eBooks

Empirische Sozialforschung

Wissenschaftstheoretische Grundlagen

0617
2015
978-3-8385-4460-1
978-3-8252-4460-6
UTB 

Die Wissenschaftstheorie ist die Grundlage für alle Arbeiten in den empirischen Sozialwissenschaften. Günter Endruweit stellt anschaulich den Zusammenhang zwischen Theorie und Forschungspraxis her. Seine kompakte Einführung beinhaltet alle für den Forschungsprozess (d.h. von der Formulierung des Forschungsthemas bis zur Datenanalyse) wichtigen wissenschaftstheoretischen Aspekte. Er beantwortet zentrale Fragen und lädt zum kritischen Denken ein. Studierende werden so sensibilisiert für häufige Fragen und deren frühzeitige Erkennung.

Eine Arbeitsgemeinschaft der Verlage Böhlau Verlag · Wien · Köln · Weimar Verlag Barbara Budrich · Opladen · Toronto facultas · Wien Wilhelm Fink · Paderborn A. Francke Verlag · Tübingen Haupt Verlag · Bern Verlag Julius Klinkhardt · Bad Heilbrunn Mohr Siebeck · Tübingen Nomos Verlagsgesellschaft · Baden-Baden Ernst Reinhardt Verlag · München · Basel Ferdinand Schöningh · Paderborn Eugen Ulmer Verlag · Stuttgart UVK Verlagsgesellschaft · Konstanz, mit UVK / Lucius · München Vandenhoeck & Ruprecht · Göttingen · Bristol Waxmann · Münster · New York utb 4460 www.claudia-wild.de: [UTB_S]__Endruweit__Empirische_Sozialforschung__[Druck-PDF]/ 15.05.2015/ Seite 2 www.claudia-wild.de: [UTB_S]__Endruweit__Empirische_Sozialforschung__[Druck-PDF]/ 15.05.2015/ Seite 3 Dr. Günter Endruweit war Professor für Soziologie an der Universität des Saarlandes, der Technischen Universität Berlin, der Ruhr-Universität Bochum, der Universität Stuttgart und lehrte bis zu seiner Emeritierung an der Universität Kiel sowie als Gast an der Istanbul Üniversitesi und der Northwestern University in den USA. Er hatte zudem zahlreiche Ämter in der Selbstverwaltung in Bochum, Stuttgart (Dekan), Saarbrücken (Vizepräsident der Universität) und Kiel (Dekan der Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Fakultät) inne. www.claudia-wild.de: [UTB_S]__Endruweit__Empirische_Sozialforschung__[Druck-PDF]/ 15.05.2015/ Seite 2 www.claudia-wild.de: [UTB_S]__Endruweit__Empirische_Sozialforschung__[Druck-PDF]/ 15.05.2015/ Seite 3 Günter Endruweit Empirische Sozialforschung Wissenschaftstheoretische Grundlagen UVK Verlagsgesellschaft mbH · Konstanz mit UVK/ Lucius · München www.claudia-wild.de: [UTB_S]__Endruweit__Empirische_Sozialforschung__[Druck-PDF]/ 15.05.2015/ Seite 4 www.claudia-wild.de: [UTB_S]__Endruweit__Empirische_Sozialforschung__[Druck-PDF]/ 15.05.2015/ Seite 5 Online-Angebote oder elektronische Ausgaben sind erhältlich unter www.utb-shop.de. Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über-<http: / / dnb.ddb.de> abrufbar. Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. © UVK Verlagsgesellschaft mbH, Konstanz und München 2015 Einbandgestaltung: Atelier Reichert, Stuttgart Lektorat: Marit Borcherding, München Satz: Claudia Wild, Konstanz Druck: fgb · freiburger graphische betriebe, Freiburg UVK Verlagsgesellschaft mbH Schützenstr. 24 · D-78462 Konstanz Tel.: 07531-9053-0 · Fax 07531-9053-98 www.uvk.de UTB-Band Nr. 4460 ISBN 978-3-8252-4460-6 www.claudia-wild.de: [UTB_S]__Endruweit__Empirische_Sozialforschung__[Druck-PDF]/ 15.05.2015/ Seite 4 www.claudia-wild.de: [UTB_S]__Endruweit__Empirische_Sozialforschung__[Druck-PDF]/ 15.05.2015/ Seite 5 5 Inhaltsverzeichnis Einleitung: Wozu Wissenschaftstheorie der empirischen Sozialwissenschaften? 9 1 Begriffsklärungen 13 1.1 Wissenschaft 13 1.1.1 Wissen 16 1.1.2 Forschung 18 1.1.3 Theorie 20 1.2 Empirische Sozialwissenschaft 21 1.3 Wissenschaftstheorie 24 2 Wissenschaftstheoretische Aspekte des sozialwissenschaftlichen Forschungsprozesses 27 2.1 Forschungsthema 27 2.2 Theorie 29 2.2.1 Theorie und Forschungspraxis 29 2.2.2 Quellen der Theorie 32 2.2.3 Bestandteile der Theorie 36 2.2.4 Funktionen der Theorie 49 2.3 Deduktion 50 2.4 Hypothesen 53 2.4.1 Formen der Hypothese 53 2.4.2 Formulierung der Hypothese 55 2.4.3 Falsifikation und Verifikation von Hypothesen 56 2.5 Operationalisierung 61 2.5.1 Begriff der Operationalisierung 61 2.5.2 Operationalisierung von Begriffen 62 2.5.3 Operationalisierung von Hypothesen 68 2.5.4 Stichprobe und Statistik 73 2.5.5 Probeuntersuchung 75 2.6 Datenerhebung 77 2.7 Auswertung 79 www.claudia-wild.de: [UTB_S]__Endruweit__Empirische_Sozialforschung__[Druck-PDF]/ 15.05.2015/ Seite 6 www.claudia-wild.de: [UTB_S]__Endruweit__Empirische_Sozialforschung__[Druck-PDF]/ 15.05.2015/ Seite 7 6 2.8 Theoriebilanz 81 2.8.1 Aufstellung der Theoriebilanz 81 2.8.2 Ergebnis der Theoriebilanz 88 2.9 Induktion 91 2.10 Theorie II 92 2.10.1 Eigene Theorien 93 2.10.2 Fremde Theorien 93 3 Wissenschaftstheorie und Wissenschaftsethik 95 4 Wissenschaftstheorie und Wissenschaftswirklichkeit 97 Literatur 99 www.claudia-wild.de: [UTB_S]__Endruweit__Empirische_Sozialforschung__[Druck-PDF]/ 15.05.2015/ Seite 6 www.claudia-wild.de: [UTB_S]__Endruweit__Empirische_Sozialforschung__[Druck-PDF]/ 15.05.2015/ Seite 7 7 Definitionen Wissenschaft 15 Wissen 16 Forschung 19 Theorie 20 Wissenschaftstheorie 25 Explorationsstudie 36 Deduktion 50 Hypothese 53 Verifikation 57 Falsifikation 57 Bewährung 59 Operationalisierung 61 Validität 66 Reliabilität 68 Probeuntersuchung 76 Objektivität 84 Intersubjektivität 85 Induktion 91 Stichwörter Gesetz und Regel 41 Falsifikation und Verifikation 56 Validität 64 Reliabilität 67 Wertfreiheit 81 Marxistische Wissenschaftstheorie 86 Abbildungen Abb. 1: Grundorientierungen empirischer Wissenschaften 30 Abb. 2: Wachstum von Verwaltungsaufgaben und Bürokratisierung (nach Max Weber) 44 Abb. 3: Angenommener empirischer Verlauf der Kurven für Verwaltungsaufgaben und Bürokratisierung 45 Abb. 4: Subsystems of Action (Talcott Parsons) 48 Abb. 5: Ablaufschema des sozialwissenschaftlichen Forschungsprozesses 98 www.claudia-wild.de: [UTB_S]__Endruweit__Empirische_Sozialforschung__[Druck-PDF]/ 15.05.2015/ Seite 8 www.claudia-wild.de: [UTB_S]__Endruweit__Empirische_Sozialforschung__[Druck-PDF]/ 15.05.2015/ Seite 9 www.claudia-wild.de: [UTB_S]__Endruweit__Empirische_Sozialforschung__[Druck-PDF]/ 15.05.2015/ Seite 8 www.claudia-wild.de: [UTB_S]__Endruweit__Empirische_Sozialforschung__[Druck-PDF]/ 15.05.2015/ Seite 9 9 Einleitung: Wozu Wissenschaftstheorie der empirischen Sozialwissenschaften? Zu Beginn gleich eine Warnung: Wer eine Sozialwissenschaft rein geisteswissenschaftlich betreiben will, der lege dieses Buch sofort zur Seite; es könnte ihn nur verwirren. In den Zeiten, in denen man alle Wissenschaften entweder den Natur- oder den Geisteswissenschaften zuordnete, zählten die Sozialwissenschaften gewiss zu den Geisteswissenschaften. Inzwischen herrscht jedoch weitgehend Einigkeit darüber, dass die Sozialwissenschaften eine dritte Gruppe zwischen den Natur- und den Geisteswissenschaften bilden. 1 Dabei nähern sie sich in ihren Forschungsmethoden den Naturwissenschaften an, arbeiten also empirisch, d. h. sie wollen Aussagen über ihre Objekte nur dann machen, wenn sie diese zuvor durch Erfahrung (griech.: Empirie) mit Hilfe genau festgelegter Methoden an der Wirklichkeit ihres Objekts überprüft haben. Das ist heute wohl in allen Sozialwissenschaften die herrschende Richtung. Unter Sozialwissenschaften sollen hier insbesondere- - in alphabetischer Reihenfolge- - Demografie, Erziehungswissenschaft, Ethnologie, Politikwissenschaft, (Sozial-)Psychologie, Soziologie und empirische Wirtschaftswissenschaften verstanden werden. Daneben sind, zumindest zu einem großen Teil, Sozial- und Kulturanthropologie, Kommunikationswissenschaft, Sprachwissenschaft, Sozialmedizin und Historische Verhaltensforschung sozialwissenschaftlich orientiert. Auch in anderen Studiengängen, wie etwa Agrarwissenschaften und Ökotrophologie, nehmen sozialwissenschaftliche Anteile eher zu als ab. Für Studierende dieser Fächer, aber auch für Laien, die sich für die genannten Wissenschaften interessieren, will dieses Buch Informationen darüber bieten, was deren Wissenschaftlichkeit ausmacht. Anders ausgedrückt: Die Wissenschaftstheorie gibt Antwort auf die Frage, wann eine Aussage eines Fachvertreters wirklich wissenschaftlich ist und nicht bloße persönliche Meinung. Das kann nur die Erfüllung der wissenschaftstheoretischen Regeln leisten, nicht schon der Gebrauch von Fremdwörtern, Schachtelsätzen, Tabellen, Formeln und anspruchsvoll klingenden Theorien. 1 Ausführlicher dazu Endruweit, S. 65-79. www.claudia-wild.de: [UTB_S]__Endruweit__Empirische_Sozialforschung__[Druck-PDF]/ 15.05.2015/ Seite 10 www.claudia-wild.de: [UTB_S]__Endruweit__Empirische_Sozialforschung__[Druck-PDF]/ 15.05.2015/ Seite 11 10 Damit ist die Wissenschaftstheorie unabdingbare Grundlage für alles Arbeiten in den empirischen Sozialwissenschaften. Erstaunlicherweise kommt sie als ausdrücklich so genannte Lehrveranstaltung nur in wenigen Studiengängen vor. Das schließt aber nicht aus, dass Elemente der Wissenschaftstheorie in manchen Lehrveranstaltungen unter anderem Namen mitbehandelt werden. Hier sollen sie im Zusammenhang dargestellt werden, um ein Auseinanderdriften der Selbstverständnisse der empirischen Sozialwissenschaften und der Sozialwissenschaftler zu vermeiden helfen. Was hier gesagt wird, soll nur für den Kern der empirischen Sozialwissenschaften gelten: für die empirische Forschung. Die allgemeine Wissenschaftstheorie, die als philosophische Disziplin ohnehin fast ausschließlich von (nicht empirischen) Philosophen betrieben wird, bleibt ausgespart. Wir müssen uns also nicht entscheiden, ob wir nach einem entitätenrealistischen, einem methodisch-konstruktivistischen oder einem modellistisch-experimentalistischen Ansatz vorgehen wollen. Diese Richtungen existieren tatsächlich- - und noch etliche mehr. Tausende empirisch arbeitender Sozialwissenschaftler haben recht brauchbare Ergebnisse hervorgebracht, ohne sich mit diesen Fragestellungen zu beschäftigen, wahrscheinlich sogar, ohne sie überhaupt gekannt zu haben. Das heißt jedoch nicht, dass sie überflüssig sind. Die für den empirischen Sozialwissenschaftler sehr nützlichen Kenntnisse der allgemeinen Wissenschaftstheorie, etwa Begriffsbildung, Modelltheorie, Erklärungen, sollte man schon vor dem Abitur in der Schule erworben haben. Nach dieser Einführung käme als nächster Schritt die Beschäftigung mit der Wissenschaftstheorie der jeweiligen einzelnen Sozialwissenschaft. Dort wird die Wissenschaftstheorie oft implizit unter den Methoden dieser Wissenschaft behandelt, so beispielsweise das optimale Verhalten der Versuchsleiter im erziehungswissenschaftlichen Experiment oder die zweckmäßige Fragenformulierung bei der schriftlichen Befragung in der Soziologie. Wer wissen möchte, wo der Verfasser dieses Buches bei Bedarf allgemeine wissenschaftstheoretische Orientierung zu suchen pflegt: überwiegend im Kritischen Rationalismus nach Karl R.-Popper. Manche Unterschiede der wissenschaftstheoretischen Grundpositionen ebnen sich ohnehin stark ein, wenn es um die praktischen Probleme der Forschung geht. Genau davon handelt diese Einführung. Sie soll das eigene Denken und Suchen anregen, nicht ersetzen. Daher gibt es oft www.claudia-wild.de: [UTB_S]__Endruweit__Empirische_Sozialforschung__[Druck-PDF]/ 15.05.2015/ Seite 10 www.claudia-wild.de: [UTB_S]__Endruweit__Empirische_Sozialforschung__[Druck-PDF]/ 15.05.2015/ Seite 11 11 absichtlich nur Andeutungen und Hinweise statt Ausdeutungen und Verweise. Überhaupt liegt die wissenschaftstheoretische Qualifikation eher im scharfen Blick für die Probleme der Forschungspraxis als im kompakten Wissen über die Literatur. Oft sind gerade bei den besten Forschungsvorhaben die wissenschaftstheoretischen Probleme neu oder in dieser Kombination neu, so dass Scharfsinn und Einfallsreichtum kaum durch die Kenntnis kopierbarer Vorbilder ersetzt werden können. Die Probleme der empirischen Forschung können in dieser Einführung nicht erschöpfend behandelt werden. Es geht vielmehr um eine Sensibilisierung für häufige Fragen, vor allem um deren frühzeitige Erkennung. Man kann gerade als Neuling in einer Sozialwissenschaft manchmal lange an einem Projekt arbeiten, bevor man merkt, dass man schon längst in einer Sackgasse steckt. Dieses Buch soll vor allem helfen zu vermeiden, in eine solche Sackgasse hinein zu geraten. www.claudia-wild.de: [UTB_S]__Endruweit__Empirische_Sozialforschung__[Druck-PDF]/ 15.05.2015/ Seite 12 www.claudia-wild.de: [UTB_S]__Endruweit__Empirische_Sozialforschung__[Druck-PDF]/ 15.05.2015/ Seite 13 www.claudia-wild.de: [UTB_S]__Endruweit__Empirische_Sozialforschung__[Druck-PDF]/ 15.05.2015/ Seite 12 www.claudia-wild.de: [UTB_S]__Endruweit__Empirische_Sozialforschung__[Druck-PDF]/ 15.05.2015/ Seite 13 13 1. Begriffsklärungen Bevor wir mit den Überlegungen zum Inhalt der Wissenschaftstheorie beginnen, sind Einigungen darüber notwendig, wie die Schlüsselbegriffe Wissenschaft und Sozialwissenschaft zu verstehen sind. Es ist anzunehmen, dass die Wissenschaftstheorie etwas über die Gegenstände dieser Begriffe aussagen will. Die Diskussion über Gegenstände setzt aber voraus, dass man sich über deren Begriff einig ist, weil man nur so sicher sein kann, über denselben Gegenstand zu sprechen. 1.1 Wissenschaft Zu Begriffsdefinitionen kann man auf verschiedene Weisen kommen, 2 die alle ihre Berechtigung haben. Man kann die Begriffe apriorisch, gewissermaßen selbstherrlich festlegen. Das ist in der Wissenschaft häufig der Fall, auch in den Sozialwissenschaften. Max Weber drückte dieses Verfahren schon in der sprachlichen Fassung seiner Definitionen begrüßenswert deutlich aus, wenn er etwa Herrschaft definierte: »Herrschaft soll heißen die Chance, für einen Befehl bestimmten Inhalts bei angebbaren Personen Gehorsam zu finden.« 3 Selbst wenn niemand sonst diese Definition teilt, kann sie in der Forschung als Maßstab benutzt werden, um herauszufinden, wie nahe oder fern ein untersuchter Gegenstand dieser Definition ist und wie er sich somit von ähnlichen Gegenständen unterscheidet. Die Qualität solcher Definitionen ist danach zu beurteilen, inwieweit sie sich in der weiteren Forschung als nützliches Instrument erweisen. Gerade für empirische Sozialwissenschaften könnte ein zweites Verfahren angemessen sein: die empirische Ermittlung aller bisher für einen Begriff vorgeschlagenen Definitionen und die Entwicklung eines Verfahrens, mit dem eine Definition nach einem sinnvollen Maßstab ausgewählt wird. Das könnte z. B. die am häufigsten benutzte Definition sein oder die neueste, wenn man davon ausgeht, dass diese die Vorteile aller 2 Wesentlich eingehender Breuer, S. 105-120. Vgl. auch Kornmeier, S. 4/ 5 m. w. N. 3 Weber, S. 38. Weitere Beispiele für Definitionsansätze bei Herzog, S. 29-31. www.claudia-wild.de: [UTB_S]__Endruweit__Empirische_Sozialforschung__[Druck-PDF]/ 15.05.2015/ Seite 14 www.claudia-wild.de: [UTB_S]__Endruweit__Empirische_Sozialforschung__[Druck-PDF]/ 15.05.2015/ Seite 15 14 früheren enthält und alle Nachteile vermeidet; zu dieser Annahme hat man jedoch sehr selten Anlass. Es könnte auch die Definition sein, die nur solche Elemente enthält, die allen Definitionen gemeinsam sind, oder diejenige, welche die am meisten benutzten Elemente enthält. Solche Definitionsverfahren sind vor allem angemessen, wenn man einen Überblick über allgemeine Theorien bieten oder herrschende Richtungen ermitteln will. Für eine Definition des Wissenschaftsbegriffs bietet sich gerade in den Sozialwissenschaften ein dritter Ansatz an: die Ermittlung der sozialen Funktion, des wirklichen Arbeitsbereichs also, oder der sozialen Rolle von Wissenschaft, d. h. der Erwartungen, die in der Gesellschaft gegenüber der Wissenschaft gehegt werden. Einwandfrei wäre eine solche Begriffsbestimmung natürlich nur dann, wenn man ihren Inhalt mit empirischen Methoden feststellen würde. Das ist in hinreichendem Umfang bisher nicht gemacht worden und auch hier nicht zu leisten. Deshalb müssen wir uns mit einem Substitut bescheiden. Dieser Empirieersatz läge möglicherweise in einem Vergleich, bei dem wir diejenigen Charakteristika, die bisher anerkannte Wissenschaften auszeichnen, den Merkmalen gegenüberstellen, welche Bereiche markieren, die sich nicht als Wissenschaften etablieren konnten. Aus den festgestellten Unterschieden könnte man dann-- mit den dabei üblichen Unsicherheitsfaktoren-- auf die sozial konstitutiven Kriterien für Wissenschaft schließen. Dieses Verfahren zeigt deutlich seine Zeitbedingtheit, die aber Folge der sozialen Natur dieses Wissenschaftsbegriffs ist. Wenn man nun untersucht, warum Physik und Geschichte seit Langem, Psychologie und Soziologie seit relativ Kurzem als Wissenschaften allgemein anerkannt sind, während Astrologie und Chirologie keinerlei erkennbare Chance haben, aus dem Stadium des Vorwissenschaftlichen herauszutreten, dann stellt man drei offensichtlich entscheidende Kriterien fest, die vermutlich auch maßgebend für die Anerkennung neuer Wissenschaften sind: Man erwartet eine eigene Theorie oder eine eigene Methode oder beides, und man stellt an das Ergebnis dieser beiden Elemente noch besondere Ansprüche, nämlich dass sie zu mehr Wissen führen. Daraus gewinnen wir als Begriffsbestimmung: www.claudia-wild.de: [UTB_S]__Endruweit__Empirische_Sozialforschung__[Druck-PDF]/ 15.05.2015/ Seite 14 www.claudia-wild.de: [UTB_S]__Endruweit__Empirische_Sozialforschung__[Druck-PDF]/ 15.05.2015/ Seite 15 15 Definition »Wissenschaft« Wissenschaft ist der Bereich menschlicher Tätigkeit, in dem mit dem Ziel gearbeitet wird, Wissen zu produzieren (Forschung) und zu systematisieren (Theorie). 4 In dieser Definition gibt es keinen Hinweis auf die vielen Unterschiede zwischen den Wissenschaften. Das ist auch nicht nötig. Denn eine Definition (von lat. finis =-Ende, Grenze) ist eine Abgrenzung ihres Gegenstandes von allen anderen Gegenständen, die nicht unter diesen Begriff fallen sollen. Hier ist also Wissenschaft von Nicht-Wissenschaft abzugrenzen. Das haben wir an dieser Stelle mit einer aristotelischen Definition versucht, einer von den zahlreichen Arten von Definitionen. Diese Definitionstechnik beginnt mit der Nennung eines Oberbegriffs (genus proximum; hier: Bereich menschlicher Tätigkeit), unter den auch andere Unterbegriffe, z. B. Handwerk, Medizin und Sozialarbeit, fallen. Dann werden die besonderen Merkmale des zu definierenden Begriffs angegeben (differentia specifica; hier: Produktion und Systematisierung von Wissen), die nur für die Wissenschaft zutreffen, nicht aber für die anderen Bereiche menschlicher Tätigkeit. Das schließt nicht aus, dass auch im Handwerk, in der Medizin oder bei der Sozialarbeit hin und wieder Wissen produziert oder systematisiert wird; viele Gelegenheitsentdeckungen sind ein Beispiel dafür-- aber eben auch dafür, dass sie nur ein zufälliges Nebenprodukt einer an sich auf anderes gerichteten Tätigkeit waren. Ebenso wird durch die Definition nicht ausgeschlossen, dass auch Wissenschaftler neben forschen und theoretisieren noch etwas anderes tun, z. B. lehren 5 ; aber das ist dann bei ihnen ein Nebenprodukt. 4 Mancher mag in der Definition schon die Lehre vermisst haben. Lehre ist aber nur nützlich zur Heranbildung der nächsten Wissenschaftlergeneration und evtl. zur Ausbildung von Berufstätigen, die wissenschaftliche Ergebnisse verwenden sollen oder müssen, ohne sie selbst produzieren zu müssen oder zu können. Das Postulat der »Einheit von Lehre und Forschung« ist daher wohl als Versuch zur betriebswirtschaftlichen Optimierung des Ausbildungswesens anzusehen, aber keine notwendige Konsequenz aus dem Wissenschaftsbegriff, für den Lehre keineswegs konstitutiv ist, schon weil es sie auch außerhalb der Wissenschaft gibt. 5 Reine Lehranstalten wären nach dieser Definition also keine wissenschaftlichen Einrichtungen, wohl aber reine Forschungsanstalten wie die Institute der Max- Planck-Gesellschaft oder des Centre National de Recherche Scientifique. www.claudia-wild.de: [UTB_S]__Endruweit__Empirische_Sozialforschung__[Druck-PDF]/ 15.05.2015/ Seite 16 www.claudia-wild.de: [UTB_S]__Endruweit__Empirische_Sozialforschung__[Druck-PDF]/ 15.05.2015/ Seite 17 16 In unserer Wissenschaftsdefinition sind drei Elemente besonders problematisch. Sie sollen in den nächsten Abschnitten näher untersucht werden. 1.1.1 Wissen Stellt man sich auf Grund unserer Wissenschaftsdefinition die wissenschaftlichen Einrichtungen als Unternehmen mit Produktionsbetrieben und Lagerhallen vor, dann ist Wissen das Produkt oder Gut, das dort hergestellt und bereitgehalten wird. Unter Wissen soll verstanden werden: Definition »Wissen« Wissen ist ein menschlicher Bewusstseinszustand, in dem Aussagen über Gegenstände als sachlich begründet und intersubjektiv begründbar angesehen werden. Mit anderen Bewusstseinszuständen- - wie Meinen, Glauben, Annehmen, Vermuten-- hat Wissen gemeinsam, dass es Aussagen über Gegenstände macht. Das können Gegenstände aller Art sein: körperliche Gegenstände, wie etwa Dieselmotoren, oder nur als gedankliches Konstrukt existierende, wie die Rolle eines Vereinsvorsitzenden; gegenwärtige Gegenstände, wie die politischen Konflikte in der Schweiz, vergangene Gegenstände, wie die Verhaltensmuster des aztekischen Adels, und zukünftige Gegenstände, wie die Zahl der Eheschließungen am Ende des Jahrhunderts. Prinzipiell unterscheidet sich die Wissenschaft hier nicht von den anderen Bewusstseinszuständen; ob nicht aber doch einzelne, jedoch nicht prinzipielle Einschränkungen nötig oder nützlich erscheinen, wird im Kapitel 1.1.2 erörtert. Ebenso stimmen die Aussagen der Wissenschaft über Gegenstände mit den Aussagen überein, die als Meinung, Glauben usw. produziert werden, wenn wir die sprachliche Form der Aussage betrachten. Als Aussagen über einen Gegenstand wollen wir alle Sätze ansehen, die einen Gegenstand im eben skizzierten Sinne durch Angabe von Eigenschaften oder Verhaltensweisen charakterisieren, also einen Aussagesatz. Eine der schlichtesten Aussagen ist Thomas Hobbes’ Annahme über die Grundlage aller zwischenmenschlichen Konflikte und mancher sozialwissenschaftlicher Theorien darüber: »Homo homini lupus« (Der Mensch verwww.claudia-wild.de: [UTB_S]__Endruweit__Empirische_Sozialforschung__[Druck-PDF]/ 15.05.2015/ Seite 16 www.claudia-wild.de: [UTB_S]__Endruweit__Empirische_Sozialforschung__[Druck-PDF]/ 15.05.2015/ Seite 17 17 hält sich gegenüber dem Menschen wie ein Wolf ). 6 Komplizierter und für die Wissenschaft wertvoller sind Wenn-dann- und Je-desto-Aussagen. In den Abschnitten über Theorien und Hypothesen wird das noch eingehender behandelt. Unterschiede zwischen Wissen und anderen Bewusstseinszuständen können also, sofern sie grundsätzlich sein sollen, nur in ihrer Begründetheit und Begründbarkeit liegen. Die Besonderheiten des Wissens liegen dabei in Folgendem: Sachlich begründet ist ein Bewusstseinszustand, wenn die Aussagen über den Gegenstand aus der Sache kommen, also aus dem Gegenstand. Hier besteht die Verbindung zu dem Schlagwort von der wissenschaftlichen Objektivität: Der Gegenstand ist das Objekt, und nur aus diesem, nicht etwa aus dem Forscher, sollen die Aussagen über das Objekt bzw. über den Gegenstand kommen, wenn sie objektiv sein sollen. Wissen kommt nur aus der Erforschung des Gegenstandes, nicht aus dem Reden über den Gegenstand. Das wissenschaftstheoretische Problem besteht darin, welche sachliche Begründung einer entgegenstehenden, ebenfalls sachlichen Begründung die Existenzberechtigung nehmen kann. Denn leider ist es bei der Schwierigkeit wissenschaftlicher Probleme nicht so, dass von zwei Begründungen die eine stets »unsachlich« ist; vielmehr geht es meistens darum, dass über die jeweilige Begründungskraft von Begründungen zu entscheiden ist, denen man ausnahmslos die Herkunft aus der Sache nicht absprechen kann. Diese Entscheidung ist eines der Hauptprobleme wissenschaftstheoretischer Überlegungen. So kann es beispielsweise sein, dass eine Untersuchung die Ursache A für ein Phänomen herausfindet, eine andere die Ursache B. Davon muss nicht eine notwendig falsch sein. Vielmehr könnte es sein, dass A unter bestimmten Randbedingungen die Ursache ist, B unter anderen Randbedingungen. Daraus folgt, dass Wissen auch intersubjektiv begründbar sein muss. Wäre es das nicht, gäbe es sachliche Begründetheit bestenfalls im subjektiven Bereich des einzelnen Produzenten von Wissen. Schon bei der Mitteilung von Wissen im Kollegenkreis-- und die Kommunikation von Wissen wird immer unumgänglicher, weil Universalgelehrte seit mehreren Jahr- 6 Hobbes, S. 69. Das Zitat geht zurück auf eine Komödie des Titus Maccius Plautus. Im Übrigen ist die behauptete Verhaltensweise der Wölfe biologisch falsch. Der Wolf ist zwar ein Raubtier, lebt in Freiheit aber in Rudeln sehr geordnet und daher friedlich. www.claudia-wild.de: [UTB_S]__Endruweit__Empirische_Sozialforschung__[Druck-PDF]/ 15.05.2015/ Seite 18 www.claudia-wild.de: [UTB_S]__Endruweit__Empirische_Sozialforschung__[Druck-PDF]/ 15.05.2015/ Seite 19 18 hunderten unmöglich sind-- wäre man ohne intersubjektive Begründbarkeit doch wieder auf blinde Autoritätsgläubigkeit, Zugrundelegen unüberprüfbarer Annahmen usw. angewiesen. Die Wissenschaft hat sich erst dann so exponential entwickelt, als sachliche Begründetheit und intersubjektive Begründbarkeit ihre Maximen wurden. Insofern sind beide Gesichtspunkte aufeinander bezogen und in der Regel gemeinsam zu sehen. Hier ist einer der Berührungspunkte zwischen Wissenschaftstheorie und Wissenschaftsethik, genauer: zwischen dem wissenschaftstheoretischen Konzept von Wissen und dem wissenschaftsethischen Prinzip von Wahrheit. Wahrheit ist der höchste Wert in der Wertordnung der Wissenschaftler (deshalb ist das Abschreiben in Dissertationen disqualifizierend, nicht wegen der Verletzung irgendwelcher Zitierregeln). Ihre letzte Frage lautet immer: Ist es so, wie es unmittelbar scheint, oder ist es nach methodisch strenger Untersuchung anders? Auch hier sind sachliche Begründetheit und intersubjektive Begründbarkeit gefragt. Schon aus diesen wenigen Überlegungen ist zu erkennen, dass die Bereiche von Wissen und anderen Bewusstseinszuständen und damit von Wissenschaft und anderen Tätigkeiten nicht ein für alle Mal reinlich zu scheiden sind. Nicht alle Argumente, die für oder gegen einen Satz über einen Gegenstand gebracht werden können, stehen so eindeutig auf verschiedenen Stufen, dass stets eine unumstrittene Entscheidung über die Richtung des Fortschritts möglich ist. Vielmehr ist die Anerkennung von Wissen und damit eine Scheidung von Nichtwissen im Sinne von Meinen usw. zu einem guten Teil von Geisteshaltungen, von Zeitströmungen, auch von Einsichtsvermögen und Informiertheit der Diskussionspartner, insbesondere aber vom Basiskonsens in der Gemeinschaft der Wissenschaftler (scientific community) und der Gesamtgesellschaft (society at large) abhängig, so dass wir erkennen müssen: Nicht nur die Sozialwissenschaften 7 , sondern alle Wissenschaften sind von hochsozialer Natur! 1.1.2 Forschung Der Forschung hatten wir in unserer Wissenschaftsdefinition die Aufgabe der Wissensproduktion zugewiesen. Was in der Theorie systematisiert werden soll, hat die Forschung vorab zu liefern, nämlich Wissen. Deshalb muss die Forschung nach den Gesichtspunkten arbeiten, die wir 7 Vgl. in einem noch weiteren Sinn Breuer, S. 50-64. www.claudia-wild.de: [UTB_S]__Endruweit__Empirische_Sozialforschung__[Druck-PDF]/ 15.05.2015/ Seite 18 www.claudia-wild.de: [UTB_S]__Endruweit__Empirische_Sozialforschung__[Druck-PDF]/ 15.05.2015/ Seite 19 19 im Kapitel 1.1.1 als maßgeblich für das Wissen beschrieben haben. Wir erhalten damit als genaueren Forschungsbegriff: Definition »Forschung« Forschung ist eine Tätigkeit, die darauf zielt, neues Wissen zu erarbeiten, indem der Forschungsgegenstand mit Methoden untersucht wird, die das Ergebnis sachlich begründet und intersubjektiv begründbar machen. Damit soll nicht behauptet werden, dass nur die Forschung neues Wissen produzieren könne. Das ist vielmehr auch durch das möglich, was man im Deutschen einen Einfall, im Italienischen trovato und im Englischen inspiration nennt, und was genau eine zufällige Eingabe von außen bedeutet. Im Französischen heißt es »ça me vient à l’esprit«; dazu passt die Erzählung über den Chemiker August Kekulé, ihm sei die Ringstruktur des Benzols im Traum erschienen. Ebenso kann man »Neues« durch eine Entdeckung (discovery/ découverte) hervorbringen, indem man Vorhandenes, aber Verstecktes ans Licht zieht. Nur reichen zufällig Neues und wiedergefundenes Altes nicht aus, um die Bedürfnisse einer modernen Gesellschaft nach Neuem zu befriedigen. Um das systematisch erledigen zu können, haben wir die Forschung und sonst gar nichts. Allerdings sind es nicht Überlegungen zur sozialen Kosten-Nutzen- Rechnung, die uns in erster Linie zur strengen Methodik beim Forschen zwingen. Wären genügend Personal, Zeit, Geld und Material vorhanden, könnte man Bereiche, Themen, Gegenstände, Instrumentarien und Ansätze der Forschung mit rein aleatorischen, d. h. zufälligen Verfahren festlegen. Das würde dem Forscher vielleicht endlich die von mancher Seite stereotyp gebrachten Vorwürfe der Auftraggeberhörigkeit oder des Eigeninteresses ersparen. Aber auch in diesem utopischen Forscherparadies müsste der Zufall durch Systematik abgelöst werden, sobald es um die eigentliche Wissensproduktion geht. Denn wenn das Ergebnis aus dem Gegenstand heraus begründet und gegenüber anderen Forschern begründbar sein soll, muss es mit solchen Methoden gewonnen worden sein, die jeder andere Forscher anwenden kann. Nur so lässt sich feststellen, ob die Ergebnisse dann gleich sind. Auf einzelne Aspekte werden wir später eingehen, an dieser Stelle bleibt es bei dem Hinweis, der anregen soll, über einzelne Konsequenzen für die Forschungspraxis nachzudenken, etwa über den Mindestwww.claudia-wild.de: [UTB_S]__Endruweit__Empirische_Sozialforschung__[Druck-PDF]/ 15.05.2015/ Seite 20 www.claudia-wild.de: [UTB_S]__Endruweit__Empirische_Sozialforschung__[Druck-PDF]/ 15.05.2015/ Seite 21 20 umfang der Mitteilungen über die Untersuchungsanordnung oder über die Zeitgebundenheit von Untersuchungsgegenständen. Diese ist ein Problem für die Sozialwissenschaften, das die Naturwissenschaften nicht im Entferntesten so zu lösen haben. 1.1.3 Theorie In unserer Wissenschaftsdefinition in Kapitel 1.1 hatten wir für die Theorie die Funktion vorgesehen, Wissen zu systematisieren. Wissen in seiner einfachsten Form kann in einem Satz gespeichert werden, der nichts anderes enthält als die Grundelemente eines Aussagesatzes. Damit können wir uns aber nicht begnügen. Komplexere Wissenszusammenhänge werden daher in einer Theorie formuliert, unter der verstanden werden soll: Definition »Theorie« Eine Theorie ist ein System von Sätzen mit Seinsaussagen über Wirklichkeit, das durch die sprachliche Zuordnung sachliche Zusammenhänge wiedergibt. Die Zusammenhänge, die in einer Theorie zwischen den Sätzen hergestellt werden, können sehr verschieden sein. Es kann um die Parallelisierung von Ereignissen, die Angabe von Phasen oder Stufen eines Prozesses, um Bedingungen oder Konsequenzen gehen, um nur einiges zu nennen. Das höchste Ziel wohl jeder wissenschaftlichen Theorie ist die Darstellung von Kausalzusammenhängen. Erst die Kenntnis dieser Kausalzusammenhänge macht den Forschungsgegenstand manipulierbar im Sinne einer zielbewussten Veränderung. Sozialwissenschaftler wie Naturwissenschaftler setzen sich daher die Erforschung von Kausalverbindungen als höchstes, wenn auch keineswegs einziges Ziel. Diese Art von Forschung ist damit größte Chance, aber auch größte Gefahr jeder Wissenschaft. Derartige Zusammenhänge zwischen Einzelerkenntnissen lassen sich nicht anders darstellen als eben in einer Theorie. Und nur eine Theorie kann den wissenschaftlichen Beitrag zu einer Praxisveränderung liefern. Damit sind wir beim Verhältnis von Theorie und Praxis. In der öffentlichen Diskussion wird dieses Verhältnis meistens so gesehen, wie es Kant in seiner berühmten Streitschrift zitiert: »Das mag in der Theorie www.claudia-wild.de: [UTB_S]__Endruweit__Empirische_Sozialforschung__[Druck-PDF]/ 15.05.2015/ Seite 20 www.claudia-wild.de: [UTB_S]__Endruweit__Empirische_Sozialforschung__[Druck-PDF]/ 15.05.2015/ Seite 21 21 richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis.« 8 Nach dem hier vorgestellten Theoriebegriff für die empirischen Sozialwissenschaften muss man eher den Satz des Psychologen Kurt Lewin für richtig halten: »Es gibt nichts Praktischeres als eine gute Theorie.« 9 1.2 Empirische Sozialwissenschaft Was im Kapitel 1.1 zum Wissenschaftsbegriff gesagt wurde, muss uneingeschränkt auch für die empirischen Sozialwissenschaften zutreffen, wenn sie im beschriebenen Sinn als Wissenschaften gelten wollen. »Wissenschaft« ist der Oberbegriff, so dass alle seine Merkmale in jeder Sozialwissenschaft anwendbar sein müssen. Von anderen Wissenschaften, also ebenfalls konkreten Unterbegriffen von »Wissenschaft«, können und/ oder müssen Sozialwissenschaften sich aber in zweierlei Hinsicht unterscheiden. Eine erste Besonderheit könnte aus dem Gegenstand der Sozialwissenschaften kommen, also aus der Tatsache, dass die Sozialwissenschaften die Gesellschaft erforschen. Ein häufiger Ansatz zur Unterscheidung von Wissenschaften geht davon aus, dass jede Wissenschaft eigene Gegenstände und/ oder Methoden habe. Daraus leiten wir die Überlegung ab, dass bestimmte Gegenstände auch bestimmte Methoden verlangen bzw. ausschließen. So brauchen die Sozialwissenschaften Methoden, mit denen sie die Selbstdeutungen ihres Gegenstandes ermitteln können; die Geologen können darauf besten Gewissens verzichten. Andererseits können Sozialwissenschaftler keine Methoden benutzen, durch die ihr Gegenstand vernichtet oder auch nur wesentlich verändert wird. Müssten sich die Ingenieurwissenschaften damit begnügen, was sie zerstörungsfreie Prüfverfahren nennen, hätten sie sicherlich noch viel engere Grenzen ihres Wissens. Wissenschaftstheorie und Wissenschaftsethik haben hier wieder einen Berührungspunkt. Wer sich zu verdeckter, teilnehmender Beobachtung in eine Selbsthilfegruppe jugendlicher Drogenabhängiger einschleicht und die Ursache der Therapieerfolge im missionarisch-religiösen Eifer eines Meinungsführers genau herauspräpa- 8 Kant a. a. O., der diesen Spruch nicht bejaht, der aber, zeitbedingt, auch einen anderen Theoriebegriff hat als den hier vorgestellten. 9 Lewin, S. 169. www.claudia-wild.de: [UTB_S]__Endruweit__Empirische_Sozialforschung__[Druck-PDF]/ 15.05.2015/ Seite 22 www.claudia-wild.de: [UTB_S]__Endruweit__Empirische_Sozialforschung__[Druck-PDF]/ 15.05.2015/ Seite 23 22 riert, hat sich damit einen viel beachteten Aufsatz und der Wissenschaft vielleicht eine wichtige Erkenntnis verschafft; ob diese aber sozial-- und wir hatten Wissenschaft von ihrer sozialen Aufgabe her definiert! - - gerechtfertigt ist, wenn wegen dieser Erkenntnis die Gruppe zerbricht, ist eine andere Frage. Schließlich ist in der Gesellschaft vieles auch bei schonendsten Forschungsmethoden auf natürliche Weise vergänglich und nicht unveränderlich, beliebig reproduzierbar oder nach Wunsch herstellbar wie bei vielen Objekten der Physik oder Chemie. Unter den Naturwissenschaften leiden bisher vor allem die Biologie und zunehmend die Geowissenschaften unter ähnlichen Erkenntnisgrenzen wie die Sozialwissenschaften. Eine zweite Besonderheit könnte aus der Bestimmung kommen, dass die Sozialwissenschaften empirisch sein sollen. Hatte ihr Gegenstand sie eben vornehmlich gegen die Naturwissenschaften abgegrenzt, so stimmen sie hier mit ihnen überein; Naturwissenschaften sind stets empirisch. Die Sozialwissenschaften setzen sich mit dem Adjektiv »empirisch« gegenüber den Wissenschaften ab, die sich selbst als nicht empirisch bezeichnen oder bei denen Empirie schwer vorstellbar ist. Wenn Theologen den Sinn der Weltuntergangsprophetie oder Literaturwissenschaftler die Absicht des Dichters des Hildebrandsliedes darstellen wollen, so ist das empirisch nicht möglich. Empirisch arbeiten heißt: die Theorie an der Wirklichkeit überprüfen; dahinter steht die bereits aufgestellte Definition der Theorie als ein System von Sätzen mit Seinsaussagen über Wirklichkeit. Dann muss sich die Richtigkeit einer Theorie in der erfahrungsmäßigen Konfrontation mit der Wirklichkeit erweisen. Dazu muss der Gegenstand »wirklich« sein können. Die gegenwärtige Gesellschaft ist es; eine vergangene ist es in eingeschränktem Sinn, weil viele notwendige Daten nicht mehr beschafft werden können; eine zukünftige Gesellschaft ist jetzt nicht überprüfbar, weil es über sie zur Zeit genauso wenige Daten gibt wie über die Schlacht bei Hermagedon. Der Vorteil einer empirischen Wissenschaft beruht auf methodologischen Gründen. Eine empirische Wissenschaft kann eine andere Art von Wahrheit bieten als rein gedankliche, dann meist »theoretisch« genannte Aussagen. Gedankliche Aussagen können auf zweierlei Weise zu dem Urteil führen, sie seien »wahr«. Erstens könnte jemand sie für wahr halten, weil sie ihm plausibel erscheinen. Das mag daran liegen, dass er Ähnliches selbst erlebt oder schon gelesen oder gehört hat; vielleicht denkt er auch nur so ähnlich wie der »Forscher«. Das wäre ein Urteil www.claudia-wild.de: [UTB_S]__Endruweit__Empirische_Sozialforschung__[Druck-PDF]/ 15.05.2015/ Seite 22 www.claudia-wild.de: [UTB_S]__Endruweit__Empirische_Sozialforschung__[Druck-PDF]/ 15.05.2015/ Seite 23 23 über die materielle Wahrheit der Aussage, also ein Urteil über die Wahrheit des Inhalts der Aussage. Aber diese Aussage wäre nur subjektiv wahr. Nur weil dieser Mensch diese Erfahrung gemacht hat, diese Vorinformation besitzt oder diese Denkstrukturen hat, erscheint ihm die Aussage plausibel. Wer diese Voraussetzungen nicht aufweisen kann, findet auch diese Aussage nicht plausibel. Zweitens könnte man eine Aussage für wahr halten, weil sie logisch ist, d. h. in einem denkregelmäßigen Zusammenhang mit einer anderen Aussage steht, die bereits als wahr gilt. Das wäre zwar ein Urteil über objektive Wahrheit, weil die Konkordanz mit Denkregeln nicht nur auf Grund der Erfahrungen eines bestimmten Menschen festgestellt werden kann. Aber es wäre auch nur eine formelle Wahrheit, weil Logik nie über die Richtigkeit von Inhalten einer Aussage, sondern nur über die Zulässigkeit unter formellen Gesichtspunkten entscheidet. Theoretische Arbeit kann also nur subjektiv-materielle oder objektiv-formelle Wahrheit liefern. Das Bestreben einer empirischen Wissenschaft geht dahin, auch objektivmaterielle Wahrheit zu bieten. Das ist für die Sozialwissenschaften ein besonders wichtiges Ziel, weil sie-- wie etwa Chemie und Biologie, aber im Gegensatz zur Mathematik, die keine materiellen Gegenstände hat-- nur über Gegenstände forschen, die in einem allerdings sehr weiten Sinn materiell sind. Bei Gruppen, Kasten und Familien ist das leicht vorstellbar; aber auch soziales Handeln, Sozialisation und ähnliche beobachtbare Prozesse und selbst solche gedanklichen Konstrukte wie Rollen und Verhaltensmuster sind in diesem Sinn materiell, weil sich ihre Existenz durch Untersuchung ihrer Wirksamkeit in Bewusstsein und Verhalten nachweisen lässt. Im Vergleich dazu sind manche Gegenstände der Geisteswissenschaften in einem viel handfesteren Sinn materiell: als Denkmäler, gesprochene Worte, geschriebene Romane und Partituren. Aber bei ihnen interessiert weniger ihre »objektive« Seite, ihre regelmäßige sichtbare Struktur. Sie werden eher auf ihre subjektiven Absichten, Verwendungen, Interpretationen und Wirkungen befragt. Wo es dagegen in gesellschaftsbezogene Fragestellungen übergeht- - etwa Verbreitung des Schülerjargons, Zusammenhänge zwischen Vorliebe für bestimmte Literatur und bestimmte Formen zwischenmenschlichen Verhaltens oder schichtenspezifische Unterschiede beim Konzertbesuch--, geht es zumeist auch schon von der Sprach- und Musikwissenschaft in eine spezielle Sozialwissenschaft hinüber, weil hier nur empirisch zu klärende Sachverhalte das Thema sind. www.claudia-wild.de: [UTB_S]__Endruweit__Empirische_Sozialforschung__[Druck-PDF]/ 15.05.2015/ Seite 24 www.claudia-wild.de: [UTB_S]__Endruweit__Empirische_Sozialforschung__[Druck-PDF]/ 15.05.2015/ Seite 25 24 Alles in allem muss also die Wissenschaftstheorie der Sozialwissenschaften darauf Rücksicht nehmen, dass ihre Gegenstände erstens historisch (=- zeitgebunden) und oft kulturspezifisch sowie zweitens zumeist selbst handlungs- und selbstdeutungsfähig sind. Darin besteht der Unterschied zur Wissenschaftstheorie der Naturwissenschaften, mit denen die Sozialwissenschaften aber den grundsätzlich empirischen Ansatz gemeinsam haben. Dieser unterscheidet sie von den Geisteswissenschaften. 1.3 Wissenschaftstheorie Man könnte versucht sein, für die Festlegung des Begriffs der Wissenschaftstheorie von dem in Kapitel 1.1.3 aufgestellten Theoriebegriff auszugehen. Es ist jedoch fraglich, ob das ein sachlich gerechtfertigter Oberbegriff ist. Denn der allgemeine Theoriebegriff hat Wissensaussagen zum Gegenstand, wenngleich auf oft relativ hypothetischem Niveau. In der Wissenschaftstheorie kann es aber kaum um Wissen in dem Sinn gehen, wie in Kapitel 1.1.1 dargelegt. Vielmehr ergibt sich aus dem bisher Gesagten als Ziel der Wissenschaftstheorie eher die Suche nach einem Konsens darüber, wie Wissenschaft betrieben werden solle, wann etwas als wissenschaftlich haltbar gelten solle, womit etwas wissenschaftlich geklärt werden solle. Es geht also um Aufstellung und Anerkennung von Regeln. Solche Regeln können auch in Satzsystemen zusammengefasst werden. Aber diese Sätze enthalten nicht Seinsaussagen, sondern Sollensaussagen. Sie stellen nicht Wirklichkeit dar, sondern Forderungen, Normen; sie beschreiben nicht, sondern sie gebieten oder verbieten. Deshalb sind Regeln, Normen, Gesetze und Ähnliches niemals ein geeigneter Gegenstand für empirische Überprüfung, so wie wir es vom Wissen verlangten. Man kann zwar empirisch überprüfen, ob das Gebot (=-Norm) »Du sollst nicht stehlen« von einer Mehrheit bejaht wird oder nicht, in welchem Maße es befolgt wird und unter welchen Umständen es besonders häufig nicht befolgt wird-- aber sein Inhalt, die Norm als solche, ist nicht überprüfbar. Denn die Norm sagt nicht, was ist; sie sagt, was sein soll: Überprüfbar sind aber nur Seins- und nicht Sollensaussagen. Die Wissenschaftstheorie besteht indessen in ihrem Kern aus Sollensaussagen, wie z. B. »Wissenschaftliche Ergebnisse sollen intersubjektiv überprüfbar sein«. Die Bezeichnung als Wissenschaftstheorie ist deshalb sehr unpassend, weil es sich nicht um eine Theorie im üblichen Sinne www.claudia-wild.de: [UTB_S]__Endruweit__Empirische_Sozialforschung__[Druck-PDF]/ 15.05.2015/ Seite 24 www.claudia-wild.de: [UTB_S]__Endruweit__Empirische_Sozialforschung__[Druck-PDF]/ 15.05.2015/ Seite 25 25 handelt. Da sie im Wesentlichen eine normative Disziplin ist 10 , wäre ihre Bezeichnung als Wissenschaftslehre besser, wie sie in der Philosophie häufiger benutzt wird. Im Englischen heißt das Gebiet ganz zutreffend philosophy of science, im Französischen allerdings théorie de la science oder gar théorie scientifique. Hier wird wegen des allgemein eingebürgerten Sprachgebrauchs der Begriff »Wissenschaftstheorie« weiterhin benutzt, ungeachtet der Zweideutigkeit des Begriffs. Alle weiteren Überlegungen basieren auf der folgenden Vorstellung von Wissenschaftstheorie: Definition »Wissenschaftstheorie« Eine Wissenschaftstheorie ist ein System von Sätzen mit Sollensaussagen, die angeben, unter welchen Bedingungen eine Wissensaussage als wissenschaftlich anerkannt werden soll. Damit erweist sich- - und das ist fast das einzige Unbestrittene in der Wissenschaftstheorie- -, dass Wissenschaftstheorie eine Meta»theorie« ist, 11 d. h. eine »Theorie« über Theorien. Sie erklärt also Wissenschaft selbst zu ihrem Gegenstand. Hierbei könnte sie eine echte Theorie sein, wenn sie Aussagen darüber machte, was in einer Wissenschaft wirklich getrieben wird; das ließe sich durchaus als Wissensaussage =-Seinsaussage empirisch überprüfen. Soweit die Wissenschaftstheorie aber nur Regeln für die Gültigkeit von Wissensaussagen aufstellt, müssen wir stets die Anführungszeichen bei -theorie mitdenken. Daraus folgt, dass wir hier nichts treiben werden, was nach dem Kriterium richtig oder falsch beurteilt werden kann; wir treiben hier nicht Wissenschaft, sondern Wissenschaftspropädeutik. Eine wissenschaftstheoretische ist keine wissenschaftliche Behauptung, die falsifiziert oder verifiziert werden kann. Vielmehr ist sie die Propagierung einer Regel oder eines Beurteilungsmaßstabes in der Hoffnung, dass möglichst viele Mitglieder der Wissenschaftlergemeinde sie/ ihn anerkennen und ihr/ ihm damit Geltung verschaffen. In der Wissenschaftstheorie geht es also 10 Die Zeit: Das Lexikon in 20 Bänden, Bd. 16, Hamburg: Zeitverlag 2005, S. 317: »Teilgebiet der zeitgenössischen theoretischen Philosophie, mithin eine normative Disziplin.« Vgl. die Unterscheidung von deskriptiver und normativer Wis senschaftstheorie bei Haase, S. 916. 11 Esser/ Klenovits/ Zehnpfennig, Bd. I, S. 12. www.claudia-wild.de: [UTB_S]__Endruweit__Empirische_Sozialforschung__[Druck-PDF]/ 15.05.2015/ Seite 26 www.claudia-wild.de: [UTB_S]__Endruweit__Empirische_Sozialforschung__[Druck-PDF]/ 15.05.2015/ Seite 27 26 nicht um die empirische Feststellung der Wissenschaftspraxis (das geschieht eher in der Wissenschaftssoziologie), sondern um Empfehlungen für diese Praxis. Deshalb ist es auch nicht verwunderlich, dass die Meinungen auf diesem Gebiet sehr zahlreich sind und in dieser Einführung nur in gelegentlichen Verweisen wiedergegeben werden können. www.claudia-wild.de: [UTB_S]__Endruweit__Empirische_Sozialforschung__[Druck-PDF]/ 15.05.2015/ Seite 26 www.claudia-wild.de: [UTB_S]__Endruweit__Empirische_Sozialforschung__[Druck-PDF]/ 15.05.2015/ Seite 27 27 2. Wissenschaftstheoretische Aspekte des sozialwissenschaftlichen Forschungsprozesses Im engeren Sinne versteht man unter Forschung in den Sozialwissenschaften die Feldforschung (field research), also die Datenerhebung in der natürlichen Umgebung unserer Forschungsobjekte. Der Interviewer mit dem Fragebogen gilt in öffentlicher Meinung und Karikatur als Prototyp des Sozialforschers. Für die Feldforschung gelten die folgenden Ausführungen besonders, aber auch die Laborforschung folgt diesem Muster. Daneben gibt es aber auch in der Sozialforschung die Schreibtischforschung (desk research), die ansonsten eher für die Geisteswissenschaften typische Forschungsform. In den Sozialwissenschaften werden in dieser Form beispielsweise vorhandene (statistische u. a.) Daten in neuer Weise ausgewertet. Für sie muss- - sofern sie nicht kompilatorische, exegetische oder apologetische Arbeit ist- - im Grunde dasselbe gelten, wenngleich die Zäsuren zwischen den einzelnen Phasen nicht so sichtbar sein werden. Diese Phasen finden sich auf der »5. Umschlagseite«, der eingeklappten Hälfte des doppelten Umschlagdeckels. Dieses Schema ist eine Weiterentwicklung eines Schemas von Walter Wallace 12 und stellt den zeitlichen Ablauf des typischen sozialwissenschaftlichen Forschungsprozesses dar. Am besten hält man dieses Schema während der weiteren Lektüre aufgeklappt, damit man ständig die Position der Argumentation vor Augen hat. 2.1 Forschungsthema Bevor der eigentliche Forschungsprozess beginnen kann, benötigen wir das Forschungsthema. Das ist eine einzige Frage oder ein Komplex von Fragen über soziale Zusammenhänge, deren Klärung von der Wissenschaft erwartet wird. Das Forschungsthema ist damit in der Regel der Punkt, an dem sich Wirklichkeit und Wissenschaft erstmals berühren. An dieser 12 Wallace, S. 18 und 23. Vgl. auch das Schema bei Kornmeier, S. 195. www.claudia-wild.de: [UTB_S]__Endruweit__Empirische_Sozialforschung__[Druck-PDF]/ 15.05.2015/ Seite 28 www.claudia-wild.de: [UTB_S]__Endruweit__Empirische_Sozialforschung__[Druck-PDF]/ 15.05.2015/ Seite 29 28 Stelle gibt die Realität eine Initialzündung zur Weiterentwicklung der Wissenschaft, die dann stets in einem formal recht gleichartigen Prozess weiterläuft. Damit gehört das Forschungsthema nur teilweise zum wissenschaftlichen Forschungsprozess. Mit seinem anderen Teil gehört es in die Lebensrealität, aus der heraus es in die Wissenschaft als Aufforderung gestellt wird. In unserem Schema wird es deshalb, im Gegensatz zu den durchgezogenen Linien der Phasen des Forschungsprozesses, gestrichelt gezeichnet. Wieso das Forschungsthema ein Bindeglied zwischen Wirklichkeit und Wissenschaft darstellt, wird deutlicher, wenn man sich vergegenwärtigt, woher Forschungsthemen üblicherweise kommen. Forschungsauftrag In manchen Fällen gibt es einen Auftraggeber, der eine Forschungsfrage per Ausschreibung an alle denkbaren Auftragnehmer oder per Direktauftrag an einen bestimmten Auftragnehmer stellt. Bei Auftragserteilung übernimmt der Auftraggeber in der Regel die Kosten der Forschung. Solche Aufträge fordern häufig zur Kritik an der empirischen Sozialforschung heraus. Soweit es dabei um wissenschaftstheoretische Probleme geht, sind die Aufträge relativ unbedenklich, wenn sie nicht wesentlich mehr als die Forschungsfrage(n) enthalten. Sollten sie noch Vorgaben für die Ergebnisse enthalten, ist der Auftragnehmer aus der Liste der Wissenschaftler zu streichen, weil es ihm nicht um die Wahrheit geht, sondern in Wahrheit nur um Geld. Schwieriger ist die Frage von Veröffentlichungsvorbehalten. Forscherneugier In anderen Fällen macht der Forscher selbst eine Beobachtung oder erhält aus Lektüre und Diskussionen eine Anregung, auf Grund derer er eine Frage aus der Wirklichkeit nicht mit der wissenschaftlich erforderlichen Genauigkeit beantworten kann. Dann ist Forschung geboten. Solche Forschung verlangt fast ausnahmslos Projekte, die kein einzelner Forscher und selten ein Institut aus Eigenmitteln durchzuführen in der Lage ist. Es müssen also interessierte Geldgeber für eine Untersuchung gefunden werden. Beide Quellen eines Forschungsthemas, Forschungsauftrag und Forscherneugier, haben gemeinsam, dass jemand etwas über die Wirklichkeit wissen möchte. Sofern es darüber noch keine gesicherten Forwww.claudia-wild.de: [UTB_S]__Endruweit__Empirische_Sozialforschung__[Druck-PDF]/ 15.05.2015/ Seite 28 www.claudia-wild.de: [UTB_S]__Endruweit__Empirische_Sozialforschung__[Druck-PDF]/ 15.05.2015/ Seite 29 29 schungsergebnisse gibt, muss also Forschung in Gang gesetzt werden. Dabei sehen wir ein sowohl wissenschaftstheoretisches wie wissenschaftspolitisches Problem: Wie kann angesichts der Tatsache, dass sowohl Auftraggeber wie Forscher ihr Forschungsthema in der Regel auf Grund ihrer persönlichen Interessen und Wahrnehmungen der Wirklichkeit formulieren und damit die Wissenschaft betont in diesem Bereich weiterentwickeln, gewährleistet werden, dass nicht die Wissenschaft in bedenklicher Weise beeinflusst wird? Bedenklich wäre das deshalb, weil die Wissenschaft durch Setzung von Forschungsschwerpunkten die Wirklichkeit verzerren könnte, indem sie einige Gebiete überbetont und andere vernachlässigt. Dafür gibt es einerseits den Versuch, durch staatlich finanzierte Förderorganisationen in Eigenverwaltung der Wissenschaftler Forschung zu ermöglichen, die von den Außeninteressen von Auftraggebern unabhängig ist. Das würde eine eher wissenschaftssystematisch »ausgewogene« Forschung erleichtern. Andererseits müssen wir aber auch angesichts unserer sozialen Definition von Wissenschaft sagen, dass ein Teil von Wirklichkeitsverzerrung geradezu natürlich ist. Was wissenswert ist, kann nicht nur auf Grund objektiver Wissenschaftssystematik festgelegt werden, sondern zu einem erheblichen Teil auf Grund sozialer Bewertung, d. h. sozial gewichteter =- selektiver Wahrnehmung und Beurteilung der Wirklichkeit. Schließlich hat auch die Wirklichkeit, sofern sie nicht nur beschrieben wird, keine »objektive« Struktur, sondern eine sozial interpretierte. Das erklärt dann auch, warum plötzlich Phänomene mit viel Einsatz und Arbeitskraft erforscht werden, um die sich Jahrzehnte lang kaum jemand gekümmert hat, während bisher intensiv beackerte Felder nun unbearbeitet liegen bleiben, obwohl sie noch längst nicht unfruchtbar sind. 2.2 Theorie Am Anfang jeder empirischen Forschung steht stets die Theorie; ohne sie gibt es weder wissenschaftliche Forschung noch Wissenschaft. 2.2.1 Theorie und Forschungspraxis Schon bei den Überlegungen zum Forschungsthema müsste der Gedanke nahe gelegen haben, dass die Theorie am Anfang jeder Forschungspraxis stehe. Wenn das Forschungsthema in der Regel eine Frage aus der Allwww.claudia-wild.de: [UTB_S]__Endruweit__Empirische_Sozialforschung__[Druck-PDF]/ 15.05.2015/ Seite 30 www.claudia-wild.de: [UTB_S]__Endruweit__Empirische_Sozialforschung__[Druck-PDF]/ 15.05.2015/ Seite 31 30 tagswirklichkeit an die Wissenschaft ist, dann müsste entsprechend unserer Wissenschaftsdefinition die Wissenschaftsfabrik zuerst die Abteilung Theorie mit der Suche nach vorhandenem Erklärungswissen beauftragen, bevor sie nach einer Fehlanzeige der Theorieabteilung einen Produktionsauftrag für neues Wissen erteilt. Mit diesem Hinweis auf zwei Phasen zu Beginn einer wissenschaftlichen Problemlösung haben wir übrigens einen vor allem bildungspolitisch bedeutsamen Unterschied zwischen zwei wissenschaftlichen Arbeitsweisen ins Blickfeld bekommen, nämlich den Unterschied zwischen forschungs- und anwendungsorientierter Wissenschaft. Abbildung 1 gibt einige Elemente dieser Unterscheidung wieder. Dabei zeigt sich, dass man eine Wissenschaft nur dann anwendungsorientiert betreiben kann, wenn sie oder andere Bezugswissenschaften zuvor so forschungsorientiert betrieben wurden, dass genügend gesicherte Ergebnisse vorliegen, um sie ohne weitere Forschung anwendungsorientiert zur Gestaltung der Wirklichkeit verwenden zu können. Große Teile der Ingenieurwissenschaften lassen sich anwendungsorientiert betreiben, weil Physik und Chemie gesichertes Wissen bereitstellen. Anwendungsorientierte Sozialwissenschaften, etwa Unternehmensberatung, Klinische Psychologie und Erziehungsberatung, sind nur dann verantwortbar, wenn sie sich ebenfalls auf gesichertes Wissen aus validierten Theorien stützen können. Empirische Wissenschaft forschungsorientiert Typisierte Kriterien anwendungsorientiert Forschung Tätigkeit Anwendung Konfrontation von Theorie und Wirklichkeit Ziel Gestaltung der Wirklichkeit erklärungsbedürftige Fälle Objekt erklärte Fälle Kenntnis aller Theorien und Forschungsmethoden zu ihrer Überprüfung und Verbesserung Qualifikation Kenntnis aller validierten Theorien und ihrer Umsetzung in Praxis Verfahrenstechniken zu Abb. 1: Grundorientierung empirischer Wissenschaften www.claudia-wild.de: [UTB_S]__Endruweit__Empirische_Sozialforschung__[Druck-PDF]/ 15.05.2015/ Seite 30 www.claudia-wild.de: [UTB_S]__Endruweit__Empirische_Sozialforschung__[Druck-PDF]/ 15.05.2015/ Seite 31 31 In diesem Buch geht es ausschließlich um die forschungsorientierte wissenschaftliche Arbeit. Sie ist diejenige wissenschaftliche Tätigkeit, auf die das Universitätsstudium zugeschnitten ist; anwendungsorientierte Wissenschaftsnutzung sollte auch nach einem Fachhochschulstudium möglich sein, in dem nicht unbedingt die Ausbildung zu selbstständiger Weiterentwicklung der Wissenschaft betrieben werden muss. Die nun erkennbare enge Verknüpfung von Theorie und Empirie in der forschungsorientierten Sozialwissenschaft impliziert jedoch nicht, dass es sich stets um hochkarätige Probleme handelt. Selbst die profane Frage, unter welchem Stichwort im Register eines Buches, einer Zeitschrift oder eines Verzeichnisses von Forschungsprojekten man wohl nähere Information zum Inhalt oder Umfeld des eigenen Forschungsthemas finden könne, ist im Kern nichts anderes als die Frage nach dem theoretischen Zusammenhang des Forschungsthemas. Trotzdem klingt die Behauptung, alle Forschung beginne mit Theorie, für viele Menschen überraschend. Aus manchem Vorverständnis von Wissenschaft heraus könnten vor allem zwei Gesichtspunkte gegen diese Behauptung sprechen: Erstens kennen wir manche Entdeckung, die wir wissenschaftlich nennen, die aber allem Anschein nach keineswegs auf Grund sorgfältiger Forschung und zielstrebiger Theoriearbeit entwickelt wurde. Ein häufig erwähntes Beispiel ist die allerdings unbestätigte Geschichte, Isaac Newton sei auf das Gravitationsgesetz gekommen, als ihm beim Schlaf unter einem Obstbaum ein Apfel auf den Kopf fiel; er hätte also einen echten »Einfall« gehabt und keine anstrengende wissenschaftliche Arbeit geleistet. Eine, nun aber verbürgte, soziologische Parallele könnten die vielen Entdeckungen über Gruppenprozesse sein, die Charles Horton Cooley, nicht zuletzt aus gesundheitlichen Gründen an der von ihm bewunderten Feldforschung gehindert, mehr oder weniger unbeabsichtigt durch Beobachtung des Verhaltens seiner Kinder machte. Beide Fälle passen auf den ersten Blick nicht recht unter unsere Wissenschaftsdefinition, die so penetrant auf zielgerichteter Tätigkeit besteht; war hier doch offenbar der Zufall der wichtigste Faktor. Aber das täuscht. Vielen Menschen sind Äpfel auf den Kopf gefallen, ohne dass sie ein physikalisches Gesetz daraus ableiteten, und viele Menschen sahen ihren Kindern beim Spielen zu, ohne Mitteilenswertes dabei zu denken. Was hier am Ende doch Wissenschaft ist, waren nicht die angeblichen oder wirklichen Zufallserlebwww.claudia-wild.de: [UTB_S]__Endruweit__Empirische_Sozialforschung__[Druck-PDF]/ 15.05.2015/ Seite 32 www.claudia-wild.de: [UTB_S]__Endruweit__Empirische_Sozialforschung__[Druck-PDF]/ 15.05.2015/ Seite 33 32 nisse, sondern deren Verarbeitung, also die zielgerichtete Tätigkeit, die eine Theorie, eben Wissenschaft, erbrachte. Zweitens könnte man gegen die Notwendigkeit eines Anfangens in der Theorie einwenden, man forsche meistens dann, wenn man noch gar nichts wisse, also keine Theorie habe. Das gilt aber nicht einmal für den allerersten Anfang einer Wissenschaft. Denn selbst wenn es im Umfeld eines theorieheischenden Problems auch nicht den Ansatz einer Theorie gibt, so wird eine schlichte Beobachtung wie der Fall eines Apfels auf den Kopf immer nur dann zum Auslöser wissenschaftlicher Arbeit, wenn eine Ad-hoc-Theorie entworfen wird, wenn eine vorwissenschaftliche Vermutung über Zusammenhänge des Zufallserlebnisses mit weiterreichenden und deshalb erforschungswürdigen Phänomenen aufgestellt wird, wenn das Zufallserlebnis als ein potenzielles Element eines größeren sachlichen Zusammenhangs gedeutet wird- - eben als mögliches Theorieelement entsprechend unserer Theoriedefinition in Kapitel 1.1.3. 2.2.2 Quellen der Theorie Die obigen Überlegungen zeigen, dass am Ausgangspunkt eines Forschungsprozesses Theorien aus verschiedenen Quellen stehen können, die möglicherweise auch ein je unterschiedliches wissenschaftliches Niveau haben. Einige der möglichen Quellen sind: 1. Die Wissenschaft, also bereits vorhandene wissenschaftliche Theorien, die entweder weiterentwickelt werden können oder zwischen deren Elementen Lücken geschlossen werden müssen oder die insgesamt oder teilweise überprüfungsbedürftig sind, weil ihre Falsifizierung aus irgendeinem Grund nicht völlig unwahrscheinlich ist. 13 13 Ein weiterer Fall wäre der Widerspruch zwischen zwei Theorien, die dasselbe Phänomen unterschiedlich erklären. So erklärt Stanislav Andreski hohe Einkommensunterschiede in einer Gesellschaft mit der militärischen Sicherheit einer Gesellschaft, während Simon Kuznets sie darauf zurückführt, dass das Wohlstands- oder Modernisierungsniveau eine mittlere Höhe erreicht hat. Beide Theorien wurden mit Daten aus 61 Ländern überprüft, wobei sich die Theorie von Kuznets als häufiger erklärungskräftig erwies (Jagodzinski, Wolfgang/ Weede, Erich: Weltpolitische und ökonomische Determinanten einer ungleichen Einkommensverteilung, in: Zeitschrift für Soziologie 9, 1980, S. 122-148). www.claudia-wild.de: [UTB_S]__Endruweit__Empirische_Sozialforschung__[Druck-PDF]/ 15.05.2015/ Seite 32 www.claudia-wild.de: [UTB_S]__Endruweit__Empirische_Sozialforschung__[Druck-PDF]/ 15.05.2015/ Seite 33 33 Beispiel: Talcott Parsons, durch die Begründung der strukturell-funktionalen Theorie einer der wichtigsten Soziologen, der sich selbst als »incurable theorist« bezeichnete 14 , entwickelte 1953 am Schreibtisch ein Schema von funktionalen Problemen, die jedes soziale System lösen müsse. 15 Dieses nach seinen vier Funktionen (adaptation, goal attainment, integration und latency) AGIL-Schema genannte Modell war als gedachter Entwurf noch zu überprüfen, bevor es als vorläufiges wissenschaftliches Ergebnis zur Wirklichkeitserklärung angesehen werden konnte. So ergaben Untersuchungen von Familien, Arbeitsgruppen und anderen sozialen Systemen, dass in der Tat diese vier Funktionen ausgeübt wurden und dass die Art und Weise ihrer Ausübung weitere Aufschlüsse über die Struktur dieser Systeme gab. Man hätte also diese Theorie für relativ bewährt halten können. Trotzdem veröffentlichte Amitai Etzioni 1959 seine Analyse der Eliten von israelischen Kibbuzim mittels dieser Theorie. 16 Er hatte offensichtlich nur eine Wiederholungsuntersuchung beabsichtigt, die jedoch einen anderen sozialen Sektor zum Gegenstand hatte, um die Breite der Bewährung zu verbessern. Das gelang mit einigen Modifizierungen, so dass hier das Ausgehen von einer Theorie zu deren weiterer Erhärtung führte. 2. Das Alltagsverständnis, das als Konsens sehr vieler, wenn auch nicht immer sachkundiger Beobachter als vorwissenschaftliche Theorie eine in der Regel nicht ganz abwegige Vermutung über denkbare Erklärungs- und Kausalzusammenhänge liefert. Das Alltagsverständnis ist deshalb nicht nur verlegener Ersatz, sondern manchmal auch Ansatzpunkt einer wissenschaftlichen Theorie. Auch dazu ein Beispiel: Es ist eine Alltagserfahrung, dass nicht jeder wohnen kann, wo und wie er möchte. »Bessere Gegend« und »Arme- Leute-Viertel« sind umgangssprachliche Ausdrücke aus diese Erfahrung, die allerdings fast nur die Höhe der Grundstücks- und Mietpreise 14 Parsons, S. V. 15 Parsons, Talcott: A Revised Analytical Approach to the Theory of Social Stratification, in: Bendix, Reinhard/ Lipset, Seymour Martin (eds.): Class, Status and Power, New York: Free Press 1953, S. 92-128 (wieder abgedruckt in: Parsons, Talcott: Essays in Sociological Theory, rev. ed., New York/ London: Free Press/ Collier-Macmillan 1964, S. 386-439, hier insbes. S. 412). 16 Etzioni, Amitai: The Functional Differentiation of Elites in the Kibbutz, in: American Journal of Sociology 64, 1959, S. 476-487. www.claudia-wild.de: [UTB_S]__Endruweit__Empirische_Sozialforschung__[Druck-PDF]/ 15.05.2015/ Seite 34 www.claudia-wild.de: [UTB_S]__Endruweit__Empirische_Sozialforschung__[Druck-PDF]/ 15.05.2015/ Seite 35 34 umfasst und nicht deren weiteres Umfeld. Man könnte die Erfahrung für wissenschaftliche Theoriezwecke so umformulieren, dass »der Wohnungsmarkt« in Wirklichkeit aus mehreren Teilmärkten besteht, zwischen denen es vermutlich viele Grenzen und wenige Beziehungen gibt: ein interessanter Ausgangspunkt für einen wichtigen Bereich der Theorien über Sozialstruktur und Regionalwirtschaft zugleich. Trotz langjährigen Bestehens des Problems und einiger Ansätze gab es über einen beträchtlichen Zeitraum hinweg keine erklärungskräftige Theorie des Wohnungsmarktes. 17 Die Untersuchung einer einzigen deutschen Großstadt diente daher Detlev Ipsen zum Entwurf einer Theorie, welche die Alltagserfahrung systematisierte, differenzierte und in weitere Theoriebezüge, wie etwa über Segregation und Mobilität, einband. 18 3. Die Ad-hoc-Theorie hat zwei Hauptformen. Erstens gibt es die Variante, die der Forscher aus Mangel an passender wissenschaftlicher oder Allgemeinverständnis-Theorie selbst aufstellen muss; sie weist keine Besonderheiten auf. Hier soll deshalb die zweite Variante betrachtet werden, bei dem ein aus dem eigenen Sozialsystem bekanntes Phänomen in Frage gestellt wird durch das Kennenlernen eines gleichartigen Phänomens aus einem anderen Sozialsystem, wo es aber andere Strukturen und/ oder Funktionen zeigt. Diese Konstellation unterscheidet sich von der Anknüpfung an das Alltagsverständnis dadurch, dass hier ein Alltagsverständnis zum Phänomen im eigenen Sozialsystem keine vorwissenschaftliche Erklärungshilfe bieten kann, weil es nicht das andere Sozialsystem umfasst. Hier besteht der Theorieansatz also nicht in der »Verwissenschaftlichung« der Alltagserfahrung, sondern in der Entwicklung von Vergleichsansätzen-- ein besonders schwieriges Unterfangen. Beispiel: Mit der Beamtenschaft des eigenen Landes hat so mancher Erwachsene hinreichende Erfahrung, um sich darüber ein recht detailliertes Vorurteil bilden zu können. Erfährt er nun, dass britische Beamte weniger professionalisiert, aber mobiler sind, so reizt das zur Untersuchung der Gründe. Dazu braucht es aber einen Erklärungsansatz, der die 17 Forster, Edgar/ Steinmüller, Heinz: Probleme einer ökonomischen Theorie des Wohnungsmarktes, in: Hauswirtschaft und Wissenschaft 24, 1976, S. 118-124. 18 Ipsen, Detlev: Segregation, Mobilität und die Chancen auf dem Wohnungsmarkt. Eine empirische Untersuchung in Mannheim, in: Zeitschrift für Soziologie 10, 1981, S. 256-272. www.claudia-wild.de: [UTB_S]__Endruweit__Empirische_Sozialforschung__[Druck-PDF]/ 15.05.2015/ Seite 34 www.claudia-wild.de: [UTB_S]__Endruweit__Empirische_Sozialforschung__[Druck-PDF]/ 15.05.2015/ Seite 35 35 beobachteten bzw. berichteten Unterschiede auf mögliche Ursachen in den Karrierebedingungen, in der Berufsstruktur sowie in der Sozialstruktur zurückführt. 19 Damit ist wieder Theoriearbeit zu leisten, bevor mit der Empirie begonnen werden kann. 4. Weitere Quellen für theoretische Ansätze können Bibel- und Dichterworte, Sprichwörter, Anekdoten und sogar Zufallsannahmen sein. Man muss sie jedoch aufwendig ausbauen, im Wesentlichen als Adhoc-Theorie. Ein wichtiger Unterschied zwischen den erwähnten Quellen besteht zwischen der ersten und allen anderen. Im ersten Fall haben wir für die durch Forschung zu beantwortende Frage einen Ansatzpunkt in einer vorhandenen, bereits in einigen Fällen bestätigten Theorie. Bleibt die Frage, ob diese auch auf unseren Fall zutrifft, ob also das soziale System eines Kibbuz genauso funktioniert wie Arbeitsgruppen oder Familien. Dafür bietet die strukturell-funktionale Theorie bestätigte Erklärungsansätze. Es ist nur herauszufinden, ob diese auch auf die Kibbuzim zutreffen; nur dann wäre man einen Schritt weiter in der Frage, ob das AGIL- Schema für alle Sozialsysteme gilt oder nicht doch nur für die zufällig bisher untersuchten. In den anderen Fällen ist keine bereits bis auf Weiteres erklärungskräftige Theorie vorhanden. Wir müssen also erst einen theoretischen Erklärungsrahmen aufstellen, um die Forschungsfragen (z. B. Welche Auswirkungen hat die schichtenspezifische Aufteilung des Wohnungsmarktes? Woran liegt die im Vergleich zu deutschen Beamten höhere Bereitschaft britischer Beamter, den Beruf zu wechseln? ) beantworten oder um dafür sinnvoll Daten sammeln zu können. Hier ist eingehende theoretische Arbeit des Forschers notwendig. Wenn man sehr streng ist, müsste er eigentliche alle möglichen Erklärungen untersuchen. Das wäre aber nicht zu bewältigen; deshalb wird man sich eher auf die wahrscheinlicheren beschränken. Wenn alle diese Quellen nicht ergiebig sind, bleibt nichts anderes übrig als eine Art Voruntersuchung dieses Wirklichkeitsfeldes, um An- 19 Vgl. Nolterieke, Gertrud: Beamtenkarrieren in England und Deutschland: Laufbahnstrukturen gegen Ende der sechziger Jahre, in: Zeitschrift für Soziologie 10, 1981, S. 151-169. www.claudia-wild.de: [UTB_S]__Endruweit__Empirische_Sozialforschung__[Druck-PDF]/ 15.05.2015/ Seite 36 www.claudia-wild.de: [UTB_S]__Endruweit__Empirische_Sozialforschung__[Druck-PDF]/ 15.05.2015/ Seite 37 36 satzpunkte für eine Prüftheorie zu finden. Man nennt dieses Unterfangen eine Explorationsstudie oder Erkundungsstudie, im Englischen pilot study. Definition »Explorationsstudie« Eine Explorationsstudie ist eine Untersuchung, mit der in einem bisher nur wenig bekannten Bereich der Wirklichkeit Ansatzpunkte für eine Theorie gefunden werden sollen, die dann Gegenstand des eigentlichen Untersuchungsprojekts wird. 20 Es geht also um eine Voruntersuchung. Sie soll keine Ergebnisse liefern, sondern nur ein Handwerkszeug für die Hauptuntersuchung. Sie kann keine Ergebnisse liefern, weil sie die Kriterien für Wissenschaft, z. B. intersubjektive Begründbarkeit, nicht erfüllen kann. Das wird auch nicht dadurch anders, dass für die Explorationsstudie oft Datenerhebungstechniken der empirischen Sozialforschung benutzt werden, beispielsweise Gruppendiskussion, Informanteninterview oder Dokumentenanalyse, aber ohne deren methodische Strenge. Die Explorationsstudie ähnelt daher eher der journalistischen Recherche. Sie hat, wie der Pretest, kein wissenschaftliches Ergebnis, sondern dient zu dessen Vorbereitung. Deshalb geht sie auch nicht in die Auswertung der Untersuchung ein, mit Ausnahme vielleicht eines »repräsentativen Zitats«, d. h. einer besonders prägnanten Formulierung eines Befragten. Explorationsstudien sind besonders dann notwendig, wenn in anderen Kulturen geforscht werden soll, wie vor allem in der Ethnologie, aber auch in anderen Milieus der eigenen Kultur, wie in allen Sozialwissenschaften. 2.2.3 Bestandteile der Theorie Verwendungsbereiche, aber auch Problembereiche einer Theorie werden vielleicht deutlicher, wenn wir uns vor Augen halten, aus welchen Bestandteilen Theorien zusammengesetzt sind. 20 So oder ähnlich die weitaus herrschende Meinung (vgl. Uwe Flick bei Endruweit/ Trommsdorff/ Burzan, S. 118/ 119). Völlig anders, auch den Pretest umfassend: Mitchell, Mark/ Jolley, Janina: Research Design Explained, New York: Holt, Rinehart and Winston 1988, S. 334-335. www.claudia-wild.de: [UTB_S]__Endruweit__Empirische_Sozialforschung__[Druck-PDF]/ 15.05.2015/ Seite 36 www.claudia-wild.de: [UTB_S]__Endruweit__Empirische_Sozialforschung__[Druck-PDF]/ 15.05.2015/ Seite 37 37 2.2.3.1 Begriffe Da Theorien sprachliche Ausdrücke von Gedanken sind, ist der Begriff ihr Grundmaterial. Begriffe in Theorien können umgangssprachliche Wörter sein, die dann nicht problematischer oder unproblematischer sind, als jeder andere umgangssprachliche Begriff außerhalb einer theoretischen Verwendung. Es kann sich aber auch um Fachbegriffe handeln, die entweder in der Wissenschaftssprache überhaupt (Beispiel: System) oder in einigen Wissenschaftssprachen (Beispiel für die Sozialwissenschaften: Sozialisation) oder nur in einer einzigen Wissenschaft (Beispiel für Politikwissenschaft: Demokratie) verwendet werden. Gerade in den Sozialwissenschaften ist es häufig, dass Begriffe wegen des teilweise gemeinsamen Gegenstandes mehrerer Disziplinen zuerst gemeinsam benutzt werden, sich aber im Laufe der Geschichte der Einzelwissenschaften auseinanderentwickeln. Eine weitere Schwierigkeit in den Sozialwissenschaften stammt daher, dass sie oft Begriffe aus der Umgangssprache verwenden (auf diese Weise erkennen auch Nichtsozialwissenschaftler, über welchen Gegenstand geredet wird), ihnen dann aber einen etwas anderen Inhalt geben (Beispiel: Rolle). Damit haben wir schon bei den einzelnen Begriffen einer Theorie zwei Probleme: Erstens müssen wir in Erfahrung bringen, ob er umgangssprachlich oder als Terminus technicus benutzt wird. Zweitens ist auch bei wissenschaftlichen Begriffen deren Bedeutung genau zu klären, bevor sie als Bezugspunkte für ein Forschungsthema in der Theorie benutzt werden können. So ist einer der häufigsten Begriffe in der Wissenschaft, der Funktionsbegriff, in den einzelnen Disziplinen in sehr unterschiedlichen Bedeutungen im Umlauf, und die Sozialwissenschaften können mehrere davon gebrauchen. Wenn also in den Sozialwissenschaften von Funktion geredet wird, kann es sich handeln um den: - philosophischen Funktionsbegriff, der die Abhängigkeit eines Phänomens von einem anderen bezeichnet und etwa für die Psychologie, Pädagogik und Soziologie u. A. deswegen große heuristische Bedeutung hat, weil Ernst Mach vorschlug, Kausalitätsuntersuchungen als Funktionalitätsuntersuchungen zu verstehen; - mathematischen Funktionsbegriff, der die Abhängigkeit zwischen Variablen bezeichnet und damit einer der Grundbegriffe für die Statistik und die Methodenlehre der Sozialwissenschaften ist; - physiologischen Funktionsbegriff, der die einem Organ zugeordnete Tätigkeit bezeichnet und damit-- neben der älteren organizistischen www.claudia-wild.de: [UTB_S]__Endruweit__Empirische_Sozialforschung__[Druck-PDF]/ 15.05.2015/ Seite 38 www.claudia-wild.de: [UTB_S]__Endruweit__Empirische_Sozialforschung__[Druck-PDF]/ 15.05.2015/ Seite 39 38 Gesellschaftstheorie-- als Parallele zum Aufgabenbegriff auch in vielen speziellen Soziologien (z. B. Funktionen des unmittelbaren Vorgesetzten im Betrieb) häufig verwendet wird; - Funktionsbegriff der strukturell-funktionalen Theorie, der allgemein den Beitrag eines Elements zur Erhaltung des Systems bezeichnet, welcher positiv (eufunktional) oder negativ (dysfunktional) sein kann, der aber durch die konservative Grundstimmung dieser Theorie inzwischen fast nur im Sinne der Eufunktionalität benutzt wird. Selbst wenn man sich auf einen Funktionsbegriff der Allgemeinen Soziologie einigen sollte, müsste man noch genau dessen theoretische Zuordnung im Sinne einer einzeltheoretischen Ausrichtung deutlich machen. Ein Grundsatz ist auch, dass Begriffe als solche stets möglichst allgemein sein sollen; Spezifizierungen gehören dann in die weiteren theoretischen Ausführungen. Vor allem sollen Begriffe als solche immer durchgängig gebraucht werden, auch wenn das manchmal monoton wirkt. In der Wissenschaftssprache ist der Verzicht auf Synonyme kein Mangel an Wortschatz, sondern ein Zeichen von Genauigkeit. Er vermeidet zeitraubende und vielleicht gar irreführende Überlegungen, ob ein Unterschied gemeint ist und, falls ja, welcher. Wie wählt man nun eine Theorie als Forschungsansatz für das eigene Forschungsthema aus? Meistens erkennt man schon an der Begriffsdefinition und -verwendung, welche die größtmögliche Erklärungskraft verspricht. Das führt zu einer Art Grundregel für die Theoriewahl: Eine Theorie ist ein Instrument, ein Werkzeug; die Theoriewahl folgt daher pragmatischen Gesichtspunkten. Wer immer nur derselben Theorie folgt, kennt entweder keine andere, oder er ist ein Ideologe. Die meisten Theorien haben besondere Schwerpunkte, so dass sich nicht alle gleichermaßen zur Erklärung eines Phänomens eignen. Welche im konkreten Fall die beste ist, lässt sich in diesem frühen Stadium des Forschungsprozesses natürlich nur mehr oder weniger nach Plausibilitätskriterien entscheiden. Ob diese Entscheidung richtig war, erweist sich erst bei der Auswertung, in der Theoriebilanz. Diese Gesichtspunkte gelten allerdings nur für den Regelfall der sozialwissenschaftlichen Forschung, also für die Untersuchung eines Themas, für das keine bestimmte Theorie vorgeschrieben ist. Soll dagegen eine bestimmte Theorie validiert werden (theorieprüfende Untersuchung), so darf man selbstverständlich nur diese benutzen www.claudia-wild.de: [UTB_S]__Endruweit__Empirische_Sozialforschung__[Druck-PDF]/ 15.05.2015/ Seite 38 www.claudia-wild.de: [UTB_S]__Endruweit__Empirische_Sozialforschung__[Druck-PDF]/ 15.05.2015/ Seite 39 39 2.2.3.2 Sätze Entsprechend unserer Definition des Theoriebegriffs in Kapitel 1.1.3 betrachten wir nun die Sätze als wesentliche Bestandteile einer Theorie. Erst Sätze sind in der Lage, komplexere Aussagen wiederzugeben. Während einzelne Begriffe im Wesentlichen nur Gegenstände einer Wissenschaft bezeichnen können, sind mit Sätzen nähere Beschreibungen dieser Gegenstände möglich und vor allem Angaben über die Beziehungen zwischen ihnen. Damit haben wir die wesentlichen formalen Inhalte einer jeden Theorie aufgezählt: Beschreibung der Gegenstände einer Wissenschaft und Angabe der Beziehungen zwischen den Gegenständen. Alle Sätze einer Theorie sind Aussagesätze. Daraus allein ergibt sich schon ein Hinweis auf die Ungeeignetheit von Sollenssätzen für wissenschaftliche Theorien; sie sind zwar von ihrer Form her auch Aussagesätze, aber nur verkappte, weil ihr Inhalt eigentlich als Aufforderungssatz (Befehlssatz) am angemessensten ausgedrückt wäre und auch ohne Schwierigkeiten ausgedrückt werden kann. Aufforderungssätze klingen jedoch recht unfreundlich und werden deshalb gemieden. Sprachwissenschaftlich bezeichnet man als Aussage »eine sinnvolle sprachliche Äußerung, die wahr oder falsch, wahrscheinlich oder möglich sein kann«. 21 Das gilt uneingeschränkt auch für die Sätze einer wissenschaftlichen Theorie, deren Nutzer aber oft den Relativsatz nicht bewusst mitdenken. Aussagesätze können je nach ihrem Inhalt eine verschiedene sprachliche Konstruktion haben. Diese Konstruktionsunterschiede bieten in der Regel unmittelbar erhebliche Unterschiede in den Bedingungen ihrer empirischen Überprüfung. Dieses sehr sichtbare Bindeglied zwischen Theorie und Forschungsmethodik soll deshalb hier etwas eingehender untersucht werden. Dabei sind dies die wichtigsten Typen von Aussagesätzen: 22 21 Stichwort »Aussage« in: Brockhaus-Enzyklopädie, 2. Band, 17. Auflage, Wiesbaden: Brockhaus 1967, S. 112. 22 Für diesen Teil entnehmen wir sämtliche Beispiele Max Webers Bürokratietheorie, um an ihnen zu zeigen, dass bereits klassische Theorien nach den Gesichtspunkten analysiert werden können, die erst später in der Wissenschaftstheorie entwickelt wurden. www.claudia-wild.de: [UTB_S]__Endruweit__Empirische_Sozialforschung__[Druck-PDF]/ 15.05.2015/ Seite 40 www.claudia-wild.de: [UTB_S]__Endruweit__Empirische_Sozialforschung__[Druck-PDF]/ 15.05.2015/ Seite 41 40 1. Einfache Eigenschaftsangaben (»Ist-Sätze«) Klassisches Muster eines solchen Theoriesatzes ist Thomas Hobbes’ »homo homini lupus (est)«. Inhaltsreicher, aber prinzipiell gleichförmig ist die folgende Aussage Max Webers: »Präzision, Schnelligkeit, Eindeutigkeit, Aktenkundigkeit, Kontinuierlichkeit, Diskretion, Einheitlichkeit, straffe Unterordnung, Ersparnisse an Reibungen, sachlichen und persönlichen Kosten sind bei streng bürokratischer, speziell: monokratischer Verwaltung durch geschulte Einzelbeamte gegenüber allen kollegialen oder ehren- und nebenamtlichen Formen auf das Optimum gesteigert.« 23 Schon in diesem frühen Stadium eines Forschungsprozesses sehen wir, was wir demnächst benötigen: 1) ein Maß zur Messung von Präzision der Verwaltung, ein Maß zur Messung von Schnelligkeit der Verwaltung, ein Maß-…; 2) eine monokratisch-bürokratische Verwaltung, in der wir solche Messungen durchführen können; 3) eine nicht monokratisch-bürokratische Verwaltung, in der wir solche Messungen durchführen können. Sehen wir keine Möglichkeit, diese drei Forderungen zu erfüllen, können wir das Projekt direkt abbrechen; denn dann ist diese Theorieaussage empirisch nicht überprüfbar und bleibt weiterhin eine schlichte Vermutung. Trotzdem gehören Ist-Sätze zu den wissenschaftstheoretisch interessantesten. Enthält ein Satz nicht mehr als Satzgegenstand und Satzaussage (Subjekt und Prädikat), ist er üblicherweise das, was man im Kritischen Rationalismus einen Allsatz nennt: Alle Menschen verhalten sich zueinander wie Wölfe. Damit erscheinen diese Sätze als methodologisch ideal für eine empirische Überprüfung. Denn wenn wir nur einen einzigen Menschen finden, den die Nächstenliebe regiert, ist der Theoriesatz widerlegt, und wir haben einen eindeutigen Forschungserfolg. Ebenso könnte ein Master-Kandidat einen zentralen Bestandteil von Max Webers Bürokratietheorie aus den Angeln heben, wenn er in irgendeiner Savanne einen Dorfrat fände, der durch Palavern ein Problem der Gesundheitsfürsorge schneller löst als der District Commissioner des Health Service. Im Prinzip ist das alles richtig. Aber das Prinzip gilt nicht immer in den Sozialwissenschaften. Es knüpft zu pedantisch an sprachliche Formulierungen an, weil es- - linguistisch mit Recht- - im Grunde davon 23 Weber, S. 716. www.claudia-wild.de: [UTB_S]__Endruweit__Empirische_Sozialforschung__[Druck-PDF]/ 15.05.2015/ Seite 40 www.claudia-wild.de: [UTB_S]__Endruweit__Empirische_Sozialforschung__[Druck-PDF]/ 15.05.2015/ Seite 41 41 ausgeht, dass mit den Allsätzen sozialwissenschaftliche Gesetze aufgestellt werden sollen. Stichwort »Gesetz und Regel« Gesetze sind allgemeine Aussagen, die für jeden subsumierbaren Einzelfall gelten, in der Regel unabhängig von Zeit, Raum und konkretem Einzelobjekt. Die Naturwissenschaften bemühen sich um die Entdeckung solcher Gesetze. Auch die Gesetze, die ein Parlament beschließt, erheben diesen Anspruch. Regeln dagegen gelten nicht für jeden Einzelfall. Die Ausnahme von der Regel ist bei der Regel die Regel. Dabei ist die Ausnahme keine Durchbrechung, sondern von vornherein vorgesehen. Insbesondere in der Soziologie wurde früher nach sozialen Gesetzen gesucht. Auguste Comte, der als Erster das Wort Soziologie gebrauchte, wies dieser noch die Aufgabe zu, »l’ensemble des lois fondamentales propres aux phénomènes sociaux« zu entdecken. Für die Volkskunde wollte 1854 Wilhelm Riehl, einer ihrer Begründer in Deutschland, ebenfalls die Suche nach Quasi-Naturgesetzen zur Aufgabe stellen. 24 Zumindest wegen der- - im Vergleich zu den Gegenständen der Naturwissenschaften-- großen Zahl von Wirkungsvariablen und Randbedingungen erwies sich, dass solche Gesetze nicht zu entdecken waren. Heute forscht man lediglich nach Regelmäßigkeiten. Dabei ist im Einzelfall zu entscheiden, ob die Regel die Mehrzahl der Einzelfälle, den häufigsten Wert der Einzelfälle oder auch nur eine Minderheit der Einzelfälle erfasst, wenn diese Minderheit aus typologischen Gründen als charakteristisch und damit regelhaft gilt. Zur Vermeidung von Missverständnissen sei hier gesagt, dass diese Unterscheidung von Gesetz und Regel eine idealtypische ist, von der manche andere abweichen. 25 Da solche Versuche heute in der Regel nicht mehr unternommen werden, ist es jetzt allgemeine Überzeugung, dass von Allgemeinaussagen in den Sozialwissenschaften nicht auf haargenau dieselben Verhältnisse in jedem Einzelfall geschlossen werden könne; dann ist das Auffinden eines 24 Freudenthal, S. 12/ 13. 25 Vgl. für die Psychologie: Herzog, S. 100-192. www.claudia-wild.de: [UTB_S]__Endruweit__Empirische_Sozialforschung__[Druck-PDF]/ 15.05.2015/ Seite 42 www.claudia-wild.de: [UTB_S]__Endruweit__Empirische_Sozialforschung__[Druck-PDF]/ 15.05.2015/ Seite 43 42 abweichenden Einzelfalles (»ich kenne da einen, der-…«) keine Widerlegung der Allgemeinaussage. Das ist nur die Konsequenz aus der Regel, dass man von einem Teil nicht immer auf das Ganze schließen kann. Einfache Aussagen wollen also in den Sozialwissenschaften in den meisten Fällen nur Regelmäßigkeiten behaupten. Im folgenden Theoriesatz wird das sehr exakt durch das Wort »normalerweise« ausgedrückt: »Die ganz großen modernen kapitalistischen Unternehmen sind-… normalerweise unerreichte Muster straffer bürokratischer Organisation.« 26 Dieser Satz wird nicht widerlegt durch den Hinweis auf ein bestimmtes Großunternehmen mit charismatischer Chaotokratie. 2. Einfache Verlaufsangaben Manche Sätze enthalten auch einfache Aussagen wie die gerade erwähnten Eigenschaftsangaben. Ihre Aussagen haben aber soziale Prozesse zum Gegenstand, enthalten also eine Zeitkomponente. Ein Beispiel dafür: »Die Gebundenheit des materiellen Schicksals der Masse an das stetige korrekte Funktionieren der zunehmend bürokratisch geordneten privatkapitalistischen Organisation nimmt stetig zu.« 27 Sprachlich unterscheiden sich solche Sätze im Prinzip nicht von den Eigenschaftsangaben. Methodisch bieten sie einen wesentlichen Unterschied dadurch, dass sie nicht mit einer punktuellen Untersuchung überprüft werden können. Da sie soziale Prozesse zum Gegenstand ihrer Aussage haben, erfordern sie im einfachsten Fall zwei Messungen, um eine empirische Aussage über den Verlauf machen zu können. Dabei sind dann viele Probleme der Zeitreihenuntersuchung zu berücksichtigen- - von der Konstanz der Messumstände über die Gleichheit der Randbedingungen bis hin zur Identität des Gegenstandes. 3. Einfache Zusammenhangsangaben (»Wenn-dann-Sätze«) Wird bei den einfachen Verlaufsangaben ein Gegenstand zu mehreren Zeitpunkten untersucht, so werden bei den üblichen Wenn-dann-Aussagen zwei Gegenstände untersucht, zwischen denen ein Zusammenhang bestehen soll. Diese Aussagen haben sprachlich verschiedene Formen, meinen aber stets dieselbe Form von Zusammenhängen wie die wörtli- 26 Weber, S. 717. 27 Weber, S. 727. www.claudia-wild.de: [UTB_S]__Endruweit__Empirische_Sozialforschung__[Druck-PDF]/ 15.05.2015/ Seite 42 www.claudia-wild.de: [UTB_S]__Endruweit__Empirische_Sozialforschung__[Druck-PDF]/ 15.05.2015/ Seite 43 43 chen Wenn-dann-Sätze, etwa: »Stellt er (=-der bürokratische Herrschaftsapparat, G. E.) seine Arbeit ein-…, so ist die Folge ein Chaos.« 28 Was mit solchen Sätzen genau behauptet wird, ist oft nicht klar zu erkennen. Das Minimum ist stets ein zeitlicher Zusammenhang zwischen zwei Phänomenen: wenn A, dann B. Manchmal bedeutet das aber auch, dass zwischen beiden Phänomenen unausgesprochen ein kausaler Zusammenhang vermutet wird. So hält Max Weber in seinem obigen Satz vermutlich das Ende der bürokratischen Aktivität für die Ursache des Chaos. Manchmal liegt der Zusammenhang aber auch in einem dritten Phänomen, das gemeinsame Ursache für die beiden untersuchten ist. Da es selbst aber nicht Gegenstand des Satzes ist, muss es auch nicht untersucht werden, so dass diese sogenannte Drittvariable oft unentdeckt bleibt. 29 Stößt man bei Untersuchungen auf Fälle, in denen A ohne B auftritt, stellt sich wieder folgende Frage: Ist damit die Theorie widerlegt oder handelt es sich um Umstände, die eine Ausnahme von der Regel bedingen? Denn auch Wenn-dann-Sätze geben, wie schon die Ist-Sätze, Regeln an, jedoch keine Gesetze. Je mehr Theoriesätze ihren Geltungsbereich von vornherein einschränken, desto weniger werden Ausnahmen auftreten und desto mehr werden sie »gesetzesgleich«. 4. Angaben über kontinuierliche Zusammenhänge (»Je-desto-Sätze«) Komplexer werden die Zusammenhänge zwischen zwei Phänomenen, wenn nicht nur Gleichzeitigkeit oder Nachfolge behauptet werden, sondern wenn gesagt wird, dass die Veränderung des einen auch von einer Veränderung des anderen in bestimmtem Ausmaß begleitet werde. Das geschieht zumeist in Je-desto-Sätzen wie: »Je weiter wir in der Entwicklung zurückgehen, desto typischer wird für die Herrschaftsformen das Fehlen der Bürokratie und des Beamtentums überhaupt.« 30 Auch diese Zusammenhänge können sprachlich anders ausgedrückt werden: Der Satz »Mehr als die extensive und quantitative ist die inten- 28 Weber, S. 727. 29 So hatte jemand statistisch ermittelt, dass Unverheiratete mehr Süßigkeiten essen als Verheiratete. Darüber wurden manche tiefenpsychologische Spekulationen angestellt, bis jemand die Drittvariable »Alter« einführte: Die Unverheirateten waren überwiegend Kinder. 30 Weber, S. 738. www.claudia-wild.de: [UTB_S]__Endruweit__Empirische_Sozialforschung__[Druck-PDF]/ 15.05.2015/ Seite 44 www.claudia-wild.de: [UTB_S]__Endruweit__Empirische_Sozialforschung__[Druck-PDF]/ 15.05.2015/ Seite 45 44 sive und qualitative Erweiterung und innere Entfaltung des Aufgabenkreises der Verwaltung Anlass der Bürokratisierung« 31 kann umgeformt werden in »Je größer der Aufgabenzuwachs der Verwaltung wird, desto höher wird deren Bürokratisierung«, wobei hier allerdings der Unterschied zwischen dem extensiv-quantitativen und dem intensiv-qualitativen Aufgabenzuwachs nicht ausgedrückt wäre. Aus solchen Sätzen allein lässt sich manchmal nicht mehr entnehmen als die Behauptung, dass die Veränderung der einen Variablen von irgendeiner Veränderung der anderen begleitet sei. Ob diese Veränderung in gleicher Richtung oder in umgekehrter erfolge, wird meistens auch deutlich gesagt. Der reine Je-desto-Satz behauptet einen kontinuierlichen, zumeist linearen, positiven oder negativen Zusammenhang zwischen zwei Variablen. Übersetzt man den eben zitierten Satz Max Webers über den Zusammenhang zwischen Verwaltungsaufgaben und Bürokratisierung in ein Koordinatensystem, dann müsste es so aussehen, wie es Abb. 2 zeigt: Sollte aber eine empirische Untersuchung (z. B. durch Messung nicht nur zu den Zeitpunkten 1, 2 und 3, sondern zusätzlich bei 0,5, 1,5 und 2,5) erbringen, dass die Verwaltungsaufgaben wachsen, ohne dass 31 Weber, S. 715. Zuwachs Aufgaben 1 2 0 2 1 0 3 Bürokratie Zeit Abb. 2: Wachstum von Verwaltungsaufgaben und Bürokratisierung (nach Max Weber) www.claudia-wild.de: [UTB_S]__Endruweit__Empirische_Sozialforschung__[Druck-PDF]/ 15.05.2015/ Seite 44 www.claudia-wild.de: [UTB_S]__Endruweit__Empirische_Sozialforschung__[Druck-PDF]/ 15.05.2015/ Seite 45 45 sofort eine Parallelentwicklung bei der Bürokratisierung eintritt, weil beispielsweise in der Bürokratie eine gewisse Kapazitätselastizität besteht, so dass ihr Wachstum nur jeweils nach Erreichen bestimmter Schwellengrößen erfolgen muss oder kann, sähen die empirischen Kurven wie in Abbildung 3 aus. Die Bürokratisierung würde also nicht linear, sondern in Sprüngen wachsen, und damit wäre die Je-desto-Aussage, streng genommen, falsifiziert. Sie müsste also durch eine Aussage ersetzt werden, die den Zusammenhang zwischen dem Zuwachs an Aufgaben und dem Steigen des Bürokratisierungsgrades genauer wiedergibt. Dasselbe würde gelten, wenn die Bürokratisierungskurve steiler oder flacher verliefe als die Aufgabenzuwachskurve. Theorien sind hinsichtlich solcher Feinheiten oft nicht genügend detailliert und präzise, was bedeutet, dass die aus ihnen abgeleiteten Hypothesen oft zu allgemein und damit zu leicht widerlegbar sind. Ob eine solche Widerlegung nun aber eine Falsifizierung der Hypothese oder gar der Theorie insgesamt ist oder nur eine Feststellung von Ausnahmen, hängt wieder mit der Gesetz-Regel-Problematik der Sozialwissenschaften zusammen. Zuwachs Aufgaben 1 2 0 2,5 2 1,5 1,0 0,5 0 3 Bürokratie Zeit Abb. 3: Angenommener empirischer Verlauf der Kurven für Verwaltungsaufgaben und Bürokratisierung www.claudia-wild.de: [UTB_S]__Endruweit__Empirische_Sozialforschung__[Druck-PDF]/ 15.05.2015/ Seite 46 www.claudia-wild.de: [UTB_S]__Endruweit__Empirische_Sozialforschung__[Druck-PDF]/ 15.05.2015/ Seite 47 46 5. Zweckbestimmungen (»Um-zu-Sätze«) Gegen Ende der 1920er-Jahre schrieb Max Weber: »Im modernen Persien wurden die Telegraphenbeamten als solche offiziell mit der Berichterstattung über alle Vorkommnisse in den Provinzen über den Kopf der Lokalbehörden hinweg an den Schah betraut-…, um die bürokratische Zentralisation zu fördern.« 32 Das Um-zu gibt den Zweck, die Absicht hinter der Betrauung an. Wollte man nun den Erfolg dieser Maßnahme untersuchen, müsste man das in Gang setzen, was man in der modernen Organisationssoziologie eine Zielerreichungsstudie nennt. Bevor man sich an die Auswertung der vielleicht zigtausend Berichte (dass diese noch zur Verfügung stehen, wäre eine Bedingung für die Untersuchung überhaupt) und ihrer Auswirkung auf die Zentralisierung der Verwaltung macht, würde man zweckmäßigerweise prüfen, welche Person (der Schah selbst? ) oder Regierungsstelle diese Zweckbestimmung vorgenommen hat, wie lange sie verfolgt wurde (was taten die Nachfolger? ), ob sie den Telegrafenbeamten überhaupt bekannt gemacht wurde (nichtdemokratische Regime verschweigen ihre Absichten zumeist) usw. Befragungen kommen nicht in Betracht, weil die damals Beteiligten nicht für Interviews zur Verfügung stehen. Besser als das ohnehin zweifelhafte menschliche Erinnerungsvermögen ist in solchen Fällen die etablierte Historikermethode der Dokumentenanalyse, hier also des Erlasses oder eines Rundschreibens an die Telegrafenbeamten, vielleicht auch eines Protokolls einer eventuellen Behördenbesprechung. Notfalls täte es auch eine autobiografische Erinnerung, obwohl deren Wert nicht immer hoch ist. Und was tut man, wenn man das alles nicht bekommt? Dann bricht man am besten die Forschung an dieser Stelle ab und sucht sich ein anderes Thema. Denn sonst prüft man vielleicht die Erreichung eines Ziels bzw. Zwecks, das bzw. den es nie gegeben hat, weil es den Vätern dieses Erlasses tatsächlich z. B. um das frühe Erkennen von politischem Unruhepotenzial ging. 6. Kausalitätsangaben (»Weil-Sätze«) Weil-Sätze, also Sätze, die ursächliche Zusammenhänge zwischen Phänomenen angeben, sind die Kronjuwelen einer jeden Theorie. Erst sie bieten die »cognitio certa per causas« (das durch Ursachenkenntnis sichere Wissen), die schon die scholastische Philosophie als Ziel der 32 Weber, S. 716. www.claudia-wild.de: [UTB_S]__Endruweit__Empirische_Sozialforschung__[Druck-PDF]/ 15.05.2015/ Seite 46 www.claudia-wild.de: [UTB_S]__Endruweit__Empirische_Sozialforschung__[Druck-PDF]/ 15.05.2015/ Seite 47 47 Wissenschaft angab. Solch ein Satz ist beispielsweise: »Der nicht gewählte, sondern von einem Herrn ernannte Beamte funktioniert normalerweise- … exakter, weil- … mit größerer Wahrscheinlichkeit rein fachliche Gesichtspunkte und Qualitäten seine Auslese und seine Karriere bestimmen.« 33 Wohlgemerkt: Das Wissen ist erst nach empirischer Überprüfung sicherer, ob der Satz nun bestätigt oder widerlegt wurde. Auch hier kann ein Theoriesatz für die Forschung in der Form geändert werden, solange der Inhalt in seinen wesentlichen Teilen gleich bleibt. Max Webers Satz »der entscheidende Grund für das Vordringen der bürokratischen Organisation war von jeher ihre rein technische Überlegenheit über jede andere Form« 34 lässt sich auch lesen als: Die bürokratische Organisation hat sich immer mehr verbreitet, weil sie jeder anderen Verwaltungsform technisch überlegen war. Erst solch ein Kausalwissen, durch empirische Überprüfung gewonnen, macht wissenschaftliche Theorien zu einem Mittel für die bessere Beherrschung des Alltags. Was andernfalls mit Versuch-und-Irrtums-Verfahren erreicht werden kann, ist durch das Wissen aus Theorien nun im Vorhinein planbar und ohne Umwege und Verluste unmittelbar ins Werk zu setzen. Das wäre eine wirklich pragmatische Funktion sozialwissenschaftlichen Wissens. 2.2.3.3 Komplexere Theorieelemente Da die Möglichkeiten, komplexere Zusammenhänge, wie sie zumeist in der Wirklichkeit vorkommen, welche das Objekt sozialwissenschaftlicher Theoriebildung, sofern sich diese als empiriezugewandt versteht, ist, selbst in Thomas Manns Muttersprache, wie sie dieser Satz, wenn auch mit außerordentlich beschränkten Mitteln, anzudeuten versucht, doch begrenzt sind, auch wenn er noch so geschachtelt ist, bestehen sozialwissenschaftliche Theorien ausnahmslos aus Systemen von Sätzen. In einem solchen System lassen sich Über-, Unter- und Nebenordnungen von Aussagen einzelner Sätze, Begründungen, Randbedingungen, Ausnahmen usw. genau ausdrücken. Jedenfalls kann auf diese Weise jede Theorie so genau sein wie der Gedanke, den sie darstellen soll. Allerdings birgt die Vielfalt der sprachlichen Möglichkeiten der Theorie ihre Probleme für den Forscher. Je komplexer ein Theorieelement 33 Weber, S. 707. 34 Weber, S. 716. www.claudia-wild.de: [UTB_S]__Endruweit__Empirische_Sozialforschung__[Druck-PDF]/ 15.05.2015/ Seite 48 www.claudia-wild.de: [UTB_S]__Endruweit__Empirische_Sozialforschung__[Druck-PDF]/ 15.05.2015/ Seite 49 48 ist, desto schwieriger ist es in der Regel für die empirische Überprüfung aufzubereiten. Hier ist stets die methodologische Qualifikation des Forschers gefordert- - nie die Bereitschaft des Theoretikers, zugunsten der Einfachheit der Überprüfung auf Teile der Wirklichkeitsadäquanz zu verzichten. Ein weiteres Mal zeigt sich, dass Theorie und Empirie nicht zu trennen sind. Zur besseren Übersichtlichkeit der Darstellung und oft auch zur Vermeidung sprachlicher Wiederholungen werden komplexere Theorieelemente auch in Formeln, Tabellen und ähnlichen Schemata vorgestellt. So präsentiert beispielsweise Talcott Parsons seine Theorie der Handlungssubsysteme 35 , wie in Abbildung 4 zu sehen ist. Solche Übersichten bringen oft gerade durch ihre Formalisierung Klarheit in die theoretische Aussage. Für die empirische Überprüfung müssen sie in aller Regel aber doch in normale Satzform übersetzt werden, damit sich die einzelnen Schritte der Theorieaufbereitung hinreichend bestimmen und nachvollziehen lassen. 35 Parsons, Talcott: Societies. Evolutionary and Comparative Aspects, Englewood Cliffs: Prentice-Hall 1966, S. 28. III Intra-Action Environments of Social Systems II I Functions in General Action Systems IV Environments of Action V Cybernetic Relations »Ultimate Reality« High Information (Controls) Pattern Maintenance Integration Cultural System Coal Attainment Personality System Adaptation Behavioral Organism Social System Physical-Organic Environment High Energy (Conditions) Hierarchy of Conditioning Factors Hierarchy of Controlling Factors Abb. 4: Subsystems of Action (Talcott Parsons) www.claudia-wild.de: [UTB_S]__Endruweit__Empirische_Sozialforschung__[Druck-PDF]/ 15.05.2015/ Seite 48 www.claudia-wild.de: [UTB_S]__Endruweit__Empirische_Sozialforschung__[Druck-PDF]/ 15.05.2015/ Seite 49 49 2.2.4 Funktionen der Theorie Nach den Beispielen in Kapitel 2.2.3 ist es vielleicht klarer geworden, wozu die in Kapitel 2.2.1 aufgezählten Theoriebezüge im Rahmen des Forschungsprozesses dienen sollen: Sie sind ein Versuch, Antworten auf die Fragen des Forschungsthemas zu finden. Das muss nicht immer eine Erklärung von Kausalzusammenhängen sein; manchmal kann auch nur nach Begleitumständen eines Phänomens gefragt werden o. Ä. In jedem Fall aber muss die Theorie eine Antwort geben, die so erschöpfend wie möglich ist und die deshalb alle erkennbaren Konstitutionsbedingungen, Trendgrenzen, Nebenumstände, Alternativen usw. einbezieht. In der Regel ist diese theoretische Erklärung, zumindest gleich nach ihrer erstmaligen Aufstellung, nur hypothetisch, d. h. eine Behauptung, die noch durch konkrete Forschung zu »beweisen« ist. Das gilt sogar dann, wenn diese Theorie wiederholt getestet und dabei bestätigt wurde. Denn Theorien haben häufig Randbedingungen, die eine Erklärung oder eine Konsequenzprognose an bestimmte Einzelumstände des konkreten Falles knüpfen. Dann ist Forschung nicht zur Überprüfung der Theorie notwendig, sondern zur Klärung der Frage, unter welche Theorievariante der vorliegende Fall des Forschungsthemas zu subsumieren ist. Damit müssen wir zwei Konstellationen der Theorieverwendung in der Forschung unterscheiden: 1. Wir haben einen noch nicht hinreichend validierten Theorieansatz. Dann wird er als vorläufige Erklärung benutzt und auf seine Treffsicherheit beim vorliegenden Forschungsthema untersucht. Liegt sie vor, ist die Theorie etwas mehr erhärtet. Liegt sie nicht vor, wird die Theorie modifiziert oder aufgegeben. Da es hier im Wesentlichen um Theorieprüfung geht, nennen wir dieses Vorgehen theorieorientiert. 2. Wir haben eine als hinreichend validiert erachtete Theorie- - und damit auch einen als ausreichend anzusehenden Erklärungsansatz. Damit ist Forschung aber keineswegs stets überflüssig. Es könnte nämlich auch um die Frage gehen, ob der zu erklärende Einzelfall des Forschungsthemas unter die Theoriesätze subsumierbar sei. Das ist etwa in der Medizin das Problem des Diagnostikers. Er weiß, was er im Fall von Lungenentzündung an Theorie anzuwenden hat. Ob aber der konkrete Patient unter die Theorie für Lungenentzündung oder Grippe oder Keuchhusten fällt, ist erst durch Untersuchung dieses Patienten zu klären. Ein Soziologe könnte z. B. auf der Grundlage von Émile Durkheims Anowww.claudia-wild.de: [UTB_S]__Endruweit__Empirische_Sozialforschung__[Druck-PDF]/ 15.05.2015/ Seite 50 www.claudia-wild.de: [UTB_S]__Endruweit__Empirische_Sozialforschung__[Druck-PDF]/ 15.05.2015/ Seite 51 50 mietheorie Erklärungen für Selbstmordmotivationen und »Therapie«- Vorschläge zur Abwendung eines konkret drohenden Selbstmordes geben; dann wäre aber zuerst zu erforschen, ob es sich um einen egoistischen, altruistischen oder anomischen Typ handelt, weil wegen verschiedener Ursachen auch verschiedene Therapien indiziert sind. 36 Man muss also empirisch feststellen, ob der zu erklärende Wirklichkeitsausschnitt mit allen Komponenten unter die Elemente der als erklärungskräftig angesehenen Theorie zu subsumieren ist. Es handelt sich somit um eine therapieorientierte Forschung. Damit können wir die in Abbildung 1 dargestellte anwendungsorientierte Forschung für den Fall der therapieorientierten Vorgehensweise doch noch um eine Forschungskomponente ergänzen: Die Entscheidung, ob sich der vorliegende konkrete Fall in einer von mehreren möglichen Weisen behandeln lässt, ist oft wieder forschungsabhängig, wenngleich meistens in vergleichsweise bescheidenem Rahmen. 2.3 Deduktion Nur in seltenen Fällen sind Theorieteile bereits so formuliert, dass sie unmittelbar empirisch überprüft werden können. In den meisten Fällen müssen sie erst zu Hypothesen aufbereitet werden, damit sie empirisch untersucht werden können. Diese Aufbereitung geschieht durch Deduktion. Definition »Deduktion« Deduktion ist ein Denkvorgang, bei dem man besondere Sätze aus allgemeineren ableitet. Die Deduktion gilt in der Mathematik als Grundlage einer exakten Beweisführung. Gilt dies auch für die Sozialwissenschaften? Man stelle sich vor, eine Theorie behaupte, dass Entscheidungen, die unter starkem Zeitdruck gefällt werden, seltener bereut würden als Entscheidungen, für die eine längere Überlegungszeit zur Verfügung stand. Man stelle sich weiter vor, daraus werde als Prüfungshypothese deduziert: 36 Siehe Durkheim, Émile: Le suicide, Paris: Presses Universitaires de France 1973, S. 139-332. www.claudia-wild.de: [UTB_S]__Endruweit__Empirische_Sozialforschung__[Druck-PDF]/ 15.05.2015/ Seite 50 www.claudia-wild.de: [UTB_S]__Endruweit__Empirische_Sozialforschung__[Druck-PDF]/ 15.05.2015/ Seite 51 51 In zwei Erstsemesterstudierendengruppen desselben Fachs mit jeweils zehn Personen erhalte jeder 1000 Euro Spielgeld, mit dem er einen Laptop kaufen soll. Die eine Gruppe habe eine Stunde Zeit, die andere eine Woche, die jeweils preisgünstigsten Einkäufer dürften ihr Gerät behalten und am Ende seien die Kurzzeitkäufer zufriedener als die Langzeitkäufer. Könnte man die Ergebnisse auch übertragen auf 70-jährige Großmütter, die entscheiden sollen, ob sie ihr Häuschen den entfremdeten Kindern oder dem Tierheim vermachen, oder auf den 30-jährigen Jungbauern, der vor der Entscheidung steht, welches von drei Angeboten auf eine Heiratsanzeige er annehmen soll? Die Problematik liegt darin, dass in den besonderen Fällen alle Merkmale enthalten sind, die auch in den allgemeineren Fällen stecken, dazu aber einige weitere, die jedoch nicht in den anderen besonderen Fällen vorliegen und von denen man in den Sozialwissenschaften in der Regel nicht weiß, ob sie Einfluss auf das Ergebnis haben. Bei dem Vorgang der Deduktion-- auch als Schluss vom Allgemeinen auf das Besondere bezeichnet-- werden also die Bestandteile eines Unterbegriffs aus den Bestandteilen eines Oberbegriffs, die Elemente eines Subsystems aus den Elementen eines Systems, die Verhältnisse eines Einzelfalls aus den Verhältnissen einer übergeordneten Fallkategorie abgeleitet. Es handelt sich um eine logische Operation, mit der aus der manchmal unendlichen Menge der Fälle, für die eine theoretische Aussage gelten soll, eine so überschaubare Menge von Fällen herausgesucht wird, dass diese mit hinreichender Genauigkeit untersucht werden können. Mit der Deduktion sollen aus der wegen ihrer Allgemeinheit nicht im Einzelnen überprüfbaren Theorieaussage solche kleineren Einheiten gewonnen werden, die exakt analysiert werden können. In dieser kleineren Einheit muss der Gegenstand genau bezeichnet werden, der stellvertretend für den Gegenstand der Theorie untersucht werden soll; der Untersuchungsgegenstand muss also ein Abbild des Theoriegegenstandes sein, damit von ihm wieder auf den Theoriegegenstand zurückgeschlossen werden kann. Deshalb kann bei der Deduktion keine Anreicherung des Aussageinhalts geduldet werden. 37 Das Besondere enthält daher nicht mehr Elemente als das Allgemeine; es muss ein pars pro toto sein, jedenfalls soweit die ergebniswirksamen Variablen betroffen sind. Diese aber 37 So auch Esser/ Klenovits/ Zehnpfennig, Bd. I, S. 128 m. w. N. www.claudia-wild.de: [UTB_S]__Endruweit__Empirische_Sozialforschung__[Druck-PDF]/ 15.05.2015/ Seite 52 www.claudia-wild.de: [UTB_S]__Endruweit__Empirische_Sozialforschung__[Druck-PDF]/ 15.05.2015/ Seite 53 52 genau zu identifizieren, ist in der Forschungspraxis nicht immer einfach. Schließlich hat man dabei mit dem Umstand zu kämpfen (siehe unsere Definition des Begriffs), dass da neben dem Oberbegriff noch der artbildende Unterschied ist. Ziel der Deduktion ist die Gewinnung einer Hypothese. Diese unterscheidet sich vom Theoriesatz oder gar von komplexeren Theorieelementen dadurch, dass sie, auch in Form eines Aussagesatzes, eine Behauptung enthält, die gegenüber dem Theoriesatz in vollem Umfang überprüfbar ist. Wir entnehmen wieder aus Max Webers Bürokratietheorie ein Beispiel, in dem der erste Satz als Theoriesatz, der zweite als deduzierter überprüfbarer Satz verstanden werden kann: »Die objektive Unentbehrlichkeit des einmal bestehenden Apparats in Verbindung mit der ihm eigenen ›Unpersönlichkeit‹ bringt es-… mit sich, daß er-… sich sehr leicht bereit findet, für jeden zu arbeiten, der sich der Herrschaft über ihn einmal zu bemächtigen gewusst hat. Ein rational geordnetes Beamtensystem funktioniert, wenn der Feind das Gebiet besetzt hat, in dessen Hand unter Wechsel lediglich der obersten Spitzen tadellos weiter.« 38 So einfach diese Operation in der formalen Logik erscheinen mag, so schwierig ist sie oft in der empirischen Sozialforschung. Der Nachweis, dass die einzelnen Elemente der Hypothese als Produkt der Deduktion nichts anderes sind als verkleinerte Abbildungen der Theorieelemente, ist im Einzelnen schwer zu führen, wenn man dabei nachweisen muss, dass im Untersuchungsgegenstand keine anderen Variablen empirisch wirksam sind als im Theoriegegenstand. Sicher ist der Angestellte genauso ein Arbeitnehmer wie der Arbeiter. Dass aber aus der Untersuchung von Angestellten wirklich nur solche Ergebnisse über Arbeitnehmereigenschaften gewonnen werden, die auch auf Arbeiter auszudehnen sind, müsste durch große Umsicht bei der Deduktion anzustreben versucht werden. Es gibt leider kein allgemeines Rezept dafür, wie man bei der Deduktion die Einbeziehung von Variablen vermeidet, die nur zu einem einzigen Unterfall des Allgemeinen und nicht auch zu den anderen Unterfällen gehören. 38 Weber, S. 727/ 728. www.claudia-wild.de: [UTB_S]__Endruweit__Empirische_Sozialforschung__[Druck-PDF]/ 15.05.2015/ Seite 52 www.claudia-wild.de: [UTB_S]__Endruweit__Empirische_Sozialforschung__[Druck-PDF]/ 15.05.2015/ Seite 53 53 2.4 Hypothesen Das Ergebnis der Deduktion sollen Hypothesen 39 sein. Darunter verstehen wir hier: Definition »Hypothese« Eine Hypothese ist eine theoriebezogene Vorhersage eines Untersuchungsergebnisses, die auf ihre Wahrheit überprüft werden muss. 40 Mit dem Merkmal der Theoriebezogenheit soll einerseits ausgedrückt werden, dass eine Hypothese regelmäßig aus weiteren theoretischen Zusammenhängen deduziert worden ist. Andererseits ist aber eine Hypothese auch für die Zukunft theoriebezogen, weil sie eine Vorstufe für eine folgende Theorie(weiter)bildung ist. Schließlich bleibt alle Theorie stets hypothetisch, weil sozialwissenschaftliche Ergebnisse angesichts sozialen Wandels in der Regel nie Ewigkeitsgültigkeit haben. 2.4.1 Formen der Hypothese Für empirische Wissenschaften ließe sich auch sagen: Eine Hypothese ist eine Voraussage über das Ergebnis einer Forschungsoperation. Wie alle Voraussagen kann sie sich als richtig oder falsch erweisen. Es ist eine Aufgabe der Auswertung, aus diesem Ergebnis die angemessene Folgerung für die Theorie zu ziehen, auf die sich die Hypothese bezog. Aus ihrer Funktion als Prognose eines Forschungsergebnisses folgt, dass eine Hypothese so konkret und spezifisch sein muss, dass sie ohne weitere theoretisch-logische Operationen in eine empirische Überprüfung genommen werden kann. Das schließt nicht aus, dass noch einige 39 Ausführlicher Breuer, S. 132-140. 40 Die Hypothese ist hier das, was Karl Popper, S. 8, als Prognose bezeichnet: »Diese-… Prüfung soll feststellen, ob sich das Neue, das die Theorie behauptet, auch praktisch bewährt-… Auch hier ist das Prüfungsverfahren ein deduktives: Aus dem System werden- … empirisch möglichst leicht nachprüfbare bzw. anwendbare singuläre Folgerungen (›Prognosen‹) deduziert- … Über diese- … Folgerungen wird nun im Zusammenhang mit der praktischen Anwendung, den Experimenten usw., entschieden.« Vgl. auch Michael Häder bei Endruweit/ Trommsdorff/ Burzan, S. 170/ 171. www.claudia-wild.de: [UTB_S]__Endruweit__Empirische_Sozialforschung__[Druck-PDF]/ 15.05.2015/ Seite 54 www.claudia-wild.de: [UTB_S]__Endruweit__Empirische_Sozialforschung__[Druck-PDF]/ 15.05.2015/ Seite 55 54 Manipulationen für die Empirie unternommen werden müssen; das wird noch unter 2.5 zu erläutern sein. Aber der Aufbereitungsprozess aus der theoretischen Phase des Projekts muss mit der Formulierung der Hypothesen abgeschlossen sein. Die Hypothese ist das Konkreteste, was die Theorie zum Forschungsthema beizutragen hat. Sprachlich ist die Hypothese ein Aussagesatz wie die Sätze der Theorie. Grundsätzliche Gesichtspunkte dazu sind in Kapitel 2.2.3.2 zu finden. Allerdings können sich einige Besonderheiten ergeben, die auf dem Erfordernis beruhen, dass Hypothesen im Gegensatz zu Theoriesätzen unmittelbar erforschbar sein müssen. Zuerst einmal ist festzuhalten, dass einzelne Begriffe zwar Theoriebestandteile sein können, niemals aber für sich allein eine Hypothese; ein isolierter Begriff ist eben keine überprüfbare Aussage im Sinne einer Vorhersage eines Forschungsergebnisses. Das schließt nicht aus, dass im Rahmen eines Forschungsvorhabens auch Begriffe auf ihre Brauchbarkeit, falls diese an ihrer Wirklichkeitsadäquanz gemessen wird, geprüft werden können. Für das Stadium der Hypothesenbildung gilt jedoch, dass wir zu überprüfende Begriffsinhalte in Satzform bringen müssen, weil nur so eine vorhersagende Aussage zu machen ist. Bei einfachen Eigenschaftsangaben in Ist-Sätzen ist eine genaue Angabe über die zu untersuchenden Objekte zu machen. Haben wir in der Theorie mit Recht All-Sätze wie »homo homini lupus«, so muss die Hypothese dazu konkreter sagen, dass die Menschen, die in die Untersuchung einbezogen werden (alle oder nur die meisten oder nur die erwachsenen? ), im zwischenmenschlichen Verhalten (jedem oder den meisten oder nur den lebenswichtigen? ) ihre Wolfsnatur äußern werden. Die Position der Hypothese an der Nahtstelle zwischen Theorie und Empirie führt zu der Problematik, dass der Theoriebezug in der Regel auf Sätze mit weitem, wenn nicht grenzenlosem Zeit-, Raum- und Objektbezug verweist. Gleichzeitig konzentriert sich der Empiriebezug auf den Punkt, in dem die Untersuchung stattfindet und der einen denkbar engen Zeit-, Raum- und Objektbezug hat. Es ist in der Phase der Auswertung nicht immer leicht zu entscheiden, welche Konsequenzen man aus dieser Konstellation ziehen muss. Die anderen Satzformen der Hypothesen weisen dieselben Konstellationen auf wie die Theoriesätze. Bei den Hypothesen sind sie jedoch verschärft durch den Zwang zur Konkretheit bei der Angabe des Untersuchungssubstrats. www.claudia-wild.de: [UTB_S]__Endruweit__Empirische_Sozialforschung__[Druck-PDF]/ 15.05.2015/ Seite 54 www.claudia-wild.de: [UTB_S]__Endruweit__Empirische_Sozialforschung__[Druck-PDF]/ 15.05.2015/ Seite 55 55 Analog zu etwaigen komplexen Theorieelementen sind auch Hypothesensysteme denkbar, zuweilen sind sie sogar unumgänglich. Stellt man für eine Untersuchung, die theorieorientierte Forschung durch Theorietest in einem Einzelfall durchführen will, beispielsweise die Hypothese auf, »die sozialräumliche Struktur der Stadt Bern entspricht im wesentlichen den Mustern, die aus dem theoretischen Bezugsrahmen der Sozialökologie vorhergesagt werden können« 41 , so ist es notwendig, in weiteren Subhypothesen die einzelnen Vorhersagen aufzuführen. Deshalb werden auch spezialisierte Hypothesen als eigentliche überprüfbare Sätze formuliert, etwa »Der Bodenpreis korreliert signifikant und negativ mit der ökologischen Distanz«, »die Ladenflächen pro Einwohner korrelieren signifikant und positiv mit dem Bodenpreis« und »Je höher die Bodenpreise, desto größer ist das Verhältnis zwischen Tages- und Wohnbevölkerung eines Bezirks« 42 , die zusammen mit anderen Subhypothesen die Fragen behandeln, deren Beantwortung insgesamt ergibt, ob die sozialräumliche Struktur Berns im Wesentlichen den vorhersagbaren Mustern entspricht, ob also die sozialökologische Theorie sich in diesem Fall als Prognoseinstrument bewährt, also als »wahr« erwiesen hat. 2.4.2 Formulierung der Hypothese Wenn wir von der nirgends bestrittenen Auffassung einer Hypothese als zu überprüfender Behauptung ausgehen, dann ist der Inhalt der Hypothese, d. h. ihre positive oder negative Fassung, eigentlich gleichgültig. Ein Theoriesatz dagegen soll schon Erklärungsversuch sein. Er muss also möglichst so formuliert sein, dass er richtig ist; schließlich soll er sagen, was ist, und nicht, was nicht ist. Das gilt zumindest dann, wenn die Theorie schon einmal überprüft wurde. Die Hypothese dagegen, die stets auf die unmittelbar anschließende Überprüfung hin aufgestellt wird, soll keine möglicherweise mittel- oder langfristig gültige Erklärung liefern, sondern nur eine ganz kurzfristige Vorhersage des Untersuchungsergebnisses. Die Hypothese ist also keine Wissensaussage wie der Theoriesatz, sondern nur eine instrumentelle Aussage zur Strukturierung des Forschungsprozesses. 41 Hamm, Bernd: Die Organisation der städtischen Umwelt, Frauenfeld/ Stuttgart: Huber 1977,S. 21. 42 Hamm (s. Anm. 41), S. 165, 167. www.claudia-wild.de: [UTB_S]__Endruweit__Empirische_Sozialforschung__[Druck-PDF]/ 15.05.2015/ Seite 56 www.claudia-wild.de: [UTB_S]__Endruweit__Empirische_Sozialforschung__[Druck-PDF]/ 15.05.2015/ Seite 57 56 Daraus folgt, dass der Inhalt einer Hypothese auch umkehrbar ist. Die Hypothese, die A behauptet, ist prinzipiell nicht besser als die Hypothese, die Non-A behauptet. Es kommt, anders als bei der Theorie, für die Hypothese nicht grundsätzlich darauf an, ob A oder Non-A die größere Wahrscheinlichkeit besitzt. Selbst wenn eine Theorie A behauptet, weil ihr dessen Richtigkeit wahrscheinlicher ist als die Richtigkeit von Non-A, kann die Hypothese, mit der diese Theorie überprüft werden soll, mit vollem Recht Non-A behaupten. Die eben erwähnte Hypothese »Je höher die Bodenpreise, desto höher ist das Verhältnis zwischen Tages- und Wohnbevölkerung eines Bezirks« bezieht sich auf eine Theorie, die u. a. sagt, dass hohe Bodenpreise zu bevorzugter Nutzung der Grundstücke für solche Bauten führen, die als Gewerbe- oder Dienstleistungsgebäude wiederum wirtschaftlichen Gewinn bringen und deshalb eher hohe Preise ermöglichen als reine Wohnbauten; in solchen Gebäuden sind daher tagsüber mehr Menschen als Arbeitskräfte, Kunden usw. zu finden, als sie an Bewohnern aufzuweisen haben. Wenn ein Theorieproduzent von der Richtigkeit dieser Aussage überzeugt ist, muss er sie so und nicht anders formulieren. Die umgekehrte Aussage würde jemand, der nicht zwecks Überprüfung, sondern zwecks unmittelbarer Anwendung diese Theorie heranzieht, auf einen von vornherein als falsch vermuteten Weg führen. Die Hypothese ist aber nie zur unmittelbaren praktischen Anwendung bestimmt, sondern immer nur zur Überprüfung. Es schadete also nichts, hätte man mit derselben Theorie die umgekehrte Hypothese aufgestellt, also »Je höher die Bodenpreise, desto niedriger ist das Verhältnis zwischen Tages- und Wohnbevölkerung eines Bezirks«. 2.4.3 Falsifikation und Verifikation von Hypothesen Die Beliebigkeit der Hypothesenformulierung ist eine große Erleichterung für die Theorieüberprüfung. Das hängt mit dem Problem der Falsifizierbarkeit bzw. Verifizierbarkeit von Hypothesen (und Theorien) zusammen. Stichwörter »Falsifikation und Verifikation« Lange gab es in den empirischen Wissenschaften die Ansicht, man könne eine Theorie verifizieren. Die positivistische Wissenschaftstheorie vertrat diese Ansicht bis in die 1930er Jahre. Dabei hatte bereits David Hume den Grund für die Einsicht gezeigt, dass selbst in www.claudia-wild.de: [UTB_S]__Endruweit__Empirische_Sozialforschung__[Druck-PDF]/ 15.05.2015/ Seite 56 www.claudia-wild.de: [UTB_S]__Endruweit__Empirische_Sozialforschung__[Druck-PDF]/ 15.05.2015/ Seite 57 57 den Naturwissenschaften eine Verifikation von Theoriegesetzen unmöglich sei, weil man aus Wissen über die Vergangenheit keine Aussagen über die Zukunft ableiten könne. Heute gilt für den Kritischen Rationalismus Karl Poppers Satz »Theorien sind nicht verifizierbar«. 43 Ein Theoriesatz wie »Je länger eine unfreiwillig hohe Dichte zwischen Individuen besteht, desto eher treten pathologische Reaktionen bei den Individuen auf« 44 , wäre frühestens am Jüngsten Tag verifiziert, falls bis dahin in jedem Einzelfall von unfreiwillig hoher Dichte pathologische Reaktionen nachgewiesen worden wären. Eine solche Hypothese wäre aber bereits falsifiziert, wenn wir nur einen einzigen Fall von unfreiwillig hoher Dichte entdeckt hätten, in dem ein einziges Individuum keine pathologische Reaktion zeigte. Der Nachweis der Falschheit ist nicht nur einfacher als die Verifikation, sondern er ist stets auch sicher (vgl. aber auch die Einschränkungen im weiteren Verlauf dieses Abschnitts). Daher gibt es im Kritischen Rationalismus die Forderung, Hypothesen so zu formulieren, dass ihre Falsifikation wahrscheinlich ist. 45 Definition »Verifikation« Verifikation ist ein Prüfverfahren, in dem empirisch nachgewiesen wird, dass eine Hypothese bzw. Theorie wahr ist. Definition »Falsifikation« Falsifikation ist ein Prüfverfahren, in dem empirisch nachgewiesen wird, dass eine Hypothese bzw. Theorie falsch ist. Geht man mit dem Kritischen Rationalismus davon aus, Verifikation sei unmöglich, so ist die Folgerung, dass eine möglichst falsifizierbar formulierte Hypothese, die dann auch falsifiziert wurde, damit auch den Theorieteil, aus dem sie deduziert wurde, falsifiziert hat. Die Falsifikation 43 Popper, S. 198; vgl. schon S. 14. Siehe auch Udo Kelle bei Endruweit/ Trommsdorff/ Burzan, S. 306; Herzog, S. 64-66. 44 Mit sachlich unerheblichen Umformulierungen übernommen von Friedrichs, Jürgen: Stadtanalyse, Reinbek: Rowohlt 1977, S. 134. 45 Vgl. z. B. Popper, S. 73. www.claudia-wild.de: [UTB_S]__Endruweit__Empirische_Sozialforschung__[Druck-PDF]/ 15.05.2015/ Seite 58 www.claudia-wild.de: [UTB_S]__Endruweit__Empirische_Sozialforschung__[Druck-PDF]/ 15.05.2015/ Seite 59 58 bietet sicheres Wissen, bietet Wahrheit. Aber es ist nur negatives Wissen, negative Wahrheit, weil wir nur wissen, was nicht ist. Wer eine mit solchem Ergebnis überprüfte Theorie anwenden will, erfährt aus ihr nur, was er besser nicht tun sollte. Von einer empirischen Wissenschaft verlangt ein Anwender aber mit einigem Recht, dass sie ihm Wissen darüber liefere, was er tun solle, um ein bestimmtes Ergebnis mit größerer als nur Zufallswahrscheinlichkeit zu erzielen. Das setzt positives Wissen, positive Wahrheit voraus. Solch positives Wissen ist möglicherweise bei der Überprüfung einer Hypothese erreichbar. Wenn sie zeitlich, räumlich und gegenständlich begrenzt ist, kann es durchaus vorkommen, dass man in jedem Einzelfall eine Bestätigung der Behauptung erhält. Eine Hypothese, die behauptet, »je länger im Zeitraum von Januar bis November 2012 in der Stadt Bern eine unfreiwillige Dichte zwischen Individuen besteht, desto eher treten pathologische Reaktionen bei den Individuen auf«, wäre eventuell mit übersehbarem Forschungsaufwand verifizierbar. Damit hätten wir positives, sicheres Wissen. Aber es wäre nur positiv und sicher für diesen Zeitraum und nur für die Menschen in Bern. Was ein Anwender damit an Handlungsfreudigkeit und -sicherheit für die Zukunft gewinnen kann, kann ihm nicht die Wissenschaft sagen, sondern nur sein Wagemut. Aus der Verifikation dieser Hypothese lässt sich nicht auf die Verifikation einer Theorie schließen, die für alle Menschen und alle Zeiten diesen Zusammenhang behaupten würde. Wir können also sagen: Hypothesen sind falsifizierbar und verifizierbar; Theorien sind, falls sie in ihrem Geltungsanspruch nicht eng begrenzt sind, nur falsifizierbar. Aus der Falsifikation einer Hypothese kann auf die Falsifikation der Theorie geschlossen werden; aus der Verifikation einer Hypothese kann nicht auf die Verifikation der Theorie geschlossen werden. 46 Immerhin hält man eine Theorie für bewährt, wenn eine daraus abgeleitete Hypothese nicht falsifiziert werden konnte. 46 Es gibt eine einzige Form von theoretischen Sätzen, die verifizierbar sind: sog. Existenzsätze (vgl. Kern, Lucian: Stichwort »Verifikation«, in: Fuchs u. a., S. 829), die Karl Popper universelle Es-gibt-Sätze nennt (Beispiel: Es gibt weiße Raben) und denen er mit Recht keine besonders große Bedeutung für eine Theorie beimisst (vgl. Popper, S. 40). www.claudia-wild.de: [UTB_S]__Endruweit__Empirische_Sozialforschung__[Druck-PDF]/ 15.05.2015/ Seite 58 www.claudia-wild.de: [UTB_S]__Endruweit__Empirische_Sozialforschung__[Druck-PDF]/ 15.05.2015/ Seite 59 59 Definition »Bewährung« Bewährung ist das Ergebnis eines erfolglosen Falsifizierungsversuchs. 47 Bewährung ist also ein Ersatz für Verifizierung, allerdings ein weniger wertvoller. Bestätigung und Verifikation im weiteren Sinne sind Synonyme dafür. Das ist kein sicheres, sondern nur hypothetisches, vorläufiges, bisher nicht falsifiziertes Wissen. Es ist nicht ausgeschlossen, dass einer der nächsten Falsifizierungsversuche gelingt. Dann ist alles falsifiziert. 48 Allerdings ist auch hier wieder das relativierende Argument für die Sozialwissenschaften einzuführen: Ihre Ansprüche an Theorie sind bescheidener, ihre Formulierungen von Theorie aber wohl auch schlampiger als in den Naturwissenschaften, an deren wissenschaftstheoretischen Ansprüchen sie sich jedoch meistens orientiert. Ihre All-Sätze klingen oft größer als sie sind. Beispiel: Wer den Theoriesatz aufstellt, »je höher die Bodenpreise sind, desto geringer ist die Wohn- und desto höher die Gewerbenutzung der Gebäude«, der hat damit einen Satz mit formal universellem Geltungsanspruch aufgestellt. Formal erhebt dieser Satz einen genauso uneingeschränkten Geltungsanspruch wie der Satz, dass die Intensität des Schalles im Quadrat zur Entfernung von der Schallquelle abnimmt. Das Akustikgesetz wäre durch einen einzigen abweichenden Fall widerlegt. Der Gemeindesoziologe würde seine Theorie kaum widerlegt sehen, wenn in einem bestimmten innerstädtischen Sanierungsgebiet die Rentner ausziehen und die Tante-Emma-Läden, Änderungsschneidereien und Arbeiterkneipen schließen, wenn die Boden- und Mietpreise steigen, und wenn nicht die Boutiquen, Supermärkte und Schlemmerlokale einziehen, sondern wenn die Film-, Funk- und Fernsehschickeria Eigentumswohnungen kauft und bezieht, nachdem irgendjemand die Parole ausgegeben hat, es sei »angesagt«, in restaurierten Fachwerkhäusern der Altstadt zu wohnen. Sozialwissenschaftliche Theorien wollen üblicherweise nur für den Regelfall gelten. Sie versäumen aber meist Angaben darüber, welche die 47 Popper, S. 198-226. 48 Wenn dagegen bei der nochmaligen Überprüfung einer falsifizierten Hypothese die Falsifizierung misslingt, wird die Theorie dadurch nicht auf einmal automatisch »wahr«; es muss vorher ausgeschlossen werden, dass ein Methodenproblem vorliegt. www.claudia-wild.de: [UTB_S]__Endruweit__Empirische_Sozialforschung__[Druck-PDF]/ 15.05.2015/ Seite 60 www.claudia-wild.de: [UTB_S]__Endruweit__Empirische_Sozialforschung__[Druck-PDF]/ 15.05.2015/ Seite 61 60 Grenzen des Regelfalles sein sollen; oft sind sie, weil sie erste Theorieversuche sind, gar nicht in der Lage, die Bedingungen für die Geltung des Regelfalles anzugeben. Immerhin müsste verlangt und angestrebt werden, bei der Weiterentwicklung der Theorien solche Differenzierungen einzuführen. Das würde allerdings für die Theoriesätze und die daraus deduzierten Hypothesen bedeuten, dass sie viel spezieller werden müssten. Damit würde sich auch die Bedeutung der Falsifikation ändern. Je detaillierter eine Theorie ausfällt, desto schwieriger falsifizierbar ist sie. Das führt zu einer wissenschaftstheoretischen Position, die Falsifizierbarkeit zum entscheidenden Kriterium für die Wissenschaftlichkeit einer Theorie erhebt: »Ein empirisch-wissenschaftliches System muss an der Erfahrung scheitern können.« 49 Diese Ansicht ist als »dogmatischer Falsifikationismus« mit diskussionswürdigen Argumenten angegriffen worden 50 , deren weitere Verfolgung Interessierten empfohlen werden kann, die aber hier nicht weiter dargestellt werden. Ein erheblicher Einwand gegen die Verabsolutierung der Falsifikation scheint vielmehr gerade für die Sozialwissenschaften gegeben zu sein: Wir können uns auch bei der Falsifikation täuschen, weil unsere Messinstrumente möglicherweise nicht immer hinreichend genau sind. Solange nicht ausgeschlossen ist, dass eine bestimmte Falsifikation nur auf der Ungenauigkeit unseres empirischen Handwerkszeugs beruht, müssen wir auch die Falsifikation im Zweifel nur für vorläufig halten. Sowohl Verifikation wie Falsifikation haben neben logischen auch messpraktische Randbedingungen für ihre Beweiskraft, jedenfalls in den Sozialwissenschaften, aber wohl auch in den Naturwissenschaften: Als Kopernikus unter Rückgriff auf antike Überlieferungen sein heliozentrisches Weltbild als Theorie aufstellte, konnte die Empirie noch 200 Jahre sowohl die Theorie der Heliozentrik als auch der Geozentrik »beweisen« oder »widerlegen«-- ganz nach Bedarf, weil das Instrumentarium zur Messung der Fixsternparallaxen, die allein beweiskräftig sind, noch nicht ausreichte. Schließlich: Durch sozialen Wandel könnte auch in der Zukunft eine bisher immer falsifizierte Hypothese auf einmal verifiziert werden. 49 Popper, S. 15 m. w. N. 50 Siehe vor allem Lakatos, Imre: Falsifikation und die Methodologie wissenschaftlicher Forschungsprogramme, in: Lakatos, Imre/ Musgrave, Alan (Hrsg.): Kritik und Erkenntnisfortschritt, Braunschweig: Vieweg 1974, S. 89-189. www.claudia-wild.de: [UTB_S]__Endruweit__Empirische_Sozialforschung__[Druck-PDF]/ 15.05.2015/ Seite 60 www.claudia-wild.de: [UTB_S]__Endruweit__Empirische_Sozialforschung__[Druck-PDF]/ 15.05.2015/ Seite 61 61 2.5 Operationalisierung Mit den Hypothesen ist der Anfang der empirischen Überprüfung einer Theorie gemacht worden. 2.5.1 Begriff der Operationalisierung Die aus der Theorie deduzierten Hypothesen lassen sich nun nicht ohne Weiteres überprüfen. Zuerst muss man festlegen, welche Forschungsverfahren, Forschungsinstrumente usw. verwendet werden sollen, um die Überprüfung durchzuführen. Das geschieht durch die Operationalisierung. 51 Definition »Operationalisierung« Operationalisierung ist eine Tätigkeit innerhalb eines Forschungsprozesses, bei der ein Begriff oder eine Hypothese in Forschungsoperationen übersetzt wird, deren Ergebnis Auskunft darüber gibt, ob der Begriff bzw. die Hypothese zutrifft oder nicht. Dieser Begriff von Operationalisierung ist viel weiter als manche der bisher üblichen. Vor allem in der Philosophie versteht man darunter oft eine auf einen Begriff bezogene Art von Definition und spricht dann zuweilen auch deutlicher von »operationeller Definition«. In der Sozialstrukturforschung wurde als Instrument für »soziale Selbsteinstufung« ein Satz von vier Karten entwickelt, auf denen je 36 bekannte Berufe verzeichnet waren. Die Befragten sollten sich selbst danach einordnen, welchem dieser Berufe der eigene (nach Tätigkeit, Ansehen, Bezahlung u. Ä.) am ähnlichsten sei. Für die Auswertung waren den Referenzberufen auf den Karten bestimmte Schichtungskategorien zugeordnet (z. B.: Generalkonsul, Ministerialdirigent, Universitätsrektor =- Oberschicht; Werkstattleiter, Maschinenmeister, Viehhändler =-untere Mittelschicht), so dass der Befragte durch seine Selbsteinstufung in Parallele zu diesen 51 Vgl. ähnliche, aber nicht stets umfanggleiche Definitionen bei Kromrey, S. 112, 165 ff.; Friedrichs, S. 77; Jürgen Friedrichs bei Endruweit/ Trommsdorff/ Burzan, S. 343; Rönsch, Horst Dieter: Art. »Operationalisierung« bei Fuchs u. a., S. 544/ 545; Mayntz/ Holm/ Hübner, S. 18. www.claudia-wild.de: [UTB_S]__Endruweit__Empirische_Sozialforschung__[Druck-PDF]/ 15.05.2015/ Seite 62 www.claudia-wild.de: [UTB_S]__Endruweit__Empirische_Sozialforschung__[Druck-PDF]/ 15.05.2015/ Seite 63 62 Referenzberufen einer Schicht zugeordnet werden konnte. 52 Das ist nichts anderes als die Definition der Schichtzugehörigkeit ausschließlich nach dem Beruf. Die Operationalisierung besteht darin, dass man einzelne Berufe zu Gruppen zusammenfasst, die dann eine bestimmte Schicht bilden. Damit haben wir nicht nur eine Operationalisierung des Schichtbegriffs und seiner Unterbegriffe (Oberschicht usw.), sondern auch gewissermaßen induktiv eine allgemeine Schichtdefinition. Auf diese Weise gibt es operationelle Definitionen für viele Begriffe in den Sozialwissenschaften. 53 Operationelle Definitionen von Begriffen sind für Zwecke der empirischen Sozialforschung nützlich, weil zumeist arbeitssparend. Sie können aber nicht benutzt werden, wenn sie gar nicht empirisch nachweisbare Realität beschreiben sollen, sondern idealtypische Messbegriffe sind. Hier wird auch noch von Operationalisierung gesprochen, wenn für Forschungszwecke andere als operationell definierte Begriffe in Forschungsoperationen übersetzt werden und vor allem wenn dasselbe mit Hypothesen geschieht. 2.5.2 Operationalisierung von Begriffen Für die Operationalisierung von Begriffen wird der Begriff der Arbeitszufriedenheit oft als Demonstrationsobjekt benutzt 54 , weil er wegen seiner Komplexität viele Aspekte bietet. Deshalb soll er auch hier als Beispiel dienen. Wollte man Arbeitszufriedenheit operationell definieren, könnte man z. B. sagen, dass sie dann vorliege, wenn ein Befragter auf die Frage »Sind Sie mit ihrem Arbeitsplatz zufrieden? « mit »Ja« antwortet. Das wäre eine strikt operationelle Definition, also eine Definition, die keine vorausgehende theoretische Definition verlangt. Sie hätte den Vorteil, dass sie-- wie alle unmittelbar operationellen Definitionen- - in der empirischen Forschung sehr bequem handhabbar ist. Ihr Nachteil wäre jedoch, dass man nach Abschluss der Forschung nicht recht wüsste, was man mit dieser Erkenntnis nun anfangen sollte. Wenn der Begriff nicht theoriegeleitet ist, bringt seine Erforschung kaum theorieverwendbare Ergebnisse. Ope- 52 Kleining, Gerhard/ Moore, Harriett: Soziale Selbsteinschätzung (SSE), in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 1968, S. 502-552. 53 Weitere Beispiele bei Friedrichs, S. 77/ 78. 54 So beispielsweise bei Mayntz/ Holm/ Hübner, S. 18. www.claudia-wild.de: [UTB_S]__Endruweit__Empirische_Sozialforschung__[Druck-PDF]/ 15.05.2015/ Seite 62 www.claudia-wild.de: [UTB_S]__Endruweit__Empirische_Sozialforschung__[Druck-PDF]/ 15.05.2015/ Seite 63 63 rationelle Definitionen sind deshalb hauptsächlich für die Meinungsforschung nützlich, weil deren Erkenntnisse selten über den Moment der Gewinnung hinaus Bedeutung haben müssen und weil sie auch da Gelegenheit zum Heruminterpretieren bieten. Will man mit der Forschung Theorie verbessern oder wenigstens prüfen, ist es zweckmäßig oder gar unumgänglich, theoretische statt operationeller Begriffe zum Ausgangspunkt zu nehmen. Einer der einfachsten theoretischen Begriffe von Arbeitszufriedenheit definiert diese als den »Grad der Zufriedenheit der Arbeiter mit Arbeitsbedingungen und Arbeitstätigkeit, insbesondere mit den Möglichkeiten, sich in der Arbeit verwirklichen zu können«. 55 Dieser theoretische Begriff ist schon viel komplizierter als der oben erwähnte operationelle Begriff. Operationalisiert man nämlich diesen theoretischen Begriff, stellt man sofort fest, dass die simple nominalskalierte Ja-Nein-Unterscheidung der operationellen Definition nicht mit diesem theoretischen Begriff übereinstimmen würde. Wenn dieser von »Grad der Zufriedenheit« spricht, dann ist darin die Annahme enthalten, dass es nicht nur Zufriedenheit oder Unzufriedenheit gebe, sondern jeweils verschiedene Ausprägungen vom einen oder anderen. Eine angemessene Operationalisierung müsste also die Möglichkeit von Abstufungen vorsehen, d. h. ein Messinstrument wählen, welches mindestens auf ordinalem Niveau arbeitet. Man müsste also den Befragten, wenn man die Daten durch Befragung erheben will, die Möglichkeit geben, verschieden hohe Grade von Arbeitszufriedenheit oder -unzufriedenheit auszudrücken. 56 Vor dieser Frage gilt es, zu entscheiden, mit welcher Datenerhebungstechnik die Überprüfung der Begriffskomponenten vorgenommen werden soll. Oft findet man den Ansatz hierzu schon in der Definition. Hätte die theoretische Definition nicht den ohnehin fast tautologischen Ansatz mit »Grad der Zufriedenheit- …« gewählt, sondern nach klassischem Muster begonnen, hätte sie vermutlich gesagt: »Arbeitszufriedenheit ist eine Einstellung eines Arbeitenden, die-…« 57 Dann wäre schon von der rein theoretischen, also keineswegs operationellen Definition her klar 55 Fuchs, Werner: Art. »Arbeitszufriedenheit« bei Fuchs u. a., S. 65. 56 So auch Mayntz/ Holm/ Hübner, S. 18. 57 Vgl. zu diesem subjektivistischen Ansatz u. a.: Jadow, W. A./ Roschin, W. P./ Sdrawomyslow, A. G.: Faktoren, die allgemeine Arbeitszufriedenheit bedingen, in: Fürstenberg, Friedrich (Hrsg.): Industriesoziologie II, Darmstadt/ Neuwied: Luchterhand 1974, S. 63-86. www.claudia-wild.de: [UTB_S]__Endruweit__Empirische_Sozialforschung__[Druck-PDF]/ 15.05.2015/ Seite 64 www.claudia-wild.de: [UTB_S]__Endruweit__Empirische_Sozialforschung__[Druck-PDF]/ 15.05.2015/ Seite 65 64 gewesen, dass wir zur empirischen Erforschung eine Einstellungsmessung vornehmen müssen. Der erste Schritt besteht dann in der Festlegung eines Verfahrens, mit dem Einstellungen gemessen werden können. Damit haben wir die Stelle erreicht, an der im Rahmen der Operationalisierung auf die Validität der empirischen Messung zu achten ist. Stichwort »Validität« Ein Forschungsinstrument ist nur brauchbar, wenn es valide ist. Darunter wird im Allgemeinen verstanden: Die Vorgabe ist meistens in der Begriffsdefinition oder in der Hypothesenformulierung enthalten. So verweisen etwa alle Begriffe von sozialem Handeln auf Verhalten. Wenn wir also soziales Handeln untersuchen wollen, brauchen wir ein Messinstrument, das Verhalten misst- - nur dann ist das Validitätserfordernis jedenfalls im Ansatz erfüllt. Aber die Auswahl einer angemessenen Datenerhebungstechnik allein reicht selten. Zur Validität gehören noch komplexere Gesichtspunkte. Ein Instrument, das auf Max Webers Begriff von sozialem Handeln 58 angesetzt wird, müsste nicht nur Verhalten überhaupt erfassen können, sondern auch noch dessen Bezug auf das Verhalten anderer. Behauptet eine Hypothese z. B. einen Zusammenhang zwischen der Schichtzugehörigkeit von Eltern und dem Schulerfolg ihres Kindes, ist ein Messinstrument nur dann valide, wenn es nicht nur an einigen Punkten, sondern durchgängig den Zusammenhang untersuchen kann. Ist eine Messung nur indirekt, etwa über zwischengeschaltete Indikatoren, möglich, muss auf beiden Stufen die Validitätsfrage gestellt werden. 59 Je komplexer ein Messinstrument ist, desto schwieriger erweist sich seine Beurteilung nach Validitätsgesichtspunkten; dafür gibt es jedoch schon eine Reihe von Verfahrensvorschlägen. 60 Ein probates Mittel für Validität ist die Messung möglichst nahe an der Datenquelle, d. h. hier möglichst ohne zwischen Datum der Entstehung und Erhebung liegende Kontroll- oder Korrekturinstanzen. So müsste man Handeln (z. B. Häufigkeit des Gottesdienstbesuchs) eigentlich durch Beobachtung untersuchen, weil dabei die Fehlermög- 58 Weber, S. 3. 59 Mayntz/ Holm/ Hübner, S. 22. 60 Dazu u. a. Friedrichs, S. 101/ 102 m. w. N. www.claudia-wild.de: [UTB_S]__Endruweit__Empirische_Sozialforschung__[Druck-PDF]/ 15.05.2015/ Seite 64 www.claudia-wild.de: [UTB_S]__Endruweit__Empirische_Sozialforschung__[Druck-PDF]/ 15.05.2015/ Seite 65 65 lichkeiten am geringsten sind. Kann oder will man nicht beobachten, benutzt man die Befragung. Dabei treten oft Wahrheitsverzerrungen auf, z. B. durch Mängel des Erinnerungsvermögens, Verklärung der Vergangenheit, Furcht vor den Folgen einer ehrlichen Antwort (»Haben Sie schon einmal eine strafbare Handlung begangen? «) oder Peinlichkeit der Antwort (»Haben Sie in diesem Jahr einen Seitensprung begangen? «). Dann würde das Bewusstsein (oder das Gewissen) als Kontrollinstanz zwischen Handeln und Fragenbeantwortung die Wahrheit verfälschen, so dass das Messinstrument der Befragung nicht mehr genau das Handeln messen würde und damit die Validität des Ergebnisses beeinträchtigte. Es gibt aber auch ganz vertrackte Probleme. Eine Kaffeehauskette verkaufte einen Becher Kaffee für 1,60 Euro, vermutlich nicht ohne Hilfe der Marktforschung durch Befragung der Kunden über einen angemessenen Preis. Wenn man über diesen aber mit einem Elektroenzephalogramm durch einen Magnetresonanztomografen, also unter Ausschaltung aller Kontrollinstanzen im Gehirn, forschte, ergab sich ein angemessener Preis zwischen 2,10 bis 2,40 Euro. 61 Dann hätten die Kaffeehäuser sich möglicherweise Millionengewinne entgehen lassen, gerade wegen Sozialforschung, die aber eben nicht valide gewesen ist. Denkt man das ein bisschen weiter, kommt man auf recht tiefgründige Fragen der Sozialforschung. Wo liegt eigentlich die Wirklichkeit: im Handeln oder in der Motivation zum Handeln? Denn auch sonst kommen wir oft zu einer Kluft zwischen dem Handeln und seinem Hintergrund: Das Handeln weicht ab von den Wünschen, Zielen, Absichten, Werten usw. Ist diese Distanz zwischen Handeln und Motivation immer gleich oder nach Lebensbereichen verschieden (Einkaufsverhalten anders als Partnerwahl, Urlaubsverhalten anders als Arbeitsverhalten)? Wo liegt dann die Wahrheit? Der Forschungspraktiker hat dafür eine ganz lakonische Antwort. Es kommt auf den Untersuchungsgegenstand an: Ist es das Handeln oder die Motivation zum Handeln? Abgesehen von bekannten Grundsatzproblemen (etwa Messgegenstand einer Forschungstechnik) lässt sich die Validität hauptsächlich nur durch mehrfache Anwendung des Instruments und vergleichende 61 Der Spiegel 41/ 2013, S. 144. www.claudia-wild.de: [UTB_S]__Endruweit__Empirische_Sozialforschung__[Druck-PDF]/ 15.05.2015/ Seite 66 www.claudia-wild.de: [UTB_S]__Endruweit__Empirische_Sozialforschung__[Druck-PDF]/ 15.05.2015/ Seite 67 66 Auswertung der Ergebnisse feststellen. Dabei sind manchmal Plausibilitätsurteile und damit Entscheidungsspielräume nicht zu vermeiden. Innerhalb der Validität werden zudem Inhalts-, Kriteriums- und Konstruktvalidität unterschieden. Gültigkeit ist ein Synonym für Validität. Sie ist zu unterscheiden von der Reliabilität. Definition »Validität« Unter Validität versteht man die Eigenschaft eines Messinstruments, genau das zu messen, was es messen soll oder zu messen vorgibt. 62 Die Auswahl der Datenerhebungsverfahren soll hier nicht weiter behandelt werden; darüber wird in Lehrveranstaltungen und Literatur, überwiegend unter dem Titel »Methoden der empirischen Sozialforschung« gründlich unterrichtet. Ein Punkt ist dabei aber stets im Auge zu behalten: Es existieren für Gruppen von sozialwissenschaftlichen Forschungsgegenständen jeweils optimale Datenerhebungstechniken, über deren Anwendbarkeit man sich bei der Operationalisierung Gedanken machen muss. So wird beispielsweise soziales Handeln am besten durch systematische Beobachtung, eine Einstellung durch Befragung und ein Kausalzusammenhang durch Experimente untersucht. In der Forschungspraxis gibt es oft zwingende Gründe, weshalb man das optimale Verfahren nicht anwenden kann. Dann muss man notgedrungen ein minderwertiges nehmen- - und dies in aller Deutlichkeit im Forschungsbericht benennen. Das ist aber keine Norm der Wissenschaftstheorie, sondern der Wissenschaftsethik; denn sie beeinflusst nicht die Qualität einer Ergebnisaussage, sondern ihre Ehrlichkeit. Ein nicht optimales Datenerhebungsverfahren ist eine Einschränkung der Qualität, insbesondere auch der Validität des Untersuchungsergebnisses. Für unser Problem der Arbeitszufriedenheit wäre die Befragung angemessen, weil sie der Einstellungsmessung am gerechtesten wird. Zwar 62 Ähnlich z. B. Friedrichs, S. 100; Mayntz/ Holm/ Hübner, S. 22; Rönsch, Horst Dieter: Art. »Validität«, bei: Fuchs u. a., S. 813. www.claudia-wild.de: [UTB_S]__Endruweit__Empirische_Sozialforschung__[Druck-PDF]/ 15.05.2015/ Seite 66 www.claudia-wild.de: [UTB_S]__Endruweit__Empirische_Sozialforschung__[Druck-PDF]/ 15.05.2015/ Seite 67 67 liefert der Befragte als Reaktion auf den Fragestimulus nicht unmittelbar Einstellungen, sondern nur Worte-- etwas vornehmer, wenn auch unverständlicher ausgedrückt, verbales Verhalten. Zwischen seinen Aussagen und den dadurch angeblich oder vermutlich ausgedrückten Einstellungen sind Verwerfungen möglich, wie unter dem Stichwort »Validität« ausführlicher dargestellt; sie sind aber nach allen Erfahrungen geringer als bei anderen Datenerhebungstechniken, wie beispielsweise der Dokumentenanalyse Neben der Validität ist bei der Wahl des Forschungsinstruments ein zweiter Gesichtspunkt zu beachten, nämlich die Reliabilität. Stichwort »Reliabilität« Nicht zuletzt aus dem Erfordernis der Intersubjektivität (s. dazu Stichwort »Objektivität und Intersubjektivität«) in der empirischen Sozialforschung folgt ein Kriterium für die Wahl des Forschungsinstruments, das Kriterium der Reliabilität. Die Gründe für Reliabilitätsmängel können vielfältig sein: Fragebogenformulierungen im Interview, die bei den Befragten zu verschiedenen Assoziationen führen; Festlegung von Beobachtungseinheiten, die wechselnde Umwelteinflüsse nicht berücksichtigt; Experimentdesign, das dem Experimentator zu viel Raum für Improvisationen lässt und damit bei Wiederholungen zu anderen Stimuli führt; ungenaue Festlegung der Zähleinheiten bei der quantitativen Inhaltsanalyse usw. Die Reliabilität kann man nur durch wiederholte Anwendung feststellen. Voraussetzung ist in jedem Fall eine detaillierte Beschreibung des Vorgehens. Noch wichtiger als im Normalfall ist das Reliabilitäserfordernis bei echten Wiederholungsstudien, die in besonderem Maße auch sonst schwer zu berücksichtigende Veränderung des Untersuchungsgegenstandes oder auch nur der Randbedingungen. Dann muss sorgfältig unterschieden werden, was sozialer Wandel ist, den man ja durch die Wiederholungsstudie ermitteln und beschreiben will, und was bereits die Identität des Gegenstandes betrifft. Innerhalb der Reliabilität unterscheidet man u. a. interne Konsistenz, Äquivalenz und Stabilität als einzelne Aspekte. Ein Synonym für Reliabilität ist Zuverlässigkeit, gelegentlich auch Verlässlichkeit genannt. Sie ist zu unterscheiden von der Validität. www.claudia-wild.de: [UTB_S]__Endruweit__Empirische_Sozialforschung__[Druck-PDF]/ 15.05.2015/ Seite 68 www.claudia-wild.de: [UTB_S]__Endruweit__Empirische_Sozialforschung__[Druck-PDF]/ 15.05.2015/ Seite 69 68 Definition »Reliabilität« Reliabilität ist die Eigenschaft eines Messinstruments, bei wiederholter Anwendung, auch durch verschiedene Forscher, unter den gleichen Bedingungen auf denselben Gegenstand ein gleiches Ergebnis zu erzielen. 63 Für die Reliabilität lässt sich kein allgemeines Prüfschema angeben, weil sie sowohl vom einzelnen Instrument wie auch vom theoretischen Zusammenhang abhängt. Halbwegs allgemeine Regeln gibt es in der Methodologie der einzelnen Forschungstechniken; im Übrigen ist dieser Gesichtspunkt ein Problem des konkreten Forschungsvorhabens. Längere Forschungserfahrung ist dabei ein großer Vorteil. 2.5.3 Operationalisierung von Hypothesen Was im vorangegangenen Abschnitt behandelt wurde, ist im Wesentlichen alles, was zur Operationalisierung von Begriffen gesagt werden kann. Das kommt uns allerdings recht unzulänglich vor. Was nützt es, möchte man fragen, wenn wir, ausgehend von unserem Begriff der Arbeitszufriedenheit, mit Hilfe einer Befragung herausgefunden haben, dass 8 Prozent der Befragten sehr, 10 Prozent einigermaßen, 6 Prozent wenig zufrieden, dagegen 9 Prozent wenig, 20 Prozent einigermaßen und 11 Prozent sehr unzufrieden sind, während 36 Prozent sich gar nicht entscheiden konnten oder keine Antwort gaben? Was nützt es uns, wenn wir ähnliche Zahlen für die speziellen Gesichtspunkte der Zufriedenheit mit den Arbeitsbedingungen und der Arbeitstätigkeit erhalten und vielleicht auch noch für das »Insbesondere«-Beispiel der Selbstverwirklichungsmöglichkeit? Offensichtlich sind solche Daten zu mager, wenn wir die Sozialwissenschaften als Disziplinen verstehen, deren Ergebnisse bei der Bewältigung von Alltagsproblemen helfen sollen. Aus eben diesem Bewusstsein des Ungenügens heraus gibt es für »Arbeitszufriedenheit« und viele andere Begriffe der Sozialwissenschaften komplexe Testbatterien, mit denen viele Facetten des Begriffs untersucht werden sollen. Dabei wird dann etwa nach Aufstiegsmöglichkeiten, Arbeitstempo, Betriebsklima, Bezahlung, Kritik und Lob durch Vorgesetzte usw. gefragt, also nach Elementen, die alle konstitutiv für die kom- 63 Ähnlich Mayntz/ Holm/ Hübner, S. 23. www.claudia-wild.de: [UTB_S]__Endruweit__Empirische_Sozialforschung__[Druck-PDF]/ 15.05.2015/ Seite 68 www.claudia-wild.de: [UTB_S]__Endruweit__Empirische_Sozialforschung__[Druck-PDF]/ 15.05.2015/ Seite 69 69 plexe Variable »Arbeitszufriedenheit« sein können. In manchen Ansätzen werden die Konstitutionsvariablen noch gewichtet mit ihrer Bedeutung im Vergleich zu anderen Variablen 64 oder Negativmerkmalen, also solchen Variablen, deren Existenz Arbeitszufriedenheit vermindert oder ausschließt, gegenübergestellt. Formell sieht das auch noch wie die Operationalisierung eines Begriffs aus, und so wird der Vorgang auch meistens bezeichnet. Das ist aber falsch. Denn es gibt nirgendwo einen Begriff der Arbeitszufriedenheit, der ihre Konstitutionsvariablen gleich dutzendfach angibt. Das ist, wie wir in Kapitel 2.2.3.1 gesehen haben, auch gar nicht nötig, weil allgemeine Begriffe der Sozialwissenschaften in der Regel ohne zeitliche und räumliche Grenzen brauchbar sein sollen und deshalb nicht allzu viele Spezifika enthalten dürfen. Solche speziellen Gesichtspunkte, also insbesondere Bestandteile, Bedingungen, Begleitumstände und Folgen des Phänomens, das wir mit dem Begriff bezeichnen, gehören zweckmäßigerweise nicht in den Begriff, sondern in eine diesen Begriff umgebende Theorie, die alle Wenn und Aber angemessener behandeln kann als eine Definition des Begriffs. Das gilt vor allem für erkennbar zeitgebundene Elemente, wie die Selbstverwirklichung in der Definition am Anfang dieses Abschnitts; im Jahrzehnt davor kann das »insbesondere die Lohnhöhe« und im Jahrzehnt danach »insbesondere die Arbeitsplatzsicherheit« sein. Solche Aktualitäten im Begriff verhindern auch forschungstechnisch den Datenvergleich über längere Zeit. Hier müssen wir die Position der Operationalisierung im gesamten Forschungsprozess beachten. Der Übergang von der Theorie in die Empirie fand bei der Hypothesenbildung statt. Die Operationalisierung ist also voll und ganz in der empirischen Phase. Bei ihrer Definition wurde absichtlich von »Übersetzung« gesprochen. Bei der Übersetzung von der theoretischen in die empirische Sprache ist es genauso wie sonst bei Übersetzungen: Sie darf nicht mehr enthalten als das Original! Die Operationalisierung darf der Theorie nichts hinzufügen. Die theoretische Erarbeitung des Problems muss spätestens bei der Hypothesenaufstellung abgeschlossen sein. Kommen später noch Theoriebestandteile in den Forschungsprozess, weiß man nicht, welche Theorie hier zur Erklärung benutzt wurde. 64 Etwa bei Glennon, J. R./ Owens, W. A./ Smith, W. J./ Albright, L. E.: New Dimensions in Measuring Morale, In: Harvard Business Review 38, 1960, S. 106-107. www.claudia-wild.de: [UTB_S]__Endruweit__Empirische_Sozialforschung__[Druck-PDF]/ 15.05.2015/ Seite 70 www.claudia-wild.de: [UTB_S]__Endruweit__Empirische_Sozialforschung__[Druck-PDF]/ 15.05.2015/ Seite 71 70 Ein Beispiel, in dem eine »Skala zur Messung von Arbeitszufriedenheit (SAZ)« entwickelt wurde, soll das illustrieren. 65 Die Verfasser beginnen, ohne zuvor eine einzige Definition von Arbeitszufriedenheit vorgestellt zu haben, sogleich mit deren Operationalisierung, indem sie eine Skala zur Messung von Arbeitszufriedenheit aufstellen. Dazu wurde ein Fragebogen zusammengestellt, der insgesamt 160 Items enthielt, teils in Frage-, teils in Aussageform und fast hälftig positiv bzw. negativ formuliert. Die Items setzten sich wie folgt zusammen (nach einer Liste von Faktoren der Arbeitszufriedenheit wie etwa persönliche Entwicklungsmöglichkeiten, Aufstiegschancen, Verhältnis zu Kollegen und Vorgesetzten, Bezahlung, die auf einer amerikanischen Untersuchung aus den 1950er-Jahren beruhte): die komplette Einbeziehung eines Tests aus den USA von 1951; ausgewählte 33 Items aus einem US-Test aus der gleichen Zeit; veränderte Übernahme von Fragen aus einer österreichischen Dissertation von 1963; ausgewählte 19 Items aus einer amerikanischen Untersuchung in einem kleinen Industrieort 1935; ausgewählten 6 Items aus einer amerikanischen Untersuchung von Busfahrern 1954 und weiteren 64 Hinzufügungen der Verfasser, die sich dabei z.T. auf amerikanische Untersuchungen von 1935 bzw. 1964 stützten. Durch Anwendung in drei Etappen reduzierte man die Itemzahl. Zuerst erfolgte die Befragung von 27 Arbeitern, Angestellten und Beamten. Danach wurde ein Expertenrating mit 20 Personen, und zwar Universitätsassistenten, Personalsachbearbeitern und Berufsberatern, durchgeführt. Schließlich kam es zu einer schriftlichen Befragung von 286 Arbeitern und Angestellten, von denen 167 auswertbare Antworten gaben. Die jeweils als ungeeignet beurteilten Items wurden ausgesondert, so dass schließlich ein Fragebogen mit 37 Items übrig blieb, mit jeweils fünf vorgegebenen Antwortmöglichkeiten. Diese Items hatten beispielsweise folgende skizzierte Frageinhalte 66 : nützliches Lernen für die Zukunft (0,58); warte am Montag schon auf den Freitag (0,55); Vorschläge werden nicht beachtet (0,59); Freude an der Arbeit (0,71); Stolz auf die Firma (0,37); Aufstiegsmöglichkeiten (0,72); Bezahlung im Vergleich zu den Kollegen (0,41). Eine Gewichtung dieser Items gab es 65 Fischer, L./ Lück, H. E.: Entwicklung einer Skala zur Messung von Arbeitszufriedenheit (SAZ), in: Psychologie und Praxis 16, 1972, S. 64-76. 66 In Klammern: Trennschärfe; vgl. Fischer/ Lück (s. Anm. 65), S. 75. www.claudia-wild.de: [UTB_S]__Endruweit__Empirische_Sozialforschung__[Druck-PDF]/ 15.05.2015/ Seite 70 www.claudia-wild.de: [UTB_S]__Endruweit__Empirische_Sozialforschung__[Druck-PDF]/ 15.05.2015/ Seite 71 71 nicht; ihr Beitrag zum Gesamtergebnis »Arbeitszufriedenheit« wurde also als gleich hoch angenommen. Insgesamt erreichte man nach einigen Bereinigungen eine mittlere Trennschärfe von r =-0,55. Eine Faktorenanalyse ergab eine Reduzierbarkeit auf vier Faktoren: Selbstverwirklichung, Resignation, Bezahlung und Firma. Es bedarf keiner Erläuterung, dass ein solches Instrument mehr Erkenntnisgewinn bringt als die im Kapitel 2.5.2 erwähnten einfachen Begriffsoperationalisierungen. Das gilt nicht nur für die theorie-, sondern vor allem auch für die therapieorientierte Forschung. An dieser Stelle geht es aber um den Zusammenhang von Theorie und Operationalisierung. Dabei zeigt sich deutlich, dass hier nicht ein Begriff operationalisiert wurde; es war gar kein Begriff vorhanden. Vielmehr wurde implizit eine Theorie um einen irgendwie gedachten Begriff herum aufgebaut. Wenn etwa ein Item mit dem Inhalt »Vorschläge werden nicht beachtet« formuliert wurde, dann war das nicht die (Teil-)Operationalisierung eines gegebenen Arbeitszufriedenheitsbegriffs, sondern zunächst die Aufstellung eines Theoriesatzes, demzufolge Arbeitszufriedenheit u. a. davon abhänge, dass Vorschläge des Arbeitnehmers beachtet werden. Sodann kam es zur Aufstellung einer Hypothese, die etwa gelautet haben könnte: Je mehr Vorschläge des Arbeitnehmers berücksichtigt werden, desto höher wird seine Arbeitszufriedenheit. Aber sie hätte auch lauten können: Wenn es ein funktionierendes Vorschlagswesen gibt, ist die Zufriedenheit des Arbeitnehmers höher. Oder auch: Je öfter der Arbeitnehmer erfährt, dass Vorschläge von Arbeitnehmern berücksichtigt werden, desto höher ist seine Arbeitszufriedenheit. Welche von diesen Hypothesen brauchbar oder nötig wäre, müsste nach der dahinter stehenden Theorie entschieden werden. Erst danach würde die Operationalisierung beginnen, und zwar mit der Entscheidung für die Befragung (im Falle des Vorschlagswesens wäre wohl eine Auswertung der Unterlagen über die Behandlung der Vorschläge in Verbindung mit einer Panelbefragung vor und nach der Einführung besser), der Formulierung der Frage, der Festlegung der möglichen Antworten und der Bestimmung ihrer Gewichtung gegenüber den anderen Fragen. Zuvor waren aber bei der angeblichen Operationalisierung unbewusst schon viele allgemeinere Theoriebehauptungen aufgestellt und implizit als zutreffend akzeptiert worden, die forschungslogische Voraussetzung dafür sind, dass überhaupt solche Item-Listen als Operationalisierung zusammengestellt werden können. Dazu einige Beispiele: www.claudia-wild.de: [UTB_S]__Endruweit__Empirische_Sozialforschung__[Druck-PDF]/ 15.05.2015/ Seite 72 www.claudia-wild.de: [UTB_S]__Endruweit__Empirische_Sozialforschung__[Druck-PDF]/ 15.05.2015/ Seite 73 72 1. Die Montage der Skala aus amerikanischen, österreichischen und deutschen Frage-Items enthält die theoretische Behauptung, dass diese drei nationalen Gruppierungen von Arbeitnehmern von ihrer Wertordnung her nicht unterscheidbare Elemente einer internationalen Gesamtarbeitnehmerschaft seien; d. h. etwa, dass sonstige kulturelle Unterschiede sich nicht auf die Einstellung zur Arbeit auswirken. 2. Da Material aus den Jahren 1935 bis 1975 zusammengefügt wurde, liegt darin die theoretische Annahme, dass sich zumindest in Bezug auf diese Items die Einstellung der Arbeitnehmer nicht gewandelt habe; das bedeutet u. a., dass die vielen Theorien über das Verhältnis der Arbeitnehmer zur Arbeit, denen in ihrer zeitlichen Folge vom Taylorismus bis zu den Systemtheorien ein Bezug zur Entwicklung der Arbeitswelt und zur Veränderung des Anspruchsniveaus der Arbeitnehmer nachgesagt wird, 67 nach diesen impliziten theoretischen Annahmen eben doch keine historischen, qualitativen Veränderungen ihres Objekts reflektieren, sondern höchstens quantitative. 3. Die Aufstellung einer apriorischen Item-Liste, deren Reduzierung durch kleine Befragtengruppen und Expertenteams sowie der Verzicht auf Erhebung von Arbeitszufriedenheitskomponenten bedeuten die Behauptung, dass mit den endgültigen 37 Items alle Elemente aller (denn es wurde ja von keinem bestimmten Begriff ausgegangen) Arbeitszufriedenheitsbegriffe erfasst seien, jedenfalls alle hinreichend trennscharfen. 4. Der Verzicht auf eine Gewichtung enthält die Annahme, das Gesamtergebnis werde nicht wesentlich verfälscht, wenn man alle Konstitutionsvariablen als gleichermaßen wirksam ansehe, d. h. dass theoretisch kein Faktor stärker auf die Zufriedenheit wirke als die anderen. 5. Die völlig gleichwertige Behandlung von »Freude an der Arbeit« und »Bezahlung« unterstellt indirekt, dass die Unterscheidung von intrinsischer und extrinsischer Motivation zur Arbeit, die auch heute noch im Handwerkskasten der Betriebspsychologen ganz zuoberst liegt, zum Teil ungerechtfertigt sei; wäre sie es nicht, dürfte ein hoher Freude-Wert bei einem intrinsisch Motivierten nicht durch einen niedrigen Bezahlungs-Wert neutralisiert werden, weil für ihn die Be- 67 Siehe dazu u. a. Endruweit, Günter: Organisationssoziologie, 2. Auflage, Stuttgart: Lucius &-Lucius 2004, S. 57-93, insbes. S. 83/ 84. www.claudia-wild.de: [UTB_S]__Endruweit__Empirische_Sozialforschung__[Druck-PDF]/ 15.05.2015/ Seite 72 www.claudia-wild.de: [UTB_S]__Endruweit__Empirische_Sozialforschung__[Druck-PDF]/ 15.05.2015/ Seite 73 73 zahlung nur sekundäre Bedeutung hätte, so dass sie nicht gegen die Freude 1: 1»aufgerechnet« werden könnte. Selbstverständlich sind solche Testbatterien ein wichtiges, oft unerlässliches Hilfsmittel für die therapieorientierte Forschung. Aber gerade dort setzen sie bewährte Theorieprüfung voraus, wenn sie nicht Experimente am lebenden Menschen sein sollen. Doch hier wurden-- notgedrungen und unbeabsichtigt- - theoretische Annahmen unter dem Mantel der Operationalisierung versteckt, ohne sie sauber zu überprüfen. Dieses Beispiel wurde hier so ausführlich dargestellt, um zu zeigen, dass auch eine so sorgfältige, zeit- und arbeitsaufwendige Operationalisierung ohne vorherige Theoriearbeit nur einen beschränkten Wert hat. Man weiß am Ende nämlich nicht, welche Hypothese nun bestätigt oder widerlegt wurde, und damit auch nicht, mit welcher Theorie man einen Fortschritt gemacht hat. Theorie kommt stets vor der Empirie, nie umgekehrt (außer bei einer revidierten Theorie II); denn theoretische Erfordernisse bestimmen empirische Notwendigkeiten. Das gilt für jede theorieprüfende Forschung. Die »Skala zur Messung von Arbeitszufriedenheit« ist gut geeignet, um einen großen Datenreichtum zu liefern. Aber diese Daten sind ungeeignet, um irgendeine Theorie zu überprüfen. Vielmehr können sie zu dem dienen, was man manchmal »Interpretation« nennt, nämlich zur Formulierung einer neuen Theorie auf der Grundlage dieser Daten. Diese Theorie müsste allerdings genauso überprüft werden wie eine am Schreibtisch ganz ohne Daten entworfene. Sie ist ebenfalls eine Theorie im Anfangsstadium. Ihre Gründung auf Daten führt höchstens zu einer höheren Chance auf Bewährung in der empirischen Überprüfung. Im Übrigen ist das Operationalisieren, wie fast alle Tätigkeiten in der empirischen Hälfte des Forschungsprozesses, wegen der Unterschiede der Einzelfallprobleme eine Kunst, die man am besten »on the job« lernt und nicht im Trockenschwimmkurs, aus dem man jedoch die Aufmerksamkeit für diese Problematik mitbringen sollte. 2.5.4 Stichprobe und Statistik Im Zusammenhang mit der Operationalisierung sollte auch die Entscheidung über Umfang und Verfahren der Stichprobe und die statistische Auswertung der Ergebnisse getroffen werden. Fällt diese Entscheiwww.claudia-wild.de: [UTB_S]__Endruweit__Empirische_Sozialforschung__[Druck-PDF]/ 15.05.2015/ Seite 74 www.claudia-wild.de: [UTB_S]__Endruweit__Empirische_Sozialforschung__[Druck-PDF]/ 15.05.2015/ Seite 75 74 dung erst später, im Zusammenhang mit der Datenerhebung oder danach, macht man sich leicht der Datenmanipulation verdächtig. Im Sinne einer wissenschaftstheoretisch lupenreinen Untersuchung würde man sie am besten in zwei Bänden veröffentlichen: Band 1 endete mit der Operationalisierung; erst nach dessen Veröffentlichung begänne man mit der Datenerhebung und veröffentlichte diese und den Rest in Band-2. Aber das ist und bleibt wohl »reine Theorie«! Näheres zu Stichproben und Statistik vermitteln die Lehrveranstaltungen und Bücher zu »Methoden der empirischen Sozialforschung« und »Statistik für Sozialwissenschaftler«. Deshalb folgen hier nur ein paar allgemeine Überlegungen. Stichproben benötigen wir, weil Totalerhebungen meistens unmöglich sind. Totalerhebungen, also Untersuchungen jedes einzelnen Elements der Gesamtheit, über die wir etwas aussagen wollen, sind nicht nur deshalb unmöglich, weil wir nicht genügend Personal haben, sondern auch wegen des Zeitfaktors. Selbst wenn wir Interviewer, Experimentatoren usw. zu Hunderten über mehrere Jahre einsetzen könnten, würde der Zeitablauf die Erhebungssituationen so verändern, dass die Daten nicht zusammengerechnet werden dürften. Zur Vermeidung eines so traurigen, aber vorhersehbaren Endes einer Untersuchung wird also eine Stichprobe aus der Gesamtheit gezogen, für die alle Elemente in engem zeitlichem Zusammenhang untersucht werden können. Wenn die Stichprobe als Ersatz für die Gesamtheit dienen soll, dann muss man von ihren Ergebnissen auf die Gesamtheit schließen können. Diese Ergebnisse müssen also so sein, wie die Ergebnisse der Gesamtheit wären. Das meint man, wenn man von einer »repräsentativen Stichprobe« spricht: Die Stichprobe repräsentiert die Gesamtheit. Wie erreicht man diese Repräsentativität? In der Praxis versucht man das dadurch, dass man sich eine Untersuchungsgruppe zusammenstellt, die nach Geschlecht, geografischer Verteilung des Wohnortes, Lebensalter und, wenn man besonders gründlich sein will, höchstem Bildungsabschluss, Berufsgruppe und (abnehmend) Konfession genauso zusammengesetzt ist wie die Grundgesamtheit. Dafür gibt es verschiedene Verfahren; aber für alle braucht man die Daten der Grundgesamtheit. Die hat man nicht immer. In diesen Fällen (und auch in anderen zwecks Zeitersparnis) behilft man sich mit einer einfachen Zufallsstichprobe. Dazu wird beispielsweise aus einer alphabetischen Liste einer Stadtbevölkerung, einer Betriebsbelegschaft oder der Mitglieder einer Partei jeder www.claudia-wild.de: [UTB_S]__Endruweit__Empirische_Sozialforschung__[Druck-PDF]/ 15.05.2015/ Seite 74 www.claudia-wild.de: [UTB_S]__Endruweit__Empirische_Sozialforschung__[Druck-PDF]/ 15.05.2015/ Seite 75 75 Zehnte untersucht. Mit dieser Zehnprozent-Stichprobe glaubt man, die Gesamtheit von hundert Prozent zutreffend abgebildet zu haben. Meistens stimmt das auch. Das ist wissenschaftstheoretisch aber mehr oder weniger ein Glücksspiel. Denn meistens geht es in sozialwissenschaftlichen Untersuchungen um die Ursachen irgendwelcher Wirkungen: Wie wirken sich Alter und Bildungsstand von Eltern auf ihre Vorlieben in der Kindererziehung aus? Welche Eigentumsverhältnisse schüren die Angst vor Einbrüchen? Mit welchem Auftreten erwecken Politiker besonders nachhaltig Vertrauen? Es geht zumeist um den Einfluss einer unabhängigen Variablen (Ursache) auf eine abhängige Variable (Wirkung). Wissenschaftstheoretisch zwingend müsste eine repräsentative Stichprobe also die gleichen Ausprägungen einer unabhängigen Variablen haben wie die Grundgesamtheit, damit wir von der Untersuchung der Stichprobe auf die Struktur der Grundgesamtheit zuverlässig schließen können. 68 Das Praxisproblem ist nur: In aller Regel kennen wir nicht die Verteilung der Ausprägungen der unabhängigen Variablen in der Grundgesamtheit und der Stichprobe, wir kennen nicht einmal die unabhängigen Variablen, die suchen wir meistens gerade. So arbeitet man notgedrungen doch wieder mit der demografischen, also einer indirekten und damit minderwertigen Repräsentativität, oft ohne das zu erkennen, geschweige denn mitzuteilen. Statistik dient der Datenauswertung. Sie setzt erst nach Beendigung der Datenerhebung ein, kann also die Daten nicht mehr verändern und daher auch nicht verfälschen oder auch nur uneinheitlich machen. Ihre Festlegung vor der Datenerhebung ist damit eigentlich wissenschaftstheoretisch nicht unbedingt nötig. Aber sie ist zweckmäßig. Denn wenn man frühzeitig weiß, welche Daten für die Statistik gebraucht werden, kann man sie auch in das Datenerhebungsprogramm aufnehmen. 2.5.5 Probeuntersuchung Am Ende der Operationalisierung, unmittelbar vor der Datenerhebung, ist in vielen Fällen eine Phase angezeigt, die man Probeuntersuchung (engl. pretest) nennt. Darunter versteht man: 68 Näher dazu: Endruweit, Günter: Zur Repräsentativität von Parlamenten und anderen Stichproben, in: Ders.: Beiträge zur Soziologie, Band V, Kiel: Institut für Soziologie der CAU 2002, S. 34-56. www.claudia-wild.de: [UTB_S]__Endruweit__Empirische_Sozialforschung__[Druck-PDF]/ 15.05.2015/ Seite 76 www.claudia-wild.de: [UTB_S]__Endruweit__Empirische_Sozialforschung__[Druck-PDF]/ 15.05.2015/ Seite 77 76 Definition »Probeuntersuchung« Eine Probeuntersuchung ist eine Untersuchung, in der die einwandfreie Wirkung des in der Operationalisierung festgelegten Instrumentariums geprüft wird. Die Probeuntersuchung liegt also wie die Explorationsstudie vor der eigentlichen Untersuchung. Während die Explorationsstudie die Theoriebasis erweitern soll, wird in der Probeuntersuchung das vorgesehene Verfahren der Datenerhebung auf seine Wirksamkeit geprüft. Meistens sind es Zeitnot oder wissenschaftstheoretische Überheblichkeit, die auf eine Probeuntersuchung verzichten lassen. Damit nimmt man aber Fehler in Kauf, die das Ergebnis sehr verfälschen können. So ist bei Befragungen, auch schriftlichen, nicht immer sicher, dass alle Befragten eine Frage in gleicher Weise verstehen. Fremdwörter- - auch deutsche wissenschaftliche Fachausdrücke können für viele Befragte Fremdwörter sein- - verhindern das Verständnis, und nicht immer mag ein Befragter das zugeben. Auch die Länge oder Kompliziertheit einer Frage kann diese Wirkung haben. Bei einem Experiment ist zu prüfen, ob die Experimentatoren (Versuchsleiter) einen Einfluss auf das Ergebnis (Versuchsleitereffekt) haben, etwa durch Alter, Geschlecht, Sprachfärbung, Kleidung, Auftreten usw. Im Laborexperiment kann der Ort der Untersuchung (Universitätsinstitut, Behördengebäude) auf manche Teilnehmer sehr verschiedene Wirkungen ausüben. Bei Beobachtungen und Inhaltsanalysen ist herauszufinden, ob alle Datenerheber denselben Fall auch gleich kategorisieren. Wo es um die Einheitlichkeit der Datenerhebung geht, wie bei Beobachtung und Inhaltsanalyse, müssen mit allen Datenerhebern Probeuntersuchungen gemacht werden. Gegebenenfalls sind intensive Mitarbeiterschulungen erforderlich. Wenn es um eventuelle datenverzerrende Reaktionen von Befragten, Versuchspersonen eines Experiments usw. geht, macht man in der Regel eine Voruntersuchung an einer kleineren Stichprobe. Diese muss nicht unbedingt eine verkleinerte Abbildung der endgültig vorgesehenen Stichprobe sein. 69 Eine disproportional geschichtete Stichprobe kann 69 Anders Kromrey, S. 153. www.claudia-wild.de: [UTB_S]__Endruweit__Empirische_Sozialforschung__[Druck-PDF]/ 15.05.2015/ Seite 76 www.claudia-wild.de: [UTB_S]__Endruweit__Empirische_Sozialforschung__[Druck-PDF]/ 15.05.2015/ Seite 77 77 einzelne Problemgruppen genauer untersuchen lassen. Ergebnisse von Probeuntersuchungen gehen nur insoweit in die eigentliche Untersuchung ein, als sie das Instrumentarium verändern. 2.6 Datenerhebung Wenn man draußen im Feld Daten sammle, dann sei man, so sagte ein erfahrener Feld-Hase, in der »blinden Phase« des Projekts. Er meinte damit, dass einerseits alle theoretischen und forschungsstrategischen Entscheidungen gefallen seien, so dass man sie nur auszuführen habe. Andererseits sei in dieser Zeit auch kein Ergebnis oder auch nur ein Trend abzusehen, weil ständig neue Einzeldaten kommen, so dass auch für die Datensammler vor Ort keine Prognose des Gesamtergebnisses möglich sei, höchstens ein Raten. So ist es in der Tat. Deshalb ist die Datenerhebung die wissenschaftstheoretisch unergiebigste Phase eines Projekts. Das bedeutet aber nicht, dass sie wissenschaftstheoretisch unbedeutend ist. Zusammengefasst könnte man sagen: Bei der Datenerhebung ist wissenschaftstheoretisch nichts mehr zu machen-- außer vielen Fehlern, und zwar durch Missachtung der bereits getroffenen Entscheidungen. Was an forschungsstrategischen Entscheidungen unter Beachtung von wissenschaftstheoretischen Gesichtspunkten zu fällen war, muss vor Beginn der Datensammlung erledigt sein. Auswahl der Theorien, Ableitung der Hypothesen, Festlegung der Untersuchungsmethoden, Aufbau des Instrumentariums bis in die letzten Feinheiten, Konstruktion der Stichprobe, Schulung der Interviewer-- alles das und mehr muss so entschieden sein, dass keine weitere Entscheidung während der Feldarbeit nötig ist. Wenn noch in der Operationalisierungsphase wissenschaftstheoretische oder forschungspraktische Zweifel auftauchen, sind sie notfalls durch eine Erkundungsstudie oder eine Probeuntersuchung zu klären. Das sind Untersuchungen in kleinerem Rahmen, z. B. mit kleinerer Stichprobe, die der näheren Untersuchung des Feldes bzw. der Erprobung der Instrumente dienen und deren Ergebnisse nicht in das Endergebnis aufgenommen werden. In der eigentlichen Datenerhebung sind dann nur die schon getroffenen Entscheidungen auszuführen. Das Gebot der wissenschaftstheoretischen Denkpause und der forschungstechnischen Entscheidungspause während der Datenerhebung beruht auf dem Erfordernis der Einheitlichkeit der Datenerhebung, d. h. www.claudia-wild.de: [UTB_S]__Endruweit__Empirische_Sozialforschung__[Druck-PDF]/ 15.05.2015/ Seite 78 www.claudia-wild.de: [UTB_S]__Endruweit__Empirische_Sozialforschung__[Druck-PDF]/ 15.05.2015/ Seite 79 78 der Vermeidung von Unterschieden in der Datenerhebung auf Grund von verschiedenen Umständen der Datenentstehung. Die wissenschaftstheoretischen Entscheidungen bis zum Ende der Operationalisierung werden immer, direkt oder indirekt, deutlich niedergelegt. Jeder Theoriebezug, jede Fragenformulierung, jede Korrelationsanweisung- - alles hat seinen wissenschaftstheoretischen Hintergrund und wird dokumentiert, um den Gang der Ergebnisgewinnung nachvollziehbar zu machen. Wenn jedoch während der Datenerhebung ein Mitarbeiter die Fragenreihenfolge im Interview tauscht, die Befragtenauswahl bei der Quotenstichprobe anders durchführt oder wenn jemand, aus welchen Gründen auch immer, die einmal für alle festgelegte Prozedur ändert, dann trifft er damit eine Entscheidung mit wissenschaftstheoretischer Konsequenz: Er verändert die Einheitlichkeit der Datenerhebung. Die so gewonnenen Daten können nicht mehr mit den anders ermittelten zusammengerechnet werden. Solche Abweichungen von der Untersuchungsplanung pflegen deshalb auch immer verschwiegen zu werden, falls sie überhaupt jemand außer dem Fälscher bemerkt. Wie eingehend und zwingend die wissenschaftstheoretischen Festlegungen für die Datenerhebung sind bzw. sein können, hängt zu einem guten Teil von der gewählten Erhebungsmethode ab. Beim voll standardisierten Interview oder der quantitativen Inhaltsanalyse können und müssen die Vorgaben genauer sein als beim Interviewleitfaden für das Expertengespräch oder bei der qualitativen Inhaltsanalyse. Hier zeigt sich auch der wissenschaftstheoretische Hintergrund für die oft getroffene Unterscheidung zwischen harten und weichen Daten bzw. Methoden: Je weniger Entscheidungsspielraum der Forscher und seine Mitarbeiter bei der Datenerhebung haben, desto härter sind die Daten. Diese Unterscheidung betrifft entgegen einem verbreiteten Vorurteil nicht in erster, sondern nur in zweiter Linie die Qualität der Daten in dem Sinne, dass sie zutreffende Auskunft über den Gegenstand der Forschung geben. Extrem weiche Methoden, wie das explorative Tiefeninterview mit Strafgefangenen oder Methoden der verstehenden Soziologie mit teilnehmender Beobachtung, können zu höherer Kongruenz zwischen »Datensatz« und Forschungsgegenstand, etwa einer angstbeladenen Person oder einer devianten Jugendgruppe, führen als die härteren Methoden von Labortest und statistischen Zahlen. In erster Linie betrifft die Unterscheidung von harten und weichen Daten die Vergleichbarkeit von so gewonnenen Daten über verschiedene Gegenstände. Die Ergebnisse eines Tiefeninterviews mit A www.claudia-wild.de: [UTB_S]__Endruweit__Empirische_Sozialforschung__[Druck-PDF]/ 15.05.2015/ Seite 78 www.claudia-wild.de: [UTB_S]__Endruweit__Empirische_Sozialforschung__[Druck-PDF]/ 15.05.2015/ Seite 79 79 können diesen sehr gut charakterisieren und die Ergebnisse eines Tiefeninterviews mit B jenen; aber sie sind untereinander nicht so vergleichbar wie Zahlen über Körpergröße, Abiturnoten oder Ergebnisse eines IQ- Tests. Je mehr einzelne »Datenträger« zum Untersuchungsgegenstand gehören, je mehr Quervergleiche man braucht, desto härter müssen die Datenerhebungsmethoden sein und desto mehr wissenschaftstheoretische Vorentscheidungen sind vor der Datenerhebung zu fällen. Die allgemeine Regel kann also lauten: Je überprüfbarer, je intersubjektiver eine Untersuchung sein soll, desto größer muss die Zurückhaltung gegenüber wissenschaftstheoretischen Entscheidungen während der Datenerhebung sein. 2.7 Auswertung Nachdem die Datenerhebung eine große Menge von Material in Gestalt von einzelnen Daten erbracht hat, muss es geordnet werden, um es übersichtlich zu machen. Gegenstand der Auswertung ist nicht etwa schon eine Bewertung des Materials im Hinblick auf die Hypothesen, sondern die Auswertung soll die Theoriebilanz vorbereiten, indem sie die Datenmenge analysierbar macht. Auswertung ist deshalb in den meisten Fällen Aggregation von Einzeldaten und Kombination von Datengruppen. Das ist die Domäne der Statistik, insbesondere der beschreibenden Statistik. Einfachste Prozeduren der Auswertung sind daher Grundauszählungen und Korrelationen. Weiterhin gehört dazu auch die schließende Statistik mit ihren Verfahren. Deren Hauptzweck ist es, Verbindungen zwischen Teilmengen zu untersuchen und Entscheidungen zwischen konkurrierenden Hypothesen zu treffen. Auch diese Prozeduren sind, sofern sie nicht ohnehin zur allgemein anerkannten, zunehmend fast automatischen EDV-Behandlung gezählten Routine gehören, im Grundsatz schon in der Operationalisierung festzulegen; das gilt vor allem auch im Hinblick auf das erwünschte oder notwendige Skalenniveau der Messung. Insofern wäre die Auswertung von Daten ebenso wie ihre Erhebung nur Exekution von Operationalisierungsentscheidungen. Dann gelten bei der Auswertung dieselben Regeln über wissenschaftstheoretische Enthaltsamkeit. In der Praxis ist es aber manchmal anders. Dort haben manchmal zufällige oder spielerisch konstruierte Datenkonstellationen einen heuwww.claudia-wild.de: [UTB_S]__Endruweit__Empirische_Sozialforschung__[Druck-PDF]/ 15.05.2015/ Seite 80 www.claudia-wild.de: [UTB_S]__Endruweit__Empirische_Sozialforschung__[Druck-PDF]/ 15.05.2015/ Seite 81 80 ristischen Reiz, der neue, zuvor nicht ins Auge gefasste Auswertungsversuche lohnend erscheinen lässt. Dann wird ad hoc ein Verfahren angewendet, an das bei der Operationalisierung nicht gedacht worden war. Ist das nun ein wissenschaftstheoretisches Risiko wie bei der Datenerhebung? Aus zwei Gründen scheint die nachträgliche Entscheidung für weitere oder andere Auswertungsverfahren anders zu beurteilen zu sein als Änderungen während der Datenerhebung. Erstens bedeutet die Hinzunahme oder Veränderung von Auswertungsverfahren keine Beeinflussung des Materials, der erhobenen Daten. Das Material sind nämlich nur die Rohdaten, die erhobenen Einzelangaben über unseren Forschungsgegenstand. Sie sind die Basis der Empirie, und nur diese Basis muss unverändert bleiben. Das Arrangement des Materials-- und das ist fast alles, was zur Auswertung gehört-- kann verändert werden, auch in experimenteller Absicht. Der Erfolg solcher neuer Auswertungsverfahren lässt sich auch im Nachhinein noch mit der üblichen Zuverlässigkeit beurteilen, zumal diese Prozesse, im Gegensatz zu den meisten Vorgängen beim Datenerheben, stets offenkundig, nachvollziehbar und revidierbar sind. Hier besteht auch nicht die Gefahr von Datenverfälschung durch einen von vielen Mitarbeitern, die manchmal bei der Datenerhebung beschäftigt werden; bei der Auswertung ist der Forscher allein oder nur mit wenigen engen Mitarbeitern zusammen. Zweitens sind die Auswertungsverfahren in der weit überwiegenden Zahl der Fälle eingeführte und bewährte statistische Methoden mit einer eigentümlichen wissenschaftstheoretischen Qualität. Zum einen Teil bestehen sie aus mathematischen Verfahren. Als solche sind sie nach logischen Kriterien zu beurteilen und damit über einen Meinungs- und Richtungsstreit weitgehend erhaben. Zum anderen Teil bestehen sie aus Bewertungen, wie sie etwa in der Beurteilung der Irrtumswahrscheinlichkeit bei Signifikanztests zum Ausdruck kommen oder in der Einschätzung der verschiedenen Korrelationsstärken, von denen ja nur r = 1,0 oder r = -1,0 und r = 0,0 eine nicht zu diskutierende Bedeutung haben. Wenn im Übrigen nicht der Verdacht von nachträglicher, d. h. nach der Datenerhebung erfolgter Ergebnissteuerung aufkommen soll, müssen die jeweils für die Entscheidung erforderlichen Werte spätestens bei der Operationalisierung festgelegt worden sein. Die vorstehenden Ausführungen betreffen im Wesentlichen nur die quantitative Forschung. In der qualitativen Sozialforschung ist fast alles anders. Hier geht es weniger um Pedanterie, sondern mehr um die Intuition oder www.claudia-wild.de: [UTB_S]__Endruweit__Empirische_Sozialforschung__[Druck-PDF]/ 15.05.2015/ Seite 80 www.claudia-wild.de: [UTB_S]__Endruweit__Empirische_Sozialforschung__[Druck-PDF]/ 15.05.2015/ Seite 81 81 gar Fantasie des Forschers. Einzelheiten behandeln Kurse und Bücher zu den Methoden der qualitativen Sozialforschung. 2.8 Theoriebilanz Bei der Operationalisierung hatten wir davon gesprochen, dass sie eine Forschungsfrage so in Forschungsoperationen übersetzen solle, dass aus deren Ergebnis unmittelbar die Antwort auf die Frage erkennbar wird. Datenerhebung und Auswertung waren die Forschungsoperationen. In der Theoriebilanz erwarten wir nun die Antwort. 2.8.1 Aufstellung der Theoriebilanz Man müsste davon ausgehen, dass eine perfekte Operationalisierung den Ausgang der Forschung so vorstrukturiert, dass das Ergebnis nur vom Material, den Tatsachen und der Wirklichkeit gesteuert wird. Vor jeder Konfrontation mit der Wirklichkeit wäre die Prozedur so festgelegt, dass nachher in der Datensammlung, der Auswertung und schließlich der Theoriebilanz die Antwort auf die Forschungsfrage nur auf Grund der Prüfung an der Wirklichkeit erfolgt. Dann hätte man nicht eine Meinung des Sozialforschers, das, was er »glaubt«, sondern die »reine Wahrheit«. Der Forscher hätte dann, sofern er nicht bewusst und heimlich fälscht, gar keine Möglichkeit, in die Überprüfung der Theorie an der Wirklichkeit seine persönlichen Vorurteile, Erfahrungen, Werte, Absichten und Interessen hineinzubringen und so den empirischen Charakter der Sozialwissenschaft zu verbiegen. Damit wäre das viel diskutierte Problem der Wertfreiheit der Wissenschaft gelöst. Stichwort »Wertfreiheit« Seit Max Weber 1917 seinen Aufsatz »Der Sinn der ›Wertfreiheit‹ der soziologischen und ökonomischen Wissenschaften« veröffentlichte, 70 gibt es, vor allem in Deutschland und den USA, alle paar Jahrzehnte 70 Weber, Max: Der Sinn der »Wertfreiheit« der soziologischen und ökonomischen Wissenschaften, in: Ders.: Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, 7. Auflage, Tübingen: J. C. B. Mohr (Paul Siebeck) 1988, S. 489-540. Weber beschäftigt sich hier allerdings hauptsächlich mit der Wertfreiheit in der Lehre. www.claudia-wild.de: [UTB_S]__Endruweit__Empirische_Sozialforschung__[Druck-PDF]/ 15.05.2015/ Seite 82 www.claudia-wild.de: [UTB_S]__Endruweit__Empirische_Sozialforschung__[Druck-PDF]/ 15.05.2015/ Seite 83 82 eine neue Reihe von Diskussionsbeiträgen zu diesem Thema. Es ist also noch oder immer wieder umstritten. Wenn wir den Titel mit »Wertfreiheit« wörtlich nehmen, können wir Werte auf drei Ebenen der Wissenschaft unterscheiden 71 : 1. Werte als Grundlage von Wissenschaft sind nach der hier vertretenen Meinung unvermeidlich. Was Wissenschaft als soziale Funktion ausüben und wie sie dabei vorgehen soll, lässt sich wohl kaum anders als durch Wertentscheidungen festlegen. Das ist schließlich auch die Grundlage der Wissenschaftstheorie, die hauptsächlich die Werte bietet, durch deren Verwirklichung sich Wissenschaft gesellschaftlich legitimieren kann. Maximen wie »Nachprüfbarkeit«, »Methodenstrenge«, am Ende auch »Wertfreiheit« selbst in den noch folgenden Spezifizierungen sind Wertsetzungen, die dazu dienen, der Wissenschaft eine soziale Rolle zuzuweisen. Auf Dauer kann sie diese nur erhalten, wenn sie anderes liefert als andere Rollenträger. Daher muss sie sich auch in den Grundwerten ihrer Tätigkeit von denen anderer Bereiche unterscheiden. 2. Werte als Gegenstand von Wissenschaft sind in den Sozialwissenschaften ebenfalls unvermeidbar. Soziales Handeln wird nun einmal sehr oft von Werten beeinflusst, und überdies ist die Wertordnung Teil der Sozialstruktur, so dass Wertanalyse wichtiger Gegenstand der Sozialwissenschaften ist. Das wird auch von keinem noch so entschiedenen Vertreter der Wertfreiheitsthese bestritten. 3. Werte als Ergebnis von Wissenschaft sind der eigentliche Gegenstand der Diskussion um die Wertfreiheit. Hier unterscheidet man zwei Formen: (a) Maßstabbezogene Werturteile sind Werturteile, die Ergebnisse anhand von zuvor, i. d. R. bei der Operationalisierung, aufgestellten Maßstäben beurteilen. Dazu gehört z. B. die Geburtenrate in einem Land als zu niedrig oder zu hoch, 71 Vgl. auch die Unterscheidung von Werten im Basis-, Objekt- und Aussagenbereich bei Behrens, Sp. 4770/ 4771, in Anlehnung an Hans Albert. Allgemein auch Johannes Weiß bei Endruweit/ Trommsdorff/ Burzan, S. 616-618. www.claudia-wild.de: [UTB_S]__Endruweit__Empirische_Sozialforschung__[Druck-PDF]/ 15.05.2015/ Seite 82 www.claudia-wild.de: [UTB_S]__Endruweit__Empirische_Sozialforschung__[Druck-PDF]/ 15.05.2015/ Seite 83 83 je nachdem, ob sie die vorher festgelegten Marken »negative Nettoreproduktionsrate« bzw. »Bevölkerungswachstum über den Zuwachs an Arbeitsplätzen hinaus« erreicht. Natürlich sind diese Maßstäbe selbst auch diskussionswürdig und eventuell -bedürftig. Aber sie sind deutlich festgelegt und machen das Werturteil des Forschers nachvollziehbar und überprüfbar. Deshalb sind sie problemlos zulässig. (b) Maßstablose Werturteile sind Werturteile, die Forschungsergebnisse nach subjektiven, jedenfalls von anderen nicht genauso anwendbaren Maßstäben beurteilen oder sich ohne Angabe von Maßstäben als Forschungsergebnis darstellen. Wenn man das einmal für die Soziologie präzisiert: Émile Durkheim, einer ihrer Gründungsväter, bestimmte sie als die Wissenschaft der »faits sociaux« 72 , der sozialen Tatsachen; wenn nun die persönliche Wertordnung des Forschers das Forschungsergebnis (mit-) bestimmt, handelt es sich nicht mehr nur um soziale Tatsachen, sondern um individuelle, also nicht rein soziale. Wenn Werte auf diese Weise in eine Wissenschaft eingehen, machen sie die Ergebnisse unwissenschaftlich. Diesen Verfahren fehlt z. B. die Reliabilität. In Bezug auf unser Ablaufschema der sozialwissenschaftlichen Forschung auf dem Umschlagdeckel kann man sagen: Am Anfang, bei der Wahl des Forschungsthemas, herrscht noch freie Bahn für subjektive Werte. Was auf der Dimension interessant-- uninteressant, weitgehend auch auf der Dimension wichtig- - unwichtig entschieden wird, kann im Grunde nur nach subjektiven Kriterien entschieden werden; so richtig wertfrei wären wohl nur Entscheidungen durch einen Würfel oder einen sonstigen Zufallsgenerator- - eine absurde Vorstellung. Von da an wird die Gelegenheit für Wertentscheidungen immer seltener, bis sie in der Datenerhebung ganz verschwindet. Die Theoriebilanz ist die Station im Forschungsprozess, in der Forschungsergebnisse festgestellt werden und wissenschaftlich fundiertes Wissen bis auf Weiteres abgepackt wird. Hier müssen also die Merkmale von Wissenschaftlichkeit ein letztes Mal besonders kritisch angewendet werden. 72 Durkheim, insbes. S. 11. www.claudia-wild.de: [UTB_S]__Endruweit__Empirische_Sozialforschung__[Druck-PDF]/ 15.05.2015/ Seite 84 www.claudia-wild.de: [UTB_S]__Endruweit__Empirische_Sozialforschung__[Druck-PDF]/ 15.05.2015/ Seite 85 84 Das ist vor allem das Merkmal der Objektivität. 73 Es ist, aus der Psychologie kommend und nun für alle Sozialwissenschaften geltend, neben Reliabilität und Validität, das dritte von den drei Gütekriterien für die Qualität von sozialwissenschaftlichen Forschungsergebnissen. Unter Objektivität in unserem Zusammenhang ist zu verstehen: Definition »Objektivität« Objektivität ist die Eigenschaft eines Forschungsergebnisses, nur auf dem Objekt, dem Forschungsgegenstand, zu beruhen und nicht auf dem Subjekt, dem Forscher. Der Zusammenhang mit der Wertfreiheit, die- - auch von Weber schon 74 - - jetzt oft weniger missverständlich als Werturteilsfreiheit bezeichnet wird, ist gleich deutlich. Besonders schwierig wird es mit der Objektivität, wenn eine Wissenschaft selbst vom Forscher verlangt, sich intensiv mit der Eigensicht seines Objekts zu befassen, um es richtig verstehen zu können. Das gilt beispielsweise in der Ethnologie für die Erforschung der Wertordnung einer völlig fremden Kultur, in manchen Richtungen der Psychologie für die Erkundung der Gedankenwelt eines zu therapierenden Kranken oder in der Soziologie für die Untersuchung sozialen Handelns im Sinne Max Webers, der darunter »ein menschliches Verhalten« versteht, »wenn und insofern als der oder die Handelnden mit ihm einen subjektiven Sinn verbinden«. 75 Wo immer bei der Forschung Empathie verlangt wird, ist die Objektivität problematisch. Das Mindeste ist dann, dass die Empathiegewinnung genau beschrieben wird. Gegen die Objektivität als Qualitätskriterium wird eingewendet, sie sei in den Sozialwissenschaften ganz unmöglich, weil deren Objekte gar nicht direkt und rein objektiv erkannt werden könnten. Die »Wirklichkeit als solche« müsse immer erst durch die Sinnesorgane und Gehirne der Forscher gehen, 76 um mehr zu sein als organische Chemie. Da so- 73 Vgl. dazu ausführlicher Breuer, S. 81-92. Nicole Burzan bei Endruweit/ Trommsdorff/ Burzan, S. 164-165, zählt auch die Repräsentativität als viertes Gütekriterium dazu. Diese Meinung wird hier nicht geteilt, weil Repräsentativität nicht für alle Untersuchungen, sondern nur für Stichprobenuntersuchungen gelten kann und selbst da nicht für alle. 74 Weber (s. Anm. 70), S. 489 (»Wertungen«) und 495 (»Werturteile«). 75 Weber, S. 3. 76 Siehe auch Behrens, Sp. 4763 (»objektive und subjektive Realität«). www.claudia-wild.de: [UTB_S]__Endruweit__Empirische_Sozialforschung__[Druck-PDF]/ 15.05.2015/ Seite 84 www.claudia-wild.de: [UTB_S]__Endruweit__Empirische_Sozialforschung__[Druck-PDF]/ 15.05.2015/ Seite 85 85 wohl die Sinnesorgane als auch die Gehirne bei verschiedenen Forschern von verschiedener Qualität sein können, müssen dann auch die Ergebnisse des Prozesses verschieden sein. Wenn ein Forscher behauptet, er habe beobachtet, eine vierköpfige Familie komme gerade in die Kirche, dann hat er »objektiv« nur gesehen, dass zwei Erwachsene verschiedenen Geschlechts und zwei Kinder gleichzeitig den Kirchenraum betreten. Dass die Kinder leibliche Abkömmlinge der beiden Erwachsenen sind, kann er »objektiv« gar nicht erkennen. Selbst wenn sie sich nebeneinander in dieselbe Kirchenbank setzen, können sie immer noch Nichte und Neffe sein, die gerade bei Onkel und Tante zum Ferienaufenthalt sind. Viele andere physiologisch einheitlich sichtbare Merkmale können sozial in verschiedener Weise gedeutet werden. Darüber hinaus haben es Sozialwissenschaften selten mit einer »Wirklichkeit als solcher« zu tun, die auch objektiv dargestellt werden könnte und sollte, also mit einer naturgegebenen Wirklichkeit, sondern mit einer menschengemachten. Die eben erwähnte Familie ist ein Beispiel dafür. Weiterhin haben die Sozialwissenschaften viele Gegenstände, für die es gar kein physikalisches Substrat gibt, sondern die wissenschaftliche oder alltagssprachliche Konstrukte sind: der psychologische Einfluss, die erziehungswissenschaftliche Autorität oder die politikwissenschaftliche Macht. Und schließlich haben die Sozialwissenschaften im Gegensatz zu den Naturwissenschaften manche Objekte, die die Fähigkeit und Legitimität zur Selbstdefinition haben, welche dann auch erforscht werden muss. Angesichts dieser Schwierigkeiten hat man sich einen Ersatz für die Objektivität geschaffen, und zwar die Intersubjektivität. Damit ist hier gemeint: Definition »Intersubjektivität« Intersubjektivität ist die Eigenschaft eines Forschungsergebnisses, erreicht zu werden, wenn verschiedene Forscher mit denselben Methoden denselben Forschungsgegenstand unter denselben Umständen untersuchen. Auch hier ist die Verwandtschaft zur Reliabilität erkennbar. Mit dem Verhältnis zwischen Objektivität und Intersubjektivität ist es wie mit dem Verhältnis zwischen Steak und Tofu: Funktional ist der Ersatz recht brauchbar, aber so ganz kommt er an das Original doch nicht heran. Die Objektivität könnte gewährleisten, dass die Aussage des doch immer www.claudia-wild.de: [UTB_S]__Endruweit__Empirische_Sozialforschung__[Druck-PDF]/ 15.05.2015/ Seite 86 www.claudia-wild.de: [UTB_S]__Endruweit__Empirische_Sozialforschung__[Druck-PDF]/ 15.05.2015/ Seite 87 86 fehlsamen Forschers der ehernen Wirklichkeit und Wahrheit des Objekts gerecht wird, die Intersubjektivität ersetzt das durch die Aussagen mehrerer fehlsamer Forscher. Was nun, wenn alle den gleichen Fehler machen? Einziger Trost: Das ist wohl doch recht selten. Zu übersehen ist aber nicht, dass Intersubjektivität zwar leicht definiert, aber schwer praktisch nachgewiesen werden kann. Beim Laborexperiment mag das noch relativ leicht möglich sein, aber in der Feldforschung, etwa bei großräumigen Befragungen, ist das kaum möglich, nicht nur aus finanziellen und personellen Gründen, sondern auch wegen des Grundsatzes der Einheitlichkeit der Datenerhebung (in der Definition: unter denselben Umständen). Bisher sind solche Intersubjektivitätsuntersuchungen auch deshalb extrem selten, weil außer professionellen Sozialforschern kaum jemand Interesse daran hat. In einer Hinsicht ist die Intersubjektivität eine eindeutige Verbesserung. In dem obigen Beispiel des Kirchgangs wird bei der Fragwürdigkeit der Deutung des Sichtbaren als übliches Gegenargument der Verweis auf die Lebenserfahrung gebracht. Der einzelne Forscher meint dann seine eigene Lebenserfahrung. Die Intersubjektivität könnte als Verbesserung die allgemeine Lebenserfahrung bieten oder wenigstens eine Annäherung an sie. Dies ist die zurzeit wohl herrschende Auffassung zur Wertproblematik in den Sozialwissenschaften. Es gab im vorigen Jahrhundert aber- - und es gibt sie in einigen Nischen noch heute-- eine dezidierte Gegenmeinung, die hier in einem Exkurs knapp skizziert sei, um ältere Literatur verständlich zu machen. Gemeint ist die marxistische Wissenschaftstheorie, die sich selbst oft als Wissenschaftswissenschaft bezeichnet. Stichwort »marxistische Wissenschaftstheorie« Eine Wertorientierung der Wissenschaft ist dann eine sogar logische Folgerung, wenn man Evolutionsgesetze für alle verbindlich vorgegebenen Entwicklungsziele zu haben glaubt. Dann würde eine wertfreie Wissenschaft Umwege gehen und damit Entwicklungsbremsen schaffen. Daher ist die Wertproblematik eine von Marxisten intensiv behandelte Frage. 77 77 Vgl. z. B. Kuczynski,S. 155/ 156 m. w. N. www.claudia-wild.de: [UTB_S]__Endruweit__Empirische_Sozialforschung__[Druck-PDF]/ 15.05.2015/ Seite 86 www.claudia-wild.de: [UTB_S]__Endruweit__Empirische_Sozialforschung__[Druck-PDF]/ 15.05.2015/ Seite 87 87 Zuerst wird von Marxisten der Standpunkt vertreten, die Wahl des Forschungsthemas sei, auch bei Marxisten, eine werturteilgesteuerte Entscheidung. 78 Die Mehrheit, gegen die sich aber eine immer bedeutendere Minderheit stellte, wollte auch in den folgenden Forschungsphasen eindeutig parteiisch arbeiten, auch wenn mehrere Marx-Zitate dagegen sprachen. 79 Ist aber die Datenauswertung beendet und geht es um die theoretischen Folgerungen daraus, plädierte auch die Minderheit der marxistischen Methodologen wieder für absolute Parteilichkeit, sogar im wörtlichen Sinne einer Interpretation von Parteibeschlüssen. 80 Das geht sogar so weit, dass man, wenn auch erst nach Abschluss des Interviews, dem Interviewer zugesteht oder zumutet, auf den Befragten erzieherisch einzuwirken. 81 Nach der hier vertretenen Wissenschaftstheorie ist das allein schon deswegen abwegig, weil nach Abschluss eines Interviews, also vor der Gesamtauswertung in der Theoriebilanz, keine Erkenntnis vorhanden sein kann, auf der man eine wissenschaftlich begründete Erziehung aufbauen könnte. Der Marxist jedoch behauptet, er finde »seine Wertungen in einem wissenschaftlichen System, das nichts anderes ist als die Rezeption einer gesetzmäßig sich bewegenden ›historischen Materie‹«, es gebe für ihn »auf den Gebieten der Gesellschaftswissenschaften objektive Gesetze«, und er glaubt zu wissen, »daß Parteilichkeit für die Arbeiterklasse auch eine wissenschaftlich höhere Form der Parteilichkeit ist als die für die herrschende Klasse«. 82 Damit sind die marxistischen Sozialwissenschaften nach der hier vertretenen Konzeption keine Wissenschaften. 78 Kuczynski, S. 157/ 158. 79 Kuczynski, S. 155 und 160-167 m. w. N. 80 Kuczynski, S. 174, 177-180, 193 m. w. N. 81 Friedrich/ Hennig, S. 376. 82 Kuczynski, S. 192, 193. Vgl. zur Volkskunde unter der nationalsozialistischen Regierung die Zitate bei Friedenthal, S. 171. www.claudia-wild.de: [UTB_S]__Endruweit__Empirische_Sozialforschung__[Druck-PDF]/ 15.05.2015/ Seite 88 www.claudia-wild.de: [UTB_S]__Endruweit__Empirische_Sozialforschung__[Druck-PDF]/ 15.05.2015/ Seite 89 88 2.8.2 Ergebnis der Theoriebilanz Im Idealfall müsste die Theoriebilanz das Spiegelbild der Hypothesenliste sein. Was am Anfang des empirischen Halbkreises im Schema des Forschungsprozesses noch reine Hypothese war-- also eine Vermutung, von der niemand weiß, ob sie richtig ist oder falsch ist-- ist jetzt am Ende des empirischen Teils eine Aussage, von der man eindeutig sagen kann, ob sie sich bewährt hat oder widerlegt wurde. So einfach ist das aber leider nicht immer. Man könnte etwa bei einer pädagogischen Untersuchung festgelegt haben, dass Integration von »Gastarbeiter-« und »Gastgeber-«Kindern vorliegen solle, wenn bei einem soziometrischen Test jedes Kind mindestens zwei positive Wahlen erhalten habe (von denen nicht alle von Kindern der eigenen Staatsangehörigkeit stammen), wenn die maximale Dichtedifferenz der Wahlen zwischen Stars und Randständigen das Verhältnis 1: 4 nicht überschritten habe und wenn sich bei der Datensammlung herausgestellt habe, dass die Grenze zwischen den oft und den selten Gewählten in weniger als 25 Prozent entlang den Staatsangehörigkeitsgrenzen verlaufe. Dann müssen alle diese Kriterien geprüft werden. Ist nur eines nicht erfüllt, ist die Integrationsthese widerlegt. Das führt zu dem Grundsatz: Je mehr Kriterien für die Bewährung einer Hypothese erforderlich sind, desto wahrscheinlicher ist ihre Widerlegung. Aber eine künstliche Beschränkung der Kriterien wäre in der Regel eine Simplifizierung der Theorie. Schwieriger wäre die Theoriebilanz, wenn die Operationalisierung in einem Komplex von Indikatoren bestünde. Man könnte sich vorstellen, dass man die Qualität des Betriebsklimas durch Befragungsergebnisse, prozessproduzierte Daten über Fehlzeiten und andere »objektive« Verhältnisse, Resultate von Beobachtungen und Gruppendiskussionen beurteilen möchte. Dann genügte es nicht, diese Operationen auszuführen. Man müsste für die Bilanz zusätzlich wissen, welches Instrument mit welchem Prozentanteil zum Gesamtergebnis beitragen soll bzw. wie sie zu gewichten sind, wenn die Ergebnisse nicht in dieselbe Richtung weisen. Diese Gewichtung ist zunächst eine Wertsetzung, bei der es um ihre Offenlegung geht. Aber im Laufe mehrmaliger Anwendung und Korrektur durch andere Benutzer wird das Instrument zunehmend »wertfreier«. Sogar bei zunächst recht eindeutigen Ergebnissen können Probleme auftauchen. So könnten Korrelationen mit Personaldaten andeuten, dass www.claudia-wild.de: [UTB_S]__Endruweit__Empirische_Sozialforschung__[Druck-PDF]/ 15.05.2015/ Seite 88 www.claudia-wild.de: [UTB_S]__Endruweit__Empirische_Sozialforschung__[Druck-PDF]/ 15.05.2015/ Seite 89 89 die Ergebnisse nach Altersgruppen, Geschlecht, Stadt/ Land-Wohnsitz u. Ä. verschieden ausfallen. Dann lässt sich ein eindeutiges Ergebnis der Hypothesenprüfung nicht feststellen. Vielmehr ergeben sich mehrere differenzierende Anschlusshypothesen, die wieder echte Hypothesen sind, also Aussagen mit ungeklärtem Wahrheitsgehalt. Sie müssten erst untersucht werden, beispielsweise mittels einer geschichteten Stichprobe, wenn bisher mit einer einfachen Zufallsstichprobe gearbeitet wurde. In der Theoriebilanz soll die Antwort auf unsere Forschungsfragen gegeben werden. Die Antwort ist aber möglicherweise nur eine Teilantwort. In der Regel verlangt das Forschungsthema eine Erklärung von Wirklichkeit durch bewährte Theorie. Diese Erklärung können wir in der Theoriebilanz insoweit liefern, als die aus der Theorie deduzierten Hypothesen nicht zu falsifizieren waren. Diese Theoriebestandteile müssten also als eine zurzeit nicht widerlegbare Erklärung unserer Forschungsfragen gelten. Wo aber Hypothesen widerlegt werden konnten, ergibt die Theoriebilanz, dass der entsprechende Theorieteil als Erklärung unseres Problems untauglich ist und dass wir in diesem Projekt die Antwort auf die Forschungsfrage schuldig bleiben müssen. Sie muss mit anderen theoretischen Ansätzen von Neuem versucht werden. Das wäre das Ergebnis einer Auftragsforschung wie es dem Auftraggeber mitzuteilen wäre. Das Erkenntnisinteresse einer rein anwendungsorientierten Forschung wäre hier am Ende. Den Wissenschaftler jedoch würde darüber hinaus auch die Konsequenz aus der Theoriebilanz für die Wissenschaft interessieren. Darum geht es in den letzten Kapiteln dieser Darstellung. Bei anwendungsorientierter Forschung, die zumeist im Auftrag von Praktikern erfolgt, würde der Wissenschaftler hier auf eigene Faust weitermachen, um außer für die Praxis auch etwas- - möglichst Positives- - für die Wissenschaft zu erarbeiten. Das Negative, nämlich die Untauglichkeit der Theorie für das Praxisproblem, hatte er ja soeben gezeigt. Das Positive ist auch relativ leicht möglich, weil es sich im Wesentlichen um Schreibtischarbeit handelt. In der theorieorientierten Forschung wären die folgenden Schritte von vornherein als eigentliche Ernte eingeplant. Zuerst einmal würde der Wissenschaftler die Früchte der empirischen Forschung in die Scheunen der positiven Theorie einfahren. Er würde darstellen, welche Theorieteile als (wiederum) erhärtet gelten können, weil sich die daraus deduzierten Hypothesen in der Prüfung an der Wirklichkeit bewährt haben. Dieser Theorieteil könnte nunmehr als noch www.claudia-wild.de: [UTB_S]__Endruweit__Empirische_Sozialforschung__[Druck-PDF]/ 15.05.2015/ Seite 90 www.claudia-wild.de: [UTB_S]__Endruweit__Empirische_Sozialforschung__[Druck-PDF]/ 15.05.2015/ Seite 91 90 gesicherteres Wissen beschrieben werden. Bei zukünftigen Erklärungsversuchen könnte ihm also von vornherein mehr, wenngleich wegen der Vorläufigkeit der Verifizierung nie endgültiges Vertrauen in seine Wirklichkeitsadäquanz entgegengebracht werden. Das Wissen hätte sich wieder ein wenig verbessert. Neben dieser Verbesserung der Theorie ließe sich auch eine Validierung von Forschungsinstrumenten protokollieren. Danach käme der im Grunde wohl wichtigere Teil der Theoriebilanz: die Festlegung des falsifizierten Bereichs. Wo die Hypothesen an der Wirklichkeit scheiterten, ist die dahinterstehende Theorie falsifiziert. Das sollte ebenfalls in der Theoriebilanz genau beschrieben werden, damit man weiß, was in der Theorie ab jetzt als eindeutig überholt zu gelten habe. Dazu gehören nicht nur die direkten Theoriebezüge der verworfenen Hypothesen. In zwei Richtungen können Fernwirkungen der Falsifizierung mit zu bedenken sein. Der erste Fall sind logische Zusammenhänge. Wenn ein Theorieteil falsifiziert wurde, der innerhalb des Gesamtgebäudes als Voraussetzung für andere, als Konsequenzaussagen konzipierte Theorieteile gilt, sind auch diese weiteren Teile von der Falsifizierung berührt. Das wären zwangsläufige Ausdehnungen der Widerlegungswirkung. Weniger zwangsläufig, eher nach Plausibilitätserwägungen zu beurteilen wäre der zweite Fall. Hier gilt es zu prüfen, ob eine Falsifizierung einer Hypothese nicht auch analogische Zusammenhänge erfassen müsste. Wenn etwa eine Theorie über die Funktion bestimmter sozialer Institutionen falsifiziert wäre, dann könnte es-- es muss aber nicht-- sein, dass damit auch Theorien über funktionale Äquivalente zu diesen Institutionen falsifiziert wären. Das wäre stets im Einzelfall zu prüfen. Beim erwähnten Beispiel käme es wohl darauf an, ob die Falsifizierung genau die Funktion betrifft; dann wären wohl auch die Vermutungen über die Äquivalente betroffen, weil sie bei den Funktionen identisch sein müssten. Hätte die Falsifizierung dagegen andere, mehr akzidenzielle Teile der Theorie getroffen, müsste sie nicht unbedingt auf die Äquivalente ausgedehnt werden. Das Gesamtergebnis der Theoriebilanz wäre also eine detaillierte Aufstellung darüber, welche Positionen der Theorie als Aktiva in die nächste Forschungsperiode übertragen werden können und welche Theorieteile als Passiva endgültig abzuschreiben sind. www.claudia-wild.de: [UTB_S]__Endruweit__Empirische_Sozialforschung__[Druck-PDF]/ 15.05.2015/ Seite 90 www.claudia-wild.de: [UTB_S]__Endruweit__Empirische_Sozialforschung__[Druck-PDF]/ 15.05.2015/ Seite 91 91 2.9 Induktion Allerdings ist mit der Bewährung eines Teils der Theorie und der Widerlegung eines anderen Teils nur die hypothesenprüfende Forschung im engsten Sinne beendet. In der Regel wird es dem Wissenschaftler auch um einen darüber hinausgehenden Beitrag zur Weiterentwicklung der Theorie gehen. Dazu müsste er-- um es ganz schonungslos zu sagen-- vor allem die Lücken schließen, die er soeben gerissen hat. Er müsste also vor allem die falsifizierten Theorieelemente durch neue ersetzen. Weiterhin könnte er die Theorie durch über den bisherigen Stand hinausgehende Elemente ergänzen, wenn diese sich aus Forschungsergebnissen ableiten lassen, die mehr bei Gelegenheit der Theorieprüfung und weniger zu deren Zweck erarbeitet wurden. In beiden Fällen geht man über die Ergebnisse der Forschung hinaus. Die Methode zu solchen Theorieergänzungen ist fast immer die Induktion. Darunter ist zu verstehen: Definition »Induktion« Induktion ist ein Denkvorgang, in dem von den Merkmalen eines Gegenstandes auf die Merkmale einer höheren Gattung von Gegenständen geschlossen wird. Kürzer wird dieser Denkvorgang auch als Schluss vom Besonderen auf das Allgemeine bezeichnet, und er gilt als nicht logischer Schluss. 83 Ebenso erinnert er an die Mahnung von Erziehungsberechtigten aller Art, man solle nicht von sich auf andere schließen. Das tun wir aber in einem weiteren Sinne, wenn wir von einer Stichprobe auf die Gesamtheit schließen. Im sozialwissenschaftlichen Forschungsprozess jedoch hat die Induktion durchaus ihren Platz. Das hat zwei Gründe. Erstens stammen die sozialwissenschaftlichen Ergebnisse größtenteils aus repräsentativen Stichproben. Wenn diese nicht nur dem Namen nach, sondern wirklich repräsentativ sind, also alle in diesem Zusammenhang wesentlichen Merkmale der Gesamtheit enthalten, ist der Schluss von ihnen 83 Artikel »Induktion« in: Die Zeit: Das Lexikon in 20 Bänden, Bd. 7, Hamburg: Zeitverlag 2005, S. 49. www.claudia-wild.de: [UTB_S]__Endruweit__Empirische_Sozialforschung__[Druck-PDF]/ 15.05.2015/ Seite 92 www.claudia-wild.de: [UTB_S]__Endruweit__Empirische_Sozialforschung__[Druck-PDF]/ 15.05.2015/ Seite 93 92 auf die Gesamtheit nicht so problematisch. Zweitens gibt es einen weiteren entscheidenden Unterschied zwischen dem landläufigen Schluss vom Besonderen auf das Allgemeine und unserem theoretischen Schluss von der Stichprobe auf die Gesamtheit: Der landläufige Schluss ist ein Schluss von einer Wirklichkeit auf eine andere Wirklichkeit. In einem Forschungsprozess aber wird von Daten aus der Wirklichkeit auf eine neue Theorie geschlossen, und die ist immer eine hypothetische. Sogar die als bewährt »fortgeschriebenen« Theoriesätze haben keine Ewigkeitsgarantie, und die neu formulierten sind überhaupt nur tentativ und überprüfungsbedürftig. 2.10 Theorie II Die bewährten Hypothesen aus der Theoriebilanz und die neuen Theoriebestandteile aus der Induktion sollen in eine Theorie II münden. Hierbei handelt es sich um eine »geläuterte« Fassung der Ausgangstheorie. Die bewährten Teile sind erhalten geblieben, die widerlegten durch neue ersetzt, und vielleicht sind auch ganz neue Ergänzungen hinzugekommen. Eine solche Theorie II zu formulieren-- das ist die schwierigste und anspruchsvollste Arbeit in den Sozialwissenschaften und wohl in jeder Wissenschaft. Sie ist nur etwas leichter geworden, seit es Anleitungen zum Theoretisieren gibt. 84 Am fruchtbarsten für die Theorierevision ist in quantitativer Hinsicht vermutlich der in Kapitel 2.8.2 erwähnte Fall, dass die Ergebnisse bei Korrelation mit Personaldaten der Befragten, Beobachteten usw. verschieden ausfallen. Dann können bei der Neufassung der Theorie nicht nur diese Unterschiede berücksichtigt werden, sondern auch Vermutungen über ihre Gründe angestellt werden. Wie entsteht nun so eine verbesserte Theorie? Auch hier sind wieder zwei Fälle zu unterscheiden. 84 So z. B. Stinchcombe, Arthur L.: Constructing Social Theories, New York/ Chicago/ San Francisco/ Atlanta: Harcourt, Brace and World 1968; republished Chicago: University of Chicago Press 1987; Gibbs, Jack P.: Sociological Theory Construction, Hinsdale, Ill.: Dryden 1972; Blalock, Hubert M., Jr.: Theory Construction. From Verbal to Mathematical Formulations, Englewood Cliffs, N. J.: Prentice-Hall 1969. www.claudia-wild.de: [UTB_S]__Endruweit__Empirische_Sozialforschung__[Druck-PDF]/ 15.05.2015/ Seite 92 www.claudia-wild.de: [UTB_S]__Endruweit__Empirische_Sozialforschung__[Druck-PDF]/ 15.05.2015/ Seite 93 93 2.10.1 Eigene Theorien Am einfachsten ist es, wenn man eine eigene Theorie ganz oder teilweise überprüft hat. Dann ist man Urheberrechtsinhaber am Text der Ausgangstheorie und kann mit ihr machen, was man will. Wenn die Überprüfung nicht nur einen recht geringen Anteil am Gesamtgebäude erfasst hat und wenn sich nicht fast alle Hypothesen bewährt haben, ist wohl eine Neufassung am besten. Hier wäre die Gelegenheit zu einer »zweiten, wirklich gründlich verbesserten Auflage«. Darin könnte sogar das ganze Konzept mit Aufbau, Argumentation, sprachlicher Fassung, eventuell mathematischer Formulierung usw. verändert werden. Der Originalverfasser darf das ohne weiteres. Der Verfasser dieses Buches muss allerdings gestehen, dass er so etwas noch nie gesehen hat und auch keine Hoffnung hegt, es noch sehen zu werden. Man muss ja auch zugeben: Es ist schon nicht einfach, ein Kind in die Welt zu setzen. Aber es dann wieder und wieder zu operieren, um Geburtsfehler zu beseitigen, das geht doch vielen über ihre Kräfte. 2.10.2 Fremde Theorien Psychisch einfacher könnte es mit fremden Theorien sein. Aber da bremsen einen Pietät und »Urheberrecht«. Hier sollte man ganz genau-- unter Angabe von Gliederungspunkt und/ oder Seitenzahl- - schreiben, was und warum es geändert werden müsste. Man sollte sich aber zurückhalten zu schreiben, wie es geändert werden müsste. Das ist das Vorrecht des Originalverfassers. Damit der Originalverfasser sein Vorrecht überhaupt wahrnehmen kann, sollte man nicht versäumen, ihm ein Exemplar der Untersuchung zu schicken. Es könnte sein, dass er sonst gar nichts von der Gelegenheit zur Verbesserung seiner Theorie erfährt. Alle diese Korrekturen, ob nun an eigenen oder fremden Theorien, müssen streng an den Ergebnissen der empirischen Untersuchung ausgerichtet sein. Nur dann sind sie empirische Theorieprüfungen. Auch die Neuvorschläge zur Schließung der durch Falsifizierung gerissenen Lücken dürfen nicht frei aus der Luft gegriffen werden. Aus empirischen Gründen sollten sie nahe bei der Originalfassung bleiben, damit sie möglichst mit den gleichen Methoden überprüft werden können. Aus theoretischen Gründen sollten sie ebenfalls nahe beim Original bleiben, damit sie nicht aus der Systematik des Denkens fallen und einen Fremdkörper darstellen. Das schließt nicht aus, dass man für die Neufassung www.claudia-wild.de: [UTB_S]__Endruweit__Empirische_Sozialforschung__[Druck-PDF]/ 15.05.2015/ Seite 94 www.claudia-wild.de: [UTB_S]__Endruweit__Empirische_Sozialforschung__[Druck-PDF]/ 15.05.2015/ Seite 95 94 in geeigneten Fällen das genaue Gegenteil zur falsifizierten Hypothese vorschlägt. Wenn eine Theorie II dermaßen konzipiert ist, was kommt dann? Dann beginnt der ganze empirische Überprüfungsprozess von Neuem. Denn auch die Theorie II enthält viele Behauptungen auf Hypothesenniveau. Und auch den aus der ersten Theorie durch Bewährung herübergeretteten Theorieteilen kann eine erneute Überprüfung nicht schaden. Wenn man schon keine besseren neuen Methoden hat, könnte ja der soziale Wandel neue Verhältnisse geschaffen haben. So kommt man zu einer Theorie III, einer Theorie IV usw. Es ist immer wieder die gleiche Prozedur, aber jedes Mal ist die Theorie auf einem etwas höheren Niveau, wird sie etwas wirklichkeitsadäquater. Durch diese spiralförmige Entwicklung der Kombination von Theorie und Empirie ergibt sich ein schrittweiser Fortschritt der Wissenschaftsentwicklung. Hält man sich diesen Forschungsprozess einmal ganz vor Augen, erkennt man, dass in einer empirischen Sozialwissenschaft gar kein systematischer Platz für normative Sätze ist. Diese sind der Empirie einfach nicht zugänglich. Dementsprechend gehören sie auch nicht in eine Theorie einer Sozialwissenschaft, sofern diese empirisch sein soll. Deshalb ist und bleibt es richtig, wenn Max Weber sagt: »Eine empirische Wissenschaft vermag niemand zu lehren, was er s o l l, sondern nur, was er k a n n und-- unter Umständen-- was er w i l l.« 85 Deshalb ist dieses Buch auch keines der empirischen Sozialwissenschaften, sondern der normativen Wissenschaftstheorie. 85 Weber (s. Anm. 70), S. 151. www.claudia-wild.de: [UTB_S]__Endruweit__Empirische_Sozialforschung__[Druck-PDF]/ 15.05.2015/ Seite 94 www.claudia-wild.de: [UTB_S]__Endruweit__Empirische_Sozialforschung__[Druck-PDF]/ 15.05.2015/ Seite 95 95 3. Wissenschaftstheorie und Wissenschaftsethik Normativ wie die Wissenschaftstheorie ist im Bereich der Sozialwissenschaften auch die Wissenschaftsethik. Sie können aber trotzdem nicht zusammengelegt werden, weil ihr Geltungsbereich verschieden ist. Hat die Wissenschaftstheorie das Ziel, die fachliche Qualität zu heben, so geht es der Wissenschaftsethik um moralische Qualifizierung. Beide Ziele können in Konflikt geraten. So gab es in der zweiten Hälfte des 20.-Jahrhunderts eine erhebliche Zahl von sozialwissenschaftlichen Forschungsethikern, die verlangten, dass vor Beginn einer Befragung die Befragten nicht nur über den Auftraggeber des Projekts unterrichtet werden müssten, sondern umfassend auch über Ziel und Zweck der Untersuchung. Diese ethische Norm könnte in vielen Fällen das Befolgen der wissenschaftstheoretischen Norm unmöglich machen, dass der Interviewer alles zu unterlassen habe, was im Befragten den Eindruck sozialer Erwünschtheit ganz bestimmter Antworten erwecken könnte. 86 Untersuchungen des Unterbewussten wären dadurch ganz unmöglich. Die Wissenschaftsethik behandelt viele Themen von großer Bedeutung: Vermeidung des Missbrauchs von Forschungsergebnissen, unangemessene Bevorteilung zahlungskräftiger Auftraggeber, Datenschutz, Schutz von Informanten vor Strafverfolgung (Sozialforscher haben nicht wie Anwälte, Journalisten und Geistliche ein Zeugnisverweigerungsrecht nach der Strafprozessordnung), Schaffung von Herrschaftswissen durch Veröffentlichungsverbote u. v. a. m. Diese zahlreichen und bedeutsamen Themen rechtfertigen eine eigene Fachliteratur. 87 Gute Primärquellen 86 Vgl. Silke Kohrs bei Endruweit/ Trommsdorff/ Burzan, S. 103; Friedrichs, S. 152 und 216. 87 Z. B. Beauchamp, Tom L./ Faden,Ruth R./ Wallace, R. Jay/ Walters, Leroy (Eds.): Ethical Issues in Social Science Research, Baltimore/ London: Johns Hopkins University Press 1982; Diener, Edward/ Crandall, Rick: Ethics in Social and Behavioral Research, Chicago/ London: University of Chicago Press 1978; Reynolds, Paul Davidson: Ethics and Social Science Research, Englewood Cliffs, N. J.: Prentice-Hall 1982; Hesse, Helmut (Hrsg.): Wirtschaftswissenschaft und Ethik, 2. Auflage, Berlin: Duncker &- Humblot 2010; Felnhofer, Anna/ Kothwww.claudia-wild.de: [UTB_S]__Endruweit__Empirische_Sozialforschung__[Druck-PDF]/ 15.05.2015/ Seite 96 www.claudia-wild.de: [UTB_S]__Endruweit__Empirische_Sozialforschung__[Druck-PDF]/ 15.05.2015/ Seite 97 96 zur Wissenschaftsethik sind die ethischen Richtlinien, die von den wissenschaftlichen Fachgesellschaften erlassen wurden. 88 Und Gelegenheit zum echten empirischen Forschen auf diesem Gebiet könnten die Akten der Ethikkommissionen bieten. Viele Hochschulen und Fakultäten haben inzwischen Gremien dieser Art eingerichtet. gassner, Oswald D./ Kryspin-Exner, Ilse (Hrsg.): Ethik in der Psychologie, Stuttgart: UTB facultas 2011. 88 So z. B. Ethische Richtlinien der Deutschen Gesellschaft für Psychologie und des Berufsverbandes Deutscher Psychologinnen und Psychologen; Ethik-Kodex der Deutschen Gesellschaft für Erziehungswissenschaft; Ethik-Kodex der Deutschen Gesellschaft für Soziologie (DGS) und des Berufsverbandes Deutscher Soziologinnen und Soziologen (BDS); »Frankfurter Erklärung« zur Ethik in der Ethnologie (Deutsche Gesellschaft für Völkerkunde). Die vollen Texte dieser Dokumente findet man auf den Internet-Seiten der jeweiligen Gesellschaft. Teilabdrucke von älteren Fassungen (Anfang der 70er Jahre des 20. Jhs.) der »Codes of Ethics« der American Anthropological Association, American Psychological Association und American Sociological Association bei Diener/ Crandall (s.-Anm. 88), S. 221-229. www.claudia-wild.de: [UTB_S]__Endruweit__Empirische_Sozialforschung__[Druck-PDF]/ 15.05.2015/ Seite 96 www.claudia-wild.de: [UTB_S]__Endruweit__Empirische_Sozialforschung__[Druck-PDF]/ 15.05.2015/ Seite 97 97 4. Wissenschaftstheorie und Wissenschaftswirklichkeit Ein ganzes Buch lang wurden hier empirische Sozialwissenschaftler mit Normativem traktiert. Da ist es nur gerecht, wenn hier zum Schluss eine echt empirische Frage gestellt wird: Wie steht es um die Beachtung wissenschaftstheoretischer Grundsätze in der Forschungswirklichkeit der Sozialwissenschaften? Darüber gibt es keine empirische Untersuchung; sie ist auch kaum zu erwarten, weil dafür wenig Ruhm zu erreichen wäre und ein ausreichend finanzierter Forschungsauftrag noch weniger. Also muss man sich mit Alltagsbeobachtungen behelfen. Und die sagen: Es steht schlecht um die Beachtung der wissenschaftstheoretischen Empfehlungen in der empirischen Forschung, jedenfalls um die explizite Beachtung. Gründe dafür gibt es viele. Mal fehlt es an Zeit, mal an geeignetem Personal, an Geld ohnehin und manchmal wohl auch an Fachkenntnis. So werden selten klare Hypothesen aus eingeführten Theorien abgeleitet oder fachgerechte eigene (Partial-)Theorien formuliert. Das Operationalisieren bleibt im Hintergrund, die gesammelten Daten und ihre Aufbereitung dagegen werden meistens sehr sorgfältig dargestellt, ebenso die Auswertung, aber der Ertrag für die Theorie, hier Theorie II genannt, ist schon wieder weniger erkennbar. Eine zweite Auflage eines Theoriebuchs, die nun alle Erkenntnisse über bewährte und widerlegte Behauptungen in einer Neufassung darstellt, ist so gut wie gar nicht zu finden. Die Voraussetzungen für einen intersubjektiv wasserdichten Erkenntnisfortschritt in den Sozialwissenschaften sind also nicht günstig. Daher fehlt es oft an konzertierter, konzentrierter Weiterentwicklung von Theorie; stattdessen wird alle paar Jahre ein neues Modethema angegangen, vor allem dann, wenn das vom öffentlichen Interesse, zumeist vertreten durch die Presse, her auch durchaus gerechtfertigt erscheinen kann. Implizit dagegen ist die Lage durchaus besser. So richtig falsch, gemessen an wissenschaftstheoretischen Maßstäben, ist nur selten ein Forschungsprojekt. Aber das wird nicht immer so dokumentiert, dass intersubjektiver Nachvollzug möglich wäre. In früheren Zeiten gab es häufig in einem empirischen Forschungsbericht ein Kapitel, das etwa »Zur Methode der Untersuchung« hieß; das fehlt heutzutage ganz. Dabei haben www.claudia-wild.de: [UTB_S]__Endruweit__Empirische_Sozialforschung__[Druck-PDF]/ 15.05.2015/ Seite 98 www.claudia-wild.de: [UTB_S]__Endruweit__Empirische_Sozialforschung__[Druck-PDF]/ 15.05.2015/ Seite 99 98 wir jetzt in Deutschland wohl in allen Sozialwissenschaften mehr hauptberufliche Forscher als je zuvor. Wenn diese etwas mehr Corpsgeist, Kooperation, nicht immer erst in organisierter Form, und weniger Arbeit in der Tradition enger Denkschulen zeigen würden, könnten die Sozialwissenschaften einige Aufwärtsdrehungen in unserem Ablaufschema der Forschung im hinteren Buchdeckel mehr machen. Das käme den Sozialwissenschaften und der Allgemeinheit zugute und damit auch dem Ansehen der Sozialwissenschaften in der Allgemeinheit. Forschungsthema Theorie Induktion Deduktion Theoriebilanz Hypothesen Auswertung Theorie logische Methoden Empirie Forschungsmethoden Operationalisierung Theoriekonstruktion zunehmende Abstraktion Theorieprüfung abnehmende Abstraktion Theorie II Datenerhebung Abb. 5: Ablaufschema des sozialwissenschaftlichen Forschungsprozesses www.claudia-wild.de: [UTB_S]__Endruweit__Empirische_Sozialforschung__[Druck-PDF]/ 15.05.2015/ Seite 98 www.claudia-wild.de: [UTB_S]__Endruweit__Empirische_Sozialforschung__[Druck-PDF]/ 15.05.2015/ Seite 99 99 Literatur Behrens, Gerold: Wissenschaftstheorie und Betriebswirtschaftslehre, in: Wittmann, Waldemar, u. a. (Hrsg.): Handwörterbuch der Betriebswirtschaft, Teilband 3, 5. Auflage, Stuttgart: Schäffer-Poeschel 1993, Sp. 4763-4772. Breuer, Franz: Wissenschaftstheorie für Psychologen. Eine Einführung, 5. Auflage, Münster: Aschendorff 1991. Durkheim, Émile: Les règles de la méthode sociologique, Paris: Presses Universitaires de France 1973 (zuerst 1895). Endruweit, Günter: Der soziologische Forschungsprozeß- - Natur- oder Geisteswisssenschaft? , in: Ders.: Beiträge zur Soziologie, Band I: Studium, Wissenschaftstheorie, Methoden, Kiel: Institut für Soziologie der CAU 1997. Endruweit,Günter/ Trommsdorff, Gisela/ Burzan, Nicole (Hrsg.): Wörterbuch der Soziologie, 3. Auflage, Konstanz/ München: UVK 2014. Esser, Hartmut/ Klenovits, Klaus/ Zehnpfennig, Helmut: Wissenschaftstheorie, 2 Bde., Stuttgart: Teubner 1977. Freudenthal, Herbert: Die Wissenschaftstheorie der deutschen Volkskunde, Hannover: Niedersächsischer Heimatbund 1955. Friedrich, Walter/ Hennig, Werner (Hrsg.): Der sozialwissenschaftliche Forschungsprozeß, Berlin: VEB Deutscher Verlag der Wissenschaften 1975. Friedrichs, Jürgen: Methoden empirischer Sozialforschung, Reinbek: Rowohlt 1973. Fuchs, Werner/ Klima, Rolf/ Lautmann, Rüdiger/ Rammstedt, Otthein/ Wienold, Hanns (Hrsg.): Lexikon zur Soziologie, 2. Auflage, Opladen: Westdeutscher Verlag 1978. Haase, Michaela: Wissenschaftstheorie, Konfliktlinien in der, in: Corsten, Hans/ Gössinger, Ralf (Hrsg.): Lexikon der Betriebswirtschaftslehre, 5. Auflage, München: Oldenbourg 2008, S. 916-920. Herzog, Walter: Wissenschaftstheoretische Grundlagen der Psychologie, Wiesbaden: Springer 2012. Hobbes, Thomas: De cive. Deutsch: Vom Bürger, Hamburg: Philosophische Bibliothek, Bd. 158, 1994. Kant, Immanuel: Über den Gemeinspruch: Das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis, Frankfurt a. M.: Klostermann 1992 (zuerst 1793). Kornmeier, Martin: Wissenschaftstheorie und wissenschaftliches Arbeiten. Eine Einführung für Wirtschaftswissenschaftler, Heidelberg: Physika 2007. Kromrey, Helmut: Empirische Sozialforschung, 8. Auflage, Opladen: Leske und Budrich 1998 Kuczynski, Jürgen: Studien zur Wissenschaft von den Gesellschaftswissenschaften, Berlin: VEB Deutscher Verlag der Wissenschaften 1972. 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Die Erhebungsinstrumente Befragung, Beobachtung und Inhaltsanalyse werden an praktischen Beispielen vorgestellt, sodass Leser/ innen einen anwendungsbezogenen Überblick gewinnen und Forschungsergebnisse empirischer Studien kritisch hinterfragen können. Dr. Nicole Burzan ist Professorin für Soziologie an der Technischen Universität Dortmund. Weiterlesen bei utb.