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Ältere deutsche Literatur

Eine Einführung

1028
2015
978-3-8385-4256-0
978-3-8252-4256-5
UTB 
Gert Hübner

Dieses Buch erläutert auf anschauliche Weise die historischen Grundbedingungen der Älteren deutschen Literatur vom 9. bis zum 16. Jahrhundert. Der erste Teil stellt die Orte der Produktion und Rezeption deutschsprachiger Texte vor und zeichnet die Ausbreitung der deutschsprachigen Schriftlichkeit, die Entwicklung des Dichtungsbegriffs und die wichtigsten Aspekte der Geschichte von Versdichtung und Prosaliteratur nach. Der zweite Teil führt anhand konkreter Beispiele in die Verfahrensweisen des Bedeutungsaufbaus in älteren poetischen Texten ein. Tipps zur Informations- und Literaturrecherche sowie Hinweise auf weiterführende Lektüre runden den Band ab. Die zweite Auflage wurde vollständig überarbeitet, um ein Kapitel zu rhetorischen und theologischen Grundlagen der Textkonstitution ergänzt sowie bibliographisch aktualisiert.

<?page no="0"?> Gert Hübner Ältere deutsche Literatur 2. Auflage <?page no="1"?> Eine Arbeitsgemeinschaft der Verlage Böhlau Verlag · Wien · Köln · Weimar Verlag Barbara Budrich · Opladen · Toronto facultas · Wien Wilhelm Fink · Paderborn A. Francke Verlag · Tübingen Haupt Verlag · Bern Verlag Julius Klinkhardt · Bad Heilbrunn Mohr Siebeck · Tübingen Nomos Verlagsgesellschaft · Baden-Baden Ernst Reinhardt Verlag · München · Basel Ferdinand Schöningh · Paderborn Eugen Ulmer Verlag · Stuttgart UVK Verlagsgesellschaft · Konstanz, mit UVK/ Lucius · München Vandenhoeck & Ruprecht · Göttingen · Bristol Waxmann · Münster · New York utb 2766 <?page no="3"?> Gert Hübner Ältere deutsche Literatur Eine Einführung 2., vollständig überarbeitete und erweiterte Auflage A. Francke Verlag Tübingen <?page no="4"?> Umschlagabbildung: Meister Gottfried von Straßburg aus der Großen Heidelberger Liederhandschrift (Codex Manesse, Heidelberg, Universitätsbibliothek, Cod. Pal. Germ. 848, fol. 364r), Ausschnitt. Die Schreibtafel war in Darstellungen der Sieben Freien Künste das Kennzeichen der Rhetorik (vgl. S. 304). Bibliographische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über <http: / / dnb.ddb.de> abrufbar. 2., vollständig überarbeitete und erweiterte Auflage 2015 1. Auflage 2006 © 2015 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen www.francke.de · info@francke.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Gedruckt auf chlorfrei gebleichtem und säurefreiem Werkdruckpapier. Einbandgestaltung: Atelier Reichert, Stuttgart Satz: typoscript GmbH, Walddorfhäslach Druck und Bindung: Friedrich Pustet GmbH & Co. KG, Regensburg Printed in Germany UTB-Nr. 2766 ISBN 978-3-8252-4256-5 Gert Hübner ist Professor für Germanistische Mediävistik im Europäischen Kontext an der Universität Basel. <?page no="5"?> V Inhalt Kapitel 1: Wozu ältere Literatur? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 1. Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 2. Epochenbegriffe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 3. Aufbau des Buchs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13 Kapitel 2: Ältere deutsche Literatur - der Zeitraum . . . . 15 1. Literatur, Sprache, Kultur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15 2. Frühes Mittelalter: Althochdeutsche und altniederdeutsche Literatur (um 750 bis um 1050) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16 3. Hohes Mittelalter: Mittelhochdeutsche Literatur (um 1050 bis um 1350) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21 4. Spätes Mittelalter und frühe Neuzeit: Frühneuhochdeutsche Literatur (um 1350 bis um 1600) und mittelniederdeutsche Literatur (13. bis 16. Jahrhundert) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27 Kapitel 3: Ältere deutsche Literatur - die Ausbreitung der Schriftlichkeit . . . . . . . . . 35 1. Was ist ›deutsche‹ Literatur? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35 2. Deutsche Schriftlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 37 a. Frühes Mittelalter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 37 b. Hohes Mittelalter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 42 c. Spätes Mittelalter und frühe Neuzeit . . . . . . . . . . . 48 3. Lateinisch-deutsche Literaturbeziehungen . . . . . . . . . . 56 4. Romanisch-deutsche Literaturbeziehungen . . . . . . . . . 60 Kapitel 4: Ältere deutsche Literatur - ›Literatur‹ und ›Dichtung‹ . . . . . . . . . . . . . . . . 69 1. Die Begriffe ›Literatur‹ und ›Dichtung‹ . . . . . . . . . . . . . 69 2. Die Tradition des antiken lateinischen Dichtungsbegriffs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 76 <?page no="6"?> VI INHALT 3. Die mündliche Tradition . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 85 4. Die Begriffe ›Autor‹ und ›Text‹ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 93 5. Prosa und Roman . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 100 Kapitel 5: Was lesen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 104 Kapitel 6: Handschriften, Drucke, Editionen . . . . . . . . . . 134 1. Schriftliche Textüberlieferung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 134 2. Handschriften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 135 3. Buchdruck . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 146 4. Editionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 155 Kapitel 7: Verse und Strophen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 167 1. Die Bedeutung der Verse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 167 a. Funktionen von Versen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 167 b. Was sind Verse und Strophen? . . . . . . . . . . . . . . . . 169 2. Versformen im frühen Mittelalter . . . . . . . . . . . . . . . . . 173 a. Stabreimvers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 173 b. Endreimvers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 175 3. Vers- und Strophenformen im hohen Mittelalter . . . . . . 178 a. Nibelungenvers und Nibelungenstrophe . . . . . . . . 178 b. Höfischer Reimpaarvers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 181 c. Stollenstrophe (Kanzonenstrophe) . . . . . . . . . . . . 183 4. Vers- und Strophenformen in Spätmittelalter und früher Neuzeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 186 a. ›Volksliedstrophen‹: Hildebrandstrophe, Vagantenstrophe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 186 b. Silbenzählende Verse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 189 Kapitel 8: Argumentativer Bedeutungsaufbau . . . . . . . . 193 1. Argumentation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 194 2. Textuelle Sequenzierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 198 3. Begriffsbeziehungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 199 4. Metaphorische Analogien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 200 5. Kulturelles Wissen: Lebensziele und Herrschaftsordnung . . . . . . . . . . . . . . 201 6. Pathos und Ethos . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 204 <?page no="7"?> VII INHALT Kapitel 9: Narrativer Bedeutungsaufbau . . . . . . . . . . . . . 206 1. Was sind Erzählungen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 206 2. ›Geschichte‹ und ›erzählerische Vermittlung‹ . . . . . . . . 208 a. Geschichte (›histoire‹) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 208 b. Erzählerische Vermittlung (›discours‹) . . . . . . . . . . 214 3. ›Engelhard‹: Die Geschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 219 4. ›Engelhard‹: Die erzählerische Vermittlung . . . . . . . . . 228 Kapitel 10: Kulturelle Wissensordnungen I: Diskurse und Diskursanalyse . . . . . . . . . . . . . 235 1. Praktisches und begrifflich-diskursives kulturelles Wissen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 235 2. Kultur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 237 3. Was ist ein Diskurs? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 240 4. Historische Diskursanalyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 244 5. Diskurs, ›schöne Literatur‹, Dichtung . . . . . . . . . . . . . . 246 6. ›Geschlechtsverkehr‹ in Diskursen des 12. und 13. Jahrhunderts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 248 a. Theologischer und kirchenrechtlicher Diskurs . . . . 248 b. Medizinischer Diskurs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 253 c. Höfischer Diskurs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 256 d. Gewohnheitsrechtlicher Diskurs . . . . . . . . . . . . . . 262 Kapitel 11: Kulturelle Wissensordnungen II: Praktiken und Praxeologie . . . . . . . . . . . . . . . 266 1. Diskurse und Praktiken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 266 2. Fastnachtspiel und Fastnacht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 266 3. Das Fastnachtspiel vom Eggenziehen . . . . . . . . . . . . . . 270 4. Kulturelle Praktiken und Handlungswissen . . . . . . . . . 276 5. Praktisches Wissen und moralisches Wissen . . . . . . . . . 283 Kapitel 12: Theologische und rhetorische Wirklichkeitskonstruktionen . . . . . . . . . . . . . 287 1. Kulturelle Wirklichkeitskonstruktionen und textuelle Bedeutungspraktiken . . . . . . . . . . . . . . . 287 2. Rhetorik und Plausibilität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 290 3. Theologie und Wahrheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 297 4. Topik und Wahrheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 302 <?page no="8"?> VIII INHALT Kapitel 13: Informationsmöglichkeiten und Literaturhinweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . 314 1. Für die Studienpraxis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 314 2. Informationen im Internet . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 315 3. Sprachgeschichte, Wörterbücher und Grammatiken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 316 4. Einführungen in die ältere deutsche Literaturwissenschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 318 5. Einführungen in mediävistische Nachbarfächer . . . . . . 319 6. Literaturgeschichten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 320 7. Autoren- und Werklexika . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 321 8. Sach- und Personenlexika . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 322 9. Begriffsgeschichtliche Lexika . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 324 10. Literatur zu den einzelnen Kapiteln . . . . . . . . . . . . . . . 326 Bildnachweis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 348 Dank . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 349 Register . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 350 <?page no="9"?> 1 Wozu ältere Literatur? Einführung Der Himmel Der Himmel liegt seit heute Nacht in einem Ellenbogen darein hatt’ ich gesmôgen das kin und ein mîn wange viel lange Zeit. Der Himmel ist einsachtzig groß und hat die blauen Augen zum Frühstück aufgeschlagen all so ist auch sein Magen von dieser Welt. (Ulla Hahn: Herz über Kopf. Gedichte. Stuttgart 1981, S. 12.) Die böse Antwort auf die Frage ›Wozu ältere Literatur? ‹ lautet: Zur intellektuellen Selbstbefriedigung. Welchen Gewinn bringt einem beispielsweise die Erkenntnis, dass Ulla Hahn in diesem Liebesgedicht ein paar Brocken aus einem Lied Walthers von der Vogelweide zitiert, außer der Lust an der Überlegenheit der eigenen Bildung? »Ach - Sie wussten nicht, dass das Mittelhochdeutsch ist und aus dem bekanntesten Text des bekanntesten deutschen Dichters des Mittelalters stammt? « »Ach was«, könnten Sie darauf erwidern, »ich weiß, dass Frau Dr. Hahn in Germanistik promoviert hat - Literatur für Literaturwissenschaftler.« Meine Antwort auf die Frage ›Wozu ältere Literatur? ‹ setzt ein wenig hinterlistig bei der Unterstellung an, dass Sie ein Interesse Kapitel 1 1. <?page no="10"?> 2 WO Z U ÄLT E R E LIT E RAT U R ? an zeitgenössischer Literatur haben. Auf dieser Basis will ich versuchen zu erklären, aus welchen Gründen Sie Ihr Interesse auf ältere Literatur ausdehnen könnten. Beginnen wir also zunächst damit, dass wir uns auf das Bedeutungsspiel in Ulla Hahns Gedicht einlassen. Um das Bedeutungsangebot aufgreifen und das Spiel mitspielen zu können, müssen Rezipienten allerdings über Wissen verfügen. So braucht es beispielsweise sprachliches Wissen: Man muss die Bedeutungen der Wörter, die Satzkonstruktionen und die Zusammenhänge zwischen den Sätzen verstehen können. Und da lässt uns Frau Hahn schon stolpern, weil sie teilweise mittelhochdeutsch redet. Was nützt uns das Wissen, dass sie Formulierungen aus einem berühmten Lied Walthers von der Vogelweide zitiert? In Walthers Text (er ist auf S. 161 vollständig abgedruckt) erzählt einer, wie er einmal allein auf einem Stein saß, ein Bein über das andere geschlagen, den Ellenbogen aufs Knie gestützt und das Kinn in die Hand geschmiegt: Ich saz ûf eime steine und dahte bein mit beine. dar ûf sazte ich den ellenbogen, ich hete in mîne hant gesmogen mîn kinne und ein mîn wange. In Ulla Hahns Reim »viel lange« auf »wange« klingt Walther noch nach, weil sein Text mit dô dâht ich mir vil ange (›da dachte ich sehr eingehend darüber nach‹) fortfährt. Vil lange hätte man auf Mittelhochdeutsch für ›sehr lange‹ gesagt. Der Gegenstand des Nachdenkens ist bei Walther dann, dass die drei wichtigsten Lebensziele - Besitz, gesellschaftliches Ansehen und die göttliche Gnade, die zur ewigen Glückseligkeit führt - nur schwer miteinander zu vereinbaren sind. Wir müssen ein wenig enttäuscht sein und den Verdacht bestärkt sehen, dass das nicht viel mit Ulla Hahns Thema zu tun hat und das Zitat bloß Bildungsgetue ist. Oder sind es vielleicht gerade die Unterschiede zu Walther, die dem Zitat in Ulla Hahns Bedeutungsaufbau einen Sinn geben? Einmal ist einer allein und hat Kinn und Wange in die eigene Hand geschmiegt, die auf den eigenen Ellenbogen gestützt ist. In dieser Körperhaltung klagt er darüber, wie schwer es ist, die wichtigsten Lebensziele zu erreichen. Unter ihnen kommt die Liebe nicht vor, aber in Gestalt der göttlichen Gnade die ewige <?page no="11"?> 3 Glückseligkeit, die man im Himmel erreicht. Aha - der Himmel. Das andere Mal ist eine (oder einer, je nach Identifikationsvermögen) nicht allein und hat Kinn und Wange in einen anderen Ellenbogen geschmiegt. Hier gibt es nichts zu klagen, weil dieser Ellenbogen als Zeichen für ein erotisches Objekt den Himmel als Zeichen für die Glückseligkeit bedeutet. Wer Walthers Text kennt, kann der Metapher ›der Himmel‹ eine Bedeutung ablesen, die auf dem Unterschied zwischen beiden Texten beruht: Ulla Hahn setzt die Liebe an die Stelle, an der bei Walther die Gnade Gottes als Weg zur Glückseligkeit steht. Nun versteht man besser, weshalb manche Formulierungen des Gedichts witzig wirken. Wenn der Himmel, wie bei Walther, im Jenseits liegt, ist die Glückseligkeit eine ewige und bleibt sich deshalb immer gleich. Wenn sich der Himmel dagegen beim diesseitigen Geliebten finden lässt, ist die Glückseligkeit zwangsläufig endlich - und womöglich auch nicht mehr stets dieselbe. Der alte Bedeutungsumfang der himmlischen Ewigkeit ist uns aber immer noch nicht ganz fremd geworden; deshalb lächeln wir darüber, dass das früher einmal zeitlose Glück »seit heute Nacht« einen neuen Ort und einen neuen Anfang hat. Und wir verstehen, dass die Dauer des Glücks unter diesen Umständen bloß noch eine Angelegenheit des subjektiven Erlebens sein kann: Wenn der Himmel erst seit heute Nacht in jenem Ellenbogen liegt, kann die »viel lange Zeit« des Schmiegens nach dem objektiven Stundenmaß nicht sehr lange gedauert haben. Zu Walthers Zeit war die himmlische Glückseligkeit objektiv ewig; in der subjektiv empfundenen Dauer klingt das immer noch nach. Und nun versteht man auch, weshalb das Gedicht, das die Verweltlichung der Vorstellung vom Glück anklingen lässt, zwangsläufig profan endet. Heutzutage muss auch der Himmel essen; freundlicherweise deutet Frau Dr. Hahn nur dezent an, dass er folglich auch verdauen wird. Der Magen macht deutlich, wie sehr der in Rede stehende Himmel »von dieser Welt« ist, und damit sind wir wieder beim Unterschied zu Walthers Glückseligkeit, die nicht von dieser Welt war. So lässt das Ende des Gedichts verhältnismäßig offensichtlich werden, worum es geht. Das Walther-Zitat signalisiert, dass wir seinen Text kennen müssen, um Ulla Hahn verstehen zu können. So weit, so gut; wir haben das Spiel mitgespielt und das Bedeutungsangebot des Gedichts dabei aufgegriffen, jedenfalls auf eine mögliche Weise, E IN FÜH RUNG <?page no="12"?> 4 WO Z U ÄLT E R E LIT E RAT U R ? und uns so einen Sinn zusammengereimt. Aber wozu das komplizierte Verfahren? Warum sagt Frau Hahn nicht einfach, dass die gelungene erotische Beziehung im Diesseits heute den Stellenwert hat, den früher die ewige Glückseligkeit im Jenseits hatte, dass das Glück dabei aber vergänglich und profan wurde? Welches Bedeutungsangebot spielt sie uns mit ihrer Verfahrensweise zu? Sie führt uns, leichthändig und ein wenig kokett, den Zusammenhang zwischen der Geschichtlichkeit der Literatur und ihrer Funktion vor, indem sie die Literaturgeschichte im Text aufscheinen lässt. Aus diesem Grund steht ihr Gedicht am Anfang dieses Buches. Was wir erleben und was wir sprachlich zum Ausdruck bringen, signalisiert das Gedicht, ist von Bedeutungsmustern geprägt, die im Lauf der Geschichte entstanden sind. Wahrscheinlich werden in der Tat nur Germanisten einen gelungenen erotischen Kontakt in den Worten Walthers von der Vogelweide erleben und beschreiben - als Schmiegen von Kinn und Wange in einen Ellenbogen, der den Gedanken an den Begriff der Glückseligkeit herbeiruft. Aber auf irgendwelche Formulierungsmuster, irgendwelche Ausdrucksformen, irgendwelche Bedeutungskonstruktionen ist jedes Wahrnehmen und Fühlen, jedes Denken und Sprechen angewiesen, auch wenn wir es für intim, persönlich und individuell halten. Indem wir etwas erleben und zum Ausdruck bringen, ordnen wir ihm Bedeutungen zu, die auf geschichtlich entstandenen Konventionen beruhen. Schon die Wörter und die Satzmuster, die wir benutzen, sortieren die Welt in einer bestimmten Art und Weise, die wir als Sprachbenutzer vorfinden. Metaphern wie ›der Himmel‹ für ›das Glück‹, signalisiert Ulla Hahn, bringen zum Ausdruck, wie wir die Welt erleben. Ihre Funktion, Modelle für das Welterleben und für das Reden über die Welt zu liefern, beruht auf den Bedeutungskonventionen, die in der Geschichte der Metapher entstanden sind: Der Geliebte kann den Himmel bedeuten, weil der Himmel einmal eine religiöse Bedeutung hatte. Indem wir einen Geliebten als Himmel erleben und bezeichnen, nehmen wir die alte Bedeutung auf, aber wir verändern sie zugleich: Denn der Himmel ist nun von dieser Welt, einsachtzig groß und morgens hungrig. Vielleicht wird dieses Gedicht in Ihr eigenes Bedeutungsuniversum eingehen und die Muster bereichern, nach denen Sie erotische Beziehungen erleben und zur <?page no="13"?> 5 Sprache bringen - beim nächsten Ellenbogenkontakt, oder wenn Sie am Frühstückstisch in blaue Augen schauen. Genau das ist der Gedanke, den uns Ulla Hahn mit ihrem Verfahren zuspielt: Wenn sie mit ihren Texten unser Bedeutungsuniversum bereichert, beruht das immer schon auf Bedeutungskonstruktionen, mit denen frühere Texte ihr eigenes Bedeutungsuniversum bereicherten. Der Zusammenhang zwischen der Geschichtlichkeit der Literatur und ihrer Funktion besteht darin, dass jede Bedeutungskonstruktion ihre Geschichte mit sich trägt, das Fortbestehen von Altem und die Unterschiede zu ihm. Das gilt für jeden Text, aber dieser macht es zum Thema. Ich knüpfe an diese Beobachtungen einige abstraktere Aussagen über die Zusammenhänge zwischen den Begriffen ›Bedeutung‹, ›Geschichte‹, ›Kultur‹ und Literatur, die schrittweise eine Antwort auf die Frage ›Wozu ältere Literatur? ‹ ansteuern. 1. ›Bedeutungen‹ sind Formen oder Muster, in denen wir die Wirklichkeit erleben und zum Ausdruck bringen. Dabei hängen ›Erleben‹ und ›Ausdrücken‹ eng zusammen: Das ganze Wahrnehmungsmuster, das das Gedicht aufbaut, beruht auf den Ausdrucksformen, die es benutzt. Nur weil es die metaphorische Bedeutung von ›Himmel‹ samt ihrer Geschichte gibt, können wir das Glück als Himmel auffassen. Unsere Lebenswelt ist eine Welt der Bedeutungen: Das, wovon das Gedicht handelt, erleben und besprechen wir, wie alles andere, immer in irgendwelchen Formen oder Mustern, das heißt als eine interpretierte Wirklichkeit. Die Bedeutungsmuster unserer Lebenswelt sind das Ergebnis von Geschichte. 2. ›Geschichte‹ hat zwei Aspekte: Zum einen die Traditionen, in denen wir stehen, einschließlich der Änderungen, die wir an ihnen vornehmen; zum anderen unser Wissen um die Traditionen und ihren Wandel. Unabhängig davon, ob wir es wissen oder nicht, ist unsere Lebenswelt das Ergebnis von Geschichte. So greift jeder Text Bedeutungsmuster auf, die eine lange Geschichte haben, auch wenn wir es nicht wissen. Das Besondere an Ulla Hahns Gedicht besteht darin, dass es beide Aspekte ins Spiel bringt: Das Zitat eines Textes aus der Vergangenheit steht nicht nur für die Traditionen selbst, sondern auch für das Wissen um sie. Ebenso stehen die Unterschiede zwischen der Bedeutungskonstruktion des modernen und des zitierten Textes für den Wandel und das Wissen um ihn. Bedeutung Geschichte E IN FÜH RUNG <?page no="14"?> 6 WO Z U ÄLT E R E LIT E RAT U R ? Weshalb wollen wir wissen, dass und in welcher Weise unsere Lebenswelt das Ergebnis von Geschichte ist? Geschichtliches Wissen dient zwei Erkenntniszielen: Es soll zeigen, wie die Gegenwart aus der Vergangenheit geworden ist; und es soll zeigen, was in der Vergangenheit anders war. Das erste Ziel verfolgen wir, um zu verstehen, wieso heute alles so ist, wie es ist; das zweite Ziel verfolgen wir um der Einsicht willen, dass nicht immer alles so war, wie es heute ist, und dass deshalb nicht zwangsläufig alles so sein muss, wie es heute ist. Diese beiden Erkenntnisziele bringt man gern mit den Begriffen ›Kontinuität‹ (›Fortdauer‹) und ›Alterität‹ (›Andersheit‹) in Verbindung: Wenn wir uns unter dem Aspekt der Kontinuität für Geschichte interessieren, interessiert sie uns als Vorgeschichte der Gegenwart. Unter dem Aspekt der Alterität interessiert uns das Verlorengegangene, das uns mehr oder weniger fremd ist. Geschichte ist dann eine Übung im Umgang mit Ungewohntem. Beide Erkenntnisziele dienen nicht der intellektuellen Selbstbefriedigung: Wir erwarten uns davon ein überlegteres Verhältnis zu unserer eigenen Gegenwart, das vor allem darin besteht, sie für weniger selbstverständlich zu halten. 3. Die Bedeutungsmuster unserer Lebenswelt, die das Ergebnis von Geschichte sind, und die Lebenspraktiken, in denen diese Bedeutungsmuster hervorgebracht, überliefert, benutzt und verändert werden, nennen wir, wenn wir sie in ihrer Gesamtheit bezeichnen wollen, ›Kultur‹. Wenn wir uns mit der Geschichte von Bedeutungmustern und ihrer praktischen Verwendung beschäftigen, beschäftigen wir uns mit der Geschichte der Kultur. 4. Literatur versorgt uns mit Bedeutungsmustern: Sie ist eines unserer kulturellen Mittel (eines unter anderen), die Welt wahrnehmbar, begreifbar, bewertbar und ausdrückbar zu machen. Alle Bedeutungskonstruktionen, die sie uns zur Verfügung stellt, haben ihre Geschichte, ebenso wie die Verfahrensweisen, mit denen Bedeutung aufgebaut wird. Die Vorstellungen von der Liebe oder von der Glückseligkeit waren nicht immer dieselben; Metaphern haben nicht immer auf dieselbe Weise funktioniert; Erzählverfahren haben sich verändert. Literaturgeschichte verfolgt dieselben Erkenntnisziele wie jede Art von Geschichte: Sie soll uns mit geschichtlichem Wissen über Traditionen und ihre Veränderungen, über Kontinuitäten und Kontinuität Alterität Kultur Literatur <?page no="15"?> 7 Alteritäten ausstatten, damit wir ein überlegteres Verhältnis zu unserer Gegenwart einnehmen können. Insofern es dabei um Bedeutungsmuster und die Praktiken ihrer Verwendung geht, ist die Literaturgeschichte ein Teil der Kulturgeschichte. Zur Geschichte der Vorstellungen vom Glück oder von der Liebe beispielsweise haben Dichter Beiträge geleistet, aber auch Philosophen, Theologen, Maler, Bildhauer und wer nicht noch alles. Das kulturelle Bedeutungsuniversum reicht in die Werke der Dichter hinein, aber es erstreckt sich viel weiter. Ebenso sind die Verfahrensweisen des Bedeutungsaufbaus kulturgeschichtliche Angelegenheiten. Metaphern kommen nicht nur in der Dichtung vor, sondern in nahezu jeder Art von Text; auf Erzählverfahren trifft man auch in der Alltagskommunikation oder in der Geschichtsschreibung. Allerdings sind Literaturwissenschaftler in besonderem Maß für die Verfahrensweisen des Bedeutungsaufbaus und ihre Geschichte zuständig. Eine kulturgeschichtliche Angelegenheit ist zudem die Frage, was mit ›Literatur‹ eigentlich gemeint sein soll. Unseren modernen Begriff von ›Literatur‹ gab es nicht zu allen Zeiten, und auch unter ›Dichtung‹ hat man nicht immer dasselbe verstanden. 5. Die Antwort auf die Frage ›Wozu ältere Literatur? ‹ könnte also folgendermaßen lauten: Mit älterer Literatur beschäftigt man sich, weil die Literatur unserer eigenen Zeit das Ergebnis von Geschichte ist und weil man hofft, das Gegenwärtige umso besser verstehen und beurteilen zu können, je mehr man von dieser Geschichte weiß. Dazu gehört das Wissen um Kontinuitäten genauso wie das Wissen um Alteritäten. Dieses Wissen bezieht sich zum einen auf die Literatur selbst, andererseits auf die Literatur als Teil der Kultur. Man kann beides nicht voneinander trennen, sondern nur den Interessenschwerpunkt mehr auf den einen oder mehr auf den anderen Aspekt legen. Eher auf die Literatur selbst zielen, jedenfalls dem ersten Anschein nach, Fragen wie die folgenden: Woran liegt es, dass man in der älteren Zeit häufig auf Verse stößt, und wie ist es gekommen, dass das heute nicht mehr so ist? Woran liegt es, dass Figuren in alten Erzählungen einen typenhaften Eindruck machen und sich im Verlauf der Handlung kaum verändern, und weshalb hat sich das gewandelt? Aber selbst solche Fragen lassen sich nur in einem kulturgeschichtlichen Rahmen beantworten: Die Häufigkeit des Verses hängt vom jeweiligen Dichtungsbegriff Wozu ältere Literatur? Literaturgeschichtliches Interesse E IN FÜH RUNG <?page no="16"?> 8 WO Z U ÄLT E R E LIT E RAT U R ? ab, und der ist eine Angelegenheit der jeweiligen kulturellen Vorstellungen. Die Individualität von Figuren und ihre Entwicklungsfähigkeit im Lauf der Erzählung hängt vom jeweiligen Begriff vom Menschen und damit ebenfalls von den jeweiligen kulturellen Vorstellungen ab. Eher auf kulturgeschichtliche Zusammenhänge zielt beispielsweise die Frage, die das Gedicht von Ulla Hahn aufwirft: Wie kommt es, dass bei Walther von der Vogelweide Besitz, gesellschaftliches Ansehen und Gottes Gnade als wichtigste Lebensziele gelten, während bei Ulla Hahn das Glück in einer gelungenen erotischen Beziehung liegt? Zur Beantwortung dieser Frage müsste man die jeweiligen kulturellen Bedeutungsordnungen beschreiben, die in die beiden Texte hineinreichen. Solange man diese zur Texterklärung heranzieht, richtet man sein Interesse aber trotzdem in erster Linie auf die Literatur. Die Fragerichtung lässt sich allerdings umdrehen: Man kann den Text Walthers von der Vogelweide zusammen mit anderen Texten auch als Quelle heranziehen, um die historischen Bedeutungsordnungen auf dem Feld der Glücksvorstellungen zu erforschen. Dann benutzt man die Literatur eher als Mittel, um zu Erkenntnissen zu gelangen, die über sie hinausreichen. In diesem Buch wird die Literatur selbst der eigentliche Gegenstand des Interesses bleiben. Mit älterer Literatur beschäftigt man sich also einerseits, um etwas über die geschichtlichen Traditionen zu erfahren, in denen die Literatur unserer Gegenwart als Bestandteil unserer gegenwärtigen Kultur steht. Andererseits beschäftigt man sich mit älterer Literatur, um etwas darüber zu erfahren, wie sich ältere Literatur in ihrem jeweiligen kulturellen Umfeld von den Verhältnissen unterscheidet, die heute herrschen. In der konkreten Praxis zielt die Beschäftigung mit älterer Literatur, wie jede Art von historischer Wissenschaft, gewöhnlich darauf, falsche oder zu einfache Geschichtsbilder zu korrigieren. Bei meiner Interpretation des Gedichts von Ulla Hahn habe ich mich beispielsweise auf ein weit verbreitetes Geschichtsbild eingelassen, nämlich dass die Werteordnung ›im Mittelalter‹ auf die ewige Glückseligkeit im Jenseits ausgerichtet war, während sie bei uns auf das diesseitige Glück ausgerichtet ist. Zur Aufgabe der Literaturgeschichte gehört in diesem Fall der Hinweis darauf, dass zu Walthers von der Vogelweide Zeit, also zu Beginn Kulturgeschichtliches Interesse Geschichtsbilder <?page no="17"?> 9 des 13. Jahrhunderts, schon die Metaphorik auftaucht, die Ulla Hahn benutzt. Bei Walther selbst kommt der Himmel in einem Liebeslied, im Zusammenhang mit der erotischen Beziehung, in der verweltlichten Bedeutung vor: Ir houbet ist sô wunnenrîch / alse ez mîn himel welle sîn - ihr Gesicht ist so beglückend schön, gerade wie wenn es mein Himmel sein wollte. Wir beschäftigen uns mit älterer Literatur, wie mit allen Phänomenen früherer Zeiten, also nicht zuletzt zum Zweck der Klischeebeseitigung. Epochenbegriffe Wenn ich bisher von ›älterer Literatur‹ gesprochen habe, bezog sich das einerseits auf das Beispiel Walther von der Vogelweide, andererseits auf alles, was nicht Literatur unserer eigenen Zeit ist. In der Tat hätte ich meine Überlegungen genauso gut an ein Gedicht anknüpfen können, das Heine, Goethe, Lessing oder Gryphius zitiert, denn im Verhältnis zur Gegenwart ist das alles ›ältere Literatur‹. Freilich sind wir es gewohnt, die deutsche Literaturgeschichte in eine ›neuere‹ und eine ›ältere‹ aufzuteilen, wobei die ältere vom 8. bis zum 15. oder 16. Jahrhundert reicht und die neuere mit dem 16. oder 17. Jahrhundert anfängt. In der gegenwärtigen wissenschaftlichen Praxis ist das 16. Jahrhundert sowohl Gegenstand der Neueren als auch der Älteren deutschen Literaturwissenschaft. Mit dem Anfang im 8. Jahrhundert verhält es sich relativ einfach, weil seit dieser Zeit deutschsprachige Schriftexte aufgezeichnet wurden. Die Entscheidung, die ältere deutsche Literatur mit dem 15. Jahrhundert enden und die neuere mit dem 16. Jahrhundert beginnen zu lassen, ist eine Konsequenz der Epochenbegriffe Mittelalter und Neuzeit; ältere deutsche Literatur ist dann deutsche Literatur des Mittelalters. Für die Entscheidung, das 16. Jahrhundert noch zur älteren Literatur zu zählen, gibt es zwei Gründe. Der erste ist der Zweifel am Erkenntniswert der Epochenbegriffe Mittelalter und Neuzeit; das will ich gleich noch erläutern. Der zweite Grund ist ein eher pragmatischer: Dass innerhalb der deutschen Literaturwissenschaft eine ältere und eine neuere Abteilung entstanden, hängt nämlich nicht zuletzt mit den praktischen Sprachkompetenzen zusammen, die für die Beschäftigung mit ›älterer‹ deutscher Literatur nötig sind. Unter diesen Umständen bestimmen vor allem die historischen Sprach- 2. Ältere Literatur als Literatur des Mittelalters Ältere Literatur als Literatur der älteren Sprachstufen E P O C H E NB E G R I F F E <?page no="18"?> 10 WO Z U ÄLT E R E LIT E RAT U R ? stufen, was ›ältere‹ deutsche Literatur ist - nämlich Literatur, die auf Althochdeutsch, Mittelhochdeutsch, Frühneuhochdeutsch oder in den jeweiligen niederdeutschen Entsprechungen verfasst ist. Die ›neuere‹ deutsche Literatur beginnt dann mit der Herausbildung des Neuhochdeutschen in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts, während die frühneuhochdeutsche des 16. Jahrhunderts noch zur ›älteren‹ gehört. Die Unterscheidung zwischen Mittelalter und Neuzeit, die im italienischen Humanismus entstand, ist ein Ergebnis unserer Kulturgeschichte und ihrer Bedeutungsordnungen. Nach und nach hat sie eine ältere, seit der Spätantike in ganz Europa verbreitete Zeiteinteilung abgelöst. Diese liegt beispielsweise noch der ›Schedelschen Weltchronik‹ zugrunde, die im Jahr 1493, kurz vor dem Ende unseres ›Mittelalters‹, in Nürnberg gedruckt wurde (vgl. dazu Kapitel 4.3). Sie war das Gemeinschaftsunternehmen eines Nürnberger Humanistenkreises, zu dem auch der Stadtarzt Hartmann Schedel gehörte, ein hochgebildeter Mann auf der intellektuellen Höhe seiner Zeit. Weltchroniken sind ein Texttyp mit einer langen mittelalterlichen Tradition auf Latein wie auf Deutsch. Sie benutzen stets dasselbe Epochenschema für die Weltgeschichte, das auf den Kirchenvater Augustinus (354-430) zurückgeht. In Analogie zu den sechs Schöpfungstagen gibt es sechs Weltalter nach dem Gang der biblischen Geschichte: 1. Von Adam bis zur Sintflut die Frühgeschichte der Menschheit; 2. von Noah bis Abraham die Vorgeschichte Israels; 3. von Abraham bis König David und 4. von David bis zur babylonischen Gefangenschaft die Geschichte des Bundes zwischen Gott und Israel; 5. von der babylonischen Gefangenschaft bis Christus die Zeit der Propheten als Vorgeschichte des Bundes Gottes mit der Christenheit; 6. von Christus bis zur jeweiligen Gegenwart und darüber hinaus bis zum Ende der Welt, das die Offenbarung des Johannes beschreibt, die Geschichte der Christenheit. Der Gang der Dinge ist nach diesem Schema zur Zukunft hin nicht offen. Wer es im Kopf hatte, lebte der eigenen Vorstellung nach im letzten Zeitalter der Welt. Wie lange es noch dauern würde, wusste man nicht, wohl aber, was danach kommen und dass es bis dahin keine prinzipiellen Veränderungen mehr geben würde. Dieses Modell der sechs Weltalter benutzte auch Schedel für seine Weltchronik. Von einer ›Antike‹ oder einem ›Mittelalter‹ Zeiteinteilung im Mittelalter 6 Weltalter 4 Weltreiche <?page no="19"?> 11 wusste er ebenso wenig wie die Verfasser älterer Weltchroniken. Ein Begriff war ihm das römische Reich, denn darin lebte er gemäß der herrschenden Überzeugung: Es war nie untergegangen, sondern von Karl dem Großen und den auf ihn folgenden Kaisern - römischen, nicht fränkischen oder deutschen Kaisern - übernommen worden. Es galt Schedel nach alter Tradition als das letzte einer Reihe von vier Weltreichen - babylonisches, persisches, griechisches, römisches - und würde Bestand haben bis zum Weltende. In Italien entstanden unterdessen die Ansätze für ein anderes Geschichtsbild. Francesco Petrarca (1304-1374), der als Begründer des Humanismus gilt, wandte sich als erster von der Idee des ungebrochenen Fortbestands des römischen Reichs ab. In den antiken Ruinen in Rom sah er vielmehr die Zeichen einer untergegangenen Herrlichkeit Italiens, die es wieder herzustellen galt. Zwischen der antiken Glanzzeit und seiner eigenen Gegenwart lag seiner Ansicht nach eine dunkle Ära, eine mittlere Zeit, in der die Völker des Nordens die Glorie der italienischen Kultur zerstört hatten. Mit der Rückbesinnung auf das römische Altertum sollte das Elend ein Ende finden. Das Mittelalter ist eine Erfindung der italienischen Humanisten. Es war ursprünglich nicht so sehr als europäische Epoche gedacht, sondern hatte eher die Funktion eines kulturpolitischen Kampfbegriffs: Italien sollte tausend Jahre germanischer Barbarei hinter sich lassen. Erst im späten 17. Jahrhundert machte der deutsche Gelehrte Christoph Cellerarius das Schema zu einem universalgeschichtlichen. Seitdem glauben wir daran, wie Schedel an die sechs Weltalter glaubte: Zwischen dem Untergang des römischen Reichs in den Wirren der Völkerwanderung und der ›Renaissance‹ der Antike liegt das medium aevum, das mittlere Zeitalter. Nach und nach sicherte man die obere Grenze breiter ab: Neben Renaissance und Humanismus dienen die Erfindung des Buchdrucks, die geographischen Entdeckungen des 15. und 16. Jahrhunderts, die Reformation und die Entwicklung der modernen Naturwissenschaften seit Kopernikus und Galilei als Epochenschwellen der Neuzeit. Die Kernbestände der bis heute gängigen Mittelalter-Klischees gehen auf die Zeit der Aufklärung im 18. Jahrhundert und der Romantik um 1800 zurück. Aus der Aufklärung stammt die Idee vom ›finsteren Mittelalter‹, in dem die Vernunft, die die anti- Antike-- Mittelalter-- Neuzeit Mittelalterbild der Aufklärung E P O C H E NB E G R I F F E <?page no="20"?> 12 WO Z U ÄLT E R E LIT E RAT U R ? ken Philosophen stark gemacht hatten, tausend Jahre lang unter Knechtschaft des Glaubens stand. Es endete, als die Humanisten der Renaissance-Zeit im 15. und 16. Jahrhundert die römische und griechische Antike zum kulturellen Vorbild erhoben und die Reformatoren im 16. Jahrhundert die kulturelle Hegemonie der katholischen Kirche brachen. Indem die Aufklärer einen großen Kontinuitätsbruch zwischen Mittelalter und Neuzeit behaupteten, konnten sie ihre eigene Erneuerungskraft betonen und brauchten sich selbst nur in die Traditionen von Renaissance-Humanisten und Reformatoren zu stellen. ›Neuzeit‹ bedeutet in diesem Konzept Dynamik und Fortschritt, ›Mittelalter‹ Stagnation und Stillstand. Genauso wie das Mittelalter der Aufklärung war auch das Mittelalter der Romantik ein Gegenentwurf zur eigenen Zeit, in der die Romantiker eine wachsende Kluft zwischen Einzelnem und Gesellschaft sowie eine zunehmende Ausdifferenzierung einzelner kultureller Felder wie Politik, Religion, Wissenschaft und Kunst wahrnahmen. Als Kontrastmodell zu diesem negativ bewerteten Auseinanderfallen der eigenen Lebenswelt diente das Mittelalter, das man sich nun als eine Zeit umfassender kultureller Einheit vorstellte, in der sich alles harmonisch zusammengefügt hatte. Modern gesagt, konstruierten Aufklärer wie Romantiker eine grundsätzliche und generelle Alterität des Mittelalters gegenüber ihrer eigenen Zeit. Beide stellten sich zu diesem Zweck das Mittelalter als eine in sich sehr homogene kulturelle Epoche vor, die sie allerdings ganz unterschiedlich bewerteten. Epochen ›gibt‹ es selbstverständlich nicht. Epochenbegriffe sind kulturelle Bedeutungskonstruktionen, die einen Erkenntniswert haben, wenn sie Veränderungen identifizieren und dadurch wichtige Unterschiede zwischen Zeiträumen erfassen. Das schließt freilich die Notwendigkeit ein, den Zeitraum, den man von einem anderen unterscheidet, zugleich als eine innere Einheit begreifen zu können. In dieser Hinsicht haben die Epochenbegriffe ›Mittelalter‹ und ›Neuzeit‹ erhebliche Schwächen, denn sie erfassen viel zu große Zeiträume. Unvermeidlich verdecken sie dabei die Vielfalt und die gravierenden Veränderungen innerhalb der jeweiligen Epoche. Zugleich konstruieren sie einen scharfen Bruch zwischen den Epochen, statt die Komplexität und Langwierigkeit historischer Prozesse in den Blick zu rücken. So gibt es einerseits kaum etwas, von dem man behaupten könnte, es sei für das ganze Mittelalter typisch, nicht dagegen für Mittelalterbild der Romantik Epochenbegriffe <?page no="21"?> 13 die Antike und die Neuzeit. Andererseits lassen sich die Ursprünge mancher ›neuzeitlicher‹ Phänomene - etwa der kapitalistischen Wirtschaft, des modernen Staats oder der Trennung von Religion und Wissenschaft - bis ins 12. und 13. Jahrhundert zurückverfolgen. Wichtige Innovationen des 15. und 16. Jahrhunderts wie der Buchdruck oder die modernen Naturwissenschaften gewannen ihrerseits nur langsam an Wirkungsmacht und veränderten die kulturelle Lebenswelt erst im 18. Jahrhundert tiefgreifend und breitenwirksam. Die alte Vorstellung, dass sich Mittelalter und Neuzeit fast schon wie zwei unterschiedliche Kulturen gegenüber stehen, ist deshalb viel zu einfach; statt mit einem klaren Bruch hat man es mit einem vielfältigen Geflecht langfristiger Kontinuitäten und Veränderungen zu tun. Ich benutze im Folgenden weniger großräumige Epochenbegriffe, die auf den historischen Sprachstufen des Deutschen beruhen: Als frühmittelalterliche Literatur bezeichne ich die althochdeutsche und altniederdeutsche, als hochmittelalterliche die mittelhochdeutsche, als spätmittelalterlich-frühneuzeitliche die frühneuhochdeutsche und mittelniederdeutsche (Genaueres dazu im nächsten Kapitel). Die Bezeichnung ›spätmittelalterlich-frühneuzeitlich‹ verweist in ihrer Zusammensetzung einerseits auf die literaturgeschichtlichen Kontinuitäten, die von der Mitte des 14. Jahrhunderts bis zum 16. Jahrhundert reichen, also die Grenze zwischen Spätmittelalter und früher Neuzeit überspannen, andererseits auf die Innovationen in den Jahrzehnten um 1500, die mit Buchdruck, Humanismus und Reformation zusammenhängen. Aufbau des Buchs Es geht in diesem Buch also um die ältere deutsche Literatur vom 8. bis zum 16. Jahrhundert. Die Kapitel 2 bis 7 skizzieren historische Bedingungen älterer Literatur: Kapitel 2 bietet einen Überblick über die literar- und kulturhistorischen Grundkoordinaten des Zeitraums. Kapitel 3 verfolgt die Ausbreitung deutschsprachiger Schrifttexte und informiert über die Bedeutung, die lateinische und romanische Texte für die Entwicklung hatten. Kapitel 4 behandelt die Vorstellungen, die an den Begriffen ›Literatur‹ und ›Dichtung‹ hängen. Kapitel 5 stellt eine Reihe von Epochengrenzen der älteren deutschen Literatur 3. Überblick über die historischen Bedingungen älterer Literatur AU F BAU D E S BU C H S <?page no="22"?> 14 WO Z U ÄLT E R E LIT E RAT U R ? Texten vor, die aus verschiedenen Gründen besonders große literaturgeschichtliche Bedeutung haben. In Kapitel 6 geht es um die Überlieferungsbedingungen der älteren deutschen Literatur, das heißt darum, wie die Texte auf uns gekommen sind und welche Erkenntnismöglichkeiten die Textüberlieferung eröffnet. Kapitel 7 skizziert die wichtigsten Stationen der Geschichte des Verses, weil ›Dichtung‹ in der älteren Zeit vor allem als Rede in Versen galt. Die Kapitel 8 bis 12 behandeln unterschiedliche, aber miteinander zusammenhängende Aspekte des Bedeutungsaufbaus in Texten: Kapitel 8 führt am Beispiel der von Ulla Hahn zitierten Strophe Walthers von der Vogelweide in die Beschreibung begrifflicher Bedeutungsbeziehungen und des argumentativen Bedeutungsaufbaus in Texten ein. Kapitel 9 erläutert an Konrads von Würzburg Versroman ›Engelhard‹ Verfahrensweisen des narrativen Bedeutungsaufbaus. Kapitel 10 beschäftigt sich mit Diskursen als kulturellen Ordnungen begrifflichen Wissens, die den Bedeutungsaufbau in Texten beeinflussen; als Beispiel dient die Thematisierung des Geschlechtsverkehrs im ›Engelhard‹. In Kapitel 11 geht es anhand eines Fastnachtspiels um den Zusammenhang zwischen dem Bedeutungsaufbau in Texten und kulturellen Praktiken, die nicht in erster Linie auf begrifflich-diskursivem Wissen beruhen. Kapitel 12 stellt zwei Modelle kultureller Wirklichkeitskonstruktion vor, die zwischen dem 8. und 16. Jahrhundert - teils in Verbindung miteinander, teils in Konkurrenz zueinander - als Grundlagen für den Bedeutungsaufbau in Texten dienten: das theologische Modell der Offenbarungswahrheit und das rhetorische Modell der glaubhaften Wahrscheinlichkeit. Kapitel 13 enthält eine Auswahl ein- und weiterführender wissenschaftlicher Literatur, wichtiger Nachschlagewerke und digitaler Informationsangebote. Bedeutungsaufbau in Texten <?page no="23"?> 15 Ältere deutsche Literatur - der Zeitraum Literatur, Sprache, Kultur Dieses Kapitel und die beiden folgenden behandeln die Frage nach den Gegenständen der älteren deutschen Literaturwissenschaft: Was ist mit ›älter‹, was mit ›deutsch‹ und was mit ›Literatur‹ gemeint? Am Anfang steht ein Überblick über sprachgeschichtliche und kulturgeschichtliche Bedingungen der deutschen Literatur in der ›älteren‹ Zeit. In Vorlesungen und Seminaren zur älteren deutschen Literatur geht es zumeist um deutschsprachige Texte, die in handschriftlicher oder gedruckter Form aus der Zeit vom 8. bis zum 16. Jahrhundert erhalten geblieben sind. Die Verhältnisse sind allerdings komplizierter, als der erste Blick verrät. Recht häufig wird man nämlich mit weiteren Texten konfrontiert, die in einem engen Zusammenhang mit den deutschsprachigen stehen: Mit Texten aus derselben Zeit, die auf Latein oder in verschiedenen romanischen Sprachen abgefasst sind, ebenso wie mit erheblich älteren Texten, vor allem biblischen und solchen aus der römischen Antike. Das liegt daran, dass der Gegenstand Literatur sowohl eine sprachliche als auch eine kulturelle Angelegenheit ist. Einerseits wird jeder Text in einer bestimmten Sprache zu einer bestimmten Zeit produziert (formuliert, vorgetragen, aufgeschrieben, gedruckt) und rezipiert (gehört, gelesen, abgeschrieben). Weil jeder Text eine Sprache hat, ohne deren Kenntnis er nicht zu verstehen ist, sind Literaturwissenschaften nach Sprachen eingeteilt. Gegenstand der älteren deutschen Literaturwissenschaft sind in diesem Sinn Texte der älteren deutschen Sprachstufen vor dem Neuhochdeutschen. Andererseits steht jeder Text in geschichtlichen Zusammenhängen, die oft weit vor seine Entstehungszeit zurückreichen und die Kapitel 2 1. <?page no="24"?> 16 D E R Z E IT RAUM nicht an die Sprache gebunden sind, in denen er verfasst ist. In diesem Sinn sind die europäischen Kulturtraditionen, zu denen die Texte der älteren deutschen Sprachstufen gehören, Gegenstand der älteren deutschen Literaturwissenschaft. Diese beiden Aspekte, den sprachgeschichtlichen und den kulturgeschichtlichen, verfolgt der Überblick über den Zeitraum der älteren deutschen Literatur. Frühes Mittelalter: Althochdeutsche und altniederdeutsche Literatur (um 750 bis um 1050) Sowohl für die Geschichte der Sprache als auch für die der Literatur ist es von großer Bedeutung, wer Texte herstellt, an wen diese Texte gerichtet sind und welchem Zweck sie dienen. Im engen Zusammenhang damit stehen die kulturellen - die wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und bildungsgeschichtlichen - Bedingungen der Literatur. Aus der zweiten Hälfte des 8. Jahrhunderts, der Zeit Karls des Großen, stammen die ältesten deutschen Schrifttexte. Vorher wurde Deutsch nicht geschrieben, sondern ausschließlich gesprochen. Da gesprochene Texte nicht erhalten bleiben, wenn es keine dafür geeigneten Aufzeichnungstechniken gibt, werden sowohl die deutsche Sprachgeschichte als auch die deutsche Literaturgeschichte erst mit dem Einsetzen der Schriftlichkeit greifbar. Außer in Gestalt von ganzen Texten ist das älteste Deutsch auch in Form von Glossen überliefert. Dabei handelt es sich um einzelne Wörter und Satzteile, die in lateinischen Handschriften als Verständnis- und Lernhilfen eingetragen sind. ›Althochdeutsch‹ meint keine Standardsprache in unserem modernen Sinn. Eine solche Sprache, die jenseits der Dialekte im gesamten deutschen Sprachraum weitgehend einheitlichen Regeln folgt, hat sich erst in der neuhochdeutschen Zeit seit dem 17. Jahrhundert entwickelt. ›Althochdeutsch‹ ist lediglich eine nachträgliche Sammelbezeichnung für die Volkssprachen der Franken, Thüringer, Alemannen und Bayern. 2. Schriftlichkeit Althochdeutsch <?page no="25"?> 17 Die althochdeutschen Sprachen hatten Gemeinsamkeiten, die sie vom Altniederdeutschen der Sachsen (deshalb auch ›Altsächsisch‹) im Norden unterschieden. Während Niederdeutsch (›Plattdeutsch‹) heute fast ausschließlich als gesprochene Sprache existiert, entstand im 8. und 9. Jahrhundert außer der althochdeutschen auch eine altniederdeutsche Schriftliteratur. Die Sprecher der althochdeutschen Sprachen lebten in der Zeit der ersten deutschen Glossen und Schrifttexte in einem Vielvölkerreich, über das das fränkische Königshaus der Karolinger herrschte. Die Sachsen wurden dem Karolingerreich zu dieser Zeit gerade gewaltsam einverleibt. Im Westen und im Süden herrschten die Karolinger über Menschen, die romanische Sprachen benutzten. Von ihnen unterschieden sich Althochdeutsch und Altniederdeutsch gemeinsam als germanische Volkssprachen. Die gängige Schriftsprache war im gesamten Karolingerreich das Lateinische, das die Gelehrten zur Verständigung untereinander gebrauchten. In der lateinischen Gelehrtensprache wurde der Unterschied zwischen den germanischen und den romanischen Volkssprachen mit den Begriffen lingua theodisca und lingua romana erfasst. Dem lateinischen Adjektiv theodiscus entspricht im Althochdeutschen diutisk, auf das unser neuhochdeutsches Wort ›deutsch‹ zurückgeht; diutisk gehört zum althochdeutschen Substantiv diot für ›Volk, Leute‹. Während das Frankenreich Karls des Großen ein romanisch-germanischsprachiger Herrschaftsverband war, entwickelte sich nach dem Tod seines Sohns Ludwigs des Frommen (840) seit der zweiten Hälfte des 9. Jahrhunderts im östlichen Teil des Frankenreichs ein weitgehend diutisk-sprachiger, ostfränkischer Herrschaftsverband. Altniederdeutsch Germanische und romanische Sprachen Latein Deutsch Althochdeutsch (Alemannisch): Vaterunser aus einer Handschrift des Klosters St. Gallen, 8. Jh. (Frühe deutsche und lateinische Literatur in Deutschland 800-1150. Hg. v. Walter Haug u. Benedikt Konrad Vollmann. Frankfurt a.M. 1991, S. 24): Fater unseer, thu pist in himile, uuihi namun dinan, qhueme rihhi din. uuerde uuillo din, so in himile sosa in erdu. prooth unseer emezzihic kip uns hiutu, oblaz uns sculdi unseero, so uuir oblazem uns sculdikem, enti ni unsih firleiti in khorunka, uzzer losi unsih fona ubile. emmezihic (unser Wort ›emsig‹) bedeutet ›fortwährend‹; das Substantiv khorunka für ›Versuchung‹ kommt vom Verb koron, das ›versuchen‹ im Sinn von ›auf die Probe stellen‹ bedeutet. ALT HO C HD E U T S C H E UND ALTNI E D E R D E U T S C H E LIT E RAT U R <?page no="26"?> 18 D E R Z E IT RAUM Die althochdeutsche und die altniederdeutsche Literaturproduktion enden recht abrupt um 900. Aus den anschließenden 150 Jahren sind zwar Glossen überliefert, aber kaum noch althochdeutsche Texte. Eine wichtige Ausnahme davon ist der St. Galler Mönch Notker (genannt ›der Deutsche‹), der um die Jahrtausendwende umfangreiche Übersetzungen aus dem Lateinischen anfertigte. Um 1050 setzt eine neue, nun mittelhochdeutsche Schriftliteratur ein, deren Produzenten von ihren althochdeutschen Vorgängern fast nichts mehr wussten. Zwischen der alt- und der mittelhochdeutschen Literatur gibt es deshalb nahezu keine geschichtliche Kontinuität, ebenso wenig zwischen der alt- und der mittelniederdeutschen. In der Karolingerzeit, in der die schriftliche Überlieferung deutscher Texte einsetzt, bestand der deutsche Sprachraum aus kleinen Siedlungsinseln inmitten unzugänglicher Urwälder und Sumpflandschaften. Die Menschen lebten vorzugsweise entlang der Flusstäler und betrieben Landwirtschaft. Von einer arbeitsteiligen Gesellschaft mit unterschiedlichen Berufen kann kaum die Rede sein: Was man zum Leben benötigte, stellte man weitgehend selbst her. Handel gab es, gemessen an unseren Gewohnheiten, nur in geringem Ausmaß. Die sozialen Beziehungen zwischen den Menschen waren vor allem durch Verwandtschaft, Grundherrschaft und Vasallität geregelt. Der Familienverband war zugleich eine Wirtschaftsgemeinschaft und, wegen der patriarchalen Rechte des Hausherrn, eine Herrschaftsordnung. Denselben Doppelcharakter hatte die Grundherrschaft. Das bewirtschaftete Land gehörte wenigen Adeligen. Aufgrund ihrer Geburtsrechte und ihres Familienbesitzes, die ihnen eine militärische Ausrüstung ermöglichten, stellten sie eine privilegierte Kriegerelite dar. Die weitaus meisten Menschen besaßen nicht nur kein Land, sondern waren selbst Eigentum. Als Leibeigene gehörten sie zum Grundbesitz eines adeligen Herrn, dessen Land sie gegen Abgaben bestellten und der über sie herrschte. Vasallität regelte, zusammen mit Ehe und Verwandtschaft, die Beziehungen der adeligen Grundherren untereinander. Sie beruhte auf der persönlichen Schwurverbindung, die den mächtigeren ›Herrn‹ zu Schutzleistungen, den ›Mann‹ (oder Vasallen) zu Beistandsleistungen verpflichtete. Von der Karolingerzeit bis ins hohe Mittelalter setzte sich immer mehr die Gewohnheit Wirtschaft Gesellschaft Familie Grundherrschaft Vasallität und Lehen <?page no="27"?> 19 durch, das Vasallitätsverhältnis mit der Verleihung von Grundbesitz (›Lehen‹) zu verbinden, so dass lehensrechtliche Beziehungen zur Grundlage des adeligen Herrschaftsverbandes wurden. Auf der Basis persönlicher Verwandtschafts- und Vasallitätsbeziehungen fand in der Karolingerzeit ›Politik‹ statt. Nichts von dem, was wir mit institutioneller Staatlichkeit verbinden, existierte: Keine Ministerialbürokratie, keine Finanzverwaltung, keine Polizei, kein Amtsgericht, kein öffentliches Schulwesen. Herrschaft wurde nicht von Institutionen, sondern von Personen ausgeübt und setzte Reichtum und die Fähigkeit zur gewaltsamen Durchsetzung der eigenen Interessen voraus. Auch der König war in diese Ordnung eingebunden: Seine Macht gründete auf seinem Landbesitz und auf seinem Status als Herr von Vasallen. Eigenschaften einer Institution hatte in der Karolingerzeit am ehesten die Kirche. Mit unseren modernen Amtskirchen hat sie freilich wenig gemeinsam. Unter der karolingischen Kirche muss man sich in erster Linie Benediktinerklöster und Domstifte (Bischofssitze mit einem Bischof und in klosterähnlicher Gemeinschaft lebenden Domherren) vorstellen. Klöster und Bischofskirchen waren Grundherren; Landbesitz und Leibeigene sicherten ihre wirtschaftliche Basis. Äbte und Mönche, Bischöfe und Domherren waren in aller Regel Adelige, die von ihren Familien gewöhnlich schon als Kinder für die kirchliche Lebensform bestimmt wurden. Alle Kirchen waren über königliche oder adelige Besitz- und Herrschaftsrechte in den adeligen Personenverband eingebunden; sie gehörten entweder dem König oder einem Adeligen. Bischöfe und Äbte übten ihrerseits selbst weltliche Herrschaft aus. Eine päpstlich-römische Hierarchie, der sie hätten unterstehen können, gab es noch nicht. Lesen und Schreiben lernte in der Karolingerzeit nur, wer für die kirchliche Lebensform bestimmt war - die Kleriker. Nicht-Kleriker - von den Leibeigenen bis zum König - hießen ›Laien‹ und waren der Schrift unkundig. Weil die Kirchensprache Latein war, lernten die Kleriker nicht Deutsch, sondern Latein lesen und schreiben. Die Orte dieses Unterrichts waren die Klosterschulen, die Träger der lateinischen Schriftkultur des frühen Mittelalters. Alle erhaltenen althochdeutschen und altniederdeutschen Texte wurden in karolingischen Klöstern aufgeschrieben, und bis auf wenige Einzelfälle wurden sie auch von Mönchen verfasst. Zum Teil dienten sie dem Lateinunterricht in der Klosterschule, indem Kirche Kleriker und Laien Klosterkultur und religiöse Literatur ALT HO C HD E U T S C H E UND ALTNI E D E R D E U T S C H E LIT E RAT U R <?page no="28"?> 20 D E R Z E IT RAUM sie durch vorlagennahe Übersetzung das Verständnis lateinischer Texte erleichterten - beispielsweise der benediktinischen Ordensregel. Zum Teil stellten sie die für Seelsorge und Mission wichtigsten Texte, wie das Vaterunser oder das Glaubensbekenntnis, in der Volkssprache zur Verfügung. Zum Teil dienten sie dazu, die in den Evangelien erzählte Geschichte auf Deutsch zu vermitteln; dies konnte sich an weniger lateingeübte Kleriker oder an adelige Laien richten. Ein Beispiel für den dritten Typus ist das ›Evangelienbuch‹, das der Mönch Otfrid im Kloster Weißenburg (heute Elsass) im 9. Jahrhundert verfasste. Es dokumentiert die adeligen Denkweisen auch der Kleriker des frühen Mittelalters. Wenn Otfrid die Lebensgeschichte Jesu erzählt, überträgt er sie nicht nur in seine Muttersprache, sondern auch in eine frühmittelalterliche Adelswelt. Bei der Verkündigungsszene (nach Lukas 1,26) beispielsweise trifft der Engel nicht auf die Frau eines jüdischen Zimmermanns, sondern auf die zukünftige Königinmutter in ihrer Pfalz (Otfrid von Weißenburg: Evangelienbuch. Auswahl. Althochdeutsch / Neuhochdeutsch. Hg., übersetzt u. kommentiert v. Gisela Vollmann-Profe. Stuttgart 2 2010, S. 56). Tho quam boto fona gote, engil ir himile, braht er therera worolti diuri arunti. Floug er sunnun pad, sterrono straza, wega wolkono zi theru itis frono; Z ị ediles frouun, selbun sancta Mariun, thie fordoron bi barne warun chuning ạ alle. Giang er in thia palinza, fand sia drurenta, mit salteru in henti, then sang s ị unz in enti; Wahero duacho werk wirkento diurero garno, thaz deda si ụ io gerno. Tho sprach er erlicho ubar al, so man zi frowun scal, so boto scal io guater, zi druhtines muater [...]. Da kam ein Bote von Gott, ein Engel aus dem Himmel; er brachte der Welt kostbare Botschaft. Er flog den Sonnenpfad, die Sternenstraße, den Wolkenweg zu der Gottesfrau, zu der adeligen Herrin, der heiligen Maria. Ihre Vorfahren, Kind für Kind, waren alle Könige. Er ging in die Pfalz, fand sie traurig, mit dem Psalter in Händen, den sang sie bis zum Ende. Feine Tuche wirkte sie aus kostbarem Garn, das tat sie stets eifrig. Da sprach er höchst ehrerbietig, wie man es einer Herrin schuldig ist, wie es ein guter Bote schuldig ist, zur Mutter des Herrn [...]. Druhtin ist das Wort für den Herrscher; die Jünger bezeichnet Otfrid später mit dem Wort für Vasallen und Krieger als thegana. Die Mutter des größten aller Könige ist (anders als in der Bibel) Nachkomme einer lückenlosen Reihe königlicher Ahnen. <?page no="29"?> 21 Der Engel verhält sich ihr gegenüber, wie es sich für einen karolingischen Königsboten gehört. Otfried kann sein Evangelienbuch sowohl für die adeligen Mönche seines Klosters als auch für adelige Laien gedichtet haben. In jedem Fall handelte es sich um ein Publikum, das weder willens noch in der Lage war, sich Jesus von Nazareth als jüdischen Zimmermannssohn und Wanderprediger vorzustellen. Seine Erhebung zum frühmittelalterlichen König ist freilich kein didaktischer Kniff des Autors. Ein historisches Bewusstsein grundsätzlicher Unterschiede zwischen der eigenen Gegenwart und anderen Zeiten gab es in Mittelalter und früher Neuzeit nur vereinzelt und ansatzweise. Gewöhnlich trifft man auf die Überzeugung, dass die Verhältnisse immer schon so ähnlich waren wie in der jeweiligen Gegenwart. Die althochdeutsche und altniederdeutsche Literatur besteht wegen ihrer kulturellen Bedingungen, von wenigen Ausnahmen abgesehen, aus religiösen Texten, die mehr oder weniger eng von lateinischen Vorbildtexten abhängig sind. Dass es diese volkssprachlichen Texte überhaupt gibt, ist eine Folge königlicher Reformbestrebungen: Karl der Große und seine Nachfolger versuchten recht zielstrebig, das Bildungsniveau der Klöster anzuheben und die elementare Seelsorge zu verbessern. Beiden Zwecken dienten die Rückgriffe auf die Volkssprache: Zum einen, um denjenigen, die Latein lernen mussten, Hilfe in der Muttersprache zu leisten; zum andern, um in der Volkssprache die wichtigsten Glaubenswahrheiten zugänglich zu machen. Dass die deutsche Schriftlichkeit zu Beginn des 10. Jahrhunderts wieder aufhörte, liegt am Untergang der Karolinger, der das Ende ihres Bildungsprogramms bedeutete. Hohes Mittelalter: Mittelhochdeutsche Literatur (um 1050 bis um 1350) ›Mittelhochdeutsch‹ ist ebenfalls nur eine Sammelbezeichnung für die süd- und mitteldeutschen Dialekte im Unterschied zum nördlichen Mittelniederdeutsch. Während wir mit ›Dialekt‹ heute vor allem Mündlichkeit verbinden, ist das Alemannische, Ostfränkische, Bairische, West- und Ostmitteldeutsche der mittelhochdeutschen Zeit zwischen 1050 und 1350 ausschließlich in Gestalt von geschriebener Sprache, das heißt als Schreibdialekt überliefert. 3. Mittelhochdeutsch MIT T E L HO C HD E U T S C H E LIT E RAT U R <?page no="30"?> 22 D E R Z E IT RAUM Eine einheitliche Sprache für den gesamten hochdeutschen, geschweige denn für den gesamten deutschen Sprachraum - einschließlich des niederdeutschen - gab es weiterhin nicht. Die Verfasser der höfischen Dichtung (wie des Minnesangs und der Artusromane) allerdings hatten im 12. und 13. Jahrhundert ein Interesse daran, dass ihre Texte an möglichst vielen Adelshöfen verstanden wurden. Sie benutzten deshalb eine Sprache, die einen Ausgleich zwischen den mittelhochdeutschen Dialekten anstrebte und Dialektmerkmale sowohl in der Lautgestalt wie im Wortschatz möglichst vermied. Mittelhochdeutsche Dichtersprache Mittelhochdeutsch (mittelhochdeutsche Dichtersprache): Vaterunser in Versen des Dichters Reinmar von Zweter, 13. Jh. (Die Gedichte Reinmars von Zweter. Hg. v. Gustav Roethe. Leipzig 1887, S. 417): Got vater unser, dâ dû bist in dem himelrîche, gewaltic alles des dir ist. geheiligt sô werde dîn nam. zuo müeze uns komen daz rîche dîn. Dîn wille werde dem gelîch hie ûf der erde als in den himeln, des gewer unsich. nû gip uns unser tegelich brôt, unt swes wir dar nâch dürftic sîn. Vergip uns allen sament unser schulde, als dû wilt, daz wir durch dîne hulde vergeben, der wir ie genamen deheinen schaden, swie grôz er sî. vor sünden kor sô mache uns vri unt lœse uns ouch von allem übele. Amen. gewaltic alles des dir ist: alles steht in deiner Macht; des gewer unsich: das gewähre uns; swes wir dar nâch dürftic sîn: was wir außerdem brauchen; sament: zusammen; als du wilt...: so wie du willst, dass wir um deiner Gnade willen denen vergeben, durch die wir Schaden erlitten haben, wie groß er auch sei; kor: Versuchung. Diese Ausgleichssprache, die vermutlich nur die Dichter verwendeten, ist heute als ›klassisches‹ Mittelhochdeutsch Gegenstand des germanistischen Unterrichts. Sie ging im 14. Jahrhundert wieder verloren. Die mittelhochdeutschen Schrifttexte, die seit der zweiten Hälfte des 11. Jahrhunderts entstanden, waren zunächst ebenfalls ausschließlich Klerikerprodukte religiösen Inhalts. Die neue volkssprachliche Schriftlichkeit hing jedoch nicht mehr am Herr- <?page no="31"?> 23 schaftsprogramm eines Königshauses, sondern erhielt schnell eine weniger enge gesellschaftliche Grundlage. Die historische Kontinuität, die nach 1050 begründet wurde, riss deshalb auch nicht mehr ab, sondern reicht bis heute. Die wichtigste Entwicklung der hochmittelalterlichen Literaturgeschichte besteht darin, dass die adeligen Laien im 12. Jahrhundert zunehmenden Einfluss auf die Textproduktion gewannen und für eine Dichtung sorgten, in der auch weltliche Themen behandelt wurden. Der literarische Neubeginn steht in einem kulturgeschichtlichen Zusammenhang, den man als den ›Aufbruch des 12. Jahrhunderts‹ bezeichnet. Dieser Aufbruch hatte eine Anlaufzeit schon im späteren 11. Jahrhundert und erreichte im 12. eine enorme Dynamik, die erst im späteren 13. nachließ; um 1350 fand er sein Ende. Er hat die europäische Welt grundlegend verändert. Nicht zufällig umfasst er ziemlich genau die Epoche der mittelhochdeutschen Literatur. Das ökonomische Fundament der Entwicklung war ein erhebliches Bevölkerungswachstum, das mit Fortschritten in der landwirtschaftlichen Technik einherging und zur Ausweitung der Siedlungsfläche führte. Durch die Rodung der Urwälder und die Trockenlegung der Sümpfe entstand die Kulturlandschaft, die unsere ländlichen Regionen bis heute prägt. Die Gesellschaft wurde zunehmend arbeitsteilig. Handwerker und Kaufleute siedelten sich zunächst an Bischofssitzen an, die oft in den Überresten alter Römerstädte lagen. Die Ansätze zu einer neuen Stadtkultur setzten sich in einer breiten Welle von Stadtneugründungen fort. Auch wenn die meisten Städte klein blieben und viele ihrer Bewohner weiterhin Landwirtschaft trieben: In den Städten wurde Markt für den lokalen und regionalen Handel gehalten, Handwerker produzierten und verkauften ihre Waren, Fernhändler ließen sich nieder. Langsam löste die Geldwirtschaft den Naturalientausch ab. Bei den adeligen Grundherren konzentrierten sich Besitz- und Herrschaftsrechte immer mehr in der Hand weniger Familien. Herrschaft bezog sich in wachsendem Maß nicht mehr allein auf einen Personenverband, sondern auf ein Territorium. Mit Hilfe des Lehensrechts entwickelten sich einige Lehensherren in einem langen und komplizierten Prozess, der bis ins Spätmittelalter reicht, zu Landesherren. Die Konzentration von Reichtum und Macht ermöglichte diesen hochadeligen Fürsten einen neuen, Aufbruch des 12. Jahrhunderts Wirtschaft Städte Adelige Hofkultur und höfische Literatur MIT T E L HO C HD E U T S C H E LIT E RAT U R <?page no="32"?> 24 D E R Z E IT RAUM repräsentativen Lebensstil. Man legte Burgen an; es entstand eine Hofgesellschaft, die ihren Reichtum und ihren Machtanspruch durch Waffen und Rüstung, Kleidung, Essen und Trinken, zeremonielle Umgangsformen und prachtvolle Feste zur Schau stellte. Dieser höfische Hochadel trug die neue, höfische Literatur, die in erster Linie sein Selbstbewusstsein, seine Wertorientierungen, seine Welt- und Lebenshaltung zum Ausdruck brachte - allem voran im Minnesang und im höfischem Roman. Kernbegriff dieser Lebenshaltung ist die vröude, die eine weltzugewandte, auf kultivierte Weise genussfreudige, auch der Sexualität zugeneigte, gesellige Hochstimmung meint. Gottfried von Straßburg beschreibt zu Beginn des 13. Jahrhunderts im Tristanroman das Hoffest König Markes mit einer Sprachkunst, die ebenso viel Genuss bereiten soll wie ein höfisches Fest selbst (Gottfried von Strassburg: Tristan und Isold. Hg. v. Walter Haug und Manfred Günter Scholz. 2 Bde. Berlin 2012, Bd. 1, S. 42-44, V. 587-626). Dâ hæte diu geselleschaft vrô unde sêre vröudehaft gehütet ûf daz grüene gras, alse iegelîches wille was. dâ nâch alse iegelîches ger ze vröuden stuont, dâ nâch lag er: die rîchen lâgen rîche, die höfschen hovelîche; dise lâgen under sîden dâ, jene under bluomen anderswâ; diu linde was genuoger dach; genuoge man gehütet sach mit loupgrüenen esten. von gesinde noch von gesten wart geherberget nie sô wunneclîchen also hie. ouch vant man dâ rât über rât, als man ze hôhgezîten hât, an spîse und edeler wæte, des iegelîcher hæte ze wunsche sich gewarnet dar. dar zuo sô nam ir Marke war sô grôze und alsô rîche, daz si alle rîlîche lebeten unde wâren vrô. sus huob diu hôhgezît sich dô; und swes der gerne sehende man ze sehene guoten muot gewan, daz lie diu state dâ wol geschehen; man sach dâ, swaz man wolte sehen: dise vuoren sehen vrouwen, jene ander tanzen schouwen; dise sâhen bûhurdieren, jene ander justieren. swâ zuo den man sîn wille truoc, des alles vant er dâ genuoc. wan alle, die dâ wâren von vröudebæren jâren, die vlizzen sich inwiderstrît ze vröuden an der hôhgezît. Da hatte die Gesellschaft, froh und voller Freude, Hütten im grünen Gras aufgeschlagen, ein jeder, wo er wollte. Danach lagerte jeder so, wie ihm der Sinn nach Freude stand: Die Reichen lagerten reich, die Höfischen höfisch. Die einen lagerten unter Seide, die andern anderswo unter Blumen. Die Linde war vielen ein Dach, viele sah man in Hütten aus laubgrünen Ästen. Weder Hofangehörige noch Gäste waren jemals <?page no="33"?> 25 MIT T E L HO C HD E U T S C H E LIT E RAT U R so prachtvoll untergebracht gewesen wie hier. Auch gab es da Fülle über Fülle, wie es sich bei Festen gehört, an Speisen und vornehmen Gewändern, womit sich jeder wunschgemäß versehen hatte. Zudem sorgte Marke für sie, so großartig und prächtig, dass sie alle in Reichtum lebten und fröhlich waren. So begann das Fest. Und was ein schaulustiger Mann anzuschauen Lust bekam, das erlaubte die Gelegenheit. Man sah dort, was man sehen wollte. Die einen gingen adelige Damen anschauen, die andern dem Tanz zusehen; die einen schauten beim Turnier zu, die andern beim Lanzenkampf. Was immer ein Mann auch wollte, das fand er dort in Fülle, denn alle, die in einem frohen Lebensalter dort waren, strebten auf dem Fest um die Wette nach Freude. Die Kirche unternahm seit der zweiten Hälfte des 11. Jahrhunderts Anstalten, größere Unabhängigkeit von den adeligen Herrschaftsverbänden zu gewinnen, ohne ihre eigenen Herrschaftsansprüche aufzugeben. Eine Reformbewegung strebte mit Erfolg den Aufbau einer hierarchischen Organisation mit dem Papst an der Spitze an, um den Einfluss der weltlichen Mächte zurückzudrängen. Deren Widerstand führte zum Konflikt, der im ›Investiturstreit‹ anlässlich der Frage eskalierte, ob der König oder der Papst die Bischöfe einsetzen darf. Es waren diese kirchlichen Freiheitsbestrebungen, die in West- und Mitteleuropa, dem Raum der römischen Kirche, die Entwicklung zu einer Trennung von Weltlichem und Geistlichem einleiteten. Wenn auch die Verweltlichung der Gesellschaft ein langer Prozess war, der erst im 18. Jahrhundert Breitenwirkung entfaltete - angestoßen wurde er im hohen Mittelalter, und schon einige Intellektuelle des 13. und 14. Jahrhunderts vertraten recht säkularisierte Ansichten. Weder im Raum der orthodoxen Ostkirche noch im islamischen Raum kam es zu einer ähnlichen Entwicklung, so dass man hier eine der entscheidenden Weichenstellungen erkennen kann, die zu dem führten, was wir heute als ›westliche Welt‹ bezeichnen. Gleichwohl blieb die Kirche im 12. und 13. Jahrhundert Trägerin von Bildung und Wissenschaft, die Bildungssprache folglich Latein. Vor allem in bischöflichen Domschulen beschäftigte man sich in zunehmendem Maß mit römischer Dichtung, neben der spätantiken christlichen nun auch mit der ›klassischen‹ heidnischen - Vergil und Ovid vor allem. Hier lernte man im Grammatik- und Rhetorikunterricht, selbst lateinische Prosa- und Verstexte zu verfassen. Viele höfische Dichter verfügten über eine solche Ausbildung und benutzten die poetisch-rhetorischen Kirche Bildung und Wissenschaft <?page no="34"?> 26 D E R Z E IT RAUM Techniken, die sie im Lateinunterricht erworben hatten, für ihre deutschsprachigen Texte. Die höfische Dichtung ist ohne die klerikale Tradition der Schulen deshalb genauso wenig denkbar wie ohne die neue adelige Laienkultur. Die hoch- und spätmittelalterlichen Wissenschaften bezeichnet man zusammenfassend als ›Scholastik‹ (von lateinisch scola für ›Schule‹). Die Studien nahmen nach einer langen Zeit, in der man sich eher auf die Bearbeitung des aus der römischen Spätantike Erhaltenen konzentriert hatte, einen enormen Aufschwung. Durch die Kreuzzüge gegen die arabischen Herrscher in Spanien und Palästina kamen die Europäer mit einer entschieden höher entwickelten arabischen Kultur in Berührung. Der Islam hatte Wissensbestände vor allem der griechischen Antike bewahrt und fortentwickelt, die nicht ins westliche Mittelalter gelangt waren. Manche arabische Gelehrte schätzten Beobachtung und Vernunft als Erkenntnisinstrumente in einem dem Westen unbekannten Ausmaß. Medizin, Astronomie, Mathematik, Logik, allem voran die Philosophie des Aristoteles - das waren die Gebiete, auf denen die europäischen Gelehrten griechisch-arabische Wissenschaft übernahmen. Als Kaderschmieden dienten die ersten Universitäten: In Paris und Oxford versuchte man, mit Hilfe der aristotelischen Philosophie zu einer rationalen Begründung des christlichen Glaubens zu kommen; in Salerno studierte man Medizin, in Bologna römisches Recht und Kirchenrecht. Eine äußerst nachhaltige Erscheinung, die im Aufbruch des 12. Jahrhunderts ihren Anfang nahm, ist die Laienfrömmigkeit. Sie trug erheblich zur Ablösung der frühmittelalterlichen Religiosität bei, die einen für unsere Begriffe durchaus fremdartigen Charakter hatte: Eine kleine geistliche Elite aus Mönchen und Weltklerikern war dafür zuständig, stellvertretend für alle das Heil zu erwirken. Zu diesem Zweck musste ein richtender und strafender Gott, den man sich als obersten Gefolgsherrn vorstellte, durch rituelle Sakralhandlungen, Gebets- und Bußleistungen versöhnt werden. Der Anteil der Laien an dieser Heilssicherung war gering. Wenn sie über Reichtum verfügten, hatten sie damit Auskommen und Leistungen der Geistlichen zu ermöglichen. Sonst verlangte die frühmittelalterliche Kirche von den Laien nicht viel: Taufe, Wortlaut von Vaterunser und Glaubensbekenntnis, jährliche Beichte mit Abendmahl. Eine genauere Vorstellung von den Glaubensinhalten mussten Laien nicht haben, Scholastik Laienfrömmigkeit und religiöse Literatur <?page no="35"?> 27 solange Religiosität vor allem in Ritualhandlungen von Klerikern bestand. Seit dem 12. Jahrhundert entwickelten sich dagegen jene Formen eines verinnerlichten, die Gefühle ansprechenden und mit religiösen Wissensinhalten gefüllten Glaubens, die bis heute die christliche Religiosität bestimmen. Zwar gab es weiterhin kein Seelenheil ohne priesterliche Vermittlung, aber Laienbewegungen brachten immer weiter um sich greifende Bedürfnisse nach religiöser Belehrung, religiöser Erfahrung und religiöser Lebensweise zum Ausdruck. Vor allem in den Städten breiteten sich religiöse Bruderschaften und Frauengemeinschaften aus, so dass es zu einer engen Verbindung zwischen Laienfrömmigkeit und entstehender Stadtkultur kam. Die Kirche hatte zunächst Schwierigkeiten, die Entwicklung unter Kontrolle zu halten, kanalisierte sie aber vom 13. Jahrhundert an durch die neuen ›Bettelorden‹, deren wirtschaftliche Existenz nicht mehr auf von Leibeigenen bewirtschaftetem Grundbesitz beruhte. Franziskaner, Dominikaner, Augustinereremiten und Karmeliter gründeten ihre Konvente in den Städten und beschäftigten sich vornehmlich mit Predigt und Laienseelsorge. Im Zusammenhang mit der Laienfrömmigkeit und den neuen Orden kam es seit dem 13. Jahrhundert zu einer breiten Produktion religiöser Texte auf Deutsch. Wie ein großer Strom wälzt sich diese Literatur durch das Spätmittelalter und mündet in die Reformation und die Gegenreformation. Auch diese literarische Tradition begann mit dem hochmittelalterlichen Aufschwung; anders als die höfische Dichtung wurde sie durch die Krisen des 14. Jahrhunderts aber eher gestärkt als beeinträchtigt. Spätes Mittelalter und frühe Neuzeit: Frühneuhochdeutsche Literatur (um 1350 bis um 1600) und mittelniederdeutsche Literatur (13. bis 16. Jahrhundert) Auch an den Adelshöfen im niederdeutschen Sprachraum wurde für poetische Texte im 12. und 13. Jahrhundert zumeist die mittelhochdeutsche Dichtersprache benutzt. Zum ersten Mal wurde das Niederdeutsche in dieser Zeit, begrenzt noch auf einen eingeschränkten Gebrauchszusammenhang, auf seinem eigenen Sprachgebiet vom Hochdeutschen überlagert. Da die Dichtung fast 4. Mittelniederdeutsch F RÜHN E UHO C HD E U T S C H E UND MIT T E LNI E D E R D E U T S C H E LIT E RAT U R <?page no="36"?> 28 D E R Z E IT RAUM völlig an die Adelshöfe gebunden war, gibt es nicht viele mittelniederdeutsche poetische Texte, aber allerhand Sachliteratur vom 13. bis zum 16. Jahrhundert - also eher parallel zur Zeit des Frühneuhochdeutschen als zu der des Mittelhochdeutschen. Danach wurde das Niederdeutsche auf allen Gebieten der Schriftlichkeit vom Frühneuhochdeutschen verdrängt, so dass es seinen Status als Schriftsprache verlor. Im Süden setzten sich im Lauf des 14. Jahrhunderts diejenigen Lautveränderungen durch, die das Mittelhochdeutsche vom Neuhochdeutschen unterscheiden. Erst im 17. Jahrhundert erlangte jedoch die Standardsprache im ganzen deutschen Sprachraum Geltung, die wir ›Neuhochdeutsch‹ nennen. In der Zeit dazwischen gab es eine große Vielfalt von Schreibdialekten, die man mit dem Begriff ›Frühneuhochdeutsch‹ zusammenfasst. Ein Gegenstück zur mittelhochdeutschen Dichtersprache existierte in der frühneuhochdeutschen Zeit nicht. Unter den regionalen Schreibsprachen erreichten jedoch zwei eine besondere Bedeutung: Das ›gemeine (das heißt ›allgemeine‹) Deutsch‹, das die kaiserliche Kanzlei für den Schriftverkehr verwendete, wurde vor allem im süddeutschen Sprachraum viel benutzt; im mitteldeutschen Raum spielte die Sprache der kurfürstlich sächsischen Kanzlei eine Vorbildrolle. Vor allem an der sächsischen Kanzleisprache, daneben aber auch am Gemeinen Deutsch orientierte sich Martin Luther bei seiner Bibelübersetzung (1522-1534). Wegen ihrer Verbreitung gewann die Lutherbibel erheblichen Einfluss auf die Entwicklung des Neuhochdeutschen. Frühneuhochdeutsch Gemeines Deutsch Kursächsische Kanzleisprache Frühneuhochdeutsch (Lutherdeutsch): Vaterunser (Matthäus 6, 9-13) in der Bibelübersetzung Martin Luthers nach dem Druck von 1545 (Das Neue Testament in der deutschen Übersetzung von Martin Luther. Hg. v. Hans-Gert Roloff. 2 Bde. Stuttgart 1989, Bd. 1, S. 24 f.): VNser Vater in dem Himel. Dein Name werde geheiliget. Dein Reich kome. Dein Wille geschehe / auff Erden / wie im Himel. Vnser teglich Brot gib vns heute. Vnd vergib vns vnsere Schulde / wie wir vnsern Schüldigern vergeben. Vnd füre vns nicht in Versuchung. Sondern erlöse vns von dem vbel. Denn dein ist das Reich / vnd die Krafft / vnd die Herrligkeit in Ewigkeit Amen. In der Mitte des 14. Jahrhunderts schlug die seit längerem kriselnde Wirtschaftslage in ein Katastrophenszenario um, als die Krise des 14. Jahrhunderts <?page no="37"?> 29 große Pest durch Europa zog. Die Bevölkerungszahl sank in kurzer Zeit rapide. Wer die zeitgenössische Beschreibung der Pest in Florenz am Beginn von Giovanni Boccaccios Novellensammlung ›Dekameron‹ liest, bekommt noch heute vor Augen geführt, wie die Erfahrungswirklichkeit der Menschen von Tod, Verarmung und vom Untergang jeder Ordnung erfüllt war. Die Zeit der Seuchen- und der Klimakatastrophen, der Missernten und des Hungers zog sich bis weit ins 15. Jahrhundert hinein, ehe es wieder zu einer Verbesserung der materiellen Lebensbedingungen kam. Die Landesherrschaft in den deutschen Territorien festigte sich im späteren Mittelalter durch den Aufbau einer institutionellen Verwaltungstätigkeit. An den Fürstenhöfen entstanden behördenähnliche Strukturen und ein Beamtenapparat, die die persönliche Herrschaft durch institutionelle Staatlichkeit ergänzten. Die Fürstenhöfe blieben Orte der Literatur. Allerdings ging die Produktion höfischer Dichtung in der Krisenzeit des 14. Jahrhunderts erheblich zurück. An den Höfen gab es weiterhin ein kultiviertes und gebildetes Publikum, aus dem auch die Textproduzenten kamen: In der fürstlichen Regierung und Diplomatie arbeiteten Adelige, die sich in den Hofdienst begeben hatten, und in wachsendem Maß studierte Juristen aus dem Stadtbürgertum. Unter den literarischen Interessen, die die Höfe vom 15. bis ins 16. Jahrhundert pflegten, fallen die rückwärts gewandten auf: In erster Linie schätzte man die epischen Stoffe der hochmittelalterlichen Dichtung; alte Texte wurden weiter abgeschrieben wie auch neu bearbeitet. Nach den Krisenjahrzehnten wurden das 15. und das 16. Jahrhundert zu einer wirtschaftlichen und kulturellen Blütezeit der Städte. Besonders die größeren süddeutschen Reichsstädte - Nürnberg, Augsburg, Basel, Straßburg - spielen in der Literaturgeschichte dieser Zeit eine herausragende Rolle. Wenn die höchst vielfältige städtische Literatur ein auffälliges Charakteristikum hat, so ist es ihre Konzentration auf das Thema ›Ordnung‹. Das hat seinen Grund: Nirgendwo sonst gab es so viel Ordnung wie in der Stadt. Harte Sanktionen sorgten für die Einhaltung einer Unzahl von Hygiene-, Kleider-, Markt-, Hochzeits- und allen nur erdenklichen anderen Vorschriften. Mit der detaillierten Regelung des Zusammenlebens begegneten die Stadträte nicht zuletzt den erheblichen sozialen Unter- Fürstenstaaten und Adelsliteratur Stadtkultur und städtische Literatur F RÜHN E UHO C HD E U T S C H E UND MIT T E LNI E D E R D E U T S C H E LIT E RAT U R <?page no="38"?> 30 D E R Z E IT RAUM schieden auf engem Raum. In den großen Städten lebten die wenigen reichen Grundbesitzer und Kaufleute wie Adelige, in Einzelfällen fürstengleich; als Patrizierfamilien pflegten sie ein ausgeprägtes Standesbewusstsein. Am Stadtregiment beteiligt war außer ihnen, je nach Stadt in unterschiedlichem Ausmaß, die größere Gruppe der Handwerker und Händler. Zusammen mit einem Bestand an Akademikern - Juristen, Theologen, Ärzten - waren Patrizier und Handwerker diejenigen städtischen Gruppen, die Zugang zur Schulbildung und damit zur Schriftkultur hatten. Die übergroße Mehrzahl der Stadtbewohner lebte ohne Bürgerrecht in Verhältnissen, die vom bescheidenen Auskommen der Knechte, Mägde und Tagelöhner bis zur extremen Armut der Bettler reichten. Abb. 1 Nürnberg-Holzschnitt aus der ›Schedelschen Weltchronik‹, Nürnberg 1493. ›Ein lobspruch der statt Nürnberg‹, 1530 von Hans Sachs gedichtet, zeigt das Verhältnis des Stadtbürgers zu seinem Gemeinwesen - »meynem vatterland«, wie es am Ende heißt. Nach einer Beschreibung von Bausubstanz und Stadtanlage wendet sich das Gedicht den Bewohnern zu. Stadtbürgerlicher Kaufmanns- und Handwerkerstolz, Kulturbewusstsein - auch die Künste werden erwähnt, besonders das Musizieren - und Lob der städtischen Ordnung gehen Hand in Hand (Hans Sachs: Ein lobspruch der statt Nürnberg. In: Hans Sachs. Hg. v. Adelbert von Keller und Edmund Goetze. Bd. 4. Tübingen 1870, S. 189-199, V. 161-238): <?page no="39"?> 31 [...] Inn der stat umb und umb Des volckes ist on zal und sumb, Ein embsig volck, reich und sehr mechtig, Gescheyd, geschicket und fürtrechtig. Ein grosser thayl treybt kauffmanns-handel, In alle landt hat es sein wandel Mit specerey und aller wahr. Alda ist jarmarckt uber jar Von aller war, wes man begert. Der maist thail sich mit hand-werck nert, Allerley handwerck ungenandt, Was ye erfunden menschen-hand. [...] Auch seind da gar sinreich werckleut mit trucken, malen und bild-hawen, Mit schmeltzen, giessen, zimmern, pawen, Der-gleich man find in keynen reichen, Die ihrer arbeyt thun geleichen, Als da manch köstlich werck anzeyget. Wer dann zu künsten ist geneyget, Der find alda den rechten keren; Und wellicher kurtzweyl will leren, Fechten, singen und saytenspil, Die find er künstlich und subtil. [...] Ir gsetz und reformation Ist fürgeschrieben yedermon. Darinn ist angezeiget wol, Was man thun oder lassen sol; Und wer sich darinn ubergafft, Der wirt nach gstalt der sach gestrafft. Auch ist verordnet ein gericht, Daran nyemand unrecht geschicht, Der-gleich ein malefitzen-recht, Geleich dem herren wie dem knecht. Also ein ersam weyser rat Selbs ein fleissig auff-sehen hat Auff seine burger aller stend Mit ordenlichem regiment, Guter statut und policey, Gütig on alle tyranney. [...] Also ein rat und die gemein Einhellig und einmütig sein Und halten da ein ander schutz, Darauß erwechst gemeiner nutz. Aus dem so hat die stat bestand. [...] Überall in der Stadt gibt es unzählige Menschen, fleißige Leute, reich und sehr mächtig, klug, geschickt und vorausblickend. Viele treiben als Kaufleute Handel in alle Länder mit Gewürzen und allen möglichen Waren. Jahrmarkt wird dort gehalten mit jeder Ware, die man haben will. Die meisten Leute leben vom Handwerk, ungezählte Arten von Handwerk, was des Menschen Hand jemals erfunden hat. [...] Es gibt sehr kunstfertige Handwerker wie Drucker, Maler, Bildhauer, Metallgießer, Zimmerer, Bauleute, wie man sie nirgendwo sonst findet, die so gut sind wie ihre Arbeit, was so manches kunstvolle Werk beweist. Wer die Künste schätzt, findet dort ihren wahren Kern, und wem der Sinn nach Vergnügungen wie Fechten, Singen und Musizieren steht, der findet sie auf kunstvollem und gelehrtem Niveau. [...] Gesetz und Stadtrecht ist jedermann vorgeschrieben. Darin wird aufgezeigt, was man tun oder lassen soll, und wer es übertritt, wird je nach Sachlage bestraft. Auch ist ein Gericht eingesetzt, vor dem niemandem Unrecht widerfährt, ebenso ein Strafrecht, das für den Herrn und den Knecht gleichermaßen gilt. Auf diese Weise übt ein ehrbarer, weiser Stadtrat unablässig die Aufsicht über seine Bürger aller Stände aus, mit ordnungsgemäßer Herrschaft, guten Gesetzen und Verordnungen, gütig und ohne jede Willkürherrschaft. Wenn der Rat und die Kommune auf diese Weise einig und einmütig sind und zueinander stehen, erwächst daraus der Gemeinnutz. Der gewährleistet das Fortbestehen der Stadt. [...] F RÜHN E UHO C HD E U T S C H E UND MIT T E LNI E D E R D E U T S C H E LIT E RAT U R <?page no="40"?> 32 D E R Z E IT RAUM Darauf folgt noch ein Lob der vier wichtigsten städtischen Leitnormen Weisheit, Gerechtigkeit, Ehrlichkeit und Wehrhaftigkeit. Aus Arbeit, Ordnung und Moral entsteht gemeiner nutz, das Gemeinwohl der Stadt, das ihre Existenz sichert. Das Wohl jedes Einzelnen ist von ihm gar nicht zu unterscheiden. Für die Kirche war das 14. Jahrhundert eine Krisenzeit, die auch im 15. nicht endete. Eine von vielen als reformbedürftig empfundene Institution und das nicht immer vorbildliche Verhalten ihrer Amtsträger erregten wachsenden Missmut. Dass beispielsweise Kleriker nicht vor weltliche Gerichte gestellt und keinen weltlichen Steuern unterworfen werden konnten, wurde in den Städten zu einem Dauerärgernis, weil die Angehörigen der Bettelorden dort einen erheblichen Anteil der Bevölkerung ausmachten. Freilich ging es bei der Kritik an der Kirche nicht nur um Politik. Da das Seelenheil allein durch die Vermittlung der Kleriker zu erhalten war, sorgten sich viele angesichts der institutionellen und moralischen Mängel um die zuverlässige Sicherung ihrer Glückseligkeit nach dem Tod. Zwei großen, langen Konzilien in Konstanz (1414-1418) und in Basel (1431-1449) gelang es nicht, den Reformstau in überzeugender Weise aufzulösen. In England und in Böhmen sorgten Protestbewegungen für Aufruhr. Unter den zahlreichen inhaltlichen und organisatorischen Reformvorschlägen fanden schließlich diejenigen besondere Beachtung, die der Wittenberger Theologieprofessor Martin Luther von 1517 an verbreitete. Allerdings waren manche seiner Standpunkte so radikal, dass die römische Kirche sie zurückweisen musste, wollte sie nicht ihre gesamte innere Ordnung und ihre Stellung in der Welt aufgeben. Luther schloss daraufhin ein Bündnis mit der weltlichen Obrigkeit, das heißt mit reformatorisch gesinnten Landesherren und Stadträten der Reichstädte. Auch der Zürcher Reformator Huldrych Zwingli arbeitete eng mit dem Rat der Stadt zusammen. Statt die alte Kirche zu reformieren, begann man mit dem Aufbau einer neuen. Die Reformation hatte auch eine Reihe literaturgeschichtlicher Konsequenzen. Beispielsweise waren die von Klerikern gesungenen liturgischen Lieder der katholischen Messe lateinisch wie die ganze Messe. Weil nach Luthers Lehre nicht der Priester den Gottesdienst vollzieht, sondern die Gemeinde unter Anleitung des Pfarrers, fand der protestantische Gottesdienst bald auf Deutsch Kirche Reformation <?page no="41"?> 33 statt. Für die Einbeziehung der Gemeinde schien Luther der gemeinsame Gesang die beste Form. So fing er an, Kirchenlieder zu produzieren, und begründete damit eine mächtige Tradition. Bis weit ins 20. Jahrhundert hinein hatte jedes lutherische Schulkind (darunter auch so mancher spätere Dichter) einen Grundbestand an Kirchenliedern auswendig zu lernen, die den ganzen weiteren Lebensweg begleiteten. Keine andere Gattung der deutschen Lyrikgeschichte entfaltete jemals eine auch nur annähernd vergleichbare Wirkung mit Texten, die über Jahrhunderte unverändert im Gebrauch blieben. Weniger spektakulär als die Reformation, aber langfristig mit erheblichen Folgen für die Lebenswirklichkeit, entwickelte sich vom 14. Jahrhundert an die zunehmende Ablösung der Wissenschaft von der Kirche. Bis zum 13. Jahrhundert waren die Gelehrten dem Rechtsstand nach Kleriker, der Ausbildung nach zumeist Theologen, seltener Juristen oder Mediziner gewesen. Wenn sich die Verhältnisse bis zum 16. Jahrhundert immer mehr zugunsten von Laien verschoben, die vorzugsweise Jura oder Medizin studiert hatten, so steht dahinter zum einen der Bedarf der fürstlichen Verwaltungsstaaten und der Stadtgemeinden an Juristen und Ärzten, zum andern das neue Bildungsprogramm des Humanismus. Der Humanismus entstand im 14. Jahrhundert in Italien, wo die Stadtrepubliken in den Schriften des römischen Republikaners Cicero aus dem 1. Jahrhundert v. Chr. die Rechtfertigung ihrer politischen Ordnung fanden. Das Interesse erweiterte sich schnell auf die gesamte ›klassische‹ römische Antike, die man von einem patriotischen Standpunkt aus als Blütezeit Italiens wahrnahm. Die Rückbesinnung darauf sollte ein neues glanzvolles Zeitalter herbeiführen, eine ›Wiedergeburt‹ (Renaissance) der Antike. Deshalb stand das Studium der klassischen lateinischen Sprache und Literatur, in geringerem Maß auch der griechischen, im Zentrum des humanistischen Bildungsprogramms. Man verstand es als ein studium humanitatis: ein Studium des Menschlichen als Methode sprachlicher und moralischer Bildung, als Training im richtigen Reden, Denken und Handeln, orientiert an den antiken Vorbildern. Damit war keine Abwendung von der christlichen Religion verbunden; die meisten Humanisten wollten sie ganz im Gegenteil stärken. In ihrem Bildungsprogramm erhielten vorchristliche antike Texte denselben Stellenwert wie die spätan- Wissenschaft Humanismus F RÜHN E UHO C HD E U T S C H E UND MIT T E LNI E D E R D E U T S C H E LIT E RAT U R <?page no="42"?> 34 D E R Z E IT RAUM tiken Schriften der Kirchenväter. An den Universitäten fand das humanistische Interesse für antike Literatur in Gestalt von Lehrstühlen für Rhetorik und Poetik eine eigenständige Institutionalisierung. In den deutschen Sprachraum kam der Humanismus im 15. Jahrhundert einerseits durch italienische Gelehrte, andererseits durch Studenten, die zum Jura- oder Medizinstudium nach Italien gingen und dort auch Vorlesungen von Humanisten besuchten. Der Typus des humanistisch gebildeten Juristen oder Arztes im fürstlichen oder städtischen Dienst blieb noch weit über das 16. Jahrhundert hinaus von großer kulturgeschichtlicher Bedeutung. Ein zweiter Typus des Humanisten war auch im deutschen Sprachraum der Universitätslehrer für lateinische, in geringerem Maß dazu für griechische Sprache und Literatur. Die deutschen Humanisten brachten im 16. Jahrhundert eine breite und anspruchsvolle Literatur hervor. Sie blieben dabei jedoch ihren programmatischen Prinzipien treu und bedienten sich der lateinischen Sprache. Der Einfluss des Humanismus auf die deutschsprachige Literatur fiel zunächst gering aus und setzte sich erst im 17. Jahrhundert, in der Barockdichtung, auf breiter Front durch. Alle genannten gesellschaftlichen und kulturellen Entwicklungen im 15. und 16. Jahrhundert - der Aufbau des fürstlichen Verwaltungsstaats, die Stadtkultur, die Reformation, der Humanismus - profitierten in erheblichem Ausmaß von der bedeutendsten technischen Innovation der Zeit: Um 1450 erfand Johannes Gutenberg den Buchdruck, mit dem das Zeitalter der handschriftlichen Textverbreitung zu Ende ging und der im Verlauf der folgenden Jahrhunderte tiefgreifende kulturgeschichtliche Veränderungen nach sich zog. Neulateinische Literatur Buchdruck <?page no="43"?> 35 Ältere deutsche Literatur - die Ausbreitung der Schriftlichkeit Was ist ›deutsche‹ Literatur? Wer Texte als sprachliche Phänomene versteht, wird mit ›deutscher Literatur‹ nichts weiter meinen als ›Literatur auf Deutsch‹. Als zu Beginn des 19. Jahrhunderts eine Wissenschaft von der Geschichte der deutschen Sprache und Literatur entstand, beruhte das jedoch nicht auf der pragmatischen Überlegung, dass jedes Textverstehen Sprachkenntnis voraussetzt. Vielmehr galten Sprache und Literatur als Ausdruck nationaler Eigenschaften, und die Beschäftigung mit ihrer Geschichte sollte das Nationalbewusstsein der Deutschen fördern. So war es das Verständnis von Texten als Phänomenen einer nationalen Kultur, das der Germanistik ins Dasein verhalf. Die Idee der ›Nationalliteratur‹ stammt aus dem 18. Jahrhundert. In der Zeit der Aufklärung wurde sie als ein kulturpolitisches Konzept von Autoren entwickelt, die eine nationale literarische Öffentlichkeit schaffen wollten. Solange es eine Vielzahl deutscher Staaten gab, sollte sich die zeitgenössische Literatur über territoriale Zersplitterung, konfessionelle Gegensätze und Standesunterschiede hinweg an die Gesamtheit eines nationalen Publikums wenden. Gegen Ende des 18. Jahrhunderts wurde die Vorstellung von der Existenz einer Nationalliteratur auf die Vergangenheit ausgedehnt. Die entstehende Germanistik knüpfte hier an und verstand die Literaturgeschichte als einen Beitrag zur Entwicklung der Nation. Die Vorstellung, dass es immer schon eine Nationalliteratur im Sinn des 18. Jahrhunderts gab, erwies sich freilich als falsch. In der Zeit vom 8. bis zum 16. Jahrhundert gab es Geistliche und ihre Klerikerliteratur, Adelshöfe und ihre Hofliteratur, Stadtbürger und ihre Stadtliteratur, Humanisten und ihre Gelehrtenliteratur. Sie existierten zwar nicht verbindungslos nebeneinander, aber Kapitel 3 1. Nationalliteratur <?page no="44"?> 36 DI E AU S B R E IT UNG D E R S C H R I F T LI C HK E IT ein nationales Literaturpublikum entstand erst seit dem 18. Jahrhundert. Ältere Literatur hatte engere Grenzen: Sie war oft an die unterschiedlichen Lebensbereiche der geburtsständischen Gesellschaftsordnung gebunden. Sie war häufig begrenzter in ihrer geographischen Reichweite, denn sie konnte vor dem Buchdruck nur durch mündlichen Vortrag oder durch handschriftliche Aufzeichnung verbreitet werden. Auch gedruckte Bücher wurden, von wenigen Ausnahmen abgesehen, erst seit dem 18. Jahrhundert massenhaft aufgelegt. Weil die ältere deutsche Literatur nicht im Sinn einer nationalen Literatur ›deutsch‹ war, ist das kulturelle Bestimmungskriterium der frühen Germanistik unangemessen. Ebenso wenig taugt jedoch das Sprachkriterium dazu festzulegen, was zur älteren deutschen Literatur gehört. Es schließt nämlich die zahlreichen lateinischen Texte ›deutscher‹ Verfasser aus, von den karolingischen Mönchen bis zu den Humanisten. Auch das Ausmaß, in dem ältere deutsche Texte nicht nur von lateinischen, sondern zudem von romanischen Vorbildtexten abhängig sein können, macht es schwierig, den Gegenstandsbereich mit dem Sprachkriterium abzugrenzen. Vielleicht wäre es deshalb angemessener, für das Mittelalter und die frühe Neuzeit überhaupt nur von einer europäischen Literatur zu sprechen und von vornherein die Zusammenhänge zwischen den lateinischen und den volkssprachlichen Texten in den Vordergrund zu stellen. Diese Idee liegt dem 1948 erschienenen Buch ›Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter‹ des Romanisten Ernst Robert Curtius zugrunde. Die Idee ist erneut eine kulturgeschichtliche: Das ›lateinische‹ Mittelalter, das bei Curtius übrigens erst im 18. Jahrhundert endet, war eine kulturelle Einheit, an der alle Texte in den verschiedenen Sprachen Anteil haben. Das Konzept der ›europäischen Literatur im lateinischen Mittelalter‹ trifft die historischen Verhältnisse jedoch nur teilweise. Denn obwohl die lateinisch-volkssprachlichen Literaturbeziehungen stets großes Gewicht hatten, gab es immer auch Eigenständigkeiten volkssprachlicher Traditionen gegenüber der lateinischen Literatur. Und obwohl die Beziehungen zwischen Texten in verschiedenen Volkssprachen eine enorme Rolle spielten, gab es spätestens seit dem 13. Jahrhundert erhebliche Unterschiede zwischen den volkssprachlichen Literaturen. Es verhält sich also kompliziert mit dem ›Deutschen‹ in der älteren deutschen Literatur. Das Nationale ist als Kriterium Europäische Literatur im lateinischen Mittelalter <?page no="45"?> 37 unbrauchbar; auf das Sprachliche kann man sich nicht beschränken. Die historischen Eigenheiten der verschiedenen Literaturen lassen sich aber auch nicht auf eine abendländische Einheitskultur zurückführen. Es braucht einen anderen Aspekt, unter dem das ›Deutsche‹ in der älteren Literatur behandelt werden kann und der es erlaubt, Einzelphänomene in einen übergreifenden Zusammenhang zu bringen. Denn die Modelle der Nationalliteratur und der europäischen Literatur im lateinischen Mittelalter lieferten vor allem Möglichkeiten, Zusammenhänge herzustellen. Einen solchen Aspekt eröffnet die Frage nach den Umständen für die Entstehung deutschsprachiger Schrifttexte, denn ältere deutsche Literatur ist überall dort greifbar, wo Schrifttexte auf Deutsch erhalten geblieben sind. Wenn man von ihnen ausgeht, lassen sich ihre vielfältigen kulturellen Verflechtungen mit anderssprachigen Texten in den Blick nehmen, auch ohne dass es dafür eine Geschichte sämtlicher europäischer Literaturen braucht. Es geht deshalb in diesem Kapitel um die Ausbreitung der deutschen Schriftlichkeit. Dieser Zugriff macht es möglich, vom Interesse für deutschsprachige Texte auszugehen, zugleich aber ihre vielfältigen kulturellen Verflechtungen mit lateinischen und romanischen Texttraditionen in den Blick zu nehmen. Deutsche Schriftlichkeit Frühes Mittelalter Die ausführlichste überlieferte Reflexion über althochdeutsche Schriftlichkeit stammt von Otfrid von Weißenburg. Otfrid stellte seinem ›Evangelienbuch‹ mehrere Widmungsbriefe voran, darunter einen lateinischen an Erzbischof Liutbert von Mainz, dem er erklärt, warum er das ›Evangelienbuch‹ verfasste. Die Anregung hätten einige Mönche und eine adelige Dame gegeben, als man sich einmal durch den »anstößigen Gesang der Laien« (cantus obscenus laicorum) gestört fühlte. Man habe ihn, Otfrid, gebeten, die Evangelien in der Volkssprache (theodisce) aufzuschreiben, damit ihr Gesangsvortrag (cantus) das Vergnügen an den weltlichen Liedern und ihrem nutzlosen Inhalt zurückdränge. Die Klage ist kein Einzelfall: Aus dem frühen und hohen Mittelalter sind manche Beschwerden darüber erhalten, dass selbst Ausbreitung deutscher Schriftlichkeit 2. a. Otfrid von Weißenburg: ›Evangelienbuch‹ D E U T S C H E S C H R I F T LI C HK E IT <?page no="46"?> 38 DI E AU S B R E IT UNG D E R S C H R I F T LI C HK E IT Kleriker größere Freude an weltlichen als an geistlichen Texten hätten. Anstößig und nutzlos waren weltliche Lieder vom geistlichen Standpunkt aus, weil sie ihres Inhalts wegen nichts zum Seelenheil beitragen konnten. Um welche Art von Texten es sich genau handelt, sagt Otfrid nicht. Jedenfalls soll seine eigene Erzählung vom Leben Jesu anstelle der weltlichen Lieder ebenfalls gesungen vorgetragen werden. Otfrid bringt nun außer den anstößigen Liedern der Laien noch zwei weitere Arten von Dichtung ins Spiel, nämlich die der heidnischen und der christlichen römischen Dichter. Damit greift er als Kleriker auf seine lateinische Bildungstradition zurück. Die Werke der heidnischen römischen Dichter sind als kunstvolle Schriftdichtung wegen ihrer Form vorbildlich, aber wegen des unchristlichen Inhalts problematisch. Die spätantike christliche Schriftdichtung ist sowohl technisch als auch inhaltlich vorbildlich, weil sie das Leben und die Lehre Jesu in kunstvoller Form verarbeitet. Eben dies will Otfrid jetzt auf Deutsch machen. Den ›anstößigen Gesängen der Laien‹, heißt das, fehlt außer dem akzeptablen Inhalt wegen ihrer volkssprachlichen Mündlichkeit auch eine ordentliche Form, wie Otfrid sie aus der lateinischen Schriftdichtung kannte. Diesen Aspekt rückt er in den Vordergrund, wenn er sich den Schwierigkeiten seiner Arbeit zuwendet und über die ungepflegte und ungeregelte Volkssprache (lingua inculta et indisciplinabilis) klagt. Die Franken würden sich größte Mühe mit einem fehlerfreien Latein geben, aber ihre eigene Sprache nicht durch Schriftlichkeit und grammatisch-rhetorische Regelung kultivieren. Otfrid ging es bei seinem Projekt einerseits um diese Kultivierung der Volkssprache, andererseits um die Verdrängung heilshinderlicher Texte durch heilsförderliche. Es war der lateinkundige Kleriker, der die volkssprachliche Schriftlichkeit wollte. Was bedeutet in diesem Fall ›Verschriftlichung‹? Die Volkssprache wird auf einem Gebiet benutzt, für das zuvor das Lateinische zuständig war: Deutsche Schrifttexte übernehmen den Inhalt lateinischer Schrifttexte. Dieser Typus von Verschriftlichung wurde von den Zeitgenossen selbst reflektiert, und heute können wir ihn wegen der greifbaren lateinischen Vorbilder gut beschreiben. Ihm steht als zweiter Typus ein Verschriftlichungsvorgang innerhalb der Volkssprache gegenüber, nämlich die Aufzeichnung von Texten, die es zuvor nur in mündlicher Gestalt gab. Dieser Fall ist wesentlich seltener; er ist prinzipiell schlecht beschreibbar, weil die Deutsche Schrifttexte und Mündlichkeit <?page no="47"?> 39 mündliche Tradition vor der schriftlichen Aufzeichnung unzugänglich ist; und er wurde von den Zeitgenossen selbst nicht reflektiert. Das herausragende althochdeutsche Beispiel ist das ›Hildebrandslied‹, das im 9. Jahrhundert im Kloster Fulda auf das erste und letzte Blatt einer Handschrift mit lateinischen Texten eingetragen wurde. Das ›Hildebrandslied‹ gehört zur Gattung der Heldenlieder, die auch in anderen germanischen Regionen wie Skandinavien und England gepflegt wurde. Die Fuldaer Handschrift ist die einzige erhaltene frühmittelalterliche deutsche Heldenlied-Verschriftlichung. Heldenlieder haben Stoffe mit einem historischen Kern, und zwar zumeist aus der Völkerwanderungszeit. Was sie erzählen, hat aber nur entfernte Ähnlichkeit mit den uns bekannten historischen Vorgängen. Der Dietrich der Heldenlieder entspricht dem Ostgotenkönig Theoderich der lateinischen Geschichtsschreibung, der 493 als Eroberer eine Königsherrschaft in Italien begründete. In der Heldenliedtradition ist Dietrich jedoch der rechtmäßige Herrscher über Italien und wird von einem Usurpator vertrieben; er flieht ins Exil zum Hunnenkönig Etzel, um nach vielen Jahren mit seinen Gefolgsleuten zurückzukehren. Hildebrand ist einer dieser treuen Männer Dietrichs. Dem Heldenlied-Etzel entspricht in der lateinischen Geschichtsschreibung der Hunnenkönig Attila, der 453 starb; der historische Theoderich konnte ihn deshalb kaum treffen. Heldenlieder gehören ursprünglich in eine schriftlose Kultur. Sie dienen der gemeinschaftlichen Erinnerung an große Männer und Ereignisse der Vergangenheit. Diese Erinnerung gewinnt ihre kulturelle Bedeutung weniger durch die Einmaligkeit des historischen Vorgangs, sondern eher durch modellhafte Handlungsmuster, die dauerhaft gültige Einsichten ermöglichen. Bei der Dietrich-Geschichte beispielsweise geht es um das Handlungsmuster von Flucht, Exil und Heimkehr des rechtmäßigen Herrschers. In der mündlichen Kultur sind Heldenlieder weder ›Geschichte‹ noch ›Dichtung‹ in unserem Sinn, sondern kollektives Gedenken in feierlicher Form: Was sie erzählen, gilt als wahr, weil sie mit dem Geschehen aus der Vorzeit das dauerhaft Gültige darstellen. Wo Heldenlieder und Schriftlichkeit zusammentreffen, prallen zwei Kulturen aufeinander. In mündlichen Kulturen gibt es keine alten Dokumente, anhand derer sich die historische Richtigkeit der Erinnerung überprüfen ließe; das Erinnerte verändert sich mit seiner mündlichen Überlieferung und bleibt dabei stets wahr. ›Hildebrandslied‹ Heldenlieder D E U T S C H E S C H R I F T LI C HK E IT <?page no="48"?> 40 DI E AU S B R E IT UNG D E R S C H R I F T LI C HK E IT Schriftkulturen bewahren dagegen alte Texte, an denen sich die Aussagen der späteren Geschichtsschreibung kontrollieren lassen. Die Schriftkultur, die von der römischen Antike an die lateinische Kirche vererbt worden war, verfügte anstelle der mündlich weitergegebenen Erinnerung über Textarchive in Gestalt von Bibliotheken: Die Kleriker des frühen Mittelalters konnten wissen, dass Theoderich nicht bei Attila war; sie konnten Heldenlieder deshalb für nutzlosen Unsinn halten, auch wenn manche von ihnen offenbar denselben Gefallen daran fanden wie die Laien. Die Vermutung, dass Otfrid mit dem ›anstößigen Gesang der Laien‹ Heldenlieder meinte, ist nicht von der Hand zu weisen. Aus den beiden Fallbeispielen lassen sich einige Unterscheidungen ableiten, die im Zusammenhang mit Mündlichkeit und Schriftlichkeit Beachtung verdienen: Erstens sollte man unterscheiden zwischen demjenigen Typus von Verschriftlichung, bei dem das Deutsche anstelle lateinischer Schriftlichkeit sowie nach dem Vorbild lateinischer Schriftlichkeit benutzt wird, und demjenigen Typus von Verschriftlichung, bei dem volkssprachliche Mündlichkeit in volkssprachliche Schriftlichkeit überführt wird. Der erste Typus ist im Frühmittelalter wie auch danach der bei weitem häufigere. Zweitens sollte man zwischen Produktion und Rezeption unterscheiden. Otfrids ›Evangelienbuch‹ ist produktionsseitig schriftlich, aber rezeptionsseitig ist es für das Anhören eines gesungenen Vortrags gedacht. Das schließt nicht aus, dass es auch Leser fand, aber in erster Linie stellt sich Otfrid seine Rezipienten als Zuhörer vor. Dies äußert sich auch in seinem ausdrücklichen Bemühen um einen guten Klang, und es spielt für die Textform eine Rolle in Gestalt des Verses. Solange rezeptionsseitige Mündlichkeit herrscht, herrscht der Vers, denn Verse sind zum Hören da. Heldenlieder waren dagegen produktionswie rezeptionsseitig mündlich. Sie sind uns nur in Gestalt von Verschriftlichungen zugänglich, deren Verhältnis zur mündlichen Tradition man prinzipiell nicht genau kontrollieren kann. Drittens sollte man zwischen medialer und konzeptioneller Mündlichkeit oder Schriftlichkeit unterscheiden. ›Medial‹ bezieht sich darauf, dass ein Text im konkreten Kommunikationsfall tatsächlich gesprochen und gehört oder geschrieben und gelesen Mündlichkeit und Schriftlichkeit Verschriftlichungs-typen Produktion und Rezeption Medial und konzeptionell <?page no="49"?> 41 wird. ›Konzeptionell‹ bezieht sich darauf, dass er typische Merkmale mündlicher oder schriftlicher Sprache zeigt. Konzeptionelle Schriftlichkeit bedeutet beispielsweise ein hohes Maß an durchdachter Geregeltheit auf allen Ebenen der Textproduktion. Die Schrift ermöglicht weiträumige Planung und dadurch eine hohe Komplexität vom Satzbau bis zum Handlungsaufbau von Erzählungen. Mündlicher Sprachgebrauch neigt dagegen, von der lexikalisch-syntaktischen Ebene bis zum Handlungsaufbau von Erzählungen, eher zu Reihenbildung als zu Komplexität sowie zur Verwendung von formelhaften Mustern, die bekannt sind und deshalb die Textproduktion und -rezeption erleichtern. Wer schreibt, rechnet außerdem nicht damit, Informationen auch durch nichtsprachliche Mittel wie Gestik oder Mimik weitergeben zu können; deshalb wird alles, was mitgeteilt werden soll, mit sprachlichen Mitteln ausgedrückt. Mündliche Kommunikation setzt dagegen gewöhnlich das Wissen um die Situation, in der sie stattfindet, voraus. Nur ein Teil der Information wird versprachlicht, weil noch andere Mittel wie Mimik oder Gestik zur Verfügung stehen. Bei einer Verschriftlichung können deshalb Informationslücken und Verständnisschwierigkeiten entstehen. Konzeptionelle Schriftlichkeit kann nur in Texten auftreten, die produktionsseitig auch medial schriftlich sind, also schriftlich verfasst wurden. Solche Texte kann man allerdings vorlesen; dann werden sie rezeptionsseitig medial mündlich. Ihre Merkmale konzeptioneller Schriftlichkeit verlieren sie dadurch nicht, wie man etwa bei vorgelesenen Reden oft bemerken kann. Eine Rede lässt sich aber auch so schreiben, dass sie beim Vorlesen nicht nach Schriftlichkeit klingt: Merkmale konzeptioneller Mündlichkeit können in produktionsseitig medialer Schriftlichkeit simuliert werden. Eine solche in Schrifttexten ›fingierte Mündlichkeit‹ ist nicht immer leicht von den Merkmalen ›echter‹ konzeptioneller Mündlichkeit zu unterscheiden, wie sie bei der nachträglichen Verschriftlichung ursprünglich mündlicher Texte erhalten bleibt, beispielsweise bei der Aufzeichnung eines Heldenlieds. Viertens sollte man von der Mündlichkeit oder Schriftlichkeit einzelner Texte die kulturellen Voraussetzungen und Konsequenzen von Mündlichkeit und Schriftlichkeit unterscheiden. Auf der kulturellen Ebene geht es beispielsweise um folgende Fragen: Wer setzte wann auf welchen Gebieten und zu welchen Zwecken lateinische und volkssprachliche Schriftlichkeit ein? In Konzeptuelle Schriftlichkeit und Mündlichkeit Text und Kultur D E U T S C H E S C H R I F T LI C HK E IT <?page no="50"?> 42 DI E AU S B R E IT UNG D E R S C H R I F T LI C HK E IT welchem Ausmaß und auf welche Weise war volkssprachliche Schriftlichkeit von Mündlichkeit beeinflusst? Welche Eigenheiten haben mündliche und schriftliche Kulturen, etwa beim Umgang mit der Vergangenheit? Unter den geschichtlichen Bedingungen, unter denen das Deutsche im 8. und 9. Jahrhundert mit vorübergehendem Erfolg und dann noch einmal seit dem 11. Jahrhundert mit dauerhaftem Erfolg als Schriftsprache antrat, ergab sich ein komplexes Verhältnis sowohl zur lateinischen Schriftlichkeit, die die Kleriker von der römischen Antike geerbt hatten, als auch zur Mündlichkeit, die die meisten Bereiche der gesellschaftlichen Kommunikation beherrschte. Im frühen Mittelalter war auch die lateinische Schriftlichkeit eine auf klerikale Heilssicherung und königliche Herrschaftsausübung begrenzte Erscheinung, die volkssprachliche war eine Erscheinung am Rand der lateinischen Schriftlichkeitsinseln. Die ältere deutsche Literaturgeschichte unter dem Aspekt der Entstehung und Ausbreitung volkssprachlicher Schriftlichkeit zu betrachten, bedeutet zugleich, die zunehmende Verschriftlichung einer anfangs noch weitgehend mündlichen Kultur zu verfolgen. Zum einen erscheint die lateinische Schriftlichkeit dabei über Jahrhunderte als Grundlage, am Ende als Opfer der Entwicklung. Zum anderen muss man stets damit rechnen, dass sich die Traditionen der Mündlichkeit in der volkssprachlichen Schriftlichkeit bemerkbar machen. Hohes Mittelalter Auch der zweite Anlauf zu einer volkssprachlichen Schriftlichkeit im 11. Jahrhundert wurde von Klerikern angestoßen, um den weniger Lateinkundigen heilsförderliche Texte nahe zu bringen (vgl. S. 137). Inhalt und Gebrauchsfunktion blieben deshalb zunächst erneut auf ein enges Feld begrenzt. Die Produktionsorte volkssprachlicher Texte waren dieselben wie die lateinischer, nämlich Klöster und Domschulen. Vom 12. Jahrhundert an drang die Schriftlichkeit mit der Einrichtung von Hofkanzleien dann jedoch in die weltlichen Fürstenhöfe ein. Der Grund dafür ist die zunehmende Verschriftlichung der Herrschaftsausübung mittels Urkunden, wie es seit längerem an der päpstlichen Kurie und am Kaiserhof üblich war. b. Schriftlichkeit am Hof <?page no="51"?> 43 Für den Urkundenverkehr benutzten die deutschen Fürstenhöfe zunächst das Lateinische; vom späten 13. Jahrhundert an wurde nach und nach auf Deutsch umgestellt. Weil Textarten wie Urkunden praktische Zwecke verfolgen, fasst man sie unter den Begriff der ›pragmatischen Schriftlichkeit‹ und unterscheidet davon die ›literarische Schriftlichkeit‹, zu der längere wissensvermittelnde Sachtexte und Dichtung gehören. In den Hofkanzleien arbeiteten Kleriker, die die übliche Ausbildung an einer Kloster- oder Domschule absolviert hatten, aber zur Hofgesellschaft gehörten. Daneben gab es in Gestalt der Minis terialen, die im Fürstendienst Militär- und Verwaltungsaufgaben ausübten, nun auch schriftkundige Laien, die eine Kloster- oder Domschule besucht hatten, ohne in den Stand der Kleriker eingetreten zu sein. Hofkleriker und Ministeriale spielten eine wichtige Rolle für die neue literarische Schriftlichkeit in der Volkssprache. Ihre Kompetenz ermöglichte die Produktion höfischer Literatur, deren Publikum die Hofgesellschaft insgesamt war und die von den Fürsten als Mäzenen gefördert wurde. Die mittelhochdeutsche höfische Literatur ist zum größten Teil Versdichtung. An anderen Arten volkssprachlicher Schrifttexte, insbesondere an solchen, die wir heute als Sachliteratur klassifizieren, herrschte geringerer Bedarf. So hielt das neue laienadelige Literaturinteresse die volkssprachliche Schriftlichkeit zunächst, von einzelnen Ausnahmen abgesehen, wieder in einem engen Rahmen. Das begründet ein ähnlich klares Profil wie bei den frühmittelalterlichen Texten: Dort die religiöse Klosterliteratur, hier die zwar umfangreichere, aber immer noch überschaubare laikale Hofdichtung. Das klare Profil ist nun aber ein deutlich anderes, nämlich ein recht weltliches: Liebe und Kampf waren die Themen, die die Höfe von ihren Dichtern vorzugsweise behandelt haben wollten. Ein Ministerialer war beispielsweise Hartmann von Aue, der sich im Prolog seines zu Beginn des 13. Jahrhunderts entstandenen Artusromans ›Iwein‹ folgendermaßen vorstellt: Pragmatische und literarische Schriftlichkeit Hofkleriker und Ministeriale Höfische Dichtung Höfischer Roman D E U T S C H E S C H R I F T LI C HK E IT Hartmann von Aue: Gregorius. Der arme Heinrich. Iwein. Hg. u. übers. v. Volker Mertens. Frankfurt a.M.: 2004, S. 318, V. 21-30: Ein rîter, der gelêret was unde ez an den buochen las, swenner sîne stunde <?page no="52"?> 44 DI E AU S B R E IT UNG D E R S C H R I F T LI C HK E IT Artusromane gehören zum Typus des höfischen Romans, der neben dem Minnesang wichtigsten Gattung der höfischen Dichtung im 12. und 13. Jahrhundert. Hartmanns Formulierungen zeigen, wie es um die Schriftlichkeit des höfischen Romans steht: Der Produzent ist ein Ritter, das heißt ein Laie, der aber gelêret ist; zu Hartmanns Zeit kann sich das nur auf eine lateinische Schulbildung beziehen. In einem anderen Werk, dem ›Armen Heinrich‹, bezeichnet Hartmann sich mit dem deutschen Wort für Ministerialer als dienestman. Der gelehrte und damit schriftkundige Laie, der als Ritter zur höfischen Welt gehört, verfasst schriftlich (tihten bedeutet wie die lateinische Entsprechung dictare ›schriftlich verfassen‹) eine Geschichte (mære), für die er eine schriftliche Vorlage hat (buoch). Hartmanns Vorlage war, wie beim höfischen Roman zu dieser Zeit üblich, ein altfranzösischer Text. Dessen Bearbeitung unternimmt Hartmann nicht als Berufsdichter, sondern als Ritter dann, wenn er nichts Besseres zu tun hat. Das Ergebnis seiner auf Lesen und Schreiben gegründeten Bemühungen ist jedoch zum Hören gedacht: Sein Publikum stellt sich Hartmann hier ausdrücklich und auch sonst vornehmlich nicht als Leser, sondern als Zuhörer vor. Höfische Romane wurden vorgelesen. Schon im 13. Jahrhundert gibt es jedoch Hinweise darauf, dass neben dem Vortrag auch die Privatlektüre eine Möglichkeit der Rezeption war. Unter den Adeligen am Hof konnten eher die Frauen lesen als die Männer, die alles Schriftliche von ihren Klerikern und Ministerialen erledigen ließen. Diese freilich gehörten als lesekundige Männer ebenso zur Hofgesellschaft. niht baz bewenden kunde: daz er ouch tihtennes pflac. daz man gerne hœren mac, dâ kêrt er sînen vlîz an. er was genannt Hartman unde was ein Ouwære der tihte díz mære. Ein Ritter, der gebildet war und diese Geschichte in den Büchern las, wenn er mit seiner Zeit nichts Besseres anzufangen wusste, so dass er sich dem Dichten widmete - was man gern hört, darauf verwandte er seine Mühe, er hieß Hartmann und war aus Aue -, der dichtete diese Geschichte. <?page no="53"?> 45 Während die höfischen Romane ihre produktionsseitige Schriftlichkeit ziemlich offen zeigen, sind die Verhältnisse beim Minnesang schwerer zu beurteilen. Die deutschen Minnesänger, die zugleich Dichter und Komponisten ihrer Lieder waren, bearbeiteten nur selten spezifische Texte ihrer romanischen Kollegen. Sie orientierten sich formal und inhaltlich in einer generellen Weise aber durchaus an deren Vorbild. Dazu mussten sie roma- Minnesang Abb. 2 Textbeginn in der ›Nibelungenlied‹-Handschrift C (geschrieben im 2. Viertel des 13. Jahrhunderts). D E U T S C H E S C H R I F T LI C HK E IT <?page no="54"?> 46 DI E AU S B R E IT UNG D E R S C H R I F T LI C HK E IT nische Liedtexte nicht schriftlich vor sich haben; womöglich kannten sie sie eher aus mündlicher Vermittlung. Unter denjenigen Minnesängern, deren sozialer Status historisch belegt ist, gab es neben Ministerialen, die schriftgelehrt waren, auch Adelige, bei denen das nicht sicher ist. Vor allem aber haben die Minnesänger im Gegensatz zu den Romandichtern in ihren Texten nichts über ihre Produktionsgewohnheiten verlauten lassen. Oft sind Syntax, thematischer Aufbau sowie Vers- und Strophenformen jedoch so kompliziert, dass eine Produktion ohne die Hilfe der Schrift nur schwer vorstellbar ist. Freilich müssen die Verhältnisse nicht einheitlich gewesen sein. Rezeptionsseitig ist die Lage dagegen klarer: Minnelieder waren zum Vorsingen und Anhören gedacht. Es gibt einige Belege dafür, dass man Liedtexte auch lesen konnte, aber das war eine sekundäre Angelegenheit. Zu einer erneuten Verschriftlichung mündlicher Heldenliedtraditionen kam es, bereits unter dem Einfluss der neuen Schriftdichtung des höfischen Romans, um 1200 in Gestalt des ›Nibelungenlieds‹. Dabei sind mündlich überlieferte Geschichten zusammengefügt, die ursprünglich voneinander unabhängig waren. Die Verbindung unterschiedlicher Stoffe zu einem langen Epos ist so komplex, dass sie wohl auf schriftlich gestützter Textkomposition beruhen dürfte. Auch sonst spricht manches dafür, dass das ›Nibelungenlied‹ nicht einfach nur mündliche Erzähltraditionen in Schriftlichkeit überführt. Als Buchepos greift es mit den Mitteln der Schriftlichkeit mündliche Erzähltraditionen nicht nur auf, sondern simuliert sie zugleich. Die Prologstrophe, die nur in einer der drei ältesten erhaltenen Handschriften steht, setzt ganz auf Mündlichkeit: Heldenepik Das Nibelungenlied. Mittelhochdeutsch / Neuhochdeutsch. Hg. v. Ursula Schulze, übers. und komm. v. Siegfried Grosse. Stuttgart 2011, S. 6, Str. C1. Uns ist in alten mæren wunders vil geseit von helden lobebæren, von grôzer arebeit, von fröuden, hôchgezîten, von weinen und von klagen, von küener recken strîten muget ir nu wunder hœren sagen. Uns ist in alten Geschichten viel Außerordentliches erzählt von ruhmvollen Helden, von großer Mühsal, von Freuden und Festen, von Weinen und Klagen, vom Kampf mutiger Krieger könnt ihr nun Außerordentliches erzählen hören. <?page no="55"?> 47 Während sich Hartmann im ›Iwein‹-Prolog als gelehrter Ritter präsentiert, der eine Geschichte in einem Buch liest und schriftlich bearbeitet, erhebt sich hier eine anonyme Stimme aus dem Kollektiv, dem in alten Geschichten Außerordentliches ›gesagt‹ ist. Kein Autor, keine Schriftquelle: Was es zu hören gibt, ist ›uns‹ mündlich überliefert. Kein dichterisches Bemühen, keine Erzählaktion eines Einzelnen, sondern ein Zustandspassiv: Was es zu erzählen gibt, ›ist‹ uns gesagt. Nur indem ein ›ihr‹ am Ende die Zuhörer aus dem anfänglichen ›uns‹ ausgliedert, kommt unausdrücklich ein Sprecher ins Spiel: die Stimme des kollektiven Gedächtnisses. So war das Heldenlied. In zwei der drei ältesten erhaltenen Handschriften beginnt das ›Nibelungenlied‹ allerdings nicht mit diesem Prolog, sondern unmittelbar mit der erzählten Geschichte. Das weckt den Verdacht, dass es sich um eine Zutat handelt, die den Vollzug der kollektiven Erinnerung eigens zum Thema macht und die Erzählung damit ausdrücklich zu einer Heldenlied-Geschichte stilisiert. Hier wird konzeptionelle Mündlichkeit in einem produktionsseitig schriftlichen Text konstruiert. Das Nibelungenlied ist der komplizierteste Verschriftlichungsfall des hohen Mittelalters: Einerseits nutzt es die Möglichkeiten schriftlicher Textproduktion, andererseits greift es auf mündliche Erzähltraditionen zurück. Deshalb lässt sich im Einzelnen schwer entscheiden, wo sich seine sprachliche Gestalt Merkmalen dieser Erzähltraditionen verdankt und wo es sich um gezielte Kunstgriffe handelt, die Mündlichkeit fingieren und einen altertümlichen Charakter simulieren sollen. Dies betrifft die verschiedensten Aspekte wie die Erzählverfahren, die Figurenkonstruktionen, die Formelhaftigkeit der Sprache, die Vers- und Strophenform. Selbst die Anonymität des Dichters gehört möglicherweise zu den Stilisierungen: Obwohl ein komplexes Schriftepos einen Bearbeiter oder eine Bearbeitergruppe voraussetzt, nennt sich im Gegensatz zum höfischen Roman kein Dichter; vielmehr ertönt die Stimme des anonymen Heldenlied-Sängers. Während die produktionsseitige Schriftlichkeit des ›Nibelungenlieds‹ einen ganz anderen Charakter hat als die des höfischen Romans, teilt es die rezeptionsseitige Mündlichkeit mit ihm. Allerdings wurde es nicht vorgelesen, sondern vorgesungen. Dies zeigt die strophische Form, denn Strophen waren zum Singen da. Eine Melodie ist allerdings nicht zum ›Nibelungenlied‹ selbst, D E U T S C H E S C H R I F T LI C HK E IT <?page no="56"?> 48 DI E AU S B R E IT UNG D E R S C H R I F T LI C HK E IT sondern nur zu jüngeren Texten mit einer ähnlichen Strophenform überliefert. Spätes Mittelalter und frühe Neuzeit Vom späteren 13. Jahrhundert an dehnte sich die volkssprachliche Schriftlichkeit über die Dichtung hinaus stetig auf neue und größere Gebrauchsfelder aus. Indem die Volkssprache immer weiter vordrang, nahm die Menge und die Vielfalt der Texte erheblich zu. Dennoch blieb es im Spätmittelalter und in der frühen Neuzeit bei einer prinzipiellen Zweisprachigkeit der Schriftkultur. ›Höhere‹ Bildung und Wissenschaft fand weiterhin auf Latein statt, ob in der älteren Art der klerikalen Schulen und der Universitäten oder in der jüngeren der humanistischen Studien. Jeder, der die Schulen durchlief, erwarb eine aktive Lateinkompetenz; alle Gelehrten waren zweisprachig. Gerade die Humanisten gaben dem Latein im 15. und 16. Jahrhundert noch einmal neuen Auftrieb, weil sie es als Träger einer an der römischen Antike orientierten Bildung und als Instrument einer effizienten Kommunikation über die Volkssprache stellten. Da Latein als Fachsprache aller Wissenschaften diente, waren seine Ausdrucksmöglichkeiten größer als die des Deutschen; da es stärker normiert war, war es ein zuverlässigeres Kommunikationsmittel; und da es von allen europäischen Gelehrten beherrscht wurde, war seine Reichweite größer. Für die Ausbreitung der volkssprachlichen Schriftlichkeit spielten die Städte eine wichtige Rolle. Hier entstanden auch erstmals Schulen mit deutschem Lese- und Schreibunterricht. In den Städten gab es einerseits ›Lateinschulen‹, die das Unterrichtsprogramm der Kloster- und Domschulen und damit die lateinische Bildungstradition übernahmen. Sie standen, wie die alten Klerikerschulen und die Universitäten, nur Jungen offen und waren die Bildungsinstitution der reicheren Bürger, vor allem der Patrizier. Im 16. Jahrhundert führten die Lateinschulen vieler Städte das neue humanistische Bildungsprogramm ein und wurden dadurch zu Brutstätten des Humanismus. Andererseits gab es in den Städten vom 14. Jahrhundert an ›deutsche Schulen‹. Sie wurden zur Bildungsinstitution der c. Ausbreitung der Schriftlichkeit Latein und Deutsch Stadtschulen <?page no="57"?> 49 wohlhabenderen städtischen Gruppen unterhalb des Patriziats, der Handwerker und Händler. Hier konnten Jungen und Mädchen rechnen sowie deutsch lesen und schreiben lernen. Wie die Lateinschulen wurden die deutschen Schulen nicht öffentlich finanziert; die Eltern mussten für den Unterricht bezahlen, und es gab auch keine Schulpflicht. Anders als die Lateinschulen verfolgten die deutschen Schulen kein inhaltliches ›Bildungsprogramm‹. Sie zielten auf die Vermittlung praktischer Lese- und Schreibfertigkeit und sollten die zukünftigen Stadtbürger in die Lage versetzen, mit Verträgen, Schuldverschreibungen und Handelsbüchern umzugehen sowie die Verordnungen zu lesen, die der Stadtrat erließ. Sie waren als Institution auf den Umgang mit Gebrauchstexten ausgerichtet, die in den Städten eine immer größere Rolle spielten. Für die zunehmende Alphabetisierung der Stadtbürger war die wachsende Bedeutung der pragmatischen Schriftlichkeit der wichtigste Grund. Neben die pragmatische Schriftlichkeit trat in den Städten wie auch an den Adelshöfen ein Interesse an wissensvermittelnder Literatur auf Deutsch, dem sich eine Vielzahl von Sachtexten aus den unterschiedlichsten Fachgebieten verdankt. Selbst bei der Dichtung kann man in Spätmittelalter und früher Neuzeit das herrschende Interesse an Sachinformation und Nützlichkeit beobachten. Auch von ihr erwarteten viele Rezipienten mit großer Selbstverständlichkeit die Vermittlung religiösen wie weltlichen Sachwissens und die Bekräftigung sozialer Ordnungsvorstellungen. Die verbreitete Vorliebe für Lehrhaftigkeit ermöglichte es den Dichtern allerdings auch, mit der Nützlichkeitserwartung ihres Publikums spielerisch umzugehen und sie gelegentlich nur scheinbar zu erfüllen. Zusammen mit der Zunahme der pragmatischen Schriftlichkeit und der wissensvermittelnden Literatur spielt als dritte Entwicklung die Ausbreitung der Prosa eine wichtige Rolle. Volkssprachliche Schriftprosa gab es auch im frühen und im hohen Mittelalter, aber in erheblich geringerem Ausmaß als schriftliche Verssprache. Die lange Zeit anhaltende Dominanz der Verssprache in der älteren Literatur beruht zum einen auf der Vorherrschaft poetischer Texte, denn ›Dichtung‹ bedeutete in der älteren Zeit zunächst ›Verstext‹, und zum anderen darauf, dass Dichtung bis zum 13. Jahrhundert gewöhnlich vorgetragen wurde: Verse sind ein akustisches Gestaltungsmittel. Pragmatische Schriftlichkeit Literarische Schriftlichkeit: Sachliteratur und Dichtung Prosa D E U T S C H E S C H R I F T LI C HK E IT <?page no="58"?> 50 DI E AU S B R E IT UNG D E R S C H R I F T LI C HK E IT Dass sich seit dem späteren Mittelalter die Prosa ausbreitet, liegt einerseits an der Zunahme der Sachliteratur, andererseits an der Ausbreitung der Privatlektüre als Rezeptionsweise. In ihrem Gefolge konnte die Prosa auch auf das Gebiet der poetischen Texte vordringen. Allerdings sind dafür nicht allein neue Rezeptionsgewohnheiten verantwortlich: Prosa assoziierte man mit Sachinformation und Nützlichkeit, weil sie die Sprachform der Sach- und Gebrauchstexte war. Sie konnte deshalb auch dazu dienen, einen zuverlässigen Informationswert poetischer Texte anzuzeigen. Ein besonders eindrucksvolles Beispiel für den Erfolg wissensvermittelnder deutscher Prosaliteratur ist der ›Sachsenspiegel‹, der allerdings noch aus der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts stammt und deshalb eigentlich zu alt ist, um im Spätmittelalter einsortiert zu werden. Seine einmalige Wirkungsgeschichte erstreckt sich jedoch über das Spätmittelalter bis in die Neuzeit. Der ›Sachsenspiegel‹, in mittelniederdeutscher Prosa verfasst, ist eines der ältesten deutschsprachigen Rechtsbücher und das bedeutendste des Mittelalters. Auch die Rechtsgeschichte ist von der Spannung zwischen volkssprachlicher mündlicher Kultur und lateinischer Schriftkultur geprägt. Deutsches Recht war bis zum 13. Jahrhundert mündliches Recht, das von Generation zu Generation weitergegeben wurde. Seine Existenzformen waren die kollektive Erinnerung und die praktische Anwendung. Als Gewohnheitsrecht gehörte es zum Gemeinschaftswissen aller; es war kein Expertenwissen von Fachjuristen. Daneben gab es schriftliche Aufzeichnungen des römischen Rechts, die im Mittelalter erhalten geblieben waren und aus dem auch das Kirchenrecht hervorgegangen war. Römisches Recht war schriftliches Recht, natürlich in lateinischer Sprache; und es war gelehrtes Recht, das Juristen als Experten benötigte. In einem langwierigen historischen Prozess hat sich das schriftlich-gelehrte Rechtssystem römischer Herkunft, das wir heute haben, schließlich gegen das mündliche Gewohnheitsrecht durchgesetzt. Um 1230 schrieb ein sächsischer Adeliger namens Eike von Repgow das sächsische Land- und Lehnsrecht (modern gesagt: das Zivil-, Straf- und Verfassungsrecht) auf. Neben der mündlichen Eike von Repgow: ›Sachsenspiegel‹ <?page no="59"?> 51 Überlieferung verarbeitete Eike zahlreiche schriftliche lateinische Quellen. Seine Bildung zeigt sich auch in seiner Behauptung, den ›Sachsenspiegel‹ zunächst auf Latein verfasst zu haben. ›Spiegel‹ entspricht dem damals gebräuchlichen lateinischen Buchtitel speculum, der den Anspruch signalisiert, dass das behandelte Wissensgebiet umfassend und als Teil der göttlichen Weltordnung dargestellt ist: Das Buch soll ein wahrheitsgetreuer Spiegel eines Teils der Schöpfung sein. Eike selbst hat die Bedeutung des Rechts als Inbegriff der göttlichen Ordnung in einer berühmten Formu- Abb. 3 Vorrede des ›Sachsenspiegels‹ in der Handschrift W (geschrieben im 3. Viertel des 14. Jahrhunderts). D E U T S C H E S C H R I F T LI C HK E IT <?page no="60"?> 52 DI E AU S B R E IT UNG D E R S C H R I F T LI C HK E IT lierung zum Ausdruck gebracht: God is selve recht, dar umme is em recht lef - Gott selbst ist Recht, darum liebt er das Recht. Die kulturgeschichtliche Bedeutung von Rechtssprache und Rechtsschriftlichkeit, die man ohnehin nicht hoch genug einschätzen kann, wird an der Überlieferung des ›Sachsenspiegels‹ ablesbar. Über 400 Handschriften und Handschriftenfragmente sind erhalten, dazu zahlreiche Drucke. Der ›Sachsenspiegel‹ wurde zur Grundlage der im späteren 13. Jahrhundert entstandenen süddeutschen Land- und Lehnsrechte; er wurde in zahlreichen spätmittelalterlichen und frühneuzeitlichen Landes- und Stadtrechten verarbeitet; er wurde ins Lateinische, Niederländische, Polnische übersetzt. Kein anderer deutscher Text aus dem 13. Jahrhundert hat eine solche Wirkungsgeschichte aufzuweisen. Überhaupt hat die ältere deutsche Literatur nur einen Text zu bieten, der den ›Sachsenspiegel‹ an Wirkungsmacht übertrifft: Martin Luthers Bibelübersetzung aus dem 16. Jahrhundert. Hier handelt es sich noch einmal um jenen Typus von Verschriftlichung, bei dem das Deutsche ein Gebiet besetzt, für das zuvor das Lateinische zuständig war. Die Bibel der römischen Kirche war seit der Spätantike lateinisch. Sie beruhte auf der Übersetzung der hebräischen und griechischen Schriften des Alten und Neuen Testaments, die der Kirchenvater Hieronymus im 4. Jahrhundert angefertigt hatte - der ›Vulgata‹. Nach der unter mittelalterlichen Klerikern verbreiteten Überzeugung brauchten die Laien die Bibel nicht im Wortlaut zu kennen, weil zu dessen richtigem Verständnis Wissensbestände nötig waren, die nur Kleriker erlernten. Als Grundlage der auf Latein betriebenen theologischen Wissenschaft kam ohnehin nur der lateinische Bibeltext in Frage. Bibelvermittlung in der Volkssprache bedurfte einer laiengerechten Aufbereitung der Heiligen Schrift. Eine bevorzugte Form dafür war Bibeldichtung: Einzelne biblische Bücher oder Geschichten sowie Zusammenfassungen der biblischen Ereignisgeschichte wurden in volkssprachliche Verse gebracht. Im späteren Mittelalter gab es dann auch vermehrt Prosanacherzählungen der biblischen Geschichten. Einen Sonderfall volkssprachlicher Bibelbearbeitung stellen allerdings die Psalmen dar, die seit dem Frühmittelalter oft übersetzt und nachgedichtet wurden. Das hat einerseits bildungsgeschichtliche Ursachen innerhalb der Klerikerkultur: Anhand der Luthers Bibelübersetzung <?page no="61"?> 53 Psalmen lernte man in den Schulen Latein; deshalb bestand ein Anlass, Übersetzungen als Hilfsmittel anzufertigen. Andererseits galten die Psalmen als Erbauungs- und Gebetstexte auch als laientauglich; deshalb wurden sie in die Volkssprache übertra- D E U T S C H E S C H R I F T LI C HK E IT Abb. 4 Titelblatt der Lutherbibel, Wittenberg 1534. <?page no="62"?> 54 DI E AU S B R E IT UNG D E R S C H R I F T LI C HK E IT gen. Auch die Evangelien und das alttestamentarische Hohelied wurden schon seit der althochdeutschen Zeit verschiedentlich auf Deutsch bearbeitet. Erst seit dem 14. Jahrhundert kam es jedoch zu verstärkten Bemühungen, größere Teile der lateinischen Bibel nicht in Gestalt von freien Nachdichtungen oder Nacherzählungen, sondern in Gestalt systematischer Übersetzungen ins Deutsche zu bringen. Auf einer Übersetzung aus dieser Zeit beruht auch die erste gedruckte deutschsprachige Bibel, die 1466 bei Johann Mentelin in Straßburg herauskam. Der Mentelin-Bibel folgten noch 21 weitere deutsche Bibeldrucke, bevor im September 1522 Martin Luthers Übersetzung des Neuen Testaments erschien (das ›Septembertestament‹). Luthers Übersetzung beruht auf dem griechischen Text, den der Humanist Erasmus von Rotterdam kurz zuvor neu herausgegeben hatte. Gleichwohl spielte der lateinische Vulgata-Text eine beträchtliche Rolle für Luthers Arbeit. Das gilt ebenso für das Alte Testament, das Luther von 1522 an mit seinen Mitarbeitern nach dem hebräischen Text übersetzte. Die erste Ausgabe der ganzen Lutherbibel mit Altem und Neuem Testament wurde 1534 gedruckt. Luthers deutsche Bibel entfaltete nicht nur in religionsgeschichtlicher, sondern auch in sprach- und literaturgeschichtlicher Hinsicht enorme Wirkungen. Unter anderem nahm Luthers Prosastil erheblichen Einfluss auf die weitere Entwicklung der deutschen Schriftsprache. Der Erfolg gründet nicht zuletzt darauf, dass Luther um eine Ausdrucksweise bemüht war, die sich am Gebrauch der Umgangssprache und ihrer vertrauten Redewendungen orientierte. Im ›Sendbrief vom Dolmetschen‹ aus dem Jahr 1530, in dem er seine Übersetzungsprinzipien gegen den Vorwurf ungerechtfertigter Freiheiten verteidigte, fasste er das in berühmt gewordene Sätze. Sie zeigen, dass auch für Luther das Lateinische als Ausgangssprache der Bibelübersetzung noch wichtig war: Martin Luther: Sendbrief vom Dolmetschen und Summarien über die Psalmen und Ursachen des Dolmetschens. Hg. u. eingeleitet v. Erwin Arndt. Halle a.d.S. 1968, S. 31 u. 33. [...] man mus nicht die buchstaben jnn der Lateinischen sprachen fragen / wie man sol Deudsch reden / wie diese Esel [seine katholischen Kritiker] thun / Sondern / man <?page no="63"?> 55 Die Ansicht, dass das Latein als Schriftsprache ein außerordentlich großes Hindernis für gutes Deutsch ist, war zu Luthers Zeit - und durch die Jahrhunderte zurück bis zu Otfrid von Weißenburg - nicht die übliche Einstellung der Gelehrten. Die Geregeltheit der lateinischen Schriftsprache hatte den meisten vielmehr als Vorbild für den Weg zu einer deutschen gegolten. Luthers Bibeldeutsch ist freilich keineswegs die Sprache der Mütter, Kinder und Markthändler. Es ist eine überlegt gestaltete, mit dem Mitteln der Rhetorik außerordentlich wirkungsvoll durchgeformte Kunstsprache religiöser Feierlichkeit, die der ›Heiligen Schrift‹ gerecht werden soll. Es gibt dafür viele schlagende Beispiele wie die Übersetzung von Matthäus 5,16, wo es weder im griechischen noch im lateinischen Text auffällige Lautwiederholungen gibt, mit »Also lasst ewer Liecht leuchten fur [vor] den Leuten«. So wird man auf dem Wittenberger Markt kaum geredet haben, und doch sind umgangssprachliche Wendungen in diese Kunstprosa eingebaut, wo sich eine Gelegenheit dazu bot. Luthers sprachliche Leistung besteht in der Kombination aus ›dem Volk aufs Maul schauen‹ und kunstvoller Stilisierung: in der Entwicklung einer Schriftprosa, die kein mündliches Deutsch war, aber nach vertrautem Sprachgebrauch klang; die kein übersetztes Latein war, aber an Konstruktionsgenauigkeit dem Schriftlatein gleichkam. D E U T S C H E S C H R I F T LI C HK E IT mus die mutter jhm hause / die kinder auff der gassen / den gemeinen man auff dem marckt drumb fragen / vnd den selbigen auff das maul sehen / wie sie reden / vnd darnach dolmetschen / so verstehen sie es denn / vnd mercken / das man Deudsch mit jhn redet. Als wenn Christus spricht / Ex abundantia cordis os loquitur. Wenn ich den Eseln sol folgen / die werden mir die buchstaben furlegen / vnd also dolmetschen / Aus dem vberflus des hertzen redet der mund. Sage mir / Jst das deudsch gered? Welcher deudscher verstehet solchs? Was ist vberflus des hertzen fur ein ding? Das kan kein Deudscher sagen / Er wolt denn sagen / es sey das einer allzu ein gros hertz habe / oder zu viel hertzens habe / wiewol das auch noch nicht recht ist / Denn vberflus des hertzen ist kein deudsch / so wenig / als das deudsch ist / Vberflus des hauses / vberflus des kacheloffens / vberflus der banck / Sondern also redet die mutter jm hause vnd der gemein man / Wes das hertz vol ist / des gehet der mund vber/ das heist gut deudsch gered / des ich mich gevlissen / vnd leider nicht allwege erreicht noch getroffen habe / Denn die Lateinischen buchstaben hindern aus der massen seer / gut deudsch zu reden. <?page no="64"?> 56 DI E AU S B R E IT UNG D E R S C H R I F T LI C HK E IT Lateinisch-deutsche Literaturbeziehungen Für die Entstehung deutscher Schriftliteratur waren neben mündlichen Traditionen viele lateinische und romanische Vorbilder von Bedeutung. Dabei spielten im frühen Mittelalter und im 11. Jahrhundert allein lateinisch-deutsche Literaturbeziehungen eine Rolle; vom 12. Jahrhundert an kamen die romanisch-deutschen dazu. Weil Latein in Mittelalter und früher Neuzeit die Sprache der Wissenschaften war - der Theologie ebenso wie aller anderen -, beruhen vor allem die deutschen Sachtexte auf der lateinischen Literatur. Lateinische Traditionen machen sich jedoch auch in der Dichtung immer wieder bemerkbar, für die indes vor allem im Hochmittelalter die romanischen Vorbilder von größerer Bedeutung waren. Die meisten althochdeutschen und altsächsischen Texte beruhen auf lateinischen Vorlagen und stehen in einem unmittelbaren Zusammenhang mit den karolingischen Reformen des späteren 8. und des 9. Jahrhunderts, die unter anderem auf einen geregelten lateinischen Schulbetrieb in den Klöstern zielten. Aufgabe der Schulen sollte es sein, die Führungsgruppen des fränkischen Reichs auszubilden und die christliche Lehre auf eine sichere Grundlage zu stellen. Die Volkssprache kam dabei ins Spiel, wo es um Hilfestellungen für den lateinischen Unterricht der Schulen und um die religiöse Unterweisung der Laien durch Kleriker ging. Ein außergewöhnliches Gewicht als Wissenschaftssprache gewann das Althochdeutsche zu Beginn des 11. Jahrhunderts im Unterricht des St. Galler Klosterschullehrers Notker, der deshalb den Beinamen ›Teutonicus‹ (der Deutsche) erhielt. Notker setzte die Volkssprache in den ›sieben freien Künsten‹ (septem artes liberales) ein, den Wissenschaften, die die Klosterschulen aus der römischen Spätantike übernommen hatten. Die Artes bestanden aus der Dreiergruppe (›Trivium‹) der sprachlichen Fächer Grammatik (lateinischer Sprachunterricht), Rhetorik (Stillehre und Textproduktion) und Dialektik (Logik und Argumentationslehre) sowie aus der Vierergruppe (›Quadrivium‹) der Sachfächer Arithmetik, Geometrie, Musik (Musiktheorie) und Astronomie (Himmelskunde einschließlich Kalenderberechnung). In den frühmittelalterlichen Schulen sollten die Artes dem besseren Verständnis der Weltordnung dienen, die Gott den Men- 3. Frühmittelalter Notker der Deutsche Artes liberales <?page no="65"?> 57 schen in der Bibel und in der Schöpfung offenbart hat. In diesem Sinn dienten sie der Theologie. Zu einigen der lateinischen ›Klassiker‹ der wissenschaftlichen Literatur, die im Artes-Unterricht benutzt wurden, fertigte Notker althochdeutsche Übersetzungen an, um seinen Schülern das Verständnis zu erleichtern. Dazu gehören der beliebteste ›Durchzieher‹ durch alle sieben Artes, der Traktat ›Von der Hochzeit der Philologie mit Merkur‹ (›De nuptiis Philologiae et Mercurii‹) von Martianus Capella (4. oder 5. Jahrhundert) und die jahrhundertelang einflussreichste Wissenschaftslehre ›Vom Trost der Philosophie‹ (›De consolatione philosophiae‹) von Boethius (gestorben 524). Selten, aber doch hin und wieder gibt es in der Geschichte der lateinisch-deutschen Literaturbeziehungen auch den Schritt von der deutschen in die lateinische Sprache. Im frühen Mittelalter beispielsweise bearbeitete ein Kleriker, wahrscheinlich ein St. Galler Mönch des 10. Jahrhunderts, einen Heldenliedstoff aus der mündlichen Tradition in lateinischen Versen, deren Ausdrucksweise ganz dem Vorbild der lateinischen Schriftepik verpflichtet ist. Die Geschichte handelt von einem Helden namens Walther und gehört zum Stoffkreis um Etzel und Dietrich. Der anonyme Dichter des lateinischen ›Waltharius‹-Epos kannte sich bestens in den Erzählkonventionen des Heldenlieds aus, behandelte sie aber auch mit überlegener Ironie: Am Ende verstümmeln die Helden einander im Kampf, versöhnen sich dann jedoch ganz unvermittelt und verspotten sich gegenseitig beim Wein wegen ihrer Behinderungen. Der Aufbruch des 12. Jahrhunderts brachte nicht allein die neue höfische Adelsdichtung aus dem romanischen und deutschen Sprachraum. Im Zusammenhang mit der sich ausbreitenden Laienfrömmigkeit entstand auch eine vielfältige geistliche Literatur in der Volkssprache, die vom 12. Jahrhundert an durch das ganze spätere Mittelalter hindurch auf dem Fundament der lateinischen Literatur heranwuchs. Drei Texttypen sind in diesem Zusammenhang von besonderer Bedeutung: Heiligenlegende, Predigt und Sachbuch. Die lateinischen Legenden - Erzählungen von Leben, Tod und Wundern der Heiligen - waren ursprünglich Klosterliteratur: Sie wurden bei der Messe und während der Mahlzeiten der Mönche vorgelesen. Daher kommt der Name legenda: ›das zu Lesende‹. Vor ›Waltharius‹ Hoch- und Spätmittelalter Geistliche Literatur Heiligenlegende LAT E INI S C H-D E U T S C H E LIT E RAT U R B E ZI E HUNG E N <?page no="66"?> 58 DI E AU S B R E IT UNG D E R S C H R I F T LI C HK E IT der Reformation diente der Begriff nicht dazu, unglaubwürdige Geschichten zu bezeichnen; das in Heiligenlegenden Erzählte galt vielmehr als faktische Wahrheit. Lateinische Legendensammlungen, die es schon im frühen Mittelalter gab, dienten auch als Nachschlagewerke, in denen Prediger und Seelsorger beispielhafte Geschichten finden konnten. Die im späteren Mittelalter einflussreichste lateinische Legendensammlung war die ›Legenda aurea‹ (›Goldene Legende‹) des italienischen Dominikaners Jacobus de Voragine aus dem 13. Jahrhundert. Die ersten deutschsprachigen Heiligenlegenden stammen aus dem 12. Jahrhundert. Bis zum Ende des 13. Jahrhunderts hielt sich der Vers als bevorzugte Form, dann ging die Legendenproduktion ziemlich rasch zur Prosa über. Den in Handschriftenwie Buchdruckzeit größten Erfolg erzielte die um 1400 entstandene Prosalegenden-Sammlung ›Der Heiligen Leben‹, die auf der vorangehenden deutschen Verslegenden-Literatur und auf verschiedenen lateinischen Quellen wie der ›Legenda aurea‹ beruht. Als Berichte vom vorbildlichen christlichen Leben, von Festigkeit und Zuversicht im Glauben und als Versicherung der Zuverlässigkeit der Heiligen als Nothelfer waren Legenden die verbreitetste Spielart religiöser Erbauungsliteratur. Im späten Mittelalter erreichten sie ein großes Publikum aus Klerikern wie Laien, Adeligen wie Städtern, Männern wie Frauen. Lateinische Predigtsammlungen, die teilweise auf die spätantike Kirchenväterzeit zurückgehen, dienten in erster Linie dazu, Mustertexte für das Predigen zur Verfügung zu stellen. Einzelne deutschsprachige Predigten sind schon aus dem früheren Mittelalter überliefert, aber erst von der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts an entstand eine ausgedehnte deutsche Predigtliteratur. Sie zeigt zum einen das neue, weit verbreitete Interesse an religiöser Unterweisung in der Volkssprache; zum andern hat sie die Entwicklung der deutschen Schriftprosa erheblich beeinflusst. Denn in der Regel handelt es sich bei den überlieferten Texten nicht um Mit- oder Nachschriften auf der Kanzel gehaltener Predigten, sondern um literarische Produkte - sei es als Muster für die tatsächliche Predigttätigkeit, sei es für verschiedene Anlässe privater oder gemeinsamer Lektüre. Die Geschichte des Sachbuchs in deutscher Sprache beginnt mit dem ›Lucidarius‹ (›Erleuchter‹), den ein anonymer Autor gegen Ende des 12. Jahrhunderts in Prosa verfasste. Den Titel hat das ›Legenda aurea‹ ›Der Heiligen Leben‹ Predigt Sachbuch ›Lucidarius‹ <?page no="67"?> 59 Werk von seiner wichtigsten lateinischen Vorlage, dem zu Beginn des 12. Jahrhunderts entstandenen ›Elucidarium‹ des unter anderem in Regensburg wirkenden Benediktiners Honorius Augustodunensis. Das ›Elucidarium‹ ist eine systematische Darstellung der christlichen Glaubenslehre in Form eines Dialogs zwischen Lehrer und Schüler. Der ›Lucidarius‹-Verfasser behielt diese Form bei, griff jedoch auf weitere lateinische Fachtraktate zurück, um das Wissen seiner Zeit mit dem Anspruch auf enzyklopädische Vollständigkeit wiederzugeben. Er präsentiert, was es über Gott, Himmel, Hölle, Welt und Mensch auf der Basis theologischer, astronomischer, geographischer und medizinischer Erkenntnis zu lehren gab. An die siebzig Handschriften und 82 immer wieder modernisierte Druckauflagen - von 1479 bis 1806! - bezeugen die enorme Wirkung dieser ersten deutschsprachigen Zusammenstellung von allem, was man wissen musste. Auf dem Feld der Dichtung ist die Tierfabel ein besonders markantes Beispiel lateinisch-deutscher Literaturbeziehungen vom Hochmittelalter bis zur frühen Neuzeit. Als Begründer der Gattung galt in der Antike der sagenhafte griechische Sklave Äsop. Die lateinische Fabelliteratur des Mittelalters beruht in erster Linie auf zwei Textsammlungen der römischen Spätantike, den Versfabeln Avians (4. Jahrhundert) und den Prosa-Fabeln der Romulus-Sammlung (5. Jahrhundert). Als fester Bestandteil des lateinischen Schulunterrichts waren Fabeln weit verbreitet und gerade unter den Gelehrten gut bekannt. In Fabeln reden und handeln Tiere wie Menschen, verhalten sich aber zugleich wie Tiere: Der Fuchs ist schlau wie ein schlauer Mensch, das Huhn ist einfältig wie ein einfältiger Mensch, aber der Fuchs frisst Hühner, wie Tiere Tiere fressen. Die Naturgegebenheit der Beziehungen zwischen den Tieren wird dadurch auf das soziale Handeln von Menschen übertragen: Die Schlauen nutzen die Einfältigen ebenso unvermeidlich aus, wie Füchse Hühner fressen. Auf diese Weise veranschaulichen Fabeln das Grundprinzip mittelalterlich-frühneuzeitlicher Ordnungsvorstellungen, dass die Beziehungen zwischen den Menschen auf von Menschen nicht veränderbaren Regularitäten beruhen. Die Fabelproduktion in deutscher Sprache steht fast ganz auf dem Boden der lateinischen Tradition. Einzeltexte sind seit dem späten 12. Jahrhundert erhalten; vom 14. Jahrhundert an entstanden Sammlungen. Einflussreich wurde Ulrich Boners gegen Dichtung Tierfabel LAT E INI S C H-D E U T S C H E LIT E RAT U R B E ZI E HUNG E N <?page no="68"?> 60 DI E AU S B R E IT UNG D E R S C H R I F T LI C HK E IT 1350 vollendete Fabelsammlung mit dem Titel ›Der Edelstein‹, die 1461 unter den ersten gedruckten deutschen Texten war. Auch bei Humanisten und Reformatoren war die Fabel wegen ihrer lateinischen Tradition und ihrer erkenntnisvermittelnden Nützlichkeit beliebt. Der Ulmer Stadtarzt Heinrich Steinhöwel, einer der produktivsten Autoren des deutschen Frühhumanismus, ließ 1476/ 77 einen zweisprachigen ›Esopus‹ drucken (Fabelsammlungen heißen mit dem Namen des sagenhaften Gattungsbegründers oft ›Äsop‹) und zeigte damit seine Doppelqualifikation als humanistischer Herausgeber lateinischer Texte und als Prosa-Übersetzer. Zusammen mit den getrennten lateinischen und deutschen Ausgaben, die bald darauf erschienen, wurde dieses Buch zu einem der größten Erfolge der frühen Druckzeit und zur wichtigsten Quelle für die deutsche Fabelliteratur des 16. Jahrhunderts. Romanisch-deutsche Literaturbeziehungen Seit der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts orientierten sich die deutschen Adeligen an der Hofkultur, die in verschiedenen Regionen des heutigen Frankreich und in England schon in der ersten Jahrhunderthälfte entstand. (Seit der normannischen Eroberung von 1066 waren der Königshof und die Adeligen in England französischsprachig.) Literatur in der Volkssprache war ein wichtiger Teil dieser Hofkultur: Dichtung gehörte einerseits zum Repräsentationsprogramm der Höfe und diente andererseits dazu, die höfischen Lebenswerte und Handlungsideale zu erörtern. Die Bezeichnung ›höfisch‹ (altfranzösisch ›corteis‹, mittelhochdeutsch ›hövesch‹) hat demnach eine zweifache Bedeutung: Sie identifiziert einerseits ein kulturelles Programm, andererseits den Adelshof als seinen sozialen Ort. Das Männlichkeitsideal der höfischen Kultur ist der Ritter (Grundbedeutung ›Reiterkrieger‹, altfranzösisch ›chevaliers‹, mittelniederdeutsch und als mittelniederdeutsches Lehnwort im mittelhochdeutschen Sprachraum ›ritter‹, mittelhochdeutsch ›rîter‹). Als ›Ritter‹ konnten im 12. und 13. Jahrhundert ohne Rücksicht auf die rechtsständischen Unterschiede innerhalb des Adels alle im kulturellen Sinn ›höfischen‹ Männer vom einfachen adeligen Grundherrn über die hocha- Ulrich Boner: ›Der Edelstein‹ Heinrich Steinhöwel: ›Esopus‹ 4. Höfische Dichtung ›Höfisch‹ <?page no="69"?> 61 deligen Fürsten bis zu Königen und Kaisern, außerdem auch nichtadelige Ministeriale bezeichnet werden. Es handelte sich deshalb um einen eher kulturellen als rechtsständischen Begriff. In seinem Kern zielt das höfische Männlichkeitsideal auf einen kontrollierten Einsatz der physischen Kampffähigkeit, der die körperliche Gewaltanwendung in den Dienst der Rechts- und Herrschaftsordnung stellt. Der höfische Ritter zeichnet sich deshalb durch Affektkontrolle aus, die jedoch nicht in Affektunterdrückung besteht, sondern in einer kultivierten Emotionalität, deren literarische Darstellung vor allem in Gestalt der höfischen Liebe erfolgt. Höfische Ritter sind überwältigend schön, haben perfekte Umgangsformen und zeigen ihren materiellen Reichtum in teuren Rüstungen, kostbaren und modischen Kleidungsstücken, prächtigen Burgen und Einrichtungsgegenständen. Auch das Pferd ist für den höfischen Reiterkrieger nicht allein ein Kampfinstrument, sondern zugleich ein teures Statussymbol. In dieser kulturellen Bedeutung wurde das Wort ›Ritter‹ auch nach dem 13. Jahrhundert weiter benutzt. Daneben gab es vom 14. Jahrhundert an jedoch noch einen neuen rechtständischen Wortgebrauch: In dieser Bedeutung bildete der niedere Grundherrenadel nun die ›Ritterschaft‹ im Unterschied zum Hochadel (Landesfürsten, Könige, Kaiser). Das Weiblichkeitsideal der höfischen Kultur ist die adelige Dame (altfranzösisch ›dame‹, mittelhochdeutsch ›frouwe‹). Sie ist ebenfalls strahlend schön sowie emotional, materiell und im sozialen Handeln maximal kultiviert. Damit erfüllt sie allerdings in erster Linie die Funktion, das Bemühen der Ritter um die Erfüllung des höfischen Männlichkeitsideals anzuspornen. An der Vermittlung der höfischen Kultur aus dem romanischen in den deutschen Sprachraum hatte der Literaturtransfer einen großen Anteil. Der Einfluss romanischer Vorbilder auf die deutsche Dichtung sollte für Jahrhunderte eine erstrangige Rolle spielen. Im 12. Jahrhundert wurden zunächst der Minnesang und die höfische Epik mit ihren verschiedenen Stoffbereichen importiert. Der Minnesang entstand um 1100 im Süden des heutigen Frankreich, der zu dieser Zeit jedoch nicht zum französischen Königreich gehörte, sondern aus selbstständigen Herrschaften bestand. Man sprach dort auch nicht Französisch, sondern Okzitanisch, eine Sprache, die eher dem heutigen Katalanisch ähnelt. Ritter Höfische Dame Minnesang R OMANI S C H-D E U T S C H E LIT E RAT U R B E ZI E HUNG E N <?page no="70"?> 62 DI E AU S B R E IT UNG D E R S C H R I F T LI C HK E IT Die Liebeslieder der altokzitanischen Minnesänger, der Trobadors, sind die ersten bekannten volkssprachlichen der abendländischen Geschichte. So neu, wie sie selbst als Kunstform waren, war auch die Idee der Liebe, von der sie handeln. Die Trobadors nannten sie die fin’ amors - die ›feine‹, nämlich vornehme und wahre Liebe. Im Mittelpunkt dieser Konstruktion steht das Modell des Frauendienstes: Ein adeliger Mann ›dient‹ einer adeligen Dame, indem er sich bedingungslos ihrem Willen unterwirft, aufrichtig und beständig allein um ihre Gegenliebe wirbt, ihre abweisende Haltung trotz des ihm dadurch zugefügten schweren Leids mit unerschütterlicher Bereitwilligkeit erträgt und als Minnesänger seine Lieder für sie singt. Der Minnesang selbst ist Frauendienst; wenn der Minnesänger vor seinem höfischen Publikum ein Lied singt, ist stets unterstellt, dass er damit als Liebender seiner Dame dient. Als ›Lohn‹ erhofft und fordert er die sexuelle Zuwendung der Dame; da sie nicht mit ihm verheiratet ist, erlauben ihr die gesellschaftlichen Normen jedoch nicht, ihn zu erhören. Konstitutiv für das Frauendienst-Modell ist eine spezifische Grundspannung, die darin besteht, dass sich der Mann durch die moralische Qualität seiner aufrichtigen und beständigen Liebe, durch die mit dem ertragenen Leid verbundene emotionale Anstrengung und durch seine Leistungen als Minnesänger einerseits einen Anspruch auf - körperlich gemeinte - Gegenliebe erdient, dass die Gewährung des Lohns aber dennoch der Gnade der Dame, ihrem freien Willen, anheimgestellt ist. Aus diesem Grund können die beiden nicht miteinander verheiratet sein; im zeitgenössischen Eherecht gab es nämlich einen Rechtsanspruch auf ehelichen Geschlechtsverkehr. Die Dame kann sich, wie manche Lieder zeigen, auch gegen die gesellschaftliche Norm entscheiden und den Mann erhören. Die Erfüllung des Begehrens ist nicht als prinzipiell unmöglich, aber immer als verboten gedacht; weil sie gegen die sozialen Regeln verstößt, muss sie verheimlicht werden. Das Modell ist ein Bestandteil des höfischen Männlichkeitsideals. In der freiwilligen Selbstunterwerfung und Selbstbeherrschung des höfischen Mannes zeigt sich eine kulturelle Überlegenheit, die seinen gesellschaftlichen Führungsanspruch begründet: Nur wer sich selbst beherrschen kann, kann auch andere beherrschen. Adelige Herrschaft wird so nicht allein durch die mit der Geburt als Adliger erworbenen Rechte begründet, sondern Frauendienst Höfisches Männlichkeitsideal <?page no="71"?> 63 zusätzlich durch die Bereitschaft des Adeligen, anderen aus freiem Willen zu dienen. In der Selbstunterwerfung des von Natur aus ›stärkeren‹ unter das eigentlich ›schwächere‹ Geschlecht ließ sich das besonders gut demonstrieren. Dieses Liebesmodell war ein durchschlagender Erfolg in der adeligen Welt. Es verbreitete sich im ganzen okzitanischen Sprachraum bis nach Nordspanien und Norditalien. Um 1150 wanderte es nach Norden in den französischen Sprachraum. Seit etwa 1170 begannen deutsche Minnesänger, sich am Vorbild ihrer okzitanischen und französischen Kollegen zu orientieren, und von da an wurde über 150 Jahre lang an deutschen Höfen von der vornehmen und wahren Liebe des Frauendienstes gesungen. Die altfranzösischen epischen Texte, die die deutschsprachigen Dichter bearbeiteten, lassen sich nach drei unterschiedlichen Stoffgebieten in Antikenroman, französische Heldenepik und bretonischen Roman ordnen. Der erste Typus, der verdeutscht wurde, war der Antikenroman. Die deutschen Dichter haben drei antike Stoffe aufgegriffen: Die Geschichte Alexanders des Großen; die Geschichte des Trojaners Aeneas - er flieht nach dem Untergang Trojas mit seinen Gefolgsleuten und begründet eine neue Herrschaft in Italien, aus der das römische Reich hervorgeht - und die Geschichte des Trojanischen Kriegs selbst. Die Tabelle stellt die ältesten Texte und ihre französischen Vorbilder zusammen: Die Antikenromane zeigen, dass romanische Vorbilder die Bedeutung der lateinischen Tradition nicht ausschließen: Alle französischen Texte haben ihrerseits lateinische Quellen, die gewöhnlich auch den deutschen Bearbeitern bekannt waren. So beruht beispielsweise der altfranzösische Eneasroman auf der ›Aeneis‹ des Höfische Epik Antikenroman R OMANI S C H-D E U T S C H E LIT E RAT U R B E ZI E HUNG E N Text französischer Dichter Entstehung deutscher Dichter Entstehung Alexanderroman Alberic von Bisinzo um 1120 Lamprecht um 1150 Eneasroman anonym um 1155 Heinrich von Veldeke um 1170/ 90 Trojaroman Benoît de Ste.-Maure um 1160 Herbort von Fritzlar um 1200 <?page no="72"?> 64 DI E AU S B R E IT UNG D E R S C H R I F T LI C HK E IT römischen Dichters Vergil (70-19 v. Chr.). Sowohl der Alexanderals auch der Trojastoff wurden im 13. Jahrhundert von weiteren Bearbeitern mehrmals erneut in deutsche Verse gebracht. Als zweiter Typus wurde die französische Heldenepik importiert. Während die Stoffe der deutschen Heldenepik - der Untergang der Burgunden im ›Nibelungenlied‹ und die Geschichten um Dietrich, die im 13. Jahrhundert in Dietrichepen neu verschriftlicht wurden - auf die Völkerwanderungszeit zurückgehen, stammen die Stoffe der französischen Heldenepik aus der Karolingerzeit. Auch sie hatten eine mündliche Erzähltradition hinter sich, als sie im 12. Jahrhundert auf Altfranzösisch verschriftlicht wurden. Auch sie berichten von großen Kampftaten großer Männer: Ihr Gegenstand sind die Kriege fränkischer Adeliger gegen die muslimischen Araber, die im 8. Jahrhundert Spanien erobert hatten. Die berühmteste Geschichte der französischen Heldenepik, das ›Rolandslied‹, hatte bereits zu Beginn des 12. Jahrhunderts den Sprung in die altfranzösische Schriftlichkeit geschafft. Roland, sein Held, opfert sich als Vasall Karls des Großen mit seinem Heertrupp in den Pyrenäen heroisch im Kampf gegen die arabische Übermacht. Als das ›Rolandslied‹ um 1170 von einem Kleriker namens Konrad auf Deutsch bearbeitet wurde, wurden die Kämpfe zwischen Franken und Arabern unter dem Eindruck der zeitgenössischen Kreuzzüge zum heiligen Krieg gegen heidnische Aggressoren. Die größte literarische Entdeckung des 12. Jahrhunderts war der dritte Stoffbereich der höfischen Epik mit britisch-bretonischen Geschichten, die keltischen mündlichen Erzähltraditionen entstammen. Menschen mit keltischen Muttersprachen lebten im 12. Jahrhundert, als französischsprachige Dichter und ihr Publikum Interesse an ihren Erzählungen fanden, in der ›kleinen Bretagne‹ auf dem Festland (der heutigen Bretagne), in den südwestlichen Randgebieten (Cornwall, Wales) der ›großen Bretagne‹ (dem heutigen Großbritannien) und in Irland. England, wo die französischen Eroberer nach 1066 auf keltische Briten trafen, spielte für die Stoffvermittlung eine wichtige Rolle. Unter den Stoffen britisch-bretonischer Herkunft erlangten zwei besondere Bedeutung: Die Geschichte von Tristan und Isolde und die Geschichten von den Artusrittern. Tristan und Isolde sind das berühmteste ehebrecherische Liebespaar der höfischen Dichtung. Die Geschichte signalisiert ihre Französische Heldenepik Konrad: ›Rolandslied‹ Bretonischer Roman Tristan und Isolde <?page no="73"?> 65 keltische Herkunft in ihrer eigenen Geographie: Tristan stammt aus der Bretagne, Isolde aus Irland, der betrogene Ehemann Marke ist König von Cornwall. Wahrscheinlich um 1170 bearbeitete Eilhart von Oberg eine nicht erhaltene, schriftliche französische Vorlage. Eine Generation später, um 1210, nahm sich Gottfried von Straßburg den französischen Tristanroman des Thomas von England zum Vorbild. Artus tritt zuerst in der lateinischen Geschichtsschreibung britischer Gelehrter des frühen und hohen Mittelalters auf, die vermutlich unter dem Einfluss mündlicher Erzähltraditionen standen. Die Figur hat vielleicht einen historischen Kern in einem keltischen Heerführer, der im 6. Jahrhundert gegen die angelsächsischen Eroberer Britanniens kämpfte. Der Geschichtsschreiber Geoffrey von Monmouth beförderte Artus in seiner ›Historia regum Britanniae‹ (›Geschichte der Könige Britanniens‹) in den dreißiger Jahren des 12. Jahrhunderts zum großen König: Geoffrey erzählt ausführlich seine Lebensgeschichte und lässt ihn halb Europa erobern. Was Geoffrey mit dem Anspruch auf historische Wahrheit (dem freilich manche seiner Fachkollegen misstrauten) in lateinischer Prosa berichtete, bearbeitete ein Kleriker namens Wace am englischen Königshof in den fünfziger Jahren des 12. Jahrhunderts als ›Roman de Brut‹ in altfranzösischen Versen. ›Roman‹ bedeutet hier ›Erzählung in der romanischen Volkssprache‹; ›Brut‹ ist der sagenhafte erste britische König Brutus, der bei Geoffrey und Wace am Anfang der britischen Königsreihe steht. Wace hat ihn als Namensgeber für seinen ›Roman‹, der jedoch vor allem von Artus handelt, benutzt. Bei Wace taucht zum ersten Mal die runde Tafel des Königs und seiner Ritter auf. Wace spielt auch auf mündliche Erzählungen im Zusammenhang mit Artus und seinen Rittern an: Während einer zwölfjährigen Friedenszeit zwischen den Kriegen sei der Hof des Königs zum Inbegriff adelig-ritterlicher Vorbildlichkeit geworden, und in dieser Zeit hätten sich die ritterlichen Begebenheiten zugetragen, von denen so viel erzählt würde, dass alles nur noch wie ein Märchen erscheine. Nicht der König selbst, sondern einer seiner Ritter dient jeweils als Hauptfigur der altfranzösischen Artusromane, die Chrétien de Troyes seit etwa 1170 verfasste. Während dem historischen Publikum die Geschichten von den antiken und den karolingischen Helden nicht in jeder Einzelheit, aber im Großen und Ganzen als historische Wahrheit galten, scheint es gegenüber diesen bri- Eilhart von Oberg Gottfried von Straßburg Artusroman Chrétien de Troyes R OMANI S C H-D E U T S C H E LIT E RAT U R B E ZI E HUNG E N <?page no="74"?> 66 DI E AU S B R E IT UNG D E R S C H R I F T LI C HK E IT tisch-bretonischen Rittergeschichten den Verdacht gegeben zu haben, sie könnten erfunden sein. Der Artusroman wurde zum perfekten Instrument, um die Ideale des höfischen Rittertums und der höfischen Liebe vorzuführen und zu problematisieren. Während Antikenroman und Heldenepik vor allem auf Kriege zwischen Herrschaftsverbänden und ihren Anführern konzentriert waren, konnte der Artusroman seine Hauptfigur stets im ritterlichen Einzelkampf und als Liebenden präsentieren. Nicht ein Interesse am einmaligen Individuum wird dabei greifbar, aber ein neues Interesse am Einzelnen, an seinem Handeln und an seinem Welterleben. Es war dieser Modernitätsvorsprung gegenüber den ›historischen‹ Stoffen, der den Artusroman zur Paradegattung der höfischen Epik machte. Auch hier geht es vor allem darum, das adelige Geburtsrecht auf Herrschaft durch ›höfische‹ Handlungskompetenz zu ergänzen: Indem der adelige Ritter seine Kampfkraft in den Dienst für Bedrängte stellt und gegen Aggressoren einsetzt, dient er der Rechtsordnung und beweist dadurch seine Befähigung zum Herrscher. Die Tabelle stellt die ältesten deutschen Texte und ihre französischen Vorbilder zusammen: Wie im Hochmittelalter, so waren französische Textvorbilder in Spätmittelalter und früher Neuzeit vor allem für die Dichtung wichtig. Auch die folgenreichste Neuerung, der Übergang zur Prosa in der epischen Großform, beruht auf französischen Modellen. In Frankreich waren schon seit dem Ende des 12. Jahrhunderts Prosaromane entstanden, unter denen dem ›Lancelot en prose‹ besondere Bedeutung zukommt. Er stellt den Versuch dar, eine Gesamtgeschichte der Artusritterschaft zu erzählen, die die unterschiedlichen Rittergeschichten in einen großen Zusammenhang Hartmann von Aue Wolfram von Eschenbach Spätmittelalter und frühe Neuzeit Prosaroman ›Prosa-Lanzelot‹ französischer Text Entstehung deutscher Text Entstehung Chrétien de Troyes: Erec et Enide um 1170 Hartmann von Aue: Erec um 1180 Chrétien de Troyes: Yvain um 1180 Hartmann von Aue: Iwein um 1200 Chrétien de Troyes: Perceval um 1180/ 90 Wolfram von Eschenbach: Parzival um 1205 <?page no="75"?> 67 integriert. Im Mittelpunkt steht Lanzelot mit seiner außerehelichen Liebesbeziehung zu Königin Ginover. Im 13. Jahrhundert übertrug ein unbekannter Bearbeiter Teile des ›Lancelot en prose‹ ins Deutsche; das Unternehmen wurde im 14. Jahrhundert um weitere Teile des französischen Texts vermehrt. Der ›Prosa-Lanzelot‹ ist unter den deutschen Artusromanen im 13. Jahrhundert der einzige, der kein Versroman ist, und zugleich der einzige nach Ulrich von Zatzikhoven, der auf einer französischen Vorlage beruht. Artusromane in Versen brachte man inzwischen auch allein zustande; die neue Form war wieder ein romanischer Import. Indes blieb er für lange Zeit der einzige deutsche Prosaroman. Die nächsten deutschen Prosaromane nach französischen Vorlagen entstanden in den dreißiger Jahren des 15. Jahrhunderts am Hof der Gräfin Elisabeth von Nassau-Saarbrücken, die als lothringische Herzogstochter französischsprachig aufgewachsen war. Elisabeths eigener Anteil an der Textproduktion ist nicht ganz klar. Die französischen Texte, die am Saarbrücker Hof ins Deutsche übertragen wurden, waren spätmittelalterliche Prosafassungen hochmittelalterlicher französischer Heldenepen. Die Bearbeitung hochmittelalterlicher Erzählungen, deren Handlungen im Frühmittelalter spielen, fügt sich zu den rückwärts gewandten literarischen Interessen, die in weiten Teilen der spätmittelalterlichen Adelsdichtung anzutreffen sind. In den alten Geschichten fand man offenbar die Grundsätze des eigenen aristokratischen Selbstverständnisses in besonders überzeugender Weise aufgehoben. Vom Jahr 1500 an, lange nach Elisabeths Tod, gelangten drei der Romane in überarbeiteten Fassungen in den Buchdruck und fanden von da an breitere Leserkreise. Den größten Erfolg erzielte der ›Huge Scheppel‹, der bis 1794 nachgedruckt wurde. Er erzählt die (erfundene, aber als wahr ausgegebene) Geschichte vom Sohn eines Ritters und einer Metzgerstochter, der dank seiner altadeligen Fähigkeiten und der finanziellen Hilfe seines Onkels zum französischen König wird - und zwar zum historischen König Hugo Capet (987-996), dem Begründer der kapetingischen Dynastie. Dass Prosaromane nach französischen Vorbildern bald auch von Städtern produziert wurden, zeigt die Orientierung der Patrizier an der Hofkultur. Man übernahm Traditionen, deren Glanz den eigenen Führungsanspruch bekräftigen sollte. Der Berner Patrizier Elisabeth von Nassau-Saarbrücken Thüring von Ringoltingen: ›Melusine‹ R OMANI S C H-D E U T S C H E LIT E RAT U R B E ZI E HUNG E N <?page no="76"?> 68 DI E AU S B R E IT UNG D E R S C H R I F T LI C HK E IT Thüring von Ringoltingen stellte 1456 einen der erfolgreichsten Prosaromane fertig, die bis ins 18. Jahrhundert nachgedruckte ›Melusine‹. Thüring übertrug einen um 1400 entstandenen französischen Versroman in deutsche Prosa, dessen Stoff schon im 12. Jahrhundert belegt ist und dem das alte Handlungsmuster der schwierigen Ehe zwischen Mensch und Fee zugrunde liegt. Die Hauptfigur, Graf Raimund von Poitiers, begründet mit der Meerfee Melusine, die jeden Samstag vom Nabel abwärts zur Schlange wird, ein Adelsgeschlecht, dessen Nachfahren immer noch leben - für Thüring ein Beleg der historischen Wahrheit seiner Geschichte, die auch die Prosa verbürgen soll. Als weitere Neuerung in den romanisch-deutschen Literaturbeziehungen des 15. und 16. Jahrhunderts kam schließlich die Übertragung italienischer Textvorbilder auf. So wurde in den siebziger Jahren des 15. Jahrhunderts in Ulm eine deutsche Übersetzung von Giovanni Boccaccios ›Dekameron‹ gedruckt, der um 1350 entstandenen, bedeutendsten italienischen Novellensammlung. Der Übersetzer firmierte unter dem Pseudonym ›Arigo‹, einer italianisierten Form des Namens Heinrich. Dahinter verbirgt sich möglicherweise ein Deutscher, der in Florenz unter dem Namen Arrigho di Federigho della Magna lebte. Arigos Übersetzung fand zunächst wenig Beachtung, doch ein überarbeiteter Neudruck, der 1535 in Straßburg erschien, entfaltete eine beträchtliche Wirkung in der deutschen Literatur des 16. Jahrhunderts. Der Nürnberger Dichter Hans Sachs beispielsweise bediente sich ausgiebig im deutschen Dekameron. So gaben die okzitanische, die französische und die italienische Dichtung der deutschen vom 12. bis zum 16. Jahrhundert - und noch darüber hinaus - immer wieder entscheidende Impulse. Dabei hatten die romanisch-deutschen Literaturbeziehungen über den gesamten Zeitraum fast immer dieselbe Richtung: Im deutschen Sprachraum wurden Modelle aus dem romanischen aufgenommen, so dass die romanische Welt Jahrhunderte lang das große kulturelle Vorbild blieb. Während die lateinische Literatur insgesamt das wichtigste Fundament war, auf dem sich die deutschsprachige Schriftliteratur in ihren verschiedenen Textsorten entwickelte und ausbreitete, trieben die romanischen Einflüsse die Entfaltung der deutschen Schriftdichtung entscheidend voran. Italienische Textvorbilder Arigo: ›Dekameron‹ <?page no="77"?> 69 Ältere deutsche Literatur - ›Literatur‹ und ›Dichtung‹ Die Begriffe ›Literatur‹ und ›Dichtung‹ Wer die Geschichte der älteren deutschen Literatur als Geschichte deutscher Schriftlichkeit versteht, hat einen ›weiten‹ Literaturbegriff: Literatur bezeichnet die Gesamtheit aller schriftlich überlieferten Texte. Dichtung ist dabei eine Textsorte neben anderen. Freilich nimmt sie im frühen und hohen Mittelalter einen auffälligen Rang ein, denn wer deutsche Schrifttexte produzierte, tat dies zumeist in Versen - und ›dichtete‹ damit nach der zeitgenössischen Einschätzung. Im späten Mittelalter und in der frühen Neuzeit beherrschen die nichtpoetischen Textsorten die Bühne dann immer mehr. Im Folgenden geht es um die Frage, was ›Dichtung‹ in der älteren Zeit bedeutete. Das Abstraktum ›Dichtung‹ ist seit dem 15. Jahrhundert belegt, wurde aber erst seit dem späten 18. Jahrhundert geläufig. ›Dichtung‹ ist vom Verb ›dichten‹ abgeleitet, das es schon im Althochdeutschen (dihton) und Mittelhochdeutschen (tihten) gab. Möglicherweise wurde es nach dem Vorbild des lateinischen Verbs dictare (›schriftlich abfassen‹, ›zum Aufschreiben vorsagen‹) gebildet, jedenfalls in den älteren Sprachstufen im selben Sinn wie dictare verwendet. In dieser weiten Bedeutung bezieht es sich auf die Produktion schriftlicher, nicht auf diejenige poetischer Texte. Seit dem 12. Jahrhundert ist das mittelhochdeutsche Wort tihtære belegt, aus dem neuhochdeutsch ›Dichter‹ wurde. In der weiten Bedeutung war ein tihtære, wer Schrifttexte verfasste. In einem engeren Sinn jedoch war ein tihtære ein Verfasser von Verstexten. In dieser Verwendungsweise entspricht die Bedeutung des Wortes derjenigen der lateinischen Bezeichnung poeta. Ein poeta ist, wer Verstexte macht; was seine Produkte von anderen Textsorten unterscheidet, ist die Versifizierung. So verhielt es sich in der römischen Antike und im lateinischen Kapitel 4 1. Dichtung, dichten, Dichter <?page no="78"?> 70 › LIT E RAT U R ‹ UND › DI C H T UNG ‹ Sprachgebrauch des Mittelalters und der frühen Neuzeit, der den antiken fortführte. Dass Dichtung ist, was versifiziert ist, würden wir heute nicht mehr behaupten. Geschichtsschreibung in Versen beispielsweise würde uns nicht nur verwundern; wir würden sie auch nicht ohne weiteres für Dichtung halten. ›Literatur‹ im weiteren Sinn wäre sie gewiss, aber nicht ›schöne Literatur‹ im engeren Sinn. Wie ist es zum Unterschied zwischen dem ›weiten‹ und dem Abb. 5 Dichter beim Dichten (Diktieren). Miniatur zu den Liedern Konrads von Würzburg in der Manessischen Liederhandschrift (geschrieben in der 1. Hälfte des 14. Jahrhunderts, vgl. Kapitel 6). <?page no="79"?> 71 DI E B E G R I F F E › LIT E RAT U R ‹ UND › DI C H T UNG ‹ ›engen‹ Literaturbegriff und zur Veränderung der Vorstellung von ›Dichtung‹ gekommen? Unser weiter Begriff von ›Literatur‹ hat seine Wurzeln im Sprachgebrauch der europäischen Humanisten des 15. und 16. Jahrhunderts. Sie verstanden unter litterae (der Plural zu littera, Buchstabe) jede Art von ›gelehrtem‹ Schrifttext, der aus einer ars (Fähigkeit) hervorging. Der humanistische Begriff von ars umfasste alles, was wir heute als Wissenschaften einerseits und Künste andererseits unterscheiden. Litterae waren deshalb die Produkte der Mathematik genauso wie die der Dichtung. Auf der Grundlage dieses weiten humanistischen Literaturbegriffs kam gegen Ende des 17. Jahrhunderts in Frankreich der engere Begriff der belles lettres auf, der ›schönen Literatur‹. Er bezeichnete die Produkte einer bestimmten Gruppe von ›Künsten‹, nämlich der mit Sprache befassten: Grammatik, Rhetorik und Poesie; dazu in der Regel auch die der Geschichtsschreibung. Dieser Begriff der ›schönen Literatur‹ wurde im 18. Jahrhundert noch einmal auf poetische Texte verengt: ›Schöne Literatur‹ wurde nun zur Bezeichnung für das, was zuvor ›Poesie‹ oder ›Dichtung‹ geheißen hatte. Zusammen mit der Entstehung dieses ›engen‹ Literaturbegriffs kam es jedoch zu einer tiefgreifenden Veränderung dessen, was man unter ›schöner Literatur‹ im Sinn von ›Dichtung‹ verstand. Das zeigt sich unter anderem daran, dass die ›schöne Literatur‹ nun nicht mehr in eine Reihe mit anderen sprachlichen ›Künsten‹ (Grammatik, Rhetorik, Geschichtsschreibung) gestellt wurde, sondern in eine Reihe mit anderen ›schönen‹ Künsten wie Musik und Malerei. Die Veränderung des Dichtungsbegriffs ging mit einer Veränderung des Kunstbegriffs einher: ›Kunst‹ wurde im 18. Jahrhundert gegenüber ›Wissenschaft‹ abgegrenzt, auch gegenüber den mit Sprache befassten Wissenschaften. Man muss sich im Klaren über die Kernaspekte des modernen Begriffs von ›schöner Literatur‹ im Sinn von ›Dichtung‹ sein, wie er im 18. Jahrhundert aufkam und bis heute (wenn auch nicht unangefochten) fortwirkt, um verstehen zu können, was beim älteren Dichtungsbegriff anders war. Insbesondere vier Vorstellungen über Dichtung, die seit dem 18. Jahrhundert eine prominente Rolle spielen, begründen einen Abstand zur älteren Zeit: 1. Poetische Texte gelten als Ausdruck von Subjektivität, individueller Wahrnehmung und emotionalem Erleben. Im Gegensatz Literatur Schöne Literatur Aspekte des modernen Dichtungsbegriffs Subjektivität <?page no="80"?> 72 › LIT E RAT U R ‹ UND › DI C H T UNG ‹ dazu herrschen in der Wissenschaft nicht-subjektive Beobachtung und nicht-subjektive Rationalität. Im engen Zusammenhang damit steht ein bestimmtes Konzept von poetischer Autorschaft, nämlich das des Dichtergenies, das in seinem Werk sein individuelles und subjektives Welterleben zum Ausdruck bringt. Das macht der Dichter wie der Maler oder der Musiker und anders als der Wissenschaftler. Die Einschätzung, dass Dichtung der Ausdruck eines subjektiven und individuellen Weltverhältnisses ist und sich deshalb grundsätzlich von Wissenschaft unterscheidet, war vor dem 18. Jahrhundert nicht geläufig. Deshalb beurteilte man den Autor nicht in erster Linie als individuellen und genialen Schöpfer. Die ältere Zeit assoziierte ›Dichten‹ vor allem mit ›Können‹. Ein Dichter war, wer über technische Fähigkeiten verfügte, die man lehren und lernen konnte. Auch diejenigen, die die angeborene Begabung, die göttliche Inspiration oder die schöpferische Leistung des Dichters betonten, maßen dem Handwerklichen einen hohen Stellenwert zu. 2. Poetische Texte verfolgen keinen unmittelbaren praktischen Zweck. Dichtung ist schön, nicht nützlich; der poetische Text bezieht seinen Wert aus seiner eigenen Gestalt, nicht aus einer Funktion für etwas anderes. Dichtung ist ›autonom‹; das verbindet sie mit den anderen ›schönen‹ Künsten wie Malerei und Musik. Die Idee der Autonomie hat nicht nur zu einer Trennung zwischen poetischen Texten und Gebrauchstexten geführt, sondern auch zu einer Trennung zwischen Kunst und Handwerk. Eine Uhr kann so ›kunstvoll‹ (im handwerklichen Sinn) gemacht sein, wie sie will; sie ist keine Kunst, weil sie eine Gebrauchsfunktion hat. Eine Fotografie von der Uhr kann dagegen Kunst sein. Die Uhr selbst wird womöglich zur Kunst, wenn man sie in eine Vitrine im Museum legt, weil sie dann ihre Gebrauchsfunktion verliert. Genauso verhält es sich mit sprachlichen Texten: Zeitungsreportagen erfordern handwerkliches Können, sind aber keine Kunst. Wenn Zeitungsreportagen jedoch in einen Roman einmontiert werden, werden sie zum Teil des Kunstwerks. Die Vorstellung, dass etwas schön oder nützlich, Kunst oder Handwerk sein könnte, war vor dem 18. Jahrhundert nicht verbreitet. In der älteren Zeit kam ›Kunst‹ tatsächlich von ›können‹: Kunst war alles, was aufgrund der dazu nötigen Fertigkeiten so gut gemacht ist, dass es seine Funktion optimal erfüllte. Das galt Autonomie <?page no="81"?> 73 auch für jede Art von Text. Dichtung konnte deshalb nicht dasjenige sein, was sonst keinen Nutzen hatte. Weil man poetische Texte nicht als ›schöne‹ Texte von Gebrauchstexten unterschied, konnte man von der Dichtung mit aller Selbstverständlichkeit einen praktischen Nutzen erwarten. Dichtung konnte religiösen, politischen, moralischen und allen erdenklichen weiteren Zwecken dienen, ohne dass dabei eine Konkurrenz zwischen Schönheit und Nützlichkeit entstanden wäre. Niemand war der Auffassung, dass ein poetischer Text keine Absichten verfolgen dürfe, weil das seiner dichterischen Qualität schade; das dichterische Können bestand im Gegenteil darin, die Absicht mit dem entsprechend gestalteten Text möglichst gut zu erfüllen. 3. Poetische Texte benutzen eine besondere Darstellungsweise und erbringen deshalb eine eigenständige Erkenntnisleistung. Während die wissenschaftliche Darstellung auf begriffliche Abstraktion und auf Verallgemeinerung zielt, zielt die poetische auf Konkretheit und Anschaulichkeit. Wissenschaft wendet sich an die abstrahierende Vernunft; Dichtung wendet sich an die sinnliche Erkenntnis - an die Wahrnehmung und an die Phantasie. Die Einschätzung, dass Dichtung konkrete Einzelfälle auf eine anschauliche Art darstellt, ist keine Neuerung des 18. Jahrhunderts. In der älteren Zeit wurde dies jedoch nicht als Gegensatz zu Abstraktion und Verallgemeinerung verstanden, sondern als Vorstufe oder als Vermittlungstechnik: Dichtung stellt das Allgemeingültige am konkreten Beispiel, das Abstrakte auf anschauliche Weise dar; sie dient damit der Erkenntnis des Abstrakten und Allgemeinen. Seit dem 18. Jahrhundert gibt es dagegen die Einschätzung, dass poetische Texte ihre besondere Qualität dort erreichen, wo das, was sie zum Ausdruck bringen, nicht in einer abstrakten, allgemeinen Redeweise gesagt werden könnte. Diese Idee war der älteren Zeit fremd. Weil man von der Dichtung keine grundsätzlich andere Erkenntnisleistung erwartete als von der Wissenschaft, war man nicht der Auffassung, dass Dichtung sich von anderen Texten dadurch unterscheidet, dass sie vorzugsweise Wahrnehmungsfähigkeit und Phantasie anspricht. Dichtung hatte deshalb in der älteren Zeit eine selbstverständliche Nähe zu Wissen: Sie sollte Wissen vermitteln und sich auf anerkanntes Wissen beziehen. Deshalb gab es beispielsweise Lehrdichtung, also systematische Wissensvermittlung in Versform. Sinnliche Erkenntnis DI E B E G R I F F E › LIT E RAT U R ‹ UND › DI C H T UNG ‹ <?page no="82"?> 74 › LIT E RAT U R ‹ UND › DI C H T UNG ‹ 4. Poetische Texte haben einen besonderen Wirklichkeitsbezug und erbringen deshalb eine eigenständige Erkenntnisleistung. Sie sind fiktional: Sie tun nur so, als ob sie behaupten würden, dass das, wovon sie sprechen, wirklich der Fall ist oder war. Als Rezipienten wissen wir das; wir wissen aber auch, dass wir uns auf dieses Spiel einlassen müssen und nicht mit dem Einwand ›Ist doch nicht wahr‹ zu kommen brauchen. Solange das Spiel gespielt wird, gelten die Spielregeln des ›als ob‹. Die Idee von einem besonderen Wirklichkeitsbezug der Dichtung stammt vom griechischen Philosophen Aristoteles (384-322 v. Chr.). Er antwortete damit auf den Standpunkt Platons, dass die Dichter lügen und dass die Dichtung deshalb eine überflüssige und schädliche Täuschung sei. Aristoteles behauptete dagegen, dass die Dichter im Unterschied zu den Geschichtsschreibern nicht vom Tatsächlichen erzählen, sondern vom Wahrscheinlichen. Der jeweilige Wirklichkeitsbezug begründet, Aristoteles zufolge, die Erkenntnisleistung: Die Geschichtsschreibung ermöglicht die Erkenntnis des Tatsächlichen und Besonderen, die Dichtung die Erkenntnis des Wahrscheinlichen und Allgemeingültigen. Das liegt in der aristotelischen Konzeption daran, dass die Dichter die von ihnen dargestellten Handlungen nach den Regularitäten des Wahrscheinlichkeitswissens konstruieren können: Wenn es etwa als wahrscheinlich gilt, dass üble Taten üble Folgen haben, kann das in der poetischen Handlungsdarstellung immer so sein. Geschichtsschreiber müssen sich dagegen an das tatsächlich Geschehene halten und können deshalb nicht ignorieren, dass eine üble Tat entgegen dem als wahrscheinlich Geltenden manchmal keine üblen Folgen hat. Die aristotelische Konzeption läuft deshalb auf die These hinaus, dass Dichtung das von den jeweiligen kulturellen Gemeinschaft für allgemein wahrscheinlich Gehaltene erkennbar macht. Das ist nicht dasselbe wie das mit dem modernen Fiktionalitätsbegriff Gemeinte; es hat ihn seit dem 18. Jahrhundert aber beeinflusst. Der Traktat des Aristoteles über Dichtung, die ›Poetik‹, war lange verloren. Auch als sie im 13. Jahrhundert über arabische Vermittlung ins Abendland kam und ins Lateinische übersetzt wurde, kam sie nur wenigen unter die Augen und gewann keinen Einfluss auf den Dichtungsbegriff. Erst an der Wende zum 16. Jahrhundert setzte unter italienischen Humanisten eine Auseinandersetzung mit der aristotelischen ›Poetik‹ ein. Fiktionalität <?page no="83"?> 75 Auch in der antiken römischen Dichtungstheorie, die zur Grundlage der mittelalterlichen wurde, hatte seine Idee nur schwache Spuren hinterlassen. Immerhin lehrte eines der beliebtesten mittelalterlichen Schulbücher, Isidors von Sevilla (gestorben 636) ›Etymologien‹, eine Unterscheidung zwischen dem Falschen, das bloß unwahr ist, und dem Erfundenen (fictum), das dem Wahren ähnlich (verisimilis) und häufig der Gegenstand der Dichtung ist. Damit war jedoch keine Wertschätzung des erfundenen Wahrscheinlichen als Instrument einer besonderen Erkenntnisleistung der Dichtung verbunden. Isidor lehrte vielmehr, dass die Dichtung dann den größten Wert hat, wenn sie die tatsächliche Wahrheit darstellt. Der lateinische Begriff für die Darstellung von Tatsachenwahrheit jeder Art lautete bei ihm, wie generell im Mittelalter und in der frühen Neuzeit, ›historia‹. Obwohl die Idee vom erfundenen Wahrscheinlichen als Gegenstand der Dichtung nicht völlig verloren gegangen war, knüpfte man den Wert der Dichtung nicht an einen besonderen Wirklichkeitsbezug. Im Gegenteil: Dichtung war als historia am besten. Dieser Ansicht entsprach die verbreitete Forderung, dass Dichtung faktisch wahr zu sein und tatsächliche Wirklichkeit darzustellen habe. Poetische Texte ihrerseits konnten problemlos für faktisch wahr gelten, wenn schon nicht in allen Einzelheiten, so doch im Großen und Ganzen. Deshalb gab es beispielsweise Geschichtschroniken in Versform. Der Standpunkt, dass erfundene Inhalte den Erkenntniswert der Dichtung verringern, regte freilich auch Bemühungen an, erfundene Inhalte zu verteidigen - etwa mit dem Argument, dass sie moralische Wahrheiten vermitteln könnten. Der Vorwurf der unwahrheitsbedingten Wertminderung ließ sich auch einfach ignorieren oder mit der schlichten Behauptung unterlaufen, man behandle tatsächlich Geschehenes. Die Reaktionen darauf, dass es keine Vorstellung von einem spezifischen Erkenntniswert des Erfundenen gab, waren vielfältig, denn die Dichter verzichteten keineswegs auf Erfindungen. Man konnte aber nicht (wie wir) sagen, dass die Dichtung als solche eine besondere Art von Wirklichkeitsbezug hat, dass das ihr Charakteristikum ist und dass darauf ihre Leistungsfähigkeit beruht. Alle vier Kernaspekte des im 18. Jahrhundert entstandenen Dichtungsbegriffs gehören nicht zu den vorher allgemein verbreiteten Ansichten über Dichtung. Das heißt nicht, dass die Frage DI E B E G R I F F E › LIT E RAT U R ‹ UND › DI C H T UNG ‹ <?page no="84"?> 76 › LIT E RAT U R ‹ UND › DI C H T UNG ‹ überflüssig ist, ob sich nicht schon früher in der dichterischen Praxis und in vereinzelten theoretischen Überlegungen Tendenzen zu dichterischer Subjektivität, funktionaler Autonomie sowie eigenständiger Erkenntnisleistung auf der Grundlage der Darstellungsweise und des Wirklichkeitsbezugs abzeichnen. Denn vom Himmel gefallen ist das alles nicht mit einem Schlag. Jedoch bestimmten diese Kriterien nicht die Erwartungen an poetische Texte, und poetische Texte wurden nicht anhand dieser Kriterien von anderen Texten unterschieden. Man hatte eine andere Vorstellung von Dichtung; deshalb ist ältere Dichtung in mancher Hinsicht auch anders als neuere seit dem 18. Jahrhundert. Es gab aber immer einen Begriff von Dichtung. Für ihn war zum einen wichtig, was man an Praxis und Theorie von der römischen Antike geerbt hatte, und zum anderen, was die mündliche Überlieferung zu bieten hatte. Die Tradition des antiken lateinischen Dichtungsbegriffs Am Beginn des 13. Jahrhunderts baute der zu seiner Zeit gelehrteste unter den deutschen höfischen Dichtern, Gottfried von Straßburg, das erste Dichterverzeichnis der deutschen Literaturgeschichte in seinen Tristanroman ein: Er nennt einige zeitgenössische Romanverfasser und Minnesänger wegen ihrer Vorbildlichkeit und rühmt die Qualität ihrer Werke. Als Besten lobt er Hartmann von Aue, den Begründer des deutschen Artusromans (vgl. S. 43, 65), mit Begriffen aus der zeitgenössischen lateinischen Dichtungslehre: 2. Gottfrieds von Straßburg Dichterverzeichnis Gottfried von Strassburg: Tristan und Isold. Hg. v. Walter Haug und Manfred Günter Scholz. 2 Bde. Berlin 2012, Bd. 1, S. 264, V. 4621-4630. Hartmann der Ouwære, âhî, wie der diu mære beide ûzen unde innen mit worten und mit sinnen durchverwet und durchzieret! wie er mit rede figieret der âventiure meine! wie lûter und wie reine sîniu cristallînen wortelîn beidiu sint und iemer müezen sîn! Hartmann von Aue, ach ja, wie der seine Erzählungen außen und innen, in Wortlaut und Bedeutung, durch und durch färbt und schmückt, wie er mit seiner Wortgewandt- <?page no="85"?> 77 DI E T RADITION D E S ANTIK E N LAT E INI S C H E N DI C H T UNG S B E G R I F F S heit den Sinn des Geschehens faßt, wie lauter und rein seine kristallen-zierlichen Worte sind und ewig bleiben werden! Angespielt wird auf das Verfahren der Textproduktion, das der lateinische Grammatik- und Rhetorikunterricht zu Gottfrieds Zeit lehrte. Der Dichter hat einen Stoff, den er in der Regel aus dem Traditionsbestand aufnimmt und bearbeitet. Für diese Stoffbearbeitung braucht es in erster Linie stilistische Kompetenz; dafür war vorrangig die Figurenlehre der Rhetorik zuständig. Mit verwen und zieren knüpft Gottfried an die lateinischen Fachbegriffe colorare (färben) und ornare (schmücken) an, die die Verwendung rhetorischer Figuren bezeichneten. Da die zeitgenössische Stillehre Wort- und Sinnfiguren unterschied, liegt es nahe, den Ausdruck mit worten und mit sinnen entsprechend zu verstehen. Die kristallenen Worte schließlich stimmen mit dem Stilideal der claritas oder perspicuitas (Klarheit, Durchsichtigkeit) überein, das die zeitgenössischen lateinischen Dichtungslehren propagierten: Die stilistische Durchformung soll den Sinn der behandelten materia klar herausarbeiten. Dass Gottfried den höfischen Roman ausschließlich als Stilkunst behandelt, ist eine Folge des lateinischen Unterrichts und seines Dichtungsbegriffs. Dessen Tradition und seine Bedeutung für die ältere deutsche Dichtung werden im Folgenden skizziert. Das Grundbuch des Dichtungsunterrichts an den Schulen war zu Gottfrieds Zeit - und noch lange danach bis zu den Humanisten des 15. und 16. Jahrhunderts - die ›Ars poetica‹ (Dichtkunst) des Horaz (65-8 v. Chr.). Horaz zufolge beruht Dichtung einerseits auf Begabung (ingenium) und Inspiration. Das entspricht einer alten antiken Überzeugung, die auch in Mittelalter und früher Neuzeit verbreitet war: Zum Dichten braucht man natürliche Anlagen und die Inspiration der Musen oder des christlichen Gottes. Andererseits gründet Dichtung laut Horaz auf Wissen (studium, eruditio) und Können (ars). Das Können besteht in der Beherrschung der Versifizierung (also der Vers- und Strophenformen), der stilistischen Techniken und der spezifischen Regeln für die jeweilige Dichtungsgattung (wie Tragödie, Komödie, Epos). Das Wissen besteht in der inhaltlichen Beherrschung des Stoffs, den man entweder neu bearbeitet oder neu erfindet. In jedem Fall muss der Dichter gelehrt sein (poeta eruditus, poeta doctus). Horaz: ›Ars poetica‹ <?page no="86"?> 78 › LIT E RAT U R ‹ UND › DI C H T UNG ‹ Horaz schrieb der Dichtung auch Funktionen zu, die für den älteren Dichtungsbegriff bis zum 18. Jahrhundert grundlegend blieben: Dichtung soll erfreuen (delectare) oder nützen (prodesse), am besten beides zugleich. Mit delectare war ursprünglich nicht so sehr ›unterhalten‹ im Sinn von ›zerstreuen‹ oder ›ablenken‹ gemeint, sondern eher die Freude an der Kunstfertigkeit von Vers und Stil. Das Nützliche ist das mit dem Stoff vermittelte Wissen, das sachlicher ebenso wie moralischer Art sein kann. Vom ersten Jahrhundert an war dieser Dichtungsbegriff fest im römischen Schulunterricht verankert. Man lernte das Dichten einerseits anhand der Lektüre und der Nachahmung (imitatio) von Autoren, die als vorbildlich galten; deshalb gab es einen entsprechenden Schulkanon. Andererseits wurde die Anwendung von Textproduktionsregeln eingeübt - Techniken für die Zusammenstellung und Gliederung eines Stoffs und für die sprachliche Ausarbeitung. Für diesen Bereich war die Rhetorik zuständig. Was die Rhetorik als allgemeine Textproduktionslehre zu bieten hatte, konnte man für Prosa- und für Verstexte gleichermaßen benutzen. Für Verstexte waren außerdem noch Metrik und Gattungslehre nötig. Die römische Unterrichtspraxis geriet zum ersten Mal in Gefahr, als sich in der Spätantike das Christentum durchsetzte. Die Christen lehnten die antike Dichtung zunächst ab, weil sie die heidnischen Inhalte für falsch und die kunstvollen Formen für überflüssig hielten. Ihnen kam es auf die Wahrheit an, die in den christlichen Schriften stand. Aus diesen wurde nach und nach der Kanon des Neuen Testaments - kein Schulkanon nachahmungswürdiger Werke, wie ihn die Heiden hatten, sondern ein Kanon heiliger Schriften, durch die Gott den Menschen die Wahrheit offenbarte. Was man als Christ lesen sollte, stand in der Bibel; es brauchte weder Dichtung noch Dichtungsunterricht. Diese Einstellung änderte sich jedoch nach und nach. Entscheidende Bedeutung gewann dabei gegen Ende des 4. Jahrhunderts der Traktat ›De doctrina christiana‹ (›Von der christlichen Lehre‹) des Kirchenvaters Augustinus. Seiner Ansicht nach sollten sich die Christen die antike literarische Bildung zu Eigen machen, statt auf sie zu verzichten. Augustinus zufolge benötigte man sie zum einen für die christliche Lehre, etwa für die Interpretation der Bibel. Zum anderen glaubte er, dass es schädlich für die Christen wäre, wenn sie sich in eine kulturelle Unterlegenheit gegenüber den Heiden Römischer Unterricht Christentum Augustinus: ›De doctrina christiana‹ <?page no="87"?> 79 begäben. Lieber sollten sie die heidnische Kultur mit deren eigenen Waffen schlagen. Dies rechtfertigte die Produktion von Dichtung mit christlichen Inhalten mittels der althergebrachten Techniken. So machte man aus den Evangelien Versepen, die in Konkurrenz zur heidnischen Epik treten sollten. Außerdem entwickelte sich ein christlicher Unterricht nach altem Muster. Die kanonischen Autoren, deren Nachahmung zusammen mit dem Regelwissen die nötigen Fähigkeiten lehren sollten, waren zum einen die neuen christlichen Dichter, zum anderen wegen des technischen Vorbilds einige von den alten heidnischen, allen voran Vergil. Zum zweiten Mal geriet der - nun christlich gewendete - römische Unterricht in Gefahr, als im 6. und 7. Jahrhundert die Bildungsinstitutionen in den Völkerwanderungswirren weitgehend zusammenbrachen. Vom 8. Jahrhundert an jedoch wurde die Tradition in den frühmittelalterlichen Klosterschulen im Zug der karolingischen Bildungsreformen wieder aufgenommen. Ein typischer Reflex davon ist das schon erwähnte Widmungsschreiben Otfrids von Weißenburg an Erzbischof Liutbert (vgl. S. 37): Otfrid verweist auf die formale Qualität der heidnischen römischen Dichtung, äußert aber Vorbehalte gegen den Inhalt und macht die lateinische christliche Dichtung zum Vorbild für sein volkssprachliches Unternehmen. Wie die christlichen römischen Dichter die heidnischen besiegten, so will er mit seiner volkssprachlichen christlichen Dichtung den anstößigen Gesang der Laien verdrängen. Dazu musste die Volkssprache den Regeln unterworfen werden, die der lateinische Grammatik- und Rhetorikunterricht für die Produktion von Schriftdichtung zu bieten hatte. So hob der gelehrte Dichtungsbegriff des lateinischen Unterrichts die deutsche Schriftdichtung aus der Taufe. Als Gottfried sein Dichterverzeichnis schrieb, hatte sich die kulturelle Situation erheblich verändert. Im 12. Jahrhundert entwickelten die Schulen, zunächst in Frankreich, ein neues Interesse an Dichtung, das sich von der Bindung an christliche Inhalte löste. Man fand zunehmend Gefallen an vorchristlichen römischen Autoren, in besonderem Maß an dem Liebesdichter Ovid (43 v. Chr. - 18 n. Chr.), dessen Werke eine enorme Wirkung entfalteten. Die neue Begeisterung für antike Dichtung nennt man heute die ›Renaissance (oder den Humanismus) des 12. Jahrhunderts‹. In den Jahrzehnten um 1200 führte sie auch zur Produktion neuer lateinischer Dichtungslehren. Die erfolgreichste unter ihnen Mittelalterlicher Unterricht Renaissance des 12. Jahrhunderts Lateinische Poetiken DI E T RADITION D E S ANTIK E N LAT E INI S C H E N DI C H T UNG S B E G R I F F S <?page no="88"?> 80 › LIT E RAT U R ‹ UND › DI C H T UNG ‹ war Galfrids von Vinsauf ›Poetria nova‹ (›Neue Poetik‹). Der Titel zeigt den Anspruch, die ›alte Poetik‹ des Horaz zu überbieten. Man wollte die antiken Vorbilder mit der eigenen Dichtung überflügeln - und zwar nicht mehr nur durch den wahren Inhalt, sondern auch durch die bessere Technik. Das ist das Neue gegenüber dem frühen Mittelalter: Dichtung gewinnt ihren Wert vor allem durch die kunstvolle Form. Damit ist nicht nur die Versifizierung gemeint, sondern ebenso die stilistische Ausarbeitung und die inhaltliche Ordnung - also die Strukturiertheit auf allen Ebenen des Textes. Die mittellateinischen Poetiken konzentrieren sich deshalb auf die Techniken der Stoffbearbeitung und auf die Stilkunst. Sie verfolgen energisch das Ziel, eine kunstvolle Sprachverwendung zu lehren; ihre Leitwörter sind Eleganz (elegantia) und Schönheit (venustas). In der volkssprachlichen Literatur sind die französischen und deutschen höfischen Romane des 12. und 13. Jahrhunderts am offensichtlichsten von den Dichtungstechniken geprägt, die der lateinische Unterricht und die Poetiken lehrten. Auf Schritt und Tritt begegnet man in ihren Werken den Bearbeitungs- und Formulierungsverfahren, die man in der Schule auf Latein lernte. Wenn die deutschen Bearbeiter französische Texte nachdichteten, haben sie nach der zeitgenössischen Einschätzung nicht literarische Übersetzungen produziert, sondern einen schon bearbeiteten Stoff gemäß den Regeln der Dichtkunst neu bearbeitet. Gottfried von Straßburg brachte diese Orientierung am gelehrten Dichtungsbegriff am deutlichsten von allen zum Ausdruck. Schon das Dichterverzeichnis als solches greift das Prinzip des Musterautoren-Kanons auf, und die Kunst des höfischen Romans behandelt Gottfried mit den Kategorien der lateinischen Dichtungslehre. Dass die Form den Wert der Dichtung bestimmt, spielt eine ebenso große Rolle bei Chrétien de Troyes, dem französischen Begründer des Artusromans (vgl. S. 65). In der Vorrede zum ›Erec‹ grenzt sich Chrétien von den ungelehrten Geschichtenerzählern ab, die die Stoffe nicht richtig behandeln, weil sie den Zusammenhang der Geschichten zerreißen. Als gelehrter Schriftdichter erhebt Chrétien dagegen den Anspruch, aus der zerrissenen Überlieferung durch seine eigene Bearbeitung einen ›schönen Zusammenhang‹ (bele conjointure) heraus zu holen. Offenbar soll das den schon bei Wace erwähnten Vorwurf entkräften, die mündlich überlieferten Rittergeschichten der Briten und Bretonen seien Höfischer Roman Chrétien de Troyes <?page no="89"?> 81 unwahr und deshalb wertlos (vgl. S. 65). Chrétien zufolge beruht der Erkenntniswert der Dichtung auf der wohlüberlegten Form, die der gelehrte Dichter dem Stoff gibt: Indem er alles in einen geordneten Zusammenhang bringt, arbeitet er zugleich den Sinn der Geschichte heraus. Die schöne Ordnung des Inhalts, die durch die kunstvolle sprachliche Bearbeitung hergestellt wird, trägt die Bedeutung des Textes. Für die Rezipienten heißt das allerdings, dass sie den Sinn nur begreifen können, wenn sie die Struktur erkennen, die der Dichter dem Inhalt gegeben hat. Wer kunstvolle Dichtung dieser Art verstehen wollte, musste sich deshalb fast ebenso sehr anstrengen wie der Dichter selbst: Formbewusste Dichtung setzt Rezipienten voraus, die zur interpretativen Mitarbeit bereit sind. In der Wertschätzung der Form bei Chrétien und Gottfried lässt sich deutlich die gelehrte Einstellung gegenüber der Dichtung in der ›Renaissance des 12. Jahrhunderts‹ erkennen. Bei Chrétien ging das so weit, dass die traditionellen Argumente für den Wert der Dichtung - faktische Wahrheit und moralische Nützlichkeit - in den Hintergrund traten. Auf eine derart anspruchsvolle Position ließen sich die meisten höfischen Dichter allerdings dann doch nicht ein. Der Hofkleriker Thomasin von Zerclaere beispielsweise rechtfertigte um 1215 in seinem ›Welschen Gast‹ (der mittelhochdeutsche Text ist ein ›italienischer Gast‹ im deutschen Sprachraum, weil Thomasin Italiener war), einer Lehrdichtung über höfisches Verhalten, die Romane mit ihrem moralischen Wert. Wie eine Aufzählung beliebter Hauptfiguren zeigt, hatte er dabei nicht nur die bretonischen Geschichten im Sinn, sondern auch Antikenromane und französische Heldenepen. Thomasin hielt sie alle für historisch unzuverlässig, aber moralisch nützlich: Thomasin von Zerclaere Der Wälsche Gast des Thomasin von Zirclaria. Hg. v. Heinrich Rückert. Mit einer Einleitung u. einem Register von Friedrich Neumann. Berlin 1965, V. 1118-1134: die âventiure sint gekleit dicke mit lüge harte schône. diu lüge ist ir gezierde krône. ich schilt die âventiure niht, swie uns ze liegen geschiht von der âventiure rât, wan si bezeichenunge hât der zuht unde der wârheit: daz wâr man mit lüge kleit. [...] sint die âventiur niht wâr, si bezeichent doch vil gar waz ein ieglîch man tuon sol, der nâch vrümkeit wil leben wol. DI E T RADITION D E S ANTIK E N LAT E INI S C H E N DI C H T UNG S B E G R I F F S <?page no="90"?> 82 › LIT E RAT U R ‹ UND › DI C H T UNG ‹ Die Rittergeschichten sind oft sehr schön in Lügen gekleidet. Die Lüge ist ihre schmuckvolle Krone. Ich tadele die Rittergeschichten nicht - obwohl sie uns zum Lügen veranlassen -, weil sie gute Erziehung und (moralische) Wahrheit zum Inhalt haben: Diese Wahrheit kleidet man mit Lüge ein. [...] Wenn die Rittergeschichten auch nicht faktisch wahr sind, so haben sie doch zum Inhalt, was ein jeder Mensch tun soll, der auf tadellose Weise leben will. Das war eine unkompliziertere, intellektuell weniger anspruchsvolle und vor allem geläufigere Rechtfertigung faktisch unwahrer Geschichten, wie die Dichter sie eben erzählten. Während Chrétien de Troyes den Dichter zum Sinnkonstrukteur machte und vom Rezipienten ein hohes Maß an Interpretationsarbeit verlangte, mutete Thomasin beiden nichts Kompliziertes zu: Der Dichter verpackt die moralische Wahrheit in die Erzählung, der Rezipient wickelt sie wieder aus der Verpackung aus. Besser noch wäre es allerdings, fand Thomasin, moralische Wahrheiten mit faktisch wahren Geschichten zu vermitteln. Was blieb, waren die alten Prinzipien des gelehrten Dichtungsbegriffs: prodesse und delectare, nützliche Inhalte in sprachlich kunstvoller und deshalb erfreulicher Form. Besonders gut entspricht diesem Dichtungsbegriff die meisterliche Liedkunst, deren Tradition von der höfischen Sangspruchdichtung des 13. Jahrhunderts bis zum Meistergesang der städtischen Handwerker im 15. und 16. Jahrhundert reicht. Die Sangspruchdichter waren fahrende Dichter-Komponisten, die von Hof zu Hof zogen und ihre Kunst gegen Lohn vortrugen. Ihre Liedtexte vermittelten Sachwissen über Gott und die Welt, von der Theologie bis zur Naturkunde, und moralisches Wissen, von der Erläuterung ethischer Begriffe bis zu Ratschlägen für die Lebensführung. Sie nahmen aber nicht nur in Anspruch, Wissen zu vermitteln, sondern zugleich, dies in kunstvoller Form zu tun. Sich selbst bezeichneten sie als meister in einem doppelten Sinn: Sie wollten als Lehrer gelten (das deutsche Wort meister ist vom lateinische Wort magister für ›Lehrer‹ abgeleitet), und sie wollten meister in der handwerklichen Beherrschung der Dichtungstechniken sein. Metaphorisch stellten sie sich gern als Sprachhandwerker dar: Sie sind die Baumeister der Texte, sie schmieden Verse, sie weben und schneidern sprachliche Gewänder für ihre Sangspruchdichtung und Meistergesang <?page no="91"?> 83 wahren und nützlichen Inhalte. Es war die Rhetorik, die ihnen die Techniken dieses Handwerks lieferte. Die städtischen Meistersinger stellten sich im 15. und 16. Jahrhundert ausdrücklich in die Tradition der höfischen Sangspruchdichter. Sie waren keine fahrenden Berufsdichter, die von der Kunst leben mussten, sondern ortsansässige Handwerksmeister mit Zugang zur Schulbildung. Sie behandelten wie die Sangspruchdichter vor allem religiöse und ethische Themen, daneben auch naturkundliche und historische. Ein strenges System inhaltlicher und formaler Vorschriften bestimmte die Produktion und die Aufführung der Lieder: Die Meister trugen sie nach einem genauen Reglement in der ›Singschule‹, der Zusammenkunft der städtischen Meistersinger-Gesellschaft vor, wo ihre Übereinstimmung mit den Regeln nach einem festen Verfahren beurteilt wurde. Der Meistergesang ist ein extremer, deshalb auch konsequenter Ausdruck des älteren Dichtungsbegriffs. Offen gelehrt und lehrhaft, streng auf Regelhaftigkeit angelegt, gewollt traditionalistisch und unoriginell, erkennbar künstlich in der metrischen und stilistischen Durchformung - mit diesen Eigenschaften sind Meisterlieder das genaue Gegenteil von nahezu allem, was man seit dem späten 18. Jahrhundert von Lyrik erwartet. Für die Meistersinger selbst waren sie jedoch der Inbegriff der Kunst. Die Gesellschaften bestanden an manchen Orten bis zum 18. Jahrhundert; etwa 16.000 Meisterlieder sind überliefert, weit über 4000 allein vom produktivsten aller Meistersinger, dem Nürnberger Schuhmacher und Dichter Hans Sachs. Zur selben Zeit, als die Meistersinger mit ihren Liedern dem alten Prinzip folgten, nützliche Inhalte auf kunstvolle Weise zu gestalten, integrierten die Humanisten (vgl. S. 33) die traditionelle Vorstellung von Dichtung in ihr neues Bildungsprogramm. Auch für den humanistischen Dichtungsbegriff blieb Horaz die wichtigste Autorität. Die Auseinandersetzung mit der aristotelischen ›Poetik‹ in Italien führte nicht zu einer Umwälzung der Vorstellungen, die die Gelehrten von der Dichtung hatten. Immerhin spielte nun der schöpferische Charakter der Dichtung langsam eine größere Rolle. So lehrte die europaweit bedeutendste humanistische Dichtungstheorie, die 1571 gedruckten ›Poetices libri septem‹ (›Sieben Bücher über die Dichtkunst‹) des Italieners Humanistische Dichtungslehre DI E T RADITION D E S ANTIK E N LAT E INI S C H E N DI C H T UNG S B E G R I F F S <?page no="92"?> 84 › LIT E RAT U R ‹ UND › DI C H T UNG ‹ Julius Caesar Scaliger: »Von dem nämlich, was der Erschaffer aller Dinge hervorgebracht hat, sind die anderen Wissenschaften sozusagen Darsteller; die Dichtkunst dagegen - da sie das, was ist, ansehnlicher vorführt und den Schein dessen, was nicht ist, hervorruft - scheint nicht, wie die anderen Künste, einem Schauspieler vergleichbar, die Dinge einfach wiederzugeben, sondern sie wie ein zweiter Gott zu erschaffen.« Doch wie allen Humanisten galt die Dichtung Scaliger weiterhin als Können, das Begabung und Wissen voraussetzt. Man lernt das Dichten, indem man sich Regeln aneignet und in der Nachahmung von Vorbildern übt. Für die Vermittlung der Regeln ist die Rhetorik als allgemeine Textproduktionslehre zuständig. Dazu kommt die Metrik, denn auch für die Humanisten bedeutete Dichtung vor allem Versrede im Unterschied zur Prosa. Die Vorbilder - in erster Linie die klassischen römischen Dichter, in zweiter Linie die zeitgenössischen neulateinischen - werden im Unterricht als Musterautoren behandelt. Eine Neuerung war freilich der Bildungswert, den die Humanisten der Dichtung im Rahmen der studia humanitatis zuwiesen. Schon von der eigentlichen Leitdisziplin der humanistischen Bildung, der Rhetorik, erwarteten sie viel mehr als die mittelalterlichen Gelehrten. War die Rhetorik zuvor bloß eine Textproduktionslehre gewesen, sollte sie nun durch die Schulung im richtigen Schreiben und Reden zu richtigem Denken und Handeln anleiten. Die Ausbildung zum guten Redner und Schriftsteller als Ausbildung zum guten Menschen war ein Programm, das die Humanisten aus antiken Rhetoriktraktaten bezogen. Die Dichtung gewann einen hohen Stellenwert in diesem Programm, weil man sie als angewandte Rhetorik verstand. Der Dichtungsunterricht gehörte deshalb zum Training im richtigen Denken und Handeln; er diente der intellektuellen und moralischen Bildung. Das Studium der klassischen römischen Sprache und Literatur galt den Humanisten nicht nur als eine Methode zum Erwerb sprachlichen und literarischen Wissens, sondern als Weg zu jeder Art von Erkenntnis - einschließlich der der Natur - und als Anleitung zum ethisch richtigen Leben. Viele Humanisten hielten die Dichtung für das ideale Instrument, um die Inhalte ihres Bildungsprogramms zu vermitteln. Wenn die studia humanitatis insgesamt ein Studium des Menschlichen sind, dann ist die Dichtung der lehrreichste Gegenstand. Julius Caesar Scaliger Rhetorik als Bildungsprogramm Dichtung als Bildungsmethode <?page no="93"?> 85 Durch sie lernt man alle Aspekte des Menschlichen kennen; mit ihr bildet man sich selbst zum Menschen. Allerdings geht das aus humanistischer Sicht eben am besten anhand der klassischen antiken Dichtung oder anhand der neulateinischen Humanistendichtung, die sich an ihrem Vorbild orientiert. Im deutschen Sprachraum hat Philipp Melanchthon das humanistische Bildungsprogramm und die Relevanz der Dichtung relativ kurz und sehr prägnant in seiner Antrittsvorlesung ›De corrigendis adolescentiae studiis‹ (›Über die Verbesserung der Bildung der Jugend‹) dargestellt, die er 1518 an der Universität Wittenberg hielt. Als wichtigster Mitarbeiter Luthers sorgte Melanchthon auch dafür, dass das humanistische Bildungsprogramm im protestantischen Schul- und Universitätsunterricht eingeführt wurde. Die ausführlichste humanistische Dichtungslehre aus dem deutschen Sprachraum ist das 1518 in Wien gedruckte Buch ›De poetica et carminis ratione‹ (›Über die Poetik und die Lehre vom Gedicht‹) des St. Galler Gelehrten und Reformators Joachim von Watt (Vadianus). Hier kann man sich detailliert darüber informieren, was Humanisten unter ›Dichtung‹ verstanden (es gibt davon, ebenso wie von Melanchthons Vorlesung, eine deutsche Übersetzung). Tiefe und dauerhafte Spuren hinterließ die humanistische Idee von der Dichtung als einem Training im Wahren und Guten vor allem im höheren Schulunterricht. Die Bildungsreformen des 16. Jahrhunderts verankerten die studia humanitatis fest an Lateinschulen und Universitäten. Nachdem die Idee im 18. Jahrhundert neu belebt worden war, griff sie mit den Schulreformen und der Einrichtung des humanistischen Gymnasiums als höherer Regelschule im 19. Jahrhundert vom altsprachlichen auf den muttersprachlichen Literaturunterricht über. So prägte der Gedanke, dass ›schöne‹ Literatur junge Leute mit den Erscheinungsformen des Menschlichen vertraut machen und dabei ihre Persönlichkeit bilden soll, schließlich auch den Deutschunterricht. Die mündliche Tradition Der gelehrte Dichtungsbegriff unterschied poetische Texte durch das Kriterium der Versifikation von nicht-poetischen und setzte mit dem Konzept rhetorischer Bearbeitungsverfahren eine Humanistische Poetik im deutschen Sprachraum Philipp Melanchthon Joachim von Watt Fortwirken der humanistischen Dichtungslehre 3. Schriftdichtung und Mündlichkeit DI E MÜNDLI C H E T RADITION <?page no="94"?> 86 › LIT E RAT U R ‹ UND › DI C H T UNG ‹ Unterscheidbarkeit von Inhalt und Form voraus. Dass sich Textinhalte auf vielfältige Weise sprachlich formen lassen, ist eine Erfahrung, die man eher bei der schriftlichen Aus- und Überarbeitung von Texten macht als im mündlichen Sprachgebrauch. Außerhalb des Kaiserhofs, der Klöster und Bischofssitze gab es in der Welt des frühen Mittelalters keine Schriftlichkeit, sondern eine rein mündliche Kultur. Auch im hohen Mittelalter blieb die Schriftlichkeit, obwohl sie sich bereits stark ausbreitete, insgesamt doch noch eine kulturelle Randerscheinung. Die mündliche Kultur beeinflusste die Entwicklung volkssprachlicher Schriftlichkeit, insbesondere der Dichtung, erheblich, denn die Volkssprache kam aus der Mündlichkeit, und ihre Verwendung als Schriftsprache bedeutete für lange Zeit, dass ein durch die Mündlichkeit geformtes Instrument benutzt wurde. Allerdings lassen sich Spuren der mündlichen Kultur immer nur in erhalten gebliebenen schriftlichen Aufzeichnungen erkennen. In der mündlichen Kultur gab es Phänomene, die eine gewisse Ähnlichkeit mit poetischen Texten im Sinn des gelehrten Dichtungsbegriffs hatten und von den Klerikern deshalb mit ›Dichtung‹ identifiziert wurden. Diese Phänomene heißen in den volkssprachlichen Quellen gewöhnlich ›Lied‹; die lateinische Entsprechung lautet carmen. Einhart, der Biograph Karls des Großen, berichtet beispielsweise im 9. Jahrhundert, Karl habe »die volkssprachlichen und uralten Lieder (barbara et antiquissima carmina), in denen die Taten und die Kriege der alten Könige besungen wurden, aufschreiben und dem Gedenken der Nachwelt übergeben« lassen. Leider blieb von diesem Unternehmen nichts erhalten, aber angesichts der Themenangabe muss es sich um die Aufzeichnung von Heldenliedern gehandelt haben. Ebenso wenige Spuren gibt es von den winileod (von wini, Geliebter, und leod, Lieder), mit denen sich Nonnen laut einer Verordnung Karls aus dem Jahr 789 nicht abgeben sollten. Die Bezeichnung ›Lied‹ bezog sich - anders als es unserem modernen Gebrauch entspricht - auch auf Erzählungen von erinnerungswürdigen Geschehnissen der Vergangenheit. Weil solche Erzählungen aus dem Gedächtnis vorgesungen wurden, waren sie versifiziert. Das Heldenlied der mündlichen Überlieferung benutzte den Vers aus anderen Gründen als die Schriftkultur: Er diente der Memorierbarkeit und dem Vortrag des Erzählten; zugleich brachte er die Erinnerungs- und Vortragswürdigkeit des Lied <?page no="95"?> 87 DI E MÜNDLI C H E T RADITION Erzählten zum Ausdruck. In der mündlichen Kultur war der Vers weder ein Unterscheidungssignal für ›Dichtung‹ als sprachliche Kunst noch ein vom Inhalt ablösbares Kunstmittel, sondern an den Vortrag des Erinnerten gebunden: Weil das Erinnerte vorgetragen wurde, wurde es in Versen vorgetragen, und weil es in Versen vorgetragen wurde, war es überlieferungswürdige Wahrheit. Auch die weiteren Gestaltungsmittel des mündlichen Heldenlieds waren an die Überlieferung der spezifischen Inhalte gekoppelt. In der mündlichen Tradition wurden formelhafte Ausdrucksweisen nicht aus freier Entscheidung eingesetzt; sie waren die unverzichtbaren Bausteine des Textes. Es gab keine Wahl zwischen unterschiedlichen Stilen; das Lied hatte seine herausgehobene und ehrwürdige sprachliche Gestalt, die sich von der Alltagssprache zweifellos erheblich unterschied. Nur in der Schriftlichkeit gibt es als Grundlage den Stoff, den der ›Dichter‹ dann mittels Verfahrensweisen bearbeitet. In der Mündlichkeit gibt es keinen Stoffbearbeiter, sondern einen Sänger, der das Lied erinnert und vorträgt. Das mündliche Lied war deshalb nicht einfach dasselbe wie Schriftdichtung. Es hatte aber auch allerhand Ähnlichkeiten mit ihr: Es war versifiziert, benutzte eine stilisierte Sprache und hatte Gattungsmerkmale. Damit erfüllten Heldenlieder, dem Anschein nach, die wichtigsten Kriterien des gelehrten Dichtungsbegriffs. Die Kleriker des frühen Mittelalters hielten sie aus diesem Grund für nichts anderes als Dichtung. Umgekehrt präsentierten die Kleriker den schriftunkundigen Laien die volkssprachliche Schriftdichtung, die sie ihnen vorsetzten, gewöhnlich mit aller Selbstverständlichkeit als Lied. Das Prestige des Liedes in der mündlichen Kultur muss ein wichtiger Grund dafür gewesen sein, dass die volkssprachliche Schriftlichkeit im frühen und hohen Mittelalter zumeist die Form von Dichtung hatte: Indem die Kleriker schriftliche Verstexte in der Volkssprache verfassten, die zum Vortrag vor einem schriftunkundigen Zielpublikum bestimmt waren, knüpften sie an die Wertschätzung an, die dieses Publikum seinen mündlichen Liedern entgegen brachte. Was jedoch den Inhalt der Heldenlieder anbelangt, so mussten die Kleriker sich deren Anspruch stellen, Wahrheit zu überliefern. Weil das Heldenlied die kollektive Erinnerung der mündlichen Kultur war, konnte es in den Augen der Kleriker nur historia in Lied und Schriftdichtung <?page no="96"?> 88 › LIT E RAT U R ‹ UND › DI C H T UNG ‹ Versen sein. Die Kleriker sahen im Heldenlied nicht die Eigenarten der mündlichen Überlieferung (vgl. S. 39); sie konfrontierten die mündlich überlieferten Geschichten vielmehr mit dem Vergangenheitswissen ihrer eigenen Schriftkultur und beurteilten sie als unwahr, wenn sie diesem Wissen widersprachen. So bedienten manche der gelehrten Verfasser volkssprachlicher Schrifttexte im frühen Mittelalter und ebenso beim Neubeginn seit dem 11. Jahrhundert ihr Publikum mit Versen, um durch die Dichtung ›wahren‹ Inhalts die mündlichen Lieder zweifelhaften Inhalts zu verdrängen. Noch deutlicher als bei Otfrid von Weißenburg (vgl. S. 37) wird das in der Vorrede der ersten deutschsprachigen Weltchronik, der um die Mitte des 12. Jahrhunderts von einem oder mehreren Klerikern in Regensburg gedichteten ›Kaiserchronik‹: Kaiserchronik Die Kaiserchronik eines Regensburger Geistlichen. Hg. v. Edward Schröder. Hannover 1892, V. 1-42: In des almähtigen gotes minnen sô wil ich des liedes beginnen. daz scult ir gezogenlîche vernemen. jâ mac iuh vil wole gezemen ze hôren älliu frumichait. die tumben dunchet iz arebait, sculn si iemer iht gelernen od ir wîstuom gemêren. die sint unnuzze unt phlegent niht guoter wizze, daz si ungerne hôrent sagen dannen si mahten haben wîstuom unt êre, unt wære iedoch frum der sêle. Ein buoch ist ze diute getihtet, daz uns Rômisces rîches wol berihtet. gehaizzen ist iz crônicâ. iz chundet uns dâ von den bâbesen unt von den chunigen, baidiu guoten unt ubelen, die vor uns wâren unt Romisces rîches phlâgen unze an disen hiutegen tac. sô ich aller beste mac sô wil ich iz iu vor zellen. iz verneme swer der welle. Nu ist leider in disen zîten ein gewoneheit wîten: manege erdenchent in lugene unt vuogent si zesamene mit scophelîchen worten. nû vurht ich vil harte daz diu sêle dar umbe brinne. iz ist ân gotes minne. sô lêret man die luge diu chint; die nâch uns chunftich sint, die wellent si alsô behaben unt wellent si iemer fur wâr sagen. lugene unde ubermuot ist niemen guot. die wîsen hôrent ungerne der von sagen. nû grîfe wir daz guote liet an. In der Liebe des allmächtigen Gottes will ich dieses Lied beginnen. Ihr sollt es mit Anstand anhören. Es kann euch sehr viel nützen, von allen Vortrefflichkeiten zu <?page no="97"?> 89 In den Begriffen der volkssprachlichen mündlichen Tradition wird das Werk anfangs als ›Lied‹ vorgestellt, das das Publikum anhören soll. Wenig später ist dann in den Begriffen der lateinischen Gelehrtenkultur von einer schriftlich verfassten Buch-Chronik die Rede. Offenbar wird das ›Buch‹ im Vortrag zum ›Lied‹; aber dabei wird es natürlich nicht zu einem Produkt der Mündlichkeit, sondern bleibt vorgetragene Schrift. Beim Wahrheitsanspruch wird die Trennlinie zwischen Schriftkultur und mündlicher Überlieferung dann ganz scharf gezogen: Der Angriff auf die ›verbreitete Gewohnheit‹ beschwört das Bild einer mündlichen Kultur herauf, in der die Älteren den Jüngeren erzählen, was diese als Wahrheit wiederum der nächsten Generation weitergeben. Doch für den gelehrten Dichter ist es eine Lüge in scophelîchen Worten, was da erzählt wird. Das Wort skop oder skoph ist bis zum 12. Jahrhundert belegt; es bezeichnete den für Heldenlieder zuständigen Sänger. An die Stelle der mündlichen Erzählkultur setzt die ›Kaiserchronik‹ sich selbst als ein im Sinn der christlichen Wahrheit ›gutes‹ Lied, das die Lügenkette durchbricht und damit dem Seelenheil der Zuhörer dient. Auf diese Weise ahmt die volkssprachliche Schriftdichtung gewissermaßen nach, was das Lied in der mündlichen Kultur war: Kollektive Erinnerung in Verssprache. Doch die Schriftdichtung ersetzt dabei die in ihrem Sinn ›unwahren‹ Inhalte durch die wahrheitsgemäßen: die Geschichte der römischen Päpste und Kaiser bis zur Gegenwart. hören. Den Törichten erscheint es als Mühsal, wenn sie etwas lernen oder ihr Wissen vermehren sollen. Sie taugen nichts und sind unvernünftig, wenn sie nicht gern erzählen hören, was ihnen Wissen und Ansehen bringen könnte und außerdem gut für das Seelenheil wäre. Ein Buch ist zum Zweck der Belehrung verfasst, das uns genau über das römische Reich unterrichtet. Man nennt es Chronik. Es erzählt uns von den Päpsten und den Königen, den guten ebenso wie den schlechten, die vor uns lebten und über das römische Reich herrschten, bis zum heutigen Tag. So gut ich kann, will ich es Euch vortragen. Wer will, der höre es an. Leider ist in diesen Zeiten aber eine Gewohnheit verbreitet: Viele denken sich Lügen aus und fügen sie zusammen in den Worten der Sänger. Ich aber fürchte sehr, dass die Seele dafür in der Hölle brennen wird. Es ist ohne die Liebe Gottes. Damit bringt man den Kindern Lügen bei; die nach uns kommen, werden sie behalten und als Wahrheit immer weiter erzählen. Lügen und Hochmut sind für niemanden gut. Die Klugen hören sie nicht gern. Jetzt wollen wir aber das gute Lied in Angriff nehmen. DI E MÜNDLI C H E T RADITION <?page no="98"?> 90 › LIT E RAT U R ‹ UND › DI C H T UNG ‹ Einen ähnlichen Vorgang dokumentiert bereits eine der großen deutschsprachigen Evangeliendichtungen des frühen Mittelalters: Der ›Heliand‹ (neuhochdeutsch ›Heiland‹ als Bezeichnung für Jesus Christus) aus dem 9. Jahrhundert, der bedeutendste Text der altniederdeutschen Literatur, ist eine Versbearbeitung des Evangelienstoffs wie Otfrids von Weißenburg ›Evangelienbuch‹. Einer lateinischen Prosa-Vorrede zufolge, die allerdings nicht zusammen mit dem Text selbst überliefert ist, war der anonym gebliebene Verfasser ein sächsischer vates (›Dichter‹), den der Karolinger Ludwig (wahrscheinlich Ludwig ›der Deutsche‹, der Enkel Karls des Großen) mit der Produktion des Textes beauftragte. Der ›Heliand‹-Dichter benutzte den traditionellen Stabreimvers des Heldenlieds, der sich beispielsweise auch im ›Hildebrandslied‹ (vgl. S. 39) findet. Er beruht nicht auf dem Gleichklang des Endreims, sondern auf dem Gleichklang von Silbenanlauten, den ›Stäben‹. Zusammen mit dem Stabreimvers griff der ›Heliand‹-Dichter auf die formelhafte Heldenlied-Sprache zurück, so dass sein Text den Zimmermannssohn aus Nazareth und seine Jünger nicht nur als frühmittelalterlichen Kriegerkönig mit seinen Kriegern darstellt, sondern diesen Heldenlied-Inhalt auch in den Ausdrucksformen des Heldenlieds erzählt. Zu Beginn beruft sich der Erzähler zwar auf die schriftliche Autorität der vier Evangelisten als Quelle, doch selbst sie werden unmerklich zu Sängern großer Taten des großen Helden: ›Heliand‹ Heliand und Genesis. Hg. v. Otto Behagel. 10. Aufl. v. Burkhard Taeger. Tübingen 1996, V. 32-36: That scoldun sea fiori thuo fingron scrîbˉ an, settian endi singan endi seggean forð, that sea fan Cristes crafte them mikilon gisâhun endi gehôrdun, thes hie selbˉ o gisprac, giuuîsda endi giuuarahta, uundarlîcas filo. Das sollten sie vier da mit Fingern schreiben, setzen und singen und weitersagen, was sie von des Christus Gewalt, des Großen, gesehen und gehört hatten, was er selbst gesprochen, gewiesen und gewirkt hatte, viel Erstaunliches. Aber das Heldenlied von Christus ist eben doch eine Konstruktion: Der Stoff stammt aus einer schriftlichen Quelle und ist in Ausdrucksformen der mündlichen Tradition bearbeitet. Die Über- <?page no="99"?> 91 tragung auf den biblischen Stoff macht diese Ausdrucksformen zu Kunstmitteln, mit denen ein Heldenlied nachgeahmt wird. Otfrid von Weißenburg entschied sich dagegen für einen anderen Weg. Er entwickelte für sein ›Evangelienbuch‹ eine neue Versform, die sich an der frühmittelalterlichen lateinischen Dichtung mit dem Endreim als wichtigstem Gestaltungsprinzip orientierte. Otfrids poetische Verfahrensweisen sollen nicht ein mündliches Heldenlied christlichen Inhalts simulieren, sondern Schriftepik auf Deutsch nach dem Vorbild der lateinischen Dichtung gestalten. Alle Versuche, die spezifischen Charakteristika ›mündlicher Dichtung‹ zu rekonstruieren, stehen vor einem methodischen Problem, wenn diese Charakteristika nur aus Schrifttexten erschlossen werden können. Die ›Oral Poetry‹-Forschung hat deshalb in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts versucht, Gemeinsamkeiten zwischen der mündlichen Erzählkultur, die es in Serbien zu dieser Zeit noch gab, und den als Schrifttexten überlieferten homerischen Epen zu identifizieren und diese Gemeinsamkeiten als Spuren authentischer medialer Mündlichkeit in den homerischen Epen zu deuten. Daraus entstand eine Kollektion von Merkmalen - lexikalische Formelhaftigkeit, parataktische Syntax, konventionalisierte Handlungsmuster und Episodentypen, blockhafte Episodenreihung - die dann auch in früh- und hochmittelalterlicher Dichtung gesucht und gefunden wurden. Dadurch entsteht der Eindruck, ›mündliche Dichtung‹ habe über erhebliche zeitliche und räumliche Distanzen hinweg identische Merkmale. Das könnte jedoch auch ein Produkt des methodischen Vorgehens sein: Zum einen werden die genannten Merkmale kurzerhand als Spuren medialer Mündlichkeit gedeutet, obwohl sie alle auch in Texten zu finden sind, deren konzeptionelle Schriftlichkeit außer Frage steht; zum anderen werden alle nicht ins Bild passenden Merkmale schriftlich überlieferter Texte mit mutmaßlichen Mündlichkeitsspuren als Folgen der Verschriftlichung gedeutet. Dabei scheint zunehmend in Vergessenheit geraten zu sein, worauf die Vorstellung von einer über alle kulturellen Unterschiede hinweg gleichartigen ›mündlichen Dichtung‹ zurückgeht: Im späten 18. Jahrhundert entwickelte Johann Gottfried Herder die Idee einer ursprünglich der ganzen Menschheit gemeinsamen mündlichen ›Volksdichtung‹ als ursprünglicher Sprache der Menschheit, aus der alle schriftliterarischen Traditionen hervorgegangen sein sollen. In den homerischen Epen, dem Alten ›Oral Poetry‹ DI E MÜNDLI C H E T RADITION <?page no="100"?> 92 › LIT E RAT U R ‹ UND › DI C H T UNG ‹ Testament, den Liedern der ›Edda‹ und in ›Volksliedern‹ aller Kulturen meinte Herder die Spuren dieser Ursprache finden zu können. Diese hochspekulative Idee wurde von den Romantikern aufgegriffen und gewann dann auch in den im 19. Jahrhundert entstehenden Literaturwissenschaften erheblichen Einfluss. Die mündliche Tradition hatte entscheidenden Einfluss darauf, dass die deutsche Schriftliteratur anfangs vor allem in Gestalt von Versdichtung produziert wurde: Weil das Lied in der mündlichen Kultur hohe Wertschätzung genoss und weil auch die volkssprachliche Schriftdichtung in der Regel vorgetragen wurde, verfassten die gelehrten Kleriker für ihr schriftunkundiges Publikum nicht Prosa-, sondern Verstexte. Für lange Zeit blieb der vorgetragene Vers die wichtigste Folge der Mündlichkeit, die in der produktionsseitig schriftlichen Dichtung weiter fortwirkte. Solange Verstexte gesungen oder rezitierend vorgetragen wurden, spielte die Mündlichkeit nicht zuletzt dergestalt eine wichtige Rolle, dass die Stimme des Vortragenden den Rezipienten den Text vermittelte. Die Vortragsstimme machte nicht nur die Lautgestalt des Textes wahrnehmbar, sondern nahm auch Einfluss auf sein Sinnpotential: Sie nuancierte und vereindeutigte, hob das eine nachdrücklich hervor und betonte etwas anderes weniger stark. Der französische Literaturwissenschaftler Paul Zumthor hat das die ›Vokalität‹ (Stimmlichkeit) der älteren Dichtung genannt: Erst im Vortrag gewann der Text seine tatsächliche Gestalt. Im Anschluss an Zumthor ist der Begriff ›Vokalität‹ mittlerweile zur Bezeichnung für die komplexe Beziehung zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit vor allem in der früh- und hochmittelalterlichen Kultur geworden. Über die tatsächlichen Aufführungspraktiken geben die erhaltenen Quellen jedoch kaum Auskünfte, die belastbar wären. Wenn in höfischen Romanen der Vortrag von Minneliedern (so in Gottfrieds von Straßburg ›Tristan‹) oder einem höfischen Roman (so in Hartmanns von Aue ›Iwein‹) dargestellt ist, steht das genauso im Dienst der jeweiligen narrativen Sinnkonstruktion wie erzählte Kämpfe gegen Drachen oder Riesen und kann deshalb nicht einfach als zuverlässige Wiedergabe der kulturellen Praxis verstanden werden. Als halbwegs sicher darf nur gelten, dass strophische Texte (die gesamte Liedlyrik und strophische Heldenepen) vorgesungen wurden. Unklar ist dagegen, wie man Mündlichkeit und Vers Vokalität Aufführungspraktiken <?page no="101"?> 93 DI E B E G R I F F E › AU TO R ‹ UND › T E X T ‹ sich die Rezitation nichtstrophischer Reimpaardichtungen (vgl. dazu Kap. 6) vorzustellen hat. Die Begriffe ›Autor‹ und ›Text‹ Unsere modernen Vorstellungen von ›Autorschaft‹ sind im 18. Jahrhundert entstanden und haben eine rechtliche Grundlage, die in enger Verbindung mit dem ebenfalls modernen juristischen Konzept der Urheberschaft an geistigem Eigentum steht. Um die Differenz zur Zeit vor dem Aufkommen dieses Rechtskonzepts nicht von vornherein zu überspringen, wird in der älteren Literaturwissenschaft oft lieber von ›Verfassern‹ als von ›Autoren‹ gesprochen. Aus der römischen Antike übernahmen die mittelalterlichen Gelehrten die lateinische Bezeichnung ›auctor‹, deren Bedeutung eher unserem Begriff der ›Autorität‹ entspricht. So stellte beispielsweise Cicero die maßgebliche Autorität im lateinischen Rhetorikunterricht dar, weshalb er als Verfasser rhetorischer Schriften ein auctor war. Im lateinischen Dichtungsunterricht wurden die Verfasser nachahmungswürdiger Werke (lateinisch opera von opus) als auctores bezeichnet, so beispielsweise Vergil oder Ovid. Durch die imitatio auctorum, die Nachahmung der Werke der Autoritäten, entwickelten die Schüler eine eigene Fertigkeit im Dichten. Die auctores waren keine Urheber eines geistigen Eigentums, sondern Autoritäten eines Wissens, auf dessen Verwendung alle dasselbe Recht hatten. Textproduktion galt in der lateinischen Gelehrtenkultur deshalb eher als Bearbeitung von bereits Vorhandenem. Gleichwohl trifft man manchmal auch auf eine Vorstellung vom Eigenen, die mit dem Begriff auctor verbunden ist. Der Universitätsprofessor Bonaventura etwa differenzierte im 13. Jahrhundert zwischen dem Schreiber (scriptor), der ein fremdes Produkt abschreibt; dem Kompilator, der verschiedene fremde Produkte zusammenfügt; dem Kommentator, der ein fremdes Produkt mit eigenen Ausführungen versieht; und dem auctor, der fremde Produkte in eine eigene Grundlage einarbeitet. Allgemein verbreitet waren freilich nicht solche genauen begrifflichen Unterscheidungen, sondern eher die ihnen zugrunde liegenden Vorstellungen des Aufneh 4. ›Autor‹ und ›Verfasser‹ Auctor Bearbeitung von Vorlagen <?page no="102"?> 94 › LIT E RAT U R ‹ UND › DI C H T UNG ‹ mens und Einbauens von Fremdem in das eigene Produkt. Auf Deutsch brachte der schon erwähnte Thomasin von Zerclaere im ›Welschen Gast‹ diese Idee anschaulich zum Ausdruck: Thomasin von Zerclaere Der Wälsche Gast des Thomasin von Zirclaria. Hg. v. Heinrich Rückert. Mit einer Einleitung u. einem Register von Friedrich Neumann. Berlin 1965, V. 105-122: doch ist der ein guot zimberman, der in sînem werke kan stein und holz legen wol, dâ erz von rehte legen sol. daz ist untugende niht, ob ouch mir lîhte geschiht, daz ich in mîns getihtes want ein holz, daz ein ander hant gemeistert habe, lege mit list, daz ez gelîch den andern ist. dâ von sprach ein wîse man: swer gevuoclîchen kan setzen in sîme getiht ein rede, die er machet niht, der hât alsô vil getân, dâ zwîfelt nihtes niht an, als der, derz vor im êrste vant. der vunt ist worden sîn zehant. ez ist in mînem willen wol, daz man sîn rede stætigen sol mit ander vrumer liute lêre. niemen versmæhen, daz ist êre. Doch derjenige ist ein guter Zimmermann, der in seinem Bauwerk Steine und Holzstücke dort anzubringen weiß, wo sie hingehören. Es ist kein Makel, wenn auch ich es so halte, dass ich in die Wand meines Textes ein Holzstück, das eine andere Hand meisterlich hergestellt hat, so kunstfertig einbaue, dass es sich von den anderen nicht unterscheidet. Ein weiser Mensch sagte darüber: Wer in seinen Text ein Textstück, das er nicht selbst gemacht hat, kunstfertig einfügen kann, der hat genauso viel geleistet - daran zweifelt nicht - wie der, der das Textstück vor ihm als erster produziert hat. Das Produkt ist sogleich sein eigenes geworden. Meiner Überzeugung nach soll man seine eigene Rede mit dem bekräftigen, was andere tüchtige Leute gelehrt haben. Niemanden zu übergehen, das ist lobenswert. Der gekonnte Einbau in das eigene Produkt macht das Übernommene zum Eigentum des Verfassers. Er muss weder seine Quelle angeben noch sich der Übernahme schämen. Der Respekt vor der fremden Leistung äußert sich in der Übernahme selbst, nicht - wie wir es gewohnt sind - im Nachweis fremden ›geistigen Eigentums‹. Die Wertschätzung des Rückgriffs auf Fremdes konnte im Extremfall dazu führen, dass das Eigene lieber einer fingierten Quelle zugeschrieben statt als Eigenes ausgewiesen wurde. Thomasin lässt allerdings auch anklingen, dass man die Leistung des ursprünglichen Produzenten doch für größer halten konnte als die des Bearbeiters. Als dessen Eigenleistung soll deshalb zumindest die kunstfertige Einfügung des Fremden gelten. <?page no="103"?> 95 In der volkssprachlichen Dichtung ist es wiederum der höfische Roman, der die gelehrte Vorstellung von Textproduktion am deutlichsten spiegelt. Gottfried von Straßburg versuchte mit dem Dichterkatalog im ›Tristan‹ sogar, einen Kanon deutschsprachiger Muster-auctores zu definieren. Die Verbindung zwischen sich und dem Text stellt der Verfasser gewöhnlich dadurch her, dass er seinen Namen im Text nennt. Seine Eigenleistung als Bearbeiter von Vorlagen erscheint gern unter dem Etikett ›erneuern‹ (niuwen). An der dichterischen Praxis und gelegentlich an der ausdrücklichen Reflexion kann man erkennen, dass die Romanbearbeiter damit auch den Anspruch verbanden, mittels der Bearbeitungstechnik den Sinn der erzählten Geschichte zu deuten. Für die Heldenlied-Sänger hatte dagegen kein Anlass bestanden, ihre Namen im Lied zu nennen, denn sie trugen als Stimme des kulturellen Gedächtnisses gemeinschaftliche Erinnerung vor. Heldenlieder stammen nicht von ›anonymen Verfassern‹: In der jeweiligen Vortragssituation kannten die Zuhörer den Sänger, und sicher konnten die Sänger auch eine besondere Formulierungs- und Erzählkompetenz für sich in Anspruch nehmen. In diesem Sinn waren sie Experten für das kulturelle Gedächtnis; ›Verfasser‹ im Sinn von Bearbeitern einer Vorlage wie die höfischen Romandichter waren sie nicht. Erst als die mündliche Tradition in die produktionsseitige Schriftlichkeit überging, wurde aus dem Sänger ein anonymer Verfasser: Der Dichter des ›Nibelungenlieds‹ schlüpfte in die Rolle des Heldenlied-Sängers und nannte seinen Namen im Text nicht. Nach dem Vorbild des ›Nibelungenlieds‹ haben es dann auch die Dichter der deutschsprachigen Dietrichepik im 13. Jahrhundert so gehalten. Nur in Gestalt von Einzelfällen ist vor der Erfindung des Buchdrucks eine Pflege des eigenen Werks greifbar, die in unserem modernen Autorschaftsbegriff eine bedeutende Rolle spielt. Früh- und hochmittelalterliche Texte sind zumeist in einer Gestalt überliefert, die die Verfasser nicht kontrollierten; andere haben sie später auf- und abgeschrieben. Auch dass Textproduzenten sich selbst um die Zusammenstellung ihrer Texte bemüht hätten, ist nur selten zu beobachten. Ein früher Fall ist der Minnesänger Ulrich von Liechtenstein, der 1275 starb. Er war ein Ministerialer, der in der Steiermark hohe politische Ämter inne hatte und deshalb auch urkundlich gut belegt ist. Höfischer Roman Heldenlied und Heldenepik Pflege des eigenen Werks Ulrich von Liechtenstein DI E B E G R I F F E › AU TO R ‹ UND › T E X T ‹ <?page no="104"?> 96 › LIT E RAT U R ‹ UND › DI C H T UNG ‹ Ulrich hat seine Minnelieder selbst in einer Sammlung mit einem einmaligen Charakter vereinigt. Im Rückblick auf 33 Jahre Ritterleben - so der Text selbst - dichtete er nämlich eine Erzählung, die die Erzählung seines eigenen Lebens als Minnesänger zum Inhalt hat. In diese Erzählung fügte er die Texte seiner 58 Minnelieder ein: Ulrich erzählt, wie er die Lieder als Werbung um zwei Damen gesungen hat und zitiert die Texte im jeweiligen Handlungszusammenhang. Dem Buch, das dabei herausgekommen ist, gab er den Namen ›Frauendienst‹. Dies ist die einzige vom Verfasser selbst angelegte Werksammlung eines deutschen Minnesängers aus dem 12. und 13. Jahrhundert, von der wir sichere Kenntnis haben. Die eigenwillige Form deutet an, wie außergewöhnlich ein solches Projekt war. Über 150 Jahre nach Ulrich von Liechtenstein ließ der heute bekannteste deutsche Liederdichter des Spätmittelalters, der Südtiroler Oswald von Wolkenstein (gestorben 1445), eine Sammlung seiner Werke anlegen, ohne sie noch in einen Erzählrahmen einbetten zu müssen. Auch Oswald war kein Berufsdichter, sondern führte ein Leben als Landadeliger und Diplomat in Fürstendiensten. Die Texte und Melodien seiner insgesamt 130 Lieder ließ er in zwei Prachthandschriften zusammenstellen, die jeweils mit einem Porträtbild eröffnet werden. Mit diesen Handschriften sicherte er sein eigenes Gesamtwerk in einer aufwändigen und repräsentativen Gestalt. Auf die Verbreitung des Werks allerdings zielten die beiden Handschriften nicht; sie waren offenbar für das engere familiäre Umfeld bestimmt. Dichter, die sich aktiv um die schriftliche Verbreitung der eigenen Werke kümmern, werden erst im Gefolge des Buchdrucks greifbar. Der Pionier in der deutschen Literaturgeschichte, der allerdings als früher Einzelfall gelten muss, war der Nürnberger Wundarzt Hans Folz (gestorben 1513). Er betrieb in den siebziger und achtziger Jahren des 15. Jahrhunderts eine eigene Druckwerkstatt, mit der er seine Versnovellen, Fastnachtspiele und Lehrdichtungen in einfacher und deshalb preiswerter Form auf den Buchmarkt brachte. Während es sich bei dieser Personalunion von Textproduzent und Drucker um einen Fall geschickter Vermarktung handelte, entstand mit dem Typus des humanistischen Schriftstellers und Publizisten der unmittelbare historische Vorgänger des modernen Autors. In der Gestalt Sebastian Brants (1457-1521) erreichte Oswald von Wolkenstein Verbreitung des eigenen Werks Hans Folz Humanismus Sebastian Brant <?page no="105"?> 97 dieser Typus zum ersten Mal die Volkssprache. Als Schriftsteller und Publizisten strebten die Humanisten auf der Grundlage ihrer Bildung nach Ruhm für sich und ihre Werke. Der Buchdruck bot ihnen die Möglichkeit der zuverlässigen Vervielfältigung und Verbreitung; er diente deshalb als Instrument ihrer Ambitionen. DI E B E G R I F F E › AU TO R ‹ UND › T E X T ‹ Abb. 6 Anfang des 1. Kapitels (Büchernarr) von Sebastian Brants ›Narrenschiff‹, Basel 1494. <?page no="106"?> 98 › LIT E RAT U R ‹ UND › DI C H T UNG ‹ Sebastian Brant, Sohn eines Straßburger Gastwirts, studierte an der Universität Basel die alten Sprachen und die Rechte; danach lehrte er dort Poesie und Jura. Nebenher beriet er die Basler Verleger bei ihren humanistischen Projekten. Er ließ eigene juristische Werke drucken und gab ältere heraus; er veröffentlichte eigene lateinische Gedichte sowie Übersetzungen älterer religiöser und moraldidaktischer lateinischer Texte. Nachdem er 1501 nach Straßburg zurückgekehrt und als Stadtschreiber Leiter der Stadtkanzlei geworden war, wandte er sich der volkssprachlichen Chronistik zu. Sieht man von der selbstverständlichen Dominanz des Lateinischen als Sprache der litterae ab, sind die Humanisten nicht nur die Begründer unseres Begriffs von ›Literatur‹, sondern auch unserer Vorstellung vom ›Autor‹, der seine Werke für die Verbreitung im Druck produziert und deshalb für ihre Veröffentlichung sorgt. Brants 1494 veröffentlichtes ›Narrenschiff‹ war der erste deutschsprachige poetische Text, der von vornherein für den Druck produziert wurde. (Hans Folz hat seine Texte wahrscheinlich erst nachträglich gedruckt.) Das Buch behandelt in 112 Kapiteln moralische Fehler, die jeweils auf die Figur eines Narren konzentriert sind; den Anfang macht der Büchernarr. Die Einzelkapitel werden durch die Schiffsmetapher zusammengehalten: Alle Narren sitzen im selben Boot. Mit dem Blick auf die geplante Drucklegung konnte Brant auch die zeitgenössischen Möglichkeiten der Bildreproduktion gezielt nutzen: Jedes ›Narrenschiff‹-Kapitel ist mit einem Holzschnitt versehen, wobei Text und Bild jeweils genau aufeinander abgestimmt sind. Brants Pioniertat wurde sofort zum Bestseller. Einen Begriff vom geistigen Eigentum bürgerte jedoch auch die humanistische Publizistik nicht ein: Brant ärgerte sich zwar über unautorisierte Nachdrucke des ›Narrenschiffs‹, doch blieben seine Versuche, sie zu verhindern, erfolglos. Lateinisch ›textus‹ bedeutet eigentlich ›Gewebe‹ (daher unsere ›Textilien‹). Als Metapher für das sprachliche ›Gewebe‹ wurde das Wort gelegentlich, jedoch eher selten in der antiken römischen Grammatik und Rhetorik benutzt. Als Standardbegriffe für das, was wir heute alltagssprachlich ›Text‹ nennen, dienten hier eher oratio und sermo (Rede); beides konnte sowohl Mündliches als auch Schriftliches bezeichnen. Dabei blieb es im lateinischen Mittelalter; in den älteren deutschen Sprachstufen erfüllten althoch- ›Narrenschiff‹ ›Text‹ <?page no="107"?> 99 deutsch reda und mittelwie frühneuhochdeutsch rede denselben Zweck. Das seit dem 14. Jahrhundert belegte deutsche Lehnwort text wurde offenbar eher benutzt, wenn es um die Unterscheidung von etwas anderem ging: So kann ein text etwa dasjenige sein, was durch eine glos (Glosse, Erklärung) ausgelegt wird, oder dasjenige, was im Lied auf eine composition gesungen wird. Vor der Erfindung des Buchdrucks hatten der Vortrag als gängige Methode der Textvermittlung, die Vorstellung vom Produzenten als Bearbeiter und die handschriftliche Überlieferung auch Konsequenzen für das Phänomen ›Text‹. Ältere Texte hatten - in unterschiedlichem Ausmaß und aus verschiedenen Gründen - eine weniger streng festgelegte und leichter veränderbare Gestalt in Wortlaut und Umfang, als wir es aufgrund der heutigen Verhältnisse produktionswie rezeptionsseitiger Schriftlichkeit und drucktechnischer Vervielfältigung gewohnt sind. Sie waren jedoch nicht einfach generell ›unfest‹ und frei veränderbar; die Verhältnisse schwanken je nach Texttyp. Minnelieder, die in mehreren Handschriften stehen, sind beispielsweise nicht selten in verschiedenen Fassungen überliefert: Die Anzahl der Strophen und ihre Reihenfolge sind nicht gleich, auch beim Wortlaut gibt es Varianten. Diese Unterschiede lassen sich auf zweierlei Art erklären: Sie können entweder während der mündlichen und handschriftlichen Überlieferung entstanden sein oder auf Vortragsfassungen beruhen, für die die Minnesänger selbst verantwortlich sind. Beides weist darauf hin, dass Minneliedtexte eine gewisse Beweglichkeit haben konnten. In der Heldenepik sind in etlichen Fällen unterschiedliche Fassungen überliefert, die auf die Textproduktion und auf die Vortragspraxis zurückgehen müssen. Das Paradebeispiel dafür ist das ›Nibelungenlied‹. Offenbar bewahrten Heldenepen auch nach dem Übergang in die Schriftlichkeit noch einen Teil der Unfestigkeit, die in der mündlichen Tradition geherrscht hatte. Beim höfischen Roman gibt es Fälle, in denen die erhaltenen Handschriften gekürzte Fassungen oder auch die Veränderung einzelner Handlungszüge dokumentieren. Insgesamt herrscht hier aber eine deutlich größere Festigkeit des Textes als in der Heldenepik. Allem Anschein nach begrenzten das hohe Ausmaß an dichtungstechnischer Durchformung, die Verbindung des Texts mit einem Verfassernamen und das Vorlesen als Vortragstyp die Veränderbarkeit der Textgestalt. Unfeste Texte Minnesang Heldenepik Höfischer Roman DI E B E G R I F F E › AU TO R ‹ UND › T E X T ‹ <?page no="108"?> 100 › LIT E RAT U R ‹ UND › DI C H T UNG ‹ Ein besonders hoher Grad an ›Unfestigkeit‹ zeichnet dagegen die deutschsprachigen Weltchroniken aus. Anders als bei der Heldenepik handelt es sich jedoch um eine Folge der schriftlichen Bearbeitungspraxis. Bonaventura hätte sich hier wohl schwer mit der Unterscheidung zwischen Schreiber, Kompilator und auctor getan. Auch heute ist es nicht einfach, Grenzen zwischen verschiedenen Texten und Textredaktionen zu ziehen. Die Produzenten von Weltchroniken übernahmen altes Textmaterial und erweiterten es durch neues sowie, vor allem, durch weiteres altes Textmaterial. Weltchroniken entstanden so auf der Grundlage älterer Weltchroniken nicht zuletzt durch den Einbau anderer Texte, die nach der zeitgenössischen Einschätzung historische Wahrheit erzählten, wie etwa Antikenromane, Heldenepen aus der Karolingerzeit oder Heiligenlegenden. Indem jede neue Bearbeitung offen war für neue Einverleibungen, wurde die Texttradition immer weiter fortgeschrieben und der Umfang des Textkonglomerats immer weiter vergrößert. Einige Redaktionen der mit dem Namen ›Heinrich von München‹ - ein nicht identifizierbarer Verfasser-Kompilator - verbundenen Weltchronik brachten es im 14. Jahrhundert auf über 100.000 Verse. Prosa und Roman Während poetische Texte in Prosa seit dem 18. Jahrhundert mit dem Begriff der ›schönen Literatur‹ problemlos zu vereinbaren sind, war die Abkehr vom Vers für das ältere Verständnis von Dichtung alles andere als selbstverständlich. Der Begriff ›Prosadichtung‹ wäre im mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Sprachgebrauch ein Widerspruch in sich gewesen. In der Praxis kam es jedoch in einigen narrativen Dichtungsgattungen dadurch zum Übergang vom Vers zur Prosa, dass zuvor in Versen bearbeitete Stoffe in Prosa bearbeitet wurden. Ein Modellfall dafür ist die Versnovellistik, die auf Altfranzösisch im 12. Jahrhundert (Fabliau) und auf Mittelhochdeutsch im 13. Jahrhundert (Märe, vgl. S. 120) entstanden war. Seit dem 14. Jahrhundert wurden in Italien Prosanovellen verfasst; im deutschen Sprachraum gab es im 16. Jahrhundert eine umfangreiche Produktion von Prosaschwänken, das heißt kürzeren komischen Erzählungen. Ein zweiter Modellfall ist der Roman. Weltchroniken 5. <?page no="109"?> 101 P R O S A UND R OMAN Den Gattungsbegriff ›Roman‹ für längere Erzählungen in Prosa gibt es erst seit dem 17. Jahrhundert. Als Bezeichnung für Erzählungen in der romanischen Volkssprache diente das altfranzösische Wort romanz (von lateinisch romanice, ›romanisch‹ im Unterschied zu Latein) jedoch schon seit dem 12. Jahrhundert. Wenn wir heute vom ›höfischen Roman‹ sprechen und damit längere Verserzählungen mit antiken und britisch-bretonischen Stoffen meinen, ist das freilich eine moderne Klassifikation, zu der es im hohen Mittelalter weder im französischen noch im deutschen Sprachraum eine Entsprechung gab. Vom Ende des 12. Jahrhunderts an bearbeitete man in Frankreich auffälligerweise zunächst gerade diejenigen höfischen Romanstoffe in Prosa, deren faktische Wahrheit am ehesten in Zweifel stand - die britisch-bretonischen um Artus (im ›Lancelot en prose‹, vgl. S. 66) und Tristan. Die Wahl der Prosa diente dazu, den Text als historia, als Darstellung von Tatsachenwahrheit, auszugeben. Das stellt eine Reaktion auf den alten, gelehrten Vorbehalt gegenüber dem Wahrheitsgehalt der Dichtung dar: Poetische Texte sollten faktisch wahre Stoffe behandeln, taten dies jedoch nicht immer. Weil es eine enge Verbindung zwischen Dichtung und Vers gab, konnte der Gebrauch der Prosa anstelle des lügenverdächtigen Verses gerade bei zweifelhaften Stoffen als Wahrheitsbehauptung verstanden werden. Die Textbezeichnung historia - in der Bedeutung ›Tatsachenbericht und Wirklichkeitsbeschreibung‹ - benutzte man dann auch für die deutschen Prosaromane, die seit dem 15. Jahrhundert für die Fürstenhöfe, den Landadel und die städtischen Führungsgruppen produziert wurden. Ihre Verfasser bearbeiteten zunächst Stoffe der französischen Heldenepik und des höfischen Romans, die in der Adelswelt spielten (vgl. S. 64). Vom 16. Jahrhundert an entstanden Prosaromane ohne ältere Vorlagen, die mit Kaufleuten und Gelehrten nun auch stadtbürgerliche Figuren haben konnten. Was als historia ausgegeben wurde und in Prosa verfasst war, beanspruchte Wahrheit. ›Wahr‹ wollten die Historien sowohl in faktischer als auch in moralischer Hinsicht sein. In typischer Weise bringen das etwa das Titelblatt und der Schluss der 1588 erstmals gedruckten ›Historia von D. Johann Fausten‹ (D. für Doktor) zum Ausdruck. Der anonyme Autor kündigt eine Historia vom weit bekannten Zauberer und Teufelsbündner Faust an, die Mehrertheils auß seinen eygenen hinderlassenen Schrifften / allen hochtragenden ›Roman‹ Erste Prosaromane Historia Prosaroman des 15. und 16. Jahrhunderts Faktische und moralische Wahrheit ›Historia von D. Johann Fausten‹ <?page no="110"?> 102 › LIT E RAT U R ‹ UND › DI C H T UNG ‹ [ehrgeizigen] / fürwitzigen [neugierigen] vnd Gottlosen Menschen zum schrecklichen Beyspiel / abschewlichen Exempel / vnd trewhertziger Warnung zusammen gezogen / vnd in den Druck verfertiget sei. Zum Schluss wird nochmals die moralische Wahrheit festgehalten, die auf der faktischen Wahrheit der Geschichte gründet: Historia von D. Johann Fausten. Kritische Ausgabe. Hg. v. Stephan Füssel u. Hans Joachim Kreutzer. Stuttgart 2012, S. 123f. Also endet sich die gantze warhafftige Historia vnd Z e auberey Doctor Fausti / darauß jeder Christ zu lernen / sonderlich aber die eines hoffertigen [hochmütigen] / stoltzen / f e urwitzigen vnd trotzigen Sinnes vnnd Kopffs sind / GOtt zu f e orchten / Zauberey / Beschwerung [Teufelsbeschwörungen] vnnd andere Teuffelswercks zu fliehen / so Gott ernstlich verbotten hat / vnd den Teuffel nit zu Gast zu laden / noch jm raum zu geben / wie Faustus gethan hat. Dann [Zu dem Zweck] vns hie ein erschrecklich Exempel [Beispiel] seiner Verschreibung vnnd Ends f e urgebildet ist / desselben m e ussig zu gehen / vnnd Gott allein zu lieben / vnnd f e ur Augen zu haben / alleine anzubeten / zu dienen vnd zu lieben / von gantzem Hertzen vnd gantzer Seelen / vnd von allen Kr e afften / vnd dagegen dem Teuffel vnnd allem seinem Anhang abzusagen / vnd mit Christo endtlich ewig selig zu werden. Einen Gelehrten namens Faustus gab es in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts wirklich. Er hatte schon zu Lebzeiten einen zweifelhaften Ruf und galt nach seinem Tod als Zauberer und Teufelsdiener. Um den Wahrheitsanspruch zu bekräftigen, beruft sich der Verfasser der ›Historia‹ freilich nicht nur auf umlaufendes Wissen und Augenzeugenberichte, sondern darüber hinaus auf Dokumente, die er im Nachlass seiner Hauptfigur gefunden haben will - darunter eine Kopie des Vertrags mit dem Teufel und einen Bericht von der Höllenfahrt. Dem Wahrheitsanspruch dient außerdem der Rückgriff auf Sachliteratur über Teufel, Dämonen und Zauberei. Und da der Teufelsbund Faust zu einem Erforscher der Welt und des Kosmos macht, sind zahlreiche Informationen aus naturkundlichen, geographischen und kosmographischen Werken in die Erzählung eingefügt. Die moralische Wahrheit betont der Autor vom Anfang bis zum Ende unermüdlich: Man soll es nicht wie Faust machen, der sein Seelenheil der Suche nach Erkenntnis jenseits der in der Bibel geoffenbarten Wahrheit opferte. Anders als uns braucht die Faust-Handlung zeitgenössischen Rezipienten nicht unwahrscheinlich erschienen zu sein. Aber ›Fortunatus‹ <?page no="111"?> 103 auch Geschichten mit offenkundig unwahrscheinlichen Bestandteilen erhoben den Wahrheitsanspruch der historia. Der prominenteste Fall ist der 1509 erstmals gedruckte, anonyme ›Fortunatus‹, der erste deutsche Prosaroman ohne Vorlage. Er erzählt vom Aufstieg und Niedergang einer Kaufmannsfamilie: Die Hauptfigur Fortunatus (›der Beglückte‹) trifft auf die Jungfrau des Glücks. Er darf zwischen Weisheit, Reichtum und einer Reihe weiterer Glücksgüter wählen, entscheidet sich für den Reichtum und erhält einen Geldbeutel, der nie leer wird. Um die ausgedehnten Reisen seiner Figuren glaubhaft zu gestalten, benutzte der Verfasser zeitgenössische Reiseberichte - ein Inbegriff der historia im Sinn von Tatsachen- und Wirklichkeitsbeschreibung. In der Vorrede und am Ende wird aus der Geschichte eine moralische Wahrheit abgeleitet, nämlich dass Weisheit dem Reichtum vorzuziehen sei. Dass die Handlung selbst jedoch ganz unglaubwürdig bleibt, räumt der Verfasser mit dem letzten Satz augenzwinkernd ein: Er hege doch den Verdacht, dass die Jungfrau des Glücks, die Fortunatus den Geldbeutel gegeben habe, auß unseren landen verjaget / und in dieser welt nit mer tzu finden sei. So wird der Wahrheitsanspruch, den die Prosa-Historie nahe legt, mit dem angedeuteten Eingeständnis konfrontiert, dass die Geschichte erfunden ist. Es ist die Unwahrscheinlichkeit, die die Fiktion erkennbar macht. Das stellt einen deutlichen Unterschied zur ›realistischen‹ Fiktion des modernen Romans dar, aber in der Spannung zwischen Wahrheitsanspruch und zugegebener Erfindung kann man dennoch einen Keim des modernen Fiktionalitätsbewusstseins sehen. Im 16. Jahrhundert selbst begründete freilich nicht dieser zukunftsweisende Aspekt, sondern der Rückgriff auf die bewährten horazischen Kategorien den Wert der Prosaromane: ›Lustiges‹ und ›Kurzweiliges‹ sowie ›nützlich zu Lesendes‹ preisen die Drucke immer wieder aufs Neue an. Delectare und prodesse, das passte eben auch für Prosa-Dichtung. Fiktionalität P R O S A UND R OMAN <?page no="112"?> 104 104 Was lesen? Dieses Kapitel enthält eine Liste mit Lektürevorschlägen zur älteren deutschen Literatur. Eine solche Liste bringt, ob man es will oder nicht, die Idee eines Kanons ›wichtiger‹ Texte ins Spiel. Ein Kanon hat seine nützliche Seite, insofern er eine Orientierungshilfe anbietet: Er schlägt vor, was man lesen soll. Er hat aber auch eine problematische Seite, insofern er das auf jeden Fall Lesenswerte vom weniger Lesenswerten unterscheidet. Um Lektürelisten nicht blind zu vertrauen, sollte man wissen, welche Arten von Kanonbildungen in unserer Kulturgeschichte eine Rolle spielten und welchen Zwecken sie dienten. Als Bezeichnung für eine Gruppe von Texten diente das Wort ›Kanon‹ (griechisch für ›Regel, Maßstab‹) ursprünglich in der religiösen Sprache: ›Den‹ Kanon ergeben seit der christlichen Spätantike diejenigen Texte, die gemäß kirchlicher Anerkennung als ›Heilige Schrift‹ des Alten und Neuen Testaments unmittelbar von Gott inspiriert sind und eine verbindliche Offenbarung der Wahrheit darstellen. Den biblischen Kanon gibt es, weil eine Institution (die Kirche) festlegt, was als Maßstab der Wahrheit gilt. Die Rede von einem literarischen Kanon kam erst im 18. Jahrhundert auf. Unabhängig von der Bezeichnung, die aus der religiösen Sprache übernommen ist, gab es das Phänomen aber schon seit der griechischen Antike. Aus dem 1. Jahrhundert vor Christus stammen die ersten Listen mit nachahmenswerten Musterautoren - Dichter, Geschichtsschreiber, Redner -, die im Unterricht als Vorbilder für die Textproduktion dienten. Die Römer griffen dieses Prinzip auf, und über den christlichen Unterricht der römischen Spätantike gelangte es in den Grammatik- und damit in den Dichtungsunterricht der mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Schulen. Auch die Existenz des literarischen Kanons verdankt sich einer Institution - dem Schulunterricht. Das Auswahlkriterium war Kapitel 5 Lektüreliste und Kanon Religiöser Kanon Literarischer Kanon von der Antike bis zur frühen Neuzeit <?page no="113"?> 105 allerdings ursprünglich nicht Wahrheit, sondern Vorbildlichkeit, und die Festlegung der Textgruppe fiel weniger streng aus: Der literarische Kanon war immer für Veränderungen offen. Auch die Auswahlprinzipien wandelten sich mit der Durchsetzung des christlichen Wahrheitsanspruchs in der Spätantike, mit dem sprachlichen Schönheitsideal des 12. Jahrhunderts, mit der humanistischen Orientierung am klassischen Latein. Vor allem aber konnte der literarische Kanon, im Gegensatz zum biblischen, durch Neues bereichert werden. Gleichwohl hatte er natürlich unweigerlich einen traditionsstiftenden Effekt: Was zum Vorbild erklärt war, übte Einfluss aus. Die unüberschaubare Wirkung von Autoren wie Vergil oder Ovid auf die europäische Literaturgeschichte hat hier ihre Grundlage. Das praktische Ziel des Musterautoren-Kanons, die Fähigkeit zur Textproduktion zu schulen, wurde zusammen mit dem alten Dichtungsunterricht im 18. Jahrhundert aufgegeben. Was vom 19. Jahrhundert an als ›bildungsbürgerlicher‹ Literaturkanon entstand, war aber weiterhin von der Institution des Unterrichts an Schule und Universität abhängig. Der Literaturkanon brachte nun vor allem einen Bildungsanspruch zum Ausdruck: Er legte fest, welches literarische Wissen vom Einzelnen auf einem bestimmten Bildungsniveau erwartet wurde, und er sorgte dafür, dass jede Generation dieses literarische Wissen erwarb. Die Auswahlkriterien waren jetzt allerdings andere. Sie lassen sich besonders gut dort beobachten, wo der bildungsbürgerliche Kanon selbst Textgestalt annahm: in Literaturgeschichten aus dem 19. Jahrhundert. Großen Einfluss gewannen vor allem die ›Geschichte der poetischen National-Litteratur der Deutschen‹ von Georg Gottfried Gervinus und die ›Geschichte der deutschen Litteratur‹ von Wilhelm Scherer. Was dort behandelt wurde, war der Kanon - das literarische Wissen, das die Gesellschaft von den Gebildeten erwartete. Das bedeutete nicht, dass man die in den Literaturgeschichten erwähnten Texte alle gelesen haben musste; man sollte aber um ihre Existenz und ihren Rang wissen. Das erste Auswahlkriterium war das nationale: Der Kanon sortierte deutschsprachige Texte vom Mittelalter bis zur jeweiligen Gegenwart aus und begründete ihre Bedeutung in erster Linie mit ihrem Beitrag zur deutschen Geschichte. Dieser ›nationale‹ Kanon wurde in der Schule und an der Universität freilich durch die in anderen Fächern behandelten Literaturen ergänzt, so dass Literarischer Kanon im 19. Jahrhundert Literaturgeschichten Auswahlkriterien für den Kanon: nationaler und ästhetischer Wert WA S L E S E N? <?page no="114"?> 106 WA S L E S E N? im bürgerlichen Bildungsbewusstsein auch ein Kanon der (im Wesentlichen auf Europa beschränkten) ›Weltliteratur‹ seit der griechischen und römischen Antike verankert war. Das zweite Auswahlkriterium war das ästhetische: Der Kanon bestand, von wenigen Ausnahmen abgesehen, aus poetischen Texten. Hätte man einen weiten Literaturbegriff benutzt und beispielsweise das Kriterium der historischen Wirkung an die erste Stelle gesetzt, hätte der Kanon zumindest für Spätmittelalter und frühe Neuzeit anders aussehen müssen. Indes gehörten nichtpoetische Texte mit einer besonders herausragenden Wirkungsgeschichte - wie etwa der ›Sachsenspiegel‹ oder verschiedene Werke Luthers - trotzdem mit einiger Selbstverständlichkeit zum literaturgeschichtlichen Kanon. Innerhalb der poetischen Texte hob das ästhetische Kriterium noch einmal die ›großen Werke‹ heraus, die man als dichterische Spitzenleistungen beurteilte. Der bildungsbürgerliche Literaturkanon löste sich seit den sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts auf. Der aktuelle Anlass dafür war, dass viele ihn sowohl wegen seiner bloßen Existenz als auch wegen seiner Zusammensetzung für reaktionär hielten. Die tiefere Ursache liegt eher darin, dass sich die gesellschaftliche Funktion der Literatur und des literarischen Bildungswissens dramatisch verändert haben. Vom 18. Jahrhundert bis in die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg erwartete das Bildungsbürgertum von der Dichtung Höchstleistungen für die Entwicklung des Einzelnen ebenso wie für die der Gesellschaft - in sich verändernden, aber gleichbleibend anspruchsvollen Varianten. Das begründete die Selbstverständlichkeit, mit der literarisches Wissen als Bildungsgut eingefordert wurde. Dass die Verhältnisse heute nicht mehr so sind, ist kaum zu übersehen. Auch vor dem 18. Jahrhundert waren sie nicht so. Die folgende Lektüreliste ist trotzdem ein bescheidener Rest des bildungsbürgerlichen Literaturkanons. Es gibt nämlich keinen anderen, weil es keine allgemein akzeptierten Auswahlkriterien mehr gibt. Die Liste beruht deshalb auf den alten Prinzipien: Sie enthält literaturgeschichtlich besonders ›wichtige‹ deutschsprachige poetische Texte. Was dabei mit ›wichtig‹ gemeint ist, ändert sich von Fall zu Fall und wird in den kurzen Erläuterungen jeweils angedeutet. Selbstverständlich sind große Mengen nichtpoetischer Texte aus der älteren deutschen Literatur eine Lektüre wert; selbstverständlich könnten viele andere poetische Texte auf Auflösung des literarischen Kanons Auswahlkriterien für die Lektüreliste <?page no="115"?> 107 der Liste stehen. Sie soll niemanden davon abhalten, mehr oder Anderes zu lesen. Die Titel der Liste ergeben einen chronologischen Durchgang durch die ältere deutsche Dichtung vom 8. bis zum 16. Jahrhundert. Weil keines der angeführten Werke heute noch ohne Hilfestellungen zu verstehen ist, sind stets zweisprachige Ausgaben mit Erläuterungen angegeben. Einführende Literatur ist im Literaturverzeichnis (Kap. 13) angegeben. Wer diese Hilfen in Anspruch nimmt, wird erheblich mehr Gewinn aus der Textlektüre ziehen. ›Hildebrandslied‹ Stephan Müller (Hg.): Althochdeutsche Literatur. Eine kommentierte Anthologie. Althochdeutsch / Neuhochdeutsch. Altniederdeutsch / Neuhochdeutsch. Stuttgart (Reclam) 2007. Frühe deutsche Literatur und lateinische Literatur in Deutschland 800-1150. Hg. v. Walter Haug u. Benedikt Konrad Vollmann. Frankfurt a.M. (Deutscher Klassiker Verlag) 1991. Die älteste deutsche Heldenlied-Verschriftlichung (vgl. S. 39) ist als einzige aus dem frühen Mittelalter das wichtigste Zeugnis der mündlichen Heldenliedtradition. Erhalten ist sie in einer um 830/ 40 geschriebenen Handschrift, die bereits eine schriftliche Vorlage hatte. Erzählt wird die weit verbreitete Handlungskonstellation des Kampfs zwischen Vater und Sohn. Hildebrand (der Vater) und Hadubrand (der Sohn) treffen ›zwischen zwei Heeren‹ als Feinde aufeinander. Der Vater, Gefolgsmann Dietrichs, kehrt nach 30 Jahren Exil heim und erkennt im Gegner den Sohn, den er einst zurückließ. Der Sohn hält den Vater aufgrund falscher mündlicher Überlieferung für tot und lässt sich deshalb nicht von der Identität des Gegners überzeugen. Das Gespräch, mit dem der Vater die Konfrontation zunächst zu verhindern sucht, gerät zur Provokation und führt zum Zweikampf. Vor dessen Ausgang bricht die Handschrift ab, doch rechtfertigen andere Stoffzeugen die Annahme, dass der Vater den Sohn getötet hätte. 1. WA S L E S E N? <?page no="116"?> 108 WA S L E S E N? Otfrid von Weißenburg: ›Evangelienbuch‹ Otfrid von Weißenburg: Evangelienbuch. Auswahl. Althochdeutsch / Neuhochdeutsch. Hg., übers. u. kommentiert v. Gisela Vollmann-Profe. Stuttgart (Reclam) 2 2010. Das um 870 fertig gestellte Werk des Weißenburger Mönchs ist der anspruchsvollste Versuch, althochdeutsche Schriftdichtung nach dem Vorbild der lateinischen Bibeldichtung zu schaffen (vgl. S. 37). Otfrid erzählt das Leben Jesu nach den vier Evangelien. In den Handlungsbericht, der das Geschehen in einer frühmittelalterlichen Adelswelt spielen lässt, sind verschiedenartige Textpartien eingefügt, die über die Evangelien hinausgehen und dem Werk den Charakter eines umfassenden religiösen Kompendiums verleihen: Gebete, hymnisches Gotteslob und theologische Auslegungen. In seiner Verbindung von ›wahrem‹ christlichen Inhalt, deutender Erklärung des geistlichen Sinns und kunstvollem sprachlichen Ausdruck ist das ›Evangelienbuch‹ der Inbegriff der frühmittelalterlichen gelehrten Vorstellung von Dichtung. ›König Rother‹ König Rother. Mittelhochdeutscher Text u. neuhochdeutsche Übersetzung v. Peter K. Stein. Hg. v. Ingrid Bennewitz. Stuttgart (Reclam) 2000. Bevor im letzten Drittel des 12. Jahrhunderts mit der höfischen Kultur Erzählstoffe nach französischen Textvorbildern importiert wurden, entstanden einige Schriftepen, die wahrscheinlich zuvor im deutschen Sprachraum mündlich verbreitete Geschichten aufgreifen. Anders als der Dietrich- und Nibelungenstoff gehen sie nicht auf die Völkerwanderungszeit zurück. Zu ihnen gehört der vermutlich um 1160/ 70 von einem unbekannten Dichter verfasste ›König Rother‹. Die Erzählung gibt Rother, der in Süditalien residiert, als Großvater Karls des Großen aus. Im Mittelpunkt der Handlung steht seine Werbung um die Tochter König Konstantins von Konstantinopel, der jeden potentiellen Schwiegersohn umbringen lässt. Ehe Rother am Ende in einer Schlacht gegen einen heidnischen Konkurrenten siegt, kommt es zu mehreren 2. 3. <?page no="117"?> 109 Reisen nach Konstantinopel, zu einer Entführung und einer Rückentführung der Braut. Dieser Handlungsverlauf folgt einem auch in anderen Erzählungen wie beispielsweise dem ›Nibelungenlied‹ und den Tristanromanen aufgegriffenen Handlungsmuster, der ›gefährlichen Brautwerbung‹. Das Brautwerbungsmuster ermöglichte es, einerseits die Relation zwischen dynastischer Herrschaftskontinuität und Eheschließung, andererseits zwischen kriegerischer Gewalt und listiger Klugheit als Handlungsmitteln zu thematisieren. Der ›Rother‹ bezeugt einen hochmittelalterlichen Anlauf zu einer deutschsprachigen Schriftepik weltlichen Inhalts, die nicht von der Orientierung an französischen Textvorbildern abhängig ist. Die Konzentration auf Rother und Konstantin als Modellfälle des guten und des schlechten Herrschers zeigt dabei das literarische Interesse des adeligen Publikums. Pfaffe Konrad: ›Rolandslied‹ Das Rolandslied des Pfaffen Konrad. Mittelhochdeutsch / Neuhochdeutsch. Hg., übers. u. kommentiert v. Dieter Kartschoke. Stuttgart (Reclam) 1993. Um 1170 bearbeitete ein Kleriker (mittelhochdeutsch pfaffe) namens Konrad den berühmtesten Stoff der altfranzösischen Heldenepik (vgl. S. 64). Dessen historischer Kern ist die Niederlage, die die Nachhut des Frankenheers Karls des Großen im Jahr 778 in den Pyrenäen bei der Rückkehr von einem Kriegszug gegen die Araber in Spanien erlitt. Um 1100 wurde die mündliche Erzähltradition in Frankreich in Gestalt der altfranzösischen ›Chanson de Roland‹ verschriftlicht. Roland und sein Kampfgefährte Olivier werden mit ihrer Truppe vom Heidenkönig Marsilie niedergemetzelt, weil Rolands Schwiegervater Ganelon die Christen an die Heiden verraten hat und weil Roland sich weigert, Karl und das Heer mit seinem Horn zu Hilfe zu rufen. Karl nimmt in einer großen Schlacht Rache, Ganelon wird zum Tod verurteilt. Die Bedeutung von Konrads Bearbeitung beruht sowohl auf der Sinnkonstruktion als auch auf den Entstehungsumständen: Konrad stellt den Krieg zwischen Christen und Arabern als Kreuzzug dar und greift dabei ausgiebig auf die Kreuzzugsidee seiner Zeit zurück. Als Auftraggeber für die Bearbeitung der schriftlichen 4. WA S L E S E N? <?page no="118"?> 110 WA S L E S E N? französischen Vorlage nennt er einen Herzog Heinrich; gemeint ist damit wahrscheinlich Heinrich der Löwe, einer der mächtigsten Fürsten der Zeit. Zum ersten Mal lässt sich eine für die höfische Epik typische Konstellation greifen: ein schriftkundiger Dichter, ein weltlicher Fürstenhof als Auftraggeber, eine französische Textvorlage. Heinrich von Veldeke: ›Eneasroman‹ Heinrich von Veldeke: Eneasroman. Mittelhochdeutsch / Neuhochdeutsch. Nach dem Text von Ludwig Ettmüller ins Nhd. übers., mit einem Stellenkommentar u. einem Nachwort v. Dieter Kartschoke. Stuttgart (Reclam) 2 1997. Heinrich von Veldeke: Eneasroman. Die Berliner Bilderhandschrift mit Übersetzung u. Kommentar. Hg. v. Hans Fromm. Frankfurt a.M. (Deutscher Klassiker-Verlag) 1992. Heinrich von Veldeke, ein gelehrter Dichter aus der Gegend von Maastricht, verfasste um 1170/ 80 den zweiten deutschen Antikenroman nach französischem Vorbild (vgl. S. 63). Veldekes Vorlage, der um 1155 entstandene altfranzösische ›Roman d’Eneas‹, ist seinerseits eine Bearbeitung der ›Aeneis‹ des römischen Dichters Vergil (70-19 v. Chr.). Vergils ›Aeneis‹ war im lateinischen Unterricht, zumal in der Renaissance des 12. Jahrhunderts, als größtes Vorbild epischer Dichtung ein außerordentlich prominenter Text. Der Stoff war sowohl für Kleriker als auch für adelige Laien interessant: Aeneas flieht nach dem Untergang Trojas aus der brennenden Stadt und begründet nach längeren Irrfahrten und schweren Kämpfen eine neue Herrschaft in Italien. Aus ihr geht das römische Reich hervor, in dem man im 12. Jahrhundert, der eigenen Einschätzung nach, immer noch lebte. Die literaturgeschichtliche Bedeutung Veldekes beruht darauf, dass er im Gefolge seiner französischen Vorlage aus Vergils Heldenepos eine Geschichte von höfischer Ritterschaft und Liebe gemacht hat; dies ist die für den höfischen Roman charakteristische Themenkoppelung. Als Vorbild für die Liebesdarstellung, deren sprachliche Ausdrucksformen die höfischen Dichter nicht von Vergil, sondern von Ovid bezogen, übte der ›Eneasroman‹ einen beträchtlichen Einfluss auf die nachfolgende Dichtergeneration aus. 5. <?page no="119"?> 111 6. Minnesang Minnesang. Mittelhochdeutsche Liebeslieder. Eine Auswahl. Mittelhochdeutsch / Neuhochdeutsch. Hg., übers. u. komm. v. Dorothea Klein. Stuttgart (Reclam) 2010. Deutsche Lyrik des frühen und hohen Mittelalters. Edition der Texte u. Kommentare v. Ingrid Kasten. Übersetzungen v. Margherita Kuhn. Frankfurt a.M. (Deutscher Klassiker Verlag TB) 2005. Deutsche Lyrik des späten Mittelalters. Hg. v. Burghart Wachinger. Frankfurt a.M. (Deutscher Klassiker-Verlag) 2006. Bevor die deutschen Minnesänger sich an romanischen Vorbildern orientierten (vgl. S. 61), gab es seit der Mitte des 12. Jahrhunderts bereits höfische Liebeslieder: den donauländischen Minnesang, von dem jedoch nur wenig erhalten ist. Die wichtigsten Vermittler des romanischen Modells waren seit den 1170er Jahren Heinrich von Veldeke am Niederrhein, Friedrich von Hausen am mittleren Rhein und Rudolf von Fenis, Graf von Neuenburg (Neuchâtel), in der heutigen Schweiz. Die nächste Generation ist bereits die des ›klassischen‹ Minnesangs; dessen bedeutendste Vertreter vor Walther von der Vogelweide waren Hartmann von Aue, Heinrich von Morungen und Reinmar der Alte. Minnesang ist eine streng geregelte Kunst. Der Dichter, der zugleich die Liedmelodie komponiert, behandelt in bestimmten Liedtypen eine im Wesentlichen feststehende Konstellation: Ein adeliger Mann wirbt um eine adelige Dame, die ihn nicht erhören darf. In der Minnekanzone begründet der Mann seine Forderung nach Erhörung, gewöhnlich in Verbindung mit der Klage über seinen Misserfolg. Das Minnelied selbst gehört dabei zum Dienst, mit dem er als Minnesänger den Lohn der Dame zu erreichen sucht. Im Frauenlied fingiert der Minnesänger eine Reflexion der umworbenen Dame über ihr Dilemma zwischen Liebe und gesellschaftlicher Norm, die mit einer Entscheidung für oder gegen die Liebe enden kann. Im Wechsel reden der Mann und die entweder liebeswillige oder liebesunwillige Dame abwechselnd übereinander, im Dialoglied miteinander; im Botenlied wird die Kommunikation zwischen den beiden durch einen Boten vermittelt. Im Tagelied wird erzählt, wie sich Mann und Dame nach einer heimlichen Liebesnacht am Morgen trennen müssen, um nicht entdeckt zu werden. Alle Liedtypen thematisieren dieselben moralischen und emotionalen Qualitäten der höfischen Liebe: Wenn sie aufrichtig und beständig 6. WA S L E S E N? <?page no="120"?> 112 WA S L E S E N? ist, stellt sie trotz ihrer Normwidrigkeit einen hohen Wert dar und bietet das größte Glück auf Erden. Die Kunst des Dichters besteht darin, das Problem der vornehmen, aber unerlaubten Liebe auf eine immer wieder neu variierte Weise zu entfalten. Abb. 7 Dame nimmt mit der Rechtsgeste der ›Handreichung‹ ein Treuegelöbnis des Minnesängers entgegen. Miniatur zu den Liedern Berngers von Horheim in der ›Manessischen Liederhandschrift.‹ <?page no="121"?> 113 Walther von der Vogelweide: Lieder Walther von der Vogelweide: Werke. Gesamtausgabe. Mittelhochdeutsch / Neuhochdeutsch. Hg., übers. u. kommentiert v. Günther Schweikle u. Ricarda Bauschke-Hartung. 2 Bde. Stuttgart (Reclam) 3 2009, 2 2011. Walther von der Vogelweide: Leich, Lieder, Sangsprüche. Hg. v. Thomas Bein. Berlin Boston (de Gryuter) 15 2013. Die Schaffenszeit Walthers von der Vogelweide lag ungefähr zwischen 1190 und 1230. Seine Produktion umfasst Liebeslieder, Sangsprüche und religiöse Lieder. Mit dem Minnesang griff er eine bereits hoch entwickelte Kunst auf, deren Konventionen er zuverlässig beherrschte und eigenständig abzuändern wusste. Zu dieser Souveränität verhalf ihm nicht zuletzt die Kenntnis der zeitgenössischen lateinischen Liebeslyrik. In vielfältigerer Weise als die Lieder anderer Minnesänger behandeln diejenigen Walthers die unerlaubte, aber wertvolle Liebe - von der ernsten über die verhalten ironische bis zur spaßigen Art, von der Verzweiflung wegen des Misserfolgs über die wütende Reaktion bis zum Glück des Erfolgs, von der gekonnten Anwendung der Gattungsregeln über ihre Umgehung bis zu ihrer Reflexion und Diskussion. Die Sangspruchdichtung (vgl. S. 82) hat Walther zwar nicht erfunden, aber auf das Kunstniveau des Minnesangs gehoben und damit als anspruchsvollen Typus höfischer Liedlyrik erst etabliert. Wie seine Nachfolger behandelte er in seinen Strophen ein breites Themenspektrum; allein bei ihm aber nehmen die politischen Auseinandersetzungen der Zeit - die Konkurrenz zwischen Staufern und Welfen um die Königskrone und die päpstlichen Einflussnahmen - einen breiten Raum ein. Walther stellte seine Kunst in den Dienst verschiedener Parteien und erwies sich dabei als Propagandist ersten Ranges; seine rhetorischen Fähigkeiten verleihen gerade den ›politischen‹ Strophen eine besondere Qualität. Die religiösen Lieder greifen auf Themenbestände der lateinischen Literatur zurück: Marienlob, Kreuzzugsaufruf, Abkehr von der Welt und Hinwendung zu Gott im Alter. Nicht weniger als die Liebeslieder und die Sangspruchstrophen zeigen sie die Kunstfertigkeit des größten Könners unter den deutschen Lyrikern der älteren Zeit. 7. WA S L E S E N? <?page no="122"?> 114 WA S L E S E N? Hartmann von Aue: ›Erec‹ und ›Iwein‹ Hartmann von Aue: Erec. Mittelhochdeutsch / Neuhochdeutsch. Hg., übers. u. komm. v. Volker Mertens. Stuttgart (Reclam) 2008. Hartmann von Aue: Erec. Hg. v. Manfred Günter Scholz. Übers. v. Susanne Held. Frankfurt a.M. (Deutscher Klassiker Verlag) 2004. Hartmann von Aue: Iwein. Hg. u. übers. v. Rüdiger Krohn, komm. v. Mireille Schnyder. Stuttgart (Reclam) 2011. Hartmann von Aue: Gregorius. Der arme Heinrich. Iwein. Hg. u. übers. v. Volker Mertens. Frankfurt a.M. (Deutscher Klassiker Verlag) 2004. Mit der Bearbeitung zweier Artusromane Chrétiens de Troyes (vgl. S. 65) importierte Hartmann von Aue den prominentesten Typus des höfischen Romans in den deutschen Sprachraum. Sein ›Erec‹ dürfte um 1180, der ›Iwein‹ um 1200 entstanden sein. Beide Geschichten handeln davon, wie ein junger Adeliger durch einen ritterlichen Kampf und durch Liebe zu Herrschaft und Ehe kommt. Sowohl Erec als auch Iwein verhalten sich dann jedoch in ihrer neuen gesellschaftlichen Rolle nicht richtig. Sie verlieren den erreichten Status wieder und müssen ihn durch eine längere Reihe ritterlicher Kämpfe zurückgewinnen. Die Abfolge der Episoden ist in beiden Romanen so geordnet, dass ritterliche Leistung und Erfolg, Fehlverhalten und Katastrophe, schließlich erneuter Erfolg durch verbesserte ritterliche Leistung zueinander in Beziehung gesetzt werden. Auf diese Weise entsteht eine sinntragende Form: Die auf den ersten Blick bunte Reihe ritterlicher Kämpfe in einer mit teilweise wunderbaren Akteuren und Räumen ausgestatteten Welt, die mit jeder Herausforderung die Möglichkeit zur erfolgreichen Bewährung liefert, spielt die Frage nach dem Verhältnis zwischen den höfischen Handlungsmitteln und Handlungszielen durch. Chrétien de Troyes ist der Erfinder dieses Handlungsmusters, das wegen der beiden Bewährungswege der Hauptfigur ›Doppelwegmodell‹ genannt wird und auch im ›Parzival‹ mit einigen Veränderungen nochmals aufgegriffen wird. Die Verfasser der späteren Artusromane haben dagegen auf eine markante Katastrophe und die Doppelung des Protagonistenwegs verzichtet; der jeweilige junge Ritter gelangt jedoch weiterhin auf einem Weg, dessen Stationen in Bewährungsproben bestehen, zu Ehe und Herrschaft. Hartmann von Aue hat den Sinn von Chrétiens Doppelwegmodell erkannt und gelegentlich noch 8. <?page no="123"?> 115 etwas deutlicher herausgearbeitet. Der ›Iwein‹ ist das komplexere, absichtsvoll brüchige Werk, dessen Sinnkonstruktion aber nur in der Bezugnahme auf den ›Erec‹ erkennbar wird. ›Nibelungenlied‹ Das Nibelungenlied. Mittelhochdeutsch / Neuhochdeutsch. Hg. v. Ursula Schulze, übers. und komm. v. Siegfried Grosse. Stuttgart (Reclam) 2011. Das Nibelungenlied und die Klage. Mittelhochdeutscher Text, Übers. u. Kommentar. Hg. v. Joachim Heinzle. Berlin (Deutscher Klassiker Verlag) 2013. Die berühmteste Verschriftlichung von Heldenliedstoffen unternahm ein unbekannter Dichter um 1200 in Gestalt eines komplexen Buchepos (vgl. S. 46). Es beruht auf ursprünglich voneinander unabhängigen Erzähltraditionen um den Helden Siegfried einerseits, andererseits um den Untergang des Heers der Burgunden, die beide auch in der skandinavischen Überlieferung bezeugt sind. Die Herkunft der Siegfried-Geschichte ist nicht bekannt. Der Untergang des Burgundenreichs kommt dagegen auch in der lateinischen Geschichtsschreibung als Ereignis im 5. Jahrhundert vor; das burgundische Heer wird hier in einer Schlacht gegen ein Heer aus Römern und Hunnen vernichtet. In der mündlichen Erzähltradition wurde der Burgundenuntergang dagegen an die Überlieferung um Dietrich und den Hunnenkönig Etzel angegliedert. Die Verbindung zwischen Siegfried- und Burgundenstoff kommt im ›Nibelungenlied‹ durch die Hauptfigur Kriemhild zustande: Siegfried von Xanten heiratet die Schwester der Burgundenkönige in Worms, fällt jedoch nach konfliktträchtigen Verwicklungen dem Mordkomplott Hagens, des mächtigsten Vasallen der Könige, zum Opfer. Eine zweite Ehe mit dem Hunnenkönig Etzel eröffnet Kriemhild die Möglichkeit, die burgundische Verwandtschaft mit ihrem gesamten Heer an den Hunnenhof einzuladen und dort als Rache für den Mord an Siegfried niedermetzeln zu lassen. Außer Etzel überleben nur Dietrich und Hildebrand, Exilanten am Hunnenhof, das Blutbad. Indem der Dichter des ›Nibelungenlieds‹ nicht die Rolle des gelehrten Bearbeiter-Autors, sondern die des Sängers kollektiver Erinnerung spielt, simuliert er die archaische Aura des Helden- 9. WA S L E S E N? <?page no="124"?> 116 WA S L E S E N? lieds. Möglicherweise gehört es zu den Konsequenzen dieser Stilisierung, dass die Textgestalt des ›Nibelungenlieds‹ nie ganz fest wurde; schon die älteste Schicht der handschriftlichen Überlieferung bezeugt unterschiedliche Fassungen. Gleichwohl lässt sich die Strategie des Dichters erkennen, die alten Handlungsmuster und Personenbeziehungen der Heldenliedtradition auf die zu seiner Zeit modernen höfischen Vorstellungen von Mensch und Gesellschaft stoßen zu lassen. Aus diesem Zusammenprall entstehen die handlungstragenden Konflikte, die unaufhaltsam in die Katastrophe führen. Gottfried von Straßburg: ›Tristan‹ Gottfried von Straßburg: Tristan und Isold. Hg. v. Walter Haug u. Manfred Günter Scholz. Berlin (Deutscher Klassiker Verlag) 2011. Taschenbuchausgabe: Insel-Verlag 2012. Gottfried von Straßburg: Tristan. Bd. 1. Text. Hg. v. Karl Marold. Bd. 2. Übersetzung v. Peter Knecht. Mit einer Einführung v. Tomas Tomasek. Berlin, New York (de Gruyter) 2004. Einführung: Christoph Huber: Gottfried von Straßburg: Tristan. Berlin 2000. Gottfrieds Version des britisch-bretonischen Tristan-Stoffs (vgl. S. 64) dürfte um 1210 entstanden sein. Von ihrer französischen Vorlage, dem Tristanroman des Thomas von England aus der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts, sind nur wenige Teile erhalten geblieben. Darunter befindet sich zufälligerweise das gesamte letzte Drittel, das Gottfried nicht mehr bearbeitete: Sein Werk ist ein Fragment, aber eines von immerhin fast 20.000 Versen. Gottfrieds Tristan ist ein höfischer Goldjunge von hochadeliger Abstammung, strahlender körperlicher Schönheit sowie perfekten kämpferischen, intellektuellen, musischen und sozialen Fähigkeiten, dessen Lebensgeschichte unter katastrophalen Umständen beginnt, aber zunächst höchst erfolgreich verläuft - bis er aus Versehen einen Liebestrank mit der irischen Königstochter Isolde trinkt, den diese eigentlich mit ihrem zukünftigen Ehemann, der König Marke von Cornwall, einnehmen sollte. Damit rückt die als sexuelles Begehren zwanghafte und ehebrecherische Liebe mit ihren bedingungslosen Ansprüchen und ihrer gesellschaftlichen Unmöglichkeit in den Mittelpunkt des Geschehens, 10. <?page no="125"?> 117 an der die beiden bei Thomas am Ende zugrunde gehen. Gottfried erzählt den Tristan-Stoff als eine Geschichte von der unerlaubten Liebe, die den höchsten Lebenswert und das größte Lebensglück einerseits, anhaltendes Leid und todbringende Katastrophe andererseits bedeutet. Und er erzählt als ein Dichter, der über eine außergewöhnlich große Bildung und eine Sprachkunst verfügt, die selbst in der sprachkunstseligen Zeit um 1200 ihresgleichen sucht. So behandelt der ›Tristan‹ große Fragen auf eine äußerst komplexe Art in einer streckenweise betörenden Sprache. Dem optimistischen Weltbild des Artusromans, in dem ein jeder seines Glückes Schmied sein darf, tritt dabei ein ziemlich düsteres Bild von der Unausweichlichkeit des Leids im Menschenleben entgegen, das durch das sexuelle Begehren verursacht wird - aber auch ein strahlendes Bild von der sexuellen Glückseligkeit, die es wert ist, jedes noch so große Leid und sogar den Tod dafür in Kauf zu nehmen. Wolfram von Eschenbach: ›Parzival‹ Wolfram von Eschenbach: Parzival. Studienausgabe. Mittelhochdeutscher Text nach der sechsten Ausgabe von Karl Lachmann. Übersetzung von Peter Knecht. Einführung zum Text von Bernd Schirok. Berlin, New York (de Gruyter) 2 2003. Wolfram von Eschenbach: Parzival. Nach der Ausgabe Karl Lachmanns revidiert u. kommentiert v. Eberhard Nellmann. Übertragen v. Dieter Kühn. 2 Bde. Frankfurt a.M. (Deutscher Klassiker Verlag) 1994. Den ›Parzival‹-Roman verfasste Wolfram im ersten Jahrzehnt des 13. Jahrhunderts. Die französische Vorlage, den ›Perceval‹ Chrétiens de Troyes (vgl. S. 65), bearbeitete und erweiterte er dabei vergleichsweise frei. Auch Wolfram greift auf beträchtliche Bestände gelehrten Wissens zurück, stilisiert sich jedoch als ungelehrten, ritterlichen Laien und wendet sich damit gegen die Strategie, den Wert der volkssprachlichen Dichtung durch eine enge Orientierung am gelehrten Dichtungsbegriff zu begründen. Der ›Parzival‹ ist ein Artusroman und handelt als solcher von Ritterschaft und Liebe als Weg zu Herrschaft und Ehe, damit vom Weg eines jungen Adeligen zu seinem Platz im Leben. Parzivals Bestimmung führt indes weiter: Er wird nach allerhand Schwierigkeiten König einer 11. WA S L E S E N? <?page no="126"?> 118 WA S L E S E N? Rittergemeinschaft, die ein Verbindungsglied zwischen Gott und Menschen, einen Stein namens ›Gral‹, hütet. Der Gral ist eine Art Mailbox Gottes in der Welt: Auf ihm erscheinen Inschriften, mit denen Gott den Gralsrittern Handlungsanweisungen erteilt. Ohne dass dies jemals ausdrücklich erwähnt würde, ist doch recht offensichtlich, dass diese Verbindung zwischen Gott und einer religiösen Rittergemeinschaft nicht durch die Institution Kirche vermittelt wird, die Gralsritter also direkte Agenten des göttlichen Heilswirkens in der Welt sind. Im Lauf der Erzählung stellt sich heraus, dass Parzival aufgrund seiner Abstammung mütterlicherseits der letzte lebende männliche Abkömmling aus dem Geschlecht der Gralskönige ist; väterlicherseits ist er mit Artus verwandt. Die erste und nach Auskunft aller darüber informierten Figuren einzige Chance zur Einsetzung als Gralskönig verpatzt er jedoch wegen seiner schon zuvor mehrmals unter Beweis gestellten Dummheit. Obwohl er von Angehörigen des Gralskönigsgeschlechts wiederholt über die Aussichtslosigkeit seiner Absicht belehrt wird, hält er danach stur am Ziel fest, doch noch Gralskönig zu werden, bis Gott ihm gegen die bis dahin offenbar geltenden Regeln eine zweite Chance gibt. Mit den Gralsrittern kommt eine religiöse Sicht auf Mensch und Welt ins Spiel, die Wolfram in ein spannungsvolles Verhältnis zum Weltbild des Artusromans bringt. Während der Artusritter Gawan als zweite Hauptfigur mit seinen auf eigene Leistung gegründeten Erfolgen den optimistischen höfischen Glauben an die Machbarkeit des Lebensglücks eher bestätigt, führt Parzivals Lebensweg die trotz aller Leistungsfähigkeit unvermeidliche Gnadenbedürftigkeit des Menschen vor Augen. Dabei bleibt das Verhältnis zwischen höfischem Lebensmodell und religiösem Menschenbild komplex und vielschichtig. Dass unterschiedliche Perspektiven nebeneinander gestellt werden können, ermöglicht nicht zuletzt eine Erzähltechnik, die auf überraschende Wendungen und Hakenschläge, auf Verunsicherungen und Brüche angelegt ist. Auch die Formulierungskunst, die mit allen verfügbaren Mitteln konsequent auf Verständniserschwerung zielt, entspricht der Sinnkonstruktion, die die Gegensätze nicht auflöst. <?page no="127"?> 119 Wolfram von Eschenbach: ›Willehalm‹ Wolfram von Eschenbach: Willehalm. Mittelhochdeutscher Text, Übersetzung, Kommentar. Hg. v. Joachim Heinzle. Frankfurt a.M. (Deutscher Klassiker Verlag) 1991. Wolfram von Eschenbach: Willehalm. Text der Ausgabe v. Werner Schröder. Übersetzung, Vorwort u. Register v. Dieter Kartschoke. Berlin, New York (de Gruyter) 1989. Wolframs zweites großes Werk, der nach dem ›Parzival‹ verfasste und nicht vollendete ›Willehalm‹, beruht auf einem französischen Heldenepos, der ›Schlacht von Aliscans‹. Erzählt wird von einem liebesbedingten Krieg: Markgraf Willehalm von Orange in der Provence geriet während der Kämpfe zwischen den arabischen Eroberern Spaniens und den christlichen Franken zur Zeit Kaiser Ludwigs des Frommen in Gefangenschaft, verliebte sich in die Tochter des obersten Heidenherrschers, floh mit ihr, ließ sie auf den Namen Gyburc taufen und heiratete sie. Dies führt zu einem Großangriff der Heiden. In der ersten Schlacht wird Willehalm vernichtend geschlagen, die zweite neigt sich am Ende von Wolframs Fragment zu seinen Gunsten. Hinter der Hauptfigur, um die sich ein ganzer Zyklus von französischen Heldenepen rankt, steht der historische Graf Wilhelm von Toulouse, der in der Zeit Karls des Großen gegen die Araber kämpfte und später als Heiliger verehrt wurde. Wolfram erzählt demgemäß mit historischem Wahrheitsanspruch ein christliches Heldenepos von einem heiligen Ritter und bringt dabei auch Erzählmuster der Heiligenlegende ins Spiel. Mit dem Stoff aus der französischen Heldenepik knüpft der ›Willehalm‹ aber vor allem an das ›Rolandslied‹ an. Obwohl auch Wolfram den Krieg zwischen Christen und Heiden als Kreuzzug darstellt, der die gefallenen Christen in den Himmel und die gefallenen Heiden in die Hölle bringt, rechtfertigt er die Gewalt nicht mehr so einschränkungslos wie der Pfaffe Konrad. Die Heiden erscheinen als ebenso vorbildliche höfische Ritter wie die Christen, und es wird der Standpunkt laut, dass sie wie die Christen Geschöpfe Gottes sind und nicht wie Vieh abgeschlachtet werden dürfen. Über die Figur Gyburcs erhält die Liebe, eher das Thema des höfischen Romans als der Heldenepik, einen zentralen Stellenwert in der Handlung: Sie verursacht mit dem Krieg eine große Katastrophe; zugleich aber stellt sie als Ort von Glück und Frieden ein Gegenbild zum Krieg dar. 12. WA S L E S E N? <?page no="128"?> 120 WA S L E S E N? Märendichtung Novellistik des Mittelalters. Märendichtung. Hg., übers. u. kommentiert v. Klaus Grubmüller. Frankfurt a.M. (Deutscher Klassiker Verlag) 2010. Mit ›Märe‹ oder ›Versnovelle‹ bezeichnet man einen Typus kürzerer Verserzählungen, der vom 13. bis zum 15. Jahrhundert belegt ist. Wie Tierfabeln folgen Mären dem Funktionsmodell des beispielhaften Erzählens: Sie veranschaulichen eine zu Beginn oder am Schluss ausdrücklich formulierte, allgemeingültige moralische Wahrheit an einem konkreten Geschehen. Mären zeichnen sich jedoch gewöhnlich dadurch aus, dass die Erzählung gegenüber der Moral, die aus ihr abgeleitet wird und deren Gültigkeit sie belegen soll, ein hohes Maß an Eigenständigkeit hat: Sie ist reichhaltiger ausgestattet, als es zur bloßen Demonstration der Moral nötig wäre, und sie ist lang und komplex genug, um einen Bedeutungsüberschuss bieten zu können. In nicht wenigen Mären steht die Sinnkonstruktion der Erzählung sogar in einem offenen Widerspruch zur ausdrücklich formulierten Moral, die dadurch die Funktion einer Aufforderung an die Rezipienten erhält, die Sinnkonstruktion der Erzählung selbstständig zu erkennen. Mären gehörten zunächst zum Literaturbetrieb der Adelshöfe, waren später aber auch bei Stadtbürgern beliebt. Ihr Personal beziehen sie aus allen Ständen der Gesellschaft: Adelige, Kleriker, Stadtbürger, Bauern. Es gibt sie in ernsten und in schwankhaften Varianten; das Spektrum der Stilniveaus reicht von der vornehmen Gefühlssprache der höfischen Liebe bis zur drastischen Obszönität. Im Mittelpunkt der Handlungskonstruktionen steht immer die Frage nach den Prinzipien richtigen und falschen Handelns. Dabei kann entweder eine Welt mit funktionierenden moralischen Gesetzmäßigkeiten dargestellt sein, die den Erfolg tugendhaften Handelns und den Misserfolg lasterhaften herbeiführen, oder eine Welt, in der es ausschließlich Schlechte gibt und in der allein schlaues und skrupelloses Handeln Erfolg hat. Das zweite Modell gewann im Verlauf der Gattungsgeschichte unverkennbar an Attraktivität, so dass viele Mären aus dem 14. und 15. Jahrhundert vorführen, nach welchen berechenbaren Regularitäten und mit welchen Mitteln eine amoralische instrumentelle Vernunft zum Handlungserfolg führt. Die bei weitem häufigsten Themen der Gattung waren 13. <?page no="129"?> 121 sexuelles Begehren und Ehebruch, weil sich mittelalterlich-frühneuzeitliche Ordnungskonzepte dabei besonders gut durchspielen ließen: Nach der theologischen Lehre galt die Ehe als das älteste aller Ordnungsverhältnisse, das Gott mit der Erschaffung von Adam und Eva eingerichtet hatte und das er nach dem Sündenfall als Strafe für Eva in ein Herrschaftsverhältnis umwandelte. (1. Mose 3,16: »Nach deinem Mann wird dein Verlangen sein, er aber wird über dich herrschen.«) Als Strafe für den Sündenfall galt in der Theologie ebenso die schlechte Kontrollierbarkeit des sexuellen Begehrens (vgl. dazu S. 250). Insbesondere weiblicher Ehebruch war deshalb der prototypische Fall gestörter Ordnung: Er zeigt stets, dass der Ehemann die Herrschaft über seine Frau nicht richtig ausübt, die ihrerseits ihr Begehren nicht beherrscht. Vor allem in der Kombination mit dem narrativen Modell der schlechten Welt und der Erfolgsträchtigkeit instrumenteller Vernunft eröffneten diese Konzepte den Märendichtern ein breites Spektrum von Möglichkeiten, mehr oder weniger schlaue Handlungsweisen darzustellen, durch die Ehebruch entweder ermöglicht und verheimlicht oder aufgedeckt und bestraft wird. Heinrich Wittenwiler: ›Der Ring‹ Heinrich Wittenwiler: Der Ring. Frühneuhochdeutsch / Neuhochdeutsch. Nach dem Text v. Edmund Wießner ins Neuhochdeutsche übers. u. hg. v. Horst Brunner. Stuttgart (Reclam) 3 2003. Heinrich Wittenwiler: Der Ring. Text - Übersetzung - Kommentar. Nach der Münchener Handschrift hg., übers. u. erl. v. Werner Röcke. Berlin (de Gruyter) 2012. Der Dichter Heinrich Wittenwiler ist wahrscheinlich mit einem urkundlich belegten Adeligen aus dem Thurgau identisch, der am Ende des 14. Jahrhunderts als gelehrter Jurist am Konstanzer Bischofshof arbeitete. Seine Versdichtung ›Der Ring‹ heißt nach der Auskunft des Prologs so, weil sie gleichsam über den ganzen Kreis des Weltlaufs und auf dieser Grundlage über richtiges und falsches Handeln unterrichten soll. Zu diesem Zweck hat Wittenwiler eine satirische Erzählung mit langen Lehrreden kombiniert: Im Dorf Lappenhausen möchte der junge Bauerndepp Bertschi Triefnas den hässlichen Dorftrampel Mätzli Rüerenzumph (›Fass-den-Schwanz-an‹) heiraten. Sein Ziel versucht er mit einer 14. WA S L E S E N? <?page no="130"?> 122 WA S L E S E N? höfischen Liebeswerbung - einschließlich eines mit den Lappenhausener Bauern veranstalteten Turniers - zu erreichen, wobei sich jedoch herausstellt, dass den Bauern die Fähigkeit zu höfisch vornehmem Handeln abgeht. Die Ehe wird trotzdem geschlossen. Auf dem Hochzeitsfest führt die mangelnde Selbstbeherrschung der Bauern zu einer Schlägerei, die in einem apokalyptischen Krieg mit den Nachbardörfern eskaliert. Bertschi überlebt als Einziger der Lappenhausener und wird Einsiedler. Diesen Handlungsverlauf übernahm Wittenwiler aus einer wenig älteren Märe und situierte ihn durch einige Andeutungen in der Fastnachtszeit. Zusammen mit dem sprechenden Dorfnamen Lappenhausen (›Narrenheim‹) weist das auf eine satirische Sinnkonstruktion nach dem Modell der verkehrten Welt hin. Der Prolog erklärt in Übereinstimmung damit ausdrücklich, mit den Bauern seien alle gemeint, die nicht richtig handeln. In den Handlungsverlauf eingefügt hat Wittenwiler von den Figuren selbst vorgetragene Lehrreden über Turniere, höfische Liebe, Ehe, richtiges Studieren, den Katechismus, Medizin, Ethik einschließlich Recht, Ökonomie und Kriegführung. Sie geben anfangs höfisches Praxiswissen (Turnier, Liebeswerbung), danach gelehrtes Wissen aus der lateinischen Bildungstradition wieder. In der Verbindung mit der Handlung zeigt sich, dass die Bauern das Wissen, das sie sich selbst gegenseitig vortragen, nicht richtig anwenden können. Das Gegenmodell dazu präsentiert eine Versammlung gelehrter Vertreter von Städten, die aufgrund ihres Wissens mittels logisch korrekter Schlussfolgerungen entscheiden, nicht am Krieg zwischen den Dörfern teilzunehmen, wodurch die Städte nicht in die Katastrophe hineingezogen werden. Auf diese Weise führt Wittenwiler vor, dass Menschen, die keine Adeligen und keine Gelehrten sind, adeliges und gelehrtes Wissen nicht in richtiges Handeln umsetzen können. Als Adressaten des adeligen Juristen kommen unter diesen Umständen am ehesten adelig-gelehrte Angehörige des Konstanzer Bischofshofs in Frage. Das ebenso vergnügliche wie hochgelehrte Werk ist nur in einer Handschrift überliefert und hat keine erkennbare Wirkung entfaltet. <?page no="131"?> 123 Johannes von Tepl: ›Der Ackermann‹ Johannes von Tepl: Der Ackermann. Frühneuhochdeutsch / Neuhochdeutsch. Hg., übers. u. kommentiert v. Christian Kiening. Stuttgart (Reclam) 3 2012. Der ›Ackermann‹ entstand wahrscheinlich im Jahr 1400 oder 1401. Der Jurist Johannes von Tepl war zu dieser Zeit Leiter der Lateinschule der böhmischen Stadt Saaz, wo er zuvor schon als Notar arbeitete. Gegenstand des Textes ist ein Streitgespräch im Rahmen einer Gerichtsverhandlung: Ein Mensch, dessen Ehefrau gestorben ist, klagt deswegen den Tod an; der Tod weist die Anklage zurück. Der Kläger stellt sich als Ackermann aus Böhmen vor, sein Pflug sei die Feder - ›Ackermann‹ erweist sich dadurch als Metapher für den Schreiber und Dichter. Im Lauf des Streits trägt der Ackermann seine emotionale Auflehnung gegen die erbarmungslose Grausamkeit des Tods vor. Der Tod dagegen erklärt seine unverzichtbare Funktion in der göttlichen Weltordnung. Der Ackermann wiederum führt die herausgehobene Stellung des Menschen in dieser Ordnung ins Feld. Es kommt zu einer scharfen Konfrontation zwischen der Vergänglichkeit des diesseitigen Lebens, dem traditionellen Argument für seine relative Wertlosigkeit, und dem vom Ackermann emphatisch verteidigten Wert des irdischen Daseins. Am Ende spricht Gott als Richter das Urteil und relativiert beide Standpunkte: Der Mensch kann das Recht auf Leben nicht einklagen, weil das Leben eine göttliche Leihgabe ist; ebenso beruht die Herrschaft des Todes nicht auf eigenem Recht, sondern auf göttlicher Verleihung. Der Ackermann rühmt in einem abschließenden Gebet für das Seelenheil seiner Frau Gott als Ursprung und Ziel alles Seienden. Wenn dieser Schluss auch eine eher konventionelle Lösung anbietet, ist die Verteidigung des diesseitigen Werts des Menschenlebens doch derjenige inhaltliche Aspekt, der die Bedeutung des ›Ackermann‹ begründet. Ebenso wichtig sind die Formaspekte: Johannes von Tepl dichtete nicht in Versen, sondern benutzte eine nach lateinischem Vorbild mit höchster Sorgfalt stilisierte Kunstprosa. Auf ihr beruht die Eindringlichkeit der Streitreden ebenso wie auf der professionellen Argumentationskunst, mit der sie gestaltet sind. Sowohl die sprachliche als auch die argumentative Kompetenz verdanken 15. WA S L E S E N? <?page no="132"?> 124 WA S L E S E N? sich der gelehrten Juristenausbildung. In einem unabhängig vom ›Ackermann‹ überlieferten Brief an einen Freund hat Johannes von Tepl erklärt, dass der Text die Anwendung rhetorischen Wissens vorführen soll. Demnach handelt es sich um eine deutschsprachige Aktualisierung des gelehrten lateinischen Texttypus der rhetorischen Schulübung, der declamatio. Abb. 8 ›Der Ackermann‹ des Johannes von Tepl. Textbeginn in der um 1470 geschriebenen Handschrift B. <?page no="133"?> 125 Oswald von Wolkenstein: Lieder Oswald von Wolkenstein: Lieder. Mittelhochdeutsch und Neuhochdeutsch. Auswahl. Hg., übers. u. erläutert v. Burghart Wachinger. Melodien und Tonsätze hg. und kommentiert v. Horst Brunner. Stuttgart (Reclam) 2007. Unter den deutschen Liederdichtern und -komponisten des Spätmittelalters war der 1445 gestorbene Südtiroler Adelige Oswald von Wolkenstein eine Ausnahmeerscheinung (vgl. S. 96): Die umfangreiche Liedtextproduktion des 15. wie auch noch des 16. Jahrhunderts ist wegen des verbreiteten Desinteresses an der Textverfasserschaft in aller Regel anonym überliefert; Oswald ließ seine Lieder jedoch als Sammlung aufzeichnen. Er war mit den verschiedensten Traditionen der deutschsprachigen Lieddichtung vertraut, kannte romanische und lateinische Lieder und experimentierte mit Neuerungen. Besonders groß ist die Vielfalt seiner Liebeslieder: Einige greifen auf die artifiziellen Ausdrucksformen des nach der Mitte des 14. Jahrhunderts aus der Mode gekommenen hochmittelalterlichen Minnesangs zurück, andere orientieren sich an der einfacheren Machart der zu Oswalds Zeit gängigen Liebeslyrik. Mehrmals wird die Geliebte mit dem Kosenamen von Oswalds tatsächlicher Ehefrau Margarethe als Gret angesprochen. Ein zuvor in dieser Form nicht belegter Liedtypus sind Oswalds Ereignislieder, in denen er von seinen Reisen und verschiedenen anderen Geschehnissen in seinem Leben erzählt. Seine geistlichen Lieder schöpfen aus den Angeboten, die die deutschsprachige Tradition aus dem breiten lateinischen Repertoire bezog, und lassen auch eine Bekanntschaft mit der meisterlichen Liedkunst in der Tradition der höfischen Sangspruchdichtung erkennen (vgl. S. 82). Thüring von Ringoltingen: ›Melusine‹ Romane des 15. und 16. Jahrhunderts. Nach den Erstdrucken mit sämtlichen Holzschnitten hg. v. Jan-Dirk Müller. Frankfurt a.M. (Deutscher Klassiker Verlag) 1990. Thüring von Ringoltingen: Melusine. In der Fassung des Buchs der Liebe (1587). Hg. v. Hans-Gert Roloff. Stuttgart (Reclam) 2000. 16. 17. WA S L E S E N? <?page no="134"?> 126 WA S L E S E N? Der Berner Patrizier Thüring von Ringoltingen (vgl. S. 67) bearbeitete mit der 1456 fertig gestellten, 1473 oder 1474 erstmals und bis ins 18. Jahrhundert gedruckten ›Melusine‹ in Prosa einen französischen Versroman aus der Zeit um 1400. Der Geschichte liegt ein seit dem 12. Jahrhundert belegtes Handlungsmuster zugrunde, das in der Germanistik ›Mahrtenehenschema‹ heißt (vom alten Wort ›Mahr‹ für ›Gespenst‹, ›Mahrte‹ ist die weibliche Form). Mahrtenehengeschichten handeln von einer Liebesbeziehung zwischen einem Menschen und einem übernatürlichen Wesen, die an die Einhaltung eines Tabus geknüpft ist; bricht der Mensch das Tabu, muss das übernatürliche Wesen die Liebesbeziehung beenden. Meistens ist das übernatürliche Wesen weiblich; in diesem Fall wird das Handlungsmuster auch als ›Feenschema‹ bezeichnet; die umgekehrte Geschlechterverteilung gibt es beispielsweise in den Geschichte vom Schwanritter Lohengrin. Die Feen sind im 12. Jahrhundert aus mündlichen keltischen Erzähltraditionen in die altfranzösische Literatur und von da aus weiter in die deutschsprachige gelangt. Melusine wird von Graf Reymund von Poitiers geheiratet und verlangt von ihm, sie nie nach ihrer Herkunft zu fragen und samstags grundsätzlich zu meiden. In einer glücklichen Ehe zeugen die beiden zehn Söhne, ehe Reymund eines Samstags doch spioniert und entdeckt, dass sich seine Frau an diesem Tag immer vom Nabel abwärts in eine Schlange verwandelt. Die Verletzung des Tabus hat jedoch entgegen den vom Feenschema nahegelegten Erwartungen zunächst keine Folgen, weil Reymund seine Entdeckung in Absprache mit Melusine vor der Welt verheimlicht. Erst als er Melusine eines Tages wegen einer Untat des Sohnes Geffroy aus Mangel an Selbstbeherrschung öffentlich als Schlange beschimpft, muss sie ihn verlassen. Thüring gestaltete den alten Stoff in seinem Prosaroman ganz im Sinn des sachlichen und moralischen Wahrheitsanspruchs der historia (vgl. S. 101): Die Entkoppelung von Tabubruch und Trennung ermöglicht eine moralische Deutung, denn den Verlust des Glücks verschuldet erst der unkontrollierte Wutausbruch. Melusines Existenz macht Thüring wahrscheinlich, indem er sie als Ahnherrin historischer Adelsgeschlechter und als zwar wunderbares, aber eben doch Geschöpf Gottes erklärt. Der außerordentliche Fall der Feenliebe erhält den Charakter einer unglücklich verlaufenden Ehegeschichte, anhand derer sich zeitgenössische Welterfahrung und Normvorstellungen thematisieren lassen. <?page no="135"?> 127 ›Fortunatus‹ Romane des 15. und 16. Jahrhunderts. Nach den Erstdrucken mit sämtlichen Holzschnitten hg. v. Jan-Dirk Müller. Frankfurt a.M. (Deutscher Klassiker Verlag) 1990. Fortunatus. Studienausgabe nach der Editio princeps von 1509. Hg. v. Hans-Gert Roloff. Stuttgart (Reclam) 1996. Der anonyme, 1509 erstmals und bis ins 18. Jahrhundert gedruckte ›Fortunatus‹ (vgl. S. 102) ist der erste deutsche Prosaroman ohne direkte Textvorlage, der erste mit Bürgern als Hauptfiguren - und der erste Roman vom Aufstieg und Fall einer Kaufmannsfamilie. Fortunatus, Sohn eines Kaufmanns in Zypern, muss in die Welt ziehen, weil sein Vater den Besitz vergeudet hat. Nach etlichen Erfahrungen mit der menschlichen Schlechtigkeit und der Herrschaft des Geldes trifft er die Jungfrau des Glücks (die Glücksgöttin Fortuna) und darf unter den Glücksgütern Weisheit, Reichtum, Stärke, Gesundheit, Schönheit und langes Leben eines wählen. Fortunatus wählt, entgegen der traditionellen Wertehierarchie, statt der Weisheit den Reichtum und erhält einen stets vollen Geldbeutel. Er unternimmt zwei lange Reisen durch Europa und in den fernen Osten, auf denen er lernt, den Reichtum mit Vorsicht und instrumenteller Klugheit, jedoch nicht immer auf tugendhafte Weise zu seinem Vorteil zu nutzen. Zwar kommt er mehrmals in Lebensgefahr, hat aber immer so viel Glück, wie sein sprechender Name (›der vom Glück Begünstigte‹) anzeigt. Auf der zweiten Reise gelangt er durch Diebstahl noch zu einem Zauberhut, mit dessen Hilfe er sich an jeden beliebigen Ort wünschen kann. Seine beiden Söhne, die den Geldbeutel und den Zauberhut erben, handeln einerseits wiederholt unklug, haben dazu auch noch immer wieder Pech und scheitern im Leben. Der ›Fortunatus‹ ist der modernste unter den Prosaromanen des 15. und 16. Jahrhunderts: Die Entscheidung für das Geld als höchsten Lebenswert, die Verfolgung eigener Interessen und das unbekümmerte Ausnutzen günstiger Gelegenheiten lohnen sich, wenn man das nötige Glück hat und sich klug verhält. Wenn man unvorsichtig ist und Pech hat, kann alles ebenso leicht schief gehen. Die ausdrückliche Moralisierung am Anfang und am Ende stellt die Weisheit über den Reichtum, aber der Lebensweg der Figuren veranschaulicht weniger die Gültigkeit traditioneller Moralvorstellungen und das Vertrauen in eine höhere Gerechtigkeit, sondern eher die 18. WA S L E S E N? <?page no="136"?> 128 WA S L E S E N? Unvorhersehbarkeit und Zufälligkeit alles irdischen Geschehens. Unter diesen Umständen rückt das Vertrauen in die Förderlichkeit kluger Vorsicht in den Vordergrund. Die Glücksgöttin Fortuna hat deshalb nicht mehr die seit der Antike gängige Bedeutung, dass der Mensch in der Wechselhaftigkeit aller irdischen Verhältnisse nur durch Tugendhaftigkeit bestehen kann; sie symbolisiert vielmehr das in der bildenden Kunst um 1500 aufkommende Konzept des vorübereilenden Glücks, der günstigen Gelegenheit, die der Mensch rasch und entschlossen ausnutzen muss. ›Ein kurtzweilig Lesen von Dil Ulenspiegel‹ Ein kurtzweilig Lesen von Dil Ulenspiegel. Nach dem Druck von 1515 mit 87 Holzschnitten hg. v. Wolfgang Lindow. Stuttgart (Reclam) 1997. Der erste vollständig erhaltene Druck des ›Eulenspiegel‹-Buchs erschien anonym 1515 in Straßburg; vorausgegangen war dort 1510 oder 1511 ein älterer, nur teilweise erhaltener Druck. Die Sprache ist in beiden Fällen Frühneuhochdeutsch mit niederdeutschen Elementen; der auf dem Titelblatt und im Text benutzte Protagonistenname ›Ulenspiegel‹ kombiniert niederdeutsch ›Ulenspegel‹ mit hochdeutsch ›Eulenspiegel‹. Die Sprachmischung und Eulenspiegels hauptsächlich norddeutscher Handlungsraum könnten auf eine nicht erhaltene niederdeutsche Druckvorlage hindeuten; die Hypothese, dass der Braunschweiger Stadtschreiber Hermann Bote der Verfasser war, lässt sich jedoch nicht absichern. Das ›Eulenspiegel‹-Buch ist eine Sammlung schwankhafter (komischer) Erzählungen in Prosa. Einige der Geschichten sind schon früher belegt, jedoch nicht mit Eulenspiegel als Protagonist. Verbunden ist die lockere Episodenfolge nicht nur durch die Hauptfigur, sondern auch durch einen biographischen Rahmen mit Eulenspiegels Geburt zu Beginn und seinem Tod am Ende sowie durch ein Lebensweg-Muster: Episode folgt auf Episode, indem Eulenspiegel von Ort zu Ort zieht. Er bleibt dabei vom Anfang bis zum Schluss unverändert derselbe, ein Landstreicher außerhalb der ständischen Ordnung und eine Personifikation der menschlichen Schlechtigkeit. In seiner Gestalt handelt die nackte Destruktion: Er beherrscht die Regeln der sozialen Interaktion, ohne von ihnen beherrscht zu werden, und schädigt andere 19. <?page no="137"?> 129 Abb. 9 Titelblatt des ›Ulenspiegel‹- Drucks, Straßburg 1515. Akteure rücksichtslos. In den einzelnen Episoden kommt er in alle zeitgenössischen sozialen Lebensbereiche: Dorf und Stadt, Adelshof, Universität und Kloster. Die Figuren, die ihm begegnen, WA S L E S E N? <?page no="138"?> 130 WA S L E S E N? stammen aus allen Geburts- und Berufsständen: Bauern und Bauersfrauen, Pfarrer, Mönche, Wirte und Wirtinnen, Handwerker und Kaufleute samt Ehefrauen, Gelehrte, Adelige und Fürsten samt Ehefrauen. Sie werden zu Eulenspiegels Opfern, weil sie leichtgläubig und unvorsichtig sind; manchmal ist ihre mangelnde Vorsicht auch eine Folge traditioneller Laster wie Geiz, Faulheit oder Hochmut. Allein die Fürsten sind Eulenspiegel gewachsen, wenn sie ihm eine institutionalisierte soziale Funktion als Hofnarr geben. Indem sich die Figuren als umso einfältiger erweisen, je tiefer sie in der sozialen Hierarchie stehen - Eulenspiegel selbst ausgenommen -, wird die Legitimität der Ständeordnung eher bestätigt als in Zweifel gezogen. Mit seiner durch die Figuren- und Handlungskonstruktionen getragenen Sinnkonstruktion greift das ›Eulenspiegel‹-Buch das schon vielen Mären des 15. Jahrhunderts zugrunde liegende Modell einer schlechten Welt auf, in der die Unvorsichtigen und Lasterhaften selbst schuld sind, wenn sie durch einen amoralischen Schlauen geschädigt werden. Das ›Eulenspiegel‹-Buch entfaltete schnell eine große Wirkung in Gestalt etlicher Nachdrucke und mehrerer Übersetzungen in andere Sprachen, auch ins Lateinische. Hans Sachs hat in der Mitte des 16. Jahrhunderts einige Episoden zu Fastnachtspielen umgearbeitet; 1572 ließ Johann Fischart in Frankfurt am Main seine versifizierte Bearbeitung drucken (›Eulenspiegel reimenweis‹). Zum Kinderbuchprotagonisten wurde Eulenspiegel erst im 19. Jahrhundert; dafür war eine verharmlosende Entschärfung der destruktiven Drastik inklusive der vollständigen Beseitigung ganzer Episoden nötig. ›Historia von D. Johann Fausten‹ Historia von D. Johann Fausten. Text des Druckes von 1587. Mit Zusatztexten der Wolfenbütteler Handschrift und der zeitgenössischen Drucke. Krit. Ausg. Hg. v. Stephan Füssel u. Hans Joachim Kreutzer. Stuttgart (Reclam) 2012. Romane des 15. und 16. Jahrhunderts. Nach den Erstdrucken mit sämtlichen Holzschnitten hg. v. Jan-Dirk Müller. Frankfurt a.M. (Deutscher Klassiker Verlag) 1990. Der Verfasser des 1587 erstmals gedruckten Faust-Buchs hat sich nicht zu erkennen gegeben; die Vorrede verbirgt ihn hinter 20. <?page no="139"?> 131 der Maske eines ›guten Freunds aus Speyer‹. Die literaturgeschichtliche Bedeutung dieses Prosaromans gründet vor allem auf dem Erfolg, den der Stoff vom Wunsch des Gelehrten nach grenzenloser Erkenntnis später noch hatte. Der Sinn, den die ›Historia‹ (vgl. S. 101) der mit dem Anspruch auf faktische Wahrheit erzählten Geschichte gibt, unterscheidet sich indes erheblich von den Sinnkonstruktionen jüngerer Bearbeitungen. Faustus, ein geachteter Doktor der Theologie, wendet sich der Magie zu und schließt einen Pakt mit dem Teufel, dem er seine Seele als Gegenleistung für die zugesagte Vermittlung von Wissen über Himmel und Hölle verschreibt. Der Teufel liefert ihm jedoch nicht die erhofften Informationen über das Jenseits, sondern verhilft ihm zu Reichtum, zeigt ihm die diesseitige Welt und lehrt ihn Astrologie und Zauberei. Faustus wird dadurch ein angesehener Horoskopsteller und Magier; eine Reihe von Schwankepisoden zeigt, wie er durch Illusionszauber Macht über andere Menschen ausübt. Im Angesicht des Todes überwältigt ihn schließlich das Grauen vor der Hölle; am Ende holt ihn der Teufel. Der unbekannte Verfasser hat die Geschichte als abschreckendes Beispiel für die Sünde der curiositas (fürwitz) erzählt, des Strebens nach Wissen, das die dem Menschen von Gott gesetzten Erkenntnisgrenzen nicht respektiert. Ein an den Anfang gestellter Magietraktat rekurriert auf die zeitgenössische Zaubereilehre, die die theologische Begründung für die zum Ende des 16. Jahrhunderts beginnenden Hexenverfolgungen lieferte. Zauberei setzt demnach grundsätzlich einen Pakt mit dem Teufel voraus, der für ihren Erfolg um den Preis der ewigen Verdammnis sorgt. Sie ist die schwerstmögliche Sünde, weil der Teufelspakt den durch die Taufe geschlossenen Bund mit Gott ersetzt. Die Lehre geht auf den 1487 gedruckten theologischen Traktat ›Malleus maleficarum‹ (›Hexenhammer‹) zurück und wurde von den Reformatoren unverändert übernommen. Der Verfasser des Faustbuch kombinierte sie mit der lutherischen Gnadenlehre: Durch den Pakt gibt Faustus dem Teufel die Möglichkeit, ihn vom Glauben an die Gnade Gottes abzubringen, ohne den es in der lutherischen Theologie keinen Weg zur ewigen Glückseligkeit gibt. Wenn Faustus auf den theologisch eigentlich richtigen Gedanken kommt, Gott könne ihn in seiner unendlichen Gnade trotz allem noch retten, erscheint ihm der Teufel und erklärt ihm, dass das wegen des Pakts nicht mehr gehe. Weil Faustus dieser Auskunft glaubt, gerät er immer weiter in den WA S L E S E N? <?page no="140"?> 132 WA S L E S E N? Zustand der verzweifflung an der Gnade - der Sünde der desperatio, die den Glauben an die Gnade und damit die Rettung seiner Seele unmöglich macht. Zusätzlich zu diesem theologischen Begründungszusammenhang hat der Verfasser Faustus’ verzweifflung auch noch medizinisch als pathologische Melancholie erklärt. ›Das Lalebuch‹ Das Lalebuch. Nach dem Druck von 1597 mit den Abweichungen des Schiltbürgerbuchs von 1598 und zwölf Holzschnitten von 1680 hg. v. Stefan Ertz. Stuttgart (Reclam) 1998. Auf seinem Titelblatt behauptet das ›Lalebuch‹, von einem Verfasser namens Aabcdefghiklmnopqrstuwxyz zu stammen und im Jahr 1597 in Laleburg gedruckt zu sein. Tatsächlich erschien es in diesem Jahr in Straßburg. Den Namen hat es von seinen Hauptfiguren, den in Laleburg ansässigen Lalen (mit kurzem ›a‹, das alemannische Wort für ›Narren‹); der bis heute nicht identifizierte Verfasser erklärt den Namen als Ableitung aus griechisch lalein (›schwätzen‹) und behauptet, dass die Lalen von antiken Weisen abstammten. Er fügte seinem Prosaroman episodische Erzählungen ein, die schon zuvor in der Schwankliteratur belegt sind, und verband sie mit neu erfundenen Teilen zu einer durchgängigen Gesamthandlung. Die Lalen waren seiner Auskunft nach ursprünglich so weise, dass sie von vielen anderen als Ratgeber angefordert wurden. Weil sie wegen der großen Nachfrage kaum noch zu Hause waren, verkam ihr eigenes Gemeinwesen. So beschlossen sie eines Tages auf den Rat ihrer Ehefrauen hin, ihre Weisheit zu verleugnen und sich wie Narren zu verhalten, um vor der Welt Ruhe zu haben. Doch die angenommene Narrheit wurde durch Gewöhnung nach und nach zu ihrer wirklichen Natur, so dass sie ihr Gemeinwesen schließlich selbst zugrunde richteten. Die Lalen verstreuten sich danach in die ganze Welt und vererbten allen Menschen ihre Torheit. Der Verfasser verortete Laleburg in Utopien, das gebildete zeitgenössische Leser aus dem 1516 erschienenen lateinischen Traktat ›Utopia‹ des englischen Humanisten Thomas Morus, nicht Lateinkundige aus der deutschen Übersetzung von 1524 kannten. Utopia ist bei Morus eine fiktive Insel mit einer vorgeblich idealen, von Morus allerdings satirisch 21. <?page no="141"?> 133 gebrochen dargestellten (die Utopier leben in einem rigiden Überwachungsstaat und halten Sklaven) Gesellschaftsordnung ohne Privateigentum. Der ›Lalebuch‹-Verfasser hat dieses - von Morus aus Platons ›Politeia‹ und den ökonomischen Bestandteilen des christlichen Kloster-Modells bezogene - Konzept jedoch nicht ins Zentrum gestellt, sondern stattdessen das in der Literatur des 15. und 16. Jahrhunderts vielfach traktierte Verhältnis zwischen moralischem Handeln im Sinn des traditionellen Weisheitsbegriffs und der an Nützlichkeit orientierten instrumentellen Vernunft aufgegriffen. Zum ersten Mal wird das Nützlichkeitsdenken hier aufgrund seiner eigenen Prinzipien in Zweifel gezogen: Die Lalen verfolgen mit ihrem Handeln stets den Nutzen ihres eigenen Gemeinwesens, aber über ihren Nützlichkeitskalkülen kommt ihnen der praktische Sinn für das elementarste Erfahrungswissen abhanden, so dass sie den Blick für die offensichtliche Aussichtslosigkeit ihrer durchweg törichten Unternehmungen verlieren. Auf diese Weise hat der ›Lalebuch‹-Verfasser mit einiger Hellsicht das moderne Problem des den gesunden Menschenverstand trübenden Nützlichkeitsdenkens entfaltet. Die Wirkungsgeschichte des Textes beruht vor allem auf einer 1598 in Frankfurt am Main - ebenfalls ohne Verfasserangabe - gedruckten Bearbeitung, die die Handlung in die Stadt Schilda verlegte und aus den Lalen die Schildbürger machte. WA S L E S E N? <?page no="142"?> 134 134 Handschriften, Drucke, Editionen Schriftliche Textüberlieferung Das Thema dieses Kapitels sind die Überlieferungsbedingungen der älteren deutschen Literatur: Wie sind die Texte erhalten geblieben und welche Folgen ergeben sich aus den Umständen der Textüberlieferung? Schriftliche Texte wurden auf zweierlei Art festgehalten und verbreitet: als Handschrift oder, seit der Mitte des 15. Jahrhunderts, als Druck. Auf der Auswertung von Handschriften und Drucken beruht alles, was wir über ältere Literatur wissen. Für schriftliche Aufzeichnung und Verbreitung gibt es unterschiedliche Gründe. Die Schrift hat erstens eine kommunikative Funktion; sie ist eine von zwei Möglichkeiten (neben der Mündlichkeit), einen Text von einem Sender zu einem Empfänger zu bringen. Schrifttexte können freilich von mündlicher Textproduktion, mündlichem Vortrag oder mündlicher Textüberlieferung beeinflusst sein. Die Schrift dient zweitens der Vervielfältigung und Verbreitung von Texten - eine Funktion, die der Buchdruck erheblich besser erfüllt als die Handschrift. Drittens bietet die Schrift die Möglichkeit, den Inhalt und die spezifische Form von Texten zu speichern. Das geht handschriftlich genauso gut wie im Druck. Viertens schließlich kann die Schrift den Wert, der Texten zugemessen wird, zur Anschauung bringen: Sie kann eine symbolische Funktion erfüllen, beispielsweise indem sie einen Text in der Gestalt des kostbar ausgestatteten Buchs als Schatz ausweist. Das gibt es in religiösen Zusammenhängen, etwa wenn Mönche den heiligen Text der Bibel mit Goldbuchstaben auf purpurgefärbtes Pergament schreiben, ebenso wie in weltlichen, etwa wenn eine Prachthandschrift mit Minneliedern sichtbar macht, wie vornehm die höfische Kunst ist. Diese Funktion ist durch den Herstellungsaufwand und die Einmaligkeit Kapitel 6 1. Handschriften und Drucke Funktionen der Schrift <?page no="143"?> 135 von Handschriften möglicherweise besser zu erfüllen als durch den Druck. Das heutige Interesse für Handschriften und Drucke beruht auf unterschiedlichen Motiven. Es kann zum einen buch- und mediengeschichtlich orientiert sein. Gegenstände sind dann die Aufzeichnungs- und Verbreitungstechniken selbst - die Geschichte der Schrift, des Schreibens, des Buchs, der Drucktechnik - und ihre kulturgeschichtlichen Leistungen. Zum anderen beschäftigt man sich mit Handschriften und Drucken wegen der Texte, die sie überliefern. Dieses Interesse gibt es in zwei Varianten, der überlieferungsgeschichtlichen und der editionsphilologischen. Die Überlieferungsgeschichte versucht, aus dem Informationswert von Handschriften und Drucken auf die historische Rezeption und Funktion von Texten zu schließen. Sie benutzt Handschriften und Drucke, um herauszufinden, welche Texte bei wem in welcher Zeit zu welchem Zweck in Gebrauch waren. Auf diese Weise lässt sich allerhand über Texte in Erfahrung bringen, was ihnen selbst nicht abzulesen ist. Die Editionsphilologie (Edition: Textausgabe; Philologie: Wissenschaft von Sprache und Literatur) interessiert sich für Handschriften und Drucke als Überlieferungsträger von Texten. Wer ältere Texte neu herausgeben und damit allgemein zugänglich machen will, muss wissen, wie und wo sie überliefert sind. Die Editionsphilologie geht indes auch die Leser an: Wer moderne Ausgaben benutzt, muss sich Klarheit darüber verschaffen können, in welcher Weise sie auf der handschriftlichen oder gedruckten Textüberlieferung beruhen. Handschriften Die Grundlagen für die mittelalterliche Schriftlichkeit und die Buchherstellung stammen aus der Spätantike. Im 4. Jahrhundert begann die Ablösung des zuvor gebräuchlichen Beschreibstoffs Papyrus (hergestellt aus der Papyruspflanze) durch das Pergament. Es wurde aus Kalbs-, Schaf- oder Ziegenhaut hergestellt und hatte den Vorteil besserer Strapazierbarkeit, jedoch den Nachteil einer aufwändigen Produktion und einer - angesichts der vorindustriellen landwirtschaftlichen Verhältnisse - begrenzten Verfügbarkeit. Bis es im späten Mittelalter durch das Papier Buch- und Mediengeschichte Überlieferungsgeschichte Editionsphilologie 2. Papyrus Pergament Papier HAND S C H R I F T E N <?page no="144"?> 136 HAND S C H R I F T E N, D RU C K E , E DITION E N ersetzt wurde, blieb es eine Mangelware, die Bücher zum teuren Luxusgegenstand machte. Die Papierherstellung (aus Textilabfällen) übernahmen die Europäer im 13. Jahrhundert, zunächst im Mittelmeerraum, von den Arabern, bei denen sie vorher schon Papier eingekauft hatten. Nördlich der Alpen wurde Papier anfangs als Importware bekannt und setzte sich gegen Ende des 14. Jahrhunderts durch. Als Beschreibstoff war es erheblich billiger; die zur Herstellung nötigen Rohstoffe waren nahezu unbegrenzt verfügbar. Die erste Papiermühle im deutschen Sprachraum nahm ihren Betrieb 1390 in Nürnberg auf. Der Übergang vom Papyrus zum Pergament ging mit der - nicht gänzlichen - Verdrängung der Schriftrolle durch das gebundene Buch, den Codex, einher. Die spätantike Technik der Handschriftenherstellung hielt sich während der Völkerwanderungszeit in verschiedenen Regionen des ehemaligen römischen Reichs und gelangte schließlich ins Frankenreich. Die Produktion blieb schmal bis zu den karolingischen Bildungsreformen des späten 8. und des 9. Jahrhunderts (vgl. S. 56). Erst jetzt entstanden Bücher in größerer Zahl, und zwar ausschließlich in den Schreibstuben (Skriptorien) der Klöster und Domkirchen. Im Anschluss an spätantike Vorbilder entwickelten die karolingischen Schreibstuben Prinzipien der Textaufzeichnung, deren Einfluss lange anhielt. Das Pergament wurde zunächst mit Schreiblinien versehen, der Seitenspiegel durch Begrenzungslinien festgelegt. Die Beschriftung erfolgte ein- oder mehrspaltig mit Tinte. Überschriften wurden farblich abgesetzt, zumeist in Rot; deshalb heißen sie ›Rubriken‹ (von rubrica, rote Farbe). Für die Abschnittsgliederung benutzte man mehr oder weniger prächtig verzierte Initialen. Der Textbeginn wurde im Frühmittelalter noch selten, seit dem Hochmittelalter häufiger mit einer Inzipit-Formel gekennzeichnet (von lateinisch incipit, hier beginnt...), das Textende mit einer Explizit-Formel (von lateinisch explicit, hier endet...) und eventuell noch mit einem Kolophon (Ort und Datum der Fertigstellung, Namen von Schreibern und Auftraggebern). Seit dem 12. Jahrhundert setzte sich die vorher schon gelegentlich benutzte Blattzählung (Foliierung von lateinisch folium, Blatt) durch; die heute gebräuchliche Seitenzählung (Paginierung von lateinisch pagina, Seite) taucht in der Handschriftenzeit selten auf. Verweise auf Textseiten in Handschriften bedienen sich des- Schriftrolle Codex Karolingische Buchproduktion Skriptorien Textaufzeichnung Rubrik Initiale Inzipit Explizit Kolophon Foliierung Paginierung <?page no="145"?> 137 HAND S C H R I F T E N halb bis heute der Blattzählung: fol. XX r (fol. für folio, r für recto, vorn) bedeutet ›auf Blatt 20 Vorderseite‹, fol. XX v (v für verso, hinten) bedeutet ›auf Blatt 20 Rückseite‹. Ein Codex konnte für einen einzelnen Text angelegt werden (Einzelhandschrift) oder für mehrere Texte (Sammelhandschrift). Von der geplanten Sammelhandschrift muss man nachträglich zusammengebundene, unabhängig voneinander entstandene Textaufzeichnungen unterscheiden (›Buchbindersynthesen‹). Sammelhandschriften geben oft ein Programm zu erkennen, das der Textzusammenstellung zugrunde liegt. Ein Beispiel dafür ist eine der ältesten Sammlungen deutschsprachiger Texte, die im späteren 12. Jahrhundert im Augustinerstift Vorau in der Steiermark entstand. Die ›Vorauer Sammelhandschrift‹ enthält 21 frühmittelhochdeutsche Texte; damit ist sie der wichtigste Überlieferungsträger für die vorhöfische Klerikerdichtung, mit der im hohen Mittelalter der zweite Anlauf zur volkssprachlichen Schriftlichkeit begann (vgl. S. 42). Am Anfang der Handschrift steht die ›Kaiserchronik‹ (vgl. S. 88); auf sie folgt eine Gruppe von Bearbeitungen alttestamentarischer Texte. Die Mitte bildet Lamprechts ›Alexanderroman‹ (vgl. S. 63); danach kommt eine Gruppe von Bearbeitungen neutestamentlicher Texte. Am Ende steht ein lateinisches Geschichtswerk über das Leben Kaiser Friedrich Barbarossas, das aber wohl erst später dazugebunden wurde. Die ›Kaiserchronik‹, die von der Schöpfung bis zur Mitte des 12. Jahrhunderts reicht, dient als historischer Überblick am Beginn. Alexander der Große, der eine Schlüsselrolle in der Abfolge der vier Weltreiche (vgl. S. 10) hat, ist zeitlich zwischen den Ereignissen des Alten und des Neuen Testaments eingeordnet. Texte, die ursprünglich unabhängig voneinander entstanden und deshalb keinen einheitlichen Charakter haben, sind planmäßig zu einem weltgeschichtlichen Kompendium zusammengestellt. Als die Vorauer Sammlung angelegt wurde, stand die Handschriftenproduktion im deutschsprachigen Raum zum zweiten Mal in Blüte. Nach dem Ende der Karolinger war eine politische und ökonomische Krisenzeit angebrochen, in der die Anfertigung lateinischer Handschriften erheblich zurückging; diejenige volkssprachlicher kam ganz zum Erliegen. Erste Erholungsanzeichen sind in der zweiten Hälfte des 10. Jahrhunderts, der Zeit der Einzelhandschrift Sammelhandschrift ›Vorauer Sammelhandschrift‹ Hochmittelalterliche Buchproduktion <?page no="146"?> 138 HAND S C H R I F T E N, D RU C K E , E DITION E N ottonischen Kaiser, zu beobachten. Eine neue Phase kontinuierlich, wenn auch langsam anwachsender Handschriftenerzeugung setzte mit dem Beginn des 12. Jahrhunderts ein; sie reichte bis zur großen Pestepidemie von 1348 (vgl. S. 28). Ins 12. und 13. Jahrhundert fällt auch die Einrichtung von Hofkanzleien als neuen Orten des Schriftgebrauchs. Sie waren anfangs für pragmatische Schriftlichkeit zuständig (Urkunden, Besitz- und Rechtsverzeichnisse etc.) - zunächst lateinische, vom späteren 13. Jahrhundert an immer mehr volkssprachliche. Orte der Buchproduktion und damit der literarischen Schriftlichkeit (Sachliteratur und Dichtung) blieben die Kloster- und Domskriptorien. Volkssprachliche poetische und wissensvermittelnde Texte konnten vom 13. Jahrhundert an vermutlich aber auch in Hofkanzleien zum Buch werden. In den letzten Jahrzehnten vor der großen Pest entstand die wohl berühmteste mittelalterliche Handschrift deutscher Texte, die ›Große Heidelberger‹ oder ›Manessische Liederhandschrift‹, die heute in der Universitätsbibliothek Heidelberg aufbewahrt wird. Sie ist der wichtigste Überlieferungsträger für den Minnesang und die Sangspruchdichtung aus der Zeit vom späteren 12. bis zum früheren 14. Jahrhundert. Auf 426 großformatigen Blättern (35 mal 25 cm) enthält sie über 5200 Liedstrophen. Die Bezeichnung ›Manessische Liederhandschrift‹ beruht auf einem Lied des Zürcher Minnesängers Johannes Hadlaub, das in ihr aufgezeichnet ist: Hofkanzleien Skriptorien ›Manessische Liederhandschrift‹ Johannes Hadlaub Johannes Hadlaub: Lied Nr. 8, Str. 1-2. In: Die Schweizer Minnesänger. Nach der Ausgabe v. Karl Bartsch neu bearb. u. hg. v. Max Schiendorfer. Bd. 1: Texte. Tübingen 1990, S. 325 f.: Wa vunde man sament so manig liet? man vunde ir niet in dem künigrîche, als in Zürich an buochen stât. Des prüevet man dike da meister sang. der Manesse rank dar nâch endelîche, des er diu liederbuoch nu hât. Gegen sim hove mechten nîgin die singaere, sîn lob hie prüeven und andirswâ, wan sang hât boun und würzen dâ. und wisse er, wâ guot sang noch waere, er wurbe vil endelîch darnâ. <?page no="147"?> 139 Die Manesse waren eine Zürcher Patrizierfamilie. Das hohe Amt des Kustos am Zürcher Großmünster übte Johann Manesse aus (gestorben 1297), sein Vater war Rüdiger Manesse (gestorben 1304). Die Liederhandschrift selbst gibt sich als ein ›work in progress‹ zu erkennen; sie wurde um 1300 begonnen und bis in die Zeit um 1340 immer weiter ergänzt. Johannes Hadlaub zufolge sammelten die Manesse Lieder, und zwar in Gestalt von Liederbüchern, bereits vorhandenen schriftlichen Aufzeichnungen also. Ob Vater und Sohn Manesse auch die Initiative für die Anfertigung der Handschrift gaben, die heute ihren Namen trägt, oder nur die Grundlagen dafür schufen, lässt sich nicht mehr klären. Jedenfalls muss das Projekt lange über ihren Tod hinaus fortgesetzt worden sein. Mit einiger Wahrscheinlichkeit ging die Handschrift jedoch aus den Liederbüchern hervor, die die Manesse zusammentrugen, von denen jedoch leider nichts erhalten blieb. Das Sammelunternehmen diente, Sin sun, der kuster, der treibz ouch dar, des si gar vil edil sanges, die herren guot, hânt zemne brâcht. Ir êre prüevet man dabî. wer wîste sî des anevanges? der hât ir êren wol gidâcht. Daz tet ir sin, der richtet sî nach êren; daz ist ouch in erborn wol an. sang, dâ man dien frowen wolgetân wol mitte kan ir lob gemêren, den wolten sî nit lan zergân. Wo könnte man so viele Lieder an einem Ort finden? Man könnte nirgends im ganzen Königreich so viele finden, wie in Zürich in Büchern stehen. Deshalb beschäftigt man sich dort oft mit dem Gesang der Meister. Der Manesse bemühte sich zielstrebig darum, deshalb besitzt er nun die Liederbücher. Vor seinem Hof sollten sich die Sänger verneigen, seinen Ruhm hier und anderswo anerkennen, denn der Gesang hat hier Stamm und Wurzeln. Und wüsste er, wo es noch guten Gesang gibt, würde er sich zielstrebig darum bemühen. Sein Sohn, der Kustos, kümmerte sich auch darum, deshalb haben sie sehr viel edlen Gesang zusammengetragen, die vornehmen Herren. Ihr Ansehen erkennt man daran. Wer hat sie darauf gebracht, damit anzufangen? Der war sehr auf ihr Ansehen bedacht. Es war ihr Kunstverstand, der ließ sie nach Ansehen streben; sicher ist ihnen das angeboren. Gesang, mit dem man den Ruhm schöner Frauen vergrößern kann, den wollten sie nicht verloren gehen lassen. HAND S C H R I F T E N <?page no="148"?> 140 HAND S C H R I F T E N, D RU C K E , E DITION E N wie Hadlaub sagt, dem Ansehen der Manesse. Die Stadtpatrizier nahmen die Tradition der höfischen Adelsdichtung auf, um den eigenen gesellschaftlichen Status zur Schau zu stellen. Der repräsentative Anspruch der Manessischen Handschrift zeigt sich in ihrer Ausstattung und Anlage. Sie ist ein kostbares, mit großem Aufwand geschriebenes und reich bebildertes Buch. Die Lieder sind nach Dichtern geordnet, und vor jeder Dichtersammlung steht eine ganzseitige Miniatur (Buchillustration) mit einem - fiktiven - Dichterporträt wie dem auf der nächsten Seite abgebildeten Walthers von der Vogelweide. Die 140 Dichtersammlungen sind nach der ständischen Hierarchie gereiht: Den Anfang machen die Fürsten (Kaiser, Könige, Herzöge, Grafen), dann geht es weiter über die einfachen Adeligen (mit dem Standestitel ›Herr‹) zu den nichtadeligen Sängern, unter denen einige mit dem Ehrentitel ›Meister‹ (vgl. S. 83) herausgehoben sind, und den Fahrenden am Ende. Wer die Manessische Handschrift aufschlug, sah zuerst Kaiser Heinrich VI. auf dem Thron mit Krone, Zepter, Schwert und Reichswappen. So führte das kostbare Buch am Anfang den Geltungsanspruch der höfischen Lyrik als vornehme Adelskunst in aller Deutlichkeit vor Augen. Hadlaub deutet auf der einen Seite an, dass man in Zürich die höfische Liedkunst nicht verloren gehen lassen wollte. Das Interesse an der Textsicherung erklärt zunächst, warum man möglichst viele und deshalb auch viele alte Liedtexte zusammentrug. Hadlaub begründet die Archivierung nicht nur mit dem Sozialprestige, das sich die Manesse von der Sammelaktion erhofften, sondern auch mit der Absicht, die Texte vor dem Vergessen zu bewahren. Dies erscheint aus heutiger Sicht als durchaus berechtigt, denn zumindest der Minnesang (nicht die Sangspruchdichtung) hatte zur Zeit des Zürcher Projekts seine besten Tage in der Tat hinter sich. An den Adelshöfen geriet er langsam außer Mode; die Produktion versiegte nach und nach. Auf der anderen Seite deutet Hadlaub aber an, dass in Zürich noch eine lebendige Minnesangkultur bestand. Das lässt sich nicht zuletzt durch die Existenz des Zürcher Bürgers Johannes Hadlaub selbst absichern, der 1302 anlässlich eines Hauskaufs und 1340 als verstorben belegt ist. Seine 54 Minnelieder stellen eine der größten Dichtersammlungen der Manessischen Handschrift dar. Man war in Zürich demnach nicht nur an der Archivierung, sondern auch an der aktiven Aneignung der höfischen Tradition interessiert. Anlage der Handschrift und literarisches Interesse <?page no="149"?> 141 Die Manessische Handschrift ist ein Dokument der Textrezeption. Die Texte des 12. und 13. Jahrhunderts, die sie enthält, sind in der Gestalt aufgezeichnet, in der man sie in Zürich zwischen 1300 und 1340 rezipiert hat. Wie gut diese Gestalt mit derjenigen übereinstimmt, in der die Texte ursprünglich produziert wurden, lässt sich nicht mehr genau erkennen. Wo ein Text noch andernorts überliefert ist, kann man häufig beobachten, dass es zu Veränderungen im Rezeptionsprozess kam. Handschriftentexte als Rezeptionsdokumente Abb. 10 Miniatur zu den Liedern Walthers von der Vogelweide in der Manessischen Liederhandschrift. HAND S C H R I F T E N <?page no="150"?> 142 HAND S C H R I F T E N, D RU C K E , E DITION E N Die Manessische Handschrift ist in dieser Hinsicht kein Sonderfall. Volkssprachliche Handschriften überliefern Texte oft nicht so, wie sie produziert wurden, sondern in einer später festgehaltenen und von Rezeption gekennzeichneten Form. In vielen Fällen ist es unmöglich, daraus die Produktionsgestalt eines Textes zurückzugewinnen. Beispielsweise kann niemand den Wortlaut der Texte genau kennen, die Walther von der Vogelweide um 1200 tatsächlich vorgetragen hat; wir kennen nur den der Texte, die später aufgeschrieben wurden. Auch kann niemand genau wissen, welche Texte Walther von der Vogelweide tatsächlich vorgetragen hat; wir wissen nur, welche Texte ihm später zugeschrieben wurden. Gelegentlich sind allerdings auch produktionsnahe Texte überliefert. Das ›Evangelienbuch‹ Otfrids von Weißenburg etwa ist in drei Handschriften teilweise, in einer einzigen vollständig erhalten. An dieser vollständigen Handschrift, die heute in der Österreichischen Nationalbibliothek in Wien liegt, arbeiteten in einem Klosterskriptorium des 9. Jahrhunderts mehrere Schreiber. Einer von ihnen korrigierte die gesamte Handschrift am Ende sorgfältig. Es gibt Indizien dafür, dass das Otfrid selbst gewesen sein muss. Hier lässt sich ein wahrscheinlich vom Verfasser kontrollierter Text greifen. Produktionsnahe Texte bieten ebenso die Handschriften, die Oswald von Wolkenstein von seinen Liedern anfertigen ließ (vgl. S. 96). Auch die Manessische Handschrift dürfte einige produktionsnahe Dichtersammlungen enthalten, allen voran diejenige der Lieder Johannes Hadlaubs. Die große Pest von 1348 hatte auf die Handschriftenproduktion katastrophale, erstaunlicherweise jedoch nur kurzfristige Auswirkungen. Obwohl es zu einem durchschnittlichen Bevölkerungsrückgang um mindestens ein Drittel kam, setzte seit 1370 eine explosionsartige Vermehrung der Handschriftenherstellung ein. Sie gewann in der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts nochmals an Schub. Ursache für die - ohne den Wechsel zum Papier undenkbare - ›Literaturexplosion‹ war eine stetig ansteigende Nachfrage nach Büchern. Die Ausbreitung der Bettelorden vermehrte die Anzahl der Kleriker im späteren Mittelalter erheblich; und da alle Orden von ihren Angehörigen Bildung verlangten, vergrößerte sich die Menge der Buchleser. Ebenso trugen dazu die neuen Gruppen der Professoren und Studenten bei: Die erste Universi- Abstand zwischen Textproduktion und Textüberlieferung Produktionsnahe Textüberlieferung Literaturexplosion des späten 14. und 15. Jahrhunderts Buchnachfrage Lesergruppen <?page no="151"?> 143 tät im deutschen Sprachraum wurde 1347 in Prag gegründet; bis 1500 kamen dreizehn weitere dazu. Die städtischen Bildungsträger (Stadtschreiber, Notare, gelehrte Räte, Schulmeister) des 14. und 15. Jahrhunderts waren zwar von Amts wegen vor allem mit pragmatischer Schriftlichkeit beschäftigt, spielten nebenher jedoch als Verfasser und Leser von Sachliteratur wie Dichtung - gerade auch volkssprachlicher - eine wichtige Rolle. Frauen in Klöstern und klosterähnlichen Lebensgemeinschaften bildeten ein Lesepublikum für deutschsprachige religiöse Literatur. Die meisten Bücher waren weiterhin lateinisch. Noch in der Mitte des 15. Jahrhunderts betrug der Anteil deutschsprachiger Titel an der Produktion nur etwa 15 Prozent. Die Literaturexplosion ging jedoch mit einer Erweiterung nicht nur des lateinischen, sondern auch des deutschsprachigen Textbestands einher, die sich vor allem den Frömmigkeitsbewegungen und der scholastischen Wissenschaft verdankte. Immer noch wurden freilich ebenso Handschriften jener lateinischen Texte angefertigt, die schon seit der Karolingerzeit zum ›Lehrplan des Abendlands‹ gehörten. Angesichts der Trägergruppen der Buchnachfrage ist die beherrschende Stellung religiöser und wissensvermittelnder Literatur in dieser Zeit nicht verwunderlich. Auch im Spätmittelalter wurden die Bücher zumeist in kirchlichen Schreibstuben hergestellt. Die gestiegene Buchnachfrage konnten die Skriptorien allein aber nicht mehr befriedigen. Die Literaturexplosion schuf Märkte für die gewerbsmäßige Buchproduktion. Dies stellt eine wichtige Neuerung dar, denn bis ins 13. Jahrhundert wurden lateinische wie volkssprachliche Handschriften grundsätzlich, später immer noch in der Regel, nur als Einzelstücke nach einem entsprechenden Auftrag für einen bestimmten Benutzer oder Benutzerkreis hergestellt - ein Kloster, einen Fürstenhof, einen einzelnen Kleriker, Adeligen, Gelehrten. Das Interesse einzelner Benutzer bestimmte die Entstehung von Handschriften, damit die Archivierung und Verbreitung von Texten. Schon im späteren 13. Jahrhundert wurden Handschriften gewerbsmäßig produziert, also nicht mehr als Einzelstücke auf einen Einzelauftrag hin, sondern reihenweise auf Vorrat für Frühformen eines entstehenden Buchmarkts. Das geschah zunächst im Umfeld des Universitätsbetriebs in Paris und Bologna, wo ein großer und leicht berechenbarer Bedarf an Schulbüchern herrsch- Textbestand Skriptorien Schreibwerkstätten HAND S C H R I F T E N <?page no="152"?> 144 HAND S C H R I F T E N, D RU C K E , E DITION E N te. In deutschen Städten gab es wahrscheinlich seit dem späteren 14. Jahrhundert kommerzielle Handwerksbetriebe, die Handschriften anfertigten. Allerdings ist nur eine derartige Schreibwerkstatt gut belegt, diejenige von Diebold Lauber in Hagenau im Elsass, die um die Mitte des 15. Jahrhunderts in Betrieb war - also zu der Zeit, in der Gutenberg den Buchdruck erfand. Laubers Handschriftenangebot umfasste, wie ein erhaltener Geschäftsbrief zeigt, neben einigen lateinischen 46 deutsche Titel. Er verkaufte seine Produkte weit über das Elsass hinaus; seine Kundschaft waren vermögende Stadtbürger und Adelige. Unter den deutschen Texten überwiegt die religiöse Literatur, an zweiter Stelle folgt Sachliteratur aus anderen Wissensgebieten (Geschichtsschreibung, Recht, Naturkunde, Astronomie, Medizin). Drittens hatte Lauber höfische Epik wie den ›Parzival‹ Wolframs von Eschenbach und den ›Tristan‹ Gottfrieds von Straßburg im Programm, 250 Jahre alte Texte. Zeitgenössische Dichtung findet sich dagegen kaum. Das Angebot zeigt das literarische Interesse der städtischen Führungsgruppen und des Adels im 15. Jahrhundert: Religiöse Unterweisung, Wissensvermittlung und Adelsdichtung aus der alten höfischen Glanzzeit. Auf die gestiegene Nachfrage nach Büchern und die dadurch ausgelöste Literaturexplosion traf um 1450 die neue Technik des Buchdrucks. Bis etwa 1470 blieb die Handschriftenproduktion auf dem erreichten Stand, dann ging sie innerhalb weniger Jahre drastisch zurück. Zwar wurden weiterhin Handschriften angefertigt, jedoch nicht mehr zum Zweck der Textverbreitung, sondern um Texte aus einem persönlichen Interesse festzuhalten oder um den ihnen zugewiesenen Wert durch eine exklusive Ausstattung anzuzeigen. Ein Beispiel für das repräsentative Interesse, das in der Zeit des Buchdrucks die Produktion von Handschriften begründen konnte, ist das ›Ambraser Heldenbuch‹, eine der wichtigsten Textsammlungen älterer deutscher Literatur überhaupt. Der großformatige Codex (234 Blätter, 46 mal 36 cm) hat seinen Namen vom Schloss Ambras bei Innsbruck, wo er im 19. Jahrhundert aufgefunden wurde. Über die Entstehung des ›Ambraser Heldenbuchs‹ weiß man vergleichsweise gut Bescheid. Es wurde von 1504 bis 1515 von Hans Ried geschrieben, der bis 1508 Zöllner bei Bozen war und sich danach hauptberuflich dem Heldenbuch widmete. Der Auftraggeber war Kaiser Maximilian I., der von 1493 bis 1519 regierte. Maxi- Diebold Lauber Handschriftenproduktion nach der Erfindung des Buchdrucks ›Ambraser Heldenbuch‹ <?page no="153"?> 145 milian betrieb eine gezielte Kulturpolitik, die Literatur, Bildkünste und Musik planmäßig zur Darstellung seiner Herrschaftskonzeption einsetzte. Das literarische Programm des ›Ambraser Heldenbuchs‹ präsentiert Maximilians Herrschaftsverständnis anhand der glanzvollen Tradition der höfischen Adelsdichtung. Die Handschrift enthält 25 Texte, die alle aus dem 12. und 13. Jahrhundert stammen - höfische Romane (darunter den Abb. 11 Um 1445 geschriebene ›Parzival‹-Handschrift aus der Werkstatt von Diebold Lauber. HAND S C H R I F T E N <?page no="154"?> 146 HAND S C H R I F T E N, D RU C K E , E DITION E N ›Erec‹ und den ›Iwein‹ Hartmanns von Aue), Mären, Lehrdichtungen und Heldenepen (darunter das ›Nibelungenlied‹). Die Sammlung ist einerseits auf Ritterschaft und höfische Liebe, das heißt auf adelige Vorbildlichkeit und Exklusivität konzentriert, andererseits auf die großen Herrscherfiguren des höfischen Romans und der Heldenepik, Artus und Dietrich. Beides zeigt Maximilians Interesse: Die Sammlung verweist auf seinen eigenen Herrschaftsanspruch, indem sie eine vorbildliche Vergangenheit vor Augen führt, in deren Kontinuität die Gegenwart stehen soll. Das rückwärtsgewandte literarische Interesse der Ambraser Handschrift erweist sich dergestalt als durchaus gegenwartsbezogen. Uns zeigt das ›Ambraser Heldenbuch‹ zugleich die lang anhaltende Überlieferung und Rezeption hochmittelalterlicher Dichtung. Sie verdankte sich weniger einem archivalischen oder gelehrt-historischen Interesse, sondern diente eher der Weitergabe alter Norm- und Wertvorstellungen, der Bestätigung adeliger Exklusivität und der Herrschaftsrepräsentation. Die Texte aus der höfischen Blütezeit fanden bis in die ersten Jahrzehnte des 16. Jahrhunderts Aufmerksamkeit, also bis in jene Zeit, in der Hans Ried das ›Heldenbuch‹ für Maximilian schrieb; danach gerieten die meisten von ihnen in Vergessenheit. Die Bedeutung des ›Ambraser Heldenbuchs‹ als Überlieferungsträger beruht außerdem darauf, dass 15 seiner 25 hochmittelalterlichen Texte in keiner anderen Handschrift erhalten sind. Vom ›Erec‹ Hartmanns von Aue, dem ersten deutschen Artusroman, gäbe es beispielsweise nur noch ein paar kleine Fragmente, hätte Hans Ried nicht eine ältere, verlorene Quelle für das ›Heldenbuch‹ abgeschrieben. Deshalb kennen wir den größten Teil des ›Erec‹ allein in Gestalt einer Aufzeichnung, die über 300 Jahre nach der Textproduktion angefertigt wurde. Von etlichen anderen, in der älteren deutschen Literaturwissenschaft durchaus prominenten Texten wüssten wir gar nichts, wäre diese Handschrift nicht erhalten geblieben. Buchdruck Die Erfindung des Buchdrucks hat die europäische Welt nicht auf einen Schlag verwandelt. Längerfristig bewirkte er aber tief- 3. <?page no="155"?> 147 greifende kulturelle Veränderungen. Zu seinen Voraussetzungen gehört, neben dem billigen Papier anstelle des teuren Pergaments, der gesellschaftliche Bedarf an einer Methode der Textvervielfältigung, die der handschriftlichen an Leistungsfähigkeit überlegen war. Ein solcher Bedarf entstand mit der steigenden Nachfrage nach Büchern im 14. und 15. Jahrhundert. Die Literaturexplosion ging einher mit einer veränderten gesellschaftlichen Bedeutung des Wissens und seiner Verfügbarkeit. Im Lauf seiner Erfolgsgeschichte machte der Buchdruck kulturelle Wissensbestände sowohl räumlich als auch sozial breiter verfügbar. Um es in der Zuspitzung zu verdeutlichen: Wo in der frühmittelalterlichen Manuskriptkultur die einzelne Handschrift steht, zu der nur die Mönche eines bestimmten Klosters Zugang haben, da steht in der Druckkultur (auf breiter Front allerdings erst seit dem 18. Jahrhundert) das massenhaft vervielfältigte Buch, zu dem alle Lesefähigen und der jeweiligen Sprache Kundigen Zugang haben, so weit das Vertriebssystem reicht. Zwischen den beiden Polen erstreckt sich der lange Prozess, der die Schriftlichkeit von den Klöstern auf die gesamte Kultur ausdehnte und ihre Beherrschung vom Expertenwissen weniger zur Grundkompetenz aller machte. Drucktechniken gab es schon vor Gutenberg, zunächst in Gestalt des Holzschnitts. Der Druck erfolgt dabei mit einem entsprechend zurechtgeschnitzten Holzblock. Das Verfahren wurde seit dem ersten Drittel des 15. Jahrhunderts für Einblattdrucke, das heißt Einzelblätter, benutzt. Später stellte man auch Bücher, die so genannten Blockbücher, auf diese Weise her. Für Illustrationen hielt sich der Holzschnittdruck noch lange, für Texte war er jedoch äußerst umständlich. Seit der Mitte des 15. Jahrhunderts gab es auch bereits den Kupferstich-Druck mit entsprechend bearbeiteten Kupferplatten. Die um 1450 vollzogene Innovation Johannes Gutenbergs war eine Kombination verschiedener Techniken. Im Mittelpunkt stehen dabei Bleiguss und Satz ›beweglicher Lettern‹: Mit dem Handgießinstrument aus Blei gegossene Buchstabentypen werden auf einer Druckplatte angeordnet (›gesetzt‹), von der sich mittels Druckerschwärze (aus Leinöl und Ruß) auf der Druckpresse Abzüge anfertigen lassen. Texte sind auf diese Weise wesentlich schneller zu vervielfältigen als mit dem Holz- oder Kupferdruck, die Typen können in großen Mengen auf Vorrat Verfügbarkeit des Wissens Drucktechniken Holzschnitt Einblattdruck Blockbuch Kupferstich Gutenberg Bewegliche Lettern BU C HD RU C K <?page no="156"?> 148 HAND S C H R I F T E N, D RU C K E , E DITION E N erzeugt und mehrmals benutzt werden. Das früheste datierbare Buch, das Gutenberg 1454 in seiner Mainzer Werkstatt mit beweglichen Lettern produzierte, war eine lateinische Bibel, deren Seitenspiegel 42 Zeilen hat und die deshalb heute ›42zeilige Bibel‹ heißt. Wahrscheinlich wurden davon etwa 180 Exemplare gedruckt. Die Frühzeit der Druckgeschichte bis 1500, in der der Buchdruck sozusagen noch in der Kinderwiege lag, nennt man die Zeit der Wiegendrucke (oder Inkunabeln, nach dem lateinischen Wort für Wiege). Die Zeitgenossen erkannten die Leistungen der neuen Technik früh und lobten die schnelle und genaue Textreproduktion, die im Vergleich zur Handschriftenherstellung geringeren Kosten, die leichtere Lesbarkeit, die bessere Zugänglichkeit des Wissens und die Vorteile für die Kommunikation. Die Druckwerkstätten verbreiteten sich über ganz Europa. Die Drucker waren in der Frühzeit meistens zugleich Verleger und Buchhändler, viele von ihnen hatten studiert und waren humanistisch interessiert. Gedruckt wurden zunächst vor allem absatzsichere Standardwerke, das heißt hoch geschätzte und in der Welt der Kleriker, städtischen Schriftexperten und humanistischen Gelehrten verbreitete lateinische Texte: die Bibel, liturgische Bücher, Legendensammlungen, Fachliteratur aus Theologie, Recht und Medizin, geläufige Unterrichtswerke wie lateinische Grammatiken und Fabelsammlungen, dazu römische Klassiker wie Cicero und Vergil. Die Auflagenzahlen blieben bis um 1470 mit üblicherweise 200 bis 300 Exemplaren niedrig, stiegen danach jedoch kontinuierlich an. Um 1500 stellte eine Auflage von 1000 Exemplaren bereits den unteren Standard dar, weil erst jenseits davon mit Gewinn zu rechnen war. Luthers Septembertestament (vgl. S. 54) wurde 1522 in Wittenberg mit einer Startauflage von 3000 Exemplaren gedruckt. Von Einzelfällen wie der Lutherbibel abgesehen, änderten sich die Verhältnisse bis zum 18. Jahrhundert dann nicht mehr dramatisch; noch im 17. Jahrhundert hatten Bücher eine Durchschnittsauflage von 2000 Exemplaren. Auch wenn man die gängige Praxis wiederholter Nachauflagen berücksichtigt, war der Buchdruck anfangs kein Instrument der massenhaften Herstellung und Verbreitung von Büchern. Dafür war die Anzahl der Lesefähigen noch viel zu gering. Die Käufergruppen unterschieden sich zunächst nicht von denjenigen der Handschriften- 42zeilige Bibel Wiegendrucke Leistungen der Drucktechnik Drucker Textbestand Auflagenhöhe <?page no="157"?> 149 BU C HD RU C K produktion im 15. Jahrhundert. Bis um 1470 waren gedruckte Bücher zudem nicht wesentlich billiger als Handschriften. Dann fielen die Preise jedoch relativ schnell um durchschnittlich etwa zwei Drittel, bei Büchern mit höheren Auflagen wie der Bibel auch weiter, um danach lange Zeit relativ konstant zu bleiben; bis um 1600 gingen sie nur noch leicht zurück. Die Gelehrten erhofften sich von der neuen Technik nicht zuletzt eine zuverlässigere und lesefreundlichere Textreproduk- Buchpreise Qualität der Textreproduktion Abb. 12 Anfang des 1. Buchs Mose in der Gutenberg-Bibel, Mainz 1454. <?page no="158"?> 150 HAND S C H R I F T E N, D RU C K E , E DITION E N tion. Da die Exemplare einer Auflage untereinander identisch waren, reichte eine sorgfältige Korrektur des gesetzten Textes, um die Vorlagentreue aller Abzüge sicherzustellen. Handschriften mussten nicht nur einzeln geschrieben, sondern auch einzeln korrigiert werden. Der Druck beschleunigte die Textvervielfältigung und ermöglichte es zugleich, gut lesbare Reproduktionen in relativ kurzer Zeit anzufertigen; Handschriften waren umso schwerer zu lesen, je schneller sie geschrieben wurden. Der Buchdruck trat deshalb zunächst vor allem an die Stelle der sorgfältig gearbeiteten, gut korrigierten und schön geschriebenen Handschrift. Die ältesten Drucke bis in die Zeit um 1480 sahen mit ihren Schrifttypen, der Seiteneinrichtung und der gesamten Textgestaltung noch weitgehend aus wie Handschriften. Sie hatten anfangs auch noch keine Titelblätter, sondern nach alter Gewohnheit einen Kolophon, der am Ende Drucker, Druckort und Druckdatum anführte. Titelblätter kamen in den 80er Jahren auf und setzten sich erst um 1520 allgemein durch. Die Reproduktionsgenauigkeit gehört zu den Gründen, aus denen sich die Humanisten schnell für den Buchdruck interessierten. Die Begeisterung für antike Literatur führte zu einer regen Editionstätigkeit, und weil die Humanisten auf die korrekte sprachliche Gestalt der Texte größten Wert legten, kam ihnen der Buchdruck gerade recht. Er bot die Chance, die Unwägbarkeiten der handschriftlichen Vervielfältigung auszuschalten. Ebenso schätzten sie die Möglichkeit, Wissen in Gestalt des gedruckten Buchs schnell und allgemein zugänglich zu machen - freilich innerhalb der Welt der Gelehrten und mittels der alle Gelehrten verbindenden, alle anderen ausschließenden Bildungssprache Latein. Buchdruck und Humanismus förderten sich gegenseitig: Ohne den Buchdruck hätte das europaweite Humanisten-Netzwerk, das im 16. Jahrhundert auch nördlich der Alpen wachsenden kulturellen Einfluss gewann, kaum funktionieren können; umgekehrt trug die humanistische Publikationstätigkeit zum Aufschwung des Buchdrucks bei. An vielen Orten ergab sich eine Zusammenarbeit zwischen Druckern und Humanisten, die gewissermaßen die Aufgaben von Verlagslektoren übernahmen. Der Druck deutschsprachiger Texte begann relativ früh, erreichte bis zur Reformation aber nur einen wenig höheren Anteil an der Buchproduktion als in der Handschriftenzeit. Noch 1519 lag die Quote der volkssprachlichen Titel unter 20 Prozent. Texteinrichtung Titelblatt Buchdruck und Humanismus Deutschsprachige Texte <?page no="159"?> 151 Zu den ersten gedruckten deutschen Büchern gehörten Ulrich Boners Fabelsammlung ›Der Edelstein‹ (vgl. S. 60) und der ›Ackermann‹ des Johannes von Tepl (vgl. S. 123), die Albrecht Pfister in Bamberg 1461 und 1463 herausbrachte. Pfister war auch insofern ein Pionier, als er seine volkssprachlichen Drucke großzügig mit Holzschnitten versah. Der Holzschnitt hielt sich lange Zeit als Drucktechnik für die gerade im 15. und 16. Jahrhundert außerordentlich wichtige Buchillustration. Das ehrgeizigste volkssprachliche Druckprojekt der Inkunabelzeit war die ›Schedelsche Weltchronik‹ (vgl. S. 10). Die deutsche Ausgabe erschien im Dezember 1493 in Nürnberg, nachdem dort im März desselben Jahres bereits eine lateinische vorausgegangen war. Bei der von Anfang an in zwei Sprachfassungen geplanten Veröffentlichung handelt es sich zugleich um das historisch am besten dokumentierte Buchunternehmen des 15. Jahrhunderts im deutschen Sprachraum. Auf 300 reich illustrierten Blättern verfolgt die Weltchronik den Anspruch einer Darstellung der Weltgeschichte nach dem traditionellen Schema der sechs Zeitalter von der Schöpfung bis zur Gegenwart und, damit verbunden, einer umfassenden Weltbeschreibung. Angestrebt ist die Präsentation des gesamten zeitgenössischen historischen und geographischen Wissens. Ein besonderer thematischer Schwerpunkt liegt dabei auf der Beschreibung deutscher und europäischer Städte; Gründungsgeschichten (zumeist sagenhafte) werden ebenso mitgeteilt wie Informationen zu Stadtanlage, Umgebung, Wirtschaftsleistung und wichtigen Handelsgütern. Jede beschriebene Stadt ist in einem eigenen Holzschnitt abgebildet. Die zum größeren Teil authentischen Städteansichten folgen zumeist älteren Vorlagen, wurden in einigen Fällen aber auch eigens für die Weltchronik entworfen. Die Weltchronik hat ihren heutigen Namen vom Hauptbearbeiter des lateinischen Textes. Hartmann Schedel, Sohn einer Nürnberger Patrizierfamilie, übte nach dem Studium der humanistischen Fächer und der Medizin in Leipzig und Padua seit 1484 das Amt des Nürnberger Stadtarztes aus, der die Aufsicht über das gesamte städtische Gesundheitswesen hatte. Sein hoher Bildungsstand lässt sich ungewöhnlich detailliert abschätzen, weil seine Privatbibliothek mit 370 Handschriften und 670 Drucken zum größten Teil erhalten geblieben ist. Illustration mit Holzschnitten ›Schedelsche Weltchronik‹ Anlage Textbearbeiter BU C HD RU C K <?page no="160"?> 152 HAND S C H R I F T E N, D RU C K E , E DITION E N Den lateinischen Text der Weltchronik hat er, wie in der Tradition der Weltchronistik seit langem üblich, nicht neu verfasst, sondern aus zahlreichen älteren und zeitgenössischen Vorlagen weitgehend wörtlich übernommen und neu zusammengestellt. Außer Schedel war an dieser Arbeit auch der Übersetzer der deutschen Ausgabe, der Nürnberger Stadtkämmerer Georg Alt beteiligt. Die Weltchronik war ein Gemeinschaftsunternehmen noch weiterer humanistisch gebildeter Nürnberger Patrizier, die auch die Funktionen der Geldgeber und Verleger übernahmen. Die 652 Holzstöcke für die 1804 Illustrationen (manche wurden mehrfach eingesetzt) gaben sie in der bedeutendsten Nürnberger Holzschnitzer-Werkstatt in Auftrag, bei Michael Wolgemut. Drucken ließ man in der Nürnberger Werkstatt von Anton Koberger, einer der größten Druckereien der Zeit. Außer den Produktionsverträgen ist eine Schlussabrechnung des Projekts aus dem Jahr 1509 erhalten. Sie bildet die Grundlage für die Schätzung, dass von der lateinischen Fassung 1400, von der deutschen 700 Exemplare gedruckt wurden. 1509 waren davon 535 lateinische und 60 deutsche noch nicht verkauft. Die Weltchronik kostete ungebunden drei Gulden, gebunden fünf, gebunden und koloriert (mit von Hand farbig ausgemalten Holzschnitten) acht. Außer in Nürnberg und weiteren deutschen Städten wurde sie auch in Mailand, Florenz, Genua, Bologna, Paris, Lyon und Budapest verkauft. Das ist keine Besonderheit; der Buchvertrieb hatte sich von Anfang an nach dem Vorbild des zeitgenössischen Fernhandels entwickelt. Wie andere Kaufleute vertrieben die Drucker ihre Ware über auswärtige Niederlassungen und Geschäftspartner. Koberger hatte mit der Weltchronik kein allzu großes Glück, wie die übrig gebliebenen Exemplare und die fehlenden Nachauflagen zeigen. Das Geschäft verdarb ihm sein Augsburger Druckerkollege Schönsperger, der bereits 1496 einen billigeren Nachdruck der deutschen Ausgabe in kleinerem Format - mit kleinerer Schrift und kleineren Holzschnitten - bei weitgehend gleichem Text- und Bildbestand herausbrachte; 1497 folgte ein Nachdruck der lateinischen Ausgabe nach demselben Prinzip. Auch dies ist keine Besonderheit, denn ein Copyright existierte nicht. Die politischen Verhältnisse der vielen kleinen Territorien hätten dafür gar keine Grundlage bieten können. Entscheidend aber war, dass es keine allgemein anerkannte Vorstellung von geistigem Eigentum und deshalb keine rechtlichen Konsequenzen Holzschnitte Auflage und Vertrieb Nachdrucke <?page no="161"?> 153 eines solchen Begriffs gab. Man konnte nur das materielle Buch, wie jede hergestellte Ware, im jeweiligen Territorium durch Handelsprivilegien schützen. Die intellektuelle Leistung, die einem Buch zugrunde lag, war niemandes Eigentum. Es dauerte noch lange, bis sich das änderte. Augsburg, wo Schönsperger geradezu ein Experte für Nachdrucke war, entwickelte sich im Übrigen zum wichtigsten Ort des volkssprachlichen Buchdrucks vor der Reformation im süddeutschen Sprachraum. Im Norden erreichte Köln einen ähnlichen Status mit niederdeutschen Drucken. Anders als bei der europaweiten Gelehrtensprache Latein spielten für den volkssprachlichen Druck regionale Sprachvarianten eine erhebliche Rolle. Allerdings wurden sie aus wirtschaftlichen Gründen zügig zu großräumigeren Druckersprachen vereinheitlicht. Mit der Reformation setzte sich dann das Lutherdeutsch in den protestantischen Gebieten, das gemeine Deutsch der kaiserlichen Kanzlei in den katholischen des Südens durch (vgl. S. 28). Für das Niederdeutsche als Schriftsprache brachte die Vereinheitlichung, die Reformation und Buchdruck gemeinsam erzeugten, schon im 16. Jahrhundert einen unaufhaltsamen Niedergang. Die Produktion deutschsprachiger Drucke nahm seit den 1480er Jahren zwar zu, aber zu einem drastischen Anstieg kam es erst durch die Reformation. Im Jahrzehnt zwischen 1520 und 1530 lag der Anteil deutscher Titel bei fast 60 Prozent. Allerdings verringerte sich die Quote bis zum Ende des 16. Jahrhunderts wieder auf 40 Prozent. Luther hat die Bedeutung des Buchdrucks für die Verbreitung seiner Lehre, trotz einiger skeptischer Äußerungen, von Anfang an erkannt und genutzt. Die Publikation seiner Schriften konnte er allerdings nur teilweise steuern. Seine frühen reformatorischen Texte aus der Zeit vor dem Septembertestament wurden als Flugschriften - mehrseitige, aber ungebundene und deshalb billige Druckerzeugnisse - massenhaft unter die Leute gebracht. Zwischen 1517 und 1521 erschienen von seinen 32 frühreformatorischen Schriften 529 Druckausgaben. Selbst bei einer zurückhaltenden Veranschlagung der durchschnittlichen Auflagenhöhe mit 1000 Exemplaren wäre die Gesamtauflage bei über einer halben Million anzusetzen; das Doppelte ist realistischer. Mit der Reformationspublizistik wurde der Buchdruck erstmals zu einem Massenphänomen. Mit Holzschnitten illustrierte Druckersprachen Reformation und Buchdruck Flugschriften Massenproduktion BU C HD RU C K <?page no="162"?> 154 HAND S C H R I F T E N, D RU C K E , E DITION E N Einblattdrucke und Flugschriften erschienen bis 1526 in großer Zahl. So befruchteten sich Reformation und Buchdruck gegenseitig: Ohne den Buchdruck hätte die Reformation nicht ihren historischen Verlauf nehmen können; umgekehrt zeigte erst die Reformation, welche Möglichkeiten die neue Technik für die Verbreitung von Texten bereithielt. Allerdings bürgerte sich die Massenproduktion von Gedrucktem damit noch nicht als Normalfall ein; in der Geschichte des Buchdrucks blieb die Reformationspublizistik für lange Zeit eine Ausnahmeerscheinung. Doch als Werkzeug der Reformation hatte der Buchdruck, für alle erkennbar, die Welt verändert. Nicht ganz realistisch dürfte allerdings die Vorstellung sein, dass von 1517 an eine Bevölkerung von Analphabeten (schätzungsweise waren über 90 Prozent immer noch nicht schriftkundig) landauf, landab plötzlich die deutschen Schriften Luthers las. Es gibt zwar Anzeichen dafür, dass sich im Gefolge der neuen Technik die Anzahl der Lesefähigen erhöhte. Aber die großen Mengen, in denen bis zur Reformationszeit lateinische Grammatiken, Bibeln, Legenden- und Fabelsammlungen gedruckt wurden, deuten darauf hin, dass die Beherrschung der Schrift nach wie vor in erheblichem Ausmaß am Lateinunterricht hing. Wahrscheinlich war es deshalb das traditionelle Lesepublikum aus Klerikern, städtischen Bildungsgruppen und Gelehrten, das Luthers Schriften kaufte und sie dann durch Vorlesen an - wie Luther gesagt hätte - ›die Mutter im Haus und den gemeinen Mann‹ weiter vermittelte. Die volkssprachliche Lese- und Schreibfähigkeit, deren Anfänge im spätmittelalterlichen städtischen Schulbetrieb lagen, wurde erst durch die planmäßige Schulorganisation im Gefolge der Reformation entscheidend befördert. In den protestantischen Gebieten setzte sie schon in den 20er Jahren des 16. Jahrhunderts, in den katholischen als Reaktion darauf etwas später ein. Sie war erheblich durch humanistische Bildungsprogramme beeinflusst. Auch wenn die humanistischen Ideen vor allem die höhere Schulbildung prägten, hatte auch im protestantischen Elementarunterricht der Zugang zum geschriebenen Wort, nämlich zur Heiligen Schrift auf Deutsch, seinen Platz. Zu den Folgen des bildungspolitischen Bündnisses zwischen Reformation und Humanismus gehörte im Übrigen eine einschneidende Veränderung des Bestands an gedruckter Standard- Lese- und Schreibfähigkeit Schulreformen Veränderung des Textbestands <?page no="163"?> 155 literatur. Jahrhunderte lang abgeschriebene und bruchlos in die Frühdruckzeit übernommene Texte verschwanden in den protestantischen Gebieten aus dem ›Lehrplan des Abendlands‹. Ein großer Teil der alten Wissensliteratur vertrug sich entweder nicht mehr mit humanistischen oder nicht mehr mit reformatorischen Zielsetzungen, von den alten Lateinlehrbüchern und Logiktraktaten über theologische und kirchenrechtliche Fachliteratur bis zu liturgischen Büchern und Legendensammlungen. Das inhaltliche Profil der Buchproduktion wandelte sich, auf Latein wie auf Deutsch, im 16. Jahrhundert tiefgreifend. Editionen Was in alten Handschriften und Drucken an Texten überliefert ist und in Handschriften- und Inkunabelabteilungen der Bibliotheken aufbewahrt wird, lässt sich auf verschiedene Art heutigen Lesern zur Verfügung stellen. Seit dem späten 19. Jahrhundert bot das Faksimile, die fotografische Reproduktion einer Handschrift oder eines Drucks, die detailgenaueste Möglichkeit dafür. Faksimiles bedienen heute in erster Linie bibliophile Interessen; ihre wissenschaftliche Funktion ist durch Digitalisate ersetzt. Wie das Faksimile führt das Digitalisat einen Text in der Gestalt - der spezifischen Schriftform und Ausstattung - vor Augen, in der er in einem bestimmten Überlieferungsträger steht. Das (und womöglich den originalen Überlieferungsträger selbst) braucht beispielsweise, wer überlieferungsgeschichtliche Interessen verfolgt, weil Texte dafür nicht nur in ihrer sprachlichen, sondern auch in ihrer materiellen Gestalt zur Verfügung stehen müssen. Die zweite Möglichkeit, die gewöhnlich nur bei Handschriften eingesetzt wird, ist die Transkription (auch ›diplomatischer Abdruck‹ genannt). Dabei werden die Buchstaben einer bestimmten Handschrift ohne sonstige Veränderungen in moderne Druckschrift umgesetzt. Transkriptionen sind deshalb leichter zu lesen und zu reproduzieren als Faksimiles und Digitalisate. Sie benutzt, wer genau sehen will, wie ein bestimmter Handschriftentext in seiner sprachlichen Gestalt aussieht. Die materielle Gestalt (Schriftform, Ausstattung) ist in der Transkription schon nicht mehr zu erkennen. 4. Faksimile Digitalisat Transkription E DITION E N <?page no="164"?> 156 HAND S C H R I F T E N, D RU C K E , E DITION E N Die dritte, für die meisten heutigen Leser wichtigste Möglichkeit ist die Edition. Editionen geben einen Text gewöhnlich nicht in der genauen sprachlichen Gestalt einer bestimmten Handschrift oder eines bestimmten Drucks wieder. Zumindest sind offensichtliche Schreib- oder Druckfehler verbessert und die von Schreibern wie Druckern früher ausgiebig benutzten Abkürzungen aufgelöst. Die Arbeit des Herausgebers kann jedoch noch erheblich weiter reichen. Da die Überlieferungsbedingungen der älteren Literatur unterschiedlich sind, gibt es auch unterschiedliche Verhältnisse zwischen der Gestalt edierter Texte und der handschriftlichen oder gedruckten Textüberlieferung. Dies ist derjenige Aspekt von Editionen, der nicht nur ihre ›Macher‹, sondern auch ihre Benutzer betrifft. Um die Leserperspektive soll es im Folgenden gehen. ›Wissenschaftliche‹ Textausgaben bieten ihren Lesern nämlich außer dem edierten Text stets auch Informationen über sein Verhältnis zur Textüberlieferung und ermöglichen es so, den edierten Text anhand der Überlieferung zu kontrollieren. Im Spektrum der Editionen älterer Literatur lassen sich zwei Pole unterscheiden. Am einen stehen Ausgaben, die auf dem Text eines einzigen Überlieferungsträgers beruhen. Das ist natürlich immer so, wenn ein Text nur in einer einzigen Handschrift oder einem einzigen Druck erhalten geblieben ist. Es gibt aber auch von mehrfach überlieferten Texten Editionen, die die Version eines bestimmten Überlieferungsträgers wiedergeben - beispielsweise eine der verschiedenen Fassungen des ›Nibelungenlieds‹. Am anderen Pol stehen Editionen, die alle Überlieferungsträger eines mehrfach überlieferten Textes berücksichtigen. Nur in einem Druck, der 1573 in Frankfurt am Main erschien, ist zum Beispiel ein höfischer Roman überliefert, der nach seiner Hauptfigur ›Engelhard‹ heißt (und der in Kapitel 9 näher behandelt wird). Als Verfasser nennt sich am Textende Konrad von Würzburg, ein Dichter aus der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts, von dem noch etliche weitere Texte erhalten sind. Der Druck muss auf einer älteren Textüberlieferung beruhen, von der aber nichts übrig blieb. Der Text beginnt mit einer Vorrede in kunstvoll gereimten Strophen, die die vorbildliche Treue als Thema der Erzählung ankündigt. Die ersten beiden Strophen haben in der Transkription des Drucks (rechte Spalte) und im edierten Text (linke Spalte) folgende sprachliche Gestalt: Edition Edierter und überlieferter Text Editionen einfach und mehrfach überlieferter Texte Konrad von Würzburg: ›Engelhard‹ <?page no="165"?> 157 E DITION E N Konrad von Würzburg: Engelhard. Hg. v. Ingo Reiffenstein. 3., neubearbeitete Auflage der Ausgabe von Paul Gereke. Tübingen 1982, S. 2-3: Ein ma e re were gut gelesen / Dz treuwe neuwe mochte wesen / Die liechten Kleider leider blindt / Durch falschen Orden worden sind / 5 Auß wunniglicher wette / Die sie vor zeiten hette / Gezogen ist die stette / Durch falscher Leute rede / Jr farbe grauwe seuberlich / Von schwachen sachen tru e bet sich / Jr lob kam vbertru e ben glast / Sie wil auff Erden werden Gast / 5 Jr roselechten Wangen / Mit bleiche sind befangen / Wen sol nach jr verlangen / Jr scho e ne ist sehre zergangen / Ein mære wære guot gelesen, daz Triuwe niuwe möhte wesen. ir liehten kleider leider blint durch valschen orden worden sint. ûz wünneclicher wæte, die si vor zîten hæte, gezogen ist diu stæte durch valscher liute ræte. ir varwe garwe siuberlich von swachen sachen trüebet sich. ir lop kan üeben trüeben glast: si wil ûf erden werden gast. ir rœselehten wangen mit bleiche sint bevangen. wen sol nâch ir belangen? ir schœne ist gar zergangen. Es wäre gut, wenn man eine Geschichte darüber erzählen könnte, dass die Treue modern wäre. Ihre strahlenden Gewänder sind leider wegen der herrschenden Untreue glanzlos geworden. Die herrliche Kleidung, die sie früher hatte, verlor die Beständige wegen untreuer Menschen. Ihre vollkommen reine Schönheit wird durch Schlechtigkeit trüb. Ihr Ansehen hat einen trüben Glanz: Sie wird zum Fremdling auf der Erde. Ihre rosenfarbenen Wangen sind von Fahlheit ergriffen. Wen soll es nach ihr verlangen? Ihre Schönheit ist ganz verloren. Obwohl es nur einen einzigen Überlieferungsträger gibt, unterscheidet sich der edierte Text erheblich von seiner Grundlage. Die Ursache dafür ist der große zeitliche Abstand zwischen der Zeit der Textproduktion und der der Textüberlieferung. Der Herausgeber hat Folgendes geändert: 1. Der ganze Text ist aus dem Frühneuhochdeutschen, der Sprache des Drucks, in den Lautstand des Mittelhochdeutschen, der Sprache Konrads, zurückübersetzt. Das ist möglich, weil die regelhaften sprachgeschichtlichen Veränderungen bekannt sind. Wo man beispielsweise im 16. Jahrhundert gut sagte, hieß es im 13. guot (Vers 1). 2. Höfische Dichtung des späteren 12. und 13. Jahrhunderts wird in den Ausgaben gewöhnlich in einer vereinheitlichten Editorische Eingriffe Historischer Lautstand Normalisierte Schreibung <?page no="166"?> 158 HAND S C H R I F T E N, D RU C K E , E DITION E N Schreibweise wiedergegeben, dem normalisierten Mittelhochdeutsch. Die Handschriften selbst verwenden diese normalisierte Schreibung nicht; sie ist eine Konvention, die in der Editionsphilologie des 19. Jahrhunderts entwickelt wurde. Die Normalisierung soll einerseits die Lesbarkeit verbessern und andererseits deutlich machen, dass die höfischen Dichter einen überregionalen Sprachstandard anstrebten (vgl. S. 22). In Vers 1 ist beispielsweise die Schreibung von were zu wære verändert: Auch im Druck steht das e in were für ein langes ä, das im normalisierten Mittelhochdeutsch einheitlich mit æ bezeichnet wird. Großbuchstaben sind zugunsten einer durchgängigen Kleinschreibung beseitigt; nur die triuwe in Vers 2 hat eine Majuskel (einen großen Anfangsbuchstaben) erhalten, um die Personifikation anzuzeigen. Die Abkürzung Dz ist zu daz aufgelöst (Vers 2). Im ganzen Text sind moderne Interpunktionszeichen eingefügt, um das Verständnis zu erleichtern. Der Druck markiert mit der Virgel (Schrägstrich, der frühneuhochdeutsche Vorläufer des modernen Kommas) nicht syntaktische Einheiten, sondern die Versgrenzen; die Handschriften zu Konrads Zeit kannten, wenn überhaupt, nur eine sehr sparsame Interpunktion. 3. An vielen Stellen hat der Herausgeber den Text über die Rekonstruktion des alten Lautstands und die Vereinheitlichung der Schreibweise hinaus verändert. Weitergehende Eingriffe heißen ›Konjekturen‹ (Besserungen; conjectura bedeutet wörtlich ›Vermutung‹). Sie beruhen immer auf der Annahme, dass der Verfasser an den betreffenden Stellen einen anderen Wortlaut produziert haben muss als den überlieferten. So enthalten beispielsweise alle Strophen der ›Engelhard‹-Vorrede in den ersten vier Versen regelmäßig einen Schlagreim (mære : wære, triuwe : niuwe, kleider : leider, orden : worden). Im ersten Vers der zweiten Strophe ist der Reim im überlieferten Text jedoch gestört (farbe : grauwe). Die Konjektur im edierten Text unterstellt, dass Konrads Formulierung anders lautete: Auf das mittelhochdeutsche Wort varwe (statt frühneuhochdeutsch farbe) könnte sich das mittelhochdeutsche Wort garwe (›ganz und gar‹, im Druck steht frühneuhochdeutsch grauwe für ›grau‹) gereimt haben. Der Drucker scheint seine Vorlage entweder falsch gelesen oder das alte Wort nicht richtig verstanden zu haben. Der ›Engelhard‹ ist ein Beispiel für das Dilemma, vor dem Herausgeber und Leser älterer Texte stehen, wenn zwischen Pro- Konjektur <?page no="167"?> 159 duktion und Überlieferung ein großer Abstand liegt. Es besteht in der Wahl zwischen einem sicheren, tatsächlich überlieferten Text, der ziemlich weit von seinem ursprünglichen geschichtlichen Vorbild entfernt ist, und einem mit dem Blick auf das ursprüngliche geschichtliche Umfeld rekonstruierten, aber weniger sicheren Text. Auf der einen Seite wäre es am ehrlichsten, überlieferte Texte nicht zu verändern: Wenn ein Text aus dem 13. Jahrhundert nur in Gestalt eines Drucks aus dem 16. existiert, ist die ursprüngliche Gestalt eben verloren. Auf der anderen Seite ermöglichen es die sprach- und literaturgeschichtlichen Wissensbestände in diesem Fall, eine Vorstellung von dem Text zu entwickeln, den Konrad gedichtet hat. Sie kann zwar keine Sicherheit beanspruchen, aber eine kontrollierbare Wahrscheinlichkeit. Wegen der vielen anderen (und erheblich besser überlieferten) Werke Konrads ist sein Sprachgebrauch nämlich recht gut bekannt. Die Rekonstruktion des Herausgebers hat einen hypothetischen Charakter, aber keinen spekulativen. Ordentliche Editionen verschaffen ihren Lesern stets Klarheit darüber, wie sich der edierte Text zum überlieferten verhält. Im Fall der ›Engelhard‹-Ausgabe sind die sprachgeschichtliche Anpassung und die Vereinheitlichung der Schreibweise in der Einleitung erläutert; jede einzelne Konjektur ist in einem textkritischen Apparat unter dem edierten Text angezeigt. Dort steht dann jeweils der Wortlaut des Drucks. Mehrfach überlieferte Texte stellen Herausgeber vor Probleme, wenn die Edition alle erhaltenen Überlieferungsträger berücksichtigen soll. Schon der einfache Fall eines in nur wenigen Handschriften relativ ähnlich überlieferten Textes kann unterschiedliche Optionen eröffnen, die Entscheidungen erfordern. Ein Beispiel dafür ist der in Kapitel 1 erwähnte Sangspruch Walthers von der Vogelweide, dessen Inhalt in Kapitel 8 noch genauer behandelt wird. Die beiden jüngsten, 1996 und 2013 erschienen Auflagen der Ausgabe, nach der die Texte Walthers in germanistischen Arbeiten üblicherweise zitiert werden, bieten davon nämlich unterschiedliche Editionen. Die erste Auflage dieser Ausgabe, die Karl Lachmann 1827 veröffentlichte, gehört übrigens zu den frühesten, Maßstäbe setzenden wissenschaftlichen Editionen der germanistischen Fachgeschichte. Die Strophe ist in drei Handschriften überliefert, und zwar immer als erste einer dreistrophigen Sangspruchreihe. Die drei Strophen sind durch ein Textkritischer Apparat Editorische Herausforderungen Walther von der Vogelweide: ›Ich saz ûf eime steine‹ E DITION E N <?page no="168"?> 160 HAND S C H R I F T E N, D RU C K E , E DITION E N gemeinsames Thema und durch eine auffällige Formulierungsübereinstimmung zwischen den jeweils ersten Versen verbunden (›Ich saz ûf eime steine‹ - ›Ich hôrte diu wazzer diezen‹ - ›Ich sach mit mînen ougen‹). Die Auflage von 1996 gibt nach der Überschrift ›Reichston‹ - den Titel erhielten die drei Strophen erst im 19. Jahrhundert - an, in welchen Handschriften der Text überliefert ist. Sie werden in Kurzform mit Buchstaben bezeichnet. Über die Bedeutung dieser Siglen informiert die Einleitung: A ist die um 1270 im Elsass angefertigte ›Kleine Heidelberger Liederhandschrift‹, B die zu Beginn des 14. Jahrhunderts im Bodenseeraum entstandene ›Weingartner Liederhandschrift‹, C die oben vorgestellte, zwischen 1300 und 1340 in Zürich produzierte ›Große Heidelberger‹ oder ›Manessische Liederhandschrift‹. Alle drei Handschriften sind wichtige Überlieferungsträger der mittelhochdeutschen höfischen Lyrik. Der Abstand zwischen den Überlieferungszeugen und der Entstehung der Strophe (wahrscheinlich zwischen 1197 und 1201) ist geringer als beim ›Engelhard‹, aber immer noch beträchtlich. Die Zahlen hinter den Handschriftensiglen bedeuten, dass diese und die beiden weiteren Strophen in der Handschrift A in der Reihenfolge eingetragen sind, in der sie in der Ausgabe stehen. In den Handschriften B und C erscheinen die Strophen 2 und 3 in umgekehrter Reihenfolge. Die Handschrift A dient als Leithandschrift, das heißt als Grundlage für den edierten Text. Das Prinzip, bei mehrfach überlieferten Texten eine bestimmte Handschrift als Leithandschrift zur Basis der Edition zu machen, ist heute weit verbreitet. Die Gründe für die Wahl der Leithandschrift sind von Fall zu Fall unterschiedlich, so dass man die Einleitung der jeweiligen Ausgabe zu Rate ziehen muss. Was den edierten Text selbst anbelangt, so informiert die Einleitung der Ausgabe darüber, dass die Schreibweise gegenüber den Handschriften vereinheitlicht wurde; Abkürzungen sind aufgelöst, Interpunktionszeichen eingefügt. Weitergehende Änderungen gibt es bei dieser Strophe nicht. Die Texte der Handschriften bieten hier nämlich einerseits keinen konkreten Anlass, der Qualität der Überlieferung zu misstrauen. Andererseits gäbe es gar keine kontrollierbare Möglichkeit, die Gestalt des Textes zu rekonstruieren, den Walther von der Vogelweide produziert hat. Deshalb bleibt der edierte Text hier nahe an dem der Leithandschrift A. Siglen Strophenfolge Leithandschrift Edierter Text <?page no="169"?> 161 E DITION E N Walther von der Vogelweide: Leich, Lieder, Sangsprüche. 14. Aufl. hg. v. Christoph Cormeau. Berlin, New York 1996, S. 11: <?page no="170"?> 162 HAND S C H R I F T E N, D RU C K E , E DITION E N Im textkritischen Apparat unter dem ersten Strich nach dem edierten Text erfährt man zunächst, dass die Übereinstimmungen der Handschriftentexte von B und C bei diesem Lied (wie in weiteren Fällen) so groß sind, dass mit einer gemeinsamen, aber nicht erhaltenen handschriftlichen Vorlage von B und C zu rechnen ist. Solche erschlossenen Vorstufen der tatsächlich erhaltenen Überlieferungsträger bekommen gewöhnlich eine Sigle, die aus einem Stern und den Siglen der betreffenden erhaltenen Überlieferungsträger besteht. *BC bedeutet also: die verlorene Quelle, aus der der Text dieser Strophe in B und C stammt. Die Zeile darunter gibt an, an welcher Stelle der Autorsammlungen in den Handschriften die Strophe jeweils steht: In A ist es die 43., in B die 18. und in C die erste Strophe im Liederkorpus Walthers von der Vogelweide. (In C steht davor allerdings noch Walthers ›Marienleich‹, ein nicht-strophisches religiöses Lied; das erfährt man an dieser Stelle nicht.) Von der dritten Zeile bis zum zweiten Strich sind dann die Varianten aufgelistet, das heißt die Unterschiede zwischen dem Wortlaut der Leithandschrift A und dem der anderen beiden Handschriften. Dass B und C sich in fast allen Fällen auf dieselbe Weise von A unterscheiden, ist übrigens der Grund für die Annahme, dass sie dieselbe Quelle haben müssen. Ebenfalls unter dem ersten Strich ist die einzige Konjektur des Herausgebers vermerkt, die aber nur der Verbesserung eines Schreibfehlers in der Leithandschrift dient: In Vers 17 hat der Schreiber von A ein l in weltliche vergessen. Im edierten Text selbst weist der Kursivdruck auf die Besserung hin. Textkritischer Apparat Erschlossene Vorstufen Textposition in den Handschriften Varianten Markierung von Konjekturen durch Kursivdruck Ich saß auf einem Stein und schlug ein Bein über das andere. Darauf stützte ich den Ellenbogen. Mein Kinn und eine meiner Wangen hatte ich in meine Hand geschmiegt. Da überlegte ich voller Sorge, wofür man auf der Welt leben sollte. Keinen Rat konnte ich geben, wie man drei Dinge bekommen könnte, ohne dass eines davon verloren ginge. Die ersten beiden sind Ansehen und Besitz, die einander gegenseitig oft Schaden zufügen. Das dritte ist das Wohlwollen Gottes, das mehr wert ist als die beiden. Alle drei hätte ich gern zusammen in einem Gefäß. Aber leider ist es nicht möglich, dass Besitz und irdisches Ansehen und dazu noch Gottes Wohlwollen in einem Herzen zusammenkommen. Stege und Wege sind ihnen versperrt, Untreue liegt im Hinterhalt, Gewalt herrscht auf der Straße. Friede und Recht sind schwer verwundet. Die drei können nicht sicher reisen, wenn die zwei nicht vorher gesund werden. <?page no="171"?> 163 Im textkritischen Apparat stehen bei der Edition mehrfach überlieferter Texte also nicht nur die Abweichungen des edierten Texts von der Leithandschrift, sondern auch die Unterschiede zwischen der Leithandschrift und allen anderen Handschriften. Deshalb kann man als Leser mit Hilfe des Apparats die gesamte Überlieferungsvarianz verfolgen, auch wenn das in der Regel etwas mühselig ist. Bei Kursivierungen im edierten Text sollte man immer ›nach unten‹ schauen, weil sie Konjekturen anzeigen. Unter dem zweiten Strich steht ein editionsgeschichtlicher Apparat, der Unterschiede zwischen dem edierten Text dieser und älterer Auflagen der Walther-Ausgabe verzeichnet. Die Abkürzungen sind Siglen für die Namen älterer Herausgeber (z. B. La für Lachmann). Ein editionsgeschichtlicher Apparat ist vor allem für Experten von Interesse; in diesem Fall zeigt er auf den ersten Blick, dass es nur sehr wenige und durchweg sehr geringfügige Unterschiede zwischen der Edition der Strophe in dieser Auflage und in den älteren Auflagen der Ausgabe gibt. Das bedeutet, dass alle Auflagen von 1827 bis 1996 die Strophe im Wesentlichen so bieten, wie sie in der Handschrift A überliefert ist. Mit dieser langen editionsgeschichtlichen Tradition bricht die 2013 erschienene Auflage. Die Siglen-Zeilen zwischen Überschrift und ediertem Text enthalten zwei Informationen: Alle drei Strophen des ›Reichstons‹ sind nach B ediert, und wegen der Übereinstimmungen zwischen B und C entspricht der edierte Text dem der nicht erhaltenen gemeinsamen Vorlage *BC. Seine Entscheidung begründet der Herausgeber in einem textkritischen Kommentar am Ende der Ausgabe - einen solchen gibt es in der Auflage von 1996 nicht - mit »einer Abwägung der handschriftlichen Defekte. Es sei aber ausdrücklich darauf hingewiesen, dass die Edition nach A ebenfalls einiges für sich hat« (S. 570). Da A nicht mehr als Leithandschrift dient, sind im textkritischen Apparat nun die Varianten von A gegenüber B und C verzeichnet. Einen editionskritischen Apparat gibt es in der Auflage von 2013 nicht mehr. Die Unterschiede zwischen dem Text nach A und dem Text nach *BC machen auf den ersten Blick einen ziemlich geringfügigen Eindruck. In vier Versen sind sie jedoch nicht ganz marginal. Als Versifikationsprinzip ist in den Texten aller drei Handschriften die regelmäßige Alternation von Hebung und Senkung erkennbar (vgl. dazu Kapitel 7); in A gilt das auch für die Verse 8, 12, 19 und Editionsgeschichtlicher Apparat Neuerungen der Auflage von 2013 Unterschiede der Fassungen E DITION E N <?page no="172"?> 164 HAND S C H R I F T E N, D RU C K E , E DITION E N Walther von der Vogelweide: Leich, Lieder Sangsprüche. 15. Aufl. hg. von Thomas Bein. Berlin, New York 2013, S. 12. 2 Reichston A: I III II BC: I - III Text nach *BC auf der Basis von B I Ich saz uˆ f einem steine 8,4 do doˆ do dahte ich bein mit beine. dar uˆ f sazte ich mı ˆn ellebogen, ich hete in mı ˆne hant gesmogen 5 daz kinne und ein mı ˆn wange. do doˆ do da daˆ dahte ich mir vil ange, wie man zer welte solte leben. deheinen raˆt kunde ich mir gegeben, wie man driu dinc erwurbe, 10 der deheinez niht verdurbe. diu zwei sint eˆre unde varnde guot, der ietweders dem andern schaden tuot. daz dritte ist gotes hulde, der zweier übergulde. 15 die wolte wolte w ich gerne in einen schrı ˆ schrı ˆ schrın, jaˆ jaˆ ja leider des mac niht gesı ˆn, daz guot und weltlich e h eˆ h ere und gotes hulde meˆre in einen schrı ˆ schrı ˆ schrın mügen komen. 20 stı ˆge und wege sint in genomen: untriuwe ist in der saˆze, gewalt ist uˆ f der straˆ straˆ straze, fride und reht sint beide wunt. diu driu habent geleites niht, diu zwei werden eˆ gesunt. II 2 Diesen und die folgenden Töne bis 7 überliefer überliefer überlief n B ern B er und C aufgrund aufgrund aufgr einer gemeinsamen Quelle *BC. I 43 A, 18 B, 1 C B, 1 C B . , 1 C. , 1 C 2 vn¯ dahte bein mit beine A. 3 mı ˆn] den A. 5 daz] min A. 7 wie] wes A. 8 mir] fehlt A. 12 dc dicke ein ander A. 16 des enmac niht sin A. 17 weltiche A. 19 zesame in ein h v ze komen A. 22 ist] vert A. 23 beide] sere A. 24 enhabent A. en werden A, werdent C. C. C <?page no="173"?> 165 25, während diese Verse in B und C nicht regelmäßig alternieren. In Vers 19 gibt es außerdem einen sinnrelevanten Unterschied im Wortlaut: In A können guot, êre und gottes hulde nicht zusammen in ein herze, in B und C nicht zusammen in einen schrîn (Kiste, Truhe) kommen. Der schrîn wird in beiden Fassungen schon in Vers 15 erwähnt. Die Formulierung von Vers 19 in A legt nachträglich offen, dass es sich dabei um eine Metapher für das Herz handelt, während die Formulierung von Vers 19 in B und C das Wort schrîn wiederholt und deshalb nicht erklärt, was damit eigentlich gemeint ist; es lässt sich auch nicht einfach aus dem Kontext erschließen. Der A-Text ist glatter versifiziert und einer wichtigen Stelle klarer formuliert ist als der Text von B und C; das war einer der Gründe dafür, weshalb sich die Herausgeber von 1827 bis 1996 für ihn entschieden haben. Sowohl die in der Handschrift A als auch die in den Handschriften B und C aufgezeichnete Fassung der drei Strophen existierten jedoch offensichtlich im späteren 13. Jahrhundert so, wie sie in den Handschriften stehen. Ob die Unterschiede im Verlauf der Überlieferung entstanden sind oder ob sie womöglich darauf zurückgehen, dass Walther selbst die Strophen nicht immer im selben Wortlaut vorgetragen hat, lässt sich nicht mehr klären. Man muss sich deshalb stets im Klaren darüber sein, dass in keiner wissenschaftlichen Walther-Ausgabe diejenigen Texte stehen können, die Walther gedichtet und vorgetragen hat, sondern prinzipiell nur Produkte eines Überlieferungsprozesses. Das bedeutet allerdings nicht, dass die überlieferten Texte dichtungstechnisch einfach gleichwertig wären. Texte lassen sich umso besser nach dem Leithandschriftenprinzip edieren, je geringere Unterschiede zwischen den einzelnen Überlieferungsträgern bestehen. Je mehr und je größere Varianten es gibt, umso unübersichtlicher wird der textkritische Apparat. Manchmal erweist es sich dann als vorteilhafter, die einzelnen Fassungen als solche zu edieren. Vom ›Nibelungenlied‹ beispielsweise existieren sowohl Ausgaben einzelner Fassungen als auch eine Ausgabe, in der die drei ältesten Fassungen in Spalten nebeneinander stehen. Bei Minneliedern schwanken Wortlaut, Strophenbestand und Strophenfolge in manchen Fällen ebenfalls so beträchtlich, dass in Minnesangausgaben gelegentlich mehrere Fassungen eines Lieds nebeneinander stehen. Ursachen der Varianten Edition mehrerer Fassungen E DITION E N <?page no="174"?> 166 HAND S C H R I F T E N, D RU C K E , E DITION E N Wie jeder einzelne überlieferte Text vom Herausgeber eine eigene editionsphilologische Behandlung fordert, so fordert auch jeder edierte Text von den Lesern die Bereitschaft, sich darüber Klarheit zu verschaffen, auf welcher Überlieferungslage er beruht und in welchem Verhältnis er zur tatsächlichen Überlieferung steht. Das ist ein bisschen umständlich, aber die Überlieferungsbedingungen der älteren deutschen Literatur machen es nötig. Wer sich mit ihnen auseinandersetzt, lernt dabei immerhin allerhand über die Geschichte der älteren Literatur. <?page no="175"?> 167 Verse und Strophen Die Bedeutung der Verse Der gelehrte Dichtungsbegriff aus dem antiken Erbe und die mündliche Tradition des Lieds trafen sich beim Vers. (vgl. Kapitel 4.3). Viele Dichter verwandten erhebliche Mühe auf das Versifizieren, und den Rezipienten darf man ohne Spekulation eine ausgeprägte Wahrnehmungsfähigkeit für die Lautgestalt versifizierter Rede unterstellen. Wer sich heute mit der Geschichte der Vers- und Strophenformen beschäftigt, tut das, um eine der wichtigsten Kompetenzen der historischen Produzenten und Rezipienten poetischer Texte erfassen zu können. Ohne Wahrnehmungsfähigkeit für die Versifikation bleibt man taub für eine wesentliche Eigenschaft älterer Dichtung. In diesem Kapitel geht es deshalb zum einen um die Frage, welche Leistungen Verse erbringen und wie sie zustande kommen, zum anderen um einen Überblick über die wichtigsten Vers- und Strophenformen der älteren deutschen Dichtung. Funktionen von Versen Verse sind in allen Kulturen als sprachlicher Bestandteil des musikalisch-sprachlichen Phänomens Lied ein Produkt des Gesangs und damit der Mündlichkeit. Die lateinische Sprache hat diesen ursprünglichen Zusammenhang im Wort carmen (Gesang, Lied) bewahrt, das in Antike, Mittelalter und früher Neuzeit jeden versifizierten Text bezeichnen konnte, auch wenn er nicht für den gesungenen Vortrag, sondern für den Sprechvortrag oder zum Lesen bestimmt war. Selbst beim Lesegedicht bleibt der Vers jedoch bis heute eine Klangstruktur, die erst beim lauten Lesen tatsächlich wahrnehmbar wird. Kapitel 7 1. Vers und Dichtung a. Vers, Mündlichkeit, Gesang <?page no="176"?> 168 V E R S E UND S T R O P H E N Die Funktionen von Versen hängen davon ab, welche Rolle Mündlichkeit und Schriftlichkeit bei Textproduktion und -rezeption spielen (vgl. S. 40). Solange Texte nicht schriftlich produziert und nicht aufgezeichnet, sondern ausschließlich mündlich überliefert werden, hat der Vers erstens eine Gedächtnisfunktion: Verse merkt man sich leichter als ungebundene Rede. Zweitens hat der Vers in der mündlichen Kultur die Funktion, einem Text Wert zuzuweisen und dadurch seine Überlieferung zu sichern: Die besondere Gestaltung der Rede signalisiert, dass man es nicht mit etwas Alltäglichem, sondern mit etwas Außerordentlichem und Erinnerungswürdigem zu tun hat. Wenn Verse schiftlich produziert, aber mündlich vorgetragen werden, geht die Gedächtnisfunktion nicht unbedingt verloren. Neben der Möglichkeit, Texte schriftlich zu speichern, kann die mündliche Überlieferung und die persönliche Erinnerung weiterhin von Bedeutung sein. Die Verbindung von Text und Musik ist dafür besonders förderlich; noch heute kennen die meisten Menschen Lieder auswendig. Bei langen und nicht gesungenen Texten freilich übernimmt die Schrift die Speicherleistung. Auch die Funktion, den Text durch die Verssprache auszuzeichnen, gibt es bei produktionsseitiger Schriftlichkeit. Die Neigung des gelehrten Dichtungsbegriffs, den Vers zum eigentlichen Dichtungskriterium zu machen, beruht darauf. Allerdings muss der Vers in der Schriftkultur mit ihren großen Speicherkapazitäten nicht mehr für die Überlieferungswürdigkeit sorgen. Deshalb wird der Vers in der Schriftdichtung zum Kunstsignal: Er zeigt nicht an, dass ein Inhalt besonders überlieferungswürdig, sondern dass ein Text besonders kunstvoll gemacht ist. (Die kunstvolle Form kann dann seine Überlieferungswürdigkeit stärken.) Der Vers dient nicht dazu, den Textinhalt in der gemeinschaftlichen Erinnerung zu halten, sondern dazu, das Interesse auf die Gestaltung des Textes zu lenken. Drittens ist es bei produktionsseitiger Schriftlichkeit leichter als bei produktionsseitiger Mündlichkeit möglich, die Versstruktur und die syntaktisch-thematische Struktur des Textes unabhängig voneinander zu gestalten. Wer Texte schriftlich herstellt, kann den Vers gezielt über die Satzgrenze weiterlaufen lassen, die Versgrenze mitten in den Satz legen oder Vers- und Satzgrenzen absichtlich synchronisieren, weil die Schrift die dafür nötige Übersicht zur Verfügung stellt. Erst dadurch wird der Vers zu einem eigenstän- Produktionsseitige Mündlichkeit Gedächtnis Wertzuweisung Produktionsseitige Schriftlichkeit Gedächtnis Kunstsignal Gestaltungsinstrument <?page no="177"?> 169 digen Gestaltungsinstrument, das die syntaktisch-thematische Struktur planmäßig unterstützen oder in ein Spannungsverhältnis zu ihr treten kann. Der Vers wurde umso verzichtbarer, je weiter sich die Dichtung vom musikalischen Vortrag löste und je weiter die rezeptionsseitige Schriftlichkeit, vor allem in Gestalt des einsamen leisen Lesens, vordrang. Die längeren und kürzeren Typen der volkssprachlichen Erzählliteratur kamen seit dem Siegeszug der Prosaromane und kürzeren Prosa-Erzählungen (vgl. Kap. 4.5) sehr gut ohne Versifikation aus. Zäher hat sich der Vers in der Lyrik gehalten, obwohl es nach dem antiken Vorbild in Mittelalter und früher Neuzeit immer lateinische Leselyrik gab. Gerade hier regierte der gelehrte Dichtungsbegriff aber eisern. In den Volkssprachen bedeutete Lyrik lange Zeit grundsätzlich ›Lied‹; die Bindung an die Musik sicherte Vers und Strophe. Die erste volkssprachliche Leselyrik in der strophischen Form der Liedlyrik entstand auf Italienisch vielleicht schon im 13., spätestens vom 14. Jahrhundert an. Auf Deutsch gab es jedoch bis in die zweite Hälfte des 16. Jahrhunderts keine strophischen Lesegedichte, sondern nur Liedtexte; erst dann beginnt die Geschichte der deutschen Leselyrik. Dass die volkssprachliche Leselyrik beim Vers blieb, liegt einerseits am Einfluss des lateinischen Vorbilds und damit am gelehrten Dichtungsbegriff, andererseits daran, dass man sich der Abstammung des Lesegedichts vom Liedtext immer bewusst war. Im Lied schließlich haben sich Vers und Strophe bis heute gehalten: Wo Texte gesungen und angehört werden, herrschen sie unangefochten wie eh und je. Was sind Verse und Strophen? Verse sind eine auf besondere Weise gestaltete und deshalb herausgehobene Form der Rede. Was sie über das gewöhnliche Maß hinaus regeln, ist die Lautgestalt der Rede. Auf welche Weise dies geschieht, unterscheidet sich je nach Sprache. In den germanischen Sprachen beruht die Versifikation auf der Festlegung der Anzahl von Hebungen pro Vers. Bei zweisilbigen Wörtern müssen Hebungen auf der Silbe mit dem Wortakzent liegen (láu-fen, nicht lau-fén), bei drei- und mehrsilbigen Wörtern Rezeptionsseitige Schriftlichkeit b. Regelung der Lautgestalt Akzentuierende Verse DI E B E D E U T UNG D E R V E R S E <?page no="178"?> 170 V E R S E UND S T R O P H E N können weitere Hebungen auf schwächer akzentuierten Silben liegen (schléch-tes-té). Wegen der Abhängigkeit vom Wortakzent heißt dieses Versifikationsprinzip ›akzentuierend‹. In den romanischen Sprachen besteht das Versifikationsprinzip darin, die Anzahl von Silben pro Vers festzulegen, und heißt deshalb ›silbenzählend‹. In altfranzösischen höfischen Romanen beispielsweise haben alle Verse mit einsilbigem (›männlichem‹) Reim acht Silben, alle mit zweisilbigem (›weiblichem‹) Reim neun. In der antiken griechischen und lateinischen Dichtung regelte die Versifikation die Abfolge langer und kurzer Silben. Als lang wahrgenommen wurden von Griechen und Römern Silben mit einem langen Vokal oder einem Diphthong sowie Kurzvokalsilben, die auf einen Konsonanten enden. Bestimmte Abfolgemuster von langen und kurzen Silben ergeben ein Metrum (Versfuß), bestimmte Abfolgemuster von Metren ein Versmaß. Metren sind beispielsweise der Daktylus (lang-kurz-kurz, ̄ ̆ ̆ ) oder der Spondeus (lang-lang, ̄ ̄ ). Zu den Versmaßen gehört unter anderem der Hexameter, der aus sechs Daktylen oder Spondeen besteht; das vorletzte Metrum muss ein Daktylus, das letzte ein verkürzter Daktylus ( ̄ ̆ ) oder ein Spondeus sein. Weil der Vers nach Silbenquantitäten (Länge oder Kürze) ›gemessen‹ wird, heißt das Versifikationsprinzip ›quantitierend‹ oder ›metrisch‹. Im Hexameter »Aut prodesse volunt aut delectare poetae« (»Entweder nützen oder erfreuen wollen die Dichter«) aus der ›Ars poetica‹ von Horaz (vgl. S. 78) ist die Abfolge Spondeus - Daktylus - Spondeus - Spondeus - Daktylus - Spondeus. Wortgrenzen spielen beim ›Messen‹ der Versfüße keine Rolle: Silbenzählende Verse Quantitierende Verse ¯ aut pr ¯ od- | ¯ es-s˘ e v ˘ o- | l¯¯ unt ¯ aut | d¯ e-l¯ ec- | t¯ a-r˘ e p ˘ o- | ¯ e-t¯ ae Deutsche Muttersprachler neigen generell dazu, quantitierende Verse akzentuierend zu lesen (»Áut prodésse volúnt aut délectáre poétae«). Man kann sich jedoch zum Quantitieren zwingen, indem man den Vers wie ein Rezitativ mit Viertel- und Achtelnoten auffasst. Die Versifikationsprinzipien lassen sich nur innerhalb bestimmter Grenzen, die auf den phonologischen Sprachkompetenzen beruhen, von einer Sprache auf eine andere übertragen. Akzentuierende Verse sind automatisch auch silbenzählend, wenn zusätzlich zur Anzahl der Hebungen die der Senkungen pro Vers Übertragung von Versmaßen zwischen Sprachen <?page no="179"?> 171 festgelegt wird. Die Verse mittelhochdeutscher höfischer Romane beispielsweise bestehen genauso wie altfranzösische aus acht oder neun Silben, wenn sie bei männlichem Reim vier Hebungen und vier Senkungen, bei weiblichem Reim vier Hebungen und fünf Senkungen haben. Das ändert aber nichts daran, dass sie in erster Linie dem Akzentuierungsprinzip mit seiner Bindung an den Wortakzent folgen. Silbenzählende Verse, die nicht zugleich akzentuierend sind, gab es auf Deutsch im 15. und 16. Jahrhundert (vgl. unten Abschnitt 4.b). Martin Opitz hat diese Art der Versifikation im 1624 erschienenen ›Buch von der deutschen Poeterey‹ als Missachtung des Akzentuierungsprinzips bekämpft, weshalb sie im 17. Jahrhundert aufgegeben wurde. Wer quantitierende antike Versmaße - etwa den Hexameter - auf Deutsch in quantitierender Versifikation nachmachen will, muss nach dem Vorbild der antiken Versfüße Silbenlängen messen. Versuche dieser Art gab es erst seit dem 18. Jahrhundert. Sie erfordern stets Kompromisse, weil sie sich nur schwer mit den deutschen Silben- und Akzentstrukturen vereinbaren lassen; Beispiele finden sich etwa in den Homer-Übersetzungen von Johann Heinrich Voß: R ¯ uht, ¯ ıhr | ¯ I-th˘ a-k˘ er, | r ¯ uht v ¯ om | ¯ un-gl ¯ ück- | s¯ e-l˘ ı-g˘ en | Kr¯ ıe-g˘ e Das Quantifizieren hat sich in der deutschen Versgeschichte nicht durchgesetzt: Anders als den Unterschied zwischen stark und schwach akzentuierten Silben nehmen deutsche Muttersprachler denjenigen zwischen langen und kurzen Silben nicht wahr, weil er kein Bestandteil ihrer phonologischen Sprachkompetenz ist. Das auf der Sprachkompetenz beruhende Wahrnehmungsvermögen ist die Grundlage der Versifikationsprinzipien und damit eine Grenze für ihre Übertragbarkeit auf andere Sprachen. Deshalb wird das quantitierende Versifikationsprinzip beim Nachmachen antiker Versmaße auf Deutsch in aller Regel durch das alternierende ersetzt, so dass anstelle von Längen und Kürzen Hebungen und Senkungen aufeinander folgen. Aus dem Daktylus wird dann die Abfolge Hebung - Senkung - Senkung, aus dem Spondeus die Abfolge Hebung - Senkung: Ént-we-der n ’ ü-tzen ó-der er-fréu-en wól-len die Dích-ter DI E B E D E U T UNG D E R V E R S E <?page no="180"?> 172 V E R S E UND S T R O P H E N Während es in der antiken lateinischen Dichtung ausschließlich quantitierende Verse gab, wurden im Mittelalter außer quantitierenden auch akzentuierende lateinische Verse gedichtet; erstere nannte man ›metrisch‹, letztere ›rhythmisch‹. Rhythmische lateinische Verse beruhen auf dem lateinischen Wortakzent und zählen Hebungen; die Silbenlängen spielen dabei keine Rolle: Akzentuierende lateinische Verse Mé-um ést pro-pó-si-túm-----ín ta-bér-na mó-ri (Mein Wunsch ist es, im Wirtshaus zu sterben) Wo ein Vers anfängt und aufhört, sieht man beim Lesen und bei entsprechender Texteinrichtung am Zeilenumbruch. Bei mündlicher Rezeption kann man den Vers als Gestalteinheit nur hören. Was ihn in der gesamten älteren deutschen Literaturgeschichte zu einer hörbaren Gestalt machte, war der Reim. Aus dem frühen Mittelalter sind noch Stabreimdichtungen erhalten. Der Stabreimvers kommt dadurch zustande, dass einige Hebungssilben des Verses den gleichen Anlaut haben. Bereits im 9. Jahrhundert wurde der bis heute benutzte Endreim eingeführt. Der Endreimvers kommt dadurch zustande, dass zwischen dem Versende und einem anderen Versende ein Gleichklang besteht. Der Endreim macht auf diese Weise das Versende hörbar. Strophen sind ursprünglich eine Gestalteinheit, die durch die Verbindung von Musik und Sprache entsteht: Eine Strophe ist eigentlich eine Versgruppe, die auf eine bestimmte Melodie gesungen wird. Damit mehrere Strophen eines Lieds auf dieselbe Melodie gesungen werden können, müssen alle Strophen dieselbe Anzahl von Versen haben und alle Verse einer Strophe müssen genauso lang sein wie die entsprechenden Verse in den anderen Strophen. Unter den zahlreichen Möglichkeiten, Verse und Strophen zu bauen, erlangten einige in der älteren deutschen Literaturgeschichte besondere Geltung - teils weil sie mit prominenten Texten verbunden sind, teils weil sie beliebt und deshalb weit verbreitet waren. Einige der wichtigsten werden nun vorgestellt. Reim Stabreim Endreim Strophe <?page no="181"?> 173 Versformen im frühen Mittelalter Stabreimvers Der Stabreimvers begegnet in der deutschen Literatur vor allem in frühmittelalterlichen Heldenlied-Verschriftlichungen. Er war offenbar in der germanischen Welt verbreitet, denn es gibt ihn in schriftlichen Zeugnissen althochdeutscher und altniederdeutscher, altenglischer und altnordischer Heldenlieder. Die Beispielverse stammen aus der Passage des ›Hildebrandslieds‹, in der der Vater erkennt, dass der Kampf gegen den Sohn nicht zu verhindern ist (vgl. S. 107): 2. a. ›Hildebrandslied‹. In: Frühe deutsche Literatur und lateinische Literatur in Deutschland 800-1150. Hg. v. Walter Haug u. Benedikt Konrad Vollmann. Frankfurt a.M. 1991, V. 49-57: welaga nu, waltant got, quad Hiltibrant, wewurt skihit. ih wallota sumaro enti wintro sehstic ur lante, dar man mih eo scerita in folc sceotantero; so man mir at burc enigeru banun ni gifasta. nu scal mih suasat chind suertu hauwan, breton mit sinu billiu, eddo ih imo ti banin werdan. doh maht du nu aodlihho, ibu dir din ellen taoc, in sus heremo man hrusti giwinnan, rauba birahanen ibu du dar enic reht habes. Nun denn, herrschender Gott, sprach Hildebrand, Unheil geschieht. / Ich zog umher sechzig Sommer und Winter (30 Jahre), fern der Heimat, / da reihte man mich stets in die Schar der Krieger. / Vor keinem Ort hat man mir den Tod gebracht. / Nun wird mich mein eigener Sohn mit dem Schwert erschlagen, / mit seiner Waffe niederhauen, oder ich werde zu seinem Mörder werden. / Du aber kannst doch leicht, wenn deine Kraft dazu taugt, / von einem so alten Mann die Rüstung gewinnen, / Beute fortschaffen, wenn du ein Recht darauf erhältst. Das Druckbild verdeutlicht durch die Unterteilung der Verse in zwei Hälften die Versform: Der Stabreimvers ist ein Langvers aus zwei Teilen, einem Anvers (erste Hälfte) und einem Abvers (zweite Hälfte). Was den Vers zu einer hörbaren Einheit machte, wüsste man nur genau, wenn es Tondokumente von Heldenliedvorträgen gäbe. In der schriftlichen Aufzeichnung ist als Ordnungsprinzip nur noch der Stabreim zu erkennen. Er ist ein Langvers Anvers und Abvers Stabreim Tonsilbe V E R S F O RME N IM F RÜH E N MIT T E LALT E R <?page no="182"?> 174 V E R S E UND S T R O P H E N Gleichklang am Anlaut einer Tonsilbe (einer Silbe, auf der der Wortakzent liegt), der mindestens ein Wort des Anverses mit einem des Abverses verbindet. Im zitierten Textbeispiel sind die Stäbe durch Unterstreichungen markiert. Identische Konsonanten bilden Stabreime; jeder anlautende Vokal stabt mit jedem beliebigen anderen (aodlihho : ellen im siebten Vers). Manche Stabreimverse haben im Anvers einen zweiten Stab (rouba : birahanen : reht im letzten Vers der Passage). Während ein Stab je Halbvers obligatorisch ist, ist der zweite Stab im Anvers fakultativ. Sehr selten erscheint auch im Abvers ein zweiter Stab (in den Beispielversen gar nicht). Die Stäbe liegen in der Regel auf bedeutungsschweren Wörtern - zumeist Substantiven und Adjektiven -, deren Gewicht sie bekräftigen. Dieses Prinzip lässt sich in allen Versen der Passage beobachten. Dass die Stäbe Wörter betonen, spricht dafür, dass auf den stabenden Silben zugleich die Hebungen des Verses lagen. Wenn es nun im Anvers eine obligatorische und eine fakultative Position für Stäbe gab, dann liegt die Vermutung nahe, dass der Anvers zwei Hebungen hatte, von denen eine mit einem Stab besetzt werden musste. Entsprechend gab es auch im Abvers zwei Hebungen, von denen die erste immer mit einem Stab besetzt wurde, vereinzelt auch die zweite. Der Stabreimvers hatte dann insgesamt vier Hebungen. Auf der ersten Hebung des Abverses lag ein obligatorischer Stab; ihn nennt man den ›Hauptstab‹. Alle anderen Stäbe, auch der obligatorische im Anvers, heißen ›Nebenstäbe‹. Die vier Hebungen des Langverses wurden meistens nach folgenden Mustern mit Stäben besetzt (a = Hauptstab, a = Nebenstab, x = Hebung ohne Stab): ax ax; xa ax; aa ax. Selten tritt auch ein zweifacher Stabreim auf (ab ab oder ba ab). Wo die Hebungen im einzelnen Vers lagen, sieht man im verschriftlichten Text nur sicher, wenn sie Stäbe tragen. Allein bei Halbversen (An- und Abverse) mit wenigen Silben ist die Position der zweiten Hebung auch ohne Stab leicht zu erkennen (im 2. Abvers séhstic ur lánte, im 5. Abvers suértu háuwan). Die Anzahl der Senkungen zwischen den Hebungen war nicht festgelegt. Verse mit ungeregelter Senkungszahl nennt man ›füllungsfrei‹, weil der Raum zwischen den Hebungen relativ frei gefüllt werden kann. Akzentuierende füllungsfreie Verse haben folglich sehr unterschiedliche Silbenzahlen; das macht sie für Obligatorische und fakultative Stäbe Stäbe und Hebungen Hebungszahl Haupt- und Nebenstäbe Füllungsfreiheit <?page no="183"?> 175 uns vergleichsweise fremd. Die Silbenzahl in den Halbversen des ›Hildebrandslieds‹ beispielsweise schwankt zwischen vier und elf. Besonders große Freiheit herrscht am Anfang der Halbverse, wo im ›Hildebrandslied‹ vor der ersten Hebung bis zu sechs Silben stehen können (wie etwa im Abvers des letzten Verses der Passage). Der Stabreimvers hatte also eine flexible Gestalt. Sie war darauf angelegt, einen Textbaustein (den Langvers), der gewöhnlich zugleich eine syntaktisch-thematische Einheit darstellt, aus zwei Teilen (An- und Abvers) zu bilden und dabei die wichtigsten Wörter lautlich hervorzuheben. Endreimvers Otfrid von Weißenburg ist der erste deutsche Dichter, von dem ein größeres Werk in Endreimversen überliefert ist - das ›Evangelienbuch‹ (vgl. S. 108). Er muss nicht der alleinige Erfinder des deutschen Endreims sein, aber die Überlieferungslage stellt ihn uns als denjenigen dar, der die einschneidendste Wende der gesamten älteren deutschen Versgeschichte vollzog - diejenige vom Stabzum Endreim. Schon in der frühmittelalterlichen deutschen Dichtung waren Endreimverse nach Otfrid verbreitet. Beim zweiten Anlauf zur deutschen Schriftlichkeit im 11. Jahrhundert, in der frühmittelhochdeutschen Dichtung, gab es von Anfang an nichts anderes mehr. Otfrids Vorbild für den Endreim war die lateinische Reimdichtung des frühen Mittelalters, vor allem die religiöse Hymnendichtung (Lieder zum Lob Gottes oder Heiliger). Er entschied sich demnach gezielt für die Form der gelehrten Schriftdichtung und gegen den Stabreimvers als Form der mündlichen Überlieferung. Otfrids Verse waren für den gesungenen Vortrag gedacht; in einer der Handschriften des ›Evangelienbuchs‹ sind Notenzeichen angegeben, die sich allerdings nicht mehr genau deuten lassen. Die Beispielpassage stammt aus dem Prolog des ›Evangelienbuchs‹, in dem es, wie im lateinischen Widmungsbrief, um die Rechtfertigung volkssprachlicher Dichtung geht: b. Otfrid von Weißenburg Vorbild V E R S F O RME N IM F RÜH E N MIT T E LALT E R <?page no="184"?> 176 V E R S E UND S T R O P H E N Otfrid von Weißenburg: Evangelienbuch. Auswahl. Althochdeutsch / Neuhochdeutsch. Hg., übers. u. kommentiert v. Gisela Vollmann-Profe. Stuttgart (Reclam) 2 2010, S. 36. Nu es fílu mánno intíhít, in sína zúngun scríbít, joh ílit, ér gigáhé, thaz sínaz ío gihóhé: Wánana scúlun Fránkón éinon tház biwánkón, ni sie in frénkisgón bigínnén, sie gótes lób síngén? Níst si só gisúngán, mit régulú bithuúngán, si hábet thóh thia ríhtí in scónéru slíhtí. Íli thú zi nóté, theiz scóno thóh gilúté, joh gótes wízod thánné tharána scóno héllé; Tház tharána síngé, iz scóno mán ginénné; in thémo firstántníssé wir giháltan sín giwíssé[.] Da es nun viele Menschen unternehmen, in ihrer Sprache zu schreiben, / und eifrig darangehen, das Eigene zu rühmen - / warum sollen die Franken als einzige darauf verzichten / und nicht in fränkischer Sprache Gottes Lob singen? / Wenn sie auch noch nicht in dieser Weise gesungen und mit Regeln besiegt worden ist, / so hat sie doch ihre Regelmäßigkeit in einer schönen Form. / Bemühe du dich darum, dass es schön klingt, / und dass Gottes Gesetz schön darin ertönt, / dass man es (Gottes Gesetz) in ihr (der fränkischen Sprache) singt, es auf schöne Weise vorträgt, / damit wir sicher in seinem Verständnis gehalten werden. Wie die Form von Otfrids Versen aufzufassen ist, deutet die von ihm selbst korrigierte Handschrift des ›Evangelienbuchs‹ an. In jeder Schriftzeile sind zwei Verse notiert, die ein Gleichklang am Ende miteinander verbindet. Im mündlichen Vortrag machte der Reim das Versende hörbar; im Schrifttext erscheint das durch den Paarreim zusammengehaltene Verspaar jeweils als eine Zeile. Jede zweite Zeile ist in der Handschrift eingerückt; das weist darauf hin, dass jeweils zwei Zeilen zusammen eine Strophe aus vier Versen bilden - wie es auch beim verbreitetsten Typus der lateinischen Hymnenstrophe der Fall ist. Die Verteilung der Hebungen ist in der Handschrift teilweise mit Akzenten angezeigt, ohne dass jede Hebung auf diese Art markiert wäre: Otfrid setzte nach unterschiedlichen Prinzipien einen, zwei oder drei, selten vier Akzente je Vers. Die Gleichklänge sind bei Otfrid, wie auch in der zeitgenössischen lateinischen Dichtung, nur manchmal Vollreime (›reine Reime‹), also genaue Gleichklänge vom letzten betonten Vokal an Vollreim <?page no="185"?> 177 (wie in der 3. Langzeile Frankon : wankon). Oft gibt es nur einen Gleichklang zwischen den Haupttonvokalen (Assonanzreim), aber nicht zwischen allen auf sie folgenden Konsonanten (wie in der 1. Langzeile intihit : scribit), was wir als ›unreinen‹ Reim empfinden. Oft ist sogar bloß der unbetonte Endvokal identisch (Nebentonreim, wie in der 8. Langzeile thanne : helle), was wir überhaupt nicht mehr als Reim empfinden. Zu Otfrids Zeit war das aber ein ausreichender Gleichklang. Der reine Reim wurde nach einem langwierigen Prozess erst gegen Ende des 12. Jahrhunderts zu einer verbindlichen Norm im deutschen Reimvers. Assonanzreim Nebentonreim Abb. 13 Passage aus der Vorrede des ›Evangelienbuchs‹ Otfrids von Weißenburg in der Handschrift P (geschrieben um 870). V E R S F O RME N IM F RÜH E N MIT T E LALT E R <?page no="186"?> 178 V E R S E UND S T R O P H E N Die Verse des ›Evangelienbuchs‹ sind alle vierhebig. Wie in der Beispielpassage tragen die beiden letzten Silben jedes Verses je eine Hebung. Das verleiht dem Versende beim Vortrag einen besonders klangvollen Charakter und heißt deshalb ›klingende Kadenz‹. Die klingende Kadenz gehörte auch nach Otfrid zum festen Repertoire der älteren deutschen Verskunst. Das Wort, das den Reim trägt, ist dabei stets mehrsilbig, und die vorletzte Silbe muss lang sein. Lange Silben haben entweder einen langen Vokal oder enden auf einen Konsonanten (wie Fran-kon). Otfrids Verse sind füllungsfrei: Die Anzahl der Senkungssilben zwischen den Hebungen ist nicht fest geregelt, die Silbenzahl je Vers schwankt zwischen vier und zehn. Auch innerhalb des Verses kann es zwei unmittelbar aufeinander folgende Hebungen geben; in Verbindung mit der klingenden Kadenz können sich dann drei Hebungen reihen (wie oben im 2. Vers der 4. Zeile). Dem Prinzip der Füllungsfreiheit steht bei Otfrid allerdings ein anderes Prinzip entgegen: In vielen Versen ergibt sich ein regelmäßiger Wechsel zwischen Hebung und Senkung (wie oben in der 2., 5., 7., 8. und 9. Langzeile). Dieses Phänomen heißt ›Alternation‹. Otfrids Verskunst zielt darauf, die thematisch-syntaktischen Einheiten mit den Versgrenzen zu synchronisieren. Die zitierte Passage ist ein typisches Beispiel: Die Strophe entspricht einer Satzperiode (damit einem thematischen Komplex), das Verspaar und oft auch der einzelne Vers einem Gliedsatz. In der produktionsseitigen Schriftlichkeit ist das ein planbares Verfahren. Beim mündlichen Vortrag macht es die inhaltliche Gliederung besser wahrnehmbar und unterstützt so die Verständlichkeit des Textes. Vers- und Strophenformen im hohen Mittelalter Nibelungenvers und Nibelungenstrophe Das ›Nibelungenlied‹ ist das älteste erhaltene konzeptionell schriftliche mittelhochdeutsche Heldenepos, das Stoffe aus mündlichen Heldenlied-Traditionen, die im deutschen Sprachraum verbreitet waren, aufgreift (vgl. S. 46, 95). Die Verse des ›Nibelungenlieds‹ sind wie diejenigen des althochdeutschen ›Hildebrandslieds‹ Langverse, die aus Anvers und Abvers bestehen. Hebungszahl Klingende Kadenz Füllungsfreiheit Alternation 3. a. <?page no="187"?> 179 Anders als im ›Hildebrandslied‹ sind sie jedoch nicht stab-, sondern endgereimt und zu vierversigen Strophen verbunden. Die Strophenform deutet auf gesungenen Vortrag hin. Eine Melodie zum ›Nibelungenlied‹ ist nicht überliefert; erhalten sind jedoch Melodien zu anderen Texten mit derselben Strophenform. Der Nibelungenvers hat sieben Hebungen, vier im Anvers und drei im Abvers; der letzte Abvers der Strophe hat allerdings vier Hebungen. Die Langverse sind am Ende paarweise gereimt, zwei Langverspaare bilden eine Strophe. Als Beispiel dient die zweite Strophe des ›Nibelungenlieds‹: Sprachmetrische Form Das Nibelungenlied. Mittelhochdeutsch / Neuhochdeutsch. Nach dem Text von Karl Bartsch u. Helmut de Boor ins Neuhochdeutsche übers. u. kommentiert v. Siegfried Grosse. Stuttgart 1997, S. 6: Ez wúohs in Búrgóndén ein vil édel mágedín, dáz in állen lándén niht schœ´ ners móhte sín, Kríemhílt gehéizén. si wárt ein scœ´ ne wíp. dar úmbe múosen dégené víl verlíesén den líp. In Burgund wuchs ein so schönes adeliges Mädchen heran, / dass es in keinem Land ein schöneres geben konnte. / Sie hieß Kriemhild und wurde eine schöne Frau, / wegen der viele Krieger das Leben verlieren mussten. Beim Vortrag wurden die stets zwei- oder dreisilbigen Ausgänge der Anverse (lándén, dégené) wie klingende Kadenzen gesungen, so dass die Grenze zwischen Anvers und Abvers hörbar war. Nach den stets einsilbigen (›männlichen‹) Reimen der Abverse muss man sich bei den ersten drei Versen jeder Strophe im Gesangsvortrag wohl eine kurze Textpause vorstellen. Beim Vortrag wurde die siebenhebige Textzeile deshalb wahrscheinlich zu einer Melodiezeile mit zweimal vier Takten: Musikmetrische Form 1 | dáz in 2 | állen 3 | lán- 4 | dén niht 1 | schœ´ ners 2 | móhte 3 | sín 4 | (Pause) Der Grund für diese Annahme ist der letzte Abvers der Strophe: Seine vierte Hebung fiel wohl in den sonst pausierten Takt, so dass die Strophe musikalisch hörbar abgerundet wurde: V E R S - UND S T R O P H E N F O RME N IM H OH E N MIT T E LALT E R <?page no="188"?> 180 V E R S E UND S T R O P H E N dar 1 | úmbe 2 | múosen 3 | dége- 4 | né 1 | víl ver- 2 | líe- 3 | sén den 4 | líp Die Verse der Nibelungenstrophe sind füllungsfrei. Anverse wie Abverse können mit einer Hebung oder einer Senkung beginnen; im zweiten Fall spricht man von ›Auftakt‹ (im 2. Abvers niht schœ´ ners, im 4. Anvers dar úmbe). Häufig folgen zwei Senkungen aufeinander (im 1. Abvers doppelter Auftakt: ein vil édel), häufig auch zwei Hebungen (Kríemhílt, verlíesén), in Verbindung mit der klingenden Kadenz sogar drei Hebungen (Búrgóndén). Die Doppelhebungen dienen gewöhnlich dazu, bedeutungsschwere Wörter hervorzuheben - in diesem Fall den Ort der Handlung und die Hauptfigur sowie, im letzten Vers, die Vorausdeutung auf das Katastrophenende. Man nennt die Doppelhebung im Versinnern (anders als die klingende Kadenz am Versende) deshalb ›beschwerte Hebung‹. Trotz der grundsätzlichen Füllungsfreiheit ist eine Tendenz zur Alternation, also zur regelmäßigen Abfolge von Hebung und Senkung zu erkennen (wie im 2. und 3. Abvers). Die Reime sind im ›Nibelungenlied‹ weitgehend rein, wie es in der höfischen Dichtung im späten 12. Jahrhundert üblich wurde. Die Nibelungenstrophe ist älter als das um 1200 gedichtete ›Nibelungenlied‹. Es gab sie schon um 1150 im frühen deutschen Minnesang, bevor die Liebeslyriker mit der Orientierung an romanischen Vorbildern um 1170 auch deren Strophenform übernahmen. Die Nibelungenstrophe könnte demnach ursprünglich eine Form der Liedlyrik gewesen sein. Als Beispiel aus dem Minnesang dient die erste von zwei Strophen eines Lieds, das vom Ende einer Liebschaft infolge eines Partnerwechsels handelt und von einem Dichter stammt, der in den Handschriften ›Der von Kürenberg‹ heißt: Auftakt Doppelter Auftakt Beschwerte Hebung Früher Minnesang Der Kürenberger: Falkenlied. Text nach: Des Minnesangs Frühling. 38. Aufl. Hg. v. Hugo Moser u. Helmut Tervooren. Stuttgart 1988, S. 25: Ich zóch mir éinen válkén mére dánne ein jár. dó ich ín gezámeté, als ích in wólte hán, und ích im sín gevíderé mit gólde wól bewánt, er húop sich úf vil hóhé und vlóuc in ándériu lánt. <?page no="189"?> 181 ›Ich dressierte mir einen Falken, länger als ein Jahr. / Als ich ihn gezähmt hatte, wie ich ihn haben wollte, / und als ich ihm sein Gefieder schön mit Gold geschmückt hatte-/ schwang er sich hoch empor und flog in andere Lande.‹ Die Reinheit des Reims ist hier noch nicht durchgesetzt (jar : han). Hebungen und Senkungen alternieren jedoch schon recht regelmäßig. Im letzten Abvers steht, wie oft auch im ›Nibelungenlied‹, eine beschwerte Hebung; hier dient sie offensichtlich dazu, das besonders schmerzliche Wort anderiu zu betonen. Höfischer Reimpaarvers Die silbenzählende Versifikation in den romanischen Texten bewegte die deutschen Dichter dazu, die traditionelle Füllungsfreiheit des akzentuierenden Verses nach und nach aufzugeben. Unter dem romanischen Einfluss einer geregelten Silbenzahl wurde auch die Anzahl der Senkungen zunehmend fest, so dass sich die gleichmäßige Alternation von Hebung und Senkung immer weiter durchsetzte. Im Minnesang lässt sich die Tendenz zur Alternation schon seit der Übernahme der Stollenstrophe ab etwa 1170 beobachten; Walther von der Vogelweise hat das Prinzip der Alternation zusammen mit der Stollenstrophe auch in die Sangspruchdichtung eingeführt. In den deutschsprachigen höfischen Romanen entsprechen den acht- und neunsilbigen, paarweise gereimten Versen der altfranzösischen Vorbildtexte seit Heinrich von Veldeke und Eilhart von Oberg (vgl. S. 63, 65, 110) akzentuierende vierhebige Reimpaarverse, die oft, aber nicht durchweg alternieren. Auch die höfischen Romandichter der Zeit um 1200 - Hartmann von Aue, Gottfried von Straßburg und Wolfram von Eschenbach - gaben das alte Prinzip der Füllungsfreiheit nicht ganz auf, so dass ihre Verse einen Variationsspielraum behielten. Das Beispiel stammt aus Wolframs ›Parzival‹ (vgl. S. 117); der Anblick von drei Blutstropfen im Schnee erinnert Parzival wegen der Ähnlichkeit zu roten Wangen und rotem Mund im weißen Gesicht an die Schönheit seiner Frau Cundwir amurs: b. Alternation und Füllungsfreiheit V E R S - UND S T R O P H E N F O RME N IM H OH E N MIT T E LALT E R <?page no="190"?> 182 V E R S E UND S T R O P H E N Wolfram von Eschenbach: Parzival. Studienausgabe. Mittelhochdeutscher Text nach der sechsten Ausgabe von Karl Lachmann. Übersetzung von Peter Knecht. Einführung zum Text von Bernd Schirok. Berlin, New York 2 2003, S. 286 (282,24-283,13) do ér die blúotes zä´her sách úf dem sné (der wás al wíz), do dáhter: »wér hat sínen vlíz gewánt an díse várwe clár? Cundwíer amúrs, sich mác für wár disiu várwe dír gelíchén. mich wíl got sæ´ lden ríchén, sit ích dir híe gelíchez vánt. géret sí diu gótes hánt und ál diu créatíure sín. Condwír amúrs, hie lít din schín. sit der sné dem blúote wíze bót, und éz den sné sus máchet rót, Cúndwír ámúrs, dem glíchet sích din béa cúrs: des enbístu níht erlázen.« des héldes óugen mázén, als éz dort wás ergángén, zwen záher án ir wángén, den drítten án ir kínné. Als er die Blutstropfen / im Schnee sah (der war ganz weiß), / da dachte er: »Wer hat seine Mühe / auf diese schöne Farbe verwandt? / Condwir amurs, es kann gewiss / diese Farbe dir gleichen. / Gott will mich reich an Glück machen, / weil ich hier fand, was dir gleicht. / Gelobt seien Gottes [Schöpfer-]Hand / und alle seine Geschöpfe. / Condwir amurs, hier liegt dein Bild, / weil der Schnee dem Blut das Weiß zugrunde legte / und das Blut den Schnee rot färbte. / Condwir amurs, / dem gleicht dein schöner Körper, / das kann man dir nicht abstreiten.« / Die Augen des Helden verglichen, / was dort vor ihm lag - / zwei Tropfen mit ihren Wangen, / den dritten mit ihrem Kinn [Mund]. Hebungen und Senkungen alternieren in den meisten Versen regelmäßig. Nicht geregelt ist der Auftakt: Die Verse beginnen mit einer Hebung oder einer Senkung; manchmal stehen auch zwei Senkungen am Anfang (›doppelter Auftakt‹: sit der sné). Ein Vers nutzt jedoch die alte Möglichkeit der Füllungsfreiheit auf extreme Weise, denn er setzt auf den Namen von Parzivals Frau vier Hebungen hintereinander und hat deshalb keine einzige Senkung: Cúndwír ámúrs. Eindrücklich bekräftigt das den ohnehin mehrmals wiederholten Namen des Gegenstands von Parzivals Erinnerung. Eine weitere Gestaltungsform, die der vierhebige höfische Reimpaarvers aus der deutschen Tradition übernahm, ist die klingende Kadenz: Zweisilbige (›weibliche‹) Reime mit langer Tonsilbe (langer Vokal wie lâ-zen : mâ-zen oder kurzer Vokal mit Konsonant am Silbenende wie gan-gen : wan-gen) tragen zwei Hebungen. Zweisilbige Reime, deren Tonsilbe mit einem kurzen Vokal endet Klingende Kadenz <?page no="191"?> 183 (wie etwa sa-gen : kla-gen), behandelten die höfischen Dichter dagegen wie einsilbige männliche Reime, nicht wie zweisilbige weibliche; sie können deshalb keine klingenden Kadenzen tragen. Typisch für den höfischen Reimpaarvers ist das flexible Verhältnis zwischen Satzgrenzen und Versgrenzen, das sich im Textbeispiel beobachten lässt. Die Sätze können mit den Versen enden oder über das Versende hinausreichen (›Enjambement‹, Vers 1-2); innerhalb des Verses können syntaktische Grenzen liegen (›Zäsur‹, Vers 3). Eine besonders beliebte Technik war die Reimbrechung: Der Reimpaarvers legt es eigentlich nahe, eine Satzperiode in einem Verspaar unterzubringen (wie in: Cundwir amurs, / dem glichet sich din bea curs.) Kunstvoller ist es jedoch, die Satzperioden versetzt zu den Verspaaren anzulegen wie sonst überall in der zitierten Passage: Wo der Satz endet, ist die Reimbindung offen, und wo sich der Reim schließt, geht der Satz weiter. Dadurch entsteht beim Vortrag der Eindruck, dass die Versrede unentwegt voranschreitet. Die syntaktische und die metrische Gliederung der Rede sind unabhängig voneinander gestaltet und können deshalb auch in Spannung zueinander treten - ein unverkennbares Anzeichen produktionsseitiger Schriftlichkeit, denn so kompliziert kann man nur mit Hilfe der Schrift dichten. Stollenstrophe (Kanzonenstrophe) Die Verse und Strophen der Minnesänger wurden von den romanischen Vorbildern beeinflusst, weil die Übernahme der musikalischen Formen zwangsläufig auch eine Orientierung an den sprachlichen erforderte. Da jede Strophe eines Lieds auf dieselbe Melodie gesungen wird, liegt es nahe, die Silbenzahlen der einzelnen Verse festzulegen. Im Minnesang hielt die regelmäßige Alternation deshalb schneller Einzug als im höfischen Roman nur gelegentliche Doppelsenkungen bewahren einen kleinen Rest der Füllungsfreiheit. Nach dem Vorbild der okzitanischen und französischen Minnesänger bevorzugten die deutschen die Form der Stollenstrophe (auch ›Kanzonenstrophe‹ genannt). Die Stollenstrophe ist eine variable Strophenform: Sie kann unterschiedlich lange Verse und unterschiedlich viele Verse haben. Ihre Gestalt wird von der Satz- und Versgrenzen Enjambement Zäsur Reimbrechung c. Musikalische und sprachliche Form Alternation V E R S - UND S T R O P H E N F O RME N IM H OH E N MIT T E LALT E R <?page no="192"?> 184 V E R S E UND S T R O P H E N musikalischen Dreiteiligkeit (AAB) bestimmt: Am Anfang steht ein Melodieteil A (der erste Stollen), der einmal wiederholt wird (der zweite Stollen). Die beiden Stollen zusammen bilden den Aufgesang. Dann folgt ein musikalisch anders gebauter Melodieteil B, der Abgesang. Zu dieser musikalischen Form muss die Form der Verse passen. Deshalb erkennt man auch in der sprachlichen Strophenform stets die beiden identischen Stollen des Aufgesangs und den anders gebauten Abgesang. Als Beispiel dient die 1. Strophe eines Lieds Reinmars des Alten (vgl. S. 111), in dem die Dame beklagt, dass sie die männliche Werbung aus Rücksicht auf ihr Ansehen zurückweisen muss: Stollen Aufgesang Abgesang Des Minnesangs Frühling. Texte. 38. Aufl. bearb. v. Hugo Moser u. Helmut Tervooren. Stuttgart 1988, S. 364: Úngenáde. und swáz ie dánne sórge wás, der íst nu mére. an mír, dánne. ez gót verhéngen sólde. rát ein wíp, diu é von sénender nót genás, min léit, und wæ´ r ez ír, wáz si dánne spréchen wólde. Dér mir íst von hérzen hólt, dén verspríche. ich sére, nícht durch úngevü´ egen ház, wán durch mínes líbes ére. 6 m a 3 m b 4 w c 6 m a 3 m b 4 w c 4 m x 3 w d 4 m x 4 m d Aufgesang 1. Stollen Aufgesang 2. Stollen Abgesang Ungnade und was es sonst immer schon an Nöten gab, / davon habe ich nun mehr, / als Gott verhängen sollte. / Eine Frau, die schon vom Liebeskummer geheilt wurde, soll mir einen Rat geben / gegen mein Leid: Wenn es das ihre wäre, was würde sie dann sagen? / Den ich von Herzen liebe, / den weise ich nachdrücklich ab, / nicht aus ungehöriger Feindseligkeit, / sondern wegen meines Ansehens. Bei Minnelied- und Sangspruchstrophen bietet die Erstellung eines Strophenschemas eine gute Möglichkeit, die Strophenform erkennbar zu machen. Das oben neben dem Text eingetragene Strophenschema gibt die Hebungszahlen der Verse, ihre Reimart (männlich oder weiblich) und das Reimschema der Strophe an. Die Verse 7 und 9 sind ›Waisen‹: Sie haben keinen Reim. Das Strophenschema zeigt den identischen Bau der beiden Stollen, die hier aus jeweils drei Versen unterschiedlicher Länge bestehen. Metrisches Schema Waise <?page no="193"?> 185 Reinmars Verse alternieren regelmäßig. Eine bestimmte Art der Doppelsenkung erscheint nur in der schriftlichen Aufzeichnung, nicht im Vortrag: Wenn ein auslautender Vokal auf einen anlautenden trifft (›Hiat‹), wird er nicht gesprochen (›Elision‹): Ungenade und im 1. Vers wird zu Ungenad’ und; mere an im 2. Vers wird zu mer’ an. Nur die Doppelsenkung im Wort senender im 4. Vers fällt nicht unter diese Regel; möglicherweise wurde jedoch die Kurzform sender gesungen. Auch die Auftaktverhältnisse sind in diesem Lied in allen Strophen streng geregelt: Nur der zweite Vers beider Stollen beginnt mit Auftakt (also einer Senkung), alle anderen Verse beginnen ohne Auftakt (also mit einer Hebung). Die streng geregelte Versifikation signalisiert sowohl im Minnesang wie auch in der Sangspruchdichtung den hohen Kunstanspruch der Gattungen. Der klare Aufbau der Stollenstrophe legt es nahe, den thematischen Aufbau des Textes in Entsprechung zu den Strophenteilen einzurichten. In diesem Fall füllt die Klage der Dame über ihre Not den ersten Stollen, ihr Wunsch nach dem Ratschlag einer glücklicheren Frau den zweiten; der Abgesang enthüllt den Grund ihres Leids. Schon die Satzperioden weisen auf die Übereinstimmung hin, denn sie entsprechen jeweils einem Strophenteil. Einen solchen dreiteiligen syntaktisch-thematischen Aufbau nach der Gliederung Stollen-Stollen-Abgesang oder einen zweiteiligen nach der Gliederung Aufgesang-Abgesang haben die Texte ungezählter Stollenstrophen. Seltener, aber nicht weniger kunstvoll ist ein Spannungsverhältnis zwischen Strophenform und thematischem Aufbau wie in der folgenden Strophe des Minnesängers Heinrich von Morungen (vgl. S. 111), in der sich der Liebende über einen Erfolg freut: Hiat Elision Strophenaufbau und thematischer Aufbau Des Minnesangs Frühling. Texte. 38. Aufl. bearb. v. Hugo Moser u. Helmut Tervooren. Stuttgart 1988, S. 277: Hát man mích geséhen in sórgen, dés ensól niht mér ergán. wól vröiwe. ích mich álle mórgen, dáz ich díe vil líeben hán Geséhen in gánzen vrö´ iden gár. nu vlíuch von mír hin, lángez trúren! ích bin áber gesúnt ein jár. 4 w a 4 m b 4 w a 4 m b 4 m c 4 w x 4 m c Aufgesang 1. Stollen Aufgesang 2. Stollen Abgesang V E R S - UND S T R O P H E N F O RME N IM H OH E N MIT T E LALT E R <?page no="194"?> 186 V E R S E UND S T R O P H E N Wenn man mich in Kummer gesehen hat, / dann soll das nun ein Ende haben. / Sehr freue ich mich jeden Morgen, / dass ich die Geliebte habe / gesehen in uneingeschränktem Glück. / Nun geh fort von mir, langes Trauern! / Für ein Jahr bin ich wieder gesund. Wie üblich entspricht dem ersten Stollen eine thematische Einheit, der Abschied vom früheren Kummer. Der zweite Stollen nennt den Grund dafür, aber mit dem Satz reicht auch der inhaltliche Zusammenhang über die Grenze zwischen Aufgesang und Abgesang hinweg. Da diese Grenze musikalisch deutlich zu hören war, wirft der Liedvortrag am Ende des Aufgesangs die Frage auf, was er sie denn nun ›hat‹: - ›gesehen‹, antwortet der Beginn des Abgesangs. In welcher Situation, bleibt offen. Je strenger die Form, umso mehr kann man damit anstellen - auch Scherzhaftes. Die Stollenstrophe war vom 12. bis zum 17. Jahrhundert die erfolgreichste Strophenform in der deutschen Lyrik. Dass sich ihre klare Dreiteiligkeit mit unterschiedlich langen und unterschiedlich vielen Versen füllen ließ, kam ihrem Erfolg gewiss zugute. Aus der Sangspruchdichtung, wo sie seit Walther von der Vogelweide konkurrenzlos war, gelangte sie in den städtischen Meistergesang (vgl. S. 83). Auch in der sonstigen spätmittelalterlichen und frühneuzeitlichen Liedlyrik, der weltlichen wie der religiösen, findet man sie oft. Vers- und Strophenformen in Spätmittelalter und früher Neuzeit ›Volksliedstrophen‹: Hildebrandstrophe, Vagantenstrophe Die Techniken des Vers- und Strophenbaus, die die höfischen Dichter um 1200 einführten, blieben im 13. und 14. Jahrhundert weitgehend unverändert im Gebrauch und bildeten auch im 15. und 16. Jahrhundert noch die Grundlage für einen Teil der Verskunst. Das betrifft vor allem die so genannten ›Volksliedstrophen‹. Die Bezeichnung stammt aus dem 19. Jahrhundert, wo sie für Strophenformen benutzt wurde, die nicht auf romanische Vorbilder zurückgehen und die man deshalb für volkstümlich 4. a. ›Volksliedstrophen‹ <?page no="195"?> 187 und ›deutsch‹ hielt. Im 15. und 16. Jahrhundert waren sie in der Liedlyrik verbreitet, die von Stadtbürgern und Adeligen gepflegt wurde und die weitgehend anonym in Liederbüchern und Einblattdrucken überliefert ist. Die Bezeichnung ›Volkslied‹ ist problematisch, und auch ein ›deutscher‹ oder ›romanischer‹ Charakter von Strophenformen hat in Spätmittelalter und früher Neuzeit niemanden interessiert. Die Stollenstrophe beispielsweise findet sich in der Liedlyrik dieser Zeit ebenfalls häufig. ›Volksliedstrophe‹ ist jedoch ein verbreiteter Begriff und wird deshalb auch hier beibehalten. In den ›Volksliedstrophen‹ herrscht der akzentuierende Vers, meist mit drei oder vier Hebungen, oft alternierend, ebenso oft mit gemäßigter Füllungsfreiheit in Gestalt von Doppelsenkungen. Alle Strophenformen, die zu dieser Gruppe gehören, zeichnen sich durch einen einfachen Aufbau aus. Von den vielen verschiedenen Varianten stelle ich als Beispiele nur zwei der bekanntesten vor, die ›Hildebrandstrophe‹ und die ›Vagantenstrophe‹. Die Hildebrandstrophe ist ein Kind der Nibelungenstrophe. Ihren Namen hat sie vom ›Jüngeren Hildebrandslied‹, einem seit dem 15. Jahrhundert handschriftlich überlieferten und im 16. Jahrhundert mehrmals gedruckten Erzähllied über den alten Hildebrand-Stoff. Zu Beginn beschließt Hildebrand, nach langem Exil heim nach Bern (Verona) zu seiner Frau Ute zu kehren: Hildebrandstrophe ›Jüngeres Hildebrandslied‹, 1. Strophe. Text nach: Epochen der deutschen Lyrik. Band 3. Gedichte 1500-1600. Hg. v. Klaus Düwel. München 1978, S. 43: Ich wíl zu Lándt aus Réitten / sprach sich Méister Híldebrándt / der mír die Wég thut wéisen / gen Bérn wol ín die Lánd / die sínd mir únkundt gewésen / viel mánchen líeben tág / in zwéy und dréissig járen / Fraw Útten ich níe gesách. 3 w a 3 m b 3 w a 3 m b 3 w c 3 m d 3 w c 3 m d Wo die Hildebrandstrophe anknüpfte, ist an der Prologstrophe des ›Nibelungenlieds‹ (vgl. S. 47) zu erkennen. In dieser Strophe reimen nämlich, anders als sonst im ›Nibelungenlied‹ üblich, auch die Anverse paarweise aufeinander: V E R S - UND S T R O P H E N F O RME N IN S PÄTMIT T E LALT E R UND F RÜH E R N E U Z E IT <?page no="196"?> 188 V E R S E UND S T R O P H E N Uns íst in álten mæ´ ren wúnders víl geséit von hélden lóbebæ´ ren, von grózer árebéit, von frö´ uden, hóchgezíten, von wéinen únd von klágen, von kü´ener récken stríten muget ír nu wúnder hœ´ ren ságen. 3 w a / 3 m b 3 w a / 3 m b 3 w c / 3 m d 3 w c / 4 m d Die zusätzlichen Reime in den Anversen zerlegen die vier Langverse in acht Kurzverse. Das Ergebnis ist die kreuzgereimte, achtversige Hildebrandstrophe mit dem regelmäßigen Wechsel von weiblichem und männlichem Reim. Die Besonderheit des vierhebigen letzten Abverses ist in der Hildebrandstrophe jedoch aufgegeben; alle Verse sind dreihebig. Ebenso weit verbreitet wie die achtversige Hildebrandstrophe war im 15. und 16. Jahrhundert die ›halbe Hildebrandstrophe‹ aus vier kreuzgereimten Versen. Ein Beispiel ist die erste Strophe eines Lieds aus dem 15. Jahrhundert, in dem ein verschneiter Weg und die Belästigung durch Schneebälle für den Verlust der Geliebten an einen Konkurrenten stehen (wie sich in den anschließenden Strophen herausstellt): Halbe Hildebrandstrophe Text nach: Epochen der deutschen Lyrik. Band 2. Gedichte 1300-1500. Hg. v. Eva u. Hansjürgen Kiepe. München 1972, S. 292: Es íst ein schné gefállen, vnd íst es dóch nit czéit; man wúrft mich mít den pállen, der wég ist mír verschnéit. 3 w a 3 m b 3 w a 3 m b Die Vagantenstrophe stammt aus der lateinischen Lyrik des 12. und 13. Jahrhunderts. Die Verfasser dieser anonym überlieferten Lieddichtung hielt man früher für Vaganten (fahrende Kleriker, vor allem Studenten) - eine Annahme, die sich als nicht in allen Fällen berechtigt erwiesen hat. Die lateinische Vagantenstrophe ist akzentuierend versifiziert und ähnelt der Nibelungenstrophe: Sie besteht ebenfalls aus vier Langzeilen mit paarweise gereimten Abversen. Nur bei den Hebungszahlen und bei der Verteilung der männlichen und weiblichen Versausgänge gibt es Unterschiede: In der Vagantenstrophe sind die Anverse vierhebig und enden nicht, wie die der Nibelungenstrophe, klingend. Die Abverse sind dreihebig mit weiblichen Reimen: Lateinische und deutsche Vagantenstrophe <?page no="197"?> 189 Carmina Burana. Die Lieder der Benediktbeurer Handschrift. Zweisprachige Ausgabe. 5., rev. Aufl. München 1991, S. XXX Méum ést propósitúm ín tabérna móri, út sint vína próximá móriéntis óri; túnc cantábunt létiús ángelórum chóri: »Sít deús propítiús húic pótatóri.« Méin Begéhr und Wíllen íst: ín der Schénke stérben, wó mir Wéin die Líppen nétzt, éh sie sích entfä´rben; áller Éngel fróher Chór wírd dann fü´ r mich fléhen: »Lásse díesen Zécher, Hérr, ín dein Réich eingéhen! « In deutschen Vagantenstrophen, die diesem Vorbild folgen, reimen auch die Anverse aufeinander. Dadurch werden die Langverse in Kurzverse zerlegt, genauso wie auf dem Weg von der Nibelungenstrophe zur Hildebrandstrophe. Von der deutschen Vagantenstrophe gibt es ebenfalls eine ›ganze‹ achtversige und eine ›halbe‹ vierversige Variante. Ein Beispiel für die halbe Vagantenstrophe bietet ein im 16. Jahrhundert verbreitetes Lied mit dem Ratschlag, ein erotisches Objekt, das man nicht halten kann, ziehen zu lassen (1. Strophe): Ganze und halbe Vagantenstrophe Text nach: Erhart Oeglin’s Liederbuch zu vier Stimmen. Augsburg 1512. Hg. v. Robert Eitner u. Julius Joseph Maier. Berlin 1880, S. 3: Zwíschen bérg und tíefem tál, da lígt ein fréie stráßen; wer séinen búlen nit háben mág, der mús ihn fáren lássen. 4 m a 3 w b 4 m a 3 w b Silbenzählende Verse Vom Frühmittelalter bis heute wurden und werden deutsche Verse meistens nach dem akzentuierenden Prinzip gemacht. Der Vers kommt durch eine Abfolge von Hebungen und Senkungen zustande, die regelmäßiger verläuft, als die Sprachakzente in der nicht-versifizierten Rede verteilt sind, die aber auf den normalen Akzentverhältnissen beruht. Es kann deshalb niemals heißen: Vóm Himmél hoch, sondern immer nur: Vom Hímmel hóch - weil es b. V E R S - UND S T R O P H E N F O RME N IN S PÄTMIT T E LALT E R UND F RÜH E R N E U Z E IT <?page no="198"?> 190 V E R S E UND S T R O P H E N ›Hímmel‹ und nicht ›Himmél‹ heißt. Auch viele Verse des 15. und 16. Jahrhunderts entsprechen dieser Erwartung; so etwa Martin Luthers berühmtes, 1535 erstmals gedrucktes Weihnachtslied vom Engel und seiner guten Mär (das alte Wort für ›Nachricht‹): Martin Luther: Die deutschen geistlichen Lieder. Hg. v. Gerhard Hahn. Tübingen 1967, S. 44: Vom hímel hóch da kóm ich hér / ich bríng euch gúte néwe méhr / der gúten méhr bring ích so víel / dauón ich síngen vnd ságen wíl. In der von Luther 1539 komponierten Melodie, auf die das Lied bis heute gesungen wird, kommt die Alternation zwischen Hebungen und Senkungen allerdings gar nicht zur Geltung. Die Melodie ist so angelegt, dass alle Silben beim Singen gleich stark betont werden; nur die Auftakte sind mit kürzeren Notenwerten versehen: Vom hímél hóch dá kóm ích hér. Die Verse sind zwar akzentuierend gedichtet; dass sie zur musikalischen Form passen, liegt jedoch allein an der Regelung der Silbenzahl: Alle Verse haben acht Silben, weil die Melodie acht Töne je Vers hat. (Vers 4 hat allerdings eine Silbe zuviel, weshalb bei ›singen‹ ein bisschen geschummelt werden muss.) Im 15. und 16. Jahrhundert gibt es Verse, die nicht nach dem akzentuierenden, sondern nach dem silbenzählenden Prinzip gemacht sind und die beim Lesen sehr zu holpern scheinen; so etwa im folgenden, 1524 erstmals gedruckten Weihnachtslied Luthers, einer nahezu wörtlichen Übersetzung des alten lateinischen Hymnus ›Veni redemptor gentium‹: Silbenzählende Verse Martin Luther: Die deutschen geistlichen Lieder. Hg. v. Gerhard Hahn. Tübingen 1967, S. 23: Nu kom der heyden Heyland / der iungfrawen kind erkand / Das sich wunder alle welt / Gott solch geburt yhm bestelt. Während der erste Vers glatt alterniert (Nu kóm der héyden Héyland), hinkt der vierte, wie man ihn auch dreht und wendet: <?page no="199"?> 191 Gótt solch géburt ýhm bestélt geht nicht; Gott sólch gebúrt yhm béstelt geht auch nicht. (In heutigem Deutsch bedeutet der Satz übrigens: Eine solche Geburt bereitet sich Gott). Genauso verhält es sich mit weiteren Versen des Lieds. Beim Singen ist das aber ganz egal, weil alle Silben gleich stark akzentuiert werden (Gótt sólch gébúrt ýhm béstélt). Wichtig für die musikalische Umsetzung ist allein, dass jeder Vers genau sieben Silben lang ist. Silbenzählende Verse, die die Akzentuierung nicht beachten und deshalb beim Lesen fehlerhaft klingen, sind bei einer entsprechenden musikalischen Rhythmisierung also gar kein Problem. Nun gab es im 15. und 16. Jahrhundert silbenzählende Verse aber auch in Texten, die nicht gesungen wurden. Ein Beispiel ist der auf S. 30 schon zitierte ›Lobspruch der statt Nürnberg‹ von Hans Sachs - hier noch einmal ein kurzer Ausschnitt: Silbenzählende Leseverse Wer dann zu künsten ist geneyget, Der find alda den rechten keren; Und wellicher kurtzweyl will leren, Fechten, singen und saytenspil, Die find er künstlich und subtil. Das für heutige Ohren Tückische an diesen Versen ist, dass sie teilweise zu alternieren scheinen wie im 1. und 2. Vers: Wer dánn zu kü´ nsten íst genéyget, Der fínd aldá den réchten kéren; Deshalb kommt man beim Lesen ins Stolpern, wenn sie es nicht tun wie im 3. und 4. Vers: Und wéllicher kúrtzwéyl will léren, Féchten, síngen und sáytenspíl, Weil manche Verse glatt zu laufen scheinen, hat man den Eindruck, dass andere hinken. Die Verse zielen jedoch weder auf einen strengen Wechsel zwischen Hebungen und Senkungen noch auf eine Festlegung der Hebungszahl, denn sie sind nicht akzentuierend gedichtet. Streng geregelt ist nur die Silbenzahl: Alle Verse mit männlichem Reim haben 8 Silben, alle mit weiblichem Reim haben 9 Silben. Wer die historische Intonation treffen V E R S - UND S T R O P H E N F O RME N IN S PÄTMIT T E LALT E R UND F RÜH E R N E U Z E IT <?page no="200"?> 192 V E R S E UND S T R O P H E N will, darf beim Lesen weder in den alternierenden Trott verfallen noch grundsätzlich vier Hebungen suchen, sondern muss sich an die normalen Wortakzente halten. Dann holpern die Verse gar nicht; sie klingen nur für unsere Ohren etwas ungleichmäßig: Wer dann zu kü´ nsten ist genéyget, Der fínd alda den réchten kéren; Und wéllicher kúrtzweyl will léren, Féchten, síngen und sáytenspíl, Die find er kü´ nstlich und subtíl. Diese Versform erhielt im 17. Jahrhundert die Bezeichnung ›Knittelvers‹. Ein ›Knittel‹ (oder ›Knüttel‹) ist ein Holzprügel. Die Bezeichnung bedeutet also ›Prügelvers‹ und ist abfällig gemeint, denn der Knittelvers war das Feindbild der Versreform, die Martin Opitz 1624 mit dem ›Buch von der deutschen Poeterey‹ einleitete. Opitz hielt nur Verse mit einer streng geregelten Abfolge von Hebungen und Senkungen für kunstgerecht und wertete deshalb alles ab, was dieser Norm nicht folgte. Obwohl wir andere Versifizierungsprinzipien inzwischen respektieren, blieb die Bezeichnung erhalten. Allerdings spricht man heute von ›strengem Knittelvers‹, um die genaue Regelung der Silbenzahl zum Ausdruck zu bringen. Außerhalb der Liedlyrik war der strenge Knittel der verbreitetste Vers in der deutschen Dichtung des späteren 15. und des 16. Jahrhunderts; Hans Sachs hat ihn in seinen zahlreichen Werken ebenso benutzt wie Sebastian Brant im ›Narrenschiff‹ (vgl. S. 98). Niemand hat sich in dieser Zeit an den silbenzählenden Versen gestört; ganz im Gegenteil wurde Brants Versifikation von seinen Zeitgenossen als kunstvoll gelobt. Trotzdem blieben die silbenzählenden Verse eine vorübergehende Erscheinung in der deutschen Versgeschichte: Die opitzianische Versreform führte zu einer schnellen, breitenwirksamen und dauerhaften Rückkehr zur akzentuierenden Versifikation. Strenger Knittelvers <?page no="201"?> 193 Argumentativer Bedeutungsaufbau In diesem und den anschließenden vier Kapiteln geht es um den Bedeutungsaufbau in Texten und seinen Zusammenhang mit kulturellem Wissen. Texte bestehen meistens aus einer Abfolge von Aussagen, weshalb Bedeutung sowohl bei der Textproduktion als auch bei der Textrezeption sequentiell, also nach und nach konstruiert wird. Für den sequentiellen Bedeutungsaufbau gibt es kulturelle Muster wie Argumentieren und Erzählen, die als Bestandteile der Sprachgebrauchskompetenz erlernt werden und deshalb selbst schon zum kulturellen Wissen gehören. Textverfasser beziehen sich darüber hinaus aber stets noch auf alle möglichen weiteren Wissensbestände, die sie zugleich bei ihren Adressaten voraussetzen. Auf der Grundlage des von Textproduzenten und Textrezipienten geteilten Wissens sind Rezipienten fähig, die Bedeutungsangebote eines Textes zu verstehen. Um herauszufinden, welche Bedeutungsangebote Verfasser älterer Texte ihren jeweiligen Adressaten machten, ist es deshalb nötig, das kulturelle Wissen zu rekonstruieren, auf das Textproduzenten und Textrezipienten zurückgreifen konnten. Die Reihenfolge der Kapitel ist als Voranschreiten vom Konkreteren der textuellen Muster zum Abstrakteren der kulturellen Wissensordnungen aufgebaut. Kapitel 8 und 9 erläutern die beiden wichtigsten Typen textuellen Bedeutungsaufbaus und führen dabei in Argumentations- und Erzählanalyse ein. Als Beispiele dienen die erste ›Reichston‹-Strophe Walthers von der Vogelweide (in der Fassung der Handschrift A, Text und Übersetzung S. 161-162) und der ›Engelhard‹-Roman Konrads von Würzburg (vgl. S. 219-224). In beiden Fällen kommen jedoch auch kulturelle Wissensbestände zur Sprache, auf die die Beispieltexte beim Argumentieren und Erzählen zurückgreifen. Dabei wird bereits deutlich, dass Texte das aktualisierte Wissen einerseits im sequentiellen Bedeutungsaufbau in eine geordnete Form bringen, andererseits aber zugleich voraussetzen, dass dieses Wissen selbst schon eine geordnete Form hat. Die von den Texten vorausgesetzten Ordnungen kulturellen Wissens sind das Thema der beiden anschließenden Kapitel, wobei zwei Wissensarten Kapitel 8 Bedeutungsaufbau und kulturelles Wissen <?page no="202"?> 194 AR GUME NTATIV E R B E D E U T UNG S AU F BAU unterschieden werden. Kapitel 10 hat diskursiv-begriffliche Wissensordnungen zum Gegenstand. Hier werden Diskursbegriff und historische Diskursanalyse sowie am Anfang - als Einleitung zu den Kapiteln 10 und 11 - der Kulturbegriff erläutert. In Kapitel 11 geht es im Zusammenhang mit dem Habitus- und dem Ritualbegriff um praktische Wissensordnungen und ihre Bedeutung für die Handlungsdarstellung in Texten. Kapitel 12 stellt wissensbasierte Modelle kultureller Wirklichkeitskonstruktion in Mittelalter und früher Neuzeit vor, nämlich das im theologischen Wissen verankerte Konzept der Offenbarungswahrheit und das rhetorische Wahrscheinlichkeitskonzept. Im Zusammenhang mit dem theologischen Modell werden Bibelauslegung, Naturallegorese und die Ordnung der Zeit (›Heilsgeschichte‹) behandelt, beim rhetorischen Modell steht der Toposbegriff im Mittelpunkt. Argumentation Ein Argument ist eine Aussage (a), die eine Aussage (b) begründet: (b) Sokrates ist sterblich, weil (a) Sokrates ein Mensch ist; oder (b) Sokrates ist sterblich, weil (a) alle Menschen sterblich sind. Eine Argumentation ist überzeugend, wenn sie auf einer Schlussfolgerung beruht, die einen Fall als Fall einer Regel ausweist: Alle Menschen sind sterblich; Sokrates ist ein Mensch; also ist Sokrates sterblich. Die Schlussfolgerung ist gültig, wenn sowohl die Aussage über die Regel (Alle Menschen sind sterblich) als auch die Aussage über den Fall (Sokrates ist ein Mensch) gültig sind. Was im Argument als kausales Begründungsverhältnis erscheint (›weil‹), beruht in der Schlussfolgerung auf einer Begriffsbeziehung, die in der Fallaussage ›Sokrates ist ein Mensch‹ hergestellt wird: alle x sind y; z ist ein x; also: z ist y. Argumentationen beruhen deshalb immer auf Begriffsbeziehungen. Um ein Argument zu bestreiten, kann man entweder die Begriffsbeziehung bestreiten (aber Sokrates ist kein Mensch, sondern ein Computerprogramm) oder die Regel (Sokrates ist durch Platons Dialoge unsterblich geworden, also sind nicht alle Menschen sterblich). Argumentationen sind nur dann nötig, wenn eine Aussage bestreitbar und deshalb begründungsbedürftig ist: Dass Sokrates sterblich ist, wird man wahrscheinlich erst mit Argumenten begründen, wenn jemand etwas anderes behauptet. Im textuellen Bedeu- 1. Argumente, Schlussfolgerungen und Begriffsbeziehungen <?page no="203"?> 195 tungsaufbau werden Argumente oft sequentiell gereiht, entweder indem mehrere Argumente zur Begründung einer Behauptung angeführt werden oder indem ein der Begründung dienendes Argument seinerseits durch weitere Argumente begründet wird. Auch wenn das Argumentieren auf dem Prinzip des logischen Folgerns beruht, unterscheiden sich argumentative Bedeutungskonstruktionen in Texten meistens erheblich von der Form logischer Folgerungen. Wie das Sokrates-Beispiel zeigt, kann man beim Argumentieren entweder die Aussage über die Regel oder die über den Fall weglassen. Argumentationen sind deshalb meistens verkürzte Formen der Schlussfolgerungen, auf denen sie beruhen. Kausalbeziehungen werden zudem oft nicht ausdrücklich hergestellt (Sokrates ist sterblich - er ist ein Mensch) oder konditional formuliert (Wenn Sokrates ein Mensch ist, ist er auch sterblich). Argumentative Texte machen darüber hinaus Begriffsbeziehungen, auf denen die logische Folgerung beruht, oft nicht durch Wortwiederholungen deutlich, sondern nutzen die Variationsmöglichkeiten der thematischen Wiederaufnahme (Als Mensch ist Sokrates sterblich wie alle Lebewesen). Die Rekonstruktion eines argumentativen Bedeutungsaufbaus ist deshalb stets ein interpretatorisches Verfahren. Ein Argument ist nur dann eine Begründung für eine Behauptung, wenn die Begründung schwerer bestritten werden kann als die Behauptung. Argumentationen beruhen deshalb immer auf Schlussfolgerungen, die leichter Bestreitbares oder weniger Plausibles aus schwerer Bestreitbarem oder Plausiblerem ableiten. Die Plausibilität von Argumentationen ist folglich davon abhängig, welche Aussagen im jeweiligen kulturellen Wissen als mehr oder weniger plausibel gelten: Argumentationen müssen stets beim für wahr oder wahrscheinlich Gehaltenen ansetzen, um eine Begründungsleistung erbringen und einen Überzeugungseffekt erzielen zu können. Als Begründungsverfahren ist das Argumentieren eine sprachliche Kompetenz, die im Alltag als praktisches Wissen erlernt wird. In der griechischen Antike entstanden allerdings Traktate, die diese praktische Kompetenz zum Gegenstand der Rhetorik als einer systematischen Lehre von der Argumentation und damit zu einer diskursiven Wissensordnung machten. Als systematische Lehre hat die Rhetorik ihrerseits die argumentative Praxis aller möglichen Arten von Textverfassern - Rednern, Philosophen, Argumente und kulturelles Wissen Argumentation und Rhetorik AR GUME NTATION <?page no="204"?> 196 AR GUME NTATIV E R B E D E U T UNG S AU F BAU Geschichtsschreibern, Dichtern - beeinflusst. Über antike lateinische Vermittlung gelangte das rhetorische Wissen in Mittelalter und frühe Neuzeit, sowohl in der Gestalt einer in Traktaten vermittelten Lehre als auch in der Gestalt nachahmbarer praktischer Anwendung in Texten. Zentrale Gegenstände der antiken Rhetorik waren Verfahrensweisen des textuellen Bedeutungsaufbaus, die nur beim Argumentieren und nicht beim logischen Folgern benutzt werden. Zu diesen Verfahrensweisen gehören unter anderem die Erregung von Gefühlen bei den Adressaten (in der griechischen Rhetorik pathos), die Selbstdarstellung des Argumentierenden (ethos) sowie der Einsatz von Analogieschlüssen, die sprachlich oft als Vergleiche oder Metaphern formuliert sind. Wenn Argumentierende positive Gefühle für die von ihnen vertretenen Aussagen oder negative für die von ihnen abgelehnten evozieren und wenn sie so tun, als ob sie nicht eigene Interessen verfolgen würden, sondern die der Adressaten, kann das die Erfolgsaussichten der Argumentation erheblich vergrößern. Die Plausibilität von Analogieschlüssen ist stets vom kulturellen Wissen abhängig: So hat zum Beispiel Johann Fischart im späteren 16. Jahrhundert in den Gedichten »An Ehr vnd Billigkeit liebende Leser. Etlich Sonnet« sein negatives Urteil über die Herrschaft Katharinas von Medici (gest. 1589) in Frankreich mit der Regel begründet, dass es gegen die Natur ist, wenn Schwächere Stärkere beherrschen. Diese Regel begründete er ihrerseits mit der Analogie zum Verhältnis zwischen Henne und Hahn im Hühnerhof. Vorausgesetzt ist dabei, dass dieses Verhältnis eine natürliche Ordnung erkennbar macht, die auch der menschlichen Gemeinschaft zugrunde liegt. Nur wenn diese Voraussetzung im kulturellen Wissen als richtig gilt, hat die Analogie einen Begründungswert. Fischart hat sie nicht nur ausdrücklich hergestellt, sondern außerdem in der metaphorischen Bezeichnung Katharinas als ›Henne‹ aufgegriffen, die die ›Gallos‹ (gallischen Hähne) ›zu Capaunen machen‹ (kastrieren) wolle. Die Metaphorik hat eine argumentative Funktion wegen der Analogie, auf der sie beruht. Der Rhetorik galt alles der Plausibilisierung Dienliche als Bestandteil der Argumentation; bei der Rekonstruktion des argumentativen Bedeutungsaufbaus gerade auch älterer Texte muss das berücksichtigt werden. In der ersten Strophe von Walthers ›Reichston‹ spielen insbesondere metaphorische Analogien und <?page no="205"?> 197 die Selbstdarstellung des Sängers (›ethos‹) eine wichtige Rolle. Zunächst müssen jedoch der sequentielle Bedeutungsaufbau in der Reihenfolge der behandelten Themen und die Begriffsbeziehungen beschrieben werden. AR GUME NTATION Abb. 14 Der ›Reichston‹ Walthers von der Vogelweide in der Manessischen Liederhandschrift. <?page no="206"?> 198 AR GUME NTATIV E R B E D E U T UNG S AU F BAU Textuelle Sequenzierung 1. Am Anfang beschreibt der Sänger eine Körperhaltung, die er einmal eingenommen hat (V. 1-5). 2. Im Anschluss daran berichtet er, welche Gedanken ihm in dieser Situation kamen. Diese Gedanken füllen den gesamten Rest der Strophe (V. 6-24): 2.1. Der Sänger stellt sich die Frage, wofür man auf der Welt leben soll (V. 6-7). 2.2. Er stellt sich die Frage, wie drei Dinge zusammen erreicht werden können; diese Frage macht ihn ratlos (V. 8-10). 2.3. Er identifiziert die drei Dinge (V. 11-14). Dabei zeigt sich, dass es sich eigentlich nicht um konkrete ›Dinge‹, sondern um abstrakte Begriffe handelt. Zunächst werden die ersten beiden als konfliktträchtiges Paar genannt (›Ansehen‹ und ›Besitz‹), dann wird das dritte (›Gottes Gnade‹) den beiden anderen übergeordnet. 2.4. Der Sänger äußert den Wunsch und stellt dann gleich die Unmöglichkeit fest, alle drei ›Dinge‹ zu vereinen (V. 15-19). Dies ist auf metaphorische Weise ausgedrückt: Die drei ›Dinge‹ sollen gemeinsam in ein Gefäß, doch ist es nicht möglich, dass sie zusammen in ein Herz kommen. Die metaphorische Ausdrucksweise ist für den thematischen Fortgang wichtig, weil sie die drei abstrakten Begriffe erneut wie konkrete Dinge behandelt, die man in ein Gefäß legen kann oder die zu einem Ort (ins Herz) kommen können. An diese Vorstellung von einer Bewegung der drei ›Dinge‹ schließt die folgende Aussage an: 2.5. Den drei ›Dingen‹ ist der Weg versperrt. Schuld daran sind ›Untreue‹ und ›Gewalt‹, die im Hinterhalt liegen, während ›Friede‹ und ›Recht‹ schwer verwundet sind (V. 20-23). Auch dies ist eine metaphorische Ausdrucksweise, die die abstrakten Begriffe ›Untreue‹ und ›Gewalt‹ wie konkrete Wegelagerer, die abstrakten Begriffe ›Friede‹ und ›Recht‹ wie konkrete Verletzte behandelt. 2.6. Die drei ›Dinge‹ (also die Begriffe ›Ansehen‹, ›Besitz‹ und ›Gottes Gnade‹) werden in eine Beziehung zu den beiden Verletzten (also den Begriffen ›Friede‹ und ›Recht‹) gesetzt (V. 24). Die Ausdrucksweise ist wieder metaphorisch: Die drei können sich nicht sicher fortbewegen, solange die zwei verletzt sind. 2. Ich saz ûf eime steine <?page no="207"?> 199 Begriffsbeziehungen Gegenstand der berichteten Gedanken (2.1-6) sind die drei Dinge, ihre Beziehungen zueinander und ihre Beziehung zu den beiden Wegelagerern und den beiden Verletzten. Die Begriffsbeziehungen lassen sich anhand der einzelnen Aussagen rekonstruieren: 1. Es ist erstrebenswert, alle drei Dinge zu ›erwerben‹. ›Besitz‹, ›Ansehen‹ und ›Gottes Gnade‹ sind demnach Ziele, die ›man‹ anstrebt. Das Pronomen ›man‹ weist darauf hin, dass es sich um allgemein angestrebte Ziele handelt, auf die sich auch die Bemühungen des Sängers richten. Für die drei Ziele lebt man auf der Welt; es handelt demnach um Lebensziele. Die Begriffsbeziehung zwischen dem Ausdruck ›wofür leben‹ (2.1) und ›drei Dinge erwerben‹ (2.2) ist die einer thematischen Wiederaufnahme: Beide - und ebenso das ›in ein Gefäß haben wollen‹ - beziehen sich auf dasselbe, nämlich das Streben nach den drei Zielen. 2. Die Beziehung zwischen den drei Begriffen Besitz, Ansehen und Gottes Gnade ist die der Äquivalenz (Gleichwertigkeit), insofern sie unter den gemeinsamen Oberbegriff der Lebensziele fallen. Unter dem Aspekt der Vereinbarkeit stehen Besitz und Ansehen jedoch im Verhältnis der Opposition (Gegensatz) zueinander; Besitz und Ansehen bilden gemeinsam eine weitere Opposition zu Gottes Gnade. Zugleich handelt sich um eine Hierarchisierung (Wertordnung), weil Gottes Gnade über Besitz und Ansehen gestellt ist. 3. Die drei Lebensziele sind nicht zu erreichen, weil ›Untreue‹ und ›Gewalt‹ herrschen; der Weg würde erst wieder frei, wenn ›Friede‹ und ›Recht‹ herrschten. Zwischen ›Untreue‹ und ›Gewalt‹ besteht eine Äquivalenzbeziehung, ebenso zwischen ›Friede‹ und ›Recht‹: Als Oberbegriff für ›Friede‹ und ›Recht‹ liegt ›Ordnung‹ nahe, als Oberbegriff für ›Untreue‹ und ›Gewalt‹ in Opposition dazu ›Unordnung‹. ›Friede‹/ ›Recht‹ und ›Untreue‹/ ›Gewalt‹ stehen insofern in einer Opposition zu den drei Lebenszielen, als sie sich auf das Zusammenleben und damit auf die gesellschaftliche Ordnung beziehen; Ansehen, Besitz und Gottes Gnade strebt jeder Einzelne (›man‹ und ›ich‹) an. 4. Zwischen den drei Lebenszielen einerseits und der Ordnung andererseits besteht eine Kausalbeziehung: Friede und Recht sind die Voraussetzung dafür, dass man Ansehen, Besitz und Gottes 3. Thematische Wiederaufnahme Äquivalenz, Opposition, Hierarchisierung Kausalität und Begründung B E G R I F F S B E ZI E HUNG E N <?page no="208"?> 200 AR GUME NTATIV E R B E D E U T UNG S AU F BAU Gnade erreichen kann; Untreue und Gewalt sind der Grund dafür, dass kann man sie nicht erreichen kann. Der argumentative Begründungszusammenhang lautet also: (a) Damit alle Einzelnen die wichtigsten Lebensziele verfolgen können, müssen (b) Friede und Recht herrschen, weil (b) die generelle Voraussetzung für (a) ist. Metaphorische Analogien Die Formulierungen stellen mehrere metaphorische Analogien her: Die drei Lebensziele sind zunächst wie drei Dinge, die man erwerben und in ein Gefäß legen kann, später wie drei Reisende auf dem Weg ins menschliche Herz. Untreue und Unrecht sind wie Wegelagerer, die Reisenden auflauern; Friede und Recht sind wie Verwundete. Leicht zu erkennen ist die Funktion der Wegelagerer und der Verwundeten für den argumentativen Bedeutungsaufbau: Sie sind dafür verantwortlich, dass man die gesamte Strophe trotz ihres ausdrücklich konstativen Charakters als Aufforderung an die Adressaten verstehen kann. Wegelagerern muss man das Handwerk legen, Verwundete muss man heilen; wer die Unordnung erkennt, muss etwas dagegen tun. Zugleich signalisieren die Metaphern, dass die Unordnung das Produkt von Ordnungsstörern ist und dass die Ordnung durch die Ausschaltung der Ordnungsstörer und die Hilfe für ihre Opfer wiederhergestellt wird: Die metaphorischen Personifikationen bringen zum Ausdruck, dass die abstrakte ›Ordnung‹ aus konkreten Akteuren besteht. Weniger leicht zu erkennen ist die argumentative Funktion der metaphorischen Analogie zwischen den drei Lebenszielen und Dingen und diejenige zwischen den drei Lebenszielen und Reisenden. Die Analogie zwischen Reisenden und Lebenszielen dient dazu, die Kausalbeziehung zwischen Ordnung und Lebenszielen überhaupt erst herzustellen: Solange Friede und Recht verwundet sind, haben die drei Lebensziele kein sicheres Geleit auf ihrer Reise ins Herz des Einzelnen, weil die Verwundeten ihre Aufgabe nicht erfüllen können, die Reisenden vor Wegelagerern zu schützen. Diese Analogie veranschaulicht das Argument nicht einfach nur; sie ist das Argument. Die Analogie zwischen den drei Lebenszielen und Reisenden ersetzt nun ihrerseits im Verlauf der textuellen Sequenzierung 4. Wegelagerer und Reisende: Aufforderung Dinge und Reisende: Begründung <?page no="209"?> 201 diejenige zwischen den drei Lebenszielen und Dingen. Zunächst möchte der Sänger die Lebensziele erwerben und wie materielle Dinge in ein Gefäß legen; dann beklagt er, dass sie nicht gemeinsam in ein Herz kommen können. Dabei lässt sich herze als thematische Wiederaufnahme der Metapher schrîn verstehen, in ein herze komen als thematische Wiederaufnahme von in einen schrîn haben wollen. Die Analogie zwischen Lebenszielen und Reisenden erweist sich jedoch nicht als bloße thematische Wiederaufnahme der Analogie zwischen Lebenszielen und Dingen: Die drei Dinge will der Sänger erwerben, ohne zu wissen, wie sie gemeinsam erworben werden können. Die drei Reisenden sind dagegen auf dem Weg in sein Herz und gelangen wegen der Unordnung nicht dorthin. Während der Sänger nicht weiß, wie sich die Widersprüche zwischen den drei Lebenszielen beseitigen lassen, weiß er sicher, dass Recht und Friede die Voraussetzung dafür sind, dass sich die drei Lebensziele sozusagen einstellen können. Die metaphorischen Analogien - und nur sie - liefern eine Begründung dafür, dass es dem Erreichen der Lebensziele dienlicher ist, für Frieden und Recht zu sorgen, als über die Unvereinbarkeit von Besitz, Ansehen und Gottes Gnade nachzudenken. Kulturelles Wissen: Lebensziele und Herrschaftsordnung Drei weitere Sangsprüche Walthers von der Vogelweide (20,16; 22,18; 22,33) thematisieren das Verhältnis zwischen guot, êre und gotes hulde. Ihnen zufolge ist Besitz eine Voraussetzung für fröude (diesseitige Freude); falsch ist jedes Streben nach Besitz, das Ansehen und Seelenheil in Gefahr bringt. Auch andere höfische Texte aus derselben Zeit stellen Beziehungen zwischen den drei Begriffen her: In Hartmanns von Aue Erzählung ›Der arme Heinrich‹ beispielsweise meint die Hauptfigur, dass es falsch sei, ›ohne Gott‹ nach Ansehen und Besitz zu streben (V. 395-406), weil dies nicht zur ewigen Glückseligkeit (sælde) führe. Manchmal geht es auch nur um zwei Lebensziele: Im ›Parzival‹ Wolframs von Eschenbach hält es der Erzähler für erstrebenswert, das ewige Seelenheil zu erlangen und gleichzeitig das irdische Ansehen (der werlde hulde) zu sichern (827,19-24). 5. Lebensziele in der höfischen Dichtung KU LT U R E L L E S WI S S E N: L E B E N S ZI E L E UND H E R R S C HAF T S O R DNUNG <?page no="210"?> 202 AR GUME NTATIV E R B E D E U T UNG S AU F BAU In der höfischen Dichtung wird materiellem Reichtum und sozialem Ansehen (êre) gewöhnlich ein sehr hoher Wert für das adelige Leben zugeschrieben. Adelige Ehre beruht auf familiärer Herkunft sowie auf persönlichen Eigenschaften und Taten. Auch Reichtum ist der Ehre zuträglich, weil er Freigebigkeit gegenüber anderen ermöglicht. In eine Konfliktrelation können Reichtum und Ansehen beispielsweise im Fall zu geringer oder zu großer Freigebigkeit kommen: Geiz ist nicht gut für das Ansehen, Verschwendung schlecht für den Reichtum. Die Hierarchisierung zwischen der jenseitigen Glückseligkeit und den diesseitigen Lebenszielen stammt aus der Moraltheologie. Wenn der Mensch alle diesseitigen Güter mit dem Tod verliert und die jenseitige Glückseligkeit ewig dauert, kann nur sie das höchste Lebensziel sein. Mit dem Begriff gottes hulde greift Walther die theologische Lehre auf, dass der Mensch durch die Gnade Gottes zur ewigen Glückseligkeit gelangt. Auf der Lehre, dass dazu auch eine gute Lebensführung nötig ist, beruht das potentielle Konfliktverhältnis zwischen den diesseitigen Gütern und der jenseitigen Glückseligkeit. Die höfischen Dichter haben die Hierarchisierung aus dem moraltheologischen Wissen übernommen und der jenseitigen Glückseligkeit mit Reichtum und Ansehen diesseitige Lebensziele entgegengestellt, die für Adelige besonders wichtig waren. Die Beziehungen zwischen den Begriffen Besitz, Ansehen und Glückseligkeit wurden dadurch zu einer höfischen Wissensordnung, die Walthers Publikum vertraut gewesen sein muss. Der Bedeutungsaufbau der Strophe zielt jedoch nicht auf eine Begründung für den Konflikt zwischen den drei Lebenszielen, sondern für den Zusammenhang zwischen den Lebenszielen des Einzelnen und der gesellschaftlichen Ordnung. Die Begriffe ›Friede‹ und ›Recht‹ beziehen sich auf das zu Walthers Zeit gängige Wissen über Herrschaft. Die lateinische Entsprechung ›pax et iustitia‹ und die Bezeichnung des Herrschers als ›iustus et pacificus‹ (gerecht und friedenstiftend) gehörten zum Begriffsrepertoire aller gelehrten Textsorten, in denen Herrschaftskonzepte thematisiert wurden: Geschichtsschreibung, Herrscherlob, Fürstenspiegel (Lehrbücher für die Prinzenerziehung), Krönungsliturgie (Gottesdienst zur Königskrönung). ›Friede‹ bedeutete für Walther und seine Zeitgenossen, dass Konflikte nicht mit unkontrollierter Gewalt, sondern in rechtlich geregelter Lebensziele in der Moraltheologie Ordnung und Herrschaft <?page no="211"?> 203 Weise ausgetragen werden; deshalb dient ›gewalt‹ in der Strophe als Gegenbegriff zu ›fride‹. Der Begriff ›triuwe‹ bezeichnete zu Walthers Zeit gegenseitige rechtliche Verpflichtungsverhältnisse; deshalb ist ›untriuwe‹ in der Strophe der Gegenbegriff zu ›reht‹. Für den Kausalzusammenhang zwischen der Herrschaftsordnung und den Lebenszielen aller Einzelnen, den Walther am Ende der Strophe herstellt, bieten lateinische Texte über Herrschaft recht genaue Entsprechungen. So gehört es zu den immer wieder genannten Pflichten des gerechten und friedenstiftenden Königs, für die Sicherheit von Besitz zu sorgen (Diebstahl zu verhindern), jeden seinem Ansehen gemäß zu behandeln (keine Unwürdigen zu ehren) und die Kirche zu schützen. Der Schutz der Kirche war eine Herrscherpflicht, weil die Priester durch ihre sakramentalen Handlungen das Seelenheil vermittelten. Da es ohne Sakramente keine ewige Glückseligkeit gab, hatten die Herrscher dafür zu sorgen, dass die Kirche ihre Aufgaben erfüllen konnte. Johannes von Salisbury hat im ›Policraticus‹, der ausführlichsten lateinischen Gesellschafts- und Herrschaftslehre des 12. Jahrhunderts, zusammenfassend festgestellt, dass der Herrscher für das Wohl aller und jedes Einzelnen verantwortlich ist und dass er aus diesem Grund die Ordnung des Gemeinwesens gewährleisten muss. Auf diesem Wissen beruht die Bedeutung von Walthers Metaphorik: Die Reisenden Besitz, Ansehen und Gottes Gnade können nicht zum Herzen des Einzelnen kommen, wenn die Wegelagerer Untreue und Gewalt im Hinterhalt liegen und Friede und Recht verwundet sind. Der Begriff ›geleit‹ signalisiert im Rahmen der metaphorischen Analogie, dass der König die Reisenden schützen müsste: ›Geleit‹ war ein Rechtsbegriff, der die Sicherheit vor Gewalt auf den Straßen bezeichnete, und für diese Sicherheit zu sorgen, war Recht und Pflicht des Königs. Die in Gestalt der Begriffe und Begriffsbeziehungen aktualisierten Wissensbestände geben Walthers Adressaten zu erkennen, dass es in der Strophe um die Königsherrschaft geht. Ihre Störung war der Entstehungs- und Vortragsanlass für die Strophe: Nach dem Tod des römischen Kaisers und Königs Heinrichs VI. im Jahr 1197 konnten sich die Fürsten nicht auf einen Nachfolger einigen. Zwei Parteien wählten zwei Kandidaten, die 1198 an unterschiedlichen Orten zum König gekrönt wurden - Philipp von Schwaben, den Bruder des Verstorbenen, und Otto von Braunschweig. Die zweite Strophe des ›Reichstons‹ endet mit einer Parteinahme für Philipp. Lebensziele und Herschaftsordnung KU LT U R E L L E S WI S S E N: L E B E N S ZI E L E UND H E R R S C HAF T S O R DNUNG <?page no="212"?> 204 AR GUME NTATIV E R B E D E U T UNG S AU F BAU Pathos und Ethos Als sprachliche Mittel zur Erzeugung starker Gefühle galten in der Rhetorik insbesondere alle Arten der emphatischen Steigerung und die Verwendung von Gefühlswörtern. Beides kommt in der Strophe kaum vor. Friede und Recht sind gerade einmal sêre wunt; pathetischer wäre es beispielsweise gewesen, sie schrecklichste Qualen leiden und vor Schmerzen schreien zu lassen. Auch der Sänger selbst stellt sich nicht gerade als Schwerstbetroffenen dar: Er denkt auf seinem Stein zwar vil ange (neuhochdeutsch ›sehr eng‹, hier im Sinn von ›in großer Bedrängnis‹) nach, aber die Formulierung seiner Gedanken erweckt nicht den Eindruck, dass er von Gefühlen überwältigt ist. Mit der ausdrücklichen Selbstdarstellung des Sängers beginnt der gesamte Bedeutungsaufbau. Die Bedeutung der Pose auf dem Stein ist jedoch nur verständlich, wenn man das dabei aktualisierte kulturelle Wissen kennt. Es handelt sich nämlich um eine konventionelle Bildformel mit einer langen und komplexen Tradition. Die älteste bekannte Darstellung eines Menschen, der allein auf einem Hügel sitzt, den Ellbogen aufs Knie und den Kopf in die Hand gestützt, ist ein trauernder Jüngling auf einem griechischen Grabrelief aus dem 4. Jahrhundert vor Christus. Auf mittelalterlichen bildlichen Darstellungen erscheint Adam nach der Vertreibung aus dem Paradies in Trauer über den erlittenen Verlust in dieser Körperhaltung, ebenso der alttestamentliche Hiob in Trauer über sein Leid. In einem Psalter aus dem 9. Jahrhundert dient die Pose als Illustration zu Psalm 42,5 (Quare tristis es anima mea - Weshalb bist du traurig, meine Seele). Die Körperhaltung wurde demnach jahrhundertelang als Zeichen für Einsamkeit, Nachdenklichkeit und Trauer verstanden, im Rückgriff auf die antike und mittelalterliche Medizin auch als Zeichen für Melancholie. Der in die Hand gestützte Kopf war außerdem Bestandteil einer zweiten Darstellungs- und Bedeutungstradition: Die Körperhaltung kennzeichnet auch den von Gott inspirierten Visionär; sie begegnet vor allem in bildlichen Darstellungen der alttestamentlichen Propheten und der neutestamentlichen Evangelisten. Der Typus des Evangelistenbilds knüpfte seinerseits an Darstellungsmuster römischer Verfasserporträts an. Weil eines der lateinischen Wörter für ›Dichter‹, vates, zugleich ›Seher‹ bedeutet, konnte die Pose auch den Dichter bezeichnen. In der Manessischen Lieder- 6. Pathos Ethos und kulturelles Wissen Pose des einsam trauernden Denkers Seher- und Dichterpose <?page no="213"?> 205 handschrift (vgl. S. 138) beispielsweise sind außer Walther von der Vogelweide noch mehrere andere Dichter mit in die Hand gestütztem Kopf und auf das Knie gestütztem Ellenbogen dargestellt. Dabei beruht das Verfasserbild allerdings nur in Walthers Fall auf der Selbstdarstellung des Dichters in einem seiner Texte. Die Bedeutung ›Seher‹ hat Walther in der zweiten Strophe des ›Reichstons‹ wieder aufgegriffen, an deren Beginn er sich eine visionäre Schau der ganzen Welt zuschreibt: ich sach, swaz in der welte was - ich sah, was es auf der Welt gab. Der Anfang der ersten ›Reichston‹-Strophe aktualisiert alle Bedeutungen der Bildformel. Der Dichter stellt sich als einsam trauernden Denker dar, der die durch die Ordnungsstörung verursachten Zustände als Szenerie schaut: Die Lebensziele werden von Wegelagerern an ihrer Reise ins Herz der Menschen gehindert, weil Friede und Recht schwer verwundet sind und der König nicht für sicheres Geleit sorgt. Der Status des Sehers vermittelt seinen Aussagen Geltung, der des Trauernden sorgt auf dem Umweg über die Selbstdarstellung gleich zu Beginn für ein Pathos, das sprachlich später nicht weiter gesteigert werden muss: Die ganze Strophe ist eine Klage. Was der einsam trauernde Denker auf seinem Stein geschaut hat, teilt der Dichter als Sänger seinen Adressaten mit. Übrigens lehrte Johannes von Salisbury im ›Policraticus‹ auch, der Herrscher müsse dafür sorgen, dass niemand zu trauern braucht, sondern dass alle Freude haben können. Hätte Walther den ›Policraticus‹ gekannt, hätte ihm dieser Gedanke sicher gefallen. Leider lässt sich jedoch nicht mehr rekonstruieren, aus welchen Quellen Walther sein Wissen über Moraltheologie, Herrschaftskonzepte und die Bedeutungen der zur Selbstdarstellung benutzten Pose bezog. Das ist bei Texten der älteren deutschen Literatur eher die Regel als eine Ausnahme: Das erhaltene Material reicht in vielen Fällen nicht aus, um konkrete Quellen für das aktualisierte kulturelle Wissen zu identifizieren. Rekonstruierbar sind oft nur die potentiell verfügbaren Wissensbestände, die man sich als Verständigungshorizont für Textverfasser und Textrezipienten vorstellen kann: Ohne einen Verständigungshorizont vermochten Rezipienten die Bedeutungsangebote von Texten nicht zu erkennen, und jeder Verfasser rechnete bei seinem Bedeutungsaufbau mit Beständen kulturellen Wissens, die es seinen Adressaten ermöglichten, die Bedeutungsangebote seines Textes zu verstehen. Kulturelles Wissen als Verständigungshorizont PAT H O S UND E T H O S <?page no="214"?> 206 206 Narrativer Bedeutungsaufbau Dieses Kapitel verfolgt zwei Ziele, nämlich Verfahrensweisen der Erzähltextanalyse vorzustellen und einige Eigenschaften älterer Erzähltexte anzusprechen, die unseren modernen Erwartungen womöglich zuwiderlaufen. Als Beispiel dient Konrads von Würzburg Roman ›Engelhard‹ (vgl. S. 156). Damit konzentriert sich die Darstellung auf den Typus exemplarischen Erzählens, der stark vom gelehrten Dichtungsbegriff beeinflusst ist und der vom 12. Jahrhundert an den höfischen Roman, später auch die kürzeren Erzählformen (wie etwa Mären) und den Prosaroman prägt (vgl. S. 66, 101). Was sind Erzählungen? Erzählt wird nicht nur in der Dichtung und in nicht-poetischen literarischen Texten wie der Geschichtsschreibung. Wir alle erzählen ständig in unserer alltäglichen Kommunikation. Die wichtigsten Eigenschaften des literarischen Erzählens lassen sich auch in mündlichen Alltagserzählungen beobachten. Erzählen bringt Geschehnisse in einen zeitlichen Zusammenhang. Das erzählerische Grundmuster lautet deshalb ›und dann‹. Wenn ich beispielsweise abends gefragt werde, wie mein Nachmittag war, kann ich mit einer Erzählung antworten: ›Nach dem Mittagessen ging ich ins naturhistorische Museum. Bei den Dinosaurierskeletten traf ich Sabine. Wir gingen einen Kaffee trinken. Dann habe ich noch eine Jeans gekauft.‹ Ein größeres Maß an Bedeutung stellt das Erzählen her, wenn es diese zeitliche Beziehung als eine Beziehung zwischen Voraussetzung und Folge erscheinen lässt. Indem der temporale Zusammenhang als ein kausaler verstanden wird, erweitert sich das ›und-dann‹-Muster zum dreiteiligen ›Ausgangszustand-Ereig- Kapitel 9 1. Grundmuster der Erzählung Temporaler Zusammenhang Kausaler Zusammenhang <?page no="215"?> 207 nis-Endzustand‹-Muster. Das Ereignis führt dabei die Veränderung des Ausgangsin den Endzustand herbei und erscheint deshalb als Ursache der Veränderung. Die temporale ›und-dann‹-Struktur heißt ›schwache Form‹ (Berichtsform, englisch ›report‹) des Erzählens, die temporal-kausale dreiteilige Struktur ›starke Form‹ (Ereignisform, englisch ›story‹). Anstelle des obigen Berichts vom Nachmittag könnte ich eine Ereignisgeschichte so erzählen: ›Nach dem Mittagessen war ich deprimiert, weil ich wieder an die Trennung von Sabine denken musste. Ich ging ins naturhistorische Museum und überlegte in der Abteilung mit den Dinosaurierskeletten, wie ich meiner jämmerlichen Existenz ein Ende machen könnte. Plötzlich stand Sabine vor mir und lud mich auf einen Kaffee ein. Da sagte sie dann, dass sie zu mir zurückkommen wollte. Wir verabredeten uns für den Abend, und statt mich umzubringen, kaufte ich eine neue Jeans.‹ Die starke Form des Erzählens produziert mehr Bedeutung als die schwache, weil die Voraussetzung-Folge-Beziehung eine Deutung des zeitlichen Zusammenhangs liefert, die den einzelnen Bestandteilen einen Stellenwert zuweist: Das verändernde Ereignis (die Begegnung mit Sabine) lässt den früheren Zustand (die Depression) als Ausgangspunkt, den späteren (Warenkonsum als Zeichen für Lebenswillen) als Ergebnis erscheinen. Die ›und-dann‹-Struktur kann man einfach immer weiter fortsetzen, ohne dass die einzelnen Geschehnisse ihren Stellenwert verändern würden; ein Geschehnis kommt nach dem anderen. Die dreiteilige Struktur kann man ebenfalls fortsetzen; dabei wird jedoch das erste Ergebnis zum Ausgangspunkt eines zweiten verändernden Ereignisses (Sabine gefällt die neue Jeans nicht, was eine Krise bedingt). Die dreiteilige Struktur weist den Geschehnissen stets eine Bedeutung als Ausgangspunkt, Ereignis oder Ergebnis zu; und indem sie das tut, legt sie im endlosen und unüberschaubaren Fluss des Geschehens einen Ausschnitt fest und gibt ihm eine sinnhafte Ordnung. ›report‹ und ›story‹ Narrativer Bedeutungszusammenhang WA S S IND E R ZÄH L UNG E N? <?page no="216"?> 208 NAR RATIV E R B E D E U T UNG S AU F BAU ›Geschichte‹ und ›erzählerische Vermittlung‹ Geschichte (›histoire‹) Erzählungen stellen gewöhnlich dar, wie Figuren in Raum und Zeit handeln. Diese Ebene des Dargestellten - die Handlung, das Geschehen - wird im Anschluss an die französische Narratologen Tzvetan Todorov und Gérard Genette als ›histoire‹, auf Deutsch als erzählte ›Geschichte‹ bezeichnet. Geschichten bestehen in der Regel aus wenigstens einer Folge von Ausgangszustand, Ereignis und Ergebnis. In poetischen Texten erzählte Geschichten sind meistens komplexer: Sie bestehen aus mehreren Handlungszügen, deren Ergebnis jeweils zum Ausgangspunkt eines weiteren Ereignisses wird, so dass der Endzustand auf dem Weg über eine Kette von verändernden Ereignissen erreicht wird. Dabei sind oft verschiedene Handlungszüge ineinander verschachtelt, so dass alles komplizierter zugeht als bei meinem Nachmittag mit Sabine. Die Analyse des Bedeutungsaufbaus einer Geschichte hat im Wesentlichen zwei Schwerpunkte: Zum einen verschafft sie Klarheit darüber, welcher Ausgangszustand durch welche Ereignisse in welchen Endzustand transformiert wird. Zum anderen beschreibt sie das Bedeutungsgeflecht, das durch die Eigenschaften der Figuren, ihre Beziehungen zueinander sowie ihre Handlungen in Raum und Zeit entsteht. Für diesen zweiten Bereich der ›histoire‹-Analyse ist ein handlungstheoretisches Modell hilfreich, das es erlaubt, die verschiedenen möglichen Aspekte dargestellter Handlungssituationen anhand eines Kategorienrasters abzufragen. Bedeutung kommt auf der Ebene der Geschichte nämlich vor allem dadurch zustande, dass den Figuren, den Beziehungen zwischen ihnen, den Zeiten und Räumen sowie den Handlungsweisen Eigenschaften zugeordnet sind, die ihrerseits in Zusammenhängen mit den Voraussetzungen und Folgen des Handelns stehen. Ein paar einfache Beispiele sollen das zunächst veranschaulichen: Figureneigenschaften erhalten Bedeutung, wenn sich Schönheit als Voraussetzung für das Zustandekommen einer Liebesbeziehung erweist, wenn körperliche Kraft oder intellektuelles Vermögen Ursachen für Handlungserfolge sind. Beziehungen zwischen Figuren erhalten Bedeutung, wenn eine Liebe, die der gesellschaftlichen Ordnung entgegensteht, zu Eheschließung 2. a. ›Geschichte‹ Bedeutungsaufbau auf der Ebene der Geschichte Eigenschaften von Figuren, Figurenbeziehungen, Zeiten, Räumen, Handlungsweisen <?page no="217"?> 209 und Herrschaftsübernahme führt oder wenn Verwandtschaft zur Voraussetzung einer friedlichen Konfliktlösung wird. Die Eigenschaften von Zeiten und Räumen erhalten Bedeutung, wenn heimliches rechtswidriges Handeln, das in der Nacht stattfindet, im Verlauf der Geschichte nicht aufgedeckt wird und deshalb keine sozialen Folgen hat oder wenn Räuber, die zur Ursache für einen Kampf werden, im Wald hausen. Auch das Handeln selbst hat Eigenschaften, die im Zusammenhang mit seinen Voraussetzungen und Folgen Bedeutung tragen: Gewaltsames Handeln kann je nach Handlungsgründen als Verletzung oder Verteidigung der Rechtsordnung erscheinen, unmoralisches Handeln je nach Handlungsfolgen als ordnungswidrig oder situationsangemessen schlau. Das analytische Verfahren wird dadurch erleichtert, dass ältere Erzählungen vielen der handlungstheroretisch denkbaren Kategorien ein relativ kleines und konstantes Repertoire stark typisierter Eigenschaften zuweisen. So geht es bei den Figureneigenschaften oft um Rechtsstand (Adelige, Kleriker, Bauern, Stadtbürger), Geschlecht, Lebensalter, Körper (Schönheit, Kraft) und intellektuelle Fähigkeiten, bei den Figurenbeziehungen um Ehe, Liebe, Verwandtschaft, Freundschaft und Herrschaft. Räume und Zeiten erhalten gern durch den Bezug zur sozialen Ordnung Bedeutung: Hof und Stadt erweisen sich häufig als Räume öffentlicher Ordnung, der Tag ist ihre Zeit. Privatgemächer und Gärten können Räume, die Nacht kann die Zeit potentiell ordnungswidriger Heimlichkeit sein. Wälder sind meistens Räume ordnungsbedrohender Aggression. Gewässer (Flüsse, Seen, Meere) markieren oft Grenzen zwischen semantisch oppositionellen Räumen. Morgen und Abend können Grenzen zwischen Öffentlichkeit und Heimlichkeit sein. Typisiert sind vielfach auch die Handlungsweisen. In höfischen Erzählungen geht es oft um die Voraussetzungen und Folgen von Kampf - also physischer Gewaltanwendung - im Verhältnis zur sozialen Ordnung. Kämpfen stellt sich dabei immer wieder als notwendige Reaktion auf gewaltsame Aggression und als Instrument rechtswahrender Herrschaft heraus. Umso gewichtiger ist es, wenn Konfliktlösungen durch kommunikatives Handeln, das mit dem Einsatz intellektueller Fähigkeiten einhergehen kann, erfolgreich sind. Das Repertoire der Handlungsweisen Kampf, Kommunikation und Klugheit gehört in höfischen Erzählungen Typisierung von Eigenschaften › G E S C HI C H T E ‹ UND › E R ZÄH L E R I S C H E V E RMIT T L UNG ‹ <?page no="218"?> 210 NAR RATIV E R B E D E U T UNG S AU F BAU auch zum Handeln aus sexuellem Begehren, das zu Eheschließung und Herrschaftsübernahme führen oder die soziale Ordnung stören und schlechte Konsequenzen für Akteure haben kann. Die für ältere Erzählungen charakteristische Typisierung von Figureneigenschaften, Figurenbeziehungen und Handlungsweisen steht in einem engen Zusammenhang mit der exemplarischen Funktion vieler Erzählungen. Diese Funktion besteht nicht so sehr darin, Beispiele im Sinn unmittelbar nachahmbarer Handlungsvorbilder zu liefern oder soziale ›Normen‹ im Sinn von gesellschaftlichen Konventionen zu vermitteln, die durch menschliches Handeln eventuell auch verändert werden könnten. Älteres exemplarisches Erzählen soll vielmehr faktisch wirksame Gesetzmäßigkeiten der sozialen Interaktion erkennbar machen, auf denen der Erfolg oder Misserfolg des Handelns beruht. Weil der Erkenntniswert exemplarischer Erzählungen in der Generalisierbarkeit der Zusammenhänge zwischen den Voraussetzungen des Handelns, den Handlungsweisen und den Folgen des Handelns besteht, müssen die bedeutungstragenden Kategorien des Handelns so typisiert sein, dass sie Verallgemeinerungen ermöglichen. Dabei lässt sich stets am Erfolg oder Misserfolg des Handelns ablesen, welche Gesetzmäßigkeiten exemplifiziert werden: In Artusromanen beispielsweise hat ordnungsstörendes gewaltsames Handeln immer nur vorübergehenden Erfolg, scheitert am Ende aber zuverlässig, während ordnungswahrende Gewaltanwendung ebenso zuverlässig erfolgreich ist. Die regelhaften Zusammenhänge zwischen den Eigenschaften von Figuren, Figurenbeziehungen, Handlungsweisen, Handlungsgründen und Handlungsfolgen, die ältere Erzählungen exemplifizieren, lassen sich als Ordnungen des kulturellen Handlungswissens verstehen. Zwischen dem 12. und dem 16. Jahrhundert sind ein höfisches, ein moraltheologisches und ein schlauheitsbasiertes System praktischen Wissens identifizierbar, die in Erzählungen auf unterschiedliche Weise aktualisiert, miteinander kombiniert oder gegeneinander ausgespielt sein können. Höfisches Handlungswissen unterstellt eine prinzipielle Erfolgsträchtigkeit aristokratischer Vornehmheit sowohl bei den Handlungsvoraussetzungen - hier einschließlich körperlicher Schönheit und Kraft - wie auch bei den Handlungsweisen. Handlungsziele sind die Wahrung der Herrschaftsordnung und die Erfüllung sexuellen Begehrens, die unter der Voraussetzung aristokratischer Typisierung und exemplarisches Erzählen Ordnungen kulturellen Handlungswissens <?page no="219"?> 211 Vornehmheit als gut dargestellt sein kann. Moraltheologisches Handlungswissen unterstellt eine prinzipielle Erfolgsträchtigkeit von Handlungsweisen, die im moraltheologischen Sinn tugendhaft sind, und eine Unvermeidlichkeit des Scheiterns lasterhaften Handelns zumindest auf längere Sicht. Sexuelles Begehren hat charakteristischerweise langfristig negative Konsequenzen, wenn es moraltheologisch als Laster eingeschätzt ist. Schlauheitsbasiertes Handlungswissen unterstellt die prinzipielle Erfolgsträchtigkeit eigennützig-instrumenteller Handlungskalküle ohne Rücksicht auf Vornehmheit oder Tugendhaftigkeit; charakteristisch ist insbesondere der Erfolg des Kalküls eigennützig-schlauer Akteure auf Leichtgläubigkeit, unzureichende Vorsicht oder Lasterhaftigkeit anderer. Für die amoralische Schlauheit ist die Erfüllung ehebrecherischen sexuellen Begehrens eine besondere Herausforderung, weil das Begehren als Affekt die rationale Handlungskontrolle potentiell einschränkt; die instrumentelle Vernunft feiert deshalb ihren größten Triumph, wenn sie dem Begehren zu einer unerlaubten Erfüllung verhilft. Charakteristische Typisierungen gibt es in älteren Erzählungen schließlich auch noch bei Handlungsgründen und Handlungsfolgen. Bei den Handlungsgründen kann man handlungstheoretisch zwischen inneren und äußeren unterscheiden: Innere liegen in der handelnden Figur selbst und sind mit Handlungsmotiven identisch, die auf das Erreichen von Handlungszielen gerichtet sind. Zu rechnen hat man hier - je nach aktualisiertem Handlungswissen - vor allem mit sozialem Ansehen (êre), Herrschaft, Eheschließung, der Erfüllung sexuellen Begehrens, Verteidigung oder Wiederherstellung der Ordnung, materiellem Besitz, der ewigen Glückseligkeit sowie dem Selbsterhalt in Gefährdungssituationen. Äußere Handlungsgründe liegen außerhalb der Figur und begründen reaktives Handeln. Typisch sind hier Schädigungen des sozialen Ansehens (Schande), sexuelle Affektion, Ordnungsstörungen, Gefährdungen des Selbsterhalts und alle Arten von Hindernissen, die dem Erreichen von Handlungszielen im Weg stehen. Die Differenz zwischen Handlungszielen und Handlungsfolgen kann in älteren Erzählungen zum Kern der narrativen Bedeutungskonstruktion gehören: Artusroman-Ritter beispielsweise streben anfangs nicht Herrschaft und Ehe, sondern Ruhm durch Kampf an; der Sieg im Kampf hat erst zur Folge, dass Ehe und Handlungsgründe und Handlungsfolgen Innere und äußere Handlungsgründe Handlungsziele und Handlungsfolgen › G E S C HI C H T E ‹ UND › E R ZÄH L E R I S C H E V E RMIT T L UNG ‹ <?page no="220"?> 212 NAR RATIV E R B E D E U T UNG S AU F BAU Herrschaft zu Handlungszielen werden. Indem Artusromane den Handlungserfolg der Figuren die anfänglichen Absichten sogar noch übertreffen lassen, vermitteln sie ein extrem optimistisches sozio-anthropologisches Konzept: Der Erfolg sozialen Handelns ist noch besser als die Absichten seines Schmieds. Im ›Trojanerkrieg‹ Konrads von Würzburg dagegen ist der Untergang Trojas eine Folge davon, dass das Handeln der Figuren fast immer andere und schlechtere Konsequenzen hat als die angestrebten; die Einschätzung der menschlichen Handlungsmächtigkeit gerät dadurch ausgesprochen pessimistisch. Deutungsprobleme, die auf Unterschieden zwischen dem historischen und dem modernen kulturellem Wissen beruhen, ergeben sich manchmal, wenn ältere Erzählungen innere Handlungsgründe nicht ausdrücklich identifizieren. Oft liegt das - wie beispielsweise beim Streben adeliger Figuren nach Ehre und dem Vermeiden von Schande - an der Selbstverständlichkeit für die historischen Adressaten. Abgesehen von solchen eher unproblematischen Fällen kann man damit rechnen, dass Handlungsmotive, die für die narrative Bedeutungskonstruktion wichtig sind, wegen der exemplarischen Funktion älterer Erzählungen auch explizit offengelegt werden. Interpretierende Motivunterstellungen (›Psychologisierungen‹) dürfen nicht auf modernes kulturelles Wissen rekurrieren, weil der Erzählung in diesem Fall moderne Bedeutungsangebote unterstellt werden: So ist beispielsweise im ›Engelhard‹ nicht davon die Rede, dass der Protagonist den sozialen Aufstieg, der ihm durch die Heirat mit einer Königstochter widerfährt, um des Aufstiegs willen anstrebt. Wer ihm das trotzdem unterstellt, setzt die moderne Annahme voraus, dass sozialer Aufstieg ein generell wahrscheinliches Handlungsziel ist. Bei den äußeren Handlungsgründen sind der Zufall und die göttliche Vorhersehung notorische Probleme bei der Rekonstruktion des Bedeutungsaufbaus älterer Erzählungen, weil oft schwer zu entscheiden ist, in welchem Ausmaß sich Erzählungen auf theologisches Wissen beziehen. Die Einschätzung eines Geschehens als Zufall kann theologisch gesehen stets nur auf der unzureichenden menschlichen Erkenntnis der göttlichen Vorhersehung (providentia) beruhen: Wenn Gott allwissend und allmächtig ist, gibt es keine Zufälle; vielmehr ist alles Geschehen Bestandteil der Vorhersehung. Das theologische Zufallskonzept ist das einzige, das in Mittelalter und früher Neuzeit als begrifflich-diskursive Explizitheit innerer Handlungsgründe Zufall und Vorhersehung als äußere Handlungsgründe Zufall <?page no="221"?> 213 Wissensordnung (vgl. Kap. 10) belegbar ist, weil es in Traktaten behandelt wurde. Ältere Erzählungen bezeichnen Geschehnisse jedoch nicht nur in Figurenreden, sondern ebenso in der Erzählerrede oft ausdrücklich als zufällig (von ungeschiht, von âventiure). Das eröffnet zwei Deutungsmöglichkeiten: Entweder simuliert der Verfasser dabei auch in der Erzählerrede die generelle Beschränktheit des menschlichen Erkenntnisvermögens, oder er ignoriert das theologische Wissen. Während ältere Erzählungen den Verlauf des Geschehens oft ausdrücklich mit dem Zufall begründen, bringen sie die göttliche Vorhersehung oft auch dann nicht ausdrücklich ins Spiel, wenn der Endzustand der Geschichte einen ›final motivierten‹ Eindruck macht, also von vornherein vorherbestimmt zu sein scheint. Für die Finalmotivierung gibt es zwei Erklärungsmöglichkeiten. Die erste ist eine narratologische, die nicht mit dem kulturellen Wissen über die providentia operiert: Narratologisch gesehen kann ein narrativer Bedeutungsaufbau mit der Grundstruktur Ausgangszustand - Transformation - Endzustand prinzipiell nur vom Endzustand her konstruiert werden, weil die Festlegung eines Zustand als Ende die Voraussetzung dafür ist, dass das Ende von einem Anfang aus durch transformierende Ereignisse erreicht wird. In Erzählungen entscheidet deshalb das Ende darüber, was der Anfang ist. Artusromane beispielsweise erzählen, wie ein junger unverheirateter Ritter zum Ehemann und Herrscher wird; die Geschichte beginnt dort, wo der Weg zum Ehemann und Herrscher beginnt. In diesem Sinn sind alle Geschichten ›final motiviert‹, das heißt so erzählt, dass die Geschichte erklärt, wie es zum dem als Endzustand gesetzten Zustand gekommen ist. Die Finalität folgt dann notwendigerweise aus der Komposition der Struktur Ausgangszustand - Transformation - Endzustand durch den Verfasser; ›finale Motivierung‹ ist folglich dasselbe wie ›kompositorische Motivierung‹. Die Komposition dieser Struktur stand jedoch bei älteren Erzählungen nicht in der Verfügungsmacht der Textverfasser, wenn es sich dabei um einen Bestandteil des kulturellen Wissens handelte. Das Troja der höfischen Dichter beispielsweise muss untergehen, weil das die Voraussetzung für den Aufbruch von Eneas nach Italien ist; der Eneas der höfischen Dichter muss eine Herrschaft in Italien errichten, weil das eine Voraussetzung für die Entstehung des römischen Reichs ist; das römische Reich muss Vorhersehung und Finalmotivierung Finalmotivierung und kompositorische Motivierung Finalmotivierung und Vorhersehung › G E S C HI C H T E ‹ UND › E R ZÄH L E R I S C H E V E RMIT T L UNG ‹ <?page no="222"?> 214 NAR RATIV E R B E D E U T UNG S AU F BAU entstehen, weil Jesus von Nazareth in einer römischen Provinz zur Welt kam und dort nach römischem Recht hingerichtet wurde. Die Geschichten von Troja und Eneas konnten deshalb nur als Bestandteil der Vorhersehung Gottes eingeschätzt werden. Mit den Artusrittern verhält es sich anders, weil sie für die von Gott geschaffene Ordnung der Zeit nicht nötig sind. Dennoch könnten die Dichter der Artusromane und ihre historischen Rezipienten auch in diesen Geschichten die göttliche Vorhersehung am Werk gesehen haben. In der Engelhard-Geschichte handelt Gott mittels eines Wunders, so dass das Wirken der Vorhersehung hier außer Frage steht. Es gibt jedoch auch ältere Erzählungen, deren Verlauf nur schlecht als providentiell verstanden werden kann: Würde man der Tristan-Geschichte Gottfrieds von Straßburg Vorhersehung unterstellen, wäre Gott ein Zyniker, der offensichtlich füreinander bestimmte Liebende erst zusammenbringt und dann zugrunde gehen lässt. Ob die Finalmotivierung rein narrativ-kompositorisch ist oder außerdem auch auf dem kulturellen providentia-Wissen beruht und ob die göttliche Vorhersehung schon ein Bestandteil des bearbeiteten Stoffs ist oder von einer Erzählung erst konstruiert wird, hängt deshalb vom jeweiligen Einzelfall ab. Erzählerische Vermittlung (›discours‹) Von der Geschichte im narratologischen Sinn der ›histoire‹ lässt sich die Art und Weise unterscheiden, wie sie erzählt wird. Die Ebene der Darstellungsform wird im Anschluss an die französischen Narratologen Tzvetan Todorov und Gérard Genette als ›discours‹, auf Deutsch als ›erzählerische Vermittlung‹ bezeichnet. Nach Genettes Systematik lässt sie sich unter drei Aspekten analysieren: 1. dem Aspekt der Erzählinstanz; 2. dem Aspekt der Zeitordnung; 3. dem Aspekt der Informationsregelung. 1. Jede Erzählung hat eine Erzählinstanz (den ›Erzähler‹, bei Genette die ›Stimme‹,), die sich mehr oder weniger stark bemerkbar macht. Sie kann in unterschiedlichen Beziehungen zur Geschichte stehen und verschiedene Funktionen bei der Vermittlung der Geschichte übernehmen. a. Bei der Beziehung zwischen Erzählinstanz und Geschichte geht es vor allem darum, ob der Erzähler eine Figur der Geschichte ist (›Ich-Erzählung‹, bei Genette ›homodiegetische‹ Erzählung) b. ›Erzählerische Vermittlung‹ Erzählinstanz <?page no="223"?> 215 oder nicht (›Er-Erzählung‹, bei Genette ›heterodiegetische‹ Erzählung). In der Regel hat man es in der älteren Zeit mit Er-Erzählungen zu tun. Poetische Texte in Form von Ich-Erzählungen, die von einer offensichtlich erfundenen Figur erzählt werden und deren Erzählinstanz die Rezipienten deshalb als Fiktion begreifen müssen, sind vor dem 17. Jahrhundert selten. Häufiger kommen Ich-Erzählungen innerhalb von Er-Erzählungen in Gestalt einer eingebetteten ›Erzählung in der Erzählung‹ vor: Beispielsweise erzählt die Figur Eneas in einer längeren Partie des Eneasromans Heinrichs von Veldeke (vgl. S. 110) von der selbst erlebten Zerstörung Trojas. (So verhält es sich auch schon in Vergils ›Aeneis‹.) In denjenigen Typen der erzählenden Dichtung, die den Text als Produkt eines Bearbeiter-Verfassers ausweisen (vgl. S. 93) wie etwa der höfische Roman, herrscht in der älteren Literatur eine selbstverständliche Neigung, den Erzähler im Text ausdrücklich mit dem Dichter zu identifizieren. Der Erzähler des ›Iwein‹ stellt sich als Hartmann von Aue, der des ›Parzival‹ als Wolfram von Eschenbach vor. b. Bei den Funktionen der Erzählinstanz lassen sich Darstellungsfunktion, Deutungsfunktion und erzählbezogene Funktion unterscheiden. Mit ›Darstellungsfunktion‹ ist lediglich gemeint, dass der Erzähler die Geschichte erzählt; das tut er immer und notwendigerweise. Deuten muss er die Vorgänge dagegen nicht unbedingt. Deutungen können die Form von Bewertungen haben: Der Erzähler bewertet die Eigenschaften oder das Handeln von Figuren dann entweder im konkreten Einzelfall (spezifische Bewertungen) oder macht verallgemeinerte Aussagen über das Richtige und das Falsche (etwa darüber, was Ritter generell tun oder lassen sollten), die eine Grundlage für die Beurteilung des Einzelfalls bieten (verallgemeinerte Bewertungen). Deutungen können außerdem Handlungskausalitäten ausdrücklich thematisieren, etwa indem sie eine Handlungsweise explizit als Ursache einer Handlungskonsequenz deklarieren oder einen ursächlichen Zusammenhang zwischen einer Handlungsweise und einer Handlungskonsequenz in Abrede stellen. Für exemplarisches Erzählen ist dies eine besonders wichtige Option. Die erzählbezogene oder ›metanarrative‹ Funktion besteht darin, dass der Erzähler Aspekte des Erzählvorgangs zum Gegenstand macht. Dies ist ebenfalls nur eine Möglichkeit, keine Notwendigkeit der erzählerischen Vermittlung. So kann der Erzähler Verhältnis zwischen Erzählinstanz und Geschichte: Ich-Erzählung Er-Erzählung Funktionen der Erzählinstanz: Darstellungsfunktion Deutungsfunktion Erzählbezogene Funktion › G E S C HI C H T E ‹ UND › E R ZÄH L E R I S C H E V E RMIT T L UNG ‹ <?page no="224"?> 216 NAR RATIV E R B E D E U T UNG S AU F BAU etwa Bemerkungen über sich selbst als Erzähler, über sein Publikum, über seine Erzählweise, über die Wahrheit seiner Geschichte oder über die Wirkungsabsicht seines Erzählens machen. Ältere Erzähler behaupten beispielsweise gern, dass ihre Geschichte faktisch wahr ist und dass sie eine exemplarische Funktion hat. Wenn Bewertungsfunktion und erzählbezogene Funktion in Form von Erzählerkommentaren ausgiebig zum Einsatz kommen, lässt das eine gezielte Gestaltung der Erzählinstanz erkennen. Sie ist in der älteren deutschen Literatur eine Folge der produktionsseitigen Schriftlichkeit seit dem 12. Jahrhundert. Im höfischen Roman sind auch längere metanarrative Passagen, die den Erzählvorgang als solchen ins Bewusstsein heben, keine Seltenheit: Im ›Iwein‹ Hartmanns von Aue beispielsweise wirft die personifizierte Liebe dem Erzähler vor, nicht die Wahrheit zu berichten; im ›Parzival‹ Wolframs von Eschenbach fragt die personifizierte Geschichte den Erzähler, wo denn die Hauptfigur abgeblieben sei. 2. Auf der Ebene der erzählerischen Vermittlung gibt es stets eine eigene Zeitordnung, die in einem bestimmten Verhältnis zur Zeitordnung der Geschichte steht. Dies betrifft zum einen die Reihenfolge der Ereignisse, zum anderen die Ausführlichkeit ihrer Darstellung. a. Die Reihenfolge, in der die Erzählung Ereignisse darstellt, kann mit der zeitlichen Abfolge der Ereignisse in der Geschichte übereinstimmen oder nicht. Dies war schon in Antike und Mittelalter bekannt, wo die Gelehrten das Phänomen mit dem Begriffspaar ordo naturalis (›natürliche Anordnung‹) und ordo artificialis (›künstliche Anordnung‹) bezeichneten. Die gängigste Form der ›künstlichen‹ Erzählordnung ist der Rückgriff (bei Genette ›Analepse‹), das bei den mittelalterlichen Gelehrten berühmteste Beispiel dafür war der Anfang von Vergils ›Aeneis‹ (vgl. S. 110): Die Erzählung beginnt damit, dass Aeneas aufgrund eines Seesturms in Karthago landet, wo er dann selbst von den vorausgegangenen Ereignissen, dem Untergang Trojas und den anschließenden Irrfahrten auf dem Mittelmeer, erzählt. Rückgriffe informieren entweder, wie in diesem Fall, über in der Geschichte vorangehende, aber zuvor nicht erzählte Ereignisse (faktische Rückgriffe), oder sie erklären zuvor schon erzählte Ereignisse so, dass ihre Bedeutung erst im Nachhinein verständlich wird (deutende Rückgriffe). Im ›Parzival‹ Wolframs von Eschenbach beispielsweise wird mit einiger Regelmäßigkeit erst Zeitordnung Darstellung der Geschehensfolge ordo naturalis ordo artificialis <?page no="225"?> 217 im Nachhinein offen gelegt, wie zuvor erzählte Geschehnisse zu verstehen sind. b. Der zweite Aspekt der Zeitordnung betrifft das Verhältnis zwischen der Dauer von Ereignissen in der Geschichte und der Ausführlichkeit ihrer erzählerischen Vermittlung. Eine Erzählung kann lange Zeiträume in kurzen Zusammenfassungen und kurze Zeiträume in langen Szenen darstellen. Die Abfolge von Szenen und Zusammenfassungen signalisiert stets auch, was wichtig ist - das szenisch Dargestellte nämlich. Ältere Erzählungen neigen dazu, das Geschehen auf wenige Handlungskerne in breit auserzählten Szenen zu konzentrieren und diese Szenen durch Überleitungen in Gestalt mehr oder weniger knapper Zusammenfassungen zu verbinden. Das liegt daran, dass älteres Erzählen oft auf das Außergewöhnliche und Ereignishafte konzentriert ist, am Alltäglichen und Unspektakulären dagegen meistens wenig Interesse zeigt. 3. Jede Erzählung regelt die Verteilung der Information, die sie den Rezipienten über die Geschichte zukommen lässt (bei Genette ›Modus‹). Auch dies hat wieder zwei Aspekte, nämlich zum einen die Verteilung der Information auf Erzählerrede und Figurenrede, zum anderen das Verhältnis zwischen dem Wissen, das die Figuren über das Geschehen besitzen, und dem Wissen, das den Rezipienten zur Verfügung gestellt wird. a. Die Verteilung der Information auf Erzähler- und Figurenrede beeinflusst den Bedeutungsaufbau vor allem durch die Glaubhaftigkeit im Verhältnis zur Handlungsdarstellung. Figurenrede lässt sich dadurch generell leicht als absichtlich gelogen, unabsichtlich irrig oder standpunktabhängig-parteiisch ausweisen. Das gilt auch für Ich-Erzählungen, die in eine Er-Erzählung eingebettet sind, weil es sich dabei um Figurenreden handelt. Erzählerrede beansprucht in Er-Erzählungen generell eine höhere Glaubhaftigkeit als Figurenrede. Die Bewertungsfunktion der Erzählerrede kann jedoch im Verhältnis zur Handlungsdarstellung auch in älteren Erzählungen als erkennbar unzuverlässig oder parteiisch ausgewiesen sein. Die Darstellungsfunktion der Erzählerrede lässt sich in Er-Erzählungen - wie auch in homodiegetischen Erzählungen, die kein Bestandteil einer heterodiegetischen Erzählung sind - nur durch Inkohärenzen oder Widersprüche in der Handlungsdarstellung selbst als unzuverlässig ausweisen, wie es beispielsweise im ›Lalebuch‹ (vgl. S. 132) der Darstellung der Geschehensdauer Szene und Zusammenfassung Informationsregelung Erzählerrede Figurenrede › G E S C HI C H T E ‹ UND › E R ZÄH L E R I S C H E V E RMIT T L UNG ‹ <?page no="226"?> 218 NAR RATIV E R B E D E U T UNG S AU F BAU Fall ist. Häufiger begegnet in älteren Erzählungen erkennbar parteiische Handlungsdarstellung in der Erzählerrede aus der Perspektive einer Figur. Unter den Figurenreden gibt es zwei Typen: ›Kommunikative‹ Rede richtet sich an andere Figuren (Dialoge und Ansprachen), ›autokommunikative‹ richtet die Figur an sich selbst (Gedankenreden oder laute Selbstgespräche). Autokommunikative Figurenrede gehört in der volkssprachlichen Dichtung seit dem 12. Jahrhundert zu den konventionellen Erzähltechniken. Während kommunikative Figurenreden die Frage aufwerfen, welche Absichten eine Figur mit ihren Äußerungen verfolgt, hat man bei autokommunikativen Figurenreden zu bedenken, zu welchem Zweck die Erzählung in der jeweiligen Situation die Gedanken einer Figur darstellt. b. Eine Erzählung kann den Rezipienten im Verlauf des Erzählvorgangs stets mehr Wissen über das Geschehen zur Verfügung stellen, als jede einzelne Figur im Verlauf der Geschichte hat, oder sie kann den Rezipienten im Verlauf des Erzählvorgangs jeweils nur so viel Wissen über das Geschehen zur Verfügung stellen, wie eine bestimmte Figur im Verlauf der Geschichte hat. Wenn das Rezipientenwissen dem Wissen einer Figur angeglichen ist, wird ›aus der Perspektive‹ der Figur erzählt (bei Genette ›interne Fokalisierung‹). In französischen und deutschen höfischen Romanen war dies ein seit dem späteren 12. Jahrhundert eingesetztes erzählerisches Vermittlungsverfahren, das allerdings nur passagenweise, nicht den ganzen Text übergreifend benutzt wurde. Das den Rezipienten zur Verfügung gestellte Wissen wird dabei vorübergehend so auf dasjenige einer Figur beschränkt, dass ihre inneren Handlungsgründe ihr Handeln zugleich erklären und rechtfertigen. Die Verfahrensweisen der erzählerischen Vermittlung transportieren nicht einfach den Bedeutungsaufbau der Geschichte, sondern tragen selber erheblich zur Sinnkonstruktion des Textes bei. Es macht einen Unterschied, ob die Erzählinstanz ausdrückliche Bewertungen vorgibt oder nicht und ob sie das an manchen Stellen tut und an anderen nicht. Es ist folgenschwer, wenn vorzugsweise die Hauptfigur selbst zu Wort kommt, oder wenn auch ihr Widersacher seinen Standpunkt in eigener Rede darlegt. Es hat weitreichende Konsequenzen, dass man als Rezipient stets einen sicheren Überblick über das Geschehen erhält, oder dass es ähnlich undurchsichtig erscheint, wie es eine Figur Kommunikative und autokommunikative Figurenrede: Dialog Ansprache Selbstgespräch Verhältnis zwischen Figurenwissen und Rezipientenwissen (Perspektive) <?page no="227"?> 219 in der Geschichte erlebt, und sich die Bedeutung mancher Vorgänge nur im Nachhinein herausstellt. Erst das Zusammenspiel des Bedeutungsaufbaus auf den Ebenen der Geschichte und der erzählerischen Vermittlung ergibt das Sinnangebot, das eine Erzählung den Rezipienten macht. Das Beispiel des ›Engelhard‹ Konrads von Würzburg soll einige, nicht alle der im Überblick angeführten Aspekte veranschaulichen. ›Engelhard‹: Die Geschichte 3. Engelhard ist der Sohn einer kinderreichen, deshalb armen Landadeligenfamilie in Burgund. Um zu Ansehen zu kommen, ohne den Eltern länger auf der Tasche zu liegen, beschließt er, in den Dienst König Fruotes von Dänemark zu treten. Der Vater gibt ihm einen Apfel mit auf den Weg, der als Test für eventuelle Freunde dienen soll: Wer den Apfel angeboten bekommt und dann teilt, statt ihn allein zu essen, taugt als Freund. Auf dem Weg nach Dänemark scheitert die Probe zweimal, ehe sie bei einem dritten Jüngling namens Dietrich klappt, der exakt genauso aussieht wie Engelhard und ebenfalls zum dänischen Hof will. Die beiden schwören einander Freundschaft und ziehen gemeinsam weiter. Am Hof Fruotes werden sie aufgenommen und wegen ihrer Qualitäten und Fähigkeiten allgemein geschätzt. Die erste Zustandsveränderung der Geschichte besteht im Ortswechsel vom Elternhaus in Burgund zum dänischen Königshof, der zugleich den Wechsel aus der Familie (Figurenbeziehung: Verwandtschaft) in die Hofgesellschaft (Figurenbeziehung: Dienstverhältnis im Herrschaftsverband des Königs) bedeutet. Die für diese Veränderung wichtige Eigenschaft der Figur ist ihr sozialer Status: Engelhard ist ein Adeliger und kann deshalb in den Hofdienst treten, aber er gehört zum niederen und nicht wohlhabenden Landadel. Das auslösende Ereignis ist ein ›innerer Handlungsgrund‹, nämlich Engelhards Beschluss zum Aufbruch, der zwei Ziele hat: Das Streben nach Ansehen (êre) und die Rücksicht auf die Armut der Eltern, die für viele Kinder zu sorgen haben. Während des Ortswechsels tritt ein zweites Ereignis ein, die an die Apfelprobe geknüpfte zufällige Begegnung mit Dietrich. Sie bringt die Freundschaft als dritten Beziehungstyp neben Verwandtschaft und Herrschaftsverband ins Spiel. Die Apfelprobe testet, ob der mögliche Freund nur am eigenen Nutzen orientiert Bedeutungsaufbau: 1. Zustandsveränderung Figurenbeziehungen Figureneigenschaft Handlungsgründe und Handlungsfolgen › E NG E L HAR D ‹ : DI E G E S C HI C H T E <?page no="228"?> 220 NAR RATIV E R B E D E U T UNG S AU F BAU ist (er isst den angebotenen Apfel allein) oder auch am Wohlergehen des anderen (er teilt den Apfel). Da schon Engelhards Aufbruch nicht nur durch den eigenen Nutzen (Gewinn von Ansehen), sondern auch durch das Wohlergehen der Familie motiviert war, rückt das Verhältnis zwischen Eigeninteresse und Interesse anderer von Anfang an in den Mittelpunkt. Am dänischen Hof verliebt sich Engeltrud, die junge Tochter des Königs, in beide Freunde, da Engelhard und Dietrich einander völlig gleichen. Wegen der Namensähnlichkeit entscheidet sie sich schließlich für Engelhard, verheimlicht ihre Liebe jedoch. Nach einiger Zeit kommt ein Bote mit der Nachricht, dass Dietrichs Vater, der Herzog von Brabant, gestorben sei und dass Dietrich daheim die Erbfolge anzutreten habe. Engelhard schlägt das Angebot Dietrichs aus, ihn nach Brabant zu begleiten und dort mit ihm über das Land zu herrschen, weil er sich König Fruote zu Dankbarkeit verpflichtet fühlt. Dietrich kehrt nach Brabant zurück. Engeltrud leidet zusehends unter ihrem heimlichen Liebesbegehren. Um sie aufzuheitern, macht der ahnungslose König Engelhard zu ihrem Kammerdiener. Bei einem Gespräch mit Engelhard verrät sie sich unwillentlich, worauf Engelhard ebenfalls in Liebe entbrennt. Wegen des Standesunterschieds zwischen dem einfachen Landadeligen und der Königstochter verheimlicht er seine Liebe zunächst vor Engeltrud, gesteht sie ihr aber, als sie ihn zur Rede stellt. Mit dem Argument, dass ihr Ansehen gefährdet wäre, wenn sie ihm ihre Liebe gewähren würde, weist sie ihn, gegen ihre eigentliche Neigung, zurück. Engelhard seinerseits meint, wegen des Standesunterschieds keine Chance auf eine Heirat zu haben. Die Aufnahme am dänischen Hof setzt eine längere, etwas komplizierter aufgebaute Ereigniskette in Gang. Die entscheidenden Veränderungen beruhen auf dem Ausbruch der Liebe (der vierte Typ von Figurenbeziehungen) zunächst bei Engeltrud, dann bei Engelhard. Der Liebesaffekt wird durch die Wahrnehmung von Eigenschaften ausgelöst und ist deshalb ein von außen auf die Figur einwirkender Handlungsgrund, der dann als sexuelles Begehren zum inneren wird. Wie zuvor das gleiche Aussehen Engelhards und Dietrichs als Zeichen dafür dient, dass sie zur Freundschaft bestimmt sind, erscheint nun die Ähnlichkeit der Namen als Zeichen dafür, dass Engeltrud und Engelhard zur Liebe bestimmt sind. Der Text deutet zeichenhaft an, dass die Liebe ebenso wie die Freundschaft auf einer Art persönlicher Wesensähnlichkeit beruht (gleiches Aussehen, ähnlicher Name) und rückt die beiden Beziehungstypen unter diesem Aspekt nahe aneinander. 2. Zustandsveränderung Figurenbeziehungen Figureneigenschaften Handlungsgründe und Handlungsfolgen <?page no="229"?> 221 Die beiderseitige Liebe führt dazu, dass unter den Eigenschaften der Figuren zugleich der unterschiedliche Geburtsstand handlungsbestimmend wird: Der Standesunterschied zwischen dem einfachen Landadeligensohn und der Königstochter verhindert, dass Engelhard bei König Fruote um Engeltrud werben und seine Liebe in einer Ehe legitimieren kann. Die Bedeutung des Geburtsstands wird durch eine Doppelung hervorgehoben: Wie man erst jetzt erfährt, ist Dietrich ein Fürstensohn, der ebenfalls über Engelhard steht. Engelhard weist die Möglichkeit, mittels der Freundschaftsbeziehung den Standesunterschied zu überspringen und Mitregent in Brabant zu werden, ab und hält an seiner Verpflichtung gegenüber Fruote fest, der ihn in seinem Herrschaftsverband aufnahm. Wie zuerst gegen die Freundschaft, entscheidet Engelhard sich danach gegen die Liebe zugunsten der Herrschaftsordnung. Indem die Figur zwischen Freundschaft und Liebe auf der einen Seite sowie der Herrschaftsordnung auf der anderen wählt, wird eine Opposition hergestellt zwischen den Beziehungstypen, die auf persönlichen Wesenseigenschaften beruhen, und dem Beziehungstypus, der auf Standeseigenschaften und auf der Herrschaftsordnung beruht. Die unterschiedlichen Beziehungstypen und die unterschiedlichen Eigenschaften der Figuren gewinnen Bedeutung, indem sie den Fortgang der Handlung bestimmen. › E NG E L HAR D ‹ : DI E G E S C HI C H T E Engelhard wird vor Liebe krank und droht zu sterben. Um sein Leben zu retten, verspricht ihm Engeltrud einen Geschlechtsverkehr unter der Bedingung, dass er sich zuvor als Ritter auf einem Turnier hervortut. Die Aussicht lässt Engelhard umgehend genesen. Fruote schlägt ihn zum Ritter; er zieht zu einem Turnier in die Normandie und erlangt Ruhm. Nach der Rückkehr schläft Engeltrud im Baumgarten der Königsburg mit ihm, doch werden die beiden dabei zufällig von Ritschier, dem Neffen des Königs, entdeckt. Ritschier informiert den König; Engelhard und Engeltrud beschließen, die Anschuldigung durch geschicktes Lügen in der Gerichtsversammlung abzustreiten. Der erboste König will Engelhard hinrichten lassen, doch Engelhard erreicht, dass ein Gerichtskampf gegen Ritschier als Gottesurteil über die Anschuldigung angesetzt wird. Da Engelhard nicht damit rechnet, das Gottesurteil bestehen zu können, beschließt er, Dietrich um Hilfe zu bitten. Der König gewährt ihm eine sechswöchige Buße im Kloster als Vorbereitung auf den Kampf; Engelhard reitet jedoch nach Brabant und informiert Dietrich über die Lage. Dietrich bietet ihm von sich aus an, in Dänemark statt seiner gegen Ritschier zu kämpfen; Engelhard akzeptiert dies und nimmt unterdessen Dietrichs Platz in Brabant ein. Da Dietrich nicht mit Engeltrud <?page no="230"?> 222 NAR RATIV E R B E D E U T UNG S AU F BAU geschlafen hat und folglich unschuldig ist, gewinnt er den Zweikampf und rettet damit auch die Ehre der Königstochter. Als Dank dafür gibt Fruote seine Tochter dem vermeintlichen Engelhard zur Frau. In der Hochzeitsnacht legt Dietrich ein Schwert zwischen sich und Engeltrud; genauso verhält sich Engelhard in Brabant gegenüber Dietrichs Ehefrau. Die beiden tauschen erneut die Rollen; nach Fruotes Tod wird Engelhard dänischer König. Der Ausbruch der Liebeskrankheit erweist sich als entscheidendes Ereignis für den weiteren Handlungsverlauf: Indem sie Engelhards Leben bedroht, steht sie seiner Entscheidung gegen die Liebe und für die Herrschaftsordnung entgegen. Die Erfüllung des sexuellen Begehrens wird dadurch zu einem für den Selbsterhalt notwendigen Handlungsziel. Engeltrud entscheidet sich gegen die Rechtsordnung, die Geschlechtsverkehr außerhalb der Ehe streng verbietet, für die Liebe. Als Voraussetzung dafür, dass sie ihre Existenz für Engelhard aufs Spiel setzt, verlangt sie jedoch, dass er seine persönlichen Qualitäten als Ritter nachweist. Die Qualität der Person wird damit über den Geburtsstand gestellt: Der leistungsfähige Ritter gleicht den Mangel des armen Landadeligen aus. Persönliche Qualität und existentielle Unausweichlichkeit der Liebe rechtfertigen gemeinsam den Bruch der Rechtsordnung. Engeltrud riskiert ihr eigenes Wohlergehen, um Engelhards Leben zu retten; wie in der Freundschaft geht es in der Liebe, die auf die Wesenseigenschaften des anderen achtet, um das Wohlergehen des anderen. Der Baumgarten ist ausdrücklich als Ort der Heimlichkeit ausgewiesen; Engelhard vergisst jedoch, die einzige Zugangstür hinter sich zu verschließen. Bei der Darstellung des Baumgartens greift Konrad auf das kulturelle Wissen über den Lustort (locus amoenus) zurück, dessen Bedeutung unter anderem in einer lateinischen Poetik aus dem späten 12. Jahrhundert, der ›Ars versificatoria‹ des Matthäus von Vendôme, erklärt wird: Die Schönheit des Orts ist demnach auf die Befriedigung aller Sinne bezogen. Das kühle Wasser einer Quelle oder eines Bachs erfreut den Tastsinn, der Duft von Gras und Blüten Geschmacks- und Geruchssinn, Blumen erfreuen das Auge, singende Vögel das Ohr. Der liebliche Ort, erläutert Matthäus, fördert die Bereitschaft zum Geschlechtsverkehr und macht dadurch eine entsprechende Handlung wahrscheinlich, ist also ein Bestandteil der Handlungsbegründung. 3. Zustandsveränderung Figurenbeziehungen Figureneigenschaften Handlungsgründe und Handlungsfolgen Raum Kulturelles Wissen: Lustort <?page no="231"?> 223 Indem der Rechtsbruch durch die zufällige Entdeckung öffentlich wird, tritt ein Ereignis ein, das den Liebenden ein Hindernis in den Weg stellt. Der Aufbau der Geschichte wird nun wieder einfacher: Der Ausgangszustand ist, dass Engelhard und Engeltrud aufgrund ihres Handelns durch die Rechtsordnung bedroht sind; der glückliche Endzustand kommt durch die Beseitigung dieser Bedrohung zustande; das verändernde Ereignis ist der manipulierte Gerichtskampf. Die körperliche Gleichheit der beiden Freunde, die bisher nur als Zeichen ihrer Freundschaft diente, eröffnet die Lösungsmöglichkeit und wird dadurch unmittelbar handlungsbestimmend. Dies macht die finale Motivierung offensichtlich, und angesichts der Zufälligkeit der Begegnung von Engelhard und Dietrich sowie der Entdeckung der Liebenden im Baumgarten drängt sich die Frage nach der göttlichen Vorhersehung auf. Dass Engelhard im Königsgericht erfolgreich lügt (sein rhetorisches Verfahren wird in Kap.12 behandelt) und den Gerichtskampf manipuliert, macht amoralische Schlauheit zur entscheidenden Handlungsweise. Durch die Manipulation des Gerichtskampfs verhilft die Freundschaft der Liebe zum Sieg über die Rechtsordnung. Wie zuvor Engeltrud ihr eigenes Wohlergehen aus Liebe für Engelhard aufs Spiel setzt, setzt nun Dietrich sein eigenes Wohlergehen aus Freundschaft zu Engelhard aufs Spiel. Die moralische Qualität von Freundschaft und Liebe führt dazu, dass der heimliche Bruch der Ordnung verborgen bleibt; dadurch kann die Ordnung gewahrt werden: Die Liebe wird durch die Ehe legitimiert, Engelhard wird König. Das Hindernis des Standesunterschieds ist überwunden. Wenn man die Handlungsfolge noch einmal im Ganzen überblickt, bestehen die Ereignisse zwischen Engelhards Auszug vom Elternhaus und dem erreichten Status als dänischer König in einer Kette von Veränderungen, die ihre Bedeutung durch die Verbindung mit den unterschiedlichen Beziehungstypen und den ihnen zugeordneten Figureneigenschaften gewinnen: Der arme Landadelige steigt zum König auf, was die Herrschafts- und Rechtsordnung nicht vorsieht (er kann Engeltrud nicht einfach heiraten). Der Weg führt über die Liebe, die die Ordnung bricht, und die Freundschaft, die den Bruch der Ordnung verdeckt. Der Erfolg beruht darauf, dass die persönlichen Beziehungstypen Liebe und Freundschaft am Wohlergehen des anderen und an seinen Wesenseigenschaften orientiert sind. 4. Zustandsveränderung Figurenbeziehungen Figureneigenschaften Handlungsgründe und Handlungsfolgen Gesamtzusammenhang › E NG E L HAR D ‹ : DI E G E S C HI C H T E <?page no="232"?> 224 NAR RATIV E R B E D E U T UNG S AU F BAU Dies könnte der Endzustand sein, aber die Geschichte geht noch weiter: Dietrich erkrankt in Brabant am Aussatz. Er verliert seinen gesellschaftlichen Status und wird auf einer Insel isoliert, wo er zusehends in Verzweiflung versinkt. Eines Tages erscheint ihm ein Engel im Traum: Das einzige Heilmittel gegen seine Krankheit sei ein Bad im Blut der beiden Kinder Engelhards, die der Freund zu diesem Zweck töten werde. Dietrich weist den Ausweg als teuflische Versuchung von sich, begibt sich aber dennoch an den dänischen Hof, weil er sich dort eine bessere Versorgung und ein weniger einsames Dasein erhofft. Engelhard nimmt ihn großzügig auf. Im Verlauf der täglichen Gespräche bringt er Dietrich schließlich dazu, von der Engelserscheinung zu erzählen. Gegen Dietrichs Willen köpft Engelhard heimlich seine Kinder; Dietrich wird im Blutbad gesund. Als Engelhard eine Amme zu den Kindern schickt, findet sie die beiden lebend; nur um ihre Hälse läuft ein dünner roter Streifen. Dietrich kehrt nach Brabant zurück und alle leben fortan glücklich. Der Ausgangszustand ist das glückliche Herrscherleben, das erste Ereignis die Krankheit, das Ergebnis der Statusverlust. Weder seine Position als Herrscher noch die Verwandtschaftsbeziehungen helfen Dietrich; alle wenden sich von ihm ab. Die zunehmend elende und vereinsamte Existenz wird durch die Ereigniskette, die über die Erscheinung des Engels, den Ortwechsel an den dänischen Hof, das Opfer der Kinder, das heilende Blutbad und die wunderbare Wiederbelebung der Kinder führt, in einen Endzustand vollständigen Glücks verändert. Der Bedeutungsaufbau ist auf zugespitzte Wiederholungen des bereits Bekannten angelegt: Wieder ist es die Freundschaft, die die Figur rettet. Wieder stellt der Freund sein eigenes Wohlergehen, symbolisiert im Leben des eigenen Nachwuchses, hinter das Wohlergehen des anderen zurück. Wieder ist die vom Freund geleistete Handlungsweise problematisch; dem manipulierten Gottesurteil entspricht die Tötung der Kinder. Wieder wird die problematische Handlungsweise durch den Erfolg gerechtfertigt, freilich auf drastischere Weise: Anders als beim Gerichtskampf geschieht mit der Wiederbelebung der Kinder ein Wunder. Unter den zahlreichen Beständen kulturellen Wissens, die Konrad für den narrativen Bedeutungsaufbau der Geschichte benutzt hat, spielen diejenigen über Freundschaft, Liebe und Heilung vom Aussatz eine besonders wichtige Rolle. Das Wissen über Freundschaft geht auf den Traktat ›De amicitia‹ (›Über die 5. Zustandsveränderung Figurenbeziehungen Figureneigenschaften Handlungsmotive Kulturelles Wissen: Freundschaft <?page no="233"?> 225 Freundschaft‹) des römischen Autors Cicero aus dem 1. Jahrhundert v. Chr. zurück, der zu den mittelalterlichen Schulbüchern gehörte. Konrad muss nicht unbedingt Cicero selbst gelesen haben; er kann dessen Konzepte auch über andere Texte vermittelt bekommen haben. Cicero versteht unter ›Freundschaft‹ eine völlige Übereinstimmung in Absichten, Neigungen und Gedanken und bringt das in zugespitzten Formulierungen zum Ausdruck: »Wer nämlich einen wahren Freund ansieht, schaut gleichsam auf ein Abbild seines eigenen Ichs«. Es fehlt gewissermaßen nur das ›gleichsam‹, wenn die beiden Freunde im ›Engelhard‹ einander zum Verwechseln ähnlich sind. Auch sonst gibt es auffällige Übereinstimmungen: Freundschaft soll man laut Cicero erst schließen, nachdem man den anderen auf die Probe gestellt hat. Sie beruht nicht auf Interessenkalkül, sondern auf Liebe. Der eigene Nutzen ist nicht ihr Motiv, sondern ihre Folge. Sie beweist sich im Unglück und gründet auf Zuverlässigkeit. In der Freundschaftsbeziehung steht der Höhere auf gleicher Stufe wie der Geringere. Was Konrad über Freundschaft erzählt, darf allgemeine Geltung beanspruchen, weil es durch Wissen abgesichert ist. Die Entstehung der Liebe stellt Konrad wie viele höfische Dichter in Übereinstimmung mit medizinischem Wissen dar (mehr dazu in Kapitel 10). Ursache für den Ausbruch der Liebe ist danach die Wahrnehmung von Eigenschaften, insbesondere der körperlichen Schönheit. Engeltrud prüft zunächst mit den Augen die äußeren Eigenschaften der beiden Freunde, dann mit dem Herzen die inneren. Die Prüfung fällt unterschiedslos positiv aus. Dem vorausgesetzten Wissen nach muss sie sich unter diesen Umständen in beide gleichzeitig verlieben, und da Auge und Herz keine Ungleichartigkeit erkennen können, bleibt nur das Ohr, das den unterschiedlichen Klang der Namen und im Anschluss daran ihre unterschiedliche Bedeutung erkennt. Engelhards Liebeskrankheit entspricht zeitgenössischem medizinischen Wissen, dem zufolge unerfülltes Liebesbegehren zu einem lebensbedrohlichen Auszehrungszustand führen kann. Für die Symptome und Folgen der Liebeskrankheit gab es viele Vorbilder in der höfischen Dichtung, so dass Konrad keine medizinischen Traktate gelesen haben muss. Den kausalen Zusammenhang zwischen Engeltruds Schönheit und Engelhards sexuellem Begehren stellt er sowohl beim Ausbruch der Liebesaffekts wie nochmals vor dem Geschlechtsverkehr in der Baumgarten-Szene her: Als Engelhard Liebe › E NG E L HAR D ‹ : DI E G E S C HI C H T E <?page no="234"?> 226 NAR RATIV E R B E D E U T UNG S AU F BAU den heimlichen Lustort betritt und Engeltrud sieht, präsentiert eine Schönheitsbeschreibung die Ursache für Engelhards Lust. Schönheitsbeschreibungen beruhen zum einen auf dichtungstechnischem Fachwissen, weil es sich dabei um ein konventionalisiertes Textmuster handelt; zum anderen wird das höfische Wissen über adelige Schönheit aktualisiert. In Übereinstimmung mit beiden Wissensbeständen beschreibt Konrad das Gesicht von oben nach unten (Haar, Stirn, Augen, Nase, Wangen, Mund und Zähne, Kinn), danach den restlichen Körper von oben nach unten (Brüste, Arme, Hände, Beine, Füße). Den einzelnen Körperteilen werden Eigenschaften (Farben und Formen) zugeordnet; Vergleiche und Metaphern steigern die jeweiligen Qualitäten. Darauf folgen noch Kleidung und Schmuck, die den Glanz der Schönheit weiter vergrößern. Konrad hat die ganze Geschichte nicht erfunden, sondern einen Stoff neu bearbeitet, in dem die Heilung vom Aussatz fest verankert war. Der Stoff ist in Gestalt verschiedener Freundschaftserzählungen seit dem späten 11. Jahrhundert in der lateinischen, seit der Wende vom 12. zum 13. Jahrhundert in der altfranzösischen Literatur belegt. Die beiden Freunde heißen zumeist Amicus (das lateinische Wort für ›Freund‹) und Amelius. Konrad selbst behauptet im ›Engelhard‹, eine lateinische Vorlage bearbeitet zu haben; in der erhaltenen Textüberlieferung lässt sich diese jedoch nicht konkret identifizieren. Die Heilung vom Aussatz durch Kinderblut stammt aus der Gattung Heiligenlegende, genauer gesagt aus der Silvester-Legende: Der römische Kaiser Konstantin ist am Aussatz erkrankt und erfährt, dass er durch ein Bad in Kinderblut geheilt werden kann. Papst Silvester bringt ihn von seinem Vorhaben ab, Kinder zur Blutgewinnung umbringen zu lassen, und überredet ihn, sich stattdessen taufen zu lassen. Bei der Taufe wird Konstantin durch ein Wunder vom Aussatz geheilt. In den ›Amicus und Amelius‹-Erzählungen findet die Heilung durch das Kinderblut tatsächlich statt, weshalb das Wunder auf die Wiederbelebung der Kinder verschoben ist. Die erzählte Blutheilung belegt selbstverständlich nicht, dass Kinder im 12. und 13. Jahrhundert tatsächlich geschlachtet worden wären, um Aussätzige zu heilen, aber spricht doch für ein verfügbares kulturelles Wissen über die Möglichkeit der Aussatzheilung durch Kinderblut. Dass das Wunder für die Zeitgenossen eine glaubhafte Handlungsmöglichkeit Gottes in der Wirklichkeit war, zeigt die Heilung vom Aussatz <?page no="235"?> 227 lateinische Bearbeitung der Geschichte von Amicus und Amelius als Heiligenlegende im 12. Jahrhundert: Heiligenlegenden sind nämlich prinzipiell mit dem Anspruch erzählt, dass das dargestellte Geschehen faktisch wahr ist. Bei Konrad sind Engelhard und Dietrich jedoch keine Heiligen, so dass die Erzählung nicht in die Gattungstradition der Heiligenlegende gestellt ist. Beim Überblick über die gesamte Handlung erkennt man, dass die beiden Freundschaftsdienste (Gerichtskampf und Kinderopfer) die wichtigsten Ereignisse darstellen; sie führen jeweils zum glücklichen Ergebnis. Engelhard gewinnt dank der Freundschaft seinen Status als Herrscher, Dietrich gewinnt ihn zurück. Der zweite Freundschaftsdienst ist eine gesteigerte Wiederholung des ersten mit umgekehrten Rollen. Die Liebesbeziehung zwischen Engelhard und Engeltrud hat in diesem Gesamtzusammenhang der Handlung einen funktionalen Charakter; sie dient dazu, den ersten Freundschaftsdienst herbeizuführen. Engelhards lebensbedrohliche Liebeskrankheit im ersten Teil hat ihre Entsprechung in Dietrichs Aussatzkrankheit im zweiten Teil; allerdings ist die Handlungskonstruktion im ersten Teil komplizierter, weil dort Engeltrud die Krankheit heilt und Dietrich die Verheimlichung der Therapie ermöglicht. Die Konstruktion gewinnt ihre Bedeutung dadurch, dass sie die Liebe als einen Beziehungstyp erscheinen lässt, der wie die Freundschaft das Eigeninteresse dem Interesse des anderen unterordnet. Liebes- und Freundschaftsdienste führen auch dann zum Handlungserfolg, wenn sie die Rechtsordnung brechen. Allerdings wird der Ordnungsbruch in beiden Fällen nicht wirksam: Einmal bleibt die Ordnung gewahrt, weil ihre Verletzung nicht offenbar wird; das andere Mal bleibt sie gewahrt, weil ihre Verletzung durch das Wunder nachträglich ungeschehen gemacht wird. Dass Gott mit dem Wunder in das Geschehen eingreift, weist den Endzustand als vorhersehungsgemäß aus. Eine Rechtfertigung des rechtswidrigen Geschlechtsverkehrs, der Lüge vor Gericht und des manipulierten Gottesurteils impliziert das nicht notwendigerweise: Gott könnte sich sowohl menschlicher Lasterhaftigkeit bedienen, um seine Ziele zu erreichen, als auch Freundschaft und Liebe gegenüber Recht und Herrschaft privilegieren. Die erste Möglichkeit abzuweisen und die zweite nahezulegen, ist eine Funktion der erzählerischen Vermittlungsverfahren. Gesamtzusammenhang › E NG E L HAR D ‹ : DI E G E S C HI C H T E <?page no="236"?> 228 NAR RATIV E R B E D E U T UNG S AU F BAU ›Engelhard‹: Die erzählerische Vermittlung Während die Geschichte final komponiert ist und das Wunder die Finalität mit der göttlichen Vorhersehung begründet, dient die erzählerische Vermittlung durchweg der kausalen Handlungsbegründung. Sie ist für exemplarische Erzählungen unverzichtbar, weil der Erkenntniswert auf der Generalisierbarkeit der Zusammenhänge zwischen Handlungsgründen, Handlungsweisen und Handlungsfolgen beruht: Exemplarisch ist eine Erzählung stets, insofern die erzählten Handlungskausalitäten verallgemeinerbar sind. Besonders wichtig dafür sind im ›Engelhard‹ die autokommunikativen und dialogischen Figurenreden, in denen Reflexionen der Akteure über Handlungsziele und Handlungsmittel dargestellt sind. Engelhard beschließt in einer Gedankenrede, die Familie zu verlassen und zum dänischen Königshof aufzubrechen. Die Funktion der Apfelprobe als Handlungsmittel erklärt ihm der Vater in einem Dialog. Engeltrud trifft ihre Entscheidung gegen die Liebe zu Dietrich und für die Liebe zu Engelhard in einer Gedankenrede. Engelhard entscheidet sich in einem Dialog mit Dietrich dagegen, ihn nach Brabant zu begleiten, und stattdessen am dänischen Hof zu bleiben. Die Abwägung zwischen den gefährlichen Konsequenzen eines Geschlechtsverkehrs und seiner Notwendigkeit als lebensrettende Therapie findet in einem Dialog zwischen Engeltrud und Engelhard statt. Nach der Entdeckung durch Ritschier fällen die beiden in einem Dialog die Entscheidung, dass Engelhard nicht vom dänischen Hof fliehen, sondern Engeltruds Ehre durch Leugnen retten soll; durch das Lügen vor Gericht gelingt es Engelhard, Ritschiers Aussage als unglaubhaft erscheinen zu lassen. In einer Gedankenrede beschließt er, Dietrich um Hilfe im Gerichtskampf zu bitten. In einen Dialog mit Engelhard schlägt Dietrich vor, an Engelhards Stelle zu kämpfen. In einer Gedankenrede überlegt Dietrich, ob der Aussatz eine Strafe für die Manipulation des Gottesurteils sein könnte; in einer weiteren entscheidet er sich gegen die Kinderbluttherapie; in einer dritten beschließt er, Engelhard trotzdem zu besuchen. In einem Dialog erzählt er Engelhard von seinem Traum und weist dessen Angebot zurück, die Kinder zu töten. In einer Gedankenrede entscheidet sich Engelhard für die Tötung der Kinder. 4. Kausale Handlungsbegründung Funktion der Figurenreden <?page no="237"?> 229 Alle diese Figurenreden haben die Funktion, innere Handlungsgründe und ihre Reflexion als Ursachen des Geschehens auszuweisen, so dass es als Konsequenz stets gut überlegter Handlungsentscheidungen der Figuren erscheint, die auf der Abwägung des eigenen Wohlergehens, der Rechtsordnung und der Treueverpflichtungen gegenüber dem König, dem oder der Geliebten und dem Freund beruhen. Wenn die Akteure das Recht und die Treue gegenüber dem König brechen, tun sie es wohlreflektiert zum Nutzen des Geliebten, der Geliebten und des Freunds, und mit der offensichtlichen Hilfe Gottes handeln sie dabei immer erfolgreich. Die mehrmalige Wiederholung der Kausalität von reflektiertem Handeln zum Wohl des andern und Handlungserfolg trägt den Kern des exemplarischen Bedeutungsangebots der Erzählung. Zu diesem Zweck ist die finale Motiviertheit der Geschichte in den Verfahrensweisen der erzählerischen Vermittlung nahezu vollständig durch kausale Handlungsbegründung überformt. Selbst Zufälle und Wunder werden zu kausal begründeten Handlungsmitteln: Sie sind die Hilfe Gottes für den Erfolg überlegten altruistischen Liebes- und Freundschaftshandelns auch gegen die Rechts- und Herrschaftsordnung. Die Deutungsfunktion der Erzählerrede wird in höfischen Romanen nicht nur im Verlauf der Handlungsdarstellung, sondern auch in Prologen und Epilogen aktualisiert. Dies geht auf die Lehre der antiken Rhetorik zurück, dass sich der Redner am Beginn seiner Rede erstens selbst so darstellen (ethos, vgl. S. 204) und zweitens sein Publikum so adressieren soll, dass er durch beides das Wohlwollen der Zuhörer erregt (captatio benevolentiae); drittens soll er das Thema seiner Rede angeben. In Prologen, manchmal auch Epilogen höfischer Romane nennt sich der Erzähler deshalb oft als Bearbeiter eines faktisch wahren und erkenntnisträchtigen Stoffs, wendet sich direkt an die Rezipienten und identifiziert den exemplarischen Sinn der Erzählung. Letzteres knüpft Konrad im ›Engelhard‹-Prolog an eine Erklärung des Treue-Begriffs: Die triuwe gelte heutzutage nichts mehr, obwohl sie doch Männer und Frauen beständig mache. Sie sichere den Besitz, bringe Erfolg in der Liebe, versöhne Feinde, binde Verwandte aneinander. Besonders die Reichen und Mächtigen sollten sie praktizieren, weil Reichtum und Macht verloren gingen, würde die triuwe nicht allgemein geachtet. Diese Achtung erfahre sie jedoch nicht mehr, weil untriuwe (Verstellung, Unaufrichtigkeit) schneller zu Deutungsfunktion der Erzählerrede Prolog › E NG E L HAR D ‹ : DI E E R ZÄH L E R I S C H E V E RMIT T L UNG <?page no="238"?> 230 NAR RATIV E R B E D E U T UNG S AU F BAU Reichtum führe. Die folgende Geschichte von vorbildlicher triuwe solle dem Publikum deshalb als Beispiel dienen. Der Prolog präsentiert die triuwe als Grundlage jeder zwischenmenschlichen Beziehung und als Gewähr für den Fortbestand der gesamten gesellschaftlichen Ordnung. Indem Konrad sie gegen die Besitzgier stellt, macht er sie als Orientierung am Wohlergehen des anderen zum Gegenteil der Orientierung am Eigennutz. Keine Rede ist im Prolog - und genauso im Epilog - allerdings von potentiellen Gegensätzen zwischen Liebes- und Freundschaftstreue einerseits, Herrschafts- und Rechtstreue anderseits, geschweige denn vom Betrug im Dienst der Freundschafts- und Liebestreue. Im Verhältnis zum narrativen Bedeutungsaufbau erweist sich die Deutungszuweisung in Prolog wie Epilog damit als unvollständig: Sie gibt einen Hinweis auf die zentrale Sinnkategorie, erspart es den Rezipienten jedoch nicht, den exemplarischen Sinn der Erzählung selbst erkennen zu müssen. Innerhalb der Handlungsdarstellung konzentriert sich die Bewertungsfreude des Erzählers vor allem auf die ebenso beständig wie emphatisch behauptete Tugendhaftigkeit der drei Hauptfiguren. Dass sie das Recht brechen und dies durch Betrug verheimlichen, kommt dagegen nicht zur Sprache, so dass die Bewertungen des Erzählers konsequent parteiisch wirken. Besonders drastisch zeigt sich das bei Engelhards Auftritt vor dem Königsgericht: Die Erzählung thematisiert hier nicht, dass er lügt, sondern evoziert Bewunderung sowohl für sein altruistisches Handlungsziel, Engeltruds Ehre zu retten, als auch für sein Argumentationsgeschick. In drei anderen problematischen Handlungszusammenhängen - Gerichtskampf, Aussatz und Tötung der Kinder - greift der Erzähler mit ausdrücklichen Deutungen der Kausalitäten ein; in allen drei Fällen wird dabei kulturelles Wissen aktiviert. Als Gottesurteile geltende Gerichtskämpfe waren ein mögliches Mittel der Rechtsfindung in der weltlichen Gerichtspraxis. Es wurde eingesetzt, wenn zwei Aussagen gegeneinander standen und es keine Beweise oder Zeugenaussagen gab, anhand derer die Wahrheit ans Licht zu bringen war. Beim Rechtsstreit zwischen Engelhard und Ritschier ist das der Fall. Gerichtskämpfe waren zu Konrads Zeit jedoch nicht unproblematisch: Theologen hatten seit jeher Einwände gegen die Praxis, weil Menschen Gott damit gewissermaßen zu einer Stellungnahme zwingen, was ihnen Bewertungen Deutung von Kausalitäten und kulturelles Wissen Gerichtskampf <?page no="239"?> 231 grundsätzlich nicht zusteht. 1215, etliche Jahrzehnte bevor Konrad seinen ›Engelhard‹ dichtete, stellte ein Konzil in Rom fest, dass Gerichtskämpfe als Gottesurteile nicht mit dem christlichen Glauben zu vereinbaren sind. Zu ihrer umgehenden Abschaffung in weltlichen Gerichtsverfahren führte dies allerdings nicht. Unmittelbar vor dem Beginn des Kampfs erklärt der Erzähler eigens die Ursache für den Ausgang des Kampfs: Jeder von den beiden Gegnern habe gewusst, dass er die Wahrheit sagte - Ritschier mit seiner Anklage, Dietrich mit seiner Versicherung, er habe nicht mit Engeltrud geschlafen. Unschuldsbewusstsein aber stärke die Kampfkraft, so dass in dieser Hinsicht keiner der beiden im Nachteil war. Dietrich jedoch kämpfte aus Treue zu Engelhard, Ritschier aus Neid auf ihn; deshalb durfte Dietrich mit Recht zuversichtlich sein. Im Gerichtskampf siegt demnach das Unschuldsbewusstsein im Verein mit der altruistischen Handlungsmotivation; Ritschier verliert, weil sein Handlungsmotiv die neidbegründete Schädigung Engelhards ist. Von einem Eingreifen Gottes als Ursache für den Ausgang des Kampfs ist in der Deutung des Erzählers dagegen keine Rede. Möglicherweise glauben also nur die Figuren, dass es sich um ein Gottesurteil handelt, während Konrad seinen Rezipienten die Einschätzung nahelegt, dass die Treue das bessere Gewissen und das bessere Gewissen die größere Kampfkraft verursacht. Sollte dabei der zeitgenössische Zweifel an Gottesurteilen ausgenutzt sein, geschieht dies zum Zweck der Parteilichkeit: Nicht als Betrug, sondern als Treueleistung erscheint der Gerichtskampf. Weil Dietrichs Krankheit auf den manipulierten Gerichtskampf folgt, legt die Konstruktion der Geschichte eine Deutung des zeitlichen als kausales Verhältnis nahe: Der Aussatz könnte eine Strafe für den Betrug sein. Bei Krankheiten wie der Lepra - Konrad beschreibt ihre Symptome mit medizinischem Fachwissen -, für die die mittelalterliche Medizin kein Heilmittel kannte und deren Ausbreitung sie nicht erklären konnte, sind Deutungen als Strafe Gottes in zeitgenössischen Texten vielfach belegt. In der erzählerischen Vermittlung wird die Option ausdrücklich verhandelt: Zunächst fragt sich Dietrich in einer Gedankenrede, die als Gebet an Gott gerichtet ist, womit er Gottes Rache und Zorn verdient haben könnte. Danach platziert der Erzähler einen Vorgriff auf den weiteren Handlungsverlauf und eine Deutung des bisherigen: Gott habe ein Wunder tun wollen aus Erbarmen mit dem Leid, Aussatz › E NG E L HAR D ‹ : DI E E R ZÄH L E R I S C H E V E RMIT T L UNG <?page no="240"?> 232 NAR RATIV E R B E D E U T UNG S AU F BAU das dem treuen Dietrich ohne jede Schuld widerfahren sei. Nach dem Erzählerkommentar erscheint Dietrich der Engel im Traum. Beim Erwachen deutet er den Traum in einer weiteren Gedankenrede als Versuchung, der es zu widerstehen gelte. Dies bringt die Option ins Spiel, den Aussatz nicht als Strafe, sondern als Prüfung Gottes zu verstehen. Der vorangehende Erzählerkommentar weist das mit dem Vorgriff auf das Wunder jedoch als irrig aus und unterbindet zugleich die durch Dietrichs Frage aufgeworfene Möglichkeit, die Krankheit als Strafe zu interpretieren. Indem die erzählerische Vermittlung den höheren Geltungsanspruch der Erzählerrede gegenüber der Figurenrede ausnutzt, sorgt sie dafür, dass denkbare Handlungskausalitäten sowohl aufgeworfen als auch abgewiesen werden. Bei der Tötung der Kinder durch ihren Vater hat Konrad die Kausalitäten in den erzählerischen Vermittlungsverfahren ebenfalls expliziert. Im Dialog mit Engelhard stellt Dietrich zunächst fest, dass die Kindertötung sowohl der Natur als auch dem Recht widerspricht und deshalb nicht Gottes Wille sein kann. Der mittelalterlich-frühneuzeitliche Naturbegriff bezog sich auf die von Gott geschaffene natürliche Ordnung, die durch Wirklichkeitswahrnehmung erkennbar ist: Dass Väter ihre eigenen Kinder nicht töten, ist eine solche Erkenntnis. Vom modernen Naturbegriff unterscheidet sich der vormoderne dadurch, dass er die Möglichkeit eines Handelns ›gegen die Natur‹ zuließ. Ein Naturgesetz im modernen Sinn kann nicht gebrochen werden, weil es dann keines wäre: Was man tun kann, kann nicht widernatürlich sein, weil man es sonst nicht tun könnte. Die gottgeschaffene Naturordnung im vormodernen Sinn zu brechen, lag dagegen im Bereich des Denkbaren: ›Gegen die Natur‹ zu handeln war kein begrifflicher Selbstwiderspruch, sondern eine besonders große Ungeheuerlichkeit. Als solche bewertet der Erzähler dann auch ausdrücklich Engelhards wohlüberlegte Entscheidung für die Freundschaftstreue, deutet jedoch zugleich die Kausalität: Die Ursache könne nur im Wirken Gottes gelegen haben. Dieser Deutung entspricht wiederum die anschließende Handlungsdarstellung: Gott bringt Engelhard dazu, die Kinder zu köpfen, weil es ihm aus eigener Kraft nicht gelingt. Die ausdrücklichen Bewertungen und die ausdrücklichen Kausalitätsdeutungen treffen sich in der Funktion der Parteilichkeit: Was die Figuren aus Liebes- und Freundschaftstreue tun, ist mit Tötung der Kinder Parteiisches Erzählen <?page no="241"?> 233 Gottes Hilfe auch dann erfolgreich und deshalb richtig, wenn die Handlungsmittel rechts- und naturwidrig sind. Man könnte die Geschichte nämlich auch anders erzählen: Engelhard und Engeltrud sind affektgetriebene Rechtsbrecher, denen sich Dietrich als Betrugshelfer zur Verfügung stellt, was Engelhard zu einer widernatürlichen Gegenleistung verpflichtet. Moralisch schlechtes Handeln würde dabei jeweils noch schlechteres verursachen, bis Gott die armen Opfer des widernatürlichen Mords aus Mitleid reanimiert. Eine solche Deutung der Kausalitäten würde exemplifizieren, dass den Schwachen angesichts der lasterbedingten menschlichen Skrupellosigkeit nur die Hoffnung auf die Hilfe Gottes bleibt, wenn niemand dafür sorgt, dass Rechtsbrüche aufgedeckt und bestraft werden. Als Aktualisierung moraltheologischen Wissens wäre eine derartige Generalisierung zwar eher radikal, aber durchaus denkbar. Konrad exemplifiziert dagegen unverkennbar die Erfolgsträchtigkeit aristokratischer Vornehmheit in Gestalt höfischer Liebe und höfischer Freundschaft, allerdings auch diejenige rechtswidriger Schlauheit im Dienst höfischer Liebe und Freundschaft. Die Indienstnahme rechtswidriger Schlauheit für die höfische Liebe steht schon in Gottfrieds von Straßburg ›Tristan‹ im Kern der narrativen Bedeutungskonstruktion eines höfischen Romans: Die Liebenden betrügen den König permanent und manipulieren dabei auch ein Gottesurteil, bei dessen Ausgang ihnen Gott tatsächlich durch ein Wunder hilft. Im ›Tristan‹ dient die Schlauheit den Liebenden zur Ermöglichung und Verheimlichung ehebrecherischen Geschlechtsverkehrs als Erfüllung höfischer Liebe; weil eine Eheschließung zwischen den beiden nicht möglich ist, bleibt der Erfolg der Schlauheit jedoch begrenzter als im ›Engelhard‹. Gemeinsam ist den beiden Texten die Parteilichkeit der narrativen Vermittlungsverfahren: Auch Gottfried unternimmt alles, um seine Rezipienten auf die Seite der Protagonisten zu ziehen. Das Konzept des parteiischen Erzählens ist ein Produkt der narratio-Lehre der antiken Rhetorik. Der rhetorische narratio-Begriff bezog sich ursprünglich auf denjenigen Teil der Gerichtsrede, in dem der Redner den Tathergang erzählt, über den das Gericht urteilen soll. Als Vertreter von Anklage oder Verteidigung hatte der Redner die Aufgabe, das Geschehen parteiisch darzustellen, um dadurch das Urteil des Gerichts im jeweiligen Parteiinteresse zu beeinflussen. Zu den rhetorischen Verfahrensweisen dafür Rhetorik › E NG E L HAR D ‹ : DI E E R ZÄH L E R I S C H E V E RMIT T L UNG <?page no="242"?> 234 NAR RATIV E R B E D E U T UNG S AU F BAU gehörten sowohl ausdrückliche Bewertungen und Deutungen des Geschehens durch den Redner als auch selektive narrative Information: Der Redner muss ausführlich erzählen, was dem Parteiinteresse dient, und in den Hintergrund rücken, was dem Parteiinteresse nicht dient. Was die moderne Narratologie als ›perspektiviertes‹ Erzählen beschreibt, hat deshalb einen Vorgänger im rhetorischen Konzept parteiischen Erzählens. Eine zweite Aufgabe des Gerichtsredners sah die antike Rhetorik darin, das Geschehen glaubhaft zu erzählen. Zu den rhetorischen Verfahrensweisen dafür zählten die Bezugnahme auf das Wahrscheinlichkeitswissen der Adressaten und möglichst lückenlose kausale Handlungsverknüpfungen. Beiden Verfahren liegt dieselbe Annahme zugrunde: Rezipienten halten im konkreten Fall für plausibel, was sie allgemein für wahrscheinlich halten; insbesondere halten sie konkrete kausale Handlungsverknüpfungen für plausibel, die ihrem allgemeinen Wahrscheinlichkeitswissen entsprechen. Der Redner kann die Glaubhaftigkeit seiner Erzählung deshalb durch kausale Handlungsbegründungen fördern: Je weniger kausale Lücken es gibt, umso glaubhafter wirkt seine Handlungsdarstellung. In älteren Erzählungen mit einer exemplarischen Funktion ergibt sich daraus eine charakteristische wechselseitige Plausibilitätsrelation: Die Handlungsdarstellung ist einerseits umso plausibler, je besser sie den allgemeinen Wahrscheinlichkeitsannahmen des kulturellen Handlungswissens entspricht; andererseits macht eine plausible Handlungsdarstellung die allgemeinen Wahrscheinlichkeitsannahmen des kulturellen Handlungswissens auf glaubhafte Weise erkennbar. Kausalität, kulturelles Wissen und Glaubhaftigkeit Exemplarisches Erzählen und praktisches Wissen <?page no="243"?> 235 Kulturelle Wissensordnungen I: Diskurse und Diskursanalyse Praktisches und begrifflich-diskursives kulturelles Wissen Im Zusammenhang mit dem Bedeutungsaufbau in Texten war in den beiden vorhergehenden Kapiteln bereits von Ordnungen kulturellen Wissens als Voraussetzungen für die Verständigung zwischen Textverfassern und Textrezipienten die Rede. Auch Erzählen und Argumentieren sind solche Ordnungen kulturellen Wissens, insofern sie zur Sprachgebrauchskompetenz gehören. Wir alle haben Erzählen und Argumentieren als kulturelle Praktiken gelernt, und das kulturelle Wissen, das wir dabei erworben haben, war zuerst ein praktisches Wissen: Wir haben im Alltag andere Menschen erzählen und argumentieren hören, Erzählungen vorgelesen bekommen - in denen Figuren oft argumentieren - und selbst zu erzählen und zu argumentieren begonnen. In der Schule haben wir beides sowohl mündlich als auch schriftlich geübt. Außerdem haben wir hier Begriffe für solche kulturellen Praktiken gelernt, wie beispielsweise ›Erlebniserzählung‹ oder ›Bericht‹. Anhand dieser Begriffe haben wir den Unterschied zwischen zwei narrativen Praktiken beigebracht bekommen und diese im Anschluss daran beim Aufsatzschreiben wiederum trainiert. Die Begriffe der modernen Erzähltheorie haben als Bestandteile des literaturwissenschaftlichen Studiums dagegen nicht in erster Linie den Zweck, unsere eigenen narrativen Fähigkeiten weiter zu schulen, sondern dienen vor allem dazu, kulturelle Praktiken literarischen Erzählens erkennbar zu machen. Auch in diesem Fall gab es die narrativen Praktiken aber schon vor den Kapitel 10 1. Ordnungen kulturellen Wissens Praktisches Wissen Begrifflichdiskursives Wissen <?page no="244"?> 236 DI S KU R S UND DI S KU R S ANALYS E Begriffen, und die Begriffe selbst sind Bestandteile einer speziellen Art der Praxis, nämlich der der Erkenntnis und Reflexion. Ähnlich wie mit dem Erzählen und Argumentieren verhält es sich mit unserer gesamten Erstsprachenkompetenz und ihrer Erfassung durch Begriffsbildungen: Auch Syntax und Wortschatz haben wir zunächst als kulturelles Praxiswissen gelernt; Grammatiken und Wörterbücher bringen dieses Praxiswissen auf Begriffe und machen es dadurch erkennbar. Für die modernen Kulturtheorien, die Kulturen als Systeme von Praktiken verstehen, ist die Sprachkompetenz ihrerseits ein Beispiel für den generellen Zusammenhang zwischen praktischem und begrifflichem Wissen: Alles kulturelle Wissen ist praktisches Wissen, und innerhalb des praktischen Wissens gibt eine besondere, begriffliche Art des Wissens, das den Praktiken der Erkenntnis und der Reflexion dient. Begriffliches oder, wie man im Anschluss an den gleich noch genauer erläuterten Diskurs-Begriff von Michel Foucault auch sagen kann, ›diskursives‹ Wissen ist dann nicht etwas grundsätzlich anderes als praktisches Wissen, sondern eher ein Spezialfall davon. In einer bestimmten Hinsicht unterscheiden sich die beiden Wissensarten allerdings doch recht grundsätzlich voneinander: Begrifflich-diskursives Wissen - wie etwa das der Grammatik oder der Erzähltheorie - ist ein innerhalb der jeweiligen Kultur explizites Wissen: Die Angehörigen der Kultur wissen, dass sie dieses Wissen haben, und können es auf Nachfrage mit mehr oder weniger großen Anstrengungen erklären. Nicht-diskursives praktisches Wissen ist dagegen implizites Wissen: Die Angehörigen der Kultur wissen nicht, dass sie es haben, und können es auf Nachfrage gar nicht oder nicht ohne erhebliche Mühe erklären. Weil begrifflich-diskursives Wissen leichter zugänglich und einfacher zu beschreiben ist als nicht-begriffliches praktisches Wissen, wird es im Folgenden zuerst behandelt. Wenn in diesem und im nächsten Kapitel Zusammenhänge zwischen den beiden Arten kulturellen Wissens mit dem Bedeutungsaufbau in Texten behandelt werden, müsste eigentlich immer von ›diskursivem praktischem Wissen‹ und ›nicht-diskursivem praktischen Wissen‹ die Rede sein. Weil das auf die Dauer etwas umständlich ist, benutze ich die einfacheren Begriffe ›diskursives‹ und ›praktisches Wissen‹. Vor den kulturellen Wissensordnungen muss noch kurz der Kulturbegriff der modernen Kulturwissenschaften erläutert werden. Explizites und implizites Wissen <?page no="245"?> 237 KU LT U R Kultur Der Begriff ›Kultur‹ hat in seiner Geschichte verschiedene Bedeutungen erhalten, die alle bis heute im Gebrauch sind und möglichst nicht miteinander verwechselt werden sollten. 1. Das lateinische Wort cultura bedeutet eigentlich ›Pflege‹ und wurde in der römischen Antike ursprünglich auf den Ackerbau bezogen. Im Begriff ›Agrikultur‹ ist das erhalten geblieben. Schon in der Antike bezeichnete man mit cultura jedoch in einer übertragenen Verwendung des Wortes auch die Lebensgestaltung und ihre Verfeinerung, aber stets nur die der Einzelperson. In diesem Sinn sagen wir immer noch, jemand sei ein kultivierter Mensch. 2. Erst seit dem 18. Jahrhundert wird ›Kultur‹ auch auf die Lebensweisen von Kollektiven bezogen. Auf dieser Grundlage haben sich zwei verschiedene Bedeutungen herausgebildet, die manchmal auch als ›weiter‹ und ›enger‹ Kulturbegriff bezeichnet werden: a. In der weiten Verwendungsweise bezeichnete ›Kultur‹ seit dem späten 18. Jahrhundert die gesamte, räumlich und zeitlich begrenzte Lebensweise eines Kollektivs. Die Bedeutung von ›Kultur‹ entsprach dabei im Wesentlichen der von ›Gesellschaft‹ oder ›Zivilisation‹. Ursprünglich war damit die Vorstellung verbunden, dass das jeweilige Kollektiv als eine natürliche Größe existiert: Es gibt Völker (Nationen), die Kulturen (Zivilisationen) haben; erst sind die Deutschen oder die Franzosen da und dann die deutsche oder die französische Kultur. b. In der engen Verwendungsweise bezeichnete ›Kultur‹ dagegen nicht die gesamte kollektive Lebensweise, sondern nur einige als besonders wertvoll beurteilte Bereiche davon. Dieser Begriff von Kultur beruhte auf der Unterscheidung zwischen für unmittelbar zweckgerichtet gehaltenen Phänomenen wie Wirtschaft und Technik einerseits sowie für nicht unmittelbar zweckgerichtet gehaltenen Phänomenen wie Religion, Bildung und Kunst andererseits. Im engeren Sinn bezeichnete ›Kultur‹ die ›geistigen‹ und ›höheren‹ Aspekte des Lebens und wurde von ›Zivilisation‹ und ›Gesellschaft‹ unterschieden, die die nützlichkeitsorientierten Lebensbereiche bezeichneten. In dieser engen Bedeutung kann man ›Kultur‹ übrigens nur im Singular verwenden (›die‹ Kultur im Unterschied zu ›der‹ Wirtschaft), während das Wort in der weiten Bedeutung vor allem zur Bezeichnung unterschiedlicher ›Kul- 2. Kultur Bezogen auf eine Person Bezogen auf ein Kollektiv Lebensweise eines ›natürlichen‹ Kollektivs Teilbereich der kollektiven Lebensweise <?page no="246"?> 238 DI S KU R S UND DI S KU R S ANALYS E turen‹ (wie der europäischen und der amerikanischen) benutzt wird. 3. Im 20. Jahrhundert existierten die beiden Kulturbegriffe im Prinzip weiter nebeneinander, doch erfuhren beide wichtige Veränderungen: a. Der ›enge‹ Kulturbegriff verlor im Sprachgebrauch der Gesellschaftswissenschaften seine wertende Funktion. Unter ›Kultur‹ verstand man nun ein Teilsystem der Gesellschaft neben Politik und Wirtschaft. Diese beiden galten als gesellschaftliche Wirklichkeit; Kultur war alles, was Wirklichkeitsdeutung lieferte: Religion, Kunst, Bildung, Wissenschaft. Die prägnanteste Form dieser Unterscheidung war die marxistische Trennung zwischen ›Basis‹ und ›Überbau‹, der zufolge die kulturelle Wirklichkeitsdeutung die tatsächlichen Verhältnisse entweder richtig oder interessengeleitet verzerrt widerspiegelt. b. Der ›weite‹ Kulturbegriff wurde immer mehr von der Vorstellung entkoppelt, dass eine Kultur eine ihr vorausliegende, ›natürliche‹ Grundlage in Gestalt von Phänomenen wie Stamm, Volk oder Nation hat. Kultur wurde nicht mehr als Lebensweise eines Kollektivs verstanden, das es auch unabhängig von der Lebensweise geben würde, sondern als Gesamtheit allen Wissens und aller konkreten Hervorbringungen menschlicher Tätigkeit, die das Kollektiv erst zu dem machen, was es ist. Auch die ›Völker‹ sind dann keine natürlichen Gegebenheiten, sondern Effekte von wissensbasierten kulturellen Praktiken - und damit kulturelle Wirklichkeitskonstruktionen. In dem Maß, in dem ›Kultur‹ nach dieser Sicht als Gesamtheit allen Wissens und aller materiellen und intellektuellen Produkte galt, entstand ein massiver Gegensatz zwischen dem weiten und dem engen Kulturbegriff: Für das weite Verständnis von ›Kultur‹ gibt es nämlich keine gesellschaftliche Wirklichkeit ›vor‹ der Kultur mehr, die unabhängig von kulturellen Wissensordnungen ein Gegenstand der Erkenntnis sein könnte, sondern prinzipiell nur kulturelles Wissen, das innerhalb der jeweiligen Kultur für die Wirklichkeit gehalten wird. ›Kultur‹ ist dann kein Teilsystem einer Gesellschaft, sondern ihre Wirklichkeitskonstruktion mittels wissensbasierter kultureller Praktiken. Unter einer solchen Voraussetzung lassen sich stets nur kulturelle Wissensordnungen und die auf ihnen beruhenden Wirklichkeitskonstruktionen untereinander vergleichen, aber nicht Wirklichkeitsdeutendes Teilsystem der Gesellschaft Kollektivbildende Wirklichkeitskonstruktion Kultur und Wirklichkeit <?page no="247"?> 239 kulturelle Wirklichkeitskonstruktionen mit einer allen Konstruktionen vorausgehenden Wirklichkeit. So kann man beispielsweise beschreiben, was Menschen im 12. Jahrhunderts auf der Basis ihrer kulturellen Wissensordnungen für die Wirklichkeit gehalten haben, und was wir heute auf der Basis unserer kulturellen Wissensordnungen für die Wirklichkeit des 12. Jahrhunderts halten können. Dagegen gibt es keine Möglichkeit, die Frage zu beantworten, wie sich die Wirklichkeit des 12. Jahrhunderts zu den kulturellen Wissensordnungen des 12. Jahrhunderts verhielt. Selbstverständlich setzt eine solche Ansicht nicht voraus, dass es keine allen Konstruktionen vorausliegende Wirklichkeit gibt. Die Beziehung der Konstruktionen zu dieser Wirklichkeit lässt sich jedoch nur als eine instrumentelle vorstellen: Wirklichkeitskonstruktionen sind mehr oder weniger erfolgreich; erfolgreich sind sie, indem und solange sie sich als praktikabel erweisen. Das gilt, nebenbei bemerkt, auch für das Konzept der kulturellen Wirklichkeitskonstruktion selbst: Wer die Wirklichkeit für das Produkt kultureller Konstruktion hält, kann diese Ansicht nicht zugleich für wirklichkeitsgemäß halten, sondern ebenfalls nur für eine kulturelle Konstruktion. Sie kann nicht richtig sein, sondern allenfalls Vorteile haben. Der Vorteil des weiten Kulturbegriffs besteht darin, dass er kulturelles Wissen nicht einfach als wahr oder falsch klassifiziert, sondern den Blick darauf lenkt, dass jede Kultur, unsere eingeschlossen, ihre eigenen praktischen und begrifflichen Wissensordnungen für die Wirklichkeit hält. Das eröffnet eine Möglichkeit, den Erkenntniswert der Kulturwissenschaften zu bestimmen: Dass wir uns mit räumlich oder zeitlich anderen kulturellen Wissensordnungen beschäftigen, kann einen kritischen Spielraum gegenüber unseren eigenen Wirklichkeitskonstruktionen eröffnen. Die Beschäftigung mit Wissensordnungen der Vergangenheit bleibt für einen solchen Standpunkt eine eher unnütze Tätigkeit, wenn wir dabei lediglich Irrtümer unserer Vorfahren oder Gemeinsamkeiten zwischen ihren und unseren kulturellen Praktiken identifizieren, weil uns weder das eine noch das andere in dem verunsichern kann, das wir auf der Basis unserer eigenen kulturellen Wissensordnungen für selbstverständlich halten. Erst indem wir Unterschiede zwischen anderen und eigenen Selbstverständlichkeiten erkennen, können wir Distanz gegenüber den eigenen Selbstverständlichkeiten gewinnen. Kulturwissenschaft und Wissensgeschichte KU LT U R <?page no="248"?> 240 DI S KU R S UND DI S KU R S ANALYS E Was ist ein Diskurs? Das Wort Diskurs wird gegenwärtig in mindestens vier Bedeutungen benutzt, die man auseinanderhalten sollte. In der ersten Verwendungsweise meint Diskurs ›systematische Abhandlung‹. In dieser Bedeutung war das Wort im Deutschen bis zum 18. Jahrhundert gebräuchlich; im Französischen (discours) hat sie sich bis in die Gegenwart gehalten. Im Gebrauch ist im heutigen Deutsch aber das Adjektiv ›diskursiv‹ in der Bedeutung ›erörternd‹, das zu dieser ersten Verwendungsweise von ›Diskurs‹ gehört. Die zweite Verwendungsweise von ›Diskurs‹ stammt aus der Sprachwissenschaft und ist dort in Anlehnung an einen englischen Sprachgebrauch entstanden. Im Englischen lässt sich discourse als Synonym für ›Text‹ benutzen. In der Sprachwissenschaft dient der Begriff deshalb zur Bezeichnung satzübergreifender sprachlicher Erscheinungen und zur Bezeichnung geordneter Abfolgen sprachlicher Handlungen. In diesem Sinn kann man beispielsweise von einem ›narrativen Diskurs‹ oder von einem ›argumentativen Diskurs‹ reden und damit einen Text oder eine Textpassage meinen, die nach narrativen oder argumentativen Mustern geordnet ist. Auf diesem Sprachgebrauch beruht auch die Gewohnheit der Erzähltheorie, die Ebene der erzählerischen Vermittlung (im Unterschied zur Ebene der erzählten Geschichte) als ›discours‹ oder ›Diskurs‹ zu bezeichnen (vgl. S. 214). Die dritte Verwendungsweise von ›Diskurs‹ stammt aus der philosophischen Theorie der öffentlichen Kommunikation und ist vor allem von Jürgen Habermas verbreitet worden. ›Diskurs‹ bezeichnet hier die öffentliche Argumentation und die Prinzipien, nach denen in einer offenen Gesellschaft Konsens ausgehandelt wird. In diesem Sinn reden wir beispielsweise vom ›Diskurs über Sozialreformen‹ und meinen damit eine öffentlich geführte Debatte oder Diskussion. Die vierte Verwendungsweise von ›Diskurs‹ ist diejenige, um die es in diesem Kapitel ausschließlich geht. Sie beruht auf einer neuen Bedeutung, die der französische Historiker Michel Foucault dem Wort in den 60er und 70er Jahren des letzten Jahrhunderts gab. Foucaults Diskursbegriff knüpft an die traditionelle Verwendungsweise von ›Diskurs‹ in der Bedeutung ›systematische 3. Bedeutungen von ›Diskurs‹ ›Abhandlung‹ ›Text‹ ›Debatte‹ Foucaults Diskursbegriff <?page no="249"?> 241 Abhandlung‹ an. Er gibt nämlich gewissermaßen eine Antwort auf die Frage, woher eigentlich die Systematik von systematischen Abhandlungen - beispielsweise von philosophischen oder literaturwissenschaftlichen - kommt. Ein Textanalytiker würde sagen, dass sie eben auf der inhaltlichen Ordnung des Textes beruht. Foucault meint aber, dass dafür auch die Ordnung des Wissens eine Rolle spielt, auf das sich der Text bezieht, und dass diese Ordnung des Wissens nicht erst vom Text hergestellt wird, sondern eine Voraussetzung für die Systematik im Text ist. ›Diskurs‹ bezeichnet bei Foucault deshalb eine abstrakte Ordnung des Wissens, die konkreten Abhandlungen zugrunde liegt. Insofern Texte mit Begriffen operieren, sind die Ordnungen des Wissens, auf die sie sich beziehen, begriffliche Wissensordnungen, die man sich als Systeme von Begriffsbeziehungen - Äquivalenzen, Oppositionen, Hierarchisierungen, Kausalitäten - vorstellen kann (vgl. S. 199). Als Bezeichnung für solche begrifflichen Wissensordnungen benutzte Foucault im Anschluss an die aristotelische Bezeichnung für theoretisches Wissen den Terminus ›Episteme‹. Unter einem Diskurs versteht er »eine Menge von Aussagen, die einem gleichen Formationssystem zugehören« (›Archäologie des Wissens‹, S. 156), wobei das Entscheidende die ›Formation‹ im Sinn sowohl des Hervorbringens als auch des Regulierens ist: Diskurse sind auf sozialen Institutionen basierende und durch Machtausübung aufrecht erhaltene kulturelle Regelsysteme, die gewissermaßen zwischen der Episteme und dem konkreten Text wirksam werden. Sie bestimmen, welche Aussagen mittels einer bestimmten Episteme gemacht werden können und welche nicht; sie sind diejenigen kulturellen Machtpraktiken, die den Begriffsgebrauch und die Aussagenbildung in konkreten Texten zugleich ermöglichen und begrenzen. Wegen dieses Interesses für das Verhältnis von Wissensordnungen und Machtpraktiken neigt die Konzeption Foucaults dazu, die Episteme im Sinn einer begrifflichen Wissensordnung nicht so sehr als Voraussetzung, sondern eher als Effekt eines Diskurses zu verstehen. Diskurse sind dann keine Machtpraktiken, die mit ihnen vorausliegenden und von ihnen unabhängigen Begriffssystemen operieren; die Begriffssysteme sind eher Produkte der Machtpraktiken. Am deutlichsten wird dies in der Annahme greifbar, dass jede Episteme auf bestimmten Kernbegriffen beruht, von denen aus das Begriffssystem aufgebaut ist, Episteme als Wissensordnung Diskurs als Regelsystem Episteme und Diskurs WA S I S T E IN DI S KU R S ? <?page no="250"?> 242 DI S KU R S UND DI S KU R S ANALYS E und dass die Entscheidung über diesen fundamentalen Status nicht durch das Begriffssystem selbst verursacht wird, sondern die Folge einer Setzung ist. Als Konzept der Wissensgeschichte unterscheidet sich Foucaults Diskursanalyse vor allem dadurch von älteren Modellen wie der Ideengeschichte und der Geistesgeschichte, dass sie die Bedeutung von Machtpraktiken sowohl für die Stabilisierung als auch für die Veränderung kulturellen begrifflichen Wissens in den Blick nimmt. So sind beispielsweise Wissenschaften nicht einfach nur Systeme von Methoden, Begriffen und Aussagen, sondern zugleich Institutionen, in denen durch Entscheidungen über persönliche Karrieren, finanzielle Mittelvergabe, Zugang zu Publikationsorganen und anderem mehr zugleich Entscheidungen über den Erfolg von Methoden, Begriffen und Aussagen getroffen werden. Weil sich die Diskursgeschichte vor allem für Zusammenhänge zwischen kulturellen Wissensordnungen und institutionellen Machtpraktiken interessiert, versteht sie die Geschichte des Wissens nicht in erster Linie als Geschichte eines zunehmenden Erkenntnisfortschritts, der die Menschheit der Wahrheit immer näher bringt, sondern als Geschichte prinzipiell instrumenteller Wirklichkeitskonstruktionen. Das diskursanalytische Interesse gilt deshalb nicht nur der Geschichte einzelner Diskurse, sondern auch dem Nebeneinander zeitgleicher Diskurse, die wegen ihrer jeweiligen institutionellen Grundlagen unterschiedliche Wirklichkeitskonstruktionen hervorbringen und durchsetzen. In diesem Sinn geht es im anschließenden Beispiel darum, dass und auf welcher Basis Theologen, Mediziner und höfische Dichter im 12. und 13. Jahrhundert unterschiedlich über Geschlechtsverkehr reden konnten und dass dabei sowohl die Möglichkeit des Ignorierens der anderen Diskurse als auch die der Bezugnahmen auf die anderen Diskurse bestand. Die Frage »Was ist ein Diskurs« lässt sich demnach folgendermaßen beantworten: Ein Diskurs hat erstens Kernbegriffe, die die die Thematisierung von Gegenständen ermöglichen. Dieser begriffliche Kern bestimmt, wie im Rahmen des Diskurses über bestimmte Themen geredet werden kann. Auf dieser Basis regelt der Diskurs, welche weiteren Begriffe bei der Behandlung eines Themas zulässig sind, welche Vorannahmen vorausgesetzt werden und welche Argumente akzeptabel sind. Im theologischen Diskurs ist bei- Diskursanalyse und Wissensgeschichte Eigenschaften von Diskursen Diskursregeln: Kernbegriffe, Vorannahmen, mögliche Argumente und Aussagen <?page no="251"?> 243 spielsweise ›Sünde‹ ein Kernbegriff, im medizinischen ›Krankheit‹. Der theologische Diskurs geht von der Vorannahme aus, dass das Seelenheil das Ziel des menschlichen Lebens ist, und gründet alle Argumente auf diese Annahme. Der medizinische Diskurs macht die Vermeidung von Krankheit zum Ausgangspunkt. Diskurse regeln, was mit dem Anspruch auf Geltung gesagt werden kann und auf welche Weise es gesagt werden kann. In diesem Sinn sind sie kulturelle Machtpraktiken. Ein Diskurs hat zweitens eine institutionelle Grundlage: Diskurse gibt es nur in dem Maß, in dem verschiedene Bereiche des Wissens institutionell gegeneinander abgegrenzt sind. Die Unterscheidung zwischen medizinischem und theologischem Diskurs im 12. und 13. Jahrhundert beruht beispielsweise darauf, dass es unterschiedliche Fachleute dafür gab, weil es an den wissenschaftlichen Institutionen verschiedene Fächer gab. Die Theologen konnten den Medizinern deshalb nicht einfach ›hineinreden‹: Sie konnten nicht ohne weiteres verlangen, dass sich die Mediziner nach den Regeln des theologischen Diskurses zu richten hätten. Diskurse können nur in dem Maß Bestand haben, in dem ihre Träger sich gegen die Träger anderer Diskurse behaupten können, und beruhen in diesem Sinn auf institutionalisierten Machtverhältnissen. Der Begriff ›Diskurs‹ hat drittens nur dann einen Erkenntniswert, wenn sich in einer Kultur zu einer bestimmten Zeit verschiedene diskursive Wissensordnungen unterscheiden lassen. Andernfalls gibt es nur ein einheitliches kulturelles Wissen, das alle denkbaren Aussagen in gleicher Weise bestimmt. Wenn es mehrere Wissensordnungen gibt, setzt sich das kulturelle Wissen aus unterschiedlichen Diskursen zusammen. Die Gesamtheit der Diskurse kann man im Anschluss an Foucault als das ›Archiv‹ der Kultur bezeichnen. Ein Diskurs ist viertens ein geschichtliches Phänomen. Seine Geltung ist räumlich wie zeitlich begrenzt: Er entfaltet seine Wirkung innerhalb einer bestimmten Kultur in einer bestimmten Zeitspanne; seine Gegenstände, Regeln und institutionellen Grundlagen sowie seine Beziehungen zu anderen Diskursen entstehen und verändern sich. Im Mittelpunkt des diskursgeschichtlichen Modells der Wissensgeschichte steht deshalb die Annahme, dass auch unsere grundlegendsten Begriffe keine ›natürlichen‹ Größen bezeichnen, sondern ihre Bedeutung erst Institutionelle Grundlage Diskurse, kulturelles Wissen, Archiv Geschichtlichkeit WA S I S T E IN DI S KU R S ? <?page no="252"?> 244 DI S KU R S UND DI S KU R S ANALYS E durch die historisch wandelbaren Regeln der Diskurse erhalten. Der medizinische Diskurs bestimmt beispielsweise erst, was unter ›Gesundheit‹ und ›Krankheit‹ zu verstehen ist. Deshalb kann sich im Lauf der Zeit verändern, was unter ›Gesundheit‹ und ›Krankheit‹ verstanden wird. Gesundheit und Krankheit sind demnach keine natürlichen Zustände, sondern von den jeweiligen Wissensordnungen abhängige Bedeutungszuweisungen. Im medizinischen Diskurs des 19. Jahrhunderts etwa war Homosexualität eine Krankheit. Im medizinischen Diskurs des 12. und 13. Jahrhunderts war das nicht so, denn es gab hier gar keinen Begriff von Homosexualität als dauerhafter Neigung, sondern nur einen Begriff von gleichgeschlechtlichem Verkehr als konkreter Handlung; eine solche lässt sich schlecht als Krankheit klassifizieren. Heute haben wir einen Begriff von Homosexualität als dauerhafter Neigung, die nicht unter den Krankheitsbegriff unserer Medizin fällt. Vom Standpunkt der Diskurstheorie aus ist die Frage, ob Homosexualität ›tatsächlich‹ eine Krankheit ist oder nicht, unsinnig: Die historischen Ordnungen des Wissens bilden keine gleichbleibende Wirklichkeit ab, sondern konstruieren kulturelle Wirklichkeiten Historische Diskursanalyse Historische Diskursanalyse ist eine Methode zur Erforschung der Geschichte des Wissens. Sie untersucht, wie Aussagen mittels bestimmter begrifflicher Wissensordnungen im Rahmen bestimmter Machtpraktiken hervorgebracht, verbreitet, akzeptiert und bestritten werden und wie sie sich zu anderen Aussagen verhalten, die innerhalb anderer Diskurse hervorgebracht, verbreitet, akzeptiert und bestritten werden. Auf dieser Grundlage kann die historische Diskursanalyse verschiedene Erkenntnisinteressen verfolgen: Das Interesse kann einem bestimmten historischen Diskurs als Regelsystem gelten, beispielsweise dem medizinischen im 12. und 13. Jahrhundert. Die Diskursanalyse untersucht dann seine Begriffe, Vorannahmen, Argumentationen und die Praktiken ihrer Etablierung, Stabilisierung, Unterdrückung oder Abweisung, seine institutionellen Grundlagen und sein Verhältnis zu anderen zeitgenössischen Diskursen. Das Interesse kann den Veränderungen eines Diskurses innerhalb eines bestimmten 4. Geschichte des Wissens <?page no="253"?> 245 Zeitraums, ihren kulturellen Voraussetzungen und Folgen sowie den Veränderungen des Verhältnisses zwischen verschiedenen Diskursen gelten. Historische Diskursanalyse kann sich aber auch dafür interessieren, wie ein bestimmtes Thema in einer bestimmten Zeit in unterschiedlichen Diskursen behandelt wurde. Die Diskursanalyse erforscht dann, wie die einzelnen Diskurse den Gegenstand nach ihren jeweiligen Regeln ›konstruieren‹. Man kann beispielsweise untersuchen, was die Theologen, die Mediziner und die höfischen Dichter im 12. und 13. Jahrhundert über Geschlechtsverkehr zu sagen hatten, und die Unterschiede als Folgen verschiedener Diskursregeln zu erklären versuchen. Das empirische Material, aus dem Diskurse erschlossen werden, sind Texte. Texte stellen die Quellen der Diskursanalyse dar, nicht ihre eigentlichen Gegenstände; der Gegenstand ist der Diskurs ›hinter‹ den Texten. Die Ergebnisse der Diskursanalyse lassen sich aber umgekehrt dazu benutzen, die thematische Ordnung von Texten zu erklären. Diskurse und ihre Regeln bestimmen die Produktion und die Rezeption von Texten. Dabei kann jeder Text einen oder mehrere Diskurse aufgreifen (›aktualisieren‹). Manche Diskurstheoretiker lieben die Metapher, dass sich der Text in einen Diskurs ›einschreibt‹, das heißt: einen Diskurs aufnimmt und fortsetzt. Ein Diskurs seinerseits zeigt sich in Texten. Er ist nur in Texten greifbar, aber er ist nicht einfach eine Gruppe von Texten, die dasselbe Thema behandeln oder zum selben Fach gehören. Er ist das Regelsystem, das die Gruppe von Texten erst zu einer Gruppe macht. Die Diskursanalyse interessiert sich für den einzelnen Text nur insofern, als der Text einen oder mehrere Diskurse aktualisiert oder verschiedene Diskurse gegeneinander ausspielt. Sie interessiert sich dagegen nicht für den einzelnen Text als kohärentes Ganzes. Diskursanalyse ist keine Textinterpretationstechnik; sie identifiziert nur, welche Wissensbestände auf welche Weise in Texten aktualisiert werden, und benutzt dies als Datenmaterial für die Rekonstruktion der Wissensordnungen. Foucault selbst nannte diese Rekonstruktion der Wissensordnungen die »Archäologie des Wissens«. Wie ein Archäologe nach den Überbleibseln alter Sachkulturen sucht und sie so in einen Zusammenhang bringt, dass ein Bild von der Sachkultur entsteht, Diskurs und Text Archäologie des Wissens HI S TO R I S C H E DI S KU R S ANALYS E <?page no="254"?> 246 DI S KU R S UND DI S KU R S ANALYS E so sucht ein Diskursanalytiker nach den Überbleibseln alter Wissensordnungen und bringt sie so in einen Zusammenhang, dass ein Bild vom ›Archiv‹ der Kultur entsteht. Diskurs, ›schöne Literatur‹, Dichtung Wenn ein Diskurs einen bestimmten Kerngegenstand sowie bestimmte begriffliche und argumentative Regeln für seine Behandlung hat, dann ist weder die ältere Dichtung noch die neuere ›schöne Literatur‹ (vgl. S. 71) ein Diskurs. Foucault hat ursprünglich sogar mit der Idee gespielt, dass die schöne Literatur das Gegenteil von Diskurs sein könnte: der Ort der sprachlichen Freiheit von den gesellschaftlichen Regelmechanismen, der Raum der Rede- und Schreib-Anarchie. Das lässt sich auch so drehen, dass die schöne Literatur derjenige Diskurs ist, dessen Regel in der erlaubten Regellosigkeit besteht. Diese Idee beruht darauf, dass die schöne Literatur seit dem 18. Jahrhundert den Charakter einer gesellschaftlichen Institution hat. Dafür hat die Autonomieästhetik (vgl. S. 72) im Verein mit der Entstehung eines Marktes für ›Belletristik‹ gesorgt. Auf einer institutionellen Ebene unterscheiden wir schöne Literatur seit dem 18. Jahrhundert ziemlich deutlich von anderen kulturellen Feldern wie den Wissenschaften, der Religion oder der Politik. Schöne Literatur ist allerdings nicht dazu da, bestimmte Wissensgebiete nach bestimmten Regeln zu behandeln. Eher scheint sie auf andere Diskurse zurückzugreifen und sie für ihre eigenen Zwecke zu benutzen, ohne die jeweiligen Regeln dieser Diskurse streng beachten zu müssen. Schöne Literatur darf alles nur erdenkliche Wissen verarbeiten, und zwar mit allen nur erdenklichen Freiheiten. Insofern die schöne Literatur seit dem 18. Jahrhundert eine gesellschaftliche Institution ist und insofern sie andere Diskurse verarbeitet, kann man sie als eine Sonderform von Diskurs betrachten, für die der Begriff ›Interdiskurs‹ im Gebrauch ist. Ein Interdiskurs hat eine eigene institutionelle Grundlage, aber keinen eigenen Kerngegenstand. Schöne Literatur lässt sich allerdings nur auf der Grundlage der Verhältnisse, die im 18. Jahrhundert entstanden sind, als institu- 5. Regelhaftigkeit Institutioneller Charakter Interdiskurs Ältere Dichtung <?page no="255"?> 247 tionalisierter Interdiskurs verstehen. In der frühmittelalterlichen mündlichen Kultur außerhalb der Klöster und Domkirchen fällt es generell schwer, Diskurse innerhalb des kulturellen Wissens voneinander abzugrenzen. In der Schriftkultur geht das leichter, weil die Kirche von der Spätantike unterscheidbare Wissensordnungen erbte, unter denen einige seit dem Hochmittelalter immer deutlicher die institutionelle Gestalt von Fachgebieten erhielten. Solange die Gelehrten poetische Texte vor allem mit dem Kriterium der Versifikation von anderen Texten unterschieden (vgl. Kap. 4), konnten sie ihnen jedoch prinzipiell dieselben Funktionen zuweisen wie den nicht-poetischen, und von der Erfindung des Buchdrucks bis zur Etablierung eines speziellen Markts für poetische Texte mit einem institutionalisierten ›Literaturbetrieb‹ hat es lange gedauert. Gerade weil Dichtung in der gelehrten Schriftkultur weder Diskursnoch Interdiskurs-Status hatte, konnten poetische Texte aber problemlos zur Vermittlung aller Arten von Wissen eingesetzt werden, ohne dass jemand auf die Idee kommen konnte, dass das nicht ihre eigentliche Aufgabe sei. Am ehesten macht die volkssprachliche höfische Dichtung des 12. und 13. Jahrhunderts den Eindruck eines Diskurses mit einer institutionellen Machtbasis (den Höfen) und einer um einen Kernbegriff (›höfisch‹) organisierten Episteme. Das liegt daran, dass die höfische Kultur wegen ihrer Semi-Oralität (vgl. S. 92) auf mündlich vortragbare Texte angewiesen war und deshalb vor allem versifizierte Texte benutzte. Es gab folglich einen höfischen Diskurs, der wegen der Bildungsverhältnisse vorzugsweise in poetischen Texten aktualisiert wurde und deshalb weitgehend mit ›höfischer Dichtung‹ zusammenfiel. Er war jedoch nicht wegen der Versform der Texte, sondern wegen der Institution Hof und der höfischen Wissensordnungen ein Diskurs. In Spätmittelalter und früher Neuzeit war volkssprachliche Dichtung dann im Sinn des gelehrten Dichtungsbegriffs vor allem eine formal bestimmte Textsorte, die zur Aktualisierung unterschiedlicher Diskurse diente, aber weder ein institutionalisierter Diskurs noch ein institutionalisierter Interdiskurs. Als Beispiel soll nun die Konstruktion des Themas ›Geschlechtsverkehr‹ in verschiedenen Diskursen des 12. und 13. Jahrhunderts skizziert werden. Ich benutze diesen Begriff anstelle von ›Sexualität‹, weil keiner der hochmittelalterlichen Diskurse über Höfische Dichtung und höfischer Diskurs DI S KU R S, › S C HÖN E LIT E RAT U R ‹ , DI C H T UNG <?page no="256"?> 248 DI S KU R S UND DI S KU R S ANALYS E unseren abstrakten und umfassenden Begriff von Sexualität verfügte. Die Wissensordnungen beruhten auf konkreteren Begriffen wie dem des Koitus. ›Geschlechtsverkehr‹ in Diskursen des 12. und 13. Jahrhunderts Theologischer und kirchenrechtlicher Diskurs Gut zu greifen ist die Konstruktion des Gegenstands ›Geschlechtsverkehr‹ im theologischen Diskurs. Das liegt nicht unbedingt daran, dass er in allen Lebensbereichen von vornherein der einflussreichste war, sondern zunächst daran, dass die Kleriker das Wissen über Gott und die Schöpfung besonders gut systematisierten und dass sie die Techniken der schriftlichen Aufzeichnung besonders gut nutzten. Quellen für die theologische Behandlung des Geschlechtsverkehrs sind zum einen theologische Traktate. Zur Verfügung stehen zum zweiten die Bußbücher, die Klerikern bei der Abnahme der Beichte und der Verhängung von Bußen für die gebeichteten Sünden halfen. Bußbücher enthielten bis zum 12. Jahrhundert üblicherweise einen Katalog von Sünden samt einem für jede Sünde festgelegten Bußtarif. Die Buße bestand gewöhnlich in einer Zeit des Fastens, das heißt des Verzichts auf bestimmte Nahrungsmittel, im Extremfall der Beschränkung auf Wasser und Brot. An der Länge der Bußzeiten lässt sich die Schwere einzelner Vergehen ablesen. Geschlechtliche Verfehlungen sind in den Bußbüchern zumeist breit vertreten. Gegen Ende des 12. Jahrhunderts kam dieser alte Typus des Sünden- und Bußenkatalogs außer Mode und wurde durch Bußtraktate ersetzt, die eine systematische Sündenlehre boten und keine festen Bußtarife mehr vorschrieben, sondern Regeln für die Festlegung der Buße im Einzelfall unter Berücksichtigung spezifischer Umstände formulierten. Verbreitete Ansichten über die Schwere verschiedener Sünden lassen sich aber auch hier noch beobachten. Im engen Zusammenhang mit dem theologischen Diskurs stehen zum dritten kirchenrechtliche Quellen. Insofern die Kirchenjuristen seit dem 11. Jahrhundert über die Institutionen einer 6. a. Quellen: Traktate Bußbücher Kirchenrecht <?page no="257"?> 249 Fachdisziplin verfügten und eigenständige Traktate schrieben, muss man den kirchenrechtlichen Diskurs vom theologischen unterscheiden; die Theologie blieb aber die Grundlage des kirchlichen (›kanonischen‹) Rechts. Für das Thema Geschlechtsverkehr ist das kanonische Recht von Bedeutung, weil es die Grundlage der Rechtsprechung an kirchlichen Gerichten war, die vom 12. Jahrhundert an in zunehmendem Maß in Eheangelegenheiten angerufen wurden und im Verlauf des 13. Jahrhunderts die Zuständigkeit dafür weitgehend an sich zogen. Da Eheprobleme oft auf dem Sexualverhalten der Eheleute beruhten, mussten sich die Kirchenrechtler mit ehelichem und außerehelichem Geschlechtsverkehr befassen. Charakteristisch für den theologischen Diskurs war seine Verpflichtung auf die in den biblischen Texten geoffenbarte Wahrheit und auf die Auslegungen der biblischen Texte durch die Kirchenväter der Spätantike. Die Aussagen zum Geschlechtsverkehr gehen vor allem von einigen Stellen in der alttestamentarischen Schöpfungsgeschichte und in den neutestamentarischen Paulusbriefen aus. Der Schöpfungsgeschichte zufolge schuf Gott Mann und Frau und gebot ihnen, fruchtbar zu sein und sich zu mehren (1. Mose 1,27-28). Schon vor dem Bericht vom Sündenfall heißt es, dass Mann und Frau zu einem Fleisch werden; Adam und Eva schämten sich jedoch im Paradies nicht voreinander, obwohl sie nackt waren (1. Mose 2,24-25). Unmittelbar nachdem beide gegen das Verbot Gottes den Apfel vom Baum der Erkenntnis gegessen hatten, erkannten sie, dass sie nackt waren, und flochten sich aus Feigenblättern Schurze (1. Mose 3,7). Paulus zufolge (1. Korinther 7,1-11) ist es für Christen am besten, ganz auf Geschlechtsverkehr zu verzichten. Wer das nicht schafft, soll Geschlechtsverkehr ausschließlich innerhalb einer monogamen und unauflöslichen Ehe ausüben. In einer solchen Ehe ist jeder Partner dazu verpflichtet, das geschlechtliche Begehren des anderen zu erfüllen, damit niemand zur ›Unzucht‹ außerhalb der Ehe getrieben wird. Die für den theologischen Diskurs Jahrhunderte lang grundlegenden Begriffe, Vorannahmen und Argumente stammen aus der Auslegung der Sündenfallgeschichte durch den Kirchenvater Augustinus (354-430). Ihm zufolge ist die Geschlechtlichkeit des Menschen ein Teil der Schöpfungsordnung und damit gut Bibel und Kirchenväter Schöpfungsgeschichte Paulus Augustinus › G E S C H L E C H T S V E R K E H R ‹ IN DI S KU R S E N D E S 12 . UND 13 . JAH R HUND E RT S <?page no="258"?> 250 DI S KU R S UND DI S KU R S ANALYS E wie alles, was Gott geschaffen hat. Sie hatte allerdings vor dem Sündenfall einen ganz anderen Charakter als danach. Augustinus leitet das aus der biblischen Erzählung ab, in der Adam und Eva sich unmittelbar nach dem Sündenfall ihrer Nacktheit zu schämen beginnen. Vor dem Sündenfall diente der Geschlechtsverkehr laut Augustinus ausschließlich der Fortpflanzung und unterschied sich nicht von anderen menschlichen Handlungsweisen: Er war völlig der rationalen Kontrolle unterworfen und nicht mit einem außergewöhnlichen Lustempfinden verbunden. Das geschlechtliche Begehren, das Lustempfinden beim Geschlechtsverkehr und der Verlust der rationalen Kontrolle über das Begehren (insbesondere über das männliche Glied) sind Folgen des Sündenfalls. Der Sündenfall selbst besteht darin, dass Adam und Eva ungehorsam waren und das einzige Verbot brachen, das Gott ihnen gesetzt hatte. Der Mensch, sagt Augustinus, sündigte durch Ungehorsam und wurde durch den Ungehorsam seines Begehrens bestraft. Dass wir das geschlechtliche Begehren nicht kontrollieren können und Lust beim Geschlechtsverkehr empfinden, ist die Spiegelstrafe dafür, dass Adam und Eva die göttliche Ordnung verlassen haben. Begehren und Lust sind der Ausdruck der menschlichen Gottesferne - ein Zustand, der seit Adam und Eva von Generation zu Generation als Erbsünde weitergegeben wird, weil jeder Mensch in sündiger Lust gezeugt wird. Die Wiederannäherung an die göttliche Ordnung, die jeder Christ in seiner Lebensführung anstreben sollte, kann deshalb nur darin bestehen, nach rationaler Kontrolle über das geschlechtliche Begehren zu streben und sich dem Lustempfinden nicht auszusetzen. Wenn Begehren und Lust der Ausdruck unserer Gottesferne sind, dann gibt es nichts Perverseres, als sie zu suchen. Die Diskurskategorie, die dieser Konstruktion zugrunde liegt, ist der Begriff der Sünde, das heißt der Bruch der göttlichen Schöpfungsordnung und die daraus resultierende Gottesferne. Die von Augustinus eingeführte Vorannahme besteht darin, dass zwar der Geschlechtsverkehr als Mittel der Fortpflanzung, nicht aber Begehren und Lustempfinden zur Schöpfungsordnung vor dem Sündenfall gehörten. Wenn man diese Annahme und dazu noch die von Paulus formulierten Verhaltensregeln akzeptiert, ergeben sich alle theologischen Standardaussagen zum Geschlechtsverkehr Schöpfungsordnung und Sünde, Fortpflanzung und Begehren <?page no="259"?> 251 mit geradezu unvermeidlicher Konsequenz. Das ›Formationssystem‹ Diskurs bringt die Aussagen hervor, die die theologischen Texte durchziehen: Geschlechtsverkehr ist das gottgewollte und deshalb gute Mittel der Fortpflanzung. Die beim Geschlechtsverkehr empfundene Lust und das Begehren nach dieser Lust sind Sünden. Da die Lust beim Geschlechtsverkehr nicht vermeidbar ist, ist es am besten, ganz darauf zu verzichten. Erlaubt ist Geschlechtsverkehr nur innerhalb der Ehe zum Zweck der Fortpflanzung. Auch in diesem Fall bleibt das Lustempfinden eine Sünde. Eine absichtliche Steigerung des Lustempfindens beim ehelichen Verkehr vergrößert die Sünde. Ehepartner sind einander den Geschlechtsverkehr schuldig (›eheliche Pflichten‹), weil er der Fortpflanzung dient und außereheliches Begehren vermeiden hilft. Jede Art von Geschlechtsverkehr außerhalb der Ehe ist eine schwere Sünde. Jede Art von Geschlechtsverkehr (auch jeder eheliche), bei dem es nicht zu einer Zeugung kommen kann, ist eine schwere Sünde gegen die ursprüngliche göttliche Ordnung (›contra naturam‹). Das ist immer der Fall, wenn der männliche Samen nicht in den von der Schöpfungsordnung dafür vorgesehenen weiblichen Körperteil gelangt. In den Bußbüchern und im kanonischen Recht hatte diese Ordnung des Wissens eine Hierarchie unterschiedlich schwerer sexueller Sünden zur Folge. Seit dem 13. Jahrhundert gab es in Bußtraktaten zudem oft einen systematischen Abschnitt, der von den ›ehelichen Pflichten‹ und den Zeiten handelt, in denen Eheleute enthaltsam sein sollten (Fastenzeit, Osterwoche, Pfingsten, Adventszeit, Menstruation, Schwangerschaft und Stillzeit, freitags und sonntags im Gedenken an Kreuzigung und Auferstehung; außerdem bei Tageslicht, denn Eheleute sollten einander nicht nackt sehen, um Begehren und Lust nicht unnötig zu steigern). Auch bei den Kirchenrechtlern herrschte die Auffassung, dass Geschlechtsverkehr allein zur Lustbefriedigung selbst in der Ehe eine Sünde sei. Unterschiedliche Positionen gab es in der Frage, eine wie schwere Sünde das Lustempfinden bei ehelichem Geschlechtsverkehr zur Fortpflanzung darstellt. Als geringste sexuelle Sünde außerhalb der Ehe galt der Geschlechtsverkehr unter unverheirateten Laien, die ›einfache Unzucht‹ (fornicatio simplex). Manche der systematischen Bußtraktate weisen die Kleriker eigens an, den Laien klarzumachen, Hierarchie der sexuellen Sünden Ehelicher Geschlechtsverkehr Geschlechtsverkehr zwischen Unverheirateten: ›einfache Unzucht‹ › G E S C H L E C H T S V E R K E H R ‹ IN DI S KU R S E N D E S 12 . UND 13 . JAH R HUND E RT S <?page no="260"?> 252 DI S KU R S UND DI S KU R S ANALYS E dass die einfache Unzucht durchaus eine Sünde sei. Offenbar war diese Einschätzung unter den Laien keine Selbstverständlichkeit. Auch einzelne Kirchenrechtler lehrten, dass die einfache Unzucht keine allzu schwere Sünde sei. Kirchenrechtlich gesehen lag der Tatbestand der einfachen Unzucht überhaupt nur dann vor, wenn nicht beide Beteiligte behaupteten, in gegenseitigem Einvernehmen mit dem Geschlechtsverkehr eine Ehe geschlossen zu haben. Denn im Kirchenrecht galt seit dem 12. Jahrhundert die Regel, dass allein die freiwillige Zustimmung (consensus) von Braut und Bräutigam die Ehe begründen. Nach dem Kirchenrecht brauchte es für eine rechtskräftige Ehe weder den Segen eines Priesters, noch die Zustimmung der Familien, noch Zeugen, noch irgendeine andere Form von Öffentlichkeit oder ritueller Zeremonie. Aus diesem Grund gab es seit dem 12. Jahrhundert das Problem der ›heimlichen Ehen‹. Seit dem 13. Jahrhundert versuchte die Kirche, heimliche Ehen zu unterbinden, aber erst vom 16. Jahrhundert an konnten ohne den priesterlichen Segen und die durch zwei Zeugen vertretene Öffentlichkeit keine rechtskräftigen Ehen mehr geschlossen werden. Eine wesentlich schwerere Sünde als die ›einfache Unzucht‹ war der Ehebruch (adulterium), denn die Ehe hatte als Sakrament einen heilsvermittelnden Charakter wie Taufe oder Abendmahl. Ehebruch wurde schon in den älteren Bußbüchern mit jahrelangen Fastenbußen belegt und in Hochwie Spätmittelalter von kirchlichen Gerichten schwer bestraft, etwa mit der Aufhebung der ehelichen Lebensgemeinschaft (›Trennung von Tisch und Bett‹). Die Ehe wurde damit nicht geschieden, denn sie war unauflöslich; die Eheleute wurden jedoch zu getrennter Lebensführung verpflichtet und mussten für die Zukunft sexuelle Enthaltsamkeit geloben. Für Frauen, die gewöhnlich keine eigene wirtschaftliche Lebensgrundlage hatten, konnte die Trennung von Tisch und Bett die Verstoßung aus dem gemeinsamen Haushalt, mithin den Verlust der Existenzbasis bedeuten. Noch schwerere Sünden als der Ehebruch waren Inzest (Geschlechtsverkehr mit Verwandten) und Sodomie (nach der biblischen Stadt Sodom, auf die Gott laut 1. Mose 18-19 Feuer und Schwefel regnen ließ). Unter den Begriff Sodomie konnte jeder Geschlechtsverkehr fallen, der ›gegen die Natur‹ - das bedeutet im theologischen Diskurs immer: gegen die Schöpfungs- Geschlechtsverkehr zwischen Unverheirateten und heimliche Konsens-Ehe Ehebruch Inzest und Sodomie <?page no="261"?> 253 ordnung - war, weil er von vornherein nicht der Zeugung dienen konnte: Masturbation, heterosexueller Anal- und Oralverkehr, gleichgeschlechtlicher Verkehr und Verkehr mit Tieren. Medizinischer Diskurs Medizinische Traktate des 12. und 13. Jahrhunderts behandelten den Geschlechtsverkehr in völlig anderer Weise, weil der Diskurs, auf dem sie beruhten, andere Grundbegriffe und Vorannahmen hatte. Die einzige wichtige Kategorie, die medizinischer und theologischer Diskurs teilten, war die der Fortpflanzung als Zweck des Geschlechtsverkehrs, aber selbst in dieser Hinsicht argumentierten die Mediziner nicht wie die Theologen. Der medizinische Diskurs war ebenfalls traditionsbestimmt: Er beruhte auf naturphilosophischen Schriften des Aristoteles (384-322 v. Chr.) und des griechischen Arztes Galen (129-199 n. Chr.). Zu den Vorannahmen der antiken Naturphilosophie gehörte die Einschätzung, dass alles in der Natur einen Zweck hat. Auf dieser Grundlage gingen die Mediziner davon aus, dass der Geschlechtsverkehr auf Fortpflanzung zielt. Wenn aber alles in der Natur einem Zweck dient, gilt das auch für das Lustempfinden beim Geschlechtsverkehr. Die Vorannahme des Diskurses führte so zu einer Argumentation, die in einem grundsätzlichen Widerspruch zu der der Theologen stand. Die Lust hat bei den Medizinern zwar keinen Wert an sich, aber einen funktionalen Wert, der in der Naturordnung verankert ist. Der theologische und der medizinische Diskurs hatten, wie man sieht, nicht denselben Begriff von ›Natur‹. Mediziner redeten nicht über Verhaltensweisen, die mit der göttlichen Schöpfungsordnung übereinstimmen oder als Sünde von ihr abweichen, sondern über die Zweckmäßigkeit der Naturerscheinungen. Das Lustempfinden hat zum einen den Zweck, den Zeugungswillen zu fördern; es hilft zur Überwindung der natürlichen Scham. Zum andern ist es die physiologische Voraussetzung für den Samenausstoß: Ohne Lust keine Ejakulation. Die Mediziner waren der Auffassung, dass eine Steigerung des Lustempfindens die Wahrscheinlichkeit der Zeugung erhöht, und behandelten deshalb in ihren Traktaten entsprechende Methoden wie etwa Vorspieltechniken. b. Aristoteles Galen Natur und Zweck Zweck der Lust Lust, Zeugung, Samenausstoß › G E S C H L E C H T S V E R K E H R ‹ IN DI S KU R S E N D E S 12 . UND 13 . JAH R HUND E RT S <?page no="262"?> 254 DI S KU R S UND DI S KU R S ANALYS E Galen und seine Anhänger lehrten, dass auch Frauen beim Geschlechtsverkehr einen Samen ausstoßen, dessen Verbindung mit dem männlichen zur Zeugung führt. Auf dieser Grundlage galt auch das weibliche Lustempfinden als eine Voraussetzung für die Empfängnis. Aristoteles und seine Anhänger lehrten dagegen, dass nur Männer Samen produzieren; auf dieser Grundlage galt nur das männliche Lustempfinden als eine Voraussetzung für die Zeugung. Die beiden Lehrmeinungen unterschieden sich allerdings nur in der Frage, ob das weibliche Lustempfinden für die Fortpflanzung nötig ist. Beide stimmten darin überein, dass die Frauen die größere Lust beim Geschlechtsverkehr erleben. Frauen haben nach der medizinischen Lehre eine schwächere Konstitution und sind weniger vernunftkontrolliert als Männer, deshalb sind sie stets zum Geschlechtsverkehr bereit und mit unersättlichem Begehren ausgestattet. Dass Frauen sogar während der Schwangerschaft, wenn eine Empfängnis unmöglich ist, zum Geschlechtsverkehr bereit sind, hatte für den medizinischen Diskurs eine grundsätzliche Bedeutung. Wenn diese natürliche Erscheinung nämlich ebenfalls einen Zweck hat, dann kann der Zweck des Geschlechtsverkehrs nicht ausschließlich in der Fortpflanzung bestehen. Bei den Medizinern war die andauernde sexuelle Bereitschaft des Menschen ein Standardargument dafür, dass Geschlechtsverkehr unabhängig von der Fortpflanzungsfunktion aus gesundheitlichen Gründen nötig ist. Damit kommen die Kernthemen des medizinischen Diskurses ins Spiel, die auch die Aussagen zum Geschlechtsverkehr beherrschen: Gesundheit und Krankheit. Gesundheit beruht nach der Lehre der antiken wie auch der mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Medizin auf einem Gleichgewicht der Körpersäfte, Krankheit auf einer Störung dieses Gleichgewichts. Da Männer und Frauen beim Geschlechtsverkehr Körperflüssigkeiten ausscheiden (unabhängig von der Frage des weiblichen Samens), galt regelmäßiger Geschlechtsverkehr als eine Voraussetzung für das Gleichgewicht der Säfte und damit als gesundheitsnotwendig. Enthaltsamkeit führt zu einem Säftestau und macht deshalb krank. Sie verursacht Kopfschmerzen, Gewichtsverlust und Melancholie; bei geschlechtsreifen Heranwachsenden kann sie Störungen der körperlichen Entwicklung nach sich ziehen. Wer Männlicher und weiblicher Samen Weibliches Begehren Geschlechtsverkehr und Gesundheit Säftelehre Krankheit wegen Enthaltsamkeit <?page no="263"?> 255 keinen Partner zur Verfügung hat, sollte deshalb wenigstens regelmäßig masturbieren. Wegen der gesundheitlichen Notwendigkeit des Geschlechtsverkehrs hatten die Mediziner auch nichts gegen Empfängnisverhütung einzuwenden, sondern behandelten in ihren Traktaten ganz im Gegenteil - vor allem pflanzliche - Verhütungsmittel. Anhaltend unerfülltes Begehren eines bestimmten Objekts konnte nach der Auffassung der Mediziner im Extremfall zu einer lebensgefährlichen Erkrankung führen, der Liebeskrankheit (amor hereos, amor heros). Die Lehre geht auf antike und arabische Medizintraktate zurück. Sie ist aber auch von der Liebesmetaphorik antiker Dichter beeinflusst; vor allem Ovid (vgl. S. 79) stellte die Liebe so dar, als ob sie eine Krankheit wäre. Von ihm stammt ein vom Hochmittelalter bis in die frühe Neuzeit viel gelesener Traktat mit dem Titel ›Heilmittel gegen die Liebe‹ (›Remedia amoris‹), der Männern Ratschläge gibt, wie sie unerfülltes Begehren vernünftig kontrollieren können. In hochmittelalterlichen lateinischen Medizintraktaten betrifft die Liebeskrankheit in der Regel Männer; in der volkssprachlichen höfischen Dichtung, wo sie recht häufig beschrieben wird (vgl. S. 225), befällt sie ebenso Frauen. Die Mediziner erklärten ihre Entstehung damit, dass die Wahrnehmung einer schönen Frau das männliche Begehren wegen der erwarteten Lust erregt. Dies führt zu vermehrter Samenproduktion. Infolge des Begehrens prägt sich das Wahrnehmungsbild der Frau dem Gedächtnis ein, weshalb sich der betroffene Mann das Objekt seines Begehrens andauernd als Gedächtnisbild vorstellt. Das Begehren wird dadurch beständig gesteigert, auch wenn es zu keiner weiteren Wahrnehmung des tatsächlichen Objekts kommt. Folglich wird immer mehr Samen produziert. Der Samenstau führt zu Melancholie und im Extremfall zu tödlicher Auszehrung. Die Therapiemöglichkeiten waren umstritten; unter anderem schlugen die Mediziner (wie schon Ovid) körperliche Ablenkung, Stillung des Begehrens mit einer anderen Frau oder die Rezeption frauenfeindlicher Geschichten vor. Aus der Lehre vom Säftegleichgewicht folgte zwangsläufig auch, dass übermäßiger Geschlechtsverkehr ebenso schädlich ist wie Enthaltsamkeit. Die schwächere Konstitution von Frauen wird durch die Zufuhr männlichen Samens zwar gekräftigt, weshalb Frauen von häufigem Geschlechtsverkehr gesundheitlich Liebeskrankheit Übermäßiger Geschlechtsverkehr › G E S C H L E C H T S V E R K E H R ‹ IN DI S KU R S E N D E S 12 . UND 13 . JAH R HUND E RT S <?page no="264"?> 256 DI S KU R S UND DI S KU R S ANALYS E zunächst profitieren. Ihre Empfängnisfähigkeit wird dadurch jedoch vermindert. Männer trocknen durch zu häufige Ejakulation aus, was zur Trübung des Sehvermögens, zu genereller Schwächung und zu vorzeitiger Alterung führt. Auch anstrengende Stellungen hielten die Mediziner für gesundheitsschädlich, zudem für empfängnishemmend. Gleichgeschlechtlicher Verkehr galt bei den Medizinern (wie auch bei den Theologen) nicht als Konsequenz einer Veranlagung, sondern nur als sexuelle Handlungsweise und ausdrücklich nicht als Folge einer Krankheit, deshalb auch nicht als spezifischer Gegenstand der Medizin. Der theologische Diskurs war genauso wenig intellektuell rückständig, wie der medizinische Diskurs aufgeklärt oder fortschrittlich war. Beide waren auf der Basis unterschiedlicher Traditionsbezüge ihren jeweiligen Kernthemen, Vorannahmen und Grundbegriffen verpflichtet, die die jeweiligen Aussagen zum Geschlechtsverkehr in den entsprechenden Traktaten mit einer gewissen Notwendigkeit hervorbrachten. Das theologische Aussagensystem war in sich nicht weniger rational als das medizinische. Im 12. und 13. Jahrhundert folgten die Wissensordnungen freilich nicht mehr denselben Prinzipien, sondern widersprachen einander bereits. Dass das so war, beruht auf Machtverhältnissen: Der theologische und der medizinische Diskurs konnten sich gegenseitig weder aus dem Weg räumen, noch konnte der eine den anderen beherrschen. Höfischer Diskurs Wenn höfische Dichter in ihren Texten den Geschlechtsverkehr zum Thema machten, nahmen sie oft genauso wenig Rücksicht auf die theologischen Positionen wie die Mediziner. Im Grundsatz behandelte der höfische Diskurs den Geschlechtsverkehr auch anders als der medizinische, obwohl er auf einzelne medizinische Ansichten zurückgriff. Die höfischen Dichter thematisierten den Geschlechtsverkehr nicht unter dem Aspekt der Sündhaftigkeit des Lustempfindens und auch nicht in erster Linie unter dem Gesundheitsaspekt, sondern gewöhnlich unter dem Aspekt ›Liebe‹. Liebe spielte im theologischen Diskurs in diesem Zusammenhang gar keine Rolle, Gleichgeschlechtlicher Verkehr c. Geschlechtsverkehr und Liebe <?page no="265"?> 257 im medizinischen trat sie nur in Gestalt der Liebeskrankheit in Erscheinung. Umgekehrt kommt die Kategorie ›Sünde‹ bei der Behandlung der Liebe und damit auch der des Geschlechtsverkehrs im höfischen Diskurs zumeist gar nicht vor. Vereinzelt trifft man jedoch auf Texte, die sie ausdrücklich zurückweisen. Ein Beispiel ist eine Strophe, die unter dem Namen Walthers von der Vogelweide überliefert ist: Walther von der Vogelweide: Leich, Lieder, Sangsprüche. 15. Aufl. hg. v. Thomas Bein. Berlin Boston 2013, S. 450: Swer giht, daz minne sünde sî, der sol sich ê bedenken wol. ir wont vil manige êre bî, der man durch reht geniezen sol, Und volget michel stæte und dar zuo sælickeit: . daz immer ieman missetuot, daz ist mir leit. die valschen minne mein ich niht, die möhte unminne heizen baz, der wil ich immer sîn gehaz. Wer sagt, dass Liebe Sünde ist, der soll zuvor gut nachdenken. Sie geht mit großer Ehre einher, an der man mit Recht seine Freude haben muss, und große Beständigkeit und Glückseligkeit folgen ihr. Dass sich jemand jemals falsch dabei verhält, das bedauere ich. Ich spreche nicht von der unaufrichtigen Liebe, die sollte besser ›Unliebe‹ heißen. Deren Feind will ich stets sein. Hier ist von Liebe (minne) und nicht von Geschlechtsverkehr die Rede. Aber da die Theologen nicht die Liebe, sondern das körperliche Begehren und das Lustempfinden als Sünde beurteilten, sorgt die Verwendung des Begriffs ›Sünde‹ dafür, dass auch an den körperlichen Aspekt der minne erinnert wird. Diskursanalytisch betrachtet, greift der Text den theologischen Grundbegriff ›Sünde‹ auf, bezieht ihn aber nicht - wie im theologischen Diskurs üblich - auf Lust und Begehren, sondern - anders als im theologischen Diskurs üblich - auf den breiter angelegten höfischen Begriffen von Liebe, der neben dem körperlichen auch emotionale und ethische Aspekte umfasst. Die weiteren Aussagen können deshalb von vornherein nicht den Regeln des theologischen Diskurses folgen. Statt die Frage zu verhandeln, ob Lust und Begehren Sünden sind oder nicht, bringt der Text Das höfische Liebesideal › G E S C H L E C H T S V E R K E H R ‹ IN DI S KU R S E N D E S 12 . UND 13 . JAH R HUND E RT S <?page no="266"?> 258 DI S KU R S UND DI S KU R S ANALYS E im Anschluss an die Kategorie ›Liebe‹ ganz andere Begriffe ins Spiel: Liebe führt zu gesellschaftlichem Ansehen (êre) und zu Glück (sælikeit), zwei höfischen Lebenszielen, denen wir schon im Zusammenhang mit der ersten Strophe von Walthers ›Reichston‹ (vgl. S. 202) begegnet sind. Außerdem führt sie zu Beständigkeit (stæte); dieser Begriff bezeichnet im höfischen Liebesideal das treue Festhalten an einer Liebesbeziehung. Verwerflich ist nicht die Liebe selbst, sondern ein fehlerhaftes Verhalten (missetuon) in der Liebe, das eigentlich gar keine Liebe ist und deshalb ›unminne‹ heißen müsste. Der Text bezeichnet es als ›valsche minne‹. Das mittelhochdeutsche Wort ›valsch‹ bedeutet ›unaufrichtig, unehrlich‹ und ist der Gegenbegriff zur ›triuwe‹, die im höfischen Liebesideal für eine aufrichtige und ehrliche Liebe steht. Unaufrichtig ist ein Mann, dem es nur um den sexuellen Erfolg der Verführung geht; aufrichtig ist die Liebe, wenn sie auf eine dauerhafte Beziehung zielt, die nicht bloß zur Befriedigung des eigenen Begehrens dient. Im höfischen Sinn wäre also die Unaufrichtigkeit die ›Sünde‹, nicht die Liebe selbst. Wenn die Liebe aufrichtig ist, ist sie keine ›Sünde‹ - und die Verwendung dieses Begriffs signalisiert dabei, dass dann auch der körperliche Aspekt der Liebe nicht als etwas Schlechtes beurteilt werden soll. Durch den Gebrauch des Wortes ›Sünde‹ setzt der Text den höfischen Diskurs ausdrücklich vom theologischen ab; zugleich zeigt sich, dass der höfische Diskurs auf ganz anderen Begriffen und Vorannahmen beruht und aus diesem Grund ganz andere Aussagen hervorbringt. Die Regeln des Diskurses schlagen besonders drastisch durch, wenn höfische Dichter vom Geschlechtsverkehr erzählen. Ein Beispiel dafür ist die entsprechende Episode im ›Engelhard‹ Konrads von Würzburg, die bereits im Zusammenhang mit dem Darstellungsschema des Lustorts erwähnt wurde (vgl. S. 222). Konrad stellt die Liebe zwischen Engeltrud und Engelhard von vornherein im engen Anschluss an die medizinische Theorie der Liebeskrankheit dar, deren Elemente er womöglich aus anderen höfischen Liebesgeschichten kannte. Mit dem Versprechen eines Geschlechtsverkehrs rettet Engeltrud dem todkranken Engelhard das Leben. Der Verstoß gegen die Rechtsordnung erscheint dadurch als eine medizinische Notmaßnahme; der ummauerte Konrad von Würzburg: ›Engelhard‹ <?page no="267"?> 259 Baumgarten bietet einen Schutzraum der Heimlichkeit. Was darin vor sich geht, erzählt Konrad folgendermaßen: Konrad von Würzburg: Engelhard. Hg. v. Ingo Reiffenstein. 3., neubearb. Aufl. d. Ausg. v. Paul Gereke. Tübingen 1982: si lâgen under eime schaten, daz in ze schirme was gegeben von loube ein dach und underweben 3125 mit wünneclicher blüete. si truogen hôchgemüete als in diu wâre schult gebôt. die bluomen und die rôsen rôt in beiden sorgen swacheten, 3130 wan si sô suoze lacheten ein ander an durch grüenez krût, daz Engelhart und Engeltrût von dirre ougenweide ze rehte muosten beide 3135 ie lachen ein daz ander an. daz süeze wîp, der werde man dûhten sich vil sælec. ein mensche hungermælec wart einer ganzen wirtschaft 3140 nie sô rehte freudenhaft als si zer lieben stunde, dô munt engegen munde getriuweclîche strebete, wand in ir sinne klebete 3145 diu zuckersüeze minne gar eigenlichen drinne. Si freuten sich in manege wîs. in wart daz sælden paradîs ûf entslozzen und getân. 3150 si giengen ûf der Minnen plân und brâchen freuden bluomen dâ, sô schœne daz man anderswâ minneclicher nie gebrach. nû flôz dar zuo der Minnen bach 3155 und hôher gnâden brunne. si lâgen in der wunne mit senfter unmuoze und triben dâ vil suoze ir vil reiniu minnewerc. Sie lagen im Schatten, so dass ihnen ein Dach aus Laub als Schutz diente, durchwoben mit lieblichen Blüten. Sie waren so glücklich, wie sie mit gutem Grund sein mussten. Die Blumen und die roten Rosen nahmen ihnen beiden die Sorgen, weil sie einander so süß anlachten durch das grüne Gras, dass auch Engelhard und Engeltrud einander wegen dieses Anblicks mit Recht anlachen mussten. Die süße Frau und der edle Mann fühlten sich sehr glücklich. Kein hungriger Mensch wurde durch ein ganzes Festmahl je so froh wie sie in dieser glücklichen Zeit, als es einen Mund in aufrichtiger Treue zum andern zog, denn in ihrem Herzen klebte die zuckersüße Liebe als fester Besitz. Sie freuten sich auf vielerlei Art. Ihnen wurde das Paradies des Glücks aufgeschlossen. Sie gingen auf der Wiese der Liebe und pflückten dort so schöne Blumen der Freude, dass niemand jemals anderswo liebevollere pflückte. Dazu flossen nun auch der Bach der Liebe und die Quelle großer Gnade. Sie lagen in diesem Glück in sanfter Beschäftigung und trieben in aller Süße ihre ganz reinen Liebeswerke. › G E S C H L E C H T S V E R K E H R ‹ IN DI S KU R S E N D E S 12 . UND 13 . JAH R HUND E RT S <?page no="268"?> 260 DI S KU R S UND DI S KU R S ANALYS E Die Passage macht überdeutlich, was der Grundbegriff des höfischen Diskurses bei der Behandlung des Geschlechtsverkehrs ist - nämlich nicht Fortpflanzung, Sünde oder Gesundheit, sondern Glückseligkeit. Es wimmelt geradezu von Wörtern, die auf diesen Begriff verweisen: wunne und wünneclich, sich freuen und freudenhaft, sælde und sælec, hôchgemüete, lachen und süeze bringen Satz für Satz den affektiven Wert der körperlichen Liebe zum Ausdruck. Auf diesen Begriff ist auch der Lustort mit seinen typischen Elementen bezogen. Er ist eine beglückte und deshalb beglückende Umgebung: Rosen und Blumen lachen einander so süß an, dass Engelhard und Engeltrud einander ebenso anlachen müssen und sich glücklich fühlen (V. 3128-3137). Auf das Anlachen folgt der beglückende Kuss (V. 3138-3146), auf den Kuss der verhüllt beschriebene Koitus. Das erkennt man daran, dass die beiden nun auf der Wiese der Liebe wandeln und dort die Blumen der Freude pflücken (V. 3150 f.). Der Ausdruck bluomen brechen verfügt im Mittelhochdeutschen über ein unmissverständliches Anspielungspotential, denn er ist das Pendant zum lateinischen Verb deflorare, das ›Blumen pflücken‹ und ›entjungfern‹ bedeutet. In Konrads Beschreibung treten sogar die Körperflüssigkeiten auf, die in der medizinischen Theorie des Geschlechtsverkehrs eine prominente Rolle spielen. Auch sie kommen freilich in metaphorisch verhüllter Gestalt zur Sprache: Auf der Wiese der gepflückten Blumen fließen der Bach der Liebe und der Brunnen der Gnade (V. 3154 f.). Ein Brunnen und ein Bach gehören zu den festen Bestandteilen des Lustorts. Konrad benutzt die traditionellen Motive hier jedoch, ebenso wie die gepflückten Blumen, als metaphorische Bezeichnungen für die körperlichen Umstände der Freude, die die Liebenden miteinander im Lustort erleben. Bei diesem metaphorisch beschriebenen Koitus wird den beiden das Paradies der Glückseligkeit aufgeschlossen (V. 3148 f.). Der Begriff stammt aus der religiösen Sprache, dient hier indes als Metapher für das Ausmaß der beim Geschlechtsverkehr erlebten Lust. Das schließt eine Beurteilung des sexuellen Lustempfindens ein, die die im medizinischen Diskurs gängige bei weitem übertrifft und der im theologischen Diskurs üblichen völlig widerspricht. Der theologische Standpunkt wird dabei durch den Gebrauch einer Metapher aus der religiösen Sprache in sein Gegenteil verkehrt: Im theologischen Diskurs gehört die sexuelle Glück <?page no="269"?> 261 Lust zur Vertreibung aus dem Paradies, im höfischen Diskurs ist sie die Heimkehr ins Paradies. So konnte der Himmel auch im 13. Jahrhundert schon, wie heute bei Ulla Hahn (vgl. S. 3, 9), ›von dieser Welt‹ sein. Das verhüllende Wort für den Geschlechtsverkehr in dieser Passage ist minnewerc (V. 3159), ›Werke der Liebe‹. Charakterisiert werden diese Werke als vil reiniu, ›ganz rein‹. Die minne selber umfasst mehr als die körperliche Handlung, nämlich auch den affektiven Aspekt. Deshalb ist sie zuckersüß und hat ihren Platz im sin, im Innern der Menschen (V. 3144-3146). Die Reinheit des Höfische Liebe: Körper, Gefühl und Moral Abb. 15 Höfisches Liebespaar. Miniatur zu den Liedern Konrads von Altstetten in der Manessischen Liederhandschrift. › G E S C H L E C H T S V E R K E H R ‹ IN DI S KU R S E N D E S 12 . UND 13 . JAH R HUND E RT S <?page no="270"?> 262 DI S KU R S UND DI S KU R S ANALYS E körperlichen Vorgangs und die damit verbundene affektive Qualität kann der Liebe im höfischen Diskurs aber nur zukommen, wenn sie bestimmte moralische Qualitäten erfüllt. Sie deutet Konrad in dieser Passage nur einmal mit dem Wort getriuweclîche sowie metaphorisch dadurch an, dass die Liebe wie ein fester Besitz im Inneren der Liebenden klebt (V. 3143-3146). In der gesamten Liebesgeschichte von Engelhard und Engeltrud macht er aber mehr als deutlich, dass die Beziehung den höfischen Idealen der triuwe und der stæte entspricht: Die beiden sind in ihrer Liebe aufrichtig und beständig, wie es sich für ein höfisches Paar gehört. Der höfische Diskurs bettet das körperliche Begehren und seine Erfüllung in ein Gesamtmodell der Liebe ein, in dem emotionale und ethische Aspekte eine ebenso wichtige Rolle spielen, und verleiht der Liebe einschließlich ihres körperlichen Aspekts auf diese Weise einen hohen Wert als größtmögliche Glückserfahrung. Das unterscheidet die Behandlung des Geschlechtsverkehrs im höfischen Diskurs grundlegend von der in den anderen Diskursen. Diese Glückserfahrung ist im ›Engelhard‹, wie in etlichen anderen höfischen Texten, allerdings nur im Schutz der Heimlichkeit möglich, weil die ›ganz reinen Werke der Liebe‹ im Widerspruch zur Rechtsordnung stehen. Jenseits der Mauer, die den Lustort umgibt und die Liebenden schützt, lauert nicht der theologische Diskurs - etwa in Gestalt eines Priesters, der den Liebenden das Urteil ›Sünde‹ entgegenschleudern, die Beichte abnehmen und eine Buße auferlegen würde. Hinter der Mauer des Baumgartens herrscht vielmehr die adelige Lebenspraxis mit ihrem Gewohnheitsrecht, das Geschlechtsverkehr außerhalb der Ehe verbot. Sie tritt in Gestalt von Engeltruds Vater, König Fruote, auf, der Engelhard nach der Entdeckung des Paars töten lassen will. Gewohnheitsrechtlicher Diskurs Nach dem weltlichen Gewohnheitsrecht, das die adelige Lebenspraxis prägte, verletzt Engelhard die auf der Hausherrschaft beruhenden Rechte des Vaters über die Tochter. Das Gewohnheitsrecht war bis zur einsetzenden Verschriftlichung im 13. Jahrhundert mündliches Gemeinschaftswissen (vgl. S. 50). Auch in der Mündlichkeit hatte es einen institutionellen Charakter, d. <?page no="271"?> 263 weil es in Gerichtsverfahren zur Anwendung kam, und da die Rechtsgrundsätze im mündlichen Gebrauch ebenso wie später in Schrifttexten zu Aussagen wurden, lässt es sich als diskursives ›Formationssystem‹ verstehen. Vom höfischen Diskurs muss man den gewohnheitsrechtlichen unterscheiden, denn er fragt nicht danach, was höfisch und unhöfisch ist, sondern bestimmt, was Recht und Unrecht ist. Der Geschlechtsverkehr zwischen Engelhard und Engeltrud ist höfisch, aber ein Rechtsbruch; deshalb stehen hier zwei Diskurse im Gegensatz zueinander. Die höfische Dichtung, die in erster Linie den höfischen Diskurs aktualisiert, kann den gewohnheitsrechtlichen einblenden wie jede andere Wissensordnung auch. Der Gegensatz zwischen höfischer Idealität und Rechtsordnung wird regelmäßig zum Thema gemacht, wenn von unerlaubtem Geschlechtsverkehr die Rede ist. Die Grundlage für die Behandlung des Geschlechtsverkehrs im weltlichen Gewohnheitsrecht ist die ›Munt‹ des Vaters über seine Kinder und die des Ehemanns über seine Ehefrau. ›Munt‹ (das Wort ist heute noch in ›Vormund‹ erhalten) bedeutet die Rechtsgewalt über Söhne und Töchter, die das Recht zu ihrer Verheiratung umfasst, und die Rechtsgewalt über die Ehefrau, die das alleinige Recht auf ihren Körper einschließt. Die Munt des Vaters (oder, im Fall seines Todes, eines anderen männlichen Verwandten) über die Tochter endet mit ihrer Verheiratung. Mit der Eheschließung beginnt die Munt des Ehemanns über seine Frau. Die Rechte des Vaters und des Ehemanns ergeben sich daraus, dass der Geschlechtsverkehr gewohnheitsrechtlich der Zeugung legitimer Nachkommen dient - also nicht der Fortpflanzung im Allgemeinen, sondern der Fortpflanzung der Sippe. Der Hausherr bestimmt deshalb über die weiblichen Körper. Wer mit einer unverheirateten oder einer anderweitig verheirateten Frau schläft, verletzt die Rechte dessen, der die Munt über sie hat, und damit seine Ehre. Es gehört zu den hausherrlichen Gewohnheitsrechten, dass der Vater oder der Ehemann einen solchen Rechtsbruch selber an der Tochter oder der Ehefrau sowie an ihrem Liebhaber bestrafen kann. Nachdem Engelhard und Engeltrud von Ritschier, dem Neffen des Königs, im Baumgarten entdeckt worden sind, bestimmen die Regeln des Gewohnheitsrechts den weiteren Gang der Handlung. Ritschier stellt sogleich fest, dass die beiden die Ehre Höfischer und gewohnheitsrechtlicher Diskurs ›Munt‹ und Fortpflanzung der Sippe Rechtsbruch und Ehrverletzung › G E S C H L E C H T S V E R K E H R ‹ IN DI S KU R S E N D E S 12 . UND 13 . JAH R HUND E RT S <?page no="272"?> 264 DI S KU R S UND DI S KU R S ANALYS E des Königs schädigen. Engelhard sieht Engeltruds Ehre und sein eigenes Leben bedroht. König Fruote, von Ritschier unterrichtet, betrachtet Engelhards Verhalten als Rechtsbruch ihm gegenüber und als Verletzung seiner Ehre. Er kündigt an, Engeltrud zu enterben - das heißt, ihr die gesellschaftliche Stellung zu nehmen; Engelhard will er töten lassen. Erst auf Bitten seiner Ratgeber und ohne vom Recht dazu gezwungen zu sein, beraumt der König ein öffentliches Gerichtsverfahren an, bei dem Engelhard die Möglichkeit zur Stellungnahme erhält. Übrigens wirft Fruote Engelhard vor, er habe Engeltrud zur tougenlichen brût (heimlichen Braut) genommen, und auch der Erzähler bezeichnet Engeltrud nach dem Geschlechtsverkehr im Baumgarten einmal als gemahele (Braut, Ehefrau) Engelhards. Die Interpretation des Vorgangs als heimliche Eheschließung (vgl. S. 252) steht damit im Raum. Während ein kirchliches Gericht Engelhard und Engeltrud kaum verurteilt hätte, weil ihr Handeln nach kanonischem Recht wohl als heimliche Eheschließung durchgegangen wäre, stellt die Heimlichkeit für König Fruote gerade das Rechtsvergehen dar: Nach dem weltlichen Gewohnheitsrecht konnten Ehen nur mit Einwilligung der Eltern in einer öffentlichen Zeremonie geschlossen werden, bei der die Braut aus der Munt des Vaters in die Munt des Ehemanns übergeben wurde. Gewohnheitsrecht und Kirchenrecht stimmten nicht überein. Der Konflikt zwischen höfischer Glückseligkeit und Rechtsbruch wird im ›Engelhard‹ dadurch gelöst, dass es den beiden Liebenden gelingt, den Geschlechtsverkehr glaubhaft zu leugnen und die Lüge durch das manipulierte Gottesurteil zu verbergen. Die Heimlichkeit des Baumgartens bleibt auf diese Weise am Ende trotz der Entdeckung gewahrt, weil der Hof Ritschier nicht glaubt. An dieser alles entscheidenden Stelle nutzt der höfische Diskurs aus, dass Recht und Unrecht im Gewohnheitsrecht eng an Ehre und Schande gekoppelt sind. Nur der an die Öffentlichkeit gebrachte Rechtsbruch ist eine Schande für denjenigen, dessen Recht verletzt wird. Die Idealität der höfischen Liebe kann deshalb auch in den Fällen, in denen ein unerlaubter Geschlechtsverkehr das Recht bricht, Bestand haben - nämlich wenn die Heimlichkeit gewahrt wird. Die Diskursgrenzen der höfischen Liebe entsprechen den Mauern, die um den verschlossenen Garten der paradiesischen Lust gezogen sind. Kirchenrecht und Gewohnheitsrecht Recht und Ehre <?page no="273"?> 265 Diese Mauern können die höfische Liebe freilich nur gegen das adelige Gewohnheitsrecht schützen. Gegen die Theologie könnten sie nicht helfen, weil die Sünde der geschlechtlichen Lust auch dann eine Sünde bleibt, wenn sie erfolgreich verheimlicht wird. Gott sieht nämlich alles und bestraft auch die heimlichen Sünden. Im theologischen Diskurs sind Recht und Unrecht nicht an Ehre und Schande gekoppelt, sondern allein an die Einhaltung und den Bruch der göttlichen Ordnung. ›Unrecht‹ ist hier deshalb, ebenso wie im Kirchenrecht, nicht genau dasselbe wie im gewohnheitsrechtlichen Diskurs. Die Idealität der verbotenen Liebe kann der höfische Diskurs nur retten, wenn jenseits der schützenden Mauer in den Texten der Dichter nicht die Theologie, sondern das adelige Gewohnheitsrecht herrscht. Historische Diskursanalyse hilft im konkreten Fall erstens bei der Erkenntnis, dass es im Hochmittelalter unterschiedliche Ordnungen des Wissens gab, in denen ein Thema wie ›Geschlechtsverkehr‹ sehr verschieden ›konstruiert‹ wurde. Zweitens hilft sie bei der Erkenntnis, dass ältere Wissensordnungen die Welt nicht so einteilen, wie wir es von unseren Wissensordnungen gewohnt sind. Theologen, Kirchenrechtler und Mediziner redeten gar nicht über Sexualität in dem umfassenden Sinn, den wir kennen. Ihre viel konkreteren Themen waren Fortpflanzung und Lustempfinden beim Geschlechtsverkehr. Im Zusammenhang damit war von ›Liebe‹ kaum die Rede. Im Gewohnheitsrecht ging es ebenfalls weder um Sexualität noch um Liebe, sondern um die Rechte von Vätern und Ehemännern über die Körper von Töchtern und Ehefrauen. Bei den höfischen Dichtern gab es indessen einen engen Zusammenhang zwischen Liebe und körperlicher Lust; hier spielte im Gegenzug der Aspekt der Fortpflanzung kaum eine Rolle. Dagegen lässt sich die Frage, wie es ›wirklich‹ war, im Rahmen der historischen Diskursanalyse weder stellen noch beantworten: Die Wirklichkeit ist immer so, wie die jeweilige Wissensordnung sie aufgrund ihrer Prinzipien und Zielsetzungen erscheinen lässt. Diskursgrenzen Historische Unterschiede zwischen Wissensordnungen › G E S C H L E C H T S V E R K E H R ‹ IN DI S KU R S E N D E S 12 . UND 13 . JAH R HUND E RT S <?page no="274"?> 266 266 Kulturelle Wissensordnungen II: Praktiken und Praxeologie Diskurse und Praktiken Die Diskursanalyse ist eine Methode zur Erforschung der Geschichte des Wissens. Von älteren wissensgeschichtlichen Methoden wie etwa der Ideen- oder Geistesgeschichte unterscheidet sie sich vor allem dadurch, dass sie das begriffliche Wissen als ein Instrument des sozialen Handelns einschätzt: Diskurse sind - so wie Foucault den Begriff verstand - keine bloßen Systeme von Begriffsbeziehungen, sondern kulturelle Praktiken (vgl. S. 241). Die Praxis ist dabei nicht einfach der Gebrauch eines Begriffssystems, das auch unabhängig von ihr existieren könnte: Indem Akteure das begrifflich-diskursive Wissen benutzen, verursachen sie zugleich seine Beständigkeit und Veränderung. Nun besteht das soziale Handeln aber nicht allein aus Diskursen, und auch nicht-diskursive Praktiken beruhen auf kulturellem Wissen. Deshalb hat die Diskursanalyse als wissensgeschichtliche Methode eine begrenzte Reichweite, und ebenso verhält es sich mit ihrer literaturwissenschaftlichen Anwendung: Wenn Texte Handeln darstellen, aktualisieren sie dabei nicht-diskursives kulturelles Praxiswissen. Das Verhältnis zwischen diskursiven und nicht-diskursiven kulturellen Praktiken soll im Folgenden zunächst am Beispiel eines Fastnachtspiels aus dem 15. Jahrhundert veranschaulicht werden. Im Anschluss daran lassen sich die Möglichkeiten, die die kulturwissenschaftlichen Modelle praktischen Wissens und ihrer Analyse für die Beschäftigung mit älterer Literatur bieten, in einer verallgemeinernden Form erläutern. Fastnachtspiel und Fastnacht Fastnachtspiele sind der jüngere von zwei Typen des mittelalterlichen Theaters. Ebenso wie der ältere Typus, das geistliche Spiel, steht das Fastnachtspiel nicht in der Tradition der anti- Kapitel 11 1. 2. Theater im Mittelalter <?page no="275"?> 267 ken Theaterpraxis, die in der Spätantike endete. Das Wissen über sie ging verloren und wurde erst im Humanismus wieder entdeckt. Erhalten geblieben waren im Mittelalter antike lateinische Dramentexte; diejenigen der Komödien von Terenz (gest. 159/ 158 v. Chr.) gehörten an den Schulen sogar zur Standardlektüre. Die Gelehrten betrachteten sie jedoch als reine Lesetexte, ohne eine Vorstellung von ihrer ursprünglichen Aufführungsform zu haben. Das geistliche Spiel entwickelte sich - wahrscheinlich im 10. Jahrhundert - nicht aus der Dramentextlektüre im Schulunterricht, sondern aus der Liturgie des Ostergottesdienstes, in die kleine Spielszenen eingelagert wurden. Die Spielpraxis blieb zunächst ans Lateinische als Sprache der Liturgie gebunden und wurde nach und nach auf andere religiöse Festtage ausgedehnt: Geistliche Spiele stellten in der Weihnachtszeit das Geschehen um Christi Geburt dar, in der Passionszeit die Leidensgeschichte und zu Ostern die Vorgänge um die Auferstehung. Deutschsprachige Spieltexte sind seit dem 13. Jahrhundert belegt. Vom 14. bis zum 16. Jahrhundert kamen Weltgerichtsspiele (über das Jüngste Gericht), Himmelfahrts-, Pfingst- und Fronleichnamsspiele, Spiele mit alttestamentlichen Stoffen sowie Episoden aus Heiligenleben dazu. Im späten Mittelalter und in der frühen Neuzeit war das geistliche Spiel ein städtisches Großspektakel. Es konnte sich in vielstündigen Aufführungen über mehrere Tage erstrecken und wurde mit zahlreichen Darstellern aus verschiedenen Gruppen der Stadtbevölkerung - Geistlichen, Patriziern, Handwerkern - unter der Kontrolle des Rats auf dem Markt- oder Kirchplatz inszeniert. Die bei den Aufführungen zum Einsatz gebrachten Texte waren in der Regel versifiziert, dem zeitgenössischen Verständnis nach also Dichtung: Reimpaartexte zur Rezitation und geistliche Lieder zum Singen. Im Unterschied zum geistlichen Spiel verdankt das Fastnachtspiel seine Entstehung der städtischen Fastnachtskultur. Die Fastnacht als Aufführungszeitraum ermöglicht allerdings keine ganz scharfe Abgrenzung zwischen den beiden Typen, weil in manchen Städten geistliche Spiele auch in der Fastnachtszeit aufgeführt wurden. Die Stoffe geistlicher Spiele unterscheiden sich jedoch recht deutlich von denen der Fastnachtspiele. Die historischen Bezeichnungen reichen ebenfalls nicht zur Identifikation aus, Geistliches Spiel Fastnachtspiel FA S TNAC H T S PI E L UND FA S TNAC H T <?page no="276"?> 268 P RAK TIK E N UND P RAX E O L O GI E weil das frühneuhochdeutsche Wort fastnachtspil in Quellen des 15. und 16. Jahrhunderts eine viel weitere Bedeutung hat als der moderne literaturwissenschaftliche Gattungsbegriff: Es konnte sich auf alle Arten von Fastnachtspraktiken, etwa auch Umzüge oder Tanzveranstaltungen, beziehen. Die Überlieferung von Fastnachtspieltexten stammt zum größten Teil aus der Reichsstadt Nürnberg. Die Fastnachtspiel-Praxis als solche ist - vor allem in Stadtratsprotokollen - ebenso für Städte belegt, aus denen keine Spieltexte erhalten sind. Die älteste Nürnberger Fastnachtspiel-Sammelhandschrift wurde zwischen 1455 und 1458 angefertigt. Sie enthält 48 Texte, die dem seit 1426 in Nürnberg ansässigen Handwerker-Dichter Hans Rosenplüt zugeschrieben sind. Ob Rosenplüt sie alle selbst verfasst oder zumindest einige von ihnen nur schriftlich festgehalten hat, ist unsicher. Die Texte sind durchweg kurz, in Reimpaarversen gedichtet und auf Belustigung angelegt. Gegenstand der Belustigung sind meistens als falsch ausgewiesene Ansichten oder Handlungsweisen, die dem Gelächter preisgegeben werden. Diese moralsatirische Sinnkonstruktion, die anhand der Darstellung des Falschen das Richtige erkennbar macht, gewann in der weiteren Gattungsgeschichte manchmal das Übergewicht über die Komik: Fastnachtspiele können dann im Einzelfall einen eher ernsten als belustigenden Eindruck machen; meistens fallen sie dabei erheblich länger aus. Beispiele dafür aus dem späteren 15. Jahrhundert sind die Fastnachtspiele des Nürnberger Handwerker-Dichters Hans Folz (vgl. S. 96), Beispiele aus dem frühen 16. Jahrhundert die des Basler Druckers Pamphilus Gengenbach, der auf seiner Wanderschaft als Drucker-Geselle in Nürnberg gewesen war. Beide haben ihre Fastnachtspieltexte selber gedruckt. Um die Mitte des 16. Jahrhunderts verfasste Hans Sachs (vgl. S. 83) nochmals eine beträchtliche Menge von Fastnachtspieltexten, die er sowohl aufführen als auch im Druck verbreiten ließ. Das Fastnachtspiel unterscheidet sich - ebenso wie das geistliche Spiel - erheblich von unserer Literaturgattung ›Drama‹ und dem dazugehörigen Theaterbetrieb. Es war kein ›Literaturtheater‹ in dem Sinn, dass Dramen mit professionellen Schauspielern in einem eigens dafür eingerichteten Gebäude inszeniert wurden, sondern Laientheater. Die Texte hatten ihren Ort ursprünglich - bevor Folz und Gengenbach sie auf die Druckerpresse brachten - Textüberlieferung Komik und Moralsatire Aufführung und Text <?page no="277"?> 269 allein in der Aufführung. Sie wurden nicht unabhängig von ihr aufgezeichnet und gelesen, wie wir das mit literarischen Dramen tun. Deshalb blieben von der Spielpraxis des 15. Jahrhunderts nur dann Texte erhalten, wenn sie entgegen der Gewohnheit doch zu Lesezwecken aufgeschrieben wurden. In einigen Städten wurden Fastnachtspiele, ähnlich wie die geistlichen Spiele, auf dem Marktplatz und dort dann möglicherweise auch auf einer Bretterbühne inszeniert. Belegt ist mancherorts ebenso der Tanzsaal des Rathauses als Spielort, wo sich zur Fastnacht die Ratsherren und ihre Ehefrauen zu Festessen und Tanz trafen. Die für Nürnberg typische Aufführungsform war jedoch das Einkehrspiel: Eine Spieltruppe zog mit einem einstudierten Stück durch Privat- und Wirtshäuser und spielte in den Wohn- und Gaststuben. Die Spieltruppen brauchten in Nürnberg jeweils die Erlaubnis des Stadtrats und durften nur aus Männern bestehen, die auch allfällige Frauenrollen spielten. Erst Hans Sachs veränderte die Eigenschaften von Fastnachtspieltexten und Aufführungspraktiken in den 50er Jahren des 16. Jahrhunderts zum Literaturtheater: Er arbeitete literarische Vorlagen - unter anderem Boccaccio-Novellen und Eulenspiegel-Erzählungen - zu Fastnachtspielen um und ließ sie in einer seit der Reformation leerstehenden Nürnberger Klosterkirche auf einer Bühne aufführen. Zuvor waren Fastnachtspiele einschließlich der Texte nichts anderes als ein Bestandteil der städtischen Fastnachtspraktiken und deshalb von deren kulturellen Funktionen abhängig. Die Bedeutung der Fastnacht beruhte zunächst auf derjenigen der auf sie folgenden Fastenzeit: Zwischen Aschermittwoch und Ostern sah das Kirchenjahr einen Zeitraum kollektiver Askese vor, in der der Verzicht auf die körperlichen Freuden die Besinnung auf Sündenverfallenheit und Erlösungsbedürftigkeit fördern sollte. Zu Ostern wurde die Erlösung sowohl von den Sündenfolgen als auch von der Enthaltsamkeit gefeiert. Die Fastnacht verdankt ihre Entstehung als Fest wahrscheinlich nicht nur einem Wunsch zum gemeinschaftlichen Genießen vor dem Genussverzicht, sondern auch der praktischen Notwendigkeit, die nicht bis Ostern konservierbaren Vorräte an - in der Fastenzeit verbotenem - Fleisch aufzubrauchen. Allein auf diese Funktionen war die Nürnberger Fastnacht in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts aber offenkundig nicht konzentriert. Vielmehr war sie ein Fest städtischer Selbstdarstel- Aufführungspraxis Einkehrspiel Funktionen der Fastnachtskultur Kommunale Integration FA S TNAC H T S PI E L UND FA S TNAC H T <?page no="278"?> 270 P RAK TIK E N UND P RAX E O L O GI E lung, das vom Rat ebenso aktiv gefördert wie streng kontrolliert wurde und seine Höhepunkte in Schauturnieren und Schauzügen der jungen Patrizier, Schautänzen der Handwerker sowie dem Rathaustanz der Ratsherren und ihrer Ehefrauen im Festsaal des Rathauses hatte. Die längste zusammenhängende arbeitsfreie Zeit im ganzen Jahr war ein städtisches Integrationsfest, bei dem sich die gesamte Stadtbevölkerung als Kommune feierte. Manche der städtischen Fastnachtspraktiken dienten darüber hinaus der Inszenierung einer verkehrten Welt: Sie kehrten allgemein als naturgegeben eingeschätzte soziale Ordnungsverhältnisse künstlich um und machten ihre Naturgegebenheit dadurch erst recht erfahrbar. Das betrifft zunächst die Lizenz zur körperlichen Ausgelassenheit selbst, die durch ihre strikte zeitliche Begrenzung von vornherein als Ausnahmezustand markiert war. Mit der Bedeutung der Fastenzeit verhielt sich dies übrigens nicht prinzipiell anders: Fastnacht und Fastenzeit zusammen ergaben Extreme von Lust und Askese, die den Rest des Jahrs als Normalität auswiesen. Ein spezifischeres Beispiel für die verkehrte Welt und ihre Funktion ist die Verkleidung von Männern als Frauen in Fastnachtspielen: Der Tausch der Geschlechterrollen und das Gelächter darüber machte die für natürlich gehaltenen Unterschiede zwischen Männern und Frauen offensichtlich. Indem Männer vorführten, was als weiblich galt, erschienen die Geschlechteridentitäten als natürliche Gegebenheiten, denn die Verkehrung trat als das Künstliche in Erscheinung. So erhielt die Fastnacht als zeitlich strikt begrenzte Verkehrung der Ordnung ihren Sinn stets im Bezug auf die Ordnung, deren Unveränderbarkeit sie bestätigte. Das Fastnachtspiel vom Eggenziehen Ein Beispiel für die inszenierte Verkehrung sozialer Ordnungsverhältnisse ist das Fastnachtspiel vom Eggenziehen, das unter der Überschrift ›ein vasnacht spil: die egen‹ in einer um 1460 in Nürnberg angelegten Sammelhandschrift überliefert ist. Es umfasst 118 Verse folgenden Inhalts: Verkehrte Welt 3. ›Die egen‹ <?page no="279"?> 271 Zunächst begrüßt ein ›Ausschreyer‹ den Hausherrn und die Hausherrin und kündigt den Auftritt eines Bauern an. Vor dessen Pflug und Egge seien die heuer übrig gebliebenen-- das heißt, die trotz Heiratsfähigkeit unverheirateten-- Mädchen gespannt. Sie müssten den Pflug nun zur öffentlichen Buße dafür ziehen, dass sie fut, ars, tutten vergebenß tragen (›Fotze, Arsch, Titten ohne Nutzen an sich tragen‹). Danach wendet sich der Bauer an einen Knecht, der die als ›Pferde‹ bezeichneten Mädchen am Pflug gehörig antreiben soll. Der Knecht gibt den Befehl in noch etwas drastischerer Diktion an einen anderen Knecht weiter. Ehe es zu der Aktion kommt, befragt der Bauer die Mädchen jedoch der Reihe nach, weshalb sie den Pflug ziehen müssen. Die Erste antwortet, sie habe wegen ihrer Hässlichkeit keinen Mann abbekommen. Die Zweite hatte einen Heiratskandidaten, dem jedoch Gerüchte über ihre verlorene Jungfräulichkeit hinterbracht wurden, worauf er sich von ihr abwandte. Die Dritte verlor ihren Verehrer an eine Konkurrentin, die ihn ohne weiteres ›in ihrer unteren Tasche spielen‹ ließ und ihrerseits an seinem ›Säckchen‹ spielte. Die Vierte war das ganze Jahr über mit einem schönen, aber schamhaften Jungen liiert, den sie vergraulte, indem sie ihm brieflich mehrmals ihr sexuelles Verlangen mitteilte. Die Fünfte hatte einen redegewandten Verehrer, der sich jedoch zurückzog, als ein anderer behauptete, sie geschwängert zu haben. Die Sechste erlebte einen Geschlechtsverkehr, der ihr als größtes Vergnügen angekündigt war, als so schmerzhaft, dass sie nun enthaltsam leben will. Die Siebte fand trotz des Besuchs aller Tanzveranstaltungen und erheblicher körperlicher Vorzüge (knackharte Brüste, große Arschbacken und einen rauen Köcher für lange Pfeile) keinen Heiratskandidaten, weil sie selbst unehelich geboren ist. Am Schluss verabschiedet sich der ›Ausschreyer‹ mit der Bitte um Futter für die Stuten am Pflug, die keinesfalls als Huren bezeichnet werden dürften. Man habe noch manches Feld zu bestellen und müsse deshalb weiterziehen; zum Abschied wünsche man Glück im Leben und die ewige Ruhe danach. DA S FA S TNAC H T S PI E L VOM E G G E NZI E H E N Prolog und Epilog des ›Ausschreyers‹ zeigen, dass es sich um den Text eines Einkehrspiels handelt: Mit dem Prolog begrüßt der Anführer der Spieltruppe beim Einzug in die Stube das Publikum und kündigt das Spiel an. Mit der Bitte um ›Futter‹ - also um eine Gabe - im Epilog verlangt der ›Ausschreyer‹ vom Publikum einen Lohn für die Spieler. Inhaltlich greift das Fastnachtspiel ein symbolisches Strafritual auf, dessen Existenz im 15. und 16. Jahrhundert vor allem im ober- und mitteldeutschen Sprachraum recht gut belegt ist, dessen tatsächlicher Ablauf sich allerdings nur aus literarischen Darstellungen rekonstruieren lässt. Außer mit einer Egge oder einem Pflug wurde das Ritual auch mit einem Holzstamm durchgeführt und dann mit einem alten Wort für Holzstämme ›Blochziehen‹ genannt. Während das Blochziehen ein dörfliches Ritual war, Blochziehen als Dorfritual <?page no="280"?> 272 P RAK TIK E N UND P RAX E O L O GI E haben die literarischen Darstellungen städtische Fastnachtspraktiken zum Gegenstand, die die Bekanntheit des dörflichen Rituals voraussetzen. Beim Blochziehen könnte demnach Folgendes vor sich gegangen sein: Die Dorfgemeinde erlaubte den unverheirateten jungen Männern, einen Baum im Gemeindewald zu fällen. Bei der Rückkehr mit dem Baumstamm wurden sie von der Gemeinde empfangen. Sie zogen durchs Dorf, holten die unverheirateten jungen Frauen und banden sie mit Riemen an den Baumstamm. Die jungen Frauen mussten den Stamm vor der Dorfgemeinschaft ein Stück weit ziehen. Da das Baumziehen zu den üblichen Holzfällertätigkeiten gehörte und deshalb eine Männerarbeit war, führten die Mädchen ihre geschlechtsbedingte Unterlegenheit vor, wenn sie den Stamm nicht bewegen konnten, und wurden ausgelacht. Konnten sie ihn ziehen, zeigte das ihre Handlungsfähigkeit: Sie zogen sich symbolisch aus der Demütigung heraus und stellten damit ihre Tauglichkeit für die Ehe unter Beweis. Das anschließende Fest samt Tanz eröffnete Möglichkeiten zur Eheanbahnung. Der kulturelle Sinn des Rituals bestand in der Abfolge von Demütigung, Bewährung und Versöhnung als symbolischer Überwindung des Vergangenen und der Eröffnung neuer Handlungsmöglichkeiten. Dieser Sinn beruhte auf einer kulturellen Wissensordnung, die man durch die Beschreibung des Rituals nachträglich auf Begriffe bringen kann. Für die Beteiligten war sie jedoch keine begrifflich-diskursive, sondern eine praktische Wissensordnung: Sie bestand in kulturellem Handlungswissen, das ohne begriffliche Reflexion auskam. Für das Blochziehen brauchte es noch nicht einmal sprachliches Handeln; es hatte und vermittelte seine Bedeutung auch ohne jede Rede. Anders verhält es sich beim Geschehen in einer Schwankerzählung mit dem Titel ›Die hausmaid im pflug‹, die Hans Sachs im Jahr 1532 verfasste. Die Begebenheit, die er an einem Aschermittwoch bei einem Besuch in Regensburg beobachtet haben will, nennt er im Text faßnacht-spiel: Praktische Wissensordnungen Hans Sachs: ›Die hausmaid im pflug‹ Sechs Hausmägde zogen einen Pflug über einen städtischen Platz. Vor und neben dem Pflug ging jeweils ein junger Mann mit einer Peitsche, ein dritter hielt den Pflug hinten. Weitere junge Männer führten weitere Mägde aus den umliegenden Straßen <?page no="281"?> 273 herbei. Einer von ihnen erklärte dem Erzähler Hans Sachs schließlich, dass es sich dabei um die zu Fastnacht unverheiratet gebliebenen Dienstmädchen handle. Der junge Mann vor dem Pflug hielt die bereits angeschirrten sechs Mägde mit dem Argument zum Ziehen an, dass sie das ganze Jahr über die jungen Männer, die um sie warben, zum Narren gehalten hätten; deshalb müssten sie jetzt für eine kurze Zeit selbst die Narren sein. Im nächsten Jahr werde ihnen die Schande erspart bleiben, wenn sie bis dahin verheiratet wären. Darauf rechtfertigten sich die sechs Mädchen für ihre Ehelosigkeit: Die Erste durfte ihren Liebsten nicht heiraten, weil sie der Mutter zu jung schien; sie selbst hat keine Schuld. Die Zweite wurde von ihrem Verehrer nach der sexuellen Eroberung sitzen gelassen und findet nun keinen Nachfolger; eigentlich gehörte der Verführer in den Pflug gespannt. Die Dritte ist erst vor kurzem in die Stadt gezogen und bereut nun, auf dem Dorf nicht ihren treuen Verehrer Jansel geheiratet zu haben. Die Vierte musste schon im vorhergehenden Jahr den Pflug ziehen, weil sie weder schön noch wohlhabend ist und die jungen Männer sie nur veralbern. Die Fünfte musste erkennen, dass ihr Verehrer sie nur verführen wollte, und hält den Pflug nun für das kleinere Übel. Die Sechste hat schon etliche Bewerber abgewiesen und auch heuer wieder so viele unglückliche Ehen beobachtet, dass sie lieber ledig bleiben und den Pflug ziehen will. Eine Siebte, die zwei junge Männer gerade von der Straße herbei bringen und an den Pflug spannen wollen, schreit laut, ihre Hochzeit sei schon für den kommenden Sonntag angesetzt. Zum Schluss rät der Erzähler allen Mädchen, vor der Ehe auf ihren guten Ruf zu achten und nur nach reiflicher Überlegung zu heiraten. DA S FA S TNAC H T S PI E L VOM E G G E NZI E H E N So wie Hans Sachs den Vorgang erzählt, handelt es sich dabei weder um das dörfliche Ritual noch um ein Einkehrspiel: Junge Männer sammeln in den Regensburger Gassen unverheiratete Dienstmädchen ein und spannen sie an den vorbereiteten Pflug. Als städtische Fastnachtspraktik ist das Pflugziehen schon vor Hans Sachs belegt: In der böhmischen Stadt Eger wurde es alljährlich am Aschermittwoch von den Tuchmacherlehrlingen durchgeführt und wie andere Fastnachtsveranstaltungen vom Stadtrat finanziert. Eine Leipziger Chronik berichtet, dass sich eine junge Frau im Jahr 1499 mit einem Brotmesser gegen einen jungen Mann zur Wehr setzte, der sie an den Pflug spannen wollte, und ihn dabei tötete. Weil der Pflug eine weit verbreitete, literarisch gut belegte Metapher für das männliche Geschlechtsorgan war, konzentriert er die Bedeutung des Vorgangs stärker auf die Funktion der Ehe, durch ordnungsgemäßen Geschlechtsverkehr für ordnungsgemäße Fortpflanzung zu sorgen: Die heiratsunwilligen Mägde haben sich der als natürlich eingeschätzten sozialen Ordnung ver- Pflugziehen als städtische Fastnachtspraktik <?page no="282"?> 274 P RAK TIK E N UND P RAX E O L O GI E weigert und müssen deshalb das Zeichen männlicher Fortpflanzungsfähigkeit durch die Stadtgassen ziehen, die so unfruchtbar sind wie ihre eigenen ›Äcker‹ - das traditionelle metaphorische Pendant zum Pflug. So führt die verkehrte Welt der städtischen Fastnacht die widernatürlichen Folgen nicht ordnungsgemäßen Handelns vor Augen. Das von Hans Sachs erzählte Geschehen setzt die praktische Wissensordnung des dörflichen Rituals bei den Regensburger Akteuren und Zuschauern ebenso wie bei den Rezipienten der Erzählung als bekannt voraus. Ablauf und Bedeutung des Rituals sind jedoch nicht allein in Gestalt des Pflugziehens durch die Stadtgassen verändert, sondern auch in Gestalt der Verteidigungsreden der Mädchen: Die jungen Frauen reflektieren die Beschuldigung im sprachlichen Handeln begrifflich, indem sie Gründe für die Ehelosigkeit identifizieren und dabei ihre Unschuld begründen. Der Bericht von Hans Sachs ist hier nur plausibel, wenn man unterstellt, dass unverheiratete Frauen in Regensburg wussten, was sie am Aschermittwoch am Pflug sagen mussten, oder dass die an den Pflug gespannten Mägde keine Zufallsgriffe waren und einstudierte Reden hielten. Im Nürnberger Einkehrspiel vom Eggenziehen, das Hans Sachs möglicherweise kannte - und in dem auffälligerweise ebenfalls sieben Frauen sieben Verteidigungsreden halten - gibt es kein solches Plausibilitätsproblem, weil die Frauenrollen und die Reden ein offensichtlicher Bestandteil der Inszenierung sind. Das Einkehrspiel ›die egen‹ setzt die Kenntnis des Rituals und seiner Bedeutung ebenfalls voraus. Die Bezeichnungen für die Abb. 16 Holzschnitt von 1532 zu Hans Sachs: ›Die hausmaid im pflug‹. Ritual und begrifflichdiskursive Reflexion Pflugziehen als Einkehrspiel <?page no="283"?> 275 Geschlechtsorgane in den Reden der Mädchen übersetzen die metaphorische Bedeutung des Ackerpflügens ins ›Eigentliche‹ zurück und sorgen dadurch für ein höheres Maß an Ausdrücklichkeit als die Erzählung von Hans Sachs. Der Unterschied sowohl zum dörflichen Ritual als auch zur städtischen Fastnachtspraktik auf der Gasse besteht zum einen darin, dass erkennbar Schauspieler an den Pflug gespannt werden. Zum andern wird hier gar nichts mehr gezogen: Die Frauen sind zwar an den Pflug gebundenen, halten aber nur Verteidigungsreden. Das kann eine Konsequenz der Aufführung in Wirts- und Privathäusern sein, wo die symbolische Bedeutung der Stadtgassen nicht unmittelbar verfügbar war. Im Ergebnis ist die rituelle Konfliktbewältigung jedenfalls vollständig durch die sprachliche Identifikation der Konfliktursachen ersetzt. Bei ihnen handelt es sich um Ehehindernisse wie mangelnde körperliche Schönheit, uneheliche Geburt und Verdächtigungen wegen Promiskuität oder Frigidität, die als Bestandteile sowohl des praktischen Wissens als auch seiner begrifflich-diskursiven Reflexion im 15. und 16. Jahrhundert vielfach belegt sind. Konsequenter als in der Erzählung von Hans Sachs weisen die Frauen die Schuld an ihrer Eheunwilligkeit und damit die ursprünglichere Verantwortung für die Abweichung von der sozialen Ordnung dem Handeln von Männern zu. Nun waren es freilich Männer, die in den Nürnberger Einkehrspielen die Frauenrollen spielten. Erst indem Männer die weiblichen Schuldzuweisungen an die Männer simulieren, erhält das Spiel in der Aufführung sein Bedeutungsangebot für die Zuschauer: Anhand der als Frauen verkleideten Männer stellt es die Naturgegebenheit des Geschlechtsunterschieds aus und weist der weiblichen Natur die Neigung zu, den Männern die Schuld zu geben. Außer auf den obszönen Ausdrücken beruht darauf der Komikeffekt. Zusammen mit den Schuldzuweisungen an das männliche Handeln in den Reden der Frauen entsteht ein Spielraum zur Reflexion über die geschlechtsspezifischen Ursachen nicht ordnungsgemäßen Handelns: Die Frauen haben immer Ausreden parat, für die die Männer ihnen aber möglicherweise tatsächlich die Gründe liefern. Bewerkstelligt wird dies durch die Kombination der mittels Verkehrung als natürlich ausgewiesenen Geschlechterrollen und der begrifflich-diskursiven Reflexion in den Figurenreden, die die Ritualhandlung ersetzen. Begrifflichdiskursive Reflexion von Konfliktursachen Geschlechterrollen in der Aufführung DA S FA S TNAC H T S PI E L VOM E G G E NZI E H E N <?page no="284"?> 276 P RAK TIK E N UND P RAX E O L O GI E Als rituelle Handlung war das Blochziehen eine bedeutungstragende kulturelle Praktik, die kulturelles Handlungswissen aktualisierte, ohne es zum Gegenstand der Reflexion zu machen. Fastnachtspiele waren als Bestandteile der städtischen Fastnacht ebenfalls eine kulturelle Praktik, deren Bedeutung von derjenigen der Fastnacht abhing. Das Fastnachtspiel vom Eggenziehen setzt die Kenntnis des Rituals und seiner Bedeutung voraus; es macht kulturelles Handlungswissen jedoch zum Erkenntnis- und Reflexionsgegenstand, indem es Handlungsgründe diskursiv identifiziert. Kulturelle Praktiken und ihre Verankerung im kulturellen Handlungswissen sind der Gegenstand kulturwissenschaftlicher Praxistheorien. Deren Grundgedanken sollen hier nur soweit erläutert werden, wie es für das im Anschluss daran skizzierte literaturwissenschaftliche Interesse an der Aktualisierung kulturellen Handlungswissens in Texten und seiner Analyse nötig ist. Kulturelle Praktiken und Handlungswissen Kultur als Praxis zu untersuchen, ist ein in den modernen Kulturwissenschaften weit verbreitetes Programm. Es zielt nicht so sehr darauf, bei der Analyse kultureller Phänomene auch den praktischen Umgang mit ihnen im Blick zu behalten, sondern sie ganz als Handeln zu verstehen. Diese Einschätzung greift mehrere wissenschaftliche Traditionen auf, zu denen insbesondere der philosophische Pragmatismus, die linguistische Pragmatik und die praxeologische Soziologie gehören. Für den im frühen 20. Jahrhundert aufgekommenen philosophischen Pragmatismus (u. a. Charles Sanders Peirce) ist das menschliche Erkenntnisvermögen keine Voraussetzung, sondern ein Instrument des Handelns: Für wahr halten wir, was sich im Handeln bewährt, weil unsere kognitiven Fähigkeiten Handlungsinstrumente sind. Unser gesamtes Verhältnis zur Wirklichkeit besteht unter dieser Voraussetzung im Handeln; Wahrnehmung, Begriffsbildung und Schlussfolgern gehören zu seinen Bestandteilen. Die linguistische Pragmatik hat einerseits Wurzeln im philosophischen Pragmatismus (John Langshaw Austin); andererseits entwickelte sie sich seit den 1970er Jahren als Reaktion auf eine strukturalistische Sprachwissenschaft, Kulturelle Praktiken und kulturelles Handlungswissen 4. Kultur als Praxis Philosophischer Pragmatismus und linguistische Pragmatik <?page no="285"?> 277 die Sprache primär als System und Sprachgebrauch als sekundäre Aktualisierung dieses Systems verstand. Im pragmatischen Modell ist dagegen der Sprachgebrauch das Primäre: Was uns als System erscheint, sind diejenigen Regularitäten, die durch sprachliches Handeln verstetigt, aber auch permanenter Veränderung unterzogen werden. So wie der philosophische Pragmatismus unsere Vorstellungen von der Wirklichkeit als Produkt des Handelns versteht, versteht die linguistische Pragmatik Phonologie, Morphologie, Syntax und sprachliche Semantik als Produkt des sprachlichen Handelns. Im Gebrauch lernen und internalisieren wir Regularitäten sprachlichen Handelns so, dass wir sie ziemlich automatisch befolgen, ohne es überhaupt zu bemerken. Wenn wir sie nicht befolgen, riskieren wir den Misserfolg unseres sprachlichen Handelns, beispielsweise weil wir nicht verstanden werden. In einer ähnlichen Weise können wir aus den Wirklichkeitskonstruktionen unserer Kultur nicht problemlos aussteigen: Wir haben sie in der sozialen Praxis gelernt und halten sie nicht für Konstruktionen, sondern für die Wirklichkeit selbst. Wenn wir mit anderen Konstruktionen operieren, riskieren wir Misserfolge in der sozialen Interaktion. In beiden Modellen spielt deshalb das Soziale des Handelns eine entscheidende Rolle. Soziales Handeln ist der Gegenstand der praxeologischen Soziologie, deren Ursprünge in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts liegen (Max Weber). Im Unterschied zu anderen soziologischen Handlungstheorien zielt das praxeologische Modell darauf, soziales Handeln in erster Linie als Aktualisierung kulturellen Handlungswissens zu erklären und erst in Abhängigkeit davon als Folge sozialer Institutionen, Strukturen und Normen. Für Praxeologen sind Institutionen, Strukturen und Normen nichts anderes als das in der sozialen Praxis auf Dauer Gestellte, das in der Praxis zugleich permanenter Veränderung ausgesetzt ist. Das Primäre sind deshalb die Praktiken: Nur sie können erklären, weshalb sich Institutionen, Strukturen und Normen verändern, so wie nur die sprachlichen Praktiken erklären können, wie sich die Sprachen verändern. Soziale Praktiken mit Institutionen, Strukturen und Normen zu erklären, wäre dann ein zirkuläres Verfahren. Es muss ein kulturelles Handlungswissen geben, das wir - so wie das sprachliche Wissen - in der Praxis selbst lernen. Wir verfügen darüber, ohne uns seiner bewusst zu sein. Als implizites, das heißt Praxeologische Soziologie Kulturelles Handlungswissen Implizites Wissen KU LT U R E L L E P RAK TIK E N UND HANDL UNG S WI S S E N <?page no="286"?> 278 P RAK TIK E N UND P RAX E O L O GI E nur im praktischen Können bestehendes Wissen unterscheidet es sich vom expliziten, begrifflich-diskursiven Wissen. Für die wissenschaftliche Rekonstruktion des kulturellen Handlungswissens gibt es in der praxeologischen Soziologie verschiedene theoretische Modelle, unter denen das Habitus-Konzept des französischen Soziologen Pierre Bourdieu besonders großen Einfluss gewann. Der Begriff Habitus stammt ursprünglich aus der aristotelischen Moralphilosophie, wo er die durch Einübung zur Gewohnheit gewordene Disposition zu tugendhaftem oder lasterhaftem Handeln bezeichnete (griech. hexis, lat. habitus): Unter einer Tugend - wie beispielsweise Gerechtigkeit - verstand Aristoteles die Disposition zu konkreten einzelnen Handlungen, wobei die einzelnen Handlungen die Disposition ihrerseits einüben und verfestigen. Diese Bedeutung behielt der Habitus-Begriff in der Rezeption der aristotelischen Moralphilosophie in Mittelalter und früher Neuzeit. Bourdieu hat den Begriff davon abgelöst: Ein Habitus ist bei ihm keine moralische Disposition, sondern ein kulturelles »Denk-, Handlungs- und Wahrnehmungsschema« (›Sozialer Sinn‹ S. 101), das als praktisches Wissen soziales Handeln ermöglicht. Der Habitus umfasst außer dem Handlungsmuster selbst auch Wahrnehmungs- und Denkmuster, weil Handeln situationsbezogen ist und praktisches Wissen deshalb zur Situationsdeutung befähigen muss. Die Habitus-Muster sind ein für die Mitglieder der jeweiligen sozialen Gruppe implizites Wissen, das sie nur schwer auf Begriffe bringen oder erklären können. Sobald das praktische Wissen begrifflich expliziert - etwa zum Gegenstand von Traktaten gemacht - wird, hört es auf, praktisches Wissen zu sein: Begrifflich-diskursives Wissen kann prinzipiell nicht mit praktischem Wissen identisch sein, sondern es nur nachträglich beschreiben. Der Unterschied zwischen dem traditionellen moralphilosophischen und Bourdieus Habitus-Begriff besteht nicht zuletzt darin, dass Bourdieu den impliziten und vorreflexiven Charakter des praktischen Wissens so stark betont hat, dass es geradezu als Gegensatz zum diskursiv-begrifflichen Wissen erscheint. Diese scharfe Kontrastierung von praktischem und diskursivem Wissen steht in einem engen Zusammenhang mit der Entstehung seines Habitus-Konzepts als Instrument zur Untersuchung der teilweise schriftlosen kabylischen Kultur in Algerien in den 1950er und 1960er Jahren: Habituell war für Bourdieu das Wissen der Pierre Bourdieus Habitus-Begriff <?page no="287"?> 279 traditionalen kabylischen Gesellschaft, diskursiv das der modernen - kolonialistischen - französischen. Später hat Bourdieu den Kontrast jedoch auf die modernen europäischen Gesellschaften selbst angewandt und das praktische Wissen unserer eigenen Kultur vom diskursiven unterschieden. Die Herkunft des Modells aus der Erforschung einer traditionalen Kultur könnte jedoch ein Grund dafür sein, dass es sich recht gut auf die europäische Vormoderne anwenden lässt. Trotz der Ablösung des Begriffs von seiner moralphilosophischen Bedeutung sind Habitus-Muster auch bei Bourdieu durch Einübung zur Gewohnheit gewordene Handlungsdispositionen. Sie sind weniger als soziale Einschränkungen für das Handeln der Einzelnen gedacht, sondern eher als das soziales Handeln überhaupt erst ermöglichendes Wissen. Dieses praktische Wissen ist die Ursache dafür, dass die Einzelnen in konkreten Handlungssituationen Ziele verfolgen und Mittel verwenden, die sie als ihre eigenen Handlungsintentionen und Handlungsmöglichkeiten erleben. Der Habitus ist kein Wissen über soziale Normen und ihre Anwendung, sondern ein Wissen davon, welche Handlungen in einer Situation erforderlich, möglich, angemessen, akzeptabel, erfolgversprechend sind. Er disponiert damit auch zur Befolgung oder Missachtung sozialer Normen in konkreten Situationen. Ebenso wenig wie mit einem Konzept sozialer Handlungsnormen fällt der Habitus-Begriff mit einem abstrakten Zweckrationalitätskonzept zusammen: Der Habitus bestimmt vielmehr erst, was die Einzelnen in konkreten Situation für nützlich halten. Als kulturelles Praxiswissen ist der Habitus zugleich die Ursache dafür, dass die Mitglieder einer sozialen Gruppe ihr eigenes Handeln und das von anderen als mehr oder weniger sinnvoll erleben: Wir weisen dem Handeln einen Sinn zu, indem wir situationsangemessene Ziele und zielführende Mittel erkennen. Weil das Praxiswissen dem Handeln der Einzelnen einen subjektiv erfahrenen Sinn gibt, ist es eine kulturelle Bedeutungsordnung. Aus diesem Grund hat Bourdieu anstelle des Begriffs Habitus auch den doppeldeutigen des ›praktischen Sinns‹ (sens pratique) benutzt: Der Habitus ist zugleich der Sinn für das soziale Handeln und der Sinn des sozialen Handelns. Der praxeologische Begriffsapparat ermöglicht es, unser Fastnachts-Beispiel nochmals etwas systematischer zu beschreiben. Rituale wie das Blochziehen sind besonders stark verfestigte Praktischer Sinn Praxeologische Analyse KU LT U R E L L E P RAK TIK E N UND HANDL UNG S WI S S E N <?page no="288"?> 280 P RAK TIK E N UND P RAX E O L O GI E Habitus-Muster und deshalb ein Sonderfall kultureller Praktiken. Zum einen legen sie alle Handlungsmittel und Handlungsschritte strikt fest, ohne den Akteuren Alternativen einzuräumen. Zum anderen stellen sie die Handlungssituation überhaupt erst her: Das Blochziehen reagiert zwar auf vorausliegendes Handeln, nämlich dass heiratsfähige Frauen nicht geheiratet haben. Die Situation, die am Anfang des rituellen Handelns steht, ist jedoch ein Bestandteil des Rituals selbst: Die Dorfgemeinschaft schickt die jungen Männer in den Wald, um einen Holzstamm zu holen. Auf beiden Besonderheiten beruht der Charakter des Rituals als einer in sich abgeschlossenen kulturellen Praktik mit einer festgelegten und klaren Bedeutung: Es gibt weder verschiedene Möglichkeiten bei der Deutung der Handlungssituation noch verschiedene Handlungsmöglichkeiten, die einen jeweils spezifischen Sinn haben könnten. Dass es keine Handlungs- und Deutungsspielräume gibt, begründet jedoch gerade die kulturelle Leistungsfähigkeit von Ritualen als Mittel der Austragung und Regulierung von Konflikten, weil sich alle Akteure strikt an ein strenges Schema halten. Je weniger Reflexion dabei ins Spiel gebracht wird, umso zuverlässiger funktioniert das Ritual. Wenn junge Männer zur Fastnacht in Eger oder Leipzig unverheiratete Frauen an den Pflug spannten und die Frauen den Pflug dann durch die Stadtgasse zogen, handelte es sich ebenfalls um ein Ritual, solange die Frauen mitspielten. Die Situierung in der städtischen Fastnacht, der Sinn des Pflugs und der Stadtgassen als Gegenstand des Pflügens veränderten lediglich die Bedeutung des Rituals ein wenig. Die Leipziger Chronik berichtet vom Scheitern des Rituals. Die junge Frau mit dem Brotmesser deutete die Handlungssituation, in die der junge Mann sie brachte, nicht gemäß der praktischen Wissensordnung des Rituals als Voraussetzung für die Konfliktregulierung, sondern als gewaltsame Zwangsausübung. Indem sie sich gegen diesen Zwang gewaltsam zur Wehr setzte, aktualisierte sie ein anderes praktisches Wissen als das vom Ritual vorgesehene: Gewaltsames Handeln erfordert Gegengewalt. Ihre drastische Aktion bietet deshalb ein gutes Beispiel dafür, dass eine im rituellen Handlungsablauf nicht vorgesehene Handlungsweise den Sinn des Rituals abändert: Indem sich die Leipzigerin gewaltsam zur Wehr setzte, nahm sie dem Ritual die Bedeutung der Konfliktregulierung und gab ihm die der gewaltsamen Zwangsausübung. Habitus und Ritual Eigenschaften von Ritualen Eigenschaften nichtritueller Praktiken <?page no="289"?> 281 Zugleich zeigt der Vorgang den Unterschied zwischen rituellem und nicht-rituellem Handeln. Das Ritual gab die Situation und die Handlungsweise samt ihrer Bedeutung vor; die Leipzigerin jedoch kannte ein anderes Deutungsmuster, das sie auf die Handlungssituation applizierte, und ein von diesem Deutungsmuster abhängiges anderes Handlungsmuster. In diesem Zusammenspiel von Deutungsmusterwissen und Handlungsmusterwissen besteht das praktische Wissen. Die Spielräume unseres nicht-rituellen sozialen Handelns sind ein Produkt der Anzahl unterschiedlicher Deutungs- und Handlungsmuster, die wir kennen. Hans Sachs evoziert in seiner Erzählung von der Regensburger Fastnachtspraktik nicht den Eindruck, dass die Verteidigungsreden der Dienstmädchen überraschend gewesen und vom erwarteten Geschehen abgewichen wären. Demnach handelte es sich um ein Ritual mit einem festgelegten Ablauf, zu dem die vorher einzeln verabredeten oder von unverheirateten Regensburger Dienstmädchen generell erwartbaren Verteidigungsreden gehörten. Sie waren als sprachliches Handeln ein Bestandteil des Rituals und lösten im Handlungsverlauf das körperliche Pflugziehen als Mittel der Konfliktregulierung ab. Was die Mädchen im Ritual sagten, aktualisierte jedoch ein anderes praktisches Wissen als das Bloch- oder Pflugziehen: Konfliktregulierung besteht in der Klärung der Ursachen des Konflikts und der Berechtigung der Schuldzuweisung. Damit wird begrifflich-diskursives Handeln zum Bestandteil des Rituals. Als Gegenstand der Erzählung von Hans Sachs ist das Regensburger Fastnachtsritual freilich ein Gegenstand narrativer Handlungsdarstellung. Das literaturwissenschaftliche Erkenntnisinteresse muss deshalb dem kulturellen Praxiswissen gelten, auf dem die Bedeutung des in der Erzählung dargestellten Handelns beruht und das Hans Sachs bei seinen Rezipienten voraussetzte. Um den Sinn des erzählten Geschehens zu verstehen, mussten sie sowohl das kulturelle Handlungsmuster des Pflugziehens als auch das kulturelle Handlungsmuster der begrifflich-diskursiven Klärung von Konfliktursachen und Schuldzuweisungen kennen. Nicht nur die Darstellung von Ritualen, sondern die jeden Handelns bezieht ihre Bedeutung aus dem vorausgesetzten kulturellen Handlungswissen: Handlungsdarstellung hat für Textrezipienten insofern einen Sinn, als ihr Muster kulturellen Praxiswissens zugrunde liegen. Um die Bedeutung dargestellten Rituelles sprachliches Handeln Kulturelles Praxiswissen und Handlungsdarstellung Historische Praxeologie KU LT U R E L L E P RAK TIK E N UND HANDL UNG S WI S S E N <?page no="290"?> 282 P RAK TIK E N UND P RAX E O L O GI E Handelns in älteren Texten rekonstruieren zu können, bedarf es deshalb einer Rekonstruktion des in der Handlungsdarstellung aktualisierten Handlungswissens - einer historischen Praxeologie als Pendant zur historischen Diskursanalyse. Zwischen einer solchen historischen Praxeologie und der gegenwartsbezogenen soziologischen Praxeologie bestehen allerdings erhebliche methodische Unterschiede: Bourdieu hat in Algerien systematisch Daten durch Feldforschung erhoben, indem er das Handeln von Akteuren beobachtete und sie zu ihrem Handeln befragte. Historische Praxeologie kann demgegenüber weder systematisch Daten erheben noch Handeln unmittelbar beobachten oder gar Akteure befragen. Ihr Material ist das in den erhaltenen Schrifttexten dargestellte Handeln, das sie mit den in Kapitel 9 (vgl. S. 210-212) genannten handlungstheoretischen Kategorien analysieren kann. Gegenstand der praxeologischen Analyse sind deshalb zunächst die Bestandteile dargestellter Handlungssituationen, die dargestellten Eigenschaften von Akteuren, ihre dargestellten Situationsdeutungen, Handlungsziele und Handlungsmittel sowie die dargestellten Folgen ihres Handelns. Im Anschluss daran rekonstruiert die praxeologische Analyse in Texten wiederkehrende Handlungskonstellationen, so wie die Diskursanalyse in Texten wiederkehrende Konstellationen von Begriffsbeziehungen rekonstruiert. Auf diese Weise versucht die praxeologische Analyse, die Ordnungen des kulturellen Praxiswissens aufzudecken, so wie die Diskursanalyse die Ordnung des kulturellen diskursiven Wissens aufzudecken versucht. In erster Linie besteht die praxeologische Rekonstruktion folglich in der Beantwortung der Frage, welches kulturelle Handlungswissen unterstellt werden muss, damit dargestelltes Handeln für die historischen Rezipienten plausibel und sinnvoll sein konnte. Die Erzählung von Hans Sachs ist zwar eine Darstellung eines städtischen Fastnachtsrituals; als Erzählung ist sie selbst jedoch kein rituelles Handeln. Das Fastnachtspiel vom Eggenziehen hat dagegen als Einkehrspiel rituelle Bestandteile in Gestalt der festgelegten Aufführungspraktiken. Es vollzieht jedoch kein Ritual, weil die Handlung von Schauspielern gespielt wird. Um die Bedeutung dieser Handlung verstehen können, mussten die Zuschauer diejenigen kulturellen Praktiken kennen, auf die die gespielte Handlung Bezug nimmt. Die praxeologische Analyse rekonstruiert diese Praktiken und ihre historischen Bedeutungen anhand <?page no="291"?> 283 derjenigen erhaltenen Texte, die Information über sie zur Verfügung stellen. Mit der Untersuchung der Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen diesen Texten versucht sie, das kulturelle Praxiswissen erkennbar zu machen, das der Handlungsdarstellung im Fastnachtspiel vom Eggenziehen zugrunde lag. Praktisches Wissen und moralisches Wissen Bourdieus Habitus-Begriff bietet für die literaturwissenschaftliche Analyse älterer handlungsdarstellender Texte nicht zuletzt deshalb ein Erkenntnisinstrument, weil der Unterschied zwischen der Erfolgsträchtigkeit eines amoralischen praktischen Sinns und der Misserfolgsträchtigkeit tugendhaften Handelns in der Zeit vom 12. bis zum 16. Jahrhundert oft zum Gegenstand narrativer Exemplifikation gemacht wurde. Handlungsdarstellende Texte dieser Art spielen ein in Kapitel 9 (vgl. S. 210) bereits erwähntes praktisches Schlauheitswissen gegen das philosophisch-theologische Diskurswissen aus. Ein Beispiel dafür ist die Geschichte vom Mönch als Liebesboten, von der verschiedene italienische (darunter auch Boccaccio: ›Dekameron‹ III,3), französische und deutschsprachige Bearbeitungen erhalten sind. Im deutschsprachigen Märe (vgl. S. 120) ›Der Mönch als Liebesbote A‹, das in einer Handschrift aus der Mitte des 15. Jahrhunderts überliefert ist, geht die Handlung folgendermaßen: 5. ›Der Mönch als Liebesbote‹ P RAK TI S C H E S WI S S E N UND MO RALI S C H E S WI S S E N Ein reicher Römer erfüllt seiner Ehefrau alle Wünsche und hält sie für tugendhaft. Das sexuelle Begehren der Ehefrau richtet sich jedoch auf einen jungen Adeligen, den sie auf der Straße vor ihrem Haus bemerkt. An einem Tag, an dem der Ehemann abwesend ist, sucht die Ehefrau einen Franziskanermönch auf und legt eine erfundene Beichte ab: Ein junger Mann gefährde ihr gutes Ansehen, indem er auf der Straße vor ihrem Haus herumlungere und ihr zum Zeichen seiner Liebe einen Ring habe schicken lassen. Der Mönch möge dem jungen Mann ausrichten, dass er seine Liebeswerbung einstellen soll. Zum Beweis zeigt die Ehefrau dem Mönch einen Ring. Der ausdrücklich als tugendhaft und einfältig bezeichnete Mönch nimmt den Ring an sich, geht umgehend zu dem jungen Adeligen und stellt ihn zur Rede. Dieser erklärt zunächst wahrheitsgemäß, der Frau keinen Ring geschickt zu haben. Als der Mönch ihm den Ring zeigt, denkt der junge Adelige jedoch nach und erkennt die Absicht der Ehefrau, ihm heimlich ihr Begehren zu signalisieren. Er belügt den Mönch mit einem erfundenen Geständnis; die Frau habe ihm ihrerseits allerdings ebenfalls einen Ring <?page no="292"?> 284 P RAK TIK E N UND P RAX E O L O GI E geschickt. Dass die Frau den ihr geschenkten Ring nun durch den Mönch zurückgegeben lasse, zeige ihm jedoch, dass sie offenbar gar nicht auf ein Liebesverhältnis aus sei. Zum Beweis zeigt er dem Mönch den angeblich von der Ehefrau geschickten Ring. Der Mönch lobt ihn für seine Einsicht, nimmt den zweiten Ring an sich und stellt damit die Ehefrau zur Rede. Diese erklärt ihm, sie habe sich anstandshalber zu einem Gegengeschenk für den Ring des jungen Mannes veranlasst gesehen. Dieser sei in Wahrheit noch viel aufdringlicher gewesen: Er habe ihr den Ring in einem Beutel zusammen mit einem kostbaren Gürtel und einem Liebesbrief durchs Fenster zugeworfen. In dem Brief habe er ihr angekündigt, sich nachts durch ein verfaultes Brett in der rückseitigen Hauswand in ihr Schlafzimmer schleichen zu wollen. Sie habe den Brief im Zorn verbrannt, könne nun aber nachts vor Angst nicht mehr schlafen. Zum Beweis gibt sie dem Mönch einen Beutel und einen Gürtel, mit denen dieser den jungen Mann ein weiteres Mal zur Rede stellt und ihn dabei wegen des angeblichen Briefinhalts tadelt. Der junge Mann erkennt die Absicht der Ehefrau, ihm den Weg in ihr Schlafzimmer zu erklären, legt ein erfundenes Geständnis ab und verspricht nochmals, seine ehebrecherische Absicht aufzugeben. In derselben Nacht steigt er ins Haus der Frau, die schon auf ihn wartet. Das praktische Wissen der Ehefrau besteht im Kalkül auf die Situationsdeutungen und die daran anschließenden Handlungsweisen ihrer beiden Co-Akteure, das seinerseits auf ihrer Einschätzung der Eigenschaften der Co-Akteure beruht: Ein tugendhafter und einfältiger Mönch wird die Beichte einer angesehenen Ehefrau moralisch deuten und deshalb auch der Behauptung ehebrecherischer Absichten eines jungen Adeligen Glauben schenken. Aufgrund dieser Situationsdeutung wird ein tugendhafter und einfältiger Mönch moralisch handeln und den Ehebruch zu unterbinden versuchen. Ein junger Adeliger wird die für ihn völlig überraschende Situation, dass ihn eine angesehene und ihm unbekannte Ehefrau zur Einstellung einer gar nicht stattgefundenen Liebeswerbung auffordern lässt, als Mitteilung ihres eigenen Begehrens deuten. Dies ist das unwahrscheinlichste unter den Kalkülen der Ehefrau, und die Erzählung legt die relative Unwahrscheinlichkeit auch offen, indem sie das Kalkül nicht gleich aufgehen lässt: Der junge Mann ist zunächst irritiert und muss erst nachdenken, gelangt dadurch aber doch zu der von der Ehefrau kalkulierten Situationsdeutung. Zusammen mit der Ehefrau unterstellt die Erzählung, dass junge adelige Männer ein Habitus-Muster haben, das sie mit ehebrecherischen Absichten als tugendhaft angesehener Ehe- Situationsdeutungs- und Handlungsmusterwissen <?page no="293"?> 285 frauen rechnen lässt, das ihnen die Erkenntnis solcher Absichten ermöglicht und das sie dazu veranlasst, auf diese Erkenntnis mit ehebrecherischem Handeln zu reagieren. Nur die Unterstellung eines solchen Musters macht das dargestellte Handeln plausibel und sinnhaft. Zur richtigen Situationsdeutung des jungen Mannes gehört, dass er dabei zugleich die Bedeutung des von der Ehefrau benutzten Handlungsmittels erkennt, nämlich das kalkulierbare moralische Handeln des Mönchs. An dieser Stelle ist es die Erzählung selbst, die das Handeln der Ehefrau als Handlungsmuster erscheinen lässt: Der junge Mann macht nach, was er erkannt hat, und instrumentalisiert den Mönch in derselben Weise wie die Ehefrau zuvor. Der praktische Sinn erweist sich als Produkt der Praxis: Man lernt ihn am Modell beim Handeln. Alle weiteren Handlungszüge wiederholen das Verfahren von den Akteuren kalkulierter Situationsdeutungen und Handlungsweisen der Co-Akteure. Die materiellen Gegenstände - Ringe, Beutel und Gürtel - sind stets ein Bestandteil des Kalküls auf die Situationsdeutungen: Sie zeigen dem Mönch jeweils etwas anderes als dem jungen Mann und der Ehefrau. Erzählungen dieser Art stellen den praktischen Sinn als Virtuosität eines amoralisch-instrumentellen Handelns dar, die bei allem kre- Abb. 17 Holzschnitt von 1492 zu Giovanni Boccaccio: ›Dekameron‹ Schlauheit und Tugendhaftigkeit P RAK TI S C H E S WI S S E N UND MO RALI S C H E S WI S S E N <?page no="294"?> 286 P RAK TIK E N UND P RAX E O L O GI E ativen Geschick stets mit berechenbaren Regularitäten operiert. Das kreative Geschick besteht nicht zuletzt im schnellen und treffsicheren Ausnutzen von Situationen, die sich den Akteuren eröffnen - hier der Abwesenheit des Ehemanns an dem Tag, an dem die Ehefrau die Möglichkeit zum Ehebruch arrangiert, und in der darauffolgenden Nacht, in der der Ehebruch stattfindet, sowie des ersten Mönchsbesuchs durch den jungen Adeligen. Die Regularitäten bestehen in einem kalkulierbaren Situationsdeutungs- und Handlungsmusterwissen, das eng mit dem Wissen über standes-, alters- und geschlechtstypische Eigenschaften von Akteuren verbunden ist: die scheinbar tugendhafte, aber zur Erfüllung sexuellen Begehrens geneigte Ehefrau; der für die Wahrnehmung und Ausnutzung sexueller Angebote offene junge Adelige; der tugendhafte, aber mangels eigener einschlägiger Praxis einfältige Mönch. Auch dessen Tugendhaftigkeit stellt die Erzählung als einen Habitus dar, aber für das praktische Wissen ist es der Habitus der Einfalt: Tugendhaftigkeit erscheint als eine bloße Illusion, die den Tugendhaften zum einfältigen Instrument der Schlauen macht, weil sie ihm den Blick für diejenigen Regularitäten der Praxis verstellt, die die Schlauen kennen. Das eigene Handeln auf moralisches Wissen zu gründen, erweist sich als dümmste aller Optionen, weil das moralische Wissen nicht aus der Praxis selbst stammt und dem praktischen Wissen an Erfolgsträchtigkeit deshalb immer unterlegen sein muss. Erzählungen, die die Erfüllung sexuellen Begehrens zum Handlungserfolg des praktischen Sinns machen, treiben diese Differenz auf die Spitze, weil das sexuelle Begehren in allen zeitgenössischen moralphilosophischen und moraltheologischen Diskursen als Einschränkung der vernünftigen Handlungskontrolle und mit ihr der Handlungsmächtigkeit galt. Erzählungen, in denen das Begehren Handlungsvirtuosität hervorbringt, lassen das praktische Wissen deshalb stets über das diskursive triumphieren - und exemplifizieren dabei zugleich den Unterschied. <?page no="295"?> 287 Theologische und rhetorische Wirklichkeitskonstruktionen Kulturelle Wirklichkeitskonstruktionen und textuelle Bedeutungspraktiken In den Kapiteln 8 bis 11 ging es um Zusammenhänge zwischen dem Bedeutungsaufbau in Texten und kulturellem Wissen unter der Voraussetzung, dass sich Texte nicht auf eine Wirklichkeit ›an sich‹ beziehen, sondern auf kulturelle Wirklichkeitskonstruktionen. Was wir für die Wirklichkeit halten, hängt vom Wissen unserer kulturellen Gemeinschaft ab: Auf ihm beruhen die Bedeutungen allen sozialen Handelns und aller menschlichen Hervorbringungen genauso wie die Bedeutungen, die wir allem ›Natürlichen‹ im Sinn des nicht von Menschen Gemachten geben. Kulturelles Wissen dient deshalb der kulturellen Wirklichkeitskonstruktion und mit ihr der Gemeinschaftsbildung: Die Einzelnen lernen in der kulturellen Gemeinschaft, was die Wirklichkeit ist, und dass sie kulturelle Wirklichkeitskonstruktionen teilen, macht sie zu einer Gemeinschaft. Zugleich sind es in der kulturellen Praxis jedoch die Einzelnen, die das kulturelle Wissen mehr oder weniger überlegt gebrauchen und es dabei stabilisieren oder verändern. Aus diesem Grund kann man die kulturellen Praktiken als ein Umgehen mit Sinnhaftem einschätzen - als Bedeutungspraktiken, die einerseits auf Wirklichkeitskonstruktionen beruhen und andererseits auf sie zurückwirken. Texte sind dann eine Form solcher Bedeutungspraktiken. Außerdem ging in den Kapiteln 8 bis 11 um die Vielfalt des in älteren Texten greifbaren kulturellen Wissens. Diese Vielfalt steht der Vorstellung von einem ›mittelalterlichen Weltbild‹ - einer in sich einheitlichen und Jahrhunderte lang konstanten kulturellen Wirklichkeitskonstruktion - entgegen, die um 1800 in der Romantik aufkam. Die romantische Idee vom Mittelalter als einer jeden Einzelnen integrierenden christlichen Einheitskultur diente wie alle Geschichtsbilder in erster Linie Interessen, die sich ihrer Entstehungszeit verdankten: Um 1800 war sie vor allem ein Kon- Kapitel 12 1. Wissen und Wirklichkeitskonstruktion Bedeutungspraktiken Vielfalt und Geltungsanspruch <?page no="296"?> 288 WI R K LI C HK E IT S KON S T RUK TION E N trastmodell zu den als problematisch wahrgenommenen Folgen der modernen Pluralisierung. Die Pluralisierung des kulturellen Wissens brach jedoch nicht erst durch Humanismus, Reformation, Aufklärung und Naturwissenschaft über ein Abendland herein, in dem die römische Kirche vorher tausend Jahre lang alle mit derselben Wirklichkeitskonstruktion versorgt hatte. Auch plurale Kulturen weisen allerdings nicht sämtlichen ihrer Wissensordnungen denselben Geltungsanspruch zu. So brachten etwa die modernen Naturwissenschaften, insbesondere die Physik seit Isaac Newton und die Evolutionsbiologie seit Charles Darwin, ein Wissen hervor, gegen das andere Wirklichkeitskonstruktionen heute nur noch dort eine soziale Verbindlichkeit behaupten können, wo die Naturwissenschaften keine Zuständigkeit beanspruchen. Dass das theologische Wissen von der Zeit der spätantiken Kirchenväter bis ins 17. Jahrhundert einen ähnlichen Rang hatte, weil es nicht nur eine Lehre von Gott, sondern eine umfassende Wirklichkeitsdeutung lieferte, lässt sich schwer in Abrede stellen, auch wenn es über diese lange Zeit hinweg weder unverändert noch konkurrenzlos blieb. Die Grundlage der theologischen Wirklichkeitskonstruktion war das Konzept der in der Bibel von Gott geoffenbarten, aber menschlicher Deutung bedürftigen Wahrheit über die von Gott geschaffene Wirklichkeit. Es veranlasste die Theologen dazu, sich Wirklichkeitserkenntnis generell als Interpretationsverfahren vorzustellen, und hatte deshalb Konsequenzen für textuelle Bedeutungspraktiken, die weit über den theologischen Fachdiskurs hinausreichten. Allerdings war ein großer Bestand von Texten aus der vorchristlichen Antike erhalten geblieben, die die Wirklichkeit gemäß der in der antiken Philosophie entwickelten Vorstellung erklärten, dass Erkenntnis in Wahrnehmung, Begriffsbildung und logischem Schlussfolgern besteht. Dieses vorchristliche Wissen musste aus theologischer Sicht nach Möglichkeit mit der gedeuteten Offenbarungswahrheit in Übereinstimmung gebracht werden. Im Optimalfall führten offenbarungsgeleitete Erkenntnis durch Bibelinterpretation und, wie es die Theologen nannten, ›natürliche‹ Erkenntnis durch Wahrnehmung und Vernunft dann zum selben Ergebnis. Wo das nicht gelang, konnten die Theologen den höheren Geltungsanspruch der von ihnen gedeuteten Offenbarung nur behaupten. Wie die Bibel waren die vorchristlichen Offenbarungswahrheit Offenbarungswahrheit und natürliche Erkenntnis <?page no="297"?> 289 antiken Wissensbestände schriftlich überliefert, so dass Erkenntnis auch in ihrem Fall auf dem richtigen Verstehen beruhte: Was die Wirklichkeit war, stand prinzipiell in Büchern. Einen ähnlich großen Einfluss auf die textuellen Bedeutungspraktiken wie das theologische Wahrheitskonzept hatte das aus der Antike überlieferte rhetorische Wissen. Beides stand nicht in einem direkten Gegensatz zueinander, weil die antike Rhetorik keine Lehre von der wahren Erkenntnis der Wirklichkeit gewesen war, sondern eine Lehre von der Überzeugungskraft des Plausiblen. Als solche entstand sie im 5. und 4. Jahrhundert vor Christus in griechischen Stadtrepubliken, in denen Redner Volksgerichte und Volksversammlungen zu rechtlichen und politischen Entscheidungen brachten. Der Redner, lehrte die Rhetorik, macht bei solchen Anlässen glaubhaft, dass ein Angeklagter schuldig respektive unschuldig ist oder dass ein politisches Vorhaben gut respektive schlecht ist. Dabei geht er stets von dem aus, was seine Adressaten für wahr oder wahrscheinlich halten, weil sie für glaubhaft halten werden, was sich aus dem für wahr oder wahrscheinlich Gehaltenen ableiten lässt. Für den Erfolg des Redners kommt es nicht darauf an, was tatsächlich wahr oder wahrscheinlich ist, sondern darauf, was die Adressaten für wahr oder wahrscheinlich halten. Die Rhetorik lehrte deshalb - in der Formulierung von Aristoteles (›Rhetorik‹ 1.2) -, wie »bei jedem Gegenstand das möglicherweise Glaubenerweckende zu erkennen« ist. Im Mittelpunkt dieser Lehre stand die Topik. Ein topos (Plural topoi; lateinisch locus, Plural loci) ist dem Wortsinn nach ein ›Ort‹, an dem Textverfasser ein plausibilisierendes Argument (vgl. Kap. 8) finden können; am ehesten entspricht dem unser Begriff ›Gesichtspunkt‹. Für Aristoteles, der das Konzept sowohl in seinem Rhetorik-Traktat als auch in einem eigenen Topik-Traktat entwickelt hat, kam als Topos alles in Frage, was »von allen oder von der Mehrheit oder von den Sachkundigen oder von deren Mehrheit für wahrscheinlich gehalten wird« (›Topik‹ 1.1). Bei dieser sehr weiten Bedeutung des Topos-Begriffs ist es in Antike, Mittelalter und früher Neuzeit geblieben. Unter den Topos-Begriff fallen einerseits allgemeine Begriffsbeziehungen wie beispielsweise die der Kausalität, die als Suchregeln für argumentative Plausibilisierungen dienen können: Alles hat Ursachen, also auch jede Handlung, also kann im Text dargestelltes Handeln Rhetorik Topik Formale und materiale Topoi WI R K LI C HK E IT S KON S T RUK TION E N UND B E D E U T UNG S P RAK TIK E N <?page no="298"?> 290 WI R K LI C HK E IT S KON S T RUK TION E N durch die Darstellung seiner Ursachen glaubhaft gemacht werden. In der modernen Forschung werden solche Topoi gewöhnlich als ›formale‹ (im Sinn von begrifflich-abstrakte) bezeichnet. Andererseits fallen spezifischere kulturelle Wahrscheinlichkeitsannahmen unter den Topos-Begriff, beispielsweise: Sexuelles Begehren wird durch die Wahrnehmung körperlicher Schönheit verursacht, also kann im Text dargestelltes Handeln aus sexuellem Begehren durch die Darstellung wahrgenommener Schönheit glaubhaft gemacht werden. Topoi dieser Art heißen in der modernen Forschung gewöhnlich ›materiale‹ (im Sinn von inhaltlich-konkrete). Als Plausibilisierungsverfahren war die Topik zugleich ein Verfahren zur begrifflich-wissensbasierten Entfaltung eines Themas bei der Textproduktion: Indem man die Topoi findet, die mit dem Thema in einem Zusammenhang stehen, findet man zugleich, was es zu dem Thema zu sagen gibt. Weder in der antiken noch in der mittelalterlich-frühneuzeitlichen Rhetorik galt die Wirklichkeit als kulturelle Konstruktion: Wie die Theologie setzte auch die Rhetorik stets voraus, dass es eine Wirklichkeit ›an sich‹ gibt. Die Rhetorik bot jedoch die Möglichkeit, das für wahr oder wahrscheinlich Gehaltene - die Topoi - als die eigentliche Grundlage der kommunikativen Praxis zu verstehen: Das rhetorische Wissen beruhte auf der Einschätzung, dass das Wahre nicht allein schon wegen seiner Wahrheit glaubhaft und das Unwahre nicht allein schon wegen seiner Unwahrheit unglaubhaft ist, sondern dass Glaubhaftigkeit durch textuelle Bedeutungspraktiken erzeugt wird. Dies konnte sowohl zu einem Spannungsverhältnis zwischen Plausiblem und Wahrheit als auch zur Indienstnahme des Plausiblen für die Wahrheit führen. Rhetorik und Plausibilität Die Grundlagen des rhetorischen Wissens in Mittelalter und früher Neuzeit lieferten vor allem antike lateinische Rhetorik- und Topik-Traktate, die seit dem 1. Jahrhundert vor Christus im Anschluss an die griechischen entstanden waren. Einflussreich waren insbesondere drei Topoi-Systematiken, die Cicero in seinem Rhetorik-Trakat ›De inventione‹ und in einem eigenen Topik-Traktat entwickelt hatte. Alle drei waren ursprünglich für Gerichtsreden gedacht, in denen es um Täter und Taten im juris- Wahrheit und Plausibilität 2. Ciceros Topiken <?page no="299"?> 291 tischen Sinn ging, doch verdankt sich ihre historische Wirkung nicht diesem speziellen Zuschnitt, sondern der Anwendbarkeit auf jede Darstellung von Personen und Handlungen. Was die Gelehrten in Mittelalter und früher Neuzeit unter ›Topik‹ verstanden, zeigen die in diesen Listen benutzten Begriffe. In ›De inventione‹ stellt Cicero eine Liste personenbezogener und eine Liste handlungsbezogener Topoi zusammen. Seine Personaltopik hat folgende Kategorien: Name (nomen), angeborene Eigenschaften (natura), Lebensweise (victus), Lebensumstände (fortuna), Gewohnheiten (habitus), Temperament (affectio), Wissen (studium), Reflexionsvermögen (consilium), bisherige Taten (facta), bisheriges Ergehen (casus), bisherige Äußerungen (orationes). Ciceros Handlungstopik hat folgende Kategorien: Tatbestand (summa facti), Tatmotiv (causa), vor der Tat Geschehenes (ante rem), bei der Tat Geschehenes (in re), nach der Tat Geschehenes (post rem). Der Topos in re hat seinerseits folgende Untertopoi: Ort (locus), Zeit (tempus), die Tat ermöglichende situative Umstände (occasiones), Vorgehensweise einschließlich Handlungsmittel (modus), die Tat ermöglichende Fähigkeiten des Täters (facultates). Die Kategorienliste in Ciceros Topik-Traktat hat einem höheren Abstraktionsgrad und ist in ihrer Systematik uneinheitlicher. Sie enthält zum einen traditionelle logische Begriffsbeziehungen: Oberbegriff (genus, z. B. ›Lebewesen‹ zu ›Mensch‹), Unterbegriff (forma, z. B. ›Frau‹ zu ›Mensch‹), Unterschied gegenüber anderen Unterbegriffen zum selben Oberbegriff (differentia, z. B. ›vernunftbegabt‹ zu ›Mensch‹, aber nicht zu ›Tier‹), Definition (definitio bestehend aus genus, forma und differentia, z. B. ›ein Mensch ist ein vernunftbegabtes Lebewesen‹), Gegenbegriff (contrarium), Ursache (causa), Folge (effictum). Über Ursache und Folge hinaus gibt es auch in dieser Topoi-Liste weitere Kategorien, die Handlungen begrifflich erschließen sollen: Bestandteil der Handlungssituation (adiunctum), zeitlich Vorausgehendes (antecedens), zeitlich Anschließendes (consequens), situativ Entgegenstehendes (repugnans). Einige Topoi ergeben eine Kombination aus Begriffsbeziehung und sprachlichem Formulierungsverfahren: qualitativer Vergleich (Analogie, similitudo), quantitativer Vergleich (comparatio), Argumente aus der Wortbedeutung (Etymologie, notatio), Argumente aus Wortbildungsprodukten (coniungata). Topoi in ›De inventione‹ Topoi in ›Topica‹ R H E TO R IK UND P LAU S IBILITÄT <?page no="300"?> 292 WI R K LI C HK E IT S KON S T RUK TION E N Alle drei Listen bestehen aus ›formalen‹ Topoi. Die Kategorien der ersten beiden Listen sind jedoch konkreter als die der dritten und können beim Verfassen einer Rede bereits als Schema für den thematischen Aufbau dienen. Als solches taugen sie nicht nur für Gerichtsreden, sondern für alle personen- und handlungsdarstellenden Texte. Matthäus von Vendôme hat Ciceros Personal- und Handlungstopik deshalb in seiner im späten 12. Jahrhundert verfassten ›Ars versificatoria‹ (vgl. S. 222) mit wenigen Veränderungen als Produktionsverfahren für poetische Texte empfohlen und einige Topoi zu diesem Zweck noch weiter konkretisiert. So plausibilisiert die Schönheitsbeschreibung - als Konkretisierung des Personaltopos ›natürliche Eigenschaften‹ - den Ausbruch sexuellen Begehrens; der Lustort plausibilisiert - als Konkretisierung des Handlungstopos ›Gelegenheit‹ - die Erfüllung sexuellen Begehrens. Sowohl die Schönheit als auch der Lustort lassen sich ihrerseits topisch weiter entfalten und konkretisieren, wenn man Unterbegriffe bildet und dadurch zu einzelnen Körperteilen respektive zu einzelnen Bestandteilen des Lustorts kommt. Der similitudo-Topos schließlich führt zu spezifischen Formulierungsverfahren für Schönheits- und Lustortbeschreibungen wie steigernden Vergleichen und Metaphern. Wie die Ausführungen von Matthäus beispielhaft zeigen, bringt die gängige Unterscheidung zwischen ›formalen‹ und ›materialen‹ Topoi die eigentliche Zielsetzung des topischen Verfahrens schlecht in den Blick, vom Formalen zum Materialen zu kommen: Topik soll ermöglichen, jedes Thema von wenigen abstrakten und allgemeingültigen Kategorien aus durch schrittweise Konkretisierung auf der Grundlage des kulturellen Wissens plausibel zu entfalten. Der angestrebten Glaubhaftigkeit wegen wird dabei mit für wahr oder wahrscheinlich Gehaltenem operiert, das in sehr allgemeinen Begriffsbeziehungen genauso bestehen kann wie in spezifischeren Wissensbeständen. Das Interesse der Topik gilt dem Weg, der von den allgemeinsten ›formalen‹ Begriffsbeziehungen über konkretisierende Unterbegriffe und Analogien sowie über konkretere Wahrscheinlichkeitsannahmen zu Textschemata mit einer ›materialen‹ thematischen Struktur und spezifischen Formulierungsverfahren führt. Diesen Weg geht der Verfasser eines Textes der rhetorischen Lehre zufolge in aufeinander folgenden Produktionsstadien: Das erste ist stets die ›Findung‹ der Topoi (griechisch heuresis, lateinisch Topik als Textproduktionsverfahren Rhetorische Produktionsstadien <?page no="301"?> 293 inventio), das zweite ihre Ordnung zu einer textuellen Reihenfolge (taxis, dispositio), das dritte die sprachliche Ausformulierung (lexis, elocutio). Für den freien Vortrag einer öffentlichen Rede kamen dazu als viertes und fünftes Produktionsstadium noch Techniken für das Auswendiglernen (mneme, memoria) und den Vortrag selbst (hypokrisis, actio). Da Topik auf die Erkenntnis und Vermittlung des Plausiblen und nicht auf die Erkenntnis und Vermittlung der Wahrheit zielt, lässt sie sich auch in den Dienst der Unwahrheit stellen. Ein Paradebeispiel dafür ist die Gerichtsrede des Protagonisten im ›Engelhard‹ Konrads von Würzburg (V. 3723-4000, vgl. Kap. 9), in der das topische Verfahren erfolgreich eine Lüge plausibiliert und die Wahrheit unplausibel macht. Nachdem Ritschier Engelhard und Engeltrud im Baumgarten entdeckt und König Fruote informiert hat, geht es für Engelhard vor Gericht um Leben und Tod. Es ist sein Argumentationsgeschick, mit dem er sich in dieser Situation vor der Hinrichtung rettet. Die Konstruktion der Episode exemplifiziert das Verhältnis zwischen Wahrheit und Glaubhaftigkeit: Dass Ritschier die Wahrheit gesehen hat, nutzt ihm mangels Zeugen und Beweisen nichts; Engelhards Erfolg beruht darauf, dass er Ritschiers wahre Behauptungen als unglaubhaft erscheinen lässt. Die Unglaubwürdigkeit der Anklage begründet er zum einen mit der Unwahrscheinlichkeit des von Ritschier behaupteten Geschehens, zum anderen mit Ritschiers wahrscheinlichen Absichten. Der formale Topos ist bei sämtlichen Argumenten die Handlungsursache, als materiale Topoi dienen verschiedene nicht ausdrücklich formulierte, sondern jeweils unterstellte Wahrscheinlichkeitsregularitäten. Engelhards erste Verteidigungsrede beginnt mit drei Argumenten für die Unwahrscheinlichkeit eines Geschlechtsverkehrs mit Engeltrud, mit denen er begründet, weshalb es sich bei Ritschiers Anklage um eine Verleumdung handeln muss: Er, Engelhard, sei zu niederen Standes, um an ein Liebesverhältnis mit der Königstochter überhaupt nur zu denken (unterstellte Wahrscheinlichkeitsregularität: Adelige respektieren Standeshierarchien). Falls doch, würde er gerade als Liebender eher jedes Leid ertragen, als ihre Ehre in Gefahr zu bringen (höfische Liebe riskiert nicht den Schaden der oder des Geliebten). Wegen seiner Dankbarkeit gegenüber dem König würde er lieber sterben, als dessen Ehre zu schädigen (Adelige befolgen Rechtspflichten). Plausibilisierung der Unwahrheit: ›Engelhard‹ R H E TO R IK UND P LAU S IBILITÄT <?page no="302"?> 294 WI R K LI C HK E IT S KON S T RUK TION E N Folglich könne Ritschier nur schlechte Absichten haben. Er, Engelhard, wolle den eigenen Tod zwar gern auf sich nehmen; dass Ritschiers Anklage sowohl die Ehre Engeltruds als auch die des Königs schädige, könne er jedoch nicht durchgehen lassen. Nach dieser Rede Engelhards muss Ritschier seine Anklage glaubhaft machen, wofür er nur ein Argument anführt: Er hat Engelhard und Engeltrud im Baumgarten mit eigenen Augen gesehen (was man gesehen hat, ist wahr). In einer zweiten Rede begründet Engelhard den Verleumdungsvorwurf weiter: Ritschier habe ihn von Anfang an feindselig behandelt (wer immer schon in einer bestimmten Weise gehandelt hat, handelt gewohnheitsmäßig so). Um ihm zu schaden, sei Ritschier offensichtlich sogar bereit, die Ehre Engeltruds und Fruotes zu verletzen (Geschädigte nochmals zu schädigen, dient nicht der Ordnungswahrung). Gäbe es zwischen ihm als Sohn eines einfachen Landadeligen und Ritschier als Königssohn nicht einen Standesunterschied, würde er Ritschier einen Lügner nennen (Adelige respektieren Standeshierarchien). Auf diese Rede Engelhards reagiert Ritschier mit einer detaillierteren Erzählung von der Entdeckung (Kenntnis von Details belegt Wahrheit): Sein Jagdsperber sei ihm entflogen und auf dem Baum gelandet, unter dem Engelhard und Engeltrud lagen. Infolge dieser Entdeckung habe er seinen Sperber nicht wieder eingefangen; der verlorene Vogel beweise seine Behauptung. Dies ermöglicht es Engelhard, seine dritte Rede mit einer spöttischen Bemerkung zur Plausibilität des entflogenen Beweises einzuleiten. Dann breitet er seine letzten beiden Argumente aus: Hätte er sich mit Engeltrud im Baumgarten getroffen, wäre er nicht so unvorsichtig gewesen, die einzige Tür offen zu lassen (wer Verbotenes tut, ist vorsichtig); wäre er mit Engeltrud im Baumgarten ertappt worden, hätte er danach die Flucht gewählt (Schuldige entziehen sich nach Möglichkeit einer vorhersehbaren Bestrafung). Ritschier, dessen eigene Ehre inzwischen in Frage steht, weiß dem nichts entgegenzusetzen und muss sich auf den Gerichtskampf einlassen. Dass Konrad von Würzburg rhetorische Fertigkeit anhand einer Gerichtsrede exemplifiziert hat, entspricht dem Modellfall der antiken Rhetorik. Die Demonstration in einem poetischen Text gehört zu den Konsequenzen der Rhetorikgeschichte: Als Konrad seinen ›Engelhard‹ verfasste, war die Rhetorik nämlich Rhetorik und Dichtung <?page no="303"?> 295 schon seit langem keine Lehre von der öffentlichen Rede vor Volksgerichten und Volksversammlungen mehr. In der Spätantike hatte sie sich immer mehr zu einer allgemeinen Kommunikations- und Texttheorie entwickelt, deren Gegenstand alle möglichen Arten schriftlich produzierter Texte waren. Im Rhetorik-Unterricht wurde jedoch weiterhin gelehrt, wie ein Textverfasser durch Verfahrensweisen der Textstrukturierung Wirkungen bei den Adressaten seines Textes erzeugt. Dabei richtete sich das Interesse der Rhetoriker verstärkt auf die Dichtung. Möglich war dies, weil sich poetische Texte in der rhetorischen Begriffssystematik einer dritten Art von Reden zuordnen ließen, die bereits Aristoteles neben Gerichtsreden und politischen Reden behandelt und als ›epideiktische Reden‹ (Vorzeigereden) etikettiert hatte. Gemeint waren damit ursprünglich die öffentlichen Festreden in den antiken Stadtrepubliken, bei denen meistens jemand gelobt wurde. In solchen Reden geht es Aristoteles zufolge nicht um eine strittige Frage, weshalb hier nichts glaubhaft gemacht werden muss - außer der rhetorischen Kompetenz des Redners. Das Publikum beurteilt hier vor allem die rhetorische Qualität der Rede, interessiert sich also in erster Linie für die vom Redner ›vorgezeigte‹ Machart der Rede selbst. Den spätantiken Rhetorikern legte dies eine Verbindung zwischen Rhetorik und Poetik nahe: Insofern poetische Texte das Interesse auf ihre eigene Gestaltung lenkten, ließen sie sich generell dem epideiktischen Redetypus zuordnen. Dichtung konnte deshalb als eine Demonstration der rhetorischen Verfahrensweisen einschließlich derjenigen der sprachlichen Ausarbeitung verstanden werden, zu der nicht zuletzt die ›rhetorischen Figuren‹ gehörten. Eine solche Einschätzung hinderte niemanden daran, poetischen Texten auch alle möglichen anderen Funktionen zuweisen: Dichtung konnte Wissen aller Art vermitteln und einen unmittelbaren pragmatischen Zweck - beispielsweise als Herrscherlob - verfolgen. Der rhetorische Begriffsapparat ermöglichte es jedoch, poetische Texte von anderen durch eine zu anderen Funktionen hinzutretende Funktion der rhetorischen Kunstdemonstration zu unterscheiden, die dadurch zu einem zweiten Kriterium für Poetizität neben der Versifikation (vgl. S. 167-169) wurde. Zu den Konsequenzen dieser Einschätzung gehörte, dass Dichtung in der spätantiken Unterrichtspraxis zum Übungsfeld für Epideiktische Rede Dichtung als Rhetorik- Demonstration Dichtung als rhetorische Übung R H E TO R IK UND P LAU S IBILITÄT <?page no="304"?> 296 WI R K LI C HK E IT S KON S T RUK TION E N Rhetorik wurde: Bei der Beschäftigung mit poetischen Mustertexten lernten die Schüler die rhetorischen Verfahrensweisen kennen, und beim Verfassen eigener poetischer Texte lernten sie den Gebrauch der rhetorischen Verfahrensweisen. Alle mittelalterlichen und frühneuzeitlichen ›Renaissancen‹, die karolingische und die des 12. Jahrhunderts ebenso wie die humanistische (vgl. Kap. 4), griffen dieses Konzept immer wieder aufs Neue und in beständig genauer entfalteter Weise auf, so dass die Dichtung in der gelehrten Bildungstradition bis ins frühe 18. Jahrhundert zugleich angewandte Rhetorik und rhetorische Übung blieb. Konrads ›Engelhard‹ ist, insofern er - nicht allein mit der Gerichtsrede des Protagonisten - Rhetorik demonstriert, ein Bestandteil dieses langen Traditionsprozesses. Dass Konrad seinen Protagonisten erfolgreich lügen lässt und dabei mit parteiischen Erzählverfahren, die ihrerseits ebenfalls ein Produkt rhetorischen Wissens sind (vgl. S. 195-197), auch noch Bewunderung für seine argumentative Fertigkeit herbeiführt, entspricht allerdings nicht der Aufgabe, die der Rhetorik in der Spätantike von den Kirchenvätern zugewiesen worden war. Augustinus hat die christlichen Vorbehalte gegen die Rhetorik in seinem Traktat ›De doctrina christiana‹ (›Über die christliche Bildung‹, vgl. S. 78) zusammengefasst, um die Rhetorik danach in den Dienst der Theologie nehmen zu können: Schlecht an den rhetorischen Verfahrensweisen sei, dass man durch ihren Gebrauch sowohl Wahres als auch Falsches glaubhaft machen könne. Als Instrument der Wahrheitsvermittlung müssten Christen die Rhetorik jedoch beherrschen. Außerdem habe sich Gott selber in der Bibel zur Offenbarung der Wahrheit rhetorischer Verfahrensweisen bedient - etwa in den Gleichnisreden der Evangelien -, so dass rhetorisches Wissen für die Interpretation der Bibel und damit für die Erkenntnis der Wahrheit nötig sei. Im 12. und 13. Jahrhundert näherten sich manche Gelehrte jedoch wieder den vorchristlichen antiken Konzeptionen und lösten die Rhetorik aus der Verpflichtung auf die Wahrheit. Das eindrücklichste Beispiel dafür ist Boncompagno da Signa, der an der Universität Bologna Rhetorik für angehende Juristen lehrte. Seine um 1215 verfasste ›Rhetorica novissima‹ (›Neueste Rhetorik‹) richtet sich ausdrücklich an zukünftige Advokaten und bringt ihnen bei, dass allein das wahrheitsähnliche Wahrscheinliche glaubhaft sei. Advokaten müssten deshalb die Fähigkeit beherr- Rhetorik und Wahrheit <?page no="305"?> 297 schen, »Wahres darzulegen, Wahrheitsähnliches zu erfinden, Erlogenes zu bemänteln, Falsches unter dem Bild der Wahrheit zu verbergen« (›Rhetorica novissima‹ III.II). Dass Konrad Boncompagnos Traktat kannte, lässt sich nicht nachweisen. Die Empfehlung rigider rhetorischer Parteilichkeit hätte er ebenso in Ciceros Traktat ›De inventione‹ (I,19,27) finden können, der als Standardlehrbuch im lateinischen Rhetorikunterricht diente: »Deshalb muss […] alles zum Nutzen der eigenen Partei hingedreht werden; das der eigenen Partei Entgegenstehende muss übergangen werden, wenn es übergangen werden kann, und nur leicht gestreift werden, wenn es angesprochen werden muss; das der eigenen Partei Dienliche muss sorgfältig und in sich schlüssig dargestellt werden.« Theologie und Wahrheit Augustinus rettete die Rhetorik ins Christentum, indem er sie zum Instrument der Erkenntnis und Vermittlung der theologischen Wahrheit machte. Der Wahrheitsbegriff der Kirchenväter war auf den Erkenntniswert der Bibel konzentriert: Sie galt als eine Wahrheitsoffenbarung, die der Heilige Geist ihren menschlichen Verfassern im Wortlaut diktiert hatte. Dieser Wortlaut musste allerdings gedeutet werden, wie etwa die Gleichnisse in den Evangelien zeigten. Dass die Wahrheit für die Kirchenväter nicht einfach im Wortlaut der Bibel bestand, sondern in dessen Interpretation, lag allerdings nicht in erster Linie an einzelnen offenkundig uneigentlichen Textpassagen wie den Gleichnissen, sondern an der Entstehung der christlichen aus der jüdischen Religion: Um Jesus von Nazareth als den Messias zu deuten, der von den Propheten vorhergesagt worden war, musste die gesamte jüdische Bibel als Offenbarung der christlichen Wahrheit - als ›Altes Testament‹ - interpretiert werden. Zu diesem Zweck entwickelten die Kirchenväter im 3. und 4. Jahrhundert die Lehre von einem im wörtlichen Sinn der Bibel (sensus litteralis) verborgenen geistigen Sinn (sensus mysticus, sensus spiritualis). Gott hat demnach im Alten Testament bereits die christliche Wahrheit offenbart, dies jedoch erst durch das Neue Testament erkennbar gemacht. So ist beispielsweise die Erzählung vom Auszug des Volks Israel aus Ägypten im 2. Buch Mose eine 3. Offenbarungswahrheit Wörtlicher und verborgener Sinn der Bibel T H E O L O GI E UND WAH R H E IT <?page no="306"?> 298 WI R K LI C HK E IT S KON S T RUK TION E N verborgene Offenbarung der Erlösung der Menschheit durch Christus. Selbstverständlich setzt dieses Interpretationsverfahren die christliche Theologie stets voraus: Nur wer die Erlösungslehre kennt, vermag sie in der Erzählung vom Auszug aus Ägypten auf verborgene Weise offenbart zu finden. Nach und nach systematisierten die Theologen die Lehre vom verborgenen geistigen Sinn der Bibel zum vierfachen Schriftsinn. Neben dem wörtlichen Sinn (sensus litteralis) gibt es demnach einen dreiteiligen spirituellen: Der allegorische Sinn (sensus allegoricus) besteht in der verborgenen Offenbarung der christlichen Wahrheit im Alten Testament. Alttestamentliche Figuren oder Geschehnisse sind ›Präfigurationen‹ neutestamentlicher Figuren oder Geschehnisse; die Relation - beispielsweise zwischen den 12 Propheten und den 12 Aposteln - wird auch als ›Typologie‹ bezeichnet. Einen moralischen Sinn (sensus moralis oder tropologicus von griech. tropos in der Bedeutung ›Lebensweise‹) können Erzählungen des Alten wie des Neuen Testaments haben. Der Kausalzusammenhang zwischen dem Handeln und dem Ergehen biblischer Figuren ist dann ein Beispiel für die Gesetzmäßigkeiten der von Gott geschaffenen Ordnung der Praxis. So geben etwa die alttestamentlichen Erzählungen über König Saul zu erkennen, dass der Herrscher ein Erwählter Gottes ist, den Gott jedoch verwirft, wenn er nicht rechtmäßig handelt. Einen sensus moralis im Sinn der Offenbarungswahrheit schrieben die Theologen allein der Bibel zu; das Prinzip der Sinnkonstruktion ist jedoch dasselbe wie bei den exemplarischen Erzählungen von Geschichtsschreibern und Dichtern (vgl. Kap. 9). Der anagogische Sinn (sensus anagogicus, ›hinaufführender Sinn‹) schließlich besteht in der biblischen Offenbarung der Wahrheit über die Ewigkeit nach dem Jüngsten Gericht. So hat beispielsweise Otfrid von Weißenburg (vgl. S. 37, 108) in der Auslegung der Erzählung von der Hochzeit von Kana (›Evangelienbuch‹ II,9 nach Johannes 2,1-11) nicht nur allegorische und moralische Deutungen vorgenommen, sondern das Hochzeitsfest außerdem anagogisch als Darstellung der ewigen Glückseligkeit interpretiert. Otfrid legte übrigens nicht jeden einzelnen Bestandteil der Hochzeitserzählung vierfach aus, sondern einzelne ihrer Bestandteile entweder allegorisch oder moralisch oder anagogisch. Das entsprach der allgemeinen Praxis, in der nur selten eine Bibelstelle systematisch nach allen vier Sinnen gedeutet wurde: Vierfacher Schriftsinn 1. Wörtlicher Sinn 2. Allegorischer Sinn 3. Moralischer Sinn 4. Anagogischer Sinn <?page no="307"?> 299 Gewöhnlich identifizierte man fallweise und je nach sich anbietender Möglichkeit einen der geistigen Sinne, vorzugsweise einen allegorischen oder moralischen. Das Konzept der in der Bibel geoffenbarten Wahrheit hatte Folgen, die weit über die Bibelauslegung hinaus die gesamte Vorstellung von der Wirklichkeit betrafen. Für die christliche Theologie war sie eine von Gott geschaffene Ordnung, und zwar vor allem anderen in ihrer Zeitlichkeit: Von der Schöpfung über Sündenfall und Sintflut, den ersten Bund Gottes mit Abraham und dem Volk Israel als seinen Nachkommen, den zweiten Bund mit der Kirche als Gemeinschaft der Christen bis zum Jüngsten Gericht reichte die Ordnung der Zeit, mit der ewigen Glückseligkeit respektive der ewigen Verdammnis jedes einzelnen Menschen wird sie enden. Erst im 19. Jahrhundert wurde für diese Vorstellung der Begriff ›Heilsgeschichte‹ geprägt, der das alte Konzept der Zeitordnung mit dem im 18. Jahrhundert entstandenen modernen Begriff ›Geschichte‹ verbindet. Was wir unter ›Geschichte‹ verstehen, nämlich die Gesamtheit aller durch menschliches Handeln hervorgebrachten und sich deshalb beständig verändernden kulturellen Verhältnisse, war die gottgeschaffene Ordnung der Zeit jedoch gerade nicht. Sie war eine vorherbestimmte Abfolge der sechs Weltalter und vier Weltreiche (vgl. S. 10), in denen Erfolg oder Misserfolg menschlichen Handelns stets auf denselben, durch menschliches Handeln nicht veränderbaren Gesetzmäßigkeiten beruhte. Jeder Weltchronik-Verfasser machte die Gesetzmäßigkeiten des Handelns in der Zeitordnung der Weltalter und Weltreiche erkennbar, indem er von den Erfolgen der guten und den Misserfolgen der schlechten unter den alttestamentlichen und neutestamentlichen Hauptakteuren erzählte. Jedem Weltchronik-Verfasser stellte sich darüber hinaus die Aufgabe, das in der erhaltenen außerbiblischen antiken Geschichtsschreibung überlieferte Wissen so gut wie möglich in die Darstellung der biblischen Geschehnisse einzuarbeiten und das Wissen über die nachbiblischen Geschehnisse im sechsten Zeitalter bis zur eigenen Gegenwart festzuhalten. Niemand konnte daran zweifeln, dass auch die außer- und nachbiblischen Geschehnisse zur gottgeschaffenen Ordnung der Zeit gehörten und dass sie dieselben unveränderbaren Gesetzmäßigkeiten des Handelns exemplifizierten. Wie die Weltchronistik gut zeigt, zog das Konzept der biblischen Offenbarungswahrheit die Notwendigkeit nach sich, die gesamte Wirklichkeit als gottgeschaffene Ordnung Ordnung der Zeit ›Heilsgeschichte‹ Integration antiken Wissens T H E O L O GI E UND WAH R H E IT <?page no="308"?> 300 WI R K LI C HK E IT S KON S T RUK TION E N Wirklichkeit als gottgeschaffene Ordnung zu interpretieren. Aus diesem Grund wurden in das theologische Modell der Wirklichkeitsdeutung nach und nach alle antiken Wissensbestände integriert, die mit der Auslegung der Bibel in eine Übereinstimmung gebracht werden konnten. Neben der antiken Geschichtsschreibung betraf dies auch große Teile der antiken Natur- und Moralphilosophie, der philosophischen Erkenntnis- und Seelenlehren, der Kosmologie, Geographie, Mathematik und Musiktheorie, der Grammatik, Logik und Rhetorik, der Medizin und der Rechtswissenschaft. Dass Wirklichkeitserkenntnis gemäß dem Konzept der Offenbarungswahrheit ein Interpretationsverfahren war, führte gelegentlich zu textuellen Bedeutungspraktiken, die heute sehr fremdartig anmuten. Gerade an ihnen lassen sich die Prinzipien der kulturellen Wirklichkeitskonstruktion jedoch besonders gut erkennen. Ein Beispiel dafür ist die Verbindung aus antiker Naturkunde und theologischem Auslegungsverfahren zur Naturdeutung im ›Physiologus‹, einem anonym überlieferten, wahrscheinlich zwischen dem 2.und dem 4. Jahrhundert in griechischer Sprache verfassten Traktat, der später ins Lateinische und von dort aus in etliche Volkssprachen - auch ins Althochdeutsche und Mittelhochdeutsche - übersetzt wurde. Die einzelnen Kapitel identifizieren nach dem Verfahren der Bibelauslegung den verborgenen geistigen Sinn natürlicher Eigenschaften von Tieren, Pflanzen und Steinen. Der Phönix beispielsweise ist laut dem ausführlichsten römischen Naturkunde-Lehrbuch, der ›Naturalis historia‹ (10,3-5) von Plinius dem Älteren (gest. 79 n. Chr.), ein in Arabien lebender Vogel (seine tatsächliche Existenz hielt Plinius allerdings für nicht ganz sicher). Dem ›Physiologus‹ zufolge lebt der Phönix in Indien und verbrennt sich im Alter in einem aus Dufthölzern zu diesem Zweck gebauten Nest, worauf aus der Asche in drei Tagen ein neuer Phönix entsteht. Der geistige Sinn ist der freiwillige Tod Christi mit der Auferstehung nach drei Tagen; das Duftholz bedeutet die dem Seelenheil dienliche Süße der Offenbarungswahrheit im Alten und Neuen Testament. Das Einhorn ist laut ›Naturalis historia‹ (8,76) ein wildes Tier in Indien, das schwer zu fangen ist. Dem ›Physiologus‹ zufolge lässt es sich fangen, wenn es auf eine Jungfrau trifft; dann legt es sein Horn in ihren Schoss und schläft ein (Abb. 18). Der geistige Sinn ist die Menschwerdung des Gottessohns in der Jungfrau Maria. Naturdeutung: ›Physiologus‹ Phönix Einhorn <?page no="309"?> 301 Wie beim Phönix folgt die Deutung dem Prinzip des sensus allegoricus der Bibelauslegung, an die Stelle alttestamentliche Figuren oder Geschehnisse treten Naturphänomene und ihre Eigenschaften. Der ›Physiologus‹ deutet ebenso nach dem Prinzip des sensus moralis: Über den pontischen (am Schwarzen Meer lebenden) Biber berichtet die ›Naturalis historia‹ (8,109), dass er sich die Hoden abbeißt, wenn er von Jägern wegen deren Heilkraft gejagt wird, und dadurch sein Leben rettet (Abb. 19). Dem Physiologus zufolge bedeutet das, dass der Mensch dem Teufel entgeht, wenn er sich von Lastern befreit. Genauso wie Gott in der Bibel die Wahrheit über die von ihm geschaffene Wirklichkeit offenbart hatte, hatte er diese Wahrheit auch in der von ihm geschaffenen Natur offenbart. Was die natürliche Wirklichkeit war, stand jedoch ebenfalls in Büchern. Weil das Wahrheitskriterium die schriftliche Überlieferung und nicht das auf einer Reise nach Indien oder ans Schwarze Meer eventuell Wahrnehmbare war, konnte die Natur wie ein Buch allegorisch oder moralisch ausgelegt werden. Wie bei der Bibelauslegung war das theologische Wissen die Voraussetzung dafür. Biber T H E O L O GI E UND WAH R H E IT Abb. 18 Physiologus- Einhorn aus dem Rochester- Bestiarium, um 1230/ 40. <?page no="310"?> 302 WI R K LI C HK E IT S KON S T RUK TION E N Topik und Wahrheit In Gestalt von Bibel- und Naturdeutung präsentierten im 13. Jahrhundert einige Sangspruchdichter (vgl. S. 82) ihrem höfischen Publikum theologisches Wissen auf Mittelhochdeutsch. Manchmal stimmt der behauptete geistige Sinn dabei jedoch nicht mit den gängigen Auslegungstraditionen überein wie im folgenden Sangspruch Konrads von Würzburg: Abb. 19 Physiologus-Biber aus Sebastian Brant: Aesopus. Basel 1501. 4. Naturdeutung in der Sangspruchdichtung Kleinere Dichtungen Konrads von Würzburg. Hg. v. Edward Schröder. Bd. 3. Die Klage der Kunst, Leiche, Lieder und Sprüche. Dublin, Zürich 4 1970, S. 67 (32, 331): Der biber ist rîlicher vil dan gnuoge herren schînen: sô man in jagt, sô kan er sich ûf hôhe milte pînen, durch daz im verswînen sorg und er habe zer flühte pfliht. Er bîzet ab sîn geil und lât ez vallen zeiner miete, für daz man in niht suoche mêr in holze noch in riete. wê der edeln diete, die niht an sîne tugent siht! Swen des gernden kumber jage, darûf er sich versinne wol, daz er milteclichen zol <?page no="311"?> 303 verrêre an dem gejegde, ê man beginne suchen in mit lasterlicher clegde. zen êren fliehe er sam der wilde einhürne zeiner megde; durch ein cranc getregde lâz er sich schande vâhen niht. Der Biber ist viel reicher als etliche adelige Herren zu sein scheinen: Wenn man ihn jagt, weiß er sich um große Freigebigkeit zu bemühen, damit seine Not vergeht und er fliehen kann. Er beißt seine Hoden ab und lässt sie als Bezahlung fallen, damit man ihn in Wald und Sumpf nicht weiter sucht. Wehe den adeligen Leuten, die nicht auf seine Tugend schauen! Wen der Kummer des Bittstellers jagt, der soll gut darauf achten, dass er bei der Jagd freigebigen Lohn verteilt, bevor man anfängt, ihn mit Schande bringenden Klagen zu verfolgen. Er fliehe zur Ehre wie das wilde Einhorn zu einer Jungfrau; er lasse nicht zu, dass ihn die Schande wegen eines leichten Gepäcks fängt! Die Eigenschaft des ›Physiologus‹-Bibers nennt Konrad eigens, die des Einhorns setzt er mit einer kurzen Anspielung als bekannt voraus. Der Biber hat wie im ›Physiologus‹ einen moralischen Sinn. Allerdings besteht dieser nicht darin, dass der Mensch nicht zur Beute des Teufels wird, wenn er die Sünde abwirft, sondern darin, dass adelige Herren freigebig sein sollen. Von dieser Freigebigkeit lebten die Sangspruchdichter, die für ihre Kunst materiellen Lohn haben wollten. Die abgebissenen Hoden bedeuten hier demnach die großzügige Belohnung des Sangspruchdichters, der hinter dem Fürsten her ist wie die Jäger hinter dem Biber. Bekommt der Dichter seinen Lohn nicht, jagt er den Fürsten mit Schmähungen und bereitet ihm dadurch öffentliche Schande. Das Einhorn erhält im Anschluss daran keinen allegorischen Sinn wie im ›Physiologus‹, sondern ebenfalls einen moralischen: Es bedeutet nicht Maria, die in ihrem Schoß Christus einfängt, sondern den Fürsten, der seine Freigebigkeit in den Schoß des Sangspruchdichters legt und dafür mit Lobsprüchen belohnt wird, die seine Ehre fördern. Konrad hat die theologischen Bedeutungen der Eigenschaften von Biber und Einhorn so abgeändert, dass sie seinem argumentativen Ziel als Sangspruchdichter dienen, und dabei aus dem geistigen Sinn der Natur einen plausibilisierenden Topos gemacht: Als Begründung für die Lohnforderung dient in der Argumentationsstruktur der Strophe die unterstellte Wahrscheinlichkeitsregularität, dass sich der geizige Fürst Schande und der freigebige Fürst Ehre einhandeln. Die Eigenschaften von Biber und Einhorn Umdeutungen Topische Plausibilisierung TO PIK UND WAH R H E IT <?page no="312"?> 304 WI R K LI C HK E IT S KON S T RUK TION E N sind als Analogien zur Freigebigkeit des Fürsten eingesetzt. Ihre argumentative Funktion besteht darin, die Ordnung des sozialen Handelns mit der Ordnung der Natur zu begründen: An den natürlichen Eigenschaften von Biber und Einhorn kann man erkennen, dass der freigebige Fürst richtig handelt. Auch wenn Konrad die geistigen Bedeutungen von Biber und Einhorn so zurechtbiegt, dass sie seiner Argumentation dienen können, beruht die Plausibilisierungsfunktion dieser veränderten geistigen Bedeutungen auf der Unterstellung, dass sie in der Natur geoffenbarte Wahrheiten sind: Sie stützen die Wahrscheinlichkeitsregularität, die die Lohnforderung begründet, mit der Analogie zur wahren und deshalb nicht nur wahrscheinlichen Ordnung der Natur. Aus diesem Grund stehen Biber und Einhorn in der thematischen Sequenzierung am Anfang und am Ende: Ihr sensus moralis stellt den höchsten Grad an Wahrheit dar. Als Bestandteile eines rhetorischen Plausibilisierungsverfahrens werden die Offenbarungswahrheiten zu argumentativen Topoi, aber als Offenbarungswahrheiten sollen sie wahre Topoi sein, die die Abb. 20 Rhetorik als ars liberalis mit stilus (Schreibgriffel), tabula (Schreibtafel) und Umschrift Causarum vires per me rethor alme requires (Die Kräfte der Ursachen erforschst du, fruchttragender Redner, durch mich) aus Herrad von Landsberg: ›Hortus deliciarum‹, um 1175 (im Jahr 1818 angefertigte Kopie der einzigen, 1870 verbrannten Handschrift). Wahre Topoi <?page no="313"?> 305 Beziehung zwischen Sangspruchdichter und Fürst als Bestandteil der gottgeschaffenen Ordnung ausweisen. In diesem Sinn besteht das Verfahren topischer Textproduktion, das die Rhetorik als eine der sieben freien Künste lehrt, im Finden wahrer Begründungsargumente, die wahre Ursachen identifizieren (Abb. 20). Als Prinzip der gesamten Textkonstitution dienen wahre Topoi - freilich keine aus der ›Physiologus‹-Tradition stammende - in Sebastian Brants 1494 erstmals gedrucktem ›Narrenschiff‹ (vgl. S. 98): In großer Fülle plausibilisieren sie die Schädlichkeit der Torheit und den Nutzen der Weisheit sowohl für das diesseitige Leben wie auch für das ewigen Seelenheil als dessen Ziel. Es ist diese Fülle, die das ›Narrenschiff‹ zu einem Musterbeispiel für das Topikkonzept der Humanisten macht. In der humanistischen Gelehrtenkultur erlangte die Topik zwischen dem späteren 15. und dem frühen 18. Jahrhundert ein erheblich größeres Gewicht als jemals zuvor: Sie war sowohl das universale Verfahren der Ordnung des Wissens auf allen Fachgebieten als auch das dominierende Textproduktionsverfahren. Erasmus von Rotterdam (gest. 1536) erläuterte in seiner 1512 erstmals gedruckten rhetorischen Textproduktionslehre ›De duplici copia verborum ac rerum‹ (›Über die zweifache Fülle der Ausdrucksweisen und Gegenstände‹), wie man durch Lektüre erworbenes Wissen ordnet: Man legt eine nach Begriffsbeziehungen geordnete Sammlung topischer Stichwörter (loci) an und notiert unter den einzelnen Begriffen jeweils Fundstücke aus der Lektüre, insbesondere exemplarische Figuren und Erzählungen aus Bibel, Geschichtsschreibung, Dichtung und allen möglichen weiteren Arten von Texten sowie Sentenzen bestimmter Autoren und allgemein gängige Sprichwörter. Auf diese Weise entsteht eine thematisch geordnete Materialsammlung, auf die man beim Verfassen eines Texts zu einem bestimmten Thema zurückgreifen kann. Indem eine solche Sammlung sowohl die begriffliche Struktur zur Entfaltung des Themas als auch einschlägige Beispiele und griffige Formulierungen liefert, ist sie eine tatsächlich ›materiale‹ Topik, die das gesamte Wissen zu einer Enzyklopädie ordnet - nicht in alphabetischer Reihenfolge, sondern nach Begriffsbeziehungen. Dieses Modell topischer Stoffordnung wurde nicht nur im individuellen humanistischen Wissenserwerb eingesetzt, sondern liegt auch zahlreichen Handbüchern zu allen möglichen Wissensgebieten zugrunde, die im 16. und 17. Jahrhundert verfasst und gedruckt wurden. Topik im ›Narrenschiff‹ Topik im Humanismus Materiale Topik TO PIK UND WAH R H E IT <?page no="314"?> 306 WI R K LI C HK E IT S KON S T RUK TION E N Wegen der angestrebten Ordnung des ›materialen‹ Wissens nach Begriffsbeziehungen fand die ›formale‹ Topik-Tradition unter Humanisten ebenso große Aufmerksamkeit. Besonders einflussreich war im 16. Jahrhundert der 1480 verfasste und 1515 erstmals gedruckte Traktat ›De inventione dialectica‹ von Rudolf Agricola (gest. 1485), der im Anschluss vor allem an Aristoteles und Cicero mit großer Ausführlichkeit 24 Arten von Begriffsbeziehungen als Topoi (loci) behandelt, darunter etwa Ober- und Unterbegriff (genus, species), Ganzes und Teile (totum, partes), Ähnlichkeit und Gegensatz (similia, opposita), Ort und Zeit (locus, tempus) sowie verschiedene Arten von Ursachen (causae). Agricolas Buchtitel kombiniert den rhetorischen inventio-Begriff (das ›Finden‹ von Gesichtspunkten) mit der Dialektik als traditioneller Bezeichnung für die Logik, in deren Zuständigkeit Begriffsbeziehungen eigentlich fielen. Im Unterschied zu den scholastischen Gelehrten hatten die meisten Humanisten an formaler Begriffs-, Aussagen- und Schlussfolgerungslogik zwar wenig Interesse, aber die Topik als Lehre von den Begriffsbeziehungen stand bei ihnen hoch im Kurs, weil sie sie einen unmittelbaren praktischen Wert für die Themenentfaltung bei der Textproduktion hatte. So ist auch Agricolas Handbuch ganz darauf zugeschnitten, wie ein Thema beim Verfassen eines Textes ›durch die Topoi geführt‹ wird. Sebastian Brants ›Narrenschiff‹ operiert mit der traditionellen moralphilosophischen Begriffsopposition zwischen Weisheit und Torheit, verstanden als Fähigkeit respektive Unfähigkeit zur Erkenntnis richtigen und falschen Handelns. (Die Begriffe ›Tor‹ und ›Narr‹ benutzt Brant ohne erkennbaren Unterschied nebeneinander.) Die Darstellungsweise ist die der Satire: Behandelt wird das Falsche (die Torheit), um das Richtige (die Weisheit) erkennbar zu machen. Die einzelnen Kapitel thematisieren spezielle Torheiten, die sich wie Unterbegriffe zum Oberbegriff (Topos genus - species) oder wie Teile zum Ganzen verhalten (totum - partes). Das Bild des Narrenschiffs passt eher zur zweiten Option: Alle Narren sind im Schiff versammelt, alle Torheiten in Brants Buch. In den einzelnen Kapiteln wird das jeweilige Thema einerseits begrifflich, andererseits durch Exempla, Sprichwörter und Sentenzen topisch entfaltet. Als Beispiel soll das relativ kurze und deshalb unkomplizierte Kapitel 12 dienen, das wie alle anderen aus Motto, Holzschnitt, Überschrift und Spruchgedicht besteht. Formale Topik ›Narrenschiff‹ <?page no="315"?> 307 Sebastian Brant: Das Narrenschiff. Studienausgabe. Mit allen 114 Holzschnitten des Drucks Basel 1494. Hg. v. Joachim Knape. Stuttgart 2005, S. 146-148: Wer nit vor gürt / ee dann er rytt Vnd sych versicht vorhyn by zyt Des spott man / falt er an eyn sytt Von vnbesinten narren 1 Der ist mit Narheyt wol vereynt Wer spricht / das hett jch nit gemeint Dann wer bedenckt all dyng by zyt Der satlet wol / ee dann er rytt 5 Wer sich bedenckt noch der gedat Des anslag gmeynklich kumbt zu˚ spat / Wer jnn der gdat gu˚ t ansleg kan Der mu˚ ß syn ein erfarner man Oder hat das von frowen gelert 10 Die syndt sollchs rates hochgeert / Het sich Adam bedocht vor baß Ee dann er von dem appfel aß Er wer nit von eym kleynen biß TO PIK UND WAH R H E IT <?page no="316"?> 308 WI R K LI C HK E IT S KON S T RUK TION E N Gestossen vß dem Paradiß / 15 Hett Jonathas sich recht bedacht Er hett die goben wol veracht Die jm Tryphon jn falscheit bot Vnd jn erschlu˚ g dar noch zu˚ dot / Gut anschleg kund zu˚ aller zyt 20 Julius der keiser / jn dem strit / Aber do er hat frid vnd glück Sumbt er sich an eym kleynen stuck Das er die brieff nit laß zu˚ hant Die jm jn warnung worent gsant / 25 Nycanor vberschlu˚ g geryng Verkoufft das wyltpret / ee ers fyng Sin anschlag doch so gr ͤ o p lich fa ͤ lt Zung / handt / vnd grynt man jm abstra ͤ lt Gu˚ t anschla ͤ g die sint allzyt gu˚ t 30 Wol dem / der sy by zyten du˚ t Mancher ylt / vnd kumbt doch zu˚ spot Der stoßt sich bald / wem ist zu˚ not / Wer Asahel nit schnell gesyn Abner hett nit erstochen jn Wer nicht zuerst sattelt, bevor er reitet, und sich nicht vorher rechtzeitig vorsieht, den verhöhnt man, wenn er auf einer Seite herunterfällt Von unüberlegten Narren Derjenige ist mit der Narrheit vereinigt, der sagt: Das hatte ich nicht beabsichtigt. Denn wer alles rechtzeitig bedenkt, der sattelt, bevor er reitet. Wer nachdenkt, nachdem er gehandelt hat, dessen Planung kommt gewöhnlich zu spät. Wer während des Handelns gute Pläne machen kann, der muss ein erfahrener Mann sein, oder er hat es von den Frauen gelernt, die für derartigen Rat hohes Ansehen genießen. Hätte Adam vorher besser nachgedacht, bevor er von dem Apfel aß, wäre er nicht wegen eines kleinen Bissens aus dem Paradies verstoßen worden. Hätte Jonathan gut nachgedacht, hätte er die Geschenke verachtet, die Tryphon ihm arglistig gab, der ihn später erschlug. Gute Pläne kannte jederzeit Julius Caesar im Krieg, aber als er in Frieden und Glück lebte, unterlief ihm das kleine Versäumnis, dass er die Briefe nicht sofort las, die ihm als Warnung geschickt worden waren. Nycanor übersah eine Kleinigkeit und verkaufte das Wild, bevor er es gefangen hatte. Sein Plan schlug völlig fehl; Zunge, Hände und Kopf schlug man ihm ab. Gute Pläne sind immer gut; wohl dem, der sie rechtzeitig fasst. Mancher hat es eilig und erntet Hohn. Wer keine Zeit hat, stößt sich schnell. Wäre Asahel nicht so schnell gewesen, hätte Abner ihn nicht erstochen. <?page no="317"?> 309 Die behandelte Torheit ist der Mangel an Vorausschau (providentia), auf die Brant mit den Verben sich versehen (sich vorhersehen), sich besinnen und sich bedenken (gut überlegen) Bezug nimmt. Providentia war in der mittelalterlichen Moralphilosophie und Moraltheologie (etwa bei Thomas von Aquino in der ›Summa theologiae‹ II-II 48-49) ein Unterbegriff zu prudentia (Weisheit) und damit eine Tugend (virtus) im Sinn einer durch Übung habitualisierten Befähigung zu richtigem Handeln. Mangel an Vorausschau ist folglich ein Laster im Sinn einer habitualisierten Unfähigkeit zu richtigem Handeln. Das Motto führt das Thema mittels eines impliziten Vergleichs (›formaler‹ Topos similitudo) zwischen der Vorausschau und dem Festziehen des Sattelgurts vor dem Reiten ein, der seinerseits auf ein in unterschiedlichen Varianten belegtes Sprichwort anspielt (wer nicht gürtet, bevor er reitet, fällt leicht; man muss erst satteln, bevor man reitet). Das Sprichwort ist wegen seines konkreten Inhalts ein ›materialer‹ Topos. Es veranschaulicht die abstrakten Begriffsbeziehungen, auf denen die topische Entfaltung des Themas im gesamten Kapitel in erster Linie beruht. Bei diesen Begriffsbeziehungen handelt es sich um eine Kombination der ›formalen‹ Topoi ›zeitlich Vorhergehendes‹ (antecedens) und ›zeitlich Folgendes‹ (consequens) mit den ›formalen‹ Topoi ›kausale Ursache‹ (causa) und ›kausale Folge‹ (effictum). Während jeder Logiker auf die Unterscheidung zwischen der zeitlichen Beziehung (vorher - nachher) und der kausalen Beziehung (Ursache - Folge) großen Wert legen würde, kommt es in der Rhetorik allein darauf an, dass das zeitlich Vorhergehende plausiblerweise als kausale Ursache verstanden werden kann. In der topischen Themenentfaltung ist der Unterschied zwischen zeitlich Vorhergehendem und kausal Verursachendem sowie zwischen zeitlich und kausal Folgendem deshalb meistens weniger wichtig als in der Logik. Im Fall der Vorausschau als Thema führt die Kombination der Topoi antecedens und causa sowie der Topoi consequens und effictum allerdings mitten in den Kern des Begriffs: Vorausschau bedeutet, vor dem Handeln zu überlegen, welche Folgen das Handeln verursachen wird. Die Toposkombination antecedens/ causa und consequens/ effictum zieht sich deshalb durch das ganze Kapitel. Sprichwörter gehörten neben Sentenzen bekannter Schriftsteller und literarischen Exempla zum humanistischen Sammelgut materialer Topoi. Erasmus empfahl ihre Aufzeichnung nicht nur Thema Motto TO PIK UND WAH R H E IT <?page no="318"?> 310 WI R K LI C HK E IT S KON S T RUK TION E N in ›De duplici copia‹, sondern veröffentlichte seit 1500 in mehreren, beständig erweiterten Auflagen eine lateinische Sprichwörter-Sammlung (›Adagia‹), die bis 1533 auf weit über 4000 Einträge anwuchs. Humanisten sammelten außer lateinischen auch volkssprachliche Sprichwörter, weil sie sie für in allen Sprachen verbreitete Kondensate eines praktischen Weisheits-Wissens neben der gelehrten Moralphilosophie hielten. Im ›Narrenschiff‹ kommen sie in ähnlich großer Fülle vor wie Exempla. Während Brants Exempla jedoch aus der Bibel und der antiken lateinischen Literatur stammen, bezog er Sprichwörter vor allem aus der Volkssprache, die dadurch - genauso wie durch das deutschsprachige ›Narrenschiff‹ selbst - als Medium praktischer Weisheit ausgewiesen wird. Die Holzschnitte nach den Motti sind in allen ›Narrenschiff‹-Kapiteln Bestandteile der topischen Themenentfaltung. In diesem Fall steht eine bildliche Umsetzung des im Motto zitierten Sprichworts im Mittelpunkt: Der Narr balanciert mit offenem Sattelgurt auf einem Esel als Symbol der Torheit. Die Pflanze vor dem Kopf des Esels verdankt sich einem ebenfalls in diversen Varianten belegten Sprichwort, dass Esel am liebsten Disteln fressen - also nicht zwischen Schlechtem und Gutem unterscheiden können. Eben dies war die traditionelle moralphilosophische Bedeutung von ›Torheit‹. So bildet der Holzschnitt mit dem Esel und der Distel den Oberbegriff zur mangelnden Vorausschau ab. Der Handgriff des Narren spielt möglicherweise satirisch auf das Sprichwort »Das Glück beim Schopf packen« an: Der Narr ergreift zu seinem Schaden die Torheit. Die fruchtbare Szenerie im Hintergrund ist der Gegensatz (contrarium) zum steinigen Boden mit der Distel, auf dem der Esel steht - die nützliche Weisheit im Unterschied zur schädlichen Torheit. Die Stadt auf dem Berg, die sich über der fruchtbaren Landschaft erhebt, könnte dann das himmlische Jerusalem als Symbol der ewigen Glückseligkeit sein, dem letzten Ziel weisen Handelns. Wer also den Sattelgurt nicht festzieht, bevor er losreitet, und die Torheit statt der Weisheit beim Schopf packt, überlegt nicht vor dem Handeln, welche Folge sein Handeln verursachen wird: Am zeitlichen Ende seines diesseitigen Lebens wird nicht die ewige Glückseligkeit als kausale Folge seines diesseitigen Handelns stehen (antecedens/ causa - consequens/ effictum). Das Spruchgedicht führt das Thema weiter ›durch die Topoi‹: Mangelnde Vorausschau, der Unterbegriff (forma) zum Oberbegriff Holzschnitt Spruchgedicht <?page no="319"?> 311 (genus) Torheit, hat unbeabsichtigte Handlungsfolgen zur Konsequenz (V. 1-2). Vorausschau, nochmals mit dem Motto-Sprichwort ausgedrückt, ist der Gegensatz (contrarium) dazu (V. 3-4). Erst nach dem Handeln nachzudenken (V. 5-6) ist ein erster Unterbegriff mangelnder Vorausschau, erst während des Handelns nachzudenken (V. 7-10) ein davon unterscheidbarer zweiter (differentia zwischen Unterbegriffen). Das Nachdenken während des Handelns verspricht nur unter zwei Voraussetzungen (causae) Erfolg: Entweder aufgrund großer Lebenserfahrung (V. 8) oder wegen eines weiblichen Vorbilds (V. 9-10). Die Erfolgsträchtigkeit der zweiten Ursache ist ironisch gemeint, wie das anschließende Exempel zeigt: Der Sündenfall dient hier als biblisches Beispiel für schlechte Folgen männlichen Handelns ohne Vorausschau und Erfahrung auf den Rat einer Frau hin (V. 11-14). Die weiteren Exempla liefern mittels Wiederholung einerseits die zum humanistischen Topik-Konzept gehörende ›zweifache Fülle‹ des Ausdrucks und des Inhalts, indem sie mehrere Fälle schlechter Folgen mangelnder Vorausschau in Erinnerung rufen. Andererseits spielen sie verschiedene Ursachen für mangelnde Vorausschau durch und dienen damit der weiteren topischen Differenzierung des Themas. Um das zu verstehen, müssen ›Narrenschiff‹-Rezipienten die Beispielgeschichten, auf die Brant lediglich anspielt, allerdings schon kennen: (V. 15-18) Der syrische König Tryphon bringt den jüdischen Feldherrn Jonathan durch vorgespielte Freundlichkeit und Geschenke dazu, den größten Teils seines Heers abrücken zu lassen, woraufhin Jonathan und der Rest des Heers von Tryphons Truppen getötet werden (1 Makkabäer 12, 39-52): Die mangelnde Vorausschau als Ursache für Jonathans Tod beruht auf seiner falschen Deutung der Geschenke Tryphons. (V. 19-24) Julius Caesar erhielt kurz vor seiner Ermordung auf dem Weg zum Senat ein Schreiben zugesteckt, das ihn über den Mordplan seiner Feinde informieren sollte, las es jedoch nicht gleich (Sueton: ›De vita Caesarum‹, Caesar-Vita, Kap. 81,4): Die Ursache der mangelnden Vorausschau ist Brants ausdrücklicher Deutung zufolge der Frieden, in dem man weniger als im Krieg mit Gefahren rechnet. (V. 25-28) Der griechische Feldherr Nikanor unternahm siegessicher einen Angriff auf Jerusalem und plante vorher schon, ein Siegesdenkmal errichten zu lassen. Er wurde jedoch vom TO PIK UND WAH R H E IT <?page no="320"?> 312 WI R K LI C HK E IT S KON S T RUK TION E N jüdischen Feldherrn Judas Makkabäus geschlagen und fiel in der Schlacht. Judas ließ der Leiche Kopf und Hand abschlagen sowie die Zunge herausschneiden, diese den Vögeln vorwerfen und den Kopf in Jerusalem ausstellen (2 Makkabäer 14-15): Zur Deutung spielt Brant auf das Sprichwort an, dass man das Wild nicht verkaufen soll, bevor man es gefangen hat. Die Ursache der mangelnden Vorausschau war demnach Nikanors Siegesgewissheit, die ihn zur Fehleinschätzung der Stärke seines Gegners verleitete. Vor dem letzten Exempel wiederholt Brant die Topos-Kombination antecedens/ causa - consequens/ effictum, die den Begriff der Vorausschau und seinen Gegensatz charakterisiert: Rechtzeitiges Planen ist die Ursache für den Handlungserfolg (V. 29-30), übereiltes Handeln die Ursache für den Misserfolg (V. 31-32). Exemplifiziert wird danach Schnelligkeit als Ursache für den eigenen Tod oder, allgemeiner formuliert, übereiltes Handeln als Ursache eigenen Schadens (V. 33-34): Während des Kriegs zwischen den Königreichen Juda und Israel in der Zeit von König David verfolgte der junge jüdische Krieger Asahel »schnellfüßig wie eine Gazelle« den israelitischen Feldherrn Abner, der eine weitere Eskalation des Konflikts verhindern wollte und Asahel aufforderte, die Verfolgung einzustellen. Als Asahel nicht darauf einging, erstach Abner ihn mit seiner Lanze (2 Samuel 2, 12-23). In den abstrakten Begriffsbeziehungen, den konkreten Beispielen und den sprichwörtlichen Formulierungen besteht die Ordnung des Wissens und die des Textes gleichermaßen. Wie vor allem die Beispiele vor Augen führen, beruht das moralphilosophische Wissen auf der Erkenntnis von praktischen Wahrheiten, die über die Zeit hinweg unverändert bleiben: Was Weisheit und Torheit, richtiges und falsches Handeln ist, steht in der Bibel und in der antiken Literatur - hier der Geschichtsschreibung, in anderen ›Narrenschiff‹-Kapiteln ebenso der Dichtung -, und die Sprichwörter überliefern es mündlich. Je mehr exemplarische Erzählungen und Sprichwörter man kennt und je besser man sie nach topischen Begriffsbeziehungen ordnet, umso sicherer kann man den Unterschied zwischen richtigem und falschem Handeln erkennen - und umso erfolgreicher handeln. Topik ist das universale Instrument sowohl der Erkenntnis als auch der ihrer Vermittlung dienlichen Textproduktion: Indem die Themenentfaltung topisch verfährt, plausibilisiert sie die Wahrheit der Erkenntnis, die im topisch geordneten Wissen besteht. Topik als Ordnung des Wissens und Ordnung des Textes <?page no="321"?> 313 Allerdings konnte die Topik nur der Garant für die textuell vermittelte Wahrheit sein, solange die Ordnung der sozialen Praxis als in ihren Grundprinzipien nicht veränderbar gedacht war. Nur wenn in Jonathans Israel und Caesars Rom dieselben Gesetzmäßigkeiten menschlichen Handelns galten wie in Brants Basel, vermochten Geschichten von Jonathan und Caesar Erkenntnisse über die richtige soziale Praxis in Basel um 1500 - oder an jedem beliebigen Ort zu jeder beliebigen Zeit - zu liefern. Brants ›Narrenschiff‹ vermittelt dem eigenen Anspruch nach keine moralischen ›Normen‹ im Sinn von Produkten historischer Traditionsbildung oder sozialer Übereinkunft, sondern macht allgemeingültige Kausalzusammenhänge zwischen Handlungsursachen und Handlungsfolgen erkennbar. Diese Kausalzusammenhänge hatte Gott in den biblischen Erzählungen offenbart. Weil sie allem menschlichen Handeln zu aller Zeit zugrunde lagen, konnte man sie auch mit der natürlichen Vernunft erkennen. Die bevorzugten Fundgruben dieser Erkenntnis waren für Humanisten die antike Literatur und die Sprichwortweisheit, die dieselbe Wahrheit enthielten wie die Bibel. In diesem Sinn kulminierte im humanistischen Topik-Konzept die alte Vorstellung von der einen Wahrheit über die als Ordnung geschaffene Wirklichkeit, die in einem geordneten Begriffssystem erfassbar war. Es gab im Zeitraum der älteren Literatur sowohl dieses - gerade von den europäischen Humanisten noch einmal besonders stark gemachte - Interesse an der einen, über alle Zeiten und Räume hinweg identischen Wahrheit als auch das Interesse für Spannungsverhältnisse zwischen unterschiedlichen diskursiven und praktischen Wissensordnungen. Zur ›Vormoderne‹ der modernen ›westlichen‹ Kultur gehört beides, das Streben nach der universalen Synthese und das Streben danach, Unterschiede zu behaupten und ihnen Geltung zu verschaffen. Beides haben wir übrigens nicht hinter uns gelassen, solange wir uns eine kulturelle Identität des ›Westens‹ vorstellen, gleichzeitig aber Pluralität für einen konstitutiven Bestandteil dieser Identität halten und an einen universalen Wert dieser Pluralität glauben. Beides erkennen zu wollen und dabei vielleicht den einen oder anderen eingeschliffenen Irrtum über unsere eigene Vergangenheit und die Traditionsbildungsprozesse, aus denen unsere Gegenwart hervorgegangen ist, zu überwinden, könnte eine Antwort auf die Frage ›Wozu ältere Literatur‹ sein. TO PIK UND WAH R H E IT <?page no="322"?> 314 314 Informationsmöglichkeiten und Literaturhinweise Wenn angeführte Online-Ausgaben nicht frei zugänglich sind, ermöglichen die Universitätsbibliotheken in der Regel den Zugriff. Für die Studienpraxis Hansjürgen Blinn: Informationshandbuch Deutsche Literaturwissenschaft. 4. Aufl. Frankfurt a. M. 2005. (Verzeichnis aller wichtigen Einführungen, Handbücher, Überblicksdarstellungen, Lexika, Wörterbücher, Bibliographien, Zeitschriften samt Abkürzungen, Bibliotheken, Archive, Datenbanken, Internet-Adressen, Akademien, Gesellschaften, Forschungseinrichtungen, Verbände, Gesellschaften.) Burkhard Moennighoff, Eckhardt Meyer-Krentler: Arbeitstechniken Literaturwissenschaft. 14. Aufl. München 2010. (Ratgeber für die praktischen Seiten des Studiums, unter anderem zum Verfassen von Referaten, Seminar- und Abschlussarbeiten.) Claudius Sittig: Arbeitstechniken Germanistik. 3. Aufl. Stuttgart 2013. Germanistik. Internationales Referatenorgan mit bibliographischen Hinweisen. Tübingen 1960 ff. http: / / www.degruyter.com/ view/ db/ germanistik (Wichtigstes Hilfsmittel zur Recherche sprach- und literaturwissenschaftlicher germanistischer Forschungsliteratur. Verzeichnet werden in den Jahrgangsbänden jeweils alle erschienenen Bücher und Aufsätze, geordnet nach Teilgebieten der germanistischen Sprach- und Literaturwissenschaft. Der Inhalt von Büchern wird in den meisten Fällen kurz referiert.) Bibliographie der deutschen Sprach- und Literaturwissenschaft. Frankfurt a. M. 1970 ff. http: / / www.bdsl-online.de (Die nach den früheren Herausgebern im Germanisten-Jargon auch ›Eppelsheimer-Köttelwesch‹ genannte Bibliographie verzeichnet wie die ›Germanistik‹ in Jahrgangsbänden die gesamte germanistische Fachliteratur, geordnet nach Fachgebieten. Da es hier keine Inhaltsreferate gibt, werden Bücher gewöhnlich etwas früher erfasst.) Kapitel 13 1. <?page no="323"?> 315 http: / / opac.regesta-imperii.de/ (Der ›RI-Opac‹ - Regesta Imperii Online Public Access Catalogue - ist eine alle einschlägigen Fachdisziplinen berücksichtigende Literaturdatenbank für die Forschung zum Gebiet des Heiligen Römischen Reichs bis zum Jahr 1806.) Informationen im Internet http: / / www.ubka.uni-karlsruhe.de/ kvk.html (Das wichtigste Internetangebot für das Studium besteht in den Katalogen und Datenbanken der Universitätsbibliotheken, über die man sich vor Ort informiert. Hingewiesen sei an dieser Stelle allein auf den ›Karlsruher Virtuellen Katalog‹ (KVK), der die Literaturrecherche in einer großen Zahl von Katalogen deutscher Bibliotheksverbünde sowie zahlreicher internationaler Bibliotheken ermöglicht.) http: / / www.mediaevum.de (Als »Das Internetportal zur deutschen und lateinischen Literatur im Mittelalter« bietet diese Website eine Vielzahl von Links unter anderem zu verschiedenen Möglichkeiten der Literaturrecherche, zu nationalen und internationalen Bibliothekskatalogen, zu Datenbanken (darunter die Online-Versionen der mittelhochdeutschen Wörterbücher) und Hilfsmitteln, zu digitalen Handschriften-, Inkunabel- und Miniaturen-Faksimiles, zu digitalisierten Editionen mittelalterlicher Texte, zu Studienliteratur und zu Internet-Adressen in mediävistischen Nachbarfächern. Was es an brauchbaren Internet-Angeboten im Umfeld der Älteren deutschen Literaturwissenschaft gibt, wird hier erfasst und zugänglich gemacht.) http: / / www.handschriftencensus.de (Der ›Handschriftencensus‹ verzeichnet handschriftliche Textzeugen deutschsprachiger mittelalterlicher Werke. Der Handschriftencensus ist nützlich, wenn man wissen möchte, wie ein bestimmter Text überliefert wurde und in welchen Bibliotheken Handschriften liegen.) http: / / www.manuscripta-mediaevalia.de (Die Seite ›Manuscripta Mediaevalia‹ ermöglicht den Zugang zu Digitalisaten und Katalogen von Handschriften in bundesdeutschen Bibliotheken.) http: / / www.e-codices.ch (›E-Codices‹ bietet als virtuelle Bibliothek Digitalisate mittelalterlicher und neuzeitlicher Handschriften in Schweizer Bibliotheken.) 2. IN F O RMATION IM INT E R N E T <?page no="324"?> 316 LIT E RAT U R HINW E I S E http: / / manuscripta.at (Diese Seite führt zu Digitalisaten mittelalterlicher Handschriften in österreichischen Bibliotheken.) http: / / www.gesamtkatalogderwiegendrucke.de (Der ›Gesamtkatalog der Wiegendrucke‹ verzeichnet Drucke des 15. Jahrhunderts und beschreibt sie.) http: / / www.bl.uk/ catalogues/ istc/ index.html (Der ›Incunabula Short Title Catalogue‹ der British Library verzeichnet weltweit erhaltene Drucke des 15. Jahrhunderts.) http: / / www.vd16.de/ (Das ›Verzeichnis der im deutschen Sprachbereich erschienen Drucke des 16. Jahrhunderts‹ (VD 16) verzeichnet alle bekannten, im deutschen Sprachgebiet gedruckten Bücher von 1501-1600.) http: / / www.adfontes.uzh.ch (›Ad fontes‹ erklärt anhand konkreter Beispiele den Umgang mit Quellen in Archiven und Bibliotheken, vermittelt paläographische Kenntnisse und leitet zur selbstständigen Transkribierung, Datierung und Beschreibung deutschsprachiger Handschriften an.) Sprachgeschichte, Wörterbücher und Grammatiken Wilhelm Schmidt u.-a.: Geschichte der deutschen Sprache. Ein Lehrbuch für das germanistische Studium. 11. Aufl. Stuttgart 2013. Hans Ulrich Schmid: Einführung in die deutsche Sprachgeschichte. 2. Aufl. Stuttgart 2013. Eugen Hill: Einführung in die historische Sprachwissenschaft des Deutschen. Darmstadt 2013. Stefan Sonderegger: Althochdeutsche Sprache und Literatur. Eine Einführung in das älteste Deutsch. Darstellung und Grammatik. 3. Aufl. Berlin, New York 2003. Alt- und Mittelhochdeutsch. Arbeitsbuch zur Grammatik der älteren deutschen Sprachstufen und zur deutschen Sprachgeschichte. Hg. v. Rolf Bergmann u.-a. 8. Aufl. Göttingen 2011. Hilkert Weddige: Mittelhochdeutsch. Eine Einführung. 8. Aufl. München 2010. Thordis Hennings: Einführung in das Mittelhochdeutsche. 3. Aufl. Berlin 2012. 3. <?page no="325"?> 317 Klaus-Peter Wegera u.- a.: Mittelhochdeutsch als fremde Sprache. Eine Einführung für das Studium der germanistischen Mediävistik. Berlin 2011. Frédéric Hartweg, Klaus-Peter Wegera: Frühneuhochdeutsch. Eine Einführung in die deutsche Sprache des Spätmittelalters und der frühen Neuzeit. 2. Aufl. Tübingen 2005. Rudolf Schützeichel: Althochdeutsches Wörterbuch. 7. Aufl. Berlin 2012. Althochdeutsches Wörterbuch. Im Auftrag der Sächsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig. Begr. v. Elisabeth Karg-Gasterstädt u. Theodor Frings. Hg. v. Rudolf Grosse u.-a. Berlin 1968 ff. Beate Hennig: Kleines Mittelhochdeutsches Wörterbuch. 6. Aufl. Tübingen 2014. (In der Übersetzungspraxis am leichtesten zu benutzendes mittelhochdeutsches Wörterbuch, verzeichnet allerdings nur einen begrenzten Wortschatz.) Matthias Lexer: Mittelhochdeutsches Taschenwörterbuch. 38. Aufl. Stuttgart 1992. (Der ›kleine Lexer‹ ist etwas umständlicher zu benutzen als das Wörterbuch von Beate Hennig, erfasst aber einen größeren Wortschatz, auch den frühneuhochdeutschen bis um 1500.) Mittelhochdeutsches Wörterbuch. Hg. v. Kurt Gärtner u.- a. Stuttgart 2006 ff. http: / / www.mhdwb-online.de/ (Neues, im Entstehen begriffenes Wörterbuch, das als historisches Belegwörterbuch den mittelhochdeutschen Wortschatz möglichst umfassend darstellen soll.) Matthias Lexer: Mittelhochdeutsches Handwörterbuch. 3 Bde. Leipzig 1869-1878, Reprint Stuttgart 1979. http: / / www.woerterbuchnetz.de/ Lexer (Den ›großen Lexer‹ benutzt man vor allem, wenn man nicht nur Bedeutungsangaben braucht, sondern auch die Kontexte sehen will, auf denen sie beruhen.) G.F. Benecke, W. Müller, F. Zarncke: Mittelhochdeutsches Wörterbuch. Leipzig 1854-1866. Reprint Stuttgart 1990. http: / / www.woerterbuchnetz.de/ BMZ (Immer noch das umfassendste mittelhochdeutsche Wörterbuch, allerdings alphabetisch nach Wortstämmen geordnet; durch die Online-Version wird die Suche vereinfacht.) Alfred Götze: Frühneuhochdeutsches Glossar. Berlin 7. Aufl. 1967. (Für die Übersetzungspraxis. Große Teile des frühmittelhochdeutschen Wortschatzes bis um 1500 findet man auch im kleinen und im großen Lexer, jedoch stets unter der mittelhochdeutschen Lautform der Wörter.) S P RAC HG E S C HI C H T E , WÖRT E R BÜC H E R UND G RAMMATIK E N <?page no="326"?> 318 LIT E RAT U R HINW E I S E Christa Baufeld: Kleines frühneuhochdeutsches Wörterbuch. Tübingen 1996. (Enthält einen relativ kleinen Wortschatz.) Frühneuhochdeutsches Wörterbuch. Hg. v. Robert R. Anderson u.- a. Berlin, New York 1989 ff. (Das ›große‹, im Erscheinen begriffene frühneuhochdeutsche Wörterbuch.) Jacob und Wilhelm Grimm: Deutsches Wörterbuch. 16 Bände. Leipzig 1854-1954, Reprint München 1984- Jacob und Wilhelm Grimm: Deutsches Wörterbuch. Neubearbeitung. Leipzig, Stuttgart 1983 ff. http: / / www.woerterbuchnetz.de/ DWB (Das Deutsche Wörterbuch erfasst nur den seit dem 16. Jahrhundert belegten Wortschatz, diesen jedoch in seiner gesamten Geschichte. Deshalb ist stets auch die Geschichte der Wörter in den älteren Sprachstufen detailliert dargestellt. Für Informationen über den Gebrauch von Wörtern und ihre Bedeutungsspektren auch im Alt-, Mittel- und Frühneuhochdeutschen ist ›der Grimm‹ unübertroffen.) Heinrich Tiefenbach: Altsächsisches Handwörterbuch. Berlin 2010. Wilhelm Braune: Althochdeutsche Grammatik. 15. Aufl. bearb. v. Ingo Reifenstein u. Richard Schrodt. 2 Bde. Tübingen 2004. Hermann Paul: Mittelhochdeutsche Grammatik. Neu bearb. v. Peter Wiehl u. Siegfried Grosse. 25. Aufl. Tübingen 2007. Robert P. Ebert, Oskar Reichmann: Frühneuhochdeutsche Grammatik. Tübingen 1993. Christoph Roth: Kurze Einführung in die Grammatik des Frühneuhochdeutschen. Heidelberg 2007. Einführungen in die ältere deutsche Literaturwissenschaft Fritz Peter Knapp: Grundlagen der europäischen Literatur des Mittelalters. Eine sozial-, kultur-, sprach-, ideen- und formgeschichtliche Einführung. Graz 2011. Heinz Sieburg: Literatur des Mittelalters. Berlin 2010. Meinolf Schumacher: Einführung in die deutsche Literatur des Mittelalters. Darmstadt 2010. Hilkert Weddige: Einführung in die germanistische Mediävistik. 7. Aufl. München 2008. Dorothea Klein: Mittelalter: Lehrbuch Germanistik. Stuttgart, Weimar 2006. Thomas Bein: Germanistische Mediävistik. Eine Einführung. 2. Aufl. Berlin 2005. 4. <?page no="327"?> 319 Germanistische Mediävistik. Hg. v. Volker Honemann. 2. Aufl. Münster 2000. Rüdiger Brandt: Grundkurs germanistische Mediävistik/ Literaturwissenschaft. Eine Einführung. München 1999. Kai Brenner: Literatur der Frühen Neuzeit. Reformation-- Späthumanismus-- Barock. Paderborn 2008. Andreas Keller: Frühe Neuzeit. Das rhetorische Zeitalter. Berlin 2008. Einführungen in mediävistische Nachbarfächer Sabine Buttinger: Das Mittelalter. 3. Aufl. Stuttgart 2012. Martina Hartmann: Mittelalterliche Geschichte studieren. 3. überarb. Aufl. Konstanz 2011. Harald Müller: Mittelalter. Berlin 2008. Hartmut Bookmann: Einführung in die Geschichte des Mittelalters. 8. Aufl. München 2007. Jörg Schwarz: Das europäische Mittelalter. 2 Bde. Stuttgart 2006. Michel Zink: Introduction à la littérature française du Moyen Âge. Paris 1993. Englische Übersetzung: Medieval French Literature: An Introduction. Über. v. David Staines und Jeff Rider. Binghampton 1995. Walter Berschin: Einleitung in die lateinische Philologie des Mittelalters (Mittellatein). Eine Vorlesung. Hg. v. Tino Licht. Heidelberg 2012. Karl Langosch: Mittellatein und Europa. Führung in die Hauptliteratur des Mittelalters. 2. Aufl. Darmstadt 1997. Martina Pippal: Kunst des Mittelalters- - eine Einführung. 3. Aufl. Wien, Köln 2010. Max Haas: Musikalisches Denken im Mittelalter. Eine Einführung. 2. Aufl. Bern, Berlin 2007. Alain de Libera: Die mittelalterliche Philosophie. München 2005. Volker Leppin: Theologie im Mittelalter. Leipzig 2007. 5. E IN FÜH RUNG E N IN ME DIÄVI S TI S C H E NAC HBAR FÄC H E R <?page no="328"?> 320 LIT E RAT U R HINW E I S E Literaturgeschichten Literaturgeschichten benutzt man vor allem, um sich schnell über das Standardwissen zu wichtigen Texten, Gattungen und Verfassern im literaturgeschichtlichen Zusammenhang zu informieren. Horst Brunner: Geschichte der deutschen Literatur des Mittelalters im Überblick. 6. Aufl. Stuttgart 2014. Peter Nusser: Deutsche Literatur. Eine Sozial- und Kulturgeschichte. Bd. 1. Vom Mittelalter bis zur Frühen Neuzeit. Darmstadt 2012. Dieter Kartschoke: Geschichte der deutschen Literatur im frühen Mittelalter. 3. Aufl. München 2000. Joachim Bumke: Geschichte der deutschen Literatur im hohen Mittelalter. 4. Aufl. München 2000. Thomas Cramer: Geschichte der deutschen Literatur im späten Mittelalter. 3. Aufl. München 2000. Wolfgang Haubrichs: Die Anfänge: Versuche volkssprachiger Schriftlichkeit im frühen Mittelalter (ca. 700-1050/ 60). 2. Aufl. Frankfurt a. M. 1995 (Geschichte der deutschen Literatur von den Anfängen bis zum Beginn der Neuzeit Band I, Teil 1). Gisela Vollmann-Profe: Wiederbeginn volkssprachiger Schriftlichkeit im hohen Mittelalter (1050/ 60-1160/ 70). 2. Aufl. Frankfurt a. M. 1994 (Geschichte der deutschen Literatur von den Anfängen bis zum Beginn der Neuzeit Band I, Teil II). L. Peter Johnson: Die höfische Literatur der Blütezeit (1160/ 70- 1220/ 30). Tübingen 1999 (Geschichte der deutschen Literatur von den Anfängen bis zum Beginn der Neuzeit Band II, Teil 1). Joachim Heinzle: Wandlungen und Neuansätze im 13. Jahrhundert (1220/ 30-1289/ 90). 2. Aufl. Frankfurt a. M. 1994 (Geschichte der deutschen Literatur von den Anfängen bis zum Beginn der Neuzeit Band II, Teil 2). Johannes Janota: Orientierung durch volkssprachliche Schriftlichkeit (1280/ 90-1380/ 90). Tübingen 2004 (Geschichte der deutschen Literatur von den Anfängen bis zum Beginn der Neuzeit Band III, Teil 1). Die deutsche Literatur im späten Mittelalter. Erster Teil. 1250-1350. Von Helmut de Boor. 5. Aufl. Neubearb. v. Johannes Janota. München 1997 (Geschichte der deutschen Literatur von den Anfängen bis zur Gegenwart. Dritter Band/ Erster Teil). Die deutsche Literatur im späten Mittelalter. Zweiter Teil. 1250-1370. Reimpaargedichte, Drama, Prosa. Hg. v. Ingeborg Glier. München 1987 (Geschichte der deutschen Literatur von den Anfängen bis zur Gegenwart. Dritter Band/ Zweiter Teil). 6. <?page no="329"?> 321 Die Literatur im Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit. Hg. v. Werner Röcke u. Marina Münkler. München, Wien 2004 (Hansers Sozialgeschichte der deutschen Literatur vom 16. Jahrhundert bis zur Gegenwart Band 1). Gottfried Willems: Geschichte der deutschen Literatur. Bd. 1. Humanismus und Barock. Stuttgart 2012. Early Modern German Literature 1350-1700. Hg. v. Max Reinhart. Rochester 2007. Fritz Peter Knapp: Die Literatur des Früh- und Hochmittelalters in den Bistümern Passau, Salzburg, Brixen und Trient von den Anfängen bis zum Jahre 1273. Graz 1994 (Geschichte der Literatur in Österreich 1). Fritz Peter Knapp: Die Literatur des Spätmittelalters in den Ländern Österreich, Steiermark, Kärnten, Salzburg und Tirol von 1273 bis 1439. Teilband 1. Die Literatur in der Zeit der frühen Habsburger bis zum Tod Albrechts II. 1358. Graz 1999 (Geschichte der Literatur in Österreich 2,1) Fritz Peter Knapp: Die Literatur des Spätmittelalters in den Ländern Österreich, Steiermark, Kärnten, Salzburg und Tirol von 1273 bis 1439. Teilband 2. Die Literatur zur Zeit der habsburgischen Herzöge von Rudolf IV. bis Albrecht V. (1358-1439). Graz 2004 (Geschichte der Literatur in Österreich 2,2). Reinhard Hahn: Geschichte der mittelalterlichen deutschen Literatur Thüringens. Köln 2012. Helmut Tervooren: Van der Masen tot op den Rijn. Ein Handbuch zur Geschichte der mittelalterlichen volkssprachlichen Literatur im Raum von Rhein und Maas. Berlin 2006. Autoren- und Werklexika Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon. 2. Aufl. Hg. v. Kurt Ruh u.-a. 14 Bde. Berlin, New York 1978-2008. (Abgekürzt 2 VL; als maßgebliches Autoren- und Werklexikon zur deutschen Literatur des Mittelalters wichtigstes Informationsmittel der älteren deutschen Literaturwissenschaft. Das ›Verfasserlexikon‹ erfasst alle deutschsprachigen Werke und die im deutschen Sprachraum entstandenen lateinischen Werke mit Ausnahme der humanistischen bis um 1500 mit dem Anspruch auf Vollständigkeit. Jeder Artikel enthält ein Verzeichnis der Forschungsliteratur.) Deutscher Humanismus 1480-1520. Verfasserlexikon. Hg. v. Franz Josef Worstbrock. 2. Bde. Berlin, New York 2008-2013. 7. AU TO R E N- UND W E R K L E XIKA <?page no="330"?> 322 LIT E RAT U R HINW E I S E (Erfasst als Ergänzungsband zum ›Verfasserlexikon‹ die dort ausgesparte Literatur von Humanisten aus dem deutschen Sprachraum.) Frühe Neuzeit in Deutschland 1520-1620. Literaturwissenschaftliches Verfasserlexikon. Hg. v. Wilhelm Kühlmann u.-a. Berlin 2011 ff. (Fortsetzung des ›Verfasserlexikons‹ zum 16. Jahrhundert.) Killy Literaturlexikon. Autoren und Werke des deutschsprachigen Kulturraums. Hg. v. Wilhelm Kühlmann. 2. Aufl. 13 Bde. Berlin 2008-2012. Verfasser-Datenbank. Autoren der deutschsprachigen Literatur und des deutschsprachigen Raums. Von den Anfängen bis zur Gegenwart. http: / / www.degruyter.com/ view/ db/ vdbo. (Bietet die drei Verfasserlexika und das Killy-Literaturlexikon in einer online durchsuchbaren Version. Der Zugang wird in der Regel über die Universitätsbibliotheken bereitgestellt.) Deutsches Literatur-Lexikon. Biographisch-bibliographisches Handbuch. Begr. v. Wilhelm Kosch. 3. Aufl. Bern, München 1968ff . (Maßgebliches germanistisches Autoren- und Werklexikon zur älteren und neueren Literatur mit weitem Literaturbegriff; Ergänzungsbände aktualisieren die älteren Artikel.) Kindlers Literatur Lexikon. Hg. v. Heinz Ludwig Arnold. 3. Aufl. 18 Bde. Stuttgart 2009. http: / / kll-online.de (Umfangreiches Werklexikon zur Weltliteratur, das die bedeutendsten Werke aus Belletristik und Sachliteratur aller Literatursprachen beschreibt.) Sach- und Personenlexika Sach- und Personenlexika bieten in erster Linie schnelle, leicht zugängliche Informationsmöglichkeiten, außerdem erste Einstiegsmöglichkeiten in die Forschungsliteratur zum jeweiligen Gegenstand. Wer sich frühzeitig mit ihnen vertraut macht, studiert besser. Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Hg. v. Klaus Weimar u.-a. 3 Bde. Berlin, New York 2007. (Abgekürzt RLW oder RL. Maßgebliches Lexikon zur Terminologie der älteren und neueren deutschen Literaturwissenschaft; die Artikel erläutern neben der Sachgeschichte jeweils auch die Begriffsgeschichte und verzeichnen wichtige Forschungsliteratur.) 8. <?page no="331"?> 323 Metzler Literatur-Lexikon. Begriffe und Definitionen. Hg. v. Günther u. Irmgard Schweikle. 3. Aufl. Stuttgart 2007. (Zur schnellen Information.) Literaturwissenschaftliches Lexikon. Grundbegriffe der Germanistik. Hg. v. Horst Brunner u. Rainer Moritz. 2. Aufl. Berlin 2006. (Ausführlichere Informationen zu wichtigen Begriffen.) Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie. Hg. v. Ansgar Nünning. Stuttgart, Weimar. 5. Aufl. 2013. (Zur schnellen Information über Begriffe wie ›Diskurs‹ oder ›Systemtheorie‹, enthält auch Artikel zu wichtigen Theoretikern wie Bourdieu oder Foucault.) Handbuch Literaturwissenschaft. Hg. v. Thomas Anz. Stuttgart, Weimar 2007. Enzyklopädie des Märchens. Handwörterbuch zur historischen und vergleichenden Erzählforschung. Hg. v. Kurt Rankeu.-a. Berlin1977-2015. (Abgekürzt EM. Der Titel ist irreführend; es handelt sich um das maßgebliche Sach- und Personenlexikon für alles, was mit Erzählen und Erzählliteratur zu tun hat-- also keineswegs nur für Märchen--, insbesondere auch für Stoffe und Motive.) Motif-Index of German Secular Narratives from the Beginning to 1400. Hg. v. Karin Lichtblau u.-a. 7 Bde. Berlin 2005-2010. Der Neue Pauly. Enzyklopädie der Antike. Hg. v. Hubert Cancik u. Helmuth Schneider. 16 Bde. Stuttgart, Weimar 1996-2003. (Informiert über antike Personen und Sachen sowie, in einer eigenen Abteilung, über das Fortwirken der Antike in Mittelalter und Neuzeit.) Reallexikon der Germanischen Altertumskunde. Begr. v. Johannes Hoops, neu hg. v. Heinrich Beck u.- a. 2. Aufl. Berlin, New York 1973-2008. Lexikon des Mittelalters. Hg. v. Robert Auty u.-a. 9 Bde. Zürich 1977- 1998. Reprint München 1999. (Abgekürzt LexMA. Informiert über mittelalterliche Personen und Sachen. Online-Zugang aus Universitätsnetzen unter http: / / apps. brepolis.net/ lexiema/ .) Enzyklopädie der Neuzeit. Hg. v. Friedrich Jaeger. Stuttgart 2005-2012. (Pendant zum ›Lexikon des Mittelalters‹.) Lexikon für Theologie und Kirche. 3. Aufl. Hg. v. Walter Kasper u.-a. 11 Bde. Freiburg i.Br. u.-a. 1993-2001. (Abgekürzt LThK. Katholisches Lexikon zu Personen und Sachen der Religions- und Kirchengeschichte.) Religion in Geschichte und Gegenwart. Handwörterbuch für Theologie und Religionswissenschaft. 4. Aufl. Hg. v. Hans Dieter Betz u.-a. Tübingen 1998-2007. (Abgekürzt RGG. Evangelisches Lexikon zu Personen und Sachen der Religions- und Kirchengeschichte.) S AC H- UND P E R S ON E NL E XIKA <?page no="332"?> 324 LIT E RAT U R HINW E I S E Die Musik in Geschichte und Gegenwart. 2. Aufl. Hg. v. Ludwig Finscher. Sachteil. 10 Bde. Kassel u.-a. 1994-1999. Personenteil. Kassel u.-a. 1999-2008. (Abgekürzt 2 MGG. Informiert ausführlich über Personen und Sachen der Musikgeschichte; von Literaturwissenschaftlern bei allen Fragen benutzt, in denen sich Musik und Literatur treffen - ein Beispiel ist das Phänomen bzw. der Artikel ›Lied‹.) The New Grove Dictionary of Music and Musicians. 2. Aufl. Hg. v. Stanley Sadie u.-a. 29. Bde. London 2001. http: / / www.oxfordmusiconline.com (Das große englischsprachige Nachschlagewerk der Musikwissenschaft. Mit dem ›Grove Music Online‹ ist auch eine digitale Version verfügbar.) Lexikon der christlichen Ikonographie. Hg. v. Wolfgang Braunfels. 8 Bde. Freiburg i.Br. 1968-1976. (Abgekürzt LcI. Informiert über Motive und ihre Bedeutungen in der bildenden Kunst: Hier erfährt man, welche Bedeutungen der Löwe haben kann und welche Symbole es für die Gottesmutter Maria gibt. Für Literaturwissenschaftler von Interesse, weil Löwen und Mariensymbole ebenso in der Literatur auftauchen.) Sabine Poeschel: Handbuch der Ikonographie. Sakrale und profane Themen der bildenden Kunst. 4. Aufl. Darmstadt 2011 Begriffsgeschichtliche Lexika Die großen begriffsgeschichtlichen Lexika gehören zu den wichtigsten Arbeits- und Informationsmitteln in den Kulturwissenschaften. Sie enthalten gewöhnlich ausführliche Artikel mit reichen Literaturangaben, die die Geschichte wichtiger Begriffe vorstellen. Begriffsgeschichtliche Lexika sind deshalb gewissermaßen die Enzyklopädien der kulturellen Diskurse und ihres Wandels: Hier erfährt man, welche Vorstellungen im Lauf der Zeiten mit einem bestimmten Begriff verbunden waren und wie sie sich verändert haben. Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland. Hg. v. Otto Brunner u.- a. 8 Bde. Stuttgart 1972-1997. (Abgekürzt GG oder GGB. Benutzt man bei allen kulturwissenschaftlichen Fragen, die den Bereich von Herrschaft und Politik berühren; 9. <?page no="333"?> 325 informiert beispielsweise darüber, wer wann was unter ›Freiheit‹ oder unter ›Volk‹ verstanden hat.) Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte. 2. Aufl. Hg. v. Albrecht Cordes u.-a. 6. Bde. Berlin 2004-2016. (Abgekürzt 2 HRG. Erfasst nicht nur den historischen Rechtswortschatz, sondern erklärt auch die rechtlichen Bedeutungen von Alltagswörtern wie etwa ›Mann‹ oder ›Ehe‹ und ihre Geschichte; für Literaturwissenschaftler von Nutzen, wenn ein Text rechtliche Bedeutungen ins Spiel bringt.) Historisches Wörterbuch der Philosophie. Hg. v. Joachim Ritter u.- a. 13 Bde. Basel 1971-2007. (Abgekürzt HWPh. Erfasst viele Begriffe aus den Gebieten der Geisteswissenschaften. Hier kann man beispielsweise nachschlagen, was Philosophen, Theologen und andere Gelehrte zu verschiedenen Zeiten unter ›Seele‹ verstanden haben.) Reallexikon für Antike und Christentum. Sachwörterbuch zur Auseinandersetzung des Christentums mit der antiken Welt. Hg. v. Theodor Klauser u.-a. Stuttgart 1950 ff. (Abgekürzt RAC. Dieses philosophisch-theologische begriffsgeschichtliche Wörterbuch benutzt man bei allen Fragen, die das Fortwirken der Antike im Christentum betreffen. Hier erfährt man beispielsweise unter dem Stichwort fatum, wie die antike Vorstellung vom Schicksal an die christliche der göttlichen Vorhersehung angepasst wurde.) Theologische Realenzyklopädie. Hg. v. Gerhard Krause u. Gerhard Müller. 36 Bde. Berlin, New York 1977-2004. (Abgekürzt TRE. Erfasst wie das ›Historische Wörterbuch der Philosophie‹ weite Bereiche der geisteswissenschaftlichen Terminologie; hier kann man sich beispielsweise ebenfalls über die Begriffsgeschichte von ›Seele‹ informieren. Der Schwerpunkt liegt aber auf der Geschichte der theologischen Diskurse.) Historisches Wörterbuch der Rhetorik. Hg. v. Gert Ueding. Tübingen 1992-2012. (Abgekürzt HWR. Wegen der Bedeutung der Rhetorik für die ältere Dichtung zugleich das maßgebliche Wörterbuch zur antiken, mittelalterlichen und frühneuzeitlichen poetologischen Terminologie und damit zur älteren Dichtungstheorie. Hier erfährt man beispielsweise, wer wann welche Vorstellungen davon hatte, was eine Metapher ist und leistet.) Ästhetische Grundbegriffe. Historisches Wörterbuch in sieben Bänden. Hg. v. Karheinz Barck u.-a. Stuttgart, Weimar 2000-2005. (Informiert über die kunsttheoretische und damit auch über die literaturtheoretische Terminologie seit dem 18. Jahrhundert, berücksichtigt dabei aber jeweils die Vorgeschichte der behandelten Begriffe - wie etwa ›Autor‹ oder ›Form‹ - seit der Antike. B E G R I F F S G E S C HI C H T LI C H E L E XIKA <?page no="334"?> 326 LIT E RAT U R HINW E I S E Literatur zu den einzelnen Kapiteln Die Reihenfolge der Literaturangaben entspricht jeweils der Reihenfolge der in den Kapiteln behandelten Themen und Texte. Kapitel 1 Horst Günther: Neuzeit, Mittelalter, Altertum. In: Historisches Wörterbuch der Philosophie Bd. 6 (1984), Sp. 781-798. Hans-Werner Goetz: Moderne Mediävistik. Stand und Perspektiven der Mittelalterforschung. Darmstadt 1999. Peter von Moos: Gefahren des Mittelalterbegriffs. Diagnostische und präventive Aspekte. In: Modernes Mittelalter. Neue Bilder einer populären Epoche. Hg. v. Joachim Heinzle. Frankfurt a. M., Leipzig 1994, S. 33-63. Manuel Braun (Hg.): Wie anders war das Mittelalter? Fragen an das Konzept der Alterität. Göttingen 2013. Christian Kiening: Zwischen Mittelalter und Neuzeit? Aspekte der Epochenschwellenkonzeption. In: Mitteilungen des Deutschen Germanistenverbandes 49 (2002), S. 264-277. Marcel Lepper u.-a. (Hg.): Entdeckung der frühen Neuzeit. Konstruktionen einer Epoche der Literatur- und Sprachgeschichte seit 1750. Stuttgart 2011. Friedrich Jaeger: Neuzeit als kulturelles Sinnkonzept. In: Handbuch der Kulturwissenschaften. Bd. 1. Grundlagen und Schlüsselbegriffe. Hg. v. Friedrich Jaeger u. Burkard Liebsch. Stuttgart, Weimar 2004, S. 506-531. Karlheinz Stierle: Francesco Petrarca. Ein Intellektueller im Europa des 14. Jahrhunderts. Heidelberg 2012. Kapitel 2 Werner Besch u.-a. (Hg.): Sprachgeschichte. Ein Handbuch zur Geschichte der deutschen Sprache und ihrer Erforschung. 2. Aufl. 2. Teilband. Berlin, New York 2000. Darin insbesondere folgende Beiträge: Dieter Greuenich: Soziokulturelle Voraussetzungen, Sprachraum und Diagliederung des Althochdeutschen, S. 1144-1155; Thomas Klein: Soziokulturelle Voraussetzungen und Sprachraum des Altniederdeutschen (Altsächsischen), S. 1241-1247; Ursula Rautenberg: Soziokulturelle Voraussetzungen und Sprachraum des Mittelhochdeutschen, S. 1294-1304; Robert Peters: Soziokulturelle Voraussetzungen und Sprachraum des Mittelniederdeutschen, S. 1409-1422; Hans-Joachim Solms: Soziokulturelle Voraussetzungen und Sprachraum des Frühneuhochdeutschen, S. 1513-1527. Peter Dinzelbacher, Werner Heinz: Europa in der Spätantike 300-600. Eine Kultur und Mentalitätsgeschichte. Darmstadt 2007. 10. <?page no="335"?> 327 Hans-Werner Goetz: Europa im frühen Mittelalter 500-1050. Stuttgart 2003. Franz Neiske: Europa im frühen Mittelalter 500-1050. Eine Kultur- und Mentalitätsgeschichte. Darmstadt 2006. Anton Grabner-Haider u.-a.: Kulturgeschichte des frühen Mittelalters. Von 500 bis 1200 n. Chr. Göttingen 2010. Michael Borgolte: Europa entdeckt seine Vielfalt 1050-1250. Stuttgart 2002. Peter Dinzelbacher: Europa im Hochmittelalter 1050-1250. Eine Kultur- und Mentalitätsgeschichte. Darmstadt 2003. Joachim Bumke: Höfische Kultur. Literatur und Gesellschaft im hohen Mittelalter. 11. Aufl. München 2005. Michael North: Europa expandiert 1250-1500. Stuttgart 2007. Johannes Grabmayer: Europa im späten Mittelalter 1250-1500. Eine Kultur- und Mentalitätsgeschichte. Darmstadt 2004. Günter Vogler: Europas Aufbruch in die Neuzeit 1500-1650. Stuttgart 2003. Thomas A. Brady u.- a. (Hg.): Handbook of European History in the Late Middle Ages, Renaissance and Reformation 1400-1600. 2 Bde. Leiden 1994-1995. Anette Völker-Rasor (Hg.): Frühe Neuzeit. 3. Aufl. München 2010. Bea Lundt: Europas Aufbruch in die Neuzeit 1500-1800. Eine Kultur- und Mentalitätsgeschichte. Darmstadt 2009. Richard van Dülmen: Kultur und Alltag in der Frühen Neuzeit. 3 Bde. 4. Aufl. München 2005. Paul Münch: Lebensformen in der frühen Neuzeit. Berlin 1998. Hans-Jörg Gilomen: Wirtschaftsgeschichte des Mittelalters. München 2014. Peter Kreutz: Recht im Mittelalter. Grundzüge der älteren europäischen Rechtsgeschichte. Ein Studienbuch. 2. Aufl. Berlin 2013. Arnold Angenendt: Geschichte der Religiosität im Mittelalter. 4. Aufl. Darmstadt 2009. Luise Schorn-Schütte: Die Reformation. Vorgeschichte-- Verlauf-- Wirkung. 5., erg. Aufl. München 2011. Thomas Kaufmann: Geschichte der Reformation. Frankfurt a. M. 2009. Ulrich Nonn: Mönche, Schreiber und Gelehrte. Bildung und Wissenschaft im Mittelalter. Darmstadt 2012. Martin Kintzinger: Wissen wird Macht. Bildung im Mittelalter. 2. Aufl. Ostfildern 2007. Notker Hammerstein (Hg.): Handbuch der deutschen Bildungsgeschichte. Bd. 1. 15. bis 17. Jahrhundert. Von der Renaissance und der Reformation bis zum Ende der Glaubenskämpfe. München 1996. Andreas Gardt (Hg.): Buchkultur und Wissensvermittlung im Mittelalter und Früher Neuzeit. Berlin 2011. LIT E RAT U R Z U D E N E INZ E LN E N KAPIT E LN <?page no="336"?> 328 LIT E RAT U R HINW E I S E Günther Böhme: Bildungsgeschichte des europäischen Humanismus. Darmstadt 1986. Paul Oskar Kristeller: Humanismus und Renaissance. 2 Bde. München 1974-1976. Gerlinde Huber-Rebenich (Hg.: ) Lehren und Lernen im Zeitalter der Reformation. Methoden und Funktionen. Tübingen 2012. Kapitel 3 Klaus Grubmüller: Sprache und ihre Verschriftlichung in der Geschichte des Deutschen. In: Sprachgeschichte. Ein Handbuch zur Geschichte der deutschen Sprache und ihrer Erforschung. 2. Aufl. Hg. v. Werner Besch u.-a. 1. Teilband. Berlin, New York 1998, S. 300-310. Manfred Günter Scholz: Die Entstehung volkssprachlicher Schriftkultur in Westeuropa. In: Schrift und Schriftlichkeit. Ein interdisziplinäres Handbuch internationaler Forschung. Hg. v. Hartmut Günther u. Otto Ludwig. 1. Halbband. Berlin, New York 1994, S. 555-572. Peter Stein: Schriftkultur. Eine Geschichte des Schreibens und Lesens. 2. Aufl. Darmstadt 2010. Werner Besch u.-a. (Hg.): Sprachgeschichte. Ein Handbuch zur Geschichte der deutschen Sprache und ihrer Erforschung. 2. Aufl. 2. Teilband. Berlin, New York 2000. Darin folgende Beiträge: Alexander Schwarz: Die Textsorten des Althochdeutschen, S. 1052-1060; Willy Sanders: Die Textsorten des Altniederdeutschen (Altsächsischen), S. 1103-1109; Hannes Kästner, Bernd Schirok: Die Textsorten des Mittelhochdeutschen, S. 1164-1179; Karl Hyldgaard-Jensen: Die Textsorten des Mittelniederdeutschen, S. 1247-1251; Hannes Kästner u.-a.: Die Textsorten des Frühneuhochdeutschen, S. 1355-1368. Mechthild Habermann (Hg.): Textsorten und Textallianzen um 1500. Ein Handbuch. Berlin 2009. Wolfgang Haubrichs, Herwig Wolfram: Theodiscus. In: Reallexikon der germanischen Altertumskunde Bd. 30 (2005), S. 421-433. Wolfgang Haubrichs (Hg.): Deutsch-- Wort und Begriff. Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik 24 (1994), Heft 94. Jürgen Fohrmann: Das Projekt der deutschen Literaturgeschichte. Entstehung und Scheitern einer nationalen Poesiegeschichtsschreibung zwischen Humanismus und deutschem Kaiserreich. Stuttgart 1989. Ernst Robert Curtius: Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter. Bern 1948. 11. Aufl. Tübingen, Basel 1993. Walter J. Ong: Oralität und Literalität. Die Technologisierung des Wortes. Opladen 1987. Ursula Schaefer: Zum Problem der Mündlichkeit. In: Modernes Mittelalter. Neue Bilder einer populären Epoche. Hg. v. Joachim Heinzle. Frankfurt a. M., Leipzig 1999, S. 357-375. <?page no="337"?> 329 Rosamond McKitterick: Books, Scribes and Learning in the Frankish Kingdoms, 6th-9th Centuries. Aldershot: 1994. Dennis Green: Medieval Listening and Reading. Cambridge 1994. Horst Wenzel: Hören und Sehen, Schrift und Bild. Kultur und Gedächtnis im Mittelalter. München 1995. Wissensliteratur im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit. Bedingungen, Typen, Publikum, Sprache. Hg. von Horst Brunner und Norbert Richard Wolf. Wiesbaden 1993. Eike von Repgow: Der Sachsenspiegel. Hg. v. Clausdieter Schott. 3. Aufl. Zürich 1996 (Niederdeutsch mit Übersetzung). Sachsenspiegel. Landrecht und Lehnrecht. Hg. v. Friedrich Ebel. Stuttgart 2012 (Mitteldeutsch). Heiner Lück: Über den Sachsenspiegel. Entstehung, Inhalt und Wirkung des Rechtsbuches. 2. Aufl. Dössel 2005. Gott ist selber Recht. Die vier Bilderhandschriften des Sachsenspiegels. Ausstellungskatalog. 2. Aufl. Wolfenbüttel 1993. Christa Bertelsmeier-Kierst: Kommunikation und Herrschaft. Zum volkssprachlichen Verschriftlichungsprozess des Rechts im 13. Jahrhundert. Stuttgart 2008. Die Luther-Bibel von 1534. Kolorierte Faksimileausgabe. Hg. v. Stephan Füssel. 2 Bde. Köln 2012. D. Martin Luther: Die gantze Heilige Schrifft Deudsch. Wittenberg 1545. Hg. v. Hans Volz u. Heinz Blanke. Bonn 2004. Stefan Sonderegger: Geschichte deutschsprachiger Bibelübersetzungen in Grundzügen. In: Sprachgeschichte. Ein Handbuch zur Geschichte der deutschen Sprache und ihrer Erforschung. 2. Aufl. Hg. v. Werner Besch u.- a. 1. Teilband. Berlin, New York 1998, S. 229-284. Freimut Löser: Deutsche Bibelübersetzungen im 14. Jahrhundert. 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In: Die deutsche Literatur im späten Mittelalter. Zweiter Teil. 1250-1370. Reimpaargedichte, Drama, Prosa. Hg. v. Ingeborg Glier. München 1987, S. 306-370. René Wetzel (Hg.): Die Predigt im Mittelalter zwischen Mündlichkeit, Bildlichkeit und Schriftlichkeit. Zürich 2010. Regina Schiewer (Hg.): Die deutsche Predigt um 1200. Ein Handbuch. Berlin 2008. Hans-Jochen Schiewer: German Sermons in the Middle Ages. In: The Sermon. Hg. v. Beverly M. Kienzle. Turnhout 2000, S. 115-142. Günther Lanczkowski u.- a.: Heilige/ Heiligenverehrung. In: Theologische Realenzyklopädie Bd. 14 (1986), S. 641-672. Edith Feistner: Historische Typologie der deutschen Heiligenlegende des Mittelalters von der Mitte des 12. Jahrhunderts bis zur Reformation. Wiesbaden 1995. Andreas Hammer: Erzählen von Heiligen. Narrative Inszenierungsformen von Heiligkeit im Passional. Berlin 2015. Der deutsche »Lucidarius«. Hg. von Dagmar Gottschall u.- a. 3. Bde. Berlin 1994. Robert Luff: Wissensvermittlung im europäischen Mittelalter. ›Imago Mundi‹-Werke und ihre Prologe. Tübingen 1999. (Zum ›Lucidarius‹.) Klaus Grubmüller: Meister Esopus. Untersuchungen zu Geschichte und Funktion der Fabel im Mittelalter. Zürich, München 1977. Otfrid Ehrismann: Fabeln, Mären, Schwänke und Legenden im Mittelalter. Eine Einführung. Darmstadt 2011. Geert H. M. Claassens u.- a. (Hg.): Germania Litteraria Mediaevalis Francigena. Handbuch der deutschen und niederländischen mittelalterlichen Sprache, Formen, Motive, Stoffe und Werke französischer Herkunft (1100-1300). 7 Bde. Berlin, Boston 2010-2014. (Bd. 1: Die Rezeption lateinischer Wissenschaft, Spiritualität, Bildung und Dichtung aus Frankreich; Bd. 2: Sprache und Verskunst; Bd. 3: Lyrische Werke; Bd. 4: Historische und religiöse Erzählungen; Bd. 5: Höfischer Roman in Vers und Prosa; Bd. 6: Kleinepik, Tierepik, Allegorie und Wissensliteratur.) Gaby Herchert: Einführung in den Minnesang. Darmstadt 2010. Gert Hübner: Minnesang im 13. Jahrhundert. Eine Einführung. Tübingen 2008. Bernd Bastert: Helden als Heilige. Chanson de geste-Rezeption im deutschsprachigen Raum. Tübingen, Basel 2010. Thordis Hennings: Französische Heldenepik im deutschen Sprachraum. Die Rezeption der Chansons de Geste im 12. und 13. Jahrhundert. Heidelberg 2008. <?page no="339"?> 331 Susanne Friede u. Dorothea Kullmann (Hg.): Das Potenzial des Epos. Die altfranzösische Chanson de geste im europäischen Kontext. Heidelberg 2012. Elisabeth Lienert: Deutsche Antikenromane des Mittelalters. Berlin 2001. Wolfgang Achnitz: Deutschsprachige Artusdichtung des Mittelalters. Eine Einführung. Berlin, Boston 2012. Volker Mertens: Der deutsche Artusroman. Stuttgart 2007. Rudolf Simek: Artus-Lexikon. Mythos und Geschichte, Werke und Personen der europäischen Artusdichtung. Stuttgart 2012. Christoph Huber: Gottfried von Straßburg: Tristan. 3. Aufl. Berlin 2013. Tomas Tomasek: Gottfried von Straßburg. Stuttgart 2007. Romane des 15. und 16. Jahrhunderts. Nach den Erstdrucken mit sämtlichen Holzschnitten hg. v. Jan-Dirk Müller. Frankfurt a. M. 1990. Thüring von Ringoltingen: Melusine (1456). Nach dem Erstdruck Basel: Richel um 1473/ 74. Hg. v. André Schnyder u.- a. 2 Bde. Wiesbaden 2006. Manuel Braun: Historie und Historien. In: Die Literatur im Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit. Hg. v. Werner Röcke u. Marina Münkler. München, Wien 2004, S. 317-361, 649-653. Werner Röcke: Fiktionale Literatur und literarischer Markt. Schwankliteratur und Prosaroman. In: Die Literatur im Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit. Hg. v. Werner Röcke u. Marina Münkler. München, Wien 2004, S. 463-506. Lorenz Böninger: Die deutsche Einwanderung nach Florenz im Spätmittelalter. Leiden, Boston 2006 (zu Arigo). Luisa Rubini Messerli: Boccaccio deutsch. Die Dekameron-Rezeption in der deutschen Literatur (15.-17. Jahrhundert). 2 Bde. Amsterdam 2012. Kapitel 4 Craig Kallendorf u.-a.: Dichtung. In: Historisches Wörterbuch der Rhetorik Bd. 2 (1994), Sp. 676-736. Rainer Rosenberg: Literarisch/ Literatur. In: Ästhetische Grundbegriffe Bd. 3 (2010), S. 665-693. Stefanie Arend: Einführung in Rhetorik und Poetik. Darmstadt 2012. Quintus Horatius Flaccus: Ars Poetica. Die Dichtkunst. Lateinisch/ Deutsch. Übers. u. hg. v. Eckart Schäfer. Stuttgart 2011. Manfred Fuhrmann: Die Dichtungstheorie der Antike. Aristoteles- - Horaz-- ›Longin‹. Eine Einführung. Düsseldorf 2003. Roman Müller: Antike Dichtungslehre. Themen und Theorien. Tübingen 2012. Manfred Fuhrmann: Die antike Rhetorik. Eine Einführung. 6. Aufl. Düsseldorf 2011. LIT E RAT U R Z U D E N E INZ E LN E N KAPIT E LN <?page no="340"?> 332 LIT E RAT U R HINW E I S E Aurelius Augustinus: Die christliche Bildung (De doctrina Christiana). Übersetzung, Anmerkungen und Nachwort von Karla Pollmann. Stuttgart 2013. Paul Klopsch: Einführung in die Dichtungslehren des lateinischen Mittelalters. Darmstadt 1980. Alastair J. Minnis (Hg.): The Cambridge History of Literary Criticism Vol. 2: The Middle Ages. Cambridge 2005. Rita Copeland u.-a. (Hg.): Medieval Grammar and Rhetoric. Language Arts and Literary Theory, AD 300-1475. Oxford 2009. (Galfrid von Vinsauf: ) Ernest Gallo: The Poetria nova and its sources in early rhetorical doctrine. Den Haag, Paris 1971 (Ausgabe mit englischer Übersetzung). Margaret F. Nims: Geoffrey of Vinsauf, Poetria nova. Toronto 2010. Joachim Knape: Poetik und Rhetorik in Deutschland 1300-1700. Wiesbaden 2006. Walter Haug: Literaturtheorie im deutschen Mittelalter. 2. Aufl. Darmstadt 2009. Fritz Peter Knapp: Historie und Fiktion in der mittelalterlichen Gattungspoetik. Sieben Studien und ein Nachwort. Heidelberg 1997. Fritz Peter Knapp: Historie und Fiktion in der mittelalterlichen Gattungspoetik II. Zehn neue Studien und ein Vorwort. Heidelberg 2005. Sonja Glauch: Fiktionalität im Mittelalter. In Fiktionalität. Ein interdisziplinäres Handbuch. Hg. v. Tobias Klauk u. Tilmann Köppe. Berlin 2014, S. 385-418. Sonja Glauch: An der Schwelle zur Literatur. Elemente einer Poetik des höfischen Erzählens. Heidelberg 2009. Mittelhochdeutsche Sangspruchdichtung des 13. Jahrhunderts. Mhd./ Nhd. Hg. u. übers. v. Volker Schupp u. Theodor Nolte. Stuttgart 2011. Helmut Tervooren: Sangspruchdichtung. 2. Aufl. Stuttgart 2001. Meisterlieder des 16. bis 18. Jahrhunderts. Hg. v. Eva Klesatschke u. Horst Brunner. Tübingen 1993. Glyn P. Norton (Hg.): The Cambridge History of Literary Criticism Vol. 3: The Renaissance. Cambridge 1999. Volkhard Wels: Der Begriff der Dichtung in der Frühen Neuzeit. Berlin 2009. Jörg Robert: Konrad Celtis und das Projekt der deutschen Dichtung. Studien zur humanistischen Konstitution von Poetik, Philosophie, Nation und Ich. Tübingen 2003. Julius Caesar Scaliger: Poetices libri septem. Sieben Bücher über die Dichtkunst. Hg., übersetzt, eingeleitet u. erläutert v. Luc Deitz u. Gregor Vogt-Spira. 6 Bde. Stuttgart-Bad Cannstadt 1994-2011. <?page no="341"?> 333 Joachim Vadianus: De poetica et carminis ratione. Kritische Ausgabe mit deutscher Übersetzung und Kommentar von Peter Schäffer. 3 Bde. München 1976. Philipp Melanchthon: Glaube und Bildung. Texte zum christlichen Humanismus. Lateinisch/ deutsch. Ausgew., übers. u. hg. v. Günter R. Schmidt. Stuttgart 2004. Ursula Schaefer: Vokalität. Altenglische Dichtung zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit. Tübingen 1992. Paul Zumthor: Die Stimme und die Poesie in der mittelalterlichen Gesellschaft. München 1994. Hêliand. Text and Commentary. Hg. v. James E. Cathey. Morgantown 2002. Albert B. Lord: The Singer of Tales. Cambridge 1960. Milman Parry: The Making of Homeric verse. The Collected Papers of Milman Parry. Hg. v. Adam Parry. Oxford 1971. Johann Gottfried Herder: Abhandlung über den Ursprung der Sprache. In: Johann Gottfried Herder: Werke. Bd. 1. Frühe Schriften 1764-1772. Hg. v. Ulrich Gaier. Frankfurt a. M. 1985. Johann Gottfried Herder: Werke. Bd. 3. Volkslieder, Übertragungen, Dichtungen. Hg. v. Ulrich Gaier. Frankfurt a. M. 1990. Christel Meier, Martina Wagner-Egelhaaf (Hg.): Autorschaft. Ikonen, Stile, Institutionen. Berlin 2011. Alastair J. Minnis: Medieval Theory of Authorship. Scholastic Literary Attitudes in the Later Middle Ages. 2. Aufl. Philadelphia 2010. Monika Unzeitig: Autorname und Autorschaft. Bezeichnung und Konstruktion in der deutschen und französischen Erzählliteratur des 12. und 13. Jahrhunderts. Berlin 2010. Ursula Peters: Das Ich im Bild. Die Figur des Autors in volkssprachigen Bilderhandschriften des 13. bis 16. Jahrhunderts. Köln 2008. Rüdiger Schnell: Autor und Werk im deutschen Mittelalter. In: Wolfram-Studien 15 (1998), S. 12-73. Sandra Linden, Christopher Young (Hg.): Ulrich von Liechtenstein. Leben-- Zeit-- Werk-- Forschung. Berlin, Neyw York 2010. Oswald von Wolkenstein: Lieder. Frühneuhochdeutsch/ Neuhochdeutsch. Ausgewählte Texte hg., übers. u. komm. v. Burghart Wachinger. Melodien u. Tonsätze hg. u. komm. v. Horst Brunner. Stuttgart 2007. Ulrich Müller, Margarete Springeth (Hg.): Oswald von Wolkenstein. Leben-- Werk-- Rezeption. Berlin, New York 2011. Sebastian Brant: Das Narrenschiff. Studienausgabe. Mit allen 114 Holzschnitten des Drucks Basel 1494. Hg. v. Joachim Knape. Stuttgart 2005. LIT E RAT U R Z U D E N E INZ E LN E N KAPIT E LN <?page no="342"?> 334 LIT E RAT U R HINW E I S E Manuel Braun: Historie und Historien. In: Die Literatur im Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit. Hg. v. Werner Röcke u. Marina Münkler. München, Wien 2004, S. 317-361. Romane des 15. und 16. Jahrhunderts. Nach den Erstdrucken mit sämtlichen Holzschnitten hg. v. Jan-Dirk Müller. Frankfurt a. M. 1990. Fortunatus. Studienausgabe nach der Editio princeps von 1509. Hg. v. Hans-Gert Roloff. Stuttgart 2011. Historia von D. Johann Fausten. Text des Druckes von 1587. Mit Zusatztexten der Wolfenbütteler Handschrift und der zeitgenössischen Drucke. Hg. v. Stephan Füssel u. Hans Joachim Kreutzer. Stuttgart 2012. Marina Münkler: Narrative Ambiguität. Die Faustbücher des 16. bis 18. Jahrhunderts. Göttingen 2011. Kapitel 5 Sabine Griese u.- a.: Die Leseliste. Kommentierte Empfehlungen. 3. Aufl. Stuttgart 2010. Wulf Segebrecht: Was sollen Germanisten lesen? Ein Vorschlag. 3. Aufl. Berlin 2006. Manfred Fuhrmann: Der europäische Bildungskanon. Frankfurt a. M. 2004. Harold Bloom: The Western Canon. New York 1994. Renate von Heydebrand (Hg.): Kanon-- Macht-- Kultur. Theoretische, historische und soziale Aspekte ästhetischer Kanonbildungen. Hg. v. Stuttgart, Weimar 1998. Gabriele Rippl, Simone Winko (Hg.): Handbuch Kanon und Wertung. Theorien, Instanzen, Geschichte. Hg. v. Stuttgart 2013. Matthias Freise (Hg.): Wertung und Kanon. Heidelberg 2010. Zu den Texten der Lektüreliste sind im Folgenden Einführungen angegeben. Wo solche nicht existieren, stehen Hinweise auf einführende Kapitel aus einer Literaturgeschichte oder ein bis zwei jüngere Forschungsbeiträge, die den Einstieg in die Forschungsliteratur ermöglichen. Nicht eigens aufgelistet sind die einschlägigen Artikel in den unter 13.7 genannten Lexika. Hildebrandslied Victor Millet: Germanische Heldendichtung im Mittelalter. Eine Einführung. Berlin, New York 2008. Otfrid von Weißenburg Wolfgang Haubrichs: Die Anfänge: Versuche volkssprachiger Schriftlichkeit im frühen Mittelalter (ca. 700-1050/ 60). Frankfurt a. M. <?page no="343"?> 335 2 1995 (Geschichte der deutschen Literatur von den Anfängen bis zum Beginn der Neuzeit Band I, Teil 1), S. 260-312. König Rother Thomas Kerth: King Rother and His Bride. Quest and Counter-Quests. Rochester 2010. Sarah Bowden: Bridal-Quest Epics in Medieval Germany. A Revisionary Approach. London 2012. Armin Schulz: Erzähltheorie in mediävistischer Perspektive. Berlin, Boston 2012, S. 191-204 (zum Brautwerbungsschema). Rolandslied Bernd Bastert: Helden als Heilige. Chanson-de-geste-Rezeption im deutschsprachigen Raum. Tübingen 2010. Heinrich von Veldeke Elisabeth Lienert: Deutsche Antikenromane des Mittelalters. Berlin 2001. Minnesang Franz Josef Holznagel: Geschichte der deutschen Lyrik. Bd. 1. Mittelalter. Stuttgart 2013. Gaby Herchert: Einführung in den Minnesang. Darmstadt 2010. Gert Hübner: Minnesang im 13. Jahrhundert. Eine Einführung. Tübingen 2008. Walther von der Vogelweide Horst Brunner u.-a.: Walther von der Vogelweide. Epoche-Werk-Wirkung. 2. Aufl. München 2009. Otfrid Ehrismann: Einführung in das Werk Walthers von der Vogelweide. Darmstadt 2008. Manfred Günter Scholz: Walther von der Vogelweide. 2. Aufl. Stuttgart, Weimar 2005. Thomas Bein: Walther von der Vogelweide. Stuttgart 1997. Hartmann von Aue Wolfgang Achnitz: Deutschsprachige Artusdichtung des Mittelalters. Eine Einführung. Berlin 2012. Volker Mertens: Der deutsche Artusroman. 2. Aufl. Stuttgart 2007. Jürgen Wolf: Einführung in das Werk Hartmanns von Aue. Darmstadt 2007. Nibelungenlied Ursula Schulze: Das Nibelungenlied. 2. Aufl. Stuttgart 2013. Nine R. Miedema: Einführung in das ›Nibelungenlied‹. Darmstadt 2011. LIT E RAT U R Z U D E N E INZ E LN E N KAPIT E LN <?page no="344"?> 336 LIT E RAT U R HINW E I S E Jan-Dirk Müller: Das Nibelungenlied. 3. Aufl. Berlin 2009. Gottfried von Straßburg Christoph Huber: Gottfried von Straßburg: Tristan. 3. Aufl. Berlin 2013. Tomas Tomasek: Gottfried von Straßburg. Stuttgart 2007. Rüdiger Brandt: Einführung in das Werk Gottfrieds von Straßburg. Darmstadt 2012. Wolfram von Eschenbach Joachim Heinzle (Hg.): Wolfram von Eschenbach. Ein Handbuch. 2 Bde. Berlin 2011. Joachim Bumke: Wolfram von Eschenbach. 8. Aufl. Stuttgart, Weimar 2004. Michael Dallapiazza: Wolfram von Eschenbach. Parzival. Berlin 2009. Volker Mertens: Der Gral. Mythos und Literatur. Stuttgart 2003. John Greenfield, Lydia Miklautsch: Der ›Willehalm‹ Wolframs von Eschenbach. Eine Einführung. Berlin, New York 1998. Märendichtung Klaus Grubmüller: Die Ordnung, der Witz und das Chaos. Eine Geschichte der europäischen Novellistik im Mittelalter. Fabliau- - Märe-- Novelle. Tübingen 2006. Heinrich Wittenwiler Tobias Bulang: Enzyklopädische Dichtungen. Fallstudien zu Wissen und Literatur in Spätmittelalter und früher Neuzeit. Berlin 2011. Gert Hübner: Erzählung und praktischer Sinn. Heinrich Wittenwilers ›Ring‹ als Gegenstand einer praxeologischen Narratologie. In: Poetica 42 (2010), S. 215-242. Johannes von Tepl Albrecht Dröse: Poetik des Widerstreits. Konflikt und Transformation der Diskurse im ›Ackermann‹ des Johannes von Tepl. Heidelberg 2013. Oswald von Wolkenstein Ulrich Müller, Margarethe Springeth (Hg.): Oswald von Wolkenstein. Leben-- Werk-- Rezeption. Berlin, New York 2011. Thüring von Ringoltingen Thüring von Ringoltingen: Melusine (1456) nach dem Erstdruck Basel: Richel um 1473/ 74. Hg. v. André Schnyder u.- a. 2 Bde. Wiesbaden 2006 (mit Einführung, Erläuterungen und Bibliographie). Armin Schulz: Erzähltheorie in mediävistischer Perspektive. Berlin, Boston 2012, S. 214-241 (zum Mahrtenehen-Schema). <?page no="345"?> 337 Fortunatus Udo Friedrich: Providenz-- Kontingenz-- Erfahrung. Der Fortunatus im Spannungsfeld von Episteme und Schicksal in der Frühen Neuzeit. In: Erzählen und Episteme. Literatur im 16. Jahrhundert. Hg. v. Beate Kellner u.-a. Berlin, New York 2011, S. 125-156. Hans Holländer: Die Kugel der Fortuna. In: Das Mittelalter 1 (1996), Heft 1, S. 149-167 (zur Ikonographie der Fortuna als vorbeiziehendes Glück). Eulenspiegel Jürgen Schulz-Grobert: Das Straßburger Eulenspiegelbuch. Studien zu entstehungsgeschichtlichen Voraussetzungen der ältesten Drucküberlieferung. Tübingen 1999. Gert Hübner: Eulenspiegel und die historischen Sinnordnungen. Plädoyer für eine praxeologische Narratologie. In: Literaturwissenschaftliches Jahrbuch 53 (2012), S. 175-206. Faustbuch Marina Münkler: Narrative Ambiguität. Die Faustbücher des 16. bis 18. Jahrhunderts. Göttingen 2011. Lalebuch Gerd Dicke: Morus und Moros- - Utopia und Lalebuch: Episteme auf dem Prüfstand lalischer Logik. In: Erzählen und Episteme: Literatur im 16. Jahrhundert. Hg. v. Beate Kellner u.-a. Berlin; New York 2011, S. 197-224. Gert Hübner: Vom Scheitern der Nützlichkeit. Handlungskalküle und Erzählverfahren im ›Lalebuch‹. In: Zeitschrift für deutsche Philologie 127 (2008), S. 357-373. Kapitel 6 Werner Williams-Krapp: Die überlieferungsgeschichtliche Methode. Rückblick und Ausblick. In: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur 25 (2000), S. 1-21. Karl Löffler: Einführung in die Handschriftenkunde. Neu bearb. v. Wolfgang Milde. Stuttgart 1997. Karin Schneider: Paläographie und Handschriftenkunde für Germanisten. Eine Einführung. 3. Aufl. 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Kommentiert von Josef Endres CSSR. II-II 34-56. Graz u.-a. 1966 (Die deutsche Thomas-Ausgabe Bd. 17B) (›Summa theologiae‹ II-II 48-49 zur prudentia). Gaius Suetonius Tranquillus: Die Kaiserviten. De vita Caesarum. De viris illustribus. Berühmte Männer. Lateinisch-deutsch. Hg. u. übers. v. Hans Martinet. 4. Aufl. Düsseldorf 2014. LIT E RAT U R Z U D E N E INZ E LN E N KAPIT E LN <?page no="356"?> 348 348 Abb. 1: Nürnberg-Holzschnitt aus der ›Schedelschen Weltchronik‹, Nürnberg 1493; Bayerische Staatsbibliothek München, RAR. 787, fol. 99 v -100 r . Abb. 2: Textbeginn in der ›Nibelungenlied‹-Handschrift C, Badische Landesbibliothek Karlsruhe, Cod. Donaueschingen 63, fol. 1 r . Abb. 3: Vorrede des ›Sachsenspiegels‹ in der Handschrift W, Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel, Cod. Guelf. 3.1 Aug. 2 o , fol. 9 v . Abb. 4: Titelblatt der Lutherbibel, Wittenberg 1534, SLUB Dresden, S.B.102 Abb. 5: Miniatur zu den Liedern Konrads von Würzburg in der Manessischen Liederhandschrift (Codex Manesse), Universitätsbibliothek Heidelberg, Cod. Pal. germ. 848, fol. 383 r . Abb. 6: Anfang des 1. Kapitels (Büchernarr) von Sebastian Brants ›Narrenschiff‹, Basel 1494; aus: Sebastian Brant: Das Narrenschiff. Faksimile der Erstausgabe Basel 1494. Hg. v. Dieter Wuttke. Baden-Baden 1994, mit freundlicher Genehmigung des Verlags Valentin Koerner GmbH, Baden-Baden. Abb. 7: Dame nimmt mit der Rechtsgeste der ›Handreichung‹ ein Treuegelöbnis des Minnesängers entgegen. Miniatur zu den Liedern Berngers von Horheim in der Manessischen Liederhandschrift (Codex Manesse), Universitätsbibliothek Heidelberg, Cod. Pal. germ. 848, fol. 178r. Abb. 8: ›Der Ackermann‹ des Johannes von Tepl. Textbeginn in der Handschrift B, Universitätsbibliothek Heidelberg, Cod. Pal. germ. 76, fol. 2 r . Abb. 9: Titelblatt des ›Ulenspiegel‹-Drucks, Straßburg 1515; aus: Ein kurtzweilig Lesen von Dil Ulenspiegel. Nach dem Druck von 1515 mit 87 Holzschnitten. Hg. v. Wolfgang Lindow. Stuttgart 2003. Abb. 10: Miniatur zu den Liedern Walthers von der Vogelweide in der Manessischen Liederhandschrift (Codex Manesse), Universitätsbibliothek Heidelberg, Cod. Pal. germ. 848, fol. 124 r . Abb. 11: ›Parzival‹-Handschrift aus der Werkstatt von Diebold Lauber, Universitätsbibliothek Heidelberg, Cod. Pal. germ. 339, fol. 168 r . Abb. 12: Anfang des 1. Buchs Mose in der Gutenberg-Bibel, Mainz 1454; Niedersächsische Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen, www. gutenbergdigital.de. Abb. 13: Passage aus der Vorrede des ›Evangelienbuchs‹ Otfrids von Weißenburg in der Handschrift P, Universitätsbibliothek Heidelberg, Cod. Pal. lat. 52, fol. 9 v . Abb. 14: Der ›Reichston‹ Walthers von der Vogelweide in der Manessischen Liederhandschrift (Codex Manesse), Universitätsbibliothek Heidelberg, Cod. Pal. germ. 848, fol. 125 r . Abb. 15: Höfisches Liebespaar. Miniatur zu den Liedern Konrads von Altstetten in der Manessischen Liederhandschrift (Codex Manesse), Universitätsbibliothek Heidelberg, Cod. Pal. germ. 848, fol. 249 v . Abb. 16: Holzschnitt von 1532 zu Hans Sachs: ›Die hausmaid im pflug‹; aus: Hans Sachsens Dramen. Hg. v. Paul Merker u. Reinhard Buchwald. Leipzig 1924, S. 170. Abb. 17: Holzschnitt zur Novella III.3; aus: Giovanni Boccaccio: Dekameron. Venedig: Johannes und Gregorius de Gregoriis, 1492, f5v. http: / / digitale.beic. it/ primo_library/ libweb/ action/ search.do? dscnt=0&scp.scps=scope%3A%28TCOLL0 1%29%2Cscope%3A%28SITOG01%29& f r b g = & t a b = d e f a u l t _ t a b & d s t m p = 1435739377980&srt=rank&ct=search &mode=Basic&dum=true&indx=1&tb= Bildnachweis <?page no="357"?> 349 t&vl%28free Text0%29=de cameron+ Gregorio+de+Gregorii+fratelli%2C+ MCCCCLXXXXII&fn=search&vid=beic. Abb. 18: Physiologus-Einhorn; aus: Rochester Bestiary, London, British Library, Royal MS 12 F XIII. http: / / www.bl.uk/ manuscripts/ Viewer.aspx? ref=royal_ms_12_f_xiii_f003r (fol. 10v). Abb. 19: Physiologus-Biber; aus: Esopi appologi sive mythologi cum quibusdam carminum et fabularum additionibus Sebastiani Brant. Basel 1501. http: / / www.e-rara.ch/ bau_1/ content/ titleinfo/ 1722243 (Seite 396). Abb. 20: Christian Moritz Engelhardt: Herrad von Landsperg, Äbtissin zu Hohenburg, oder St. Odilien, im Elsass, im zwölften Jahrhundert und ihr Werk Hortus deliciarum. Stuttgart 1818, Tafel VIII. http: / / digi.ub.uni-heidelberg.de/ diglit/ engelhardt1818bd2/ 0008/ image? sid=d90ce76ffb57834f4e6951d60f54c6a2. Abb. 21: Brant, Sebastian: Das Narrenschiff. Basel : Johann Bergmann von Olpe, 1494.-- [158] Bl. Verwalter: Dresden: Sächsische Landesbibliothek - Staats- und Universitätsbibliothek Dresden (SLUB), Handschriftensammlung, Inv.-Nr.: Ink.394.4. Aufnahme: SLUB/ Dresdner Digitalisierungszentrum Dank Zahlreiche Verbesserungs- und Ergänzungsvorschläge für die zweite Auflage dieses Buchs stammen von Jodok Trösch, der auch die gesamte redaktionelle Arbeit auf sich genommen hat: Merci vielmal für beides. DANK <?page no="358"?> 350 350 Register Die fett gedruckten Seitenangaben verweisen auf Begriffsdefinitionen sowie grundlegende historische Sacherläuterungen. Abgesang 184-186 Abvers 173-175, 178-181, 188 Äquivalenz 199, 241 Äsop 59 f. Agricola, Rudolf 306 Akzentuierende Verse 169 f., 172, 174, 181, 187 f. Alberic von Bisinzo 63 Allegorischer Schriftsinn 298 f., 301, 303 Alterität 6 f., 12 Alternation 163 f., 181, 183, 190 Altfranzösisch 44, 60 f., 63-65, 100 f., 109 f., 126, 170 f., 181, 226, Althochdeutsch 10, 13, 16-18, 21, 37, 39, 54, 56 f., 69, 108, 173, 178, 300 Altniederdeutsch 13, 16-18, 21, 90, 173 Altsächsisch s. Altniederdeutsch Ambraser Heldenbuch 144-146 ›Amicus und Amelius‹ 226 f. Anagogischer Schriftsinn 298 Analogie 196, 200-201, 203, 291 f., 304 Antikenroman 63, 66, 81, 100, 110 Anvers 173 f., 178-180, 187-189 ›Archiv‹ der Kultur 243, 246 Argument, Argumentation 123, 194-196, 200, 230, 235 f., 240, 242-244, 246, 289, 293 f., 296, 303-305 Arigo, ›Dekameron‹ 68 Aristoteles 26, 74, 253 f., 278, 289, 295, 306 Artes liberales 56 f. Artusroman 22, 43 f., 65-67, 80, 114, 117 f., 146, 211-214 Assonanzreim 177 Aufbruch des 12. Jahrhunderts 23, 26, 57 Aufführungspraxis 92, 269 Aufgesang 184-186 Auftakt 180, 182, 185 Augustinus 10, 78, 249 f., 296 f. Autorschaft 35, 72, 78-80, 93, 95 f., 98 Avian 59 Bedeutung 2-10, 12, 81, 120, 193-197, 200, 202-205, 206-213, 216-219, 221-225, 229 f., 233, 235 f., 244, 272-276, 279-285, 287-290, 303 f., 310 Bedeutungspraktiken 287-290 Begrifflich-diskursives Wissen 212, 235 f., 266, 272, 275, 278, 281 Begriffliche Wissensordnung s. Episteme Begriffsbeziehungen 194-197, 199 f., 203, 241, 266, 282, 289, 291 f., 305 f., 309, 312 Benoît de Ste.-Maure 63 Beschwerte Hebung 180 f. Bettelorden 27, 52, 142 <?page no="359"?> 351 R E GI S T E R Bewertungsfunktion der Erzählinstanz 216 f. Bibelübersetzung 28, 52, 54 Blochziehen 271 f., 276, 279 f. Blockbuch 147 Boccaccio, Giovanni 29, 68, 269, 283-286 Boethius 57 Bonaventura 93, 100 Boncompagno da Signa 296 f. Boner, Ulrich, ›Der Edelstein‹ 59 f., 151 Bote, Hermann 128 Bourdieu, Pierre 278 f., 282 f. Brant, Sebastian, ›Das Narrenschiff‹ 96-98, 192, 305-313 Bretonischer Roman 63 f., 66, 81, 101, 116 Buchdruck 11, 13, 34, 36, 58, 67, 95-97, 99, 134, 144, 146-155, 247 Bußbücher 248, 251 f. ›Carmina Burana‹ 189 Cellerarius, Christoph 11 Chrétien de Troyes 65 f., 80-92, 114, 117 Cicero 33, 93, 148, 224 f., 290-292, 297, 306 ›Topica‹ 291 ›De inventione‹ 291, 297 ›Laelius de Amicitia‹ 224 f. Codex, 136 f., 144 Curtius, Ernst Robert 36 Darstellungsfunktion der Erzählinstanz 215, 217 ›Der Heiligen Leben‹ 58 f. Dichtungsbegriff 7, 69-103, 117, 168 f., 206, 247 Diskurs 14, 194, 212, 235-265, 266, 282, 286 Diskursanalyse 235-265, 282 Domschulen 25, 42 f., 48 Edition 134 f., 150, 155-166 ›Eggenziehen‹ 270 f., 274, 276, 282 f. Eike von Repgow, ›Sachsenspiegel‹ 50-52 Eilhart von Oberg, ›Tristan‹ 65 Einblattdruck 147, 154, 187 Einkehrspiel 269, 271, 273, 274, 282 Einzelhandschrift 137 Elisabeth von Nassau-Saarbrücken, ›Huge Scheppel‹ 67 Elision 185 Endreim, Endreimvers 90 f., 172, 175 Enjambement 183 Epideiktische Rede 295 Epilog 229 f., 271 Episteme 241, 247 Epochen 9-13, 23, Erasmus von Rotterdam 54, 305, 309 Erzählbezogene Funktion der Erzählinstanz 215 f. Erzählerische Vermittlung 214, 228, 232 Erzählerkommentar 216, 232 Erzählinstanz 214-216, 218 Erzählung 206-228 Ethos 196 f., 204 f., 229 Etzel 39 f., 57, 115 ›Eulenspiegel‹ 128-130, 269 Exemplarisches Erzählen 206, 210, 212, 215 f., 228-230, 234, 298, 312 Explizit-Formel 136 Explizites Wissen 236, 278 Fabel (Tierfabel) 59 f., 120, 148, 151, 154 Faksimile 155 Fastnacht, Fastnachtspiel 14, 96, 122, 130, 266-283 Figurenkonstruktion 47 Figurenrede 213, 217 f., 228 f., 232, 275 Fiktionalität 74, 103 <?page no="360"?> 352 R E GI S T E R Finale Handlungsmotivierung 213 f., 223, 228 f. Flugschrift 153 f. Foliierung 136 Folz, Hans 96, 98, 268 Formale Topoi 293, 306 ›Fortunatus‹ 102 f., 127 f. Foucault, Michel 236, 240-246 Friedrich von Hausen 111 Frühneuhochdeutsch 10, 13, 27 f., 99, 128, 157 f., 268 Füllungsfreiheit 174, 178, 180-183, 187 Galen 253 f. Galfrid von Vinsauf 80 Geistliches Spiel 267 Gemeines Deutsch 28 Genette, Gérard 208, 214-218 Geoffrey von Monmouth 65 Gervinus, Georg Gottfried 105 Geschichte (erzähltheoretisch) 208-214, 219-227, 229, 231, 233, 240 Geschichtsbegriff 4-13, 35, 41, 299 Geschlechterrollen 270, 275 Gewohnheitsrecht 50, 262-265 Gottfried von Straßburg, ›Tristan‹ 24, 64 f., 76 f., 80, 92, 95, 116 f., 144, 181, 214, 233 Große Heidelberger Liederhandschrift s. Manessische Liederhandschrift Grundherrschaft 18 f., 23 Gutenberg, Johannes 34, 144, 147-149 Habitus 278-280, 283 f., 286 Hadlaub, Johannes 138-140, 142 Hahn, Ulla 1-5, 8 f., 14, 261 Handlungsgründe 209, 211 f., 218-220, 222 f., 228, 276 Handlungswissen 210 f., 234, 272, 276-278, 281 f. Handlungsziele und Handlungsfolgen 114, 210, 211 f., 228, 282 Handschrift 134-146, 155-156 Hartmann von Aue 43 f., 47, 66, 76, 92, 111, 114 f., 146, 181, 201, 215 f. ›Armer Heinrich‹ 43 f., 201 ›Erec‹ 66, 114 f., 146 ›Iwein‹ 43 f., 47, 66, 92, 114 f., 146, 215 f. Heiligenlegende 57 f., 100, 226 f. Heilsgeschichte 194, 299 Heinrich VI., Kaiser 140, 203 Heinrich von Morungen 111, 185 Heinrich von München 100 Heinrich von Veldeke, ›Eneasroman‹ 63, 110 f., 181, 215 Heldenepik (schriftlich) 46, 63 f., 66, 95, 99-101, 109, 119, 146 Heldenlied (mündlich) 39-41, 47, 57, 86-91, 95, 107, 115 f., 173, 178 ›Heliand‹ 90 Herbort von Fritzlar, ›Trojaroman‹ 63 Herrschaft 17-19, 23, 25, 29, 42, 62, 66, 145 f., 201-203, 209-213, 219, 221-223, 229 f. Hiat 185 Hierarchisierung 199, 202, 241 Hieronymus 52 ›Hildebrandslied‹ 39, 90, 107, 173-175, 179 Hildebrandstrophe 186-189 Historia 87, 101-103, 126 ›Historia von D. Johann Fausten‹ 101 f., 130 f. Historische Diskursanalyse 244-246, 265 Historische Interpretation 195, 212, 245, 288 Höfisch 44, 60-62, 66, 81 Höfische Liebe 61, 66, 111, 122, 146, 233, 257-265, 293 Höfischer Diskurs 247 f., 256-256, 258-262, 264 f. <?page no="361"?> 353 R E GI S T E R Höfischer Reimpaarvers 181-183 Höfischer Roman 24, 43-47, 77, 80 f., 92, 95, 99, 119, 145 f., 156, 183, 215 f., 218, 229, 233 Hofkanzlei 42 f., 138 Hofkleriker 43, 81 Holzschnitt 98, 147, 151-153, 274, 285, 306, 310 Honorius Augustodunensis 59 Horaz 77 f., 80, 83, 103, 170 Humanismus 10-13, 33 f., 48, 60, 79, 96, 150, 154 f., 267, 288, 305 Hymnendichtung 175 f. Implizites Wissen 236, 277 f. Informationsregelung in Erzählungen 214, 217 Initiale 136 Inkunabel 148, 155 Interdiskurs 246 f. Investiturstreit 25 Inzipit 136 Isidor von Sevilla 75 Jacobus de Voragine 58 Johannes von Salisbury 203, 205 Johannes von Tepl, ›Der Ackermann‹ 123 f., 151 ›Jüngeres Hildebrandslied‹ 187 ›Kaiserchronik‹ 88 f., 137 Kanon 79, 81, 103-105 Kanonisches Recht s. Kirchenrecht Karl der Große 11, 16 f., 21, 64, 86, 90, 108 f., 119 Karolingische Bildungsreformen 16 f., 79, 136 Kausalbeziehung 194 f., 199 f., 203, 206, 241, 289, 298, 309 f., 313 Kausale Motivierung 228 f. 231-234 Kirche 12, 19, 25 f., 27, 32 f., 40, 52, 104, 118, 203, 247, 252, 288, 299 Kirchenlied 33, 189-191 Kirchenrecht 26, 50, 155, 248-253, 264 f. Kleine Heidelberger Liederhandschrift 160 Kleriker 19, 20, 22, 26 f., 32 f., 35, 38, 40, 42-44, 48, 52, 56-58, 64 f., 81, 86-88, 92, 109 f., 120, 137, 142 f., 148, 154, 188, 209, 248, 251 Klingende Kadenz 178-180, 182 f. Kloster 19, 39, 43, 48, 56 f., 79, 129, 133, 138, 142 f., 147, 269 Klosterschulen 19, 56, 79 Knittelvers 192, 204 ›König Rother‹ 108 f. Körper 198, 209, 226, 254, 257 f., 260-265 Kolophon 136, 150 Konjektur 158 f., 162 f. Konrad, ›Rolandslied‹ 64, 109 f., 117 Konrad von Würzburg, ›Engelhard‹ 14, 70, 156-159, 206, 212, 214 219-234, 258-260, 262-264, 293 f., 296, 302 Konsens-Ehe 252 Kontinuität 6 f., 12 f., 18, 23 Kürenberger 180 f. Kultur 5-14, 15 f., 18-34, 35 f., 41 f., 237-239 Kulturelle Praktik 266-286 Kulturelles Wissen 193, 195, 201-203, 204 f., 222, 224-227, 230 f., 234, 235-265, 287 Kupferstich 147 Kursächsische Kanzleisprache 28 Laien 19-21, 23, 26 f., 33, 37 f., 40, 43 f., 52 f., 56, 58, 79, 87, 110, 117, 251 f., 268 Laienfrömmigkeit 26 f. ›Lalebuch‹ 132 f., 217 f. Lamprecht, ›Alexanderroman‹ 63, 137 ›Lancelot en prose‹ 66 f., 101 Langvers 173-175, 178 f. <?page no="362"?> 354 R E GI S T E R Latein 10, 13, 15-17, 19-21, 25 f., 32-34, 36-44, 48-60, 63, 65, 68 f., 74-78, 79 f., 82, 85 f., 89-91, 93, 98, 101, 105, 108, 113, 122-125, 130, 132, 136-138, 143 f., 148, 150-155, 167, 169 f., 172 f., 175 f., 188, 202-204, 222, 226 f., 237, 255, 267, 289 f., 292, 297, 300, 310 Lateinschulen 48 f., 85, 123 Lauber, Diebold 144 ›Legenda aurea‹ 58 Legende s. Heiligenlegende Lehen 18 f., 23 Leithandschrift 160-163, 166 Liebe s. Höfische Liebe Liebeskrankheit 222, 225, 227, 255, 257, 258 Lied 1 f., 9, 32 f., 37-41, 45-47, 54, 57, 62, 64, 82 f., 87-92, 95 f., 99, 107, 109, 111, 113, 125, 138-142, 160-162, 166, 167-169, 172 f., 175, 178-180, 183-192, 267 Literarische Schriftlichkeit 43, 49 Literaturbegriff 69-71, 106 Literaturexplosion 142-144, 147 ›Lucidarius‹ 58 f. Lustort 222, 226, 258, 260, 262, 292 Luther, Martin 28, 32 f., 52-55, 85, 106, 148, 153 f., 190 Märendichtung 100, 120-122, 130, 146, 206, 283 Mäzen 43 Manessische Liederhandschrift 70, 112, 138-142, 160, 197, 204, 261 Martianus Capella 57 Materiale Topoi 289 f., 292 f., 305 f., 309 Matthäus von Vendôme 222, 292 Maximilian I., Kaiser 144-146 Medizin 26, 33 f., 59, 122, 132, 144, 148, 151, 204, 225, 231, 242-245, 253-258, 260, 265, 300 Meistergesang 82 f., 186 Melanchthon, Philipp 85 Mentelin, Johann 54 Metaphorik 9, 98, 123, 165, 196, 186, 200 f., 226, 260, 273 f., 292 Metrisches Schema 184 Ministeriale 43 f., 46, 61, 95 Minnesang 22, 24, 44-46, 62 f., 99, 111 f., 113, 125, 138, 140, 166, 180 f., 183-185 Mittelhochdeutsch 2, 10, 13, 18, 21-23, 27 f., 60 f., 69, 81, 100, 137, 157, 160, 171, 175, 178, 300, 302 Mittellateinische Poetiken 79 f. Mittelniederdeutsch 13, 18, 21, 27 f., 50, 60 ›Mönch als Liebesbote A‹ 283 Moralischer Schriftsinn 298 f., 301, 303 Morus, Thomas 132 f. Mündlichkeit 21, 38, 40-42, 46-49, 85-92, 167 f. Munt 263 f. Nationalliteratur 35, 37 Natürliche Erkenntnis 288 f. Naturdeutung 300, 302 Nebentonreim 177 Neuhochdeutsch 10, 13, 15-17, 28 Neulateinische Literatur 34, 84 f. ›Nibelungenlied‹ 46 f., 64, 95, 99, 115 f., 146, 156, 166, 178-181, 187 Nibelungenstrophe, Nibelungenvers 178-181 Niederdeutsch 10, 13, 16-19, 21 f., 27-28, 50, 60, 90, 128, 153 Notker der Deutsche 18, 56 f. <?page no="363"?> 355 R E GI S T E R Offenbarungswahrheit 14, 194, 288, 297-300, 304 Okzitanisch 62 f., 68, 183 Opitz, Martin 171 Opposition 199, 209, 221, 241, 306 Oral poetry 91 Ordnung 8, 14, 18, 29-33, 51, 59, 61, 66, 121, 123, 128, 193 f., 196, 199-211, 216, 221-223, 230, 232, 235, 241, 250 f., 253, 265, 270, 273 f., 294, 299, 304 f. Ordo artificialis/ naturalis 216 Oswald von Wolkenstein 96, 125, 142 Otfrid von Weißenburg, ›Evangelienbuch‹ 20, 37 f., 40, 55, 79, 88, 90 f., 108, 142, 175-178, 298 Ovid 25, 79, 93, 105, 110, 255 Paginierung 136 f. Papier 135 f., 142, 147 Papyrus 135 f. Pathos 196, 204 f. Patrizier 30, 48 f., 67, 126, 139 f., 151 f., 267, 270 Paulus 249 f. Pergament 134-136, 147 Petrarca, Francesco 11 ›Physiologus‹ 300-303, 305 Platon 74, 133, 194 Plinius d. Ältere ›Naturalis historia‹ 300 f. Pragmatismus 276 f. Pragmatische Schriftlichkeit 43, 49, 138, 143, 295 Praktische Wissensordnung 194, 236, 272, 274, 278 f., 281, 284, 286 Praktischer Sinn s. Habitus Praktisches Wissen 195, 235 f., 278, 280 f., 283 Praxeologie, Praxisanalyse 266, 276-282 Predigt 27, 57 f. Prolog 43, 46 f., 121 f., 175, 187, 229 f., 271 Prosa 25, 49 f., 52, 58 f., 65-68, 78, 84, 90, 92, 100-103, 126-128, 131 f., 169, 206 ›Prosa-Lanzelot‹ 66 f. Prosaroman 66-68, 101-103, 126 f., 131 f., 169, 206 Quantitierende Verse 170-172 Reformation 11, 13, 27, 32-34, 58, 150, 153 f., 269, 288 Reim 2, 90 f., 93, 158, 170-184, 187 f., 191, 267 f. Reimbrechung 183 Reinmar der Alte 111, 184 Reinmar von Zweter 22 Renaissance 11 f., 33, 296 Renaissance des 12. Jahrhunderts 79, 81, 110, 296 Report/ story 207 Rhetorik 25, 34, 55 f., 71, 77-79, 83 f., 93, 98, 195 f., 204, 229, 233 f., 289-290, 294-297, 300, 305, 309 Ried, Hans 144, 166 Ritual 27, 194, 271-276, 279-282, 297 Roman s. Höfischer Roman, Prosaroman ›Roman d’Eneas‹ 109 f. Rosenplüt, Hans 268 Rubrik 136 Rudolf von Fenis 111 Sachs, Hans 30 f., 68, 83, 130, 191 f., 268 f., 272-275, 281 f. ›Die hausmaid im pflug‹ 272 ›Ein lobspruch der statt Nürnberg‹ 30, 191 Säftelehre 254 Sammelhandschrift 137, 268, 270 Sangspruchdichtung 82 f., 113, 125, 138, 140, 181, 185 f., 302 f., 305 Scaliger, Julius Caesar 84 <?page no="364"?> 356 R E GI S T E R Schedel, Hartmann, ›Schedelsche Weltchronik‹ 10 f., 30, 151 f. Scherer, Wilhelm 105 Schönheitsbeschreibung 226, 292 Scholastik 26, 143, 306 Schreibwerkstätten 143 Schriftlichkeit 16, 21 f., 28, 35-49, 64, 69, 86 f., 91 f., 95, 99, 135, 137 f., 143, 168 f., 175, 178, 216 Sigle 160, 162 f. Silbenzählende Verse 170 f., 174 f., 178, 181, 183, 189-192 Skriptorium 136, 138, 142 f., 147 Stabreim, Stabreimvers 90, 172-175 Stadt 23, 29-34, 35, 48 f., 60, 98, 110, 120, 123, 129, 133, 140, 143 f., 151 f., 187, 209, 252, 267-270, 273-275, 280, 289, 295, 310 Stadtschulen 48 Standpunkt 217 f. Steinhöwel, Heinrich, ›Esopus‹ 60 Stollenstrophe 181, 183-187 Story/ report 207 Strophe 46-48, 77, 99, 113, 156, 158-160, 162 f., 165 f., 172-189, 193, 198, 202-205, 257 f., 303 Subjektivität 71, 76 Text 98 Textbeschreibung 198-203, 219-227 Textkritischer Apparat 159, 162 f., 166 Textvariabilität 99 f. Thematische Wiederaufnahme 195, 199, 201 Thematischer Aufbau 46, 185, 292 Theoderich der Große 39 f. Theologischer Diskurs 243, 248-253, 256, 262 Thomas von England 65, 116 Thomasin von Zerclaere, ›Der Welsche Gast‹ 81 f., 94 Thüring von Ringoltingen, ›Melusine‹ 67 f., 125 f. Tonsilbe 173 f., 182 Topik, Topos 289-293, 305 f., 311-313 Transkription 155 f. Trobador 62 Überlieferungsgeschichte 135 Ulrich von Liechtenstein, ›Frauendienst‹ 95 f. Ulrich von Zatzikhoven, ›Lanzelet‹ 67 Unfeste Texte 99 f. Universität 34, 48, 85, 93, 98, 105, 129, 138, 143, 296 Vadianus (Joachim von Watt) 85 Vagantenstrophe 186-189 Variante 162 f., 165 Vasallität 18-19, 64 Vaterunser 16 f., 20, 22, 26, 28 Verfasserschaft 93-100 Vergil 25, 64, 79, 93, 105, 110, 148, 215 f. Verkehrte Welt 122, 270, 274 Vers 58, 78, 86 f., 92, 100 f., 158, 162, 165, 167-192 Vierfacher Schriftsinn 298 Vokalität 92 Volksliedstrophen 186 f. Vollreim 176 f. Vorauer Sammelhandschrift 137 Vorhersehung 212-214, 227 f. Vulgata 52, 54 Wace 65, 80 ›Waltharius‹ 57 Walther von der Vogelweide 1-4, 8 f., 14, 111, 113, 140-142, 159-165, 181, 186, 193, 196 f., 201-205, 257-258 Waise 184 Watt, Joachim von 85 <?page no="365"?> 357 R E GI S T E R Weingartner Liederhandschrift 160 Weltalter 10 f., 299 Weltchronik 10 f., 30, 88, 100, 151 f., 299 Weltreiche 10 f., 137, 299 Wiegendruck s. Inkunabel Wirklichkeit, Wirklichkeitskonstruktion 5, 75, 194, 238 f., 242, 244, 277, 287-290, 299-301 Wissensordnung s. Diskurs Wittenwiler, Heinrich, ›Der Ring‹ 121 f. Wolfram von Eschenbach 66, 117 f., 119 144, 181 f., 201, 215 f ›Parzival‹ 66, 117 f., 119, 181 f., 201, 215 f. ›Willehalm‹ 119, Wolgemut, Michael 152 Zäsur 183 Zeitordnung in Erzählungen 214-217 Zumthor, Paul 92 <?page no="366"?> Stefan Neuhaus Grundriss der Literaturwissenschaft Phantastische Literatur im Zeichen medialer Selbstreflexion bei Jorge Luis Borges und Julio Cortázar utb 4., überarbeitete und erweiterte Auflage 2014 XIV, 322 Seiten €[D] 19,99 ISBN 978-3-8252-4192-6 Der Band, der sich durch seine Gliederung besonders als Grundlage für ein Basismodul Literaturwissenschaft eignet, durchmisst im Unterschied zu herkömmlichen Einführungsbüchern das gesamte literaturwissenschaftliche Arbeitsfeld und wird durch ein ausführliches Kapitel zur Praxis des Studierens ergänzt. Am Schluss des Bandes steht eine Probeklausur, mit der die Leser ihren Lernerfolg selbst kontrollieren können. Leicht verständlich und zugleich anregend werden komplexe Sachverhalte erklärt und mit zahlreichen Beispielen illustriert, die den Studienerfolg sichern und noch etwas befördern sollen, das dabei nicht zu kurz kommen darf: die Freude an der Literatur. Die Neuauflage gibt zusätzliche Tipps zum Studium und zur weiterführenden Literatur und stellt umfangreiche Online- Materialien für Dozenten bereit. „Eine sympathische, hilfreiche, für Studienanfänger vorrangig zu empfehlende Einführung.“ EKZ-INFORMATIONSDIENST Narr Francke Attempto Verlag GmbH+Co. KG \ Dischingerweg 5 \ 72070 Tübingen \ Germany Tel. +49 (07071) 97 97-0 \ Fax +49 (07071) 97 97-11 \ info@narr.de \ www.narr.de Stand: September 2015 · Änderungen und Irrtümer vorbehalten! JETZT BESTELLEN! <?page no="367"?> Günther Fetzer Berufsziel Lektorat Tätigkeiten - Basiswissen - Wege in den Beruf UTB 4220 M 2015, VIII, 184 Seiten €[D] 22,99 ISBN 978-3-8252-4220-6 Lektorin oder Lektor ist im Unterschied zu den buchhändlerischen Berufen kein Ausbildungsberuf mit geregeltem Ausbildungsgang und vorgeschriebenen Inhalten. Dieses Buch beschreibt erstmals die unterschiedlichen Aufgaben im Lektorat eines Publikumsverlags, Fachverlags und wissenschaftlichen Verlags von der Autorenakquisition über Lektorat und Redaktion bis zum Projektmanagement. Ein eigenes Kapitel ist der Arbeit als freie Lektorin oder freier Lektor gewidmet. Erfolgreiche Lektoratsarbeit besteht nicht zuletzt in der engen Zusammenarbeit mit anderen Abteilungen. Daher vermittelt der Band wichtiges Basiswissen über die Abläufe in den anderen Verlagsbereichen. Der dritte Teil behandelt die Wege in den Beruf sowie die Aussichten, Chancen und Herausforderungen. Dr. Günther Fetzer ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrr stuhl Buchwissenschaft an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg. Davor war er viele Jahre als Lektor und verrr legerischer Geschäftsführer bei großen deutschen Publikumsverlagen tätig. Narr Francke Attempto Verlag GmbH+Co. KG \ Dischingerweg 5 \ 72070 Tübingen \ Germany Tel. +49 (07071) 97 97-0 \ Fax +49 (07071) 97 97-11 \ info@narr.de \ www.narr.de Stand: September 2015 · Änderungen und Irrtümer vorbehalten! JETZT BESTELLEN! <?page no="368"?> Bernhard Maier Die Kelten Geschichte, Kultur und Sprache utb 2015, 182 Seiten, €[D] 18,99 ISBN 978-3-8252-4354-8 Unter den zahlreichen, teilweise üppig bebilderten, neueren Büchern über die Kelten fehlt bislang ein Studienbuch, das den gegenwärtigen Stand der internationalen keltologischen Forschung prägnant, gut verständlich und mit ausführlichen Hinweisen auf weiterführende Literatur zusammenfassend darstellt. Der vorliegende Band leistet eben dies. Er richtet sich nicht nur an Keltologen, sondern auch an Vertreter benachbarter Fächer wie etwa der Archäologie, Geschichts-, Sprach- und Literaturwissenschaft, Theologie, Religionswissenschaft und Europäischen Ethnologie. Darüber hinaus bietet er allen an der keltischen Kultur Interessierten eine Fülle zum Teil schwer zugänglicher Informationen und vielfältige Anregungen. Professor Dr. Bernhard Maier lehrt Allgemeine Religionswissenschaft und Europäische Religionsgeschichte an der Universität Tübingen. + Aktueller, gut strukturierter Überblick zu Geschichte, Kultur und Sprache der Kelten + Lesebuch und Nachschlagwerk zugleich + Zahlreiche kommentierte Verweise auf weiterführende Literatur und Internetquellen Narr Francke Attempto Verlag GmbH+Co. KG \ Dischingerweg 5 \ 72070 Tübingen \ Germany Tel. +49 (07071) 97 97-0 \ Fax +49 (07071) 97 97-11 \ info@narr.de \ www.narr.de Stand: September 2015 · Änderungen und Irrtümer vorbehalten! JETZT BESTELLEN! <?page no="369"?> ,! 7ID8C5-cecfgf! ISBN 978-3-8252-4256-5 Dieses Buch erläutert auf anschauliche Weise die historischen Grundbedingungen der Älteren deutschen Literatur vom 9. bis zum 16. Jahrhundert. Der erste Teil stellt die Orte der Produktion und Rezeption deutschsprachiger Texte vor und zeichnet die Ausbreitung der deutschsprachigen Schriftlichkeit, die Entwicklung des Dichtungsbegriffs und die wichtigsten Aspekte der Geschichte von Versdichtung und Prosaliteratur nach. Der zweite Teil führt anhand konkreter Beispiele in die Verfahrensweisen des Bedeutungsaufbaus in älteren poetischen Texten ein. Tipps zur Informations- und Literaturrecherche sowie Hinweise auf weiterführende Lektüre runden den Band ab. Die zweite Auflage wurde vollständig überarbeitet, um ein Kapitel zu rhetorischen und theologischen Grundlagen der Textkonstitution ergänzt sowie bibliographisch aktualisiert. Literaturwissenschaft Dies ist ein utb-Band aus dem A. Francke Verlag. utb ist eine Kooperation von Verlagen mit einem gemeinsamen Ziel: Lehrbücher und Lernmedien für das erfolgreiche Studium zu veröffentlichen. utb-shop.de QR-Code für mehr Infos und Bewertungen zu diesem Titel