf die Idee kommen, daß eine Erklärung vorliegt, wenn man zwei Tatsachen nennt, von denen keine für das Auftreten der anderen notwendig oder hinreichend, geschweige denn beides zusammen ist? Es ist die mißbräuchliche Verwendung der Ausdrücke “Ursache” bzw. “weil”, die (1) und (2) den Anschein erklärender Kraft verleihen. Betrachten wir die Gründe und Ursachen für das Verschwinden einmal der Reihe nach. <?page no="115"?> 115 Das Wort englisch 1 ist nicht verschwunden, weil es homonym war zu englisch 2 , sondern weil es zu einer gewissen Zeit nicht mehr im Wortschatz der Sprachteilhaber enthalten war. Es war nicht mehr im Wortschatz enthalten, weil es in dieser Verwendungsweise nicht mehr erlernt wurde. Es wurde nicht mehr erlernt, weil diejenigen, die über dieses Wort noch verfügten, seinen Gebrauch mieden zugunsten alternativer Ausdrücke, wie etwa engelhaft. Sie vermieden englisch 1 , weil sie nicht riskieren wollten, mißverstanden zu werden. Dieses Risiko bestand, weil englisch 1 homonym war zu englisch 2 , und weil die Bedeutung von englisch 1 und englisch 2 dergestalt war, daß in nahezu jeder Aussage, die das Wort englisch 1 enthielt, dieses durch englisch 2 ersetzt werden konnte, ohne daß die betreffende Aussage unsinnig wurde (ein Chor englischer 1 Mädchen, ein englischer 1 Gruß, englische 1 Sitten, englische 1 Wunder). 158 Dies galt umgekehrt nicht (ein englischer 2 Rasen, englisches 2 Tuch, englisches 2 Pferd etc.), d.h. englisch 2 konnte in den meisten Kontexten nicht durch englisch 1 ersetzt werden, ohne daß die Aussage unsinnig (oder bizarr oder unwahrscheinlich etc.) wurde. Weil dies umgekehrt nicht galt, war der Gebrauch von englisch 2 dem Risiko der Fehlinterpretation weit weniger häufig ausgesetzt. Weil von dem Homonymenpaar englisch 1 das für die erfolgreiche Kommunikation riskantere, und englisch 2 vermutlich das häufiger verwendete war, und weil durch die Existenz des Substantivs Engel und die Wortbildungsmöglichkeiten des Deutschen sich eine Alternative zu englisch 1 leichter anbot als zu englisch 2 , neigten die Leute eher dazu, englisch 1 zugunsten eines alternativen Ausdrucks zu meiden als englisch 2 . Für all diese Erklärungsschritte in Form einer weil-Kette stellt die Aussage (2) bestenfalls eine grobschlächtige “Abkürzung” dar. (Ich vermute, daß wir eine solche Abkürzung unter anderem auch deshalb bereits für eine Erklärung zu halten geneigt sind, weil wir in unserer Umgangssprache dazu neigen, die weil-Relation für transitiv zu halten.) Wird diese “Abkürzung” jedoch ausbuchstabiert, so wird sie zu einer Rekonstruktion des Weges von den Motiven handelnder Individuen zur daraus resultieren- 158 cf. Grimmsches Wörterbuch <?page no="116"?> 159 cf. Kap. 4.2. 116 den Veränderung im Makrobereich und wird somit zu einer Invisible-hand-Erklärung. Die weil-Sätze unserer Erklärung lassen sich nicht durchweg in äquivalente Sätze umformulieren, die das Wort “Ursache” enthalten. Deshalb sind die Aussagen (1) und (2) nicht äquivalent. Denn weil verwenden wir sowohl zur Darstellung eines (intentionalen) Grundes als auch zur Darstellung einer (kausalen) Ursache: (i) Ich habe Dir geschrieben, weil ich Dir eine Freude machen wollte. (ii) Ich bin naß, weil ich ins Wasser gefallen bin. In Satz (i) wird durch weil eine Begründungsrelation ausgedrückt (“A weil B” heißt hier “B ist der/ ein Grund für A”), während in Satz (ii) eine Ursache-Wirkung-Relation ausgedrückt wird (“A weil B” heißt hier “B ist die/ eine Ursache für A”). Wir können das erste weil das intentionale weil nennen und das zweite das kausale weil. Dem intentionalen weil entsprechen sowohl warumals auch wozu-Fragen, dem kausalen weil entsprechen lediglich warum-Fragen. Antworten auf wozu-Fragen kann man finale Erklärungen nennen. Da sich aber jede wozu-Frage in eine äquivalente (intentionale) warum-Frage umformulieren läßt, brauchen wir die vorwärtsgerichtete finale Erklärung nicht von der korrespondierenden rückwärtsgerichteten zu unterscheiden und können generell von intentionalen Erklärungen bzw. Fragen sprechen. Unsere Erklärung wird präziser, wenn wir sie umformulieren in Sätze, die die Wörter “Ursache” bzw. “Grund” enthalten; oder indem wir das kausale weil vom intentionalen weil unterscheiden. Ich habe dies stillschweigend bereits getan: Fett-kursiv- Druck symbolisiert das intentionale weil, nur-fett-Druck symbolisiert das kausale weil. Wer sich unsere weil-Kette daraufhin nochmals ansieht, wird erkennen: Das Verschwinden von englisch 1 ist die kausale Konsequenz individueller intentionaler Handlungen, die mindestens partiell ähnliche Intentionen verwirklichen. 159 <?page no="117"?> 117 Genau genommen ist die Erklärung damit noch nicht ganz am Ende. Erklärungsbedürftig ist ja außerdem der Zeitpunkt des Verschwindens. Es scheint so um die Mitte des vorigen Jahrhunderts passiert zu sein. Warum gerade dann? Warum nicht früher oder später? War möglicherweise im Zuge der Industrialisierung plötzlich häufiger von England die Rede als von Engeln? Oder war es aus irgendwelchen Gründen Mode geworden, häufiger die Engelhaftigkeit zu betonen, so daß ein latenter Homonymenkonflikt virulent wurde? Ich werde im nächsten Kapitel darauf zurückkommen. Es wurde bisweilen der Vorwurf erhoben, eine Invisible-hand- Erklärung berücksichtige nicht die sozialen und historischen Fakten. Dieser Vorwurf ist so wenig gerechtfertigt, wie es gerechtfertigt wäre, der darwinistischen Evolutionstheorie vorzuwerfen, sie berücksichtige nicht das Klima. Die sozialen und historischen Fakten gehören, wie sprachliche Fakten auch, zu den Faktoren, die zusammengenommen die Sprecher (oder einige Sprecher) einer Sprache dazu motivieren, ihre Redeweise zu modifizieren, die Ausdruckspräferenzen zu verschieben. Sie sind sozusagen die ökologischen Bedingungen des Handelns. Invisible-hand-Erklärungen und historische Erklärungen sind nicht alternative Erklärungsformen, wie bisweilen behauptet worden ist; historische Beschreibungen stellen vielmehr (neben vielem anderen) mögliche Einflußfaktoren der kommunikativen Handlungsweise der Sprecher dar. Die Erklärung muß aber immer über die Handlungsweise der Individuen laufen. Es gibt keinen direkten Weg von historischen Tatsachen zu sprachlichen Tatsachen, der beanspruchen könnte, eine Erklärung zu sein. Wir haben nun gesehen, daß die Erklärung der Genese eines sprachlichen Faktums weder allein intentional bzw. final noch allein kausal formuliert werden kann. Diejenigen, die von “den Ursachen des Sprachwandels” reden, können entschuldigend für sich reklamieren, daß sie es mit dem Wort “Ursache” nicht so genau genommen hätten. Gemeint seien eben die Faktoren, die Gründe für kommunikative Handlungsweisen von Sprechern seien. Wie aber läßt sich der Irrtum erklären, daß eine Theorie des Sprachwandels stets eine finalistische sein müsse? Es gibt, glaube ich, zwei Gründe für diesen Irrtum. Zum einen die Existenz des alten dichotomischen Dogmas: “In den Natur- <?page no="118"?> 118 phänomenen ist zweifellos eine äußere Notwendigkeit oder Kausalität zu suchen, bei den Kulturphänomenen dagegen eine innere Notwendigkeit oder Finalität.” 160 Zum zweiten beruht der Irrtum, wie ich vermute, auf der stillschweigenden Annahme, eine funktionalistische Erklärung sei notwendigerweise auch eine finalistische; oder anders ausgedrückt, nur eine finalistische Erklärung könne funktionalistisch sein. In der Tat, was liegt näher als die Annahme, daß die Kulturprodukte, die eine bestimmte Funktion haben, auch eben dazu gemacht sind, diese Funktion zu erfüllen. Sprachliche Erscheinungen haben vielfach eine bestimmte Funktion, folglich muß man, wenn man sie in ihrer Funktionalität erklären will, die finalistische Frage stellen. Ronneberger-Sibold sagt dies klar und deutlich: “Indem wir die Erklärung des Sprachwandels in der Befriedigung von Bedürfnissen der Sprachbenutzer suchen, schlagen wir uns zur Gruppe der ‘Finalisten’ (…), deren Frage lautet ‘wozu ändern Sprachbenutzer ihre Sprache’? ” 161 Ich habe bereits in Kapitel 1.4. gezeigt, daß die Frage nach der Genese und die Frage nach der Funktion in engem Zusammenhang stehen. Um es noch einmal zu sagen: Wenn wir wüßten, wozu wir unsere Sprache verwenden, wüßten wir, warum sie sich durch unser Kommunizieren ständig ändert. Eine Invisiblehand-Erklärung gibt somit nicht nur eine Erklärung des Geneseprozesses, sondern ist zugleich eine funktionalistische Erklärung. Dies bedarf eines erläuternden Kommentars. Wenn wir in bezug auf soziale Institutionen, oder auch ganz allgemein auf Systeme, die Frage nach der Funktion stellen, so müssen wir zweierlei unterscheiden: die Frage nach der Funktion des Systems im sozialen Leben der betreffenden Gruppe, in der die betreffende soziale Institution gilt, und die Frage nach der Funktion von Teilen des Systems im System selbst. Daß die Sprache für uns Menschen eine Funktion hat, scheint unstrittig zu sein. Worin sie jedoch besteht oder ursprünglich bestand, ist schon weniger unstrittig: Die Sprache dient zum Austausch von Gedanken, zum Übermitteln von erworbenem Wissen, zur Koordination der Jagd und dergleichen mehr. “Die zunehmende Kooperation in den Sozialverbänden, z.B. auch 160 Coseriu 1958/ 1974, S. 166 161 Ronneberger-Sibold 1980, S. 37 <?page no="119"?> 119 beim Einsatz von Geräten und bei der Gruppenjagd, machte eine differenziertere Verständigung erforderlich. Als neues Transportmittel für den Informationsfluß tritt die Wortsprache des Menschen auf,” schreibt Günther Osche. 162 Um für die Koordination von Gruppenjagd von Nutzen sein zu können, muß eine Sprache (und der Intellekt der Sprecher) schon weit entwickelt sein. Ich bin in der Geschichte von Karlheinz 163 davon ausgegangen, daß sie zuallererst ein Mittel der Beeinflussung von Artgenossen ist. Diese Annahme hat drei Vorteile. Sie erlaubt zu erklären, weshalb es bereits für e i n e n E i n z i g e n von Vorteil ist, dieses Mittel besser zu beherrschen als andere (vor allen Dingen, wenn dieses Mittel im Zuge der Partnerwahl eine Rolle spielt). Zweitens braucht man keinen prinzipiellen Sprung anzunehmen zwischen tierischer Kommunikation und menschlicher Kommunikation. Denn saltationistische Theorien stehen immer vor dem Problem, neben dem, was sie eigentlich erklären wollen, zusätzlich noch den Sprung selbst erklären zu müssen, woran ja bereits Herder gescheitert ist. (Nebenbei bemerkt: Wenn man der Meinung ist, daß es in einer Entwicklung keine Sprünge gab, sondern daß sie kontinuierlich verlief, so ist man nicht zu der (unangemessenen) Ansicht verpflichtet, daß sie mit stetiger Geschwindigkeit vonstatten ging.) Drittens befindet sich die Annahme, daß die Funktion der Sprache in unserem Leben in erster Linie die Beeinflussung der Mitmenschen ist, im Einklang mit den Ansichten heutiger ernstzunehmender Sprachphilosophen, beispielsweise mit den Ansichten von Herbert P. Grice. 164 Die übrigen genannten Funktionen, die unsere elaborierte Sprache zweifellos auch hat (Gedanken übermitteln, Jagd koordinieren etc.) müssen nicht geleugnet werden oder unter den Tisch fallen; es handelt sich vielmehr um von der Beeinflussungsfunktion abgeleitete Funktionen. Wozu teile ich Ihnen meine Gedanken mit? Natürlich um Sie zu beeinflussen; um Sie in Ihren Ansichten zu bestärken oder um sie zu modifizieren. Was heißt es überhaupt, eine funktionalistische Erklärung zu sein? Die Funktion eines Dings (eines Systems, eines Systemteils) 162 Osche 1987, S. 509 163 cf. Kap. 2.1. 164 cf. Kap. 2.1. <?page no="120"?> ist dessen Beitrag zum Funktionieren 165 eines übergeordneten Systems, in dessen Dienst es steht. Die Uhr steht im Dienst des Menschen, der Zeiger im Dienst der Uhr. Eine funktionalistische Erklärung eines Gegenstandes (im allgemeinsten Sinne) erklärt also im allgemeinen, warum es ihn gibt, warum es ihn noch gibt, oder auch warum es ihn nicht mehr gibt. Die allgemeine Form einer Funktionszuschreibung ist Edna Ullmann-Margalit zufolge: “Die Funktion eines X in einem System S ist F. Dies bedeutet: Das System S hat die Aufgabe bzw. das Ziel Z, und das Fen von/ vermittels X ist ein wesentliches Element der Erklärung von Z.” 166 Spielen wir dieses Schema an einem Beispiel durch und setzen wir ein für: X: die Niere S: der menschliche Organismus Z: das Überleben F: die Blutreinigung (Beim Ersetzen der Variablen muß man dem Stil etwas Gewalt antun.) “Die Funktion der Niere im menschlichen Organismus ist die Blutreinigung.” bedeutet somit unserem Schema gemäß: “Der menschliche Organismus hat das Ziel zu überleben, und das Blutreinigen der Niere ist ein wesentliches Element der Erklärung des Überlebens.” Wenn wir uns über die Funktion der Sprache oder von Elementen der Sprache klar werden wollen, müssen wir nach geeigneten plausiblen Ersetzungen für S, Z und F suchen. 120 165 Dies ist nur scheinbar eine zirkuläre Behauptung. Denn zu sagen, wie etwas funktioniert, heißt nicht zu sagen, welche Funktion es hat. 166 Ullmann-Margalit 1978, S. 279 (meine Übersetzung) <?page no="121"?> 121 Was die Funktion der Sprache betrifft, ist mein Vorschlag folgender: X: die Sprache S: der Mensch Z: der soziale Erfolg F: die Beeinflussung “Der Mensch hat das Ziel, sozial erfolgreich zu sein, und die Beeinflussung vermittels der Sprache ist ein wesentliches Element der Erklärung des sozialen Erfolgs.” Es gibt eine naheliegende Alternative, von der ich finde, daß sie schlechter ist: X: die Sprache S: die Gesellschaft Z: die Kommunikation F: der Austausch von Gedanken “Die Gesellschaft hat das Ziel zu kommunizieren, und der Austausch von Gedanken ist ein wesentliches Element der Erklärung der Kommunikation.” Weshalb ist diese Variante die schlechtere? Betrachten wir die Variablen der Reihe nach. Die Ersetzung von “der Mensch” durch “die Gesellschaft” bringt ein neues Erklärungsproblem mit sich: Was heißt es, von einem Kollektiv zu sagen, es habe Ziele, wenn es nicht heißt, daß die Individuen des Kollektivs diese Ziele haben? Kollektivistische Begriffe müssen reduzierbar sein auf individualistische Begriffe, sonst sind sie ohne Erklärungswert. Reduzierbar sein heißt in diesem Zusammenhang, es muß angebbar sein, wie sich die Aussage über das Kollektiv aus Aussagen über die Individuen des Kollektivs konstruieren läßt. Daß die Deutschen im Durchschnitt 2,3 Kinder haben, ist eine in diesem Sinne zulässige Aussage, denn sie ist eine aus der Kinderzahl der Individuen abgeleitete Aussage. “Das deutsche Volk strebt nach Einheit” ist (so wie sie da steht) keine in diesem Sinne zulässige Aussage. Wenn zu kommunizieren vorteilhaft für die Gesellschaft wäre, ohne auch vorteilhaft für die Individuen zu sein, wäre es schwierig zu erklären, wie sich dieser <?page no="122"?> 122 Brauch hätte etablieren können, und, selbst wenn er durch eine kluge Instanz “von oben” etabliert worden wäre, wie er sich hätte halten können. Wie steht es mit den restlichen beiden Variablen Z und F? Es ist korrekt, daß der Austausch von Gedanken ein wesentliches Element der Erklärung von Kommunikation ist. Wenn aber richtig ist, daß Kommunizieren heißt zu versuchen, einen anderen zu etwas zu bringen, und zwar dadurch, daß man ihm zu erkennen gibt, daß man ihn zu etwas bringen will, dann folgt daraus, daß Kommunizieren eine Art des Beeinflussens ist und der Gedankenaustausch ein Spezialfall des Zu-erkennen-Gebens. Das heißt, diese Funktionsanalyse wäre begrifflich nahe an der Zirkularität, da der Begriff des Gedankenaustausches in der Definition der Kommunikation enthalten ist. Wenn wir “die Gesellschaft” aus den oben genannten Gründen wieder in “der Mensch” zurück verwandeln, so wäre die zweite Variante äquivalent mit der Platitüde “Der Mensch will kommunizieren, und die Sprache dient ihm dazu”. Dies ist zweifellos wahr. Im selben trivialen Sinne, in dem die Funktion eines Scheuermittels zu scheuern ist, ist die Funktion eines Kommunikationsmittels zu kommunizieren. Die Funktion eines Dings, so sagte ich weiter oben, ist dessen Beitrag zum Funktionieren eines ü b e r g e o r d n e t e n Systems; nicht sein Beitrag zum Funktionieren seiner selbst. Das heißt jedoch, daß wir eine Antwort suchen müssen auf die Frage, wozu dem Menschen das Kommunizieren dient. Mein Vorschlag war eben, das Kommunizieren (als besondere Form des Beeinflussens) diene dazu, sozialen Erfolg zu erringen. Der Begriff des sozialen Erfolgs wird noch in einem späteren Kapitel wichtig werden. Deshalb will ich versuchen, jetzt schon einige mögliche Mißverständnisse auszuschließen. In unserer gegenwärtigen Gesellschaft legt die Rede vom sozialen Erfolg nahe, man wolle damit sagen, jemand habe es “zu etwas gebracht”: Zweitwagen, Reihenhaus und Hollywoodschaukel. In diesem Sinne ist “sozial erfolgreich” nicht gemeint. Unter sozialem Erfolg möchte ich all das verstehen, wonach wir in unserem sozialen Zusammenleben streben; Wichtiges und Unwichtiges, Dauerhaftes wie Flüchtiges. Dazu gehören Ziele wie Einfluß, Zuneigung, Nahrungsmittel, verstanden werden, gelesen wer- <?page no="123"?> 123 den, Macht, Partner, Aufmerksamkeit, akzeptiert werden und dergleichen mehr. Den sichtbaren statussymbolisierenden Teil, woran man bei “sozial erfolgreich” am ehesten denkt, möchte ich nicht ausschließen, aber er stellt nur eine von vielen Formen sozialen Erfolgs dar. Sozialer Erfolg ist nicht substantiell definierbar, so wenig wie die biologische Fitness. Eine Blattlaus machen andere Eigenschaften fit als einen Tintenfisch. Sozialer Erfolg ist der Inbegriff dessen, wonach wir mit unseren sozialen Handlungen, von denen die kommunikativen Handlungen einen Teil ausmachen, streben. In einer Punkgruppe gelten andere Bedingungen des sozialen Erfolgs als in einem Schweigeorden. (cf. Kapitel 4.5.) Die Frage nach der Funktion von Elementen eines Systems ist eine ganz andere als die Frage nach der Funktion des Systems selbst. Die Uhr hat für den Menschen eine andere Funktion als der Zeiger für die Uhr. Auch muß nicht alles in einer Uhr eine Funktion haben; und es muß nicht jede Funktion eines Teiles der Uhr in direktem Zusammenhang stehen mit der Funktion, die die Uhr für den Menschen hat. Manche Uhren enthalten Einrichtungen, die verhindern, daß sie im Falle eines Defektes repariert werden können. Bezüglich der Frage, welche Elemente einer Sprache in bezug auf das Kommunizieren funktional sind, gehen die Meinungen auseinander. Chomsky und seine Anhänger vertreten beispielsweise die These der Autonomie der Syntax, welche besagt, daß es in jeder natürlichen Sprache einen autonomen Syntaxbereich gibt, der nicht aus semantischen oder pragmatischen Funktionen heraus erklärt werden kann, “der sich auf keinerlei nicht-syntaktische Gesetzmäßigkeiten reduzieren läßt”. 167 Wenn es sich hierbei um Elemente der Universalgrammatik handeln sollte, also um jenen Teil unserer Sprachfähigkeit, der allen Sprachen gemeinsam ist, und über den wir dank unserer biologischen Ausstattung verfügen, so braucht uns dieser Bereich in unserem Zusammenhang ohnehin nicht zu interessieren. Denn was allen Sprachen gemeinsam ist, ist auch allen Sprachstadien gemeinsam, also historischem Wandel gegenüber gefeit. Dieser Bereich wird sich lediglich in den Zeiträumen verändern, in denen sich 167 Fanselow, Felix 1987, S. 93 <?page no="124"?> unsere biologische Ausstattung verändert, und die überschreiten die Dimensionen sprachhistorischer Betrachtung bei weitem. Sprachliche Einheiten können viele verschiedene Funktionen haben, und eine sprachliche Einheit kann mehrere zugleich haben. Eine bestimmte Aussprache eines Ausdrucks dient erstens der phonetischen Realisation dieses Ausdrucks und kann zweitens Herkunft und soziale Schicht signalisieren. Die Sprache ist für uns nicht nur Mittel der schieren Verständigung, sondern auch Mittel der Selbstdarstellung im weitesten (und keineswegs nur negativen) Sinne. Deswegen neigen wir auch sehr schnell dazu, die Art und Weise, wie einer redet, unmittelbar zu bewerten. Wenn ich im Fernsehen einen schwäbischen Politiker sagen höre “Das Läben muß wieder läbenswert werden”, so stelle ich nicht sachlich fest, daß er das “e” sehr offen artikuliert, sondern ich assoziiere sofort bestimmte “Charaktereigenschaften”. Merkmale des Sprachverhaltens werden üblicherweise personenbezogen interpretiert. Die Sprache eines Menschen ist und gilt als Teil seiner Person. Mit Worten kann man schmeicheln, imponieren, verletzen, loben, beleidigen, werben, sich anpassen, auffallen und nicht zuletzt auch sich verständigen. Manches davon kann man gleichzeitig, denn Kommunizieren ist ein mixed-motivegame, ein Spiel, das viele Zwecke zugleich verfolgt, die alle im Dienste des Beeinflussens stehen. In welchem Sinne ist nun eine Invisible-hand-Erklärung des Wandels einer sprachlichen Einheit funktionalistisch? Sie zeigt, welche spezielle Funktion den Wandel auslöste. Betrachten wir noch einmal die Pejorisierung der Bezeichnungen für Frauen. Unsere Erklärung 168 macht deutlich, daß wir das Wort “Frau” nicht nur dazu verwenden, um auf Frauen zu referieren, sondern um das Galanteriespiel zu spielen; nicht um höflich und ehrerbietend im allgemeinen zu sein, sondern um im höfisch-gesellschaftlichen Sinne galant zu sein. Und diese seine Funktion ist es, die die Pejorisierung erzeugt. Das heißt, es gibt gewissermaßen selbstzerstörende Verwendungsfunktionen. Alles, was mit Ausgefallenheit zu tun hat, gehört beispielsweise in diese Sparte. Galanterie ist ein Spiel, in 124 168 cf. Kap. 4.2. <?page no="125"?> 125 169 Lass 1980, S. 82 170 Humboldt 1836/ 1907, S. 127 dem Ausgefallenheit Trumpf ist. Wenn aber viele die gleiche Wahl des Ausgefallenen treffen, wird das Ausgefallene zum Normalen, und es wird somit untauglich, seine Funktion zu erfüllen. Natürlich ist dies nur ein Grund, weshalb Sprecher einer Sprache sich veranlaßt sehen können, ihre Ausdruckspräferenz zu modifizieren. Auf andere Fälle werden wir noch zu sprechen kommen. Worauf es hier nur ankommt, ist dies: Zu wissen, warum eine sprachliche Erscheinung sich ändert, heißt zu wissen, wozu sie verwendet wird, heißt, die Funktion im Spiel des Kommunizierens zu kennen, die die Modifikation der Wahl des Ausdrucksmittels begründet. Da eine Invisible-hand-Erklärung einer sprachlichen Erscheinung immer bei den Motiven der Sprecher beginnt und die Erscheinung selbst als aus der getroffenen Wahl entstehenden makrostrukturellen Effekt “hochrechnet”, ist sie notwendigerweise funktionalistisch; aber in “gebrochener” Weise. Gegen die Möglichkeit einer funktionalistischen Erklärung des Sprachwandels wird zurecht ins Feld geführt, daß dieser ja nicht bezweckt sei. So schreibt Roger Lass: “Change does not involve (conscious) human purpose”, 169 und hält (unter anderem) aus diesem Grund funktionalistische Erklärungen für nicht möglich. Richtig ist, daß der Wandel, d.h. der neue Zustand nach dem Wandel nicht intendiert und häufig sogar ausgesprochen “unerwünscht” ist, “so wie überhaupt das Wort Absicht, von Sprachen gebraucht, mit Vorsicht verstanden werden muß.” 170 “Involviert” ist jedoch “conscious human purpose” immer. Man kann es so sagen: Das Explanandum ist ein nichtfunktionaler Effekt funktionalen Handelns. Wenn der Witz einer Invisiblehand-Erklärung klar geworden ist, so ist es letztlich eine terminologische Entscheidung, sie funktionalistisch zu nennen oder nicht. Daß die Mittel unserer Sprache im großen und ganzen recht zweckmäßig sind, liegt nicht daran, daß wir Sprecher lauter zweckmäßige Mittel erzeugen, sondern daran, daß wir die unzweckmäßigeren immer wieder zugunsten von uns zweckmäßiger erscheinenden vermeiden. Dieser Selektions- oder Filterprozeß schafft Teleonomie ohne Finalität, Zweckmäßigkeit, die nicht projektiert ist. <?page no="126"?> 126 4.4. Maximen sprachlichen Handelns Machen wir uns die Struktur einer Erklärung mittels der unsichtbaren Hand an einem Bild noch einmal deutlich: ökologische intentionale kausale Handlungen Konsequenz Invisible- Explahandnandum Prozeß Bedingungen An diesem Bild läßt sich ablesen, welche Faktoren eine Rolle spielen, wenn man den Wandel einer sprachlichen Erscheinung oder auch deren Stase erklären will. Sie alle müssen in einer vollständigen Erklärung Berücksichtigung finden. Links des rechteckigen Kastens befindet sich die Mikroebene, rechts davon die Makroebene. Die Mikroebene ist die Ebene der Handlungen der beteiligten Individuen samt der relevanten Bedingungen, unter denen sie handeln; die Makroebene ist die der Sprache im hypostasierenden Sinne. Der Kasten selbst symbolisiert den kumulativen Prozeß, der die Brücke zwischen Mikro- und Makroebene bildet. Ich möchte damit beginnen, die linke Seite zu erläutern. Wenn viele Leute beliebige, disparate Dinge tun, ohne jede Gemeinsamkeit, so entsteht vermutlich nichts Interessantes; jedenfalls kein Invisible-hand-Prozeß. Invisible-hand-Prozesse kommen dadurch zustande, daß viele Leute in gewissen Aspekten ähnlich handeln; oder anders gesagt: daß die Handlungen vieler in mindestens einer Hinsicht relevante Ähnlichkeiten aufweisen. Tausend Menschen können mit zehntausend Intentionen von A nach B gehen. Ein Trampelpfad wird nur dann entstehen, wenn ihre Handlungen in mindestens einer Hinsicht ähnlich sind: Sie müssen es möglichst energiesparend tun. Von all den Gründen, Motiven und Intentionen ihres Handelns ist für die Erklärung nur eines relevant: die Strategie des möglichst kurzen Weges. <?page no="127"?> 127 171 Grice 1975/ 1979 Daß Handlungen Ähnlichkeiten aufweisen, ist eine notwendige Bedingung dafür, daß Invisible-hand-Prozesse entstehen. Diese Bedingung ist jedoch nicht hinreichend, denn es mag irrelevante Ähnlichkeiten geben, das heißt solche, die keine “Spuren” hinterlassen. Den Aspekt der relevanten Ähnlichkeit des Handelns kann man (nach dem Vorbild von Grice 171 ) in Form von Maximen erfassen. Ich nenne sie Handlungsmaximen. Eine Handlungsmaxime repräsentiert eine Tendenz des Handelns oder auch eine bewußte oder unbewußte Strategie des Handelns. Sie ist typischerweise in einem Aufforderungssatz formuliert. Dieser Aufforderungssatz soll so gewählt sein, daß es scheint, als ob die betreffende Handlungsweise eine Befolgung der Aufforderung wäre. “Geh so von A nach B, daß die gewählte Strecke möglichst kurz ist.” Dies ist eine mögliche Formulierung einer möglichen Maxime, die bei der Erklärung eines Trampelpfads über den Rasen eine Rolle spielen könnte. Die Art und Weise der Formulierung solcher Handlungsmaximen sagt nichts darüber aus, wie die relevanten Ähnlichkeiten der betreffenden Handlungen tatsächlich begründet sind. Die Tendenz, sich von A nach B nach Maßgabe möglichst geringen Energieverbrauchs zu bewegen, mag unserer biologischen Ausstattung oder rationalen Erwägungen zu verdanken sein oder eine kulturell erworbene Verhaltensweise darstellen. Auf unserem Bild symbolisieren die drei Pfeile, die auf den Kasten weisen, die relevanten Handlungen, die unter einer oder mehrerer solcher Handlungsmaximen stehen. Ich will auf zwei Vergröberungen hinweisen, die in dem bisher Gesagten verborgen sind. Erstens: Selbstverständlich müssen nicht alle Mitglieder einer Gruppe zu der Erzeugung des zu erklärenden Phänomens beitragen. Wie groß der Anteil der “Aktiven” sein muß oder faktisch ist, hängt von vielen Faktoren ab. Beispielsweise von der Art des zu erklärenden Phänomens selber, aber auch von dem, was ich auf der Abbildung “ökologische Bedingungen” genannt habe. <?page no="128"?> Zweitens: Es müssen nicht alle, die zu der Erzeugung des Phänomens beitragen, nach der gleichen Maxime handeln. Sie könnten nach äquivalenten Maximen handeln. Die Ökologie des Handelns ist die Summe der Faktoren, die die Wahl einer Handlung beeinflussen. Handlungen finden nicht im “luftleeren Raum” statt. Der Handelnde ist stets einer Fülle von Bedingungen und Faktoren ausgesetzt, die teilweise beschränkender Natur sind, teilweise aber auch Handlungsmöglichkeiten eröffnen. Das Klavier eröffnet dem Pianisten die Möglichkeit des Klavierspielens, und zugleich beschränkt es ihn durch seine Bauweise. Der Sprecher einer Sprache sieht sich in jeder gegebenen Kommunikationssituation handlungsbeschränkenden und handlungsermöglichenden Bedingungen gegenüber. Diese Bedingungen wirken einerseits auf die Wahl der Mittel bei gegebenen Handlungszielen, andererseits auch auf die Handlungsziele bei gegebenen Möglichkeiten. Beim Kommunizieren arrangieren wir uns. Die ökologischen Faktoren, die auf die Wahl der sprachlichen Mittel eines Sprechers wirken, sind teilweise selbst sprachlicher Natur, teilweise außersprachlicher Natur. Die innersprachlichen Faktoren betreffen die Individualkompetenz des Sprechers samt dessen Antizipation der Individualkompetenz des jeweiligen Kommunikationspartners. Die tatsächliche Kompetenz des Hörers gehört nicht zu den Faktoren, die das Handeln des Sprechers beeinflussen; denn diese ist ihm nicht zugänglich. Meine Hypothesen über deine Kompetenz sind Teil m e i n e r Kompetenz! Zu außersprachlichen Faktoren gehören beispielsweise soziale Gegebenheiten, Gegebenheiten der materialen Welt sowie möglicherweise biologische Gegebenheiten. Die Unterscheidung in innersprachliche und außersprachliche Faktoren ist nicht strikt durchzuhalten, da soziale wie biologische Faktoren teilweise unmittelbaren Einfluß auf die Sprachkompetenz haben. All diese ökologischen Bedingungen wurden traditionellerweise “Ursachen des Sprachwandels” genannt; und man hat zwischen innersprachlichen und außersprachlichen “Ursachen” unterschieden. Unsere Graphik macht den Stellenwert dieser sogenannten Ursachen deutlich. In Kapitel 1.3. habe ich kurz angedeutet, daß Sprachwandel 128 <?page no="129"?> 129 geplant sein könnte, ohne deshalb ein intentionales Phänomen zu sein. Der Grund dafür wird nun deutlich. Ein Phänomen der dritten Art läßt sich nämlich a l s Phänomen der dritten Art planen. Es läßt sich unter Umständen planen, daß ein Invisiblehand-Prozeß der gewünschten Art in Gang kommt. Wir kennen das aus der Volkswirtschaftsplanung; wer will, daß die Bauwirtschaft in Schwung kommt, kann die Kreditzinsen subventionieren. Diejenigen, die daraufhin bauen, tun dies nicht, um die Bauwirtschaft zu beleben; d.h. die Belebung der Bauwirtschaft ist kein intentionales Phänomen. Diejenigen, die die Zinsen subventionierten, taten dies jedoch mit dem Ziel, die ökologischen Bedingungen des Handelns dergestalt einzurichten, daß die Leute Dinge tun, deren Konsequenz die Belebung der Bauwirtschaft ist. Ein Beispiel für eine solche “marktwirtschaftlich” betriebene Sprachpolitik könnte folgendes sein: Wenn Homophile, wie es in der Bundesrepublik zu beobachten war, dazu übergehen, sich selbst “Schwule” zu nennen, betreiben sie offenbar eine Sprachpolitik mit dem Ziel, dem Wort schwul seine diskriminierende Funktion zu nehmen. Sie nehmen “den Anderen” ihr Schimpfwort weg. Diejenigen, die nun dieses Wort nicht mehr als Schimpfwort verwenden (können), beabsichtigen mit ihrer Unterlassung nicht etwa einen Bedeutungswandel des Wortes schwul, aber faktisch bewirken sie ihn. Denn ein Wort, von dem bekannt ist, daß es die betreffende Gruppe zur Selbstcharakterisierung verwendet, eignet sich nicht mehr, zum Zwecke der Diskriminierung verwendet zu werden. Auch bewußte Sprachpolitik oder Sprachplanung “von oben” setzen den Invisible-hand-Mechanismus nicht außer Kraft. Sie stellen lediglich einen Faktor - möglicherweise einen sehr wirksamen Faktor - der Ökologie des Handelns der Sprecher dar. Es gibt nichts, weder eine Struktureigenschaft noch eine Macht oder “Kraft”, die direkt auf die Sprache wirkt. Jeder sprachliche Prozeß geht den langen Marsch durch das Handeln der Individuen und muß durch ihn erklärt werden. Es kann, schreibt Coseriu, “keine von außen kommende Triebkraft irgendeiner Art ‘auf die Sprache’ einwirken, ohne durch die Freiheit und die Intelligenz der Sprecher hindurchzugehen.” 172 172 Coseriu 1958/ 1974, S. 169 <?page no="130"?> 130 Eine Handlungsmaxime ist eine Funktion, die Mengen ökologischer Bedingungen in Handlungsräume abbildet. Sie bestimmt die Wahl möglicher Handlungen unter gegebenen Bedingungen. Handlungsmaximen sind Handlungswahlfunktionen. Betrachten wir nun noch einmal das Beispiel des Verschwindens von englisch im Sinne von engelhaft um die Mitte des 19. Jahrhunderts. Englisch 1 steht für die Bedeutung von engelhaft, englisch 2 für die Bedeutung von britisch. Ich werde versuchen, dieses Verschwinden zu erklären, indem ich den einzelnen Stationen unserer Graphik entlanggehe. I Die ökologischen Bedingungen, denen sich ein Sprecher zu jener Zeit ausgesetzt sah, sind: a) Die Menge dessen, was sinnvollerweise englisch 1 genannt werden kann, ist eine (kleine) Teilmenge dessen, was sinnvollerweise englisch 2 genannt werden kann. b) Englisch 1 und englisch 2 waren homonym. c) Um die Mitte des 19. Jahrhunderts verkörperte “Engelhaftigkeit” eine Art Idealbild der Frau, was die Zahl der Verwendungsanlässe für englisch 1 erhöhte. d) Zur gleichen Zeit gerieten England sowie englische Produkte im Zuge der Industrialisierung und der daraus resultierenden Rivalität mit Deutschland stärker als zuvor in den Blick der deutschen Öffentlichkeit, was die Zahl der Verwendungsanlässe für englisch 2 erhöhte. e) (c) und (d) zusammengenommen ließen ein bis dahin praktisch unbedeutendes Homonymen-Konfliktpotential virulent werden. f) Englisch 1 wird als Ableitung des Substantivs Engel angesehen, das aufgrund der Wortbildungsmöglichkeiten andere, nahezu synonyme, nicht-homonyme alternative Ableitungen erlaubt. g) (f) gilt nicht analog für englisch 2 . h) Wer vermeiden wollte, aufgrund von (b) bis (e) mißverstanden zu werden, dem bot sich aufgrund von (f) und (g) die Möglichkeit, englisch 1 , nicht aber englisch 2 zugunsten alternativer Ausdrücke zu vermeiden. i) Aufgrund von (a) waren die Chancen, mißverstanden zu werden, für englisch 1 größer als für englisch 2 . <?page no="131"?> 131 II Die Handlungsmaximen, die unter den Bedingungen (a) bis (i) dazu führten, daß englisch 1 aus unserer Sprache verschwunden ist, lauten: M 1 : Rede so, daß du möglichst nicht mißverstanden wirst. M 2 : Rede so, daß du verstanden wirst. M 1 und M 2 sind nicht äquivalent, da Mißverstehen nicht das kontradiktorische Gegenteil von Verstehen ist. Wie wir sehen werden, leisten die beiden Maximen einen unterschiedlichen Beitrag zum Invisible-hand-Prozeß. III Der Invisible-hand-Prozeß, der durch die Vermeidung des Wortes englisch 1 in Gang gesetzt wird, ist relativ einfacher Natur. Durch die seltener werdende Verwendung des Wortes gerät dies einerseits bei einigen, die es kannten, in Vergessenheit, andererseits wird es von vielen Sprechern der nachwachsenden Generation nicht mehr erlernt. So entsteht ein positiver Rückkopplungseffekt. Je weniger Leute dieses Wort in ihrem (aktiven) Wortschatz haben, desto weniger können es verwenden, so daß zur Vermeidung des Verwendens noch die Unfähigkeit des Verwendens hinzukommt. Damit haben sich aber für diejenigen, die das Wort noch beherrschen, die ökologischen Bedingungen geändert. Sie werden von nun an auch dann vermeiden, das Wort englisch 1 zu verwenden, wenn das Risiko, m i ß v e r s t a n d e n zu werden, gar nicht besteht, da nun angesichts der geringen Frequenz bzw. der geringen Verbreitung die Chance, v e r s t a n d e n zu werden, gering ist. IV Das Explanandum ist die kausale Konsequenz dieses Prozesses. Das Wort englisch 1 ist aus der deutschen Sprache verschwunden. Die “Gesetze”, die diese Konsequenz zeitigen, sind sehr elementarer Natur: G 1 : Wörter, die selten verwendet werden, werden selten gelernt. G 2 : Kennt ein Hörer die Bedeutung eines Wortes nicht, so ist seine Chance verringert zu verstehen, was ein Sprecher mit einer Verwendung dieses Wortes meint. <?page no="132"?> 4.5. Stase und Dynamik der Sprache Um von e t w a s sagen zu können, daß e s sich gewandelt hat, muß einiges daran stabil geblieben sein, damit die Identität dessen, wovon behauptet wird, es habe sich gewandelt, gewährleistet ist. “Ich habe noch immer d e n s e l b e n B e s e n wie vor zehn Jahren; nur einmal mußte ich den Stil auswechseln, und einmal unten eine neue Bürste dranmachen.” Diese Aussage ist nicht völlig absurd; obwohl der jetzige Zustand dieses Besens mit seinem ersten Zustand nicht mehr gemein hat, als zwei verschiedene Besen gemein hätten. Hätte ich Stiel und Bürste zusammen auf einmal durch einen anderen Stiel und eine andere Bürste ersetzt, dann wäre es nicht mehr “derselbe” Besen; auch dann nicht, wenn die beiden Teile identisch wären mit denen, die nach und nach ausgetauscht wurden. Dies sagt etwas aus über unsere Kriterien der Identität in der Diachronie. Um von Wandel überhaupt sinnvoll reden zu können, muß Stabilität vorhanden sein. Lüdtke 173 nennt diese Art der diachronischen Identität treffend “Stafettenkontinuität”. Stase und Dynamik werden erzeugt durch unterschiedliche Typen von Handlungsmaximen. Es gibt Maximen, die Homogenität bei heterogener Ausgangslage erzeugen und Stase bei homogener Ausgangslage. Dies leistet vor allem die Maxime “Rede so, daß du verstanden wirst”. Kommunizieren heißt (u.a.) verstanden werden wollen. Wenn verstanden werden wollen Stase und Homogenität erzeugt, wieso kommt es dann überhaupt zum Phänomen des Wandels? “Wenn die Sprache ein systematischer Organismus ist (…) und ihr Zweck die Verständigung seitens der Gemeinschaft, in der sie gesprochen wird, dann wäre Stabilität zu erwarten von ihr als einem System, das seine Funktion angemessen erfüllt. Das Gegenteil ist jedoch der Fall: das System wandelt sich.” 174 Ich halte (im Gegensatz zu Coseriu (1958/ 1974), bei dem ich dieses Zitat gefunden habe) diese Folgerung für vollkommen korrekt. Der Fehler liegt meines Erachtens in einer der beiden Prämissen, daß nämlich “ihr Zweck die Verständigung” sei. Sprache hat viele Zwecke, und wenn man einen exponieren will, so ist es der der 132 173 Lüdtke 1980, S. 4 174 Alarcos Llorach 1968, S. 117 (meine Übersetzung) <?page no="133"?> 133 Beeinflussung, in deren Dienst “die Verständigung” steht (cf. Kapitel 4.3.). Roger Lass schreibt: “If language is many things other than a communication system, including a form of play, then change can occur, presumably, for reasons totally unconnected with communicative ‘function’.” 175 In unserer Umgangssprache wird “Kommunizieren” oft einfach mit “miteinander reden” gleichgesetzt. Dies ist ungünstig, denn damit werden Dinge verwischt, die in unserem Zusammenhang relevant sind. In einem strengeren Sinne, nämlich im Griceschen Sinne, heißt Kommunizieren, “etwas sagen und damit etwas meinen”. Was ich kommuniziere ist demnach genau das, was ich meine. Und meinen heißt (laut Grice), auf eine komplexe Art und Weise (die ich hier nicht auszuführen brauche (cf. Kapitel 2.1.)) intendieren, dem anderen etwas zu erkennen zu geben. Somit hat der andere genau dann verstanden, was ich gemeint habe, wenn er genau das erkannt hat, was ich ihm zu erkennen zu geben beabsichtige. Oder anders ausgedrückt: Verstanden haben heißt, die offenen Intentionen erkannt haben. Nach diesem Sprachgebrauch heißt also Kommunizieren, etwas “offen zu verstehen zu geben beabsichtigen”. Liberalere Kommunikationsbegriffe, etwa solche, aus denen folgt, daß man nicht nicht kommunizieren könne, 176 sind für die Sprachbetrachtung zu undifferenziert. Da wir mit einer kommunikativen Handlung normalerweise mehrere Intentionen zu verwirklichen versuchen, gibt es mehrere Stufen des Nicht-voll-verstehens. Wenn verstehen heißt, a l l e (offenen) Intentionen des Sprechers erkennen, so ist das kontradiktorische Gegenteil des Verstehens, n i c h t a l l e offenen Intentionen erkennen, d.h. einige Intentionen nicht erkennen. Das kontradiktorische Gegenteil von “verstehen” ist also “teilweise verstehen”. “Nicht verstehen” heißt demnach “keine der Intentionen erkennen”. Mißverstehen liegt vor, wenn der Adressat dem Sprecher Intentionen unterstellt, die dieser nicht gehabt hat; wenn er, salopp gesagt, etwas ‘verstanden’ hat, was der Sprecher nicht gemeint hat. 177 Da man demnach jemanden verstanden und zugleich mißverstanden haben könnte, dann näm- 175 Lass 1980, S. 136 176 cf. Watzlawick, Beavin, Jackson; siehe dazu auch Keller 1977b 177 Zum Problem des Mißverstehens siehe etwa Dascal 1985, Dobrick 1985 <?page no="134"?> 134 lich, wenn man alle offenen Intentionen, die der Sprecher hatte, erkannt hat und ihm darüber hinaus noch welche unterstellt, die er gar nicht hatte, ist es vermutlich sinnvoller zu sagen, der Adressat habe den Sprecher verstanden, wenn er alle Intentionen des Sprechers erkannt hat und ihm keine Intentionen unterstellt, die er nicht hatte. Dann wäre das kontradiktorische Gegenteil von “verstehen” “teilweise verstehen oder mißverstehen”. Wenn wir uns das Spektrum der Möglichkeiten vor Augen halten, die es gibt von “überhaupt nicht verstehen” über “teilweise verstehen” zu “voll verstehen”, gekoppelt mit den Möglichkeiten des teilweisen und vollständigen Mißverstehens, sehen wir, daß dies bereits sehr komplex ist. Aber es kommt noch schlimmer: Nicht alle Intentionen, die wir b e i m K o m m u n i z i e r e n verfolgen, k o m m u n i z i e r e n wir auch. Von einigen mit einem kommunikativen Akt verbundenen Absichten wollen wir gerade nicht, daß sie erkannt werden. Von anderen wollen wir, daß sie erkannt werden, aber wir wollen nicht, daß erkannt wird, daß wir wollen, daß sie erkannt werden. Ich will ein paar Beispiele nennen, denn theoretische Explikationen dessen, was ein Sprecher beabsichtigt, haben die Eigenschaft, ungleich komplizierter zu sein als der praktische Vollzug solcher kommunikativer und manipulativer Akte. Sie gehören, so kompliziert die theoretische Explikation auch sein mag, zum Standardrepertoire eines jeden von uns. Wenn ich zu einer Dame sage: “Sie sehen heute sehr gut aus”, so werde ich (normalerweise) beabsichtigen, daß sie erkennt, daß ich der Ansicht bin, daß sie heute sehr gut aussieht. Möglicherweise beabsichtige ich auch, sie dazu zu bringen, meine Ansicht über ihr Aussehen zu teilen. Wenn ich jedoch darüber hinaus die Absicht habe, mich bei ihr einzuschmeicheln, so werde ich gerade nicht wollen, daß sie diese Absicht ebenfalls erkennt. Denn diese Absicht werde ich nur dann mit Erfolg realisieren können, wenn sie unerkannt bleibt. Dies ist ein Beispiel für eine Absicht, die, ohne daß sie selbst kommuniziert wird, beim Kommunizieren verfolgt wird. Betrachten wir einen vielschichtigeren Fall. Wenn kleine Kinder angeben wollen, so tun sie es meist sehr direkt: “Mein Papa hat einen Mercedes”, oder “Mein Papa verdient viel Geld”. Wenn Erwachsene mit ihrem Wohlstand imponieren wollen, müssen <?page no="135"?> 135 sie es, um damit erfolgreich zu sein, indirekt tun; etwa so: “Die Mercedeswerkstatt hier ist wirklich sehr zuvorkommend”, oder: “Wir sind in einer solchen Steuerprogression, daß es sich gar nicht lohnt, ein paar Mark nebenbei zu verdienen”. Wenn ich dies sage, so beabsichtige ich, daß der Adressat erkennt, daß ich einen Mercedes bzw. ein hohes Einkommen habe; ich beabsichtige jedoch nicht, daß er erkennt, daß ich ihm eben dies mitteilen wollte. Denn dies gälte als unfein und würde meine Absicht, dem anderen zu imponieren, genau deshalb zunichte machen. Das heißt, wir müssen unterscheiden zwischen offenen und verdeckten Intentionen beziehungsweise zwischen dem Sinn einer Äußerung und dem kommunizierten Sinn einer Äußerung. Der Sinn einer Äußerung ist die Menge aller mit der Äußerung verfolgten Absichten, während der kommunizierte Sinn einer Äußerung die Teilmenge der Absichten umfaßt, die von den offenen Absichten gebildet wird. Es wird nicht selten vorkommen, daß d i e Absicht, auf die es uns beim Vollzug einer Äußerung besonders ankommt, gerade nicht kommuniziert wird, d.h. gerade nicht verstanden werden soll. Verständigung ist somit nicht “ d e r Zweck” der Sprache, sondern allenfalls einer unter vielen (wenn auch ein wichtiger). Wäre sie der einzige, so wäre, wie Alarcos Llorach richtig bemerkt, eher Stase als Wandel zu erwarten. Dies möchte ich nun begründen. Wie wir festgestellt haben, heißt Kommunizieren, (auf bestimmte Weise) Intentionen zu erkennen zu geben, und dies verstehen heißt, diese Intentionen erkennen. Die Maxime (i) Rede so, daß Dich der andere versteht. heißt somit (ii) Rede so, daß der andere Deine Intentionen erkennen kann. bzw. (iii) Mache Deine Intentionen auf eine Art und Weise deutlich, daß der andere sie erkennen kann. Was kann ich tun, um Dir meine Intentionen zu erkennen zu geben? Ich könnte darauf hoffen, daß Du sie richtig errätst. Aber das wäre kein sehr aussichtsreiches Verfahren. Wenn ich Dich treffen will, und Du mich treffen willst, ohne daß wir die Möglichkeit <?page no="136"?> haben, einen Treffpunkt zu vereinbaren, wäre es nicht rational, darauf zu hoffen, daß wir uns zufällig treffen. Wenn ich Dir meine Intentionen zu erkennen geben möchte, und Du sie erkennen willst, so befinden wir uns in einer analogen Situation, wie der des Treffen-wollens. Der Zufall ist nicht ausgeschlossen, aber die Hoffnung darauf ist irrational. Das Problem, vor dem wir stehen, ist ein klassisches Koordinationsproblem. Koordinationsprobleme lassen sich mit Aussicht auf Erfolg nur lösen, “wenn es ein System übereinstimmender gegenseitiger Erwartungen gibt”. 178 Das einzig rationale Verfahren, Dich unter den oben genannten Bedingungen zu treffen, mit einer Chance, die größer ist als die des Zufalls, besteht darin, daß ich, um Dich zu treffen, an den Ort gehe, von dem ich erwarte, daß Du ihn aufsuchst, um mich zu treffen. Mit anderen Worten: Ich gehe dahin, wo ich denke, daß Du hingehst 179 (wenn Du mich treffen willst). Und wo gehst Du hin? Wenn Du vernünftig bist, gehst Du dahin, wo Du denkst, daß ich hingehe (wenn ich Dich treffen will). Somit sollte meine Strategie sein: “Ich gehe dahin, wo ich denke, daß Du hingehen würdest, wenn Du an meiner Statt wärst.” Dies ist die Strategie, die wir wählen sollten, wenn wir uns treffen wollen, ohne uns verabreden zu können. Wilhelm von Humboldt scheint gesehen zu haben, daß eine solche Strategie (mutatis mutandis) eine zentrale Rolle beim Kommunizieren spielt. Als “geistige Kraft”, die “zum Zweck das Verständnis” hat, nennt er die Maxime “Es darf also Niemand auf andere Weise zum Andren reden, als dieser, unter gleichen Umständen, zu ihm gesprochen haben würde.” 180 Dies ist die Strategie, nach der man handeln sollte, wenn man verstanden werden will. Ich will sie die Humboldt-Maxime nennen. Wenn das alleinige Ziel unseres Redens darin bestünde, verstanden zu werden, sollte unsere Kommunikationsmaxime also sein: 136 178 Lewis 1969/ 1975, S. 24 179 Man verzeihe die kolloquiale, aber für diesen Zweck übersichtlichere Syntax! 180 Humboldt 1836/ 1907, S. 47 <?page no="137"?> 137 “Rede so, wie Du denkst, daß der andere reden würde, wenn er an Deiner Statt wäre.” Diese Maxime - es ist eine leicht modifizierte Version von Humboldts Formulierung -, so lautet die These, erzeugt Homogenität bei heterogener Ausgangslage und Stase bei homogener Ausgangslage. Wie ist dies möglich? Wenn Du zu mir auf meine Weise reden würdest, und ich zu Dir auf Deine Weise, so würden wir einfach unsere Art und Weise zu reden austauschen. Wie sollte auf diese Weise Homogenität und Stase zustande kommen? Die Humboldt-Maxime funktioniert subtiler: Woher weiß ich, wie Du reden würdest, wenn Du an meiner Statt wärest? Unter anderem von Gelegenheiten, bei denen Du zu mir geredet hast. Doch dabei befolgtest Du die Humboldt-Maxime. Vermutlich hast Du also zu mir so geredet, wie Du dachtest, daß ich geredet haben würde, wenn ich an Deiner Statt wäre. Wenn ich versuche, zu Dir zu reden, wie Du unter gleichen Umständen zu mir reden würdest, imitiere ich in Wahrheit, wie Du redest, wenn Du versuchst, so zu reden, wie ich rede, wenn ich versuche, so zu reden, wie Du redest … Auf diese Weise kommt es zu einer ständigen Angleichung unserer Kompetenzen und zu einer Stabilisierung, wenn die Angleichung weitgehend vollzogen ist. Ich nehme an, daß dies eine der fundamentalsten Maximen unseres Kommunizierens ist. Es ist die Strategie, verstanden zu werden. Diese Strategie befolgen wir bisweilen selbst da, wo es objektiv unsinnig ist, nach ihr zu handeln. Unsinnig ist sie beispielsweise in Lehr-Lern-Situationen, in denen der Sprecher dem Adressaten Vorbild sein sollte, um ihm die Verbesserung seiner Kompetenz zu ermöglichen. Aber dank der Tatsache, daß wir die Humboldt-Maxime so stark internalisiert haben, neigen wir dazu, mit kleinen Kindern wie kleine Kinder zu reden und mit Ausländern in gebrochenem Deutsch. In der Linguistik ist dieses Phänomen als “Baby-Talk” bzw. “Foreigner-Talk” bekannt. Ebenfalls homogenisierend bzw. stabilisierend ist jede Art von Anpassungsstrategie, also ein Kommunizieren nach der Maxime “Rede so, daß Du als Gruppenzugehöriger zu erkennen bist.” oder “Rede so, daß Du nicht auffällst.” und dergleichen. <?page no="138"?> 138 Das sind Varianten der einfachen Maxime “Rede so wie die andern.” (wobei “die andern” natürlich eine Minorität darstellen können). Jules Levin 181 hat mit Hilfe eines Computerprogramms die Maxime “Rede wie die andern in Deiner Umgebung.” modelliert. Er konnte nachweisen, daß eine solche Maxime verblüffende Strukturen hervorzubringen imstande ist. Ich will dies, ein wenig abgekürzt, darstellen. Levin ging es darum, die Verteilung bzw. die Verbreitung von Varianten in einem bestimmten Gebiet zu modellieren. Die Existenz zweier Varianten ist als gegeben vorausgesetzt. Als “Gebiet” wählte er ein quadratisches Gitter mit einer Seitenlänge von beispielsweise 55x55 Feldern. Jedem Feld ist ein bestimmter Wert zugewiesen, beispielsweise “schwarz” oder “weiß”. Die Verteilung der Werte über das gesamte “Gebiet” erfolgt nach dem Prinzip des Zufalls. Die Ausgangsverteilung des auf diese Weise entstandenen “Sprachgebiets” ist in Abbildung 2 (S. 144) dargestellt. Nun wurde ein Computerprogramm 182 entwickelt, das eine bestimmte Interaktion zwischen den beiden Varianten simuliert. Jedes Feld kann seinen Wert beibehalten oder ändern, je nachdem, welchen Wert die angrenzenden Nachbarfelder haben. Ein jedes Feld, das kein Randfeld ist, hat 8 Nachbarfelder (die Diagonalnachbarn mitgezählt). Das Programm soll in etwa die Maxime “Talk like the people around you” simulieren. Ein beliebiges Feld, sagen wir ein schwarzes Feld, hat eine bestimmte Chance, schwarz zu bleiben oder weiß zu werden, je nachdem, wieviele der 8 Nebenfelder ebenfalls schwarz bzw. weiß sind. So kann, Levins Algorithmus gemäß, ein Feld, das von 8 Feldern mit dem gleichen Wert umgeben ist, im nächsten Durchgang nur diesen Wert haben, während ein, sagen wir, weißes Feld, das von 4 weißen und 4 schwarzen Feldern umgeben ist, von diesem Algorithmus eine 51%ige Chance bekommt, weiß zu bleiben. 181 Levin 1988 182 Es handelt sich hierbei um einen sogenannten Zellular-Automaten. Dazu s. Silbar 1987 <?page no="139"?> 139 Das Ergebnis ist erstaunlich. Bereits nach relativ wenigen Durchläufen entsteht eine Struktur, die einer Isoglossenkarte verblüffend ähnlich ist (s. Abb. 7). Abbildung 3 zeigt das Ergebnis nach 20 Durchläufen. Diese Struktur “arrondiert” sich nach weiteren Durchläufen noch ein wenig, um jedoch alsbald stabil zu werden (s. Abb. 4-6). Die Struktur war auch nach 10.000 Durchläufen noch stabil. Natürlich ist ein solches Modell weit entfernt von einem “realistischen” Sprachwandel-Modell. “Although my students became convinced that the grid was a territory, the squares villages, or individual speakers, and the two variants real language variants, I knew better”, schreibt Levin. 183 “I regard this as only a very primitive and abstract preliminary model that hopefully mimics linguistic inter-actions.” 184 Dennoch hat dieses Modell Implikationen für die hier diskutierten Aspekte der Theorie des Sprachwandels. Es zeigt, daß die zugrunde gelegte Maxime aus einer Zufallsverteilung eine Struktur homogener Gebiete erzeugt, und daß, wenn die homogene Struktur vorhanden ist, sie auch stabil bleibt. Darüber hinaus zeigt dieses Modell, wie Levin richtig bemerkt, daß “language change (…) may (…) be understandable on a grand scale as a kind of dynamic pattern emerging from simple and understandable interactive principles.” 185 Interaktive Prinzipien, d.h. Maximen, die, wie die betrachteten, Homogenität und Stase erzeugen, nenne ich statische Maximen. Entsprechend möchte ich Maximen, die Dynamik erzeugen, dynamische Maximen nennen. Dazu gehören Maximen wie die folgenden: (1) Rede so, daß Du beachtet wirst. (2) Rede so, daß Du als nicht zu der Gruppe gehörig erkennbar bist. (3) Rede amüsant, witzig etc. 183 Levin 1988, S. 4 184 Mit einem sehr ähnlichen Modell hat T.C. Schelling (1969) in seinem Aufsatz “Models of Segregation” Ghettobildung zu erklären versucht. Es ist unmittelbar einleuchtend, daß etwa die Mieter-Maxime “Ziehe aus, wenn Du in Deiner Nachbarschaft zur Minorität gehörst” zu analogen Verteilungen führt. Ullmann-Margalit (1978) erwähnt Schellings Modell als Beispiel einer Invisible-hand-Erklärung. 185 Levin 1988, S. 6 f. <?page no="140"?> (4) Rede besonders höflich, schmeichelhaft, charmant etc. Dazu gehört auch das altbekannte Ökonomieprinzip: (5) Rede so, daß es Dich nicht unnötige Anstrengung kostet. Die Maximen (1) bis (4) sind nutzenbezogene Maximen. Maxime (5) betrifft die Kosten. Ich vermute, daß es mindestens diese beiden Typen von Maximen gibt, will aber nicht ausschließen, daß sich eine andere Klassifikation als die nach ihren makrostrukturellen Effekten als angemessener erweist. Wie man an der Maxime der Verständlichkeit sehen kann, läßt sich eine Maxime nicht unbedingt einem der beiden Typen sauber zuordnen. Das Streben nachVerständlichkeit ist einerseits hauptsächlich verantwortlich dafür, daß unsere Sprache “zusammenhält”, daß Sprachen großräumiger werden, wenn Kommunikationsbereiche großräumiger werden, andererseits erzeugt diese Maxime auch, daß unter besonderen Bedingungen, wie wir am Beispiel englisch gesehen haben, Wörter aus dem Wortschatz einer Sprache verschwinden. In Verbindung mit anderen Maximen ist die Verständlichkeitsmaxime sogar für einen bestimmten Typus permanenten Wandels mitverantwortlich. Dies hat Helmut Lüdtke 186 gezeigt; ich werde darauf im nächsten Kapitel ausführlich eingehen. Normalerweise wählen wir unsere sprachlichen Mittel nicht nur nach genau einer Maxime. Wir versuchen beim Reden, mehrere Fliegen mit einer Klappe zu schlagen: Anpassen, Auffallen, Verstanden werden, Energie sparen. Daß jemand nichts anderes will, als nur verstanden werden, dürfte ausgesprochen selten sein. Wenn dieser Fall jedoch eintritt, sollte derjenige unbedingt zu orthodoxen Mitteln greifen; denn jede Innovation riskiert das Verständnis. Wer verstanden werden will, sollte den Erwartungen des anderen gemäß handeln. Das Neue jedoch ist notwendigerweise das weniger Erwartbare. Sollte ich einmal in die Gefahr kommen zu ertrinken, werde ich laut und deutlich das Wort “Hilfe” ausrufen. Ich werde weder versuchen, kreativ zu sein noch artikulatorisch Energie zu sparen. Einige Maximen konfligieren miteinander; sie widersprechen sich. Wenn wir dennoch nach beiden zugleich handeln wollen, müssen wir Kompro- 140 186 Lüdtke 1980 <?page no="141"?> 141 misse eingehen. Auch dies ist nicht etwa die Ausnahme, sondern eher die Regel. Auffallen, aber doch verstanden werden wollen, ist so ein typischer Konflikt. Es ist ein Spiel zwischen Anpassung und Abgrenzung, zwischen Orthodoxie und Innovation. 187 In dieser Situation befindet sich in typischer Weise der Werbetexter. Er muß über die langweiligen Dinge wie Zahnpasta, Mehl oder Waschmittel zu weitgehend uninteressierten Adressaten auf eine Art und Weise reden, die durch Witz und Kreativität Aufmerksamkeit erzeugt und zugleich ohne Anstrengung verstehbar ist. Evolutionäre Veränderungsprozesse sind vor allem immer da zu erwarten, wo Individuen Knappheit ausgesetzt sind. 188 Denn Knappheit bedeutet verstärkte Selektion. Im Bereich der belebten Natur entstehen Selektionsprozesse vor allem durch Knappheit an Raum, an Energie (Sonnenlicht, Nahrung etc.), an Zeit und Geschlechtspartnern. Leichte Verschiedenheiten der Individuen wirken sich beim Wettbewerb um die knapperen der erstrebten Mittel begünstigend oder benachteiligend aus. Die Begünstigten haben mit größerer Wahrscheinlichkeit eine relativ höhere Reproduktionsquote als die weniger begünstigten Mitbewerber, so daß die sie begünstigenden Eigenschaften durch Vererbung in der nächsten Generation in höherer Rate in der betreffenden Population vertreten sein werden, was die Nachkommen - gleiche Umwelt vorausgesetzt - ebenfalls wieder begünstigen wird. Die Reproduktionswahrscheinlichkeit eines Typus von Individuen in Relation zu einer gegebenen Umwelt kann man seine fitness nennen. Wenn also Variationen die fitness verändern, entsteht Evolution. Sind wir in bezug auf den Teil des Lebens, den wir mit Hilfe unserer Sprache bewältigen, in analoger Weise Knappheiten ausgesetzt? Ja, mit einem wichtigen Unterschied jedoch. Die Knappheiten, denen wir als Kommunikanten begegnen, haben nicht nur selektive Wirkung; sie erhöhen darüber hinaus die Variationsrate. Denn Variation im Bereich der Kultur ist nicht, wie in der Natur, auf den Zufall angewiesen. Sie entsteht im wesentlichen durch menschliche, die Selektion antizipierende Kreativität. Und Not macht bekanntlich erfinderisch. 187 Zur Frage der Originalität als möglicher Maxime siehe Lüdtke 1986. 188 cf. Radnitzky 1983, S. 84 <?page no="142"?> 142 Als Kommunizierende haben wir uns einzustellen auf Knappheit an aufmerksamen Zuhörern oder Lesern, Knappheit an Publikationsmöglichkeiten (im weitesten Sinne), Knappheit an Zeit und Energie auf seiten des Sprechers, Knappheit an Zuwendung, Zuneigung, Geduld auf seiten des Adressaten, Knappheit an Sozialprestige, Freundinnen, Freunden, bis hin zur Knappheit an Kunden, Käufern, Wählern, Bewunderern etc. Wir alle verfügen als Teil unserer sprachlichen und kommunikativen Kompetenz über mehr oder weniger gute Strategien, mit denen wir unsere kommunikativen Unternehmungen zu meistern versuchen. Handeln heißt immer versuchen, einen relativ weniger wünschenswerten Zustand in einen relativ wünschenswerteren zu transformieren. Das gilt selbstverständlich auch für kommunikatives Handeln. Die Hypermaxime unseres Kommunizierens ist demnach “Rede so, daß Du sozial erfolgreich bist.” Was jeweils als erfolgreich angesehen wird, ist von Fall zu Fall verschieden, von Situation zu Situation, von Individuum zu Individuum, von Gruppe zu Gruppe, von Adressat zu Adressat. Diese Hypermaxime soll im trivialen Sinne verstanden werden. Sie soll keinerlei Implikationen über irgendwelche substantiellen Merkmale sozialen Erfolgs beinhalten (cf. Kapitel 4.3.). Sie ist als Abkürzung gedacht für die (ebenfalls triviale) Maxime “Rede so, daß Du die Ziele, die Du mit Deiner kommunikativen Unternehmung verfolgst, am ehesten erreichst.” Kommunikative Ziele können sein: jemanden täuschen, ein Kind trösten, gelesen werden, von etwas überzeugen, ein Auto verkaufen, für intelligent gehalten werden, jemanden zum Lachen bringen, eine Frau kennenlernen, für schweigsam gehalten werden, jemandem unsympathisch sein etc.; meistens ist eines der Teilziele, verstanden zu werden. Diese Hypermaxime kann, das ist die hier vertretene Hypothese, aufgefächert werden in Untermaximen, die wiederum in die zwei Klassen der stabilen und der dynamischen Maximen subkategorisiert werden können. Die Ökonomiemaxime “Rede so, daß es Dich nicht mehr Energie kostet, als erforderlich ist, um Dein Ziel zu erreichen.” nimmt vermutlich eine Sonderrolle ein. Sie ist zweifellos eine der dynamischen Maximen; jedoch betrifft sie nicht in erster <?page no="143"?> 143 Linie die Erreichung des angestrebten Ziels, sondern “die Kosten”, so daß unsere Hypermaxime möglicherweise modifiziert werden sollte zu “Rede so, daß Du sozial erfolgreich bist, bei möglichst geringen Kosten.” Das sogenannte Ökonomieprinzip ist ein Beleg für die Hypothese, daß Knappheit Wandel erzeugt. Das Prinzip besagt, in einer Formulierung André Martinets, 189 daß “sich jede Sprache im Laufe der Zeit vor allen Dingen [verändert], um auf die ökonomischste Weise den Erfordernissen der Mitteilung in der sie sprechenden Gemeinschaft zu genügen.” Diesem Gedanken liegt offenbar die korrekte, in früheren Zeiten jedoch meist übergeneralisierte Annahme zugrunde, daß Sprecher unter Knappheit an Zeit bzw. Energie zu kommunizieren pflegen. Die Maxime der Ersparnis artikulatorischer Energie steht mit der Maxime, so zu reden, daß man verstanden wird, in einem “diachronischen Konflikt” besonderer Art. Helmut Lüdtke hat ihn untersucht und dessen nicht-intendierte Konsequenzen dargestellt. Diese Theorie eines Invisible-hand-Phänomens möchte ich im nächsten Kapitel darstellen und versuchen, ontologisch einzuordnen. 189 Martinet 1960/ 1971, S. 17 <?page no="144"?> 144 Iteration: 0 Abbildung 3 Abbildung 2 Iteration: 20 <?page no="145"?> 145 Iteration: 80 Abbildung 5 Abbildung 4 Iteration: 500 <?page no="146"?> 146 Iteration: 1000 Abbildung 7 Abbildung 6 <?page no="147"?> 147 5. Diskussion 5.1. Lüdtkes Sprachwandelgesetz Lüdtkes Theorie ist, ganz im Sinne der hier vertretenen erkenntnistheoretischen Position, dem methodologischen Individualismus verpflichtet. Seine Erklärungen sind Erklärungen von unten. Sprache sieht er nicht als Ding, vorgegebenes Inventar, Zeichensystem oder ähnliches, sondern als ein “bestimmtes Verfahren” der Menschen, miteinander zu kommunizieren. Die Mittel, die wir zum Kommunizieren verwenden, sind der Verwendung nicht logisch präexistent, sondern sind Resultate kommunikativer Unternehmungen. Der von seiner Theorie betroffene Sprachwandel “entsteht als ungewolltes, unbewußtes Nebenprodukt aus der Paarung von Entscheidungsfreiheit und Optimierungsstreben bei der sprachlichen Tätigkeit.” 190 Dies bedeutet folgendes: Damit unsere kommunikativen Akte verstehbar sind, müssen sie mit ausreichend viel Schallstruktur, Lüdtke spricht von “Signal-Negentropie”, versehen sein. Zu wenig Schallstruktur gefährdet die Interpretierbarkeit durch den Adressaten. Ich möchte dies an einem Beispiel verdeutlichen. Wenn ich abends in eine Kneipe komme, sage ich [na: mt]. Dieses Geräusch wäre ohne den gegebenen Situationskontext mit zu wenig “Signal-Negentropie” ausgestattet, um hinreichend große Chancen zu haben, korrekt (d.h. in meinem Sinne) interpretiert zu werden. Wenn ich (etwa in anderer Situation) befürchten würde, nicht korrekt interpretiert zu werden, hätte ich die Möglichkeit, mein “Geräusch” mit mehr Schallstruktur zu versehen. Dies könnte reichen von beispielsweise [gna: mt] über [guna: mt] bis hin zur Vollform [guten abent]. Deutlicher als 190 Lüdtke 1980, S. 10 <?page no="148"?> 148 deutlich kann man nicht artikulieren. Nach oben gibt es eine Grenze, eben die Vollform. Nach unten gibt es nicht in gleicher Weise eine Grenze. [na: mt] ist zwar schon sehr verkürzt, aber [na: m] reicht unter bestimmten Bedingungen ebenfalls. Wir reden also (im allgemeinen) nach der Maxime “Rede so, daß Du nicht mehr artikulatorische Energie aufbringen mußt als erforderlich.” Was heißt “erforderlich”? Was erforderlich ist, ist teilweise auch von sozialen Faktoren bestimmt. Aber diese sollen hier außer acht bleiben. Betrachten wir die Faktoren der schieren Übertragung. Erforderlich ist g e n a u s o v i e l artikulatorischer Aufwand, wie der Adressat zur korrekten Identifikation benötigt. Zu versuchen, genau dies zu treffen, wäre jedoch eine riskante Strategie; denn nur ein bißchen zu wenig Signal-Negentropie würde die kommunikative Unternehmung zum Scheitern bringen. Deshalb arbeiten wir beim Kommunizieren mit Redundanz, d.h. mit Überschuß an Signal-Negentropie über das zur korrekten Identifikation unbedingt Notwendige hinaus. Aber die Redundanz darf auch nicht zu groß werden. Zu wenig Redundanz riskiert das Verständnis, zu viel Redundanz riskiert die Aufmerksamkeit. Deshalb kann die Strategie nicht sein, so sparsam wie möglich zu reden, sondern so sparsam wie möglich u n d so redundant wie nötig. Damit steht der Sprecher vor einem Steuerungsproblem. Er muß je nach seiner Einschätzung des Interpretationserfolgs seines Adressaten die Redundanz seiner Rede dosieren. Dies nennt Lüdtke “Redundanzsteuerung”. Nun sind jedoch die artikulatorischen Möglichkeiten, wie wir gesehen haben, nach oben begrenzt. Man kann nicht deutlicher als deutlich reden. Wenn man die Redundanz über das akustisch Mögliche hinaus steigern will, muß man zu lexikalischen Mitteln greifen. Wenn ich glaube, daß mein [gu: ten a: bent], möglicherweise aufgrund des hohen Geräuschpegels, nicht den gewünschten Erfolg erzielt, könnte ich beispielsweise sagen “Ich wünsche Ihnen einen schönen guten Abend”. Lexikalisch-syntaktisch sind nach oben keine Grenzen gesetzt. Größtmögliche Weitschweifigkeit gibt es nicht. Jedoch gibt es ein lexikalisch-syntaktisches Minimum. (Dies darf nur in Telegrammen und militärischen Befehlen unterschritten werden.) <?page no="149"?> 149 Somit ist die Redundanzsteuerung nach zwei Seiten begrenzt und nach zwei Seiten offen. Es gibt eine Untergrenze lexikalischsyntaktischer Wohlgeformtheit und eine Obergrenze artikulatorischer Explizitheit; während es keine prinzipielle Obergrenze der Weitschweifigkeit und keine prinzipielle Untergrenze artikulatorischer Schludrigkeit gibt. Damit ist eine bestimmte Richtung des lexikalisch-morphologischen Wandels vorprogrammiert: Sprachliche Einheiten können aufgrund der Begrenztheit der Artikulation nach oben und ihrer Offenheit nach unten immer nur kürzer werden. Wörter schleifen sich ab, wie man umgangssprachlich sagt. Aufgrund der Maxime der artikulatorischen Energieersparnis werden immer wieder Formen, die ehedem “nachlässige” Verkürzungen der artikulatorischen Vollformen waren, zu Normalformen, d.h. zu neuen Vollformen, die dann dem gleichen “Abschleifungsprozeß” unterzogen werden. Aus hiu dagu (“an diesem Tage”) wurde über althochdeutsch hiutu und mittelhochdeutsch hiute unser heutiges heute, das vermutlich zu einem “spätneuhochdeutschen” heut verkürzt wird. Wenn man diesen Trend extrapoliert, kommt man zu dem Ergebnis, daß lexikalische Einheiten alle einmal eine lautliche Minimalform erreichen sollten. Faktisch ist dem aber nicht so. Und dies liegt an dem, was Lüdtke “das Prinzip der quantitativen Kompensation” nennt. Wenn die Vollform einer lexikalischen Einheit so klein geworden ist, daß sie selbst bei expliziter Artikulation den Redundanzbedürfnissen des Sprechers nicht mehr Genüge tut, reichert er sie mit lexikalischen Mitteln an. Der Lautverlust wird lexikalisch-syntaktisch kompensiert. Wem heute zu wenig ist, dem bietet sich an, am heutigen Tag zu verwenden. Und wenn heute sich zu heut oder einer noch kürzeren Form reduziert, wird möglicherweise am heutigen Tag in der Frequenz immer mehr steigen und schließlich selbst zur Normalform werden. Im Französischen ist, was ich für das Deutsche als Zukunftsvision gezeichnet habe, bereits Realität. Aus lat. hoc die (“an diesem Tage”) wurde altfranzösisch hui und dies wurde lexikalisch aufgepolstert zum neufranzösischen aujourd’hui, das etymologisierend übersetzt nichts anderes als “am heutigen Tage” bedeutet. Wenn wir dieses Prinzip der lautlichen Schrumpfung und der lexikalischen Kompensation extrapolieren, so kommen wir zu <?page no="150"?> 150 191 Lüdtke 1980, S. 15 dem Ergebnis, daß wir irgendwann einmal anstatt lexikalischer E i n h e i t e n lauter nicht-kontinuierliche Sequenzen minimaler Lautformen hätten. Dies ist ebenfalls faktisch nicht der Fall. Das Lüdtkesche “Prinzip der Verschmelzung” erklärt, weshalb es dazu nicht kommt. Sprachliche Einheiten, die sehr häufig gemeinsam als benachbarte Einheiten vorkommen, werden vom Sprecher-Hörer (und zwar vornehmlich in seiner Eigenschaft als Hörer) nicht mehr als segmentiert erlebt, sondern als eine einzige Einheit wahrgenommen. Denn eine Einheit sein, heißt nichts anderes als hochfrequentes Versatzstück unserer Rede sein. Ein französischer Durchschnittssprecher wird aujourd’hui nicht mehr als die Präpositionalphrase au jour d’ hui ansehen (was beispielsweise daran zu erkennen ist, daß “am heutigen Tage” auf französisch au jour d’aujourd’hui heißt). Wenn nun durch das Prinzip der Verschmelzung aus ehedem “in der morphologischen Verkettung benachbarten Einheiten” 191 eine neue Einheit geworden ist, beginnt das Spiel von neuem. So entsteht, erzeugt durch das Prinzip der Energieersparnis, das Prinzip der lexikalischen Kompensation zum Zwecke der Verständnissicherung und das Prinzip der Verschmelzung, ein endloser, gerichteter und irreversibler Kreislauf: Lüdtke spricht in diesem Zusammenhang von einem universalen Sprachwandelgesetz. Damit sind zwei Fragen aufgeworfen, die den ontologischen Status dessen betreffen, was Lüdtke dargestellt hat: <?page no="151"?> 151 (1) Handelt es sich um ein universales Phänomen? (2) Handelt es sich um einen gesetzmäßigen Prozeß? Die beiden Fragen sind nicht äquivalent miteinander. Zwar impliziert eine positive Antwort auf (2) eine positive Antwort auf (1), aus der Universalität eines Phänomens im kulturellen Bereich folgt jedoch nicht, daß es sich um eine Gesetzmäßigkeit handelt. Das heißt, wenn wir uns gezwungen sehen, die zweite Frage mit “nein” zu beantworten, erweist sich die erste als eine empirische Frage, die wir nicht beantworten können. Lüdtke belegt zwar den von ihm dargestellten Prozeß an einer Fülle von verschiedenen Sprachen, aber angesichts der Universalitätshypothese ist natürlich jeder weitere Beleg nur ein Tropfen auf den heißen Stein. Da ich auch den Nachweis der Nicht-Universalität nicht führen kann - aus ihm würde per modus tollens die Nicht- Gesetzmäßigkeit des Prozesses folgen -, will ich die erste Frage zunächst auf sich beruhen lassen und mich der zweiten zuwenden. Ich glaube, daß es irreführend ist, den von Lüdtke beobachteten und erklärten Prozeß als gesetzmäßig zu bezeichnen; nicht etwa, weil im Bereich der Sprachgeschichte “ ‘laws’ of relevant type do not exist” und weil “the enterprise of seeking them is doomed to failure” 192 , wie Roger Lass behauptet (wie auch andere mit und vor ihm), sondern weil die Inputdaten der Prozesse jeweils Handlungen enthalten. Handlungen erfolgen nicht gesetzmäßig, sondern haben gesetzmäßige Folgen. Lüdtke hat nach meinem Verständnis gezeigt, wie drei Invisible-hand-Phänomene zyklisch hintereinandergeschaltet sind, dergestalt, daß der Output des jeweils vorausgehenden Prozesses (wo auch immer man den Anfang setzt) die entscheidende ökologische Input- Bedingung des jeweils folgenden Prozesses darstellt und diesen in Gang setzt. In seiner jüngeren Schrift “Esquisse d’une théorie du changement langagier” bezeichnet auch Lüdtke den dargestellten Prozeß als “processus de main invisible”. 193 Die Voraussetzung, daß der jeweils nächste Prozeß in Gang kommt, ist jedoch stets, daß die Leute auch weiterhin nach den von Lüdtke 192 Lass 1980, S. 3 193 Lüdtke 1986, S. 6 <?page no="152"?> 152 angenommenen Maximen handeln. So sicher man auch immer sein darf, daß sie es tun werden, sie werden es nicht gesetzmäßig tun. In einer persönlichen Mitteilung schlägt Lüdtke vor, solche “Gesetze”, wie die von ihm formulierten, “Gesetze der dritten Art” zu nennen und sie auf diese Weise von Naturgesetzen einerseits und planvoll gemachten Gesetzen, wie etwa den Steuergesetzen, andererseits zu unterscheiden. Energieersparendes Artikulieren führt notwendigerweise zu lautlicher Schrumpfung. Aber daß Leute energieersparend artikulieren, ist nicht notwendig. Wenn eine hinreichend große Religionsgemeinschaft entsteht, die artikulatorisches Schludern als Todsünde betrachtet, wird die Sprache dieser Gemeinschaft aufhören, sich dem Lüdtkeschen Prozeß gemäß zu wandeln. Im pazifischen Raum soll es tatsächlich kleine Sprachgemeinschaften geben, in denen bestimmte Aussprachemoden regelrecht verabredet werden. 194 Helmut Lüdtke hat mit seiner Theorie das erfaßt, was Edward Sapir eine “drift” nannte, 195 eine “Strömung”, wie es in der deutschen Übersetzung heißt. Unter einer “drift” verstand Sapir eine langfristige, gerichtete Bewegung einer Sprache oder auch einer Sprachfamilie. “Die Strömung einer Sprache kommt dadurch zustande, daß ihre Sprecher unbewußt diejenigen Neubildungen vorziehen, die zusammengenommen in eine ganz bestimmte Richtung führen”, 196 schrieb Sapir in Umkehrung der Dinge. Es ist ja nicht plausibel zu machen, woher die Sprecher ihren unbewußten Hang zur “drift” haben sollten. Lüdtke hat mit seiner Theorie deutlich gemacht, daß es bestimmte Prinzipien gibt, die, unterstellt, daß sie befolgt werden, unter gegebenen Bedingungen eine “drift” hervorbringen. Lüdtke hat damit, nach meiner Interpretation, einen I n v i s i b l e h a n d - E r k l ä r u n g s r a h m e n entworfen, innerhalb dessen singuläre historische Ereignisse erklärt werden können. Die “drift” selbst kann kein Erklärungsargument sein, etwa der Art “x wurde zu y, weil der Wandel von x zu y der vorherrschenden ‘drift’ entspricht”. Die “drift” selbst ist etwas, das erklärt werden muß; und das hat Lüdtke getan. 194 Persönliche Mitteilung Lüdtkes einer persönlichen Mitteilung von Stefan Wurm. 195 Sapir 1921/ 1961, Kap. 7 196 Sapir 1921/ 1961, S. 144 f. <?page no="153"?> 153 Kommen wir noch einmal auf die Frage der Universalität zurück, und nehmen wir an, Lüdtke habe recht mit der These, daß es sich hierbei um ein universales Phänomen handle. Welche Argumente könnte man da ins Feld führen, außer dem (wohl nicht durchführbaren) empirischen Nachweis, daß es faktisch so ist? Das naheliegende Argument für universale Phänomene in der Sprache ist stets die These, sie seien genetisch programmiert. Aber kann uns eine Drift angeboren sein? Natürlich nicht. Man darf das Angeborenheitsargument nicht überstrapazieren; darauf hat Jean Aitchison 197 deutlich hingewiesen. Die These, etwas sei so, wie es ist, weil es von Gott so gemacht sei, verleitete schon immer dazu, die Suche nach einer besseren Erklärung vorschnell aufzugeben. Sprachliche Universalien können, schreibt Aitchison, grob in zwei Klassen aufgeteilt werden, denn sie können zwei verschiedene Entstehungsursachen haben. Zum einen können sie unmittelbar angeboren sein. So ist die Tatsache, daß wir uns zum Kommunizieren des vokal-auditiven Trakts als Medium bedienen, Teil der genetischen Ausstattung des Menschen. Andererseits wird man nicht annehmen wollen, daß uns die Furcht vor Löwen unmittelbar angeboren ist, wenngleich sie eine universelle Eigenschaft des Menschen sein dürfte. Unsere Furcht vor Löwen ist vermutlich Teil einer viel allgemeineren Problemlösungsstrategie (etwa: “Laß dich nicht auf einen Kampf ein mit etwas, das viel stärker ist als du.”). Es könnte beispielsweise die Tatsache, daß alle Sprachen Nomina zu haben scheinen, einfach der Tatsache zu verdanken sein, daß “the world in which human life is composed to a large extent of separable objects. Obviously, we have to assume that there is some genetic determinism involved for humans to be able to recognize objects, but there is no need to claim that there is a language blueprint containing the component ‘noun’.” 198 Soweit die Thesen von Aitchison. Es gibt, so könnte man zusammenfassend sagen, unmittelbar angeborene Universalien und mittelbar angeborene Universalien, wobei mittelbar angeborene Universalien solche sind, die indirekt aus allgemeineren, nicht sprachspezifischen, angeborenen Prinzipien und Verhaltensstrategien folgen. 199 197 Aitchison 1987, S. 16 f. 198 Aitchison 1987, S. 16 199 cf. Bates 1984 <?page no="154"?> 200 Das dritte Prinzip betrifft die Wahrnehmungspsychologie. Vielleicht spielt bei der Segmentierung der Welt in Einheiten auch das Ökonomieprinzip eine Rolle, denn es ist vermutlich ökonomisch, wenn man die Zahl seiner Kategorien gering hält. 201 Aitchison 1987, S. 29 f. Die von Lüdtke beschriebene und erklärte zyklische Drift könnte ein solches mittelbar angeborenes Universale sein. Die Prinzipien, die Lüdtke zur Erklärung bemüht, sind in der Tat sehr elementarer und nicht sprachspezifischer Natur: 1. das Ökonomieprinzip: Versuche deine Handlungsziele mit möglichst geringen (Energie-)Kosten zu erreichen; 2. das Redundanzprinzip: Wähle von den Mitteln, die du zur Erreichung deiner Handlungsziele einsetzt, lieber ein bißchen zu viel als zu wenig; 3. das Prinzip der Verschmelzung: Interpretiere Mengen (nahezu) stets kookkurrenter Dinge als Einheiten. 200 Die Tatsache, daß diese Prinzipien so elementarer Natur sind, garantiert die (vermutlich weitgehende) Universalität ihrer Befolgung. Allerdings wird daraus dennoch kein Gesetz. Denn nichts zwingt uns Menschen, uns unserer angeborenen Natur gemäß zu verhalten. Ein Teil unserer kulturellen Regeln hat ja (wie wir im Kapitel 3.1. gesehen haben) gerade “die Aufgabe”, angeborenes, instinkt-geleitetes Verhalten zu überformen. Solche Erklärungen mittels Maximen, Prinzipien, Strategien (oder wie auch immer man dies nennen mag) sind in der Lage, den bislang etwas mysteriösen Begriff der “Drift” zu erhellen. Wie Lüdtkes Theorie zeigt, entsteht eine Drift dadurch, daß - ganz allgemein gesprochen - Sprecher auf die ökologischen Bedingungen, die ihnen (u.a.) durch den jeweiligen Zustand ihrer Sprache vorgegeben sind, und die damit verbundenen Probleme, die kommunikativen Unternehmungen mit Erfolg durchzuführen, immer wieder mit denselben Maximen reagieren. Dies ist bei einer morphologischen Drift, wie der von Lüdtke beschriebenen, im Prinzip nicht anders als bei einer semantischen Drift, wie sie die ständige Pejorisierung der gesellschaftlichen Bezeichnungen für Frauen darstellt. “Overall, then, it seems likely that historical linguistics have a major role to play in future research into the principles underlying language.” 201 154 <?page no="155"?> 155 5.2. Natürlichkeitstheorie “The greatest revolution that has occured in recent methodology, at least in historical reconstruction, is what can be subsumed under the rubric of naturalness”, schreibt Bailey im Jahre 1980. 202 Lass kommt im gleichen Jahr zu einer ganz anderen Einschätzung. Unter der Überschrift “Why ‚naturalness’ does not explain anything” schreibt er: “(...) since the theory says that ‚optimization‘ is to be defined in terms of increasing ‘simplicity’, then ‘common’ = ‘natural’ = ‘optimal’ = ‘simple’. (...) What it expresses is the blinding tautology that nature tends toward the natural”. 203 Kontroverser können zwei Urteile zweier namhafter Linguisten kaum ausfallen. Gibt es dafür eine Erklärung? Ich glaube ja; und meine Erklärung ist salopp gesagt die: Forschung, die unter der Überschrift ‘Natürlichkeit’ firmiert, hat eine Fülle interessanter, geistreicher und wertvoller Ergebnisse hervorgebracht. Es wurden Prinzipien formuliert, es wurden historische Drifts und Trends entdeckt, es wurden empirische Beobachtungen unter dem Aspekt der Natürlichkeit reorganisiert und dergleichen mehr. Aber Natürlichkeitstheoretiker haben es bis heute versäumt, eine konsistente Theorie der Natürlichkeit vorzulegen. So gibt es weder Klarheit über den Erklärungsanspruch noch über den Erklärungsweg. Selbst der zentrale Begriff der Natürlichkeit hat keine verbindliche Explikation erfahren. Mit anderen Worten: Die höchst kontroverse Einschätzung des Natürlichkeitskonzepts ist der Tatsache zu verdanken, daß es sich einerseits als sehr produktiv und anregend erwiesen hat, andererseits aber nie eine theoretische Ausarbeitung erfahren hat, die einer schärferen Kritik, wie sie beispielsweise von Lass unternommen wurde, standhalten könnte. Ich werde dies an zwei zentralen Punkten zeigen, am Begriff der Natürlichkeit und am Erklärungsanspruch der Natürlichkeitstheorie. Zunächst will ich jedoch versuchen, die Idee der Natürlichkeitstheorie so kongenial wie möglich darzustellen. Die Theorie der Natürlichkeit hat drei hauptsächliche Betätigungsfelder, die Phonologie, die Morphologie und in letzter Zeit 202 Bailey 1980, S. 175 203 Lass 1980, S. 43 <?page no="156"?> 156 auch die Syntax. Ihren Anfang nahm die Theorie der Natürlichkeit mit Stampes Aufsatz “The acquisition of phonetic representation” (1969), in dem ein Konzept der natürlichen Phonologie vorgestellt wurde. Seine Ideen wurden in den siebziger Jahren aufgegriffen und für den Bereich der Morphologie fruchtbar gemacht. Dies war vor allem das Verdienst von Dressler, Mayer- thaler und Wurzel. 204 Ich werde mich in meiner Darstellung im wesentlichen an der Theorie der natürlichen Morphologie orientieren. Die Grundgedanken sind jedoch für alle Anwendungsbereiche im Prinzip dieselben. Die Grundidee der natürlichen Morphologie ist, in Wurzels Worten, “the assumption that morphological phenomena can be evaluated by their naturalness or markedness”. 205 Die zentralen Begriffe natürlich und markiert werden gemeinhin invers synonym verwendet: Das Natürliche ist das Unmarkierte, und das Unnatürliche ist das Markierte. Zwischen den Polen ‘natürlich’ und ‘unnatürlich’ besteht ein Kontinuum, “a graded scale of maximally natural/ unmarked to maximally unnatural/ marked”. 206 Nun nimmt man an, daß es auf verschiedenen Ebenen der Sprache eine Reihe von Prinzipien gibt, die die Richtung des Sprachwandels bestimmen, sogenannte “universal principles of morphological naturalness (markedness principles, preference principles)”. 207 Solche Prinzipien sind etwa “the principle of constructional iconicity, the principle of morphosemantic transparency, (...) and the principle of system congruity” 208 , um nur einige zu nennen. Betrachten wir zur Erläuterung ein Beispiel für jedes der genannten Prinzipien. Dem Prinzip der konstruktionellen Ikonizität entspricht beispielsweise die Tatsache, daß (normalerweise) die Pluralform eines Substantivs länger ist als die dazugehörige Singularform; d.h. “mehr Dinge” wird ikonisch abgebildet durch “mehr Phoneme”. “Wenn man beispielsweise die Ikonizitätsgrade der engl. Pluralkodierung überprüft, so ergibt sich, daß der Typ boy - boys maximal ikonisch, der Typ goose - geese minimal ikonisch und der 204 Einen allgemeinen Überblick geben Dressler, Mayerthaler, Panagl, Wurzel 1987. Zur Natürlichkeit in der Syntax s. Stein 1988. 205 Wurzel 1992, S. 225 206 Wurzel 1992, S. 226 207 Wurzel 1992, S. 226 208 Wurzel 1992, S. 226 <?page no="157"?> 157 Typ sheep - sheep nichtikonisch ist.” 209 Der Plural sheep ist somit markiert, d.h. unnatürlich. Es ist also eher zu erwarten, daß sheep - sheeps entsteht als daß boy - boy entsteht, und es ist eher zu erwarten, daß Kinder den falschen Plural *sheeps bilden, als den falschen Plural *boy. Deutschsprachige Kinder beispielsweise neigen dazu, Pluralformen wie die Spiegels und die Lehrers zu bilden. Das Prinzip der morphosemantischen Transparenz besagt, daß eine Kodierung nach dem Prinzip ‘one function - one form’ “besser” ist als wenn eine Form mehrere Funktionen zu tragen hat. Demgemäß sind die althochdeutschen Formen zungun - zungono weniger natürlich als die neuhochdeutschen Entsprechungen die Zungen - der Zungen, da im Althochdeutschen die Flexionsformen -un und -ono sowohl die Numerusals auch die Kasusfunktion tragen mußten, während im Neuhochdeutschen der Artikel die bzw. der die Kasusfunktion trägt und die Numerusfunktion von der Flexionsendung -n getragen wird. Das Prinzip der Systemkongruenz geht davon aus, daß die Morphologie einer Sprache durch bestimmte “systemdefinierende Struktureigenschaften” 210 bestimmt ist. Formen, die diesen Eigenschaften nicht entsprechen, werden tendenziell durch systemkongruente Formen ersetzt. Deutsch hat beispielsweise (wie Englisch) Grundformflexion und nicht Stammflexion. D.h., Flexionsendungen werden an die Basisform angehängt und nicht an den Stamm, wie etwa im Lateinischen. Nun gibt es im Deutschen eine Reihe von Wörtern lateinischer oder griechischer Herkunft, die den Plural nach dem Prinzip der Stammflexion bilden: Aroma - Arom-en, Dogma - Dogm-en. Tendenziell werden die Pluralformen Aromen und Dogmen durch die “systemangemessenen” Formen Aromas und *Dogmas ersetzt werden. Aromas ist bereits toleriert, *Dogmas gilt noch als abweichend. Die verschiedenen Prinzipien, so die Annahme der Natürlichkeitstheorie, können miteinander konfligieren. Typischerweise kommt es zu Konflikten zwischen “morphology, with its semiotically motivated naturalness principles, and phonology, with principles that are motivated articulatorily or perceptually”. 211 209 Wurzel 1984, S. 23 210 Wurzel 1984, S. 82 211 Wurzel 1992, S. 227 <?page no="158"?> 158 Ein Beispiel soll dies verdeutlichen: Unbetontes [e], wie in haben, wird im Deutschen aufgrund phonologischer Natürlichkeitsprinzipien als [ E ] gesprochen, also [ha: b E n]. Diese Reduktion hat zur Folge, daß der Nasal [n] zu [m] assimiliert wird; so wird [ha: b E n] zu [ha: bm]. Die Sequenz [bm] wird, ebenfalls aufgrund eines Natürlichkeitsprinzips zu [m] reduziert, so daß schließlich die maximal natürliche Form [ha: m] entsteht, was tatsächlich die gegenwärtig normale kolloquiale Aussprache von haben ist (vgl. z.B. lat. habent > span. han). Nun widerspricht aber das Paradigma ich [ha: b E ] wir [ha: m] zum Beipiel dem Prinzip der morphosemantischen Transparenz. “Die Entfaltung phonologischer Natürlichkeit hat also zu einer Abnahme morphologischer Natürlichkeit geführt”. 212 Aufgrund solcher Konflikte entstehen immer wieder neue Markiertheiten, so daß die Sprache nie zu einer optimalen natürlichen Ruhe kommt. Welcher ontologische Status wird solchen Prinzipien zugeschrieben? “Natural principles (of any component) have the character of universals that are tendencies, or more strictly speaking, they are Gesetzmäßigkeiten having the character of tendencies, i.e. statistical laws in the epistemological sense of ‘law’.” 213 Die Prinzipien sind also universelle Tendenzen, Gesetzmäßigkeiten und statistische Gesetze. Den Zusammenhang von Sprachwandel und diesen Prinzipien formuliert Wurzel folgendermaßen: “For natural morphology language change follows from the continuous interaction of the naturalness principles: thus, it results directly from the very nature of the language system.” 214 Aus diesen beiden Aussagen zusammengenommen folgt: Sprachwandel folgt aus einer Interaktion universeller Tendenzen, die den Charakter statistischer Gesetze haben. Dieser Satz zeigt unmittelbar, daß an dieser Theorie etwas nicht stimmen kann. Die universellen Tendenzen, von denen die Rede ist, sind Tendenzen des Wandels. Zu sagen, daß Wandel aus Tendenzen des Wandels f o l g t, ist einfach falsch. Eine festgestellte Tendenz ist nicht die Ursache oder der Auslöser des Wandels, vielmehr ist das, was man Tendenz nennt, eine deskriptive Verallgemeinerung festgestellter Wandelsphänomene. Tendenzen 212 Wurzel 1984, S. 31 213 Wurzel 1992, S. 229 214 Wurzel 1992, S. 229 <?page no="159"?> 159 bzw. statistische Gesetze erlauben sogenannte Trendextrapolationen, nicht aber Folgerungen. Trendextrapolationen sind gerade dadurch gekennzeichnet, daß sie Prognosen sind ohne explanatives Wissen. Korrekt formuliert ist der Zusammenhang zwischen Sprachwandel und Natürlichkeitsprinzipien folgender: Die natürliche Morphologie hat festgestellt, daß Sprachwandel in den von ihr untersuchten Bereichen gerichtet ist, d.h. Tendenzen folgt. Die Tendenzen sind teilweise universal. Sie konfligieren teilweise miteinander, so daß das System nicht in einen Ruhezustand gerät. Dieses Ergebnis ist nicht wenig! Aber es enthält keinerlei erklärenden Anteil. Es sind gerade die Tendenzen und deren Universalität, die erklärungsbedürftig sind. Ich werde nun, wie angekündigt, den Begriff der Natürlichkeit und den Erklärungsanspruch der Theorie kritisch beleuchten, und im Anschluß daran versuchen, einige konstruktive Vorschläge zu unterbreiten. Zum Begriff der Natürlichkeit Der Begriff der Natürlichkeit selbst wird üblicherweise zirkulär, tautologisch, in jedem Falle aber unklar bestimmt: das Übliche ist das Unmarkierte ist das Einfachere ist das Natürliche. Für Mayerthaler 215 ist “ein morphologischer Prozeß bzw. eine morphologische Struktur (...) natürlich, wenn er/ sie a) weit verbreitet ist und/ oder b) relativ früh erworben wird und/ oder c) gegenüber Sprachwandel relativ resistent ist oder durch Sprachwandel häufig entsteht etc.” Wurzel nennt dies irrtümlicherweise eine Hypothese. Es handelt sich vielmehr um einen Akt der Taufe einer Tautologie: Das Übliche entsteht häufiger und vergeht seltener als das Unübliche - das ist die Tautologie - und wird “natürlich” genannt - das ist der Taufakt. Analog charakterisiert Wurzel Natürlichkeit mit Hilfe des Begriffs der Systemangemessenheit, indem er feststellt, “daß eine morphologische Erscheinung umso natürlicher und damit um so weniger markiert ist, je mehr sie den übergeordneten systemdefinierenden Struk- 215 Mayerthaler 1981, S. 2 <?page no="160"?> tureigenschaften der jeweiligen Sprache entspricht” 216 . Da die systemdefinierenden Eigenschaften einer Sprache die in dieser Sprache vorherrschenden, üblichen sind, besagt auch diese Begriffsbestimmung wieder, das Übliche ist das Unmarkierte und das Unmarkierte das Natürliche. Natürliche Veränderungen, so ergänzt Wurzel überflüssigerweise, “bestehen in nichts anderem als im Abbau der (...) markierten Erscheinungen zugunsten von nicht bzw. weniger markierten Erscheinungen” (ebd.). Da unmarkiert mit natürlich gleichgesetzt wird, besagt auch diese Bemerkung, daß natürliche Veränderungen vom weniger Natürlichen zum Natürlichen verlaufen. In schöner Klarheit findet die Tautologie bei Stein ihren Ausdruck: “Any departure from optimal natural structure ist more marked and less natural” 217 , woraus unmittelbar abgeleitet werden kann, daß “any departure from natural” “less natural” ist. Neben der Tautologie der Bestimmung von Natürlichkeit ist es vor allem auch die Unklarheit des Bereichs dieses Begriffs, der das Verständnis erschwert: Sind es sprachliche Strukturen oder diachrone Regularitäten oder Prozesse, die “natürlich” genannt werden können, wie Wurzels oder Mayerthalers Formulierungen nahelegen, oder sind es “Faktoren einer prälinguistischen Infrastruktur in den Bereichen Kognition, Rezeption und Verhalten”, wie Stein 218 vorschlägt. Mit anderen Worten, es ist unklar, was überhaupt natürlich genannt werden soll. Auf welcher Ebene der Betrachtung sollte dieser Begriff Anwendung finden: auf der Ebene sprachlicher Strukturen und Erscheinungen, auf der Ebene diachroner Prozesse oder auf der Ebene des kommunikativen Handelns der Individuen? Ich werde eine Antwort vorschlagen, aber zunächst noch ein wenig beim destruktiven Teil dieses Kapitels verweilen. Zum Erklärungsanspruch Eine weitere offene Frage ist die nach dem Erklärungsanspruch. Was soll und kann nach Ansicht der Natürlichkeitstheoretiker 216 Wurzel 1988, S. 490 217 Stein 1990, S. 289 218 Stein 1988, S. 474 160 <?page no="161"?> überhaupt erklärt werden? Sollen einzelne Fälle sprachlichen Wandels erklärt werden? Etwa warum lat. inbibere im Englischen zu imbibe wurde oder in between vermutlich zu imbetween werden wird, oder warum sich im Deutschen als Pural von Aroma die Form Aromas gegenüber Aromen durchsetzen wird? Oder sollen bestehende Trends erklärt werden, oder “potential directionalities” 219 , oder “the logical gap between the tendency in the individual and the unidirectionality of tendencies in groups” 220 ? Nimmt man an, den Trend erklären zu können, oder glaubt man, daß der Trend den Einzelfall erklärt? Zu jeder einzelnen dieser Positionen lassen sich entsprechende und häufig einander widersprechende Aussagen in ein- und demselben Werk finden. Meiner Ansicht nach läßt sich die Natürlichkeitstheorie in eine Theorie mit erklärender Kraft verwandeln, wenn bestimmte Prinzipien beachtet werden. Ich will das Beispiel, das Lass gewählt hat, um zu dokumentieren, “why naturalness does not explain anything”, aufgreifen, um zu zeigen, wie Natürlichkeit doch etwas erklären kann. Lass wählt einen klaren Fall von Natürlichkeit aus und versucht, eine solche mutmaßliche Erklärung in eine explizite Form zu bringen: Die Konsonantenverbindung [nb] wird üblicherweise zu [mb], ein bekannter Prozeß der Assimilation. Eine solche Erklärung wäre beispielsweise Teil einer natürlichkeitstheoretischen Erklärung, warum ahd. einbar (beran ‘tragen’) zu mhd. eimber und nhd. Eimer wurde. Nach Lass müßte eine natürlichkeitstheoretische Erklärung einer solchen Assimilation wie folgt rekonstruiert werden: “C1 a sequence [nb] L1 [mb] is ‚easier than‘ [nb] _________________________________ E [nb] > [mb] E does not follow deductively of course; and L1 isn’t really a ‘law’.” 221 161 219 Stein 1990, S. 286 220 Stein 1990, S. 286 221 Lass 1980, S. 18 <?page no="162"?> In einem zweiten Schritt zeigt Lass, daß die ‘Erklärung’ durch die Einführung eines sogenannten statistischen Gesetzes auch nicht besser wird. Die revidierte Fassung sieht folgendermaßen aus: “C1 a sequence [nb] L1 [mb] is ‘easier than’ [nb] L2 It is overwhelmingly (very, quite, etc.) probable that, given a choice, speakers will choose ‘easier’ articulations over ‘harder’ ones. _________________________________________________________ E [nb] > [mb]“ 222 Durch das sogenannte statistische Gesetz wird natürlich die Erklärung weder besser noch ‚weicher‘. “E” bleibt, was es war: ein non sequitur. Das muß auch so sein, denn statistische Gesetze sind keine Gesetze, die Folgerungen erlauben, sondern Generalisierungen. Die Tatsache beispielsweise, daß 90% der Kettenraucher an Lungenkrebs sterben, erklärt natürlich nicht, warum Max, der Kettenraucher, an Lungenkrebs gestorben ist. Sein Tod wird von chemophysikalischen Prozessen in der Lunge verursacht und nicht von der Statistik. Sein Tod bestätigt die Statistik, aber die Statistik erklärt nicht seinen Tod. “Singular counter-instances do not falsify probabilistic theories” 223 , stellt Lass korrekt fest. Die Erklärung ist somit eine Pseudoerklärung, ohne erklärende Kraft. Lass’ Analyse ist korrekt. Aber das vernichtende Urteil haben sich die Natürlichkeitstheoretiker teilweise dadurch eingehandelt, daß sie versäumt haben, ihren Erklärungsanspruch zu präzisieren. Lass hat legitimerweise eine für sie ungünstige Variante gewählt. Er unterstellt, die Natürlichkeitstheorie beanspruche den Einzelfall zu erklären, also etwa den Wandel von ahd. einbar zu nhd. Eimer. Das aber kann sie nicht. Sie kann jedoch, wenn sie adäquat formuliert ist, den Trend erklären. Mit anderen Worten: Die Natürlichkeitstheorie erklärt den Trend; der Trend aber erklärt aus den genannten Gründen nicht den Einzelfall. Eine solche Trenderklärung könnte folgendermaßen aussehen: 162 222 Lass 1980, S. 19 223 Lass 1980, S. 19 <?page no="163"?> C 1 Es gibt Sequenzen [nb]. C 2 [mb] kann mit geringeren Kosten artikuliert werden als [nb]. C 3 Die Realisierung von [nb] als [mb] beeinträchtigt normalerweise nicht die kommunikativen Ziele der Sprecher. L 1 Natürlicherweise wählen Menschen unter den sich ihnen bietenden Handlungsalternativen diejenige aus, die den höchsten subjektiven Nettonutzen verspricht. L 2 Weicht die Mehrheit einer Population von einer in der Population geltenden Konvention häufig und rekurrent in dieselbe Richtung ab, so entsteht eine Konventionsverschiebung in Richtung der Abweichung. _________________________________________________________ E Es entsteht normalerweise eine Konventionsverschiebung von [nb] zu [mb]. Diese Ableitung hat zwei Vorteile gegenüber den vorherigen: Sie ist gültig, und sie ist von erklärender Kraft. Sie kann zwar nicht vorhersagen, ob in between zu imbetween werden wird, aber sie erklärt den Trend. Der falsifizierende Fall ist nicht das abweichende Einzelereignis, sondern eine Sprachgemeinschaft mit einer Sprache, in der die Bedingungen C 1 -C 3 und die Gesetze L 1 -L 2 gelten, aber der Trend nicht vorhanden ist. Diese Erklärung enthält zwei Gesetzesaussagen, die, und das ist von entscheidender Wichtigkeit, nicht die Sprache betreffen, sondern zum einen menschliches Verhalten (L 1 ) und zum andern die Logik des Begriffs der Konvention (L 2 ). Selbstverständlich können die einzelnen Bedingungen und die Gesetze, besonders L 2 , präziser formuliert werden. Das weiche “normalerweise” in E stammt aus der Bedingung C 3 , und das ist wichtig. Denn aus unsicheren Bedingungen und ‘harten’ Gesetzen folgt ein ‘weiches’ Explanandum. Aus unsicheren Gesetzen hingegen folgt gar nichts. Worin bestehen die prinzipiellen Unterschiede zwischen Lass’ Rekonstruktion einer natürlichkeitstheoretischen Erklärung des Wandels von [nb] zu [mb] und meinem Vorschlag? Es sind deren drei: 163 <?page no="164"?> 1.) Lass’ Rekonstruktion einer Erklärung versucht, den Einzelfall zu erklären, meine Erklärung erklärt das Vorhandensein eines Trends. 2.) Meine Erklärung trennt strikt zwischen der Mikroebene individuellen Handelns und der Makroebene sprachlicher Strukturen. 3.) Meine Erklärung ist den Prinzipien des methodologischen Individualismus verpflichtet. Das heißt: Ausgangspunkt der Erklärung sind handelnde Individuen; nicht Sprachen, Strukturen, Prozesse oder Kollektive. 224 Die strikte Trennung von Mikroebene und Makroebene erlaubt es, die unselige terminologische Dublette natürlich und unmarkiert, der die Zirkularität der eingangs erwähnten Definitionen im wesentlichen zu verdanken ist, aufzugeben. Es wäre meines Erachtens sinnvoll, das Prädikat natürlich der Mikroebene vorzubehalten und das Prädikat (un-)markiert der Makroebene. Eine solche terminologische Unterscheidung ermöglicht es, die empirische und nicht zirkuläre Hypothese zu formulieren, daß natürliche Verhaltensweisen der Sprecher, im Sinne der “known principles of human nature” der Philosophen der Aufklärung, unter bestimmten Bedingungen unmarkierte Strukturen auf der Ebene der Sprache erzeugen. In meiner Erklärung ist eine solche Natürlichkeitsannahme in L 1 enthalten. Natürlichkeit (menschlichen Verhaltens) und Markiertheit (sprachlicher Strukturen) können auf diese Weise unabhängig voneinander definiert und systematisch aufeinander bezogen werden. Eine auf diese Weise modifizierte Natürlichkeitstheorie steht nicht im Widerspruch zu dem Postulat, daß jede erklärende Theorie sprachlichen Wandels die Form einer Invisible-hand- Theorie haben muß. Die von mir vorgeschlagene Erklärung ist eine Invisible-hand-Erklärung, die Annahmen der Rationalchoice-Theorie enthält. Der Grundgedanke der Rational-choice- Theorie ist folgender: Menschliches Handeln wird von drei Faktoren bestimmt, den Handlungszielen, den Handlungsmöglichkeiten und den Handlungsbeschränkungen. Menschen sind in der Lage, diejenigen Handlungsalternativen, die sich ihnen, bezogen auf ein bestimmtes Ziel, bieten, in eine Hierarchie zu bringen nach Maßgabe des subjektiv erwarteten Nettonutzens. 224 cf. Albert 1990 164 <?page no="165"?> Diese Fähigkeit nennt man Rationalität des Handelns. Das heißt: Wenn Menschen zur Erreichung ihres Handlungsziels mehrere Alternativen zur Wahl stehen, und das ist nahezu immer der Fall, so wählen sie diejenige, die ihnen den höchsten subjektiv zu erwartenden Nettonutzen verspricht. (Das gilt für Mutter Theresa ebenso wie für einen Masochisten oder einen New Yorker Broker. Sie unterscheiden sich nicht in der Rationalität ihres Handelns, sondern in ihren Bewertungen des Nutzens. 225 ) Der Nettonutzen einer Handlung ist der Nutzen abzüglich der Kosten. Da dem Handelnden nicht notwendigerweise die Fülle seiner objektiven Handlungsmöglichkeiten und die objektiv gegebenen Handlungsbedingungen hinreichend bekannt sein müssen, ist die Einschränkung des Nettonutzens auf den subjektiv erwarteten Nettonutzen geboten. Eine Wahlhandlung ist um so besser begründet, je vorteilhafter für den Handelnden die Kosten-Nutzen-Relation ausfällt. Eine Wahlhandlung gilt als erklärt, wenn gezeigt ist, daß die Wahl unter den dem Handelnden bekannten Bedingungen subjektiv optimal ist. (Auf die Rationalität suboptimaler Wahlen, des sogenannten “satisficing”, kann in diesem Rahmen nicht eingegangen werden. 226 ) Soviel zu den Grundannahmen der Rational-choice-Theorie. Kehren wir nun zurück zu Theorie der Natürlichkeit. Bereits im frühen 19. Jahrhundert haben die Linguisten gewußt, daß Sprachentwicklung etwas mit Sparsamkeit, mit dem Streben nach Artikulationsökonomie und dem Prinzip des geringsten Aufwands zu tun hat. 227 Die Sprache wächst “nach dem natürlichen Gesetze weiser Sparsamkeit” schrieb Jacob Grimm. 228 Dies ist eine der Traditionen, in denen die Natürlichkeitstheorie steht. Deshalb ist auch das Gebiet der Phonologie und Morphologie als die Hauptdomäne für natürlichkeitstheoretische Erklärungsversuche angesehen worden. Denn dies sind die Bereiche, 225 Das Streben nach optimalem Nettonutzen hat nichts zu tun mit dem, was man Egoismus oder Altruismus nennt. Egoistische Handlungen sind solche, die die (positiven oder negativen) Konsequenzen der Handlung für andere nicht in die Kosten-Nutzen-Kalkulation miteinbeziehen. Altruistische Handlungen sind solche, die nicht in Erwartung belohnender Handlungen anderer vollzogen werden. 226 cf. Slote 1989 227 cf. Lyons 1968, S. 89 f. 228 Grimm 1819/ 1968, S. 2 165 <?page no="166"?> 166 in denen die Auswirkungen “des Gesetzes weiser Sparsamkeit” am deutlichsten zu sehen sind. Da der Faktor der Kostenersparnis beim Kommunizieren dem Bewußtsein weniger zugänglich ist als der der Nutzenoptimierung, ist die Gefahr einer von Sprechern abstrahierenden, die Sprache hypostasierenden Redeweise besonders akut. Aber es ist nicht das Ziel der Sprecher, die Kosten zu senken; wer dies optimieren wollte, dem böte sich das Schweigen an. Es kommt beim Kommunizieren, wie bei allen Handlungen, darauf an, die Kosten-Nutzen-Bilanz zu optimieren. Dies hat bereits Helmut Lüdtkes Theorie (Kap. 5.1) deutlich gemacht. Die Kosten- und Nutzenfaktoren, die bei der Wahl einer kommunikativen Handlung in die Kalkulation der Wahl der sprachlichen Mittel eingehen, lassen sich an einem Baum darstellen: Kalkulation Nutzen Kosten informativ sozial ästhetisch motorisch kognitiv Persuasion Repräsentation Image Beziehung Dieser Baum soll folgendes besagen: Auf der Seite des Nutzens ist zu unterscheiden zwischen informativem, sozialem und ästhetischem Nutzen, auf der Seite der Kosten ist zwischen motorischen Kosten und kognitiven Kosten zu unterscheiden. Der informative Nutzen kann die Persuasivität oder die Repräsentation betreffen. Der soziale Nutzen kann das eigene Image oder die Beziehung zu anderen betreffen. Im Endeffekt gehen somit fünf Nutzenfaktoren und zwei Kostenfaktoren in die Wahl der sprachlichen Mittel ein. Die Nutzenfaktoren sind: Persuasivität (z.B. der Ausdruck mit der höheren Überzeugungskraft oder besseren Verständlichkeit), Repräsentation (z.B. das treffendere Wort), Ästhetik (z.B. die schönere Formulierung), Image (z.B. die Wahl eines Prestigewortes), Beziehung (z.B. die höflichere Variante). <?page no="167"?> Die Kostenfaktoren sind: motorische Kosten (z.B. Artikulationsenergie, Wortlänge etc.) und kognitive Kosten (Speicherkapazität, Merkbarkeit). Wenn wir davon ausgehen, daß beispielsweise der Wunsch, beim Gesprächspartner einen positiven Eindruck zu machen, nicht weniger natürlich ist als das Streben, die Artikulationskosten zu senken, müssen wir zu dem Ergebnis kommen, daß der Erklärungsbereich der Natürlichkeitstheorie nicht auf Phonologie und Morphologie beschränkt bleiben muß, sondern Syntax und Semantik umfassen kann. Gegenstand der Natürlichkeitstheorie sind dieser Konzeption gemäß genau diejenigen Phänomene des Sprachwandels, die von universalen menschlichen Handlungsmaximen (“the principles of human nature”) verursacht werden und sich, je nach sprachlicher Ausgangslage, von Sprache zu Sprache unterschiedlich auswirken können. 167 5.3. Diachronie oder Synchronie? Die Theorie der Maximen und ihrer Rolle für den Prozeß der unsichtbaren Hand kann ein Licht werfen auf den Zusammenhang zwischen Synchronie und Diachronie. Doch werfen wir zunächst einen Blick auf den Gebrauch dieser beiden Termini in der gegenwärtigen “linguistischen Umgangssprache”. Die begriffliche Fassung dieser beiden Dimensionen der Sprache bzw. der Sprachbetrachtung verdanken wir bekanntermaßen Ferdinand de Saussure. Die Unterscheidung freilich ist älter als ihre terminologische Fixierung. 229 Was genau mit der Unterscheidung von Synchronie und Diachronie unterschieden werden soll, scheint bis heute kontrovers zu sein. Die einen sehen darin vornehmlich ontologische Prädikate, mit denen zwei “Seinsweisen” der Sprache bezeichnet werden, die anderen möchten sie als methodologische Prädikate verstanden wissen, die dazu dienen sollen, unterschiedliche Aspekte der Sprachbetrachtung, unterschiedliche Forschungsperspektiven zu bezeichnen. 230 “De Saussure betrieb keine Ontologie, sondern Methodologie. (…) Deswegen gehört die Unterscheidung zwischen Synchronie und Dia- 229 cf. Jäger 1984, S. 711 f. 230 cf. Jäger 1984, S. 711 f. <?page no="168"?> chronie nicht zur Theorie der Sprache, sondern zur Theorie der Sprachwissenschaft”, urteilt Coseriu. 231 Was de Saussure in Wirklichkeit betrieb, ist unter anderem deshalb unklar und so kontrovers, weil der Name “de Saussure” mittlerweile zur Bezeichnung zweier verschiedener Dinge verwendet wird: einmal für Ferdinand de Saussure und zum andern für die Autoren des “Cours de linguistique générale”. Diese sind bekanntermaßen nicht identisch. Der “Cours” wurde verfaßt von den beiden Schweizer Linguisten Charles Bally und Albert Sechehaye und gibt vor, die Gedanken wiederzugeben, die de Saussure in gleichnamigen Vorlesungen vorgetragen hatte. Die Autoren selbst haben jedoch die Vorlesungen nicht gehört. Ihre “Quellen” waren studentische Vorlesungsmitschriften sowie das linguistische Wissen, über das sie als renommierte Linguisten ihrer Zeit verfügten. Kein Wunder also, daß bei der “Rekonstruktion” der Vorlesung aus den lückenhaften Mitschriften, die ja selbst interpretative Verfälschungen enthalten mußten, eigene Theorien der Verfasser als vermeintlich Saussuresche (gewollt oder ungewollt) eingeflossen sind. Ich möchte mich hier nicht in die Bemühungen um die Rekonstruktion 232 der Theorien, die de Saussure selbst vertreten hat, einschalten. Das allgemeine Verständnis der de Saussureschen Dichotomie und somit der Gebrauch der Termini “Synchronie” und “Diachronie” in der heutigen “linguistischen Umgangssprache” ist jedenfalls im wesentlichen geprägt von der im Bally-Sechehayeschen “Cours” vertretenen Version. Und diese scheint mir in der Tat die methodologische Lesart zu favorisieren, verbunden mit der Empfehlung, die beiden Ebenen der Betrachtung sauber auseinanderzuhalten, und der Tendenz, der Synchronie einen Primat beizumessen. Die synchronische Perspektive ist die Betrachtungsweise eines Sprachzustandes unter Abstraktion des Wandels bzw. der Dynamik; die diachronische Perspektive ist die Betrachtungsweise zweier oder mehrerer zeitlich verschiedener Sprachzustände einer Sprache. “Die diachronische Sprachwissenschaft untersucht nicht (…) die Beziehungen zwischen gleichzeitigen Gliedern eines Sprachzustandes, sondern diejenigen zwischen aufeinander- 168 231 Coseriu 1958/ 1974, S. 21 232 Zu Fragen der Rekonstruktion siehe Jäger 1976 sowie Scheerer 1980. <?page no="169"?> folgenden Gliedern, von denen eines im Laufe der Zeit an die Stelle des andern tritt.” 233 Betrachten wir nun für einen Augenblick noch einmal die in Kapitel 4.4. vorgelegte tentative Erklärung für das Verschwinden des Wortes englisch im Sinne von engelhaft aus unserer Sprache. Erinnern wir uns, sie hatte die folgende Form: Unter den um die Mitte des 19. Jahrhunderts gegebenen (sprachlichen und außersprachlichen) Bedingungen (a) bis (i) mußte ein Kommunizieren nach den Maximen M 1 und M 2 den dargestellten Invisible-hand- Prozeß zur Folge haben, der aufgrund der Gesetze G 1 und G 2 notwendigerweise zum “Aussterben” des Wortes englisch 1 führte. Handelt es sich hierbei um eine Feststellung aus synchronischer Perspektive oder aus diachronischer Perspektive? Wir können auch allgemeiner fragen: Gehört eine Theorie des Wandels zum Bereich der synchronen Sprachbetrachtung oder zum Bereich der diachronen Sprachbetrachtung? Wenn wir uns daraufhin die Bally-Sechehayesche Bestimmung noch einmal anschauen, können wir feststellen: Die Antwort kann entweder sein “sowohl als auch” oder “weder noch”. Wenn eine Frage zwei kontradiktorische Aussagen als Antworten zuläßt, so kann man immer darauf vertrauen, daß etwas mit den Begriffen nicht stimmt. In diesem Fall zeigt es sich, daß die Begriffe “Synchronie” und “Diachronie” für Probleme des Wandels nicht geschaffen sind. Es sind im Grunde Begriffe der Theorie der Sprachgeschichtsschreibung, nicht der Theorie des Wandels. Die Begriffe “Zustand” und “Geschichte” sind sehr verschieden von den Begriffen “Stase” und “Dynamik”. “Die Vergangenheit ist der Ort dessen, was unwiderruflich geschehen und geschaffen ist”; 234 was der Geschichte angehört, ist statisch, die jeweilige Gegenwart ist der Ort der Dynamik. Eine Theorie des Wandels ist keine Theorie der Geschichte, sondern eine Theorie der Dynamik eines “Zustandes”. Eine Erklärung des dargelegten Typs scheint mir geeignet zu sein, die von Coseriu 1980 in seinem Aufsatz “Vom Primat der Geschichte” erhobene Forderung nach einer, wie er es nannte, “integrierten Synchronie” 235 einzulösen, deren Aufgabe 169 233 de Saussure 1916/ 1967, S. 167 234 Garaudy 1973, S. 139 235 Coseriu 1980, S. 144 <?page no="170"?> 170 es sei, die Art und Weise zu bestimmen, wie “Funktionieren der Sprache und der Sprachwandel zusammenfallen”. 236 In der Tat ist das Problem des Wandels einer Sprache - beziehungsweise eines Phänomens der dritten Art - kein historisches Problem. Wer die Kaufkraft der Deutschen Mark zum Zeitpunkt t 1 vergleicht mit der Kaufkraft zu den Zeitpunkten t 2 , t 3 , …, t n , der betreibt eine diachrone Untersuchung und gelangt auf diese Weise zu einer Geschichte des Geldwertes der Mark. Er gelangt auf diese Weise jedoch nicht zu einer Theorie der Inflation. Wer den Kaufkraftschwund in einer bestimmten Zeitspanne erklären will, der wird dazu eine Theorie der Inflation benötigen; zu einer solchen Theorie jedoch gelangt man beispielsweise nicht auf dem Wege der Verallgemeinerung historischer Beschreibungen der Kaufkraft. Daß das Problem des Wandels kein historisches ist, wurde von verschiedenen Autoren festgestellt: beispielsweise von Carl Menger, der dies als Problem “der t h e o r e t i s c h e n (Hervorheb. C.M.) Socialforschung” bezeichnete; 237 oder von Eugenio Coseriu, der es ein “rationales Problem” nannte; 238 und auch von Friedrich von Hayek, der schrieb: “Das Problem der Bildung solcher Strukturen (wie z.B. Markt und Sprache (R.K.)) ist dennoch ein theoretisches und kein historisches, weil es sich mit solchen Faktoren in einer Reihenfolge von Ereignissen befaßt, die im Prinzip wiederholbar sind, obwohl sie tatsächlich nur einmal aufgetreten sein mögen.” 239 Die Dichotomie “Synchronie versus Diachronie” paßt im Grunde deshalb nicht zu Überlegungen des Werdens und des Wandels, weil es sich dabei (jedenfalls in der Standardbedeutung dieser Ausdrücke) um reine Ergon-Begriffe handelt; um Begriffe zur Charakterisierung von Beobachtungen an der Sprache im hypostasierten Sinne. Damit sind wir an einem anderen Problem angelangt, das sich bei genauerem Hinsehen als ein mit dem Synchronie-Diachronie-Problem verwandtes erweist. 236 Coseriu 1980, S. 136 237 Menger 1883/ 1969, S. 169 238 Coseriu 1958/ 1974, S. 94 239 von Hayek 1969, S. 154. Vgl. auch Kapitel 2.3. <?page no="171"?> 171 5.4. Chomskys I-Sprache Sollen Linguisten Sprache in erster Linie im Sinne von Sprachfähigkeit begreifen und untersuchen, oder sollen Linguisten Sprache in erster Linie vom Sprecher abstrahierend als (relativ) autonomes Gebilde betrachten? Die Diskussion dieser Frage hat in letzter Zeit eine Renaissance erfahren. Humboldt hatte diese Fragestellung bekanntlich initiiert. Seine Version, das Problem zu behandeln, bestand in der Frage, ob die Sprache eher als Werk oder eher als Fähigkeit zu betrachten sei. Er tendierte, wie wir wissen, zu letzterem: “Man muss die Sprache nicht sowohl wie ein todtes Erzeugtes, sondern weit mehr wie eine Erzeugung ansehen.” 240 An anderer Stelle äußert er sich noch entschiedener: “(Die Sprache) selbst ist kein Werk (Ergon), sondern eine Tätigkeit (Energeia).” 241 Für die praktische Linguistik hat diese Erkenntnis Humboldts kaum Auswirkungen gezeitigt, so daß Coseriu mit Recht feststellen konnte: “Diese Behauptung wird oft zitiert, in den meisten Fällen jedoch, um sie rasch wieder zu vergessen und sich in die Sprache als ε 8ργον zu flüchten.” 242 Ich glaube jedoch, daß es sich hierbei in den meisten Fällen nicht um eine Flucht handelt, sondern um ein vom Arbeitsziel gebotenes Erfordernis. Was soll einem Linguisten, der ein Wörterbuch, eine Sprachgeschichte, eine Grammatik einer Einzelsprache oder ein Lehrwerk verfaßt, die Weisheit nützen, die Sprache sei nicht in erster Linie ein Werk, sondern eine Tätigkeit bzw. “dass die eigentliche Sprache in dem Acte ihres wirklichen Hervorbringens liegt”? 241 Was auch immer sie “eigentlich” ist, für die meisten Typen linguistischer Untersuchungen wird es nützlich sein, so zu tun, als sei sie ein Ergon. Mit anderen Worten, die Hypostasierung und Reifizierung der Sprache ist meist kein erkenntnistheoretischer Fehlgriff, sondern eine praktische Notwendigkeit. Meist, aber nicht immer. Fehl am Platze ist eine ausschließlich Ergon-orientierte Betrachtungsweise stets da, wo tatsächlich Fragen der Genese, der Erzeugung im Vordergrund stehen. Dies scheint im wesentlichen der Fall zu sein im Rahmen der generativen Theorie sowie im 240 Humboldt 1836/ 1907, S. 44 241 Humboldt 1836/ 1907, S. 46 242 Coseriu 1958/ 1974, S. 37 f. ´ <?page no="172"?> Rahmen der Theorie des Sprachwandels. Und dies sind auch die Felder, in denen die von Humboldt aufgeworfene Frage, wenn auch in neuem Gewande, heute wieder in Diskussion ist. Der generativen Theorie gemäß stellt man sich vor, daß jeder kompetente Sprecher über ein bestimmtes sprachliches Wissen verfügt, das ihn in die Lage versetzt, beliebig viele Sätze hervorzubringen und beliebig viele Sätze zu verstehen. Dieses sprachliche Wissen, das selbst wiederum aus mehreren untereinander interagierenden Komponenten zusammengesetzt ist, heißt Grammatik. Nun nimmt man an, daß diese Grammatik nur teilweise während des Heranwachsens erworben werden muß. Über einen Teil der grammatischen Fähigkeiten verfügen wir dieser Theorie gemäß bereits von Geburt an. Sie sind den Menschen angeboren, d.h. sie sind Teil unserer biologischen Ausstattung und somit universal. Dieser angeborene Teil des sprachlichen Wissens heißt “Universalgrammatik” (UG). “UG may be regarded as a characterization of the genetically determined language faculty, (…) as a theory of the ‘initial state’ of the language faculty.” 243 Ohne eine solche Annahme glaubt man nicht erklären zu können, wieso alle gesunden Kinder dieser Erde unabhängig davon, was für eine Sprache sie zu erwerben haben, unabhängig von ihrer Intelligenz und weitgehend unabhängig von ihrem sozialen Umfeld in so kurzer Zeit in der Lage sind, die Sprache ihrer Umgebung zu erwerben, obwohl die sprachlichen Daten, die ein Kind normalerweise von seiner Umgebung erhält, äußerst beschränkt und defizient sind. Ein Kind ist zu dieser Leistung fähig in einem Alter, in dem es bei weitem nicht in der Lage ist, eine andere ähnlich komplexe Fähigkeit zu erlernen. (Ein Kind kann beispielsweise kontrafaktische Konditionalsätze bilden, noch bevor es in der Lage ist, mit dem Bleistift einen Kreis aufs Papier zu zeichnen! ) Man stellt sich vor, daß es sich bei diesem angeborenen Teil unseres sprachlichen Wissens nicht so sehr um positive Regeln handelt, sondern vielmehr um einschränkende Prinzipien. (Unser Rechts- und Moralsystem beispielsweise sagt uns auch nicht in erster Linie, was wir tun dürfen, sondern was wir zu unterlassen haben. Es wäre sehr unökonomisch und praktisch nicht erlernbar, wollte man das Erlaubte kodifizieren. Denn der Bereich des Erlaubten dürfte infinit sein.) 172 243 Chomsky 1986, S. 3 <?page no="173"?> 173 Im Kind bildet sich somit auf der Basis der angeborenen Prinzipien sowie seiner sprachlichen Erfahrung eine innere Grammatik, die auf irgendeine Weise mental repräsentiert ist. Einer neueren Terminologie gemäß wird diese im Menschen repräsentierte Grammatik I(nternalized)-Grammatik genannt. 244 Die Sprache, die von einer solchen I-Grammatik spezifiziert wird, das heißt die Menge der Sätze, die von einer solchen I-Grammatik als grammatisch wohlgeformt beurteilt werden, heißt - dieser Terminologie zufolge - I-Sprache. Wichtig ist dabei folgendes: Wenn ein Mensch beispielsweise ein Gedicht auswendig gelernt hat, so verfügt er auch über eine mentale Repräsentation des gelernten Gedichts. Diese Repräsentation verhält sich jedoch zum Gedicht nicht wie die I-Grammatik zur I-Sprache. Denn was zur I-Sprache gehört und was nicht, wird von der entsprechenden I-Grammatik determiniert. Im Falle des Gedichts hingegen ist das Gedicht logisch primär. Bis hierhin könnte ein Linguist der traditionellen Art getrost mitmachen. Allerdings würde er vermutlich einwenden: Was Ihr Chomskyaner da sagt über die I-Grammatik und ihr Verhältnis zur I-Sprache, ist schön und gut. Aber mich als L i n g u i s t e n interessiert das nur am Rande. Denn es ist nicht die Aufgabe des Linguisten zu erforschen, was ein Kind im Kopf hat; was ihn zu interessieren hat, ist d i e d e u t s c h e S p r a c h e ! Und die gibt es unabhängig davon, was in Deinem Kopf oder in meinem repräsentiert ist. Eine Grammatik der deutschen Sprache ist etwas ganz anderes als die Grammatik, die ein Mensch im Kopfe hat. Was unserem fiktiven traditionellen Linguisten vorschwebt, ist, die E(xternalized)-Grammatik einer E-Sprache zu erstellen. Seinem Weltbild gemäß ist natürlich die E-Sprache das Gegebene und die E-Grammatik das davon Abgeleitete. Ein Chomskyaner würde darauf erwidern: Was Du “die deutsche Sprache” nennst, ist ein ziemlich abenteuerliches Konstrukt. 244 Chomsky 1986, vor allem Kap. 2.3, S. 21 ff. Ich vermute, daß diese Unterscheidung auf Cloak 1975 zurückgeht. In seinem Aufsatz “Is a Cultural Ethology Possible? ” unterscheidet Cloak “i-culture” von “m(aterialized)culture”. Anders als für Chomsky ist für Cloak jedoch die M-Kultur nicht nur von heuristischem Wert zur Erforschung der I-Kultur. Er sieht, daß beide in Rückkoppelungsbeziehung stehen und somit auch aufeinander bezogen betrachtet werden müssen. (cf. S. 168 f.) <?page no="174"?> 174 Genau genommen handelt es sich dabei nicht einmal um eine linguistisch relevante Kategorie. Ob wir etwas eine Sprache nennen oder nicht, hängt im wesentlichen von politischen und soziologischen Bewertungen ab. 245 Und im übrigen: Entweder eine Sprache ist etwas, das tatsächlich von jemandem “beherrscht” wird; dann fällt Deine E-Grammatik dieser Sprache wieder mit der I-Grammatik eines kompetenten Sprechers dieser Sprache zusammen. Oder aber die Sprache in Deinem Sinne ist etwas, das von keiner empirischen Person tatsächlich “beherrscht” wird; dann ist die Sprache in Deinem Sinne etwas, dem nichts in der wirklichen Welt entspricht. “If you are talking about language”, sagt Chomsky selbst, “you are always talking about an epiphenomenon, you are talking about something at a further level of abstraction removed from actual physical mechanisms.” 246 Und an anderer Stelle schreibt er: “The notion of E-language has no place in this picture (d.h. in seiner Sprachtheorie (R.K.)). There is no issue of correctness with regard to E-languages, however characterized, because E-languages are mere artefacts. We can define ‘E-language’ in one way or another or not at all, since the concept appears to play no role in the theory of language.” 247 Ich will diesen Streit nicht weiter verfolgen, sondern die I-E- Dichotomie zum hier vertretenen Konzept einer Sprache als Phänomen der dritten Art in Beziehung setzen. Für Vertreter der generativen Theorie ist die I-Grammatik der eigentliche Untersuchungsgegenstand der Linguistik. Sie ist das einzige, das tatsächliche, materiale Existenz hat. “Grammars have to have a real existence, that is, there is something in your brain that corresponds to the grammar. That has got to be true.” 248 Die I-Sprache ist sozusagen die “außen” wahrnehmbare Manifestation der I-Grammatik. Sie dient dem Linguisten als die empirische Datenbasis zur Rekonstruktion der sie erzeugenden I- Grammatik. Besonderes Interesse kommt dabei dem Teil der I-Grammatik zu, der als angeboren angesehen wird. Er ist allen Menschen gemeinsam und somit allen Grammatiken möglicher (natürli- 245 Grewendorf, Hamm, Sternefeld 1987, S. 24 246 Chomsky 1982, S. 108 247 Chomsky 1986, S. 26 248 Chomsky 1982, S. 107 <?page no="175"?> 175 cher) menschlicher Sprachen. Deshalb nennt man diesen Teil der I-Grammatik auch Universalgrammatik. Der Erforschung der universalen Prinzipien unserer Sprachfähigkeit kommt aus zwei Gründen besonderes Gewicht zu: Zum einen ist es per se interessant, etwas über die Organisation des menschlichen Geistes zu wissen, und zum andern können mit ihrer Hilfe einige Struktureigenschaften unserer Sprache (I oder E spielt hier keine Rolle) e r k l ä r t werden. Eine Erklärung, die diesen Namen verdient, muß, wie wir in Kapitel 4.2. gesehen haben, notwendigerweise rekurrieren auf allgemeine Gesetze bzw. Prinzipien. Wenn man die Regeln, die die Grammatik einer Sprache ausmachen, nicht nur adäquat beschreiben will, sondern darüber hinaus erklären will, w a r u m sie so sind, wie sie sind, so stellt die biologische Organisation des Geistes unserer Art eine adäquate Begründungsinstanz dar. Die Ausschließlichkeit, mit der die Vertreter der generativen Theorie die I-Grammatik zum Gegenstand ihrer Forschung machen, stellt meines Erachtens einen Irrtum dar. Da er sich jedoch ausschließlich als Selbstbeschränkung auswirkt, ist er, solange die Generativisten in der Gelehrtenrepublik nicht die absolute Mehrheit haben, einigermaßen ungefährlich. Der Nutzen dieser Selbstbeschränkung ist leicht einzusehen. Die Kompetenz eines Sprechers wird so zu einer (physikalischen? ) Eigenschaft einer Person. “We suggest that for H to know the language L is for H’s mind/ brain to be in a certain state.” 249 Aussagen über die Grammatik werden interpretiert als “statements about structures of the brain”. Daraus folgt: “Statements about I-language (…) are true or false”, 250 und zwar im strengen Sinne. Damit ist erreicht, wovon Linguisten seit hundert Jahren träumen: “UG and theories of I-languages, universal and particular grammars, a r e o n a p a r w i t h s c i e n t i f i c t h e o r i e s in other domains. (…) Linguists will be incorporated within the natural sciences.” 251 So sind gleichsam über Nacht durch die schiere Reinterpretation der Forschungstätigkeit Geistes- und Sozialwissenschaftler zu Naturwissenschaftlern geworden: “Today the 249 Chomsky 1986, S. 26 250 Chomsky 1986, S. 23 251 Chomsky 1986, S. 27 (Hervorheb. R.K.) <?page no="176"?> distributional analysis of E-language continues, but now it is called ‘analysis of genetic endowment’”. 252 Linguistik ist nunmehr den Naturwissenschaften “ebenbürtig” (“on a par”)! Der Irrtum besteht darin, daß offenbar angenommen wird, alles, was über die Grammatik einer Sprache sinnvollerweise gesagt werden kann, sei gesagt, wenn die I-Grammatik vollständig und adäquat beschrieben sei. So geben sich beispielsweise Gisbert Fanselow und Sascha Felix viel Mühe, dafür zu argumentieren, daß die Annahme, die Sprache sei ein System von Konventionen, das “durch einen sog. ‘invisible hand process’ quasi wie von selbst” 253 entstehe, unangemessen, im besten Fall jedoch überflüssig sei. Das Unangemessenheitsargument läuft wie folgt: Konventionen sind notwendigerweise arbiträr. “Der Begriff der Konvention scheint also stets die prinzipielle Möglichkeit zu implizieren, die Konvention zu verletzen.” 254 Kinder kennen die Sprache ihrer Umgebung jedoch nicht per Konvention, denn “Kinder haben gar keine andere Wahl”. 254 Also: “Unter diesem Aspekt ist es nun jedoch äußerst fraglich, ob man in der Tat Spracherwerb und Sprachverwendung als Konvention bezeichnen kann.” 254 Denn: “Jeder lernt und verwendet notwendigerweise die Sprache seiner Umgebung; die Frage von Konvention und potentiellen Alternativen stellt sich hier gar nicht.” 255 Dieses Argument macht Gebrauch vom Fregeschen “Prinzip der Nichtunterscheidung des Verschiedenen”. 256 Denn die Frage, ob die deutsche Sprache (ganz oder teilweise) ein System von Konventionen darstellt, ist verschieden von der Frage, ob es eine Konvention ist, daß kleine Kinder die Sprache ihrer Umgebung erwerben. Kinder lernen ihre Muttersprache nicht, weil es “üblich” ist, dies zu tun, sondern weil dies aufgrund ihrer Ausstattung so “vorgesehen” ist. Es ist also in der Tat keine Konvention, daß “Deutsche Deutsch oder Franzosen Französisch sprechen” 257 (wenngleich es eine Konvention ist, das, was sie sprechen, 176 252 Itkonen 1991, S. 71 253 Fanselow, Felix 1987, S. 58 254 Fanselow, Felix 1987, S. 61 255 Fanselow, Felix 1987, S. 62 256 Frege 1966, S. 115 257 Fanselow, Felix 1987, S. 62 <?page no="177"?> 177 “Deutsch” bzw. “Französisch” zu nennen). Wohl aber ist der Gegenstand ihres Spracherwerbs (zum großen Teil) konventioneller Natur. Mit anderen Worten: was sie lernen, ist konventionell, daß sie es lernen, ist genetisch determiniert. Dies war das Fanselow-Felixsche Unangemessenheitsargument. Betrachten wir ihr Überflüssigkeitsargument. Es geht so: Wenn eine Sprache eine Konvention ist, so muß “der Gegenstand der Konvention letztendlich eine Grammatik sein”. 258 Es wäre nun denkbar, “daß sich die Konvention schlicht und einfach darin manifestiert, daß (…) etwa alle Sprecher des Deutschen über eine mental repräsentierte (…) I-Grammatik verfügen, die in den zentralen Bereichen für alle Individuen gleich ist und daher die sprachliche Kommunikation miteinander ermöglicht.” 259 Wenn die Konvention jedoch “in dem Besitz der gleichen I-Grammatik” 259 bestünde, so sei “die Konvention (…) vollständig auf die I-Grammatik reduzierbar; d.h. eine vollständige und adäquate Spezifizierung der I-Grammatik ist gleichzeitig eine vollständige und adäquate Charakterisierung der Konvention.” 259 Soweit das Argument. Inwieweit es interne Gültigkeit besitzt, hängt davon ab, wie man die Unschärfe, die in der hier unterstellten Konventionalitätsannahme verborgen ist, auflöst. Soll der Gegenstand der Konvention in der G l e i c h h e i t der I-Grammatiken bestehen, oder wollen die Autoren, daß der Gegenstand des sprachlichen Wissens, das die I-Grammatik ausmacht, konventioneller Natur ist? Im ersten Fall reduziert sich gar nichts. Denn eine Spezifikation mehrerer (oder aller) I-Grammatiken ergibt eine Theorie des sprachlichen Wissens der betreffenden Sprecher, nicht aber eine Theorie der Gleichheit des sprachlichen Wissens “in den zentralen Bereichen”. Im zweiten Fall könnte in der Tat von einer teilweisen Reduktion gesprochen werden. Der G e g e n s t a n d d e r K o n v e n t i o n wäre durch eine “vollständige und adäquate Spezifizierung der I-Grammatik” in der Tat miterfaßt, nicht jedoch die K o n v e n t i o n a l i t ä t d e s G e g e n s t a n d e s . Nun könnte ein hartgesottener Generativist natürlich sagen: Der Aspekt der Konventionalität interessiert mich nicht! Mich 258 Fanselow, Felix 1987, S. 59 259 Fanselow, Felix 1987, S. 60 <?page no="178"?> 178 interessiert die Universalgrammatik, und die ist per definitionem nicht konventioneller Natur, sondern ererbt. Damit geht jedoch ein Verzicht auf eine Adäquatheitsbedingung einher, die Linguisten gemeinhin an ihre Theorien stellen. Nehmen wir an, ein Sprecher äußert Sätze wie diesen: “Erst wurde getanzt, dann wurde nach Hause gegangen und schließlich wurde geschlafen.” Der Sprecher solcher Sätze verletzt damit (will ich unterstellen) kein Prinzip der Universalgrammatik; er weiß einfach nicht, daß man mit Verben, die das Perfekt mit sein bilden, nicht das unpersönliche Passiv bilden “darf”. Es ist üblicherweise nicht das Ziel linguistischer Theoriebildung, die I-Grammatik sprachlicher Sonderlinge zu beschreiben, 260 sondern die eines Sprechers, der “seine Sprache ausgezeichnet kennt”, wie Chomsky 1965 noch formulierte. 261 Natürlich kommt auch Chomsky 1986 ohne Idealisierungen nicht aus. Ihn interessiert nicht die I-Grammatik irgendeiner Person, sondern nur “the case of a person presented with uniform experience in an ideal Bloomfieldian speech community with no dialect diversity and no variation among speakers.” 262 Auch soll die Sprache der “hypostasized speech community (…) to be taken to be a ‘pure’ instance of UG.” 262 Das heißt, die Idealisierung wird verlagert. Früher (1965) war der idealisierte Sprecher Gegenstand der Untersuchung, heute ist er scheinbar ein Mensch wie Du und ich, der jedoch das Glück hatte, in einer vollständig als ideal “hypostasierten” Sprachgemeinschaft das Sprechen gelernt zu haben. Dies heißt aber nichts anderes als: Chomsky interessiert ausschließlich ein Sprecher, dessen I-Grammatik konventionskonform ist. Konventionskonform heißt nicht konventionsidentisch. Jeder von uns partizipiert an der Konvention des Deutschen, aber keiner von uns deckt sie voll ab. Somit gibt es keinen, dessen I- Grammatik dergestalt ist, daß eine “vollständige und adäquate Spezifizierung” dieser Grammatik eine vollständige und adäquate Spezifizierung des Gegenstandes grammatischer Konventionen des Deutschen ist. 260 cf. Hurford 1987, S. 25 261 Chomsky 1965/ 1969, S. 13 262 Chomsky 1986, S. 17 <?page no="179"?> 179 In bezug auf die I-Sprache ist jeder Sprecher trivialerweise ein kompetenter Sprecher. Denn wie wir gesehen haben, ist die I- Sprache genau die Menge von Sätzen, die die sie erzeugende I- Grammatik zuläßt. Ein kompetenter Sprecher des Deutschen hingegen ist einer, dessen I-Grammatik eine I-Sprache erzeugt, die konventionskonform ist. Konventionskonform ist sie genau dann, wenn sie eine Teilmenge derjenigen E-Sprache ist, die von der E-Grammatik, d.h. von den universal und konventionell gültigen Prinzipien und Regeln einer Sprachgemeinschaft, erzeugt wird. Natürlich befindet sich eine Sprache (im Sinne der Sprache einer Sprachgemeinschaft) auf einem “further level of abstraction” als eine I-Sprache; und in der Tat ist eine Sprache ein Epiphänomen in dem Sinne, in dem Phänomene der dritten Art Epiphänomene der sie erzeugenden Handlungen sind. Aber es ist nichts Ehrenrühriges daran, ein Epiphänomen zu sein. Im kulturellen Bereich sind oft Epiphänomene gerade das Interessante. Die Inflation ist ein Epiphänomen unseres ökonomischen Handelns, Religionen sind möglicherweise Epiphänomene, die erwähnten Trampelpfade und Verkehrsstaus sind Epiphänomene ebenso wie Sprachen im hypostasierten Sinne. Man muß sich im klaren sein, worauf man verzichtet, wenn man freiwillig davon absieht, den Abstraktionsschritt vom individuellen Handeln der individuellen Kompetenz gemäß zum daraus resultierenden Invisible-hand-Phänomen zu vollziehen: e r s t e n s auf das bereits erwähnte Konzept der Konventionskonformität der Individualkompetenz; und mit ihm auf ein adäquates Konzept des Spracherwerbs. Denn Basis des Spracherwerbs sind zum einen die angeborenen Prinzipien der Universalgrammatik und zum anderen die Erfahrungen kommunikativer Erfolge und Mißerfolge (sowohl aktiv als auch passiv). Durch die Erfahrungen des Erfolgs und Mißerfolgs (samt aller möglichen Schattierungen) lernt das Kind, aus der vielfältigen Menge seines sprachlichen Inputs bzw. Intakes die in einer Gemeinschaft konventionell gültigen herauszufiltern. Chomsky hat darauf hingewiesen, daß das angeborene sprachliche Wissen ein Filter für mögliche Sprachen sei, schreibt James Hurford, und er fährt fort: “I wish to point out that the arena of use is also a filter.” 263 263 Hurford 1987, S. 24 <?page no="180"?> Z w e i t e n s verzichtet man darauf, wenn man auf den genannten Abstraktionsschritt verzichtet, Sprachwandel betrachten zu können. Wir können mit Hilfe von Chomskys I-E-Dichotomie I-Wandel von E-Wandel unterscheiden. Wenn wir dies tun, stellen wir abermals fest, daß sich das E-Phänomen nicht auf eines oder mehrere I-Phänomene reduzieren läßt. Aus der Feststellung, daß aus dem E-Lexikon der deutschen Sprache und somit aus der E-Grammatik das Wort englisch im Sinne von engelhaft verschwunden ist, folgt beispielsweise nicht, daß aus irgendjemandes I-Lexikon und somit aus irgendeiner I-Grammatik dieses Wort verschwunden ist. Aus der Feststellung, daß in meiner I-Grammatik ein Wandel stattgefunden hat, folgt selbstverständlich nicht, daß in der E-Grammatik ein ähnlicher, entsprechender oder überhaupt ein Wandel stattgefunden hat. Mit anderen Worten: I-Wandel ist für E-Wandel weder notwendig noch hinreichend, und E-Wandel ist für I-Wandel weder notwendig noch hinreichend. I-Wandel ist kein Sprachwandel und Sprachwandel ist nichts, das im Kopf eines Sprechers geschieht. “The distinction between I-language and E-language is useful in that it invites linguists to ask what is the actual object of their study. But a legitimate answer to this question can be ‘either’, or ‘both’.” 264 Für Fragen, die den Sprachwandel betreffen, kommt als Antwort nur “both” in Frage. Denn, um es in Chomskys Terminologie zu sagen: Eine Erklärung für Sprachwandel zu liefern, heißt, ein Phänomen der E-Sprache als ein unter bestimmten historischen Bedingungen notwendigerweise aus dem massenhaften Gebrauch der I-Grammatiken der Mitglieder einer Sprachgemeinschaft resultierendes Epiphänomen auszuweisen. Selbstverständlich gehört zum Gebrauch der I- Grammatik Wissen, das über das Wissen, das die I-Grammatik ausmacht, hinausgeht. Dies hebt auch Chomsky sehr deutlich hervor. Solange wir die Fragen “how we talk” und “how we act” nicht beantwortet haben, schreibt er, “it would be quite correct to say that something very important is left out (…); I not only agree, but insist on that.” 265 Daß die E-Sprache selbst eine Bedingung ist, unter der die Sprecher Gebrauch machen von ihrer I- 180 264 Hurford 1987, S. 26 265 Chomsky 1980/ 1981, S. 80 <?page no="181"?> 181 Grammatik, und unter der sie sie erwerben und modifizieren, dies scheinen mir Generativisten außer acht zu lassen. 5.5. Poppers Welt 3 Man kann den Generativisten aus ihrer Selbstbeschränkung keinen Vorwurf machen. Es ist ihr gutes Recht, ihre Form der Sprachbetrachtung “zur kognitiven Psychologie (zu rechnen) und die Erforschung der Sprache letztlich sogar als Teil der Humanbiologie (anzusehen).” 266 Bedenklich daran scheint mir lediglich der mit dieser Auffassung häufig vorgetragene Hegemonialanspruch; so als sei dieses Forschungsprogramm identisch mit “der” Linguistik. “The theory of particular and universal grammars, so far as I can see, c a n b e s e n s i b l y r e g a r d e d o n l y (Hervorheb. R.K.) as that aspect of theoretical psychology that is primarily concerned with the genetically determined program that specifies the range of possible grammars (…).” 267 Als Kontrast zur Chomskyanischen Auffassung wird dieser bisweilen die These entgegengesetzt, die Sprache sei ein Welt 3- Phänomen. “Languages are clearly in a sense more abstract realities than individual competences; if one were to put it in Popperian terms, one would say that a language belongs to World 3, whereas an individual’s knowledge of it belongs to World 2”, schreibt James Hurford 268 in Auseinandersetzung mit Chomskys I-E-Dichotomie. In ähnlichem Kontext schreibt Roger Lass: “If (…) languages are ‘in’ any world at all, it is (…) something like Popper’s ‘World 3’.” 269 Was wir somit brauchen, schreibt Lass in einer jüngeren Arbeit, sei eine “theory of history for World 3 objects”. Diese Forderung wird folgendermaßen 266 Grewendorf, Hamm, Sternefeld 1987, S. 22 267 Chomsky 1981, S. 8 268 Hurford 1987, S. 25 269 Lass 1980, S. 3; cf. auch S. 130, Fn. 12. Da Roger Lass von sich selbst sagt, “I’m a bit of a Platonist” (pers. Mitteilung), würde sich für ihn möglicherweise auch Chomskys Konzept der P(latonic)-Language anbieten (cf. Chomsky 1986, S. 33). <?page no="182"?> 182 begründet: “I am suggesting that it is reasonable to consider language histories in at least some of their aspects as autonomous objects, long-term morphogenetic scenarios whose locus is something like a Popperian World 3.” 270 Und auch Popper selbst betrachtet Sprachen als Teil der Welt 3. Die äußerliche Ähnlichkeit von “Welt 3” und “Phänomen der 3. Art” ist rein zufälliger Natur. Aber dennoch ist es erhellend, die Theorie der drei Welten und die der drei Arten von Phänomenen einander gegenüberzustellen. Dies ist der Gegenstand dieses Kapitels. Schauen wir uns zunächst die Dreiweltentheorie an. Karl R. Popper untergliedert unsere Wirklichkeit in drei Welten: “Da gibt es zunächst die physische Welt - das Universum physischer Gegenstände (…); ich möchte sie ‘Welt 1’ nennen. Zweitens gibt es die Welt psychischer Zustände, einschließlich der Bewußtseinszustände, der psychischen Dispositionen und unbewußten Zustände; diese will ich ‘Welt 2’ nennen. Doch es gibt noch eine dritte Welt, die Welt der Inhalte des Denkens und der Erzeugnisse des menschlichen Geistes; diese will ich ‘Welt 3’ nennen.” 271 Popper postuliert also neben der äußeren “Welt der physikalischen Gegenstände” und der inneren “Welt der subjektiven Erlebnisse” eine weitere ä u ß e r e Welt, die mit unserer inneren Welt in besonderer Weise in Beziehung steht, aber dennoch eine äußere Welt ist, nämlich die der “Erzeugnisse des menschlichen Geistes”. 272 Dieser Welt gehören in erster Linie Erzeugnisse bewußter planvoller geistiger Tätigkeiten an, wissenschaftliche Theorien, Hypothesen (wahre wie falsche) und Kunstwerke. Theorien und Hypothesen gilt Poppers Hauptinteresse. Aber auch die Sprache ist Teil der Welt 3. Ihr kommt in dieser Welt besondere Bedeutung zu: “Wohl eines der ersten Erzeugnisse des menschlichen Geistes ist die menschliche Sprache. Ich vermute sogar, daß die Sprache in der Tat das erste dieser Erzeugnisse war.” 273 Natürlich ist sich Popper der Tatsache bewußt, daß die Sprache kein planvolles menschliches Erzeugnis ist. “Die Gegenstände der Welt 3 sind von uns selbst geschaffen, obwohl 270 Lass 1987, S. 170 271 Popper, Eccles 1977/ 1982, S. 63 272 Popper, Eccles 1977/ 1982, S. 38 273 Popper, Eccles 1977/ 1982, S. 31 <?page no="183"?> 183 sie nicht immer Ergebnisse planvollen Schaffens einzelner Menschen sind.” 274 In einer Tabelle, die die Überschrift trägt “Einige kosmisch-evolutionäre Stufen” befinden sich “menschliche Sprachen” zusammen mit “Theorien (Mythen) über uns selbst und über den Tod” auf der vorletzten Stufe. Die letzte Stufe bilden “Kunstwerke” und “wissenschaftliche Entdeckungen”. 275 Beide Stufen zusammen bilden die Welt 3. Die Annahme liegt nahe, daß die vorletzte Stufe sich von der letzten Stufe dadurch unterscheidet, daß diejenigen Erzeugnisse menschlichen Geistes, die zur vorletzten Stufe gehören, nicht “Ergebnisse planvollen Schaffens” sein sollen, während die der letzten und höchsten Stufe planvoll geschaffene geistige Artefakte sind. Wie dem auch sei, beide Arten von “Erzeugnissen” gehören zur Welt 3. Eine wichtige Eigenschaft der Dinge, die die Welt 3 bevölkern, ist ihre (relative) Autonomie. Sie sind zwar Produkte des Geistes. “Dennoch haben sie einen gewissen Grad an Autonomie. (…) Man kann sagen, daß Welt 3 nur zu Anfang Menschenwerk ist, und daß Theorien, wenn sie einmal da sind, ein Eigenleben zu führen beginnen: Sie schaffen unvorhergesehene Konsequenzen, sie schaffen neue Probleme.” 276 Obwohl die Gegenstände der Welt 3 Menschenwerk sind, können Eigenschaften an ihnen im nachhinein “entdeckt werden”. Dies trifft auf Sprachen sicherlich zu, und viele Linguisten verdanken dieser Eigenschaft ihre Existenzberechtigung. Eine andere wichtige Eigenschaft 277 der Dinge der Welt 3 ist es, daß es sie “wirklich” gibt: “Viele Gegenstände der Welt 3 existieren in der Form materieller Körper und gehören in gewisser Hinsicht sowohl zu Welt 1 wie zu Welt 3. (…) Ein Buch ist ein physisches Ding und gehört daher zu Welt 1; was es aber zu einem bedeutsamen Erzeugnis menschlichen Denkens macht, ist sein Inhalt; das, was in den verschiedenen Auflagen und Ausgaben unverändert bleibt. Dieser Gehalt gehört zu Welt 3. Eine meiner Hauptthesen ist, daß Gegenstände der Welt 3 wirklich (…) sein können; nicht nur in ihren Materialisationen oder Ver- 274 Popper, Eccles 1977/ 1982, S. 64 275 Popper, Eccles 1977/ 1982, S. 38 276 Popper, Eccles 1977/ 1982, S. 65 277 Ich bin nicht sicher, ob Teil der Wirklichkeit zu sein, eine Eigenschaft eines Dings genannt werden sollte. <?page no="184"?> 184 körperungen von Welt 1, sondern auch unter dem Gesichtspunkt von Welt 3.” 278 Als Beispiel wählt Popper in einem Dialog mit Eccles Mozarts Jupiter-Symphonie: Sie sei weder identisch mit der Partitur, noch mit Mozarts inneren akustischen Erlebnissen während des Komponierens, noch mit einer Aufführung, noch mit allen Aufführungen zusammen oder der Klasse aller möglichen Aufführungen. “Das ergibt sich daraus, daß Aufführungen gut oder weniger gut sein können, daß aber keine Aufführung wirklich als ideal bezeichnet werden kann.” 279 Ich referiere dieses Beispiel deshalb so ausführlich, weil man daraus per Analogie etwas über die Art der Wirklichkeit einer Sprache lernen kann. Die Jupiter-Symphonie ist als Gegenstand der Welt 3 “ e i n w i r k l i c h e r i d e a l e r G e g e n s t a n d (Hervorheb. R.K.), den es wohl gibt, der aber nirgendwo ist, und dessen Dasein irgendwie die Potentialität seines wiederholten Interpretiert-Werdens durch den Geist der Menschen ist.” 279 Was heißt für Popper “wirklich”? Wirklich ist etwas, das Wirkung hat: “Wir akzeptieren also Dinge als ‘wirklich’, wenn sie kausal auf gewöhnliche, reale materielle Dinge wirken oder wenn sie mit diesen in Wechselwirkung stehen.” 280 An anderer Stelle schreibt er: “(…) die Wechselwirkung mit Welt 1 - selbst die indirekte Wechselwirkung - halte ich für ein entscheidendes Argument dafür, ein Ding wirklich zu nennen.” 281 In diesem Sinne ist auch die Sprache im hypostasierten Sinne wirklich. “Gegenstände der Welt 3 sind abstrakt (…), aber nichtsdestoweniger wirklich; denn sie sind mächtige Werkzeuge zur Veränderung von Welt 1.” Gegenstände der Welt 3 haben - das sagt bereits der Begriff des Werkzeugs - keine direkte Wirkung auf die physische Welt, sondern “nur (…) durch das Eingreifen derer, die sie machen, ganz besonders dadurch, daß sie erfaßt werden; das ist ein Prozeß (…), bei dem Welt 2 und Welt 3 in Wechselwirkung treten.” 282 Die Sprache ist ein Werkzeug der Welt 3 zur Veränderung von Welt 1 vermittels 278 Popper, Eccles 1977/ 1982, S. 64 279 Popper, Eccles 1977/ 1982, S. 534 280 Popper, Eccles 1977/ 1982, S. 29 f. 281 Popper, Eccles 1977/ 1982, S. 64 (Das Setzen bzw. Weglassen von Anführungszeichen bei “wirklich” in den letzten beiden Zitaten entspricht dem Original.) 282 Popper, Eccles 1977/ 1982, S. 74 <?page no="185"?> 185 Welt 2. “Das einzige Werkzeug, das eine genetische Grundlage zu haben scheint, ist die Sprache.” 283 Der Mensch als physischer Gegenstand ist natürlich ein Teil von Welt 1, sein Geist und sein Bewußtsein sind Teil von Welt 2. Die Art Wirkung, die die Welt 3 auf den Menschen als Teil von Welt 1 und Welt 2 ausübt, verdient besondere Beachtung: Der Mensch wird nicht als Ich geboren. “Es erscheint mir von erheblicher Bedeutung, daß wir nicht als Ich geboren werden, sondern daß wir lernen müssen, daß wir ein Ich haben; ja, wir müssen erst lernen, ein Ich zu sein. Bei diesem Lernprozeß lernen wir etwas über Welt 1, Welt 2 und vor allem über Welt 3.” 284 Das Ich ist in Welt 3 und somit in der Sprache “verankert”. 285 “Ich habe Welt 3 als etwas beschrieben, das aus den Schöpfungen des menschlichen Geistes oder Bewußtseins besteht. Doch das menschliche Bewußtsein reagiert seinerseits auf diese Schöpfungen: Es gibt eine Rückkoppelung.” 286 Wir sind Benutzer, Veränderer und Schöpfer (im wohlverstandenen Sinne) der Sprache, die ihrerseits auf die Akte der Benutzung, Veränderung und Schöpfung einwirkt. “Ich halte den sozialen Charakter der Sprache und die Tatsache, daß wir unseren Status als Ich (…) der Sprache und somit anderen verdanken, für bedeutsam.” 286 Ich habe die Theorie der drei Welten und im besonderen die der Welt 3 in einiger Ausführlichkeit dargelegt, weil ich denke, daß man ihre inneren Zusammenhänge einigermaßen verstanden haben muß, wenn man ihr Termini entlehnen will. Griffige Termini sind immer in Gefahr, zu Schlagwörtern zu verkommen, indem sie aus den sie definierenden theoretischen Zusammenhängen herausgerissen werden, um für andere Theorien benutzt zu werden. Worin besteht die Attraktivität eines solchen Konzepts für einen Sprachhistoriker und Sprachwandeltheoretiker? In den Eigenschaften, autonom und wirklich zu sein. Die Theorie der Welt 3 liefert eine Philosophie, die es ermöglicht, einen so abstrakten, idealen und hypostasierten Gegenstand wie die Sprache (man erinnere sich an die Jupiter-Symphonie) erstens als 283 Popper, Eccles 1977/ 1982, S. 75 f. 284 Popper, Eccles 1977/ 1982, S. 144 285 Popper, Eccles 1977/ 1982, S. 183 286 Popper, Eccles 1977/ 1982, S. 184 <?page no="186"?> 186 (relativ) autonomen und zweitens als wirklich existierenden zu begreifen, der gegenüber der Welt der platonischen Ideen noch einen entscheidenden Vorteil hat: “Meine Welt 3 (hat) eine Geschichte; das trifft für die platonische Welt nicht zu.” 287 Betrachten wir die Entlehnung des Konzepts der Welt 3 durch Roger Lass. Er glaubt sich als Sprachhistoriker, der Wandel zu erklären beabsichtigt, vor die Wahl gestellt, den Wandel entweder aus der Sprecherperspektive oder aus der Perspektive Gottes (“god’s-eye view”) betrachten zu müssen. Die erste hält er für “fundamentally wrong”, 288 so wählt er die zweite. (Nebenbei bemerkt: Lass’ Perspektive Gottes scheint nicht die des Allwissenden zu sein, denn der könnte auch in die Herzen der Sprecher schauen! ) Lass argumentiert folgendermaßen: “Languages are objects existing in time, not timeless or momentary bodies of personal knowledge. Therefore they cannot be insightfully described - even at particular points - without reference to both their past and their future.” 289 Selbst ein ausschließlich an synchroner Beschreibung interessierter Deskriptivist muß, wenn er zu erhellenden und vollständigen Beschreibungen gelangen will, einen Blick auf die Geschichte werfen. “Languages have an existence in some sense independent of that of their speakers: that is, they have traditions; perhaps more accurately, they are traditions.” 290 Historisches Wissen über die Sprache steht jedoch dem Sprecher einer Sprache normalerweise nicht zur Verfügung. Daraus folgt, “that wherever we ought to be looking for the grounds for explanation, or even a preliminary ontological characterization, the inside of a single speaker’s head isn’t the place.” 291 Denn dem einzelnen Sprecher fehlt der große Überblick; “the participants in the pattern (…) are not sources of information about what their behaviour actually means in a larger perspective.” 292 All dem kann ich zustimmen. Erinnern wir uns an das einfache Beispiel eines Phänomens der dritten Art, an den sogenannten 287 Popper, Eccles 1977/ 1982, S. 534 288 Lass 1984, S. 4 289 Lass 1984, S. 4 f. (Lass’ Hervorheb.) 290 Lass 1984, S. 5 (Lass’ Hervorheb.) 291 Lass 1987, S. 170 292 Lass 1984, S. 8 <?page no="187"?> 187 “Stau aus dem Nichts” (Kapitel 4.1.). Ein solcher Stau entsteht, weil die jeweils nachfolgenden Autofahrer auf das Abbremsen des jeweiligen Vordermannes nach der Maxime reagieren: “Lieber ein bißchen stärker bremsen als zu wenig.” Auf diese Weise reduziert sich von Fahrzeug zu Fahrzeug die Geschwindigkeit bis zum Stillstand. An diesem Beispiel kann man die Richtigkeit von Lass‘ Theorie deutlich ablesen: Ein solcher Stau ist ein reales, relativ autonomes Gebilde, das nicht erklärt werden kann, wenn man sich auf das Wissen und die Perspektive der Partizipanten beschränkt. Diejenigen, die in den Stau gekommen sind, wissen nichts über seine Genese, und die, die ihn erzeugten, wissen nicht, daß sie einen Stau erzeugt haben. Jedem Einzelnen fehlt die zur Erklärung, ja selbst die zur angemessenen Beschreibung notwendige “historische” Perspektive. Aber was liefert “the God’s-eye view”? Nun, ich kenne Lass’ Religion nicht. Der Allwissende sieht, wie gesagt, alles; aber den scheint er nicht zu meinen. Er scheint vielmehr eine Perspektive “von oben” zu meinen, die den Zugang zur Sicht des Individuums ausschließt; vielleicht die eines Polizisten im Verkehrshubschrauber, dem die Gabe der Empathie fehlt. Dessen Information reicht jedoch zu einem Verständnis dessen, was “da unten” vor sich geht, evidentermaßen nicht aus. Um zu verstehen, was passiert, muß er das tun, was Verkehrsforscher selbstverständlich tun: Er muß die Perspektive von oben mit der Innenperspektive der einzelnen Akteure verbinden und die beiden Perspektiven zueinander in Beziehung setzen. Dann wird er den Stau als Epiphänomen des Strebens nach Sicherheit der einzelnen Fahrer erkennen, und seine Erklärung wird eine Erklärung mittels der unsichtbaren Hand sein. Roger Lass zieht aus seiner korrekten Diagnose den unangemessenen Schluß: “What we may need is an intelligible approach to an ‘ontology of pure form’, or a ‘theory of history for World 3 objects’.” 293 Ich bin mir über den Sinn des “or” in dieser Aussage nicht ganz sicher. Soll es andeuten, daß es zwei verschiedene Approaches gibt, entweder die Ontologie der reinen Form oder eine Theorie der Geschichte von Gegenständen der Welt 3? Oder soll das 293 Lass 1987, S. 170 <?page no="188"?> 188 zweite eine erläuternde Paraphrase des ersten sein? Ich vermute, daß diese Aussage im Paraphrasen-Sinn verstanden werden soll. Dann aber liegt nach meinem Verständnis eine sehr äußerliche Interpretation dessen vor, was die Welt 3 sein soll. Eine Theorie der Geschichte eines Gegenstandes der Welt 3 hätte genau jenen Rückkoppelungsprozeß zu erfassen, der zwischen dem Geist und dem Bewußtsein der Individuen und deren Erzeugnissen besteht. Mein Ich ist Produkt der Sprache, und ich bin (gemeinsam mit zahllosen anderen) ihr “Schöpfer”. Eine Theorie der Geschichte von Gegenständen der Welt 3 zu erstellen, die diesem Rückkoppelungsprozeß Rechnung trägt, wäre jedoch etwas ganz anderes als eine Ontologie der reinen Form. Eine solche Theorie müßte gerade die Sicht “von oben” mit der Innenperspektive der Akteure verbinden. Natürliche Sprachen sind Phänomene der dritten Art, und sie sind Gegenstände der Welt 3. Die Menge der möglichen Gegenstände der Welt 3 hat jedoch nicht die gleiche Extension wie die Menge der möglichen Phänomene der dritten Art. Die beiden Kategorien sind nach vollständig verschiedenen Kriterien gebildet. Die Gegenstände der drei Popperschen Welten unterscheiden sich - salopp gesagt - im Material, aus dem sie gemacht sind. Die Phänomene der ersten, zweiten und dritten Art unterscheiden sich - ebenso salopp gesagt - im Herstellungsverfahren. Die Gegenstände der Welt 1 sind physikalische Dinge, die der Welt 2 innere Erlebnisse und die der Welt 3 Ideen, Theorien, Hypothesen und dergleichen. Phänomene der ersten Art gibt es von Natur aus, die der zweiten Art sind planvoll hergestellte Erzeugnisse von Menschen, und Phänomene der dritten Art sind nicht intendierte, kausale, kumulative Konsequenzen menschlicher Handlungen. Man kann vom Material, aus dem ein Gegenstand besteht, nicht auf das Herstellungsverfahren schließen, nach dem er gemacht ist. Auch der umgekehrte Schluß ist nicht möglich. Aber bestimmte Kombinationen sind ausgeschlossen. Dies verdeutlicht die folgende Matrix. Eine mögliche Kombination ist durch “+” symbolisiert, eine unmögliche Kombination durch “-”. <?page no="189"?> 189 Welt 1 Welt 2 Welt 3 Naturphänomene + + - Artefakte + + + Phänomene der 3. Art + - + Diese Matrix besagt, daß es keine Naturphänomene in Welt 3 gibt, daß es Artefakte in allen drei Welten gibt, daß es in Welt 1 alle drei Arten von Phänomenen gibt, und daß es Phänomene der dritten Art nicht in Welt 2 gibt. Die erste Zeile ist trivial. Da Welt 3 die Welt der Erzeugnisse menschlichen Geistes ist und Naturphänomene per definitionem keine menschlichen Erzeugnisse sind, kann Welt 3 keine Naturphänomene enthalten. Bezüglich der zweiten Zeile ließe sich bezweifeln, ob es Artefakte in Welt 2, der Welt der psychischen Zustände geben kann. Ich glaube, daß Menschen in der Lage sind, Gefühle, Phantasien, Empfindungen und dergleichen willentlich in sich zu erzeugen, und daß es angemessen ist, solche Erlebnisse als Artefakte zu betrachten. Die Wertverteilung in der dritten Zeile ergibt sich aus der Tatsache, daß Gegenstände der Welt 2 als innere Ereignisse notwendigerweise individueller Natur sind, während Phänomene der dritten Art durch Handlungen vieler erzeugt werden. 294 Diese Matrix macht zweierlei deutlich. Daß sie weder identische Spalten noch identische Zeilen enthält, zeigt, daß jedes der beiden Klassifikationssysteme Unterscheidungen trifft, die vom anderen nicht getroffen werden können. Dies zeigt, daß das eine das andere nicht ersetzen kann, sondern sie sich ergänzen. Zweitens sagt diese Matrix etwas aus zur Frage der Priorität von I- und E-Phänomenen (vgl. Kapitel 5.4.). Eine Theorie kann ich im Kopfe haben und sie dann publizieren. Es wird damit zu einem Gegenstand der Welt 2 ein Gegenstand der Welt 3 geschaffen. Die Theorie wird sozusagen externalisiert. Auch der umgekehrte Weg ist denkbar und üblich. Ich lese ein Buch und mache mir eine Theorie zu eigen; ein Gegenstand der Welt 3 wird somit 294 Bzw. als Grenzfall durch die vielen Handlungen eines Einzigen. <?page no="190"?> 190 Teil meiner Welt 2. Eine Sprache als Phänomen der dritten Art hingegen kann nicht in mir entstehen und dann zu einem Gegenstand der Welt 3 “externalisiert” werden. Wohl aber kann ich ein Phänomen der dritten Art, eine Sprache, eine Religion, eine Moral und dergleichen mir partiell zu eigen machen. Das heißt: für die Sprache im Sinne Chomskys, für die Menge der Sätze also, die die I-Grammatik einer Person zu erzeugen bzw. als wohlgeformt zu beurteilen imstande ist, trifft zu, daß die inneren Zustände als Teil von Welt 2 das Primäre sind. Die von einer I- Grammatik definierte Menge von Sätzen, geäußert oder nicht, ist das davon Abgeleitete. Die Sprache, als Phänomen der dritten Art verstanden, ist primär ein Gegenstand von Welt 3, der vom Menschen partiell internalisiert werden kann. Für jeden e i n z e l n e n Menschen gilt: Die Existenz der Sprache in diesem Sinne ist unabhängig davon, ob e r Sprecher dieser Sprache ist. Die I-Grammatik eines real existierenden (nicht-idealen) Sprechers, der seine Sprache in einer realen (nicht-idealisierten) Sprachgemeinschaft erworben hat, dürfte normalerweise eine um einige Idiosynkrasien modifizierte, durch angeborene Fähigkeiten und Prinzipien ermöglichte partielle Internalisierung einer solchen Sprache, die als Phänomen der dritten Art in Welt 3 existiert, sein. <?page no="191"?> 191 6. Fazit 6.1. Sprachwandel als evolutionärer Prozeß Ich will mich in diesem Kapitel der Frage zuwenden, inwiefern die Sprachentwicklung einen Fall (sozio-)kultureller Evolution darstellt und welches die Mechanismen eines solchen evolutionären Prozesses sein könnten. Mit “Sprachentwicklung” ist hier nicht gemeint die Entstehung menschlicher Sprache bzw. Sprachen aus tierischen Vorformen, sondern die sprachgeschichtliche Entwicklung. Sprachentwicklung in diesem Sinne umfaßt, wie ich bereits in Kapitel 4.5. gesagt habe, notwendigerweise sowohl Stase als auch Wandel. Sprachhistoriker haben sich traditionellerweise stets vornehmlich dem Aspekt des Wandels zugewandt; wohl in der stillschweigenden Annahme “Wo sich nichts geändert hat, gibt es auch nichts zu erklären”. Eine sachliche Begründung für diese Präferenz gibt es meiner Ansicht nach nicht. So ist beispielsweise die Tatsache, daß sich die westgermanische Satzklammer (die Regel, daß im Hauptsatz bei komplexen Prädikaten der finite Teil des Prädikats an zweiter Stelle und die übrigen Teile des Prädikats am Satzende stehen müssen) im Deutschen, Niederländischen und Afrikaans gehalten hat, nicht weniger erklärungsbedürftig als die Tatsache, daß sie im Englischen vollständig und im Jiddischen nahezu vollständig (mit Ausnahme in Sätzen mit Präpositionalobjekten) verschwunden ist. 295 Im Bereich der Sprache gilt ja nicht: “Wenn wir nichts tun, bleibt alles beim alten”. Wenn wir “nichts tun”, gibt es die Sprache nicht mehr. Beim 295 Das Beispiel verdanke ich einer persönlichen Mitteilung von Roger Lass; ebenso den Hinweis, daß die Satzklammer auch im Deutschen im Begriff ist, gelockert zu werden. Vgl. “Ich habe schon besseren Wein als diesen getrunken” versus kolloquial “Ich habe schon besseren Wein getrunken als diesen”. <?page no="192"?> 192 alten hingegen bleibt alles, wenn wir unsere Ausdruckspräferenzen nicht ändern. Ob wir sie beibehalten oder ändern, in beiden Fällen treffen wir eine (meist unbewußte) Wahl, wovon die eine nicht mysteriöser ist als die andere. “It may be”, schreibt der Biologe John Maynard Smith, “that the search for the causes of constancy in human affairs may prove as fruitful as has the comparable study of homeostasis in biology.” 296 “Evolution der Sprache” soll also beides umfassen, Stase und Wandel. Die Verwendung des Wortes “Evolution” für soziale und kulturelle Bereiche stößt vielfach auf Mißtrauen, und zwar von zwei verschiedenen Seiten. Zum einen besteht prinzipiell der Verdacht, unangemessene Naturwissenschaftelei zu betreiben, zum andern besteht die Gefahr, in die sozialdarwinistische Schublade gesteckt zu werden. Da beide Sorgen, wenn man die Wissenschaftsgeschichte der Linguistik betrachtet, nicht ganz unbegründet sind, will ich präventiv kurz etwas dazu sagen. Der Wunsch vieler Linguisten, zum erlauchten Kreis der Naturwissenschaftler gehören zu dürfen, hat manchen dazu bewegt, sich in geradezu groteske Thesen zu versteigen. Wir konnten dies im Kapitel 3.2. am Beispiel Max Müllers oder August Schleichers sehen. Und daß dieser Wunsch auch heute noch ungemindert zu spüren ist, machten Chomskys Formulierungen sowie die seiner Anhänger deutlich (cf. Kapitel 5.4.). Deshalb sei hier ausdrücklich betont: Wenn ich die Auffassung vertrete, eine Theorie der Entwicklung der Sprache sei eine evolutionäre Theorie, so ist damit keinerlei Anspruch verbunden, eine naturwissenschaftliche Theorie zu vertreten. “Man beachte z.B. die Tatsache”, schreibt Coseriu, “daß die Wissenschaften vom Menschen noch immer nicht über einen eigenen Begriff verfügen, um den lästigen und unangemessenen Begriff Evolution zu ersetzen: die kulturellen Objekte haben historische Entwicklung und keine ‘Evolution’ wie Naturobjekte.” 297 An anderer Stelle schreibt er: “Das System entwickelt sich nicht im Sinne einer ‘Evolution’, sondern wird durch die Sprecher in Übereinstimmung mit ihren Ausdrucksnotwendigkeiten geschaffen.” 298 296 Maynard Smith 1972, S. 43 297 Coseriu 1958/ 1974, S. 154, Anm. 7 298 Coseriu 1958/ 1974, S. 246 <?page no="193"?> 193 In der Tat befinde ich mich, was die Verwendung der Ausdrücke “Evolution” und “genetisch” für das Kulturobjekt Sprache anbelangt, in - auch aus Coserius Sicht - guter Gesellschaft: “Denkt man sich (…) die Sprachbildung successiv, so muß man ihr, wie allem Entstehen in der Natur, ein Evolutionssystem unterlegen.” 299 Dies schreibt Wilhelm von Humboldt; und an anderer Stelle betont er, daß die “wahre Definition (der Sprache) (…) nur eine genetische seyn (könne).” 300 Meine Überlegungen stehen in einer sozialwissenschaftlichen Tradition, die auch auf die biologische Theorie gewirkt hat. Bentham, Smith und Malthus nennt Emil Rádl in seiner “Geschichte der biologischen Theorien” als Wegbereiter der Darwinschen Theorie: “Es war dies eine neue und großartige Vorstellung eines N a t u r h a u s h a l t s , in dem Tiere und Pflanzen als Glieder einer Gesellschaft, als Bürger der Natur (…) zu gelten haben (…). Es wäre kaum begreiflich, wie Darwin so sehr die soziologischen Theoretiker beeinflussen konnte, wenn man nicht wüßte, daß seine Lehre selbst eine S o z i o l o g i e d e r N a t u r darstellt, daß Darwin auf die Natur das zu seiner Zeit herrschende Ideal des englischen Staates übertrug.” 301 “So wie Adam Smith der letzte Moralphilosoph und der erste Ökonom war, so war Darwin der letzte Ökonom und der erste Biologe”, schrieb Simon N. Patton im Jahre 1899. 302 Und damit sind wir bei der zweiten Gefahr, dem Sozialdarwinismus-Verdacht. Jene Soziologen, die versuchten, Darwins Theorie auf die Gesellschaft zu übertragen, waren schlechte Biologen und schlechte Soziologen zugleich. Sie stellten Darwins Metaphern vom “Kampf ums Dasein” und “survival of the fittest” in den Dienst wissenschaftlich verbrämter Rechtfertigungen von Rassismus und Imperialismus. Dies gelang ihnen im wesentlichen dadurch, daß sie die Metapher des Kampfes wörtlich nahmen, um Kriege und Unterdrückung als naturnotwendige Gesetzlichkeit zu erweisen, und die These vom “Überleben des Tauglichsten (fittest)” stillschweigend als ein “Überleben des 299 von Humboldt 1836/ 1907, S. 149 300 von Humboldt 1836/ 1907, S. 46 301 Rádl 1909, S. 128 (Hervorheb. original) 302 Zit. nach von Hayek 1983, S. 172 <?page no="194"?> 194 Stärkeren” interpretierten. Was dabei herauskam, liest sich dann beispielsweise so: “Dauerhaft Gutes wird in dieser Welt nur durch Kampf und Blutvergießen entwickelt. Solange Ungerechtigkeit in dieser Welt existiert, sind das Schwert, das Gewehr und das Torpedoboot Teile des Evolutionsmechanismus dieser Welt, gesegnet wie jeder andere dazu gehörende Teil.” Oder: “Die Natur (…) wünscht nur die beste Rasse als herrschende (…). Das ist das Gesetz der Natur.” 303 “Die Sozialwissenschaftler”, schreibt von Hayek, “die im 19. Jahrhundert Darwin brauchten, um zu lernen, was sie von ihren eigenen Vorgängern hätten lernen sollen, erwiesen dem Fortschritt in der Theorie der kulturellen Evolution mit ihrem ‘sozialen Darwinismus’ einen schlechten Dienst.” 304 Vermutlich tut von Hayek den Sozialdarwinisten jedoch unrecht, wenn er ihnen unterstellt, sie wollten lernen. Ihnen ging es nicht darum, den Fortschritt der Theorie der kulturellen Evolution voranzutreiben, sondern vielmehr darum, die Akzeptanz der Kolonial- und Rassenpolitik durch eine rechtfertigende Ideologie zu unterstützen. In der Sprachwissenschaft hat meines Wissens sozialdarwinistisches Gedankengut kaum eine Rolle gespielt. Zwar verwendet auch Max Müller die Metapher vom Kampf ums Dasein, jedoch ohne sozialdarwinistische Implikationen: “In jeder Sprache findet beständig zwischen den Wörtern und grammatischen Formen ein Kampf ums Dasein statt. Die besseren, kürzeren und leichteren Formen gewinnen fortwährend die Oberhand, und sie verdanken ihren Sieg der eigenen ihnen innewohnenden Kraft.” 305 Mit eindeutig sozialdarwinistischem Zungenschlag findet diese Metapher bei August Schleicher Verwendung: Er glaubt beobachten zu können, daß Sprach-“Gattungen untergehen und andere sich auf ihre Kosten ausbreiten”, daß “beim Kampfe der Sprachen um ihre Existenz (…) vor allem die Sprachen indogermanischen Stammes die Sieger im Kampfe ums 303 Das erste Zitat stammt von einem gewissen Sir Nathaniel Barneby (1904), das zweite von Rowland Thirlmare (1907); beides zitiert nach Koch 1973, S. 96. Zum Sozialdarwinismus s. auch Dobzhansky 1962/ 1965. 304 von Hayek 1983, S. 173 305 Max Müller in “Nature” vom 6. Jan. 1870, S. 257. Zit. nach Darwin 1871/ 1893, S. 116 <?page no="195"?> 195 Dasein” sind, und daß auch bei Sprachen “die Erhaltung der höher entwickelten Organismen im Kampfe ums Dasein” unbestreitbar sei. 306 Mein Versuch, die sprachliche Entwicklung als evolutionären Prozeß zu begreifen, ist überhaupt nicht geprägt von dem Bestreben, ein naturwissenschaftliches Modell auf einen kulturwissenschaftlichen Gegenstand zu ü b e r t r a g e n . Mein Versuch ist vielmehr von dem Bestreben getragen, ein genuin kulturwissenschaftliches Modell, das der unsichtbaren Hand, auf die Sprachbetrachtung anzuwenden. Von der Theorie der unsichtbaren Hand zum Konzept der Evolution ist es sowohl in wissenschaftshistorischer als auch in systematischer Hinsicht nur ein kleiner Schritt. Die Theorie der Evolution der belebten Natur soll uns nur als heuristisches Modell dienen, im Vertrauen auf, wie Gerard, Kluckhohn und Rapoport in ihrem Aufsatz “Biological and Cultural Evolution” schreiben, “the fruitfulness of analogical thinking, properly controlled.” 307 Welche Bedingungen müssen bei einem historischen Entwicklungsprozeß erfüllt sein, damit man ihn mit Fug und Recht einen evolutionären nennen kann? Es sind derer drei: (i) Der Prozeß darf nicht teleologisch sein; d.h. es darf sich nicht um einen Prozeß handeln, der kontrolliert auf ein bestimmtes, im vorhinein gegebenes Ziel hin durchgeführt wird. Damit ist nicht ausgeschlossen, daß evolutionäre Prozesse eine bestimmte Richtung haben können. Auf keinen Fall aber müssen sie eine bestimmte Richtung haben; nicht einmal im Bereich der belebten Natur. 308 Die Durchführung einer Orthographiereform ist, auch wenn sie sich über biologische Zeiträume erstreckt, somit kein evolutionärer Prozeß (wenngleich evolutionäre Subprozesse darin stattfinden können). (ii) Es muß ein kumulativer Prozeß sein. “By evolution”, schreiben Gerard, Kluckhohn und Rapoport, “we mean the cumulative process of small changes.” 309 D.h. es handelt sich normalerweise um einen Prozeß, der von Populationen hervorgebracht wird, 306 Schleicher 1863, S. 28, S. 30 f. 307 Gerard, Kluckhohn, Rapoport 1956, S. 14 308 Maynard Smith 1972, S. 92 ff. 309 Gerard, Kluckhohn, Rapoport 1956, S. 15 <?page no="196"?> 196 nicht von einem einzigen Individuum. Ich sage “normalerweise”, denn es gibt Grenzfälle. Eine Maurerkelle bekommt mit der Zeit eine sehr spezifische Form dadurch, daß sie immer von ein und derselben Person mit ihren spezifischen Bewegungsgewohnheiten gehandhabt wird. Dieser Prozeß der Formung ist kumulativ und nicht teleologisch. Ist er evolutionär? Oder die Entwicklung meiner Individualkompetenz während meines Erwachsenenlebens; ist sie ein evolutionärer Prozeß? Es wäre meines Erachtens terminologische Willkür, solche Ein-Mann- Prozesse auszuschließen, wenngleich solche Prozesse sicherlich nicht das Zentrum dessen bilden, was man evolutionäre Prozesse nennen möchte. (iii) Die Dynamik des Prozesses muß auf einem Zusammenspiel von Variation und Selektion beruhen. Dies ist (wenn man von Zufallseffekten absieht) dann der Fall, wenn es, ganz allgemein gesprochen, Alternativen gibt, die im Hinblick auf einen gegebenen Zweck (bzw. eine gegebene Aufgabe) und im Hinblick auf eine gegebene Umgebung (bzw. auf gegebene ökologische Bedingungen) unterschiedlich geeignet sind. Betrachten wir - sehr vereinfacht - die Dynamik des Evolutionsprozesses am Beispiel der biologischen Evolution. Durch “Kopiefehler” in der Vererbung entsteht Mutation. Der durch Mutation entstandene neue Typus heißt Mutante. Der Zweck eines Lebewesens besteht darin, mehr Lebewesen seines Typus zu erzeugen. Wenn nun eine Mutation bewirkt, daß die neue Mutante in einer gegebenen Umwelt diesen Zweck besser zu erfüllen imstande ist als die bereits existierenden Typen, so ist zu erwarten, daß der relative Anteil des neuen Typus in der Population zunimmt, d.h. daß die Frequenz des neuen Typus steigt. Die relative Zahl von Nachkommen, mit der ein Typus in der nächsten Generation vertreten ist, kann man seine “fitness” nennen, seine biologische Tauglichkeit. 310 Die Definition von “fitness” scheint unter Biologen kontrovers zu sein. 311 Wichtig ist, daß “fitness” nichts mit der Stärke oder dem Überleben irgendeines Individuums zu tun hat. “Fitness” ist überhaupt keine meßbare Eigenschaft eines Individuums. Es ist ein statistischer Wert der 310 cf. Cavalli-Sforza 1971, S. 535 f. 311 cf. Huxley 1963, S. XVIII <?page no="197"?> 197 Fortpflanzungswahrscheinlichkeit eines Individuums eines bestimmten Typus relativ zu einer bestimmten ökologischen Umgebung. “The fitness W A (eines bestimmten Typus A (R.K.)) (…) can be defined for a particular environment only.” 312 So erhöht beispielsweise unter bestimmten Bedingungen starke Kurzsichtigkeit die biologische Fitness von Männern, wenn sie nämlich dazu führt, nicht zum Militär eingezogen zu werden. 313 Wenden wir uns nun, nach diesen allgemeinen Charakterisierungen, den Kulturobjekten zu, die ich Phänomene der dritten Art genannt habe, insbesondere der Sprache, und schauen, ob bzw. in welcher Weise die genannten Bedingungen erfüllt sind. Zu Bedingung (i): Die Sprachentwicklung ist eindeutig nicht teleologisch; sie dient nicht der Erreichung eines bestimmten vorgegebenen Ziels. Dies wurde im Zusammenhang mit der sogenannten Finalitätsthese hinreichend deutlich gemacht (vgl. Kapitel 4.3.). Es ist einer der Gründe, warum sie nicht prognostizierbar ist. Wohl aber ist Sprachentwicklung teilweise gerichtet (vgl. Kapitel 5.1.). Deshalb sind in einigen Bereichen Trendextrapolationen möglich. Zu Bedingung (ii): Sprachentwicklung ist eindeutig ein kumulativer Prozeß. Ein kumulativer Prozeß zu sein, ist ja gerade ein entscheidendes Charakteristikum der Phänomene der dritten Art. Auch dies wurde bereits hinreichend ausgeführt (vgl. Kapitel 4.1., 4.2.). Zu Bedingung (iii): Weniger offensichtlich liegt der Fall für die dritte Bedingung. In der Literatur fehlt es nicht an Bemerkungen dazu, daß auch in der Sprache der Mechanismus von Variation und Selektion wirksam sei; beispielsweise die bereits erwähnte Passage von Max Müller aus dem Jahre 1870: “In jeder Sprache findet beständig zwischen den Wörtern und grammatischen Formen ein Kampf ums Dasein statt. Die besseren, kürzeren und leichteren Formen gewinnen fortwährend die Oberhand, und sie verdanken ihren Sieg der eigenen ihnen innewohnenden Kraft.” 314 Hermann Paul 312 Maynard Smith 1972, S. 97 313 s. Maynard Smith 1972, S. 84 314 Max Müller in “Nature” v. 6. Jan. 1870. Zit. nach Darwin 1871/ 1893, S.116 <?page no="198"?> schrieb 1880 in den “Prinzipien zur Sprachgeschichte”: “Im übrigen spielt der Zweck bei der Entwicklung des Sprachusus keine andere Rolle, als diejenige, welche ihm Darwin in der Entwicklung der organischen Natur angewiesen hat: die größere oder geringere Zweckmäßigkeit der entstandenen Gebilde ist bestimmend für Erhaltung oder Untergang derselben.” 315 Der bekannte zeitgenössische Biologe und Evolutionstheoretiker Richard Dawkins ist der Meinung: “Sprachen unterliegen eindeutig einer Evolution.” 316 In seinem Buch “Das egoistische Gen” hat er das Analogisieren von biologischer Evolution und kultureller Evolution sehr weit getrieben und zu diesem Zweck sogar eine neue (vermutlich nicht ganz ernst gemeinte) Entsprechung für das Gen im Bereich der Kultur erfunden: das Mem. Meme sind, wie Gene, Replikatoren mit einer hohen Kopiergenauigkeit. “Kopiergenauigkeit ist ein anderes Wort für ‘Langlebigkeit in Gestalt von Kopien’.” 317 Meme sind sozusagen Gedächtniseinheiten, die gerade so groß sind, daß sie “en bloc” von einem Gedächtnis zum anderen übertragbar sind. “Beispiele eines Mems sind Melodien, Gedanken, Schlagworte, Kleidermode, die Art, Töpfe zu machen oder Bögen zu bauen.” 318 Sprachliche Einheiten wie Wörter, Idiome, die Art, etwas zu artikulieren oder wie man einen Plural bildet, sind natürlich auch Meme. “So wie Gene sich im Genpool vermehren, indem sie sich mit Hilfe von Spermien oder Eiern von Körper zu Körper fortbewegen, so verbreiten sich Meme im Mempool, indem sie von Gehirn zu Gehirn überspringen mit Hilfe eines Prozesses, den man in einem allgemeinen Sinn als Imitation bezeichnen kann.” 319 Wie Gene tun sich auch einige Meme zu ko-adaptierten Memkomplexen zusammen, um ihren Überlebenswert bzw. ihren Ansteckungswert zu erhöhen. Sowohl das Mem “Gott” als auch das Mem “Fegefeuer” wäre, jedes für sich allein, längst nicht so erfolgreich, wenn sie sich nicht zusammengetan und zusammen mit dem Mem “Glauben” einen Memkomplex gebildet hätten. 320 198 315 Paul 1880/ 1920, S. 32 316 Dawkins 1986/ 1987, S. 260 317 Dawkins 1976/ 1978, S. 34 318 Dawkins 1976/ 1978, S. 227 319 Dawkins 1976/ 1978, S. 227 320 Dawkins 1976/ 1978, S. 233 <?page no="199"?> 199 Meme konkurrieren miteinander. Beispielsweise um knappen Speicherplatz. Es gibt, wie bei den Genen, “auch bei den Memen einige, die im Mempool erfolgreicher sind als andere. Dies entspricht der natürlichen Auslese.” 321 “Sobald die sich selbst kopierenden Meme erst einmal entstanden waren, setzte ihre eigene (…) Art von Evolution ein.” 322 Ich will die Darstellung des Dawkinsschen Analogiespiels hier abbrechen und selbst noch ein wenig weiterspinnen, und zwar sprachspezifischer. Doch eines sei vorweg schon angemerkt. Max Müllers Wörter und Formen, die ums Dasein kämpfen, und Richard Dawkins’ Meme, die um höhere Frequenz im Mempool konkurrieren, haben eines gemeinsam: Sie werden zu Akteuren stilisiert. Doch phantasieren wir erst einmal weiter. Wir könnten uns analog zum Genpool, das ist die Menge der Gene einer Gesamtpopulation, einen Sprachmempool vorstellen. Das wäre die Menge aller sprachlichen Meme einer Sprachgemeinschaft, also aller sprachlichen Einheiten, die gerade groß genug sind, daß sie von einer Individualkompetenz in eine andere gelangen können. Es handelt sich dabei um eine Art Infektion. 323 Man wird infiziert durch Gebrauch und Übernahme, also durch Lernen. Anders als Gene, die in einem Körper für dessen ganzes Leben bleiben, kann ein Sprachmem auch wieder die Kompetenz “verlassen”, durch Vergessen. Gene haben Allele. Wo ein Gen für blaue Augen ist, kann das für braune Augen nicht sein. Allele sind Rivalen für ein und denselben Ort auf einem Chromosom. Auch Sprachmeme haben Allele. Es sind Rivalen um einen “Platz” in der Rede. Man könnte sie Ausdrucksalternativen nennen, alternative Ausdrücke mit gleicher Funktion. Beispielsweise kann die Besitzrelation zwischen meiner Schwester und deren Fahrrad in meiner Kompetenz auf mindestens fünf Weisen ausgedrückt werden: durch den sächsischen Genitiv (meiner Schwester Fahrrad), durch das nachgestellte Genitivattribut (das Fahrrad meiner Schwester), durch die Präpositionalphrase (das Fahrrad von meiner Schwester), durch den Pertinenzdativ (meiner Schwester ihr Fahrrad) sowie 321 Dawkins 1976/ 1978, S. 229 322 Dawkins 1976/ 1978, S. 229 323 Cavalli-Sforza 1971, S. 537; cf. auch de Saussure 1916/ 1967, S. 248: “ansteckende Berührung” <?page no="200"?> 200 durch einen Relativsatz (das Fahrrad, das meiner Schwester gehört). Diese fünf Allele konkurrieren um einen “Platz” in der Rede, den Ausdruck der Possessiv-Funktion. Auch grammatische Formen (Kommata vs. Kommas) oder Aussprachevarianten ([ki: na] vs. [çi: na]) stehen in Konkurrenz, sind somit Allele. Synonyme sind Allele par excellence. Der Haken an der Dawkinsschen Analogie scheint mir zu sein, daß seine “sich selbst kopierenden Meme” unrealistisch aktiv sind, daß sie als Replikatoren betrachtet werden. Er könnte sich mit dieser Ansicht auf einen berühmten Vorgänger berufen: “A transmittable idea constitutes an autonomous entity (…) capable of preserving itself, of growing, of gaining in complexity; and is therefore the object of a selective process”, schrieb Jacques Monod. 324 Dies ist eine moderne Form des kulturellen Vitalismus. Gene t u n ja wirklich etwas. Sie sind wirklich Replikatoren. Sie tun sich zusammen zu Körpern (Pflanzen, Tieren und Menschen), um sich ihrer zur Replikation zu bedienen. Ein Gen “will” nichts anderes, als im Genpool möglichst häufig vertreten zu sein. Dies erreicht es, indem es zum Bau eines Körpers beiträgt, der möglichst “fitter” ist als andere Körper, die dieses Gen nicht enthalten. Ein “gutes Gen” ist eines, das “effiziente Körper” 325 macht. Meme hingegen bedienen sich nicht der Gehirne, um sich zu replizieren. In dieser Analogie ist die Relation von Hersteller und Produkt auf den Kopf gestellt. Wir sind Produkt unserer Gene, aber Hersteller unserer Meme. Nun könnte man einwenden: jedoch nicht aller! Das meiste dessen, was Du im Kopf hast, hast Du von anderen. Der Einwand ist korrekt. Es ist sogar richtig, daß ich mich gegen das “Eindringen” eines Mems meist gar nicht schützen kann. Insofern ist auch die Metapher der Infektion treffend. Ich kenne Wörter oder Theorien, die ich gar nicht lernen wollte. Aber die Eindringlinge zwingen mich nicht, zu ihrer Vermehrung beizutragen. Für den Unterschied zwischen aktivem und passivem Besitz gibt es in der Natur keine Entsprechung. Ein Sprachmem bedient sich nicht des Menschen zum Zwecke seines Reproduktionserfolgs (wie es die Gene tun), son- 324 Monod 1969, S. 16. Zit. nach Toulmin 1972, S. 319 325 Dawkins 1976/ 1978, S. 102 <?page no="201"?> 201 dern Menschen bedienen sich der Sprachmeme zum Zwecke des Kommunikationserfolgs; oder allgemeiner gesagt: des sozialen Erfolgs. Was ist ein gutes Sprachmem? Die Frage läßt sich nicht so glatt beantworten wie die nach dem guten Gen. Das hat zwei Gründe: zum einen die aktiv-passiv-Asymmetrie. Es kann für mich sehr nützlich sein, auch Sprachformen zu kennen, die ich selbst nie verwenden würde; selbst solche, deren Verwendung ich verabscheue. Mehr verstehen zu können ist besser, als weniger verstehen zu können. Unter diesem Aspekt kann meine Individualkompetenz gar nicht groß genug sein. Jedes Mem ist ein gutes Mem aus der Perspektive des Besitzers. Aus der des Benutzers sieht die Sache anders aus. Nun kommt der zweite Grund: Gute Sprachmeme sind solche, deren Benutzung meine kommunikativen Handlungen zu dem von mir gewünschten Erfolg führen. Wer was als Erfolg zählt, ist, wie wir (in Kapitel 4.5.) gesehen haben, sehr verschieden. Für das Gen zählt lediglich die hohe Frequenz. Die jedoch kann vom Sprecher bei einer sprachlichen Einheit gerade unerwünscht sein. Sozialer Erfolg kann unter Umständen mit dem Maß der Ausgefallenheit sprachlicher Mittel korrespondieren. Wenn Dawkins meint, daß auch bei den Memen einige “im Mempool erfolgreicher sind als andere”, und daß “dies (…) der natürlichen Auslese (entspricht)”, so wird, mindestens was die sprachliche Evolution betrifft, die Sache zu einfach gesehen. Der Selektionsmechanismus umfaßt zwei Ebenen, die in einer Rückkoppelungsbeziehung stehen. Um diesen Mechanismus darstellen zu können, muß ich etwas weiter ausholen. Jeder Mensch, der eine Sprache beherrscht, verfügt über eine bestimmte Kompetenz. Ich meine nicht die idealisierte, die Linguisten meinen, wenn sie den Gegenstand einer Grammatik benennen wollen, sondern die real existierende. Ich will sie, wie ich es bereits getan habe, Individualkompetenz nennen. Sie enthält die Chomskysche I-Grammatik, aber darüber hinaus noch viel mehr: Strategien, Maximen, vor allem auch Annahmen über die Individualkompetenzen anderer. Sie enthält Verhaltenserwartungen und Erwartungserwartungen, wie wir sie im Zusammenhang mit der Humboldt-Maxime kennengelernt haben. Es gibt keine zwei Individualkompetenzen, die miteinander identisch <?page no="202"?> sind. Es dürfte beispielsweise keine zwei Menschen geben, die über exakt denselben Wortschatz verfügen. Unsere Kompetenz ist nicht so beschaffen, daß wir für ein gegebenes Kommunikationsziel ein Mittel hätten, das für alle Adressaten und in allen Situationen geeignet wäre. Eine bekannte Autoreifenfirma machte einmal Reklame sinngemäß mit der Feststellung: “Es gibt keinen Reifen für jedes Wetter, aber für jedes Wetter gibt es einen Reifen.” Dies trifft mutatis mutandis auch auf unsere Sprachkompetenz zu: Es gibt kein sprachliches Mittel für jede Situation, aber für jede Situation ein Mittel; vorausgesetzt, die Kompetenz ist reich genug. Die Individualkompetenz eines Menschen hat den Charakter einer Hypothese. 326 Meine Kompetenz ist meine Hypothese darüber, wie ich meinen jeweiligen Gesprächspartner in der jeweiligen Situation dazu bringen kann zu glauben, was ich ihn glauben machen möchte, zu tun, was ich ihn tun machen möchte, oder zu empfinden, was ich ihn empfinden machen möchte. Es ist eine bekannte Tatsache, daß Sprecher kein theoretisches Wissen von ihrer Sprache haben. Beispielsweise sindwir kaum in der Lage, die Verwendungsregeln von Ausdrücken, die wir tagtäglich gebrauchen, zu formulieren. (Wenn Sie aufgefordert würden, die Regeln des Gebrauchs des Wortes “Kopf” zu formulieren, würden Sie möglicherweise nicht daran denken, daß man nicht sagen kann “Ich habe Zähne im Kopf” oder “Ich habe eine Nase am Kopf”, wohl aber “Ich habe Ohren am Kopf”.) Die Asymmetrie unseres sprachlichen Wissens hängt unmittelbar mit dem Hypothesencharakter zusammen. Wir sind sozusagen nicht in der Lage, unsere Hypothesen “rückwärts zu lesen”. Wir haben für jede gegebene Sprachverwendungssituation eine Hypothese parat, welches sprachliche Mittel das angemessene, das vermutlich erfolgreiche ist; wir haben jedoch für ein gegebenes sprachliches Mittel keine Hypothese parat, in welchen Sprachverwendungssituationen es angemessenerweise gebraucht werden kann. Die Individualkompetenz ist eine problemorientierte Hypothese; sie ist keine regelorientierte Hypothese. (Letzteres aus ersterem abzuleiten, ist eine der Aufgaben eines Linguisten.) 202 326 cf. Mauthner 2 1906, Bd. 1, S. 6 <?page no="203"?> 203 Aus dem Hypothesencharakter meiner Individualkompetenz folgt der Experimentalcharakter meiner kommunikativen Unternehmungen. Immer, wenn ich mit einem Anderen in kommunikativen Kontakt trete, führe ich ein kleines soziales Experiment durch. Wie wir in Kapitel 4.5. gesehen haben, verfolgen wir beim Kommunizieren meist mehrere Ziele gleichzeitig, wovon das, verstanden zu werden, nur eines unter vielen ist. Um alle Ziele zu erreichen, muß einiges zusammenkommen. Der Sprecher muß die Situation richtig eingeschätzt haben, den Gesprächspartner, dessen Individualkompetenz, dessen Hintergrundwissen sowie dessen Erwartungen an den Sprecher selbst; und schließlich muß er die adäquaten sprachlichen Mittel gewählt haben. Bei all diesen “Kalkulationen” kann es zu Fehleinschätzungen kommen. Beim alltäglichen Kommunizieren wird uns meist nicht bewußt, daß wir laufend kleine Experimente durchführen. Das liegt daran, daß die meisten erfolgreich für uns ausgehen; daß unsere Individualkompetenz eine gute Hypothese ist, die für die Alltagssituationen gut ausgetestet ist. Aber es gibt Situationen, wo uns das Risiko des partiellen oder vollkommenen Mißerfolgs sehr bewußt ist: ein Bewerbungsgespräch führen, eine Frau im Café ansprechen, ein Verkaufsgespräch führen oder auch sich einer Fremdsprache bedienen. Die These, daß die Individualkompetenz Hypothesencharakter und deren Gebrauch Experimentalcharakter hat, verpflichtet - nebenbei bemerkt - selbstverständlich nicht zu einer lerntheoretischen Spracherwerbstheorie. Die These sagt beispielsweise nichts darüber aus, wie groß der phylogenetisch erworbene und somit ontogenetisch gegebene, und wie groß der ontogenetisch erworbene Anteil der Hypothese ist. Experimente, die gelingen, bestätigen die Hypothese; solche, die teilweise oder ganz mißlingen, führen kluge Experimentatoren zur Modifikation ihrer Hypothese. Nun sind wir wieder bei unserem Problem des Mechanismus von Variation und Selektion in der Sprache angelangt. Es stellen sich prinzipiell zwei Fragen: die nach der Selektionsebene und die nach der Selektionsinstanz. Biologen sind sich nicht ganz einig darüber, auf welcher Ebene Selektion stattfindet, auf der des Gens, des Individuums, der Gruppe oder der Art. Für die sprachliche Evolution kommen <?page no="204"?> 204 meines Erachtens zwei Ebenen als möglich in Frage: die Ebene des Individuums oder die Ebene der sprachlichen Einheit. (Die von Schleicher vertretene Ansicht, daß Sprachen oder gar Sprachfamilien gegeneinander einen “Kampf ums Dasein” führen und - wie soll es anders sein - die Indogermanischen Sprachen den Sieg davontragen, aufgrund welcher Selektionskriterien auch immer, wird man heute nicht mehr in Erwägung zu ziehen brauchen.) Bezüglich der Selektionsinstanzen scheint unter Biologen mehr Einigkeit zu herrschen. In der Biologie werden (in unterschiedlicher Terminologie) zwei Selektionstypen nach ihren Selektionsinstanzen unterschieden: phänotypische Selektion (auch “survival selection”) und genotypische Selektion (auch “reproductive selection”). 327 Selektionsinstanz der phänotypischen Selektion ist die Umwelt; sie führt zu Anpassung an die ökologischen Bedingungen. Selektionsinstanz der genotypischen Selektion sind die Geschlechtspartner bzw. die Geschlechtspartnerinnen. Beide Selektionen können einander zuwiderlaufende Tendenzen haben. Ein Hirsch würde vermutlich für das Leben im Gebüsch ohne ausladendes Geweih besser ausgerüstet sein. Aber es hilft alles nichts, ein geweihloser Hirsch wird nicht die Chance bekommen, seine wohladaptierte Gestalt an Nachkommen zu vererben. Es gibt im Bereich der menschlichen Kultur analoge Selektionstypen. (Pfennigabsätze scheinen ausschließlich der Antizipation reproduktiver Selektion zu verdanken zu sein.) Für die sprachliche Evolution kann ich keinen Grund erkennen, d i e s e beiden Typen auseinanderzuhalten. Hingegen müssen meiner Ansicht nach zwei andere Selektionstypen unterschieden werden. Eine Selektion, die von außen kommt, und eine, die der Sprecher selbst vornimmt. Sie betreffen unterschiedliche Selektionsebenen, sind aber miteinander gekoppelt. 328 Ich will die Selektion von außen “soziale Selektion” nennen und die von innen “linguistische Selektion”. Die soziale Selektion betrifft die Person, die linguistische Selektion betrifft sprachliche 327 s. Huxley 1963, S. XIX ff. 328 cf. Toulmin 1972/ 1978, S. 394 f. <?page no="205"?> 205 Einheiten. Zwischen beiden findet ein Rückkoppelungsprozeß statt. Betrachten wir ein Beispiel: Emil bewirbt sich schriftlich bei Meister Müller um eine Lehrstelle. Emil wird sein Bewerbungsschreiben so gut formulieren, wie er kann. Er wird wissen, daß von der sprachlichen Form des Bewerbungsschreibens einiges abhängt. Er wird somit bemüht sein, seine sprachlichen Mittel so zu wählen, wie er glaubt, Meister Müller den Eindruck vermitteln zu können, daß er der geeignetste der Kandidaten ist. Das heißt, Emil wird die zu erwartende soziale Selektion antizipieren und auf der Basis dieser Antizipation die linguistische Selektion seiner sprachlichen Mittel ausüben, indem er aus den Ausdrucksalternativen, die seine Individualkompetenz zur Verfügung hält, diejenigen auswählt, von denen er sich den erstrebten Erfolg erwartet. Dies ist sein kommunikatives Experiment. Nehmen wir an, das Experiment mißlingt; Emil bekommt die Stelle nicht. Wenn er ein kluger Experimentator ist, wird er sich sein Bewerbungsschreiben daraufhin noch einmal anschauen. Von Meister Müller wird er keine Hilfestellung erwarten können. Dessen Absage betrifft die Person, nicht die sprachlichen Mittel. Die Sprache wird im allgemeinen als Teil der Person gesehen. Die Diagnose für das Scheitern des Experiments bekommt Emil nicht mitgeliefert. Die muß er selbst erstellen und gegebenenfalls ein neues, auf der Basis seiner Diagnose modifiziertes Experiment starten. Wir befinden uns in einer ständigen Selektionsspirale: linguistische Selektion - soziale Selektion - Diagnose - linguistische Selektion - etc. Was das Verfahren so riskant macht, ist, daß wir erstens nie wissen, ob die ökologischen Bedingungen beim nächsten Mal hinreichend ähnlich sind, und zweitens nie sicher sein können, ob unsere Diagnosen stimmen. Ich könnte auch dann nicht sicher sein, wenn mir mein Adressat eine Diagnose lieferte. Denn auch er könnte sich irren. Es gibt noch einen Rückkoppelungskreis viel größerer und indirekterer Natur: Emils Beitrag zum Invisible-hand-Prozeß! Denn auch Emil trägt mit seinem Bewerbungsschreiben sein Scherflein bei zur Aufrechterhaltung und zur Modifikation geltender Konventionen. Möglicherweise hat Emil einige Konventionen, die der Meister als unbedingt geltende ansah, verletzt <?page no="206"?> und deswegen den Job nicht bekommen. Aber wenn seine Regelverletzung nicht ausgesprochen idiosynkratisch war, sondern beispielsweise eine, die in der gesprochenen Sprache toleriert wird, nicht aber in der geschriebenen, dann hat er mit seiner Normüberschreitung möglicherweise seinen Beitrag zu einem Invisible-hand-Prozeß geleistet, an dessen Ende eine neue Konvention steht. Auf diese Weise sind wir ständig damit beschäftigt, an der Etablierung von Normen mitzuarbeiten, an denen wir dann später möglicherweise scheitern können. 6.2. Resümee und Plädoyer für Erklärungsadäquatheit Die Arbeit stellt den Versuch dar, “der Sprachgeschichte eine Wissenschaft zur Seite (zu stellen), welche sich mit den allgemeinen Lebensbedingungen des geschichtlich sich entwickelnden Objektes beschäftigt”. 329 Eine Kosmologie der Sprache ist die Bedingung der Möglichkeit erklärender Sprachgeschichtsschreibung. Diese Arbeit ist mit dem Ziel geschrieben, ein Bild der Sprache zu entwerfen, dem ihr “beständiger Wandel” 330 nichts Äußerliches ist. Damit ist keineswegs die viel stärkere These verbunden, daß beständiger Wandel eine wesentliche, eine notwendige Eigenschaft natürlicher Sprachen sei (cf. Kapitel 1.2.). Diese These würde besagen: Es gibt mindestens eine Eigenschaft (oder ein Konjunkt von Eigenschaften) natürlicher Sprachen, aus der ihr ständiger Wandel mit logischer Notwendigkeit folgt. Eine solche Eigenschaft ist mir nicht bekannt. Es hat sich gezeigt, daß es Eigenschaften unserer Sprachverwendung gibt, aus denen der beständige Wandel unserer Sprache mit Notwendigkeit folgt (cf. Kapitel 5.1.). Für die These, daß diese Eigenschaften auf wesentliche Eigenschaften der menschlichen Art zurückgeführt werden können, müßten die Argumente ebenfalls erst noch auf den Tisch gelegt werden. “Der Strom der Sprache fließt ununterbrochen dahin”, 331 schreibt de Saussure. Aber mit dem Erweis der Notwendigkeit 206 329 Paul 1880/ 1920, S. 1 330 Paul 1910, S. 369 331 de Saussure 1916/ 1967, S. 167 <?page no="207"?> 207 tat auch er sich schwer: “Worauf ist aber die Notwendigkeit der Veränderung begründet? ” fragt er und gibt die hilflose Antwort: “Die Zeit ändert alles; es gibt keinen Grund, warum die Sprache diesem allgemeinen Gesetz enthoben sein sollte.” 332 Auch wenn wir die Frage der Notwendigkeit des beständigen Wandels der Sprache in Ermangelung hinreichender Argumente offenlassen müssen, so bleibt doch die Tatsache bestehen, daß Sprachwandel f a k t i s c h in allen natürlichen Sprachen überall und zu allen Zeiten zu verzeichnen ist. Der Mangel eines Gegenbeispiels legt jedenfalls nahe, diese Hypothese als Tatsache zu nehmen. Will man sie verstehen, so ist es erforderlich, einen Sprachbegriff zu entwickeln, dem diese Tatsache nicht fremd oder äußerlich gegenübersteht; wie etwa dem Chomskyschen Begriff der Sprache und Linguistik (cf. Kapitel 5.4.), in dessen Rahmen sich die Frage nach dem Sprachwandel nicht einmal sinnvoll formulieren läßt. Auch dem klassischen strukturalistischen Sprachbegriff ist Wandel etwas weitgehend Äußerliches, etwas, das mit Störungen zu tun hat. “Eine Sprache (…) e r l e i d e t (…) Umgestaltungen”, formuliert de Saussure bezeichnenderweise. 333 Wer die Sprache ausschließlich als System von Symbolen betrachtet, das die Welt widerspiegelt und dazu dient, Ideen oder Gedanken auszutauschen, der wird geneigt sein, im Sprachwandel hauptsächlich einen Mechanismus zu sehen, der dazu da ist, interne Systemschwächen (wie die vielzitierten Homonymenkonflikte) auszubügeln, oder das Abbild “Sprache“ wieder dem Urbild “Welt“ anzupassen, wenn sich das Urbild dem Abbild davonentwickelt hat. Wir haben gesehen (Kapitel 1.1., 5.1.), daß in Wahrheit Veränderungen auf seiten der Welt weder notwendig noch hinreichend sind für Veränderungen auf seiten der Sprache. Wandel der Sprache ist vielmehr eine notwendige Folge unserer Art und Weise, von ihr Gebrauch zu machen (wobei wir es, wie gesagt, dahingestellt sein lassen wollen, ob die Art und Weise unseres Gebrauchs der Sprache selbst wieder mit Notwendigkeit aus der menschlichen Natur folgt). 332 de Saussure 1916/ 1967, S. 90 f. (cf. auch S. 87) 333 de Saussure 1916/ 1967, S. 121 (Hervorheb. R.K.) <?page no="208"?> 208 Eine der grundlegenden Thesen dieses Buches ist, daß eine natürliche Sprache vor allem ein Mittel der Beeinflussung ist, d.h., daß Kommunizieren eine artspezifische Methode ist, den anderen zu etwas Bestimmtem zu bringen. Wer sich darauf einläßt, die Sprache unter diesem Aspekt zu betrachten, der wird sogleich erkennen, daß beim Anwenden dieser “Methode” Strategien ins Spiel kommen, Erfolg und Mißerfolg eine Rolle spielen, Hypothesen über Partner-, Ziel- und Situationsadäquatheit wichtig werden; lauter Begriffe, die die Dynamizität der Mittel dieser “Methode der Beeinflussung” unmittelbar nahelegen. Entwickelt wurde dieser Gedanke ausgehend von einem fiktiven Sprachursprungsszenario (Kapitel 2.1.), dem Märchen vom Affenmenschen Karlheinz und seinen Genossen (die sehr stark Bruno Streckers Kleinweltlern nachempfunden sind). Diese Geschichte dient zugleich der Erläuterung eines wichtigen Aspekts des Wesens einer Sprache und der Erläuterung des diesem Aspekt adäquaten Erklärungsmodus. Die Sprache wird aufgefaßt als “invisible-handy” entstehender “Beeinflussungsbrauch”, als Phänomen der dritten Art, entstanden ohne Plan und Entstehungsabsicht aus den natürlichen Verhaltensweisen des Menschen, den “known principles of human nature“, 334 wie Dugald Stewart gesagt haben würde. Die These, daß eine sog. natürliche Sprache ein Phänomen der dritten Art sei, und daß die Erklärung mittels der unsichtbaren Hand der diesem Typus von Phänomenen einzig adäquate Erklärungsmodus sei, ist die zentrale These dieses Buches. Diese These weist über die Sprachbetrachtung hinaus: Man kann, was Kultur ist, was soziokulturelle Phänomene sind, in entscheidenden Aspekten nicht begreifen, wenn man sie nicht als Phänomene der dritten Art sieht. Dies ist ein Korollarium dieser These. Sprachwandel ist ein Spezialfall soziokulturellen Wandels. Es liegt mir fern, damit einen begrifflichen Hegemonialanspruch zu verbinden. Es wird keineswegs geleugnet, daß eine Sprache (auch) ein System von Zeichen oder Symbolen ist, daß sie ein Code ist, daß sie ein Gegenstand der Popperschen Welt 3 ist, daß sie eine Humboldtsche energeia ist, oder daß sie unter dem Chomskyschen Aspekt der I-Grammatik sinnvoll betrachtet 334 Stewart 1858/ 1971, S. 34 <?page no="209"?> 209 werden kann. Die These lautet nicht: Die Sprache ist nicht dies, sondern jenes. Die Frage, was die Sprache “eigentlich” ist, ist im Grunde naiv. Es geht nicht darum, was die Sprache “ist”, sondern darum, als was man sie betrachten sollte, wenn man bestimmte Fragestellungen im Auge hat. Die These lautet somit: Wenn man am Faktum des Sprachwandels interessiert ist und an dessen Erklärung, so ist es angemessen, eine natürliche Sprache unter dem Aspekt zu betrachten, ein Phänomen der dritten Art zu sein. Die Kenntnis der Geschichte eines Problems vertieft die Einsichten in das Wesen des Problems. In den Kapiteln 1 bis 3 wurde das Problem entwickelt, unter vielfältigem Rekurs auf die Wissenschaftsgeschichte. Dabei wurde bewußt der Versuch vermieden, einen systematischen Teil von einem wissenschaftshistorischen “sauber” zu trennen. Mein Ziel war es nicht, eine (auch nur teilweise) historiographische Abhandlung zu schreiben, sondern das Problem der Genese und des Wandels mit dem Wandel und der Genese des Problems zu verbinden. Die Fragen zum “Leben” und “Wachsthum” der Sprache, die von den Sprachwissenschaftlern des 19. Jahrhunderts aufgeworfen worden waren, wurden ja nicht etwa gelöst. Sie verschwanden einfach; und zwar dadurch, daß man im Zuge des durch de Saussure ausgelösten Paradigmenwechsels andere Fragen für dringlicher hielt. Mit dem Ende der Organismusmetaphorik für die Sprache verschwand auch das Interesse am “Leben” der Sprache. Somit galt es mit dieser Arbeit an die Fragen anzuknüpfen, in deren Tradition sie steht: Die Arbeit versucht, Probleme, die die vornehmlich deutsche Sprachwissenschaft des (späten) 19. Jahrhunderts aufgeworfen hatte, und in die sie sich zumTeil verrannt hatte (cf. Kapitel 3.2.), aufzugreifen und zu lösen mit Ideen, die in der vornehmlich schottischen Sprach- und Sozialphilosophie des 18. Jahrhunderts formuliert worden waren. Die Kapitel 1 bis 3 dienten der historisch-systematischen Entwicklung des Problems und seines Lösungsweges; in den Kapiteln 4 bis 6 folgte eine Explikation der Theorie, die die Probleme zu lösen beansprucht: die Theorie der Phänomene der dritten Art und ihres Erklärungsmodus der unsichtbaren Hand. Gegen diese Theorie oder Teile davon wurde verschiedentlich Kritik vorgebracht. Ich habe andernorts darauf geantwortet <?page no="210"?> 335 und will dies hier nicht wiederholen. Auf einen Einwand möchte ich jedoch eingehen. Mit der in dieser Arbeit vorgetragenen Theorie wird der Anspruch erhoben, daß die Invisible-hand-Erklärung die einzige Form ist, in der Sprachwandel erklärt werden kann. Dieser Anspruch erscheint in der Tat unnötig intolerant und dogmatisch zu sein. Aber er folgt aus dem dargelegten Sprachbegriff, und außerdem ist auch keine andere Erklärungsform bekannt. Roger Lass hat in seinem Buch “On Explaining Language Change” mit - nach meiner Ansicht - guten Argumenten nachgewiesen, daß die in der Sprachwissenschaft angebotenen Erklärungen sich bei genauerer Betrachtung als Scheinerklärungen entpuppen, frei von explanativer Kraft. “The supposed explanations reduce either to taxonomic or descriptive schemata (which, whatever their merits - and they are considerable (…) - are surely not explanations), or to rather desparate and logically flawed pseudoarguments.” 336 Wer der Meinung ist, daß es einen anderen Erklärungsmodus für Phänomene des Sprachwandels (mit Ausnahme der wenigen Beispiele autoritativer Sprachfestsetzungen wie DIN-Terminologie, Orthographiereformen oder Umbenennungen (Reichsbahn > Bundesbahn etc.)) gibt, der sollte zeigen, daß Lass’ Argumente ungültig sind, oder andere Erklärungsmodi vorführen und zeigen, daß es sich dabei tatsächlich um Erklärungen handelt. Man könnte sich auch eine andere Strategie vorstellen: Man argumentiere dafür, daß die Forderungen, die hier an eine Erklärung gestellt wurden (Kapitel 4.2.), unangemessen rigide sind; man plädiere für einen schwächeren Erklärungsbegriff, zeige, daß auch ihm erklärende Kraft zukommt, und behaupte, daß ein solcher Erklärungsbegriff der Sprachwissenschaft angemessen ist. Diese Strategie scheint Rudolf Windisch im Auge zu haben. Er plädiert in Auseinandersetzung mit Roger Lass für einen Erklärungstypus, den er “‘korrekte’ sprachwissenschaftliche Erklärung” 337 nennt. (Weshalb er “korrekt” durchweg in einfache An- 210 335 cf. Keller 1984, Keller 1987 336 Lass 1980, S. XI 337 Windisch 1988, S. 114, 116 <?page no="211"?> 211 führungszeichen setzt, erläutert er nicht.) Eine “‘korrekte’ sprachwissenschaftliche Erklärung” besteht offenbar beispielsweise darin, “a) sprachinterne Gründe (z.B. funktionalistische Explikationsschemata wie Systemausgleich, Ökonomie, Vermeidung von Homonymie usw.); b) externe Gründe (Substrat-Superstrat-Wirkung; das Prestige einer sozial angesehenen Gruppe usw.)” 338 zu nennen. Als Beispiel wählt Windisch (u.a.) den berühmten Fall einer sog. Homonymenflucht im Gascognischen: Im Gascognischen heißt der Hahn bigey (das sich von lat. vicarius herleitet) und nicht, wie gemäß der Lautentwicklung vom Lateinischen zum Gascognischen zu erwarten wäre, gat; denn - so lautet die “Erklärung” - die Lautentwicklung vom Lateinischen zum Gascognischen war dergestalt, daß sowohl lat. cattus ‘Katze’ als auch gallus ‘Hahn’ im Gascognischen zu gat werden mußten. Dies ist das “klassische” Erklärungsmuster “Homonymenflucht-weil-Homonymenkonflikt”, auf das alle Einwände zutreffen, die in Kapitel 4.3. in bezug auf die englisch-Homonymie vorgetragen wurden, und alle, die von Roger Lass in seinem Kapitel 3.5 vorgetragen wurden. Windisch erläutert das Muster der “ ‘korrekten’ Erklärung” folgendermaßen: “Freilich leiden die ‘korrekten’ Erklärungen (die wiederum nur - im Zirkelschluß - an ihrer Plausibilität erkennbar sind) unter einem grundsätzlichen Mangel: Sie sind in der Tat nur partiell anwendbar, oder, paradox formuliert, nur dort gültig, wo sie auch zutreffen, so z.B. als Erklärung (oder Erklärungs-‘Prinzip‘ oder ‘These‘) der (zu vermeidenden) Homonymie, etwa im Beispiel des lautgesetzlich verursachten Zusammenfalls von lat. gallus und cattus zu gaskognisch gat ‘Katze‘ (sic! ) (…). Sicherlich wäre nicht überall, wo ein solcher Lautwandel - theoretisch denkbar - noch vorkäme, eine entsprechende ‘homophonie gênante‘ zu erwarten: Im speziellen Fall des Südwestfranzösischen muß sie aber als die ‘korrekte’ Erklärung angesehen werden.” 339 338 Windisch 1988, S. 116 339 Windisch 1988, S. 116 f. <?page no="212"?> 212 Ohne auf Detailprobleme dieser Textpassage eingehen zu wollen, sei zur Struktur des Arguments folgendes gesagt: Sogenannte Erklärungen, die, wie Windisch in schöner Einfachheit formuliert, “nur dort gültig (sind), wo sie auch zutreffen”, nennt man ganz einfach nicht “Erklärungen”. Windisch hätte nicht das Wort korrekt in Anführungszeichen setzen sollen, sondern das Wort Erklärung. Denn es steht nicht so sehr die Korrektheit der Beschreibung in Zweifel, sondern ihre Erklärungskraft, ihr Status als Erklärung. Denn das sog. “Erklärungs- ‘Prinzip‘” (auch hier ist mir die Funktion der Anführungszeichen nicht klar): “homophonie gênante wird durch die therapeutische Maßnahme der Ersetzung eines der beiden Homophone bereinigt”, ist analytisch und somit argumentativ leer. Da Homophonie (Homonymie) für den Ersatz eines Wortes durch ein anderes weder notwendig noch hinreichend ist, was ja auch Windisch zugesteht, liegt homophonie gênante per definitionem genau dann vor, wenn sog. Homonymenflucht stattgefunden hat. Das Argument repräsentiert den klassischen post-hoc-ergopropter-hoc-Fehlschluß. Oder in Lass’ Worten: “Logically, this seems to be of the form: (a) p ⊃ q (b) q (c) ∴ p That is, it is an instance of the fallacy of affirming the consequence.” 340 Da Windisch seine Thesen in Auseinandersetzung mit Lass’ Thesen vorträgt, wäre eine Bemerkung dazu zu erwarten gewesen, wieso er den Fehlschluß nicht als störend empfindet. Oder er hätte dafür argumentieren müssen, daß dieser Fehlschluß nicht vorliegt. Eine Strategie dafür könnte sein: “homophonie gênante” definieren, ohne Rekurs auf den Austausch eines der beiden Homophone durch ein nicht homophones Wort gleicher Bedeutung, und Beispiele dafür aufzeigen, daß homophonie gênante vorliegt oder vorlag, ohne daß ein solcher therapeutischer Ersatz vorgenommen wurde. Ohne eine Prinzipienwissenschaft, wie Hermann Paul es nannte, oder eine Kosmologie, wie man heute bisweilen (etwas bom- 340 Lass 1980, S. 78 f. <?page no="213"?> 213 bastisch) sagt, können Wandel und Stase der Sprache nicht verstanden werden. “Die Existenz von Strukturen, mit denen sich die Theorie komplexer Phänomene beschäftigt, kann nur verständlich gemacht werden durch eine Kosmologie“, 341 schreibt von Hayek ganz im Paulschen Sinne. “Die Aufhellung der Bedingungen des geschichtlichen Werdens liefert neben der allgemeinen Logik des geschichtlichen Werdens zugleich die Grundlage für die Methodenlehre (…).” 342 Daraus folgt natürlich nicht, daß mit einer solchen “Kosmologie” nun alles und jedes erklärbar ist. Dies anzunehmen heißt, notwendige mit hinreichenden Bedingungen verwechseln. Wieso p, t, k beispielsweise von der Lautverschiebung betroffen sind, “während l, r, m und n ungeschoren blieben”, fragte Peter Eyer, 343 wohl in der Annahme, daß meine Unfähigkeit, dafür eine Erklärung geben zu können, ein Einwand gegen meine Theorie sei. Nun, ich weiß es nicht; und es ist sehr fraglich, ob man es je wissen wird. Um erklärbar sein zu können, muß ein sprachhistorisches Faktum nämlich in einem angemessenen Abstand zur Erklärungsbasis stehen. Was dies heißen soll, will ich an einem Rechenexempel Hans-Jürgen Heringers vorführen. Betrachten wir eine Aussage, wie wir sie in einer beliebigen Sprachgeschichte finden können: “p > f”. Sie soll besagen: “Einem p im Indogermanischen entspricht ein f im Germanischen”, oder “indogermanisches p wurde im Germanischen zu einem f”, ein Faktum, das einen Teil der sog. Germanischen Lautverschiebung ausmacht. Eine Erklärung dieses Faktums bestünde darin, zu zeigen, welche Maximen unter welchen Bedingungen zu Handlungsweisen geführt haben, deren Konsequenz darin besteht, daß “nun” ein f-Laut artikuliert wurde, wo “vorher” ein p- Laut artikuliert worden war. Heringer rechnet in einem “Gedankenexperiment” vor, welches die reale “empirische” Basis einer solchen Aussage ist: “Such innocent looking statements are about highly complex processes, and therefore common historiography of language suffers from serious macroscopy.” 344 Betrachten wir 341 von Hayek 1969, S. 154 342 Paul 1880/ 1920, S. 3 343 Eyer 1982, S. 74 344 Heringer 1988, S. 3 <?page no="214"?> (mit Heringer) die Makroskopie näher: 345 Nehmen wir an, diese Entwicklung hat sich über eine Zeitspanne von etwa 200 Jahren erstreckt; und nehmen wir weiterhin an, daß an diesem Entwicklungsprozeß etwa 100 Millionen Germanen beteiligt waren, die täglich im Durchschnitt eine Stunde sprechend kommunizierten, indem sie (durchschnittlich) 2000 Wörter mit einer Länge von 5 Lauten äußerten. Das heißt, 10 8 Sprecher produzierten 10 4 Lautereignisse über einen Zeitraum von 7x10 4 Tagen; das ergibt 7x10 16 Lauthervorbringungen. Wenn wir unberücksichtigt lassen, daß die Aufnahme seitens der Adressaten für Lautveränderungen eine mindestens ebenso wichtige Rolle spielt wie der Beitrag des Sprechers, so kommen wir mit dieser Überschlagskalkulation zu dem Ergebnis, daß “p > f” in etwa heißt: Wo zum Zeitpunkt t 1 p- Laute artikuliert wurden, wurden 70.000.000.000.000.000 Lautereignisse später f-Laute artikuliert. “I hope that this Gedankenexperiment may convince us that statements like (p > f) belong to a very specific kind of empiricism.” 346 Was können wir aus diesem Rechenspiel lernen? Es gibt legitime deskriptive historiographische Feststellungen, die gar nicht sinnvolle Kandidaten explanativer Bemühungen sein können. Erklärbarkeit sprachhistorischer Phänomene setzt die Wahl der angemessenen Dimension voraus. Dies kann nur eine Strukturebene sein, die sich noch sinnvoll mit der Ebene sprachlichen Handelns korrelieren läßt. Wer wissen will, wie sich die Amöbe zum Elefanten entwickelt hat, wird sich mit einer sehr allgemeinen Antwort zufrieden geben müssen, mit einer sogenannten Erklärung-im-Prinzip. Aber auch da, wo der Skopus der Betrachtung stimmt, ist eine Erklärung vielfach nicht erreichbar, weil uns die dazu notwendigen Kenntnisse fehlen, und sie möglicherweise auch nicht mehr zu bekommen sind. Da sich die Sprachgeschichtsschreibung bislang, auch ihrem Anspruch nach, im wesentlichen als beschreibende und nicht als erklärende Geschichtsschreibung verstanden hat, stehen die für erklärende Sprachgeschichtsschreibung notwendigen Daten auch gar nicht aufbereitet zur Verfügung. 214 345 Heringer 1988, S. 3 ff. 346 Heringer 1988, S. 5 <?page no="215"?> 215 Dennoch gilt, was Noam Chomsky bereits im Jahr 1965 für die Grammatiktheorie gefordert hat, auch für die historische Theorie: “Wiewohl schon deskriptive Adäquatheit auf weite Strecken keineswegs einfach zu erreichen ist, ist es für die produktive Entwicklung der Theorie der Sprache unumgänglich, daß sie noch weitaus höher gesteckte Ziele verfolgt.” 347 Das Ziel heißt: Erklärungsadäquatheit. Die Theorie der Geschichte einer Sprache ist in dem Maße erklärungsadäquat, wie es ihr gelingt, die deskriptiv adäquat rekonstruierten sprachhistorischen Daten mit den Typen sprachlicher Handlungen zu korrelieren, deren Konsequenz sie sind; d.h. sie als notwendige unbeabsichtigte Konsequenz individueller Handlungen auszuweisen, die unter bestimmten ökologischen Bedingungen nach bestimmten Handlungsmaximen vollzogen worden sind. Daß dies eine im Prinzip erfüllbare Forderung ist, wenn auch kontingente Defizienzen unseres Wissens in vielen Fällen dagegenstehen, glaube ich gezeigt zu haben. 347 Chomsky 1965/ 1969, S. 40 <?page no="217"?> 217 Literaturverzeichnis Aitchison, Jean (1987): The Language Lifegame. In: Willem Koopman et al. (Hrsg.): Explanation and Linguistic Change. Amsterdam. 11-32. Aitchison, Jean (1991): Language Change: Process or Decay? Cambridge. Akademie der Wissenschaften der DDR/ Akademie der Wissenschaften in Göttingen/ Heidelberger Akademie der Wissenschaften (Hrsg.) 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Dascal, M. 133 Anm. 177 Dauses, A. 10 Davies, P.C. 106f. Dawkins, R. 10, 198ff. Dobrick, M. 133 Anm. 177 Dobzhansky, T. 194 Anm. 303 Dressler, W.U. 156 Eccles, J.C. 50, 182ff. Ellis, A.J. 37 Engels, F. 36 Eyer, P. 213 Fanselow, G. 123, 176ff. Felix, S. 123, 176ff. Ferguson, A. 57ff., 85 Fleischer, W. 19 Frege, G. 176 Frei, H. 63, 112 Garaudy, R. 169 Gerard, R.W. 195 Goethe, J.W. von 17ff., 59, 88 Gombrich, E.H. 109 Anm. 143 Graham, A. 107 Grewendorf, G. 111, 174, 181 Grice, H.P. 50, 119, 127, 133f. Grimm, J. 24 Anm. 16, 115 Anm. 158, 165 Haakonssen, K. 89 Hamm, F. 111, 174, 181 Hayek, F.A. von 13, 32f., 53f., 58, 62ff., 170, 193f., 213 Namenregister <?page no="229"?> 229 Hempel, C.G. 97 Herder, J.G. 37, 119 Heringer, H.J. 37, 213f. Hildebrand-Nilshon, M. 51 Hockett, Ch.F. 46 Humboldt, W. von 75, 98, 125, 136, 171f., 193, 201, 208 Hume, D. 68 Hurford, J. 178ff. Huxley, J. 196, 204 Itkonen, E. 176 Jackson, D. 133 Anm. 176 Jäger, L. 167, 168 Anm. 232 Kant, I. 75 Anm. 83 Karlheinz 38ff., 57, 59, 119, 208 Keller, R. 27, 48 Anm. 33, 75, 91f., 106, 133 Anm. 176, 210 Kittsteiner, H.-D. 59 Anm. 52 Kluckhohn, C. 195 Koch, H.W. 194 Anm. 303 Köhler, R. 98 Lass, R. 105, 125, 133, 151f., 181, 186ff., 210 Leibniz, G.W. 51 Levin, J.F. 138 Lewis, D. 21, 136 Lorenz, K. 22, 66 Lüdtke, H. 14, 24, 132, 140 Anm. 186, 143, 147ff., 166 Lyell, C. 72 Lyons, J. 46, 165 Anm. 227 Malthus, T.R. 193 Mandeville, B. de 53ff., 57ff., 96, 107 Martinet, A. 143 Marx, K. 72 Mauthner, F. 109f., 202 Mayerthaler, W. 156, 159 Maynard Smith, J. 192, 195ff. Meggle, G. 50 Anm. 34 Menger, C. 93ff., 170 Monod, J. 200 Müller, M. 63, 76ff., 93, 110, 194, 197, 199 Münstermann, P. 56 Nickl, H. 32 Nozick, R. 13, 96f., 106 Osche, G. 119 Panagl, O. 156 Patton, S.N. 193 Paul, H. 21, 198, 206, 213 Platon 63, 72 Popper, K. 50, 181ff., 208 Rádl, E. 107, 193 Radnitzky, G. 141 Rapoport, A. 195 Rehbein, J. 28 Ronneberger-Sibold, E. 28, 92, 118 Sapir, E. 152 Saussure, F. de 24, 111, 169ff., 199, 206ff. Scheerer, T.M. 168 Anm. 232 Schelling, T. 99 Anm. 134, 139 Anm. 184 Scherer, W. 74 Schlegel, F. 76 Schleicher, A. 24, 72ff., 192, 194f., 204 Sechehaye, A. 168f. Silbar, M. 138 Anm. 182 Slote, M.A. 165 Anm. 226 Smith, A. 60, 68f., 96f., 193 Spencer, H. 72, 78f. Stam, J.H. 20 Stampe, D. 156 <?page no="230"?> 230 Stein, D. 156, 160f. Sternefeld, W. 111, 174, 181 Stewart, D. 59, 208 Strawson, P.F. 109 Strecker, B. 28, 208 Strehlow, C. 17 Süßmilch, J.P. 37, 43 Thirlmare, R. 194 Toulmin, S. 22, 200 Ullmann-Margalit, E. 31, 96, 98, 106, 120 Anm. 166, 139 Anm. 184 Vanberg, V. 47, 96 Anm. 124 Watzlawick, P. 133 Anm. 176 Whitney, W. 72, 74, 78ff., 84, 110 Wildgen, W. 22 Wilson, E.O. 45 Wimmer, R. 98 Anm. 130 Windisch, R. 210ff. Wittgenstein, L. 65 Wunderlich, D. 28 Wurm, S. 152 Anm. 194 Wurzel, W.-U. 156ff. <?page no="231"?> 231 Sachregister Absicht 26ff. Absicht-etwas-zu-tun 27f. Absicht-in-der-etwas-getanwird 27f. Adäquatheitsbedingung 178 äquivalente Maximen: s. Maximen Allele 199 Altruismus 165 Angeborenheitsargument 153 Angstschrei 38ff. simulierter Angstschrei 39ff. Anpassungsgeschwindigkeit 66f. Antezedenzbedingungen 105 Antizipation/ antizipieren 128, 209 Argumentationsstärke 53 Artefakt 31, 79, 85, 87ff., 98f., 189 Artikulationskosten 166f. artikulatorische Energie 143, 148f. Asymmetrie unseres sprachlichen Wissens 201 Ausdrucksalternativen 199 Ausgefallenheit 124 Auslese: s. Selektion außersprachlich 128 Autonomie der Syntax: s. Syntax Baby-Talk 137 Beeinflussung 20, 119, 208 Begründung(srelation) 116 beständiger Wandel: s. Wandel bewußt 26, 28f. Bibel 77 Bienenfabel 54ff. Biologie 74 biologische Evolution: s. Evolution biologische Tauglichkeit: s. fitness Brauch 64, 69 Chomskys Sprachbegriff 81ff., 171f. Computersimulation 138f. Conjectural History: s. Vermutende Geschichte Diachronie diachronisch 167ff. diachronischer Konflikt 143 diagnostische Erklärung 104ff. Dichotomie 62f., 87 displacement: s. Versetzung Dreiweltentheorie 181ff. Drift 152ff., 154f. zyklische Drift 154 Dynamik (vs. Stase) 132ff., 168f. dynamische Maximen 139, 142f. Egoismus 165 Eigennutz 52ff., 61 E-language: s. E(xternalized)- Sprache <?page no="232"?> 232 Energeia 171, 208 Entwicklungsgesetze 72 Epiphänomen 9, 179f., 187 erfolgreiche Handlung: s. Handlung Ergebnis einer Handlung: s. Handlung Ergon (-Begriffe) 170 Erklärung 61 erklärende Sprachgeschichtsschreibung: s. Sprachgeschichtssschreibung Erklärungen im strengen Sinne 105 Erklärungen mittels der unsichtbaren Hand: s. Invisiblehand-Erklärungen Erklärungen von unten 147 Erklärungsadäquatheit 215 Erklärungsmodus 62, 94 finalistische Erklärungen 109, 117ff. funktionalistische Erklärungen 118ff., 124f. genetische Erklärungen 97ff. Scheinerklärungen 162, 210 Erwartung Erwartungserwartungen 201f. gegenseitige Erwartungen 136f. Verhaltenserwartungen 201f. Evolution/ evolutionär 22, 75, 88, 141, 191ff. biologische Evolution 196f. evolutionärer Optimismus 61 Evolutionssystem 193f. Evolutionstheorie 117 kulturelle Evolution 69, 99 191ff. Experiment 203f. Experimentalcharakter der Individualkompetenz: s. Individualkompetenz explanative Stärke/ Kraft 106 E(xternalized) E-Grammatik 173 E-Sprache 173, 179ff. E-Wandel 180f. finalistisch(e Erklärungen) 109, 117ff. Finalität/ final 109ff., 116ff., 125 Finalitätsthese 197 finalité inconsciente 112 unbewußte Finalität 112 fitness 196f., 200 Folgen einer Handlung: s. Handlung Foreigner-Talk 137 freier Wille: s. Wille Funktion 118f. Funktion der Sprache 119ff. Funktion des Handelns 32ff. Funktion des Kommunizierens 31ff. Funktionsanalyse 31ff., 122f. funktionalistisch(e Erklärungen) 118, 123f. Galanteriegebot/ -spiel 108ff., 124 Gefühl (vs. Verstand) 63ff. gegenseitige Erwartungen: s. Erwartung Geisteswissenschaften 78, 87 geistige Kraft 136 Geld 31, 71f., 170 gelungene Handlung: s. Handlung <?page no="233"?> 233 gemeinsames Wissen: s. Wissen Gen 198ff. generative Theorie 171ff. Genese/ genetisch 32f., 61, 105, 118, 187 genetische Erklärungen 97ff. Logik der Genese 32 Theorie der Genese 30ff. genotypische Selektion: s. Selektion geplant: s. planvoll gerichtet 159, 197 Gesetz 105, 150, 158, 162 allgemeine Gesetze 97 Gesetze der dritten Art 152 Gesetze der Sprache 111f. Gesetzmäßigkeit 151, 158 Gewalt 69ff. Gewaltsubstitution 70 Gricesches Grundmodell 50 Großgesellschaft 69f. Grund 116ff. Handel treiben 70f. Handlung/ Handeln 26ff., 32f. erfolgreiche Handlung 91f. Ergebnis einer Handlung 27f., 91f. Folgen einer Handlung 27f., 91f. gelungene Handlung 91f. Handlungsintentionen 126ff. Handlungsmaximen 91f., 102, 108, 127ff., 130 Handlungsökologie: s. Ökologie Handlungsplan 28 Handlungsstrategie 126f., 136, 154 Handlungstheorie/ handlungstheoretisch 91f. Handlungswahlfunktion 130 Handlungszweck: s. Zweck individuelle/ s Handlung/ Handeln 91ff. intentionale Handlung 26ff., 113 Motive des Handelns 57, 100, 126 nicht-intendierte Folgen einer Handlung 92f. heucheln: s. simulieren historische Entwicklung 192ff. historische Erklärungen 170 historische Wissenschaften 77f. Höflichkeit 107f., 166 Homogenität 132, 137ff. homogene Struktur 139 Homonym 105, 113ff., 211 Homonymenflucht 114, 211 Homonymenkonflikt 117, 211 homophonie gênante 211f. Humboldt-Maxime 136f., 201 Hypermaxime: s. Maxime Hypothesencharakter der Individualkompetenz: s. Individualkompetenz hypothetische Prognose: s. Prognose Idealisierung 178 I-E-Dichotomie 174ff., 179f., 181 Ikonizität, konstruktionelle 156 imponieren 135f. Individualismus, methodologischer 26, 147, 164 Individualkompetenz 82f., 128, 202f. Experimentalcharakter der Individualkompetenz 203f. Hypothesencharakter der Individualkompetenz 203f. Indogermanische Ursprache 72f. <?page no="234"?> 234 Infektion 200 Inflation 109, 170, 179 innersprachlich 128 Innovation 140 Instabilität 36 Instinkt (vs. Vernunft) 62ff. Institution 79, 84f. Intention/ intentional 27, 28, 46ff., 84, 117, 126f. intentionale Handlungen: s. Handlung offene Intentionen 133ff. primäre Intentionen 91 sekundäre Intentionen 92 verdeckte Intentionen 135 I(nternalized) I-Grammatik 83f., 173ff., 177ff., 190, 201, 208 I-Kultur 173 Anm. 244 I-Sprache 173ff., 179f. I-Wandel 179ff. Invisible hand 60, 96ff., 208 Invisible-hand-Erklärung 61, 62, 95ff., 101ff., 117, 124f., 152, 187 Invisible-hand-Prozeß 100ff., 126f., 169ff., 205f. Invisible-hand-Theorie 96ff., 195 Metapher der Invisible hand 96 Isoglossenkarte 139 Kampf ums Dasein 193ff., 199 Karlheinz 37ff., 57, 59, 119, 208 Kausalität/ kausal 109ff. kausale Konsequenzen 93, 100f. kausales Phänomen 113 kausale Ursachen des Sprachwandels 111f. Knappheit 141ff., 199 kollektiv kollektive Konsequenzen 61 kollektives Phänomen 91 kollektives Wissen: s. Wissen kollektivistische Begriffe 26, 121 Kommunikation/ Kommunizieren 30ff., 70f. Kommunikationsmaxime 136f. kommunikative Handlung 46, 49 kommunikative Ziele 142ff. Kommunizieren als mixedmotive-game 124 Kommunizieren im menschlichen Sinne 44ff., 50ff., 119 Kommunizieren zwischen zwei tierischen Artgenossen 45, 119 natürliche Kommunikation 45 Kompetenz: s. Sprachkompetenz kompetenter Sprecher 179 konditionierte Reaktion: s. Reaktion Konvention/ konventionell 176ff., 205f. konventionskonform 178f. Koordinationsproblem 136f. Kopiefehler 198f. Kosmologie (der Sprache) 206, 212f. Kosten-Nutzen-Relation 165f. Kreativität 141 Kultur 87, 208 kulturelle Evolution: s. Evolution kultureller Vitalismus: s. Vitalismus Kulturobjekt 193 Kulturphänomen 80, 88, 112, 118 <?page no="235"?> 235 Kulturwissenschaften 87, 92 Kumulation 113, 195ff. Kunst/ künstlich (vs. Natur/ natürlich) 62ff., 75, 78, 84f., 88ff., 112f. laissez-faire 61 Laster 55ff. Lautverschiebung 213f. Leben der Sprache 25, 75f., 209 lineares Denken 107 Linguistische Selektion: s. Selektion Logik der Genese: s. Genese Makrobereich/ -ebene 93, 97ff., 116, 126, 164 Makroebene der Institutionen 97 makrostruktureller Effekt 125, 140 Mandevillesches Paradox 51ff., 60, 96, 107f. Manipulation 134f. markiert 156f., 160 Markt 66f. M(aterialized) M-Kultur 173 Anm. 244 Maxime 33f., 126ff., 136f., 154f., 187, 201 äquivalente Maximen 128 Humboldt-Maxime 136f., 201 Hypermaxime 142f. Maxime der Energieersparnis 100, 127, 140 Maxime der Verständlichkeit 140 Maximen des Handelns: s. Handlungsmaximen Maximenkonflikt 140 Mechanismus mechanistisch 24, 25 meinen 50, 133 Mem 198ff. Mempool 198f. Mensch/ menschlich Menschenwerk 81ff., 87f., 182f. menschliche Kommunikation: s. Kommunikation menschliche Natur: s. Natur des Menschen menschlicher Wille: s. Wille Metapher der unsichtbaren Hand: s. Invisible hand methodologischer Individualismus: s. Individualismus Mikrobereich/ -ebene 92, 97ff., 126, 164 Mikroebene des sozialen Handelns 98 mißverstehen: s. verstehen mixed-motive-game 124 morphosemantische Transparenz 157f. Motive 57, 102f., 115 Mutation 196 Natur/ natürlich (vs. Kunst/ künstlich) 62ff., 75, 78, 84f., 87ff., 111f. natürliche Kommunikation: s. Kommunikation natürliche Morphologie 156 natürliche Phonologie 156 natürliche Sprache 85 Natürlichkeit 155ff Natürlichkeitstheorie 155ff. natürlich-künstlich-Dichotomie 112f. Natur des Menschen 61, 167 Naturgesetze 110 Naturorganismus 75ff., 111 Naturphänomen 80ff., 84ff., 112f., 117, 189f. <?page no="236"?> 236 Naturwissenschaften 73ff., 87, 175, 192 Naturalness 155ff. Nettonutzen 164ff. nicht-intendiert 92f., 100 nicht verstehen: s. verstehen nomo (vs. physei) 63, 72 Notwendigkeit des Wandels: s. Wandel Nutzen 165f. offene Intentionen: s. Intentionen Ökologie Ökologie des Handelns 101, 126, 129 ökologische Bedingungen (des Handelns) 117, 126ff., 154 Ökonomie 30, 142f., 148f., 154, 165f. Ontogenese 25 Ontologie der reinen Form 187 Ordnung 62 Organismus/ organisch 74f., 79, 94 organisch gewachsen 88, 99 Organismusmetaphorik 209 organistisch 23 Paradox 53, 56f. partikuläre Prognose: s. Prognose pattern predictions: s. Prognose Pejorisierung 107ff., 124, 154 permanenter Wandel: s. Wandel Phänomen der dritten Art 85, 87ff., 93ff., 96ff., 179, 182, 186, 188f., 197, 208 phenotypische Selektion: s. Selektion philosophische Rekonstruktion: s. Rekonstruktion physei (vs. nomo bzw. thesei) 63, 72 physikalische Wissenschaften 77 Plan/ planen 25ff., 58ff., 97, 129 planvoll/ geplant 25ff., 88f., 129, 182 plausibel 102 post-hoc-ergo-propter-hoc- Fehlschluß 212 Prämissen 101, 106 primäre Intention: s. Intention Prinzip Prinzip der quantitativen Kompensation 149f. Prinzip der Systemkongruenz 156 Prinzip der Verschmelzung 150 Prinzip des geringstmöglichen Aufwands 148, 154, 165 Prinzipienwissenschaft 212 Prognose/ prognostizieren 103ff. partikuläre Prognose 104f. Prognose hypothetischer Natur 103f. prognostischer Wert 103f. Prognostizierbarkeit 104, 197 strukturelle Prognose 104f. psychologisch-logische Methode 107 rational-choice 165 Rationalität des Handelns 165ff. Reaktion konditionierte Reaktion 47 verzögerte Reaktion 47 Recht 70f. Rechtfertigung 65 Redundanz 148 Redundanzsteuerung 148 Regel 64ff. <?page no="237"?> 237 Regeln folgen 64ff. regelgeleitetes Verhalten 64f. Reiz-Reaktions-Verhalten 47 Rekonstruktion 43 philosophische Rekonstruktion 43 Replikator 200 Reproduktionsquote 141 saltationistisch 119 Schallstruktur 147f. Scheinerklärung: s. Erklärung Schottische Schule, Schottische Moralphilosophie 58ff., 62f., 107f., 209 sekundäre Intention: s. Intention Selbstdarstellung(smittel) 124 Selektion 125, 141, 196ff. genotypische Selektion 204 linguistische Selektion 204f. phänotypische Selektion 204 soziale Selektion 204f. Selektionsebene 203 Selektionsinstanz 203 Selektionsmechanismus 201 Selektionsspirale 205 Selektionstyp 204 Signal-Negentropie 147f. Simulation/ simulieren 49ff. simulierter Angstschrei: s. Angstschrei Sinn (einer Äußerung) 184 Sozial Sozialdarwinismus 192ff. sozialer Erfolg/ sozial erfolgreich 142, 201 soziale Selektion: s. Selektion Sozialtheorie 58 soziokulturell soziokulturelle Ordnung 97 soziokulturelles Phänomen 208 Spontane Ordnung 32, 53 Sprache erklärende Sprachgeschichtsschreibung 214 Sprachentstehung 44 Spracherwerb 172, 176 Sprachfähigkeit: s. Sprachkompetenz Sprachgeschichtsschreibung 169 Sprachgesetze: s. Gesetze Sprache im hypostasierten Sinne 185 Sprachkompetenz 82, 172f., 201 Sprachmem(pool) 199 Sprachplanung 129 Sprachpolitik 129 Sprachursprung 37ff. Sprachverfall 19, 23 Stabilität 137 stabile Maxime 142 stabile Struktur 33, 142 Stafettenkontinuität 132 Stammbaum 75 Stase (vs. Wandel) 126, 132ff., 169, 191, 213 statische Maxime 139 statistische Gesetze 158 Stau aus dem Nichts 90ff., 187f. Stimulus 47 Strategie: s. Handlungsstrategie Strömung: s. Drift Strukturelle Prognose: s. Prognose Süßmilchsches Dilemma 43 survival of the fittest: s. Kampf ums Dasein Symptom 38 Synchronie/ synchronisch 167ff. Systemangemessenheit 157 <?page no="238"?> 238 Tausch 70f. teilweise verstehen: s. verstehen teleologisch 195 Teleonomie 125 thesei (vs. physei) 63, 72 tierische Kommunikation: s. Kommunikation Trampelpfad(theorie) 100ff., 109, 126f., 179 Trend 152ff., 155, 161ff. Trendextrapolation 104f., 197 Trichotomie 84 Überraschungseffekt 95, 106 unbewußt 26, 28f. unbewußte Finalität: s. Finalität Universalgrammatik 123, 172ff. Universalität/ universal 151, 153 Universales Sprachwandelgesetz 150 Universalität des Wandels: s. Wandel Universalitätshypothese 151 Unmarkiert 156ff. unsichtbare hand: s. Invisible hand Ursache 116f. Ursache des (Sprach-)Wandels 113, 128 Ursache-Wirkung-Relation 116f. Variation 141, 196ff. Veränderlichkeit der Sprache 20ff. verdeckte Intention: s. Intention vergleichende Methode 73 Verhaltenserwartungen: s. Erwartungen Vermutende Geschichte 57ff., 62 Vernunft (vs. Instinkt) 62ff. Versetzung 46 Verständigung 132ff. Verstand (vs. Gefühl) 63ff. verstehen 131ff. mißverstehen 130f. nicht verstehen 133f. teilweise verstehen 133f. verzögerte Reaktion: s. Reaktion Vitalisierung/ vitalistisch 24, 80, 200 von Menschen gemacht: s. Menschenwerk Wachstum 78, 84, 209 Wandel 126, 132ff., 169, 191, 213 (logische) Notwendigkeit des (permanenten) Wandels 21ff., 206f. permanenter Wandel 17ff., 21ff., 80ff., 85, 206f. Universalität des Wandels 21ff., 153f. Warum (-Fragen) 112, 116f. weil (-Relation) 114ff. Welt 3 181ff., 208 Wesen (der Sprache) 36, 74 Wille freier Wille 80, 93, 110 menschlicher Wille 75, 87f. Wille des Einzelnen 84 Wissen gemeinsames/ kollektives Wissen 48 Wozu (-Fragen) 112, 116f. Zirkuläre Erklärung 106 Zweck (einer Handlung) 26ff., 33, 36 zwingend 102 zyklische Drift: s. Drift Zynismus 53 <?page no="240"?> Narr Francke Attempto Verlag GmbH+Co. KG • Dischingerweg 5 • D-72070 Tübingen Tel. +49 (07071) 9797-0 • Fax +49 (07071) 97 97-11 • info@narr.de • www.narr.de JETZT BES TELLEN! Damaris Nübling Antje Dammel / Janet Duke / Renata Szczepaniak Historische Sprachwissenschaft des Deutschen Eine Einführung in die Prinzipien des Sprachwandels narr studienbücher 2013, XII, 355 Seiten €[D] 24,99/ SFr 34,70 ISBN 978-3-8233-6823-6 Dieses Studienbuch stellt zum einen die wichtigsten historischen Umbrüche der deutschen Sprache bis in die heutige Zeit dar, zum anderen und vor allem auch deren Begründung, theoretische Fundierung und typologische Einordnung. So hat sich das Deutsche im Laufe seiner Geschichte von einer Silbenzu einer ausgeprägten Wortsprache entwickelt, was sich auf mehreren Ebenen (z.B. Phonologie, Orthographie, Morphologie) niederschlägt. In der Syntax wird auf das Klammerprinzip abgehoben. Diesem übergreifenden Prinzip und einigen weiteren Prinzipien gehen die Autorinnen anhand zahlreicher Beispiele nach und ermöglichen so ein tieferes Verständnis der deutschen Sprachgeschichte. die neuen Entwicklungen in der Forschung auf, enthält neue Kapitel und weist Wege in die aktuelle Forschungsliteratur. <?page no="241"?> Eine natürliche Sprache ist eine spontane Ordnung; dabei ist sie weder Naturphänomen noch Artefakt, sondern ein Phänomen der dritten Art. Ihr gegenwärtiger Zustand ist - von wenigen Ausnahmen abgesehen - unbeabsichtigter, unreflektierter Nebeneffekt von Wahlhandlungen der einzelnen Sprecher im Zuge ihrer kommunikativen Bemühungen. Sprachwandel ist damit ein prototypisches Beispiel soziokultureller Evolution. Die Rekonstruktion des Wandels ist ein zentraler Baustein einer erklärenden Theorie eines Sprachzustandes. Der ihr adäquate Modus ist die Erklärung mittels der unsichtbaren Hand. »The book is a singulary good one; … It will take some effort to surpass it.« Studies in Language Linguistik www.utb.de ,! 7ID8C5-cecfde! ISBN 978-3-8252-4253-4