Grundkurs Soziologie
0715
2015
978-3-8385-4468-7
978-3-8252-4468-2
UTB
Das erfolgreich eingeführte und in überarbeiteter Auflage vorliegende Lehr- und Studienbuch vermittelt klar und verständlich Gegenstand, Grundbegriffe, basale Theorien und Methoden der Soziologie. Didaktisch orientiert an alltäglichen Erfahrungen sowie in Lehre wie Selbststudium vielfach erprobt schafft diese praxisnahe Einführung die Grundlage für die soziologische Perspektive, mittels derer gesellschaftliche Erscheinungen und Vorgänge betrachtet und »verstanden« werden (= Beitrag zur diagnostischen Qualifikation). Sie leistet zudem eine exemplarische Hinführung zu sozialwissenschaftlichen Erkenntnis- und Untersuchungsmethoden (= Beitrag zur methodischen Qualifikation). Darüber hinaus werden mit diesem Grundkurs pragmatische Benutzungsregeln vermittelt, die es erlauben, gesellschaftliche Phänomene in ihren vielfältigen Zusammenhängen und Verursachungen zu beobachten, zu erklären und zu beurteilen (= Beitrag zur professionellen Qualifikation). Mit zahlreichen, die jeweiligen Themenfelder ergänzenden und vertiefenden Lektüreempfehlungen.
<?page no="1"?> Eine Arbeitsgemeinschaft der Verlage Böhlau Verlag · Wien · Köln · Weimar Verlag Barbara Budrich · Opladen · Toronto facultas · Wien Wilhelm Fink · Paderborn A. Francke Verlag · Tübingen Haupt Verlag · Bern Verlag Julius Klinkhardt · Bad Heilbrunn Mohr Siebeck · Tübingen Nomos Verlagsgesellschaft · Baden-Baden Ernst Reinhardt Verlag · München · Basel Ferdinand Schöningh · Paderborn Eugen Ulmer Verlag · Stuttgart UVK Verlagsgesellschaft · Konstanz, mit UVK / Lucius · München Vandenhoeck & Ruprecht · Göttingen · Bristol Waxmann · Münster · New York utb 1323 <?page no="2"?> Prof. Dr. Hans Peter Henecka (em.) lehrte Soziologie an der Pädagogischen Hochschule und an der Universität Heidelberg. <?page no="3"?> Hans Peter Henecka Grundkurs Soziologie 10., überarbeitete Auflage UVK Verlagsgesellschaft mbH · Konstanz mit UVK/ Lucius · München <?page no="4"?> Online-Angebote oder elektronische Ausgaben sind erhältlich unter www.utb-shop.de. Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über <http: / / dnb.ddb.de> abrufbar. Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. 9. Auflage 2009 10. Auflage 2015 © UVK Verlagsgesellschaft mbH, Konstanz und München 2015 Einbandgestaltung: Atelier Reichert, Stuttgart Satz und Layout: Claudia Wild, Konstanz Druck: CPI - Ebner & Spiegel, Ulm UVK Verlagsgesellschaft mbH Schützenstr. 24 · D-78462 Konstanz Tel.: 07531-9053-0 · Fax 07531-9053-98 www.uvk.de UTB-Band Nr. 1323 ISBN 978-3-8252-4468-2 <?page no="5"?> 5 Inhalt Vorwort 11 1. Kapitel Ansatzpunkte und Grundthemen soziologischen Denkens 13 1.1 Wir und die anderen: Das Rätsel der Gesellschaft 13 1.2 Die Gesellschaft als Erfahrungsfeld: Fallstricke des Alltagswissens und die soziologische Suche nach Ursachen 18 1.3 Soziologie als Wissenschaft von der Gesellschaft 23 1.3.1 Zum Begrifflichen: Was heißt »sozial«? 23 1.3.2 Was sich Soziologen unter »Soziologie« vorstellen 26 1.3.3 Soziologie und soziale Probleme 28 1.4 Wozu kann man Soziologie brauchen? 31 1.4.1 Soziologie als Missverständnis 31 1.4.2 Strukturen soziologischen Denkens und Forschens 33 1.4.3 Funktionen soziologischer Erkenntnis 39 1.5 Einige Vorväter und Begründer: Soziologie als Krisenwissenschaft 41 1.5.1 Die lange Vorgeschichte: Von der Antike über das Mittelalter und die Aufklärung bis zum Ende des 18. Jahrhunderts 41 1.5.2 Die Großväter der Soziologie: Soziologie als Fortschrittstheorie und Universalwissenschaft im 19. Jahrhundert 48 1.5.2.1 Auguste Comte 48 1.5.2.2 Herbert Spencer 50 1.5.2.3 Karl Marx 51 1.5.3 Soziologie als Erfahrungswissenschaft: Die Klassiker zu Beginn des 20. Jahrhunderts 57 1.5.3.1 Max Weber 59 1.5.3.2 Georg Simmel 61 <?page no="6"?> 6 1.5.3.3 Vilfredo Pareto 62 1.5.3.4 Emile Durkheim 64 2. Kapitel Mensch und Gesellschaft 69 2.1 Der Mensch - gesellschaftliches Wesen oder Individuum: die falsche Alternative 69 2.2 Das soziologische Menschenbild oder »man is not born human« 73 2.3 Normen, Werte und Institutionen: Soziale Sinngebungen unseres Handelns 81 2.4 Sozialisation und soziale Rolle: Wir alle spielen Theater 88 2.4.1 Die Mitgliedschaft in der Gesellschaft: Sozialisation 88 2.4.2 Aspekte und Dimensionen der Sozialisation: Sozialisation als soziale Interaktion 94 2.4.3 Die Regieanweisungen der Gesellschaft: Soziale Rollen 101 2.4.3.1 Textbücher und Aufführungen: Das Szenario 101 2.4.3.2 Schwierigkeiten beim Rollenspiel: Rollenkonflikte 110 2.4.3.3 Abweichendes Verhalten und soziale Kontrolle: Weh’ dem, der aus der Rolle fällt 116 2.4.4 Rollenübertragung und Rollenübernahme: Traditionelle Prüfsteine für die Effizienz von Erziehung und Sozialisation 120 2.4.5 Sind wir wirklich alle Schauspieler? Zur Kritik und Erweiterung des Rollenmodells 126 3. Kapitel Soziale Zusammenhänge 137 3.1 Bausteine der Gesellschaft: Gruppierungen 137 3.1.1 »Gemeinschaft« und »Gesellschaft« 139 3.1.2 Statistische Gruppen (reine Kategorien) 142 3.1.3 Soziale Aggregate 142 <?page no="7"?> 7 3.1.4 Sozialkategorien oder Quasi-Gruppen 145 3.1.5 Soziale Gruppen 146 3.1.5.1 Primär- und Sekundärgruppen 148 3.1.5.2 Formelle und informelle Gruppen 150 3.1.5.3 Großgruppen und Kleingruppen 154 3.2 Soziale Stabilität und Wandel der Gesellschaft 161 3.2.1 Gesellschafts-»bilder« 161 3.2.2 Gesellschaft als soziales System: Soziale Stabilität 165 3.2.3 Gesellschaft als Konfliktfeld: Sozialer Wandel 171 3.2.4 Zur Reziprozität und Komplementarität von Gesellschaftstheorien 176 4. Kapitel Soziologisches Messen und Prüfen 179 4.1 Soziologie als empirische Wissenschaft 179 4.2 Zur Forschungslogik und -praxis empirischer Projekte 186 4.2.1 Der Entdeckungszusammenhang 190 4.2.2 Der Begründungszusammenhang 192 4.2.3 Der Verwertungs- und Wirkungszusammenhang 200 4.3 Methodenprobleme 204 4.3.1 Datenerhebungsartefakte 205 4.3.2 Datenauswertungsartefakte 207 4.4 Einige Methoden der Sozialforschung 210 4.4.1 Beobachtung 212 4.4.2 Befragung: Interview und Umfrage 217 4.4.3 Sekundäranalyse 227 4.4.4 Inhaltsanalyse 229 4.4.5 Biografische Methode 233 4.4.6 Experiment 236 4.4.7 Aktionsforschung 238 4.4.8 Soziometrie 240 4.4.9 Netzwerkanalyse 247 <?page no="8"?> 8 Literaturverzeichnis 251 Personenregister 261 Sachregister 266 <?page no="9"?> 9 Übersicht der Abbildungen und Tabellen Abb. 1: Soziologie als Sozialwissenschaft 34 Abb. 2: Die kleinsten sozialen Einheiten nach Weber, Simmel, Pareto und Durkheim 68 Abb. 3: Bezugsgruppen und -personen am Beispiel des Lehrers 108 Abb. 4: Rollenkonfiguration einer Person 111 Abb. 5: Hypothetische Rollenpriorisierungen 115 Abb. 6: Struktur einer elementaren Sozialisationssequenz 123 Abb. 7: Das labile Gleichgewicht der Ich-Identität 128 Abb. 8: Determinanten der Verfügbarkeit über soziale Rollen 130 Abb. 9: Klassifikationsschema für soziale Rollen 131 Abb. 10: Forschungslogischer Ablauf empirischer Untersuchungen 189 Abb. 11: Schema der Fehlerquellen und Täuschungsmöglichkeiten beim Erarbeiten und Verarbeiten von Statistiken 208 Abb. 12: Beobachtungskategorien bei der Interaktionsanalyse von Bales 215 Abb. 13: Netzsoziogramm einer (weiblichen) Jugendgruppe 245 Tab. 1: Kulturspezifische Lebensalterphasen und Bedingungen eines lebenslangen Sozialisationsprozesses in Deutschland 96 Tab. 2: Soziomatrix einer Jugendgruppe 242 <?page no="11"?> 11 Vorwort Dieses Buch soll als »Grundkurs« eine elementare Einführung in den Gegenstand, die Grundbegriffe und die Methode der Soziologie vermitteln. Es richtet sich deshalb vor allem an Studienanfängerinnen und Studienanfänger, die sich - im Haupt- oder Nebenfach - auf das Wagnis der Soziologie eingelassen haben. Darüber hinaus zählen zu den Adressaten dieser Einführung Studierende aller Lehrämter, für die im Rahmen ihrer erziehungswissenschaftlichen Ausbildung soziologische Inhalte in den Studienplänen und Prüfungsordnungen zum verbindlichen Kanon gehören. Und - last not least - ist dieses Buch geschrieben worden für alle jene interessierten »Laien«, die sich - aus welchen Gründen auch immer - einen handlichen und verständlichen Zugang zur soziologischen Perspektive erhoffen. Didaktisch orientiert an der Konzeption von Peter L. Berger, demzufolge die wissenschaftliche Erstbegegnung mit der Soziologie durchaus als »Einladung« realisiert werden kann, soll dieser Grundkurs sowohl von der sprachlichen wie von der inhaltlichen Seite für soziologische Fragestellungen und Sichtweisen motivieren. Durch die Annahme dieser »Einladung« sollen die Leserinnen und Leser neue Einsichten gewinnen in das mitmenschliche Zusammenleben, in die sozialen Prozesse des Handelns, Denkens und Fühlens sowie in gesellschaftlich-politische Zusammenhänge, die der Alltagserfahrung gemeinhin versperrt bleiben. Da uns das tägliche Leben in der Gesellschaft betriebsblind machen kann, sind besondere Anstrengungen notwendig, die soziale Welt in ihrer Entwicklung und Struktur, ihrer Dynamik und Beharrlichkeit, ihren Wirkungen und Anforderungen neu zu entdecken. Hierzu gehören beispielsweise Fragen, was Menschen veranlasst, sich zusammenzutun, welche Formen des sozialen Lebens dabei entstehen, was sich in diesen abspielt und wie wir als Einzelne dadurch in unserem Verhalten beeinflusst werden. Mit dieser Einführung sollen zunächst die notwendigen Grundlagen geschaffen werden für eine soziologische Perspektive, mittels <?page no="12"?> 12 derer gesellschaftliche Erscheinungen und Vorgänge genauer betrachtet und besser »verstanden« werden können (= Beitrag zur diagnostischen Qualifikation). Ferner soll der Grundkurs in exemplarischer Absicht eine praxisorientierte Hinführung zu den sozialwissenschaftlichen Erkenntnis- und Untersuchungsmethoden leisten (= Beitrag zur methodischen Qualifikation). Und schließlich sollen über eine bloße Vermittlung semantischer Bedeutungen hinaus pragmatische Benutzungsregeln vermittelt werden, die es den Leserinnen und Lesern erlauben, gesellschaftliche Phänomene und Prozesse in ihren vielfältigen Zusammenhängen und Ursachen besser beobachten, erklären und beurteilen zu können (= Beitrag zur professionellen Qualifikation). Einladungen sind häufig mit neuen Bekanntschaften verbunden, die wiederum neue Einladungen auslösen. Diese Funktion erfüllen die am Ende jedes Abschnittes angebotenen Hinweise zur vertiefenden und ergänzenden Lektüre. Die Annahme dieser Einladungen sei den Studierenden herzlich empfohlen, da dem Autor die Unvollständigkeit und die Subjektivität seiner thematischen Auswahl bewusst ist: Das Ausmaß an Systematik und fachwissenschaftlicher Information erfuhr sein Korrektiv durch die gewählte didaktische Orientierung. Entstanden ist das vorliegende Buch aus einem Fernstudienprojekt des vormaligen Deutschen Instituts für Fernstudien (DIFF) an der Universität Tübingen. Den Kollegen aus dem wissenschaftlichen Beirat sowie den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Projektgruppe »Politische Bildung« bin ich für ihre anregende und ermutigende Kritik sehr verbunden. Wenn der »Grundkurs« jetzt in 10. überarbeiteter Auflage erscheinen kann, dann ist dies nicht zuletzt auch dem verlässlichen UTB-Engagement der UVK Verlagsgesellschaft in Konstanz zu verdanken. Frau Sonja Rothländer von UVK danke ich wieder sehr herzlich für ihr bewährt umsichtiges Lektorat und ihre hilfreichen Anregungen auch bei dieser neuen Auflage. Hans Peter Henecka <?page no="13"?> 13 1. Kapitel Ansatzpunkte und Grundthemen soziologischen Denkens 1.1 Wir und die anderen: Das Rätsel der Gesellschaft Mit Adam und Eva kann man auch in der Soziologie anfangen. Denn als sich die beiden im Paradies zum ersten Mal begegneten, waren sie vermutlich außer sich vor Staunen über dieses Rendezvous. Und in ähnlicher Weise mag es einem neugeborenen Kind ergehen, das zum allerersten Mal seiner Mutter oder seines Vaters gewahr wird und in seinem Lächeln die »Taufrische dieses ersten gesellschaftlichen Erlebnisses« (Berger & Berger 1974, 12) spiegelt. Kurz: Die Verwunderung über die Tatsache, dass Menschen uns begegnen und miteinander leben, ist schon ein erster Schritt auf dem Weg zur Soziologie. Längst bevor wir darüber nachdenken und grübelnd forschen, stellt die einfache Erfahrung, dass wir nicht allein auf dieser Welt existieren, sondern in irgendeiner Weise immer mit anderen Menschen und Gruppen verbunden sind, den Zusammenhang her zu allem, was uns umgibt: zur Natur und zur Technik, zur Kunst und zur Wissenschaft, zur Politik und zur Wirtschaft, zum Recht, zur Religion, zur Musik usw. Denn auch die Erfahrungen mit all diesen Bereichen werden uns von anderen vermittelt, aufbereitet und interpretiert. So sind die »anderen«, auf die wir dann zeitlebens angewiesen sind und mit denen wir - wenn auch manchmal unter Mühen und Enttäuschungen - zusammenleben und -arbeiten, für uns eine grundlegende und lebenslange Erfahrung, - die wichtigste und entscheidendste Lebenserfahrung obendrein. Oder anders ausgedrückt: Wir befinden uns immer schon in einer von Menschen gestalteten und gedeuteten Kultur. Ohne sie ist menschliche Existenz nicht möglich. <?page no="14"?> 14 Manchmal sinnieren wir über uns selbst und die anderen. Ausgelöst werden solche »besinnlichen« Anlässe meist durch unerwartete Situationen oder krisenhafte Erfahrungen, durch persönliches Betroffensein und durch ein unerklärliches Unbehagen: Wir wundern oder ärgern uns gar über Mitmenschen, die sich plötzlich ganz anders verhalten als wir erhofft oder befürchtet haben. Wir durchschauen unsere eigene Lage nicht mehr und beginnen an uns selbst und unseren Fähigkeiten zu zweifeln. Wir kommen aus dem routinierten Gleichgewicht des Alltags, weil sich Entwicklungen abzeichnen, mit denen wir nicht rechneten. Solche Alltagserfahrungen im privaten Bereich wären etwa eine unvorhergesehene Konflikt- oder schwierige Entscheidungssituation, der Verlust eines geliebten Partners, eine nachhaltige Veränderung unserer vertrauten Umwelt. Im öffentlichen Bereich könnten solche »Anstöße« beispielsweise ausgelöst werden durch eine wachsende Arbeitslosigkeit, durch Inflationen und Energiekrisen, durch politische Spannungen oder das Aufkommen von neuen Technologien, die unser bisheriges berufliches Wissen in Frage stellen und uns zum Umdenken und Umlernen zwingen. Plötzlich verstehen wir die Welt nicht mehr und fühlen uns abhängig oder gar bedroht von anonymen, gesichtslosen Mächten und Kräften oder undurchschaubaren globalen Entwicklungen, deren Ursprünge, Absichten und Wirkungen wir nicht mehr erkennen und auch nicht mehr kalkulieren, geschweige denn kontrollieren können. Daneben stehen dann unsere ganz gewöhnlichen Routineerfahrungen mit anderen und uns selbst, bei denen der Brauch als vertraute Gewissheit die Regie führt. Es sind die Erfahrungen des üblichen Alltags, die wir im Großen und Ganzen gemacht haben und die uns immer wieder in gleicher oder sehr ähnlicher Weise begegnen. Alltägliche Erfahrungen und Erlebnisse, Vorgänge ohne Überraschungen und voller Selbstverständlichkeiten, die uns auch darum kaum noch bewusst werden, erregen oder gar zu einer Auseinandersetzung provozieren. Denn wir kennen ja das Leben und wissen, »wo es lang geht« und »was angesagt ist«. So haben wir feste Vorstellungen darüber, wie die anderen beschaffen sind; meinen, die anderen deshalb auch »richtig« ein- <?page no="15"?> 15 schätzen zu können und verhalten uns ihnen gegenüber jeweils entsprechend. Ohne viel darüber nachzudenken wissen wir, dass es Menschen und Gruppen gibt, die »über uns« stehen und denen »es besser geht« oder auch andere, die »schlechter dran« sind als wir. Wir wissen, dass damit auch in unterschiedlichem Maße Macht, Einfluss und gesellschaftliches Ansehen verbunden sind. Wir argumentieren bei der Verteilung häuslicher Arbeiten mit dem »Wesen der Geschlechter« und haben recht klare Vorstellungen darüber, was nun einmal »typisch männliche bzw. typisch weibliche Arbeitsbereiche« im Haushalt sind. Wir haben gelernt, dass unsere Lebensbereiche in der Familie, im Beruf oder in der Freizeit teilweise recht verschieden, vielleicht sogar widersprüchlich sind und wissen ziemlich genau, wie wir uns jeweils in typischen Situationen zu verhalten haben, wie »man« sich beispielsweise zu bestimmten Anlässen zu kleiden pflegt, wie »man« sich eben hier oder dort begegnet und grüßt, wie »man« bei dieser oder jener Gelegenheit miteinander umgeht und miteinander spricht, ob »man« sich sachlich kühl und distanziert gibt oder sich persönlich einbringt, mitteilt und engagiert. Wir und die anderen folgen dabei weitgehend denselben Spielregeln und Routinen, deuten unsere jeweiligen Handlungen und Verhaltensweisen gleich oder zumindest ziemlich ähnlich. Der Großteil unseres Alltags und unserer Begegnungen mit anderen folgt so bereits vorgespurten Linien fester gegenseitiger Erwartungen: Wir stellen so beispielsweise montags früh unseren Mülleimer vor die Haustür und verlassen uns darauf, ihn am Abend geleert vorzufinden; wir gehen zum Bäcker, um dort mit frischen Brötchen bedient zu werden; wir besteigen die Straßenbahn der Linie 7, weil wir wissen, dass sie uns zum Bahnhof bringt; wir bedanken uns beim Nachbarn, der in unserer Abwesenheit das für uns bestimmte Paket in Empfang nahm … Zwar mag gerade hinsichtlich schematischer Verhaltensregeln und eingeschliffener Machtverteilungen, schablonenhafter Informationsprozesse oder traditionell befolgter Sitten und Gewohnheiten dieser Routinecharakter unserer Alltagserfahrungen ziemlich eintönig und langweilig sein, gelegentlich gar als unliebsame Einengung empfunden und ärgerlicher Zwang beklagt werden, <?page no="16"?> 16 doch wirkt er in den von uns täglich neu geforderten Entscheidungssituationen auch entlastend und schenkt uns die notwendige Verhaltenssicherheit im Umgang miteinander. Ja ohne diese vertrauten Erwartungen, Gewissheiten und Regelmäßigkeiten unseres gesellschaftlichen Alltags wäre wohl überhaupt keine vernünftige Verständigung und gegenseitig verlässliche Orientierung möglich. Das Gegenteil hierzu könnten wir uns vielleicht folgendermaßen gedanklich ausmalen: Alle Menschen müssten bei jedem Zusammentreffen jeweils neu ihre Verhältnisse zueinander festlegen und könnten jeweils nach Lust und Laune, jedenfalls willkürlich, ihr jeweiliges Verhalten und Handeln bestimmen. Wenn es so etwas überhaupt gäbe - was nicht der Fall ist - wäre das für alle Beteiligten zumindest außerordentlich anstrengend. Stellen wir uns beispielsweise vor, es gäbe keine kulturelle Konvention bei der Begrüßung eines Fremden: Wir wüssten nicht, ob wir die Hand schütteln, ihn küssen, unsere Nasen aneinander reiben oder ihm ins Gesicht spucken sollten! - Wahrscheinlich würden wir unter solchen Bedingungen recht bald die Nerven oder gar den Verstand verlieren. Wenn uns daher gelegentlich - halb verwundert, halb ärgerlich - die langweilige Eintönigkeit der Alltagsbräuche und Rituale aufstößt oder wir vielleicht über irritierende Ereignisse, die sich in unser vertrautes Weltbild nicht mehr einordnen lassen, tiefer greifend reflektieren, dann beschäftigen wir uns tatsächlich bereits mit dem Gegenstand der Soziologie, - meist ohne zu wissen, dass das, worüber wir gerade räsonnieren, überhaupt eine soziologische Fragestellung ist. Denn indem wir beginnen, über solche Erfahrungen nachzudenken, versuchen wir die Vielfalt unserer Eindrücke und Erlebnisse zu ordnen und zu interpretieren. Wir versuchen, trotz lauter Bäumen, den Wald zu sehen. Auch die Soziologie sucht nämlich nach Ordnungen und Deutungen. Sie versucht, in den alltäglich erlebten Vorgängen »Gewebe aus immer wiederkehrenden Verhaltensmustern« (Berger & Berger) zu erkennen und hierbei die Bedingungen zu erschließen, unter denen Menschen zusammen leben und arbeiten. Und sie untersucht darüber hinaus die mehr oder weniger <?page no="17"?> 17 konstanten Beziehungsformen oder »Netzwerke«, die zwischen Mensch und Mensch, zwischen Mensch und Gruppe, zwischen Gruppen und Gesellschaft entstehen, mehr oder weniger lange andauern, abgeschwächt oder verstärkt werden, sich verändern oder sich auch wieder ganz auflösen. Wie wir noch sehen werden, sind also sowohl die menschlichen Individuen wie die von ihnen geschaffenen Gemeinschaften bzw. (fachlicher ausgedrückt: ) »sozialen Systeme« (von Kleingruppen über Organisationen bis hin zu ganzen Gesellschaften) zentrale Themen der Soziologie. Einerseits geht es hierbei der Soziologie um die Erforschung menschlichen Handelns und Verhaltens im Allgemeinen sowie zwischenmenschlicher Interaktionen, Kommunikationen und sozialer Beziehungen im Besonderen; zum anderen untersucht sie die Entstehungsbedingungen sowie die grundlegenden Entwicklungsprozesse und Veränderungen unserer modernen sozialen Welt. Diese soziale Welt werden wir dabei als ein strukturiertes Gebilde erkennen, das in höchst komplexer Weise aus unzähligen Gewebsmustern zusammengesetzt (d. h. »vernetzt«) ist und das in unterschiedlicher Weise unsere Beziehungen zueinander bestimmt. So ist das Netz unseres noch unmittelbar überschaubaren Lebenskreises (z. B. Familie, Freundeskreis) in größere, schon komplexere soziale Gebilde (z. B. Verwandtschaft, Nachbarschaft, Hochschule oder Arbeitsplatz, Verein oder Freizeitgruppen) eingebunden, diese in zunehmend unübersichtliche, ja oft unsichtbare, zuweilen aber auf höchst reale Art und Weise wirksame Netzwerke (wie z. B. Gemeinde, Berufsorganisationen, Kirchen, Parteien, Wirtschaft, Staat) verwickelt - bis hin zu einer fließenden Grenze (z. B. deutsche Sprachgruppe, Europäische Gemeinschaft, Industrienationen, westliche Hemisphäre,… »Weltgesellschaft«), an der die Verknüpfungen und Verbundenheiten immer schwächer werden oder ganz abbrechen. Kurz und bündig formuliert: Soziologie befasst sich mit dem Zusammenleben der Menschen, ihrem zwischenmenschlichen Handeln und Verhalten und sucht dabei die gesellschaftlichen »Webmuster« und Verknüpfungszusammenhänge - die Strukturen, Funktionen und Prozesse der verschiedenen sozialen Systeme (einschließlich <?page no="18"?> 18 deren Rückwirkungen auf das Individuum) - zu beschreiben, zu analysieren und zu erklären. Zur vertiefenden und ergänzenden Lektüre Peter L. Berger, (2011): Einladung zur Soziologie. Eine humanistische Perspektive. (Darin insbesondere Kapitel 1 »Soziologie als Fröhliche Wissenschaft«, S. 21-43 und Kapitel 2 »Soziologie als Bewusstsein«, S. 45-72). UVK: Konstanz. 1.2 Die Gesellschaft als Erfahrungsfeld: Fallstricke des Alltagswissens und die soziologische Suche nach Ursachen Es gibt Kritiker der Soziologie, die behaupten, Soziologie sei die Kunst, eine Sache, die eigentlich jeder versteht, so auszudrücken, dass sie keiner mehr kapiert. Soziologie wäre damit der Missbrauch einer zu diesem Zweck erfundenen Terminologie. Dieser geläufige Vorwurf beinhaltet einen formalen und einen inhaltlichen Aspekt. • Was die formale Seite soziologischer Aussagen betrifft, so muss man auch als berufsmäßiger Soziologe zugeben, dass manche Fachvertreter durch ihren »Soziologenjargon« Sprach- und Verständnisbarrieren errichten, die in der Tat nicht geeignet sind, die Popularität des Faches zu fördern. Indem künstliche und sachlich nicht mehr vertretbare Kommunikationsschranken zwischen Öffentlichkeit und Wissenschaft aufgebaut werden, deren Erkenntnisse lediglich einer Handvoll »Eingeweihter« mehr oder weniger noch zugänglich sind, erscheint der eigentliche Auftrag von Wissenschaft in Frage gestellt: aufzuklären, Wissen zu vermitteln und damit auch einen Beitrag zum »Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit« (Kant) zu leisten. Dort und nur dort, wo sich Soziologen hinter einer abgehobenen Expertensprache verschanzen, erscheint dieser Vorwurf berechtigt. Allerdings ist dies nicht nur ein Problem der Soziologen: »Wissenschaft- <?page no="19"?> 19 liches« Imponiergehabe lässt sich auch bei Vertretern anderer akademischer Disziplinen beobachten, die gleichfalls durch übermäßige und unnötige Strapazierung eines elitären Fachjargons ihre »besondere Kompetenz« auszuweisen trachten. Auf der anderen Seite sind jedoch wissenschaftliche Aussagen nicht beliebig vereinfachbar, so dass zugestanden werden muss, dass die Soziologie - wie jede andere Wissenschaft auch - als Handwerkszeug bestimmte Begriffe benötigt, die bestimmte Sachverhalte präziser zu erfassen und zu bezeichnen in der Lage sind als die teilweise unscharfe und »oberflächliche« Begrifflichkeit unserer Umgangssprache. Insofern kommt man auch in der Soziologie um die Einführung und Verwendung spezifischer fachlicher Begriffe nicht herum, so dass die Benutzung von bestimmten Grundbegriffen und die Anwendung einer entsprechenden soziologischen Grammatik nicht nur wissenschaftlich legitim, sondern auch sachlich geboten erscheint. • Die inhaltliche Seite des einleitend zitierten Vorwurfs wiegt schwerer. Denn in der Tat reden Soziologen oft von Dingen, von denen jeder schon etwas weiß oder zumindest zu wissen glaubt. Anders als etwa bei der Physik oder in der Medizin sind wir Menschen ja im Bereich des »Sozialen« keine unbedarften Anfänger mehr, sondern in gewissem Sinne »Amateursoziologen«, wie schon der amerikanische Sozialwissenschaftler Robert MacIver (1882-1970) bemerkte. Allein schon aufgrund unserer Biografie verfügen wir über Gesellschaftserfahrung und Alltagswissen, was einen Anspruch auf eine allgemeine soziale Kompetenz zu begründen scheint, - lange bevor die Soziologie als »Wissenschaft vom Sozialen« auf den Plan tritt. Kennzeichnend für diese Art des Alltagsverständnisses ist, dass wir für fast jede Lebenssituation nicht nur bestimmte Rezepte und Strategien zur Verfügung haben, sondern auch in der Regel ganz präzise erklären können, warum beispielsweise Frau Schmidt sich von ihrem Ehemann scheiden lässt, warum die Tina von Müllers in der Schule nicht mitkommt und die Zwillinge von nebenan immerzu streiten und die Verbote des Hausmeisters missachten. <?page no="20"?> 20 Wie erklären die Leute im Allgemeinen solche Probleme? Wenn wir uns selbst einmal bei derartigen Gelegenheiten beobachten und kontrollieren könnten oder anderen bei ihren Erklärungen aufmerksam und vielleicht etwas kritischer als üblich zuhörten, würden wir rasch feststellen, dass bei der Konfrontation mit Alltagsproblemen bereits gewisse Vorstellungen über deren Ursachen abgerufen werden. Persönliche Erfahrungen und übernommene Meinungen, allzu oft auch - meist unbewusste - soziale Vorurteile, spielen dabei eine wichtige Rolle. So werden wohl im Hinblick auf bestimmte Probleme in der Regel kaum sorgfältig abgewogene oder wohlüberlegte Gedanken und klare, präzise Kausalketten entwickelt, sondern eher spontane, für »richtig« und »plausibel« gehaltene Deutungen der Situation, die für uns dann »wirklich so ist«, zum Ausdruck gebracht. Die Alltagsprobleme werden von der eigenen Perspektive aus wahrgenommen und von den eigenen Werten, Normen und Überzeugungen her beurteilt. Ausgangspunkt ist jeweils das eigene, für »selbstverständlich« und »natürlich« gehaltene Bezugssystem. Die Sicht des anderen oder dessen Interpretation des Problems bleibt unberücksichtigt. Oft werden (vor-)schnell »Etiketten« verteilt und komplexere Zusammenhänge damit auf bestimmte Beziehungen zwischen Personen oder auf deren angenommene Eigenschaften reduziert. Erfahrungen, die sich solchen Zuschreibungen entziehen, werden dann meist fatalistisch als undurchschaubares Schicksal oder als in der Natur der Sache liegend begriffen. Der Philosoph und Begründer der phänomenologischen Soziologie Alfred Schütz (1899-1959) bezeichnet unser Alltagswissen als »natürliche Einstellung«, die sich unterscheidet von der wissenschaftlichen Erkenntnis mittels eines spezifischen Erkenntnisstils: In unserer »natürlichen Einstellung« stellen wir die Wirklichkeit nicht in Frage und haben keinen Zweifel, ob die Welt und ihre »Tatsachen« anders sein könnten. Unser Alltagswissen und unser Alltagsverständnis bestimmen also, welche Zusammenhänge bei gewissen Problemfällen in unseren Gesichtskreis rücken, welche Faktoren wichtig sind. Oft wird das Denken dabei von bewertenden Kategorien und absoluten Begriffen wie »gut« und »böse«, »schuldig« oder »unschuldig«, »richtig« oder »falsch« <?page no="21"?> 21 geleitet; zudem werden unsere »Erklärungen« von den durch das Problem ausgelösten eigenen Gefühlen und Eindrücken überlagert und - eben meist unbewusst - gesteuert: Herr Schmidt ist ja bekannt als recht aufbrausender »Alkoholiker«, die 12-jährige Tina flirtet bereits mit einem »Punker« (was offensichtlich in der Familie liegt, denn die Mutter hat ja seinerzeit auch schon »früh angefangen«), die Zwillinge von nebenan sind »schlecht erzogen« oder vielleicht hat auch der Hausmeister eine »unsoziale Einstellung«, weil er die Kinder nicht auf dem gepflegten Rasen spielen lässt. Für Frau Schmidt ist die Ehe sicher eine einzige Tortur, denn man »weiß« ja, dass Alkoholiker sehr labil sind, sich nicht beherrschen können und sich so ihr Schicksal selbst zuzuschreiben haben. Man »weiß« auch, dass bei »Frühreifen« die Triebhaftigkeit und sexuelle Aktivität im Blut steckt, was man aber durch geeignete Erziehungsmaßnahmen sicherlich in den Griff bekäme. Es ist »ganz offensichtlich«, dass die Nachbarin depressiv ist und mit der Geburt der Zwillinge total überfordert wurde. Und man kennt ja schließlich auch den übereifrigen Hausmeister, der im ganzen Viertel als Kinderschreck gilt. Dass es sich bei diesen »Eigenschaften« um etwas handelt, das mit der »Veranlagung« der Betreffenden zu tun hat, wird hierbei oft stillschweigend vorausgesetzt. Dass es sich bei den beklagten Verhaltensweisen jedoch gar nicht so sehr um individuelle Veranlagungen handeln könnte, sondern vielleicht eher um Eigenschaften, die sich erst unter ganz bestimmten Bedingungen des Zusammenlebens entwickelt haben, - diese Möglichkeit bleibt meist außerhalb unseres gewohnten Denkhorizonts. • Oder denken wir daran, dass beispielsweise Alkoholismus weniger ein individuelles Problem ist, insofern dieses Problem ja besonders in Gesellschaften verbreitet ist, die den Alkoholkonsum als Zeichen von Männlichkeit und Lebensfreude ansehen oder auch als Seelentröster und probaten Konfliktlöser empfehlen? • Denken wir daran, dass bestimmte Persönlichkeitseigenschaften und bestimmte Ausdrucksformen des Protests (wozu aggressive sowie depressive Formen zu rechnen sind) sich eigentlich erst im Anschluss an ganz bestimmte Erfahrungen <?page no="22"?> 22 und Erlebnisse in zwischenmenschlichen Beziehungsfeldern (z. B. in der Partnerschaft, in der Familie, in der Verwandtschaft, in der Nachbarschaft, am Arbeitsplatz usw.) bilden? • Oder denken wir daran, dass - wie beim Beispiel des »unsozialen« Hausmeisters - vielleicht auch eine mangelhafte Wohnungspolitik für Familien oder kinderfeindliche Leitbilder von Architekten, Baugesellschaften und Raumplanern eine Rolle spielen könnten? Die »Gewissheit« mit der wir aus unserem Alltagsverständnis heraus derartige Probleme beschreiben und erklären, wird eigentlich viel zu selten in Frage gestellt. Daher ist es auch kaum erstaunlich, wie selbstsicher und souverän wir im Umgang miteinander gewissermaßen »aus der Hüfte geschossene« Diagnosen abgeben, ohne die vielen komplexen Umweltbedingungen und Lebenserfahrungen zu kennen, die diese Menschen und ihre Probleme erst zu dem machten, was sie in den Augen der anderen sind. Hier hat die Soziologie eine kritische und aufklärende Funktion. Sie macht darauf aufmerksam, dass die raschen und intuitiven Zuordnungen und plausibel erscheinenden Zuschreibungen unserer privaten Alltagsinterpretationen nur allzu oft trügerisch sind und den tatsächlichen Problemhintergründen keineswegs gerecht werden. Es genügt nämlich nicht, irgendeine Meinung über ein Problem im zwischenmenschlichen Verhalten von sich zu geben, sondern diese Meinung muss an der konkreten Situation aufgewiesen, belegt und überprüft werden. Manche Erklärungen und Beschreibungen der Soziologie stimmen dann mit unseren bisherigen Meinungen und Überzeugungen nicht mehr überein. Manche beliebte »individualisierende« Denkfigur, manch gesellschaftlich akzeptiertes (und so bisweilen recht nützliches) Argument, manche gewohnte und vertraute Vorstellung von der sozialen Welt wird hierdurch fragwürdig. Indessen: Im Aufwerfen solcher »kontra-intuitiver« Fragen liegt gerade der besondere Nutzen der Soziologie. Oder um es mit Peter Berger (2011, 41) zu formulieren: »Die erste Stufe der Weisheit in der Soziologie ist, dass die Dinge nicht sind, was sie scheinen«. Indem die Soziologie ihr Erkenntnisinteresse vor allem auf die sozialen Bedingungen richtet, die hinter den beobachtbaren Tat- <?page no="23"?> 23 sachen wirksam werden, und indem sie auf die Einbettung vieler Probleme in umfassendere gesellschaftliche Strukturzusammenhänge aufmerksam macht, leuchtet sie Bereiche aus, die vom naiven Alltagsdenken oft ausgeblendet werden oder deren Zugang versperrt bleibt. Damit eröffnet uns die Soziologie neue und rational anregende Sichtweisen, die eine Hilfe sein können für ein besseres Verständnis von uns selbst und von der Gesellschaft, in der wir leben. Zur vertiefenden und ergänzenden Lektüre Arbeitsgruppe Soziologie (1992): Denkweisen und Grundbegriffe der Soziologie. Eine Einführung. (Darin Kapitel 1 »Die Soziologen - Notorische Besserwisser? «, S. 9-22). Campus: Frankfurt/ M. Peter L. Berger & Thomas Luckmann (2003): Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. Eine Theorie der Wissenssoziologie. 19. Aufl. (Darin Kapitel 1 »Die Grundlagen des Wissens in der Alltagswelt«, S. 21-48). Fischer: Frankfurt/ M. Hartmut Esser (1999): Soziologie. Allgemeine Grundlagen. (Darin Kapitel 3 »Soziologische Forschungsfragen: Fünf Beispiele«, S. 31-37). Campus: Frankfurt/ M. 1.3 Soziologie als Wissenschaft von der Gesellschaft 1.3.1 Zum Begrifflichen: Was heißt »sozial«? Wir haben bisher - ohne besondere semantische Reflexion - die Wörter »sozial« und »soziologisch« benutzt bzw. von der »Soziologie« gesprochen. Um Missverständnissen vorzubeugen, soll vor unseren weiteren Überlegungen der Bedeutungsgehalt dieser elementaren Begriffe untersucht und unsere Verwendungspraxis erläutert werden. • Beginnen wir bei dem Wort »sozial«. Hier hat die klassische Feststellung Senecas, dass »es sozial sei, ein gutes Werk zu tun« (»beneficium dare socialis res est«, Seneca, De beneficiis, V. 11) <?page no="24"?> 24 die alltagssprachliche Sinngebung und Benutzung dieses Wortes bis heute beeinflusst. Mit »sozial« in diesem Sinne wird eine ethisch-moralische Haltung angesprochen, wie sie beispielsweise nach christlichem Verständnis in den Seligpreisungen der Bergpredigt zum Ausdruck gebracht wird: Es ist »sozial«, den Armen und Behinderten zu helfen, Witwen und Waisen zu unterstützen, kranke und alte Menschen zu besuchen, Haftentlassenen eine berufliche Chance zu geben, für Katastrophenopfer oder für die Hungernden in der Dritten Welt zu spenden. Dieses Sinnverständnis unterliegt auch noch der »säkularisierten« Redewendung, wenn wir umgangssprachlich von einem »sozialen Typ« sprechen, der heute seinen »sozialen Tag« hat, weil er großzügig einen ausgibt. • Neben diese menschenfreundliche, durch das christliche Gebot der Nächstenliebe oder einen säkularen Humanismus normativ bestimmte und meist durch eine persönliche Zuwendung zum Ausdruck gebrachte soziale Handlung tritt mit der Entwicklung des modernen Staates, insbesondere mit dem Aufkommen des Industrialismus und des expansiv sich entfaltenden Kapitalismus, ein neuer Bedeutungsgehalt: In der sogenannten »sozialen Frage« verdichten sich jetzt Problembündel, die nicht mehr von Einzelnen aufgrund privater ethisch-moralischer Verpflichtung und fürsorglichen Engagements gelöst werden können, sondern einer gemeinschaftlichen politischen Lösung zugeführt werden müssen. Das Wort »sozial« gewinnt damit eine öffentlich-politische Dimension, ausgedrückt etwa in Wortverbindungen wie »Sozialpolitik«, »Sozialhilfe«, »Sozialreform«, »soziale Revolution«, »soziale Gerechtigkeit« oder »Sozialstaat«. • In diesem Zusammenhang entsteht auch in programmatischpolitischer Zuspitzung das mit »sozial« verwandte Wort »sozialistisch«. Es bezeichnet die Gesamtheit der Ideen und Bewegungen, die über eine Verstaatlichung der Produktionsmittel und durch eine sozial gerechte Verteilung der Güter an alle Mitglieder der Gesellschaft die Überwindung der gesellschaftlichen und politischen Ungleichheiten und Klassenverhält- <?page no="25"?> 25 nisse anstreben, die durch die kapitalistische Industrialisierung geschaffen wurden (Marx). Wie jedoch auch dieser ursprünglich politisch-aggressive und gesellschaftlich-moralisch aufgeladene Begriff durch die Praxis desavouiert wurde, zeigte sich in der historischen Tatsache, wie sich selbst als »sozialistisch« reklamierende Staaten dann über viele Jahrzehnte mit höchst menschenfeindlichen Mitteln ihre Machtverhältnisse und ihre »neue Klasse« (Djilas) zu erhalten trachteten. • Neben dem moralischen und politischen Gebrauch des Wortes »sozial« im Sinne von »dem Gemeinwohl, der Allgemeinheit dienend, die menschlichen Beziehungen in der Gemeinschaft regelnd und fördernd und den (wirtschaftlich) Schwächeren schützend« (Duden 1980, 2431) erfährt dieser Begriff nun allerdings in seiner wissenschaftlichen (soziologischen) Verwendung eine entscheidende Erweiterung des Bedeutungsrahmens. Ausgehend von der Grundtatsache, dass der Mensch als »soziales Wesen« von anderen Menschen in hohem Maße abhängig ist, nur in Gemeinsamkeit vorkommt und nur darin existieren kann, wird als »sozial« hier schlechterdings jedes zwischenmenschliche, wechselseitig orientierte Handeln und Verhalten von Menschen bezeichnet, - gleichgültig, ob es sich um »gute« Taten oder »schlechte« Formen des Miteinanderumgehens, um moralische Verbundenheiten oder unmoralische Verhaltensakte handelt. Es bezeichnet also nicht nur Werke der Nächstenliebe und Fürsorge oder der produktiven Kooperation, sondern ebenso Akte der Gleichgültigkeit und Ablehnung, der Inhumanität und Grausamkeit, des Wettbewerbs, der Auseinandersetzung oder des offenen Konflikts. In deutlichem Gegensatz zum normativen Alltagsgebrauch wird durch die bewusste Ausscheidung von einseitig positiven Bewertungen und Gefühlen der wissenschaftliche Begriff des »Sozialen« wertneutral benutzt. Sozial in diesem Sinne sind nach einer Umschreibung einer der Pioniere der amerikanischen Soziologie, Edward A. Ross (1866-1951) »alle Phänomene, die wir nicht erklären können, ohne dabei den Einfluss des einen Menschen auf den anderen einzubeziehen« (Ross 1905, 7, zit. nach Jager & Mok, 1972, 22). <?page no="26"?> 26 »Das Soziale in diesem Verständnis kann schöne und schreckliche Züge haben. Moralisch gesprochen kann es menschliche und unmenschliche Züge tragen; sozialwissenschaftlich gesehen ist es in jedem Falle menschlich, weil es zwischen Menschen geschieht, von ihnen gewollt und ausgeführt wird. Eine im moralischen Sinne unsoziale Handlung kann also im wissenschaftlichen Sinne durchaus sozial sein, weil das Wort als wissenschaftlicher Begriff die zwischen Menschen geschehenden Handlungen beobachtet und sehr viele Handlungen gar nicht in den Blick der Wissenschaft gerieten, wenn nur die moralisch ›sozialen‹ beobachtet, die moralisch ›unsozialen‹ wegen wertmäßiger Anschauungen der Wissenschaftler nicht beachtet würden. Die neutrale Bedeutung desWortes ›sozial‹ ermöglicht also bessere Erkenntnis.« (Deichsel 1983, 20 ff.). 1.3.2 Was sich Soziologen unter »Soziologie« vorstellen Für die neutrale Beschreibungsart menschlichen Handelns und Zusammenlebens verwendete zum ersten Mal (1837) der französische Sozialphilosoph Auguste Comte (1798-1857) »faute de mieux« den Namen »Soziologie«. Comte selbst war über diesen, seiner Ansicht nach recht uneleganten lateinisch-griechischen »Wortbastard« (von lat. socius = Gefährte, Geselle, Mitmensch; griech. logos = Wort, Vernunft, Lehre) alles andere als glücklich. Denn eigentlich wollte er sein neu geschaffenes wissenschaftliches System - angeregt von Saint- Simon (1760-1825) und in Anlehnung an die ihn faszinierenden Naturwissenschaften und deren methodisch strenge empirische Ausrichtung - »Physique sociale« nennen. Doch sein akademischer Gegenspieler, der belgische Statistiker Adolphe Quetelet (1796-1874) veröffentlichte kurz zuvor (1835) eine Untersuchung unter eben diesem Titel und »stahl« ihm so, wie Comte bitter bemerkt, seine originäre Begriffsidee und »missbrauchte« sie als »einfache Statistik«. Die Bezeichnung »Soziologie« als die »Lehre vom Sozialen« oder als die »Wissenschaft vom gesellschaftlichen Zusammenleben« setzte sich jedoch in der Folgezeit gegenüber der Sozialphysik durch, zumal dann auch Herbert Spencer <?page no="27"?> 27 1873 diesen Begriff aufnahm und »Sociology« in die englischsprachige Literatur einführte. Ja selbst in den Ländern des ehemaligen Ostblocks, in denen Gesellschaftslehre als »wissenschaftlicher Sozialismus« betrieben wurde, gewann die ursprünglich als »bürgerlich« verfemte Bezeichnung Soziologie zunehmend an Raum, wenn auch unter der unmissverständlich programmatisch-ideologischen Einengung als »marxistisch-leninistische Soziologie«. Dies zeigt allerdings auch, dass Soziologie aufgrund weltanschaulicher, wissenschaftstheoretischer oder methodologischer Orientierung recht unterschiedlich aufgefasst und definiert werden kann. Als »Lehre vom Sozialen« erforscht Soziologie das menschliche Zusammenleben bzw. das zwischenmenschliche Verhalten, beschäftigt sich mit der Gesellschaft und mit den in ihr lebenden Menschen. Diesen Gegenstand teilt sich die Soziologie allerdings auch mit anderen Sozialwissenschaften, wie etwa der Sozialpsychologie, der Kulturanthropologie und Ethnologie, der Demographie, der Ökonomie, der Politologie, der Erziehungswissenschaft, der Jurisprudenz und der Geschichtswissenschaft, neuerdings auch mit der Kommunikationswissenschaft, der Stadt- und Raumplanung oder der Friedens- und Zukunftsforschung. Wenn wir darum die Soziologie charakterisieren wollen, genügt es nicht, nur ihr Untersuchungsobjekt zu nennen. Vielmehr müssen wir deutlich machen, in welcher typischen Art und Weise, mit welcher besonderen Fragestellung, mit welcher spezifischen Perspektive und mit welchen Methoden und Regeln sie an ihren Gegenstand als Sozialwissenschaft herangeht. Der deutsche Soziologe Alfred Vierkandt (1867-1953) spricht dabei von einer »soziologischen Denkweise, die alle menschlichen Tätigkeiten und Erzeugnisse in Beziehung setzt zu der menschlichen Gesellschaft, der ihre Träger angehören und sie unter dem Gesichtspunkt ihrer Abhängigkeit von dieser auffasst« (Vierkandt 1928, 14). Das zentrale Bemühen dieser Versuche ist es, analytisch den »sozialen Faktor« zu isolieren und von der Zurückführung »sozialer Tatsachen« auf irgend etwas Nichtsoziales abzusehen, d. h. - wie der berühmte französische Soziologe Emile Durkheim (1858-1917) es ausdrückt - »Soziales nur durch Soziales zu erklären«. <?page no="28"?> 28 Es gibt dabei ziemlich viele konkurrierende Definitionen von »Soziologie«. Böse Zungen behaupten, es gehöre zum professionellen Lebenswerk eines jeden echten Soziologen, eine eigene Begriffsbestimmung seines Fachs zu entwickeln. Dass es keine allgemein anerkannte, verbindliche und umfassende Definition von Soziologie gibt, hängt jedoch eng mit der Tatsache zusammen, dass nahezu alle Gegenstände und Erfahrungen unseres täglichen Lebens einen soziologischen Bezug aufweisen und deshalb eine Aufzählung bzw. Abgrenzung der Gegenstandsbereiche der Soziologie praktisch unmöglich ist. Eher lässt sich die »soziologische Denkweise« oder die »soziologische Perspektive« als professionelles Neugierverhalten charakterisieren, hinter die scheinbaren Selbstverständlichkeiten und Rätsel unseres Alltags zu schauen und die damit verbundenen Erfahrungen aus kritischer Distanz zu beschreiben, zu hinterfragen und zu erklären. In diesem Sinne lässt sich Soziologie pragmatisch definieren als »das systematische und kontrollierte Beobachten und Erklären von regelmäßig auftretenden sozialen Beziehungen, von ihren Ursachen, Bedingungen und Folgen« (Seger 1970, 13). Zur vertiefenden und ergänzenden Lektüre Günter Endruweit (1998): Der Begriff der Soziologie. In Ders., Beiträge zur Soziologie. Bd. II. S. 14-34. Causa: Kiel. Hermann L. Gukenbiehl (2010): Soziologie als Wissenschaft. Warum Begriffe lernen? In Hermann Korte & Bernhard Schäfers (Hrsg.), Einführung in Hauptbegriffe der Soziologie. 8. Aufl. S. 11-22. VS: Wiesbaden. Karl-Heinz Hillmann (2007): Wörterbuch der Soziologie, 5. Aufl. (Darin Stichwort »Soziologie« mit weiteren Literaturhinweisen). Kröner: Stuttgart. 1.3.3 Soziologie und soziale Probleme Die Bezeichnungen sozial und soziologisch werden oft verwechselt. Etwa wenn ein Politiker von der »soziologischen« Struktur einer Gemeinde spricht oder von einem Journalisten in einem <?page no="29"?> 29 Pressebericht über Arbeitslosigkeit vermutet wird, dass hier »soziologische« Faktoren im Spiel seien. »Soziologisch« bedeutet jedoch im eigentlichen Sinne »gesellschaftswissenschaftlich«, d. h. von den Erkenntnissen, Begriffen, Theorien, kurz vom Bezugssystem der Soziologie her gesehen. Gemeint ist aber »sozial« im Sinne von »gesellschaftlich«, so dass also in derartigen Fällen sachlich richtig von der sozialen Struktur und von sozialen Faktoren gesprochen werden muss. Entsprechend ist deshalb ein soziales Problem keineswegs auch immer ein soziologisches und umgekehrt betreffen soziologische Fragestellungen entgegen einem weit verbreiteten Missverständnis durchaus nicht immer soziale Probleme. • Ein soziales oder gesellschaftliches Problem liegt meist dann vor, wenn eine Diskrepanz (Widerspruch) zwischen den gesellschaftlichen Normen und Zielvorstellungen und dem tatsächlichen Verhalten der Menschen besteht (z. B. im Falle von Devianz und Kriminalität) oder wenn eine unvorhergesehene oder unvorhersehbare Situation eintritt, die in der Gesellschaftsordnung (noch) nicht geregelt ist (wie beispielsweise Massenarbeitslosigkeit in Deutschland und gleichzeitige Verlagerung von Arbeitsplätzen durch inländische Unternehmen in Billiglohnländer). • Eine soziologische Fragestellung liegt dagegen erst dann vor, wenn bestimmte gesellschaftliche Problemlagen, Zustände und Prozesse erklärt werden sollen. Wenn also ein Soziologe ein soziales Problem bearbeiten soll, muss er es zunächst in eine soziologische Frage »übersetzen«; erst dann kann er mit seinem Handwerkszeug, d. h. mit seinen Begriffen, Theorien und Untersuchungsmethoden, das Problem erfassen, beschreiben und zu erklären suchen. Hierbei wird schon deutlich, dass ein bestimmtes soziales Problem, auch nachdem es soziologisch geklärt ist, durchaus als soziales Problem weiter bestehen kann. So können beispielsweise Soziologen in Bezug auf das soziale Problem der Chancengerechtigkeit im Bildungswesen schon seit den 1970er-Jahren und nicht erst seit den international vergleichenden Schulleistungsuntersuchungen der OECD (PISA-Studien) der letzten fünfzehn Jahre auf die Wirkung der <?page no="30"?> 30 sozialen Herkunft aufmerksam machen und auch empirisch nachweisen, dass das Schulsystem durch seine typische »Schulkultur« insbesondere im Sprachverhalten Schüler aus mittleren und oberen Schichten begünstigt. Vielmehr konnten Bildungssoziologen auch schon seit Langem darauf aufmerksam machen, wie sehr Lehrerurteile über Eignung und Leistungsfähigkeit von Schülerinnen und Schüler von typologischen Vorstellungen und impliziten Persönlichkeitstheorien beeinflusst werden können, in die auch leistungsfremde, kaum objektivierbare Beurteilungsbestandteile eingehen und inwiefern auch solche Schülertypologien wiederum stark schichten- und milieuspezifisch orientiert sind. Den betroffenen Kindern helfen solche theoretischen Erklärungen zunächst wenig, denn das soziale Problem der Benachteiligung bleibt ja zunächst weiter bestehen. Ähnlich verhält es sich bei dem allseits bekannten und nicht nur ökologisch, sondern auch soziologisch vielfach erforschten Problem der Umweltverschmutzung durch CO 2 - und Feinstaub-Emissionen. Die Analysen sind klar, und Umweltschutz gilt weithin als dringend geboten. Geht es aber an die praktisch zu ziehenden Konsequenzen wie die Einschränkung der gewohnten Lebensführung, ist nach wie vor mit erheblichen Widerständen zu rechnen. Zur vertiefenden und ergänzenden Lektüre Günter Albrecht (1981): Einführung zum Thema »Konstitution sozialer Probleme«. In Joachim Matthes (Hrsg.), Lebenswelt und soziale Probleme. Verhandlungen des 20. Deutschen Soziologentages zu Bremen. Campus: Frankfurt/ M. Axel Groenemeyer (2012): Soziologie sozialer Probleme - Fragestellungen, Konzepte und theoretische Perspektiven. In Günter Albrecht & Axel Groenemeyer (Hrsg.), Handbuch Soziale Probleme, 2. Aufl., S. 17-116. VS: Wiesbaden. Günter Hartfiel (1981): Soziale Schichtung. 2. Aufl. (Darin Kapitel 6 »Soziale Schichtung und Erziehung«, S. 133-171). Juventa: München. <?page no="31"?> 31 1.4 Wozu kann man Soziologie brauchen? 1.4.1 Soziologie als Missverständnis In diesem Zusammenhang stellt sich die Frage nach dem Nutzen der Soziologie für die gesellschaftliche Praxis. Unter dem noch unmittelbaren Eindruck der internationalen Studentenbewegung der späten 1960er-Jahre bemerkte die Soziologin Imogen Seger (1970, 11): »Wer in den letzten Jahren die Berichte im Fernsehen und in den Zeitungen verfolgt hat, der muss zu der Ansicht kommen, die Hauptbeschäftigung der Soziologiestudenten sei es, die Revolution inner- und außerhalb der Universitäten vorzubereiten, und die Hauptbeschäftigung ihrer Professoren sei es, sie dabei zu ermuntern.« In der Tat hatten manche Politiker und Kommentatoren einen guten Anteil an den landläufig recht gängigen Klischees, Soziologie habe etwas mit Revolution und Sozialismus oder gar Kommunismus zu tun. Sie vermuteten einen Zusammenhang zumindest zwischen einer bestimmten soziologischen Denkweise (gemeint war vor allem die »Kritische Theorie« der sogenannten »Frankfurter Schule« der Soziologie) und radikalen jungen Leuten, die vorgeben würden, Gesellschaftswissenschaften zu studieren, in Wirklichkeit aber auf Kosten der Steuerzahler in Hörsälen und auf Straßen randalieren oder gar terroristische Gewaltakte planen und durchführen. Dieses verallgemeinernde Vorurteil entzündete - und entzündet sich immer wieder vor allem an der Beobachtung, dass Soziologie offenbar nicht nur für jene Studentinnen und Studenten anziehend und anregend wirkt, die die Gesellschaft, in der sie leben, verstehen wollen, sondern auch für solche höchst attraktiv erscheint, die die gesellschaftlichen Ordnungen radikal in Frage stellen und auch grundsätzlich verändern möchten, für jene also, die sich in der Soziologie eine Art Revolutionswissenschaft erhoffen und die hierbei Denkmodelle bestimmter Gesellschaftstheoretiker mit politischen Aktionsprogrammen verwechseln. Oft zählen zur letzten Gruppe vor allem jene, die »ein bisschen Soziologie studiert« haben, bald aber angesichts der Studienan- <?page no="32"?> 32 forderungen von Statistik und Methodenlehre oder der Pflichtkurse über soziologische Grundbegriffe und Theorievergleiche abgeschreckt werden und der »praxisfernen« universitären Soziologie enttäuscht den Rücken kehren. Dies hindert sie jedoch nicht, unter Hinweis auf ihre soziologischen Erkenntnisse (die wohl eher den Charakter von Bekenntnissen haben), zu glauben, die Gesellschaft »in den Griff« zu bekommen und damit die Hoffnung verbinden, sie grundlegend verändern zu können, um sie so von allem Übel zu befreien. Ein bisschen Soziologie ist jedoch ebenso wie ein bisschen Wahrheit eine gefährliche Sache. Bloße Gesellschaftskritik und darauf beruhendes »politisches« Handeln ohne fundierte Information und gründliches Studium gesellschaftlich-politischer Zusammenhänge hat eine unbehagliche Nähe zum Vorurteil, zum pauschalisierenden Rundumschlag und zum irrational-eifernden Aktivismus. Wer sich indessen auf die moderne Soziologie ernsthaft einlässt, wird sehr rasch feststellen müssen, dass sie als Ersatzreligion überhaupt nicht taugt. Soziologie »ist kein Ersatz für verlorene Identifikationen, keine begleitende Sinngebung für Handlungen, sondern schlicht Erkenntnis der Zusammenhänge in ihrem Problemfeld« (Jonas 1981, 12). Ihre empirischen und theoretischen Ergebnisse entziehen sich von ihrem Anspruch her explizit allen »schrecklichen Vereinfachungen« und lassen sich auch faktisch - z. B. im Hinblick auf geplante soziale Aktionen - nur äußerst sperrig handhaben. So beachtlich die methodologischen und analytischen Fortschritte der Soziologie mittlerweile auch sein mögen, so vorsichtig sind seriöse Sozialwissenschaftler dennoch im Umgang mit handlungsleitenden Prognosen oder gar handlungsanweisenden Rezepten. Statt von Gewissheiten reden Soziologen heute lieber von Wahrscheinlichkeiten, wie überhaupt die meisten soziologischen Aussagen den Charakter von Wahrscheinlichkeitsaussagen haben. Dies vor allem deshalb, weil Soziologen die Erfahrung gemacht haben, dass ihre Untersuchungsgegenstände höchst dynamisch und unberechenbar sind, ja dass im gesellschaftlichen Bereich fast jede Wirkung eine oft überraschende und unvorhersehbare Gegenwirkung auslösen kann. <?page no="33"?> 33 Zur vertiefenden und ergänzenden Lektüre Imogen Seger (1970): Knaurs Buch der modernen Soziologie. (Darin Kapitel 1 »Soziologen und Soziologie«, S. 11-17). Droemer: München, Zürich. Norbert Elias (2014): Was ist Soziologie? 12. Aufl. (Darin das Kapitel 5/ 4 »Gesellschaftsideale und Gesellschaftswirklichkeit«, S. 182- 188). Beltz Juventa: Weinheim, Basel. 1.4.2 Strukturen soziologischen Denkens und Forschens Trotz der vorgenannten Einschränkungen hat die Soziologie für unseren Alltag dennoch wichtige Funktionen zu erfüllen, wie wir im Folgenden sehen können. Die in diesem Zusammenhang immer wieder neu gestellten Fragen • Was ist eigentlich Soziologie? • Wozu ist Soziologie nütze? • Was kann die Soziologie leisten? • Was bietet sie uns? lassen sich dabei allerdings nicht ganz so einfach und bündig beantworten, weil es die Soziologie im strengen Sinne eigentlich nicht gibt, sondern immer nur Soziologen verschiedener Schulen und Denkrichtungen. Abgesehen von differenten wissenschaftstheoretischen und methodologischen Zugängen kommt dann deren Verständnis von Soziologie auch in ihren jeweiligen Lehr- und Forschungsprogrammen zum Ausdruck und lässt sich systematisch etwa so strukturieren: • Soziologie als Wissenschaft vom sozialen Handeln und zwischenmenschlichen Verhalten; • Soziologie als Wissenschaft von den sozialen Institutionen und Organisationen; • Soziologie als Wissenschaft von der Gesamtgesellschaft und deren Stabilität und Wandel; • Soziologie als Wissenschaft von den Ideen über die Gesellschaft und als Ideologiekritik. <?page no="34"?> 34 Mit diesen unterschiedlichen Perspektiven und Ansätzen werden nichts anderes als verschiedene Ebenen der recht komplizierten sozialen Wirklichkeit angesprochen. Ausgehend vom Menschen als soziales Wesen und seinen auf andere gerichteten bzw. an anderen orientierten Handlungen und Verhaltensweisen weisen diese unterschiedlichen Analysedimensionen auf soziologisch unterscheidbare Einflussgrößen und Kontexte hin, was man grafisch vereinfacht so darstellen kann: Wenn also Soziologen versuchen, Situationen unseres Alltags zu verstehen und zu analysieren, dann versuchen sie, diese Situationen in einen größeren, überindividuellen Zusammenhang zu stellen. Indem die Soziologen das Individuum, das es - per definitionem - als isoliertes Wesen gar nicht gibt, immer als ein soziales Wesen begreifen, suchen sie nach überindividuellen Einflussgrößen und entpersonalisierten Kontextbedingungen von dessen Lebensweise. Einfluss der die Gesells chaft und Kultur konstituierenden Ideen (=Meta -Ebene) Einfluss der Gesell schaft und Kultur (=Makro-Ebene) Einfluss von so zialen Organisationen (=Mes o-Ebene) Mensch als soziales Wesen Einfluss v on Kleingruppen (=M ikroebene) Abb. 1: Soziologie als Sozialwissenschaft <?page no="35"?> 35 Seriös kann man das nur tun, wenn man einerseits das soziale Individuum mit anderen Individuen in der Gesellschaft vergleicht und andererseits zusätzlich noch weitere Ebenen berücksichtigt, mit denen das soziale Individuum in wechselseitig orientierten (Max Weber) Austauschprozessen verbunden ist, die sein Denken, Fühlen und Handeln beeinflussen: • die Ebene von Kleingruppen (= Mikro-Ebene), • die Ebene von Organisationen (= Meso-Ebene), • die Ebene der Gesellschaft (= Makro-Ebene) und • die Ebene der einer Gesellschaft allgemein zugrunde liegenden Ideen und Ideologien (= Meta-Ebene). Die Mikro-Ebene wird entsprechend von der Mikrosoziologie untersucht, die mit der Phänomenologie und der Sozialpsychologie eng verwandt ist. Sie befasst sich vor allem mit den Grundbedingungen und -formen sozialen Handelns und Verhaltens im sozialen Nahbereich der sogenannten face-to-face-Beziehungen (z. B. Familie, Freundeskreis). Darüber hinaus erforscht sie aber auch die Prozesse der Wahrnehmung und Interpretation sowie Aneignung und Auseinandersetzung des Individuums mit der es umgebenden Kultur sowie mit gesellschaftlichen Rollen und Normen einschließlich der von den sozialen Normierungen abweichenden Verhaltensweisen. Typisch mikrosoziologische Theorien sind beispielsweise der sogenannte »Symbolische Interaktionismus«, die »Verstehende Soziologie« oder die vom Behaviorismus ausgehende verhaltenstheoretische Soziologie. Die Meso-Ebene wird vor allem über organisationssoziologische Ansätze erhellt, wobei einzelne Untersuchungen oder vergleichende Darstellungen sowohl den zweckorientierten, d. h. planmäßig gestalteten (Autoritäts-)Strukturen und (Interaktions-)Prozessen in Organisationen (z. B. Industriebetrieben, Verbänden, Parteien, Kirchen, aber auch Bildungsinstitutionen wie Schulen u. a.), wie auch den informellen Prozessdynamiken und -strukturen solcher sozialen Gebilde ihre analytische Aufmerksamkeit schenken. Der Makro-Ebene wendet sich die sog. Makrosoziologie zu; sie analysiert sowohl große soziale Einheiten und gesamtgesellschaftliche Prozesse wie auch Austauschprozesse zwischen den <?page no="36"?> 36 einzelnen gesellschaftlichen Teilsystemen (z. B. Wirtschaft, Politik, Bildung). Besonders thematisiert sie dabei die jeweiligen Sozialstrukturen wie Stände, Kasten, Klassen, Schichten oder Milieus. Die damit verbundenen stabilisierenden Bedingungen (»was hält Gesellschaft zusammen? «) bzw. evolutionären oder revolutionären Wandlungsprozesse (»wodurch wird Gesellschaft verändert? «) sind im allgemeinen Gegenstand ihrer Forschung. Grundlegende theoretische Ansätze (Paradigmen) der Makrosoziologie sind z. B. der Struktur-Funktionalismus, die Systemtheorie oder die Konflikttheorie. Die Meta-Ebene schließlich, die die sozialen Objektivationen gesamtgesellschaftlich übergreifender Norm- und Wertstrukturen, also den ideologischen »Überbau« von Gesellschaften beinhaltet, wird fachlich von der sogenannten Wissenssoziologie bzw. der soziologischen Ideologiekritik bearbeitet. Wie bei den meisten typologischen Versuchen ist auch diese Aufteilung unserer sozialen Welt in die vier Kernbereiche Kleingruppe, Organisation, Gesellschaft und Ideenwelt eine in erster Linie analytische Trennung und methodische Unterscheidung bzw. ein Versuch fachsoziologischer Strukturierung. In Wirklichkeit sind alle vier Ebenen voneinander abhängig, durchdringen sich gegenseitig und sind deshalb auch in soziologischen Beschreibungs- und Erklärungsversuchen soweit wie möglich theoretisch und empirisch miteinander zu verbinden. Eine diese verschiedenen Bereiche integrierende allgemeine soziologische Theorie sozialer Systeme wurde zwar in der Wissenschaftsgeschichte der Soziologie von einigen großen Soziologen wie z. B. Talcott Parsons (1902-1979) oder Niklas Luhmann (1927-1998) immer wieder versucht, steht jedoch indessen als schlüssige und auch generell akzeptierte »Allgemeine Theorie« noch aus. Unter dem Gesichtspunkt der praktischen Verwertung soziologischen Wissens sind überdies die sogenannten materiellen oder »Bindestrich-Soziologien« weit interessanter als die vorgenannten eher theoretischen Differenzierungen und Strukturierungen. Hierbei handelt es sich um problemorientierte Detailforschung in gesellschaftlichen Teilbereichen, die auch inzwischen zu einer ausgeprägten professionellen Spezialisierung innerhalb der Sozio- <?page no="37"?> 37 logie geführt hat. Solche speziellen und auch weitgehend universitär in einschlägigen Lehrstühlen etablierten Soziologien sind zum Beispiel • Bevölkerungssoziologie, • Migrationssoziologie, • Politische Soziologie, • Soziologie der Entwicklungsländer, • Ethnosoziologie, • Familiensoziologie, • Soziologie der Ehe und Partnerschaft, • Soziologie der Kindheit und Jugend, • Soziologie des Alters, • Erziehungs- und Bildungssoziologie, • Pädagogische Soziologie, • Geschlechtersoziologie, • Religionssoziologie, • Soziologie des Lebenslaufs, • Soziologie der Behinderten, • Soziologie der Freizeit, • Agrarsoziologie, • Gemeinde-, Stadt- und Regionalsoziologie, • Architektursoziologie, • Kommunikations- und Netzwerk-/ Internetsoziologie, • Organisations- und Managementsoziologie, • Industrie- und Betriebssoziologie, • Arbeits- und Berufssoziologie, • Techniksoziologie, • Wirtschafts- und Konsumsoziologie, • Medizinsoziologie, • Rechtssoziologie, • Kriminalsoziologie, • Kultursoziologie, • Kunstsoziologie, • Musiksoziologie, • Literatursoziologie, • Sportsoziologie, • Konfliktsoziologie, <?page no="38"?> 38 • Militärsoziologie, • Soziologie der Freizeit, • Wissenssoziologie, und nicht zuletzt auch gewissermaßen als »Meta-Disziplin« die • Soziologie der Soziologie. Der Wissens- und Forschungsstand in diesen speziellen Soziologien, die untereinander auch theoretisch und empirisch mehr oder weniger verknüpft werden, ist recht unterschiedlich. Einige dieser Teildisziplinen, die bereits auch mit eigenen »Sektionen« innerhalb der Deutschen Gesellschaft für Soziologie (DGS) vertreten sind, verfügen bereits über einen sehr großen Fundus an empirischen Untersuchungen und theoretischen Konstrukten, andere sind noch relativ jung und haben eher den Charakter von »Orchideenfächern«. Neben persönlichen Neigungen ist das unterschiedlich starke Interesse von Soziologen an diesen materiellen Spezialisierungen sicher u. a. auch als Reflex entsprechender gesellschaftlich und politisch aktueller Problemlagen, vielleicht auch sogar manchmal als eine Art lokal und temporär gebundene »Wissenschaftsmode« zu interpretieren. Zur vertiefenden und ergänzenden Lektüre Johann Binder (1986): Vom Nutzen der Bindestrich-Soziologien. In Bulletin 54 der Schweizerischen Gesellschaft für Soziologie, S. 8-10. Günter Endruweit, Gisela Trommsdorff & Nicole Burzan (Hrsg.) (2014): Wörterbuch der Soziologie. 3. Aufl. (mit lexikalischen Informationen zu einzelnen Speziellen Soziologien). UVK: Konstanz. Harald Kerber & Arnold Schmieder (Hrsg.) (1991): Soziologie. Arbeitsfelder, Theorien, Ausbildung, (insbes. S. 62-104). Rowohlt: Reinbek. Hermann Korte & Bernhard Schäfers (Hrsg.) (1997): Einführung in Praxisfelder der Soziologie. (Mit Kurzdarstellungen der wichtigsten Speziellen Soziologien.) 2. Aufl. Leske + Budrich: Opladen. <?page no="39"?> 39 1.4.3 Funktionen soziologischer Erkenntnis Auf unsere Ausgangsfrage nach den Aufgaben und dem Nutzen der Soziologie zurückkehrend, lässt sich zusammenfassend sagen, dass verschiedene Soziologen in Nuancen, Akzentsetzungen, im Grad der Konkretheit sowie in Abhängigkeit von ihrem »strukturellen« Erkenntnisinteresse wohl unterschiedliche Antworten geben werden. Gemeinsam ist ihnen aber die Überzeugung, dass wir durch soziologisches Denken und Forschen bessere Einsichten in die mannigfaltigen Formen und Prozesse unseres zwischenmenschlichen Zusammenlebens erhalten werden, als uns dies durch bloße Alltagserfahrung je möglich sein wird. Bei der Durchsicht der einschlägigen soziologischen Literatur lassen sich hierbei quer zur Pluralität der verschiedenen Erkenntniszugänge verschiedene funktionale Wirkungen der Soziologie ausmachen: • Indem Soziologie versucht, die vorhandenen gesellschaftlichen Verhältnisse und Lebenslagen in ihrer Entstehung und Entwicklung, in ihrem Zusammenhang und in ihrer ideologischen Begründung sowie mit ihren Macht- und Herrschaftsansprüchen einsichtig und transparent zu machen, verfolgt sie zweifellos zunächst eine aufklärende und informierende Funktion. • Da sie darüber hinaus den Menschen helfen will, die Motive, Bedingungen und Folgen ihres Verhaltens und Handelns zu erkennen und sie über diese Einsichten dazu befähigen möchte, ihren Zielen entsprechend rational zu handeln, erfüllt sie auch eine diagnostische und pädagogische Funktion. • Daneben hat die Soziologie von Anfang an - wenn auch nicht in dem einleitend beschriebenen vulgären Missverständnis - immer auch eine kritische Funktion und eine prognostische Absicht begleitet. Als kritische Wissenschaft ist sie »verpflichtet auf das sapere aude, auf die Distanz gegenüber geltenden Werten und Institutionen« (Jonas 1981, 12). In diesem Sinne möchte sie anhand der Analyse der gesellschaftlichen Strukturen und der Bedingungen ihrer Verwirklichung ein kritisches Bewusstsein gegenüber dem Status quo erzeugen, bestimmte Missstände in herrschenden Zuständen aufzeigen und mög- <?page no="40"?> 40 lichst rationale Alternativen des sozialen Handelns entwerfen. Langfristiges Ziel dabei ist es, durch methodisch gesicherte Erklärungen zu versuchen, hinsichtlich künftig zu erwartender oder auch bewusst angestrebter Veränderungen sozialer Bedingungszusammenhänge Prognosen über erwünschte oder unerwünschte gesellschaftliche Wirkungen beim Einsatz verschiedener Mittel aufzustellen. • Schließlich soll auch die potenziell gesellschaftlich affirmative Stabilisierungs- und Konservierungsfunktion von Soziologie nicht unterschlagen werden. Insbesondere in stark ideologisierten, fundamentalistischen und rationalen Zielen gegenüber nicht offenen Gesellschaften findet Soziologie - wenn sie überhaupt als wissenschaftliche Disziplin toleriert wird - oft nur insoweit Unterstützung und Entfaltung, als sie sich in der Analyse und Beschreibung auf das gesellschaftlich Bestehende beschränkt und die Interessen und Privilegien von herrschenden Gruppen durch unkritische Anwendung soziologischen Wissens zu unterstützen geneigt ist. In diesem Sinne kann Soziologie auch zur Zementierung der jeweils herrschenden Zustände missbraucht werden. Wenn die Soziologie - wie wahrscheinlich jede andere Denkrichtung auch - letztlich nicht gefeit ist gegen bestimmte ideologische Uminterpretationen und Missverständnisse im Sinne einer revolutionären Heilslehre oder einer letztlich nur noch vorgegebenen administrativen Zielen dienenden Hilfswissenschaft, so kann sie sich dennoch jenseits dieser extremen Positionen für alle, denen Wissenschaft nicht Selbstzweck bedeutet, sondern die von ihr einen praktischen Nutzen zum Wohle der Menschen erwarten, vor allem aus folgenden drei Gründen (Behrendt 1962, 17 f.) empfehlen: • Sie hilft, einzelne Erlebnisse und Beobachtungen nicht isoliert - und damit ohne Aussicht auf Verständnis ihrer Ursachen und Bedeutung - zu sehen, sondern sie als Teil umfassender gesellschaftlicher Strukturen, u. a. als Auswirkungen von Wertsystemen, Schichtungsordnungen und sozial-kulturellen Milieus interpretierend zu verstehen. <?page no="41"?> 41 • Sie hilft, die Relativität der Werte und Verhaltensweisen der eigenen Umwelt und Zeit zu erkennen und fördert damit die Fähigkeit - und zuweilen auch die Bereitschaft -, die Verhaltensweisen von Angehörigen anderer Sozialgebilde und Kulturkreise zu verstehen und sich einfühlend in ihre Lage zu versetzen. • Sie hilft, den dynamischen Charakter von Verhaltensweisen und Gesellschaftsstrukturen insbesondere in unserer Zeit verständlich zu machen und hiermit die Panik zu bekämpfen, die aus mangelndem Verständnis komplizierter und sich rasch wandelnder gesellschaftlicher Strukturen entspringt. So kann Soziologie die Wurzeln aufdecken, aus denen die Tagesereignisse entspringen und aus deren Kenntnis diese dann besser verstanden und gelassener bewältigt werden können. Zur vertiefenden und ergänzenden Lektüre Norbert Elias (2014): Was ist Soziologie? 12. Aufl. (Darin die »Einführung«, S. 11-35). Beltz Juventa: Weinheim, Basel. Joachim Fritz-Vannahme (Hrsg.) (1996): Wozu heute noch Soziologie? (= Beiträge der Wochenzeitung DIE ZEIT unter dem Serientitel »Der Streit um die Soziologie«). Leske + Budrich: Opladen. Anthony Giddens (2009): Soziologie. 3. Aufl. (Darin Kapitel 1 »Was ist Soziologie? «). Nausner: Graz, Wien. 1.5 Einige Vorväter und Begründer: Soziologie als Krisenwissenschaft 1.5.1 Die lange Vorgeschichte: Von der Antike über das Mittelalter und die Aufklärung bis zum Ende des 18. Jahrhunderts Gelegentlich mag der Eindruck entstehen, Soziologie sei eine hochmoderne, eher geschichtslose Wissenschaft, die sich weder um ihre eigene Geschichte noch um historische Prozesse viel kümmere. Tatsächlich lässt sich aber die Soziologie - zumindest <?page no="42"?> 42 in ihrer Vorgeschichte - zurückführen bis in die Antike und das Mittelalter. Schon Platon, Aristoteles, die Sophisten oder Thomas von Aquin haben sich mit elementaren Problemen des menschlichen Zusammenlebens kritisch auseinandergesetzt. Der österreichisch-britische Philosoph, Soziologe und Wissenschaftstheoretiker Karl Raimund Popper (1902-1994) etwa sieht (in seinem Buch »Die offene Gesellschaft und ihre Feinde«) »Platons Größe als Soziologe in der Fülle und der Detailliertheit seiner Beobachtungen sowie in der erstaunenswerten Schärfe seiner soziologischen Intuition. Er sah Dinge, die man vor ihm nicht gesehen hatte und die erst in unserer Zeit wieder entdeckt worden sind.« (Popper 1975, I, 68). Wie »modern« Platon (427-347 v. Chr.) in seiner Staats- und Gesellschaftslehre in gewissem Sinne ist, lässt sich beispielsweise an der Wahl seiner Themen erkennen: »Dazu gehören die Prinzipien und Auswirkungen der Arbeitsteilung, die Gefahren des Privateigentums, der Zusammenhang zwischen Luxuskonsum und Expansion des Wirtschaftsraumes, die entfremdenden Folgen der Geldwirtschaft, die Entstehung von Ständen, die Geschichte der Gesellschaft als Geschichte von Standeskämpfen, die Spaltung von Eliten als Voraussetzung von Revolutionen« sowie die Einbindung dieser mehr theoretischen Überlegungen »in einen historischen Zusammenhang, der von der patriarchalischen Viehzüchterfamilie zur Sippenorganisation, [bis hin] zur Dorf- und Städtebildung mit monarchischer Verfassung und gesetztem Recht nach dem Muster eines Gesellschaftsvertrages reicht« (Rüegg 1969, 25). Ähnliche soziologische Perspektiven finden sich auch bereits bei den Sophisten, die die Gesellschaft ihres religiösen Nimbus und metaphysischen Schleiers zu entkleiden suchten und sie als Ergebnis menschlichen Handelns und sozialer Übereinkunft betrachteten. Auch Platons Schüler Aristoteles (384-322 v. Chr.), dessen Schrift »Politik« nach der Einschätzung des amerikanischen Soziologen Franklin H. Giddings (1855-1931) das bedeutendste Werk ist, das jemals die menschliche Gesellschaft behandelt hat, ist in dem Sinne bereits »modern«, als Aristoteles zur Grundlegung seiner sozialen und politischen Erkenntnisse zunächst auf die sozialphilosophisch üblichen, wertgeladenen Spekulationen <?page no="43"?> 43 verzichtete. Dafür sammelte er erst einmal umfangreiches empirisches Material und versuchte so in seinen Arbeiten bereits jenem Anspruch einer möglichst werturteilsfreien Erfahrungswissenschaft gerecht zu werden, der heute als fundamentale Voraussetzung für soziologisches Denken eingefordert wird. Denn »wer irgendeinen Zweig des Wissens wirklich wissenschaftlich behandeln und nicht bloß auf das Praktische sein Augenmerk richten will, dem kommt es zu, nichts zu übersehen oder unberührt zu lassen, sondern die Wahrheit über ein jedes zu Tage zu fördern« (Aristoteles, Politik, III, 5). Von Aristoteles stammt übrigens auch jene berühmte Aussage, die später u. a. auch von Thomas von Aquin (1225-1274) wieder aufgegriffen wurde: nämlich dass der Mensch ein soziales Wesen sei (»ánthropos zóon politikón«, Politik, I, 2) - eine Kurzformel, in der im Grunde genommen bereits das spätere Forschungsprogramm der Soziologie enthalten ist, wenn auch ein noch sehr weiter Weg zur Soziologie als einer eigenständigen wissenschaftlichen Disziplin blieb. Denn »trotz der überragenden Leistungen des Aristoteles vermochten die Griechen nicht zur Soziologie als einer spezifischen Wissensdisziplin vorzudringen, da ihnen das Vermögen fehlte, zwischen Staat und Gesellschaft deutlich zu unterscheiden, so dass sie die sozialen Beziehungen niemals völlig unabhängig von ihren politischen Aspekten betrachteten, ja im Zweifelsfall dem politischen Aspekt stets Priorität vor dem sozialen einräumten« (Eisermann 1973, 4). Das Mittelalter führte auf diesem Weg nicht weiter. Die starke Bindung an Autoritäten sowie das vorherrschende Interesse am »Wesen der Dinge«, d. h. an der »richtigen Ordnung« der zwischenmenschlichen Beziehungen in einer »vollkommenen Gesellschaft« (»societas perfecta«, Thomas von Aquin) standen einer strikt erfahrungswissenschaftlichen und undogmatischen Auffassung von Gesellschaft im Wege. Relativ isoliert und ohne unmittelbaren Einfluss auf die Soziologie blieb auch der Berber Ibn Chaldun (1333-1406), der - in heute erstaunlicher Aktualität - in seinen Auseinandersetzungen mit der arabisch-islamischen Orthodoxie und ihrem Fundamentalismus die mittelalterlichen Fesseln der unbedingten Autoritäts- <?page no="44"?> 44 gläubigkeit zerbrach und methodisch über die Beobachtung und rationale Analyse des menschlichen Zusammenlebens vielleicht als Erster die menschliche Gesellschaft zum Gegenstand einer eigenen Wissenschaft zu machen versuchte. Nicht umsonst knüpfen an ihn einige spätere soziologische Denker des 19. Jahrhunderts wie Frédéric Le Play, Karl Marx, Ludwig Gumplowicz und Franz Oppenheimer wieder an. Als weiterer Vorvater der Soziologie kann sicher auch der Florentiner Niccolò Machiavelli (1469-1527) gelten, der sich zu Beginn der italienischen Renaissance gegen jeglichen scholas tischtheologischen Dogmatismus wandte und die sozialen Gleichförmigkeiten in Geschichte, Gesellschaft und Politik einer rein auf Erfahrung und Beobachtung beruhenden empirischen Analyse zu unterziehen suchte. Insbesondere in seiner 1532 erschienenen Schrift »Über den Fürsten« (Il Principe) stellt er nachdrücklich fest, dass die Menschen betrachtet werden müssten, wie sie sind und nicht, wie sie nach bestimmten Glaubenssätzen zu sein hätten. In seinem konsequenten Realismus verfocht er die These, dass das soziale Handeln des Menschen aus seinen Antrieben heraus verstanden werden müsse. Hierzu lieferte er im Principe bereits eine klassische sozialpsychologische Studie über die Ursachen und Effekte verschiedener Motivstrukturen auf die zwischenmenschlichen Beziehungen. Außerdem begründete er mit dieser Schrift eine Klassifikation politischer Herrschaft und legte eine bis heute häufig zitierte Liste bestimmter moralischer Eigenschaften des Regierenden und seiner Macht- und Herrschaftstechniken im Hinblick auf eine möglichst effiziente Ordnung und Zielerreichung vor. Seitdem sind allerdings auch der Begriff des Machiavellismus und die damit verbundene Vorstellung einer skrupellosen Politik immer wieder Gegenstand macht- und herrschaftstheoretischer Diskussionen. Die eigentliche zusammenhängende Vorgeschichte der Soziologie beginnt jedoch wohl erst mit der Krise des absolutistischen Staates, jener »crise de la conscience européenne« (Hazard 1935), die die Gesellschaftslehre der Aufklärung hervorbrachte und zur Trennung von Staat und Gesellschaft führte. Neben vielen, in erster Linie philosophisch orientierten Beiträgen zur Gesellschaft <?page no="45"?> 45 und Politik ihrer Zeit (vgl. hierzu Jonas 1981, 12 ff.) werden jetzt für die erwachende Soziologie insbesondere jene Arbeiten begründend, die die Gesellschaft aus dem globalen philosophischen und theologischen Problembezug lösen und die bislang selbstverständliche Geltung von tradierten Werten und Institutionen in Frage stellen. Hierzu zählen z. B. in England die staatspolitischen Schriften von Thomas Hobbes (1588-1679), insbesondere dessen Abhandlung »Leviathan« von 1651, sodann die Vertreter eines empirischen Skeptizismus wie John Locke (1632-1704) und David Hume (1711-1776) sowie die Theoretiker der sogenannten Schottischen Schule Adam Smith (1723-1790), Adam Ferguson (1723-1816) und John Millar (1735-1801). In Frankreich wird diese Entwicklung vor allem von Montesquieu (1689-1755) vorangetrieben, der seine zeitgenössische Gesellschaft einer beißend-ironischen Kritik unterzog und im Anschluss daran eine historisch-analytische Theorie des sozialen Wandels entwarf. In ähnlicher Weise profilieren sich nicht nur Jean-Jacques Rousseau (1712-1778) und der Marquis de Condorcet (1743-1794) als engagierte Kritiker einer moralisch verrotteten, feudalen Rokoko-Gesellschaft, sondern auch der zu den Frühsozialisten zählende Comte de Saint-Simon (1760-1825). Wichtige vorsoziologische Quellen sind beispielsweise nicht nur Rousseaus berühmt gewordene Abhandlung über den »Gesellschaftsvertrag« (Du contrat social, 1762), sondern auch seine Antwort auf die Preisfrage der Akademie von Dijon (»ob die Wiederherstellung der Wissenschaften und Künste zur Läuterung der Sitten beitrage«, 1750), in der der Autor nachhaltig und kompromisslos die von der Akademie gestellte Frage verneint und seine Auffassung insbesondere mit den Folgen der sozialen Ungleichheit begründet. Diesen Gedanken führt er dann in der Abhandlung »Über den Ursprung und die Grundlagen der Ungleichheit unter den Menschen« (1755) systematisch weiter, wobei er den folgenschweren Gedanken entwickelt, dass die Entstehung des Eigentums den eigentlichen Sündenfall des Menschengeschlechts bilde. Grundlegende Beiträge für eine spätere Theorie des menschlichen Handelns sowie eine differenzierte Theorie der bürgerlichen <?page no="46"?> 46 Gesellschaft und des Staates lieferten im damals allerdings »revolutionsabstinenten« Deutschland vor allem die großen Philosophen der Romantik bzw. des deutschen Idealismus wie Immanuel Kant (1724-1804), Johann Gottlieb Fichte (1762-1814), Friedrich Schleiermacher (1768-1835), Georg Wilhelm Friedrich Hegel (1770-1831) und Friedrich Wilhelm Schelling (1775- 1854). Auch ist in diesem Zusammenhang der Staatsrechtler Lorenz von Stein (1815-1890) zu nennen, der im deutschen Vormärz die ideologischen und politischen Positionen des in Bewegung geratenen Bürgertums zu klären versuchte. Sie und viele andere bedeutende Denker dieser Epoche wurden aufgrund bereits spürbarer tief greifender Veränderungen dazu angeregt, die Gesellschaft ihrer Zeit mit neuen Augen zu sehen: • An Stelle der traditionellen Agrarwirtschaft, die vor allem auf Selbstversorgung ihrer Angehörigen angelegt war (marktunabhängige Subsistenzwirtschaft), trat in immer stärkerem Maße die Produktion von Waren, die man auf dem Markt gewinnbringend verkaufen konnte. Naturwissenschaftliche Entdeckungen und entsprechende technische Erfindungen und Entwicklungen verstärkten diesen Prozess. • Für Autoren, die den Beginn der Industrialisierung aus eigener Anschauung und Erfahrung miterlebten, wird die fortschreitende Arbeitsteilung und Arbeitszerlegung in den Manufakturen und Fabriken und die damit einhergehende berufliche Spezialisierung zu einem besonders auffälligen Vorgang, der die zwischenmenschlichen Beziehungen wie die gesamtgesellschaftlichen Strukturen entscheidend verändert. • Die feste Verankerung der Menschen in den sozialen Gruppen und Gemeinschaften, in die sie hineingeboren wurden, begann sich zu lockern. Nicht mehr die Herkunft und Abstammung, sondern das unterschiedliche Maß an Eigentum wurde zunehmend als die große Quelle der Distinktion zwischen den Menschen erkannt. Folglich wurden auch die herkömmlichen Überlieferungen, traditionellen Symbole und Sitten einer ständischen Gesellschaft längst nicht mehr von allen als selbstverständlich und unveränderbar begriffen. <?page no="47"?> 47 • Insbesondere das aufsteigende Bürgertum rüttelt jetzt an der jahrhundertelang unangefochtenen Herrschaft des Adels und beginnt, seine eigenen Interessen zu artikulieren. Es postuliert in seiner neuen Philosophie ein in erster Linie rational handelndes Individuum, das - dem gesamtgesellschaftlichen Fortschritt entsprechend - von feudal-klerikalen Bevormundungen und berufsständischen Bindungen sowie von ideologischen Einengungen und Einschränkungen vitaler Bedürfnisse befreit sein sollte. • Neue gesellschaftliche und politische Ordnungen werden diskutiert und in zunehmendem Maße auch praktisch ausprobiert, - in England bereits im 17. Jahrhundert in pragmatischen Kompromissen zwischen dem Adel und dem selbstbewussten Bürgertum, in Frankreich erst später im Zusammenhang mit der Französischen Revolution und den damit verbundenen sozialen und politischen Erfahrungen von Revolution und Kaiserreich. Zusammenfassend lässt sich jedoch festhalten, dass die »stillere« industrielle Revolution insgesamt tiefer greifende und andauerndere Umwälzungen im sozialen Alltag bewirkte als die diversen politischen Veränderungen und spektakulär lärmenden Revolutionsakte in dieser Zeit. Zur vertiefenden und ergänzenden Lektüre Friedrich Jonas (1981): Geschichte der Soziologie I. Aufklärung, Liberalismus, Idealismus, Sozialismus, Übergang zur industriellen Gesellschaft (mit Quellentexten). (Darin exemplarisch Jean-Jacques Rousseau, »Vom Gesellschaftsvertrag oder den Prinzipien des politischen Rechts«, S. 355-363.) 2. Aufl. Westdt. Verlag: Opladen. Hermann Korte (2011): Einführung in die Geschichte der Soziologie. (Darin Kapitel 1 »Von den Anfängen der Soziologie: Hoffnung auf eine neue Welt«, S. 11-26.) 9. Aufl. VS: Wiesbaden. Gerhard Möbius (1964): Die Politischen Theorien von der Antike bis zur Renaissance. 2. Aufl. Westdt. Verlag: Opladen <?page no="48"?> 48 1.5.2 Die Großväter der Soziologie: Soziologie als Fortschrittstheorie und Universalwissenschaft im 19. Jahrhundert Eine präzise Aussage, wer denn nun eigentlich als Begründer der Soziologie zu gelten habe, lässt sich kaum machen. Sicherlich sind die - als eigentliche founding fathers oder »Großväter« der Soziologie im Sinne einer Universalwissenschaft - immer wieder genannten Autoren des 19. Jahrhunderts wie Auguste Comte Herbert Spencer oder Karl Marx ohne die Vorarbeiten der Aufklärung sowie der verschiedenen Varianten der Vertragstheorie (Hobbes, Locke, Rousseau) oder der Vordenker eines (auch revolutionären) sozialen Wandels nicht denkbar. 1.5.2.1 Auguste Comte Das Hauptanliegen von Auguste Comte (1798-1857), auf den, wie wir schon gesehen haben, der Begriff Soziologie ja zurückgeht (vgl. Abschnitt 1.3.2), war der wissenschaftliche Entwurf einer für seine Zeit passenden sozialen und politischen Ordnung. Aus einem sozialreformerischen Elan heraus suchte er, wie andere vor und nach ihm, nach den Gesetzmäßigkeiten der Menschheitsentwicklung, um störende Einflüsse auf den »sozialen Organismus« auszuschalten, bei unvermeidlichen Krisen »weise zu intervenieren« (»savoir pour prévoir, et prévoir pour prévenir«) und den »naturgeschichtlichen Entwicklungen« der Gesellschaft zum Durchbruch zu verhelfen (vgl. hierzu A. Comte, Rede über den Geist des Positivismus, in Jonas, I, 1981, 419 ff.). Als erklärter Gegner jeglicher Metaphysik waren für ihn Fragen nach dem Sein oder Spekulationen nach Sinn- und Zweckzusammenhängen der Geschichte müßig. Vielmehr stellte sich für ihn die Geschichte der Menschheit als eine lineare Entwicklung des Verstandes dar, die nach festen Gesetzen abläuft. In Weiterführung entsprechender Ansätze seiner Landsleute Turgot, Condorcet und vor allem Saint-Simon entwarf er ein geschichtsphilosophisches Schema als Grundlage seiner wissen- <?page no="49"?> 49 schaftlichen Perspektive, das sogenannte Dreistadiengesetz: Nach Überwindung einer vorausgegangenen theologischen und metaphysischen Epoche folge jetzt ein »positives« Zeitalter, das von der Soziologie als der neuen Königin aller Wissenschaften bestimmt werde. Diese »positivistische« Aufklärung verband Comte mit einer Heilslehre der Vernunft, in der der Soziologie gleichfalls die entscheidende Rolle zugedacht war. Ähnlich der in den aufblühenden Naturwissenschaften angewandten und erstaunlich erfolgreichen Methoden sollten auch auf die sozialen Organisationen rationale Denkweisen und Verfahren angewandt werden, um zu ähnlich »positiven« Resultaten zu gelangen. Mit anderen Worten: Die »positive« Soziologie sollte - wie Comte sich ausdrückte - nur über die sorgfältige Beobachtung und Beschreibung sinnlich wahrnehmbarer Tatbestände in der gesellschaftlichen Wirklichkeit, d. h. über erfahrbare, sogenannte »objektive Tatbestände«, zu »allgemeingültigen sozialen Gesetzmäßigkeiten und Ordnungen« gelangen. Von den so gewonnenen Einsichten versprach er sich - ähnlich der technischen Verwertung naturwissenschaftlicher Erkenntnisse - wichtige Hinweise für eine stabilere Neugestaltung und praktisch-politische Steuerung von Gesellschaften im Sinne einer modernen Sozialtechnik, die letztlich allen ein Höchstmaß an Glück und Zufriedenheit eröffnen könne. Zur vertiefenden und ergänzenden Lektüre Raymond Aron (1979): Hauptströmungen des soziologischen Denkens. 1. Band. (Darin »Auguste Comte«, S. 71-130). Kiepenheuer & Witsch: Köln. Raymond Boudon & François Bourricaud (1992): Soziologische Stichworte. Ein Handbuch. (Darin »Auguste Comte«, S. 62-66). Westdt. Verlag: Opladen. Auguste Comte (1981): Rede über den Geist des Positivismus. In Friedrich Jonas, Geschichte der Soziologie. (Band I: Aufklärung, Liberalismus, Idealismus, Sozialismus, Übergang zur industriellen Gesellschaft, mit Quellentexten). 2. Aufl., S. 419-433. Westdt. Verlag: Opladen. Hermann Korte (2011): Einführung in die Geschichte der Soziologie (Darin »Der ›erste‹ Soziologe: August Comte«, S. 27-41). 9. Aufl. VS: Wiesbaden. <?page no="50"?> 50 1.5.2.2 Herbert Spencer Auch Herbert Spencer (1820-1903), dessen berühmte dreibändige »Principles of Sociology« zwischen 1876 und 1896 entstanden und der gegen Ende des 19. Jahrhunderts schlechthin als der englische Soziologe galt (und zugleich den größten Einfluss auf die aufsteigende amerikanische Soziologie ausüben sollte) war überzeugt, einen Weg gefunden zu haben, der es ihm ermöglichte, die tiefgreifenden gesellschaftlichen Veränderungen seiner Zeit zu verstehen. Er ging davon aus, dass alle Formen des sozialen Lebens, die kleineren zwischenmenschlichen Verflechtungen wie die größeren sozialen Gruppen und Organisationen und erst recht das Ganze der Gesellschaft als soziale Organismen aufzufassen seien. Ebenso wie bei den individuellen Organismen von Menschen, Tieren oder Pflanzen liege auch den sozialen Organismen eine eigene Dynamik zugrunde. Hier wie dort bedeute dies »Wachstum« im Sinne der Vermehrung von Grundelementen oder Bausteinen (z. B. im gesellschaftlichen Bereich: Vermehrung der Bevölkerung), aber auch »Entwicklung« im Sinne einer natürlichen Evolution von niederen zu höheren, von einfachen zu komplexeren Gebilden (in der Gesellschaft: die vielfältigen Zusammenschlüsse kleinerer Einheiten zu größeren sozialen »Geweben« der verschiedensten Art, z. B. der Familien zur Verwandtschaft, der Verwandtschaften zu Sippen, der Sippen zu Stämmen, der Stämme zu Völkern, der Völker zu Staatengemeinschaften usw.). Schließlich: Wie es im Leben der natürlichen Organismen Steuerungsprogramme gebe, die das Zusammenwirken der einzelnen Elemente und Teile regulieren, so gebe es auch in der Gesellschaft Regulierungen, die dafür sorgten, dass der soziale Organismus überdauere und arbeitsteilige Differenzierungen auf wirtschaftlichem und gesellschaftlichem Gebiet durch Prozesse der Verflechtung und Integration wieder aufgefangen würden. Spencer fasst dies in seiner universalen Weltformel zusammen: »Vom Aggregat zum System« und versteht Soziologie als Studium der Evolution. Daher war er davon überzeugt, dass die beobachtbaren Veränderungen im gesellschaftlichen und politischen Bereich insgesamt als Fortschritt anzusehen seien und letztlich auf eine vollkomme- <?page no="51"?> 51 nere und bessere Welt von freien und verantwortungsvollen Individuen hinausliefen. Zwar ließen sich diese evolutionären Vorgänge gedanklich erfassen und unterstützend steuern, doch als Anhänger des Darwinismus hielt es Spencer für eher störend bzw. für weitgehend zwecklos, in die mit jedem Fortschritt im Bereich des Lebens verbundenen Prozesse der natürlichen Auslese (Darwin: »survival of the fittest«) etwa durch sozialpolitische Aktivitäten (z. B. durch Unterstützungsprogramme für Behinderte, Kranke, Bildungsschwache, Arme, Obdachlose usw.) einzugreifen. Im Gegenteil: Je weniger politische Regulierung und Kontrolle, desto besser. Der gesellschaftliche Organismus bzw. das soziale System sei auch dank der »überragenden Weisheit der Natur« ohne Herrschaft und Zwang denkbar, ja eine liberale Anarchie als Idealzustand sogar wünschenswert. Zur vertiefenden und ergänzenden Lektüre Raymond Boudon & François Bourricaud (1992): Soziologische Stichworte. Ein Handbuch, (Darin »Herbert Spencer«, S. 532-540). Westdt. Verlag: Opladen. Ralf Dahrendorf & Colin Crouch (1980): Herbert Spencer. In Wilhelm Bernsdorf & Horst Knospe (Hrsg.), Internationales Soziologenlexikon. Band 1, S. 406-408. Enke: Stuttgart. Michael Kunczik (1999): Herbert Spencer. In Dirk Kaesler (Hrsg.), Klassiker der Soziologie. Bd. 1, S. 74-93. Beck: München. Herbert Spencer (1981): »Die Prinzipien der Soziologie« (The Principles of Sociology). In Friedrich Jonas, Geschichte der Soziologie. (Band I: Aufklärung, Liberalismus, Idealismus, Sozialismus, Übergang zur industriellen Gesellschaft, mit Quellentexten). 2. Aufl., S. 441-444. Westdt. Verlag: Opladen. 1.5.2.3 Karl Marx Selbst ein kursorischer Überblick über die Soziologiegeschichte kann Karl Marx (1818-1883) als Soziologen nicht unerwähnt lassen. Dabei liegt die Bedeutung von Marx weniger im Gehalt seiner soziologischen (und ökonomischen) Theorien begründet, als vielmehr in deren faktischen Wirkungen auf die soziale und <?page no="52"?> 52 politische Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts und in der Faszination, die der Marxismus auf Generationen von Gelehrten und Sozialreformern ausübte. Dies ist wohl nicht zuletzt dadurch erklärbar, dass es nicht ganz einfach ist, den Soziologen Karl Marx von Karl Marx als dem spekulativen Philosophen und rigorosen Moralisten sowie dem sozialistischen Agitator und Propheten der Revolution zu lösen. Wie jeder Denker übernahm auch Marx Vorstellungen anderer und deutete sie, seinen Prämissen folgend, entsprechend um. So entlehnte er von dem Philosophen des deutschen Idealismus Georg Wilhelm Friedrich Hegel das geschichtsphilosophische Konzept, übernahm von dem Staatsrechtler Lorenz von Stein den Klassenbegriff und die Vorstellung der Geschichte als eine Abfolge von Klassenkämpfen und gewann seine volkswirtschaftlichen Überlegungen in Auseinandersetzung mit den Erkenntnissen des englischen Nationalökonomen David Ricardo. Von den Positivisten seiner Zeit unterschied sich Marx dadurch, dass er durchaus noch Sinnfragen stellt und folglich seinen soziologischen Ansatz offen in sein philosophisches System einbettet. Andererseits glaubt er wie sie und die Aufklärer des 18. Jahrhunderts noch fest an eine stetige Entwicklung der Geschichte im Sinne eines linearen Fortschritts. Von den aufstrebenden Naturwissenschaften und ihren Erfolgen ebenso fasziniert wie Auguste Comte und andere Denker seiner Zeit suchte auch er nach ähnlichen Gesetzmäßigkeiten in den historischen Abläufen, um die Wandlungen der Gesellschaftsstruktur durch Ursachen-Wirkungs-Zusammenhänge erklären und künftige Entwicklungen sicher prognostizieren zu können. In seiner - in Zusammenarbeit mit seinem Freund Friedrich Engels (1820-1895) entwickelten - Theorie des »historischen Materialismus« stellt er das Gedankengebäude Hegels »auf den Kopf« und wählt als analytische Basis die »materiellen« Bedingungen des Lebens. Danach sind die jeweiligen religiösen, ideologischen und politischen Strukturen einer Gesellschaft nur von der Struktur ihrer Basis, d. h. von den Strukturen der materiellen Produktion her einsichtig zu machen und zu verstehen. In anderen Worten: Nicht das Bewusstsein der Menschen prägt ihr Sein, <?page no="53"?> 53 sondern umgekehrt bestimmt ihr gesellschaftliches Sein ihr Bewusstsein. Marx’ Ziel ist von daher die Anbahnung eines permanenten Entideologisierungs- und Selbstaufklärungsprozesses der Gesellschaft. Marx bleibt jedoch nicht bei der bloßen Ideologiekritik stehen, sondern geht noch einen Schritt weiter zur revolutionären Praxis. Demnach ist die Entwicklung der Gesellschaft bestimmt durch einen dialektischen, d. h. in Widersprüchen sich vollziehenden Prozess, der durch ökonomische Faktoren ausgelöst und in seinem Fortgang bestimmt wird: »Diese wirtschaftlichen Faktoren sind die Produktionsmittel und die Produktionsformen, die zu den Mitteln gehören. Jedes System wirtschaftlicher Produktion ist zunächst einmal ›richtig‹ für die Produktionsmittel einer bestimmten Zeit und eines bestimmten Ortes und schafft sich seine soziale Ordnung und seinen ganzen ›Überbau‹ von Politik, Recht, Kunst, Wissenschaft, Religion und Philosophie samt dem Selbstverständnis, den Regeln und Sitten der Bevölkerung. Es ist eine ›These‹. Doch schon erscheint die ›Antithese‹ in Gestalt technischen Fortschritts und neuer, besserer Produktionsmittel. Die alten Produktionsformen und die alte soziale Ordnung hindern die Entwicklung der neuen, bis diese stark genug geworden sind, durch eine soziale Revolution die neuen Produktionsmittel einzuführen - und damit eine neue Ordnung wirtschaftlicher Produktion und eine neue soziale Ordnung. Dies ist dann die ›Synthese‹, die im Laufe der weiteren Entwicklung zur ›These‹ wird« (Seger 1970, 40). Die Auseinandersetzung zwischen den alten und den neuen Produktionsmitteln wird auf der gesellschaftlichen Ebene im Klassenkampf abgebildet. Die neuen Mittel werden jeweils durch die neu aufgestiegene Klasse vertreten: »Die Handmühle ergibt eine Gesellschaft mit Feudalherren, die Dampfmühle eine Gesellschaft mit industriellen Kapitalisten« (Marx). Entsprechend formuliert Marx das allgemeine »ökonomische Bewegungsgesetz« für sozialen Wandel: »Die Geschichte aller bisherigen Gesellschaft ist die Geschichte von Klassenkämpfen«. Auf die Epoche der Sklaverei folge die der Fronarbeit im Feudalismus und schließlich die Gesellschaftsformation der kapitalistischen Produktionsweise. <?page no="54"?> 54 Für Marx’ Diagnose seiner Zeit bedeutete dies, dass die bürgerliche Gesellschaft, die »Bourgeoisie« wie er sie voller Verachtung nannte, mit ihrer kapitalistischen Produktion und der Erzeugung eines falschen Bewusstseins die »These« präsentierte, die proletarischen Arbeiter dagegen als »Antithese« die zukünftigen sozialistischen Gesellschaftsformen verhießen. Der soziale Antagonismus zwischen der durch Zentralisation und Konzentration des Kapitals immer kleiner werdenden Klasse der Kapitalisten und der proportional immer größer werdenden Klasse der immer mehr verelendenden Proletarier polarisiere sich schließlich so, dass nur noch die proletarische Revolution die »Synthese« bringen könne: Das Proletariat übernimmt durch die »Expropriation der Expropriateure« revolutionär die Produktionsmittel, eliminiert die Bourgeoisie und verwirklicht schließlich als letzte der in der Weltgeschichte auftretenden sozialen Klassen die »klassenlose Gesellschaft«. In dieser letztlich »kommunistischen Gesellschaft« wird es nach Marx dann keine Spannungen, keine Klassenbildung und auch keine weiteren Revolutionen mehr geben, da sich diese Gesellschaftsstruktur ständig mit den wechselnden Produktivkräften verändere. Erst dort könne sich das Individuum frei von materiellen und geistigen Zwängen entfalten. Unter der Annahme, der Mensch verhalte sich ebenso berechenbar wie Elemente in der Natur, war Marx davon überzeugt, der historische Ablauf sei ebenso determiniert wie natürliche Vorgänge, für freie menschliche Entscheidung bleibe deshalb wenig Raum. Von daher war er sicher, den naturgesetzlich festliegenden Ablauf der Geschichte erkannt zu haben, d. h. das Bestimmungsziel aller gesellschaftlichen Prozesse vorhersagen zu können. Wir wissen heute, dass die Voraussagen von Marx großteils und gerade in entscheidenden Punkten falsch waren und nicht eingetroffen sind, und zwar nicht nur seine utopischen Prophezeiungen, sondern auch seine kurzfristigen wirtschaftlichen Prognosen. Dennoch liegt die Bedeutung von Marx auch noch für die heutige Soziologie vor allem darin, dass er Fragen aufgeworfen hat, die grundsätzlich immer wieder neu zu stellen und zu untersuchen sind, nämlich: <?page no="55"?> 55 • Inwieweit wirkt sich der gesellschaftliche Standort (= die Klassenlage in der Terminologie von Marx) auf die Art und Struktur des Denkens aus? Kann das Auftreten oder Fehlen bestimmter geistiger Ideen aus gesellschaftlichen Umständen erklärt werden? • Welchen Einfluss nehmen ökonomische Faktoren auf das übrige soziale Geschehen und welche Wechselwirkungen bestehen zwischen Wirtschaft und Gesellschaft bzw. Politik? • Welche Funktionen haben soziale Konflikte in der Gesellschaft? Welche Verlaufsformen entwickeln sie? Wie werden Gesellschaften zusammengehalten, wenn ihre Teile in dauerndem Konflikt miteinander stehen? Zur vertiefenden und ergänzenden Lektüre Raymond Boudon & François Bourricaud (1992): Soziologische Stichworte. Ein Handbuch. (Darin »Karl Marx«, S. 309-316). Westdt. Verlag: Opladen. Iring Fetscher (1985): Karl Marx und der Marxismus. Von der Ökonomiekritik zur Weltanschauung. (Darin insbes. S. 16-43). 4. Aufl. Piper: München. Karl Marx & Friedrich Engels (1981): Manifest der Kommunistischen Partei I. Bourgeois und Proletarier. In Friedrich Jonas, Geschichte der Soziologie. (Band I: Aufklärung, Liberalismus, Idealismus, Sozialismus, Übergang zur industriellen Gesellschaft, mit Quellentexten). 2. Aufl., S. 401-408. Westdt. Verlag: Opladen. Oskar Negt (2007): Karl Marx. In Dirk Kaesler & Ludgera Vogt (Hrsg.), Hauptwerke der Soziologie. S. 273-293. 2. Aufl. Kröner: Stuttgart. Karl R. Popper (2003): Die offene Gesellschaft und ihre Feinde. Band 2: Falsche Propheten. Hegel, Marx und die Folgen. 8. Aufl. Mohr (Siebeck): Tübingen. * Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die Unterschiede in den Problemstellungen und in den Antwortversuchen bei den Begründern und »Großvätern« der Soziologie im 19. Jahrhundert - exemplarisch dargestellt anhand der soziologischen Perspektiven von Comte, Spencer und Marx - noch sehr viel größer sind als in <?page no="56"?> 56 der heutigen Soziologie. Unsere etwas saloppe, jedoch nicht respektlos gemeinte Bezeichnung »Großväter der Soziologie« bezieht sich daher eher auf die Gemeinsamkeit des Alters als die der intellektuellen Tradition. Andererseits gibt es aber auch Gemeinsamkeiten, die diese Gründungsphase der Soziologie charakterisieren. Sie sind vor allem in der gemeinsamen Suche nach den Grundlagen des sozialen Wandels, insbesondere nach den Hauptfaktoren der krisenhaften Veränderungsprozesse von der vorindustriellen zur industriellen Gesellschaft zu erkennen. Diese Suche nach der Idee der »natürlichen« Gesetzmäßigkeit aller gesellschaftlichen Dynamik wurde zum typischen Merkmal für die Makrosoziologie des 19. Jahrhunderts. Soziologie wurde hierbei je nach Akzent als universale Wissenschaft vom gesamtgesellschaftlichen Wandel verstanden. Ihren Ausdruck fand sie dann in den Varianten einer linearen Fortschrittstheorie oder auch eines evolutionären Fortschrittsglaubens. Denn soviel auch Comte, Spencer oder Marx von »positiven«, »wissenschaftlichen« oder »materialistischen« (was übrigens Marx synonym mit »empirisch« verstanden wissen wollte) Tatsachen sprachen, so war ihre neue Wissenschaft doch vom Ausgangspunkt und vom Ziel her - offen oder versteckt - eher eine Gesellschaftsphilosophie als eine objektive sozialwissenschaftliche Analyse. So sieht man - trotz unstreitig bedeutender Einsichten und Beiträge der soziologischen »Großväter« - viele ihrer Aussagen und Folgerungen als zu einseitige Spekulationen an, »weil sie sich entweder zu stark auf Abstraktion stützen oder irgendwelche natürlichen Charakteristika oder auffallenden Formen in den Vordergrund stellen und alle Beobachtungen diesen Vorstellungen unterordnen« (Barley 1978, 3). Zur vertiefenden und ergänzenden Lektüre Helmut Klages (1972): Geschichte der Soziologie (Darin 4. Kapitel »Europäische Soziologie im 19. Jahrhundert seit der industriellen Revolution«, S. 65-94).. 2. Aufl. Juventa: München. Volker Kruse (2012): Geschichte der Soziologie. (Darin Kapitel 2 »Soziologie im 19. Jahrhundert: Comte, Spencer, Marx«, S. 29-73). 2. Aufl. UVK: Konstanz. <?page no="57"?> 57 1.5.3 Soziologie als Erfahrungswissenschaft: Die Klassiker zu Beginn des 20. Jahrhunderts War es das große Verdienst der soziologischen Gründungsväter, die beobachtbare soziale Wirklichkeit als das eigentliche Feld des soziologischen Forschens bestimmt zu haben, so war es einer neuen Generation von Sozialwissenschaftlern vorbehalten, die Dimensionen und Grenzen dieses Feldes auf erfahrungswissenschaftlicher Grundlage inhaltlich und methodisch präziser zu bestimmen. Diese gemeinhin als »Klassik der Soziologie« bezeichnete Epoche begann mit dem Ende des 19. Jahrhunderts und ging schon in den Zwanzigerjahren des letzten Jahrhunderts zu Ende. Dies hing zusammen mit dem Ausbruch des 1. Weltkriegs und den unglücklichen Folgen nationaler Isolierungen sowie mit der bei allen akademischen Disziplinen üblichen Herausbildung von meist an bestimmten Denktraditionen bzw. deren Protagonisten orientierten wissenschaftlichen »Schulen«, die sich auf verschiedene Theorien oder methodische Positionen versteiften und sich auch teilweise (bis heute noch) entschieden »bekämpften«. Als wichtigste Vertreter der klassischen Periode der Soziologiegeschichte sind hier - zumindest im europäischen Raum - vor allem zu nennen: • Max Weber (1864-1920), • Georg Simmel (1858-1918), • Vilfredo Pareto (1848-1923) und • Emile Durkheim (1858-1917). Überblickt man das Lebenswerk dieser soziologischen Klassiker am Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts, so ist kennzeichnend, dass diese Autoren zunehmend klarere Vorstellungen über die tatsächlichen theoretischen und methodischen Schwierigkeiten gewannen, die komplizierten Verwicklungen und Verflechtungen innerhalb sozialer Gruppen oder gar ganzer Gesellschaften zu entwirren, sich aber dennoch ohne Illusionen auf dieses gewagte Forschungsabenteuer einließen. In ihrer Zeit entstand die Soziologie als eine echte Wissenschaft von der Gesellschaft, konzipiert als Erfahrungswissenschaft, die auf Beobach- <?page no="58"?> 58 tung, systematischem Vergleich und Experiment aufbaut. Wenn auch die Soziologie damals noch kaum als eigenständiges Fach an den Universitäten gelehrt wird, sondern meist in Verbindung mit Nationalökonomie, Staatswissenschaften oder Pädagogik in Erscheinung tritt, so wird mit dieser »klassischen« Periode doch die allmähliche universitäre Verortung und Institutionalisierung der Soziologie zumindest vorbereitet. Für ihre Vertreter bedeutete dies u. a., dass sie nicht mehr wie die früheren soziologischen Denker »sich als freie Schriftsteller und Privatgelehrte allein gegen die ganze Welt stellen mussten« (Seger 1970, 58), sondern in ihrer Forschung und Lehre auch einen gewissen akademischen Rückhalt fanden. Und noch etwas wird für die Soziologen dieser Generation charakteristisch: Sie wenden sich nicht nur den notwendigen erkenntnistheoretischen und methodologischen Problemen zu, sondern sie befassen sich auch sehr eingehend mit den aktuellen sozialen Fragen ihrer Zeit: z. B. mit dem Problem der Armut (Simmel), der sozialen Lage der Landarbeiter, den Produktionsbedingungen in den Webereien oder auch - grundsätzlicher - mit dem Zusammenhang zwischen protestantischer Religion und kapitalistischer Wirtschaftsgesinnung (Weber), mit der Rolle der Eliten in der Gesellschaft (Pareto) oder etwa mit möglichen sozialen Einflüssen auf die Selbstmordraten (Durkheim). Diese Autoren beschränkten sich jetzt darauf, konkrete Aussagen über die soziale Wirklichkeit zu machen und wandten sich somit der Erforschung des sozialen Alltags zu, statt von irgendeinem fiktiven Punkt aus allumfassende Theorien über gesellschaftliche Strukturen und Entwicklungen zu wagen und nicht minder vage Prognosen in eine ferne Zukunft zu formulieren. Dadurch gewann der Einzelne nicht als »reines« Individuum (denn dies ist ja der Forschungsgegenstand der Psychologie), sondern in Verbindung mit anderen als sozial und kulturell geprägte Persönlichkeit, auch verstärkt soziologische Beachtung. Neben der Frage, was für die verschiedenartigen sozialen Gebilde, Gewebe und Verflechtungen konstitutiv wird - also der immer wieder neu gestellten Frage nach dem Rätsel des sozialen Zusammenhalts und seinen zwischenmenschlichen Variationen - erregte das <?page no="59"?> 59 besondere Interesse der Klassiker die Frage nach den wichtigsten Kennzeichen des sozialen Handelns des Menschen, gleichsam verstanden als kleinste soziale Einheit oder molekularer Baustein des Sozialen. 1.5.3.1 Max Weber Für Max Weber ist das soziale Handeln des Individuums deutlich und »subjektiv sinnvoll« auf einen anderen Menschen bezogen: ein Mensch, der einem anderen Menschen Hilfe suchend oder liebend begegnet; ein Mensch, der einen anderen übervorteilt oder an ihm feindselig seine Aggressionen abreagiert; ein Mensch, der einem anderen über die Ladentheke hinweg eine Ware verkauft oder ihn am Büroschalter berät; einer, der auf ein Podium steigt, sich den Hörern zuwendet und zu ihnen spricht oder einer, der sich an den dort befindlichen Flügel setzt und dem versammelten Publikum Beethovens »Pathétique« interpretiert. Aber: »Nicht jede Art von Berührung von Menschen ist sozialen Charakters, sondern nur ein sinnhaft am Verhalten des anderen orientiertes eigenes Verhalten. Ein Zusammenprall zweier Radfahrer z. B. ist ein bloßes Ereignis wie ein Naturgeschehen. Wohl aber wären ihr Versuch, dem anderen auszuweichen, und die auf den Zusammenprall folgende Schimpferei, Prügelei oder friedliche Erörterung ›soziales Handeln‹« (Weber 1960, 19). Nach Weber, dessen Soziologie auch »Verstehende Soziologie« genannt wird, erfassen wir das soziale Handeln eines anderen, wenn wir es auf eigene seelische Erlebnisse und Erfahrungen beziehen. (Von daher wird Weber gelegentlich auch unter die »psychologistischen« Soziologen eingereiht, - eine Etikette, die seinem Gesamtwerk jedoch nicht gerecht wird.) Doch wenn dieses Verstehen auch mehr oder weniger »psychologisch« evident ist, ist es noch nicht unbedingt empirisch gültig. Die evidenteste Interpretation muss nicht zwangsläufig auch die richtige sein. Wahrscheinlichkeit und Wahrheit sind nicht notwendigerweise deckungsgleich. Indem Weber deshalb die geisteswissenschaftliche Methode des Verstehens mit der naturwissenschaftlichen Logik des Erklärens verknüpft, will er - einem Gedankengang <?page no="60"?> 60 Heinrich Rickerts folgend - die »Besonderheit« und »Objektivität« der Soziologie begründen (vgl. Bernsdorf 1980). Da es für die Soziologie leider kein unmittelbares Erfassen ihrer Gegenstände und auch keine Möglichkeit zur Bestimmung eindeutiger Ursache-Wirkungs-Zusammenhänge gibt, will Weber die Gültigkeit des Verstehens und Erklärens mit Hilfe des sogenannten »Idealtyps« überprüfen. Der Idealtyp ist bei ihm ein konstruierter Begriff, eine gedanklich zugespitzte, überprägnante Idee, die aus der Komplexität der Wirklichkeit einige konstitutiv erscheinende Faktoren als »rein« ausgeprägte hervorhebt, sie also im logischen (nicht unbedingt auch im moralischen) Sinne »ideal« erscheinen lässt, wobei störende und widersprüchliche Aspekte ignoriert werden. Beim Idealtyp handelt es sich also primär um einen heuristischen Begriff, der gewonnen wird »durch einseitige Steigerung eines oder einiger Gesichtspunkte und durch Zusammenschluß einer Fülle von diffus und diskret, hier mehr, dort weniger, stellenweise gar nicht vorhandenen Einzelerscheinungen, die sich jenen einseitig herausgehobenen Gesichtspunkten fügen, zu einem in sich einheitlichen Gedankengebilde« (Weber 1956, 235). Indessen sind die konstruktiven Begriffe der Soziologie für Weber nicht nur äußerlich, sondern auch innerlich idealtypisch, so dass das reale soziale Handeln in den meisten Fällen »in dumpfer Halbbewußtheit oder Unbewußtheit seines ›gemeinten Sinns‹« (Weber 1960, 18) verläuft. Die richtige ursächliche Erklärung eines konkreten Handelns bedeutet also, dass der äußere Ablauf und das zugrunde liegende innere Motiv in ihrem Zusammenhang sinnhaft verständlich erkannt werden. Hierfür entwickelt Weber folgende Typologie des sozialen Handelns: • beim zweckrationalen Handeln wird der eigene Zweck des handelnden Individuums gegenüber den Mitteln rein vernunftmäßig abgewogen; • beim wertrationalen Handeln wird der Handelnde motivisch von einem irrational gesetzten Wert bestimmt; • beim affektuellen Handeln sind Ziel und Verlauf des Handelns Ergebnisse augenblicklicher Gefühle und Stimmungslagen; <?page no="61"?> 61 • beim traditionalen Handeln schließlich beruht das Verhalten auf »eingelebten Gewohnheiten« und irrationalen Überlieferungen. Entsprechend wird bei Weber die Soziologie zu einer »Wissenschaft, welche soziales Handeln deutend verstehen und dadurch in seinem Ablauf und seinen Wirkungen ursächlich erklären will« (Weber 1960, 5). Zur vertiefenden und ergänzenden Lektüre Raymond Aron (1971): Hauptströmungen des soziologischen Denkens. 2. Band. (Darin »Max Weber«, S. 176-250). Kiepenheuer & Witsch: Köln. Hans Norbert Fügen (1992): Max Weber mit Selbstzeugnissen und Bilddokumenten. Rowohlt: Reinbek. Dirk Kaesler (1999): Max Weber. In Dirk Kaesler, Klassiker der Soziologie. Bd. 1, S. 190-212. Beck: München. Hermann Korte (2011): Einführung in die Geschichte der Soziologie. (Darin »Der Mythos von Heidelberg: Max Weber«, S. 97-116). 9. Aufl. VS: Wiesbaden. Volker Kruse (2012): Geschichte der Soziologie. (Darin Kapitel 3.5 »Max Weber«, S. 138-163). 2. Aufl. UVK: Konstanz. 1.5.3.2 Georg Simmel Auch in Georg Simmels theoretischem Ansatz stehen im Mittelpunkt des soziologischen Interesses die Prozesse des sozialen Handelns. Soziales Handeln verbindet die Individuen in typischer Weise untereinander und erzeugt wechselseitige Beziehungen, die zu unterschiedlichen sozialen Gebilden kristallisieren können. Hierbei vermischt Simmel bewusst die »subjektive« mit der »objektiven« Bedeutung von sozialen Handlungen und sucht vorrangig nach »Typen« oder »Klassen« von Beziehungsformen, unabhängig davon, welche Bedeutung die handelnden Menschen diesen zeitlosen »Formen der Vergesellschaftung« beimessen. Gleich, was die Menschen miteinander verbindet oder was sie voneinander abstößt, wie sie sich aufeinander einstellen, sich miteinander einlassen, aufeinander zugehen oder miteinander strei- <?page no="62"?> 62 ten, - die gleichen formalen Beziehungsformen sind in allen sozialen Verbänden, ob familiärer, religiöser, politischer, wirtschaftlicher oder militärischer Art nachweisbar. Simmel wird von daher zum Begründer einer »formalen Soziologie«, die als ihren Gegenstand nur die zwischenmenschlichen Beziehungen wie Über- und Unterordnung, Konkurrenz, Streit, Nachahmung, Parteibildung, aber auch Neid, Eifersucht u. Ä. anerkennt und gelten lässt. Soziales Handeln und damit Gesellschaft ist bei Simmel schlechterdings »überall da existierend, wo mehrere Individuen in Wechselwirkung treten«. Von daher wird bei ihm zum konstitutiven Element der Soziologie die soziale Gruppe, die er wie kein anderer vor ihm feinsinnigen qualitativen und vor allem auch quantitativen Detailanalysen unterzieht, von denen die zeitgenössische Soziologie immer noch profitiert. Dies gilt insbesondere für seine klassische Studie des »Streits« als einer Form sozialen Handelns, die ihn zu einem Begründer der soziologischen Konflikttheorie werden ließ. Zur vertiefenden und ergänzenden Lektüre Werner Jung (1990): Georg Simmel zur Einführung. Junius: Hamburg. Birgitta Nedelmann (1999): Georg Simmel. In Dirk Kaesler (Hrsg.), Klassiker der Soziologie. Bd. 1, S. 127-149. Beck: München. Otthein Rammstedt (2007): Georg Simmel. In Dirk Kaesler & Ludgera Vogt (Hrsg.), Hauptwerke der Soziologie. S. 389-407. 2. Aufl. Kröner: Stuttgart. 1.5.3.3 Vilfredo Pareto Anders als in der Vorstellung von Weber betont der italienische Soziologe Vilfredo Pareto in seinem theoretischen Ansatz die irrationalen und nicht-logischen Quellen des menschlichen Verhaltens. Er sieht das soziale Handeln überwiegend von Gefühlen und Glaubensvorstellungen her bestimmt, wobei das Individuum sich solcher irrationalen Wurzeln des Handelns meist nicht bewusst ist, sondern vielmehr von der »Wahrheit« der überformenden Sinngebungen und der »Logik« seiner Rationalisierungen überzeugt scheint. Pareto erklärt »den geringen Grad von <?page no="63"?> 63 Folgerichtigkeit in der Praxis des sozialen Lebens aus dem großen Einfluß von Residuen (Überbleibseln) und Derivationen (Ableitungen). Jene äußern sich in Instinkten, Gefühlen und dem, was die heutige Psychiatrie ›Komplexe‹ nennt; Derivationen sind die Ideologien, die mehr in Einklang mit den Residuen als mit Erfahrung und Logik stehen« (v. Wiese 1954, 100). »Residuen« sind somit relativ stabile Antriebskräfte und Motivstrukturen, »Derivate« eher variable Ausdrucksformen von Meinungen und Alltagstheorien. Unter diesen Voraussetzungen sieht er das soziale Handeln als einen Vorgang an, der bestimmt ist von Gewohnheiten, Interessen, aber auch von Leidenschaften und Gefühlen, die zwar beobachtbar und messbar sind, denen jedoch eigentlich erst im Nachhinein ein bestimmter Sinn und eine Rechtfertigung unterlegt wird. »Am Beispiel eines beliebigen, wohlerzogenen Mannes, der einen Salon betritt, seinen Hut abnimmt, einige Worte spricht und bestimmte Bewegungen ausführt, entwickelt Pareto so wesentliche Variablen seiner Analyse. Denn wenn man diesen Mann nach dem Warum seines Verhaltens fragte, so könnte er nur erwidern: das ist so Brauch. Man kann leicht zeigen, dass er sich ganz analog in zahllosen Situationen verhält, die gesellschaftlich von viel weitreichenderer Bedeutung sind« (Eisermann 1973, 28). Die sozial überwiegend nicht-logisch handelnden Individuen werden gesellschaftlich und politisch von einer Machtelite zusammengehalten, wobei in Anlehnung und Überwindung der älteren Analogie von Gesellschaft und Organismus (z. B. bei Spencer) Pareto die Vorstellung von der Gesellschaft als einem dynamischen System entwickelt, das sich im Gleichgewicht hält oder zumindest immer wieder zum Gleichgewicht tendiert, - eine Vorstellung, die dann von der modernen Systemtheorie wieder aufgenommen wurde und auf die wir später noch zu sprechen kommen (vgl. Abschnitt 3.2). <?page no="64"?> 64 Zur vertiefenden und ergänzenden Lektüre Raymond Aron (1971): Hauptströmungen des soziologischen Denkens. 2. Band. (Darin »Vilfredo Pareto«, S. 96-175). Kiepenheuer & Witsch: Köln. Maurizio Bach (2007): Vilfredo Pareto. In Dirk Kaesler & Ludgera Vogt (Hrsg.), Hauptwerke der Soziologie. S. 331-337. 2. Aufl. Kröner: Stuttgart. Raymond Boudon & François Bourricaud (1992): Soziologische Stichworte. Ein Handbuch. (Darin »Vilfredo Pareto«, S. 385-392). Westdt. Verlag: Opladen. 1.5.3.4 Emile Durkheim Der französische Soziologe Emile Durkheim, der übrigens als erster Soziologe überhaupt 1896 in Bordeaux einen eigens eingerichteten Lehrstuhl für Soziologie und Pädagogik erhielt und dann ab 1902 an der Sorbonne in Paris lehrte, betont schließlich - ähnlich wie Simmel - die Bedeutung der Gruppe bzw. des Kollektivs für das soziale Handeln. Er will das soziale Handeln wie »Tatsachen« betrachten, die außerhalb des Individuums liegen, eine »Wirklichkeit eigener Art« darstellen und als Ausdruck »kollektiver Vorstellungen« von äußeren Zwängen, Verpflichtungen, Geboten, Sitten u. Ä. bestimmt werden: »Weit davon entfernt, ein Erzeugnis unseres Willens zu sein, bestimmen sie ihn von außen her; sie bestehen gewissermaßen aus Gussformen, in die wir unsere Handlungen gießen müssen« (Durkheim 1961, 226). Durch die mehr oder weniger von außen auferlegten Zwänge wird soziales Handeln zu einem »soziologischen Tatbestand« (»fait social«). Da er davon ausgeht, dass sich gesellschaftliche Vorgänge nicht auf individualpsychologische Phänomene reduzieren lassen und er vielmehr »Soziales nur durch Soziales erklären« will, legt er dem Sozialen ein solches Gewicht bei, dass er sich dem Vorwurf des »Soziologismus«, d. h. der einseitigen Betonung der gesellschaftlichen Bedingtheit und Abhängigkeit menschlichen Denkens und Handelns, ausgesetzt sah. <?page no="65"?> 65 Für Durkheim ist eine soziale Gruppe oder auch die Gesellschaft immer mehr als die Summe ihrer Teile, d. h. mehr als die Summe ihrer individuellen Mitglieder. Dieses »Mehr« bezeichnet er als »kollektives Bewusstsein«, das zugleich so etwas wie das Gewissen der Gruppe ist und sich als eine moralische, sittliche oder religiöse Kraft niederschlägt, die in ihren Wirkungen deutlich bei den Individuen der jeweiligen Gruppe (z. B. im Bereich der Sozialisation und Erziehung) nachweisbar sei. Die gesellschaftliche Entwicklung folgt nach Durkheim einer sozialen Evolution, die von der auf der Gemeinsamkeit von Ideen, Gefühlen und Traditionen beruhenden »mechanischen Solidarität« der Menschen in einfacheren Gesellschaften sich zu einer »organischen Solidarität« der Menschen in zivilisierten und industrialisierten Gesellschaften gewandelt habe und die hier vor allem auf der hoch entwickelten Arbeitsteilung, der weitgehenden Differenzierung der Persönlichkeiten und dem Vorherrschen vertraglicher Beziehungen beruhe. Die Erschütterung und den Zusammenbruch der Gruppenmoral und damit der sozialen Ordnung nennt Durkheim »Anomie«, deren differenziertes Ausmaß er exemplarisch anhand von Selbstmordraten in seiner Theorie des Selbstmords (Le Suicide, 1897) empirisch zu belegen und zu klassifizieren versucht. Aus Überidentifikation mit Systemnormen kann so ein altruistischer Selbstmord resultieren, der am häufigsten in einfachen Gesellschaften und vorindustriellen Hochkulturen auftritt, wo sich das Individuum dem Kollektiv noch besonders stark verpflichtet fühlt. Der egoistische Selbstmord ist dagegen eher für die moderne Gesellschaft typisch, da in ihr bei hochgradiger Subjektivierung der Bindungen die kollektiven Integrationsleistungen eher schwach ausgeprägt sind. Der anomische Selbstmord (wie auch der fatalistische, den Durkheim allerdings nicht weiter behandelt) weist dagegen auf einen Zusammenbruch bisheriger Regelungen und sozialer Orientierungen hin, wie dies etwa bei wirtschaftlichen Depressionen oder bei Umbrüchen gesellschaftlich-politischer Systeme zu beobachten ist: Die bislang verlässliche Ordnung gilt nicht mehr und eine neue, sozial verbindliche Regulation ist noch nicht installiert, - Zustände, wie sie beispielsweise beim <?page no="66"?> 66 Zusammenbruch der sozialistisch-kommunistischen Ostblockstaaten in den 1990er-Jahren zu beobachten waren. Zur vertiefenden und ergänzenden Lektüre Raymond Aron (1971): Hauptströmungen des soziologischen Denkens. 2. Band. (Darin »Emile Durkheim«, S. 19-95). Kiepenheuer & Witsch: Köln. Raymond Boudon & François Bourricaud (1992): Soziologische Stichworte. Ein Handbuch. (Darin »Emile Durkheim«, S. 91-96). Westdt. Verlag: Opladen. René König (1976): Emile Durkheim. In Dirk Kaesler (Hrsg.), Klassiker des soziologischen Denkens. Bd. 1, S. 312-364, 401-444, 501-508. Beck: München. Hans-Peter Müller (2007): Emile Durkheim. In Dirk Kaesler & Ludgera Vogt (Hrsg.), Hauptwerke der Soziologie. S. 90-111. 2. Aufl. Kröner: Stuttgart. * Der knappe Exkurs in die Soziologiegeschichte zeigt uns, dass Soziologie in der Krise der modernen Gesellschaft ihren Ausgang genommen hat: In den tiefgreifenden Wandlungsprozessen und rapiden Veränderungen, die in den letzten zwei bis drei Jahrhunderten vor allem die industrialisierten westlichen Gesellschaften erfasst haben und sich auf unseren Alltag unmittelbar oder mittelbar auswirken. Dazu gehören alle Merkmale der modernen sozialen Welt, wie die atemberaubenden wissenschaftlichen und technologischen Umbrüche, die gravierenden und folgenschweren Veränderungen unserer Arbeitswelt, die Art und Weise des Wohnens in zunehmend urbanisierten Umwelten, die Tendenzen zur umfassenden Informationsvernetzung und ökonomischen Globalisierung, der Zusammenbruch alter und das Aufkommen neuer politischer Systeme, aber auch die neuen Herausforderungen durch zu Ende gehende natürliche Ressourcen und durch Energiekrisen usw. All diese gesamtgesellschaftlichen Veränderungen erfassen auch die sozialen Subsysteme und Institutionen und wirken fort bis hinein in unsere private Lebensführung. Insofern wird Soziologie auch zu Recht als »Krisenwissenschaft« oder <?page no="67"?> 67 »Gegenwartswissenschaft« bezeichnet, da sie vor allem moderne, d. h. industrialisierte Gesellschaften mit ihren vielfältigen Wandlungsprozessen und deren Folgen systematisch analysiert. Im Laufe unserer weiteren Überlegungen werden wir immer wieder bestimmten Grundgedanken und theoretischen Perspektiven der Klassiker der modernen Soziologie begegnen. Die knappen Skizzen zu ihrem mehr oder weniger unterschiedlichen Verständnis von »sozialem Handeln« wie beispielsweise die wichtige Unterscheidung zwischen beabsichtigten, sozial »sinnhaften« und unbeabsichtigten Resultaten menschlichen Handelns und Verhaltens bei Max Weber sollten dabei zeigen, wie die Gründungsväter der modernen Soziologie dieses Konzept auch als Schlüssel zum Verstehen gesellschaftlicher Vorgänge und Zusammenhänge, gewissermaßen als Basiskategorie des Sozialen überhaupt begriffen. Damit haben diese Autoren das Interesse an den Grundelementen des Gesellschaftlichen zu wecken verstanden, an die sich seither die Forschung aus den verschiedensten Richtungen - fantasievoll und distanziert von vorgeformten Ideen und pauschalen Vorurteilen - heranzutasten sucht und dabei immer wieder zu neuen Entdeckungen und Befunden gelangt. Die wesentlichen Gesichtspunkte der unterschiedlichen Akzentuierungen und teilweise differierenden Perspektiven unserer Klassiker lassen sich etwas vereinfacht auch grafisch darstellen. Dies soll uns im Hinblick auf ihre zentralen und basalen Konzepte des »Sozialen« zur zusammenfassenden und abschließenden Anschauung dienen: <?page no="68"?> 68 Weber Simmel Pareto Durkheim Individuelles Verhalten und Handeln, das wesentlich bestimmt wird von »irrationalen« und unbewussten sozialen Faktoren. Soziales Handeln, das subjektiv sinnhaft auf den anderen bezogen ist. In typischer Form wiederkehrende soziale Wechselwirkungen (Prototyp: Beziehungen in der sozialen Gruppe). Soziales Handeln als durch kollektives Bewusstsein vermittelter soziologischer Tatbestand (»fait social«). Abb. 2: Die kleinsten sozialen Einheiten nach Weber, Simmel, Pareto und Durkheim <?page no="69"?> 69 2. Kapitel Mensch und Gesellschaft 2.1 Der Mensch - gesellschaftliches Wesen oder Individuum: die falsche Alternative Wenn man Soziologie betreibt und über die Menschen nachdenkt, die sich durch »soziales Handeln« zu Gruppen und Gesellschaften zusammenschließen oder sich gegenseitig mit vielfältigen Mitteln und in den verschiedensten Ausdrucksformen bekämpfen, muss man sich fragen: • Wie sieht die Soziologie den Menschen? • Wie sieht sie die Beziehungen zwischen Individuum, sozialer Gruppe und Gesellschaft? • Worin unterscheidet sich das soziologische Menschenbild von anderen Definitionen und Sichtweisen? Wie wir bereits gesehen haben (vgl. Abschnitt 1.2), besitzen wir ja alle bestimmte Vorstellungen von der Beschaffenheit des Menschen. Ausgehend von der Annahme bestimmter psychischer Eigenschaften und der Unterstellung bestimmter Motive, deuten wir einmal den Menschen als ein vernunftbegabtes, aus freiem Willen handelndes Individuum oder vermuten ein anderes Mal, der Mensch sei durch seine Erbanlagen sowie durch Rasse, Geschlecht und Instinkte vorprogrammiert oder auch durch sein Milieu mehr oder weniger ausschließlich determiniert. Auch die Diskussion des Begriffs »soziales Handeln« bei den Klassikern hat gezeigt, dass die Soziologie im Hinblick auf die Erkenntnis der menschlichen Natur in einer schwierigen und nicht widerspruchsfreien Lage ist. Besonders in der älteren Soziologie haben entsprechende Abgrenzungsversuche vielfach zu weitreichenden philosophischen Auseinandersetzungen geführt, in deren Folge oft genug überhaupt die Berechtigung einer soziologischen Betrachtungsweise der Person in Frage gestellt wurde. In krasser Entgegensetzung von »Person« und »Gesellschaft«, »Individuum« und »Gemeinschaft«, »Ich« und »Kollektivität« stand <?page no="70"?> 70 auf der einen Seite das Individuum im Vordergrund, das außer- oder übersozial begriffen wurde - wie z. B. bei dem psychologisch orientierten Sozialphilosophen Wilhelm Dilthey, (1833-1911), der sich über die Soziologie eher abfällig äußert und von der »weltlichen Innerlichkeit« eines »unabhängigen, von den historischen Umständen nicht mehr gebundenen Menschen« spricht. In radikalem Gegensatz hierzu wurde auf der anderen Seite die Gruppe oder die Gesellschaft hervorgehoben, deren Mitglieder als Teile des größeren Ganzen im »Sozialen« aufgelöst erschienen - so etwa bei Diltheys Zeitgenossen Ludwig Gumplowicz (1838-1909), der die »Annahme, der Mensch denke« als »größten Irrtum der individualistischen Psychologie« bezeichnet und sich dabei zur folgenden überspitzten, gewissermaßen »soziologistischen« Behauptung versteigt: »Aus diesem Irrtum ergibt sich dann das ewige Suchen der Quelle des Denkens im Individuum und der Ursachen, warum es so und nicht anders denke … Es ist das eine Kette von Irrtümern: Denn erstens, was im Menschen denkt, das ist gar nicht er - sondern seine soziale Gemeinschaft; die Quelle seines Denkens liegt gar nicht in ihm, sondern in der sozialen Umwelt, in der er lebt, in der sozialen Atmosphäre, in der er atmet. Und er kann nicht anders denken als so, wie es aus den in seinem Hirn sich konzentrierenden Einflüssen der ihn umgebenden sozialen Umwelt mit Notwendigkeit sich ergibt« (Gumplowicz 1885, zit. n. René König 1970, 242). Spätere Soziologen wie etwa der Franzose Emile Durkheim (1856-1917) oder der Amerikaner James Baldwin (1860-1934) haben solche sachlich unangemessenen und auch empirisch nicht belegbaren Absolutsetzungen »psychologistischer« oder »soziologistischer« Art jedoch wieder zurechtgerückt. Sie betonten, dass die Vorstellungen in unserem Bewusstsein teils auf die konkreten Gegebenheiten unseres Selbst, teils auf die uns umgebende Gesellschaft gerichtet sind. Indem sie darauf hinwiesen, dass der Mensch sowohl eine individuelle als auch eine soziale Seite hat, machten sie klar, dass die scheinbar kontroversen Begriffe Individuum und Gesellschaft komplementär zu verstehen sind: Der Mensch stellt einerseits ein kleines Stück Gesellschaft dar, wäh- <?page no="71"?> 71 rend die Gesellschaft andererseits aus Individuen besteht, die in ihr wirken und sie teils bewahren, teils verändern. So gibt es ebenso wenig ein Individuum ohne Gesellschaft wie eine Gesellschaft ohne Individuen. Diese Betrachtungsweise hat sich auch in der modernen Soziologie weitgehend durchgesetzt, wobei das Forschungsinteresse natürlich primär den sozialen Einflüssen gilt, denen ein Individuum ausgesetzt ist und die es mit vielen anderen teilt. Eben dies ist ja die eigentliche soziologische Perspektive und die Entwicklung eines solchen Deutungssystems die besondere Aufgabe der Soziologie. Von daher betrachtet die Soziologie selbstverständlich immer nur einen bestimmten Ausschnitt aus dem Gesamt der »Wirklichkeit«, doch ist es wichtig, dass sich eine Wissenschaft auch dieser Realität zuwendet. Mit anderen Worten: Alle Sozialwissenschaften befassen sich mit menschlichem Handeln und Verhalten, doch konzentrieren sie sich dabei auf verschiedene Aspekte. Entsprechend gibt es dann auch konkurrierende Erklärungssysteme und Auffassungen vom Menschen (sowie dementsprechend unterschiedliche Perspektiven auf das formal gemeinsame Erkenntnisobjekt »Gesellschaft«), die per definitionem gleichfalls ausschnitthaft, eben beispielsweise psychologischer, pädagogischer, philosophischer oder theologischer Natur sind. Während aber der Philosoph nach dem Wesen des Menschen fragt, der Theologe den Menschen im Zusammenhang mit einem letzten Prinzip (Gott) zu verstehen sucht oder der Psychologe sich auf die Bewusstseinsstrukturen des Menschen konzentriert, interessiert sich der Soziologe für das Zwischenmenschliche, für das soziale Beziehungsgefüge und die wechselseitigen Orientierungsmuster, die ganz verschiedene Individuen ziel- und zweckgerichtet miteinander handeln lassen. Diese soziologische Grundperspektive muss nicht ausschließen, dass der eine Soziologe beispielsweise eher eine optimistischere, der andere eher eine pessimistischere Akzentuierung oder Grundierung seines gesellschaftlichen Erkenntnismaterials vornimmt. Solche Prämissen oder erkenntnisleitenden Interessen beruhen jedoch auf vorbzw. außerwissenschaftlichen Wertentscheidungen wie z. B. der grundsätzlichen Weltanschauung oder <?page no="72"?> 72 der politischen Philosophie des jeweiligen Autors und sollten aus wissenschaftstheoretischer Sicht auch offen gelegt werden. So kann es sein, dass der eine Soziologe vor allem die Entscheidungsspielräume des Individuums, d. h. dessen Möglichkeiten für autonome und kreative Selbstverwirklichung für vorrangig hält und die »ärgerliche Tatsache Gesellschaft« als eine Bedrohung der individuellen Freiheit und Selbständigkeit versteht, ein anderer Soziologe dagegen primär die Gesellschaft als Ganzes im Blickfeld hat, deren Ordnung und Stabilität - in Form von »Strukturen und Funktionen« - durch die persönliche Willkür einzelner Mitglieder nicht zu sehr beeinträchtigt werden sollte. Für die erstgenannte, konflikttheoretisch geleitete Position steht zum Beispiel der, dem politischen Liberalismus verpflichtete deutsch-britische Soziologe Ralf Dahrendorf (1929- 2009), für die alternative Orientierung dagegen der eher konservative amerikanische Soziologe Talcott Parsons (1902-1979), der als Vater der sogenannten »strukturell-funktionalen Theorie« gilt. Beide Theorien gelten inzwischen als basale soziologische Paradigmen und werden später - noch ergänzt durch das dritte Paradigma des »Symbolischen Interaktionismus« - im Einzelnen vorgestellt. Derartige theoretische Prämissen bzw. Paradigmen haben insofern Folgen für die konkrete Analyse, als der eine Soziologe beispielsweise die gesellschaftliche Wirklichkeit dann eher mit Begriffen wie Herrschaft, Macht oder Zwang zu erfassen meint und den hierdurch ausgelösten sozialen Spannungen und Interessenkonflikten unter den Menschen mehr Aufmerksamkeit schenkt (Konflikttheorie), während der andere sozialwissenschaftliche Forscher eher den Konsens der Gesellschaftsmitglieder über die sozialen Spielregeln beachtet und die sozialen Mechanismen untersucht, die dafür sorgen, dass die meisten Menschen in ihren sozialen Gebilden sich auch an diese Regeln halten (strukturell-funktionale Theorie). Doch nochmals: Gleichgültig, welchen Standpunkt ein Soziologe auch einnimmt, das allen Soziologen gemeinsame Interesse gilt den sozialen Kontexten, Umwelteinflüssen und Wirkkräften, die oft auf den ersten Blick überhaupt nicht wahrnehmbar sind, <?page no="73"?> 73 die aber dennoch entscheidend das menschliche Denken und Fühlen, Handeln und Verhalten prägen. Zur vertiefenden und ergänzenden Lektüre Hans Peter Henecka (1984): Art. »Ralf Dahrendorf«. In Wilhelm Bernsdorf & Horst Knospe (Hrsg), Internationales Soziologenlexikon, Bd. 2, S. 161-167. Enke: Stuttgart. Urs Jaeggi & Manfred Fassler (1982): Kopf und Hand. Das Verhältnis von Gesellschaft und Bewußtsein. (Darin besonders Kapitel 2 »Der Mensch: das notwendig soziale Wesen«, S. 17-21 und Kapitel 6 »Das Verhältnis: Individuum und Gesellschaft«, S. 35-40). Campus: Frankfurt/ M. René König (1973): Soziologische Orientierungen. 2. Aufl. (Darin das Kapitel »Der Mensch in der Sicht der Soziologie«, S. 29-44). Kiepenheuer & Witsch: Köln. Kurt H. Wolff (1984): Art. »Talcott Parsons«. In Wilhelm Bernsdorf & Horst Knospe (Hrsg.), Internationales Soziologenlexikon, Bd. 2, S. 650-652. Enke: Stuttgart. 2.2 Das soziologische Menschenbild oder »man is not born human« Der aus Wien stammende und in den USA lehrende Peter L. Berger (geb. 1929) verdeutlicht in seiner recht anschaulich geschriebenen »Einladung zur Soziologie« unsere sozialwissenschaftliche Perspektive durch einen Vergleich von zwei für das Tier wie den Menschen charakteristischen Situationen: • In der ersten Situation trifft eine hungrige Katze auf eine vorbeihuschende Maus. Da Katzen einen ererbten Instinktapparat haben, muss niemand der Katze erst beibringen, was zu tun ist, um eine Maus zu fangen. Vielmehr ist der durch diese Situation ausgelöste Verhaltensablauf bereits entsprechend vorprogrammiert. Das Auftauchen der Maus bedeutet für die Katze einen »Reiz«, auf den sie eine fix und fertige »Reaktion« als Antwort parat hat. »Wahrscheinlich«, vermutet Berger, »steckt etwas in der Katze, das, sobald sie eine Maus sieht, unüberhör- <?page no="74"?> 74 bar verlangt: Friß, friß, friß. Die Katze faßt nicht etwa den Entschluss, auf ihre innere Stimme zu hören. Sie folgt einfach dem Gesetz ihrer angeborenen Natur und packt die unselige Maus, deren innere Stimme übrigens wahrscheinlich nicht minder unüberhörbar fordert: Lauf, lauf, lauf. Die Katze aber kann nicht anders« (Berger 2011, 109). • In der zweiten Situation kreuzt ein Mädchen den Weg eines Jünglings und erweckt in ihm vielleicht zum ersten Male heftige und leidenschaftliche Gefühle der Zuwendung und Liebe. Zwar gibt es auch hier für den jungen Mann einen Imperativ, den er - wie Berger verschmitzt bemerkt - mit allen jungen Katern, Schimpansen oder Krokodilen gemeinsam hat. Doch für diesen hinreichend bekannten Imperativ interessieren wir uns hier nicht, da er den jungen Mann in aller Regel eben nicht erfolgssicher leitet, um seine Angebetete für immer zu besitzen. Im Gegenteil, ein allzu ungestümer und plumper Annäherungsversuch würde wohl auf heftige Widerstände stoßen und das erstrebte Ziel wahrscheinlich endgültig verfehlen lassen (ebenda, 110). Berger zeigt, wie an die Stelle eines beim Tier ererbten primitiven Mechanismus in der Menschenwelt ein komplexeres Verhaltensprogramm als Katalog gesellschaftlicher Spielregeln tritt. Im Sinne einer sozialen Strategie und Taktik stecken solche Regeln einen verlässlichen Rahmen ab, wie man sich in solchen Fällen zu verhalten hat. Ein solcher sozialer Imperativ ist wiederum sehr stark kulturell abhängig und hat die unterschiedlichsten Ausprägungen, wenn wir etwa an die entsprechenden Gepflogenheiten in der Türkei, bei den Nuba in Afrika, den Eskimos auf Grönland oder irgendeiner anderen Kultur denken. Es formuliert auch die Regeln, die einzuhalten sind, wenn beispielsweise im Rahmen unserer Gesellschaft ein junger Mann die Verbindung zu einem Mädchen sucht, wie ein »anständiges« Mädchen darauf zu reagieren hat und wie schließlich eine zwischengeschlechtliche Verbindung in der Institution Ehe als rechtens und dauerhaft angesehen werden soll. Bemerkenswert ist daher, dass zugunsten der Regeln oder Möglichkeiten, die eine Gesellschaft vorschreibt oder erlaubt, alle anderen denkbaren Optionsmöglichkeiten ausge- <?page no="75"?> 75 schlossen werden. Der soziale Imperativ präsentierte in unserer Kultur - zumindest noch zu dem Zeitpunkt, als Berger diese Gedanken niederschrieb - die Formel: »Begehren bedeutet lieben und heiraten. Alles, was unser Mann zu tun hat, ist, die im Programm vorgeschriebenen Schritte nachzuvollziehen … Nur ganz, ganz selten einmal werden wir in die Lage versetzt, neue Typen zu erfinden, uns selbst die Modelle für unser Verhalten zu schaffen« (Berger 2011, 111). Dass nur relativ kurze Zeit nach der 1963 zuerst veröffentlichten Ausgabe von Bergers »Invitation to Sociology. A Humanistic Perspective« - als Folgen der seit den 70er-Jahren einsetzenden Individualisierungs- und sozialstrukturellen Differenzierungsprozesse - tatsächlich solche neuen und zum bisherigen kulturellen Standardprogramm »alternativen« Optionen für Ehe und Familie in unserer Gesellschaft »erfunden« wurden und auch als »innovative« Lebensformen in den meisten westlich orientierten Gesellschaften inzwischen weitgehend akzeptiert, legalisiert und institutionalisiert sind, konnte der Autor damals noch nicht voraussehen. Kaum eine Verhaltensweise, die der Mensch benötigt, um am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen, kaum eine Strategie, auf Grund der er seine Wünsche verwirklichen kann, werden dem Menschen etwa durch ein erblich verankertes Steuerungsprogramm einfach in die Wiege gelegt. Vielmehr sind nahezu alle menschlichen Verhaltensweisen nach soziologischer Auffassung Ergebnisse von Erfahrungen und Lernprozessen, die das Individuum mit seinem jeweiligen genetischen Potential in einem komplizierten Wechselspiel mit seiner Umwelt erwerben muss, - egal, ob es sich um die Art und Weise handelt, sich verständlich zu machen, einander Freude zu bereiten oder Leid zuzufügen oder, wie in Bergers Beispiel, Kontaktwünsche zu signalisieren. Um Missverständnisse bei der Erläuterung ihres Menschenbildes zu vermeiden, sprechen Soziologen daher heute lieber von der »sozialkulturellen Persönlichkeit«, als dass sie den mit philosophischen Wertungen befrachteten Begriff der »Person« verwenden. In diesem soziologischen Sinne wird der Mensch paradoxerweise auch nicht als »Mensch« geboren, sondern erst dazu »gemacht« <?page no="76"?> 76 (»man is not born human«, Burgess & Locke 1945, 213). Zwar ist das Menschsein bei der Geburt als Anlage vorhanden, doch ohne humane Umgebung kann ein neugeborenes menschliches Leben nicht zu dem werden, was seiner Gattung entspricht. Unsere Gene statten uns zwar mit einem in der Regel ungeheuren Potenzial aus; doch wird dies nur zu unserem »Wesen«, wo und soweit wir von diesem Potenzial Gebrauch machen (können). In anderen Worten: Der Mensch muss seine Lebensform, die er in der Kultur der ihn umgebenden Gesellschaft vorfindet, erst in komplexen und vielschichtigen Prozessen erlernen. Oder, um es mit Goethe zu sagen: »Was du ererbt von deinen Vätern hast, erwirb es, um es zu besitzen.« Bei dieser nach der Geburt beginnenden Phase der gesellschaftlichen »Menschwerdung« geht es nur bedingt um schlicht körperliche Vorgänge. Das Kind spürt zwar körperlich Hunger und Durst, Hitze und Kälte, Licht und Dunkelheit, Behagen und Unbehagen. Doch auch diese frühkindlichen Erfahrungen werden in der Regel von anderen Menschen beeinflusst. Sie stillen beispielsweise Hunger oder Durst in einer ganz bestimmten Form und auf eine ganz bestimmte Weise mit kulturell typischen Nahrungsmitteln und nach kulturell für richtig gehaltenen Zeitplänen. »Auf diese simple Weise drückt die Gesellschaft dem kindlichen Verhalten ihren Stempel auf. Sie reicht bis in das Kind hinein, weil sie die Funktionen seines Magens organisiert hat. Dasselbe gilt natürlich auch für Ausscheidung, Schlaf und andere organische Vorgänge« (Berger & Berger 1974, 35). In anderen Worten: Ursprünglich offene und unangepasste Impulse, Affekte und Reaktionen des Menschen werden durch die Übernahme sozial-kultureller Elemente (wie Normen, Werte, Sprache, Symbole usw.) überformt. Dies geschieht durch eine starke und in diesem Ausmaß der menschlichen Gattung allein eigentümliche Einbindung in ein Geflecht sozialer Beziehungen. Diese »Menschwerdung« wird deshalb nach übereinstimmender Meinung von Sozialwissenschaftlern als ein sozialer und kultureller Prozess verstanden, als eine »zweite, sozial-kulturelle Geburt« (René König 1955, 127). Erst im »sozialen Mutterschoß« der Familie werden in vielfältiger Weise und Ausprägung die passiven <?page no="77"?> 77 und aktiven Voraussetzungen für die Entwicklung grundlegender menschlicher Eigenschaften und Fähigkeiten geschaffen. Wie fundamental eine sozial-kulturelle Umgebung Voraussetzung für die Entwicklung des Menschen und für die menschliche Existenz ist, zeigt die Tatsache, dass bloße physische Aufzucht in extremer Einsamkeit und ohne jede gefühlsmäßige Zuwendung und Sprachvermittlung letztlich scheitert. Besonders eindrucksvoll wird dies durch jene Schilderungen von »wilden Kindern« belegt, die ohne Einfluss von Mitmenschen, sozialen Beziehungen, Sprache und kulturellen Einrichtungen aufwuchsen (vgl. Malson, Itard & Mannoni 1974). So wird bereits vom altägyptischen König Psammetich I. berichtet, dass er einige neugeborene Kinder in die Wildnis bringen und unter Ziegen heranwachsen ließ. Er wollte mit diesem Versuch - einem der ersten überlieferten »Humanexperimente« überhaupt - ermitteln, ob Kinder von sich aus spontan eine Sprache entwickeln und welche die wohl wäre. Das »bek, bek«, das diese Kinder einige Jahre später äußerten, deutete er als phrygisches Wort für »Brot« und schloss daraus, dass die Ursprache des Menschen das Phrygische sei. Auch aus dem Mittelalter wird von einem ähnlich grausam angelegten Experiment des Stauferkaisers Friedrich II. berichtet, der zu einem gleichfalls entsprechenden Ergebnis kam, mit dem einzigen Unterschied, dass diesmal das Gestammel der allesamt früh sterbenden Kinder als Aramäisch, der Sprache Christi, gedeutet wurde. Da sich heutzutage, nicht zuletzt aus ethischen Gründen, derart brutal angelegte Isolationsversuche verbieten, vermitteln uns diverse Fallgeschichten von unfreiwillig »wilden Kindern« ein auf verbürgten Beobachtungen beruhendes empirisches Material, das sich so sonst nicht herstellen lässt. So wurden in den letzten dreihundert Jahren etwa 50 solcher Fälle mehr oder weniger detailliert wissenschaftlich beschrieben. Wenn bei diesen »Fällen« Wissenschaftler zur Stelle sind, die das Vorgefundene, dessen Umstände und die Folgen beschreiben, geben uns diese Fallgeschichten leise, aber unüberhörbar deutliche Antworten auf die nicht nur philosophische Grundfrage nach dem »Wesen des Menschen«. <?page no="78"?> 78 Wissenschaftstheoretisch haben diese Antworten zwar zunächst den Charakter von vorläufigen Hypothesen, die erste Einblicke in die Zusammenhänge von Mensch und Umwelt, menschlicher Existenz, Gesellschaft und Kultur vermitteln. Doch diese Hypothesen sind keine Ausgeburten eines abenteuerlich spekulativen Denkens, sondern vielmehr durch überprüfbare Erfahrungen begründet. Denn bei all diesen Fällen gibt es genügend Ähnlichkeiten. Sie vermitteln eine Ahnung, wie beschränkt die menschlichen Fähigkeiten wären, durchliefe der Mensch keine ausgedehnte Periode des Aufwachsens in einer Familie oder einer familienähnlichen Beziehung. All diese »wilden Kinder« verhielten sich nämlich nicht nur bei ihrer Auffindung menschenunähnlich und waren extrem verstört. Es fiel ihnen auch allesamt unsäglich schwer, die Menschenart, insbesondere die Sprache, aber auch andere erwerbbare Geschicklichkeiten wie den differenzierten Gebrauch der Hände oder in bestimmten sozialen Situationen entsprechendes Rollenverhalten zu erlernen. Ein derartiges, gut dokumentiertes Fallbeispiel der Neuzeit ist bereits der »Hamelsche Wilde Peter«, der 1724 auf einer Wiese bei Hameln als nacktes, braungelbes, schwarzhaariges und stummes Geschöpf von etwa zwölf Jahren aufgegriffen wurde. Man brachte ihn nach Hannover zu Kurfürst Georg Ludwig, der zugleich als George I. in England regierte und der »dieses Kuriosum« 1726 nach England brachte, wo damals besonders reges Interesse am »Naturmenschen« herrschte. Der »wilde Peter« wurde dort im Zeitalter der Aufklärung zum begehrten Studienobjekt für Philosophen und Naturwissenschaftler und starb schließlich 1785 als gutmütiger, dem Brandy ergebener und immer noch sprachloser Greis, der nur wenige unverständliche Laute hervorbrachte. Ein anderes penibel dokumentiertes Beispiel ist der 1800 in einem südfranzösischen Wald aufgegriffene »wilde Junge von Aveyron«, den man »Victor« nannte und der von dem jungen Pariser Mediziner und Taubstummenlehrer Jean-Marie Itard behandelt und »erzogen« wurde. Als Anhänger der Philosophie der Aufklärung und der Französischen Revolution glaubte Itard an die Überwindung »natürlicher« Barrieren <?page no="79"?> 79 durch den schöpferischen Geist und die Kultur des Menschen und damit an Victors Umwandlung »vom Tier zum Menschen«. Doch trotz anfangs kleinerer Erfolge scheiterte Itards Vorhaben, den wilden Jungen von Aveyron dem gesellschaftlichen Leben seiner Epoche zuzuführen: Victor blieb zeitlebens auf Anstaltspflege angewiesen. - Diese letztlich gleichfalls erfolglose soziale Lerngeschichte machte übrigens der Regisseur François Truffaut 1969 zum Thema seines preisgekrönten Filmes »L’enfant sauvage« (Der Wolfsjunge). Namensgebend für diese sozialwissenschaftliche Thematik wurde in der Neuzeit dann der Fall »Kaspar Hauser«, der bis heute gerade in Deutschland die Fantasie und Spekulation von Anthropologen und Genetikern, von Juristen und Kriminologen, von Schriftstellern (u. a. Peter Handke) und Filmemachern erregt, wobei hier allerdings unklar geblieben ist, ob es sich mehr um einen Gesellschaftsskandal, einen dubiosen Kriminalfall oder lediglich um einen raffinierten Schwindel handelte. Jedenfalls entdeckte man 1828 in Nürnberg die »wackelnde, possierliche und pudelnärrische« Gestalt eines Knaben von etwa 16 Jahren mit einem Brief in der Hand und unfähig, mehr als ein paar schwer verständliche Worte zu stammeln … Am bekanntesten sind jedoch wohl die beiden kleinen Mädchen Amala und Kamala, die man 1920 in Indien, einige hundert Kilometer westlich von Kalkutta in der Gesellschaft von Wölfen aufgefunden hatte und die bei ihrer Entdeckung weder aufrecht gehen, sprechen noch sich sonstwie sinnhaft artikulieren konnten und nur auf dem Boden liegendes rohes Fleisch und Aas als Nahrung akzeptierten (vgl. Singh 1964). Da sie vermutlich von ihren Eltern oder ihrem Stamm in frühester Kindheit - vielleicht auch zum Opfer irgendeiner Gottheit - ausgesetzt wurden, ihnen also faktisch in entscheidenden Entwicklungsphasen der soziale Mutterschoß fehlte und sie wohl nur aufgrund außergewöhnlicher Umstände und Zufälle in der Gesellschaft von Tieren überlebten, hatten sie typische menschliche Fähigkeiten nicht ausbilden können und hielten auch die Menschen offenbar nicht für Artgenossen; beide »Wolfskinder« mussten in einem Waisenhaus regelrecht gezähmt werden. <?page no="80"?> 80 Für unseren Zusammenhang wissenschaftlich besonders aufwändig dokumentiert gilt der »Fall Genie«, eines über dreizehn Jahre lang in Los Angeles von einem fanatischen, von Wahnideen heimgesuchten Vater in einem leeren Zimmer an einen Toilettenstuhl gefesselten und isoliert eingeschlossenen Mädchens, dessen Tragödie erst 1970 entdeckt wurde. Eine ganze Reihe angesehener amerikanischer Psychologen, Neurologen und Psycholinguisten bemächtigte sich damals durchaus medienwirksam dieses »Falles«, wobei das »zweite Drama« von Genie darin bestand, dass sie tatsächlich für die Forscherinnen und Forscher nur temporär als Studienobjekt interessant war und nach einigen zaghaften ersten sprachlichen, kognitiven und emotionalen Lernerfolgen mit dem Abklingen des akademischen Interesses wieder in ihre einsame und apathische Stummheit verfiel. Gerade auch dieser »Fall« belegt - wie übrigens auch andere Beispiele sogenannter »Kaspar- Hauser«-Schicksale -, dass ohne echte zwischenmenschliche Beziehungen und Hilfen grundlegende soziale Fertigkeiten ab einem bestimmten Alter nicht (mehr) erworben werden können. Vergleichbare Ergebnisse für die Wirkungen solcher Deprivationen von sozialen Interaktionen, insbesondere im Säuglings- und Kleinkindalter, erbrachten auch die Beobachtungen des in den USA lehrenden Psychoanalytikers René Spitz (vgl. Spitz 2005) und seiner Schüler (insbesondere Goldfarb & Bowlby). Frühe Trennung von den Eltern, beispielsweise bei hospitalisierten, längere Zeit ohne feste Bezugspersonen in Krankenhäusern, Anstalten oder Heimen untergebrachten Kindern, führt mit zunehmender Dauer zu tiefgreifenden psychischen und auch physischen Entwicklungsstörungen (Hospitalismus). Da - so die Deprivationsforscher - infolge der in klinischen und vielen sozialpädagogischen Institutionen üblichen, geregelten Schichtarbeit diese Kinder bei ständig wechselndem Personal nur mangelhafte individuelle und emotionale Beziehungen zu festen Zuneigungspersonen aufnehmen können und als Folge der geringeren sozialen Kontakte auch nur verminderte entwicklungsfördernde taktile und visuelle Sinnesreize erfahren, erleiden sie in solchen Einrichtungen häufig irreversible Schädigungen kognitiver und affektiver Art mit entsprechenden psycho-somatischen Effekten. <?page no="81"?> 81 Ab einem gewissen Zeitpunkt können diese Deprivationen nicht mehr ausgeglichen oder allenfalls nur mit großen Schwierigkeiten wieder (z. B. psychotherapeutisch) »repariert« werden (vgl. hierzu Casler 1968, Hassenstein 1975, Lehr 1975, Schmalohr 1975). Halten wir jedoch abschließend fest, dass der Begriff der sozial-kulturellen Persönlichkeit nicht den Menschen in seiner Gesamtheit umschreibt, sondern eben nur die Summe von relativ stabilen Motiv-, Denk-, Gefühls- und Verhaltensstrukturen, die er haben bzw. lernen muss, um die Erwartungen seiner sozialen und kulturellen Umwelt zu erfüllen und an deren produktiven Fortführung mitwirken zu können. Bis zu einem gewissen Grade stellt die sozial-kulturelle Persönlichkeit ein Spiegelbild der sozialkulturellen Verhältnisse dar, die sie geprägt haben. Später wird allerdings noch zu zeigen sein, dass die sozial-kulturelle Persönlichkeit keineswegs als bloßes Ergebnis der passiven Anpassung des Individuums an die Gesellschaft zu verstehen ist. Zur vertiefenden und ergänzenden Lektüre Alfred Bellebaum (2001): Soziologische Grundbegriffe. Eine Einführung für Soziale Berufe. (Darin Kapitel 3 »Soziales Handeln«, S. 19-25). 13. Aufl. Kohlhammer: Berlin, Köln. Hans Joas (1984): Anthropologie. In Harald Kerber & Arnold Schmieder (Hrsg.), Handbuch Soziologie. Zur Theorie und Praxis sozialer Beziehungen, S. 28-32. Rowohlt: Reinbek. Lucien Malson, Jean-Marie Itard, & Octave Mannoni (2001): Die wilden Kinder. 13. Aufl. Suhrkamp: Frankfurt/ M. 2.3 Normen,Werte und Institutionen: Soziale Sinngebungen unseres Handelns Ausgehend von unserer täglichen Erfahrung sind wir bereits im ersten Abschnitt unseres Kurses auf bestimmte Regelmäßigkeiten und Gleichförmigkeiten im zwischenmenschlichen Handeln und Verhalten der Menschen unserer Umgebung gestoßen. Wir haben erkannt, dass wir über viele Dinge, die wir zusammen mit ande- <?page no="82"?> 82 ren Menschen und so wie andere tun, im Alltag schon gar nicht mehr nachdenken. Wir haben die Regeln unserer Kultur ganz offensichtlich absorbiert, sie sind ein Teil unseres Selbst geworden und verschaffen uns die notwendige Entlastung von der »Qual der Wahl«, fortwährend über situationsadäquate Handlungsweisen nachzudenken und immer wieder neu entscheiden zu müssen. Dies oder jenes von anderen Menschen zu erwarten und so oder so zu handeln erscheint uns selbstverständlich und konsistent: Wir praktizieren es in gewohnter Routine. Vieles dabei ist von außen beobachtbar, manches erscheint noch rätselhaft und undurchsichtig und erschließt sich nur allmählich sozialwissenschaftlicher Forschung. • Soziologisch ist es allemal interessant, wenn Menschen mit bestimmten sozialen Situationen mehr oder weniger bestimmte Erwartungen verbinden, an denen sie dann faktisch ihr Verhalten orientieren. Diese Erwartungen in Bezug auf das Handeln oder Nichthandeln der Mitglieder einer Gesellschaft werden Normen genannt. Diese Bezeichnung bringt den mehr oder weniger verpflichtenden Aufforderungscharakter entsprechender Erwartungen zum Ausdruck. Nach Dahrendorf sind Normen in gradueller Abstufung »imperativisch« geprägt, was sich für uns je nachdem in Muss-, Soll- oder Kann-Erwartungen verdeutlicht. Entsprechen wir (innerhalb bestimmter Toleranzen) den jeweiligen Erwartungen nicht, so müssen wir mit negativen Sanktionen (Bestrafungen) rechnen, die je nach Grad und Art der Abweichung auf einer Palette von Klatsch, Verachtung, Hohn und Spott bis zu unmittelbarem physischem Druck reichen können. Umgekehrt hat die Befolgung der Normen positive Sanktionen (Belohnungen) zur Folge, die beispielsweise aus Ansehen, Prestige oder aus einem »guten Ruf« bestehen können. • Bestimmte Normen werden in allen komplexen, aber auch in den meisten einfachen Gesellschaften in einem kodifizierten Normensystem verankert, das wir Recht nennen; »Spezialisten« wie Polizisten, Staatsanwälte und Richter überwachen dessen Einhaltung. Viele der gesellschaftlichen Sitten sind so als soziale Muss-Erwartungen auch juristisch abgesichert. <?page no="83"?> 83 Im Allgemeinen handelt es sich hier um unsere vielfältigen Pflichten im Alltag, für die verbindliche Regelungen festgesetzt sind: Kinder müssen im schulpflichtigen Alter die Schule besuchen, Lehrer z. B. dürfen nicht die sprichwörtlichen »silbernen Löffel« stehlen, da gerade sie als Beamte dann die ganze Strenge des Gesetzes treffen würde. • Etwas weniger verpflichtend ist der gesellschaftliche Anspruch auf die Berücksichtigung bestimmter Bräuche. Diese Soll- Erwartungen bezeichnen durchaus auch Pflichten des Alltags, ohne dass sie jedoch in Form von Rechtsregeln fixiert sein müssen. Wir können uns ja beispielsweise die möglichen Reaktionen der Umwelt auf eine etwaige Verletzung solcher Soll- Erwartungen durch unser Liebespaar aus dem letzten Abschnitt gut ausmalen. • Kann-Erwartungen schließlich tragen den schwächsten Verpflichtungsdruck. Es handelt sich hier um soziale Gewohnheiten, denen man sich unter Umständen auch entziehen kann. Erfüllt man sie dennoch, so darf man beinahe ausschließlich mit positiven Reaktionen rechnen. Ein Lehrer bräuchte sich eigentlich nicht so intensiv um die privaten Schwierigkeiten eines Schülers zu kümmern. Bemüht er sich trotzdem, so werden ihn Schüler und Eltern für einen guten Lehrer halten; ein pädagogischer Übereifer aufgrund mangelnden Fingerspitzengefühls könnte indessen aber auch gegenteilige Wirkungen zeitigen. • Die sozialen Normen lassen sich bei genauerer Analyse auf Leitbilder bzw. auf Vorstellungen darüber zurückführen, was von der überwiegenden Mehrheit einer Gruppe oder einer Gesellschaft für richtig und erstrebenswert angesehen wird. Diese mehr abstrakten Ideen werden im soziologischen Sprachgebrauch als Werte bezeichnet und beinhalten die einer Gruppe oder Gesellschaft als Kern ihrer Kultur zugrunde liegenden gemeinsamen Zielsetzungen. Diese kollektiven Zielsetzungen sind nicht immer oder ausschließlich rational, sondern häufig auch triebhaft, emotional, religiös, moralisch oder ästhetisch besetzt. Die Geschichte der Menschheit ist voll von langen und blutigen Kriegen, die im <?page no="84"?> 84 Namen solcher nicht-rationalen Ideen geführt wurden, und Tausende sind in ihrem Namen, begeistert etwa »für Volk und Vaterland«, in den »Heldentod« gegangen. Gesellschaftliche Werte sind also, wie die daraus abgeleiteten sozialen Normen, von unterschiedlicher Bedeutung und Wichtigkeit. Der amerikanische Soziologe William Graham Sumner hat schon 1906 unterschieden zwischen den normativ weniger verpflichtenden »folkways« (im Sinne von sozialen Gewohnheiten) und den »mores« (im Sinne von Sitten) in der Form von strengen Geboten, Verboten oder Tabus. • Die folkways bieten eine Art »Konfektionslösungen« (Jager & Mok) für soziale Alltagssituationen an: Dass wir uns bei der Begrüßung die Hand geben, gehört hierzulande ebenso zu unseren sozialen Gewohnheiten wie wir es für schicklich halten, dass ein getippter Brief mit der Hand unterschrieben wird. • Die mores dagegen berühren im Allgemeinen unmittelbar und existenziell das Funktionieren einer Gesellschaft. Als komplexe Normensysteme beanspruchen sie gesamtgesellschaftlich verbindliche Gültigkeit und regulieren in festgelegter Weise unser Verhalten in jenen Sinn- und Daseinsbereichen, die sozial als besonders bedeutsam definiert sind. Die mores finden wir deshalb in allen Gesellschaften in der Form von organisierten Institutionen, die man gleichsam als »geronnene Sitten« verstehen kann. So reguliert z. B. die Institution Ehe das sexuelle Verhalten, die Institution Familie die Reproduktion und »Aufzucht« des gesellschaftlichen Nachwuchses sowie das Handeln des Einzelnen in diesem Sozialsystem oder die Institution Schule versucht u. a. die Nachfrage der Gesellschaft nach qualifizierter Ausbildung und politischer Integration zu sichern: Institutionen befriedigen somit die fundamentalen Bedürfnisse jeder Gesellschaft und Kultur. Dies geschieht indessen in den einzelnen Gesellschaften mit durchaus unterschiedlicher Konkretisierung bzw. Akzentuierung und vor allem auch verschiedenartiger Koordination: • In der einen Gesellschaft mag die Familie oder das Verwandtschaftssystem als zentrale Institution gelten (wie in vielen soge- <?page no="85"?> 85 nannten »einfachen« Gesellschaften, die Gegenstand der Völkerkunde resp. der Ethnologie sind). • In anderen Gesellschaften mögen unter dem ideologischen (totalitären oder fundamentalistischen) Programm staatlicher Institutionen die wichtigsten sozialen Institutionen (Familie, Wirtschaft, Religion, Recht) »gleichgeschaltet« werden. • In wiederum anderen Gesellschaften ist eine Pluralität von Institutionen charakteristisch. Institutionen sind also auch veränderbar und können sogar an Bedeutung verlieren, wenn ihre ursprünglichen Funktionen anderen Institutionen übertragen oder an sie ausgegliedert werden bzw. ihre normativen Regulierungen aufgrund eines allgemeinen gesellschaftlichen Wertewandels im Bewusstsein der Gesellschaftsmitglieder an Gültigkeit eingebüßt haben. Und Institutionen können auch in zunehmenden Widerspruch zueinander geraten, wenn wir beispielsweise an die teilweise gegensätzlichen Wertsysteme der Familie und der Wirtschaftsordnung oder der Kirche und des Staates in den modernen Industriegesellschaften denken. Darüber hinaus kann aber auch die Gewichtung einzelner Wertvorstellungen in verschiedenen sozialen Gruppen innerhalb einer Gesellschaft variieren. Die unterschiedlichen Haltungen beispielsweise zu Problemen des Wirtschaftswachstums und des Klimaschutzes, zum Schwangerschaftsabbruch oder zur embryonalen Stammzellenforschung, zur Einwanderungspolitik und der Aufnahme von Flüchtlingen und Asylsuchenden zeigen, dass beispielsweise bestimmte religiöse Gruppierungen, bestimmte Altersgruppen, Angehörige bestimmter Berufe oder bestimmte soziale Milieus von der Gesamtkultur abweichende Wertorientierungen vertreten. Je mehr und je systematischer die Werte solcher Teilgruppen von den Wertsetzungen der umfassenden Kultur abweichen und je entscheidender sie das Leben und das alltagspraktische Handeln des Einzelnen prägen, umso eher gewinnen solche sozialen Gruppierungen den Charakter von gesellschaftlich-politischen Subkulturen. Der Grad der Abweichung solcher Subkulturen vom kulturellen Wertzusammenhang der Gesamtgesellschaft kann dabei von bloßer Modifikation bis hin zu ausdrücklich gegenkulturellen Entwürfen und Positionen reichen. <?page no="86"?> 86 Derartige subkulturelle Differenzierungen finden sich in unterschiedlicher Ausprägung beispielsweise bei bestimmten Altersgruppen, bei Anhängern sogenannter »Alternativer Bewegungen«, bei gewissen Sekten oder bei diskriminierten Minderheiten, aber auch bei kriminellen Gruppen und Organisationen. Zusammenfassend können wir festhalten, dass soziale Normen, Werte und Institutionen eine »anthropologische Voraussetzung für Handeln« (Bellebaum 2001, 36) darstellen. In gewisser Weise können wir sie als »Instinktersatz« sehen, da sie den instinktmäßig ungesicherten Menschen im gesellschaftlichen Alltag leiten. Sie grenzen in sozialkultureller Spezifität die nahezu unendlich große Zahl möglicher, d. h. beliebiger und willkürlicher Handlungen und Verhaltensweisen ein und korrigieren somit die Folgen der biologischen Weltoffenheit des Menschen. Oder in der Sprache von Niklas Luhmann: Normen, Werte und Institutionen sind als »Reduktionen von Komplexität« für menschliches Handeln unerlässlich. Dadurch wird zwischenmenschliches Handeln und Verhalten mehr oder weniger im Voraus berechenbar. Das »mehr oder weniger« macht darauf aufmerksam, dass trotz allem Menschen sich eben oft nicht so verhalten, wie wir es von ihnen erwarten. Diese durchaus mögliche »Unberechenbarkeit« zeigt, dass die sozial und kulturell präformierten Handlungsabläufe doch keine »mechanischen Instinkte« im Sinne einer völlig automatischen Reaktion auf einen Auslösereiz erzeugen. Denn immer wieder werden Normen verletzt, Werte verändern sich und Institutionen geraten miteinander in Konflikt, ja eine gewisse Spannung und Diskrepanz zwischen den offiziellen Normen und Werten und dem tatsächlichen Verhalten ist geradezu »normal«. Dies mag zwar für uns oft irritierend und für die Stabilität der Gesellschaft im Sinne der Erhaltung eines Status quo unter Umständen sogar bedrohlich sein, doch liegt in dieser nur partiellen Wirksamkeit von Normen und Werten auch ein Element der gesellschaftlichen Dynamik und der Anpassungsfähigkeit sozialen Handelns und Verhaltens. Man erinnere sich umgekehrt an die fatalen Wirkungen einer exakten Befolgung aller Anordnungen im Sinne eines »Dienstes nach Vorschrift«. <?page no="87"?> 87 Emile Durkheim hat dies bereits erkannt, als er darauf hinwies, dass zwar ohne ein hohes Maß an Konformität in den Normen kein Sozialsystem existieren kann, dass aber bei vollständiger Normenkonformität eine Gesellschaft erstarre und es keine sozialen Spielräume und Anpassungsfähigkeiten mehr gebe. Wie wir oben (Abschnitt 1.5.3.4) bereits gesehen haben, entwickelte Durkheim in diesem Zusammenhang den Begriff der Anomie (= Normlosigkeit), die er als Zustand beschreibt, in dem viele Normen gleichzeitig ihre Verbindlichkeit verlieren. Da dies ein unerträglicher Zustand ist, wird in einem solchen Fall einerseits versucht werden, durch Sanktionen den alten Normen wieder ihren früheren Gültigkeitsgrad zu verschaffen, während andererseits die Normabweichenden ihr Verhalten als »neue Norm« zu deuten versuchen. Nach Durkheim stellen viele Normabweichungen nur eine Antizipation (Vorwegnahme) der zukünftig geltenden Moral dar. Im Allgemeinen ändern sich soziale Werte und die dazugehörenden Institutionen und Normen nur langsam. Hinken sie zu stark der gesamtgesellschaftlichen Entwicklung hinterher, so werden sie »dysfunktional« in dem Sinne, dass sie ihre Aufgabe, die Anpassung an die Bedingungen des Alltags zu ermöglichen, nur noch ungenügend oder schlecht erfüllen. Ändern sie sich zu rasant, werden sie gleichfalls dysfunktional, da sie die Funktion, die Gesellschaft oder soziale Gruppen zusammenzuhalten (Integrationsfunktion) nicht mehr befriedigend erfüllen, sondern die Konflikte zwischen »traditionell Denkenden« und »Progressiven« verschärfen. In jedem Fall aber werden bei solchen Normenkonflikten Individuen und Gruppen vor das Problem eigener Entscheidungen gestellt. Normen, Werte und Institutionen sind also keine ewigen, unveränderlichen sozialen Tatsachen, sondern jeweils an einen bestimmten gesellschaftlichen Zusammenhang gebunden; sie sind relativ, d. h. sie variieren sehr stark hinsichtlich Zeit und Ort. Zwar sind sie für die soziale Struktur und das gesellschaftliche Funktionieren immer notwendig, aber die Notwendigkeit und Allgemeingültigkeit beispielsweise einer bestimmten Einzelnorm lässt sich empirisch nicht nachweisen. »Für die empirische Soziologie gibt es <?page no="88"?> 88 Werte, Normen und Institutionen nur insofern und solange es Menschen gibt, die diese anerkennen und nach ihnen leben« (Jager & Mok 1972, 63). Unter diesem Gesichtspunkt ist in der Soziologie dann tatsächlich »der Mensch das Maß aller Dinge«. Zur vertiefenden und ergänzenden Lektüre Hans Paul Bahrdt (2014): Schlüsselbegriffe der Soziologie. (Darin Kapitel III »Soziale Normen: Wertvorstellungen, Verhaltensregelmäßigkeiten, Verhaltenserwartungen, Normenkonflikte, Normenwandel«). 10. Aufl. Beck: München. Alfred Bellebaum (2001): Soziologische Grundbegriffe. Eine Einführung für Soziale Berufe. (Darin Kapitel 5 »Soziale Norm«, S. 36-50). 13. Aufl. Kohlhammer: Stuttgart, Berlin, Köln. Karl-Heinz Hillmann (2007): Wörterbuch der Soziologie. 5. Aufl. (Darin die Stichwörter »Norm«, »Wert« und »Institution« mit weiteren Literaturangaben). Kröner: Stuttgart. Heinrich Popitz (1980): Die normative Konstruktion von Gesellschaft. Mohr (Siebeck): Tübingen. Max Weber (1960): Soziologische Grundbegriffe. (Darin § 4: »Typen sozialen Handelns: Brauch, Sitte«, S. 23-25). Mohr (Siebeck): Tübingen. 2.4 Sozialisation und soziale Rolle: Wir alle spielen Theater 2.4.1 Die Mitgliedschaft in der Gesellschaft: Sozialisation Die Vermittlung sozialer Normen und Wertvorstellungen erfolgt in einem Prozess, den die Soziologie als Sozialisation bezeichnet. Der Begriff Sozialisation (engl.: socialisation) stammt aus den angelsächsischen Sozialwissenschaften. Gelegentlich wurde er auch mit »Sozialisierung« (z. B. Fend 1972) übersetzt, was jedoch leicht zu Missverständnissen führt, da dieses Wort durch seine wirtschaftspolitische Bedeutung (= Verstaatlichung der Privatwirtschaft) bereits »belegt« ist. <?page no="89"?> 89 Sozialisation meint mehr als der klassische pädagogische Begriff der Erziehung, der sich ja vor allem auf jene, in der Regel absichtsvollen und bewusst geplanten Bemühungen und Handlungsschritte von Eltern oder Lehrern bezieht, die zum Ziel haben, die Persönlichkeitsentwicklung des Kindes pädagogisch positiv zu beeinflussen, d. h. bestimmte Verhaltensdispositionen zu entwickeln oder vorhandene zu verändern (vgl. hierzu Kob 1976, 9, Hurrelmann 1976, 19 f.). Vielmehr schließt Sozialisation den Vorgang der Erziehung mit ein und umfasst darüber hinaus auch jene ungeplanten, aber persönlichkeitsprägenden Lernvorgänge, die sowohl das Kleinkind wie auch später noch der Erwachsene durch eigene Erfahrungen machen kann. Hierzu zählen auch jene unspezifischen Lernvorgänge, für die selbst in Gesellschaften mit breit entwickeltem Erziehungswesen keine pädagogische Instanz und keine erzieherischen Maßnahmen als explizite Einwirkungen auszumachen sind. Überhaupt lassen sich solche Einflüsse - denkt man beispielsweise an die prägenden Wirkungen von jugendlichen Freundschaftsgruppen, Fan-Clubs, Reklame, Massenmedien, Interessenorganisationen, politischer Öffentlichkeit usw. - nach pädagogischem Selbstverständnis schwerlich alle sinnvoll als Erziehung oder Ausbildung charakterisieren, während sie indessen zweifellos sozialisierende Prozesse darstellen. Es sind jedoch gerade diese Lernvorgänge, die den Soziologen besonders interessieren. Denn dass der Mensch durch seine Umwelt geformt werden kann, ist zunächst keine exklusive Erkenntnis der Sozialwissenschaft: Alle Erziehung fußt auf dieser Voraussetzung. Unser Alltagswissen verbucht erst dann durch die soziologische Perspektive einen Zugewinn an »Weltverständnis«, wenn prägende Einflüsse dort entdeckt werden, wo man zunächst keine vermutet, oder wenn wir als Soziologen zeigen können, dass die intendierte Erziehung oder die geplante Ausbildung noch andere als die beabsichtigten Effekte hat: eben die Vermittlung jener sozialen Regeln und Gepflogenheiten menschlichen Zusammenlebens und konkreter Lebenswirklichkeit, die kein Erziehungsprogramm und kein Curriculum thematisieren. <?page no="90"?> 90 Sozialisation begegnet uns damit als ein relativ weit gefasster Begriff, der alle sozialen Geschehensverläufe abbildet, durch die das Individuum, das mit rudimentären Instinkten, aber mit dispositionell großer Plastizität und Lernfähigkeit, also »mit einer enormen Variationsbreite von Verhaltensmöglichkeiten geboren wird, zur Ausbildung seines faktischen, weit enger begrenzten Verhaltens geführt wird - wobei die Grenzen des üblichen und akzeptablen Verhaltens durch die Normen der Gruppe, der es angehört, bestimmt werden« (Child 1959, 665). In anderen Worten: Der Begriff Sozialisation bezeichnet einen Vorgang, der aus unendlich vielen Einzelereignissen zusammengesetzt ist, die sich unmöglich nur einem einzigen, z. B. dem pädagogischen Handlungssystem und -feld zuordnen lassen. Sozialisation ist vielmehr allgegenwärtig und beinhaltet alle prozessualen Zusammenhänge, durch die der zunächst nur »biologisch« geborene Mensch allmählich zu einem Mitglied seiner ihn umgebenden Gruppe und Gesellschaft wird, eben zur sozial-kulturellen Person. Emile Durkheim hat diesen Aspekt der Sozialisation sehr zutreffend mit »Vergesellschaftung der menschlichen Natur« umschrieben, was allerdings nicht »soziologistisch« verkürzt als einseitige soziale Vereinnahmung der Persönlichkeit bzw. als totale Unterwerfung des Menschen unter gesellschaftliche Anforderungen verstanden werden darf (siehe hierzu auch die Abschnitte 2.4.2, 2.4.4 und 2.4.5). Die - biologisch gesehen - »defizitäre« Ausstattung des »Mängelwesens Mensch« (Gehlen 1961) erweist sich damit gerade aufgrund ihres Nicht-festgelegt-Seins als eine positive, den Menschen auszeichnende Voraussetzung zu einer fast unendlichen Lernfähigkeit und sozial-kulturellen Variabilität. So ist der Mensch »Nesthocker« und »Nestflüchter« zugleich, - ein »hilfloser Nestflüchter« (Portmann 1969), der zunächst auf intensive Pflege und ständige Zuwendung durch seine soziale Umwelt angewiesen ist, aber andererseits infolge seiner entwickelten Sinnesorgane und der damit korrespondierenden Weltoffenheit und Entscheidungsfreiheit sich verschiedenen kulturellen Umgebungen und gesellschaftlichen Alternativen anpassen kann bzw. dieselben auch nach seinen Wünschen und Bedürfnissen umzugestalten in der Lage ist, um in ihnen leben zu können. In diesem Sinne kann <?page no="91"?> 91 der Mensch als zugleich Schöpfer und Geschöpf der Kultur bezeichnet werden (Landmann 1961, Mühlmann 1962). Im Gegensatz zur rein biologischen Geburt stellt die Sozialisation keine biomechanische, unabänderliche und situationsunabhängige Größe dar. Das zu sehen ist wichtig, da die Kultur und Gesellschaft, in der wir leben und der wir angehören, nur eine von vielen möglichen Arten der Konkretisierung menschlicher Lebensformen ist, innerhalb derer Neugeborene auf eine nach Ort und Zeit bemerkenswert unterschiedliche Art und Weise »Menschen werden«. Welche Vielfalt gesellschaftlicher und kultureller Organisationsformen, den Einzelnen prägenden Sitten und Bräuche es wirklich gibt, haben uns vor allem die Berichte der modernen Völkerkunde (Ethnologie) gezeigt. Dass das, was man - auch in der Wissenschaft - lange für »natürlich« gehalten hat, im Wesentlichen »kultürlich« ist und durch Sozialisation vermittelt und gelernt erscheint, hat beispielsweise die amerikanische Kulturanthropologin und Ethnologin Margaret Mead sehr anschaulich in den Berichten über ihre Forschungsreisen zu Naturvölkern der Südsee illustriert. Bei einem Vergleich dreier nahe beieinander lebender »primitiver« Gesellschaften auf Neuguinea, die sie in den Jahren 1925-1933 besuchte, zeigte sich, dass nicht nur soziale Gewohnheiten, Bräuche und Sitten, sondern auch das Temperament und das geschlechtsspezifische Verhalten jedes einzelnen Menschen zutiefst von seiner Kultur geprägt sind. Selbst Eigenschaften wie »Männlichkeit« und »Weiblichkeit«, die ja nach landläufiger Meinung unmittelbar aus der biologischen Mitgift erklärt werden, sind in hohem Maße sozialer Natur, d. h. Ergebnis der Auffassungen von Mann und Frau, die in der jeweiligen Gesellschaft dominieren. Gemessen an unserer eigenen Kultur waren bei einem der von Margaret Mead untersuchten Stämme, den Tchambuli, die Rollen von Mann und Frau geradezu vertauscht. Die Frauen besaßen dort aktive, sachorientierte, planende und »herrische« Eigenschaften, zogen zum Fischen aus und ernährten die Familie. Die »typisch fraulichen« Interessen gingen ihnen völlig ab. Ihre Männer dagegen blieben im Dorf und widmeten sich der Herstellung von Kostümen und Masken, der Malerei, dem Tanz und der <?page no="92"?> 92 Gestaltung von Festlichkeiten. Bei den benachbarten Arapesh und Mundugumor fand die Ethnologin eine völlig andere Form der Rollenverteilung und nur sehr geringe Temperamentunterschiede zwischen Mann und Frau. Bei den Arapesh zeigten Männer und Frauen eine gleichermaßen sanfte und eher ängstliche Persönlichkeitsstruktur und einen ausgesprochen altruistischen Sozialcharakter, gutmütig, freundlich und verständnisvoll gegenüber den Wünschen und Bedürfnissen anderer Menschen; bei den kannibalistischen Mundugumor erschienen beide Geschlechter in ihrem Charakter dagegen rücksichtslos und egoistisch, misstrauisch, ehrgeizig und hochgradig aggressiv gegenüber ihrer Umwelt. Aus Meads Beobachtungen geht hervor, dass diese großen Unterschiede nicht auf eine allgemeine Natur des Menschen zurückzuführen sind, sondern nur mit der jeweiligen Sozialisation, d. h. mit den kulturbedingt gelernten und erworbenen Normen, Werten und Institutionen, die sich in ihr ausdrücken, erklärt werden können. So werden die Kinder der Arapesh liebevoll umsorgt, erhalten jede Zuwendung und werden von allen Kümmernissen ferngehalten. Die Mutter ist dauernd bei ihnen, sie stillt sie sehr lange und ist sehr zärtlich. Das Arapesh-Kind erfährt damit eine freundliche, bejahende Umgebung, in der es nach Möglichkeit nie abgewiesen und verletzt wird. Dagegen gelten Kinder bei den Mundugumor als Ärgernis und Quelle ehelicher Spannungen und Konflikte. Sie werden oft unmittelbar nach der Geburt getötet oder - sofern sie am Leben bleiben - mit betonter Gefühlskälte, Härte und Gleichgültigkeit behandelt. Die Mundugumor-Kinder erfahren ihre Umwelt als einen permanenten Kampfplatz, auf dem es nur um das Überleben geht. Jede »Weichheit« ist Ausdruck von Schwäche, keinem Menschen kann man vertrauen, alles muss man gewaltsam erringen und gegen Feinde behaupten. Margaret Mead folgert aus diesen sehr unterschiedlichen Sozialisationseffekten bei Stämmen, die geografisch gar nicht so weit voneinander entfernt leben, »dass die menschliche Natur außerordentlich formbar ist und auf verschiedene Kulturbedingungen entsprechend reagiert. Individuelle Unterschiede zwischen Menschen verschiedener Kulturmilieus beruhen fast ausschließlich auf <?page no="93"?> 93 verschiedenen Umweltbedingungen, vor allem auch der frühesten Kindheit, und die Beschaffenheit dieser Umwelt wird durch die Kultur bestimmt« (Mead 1970, 250). Wenn auch die damaligen Beobachtungsweisen von Margaret Mead aus heutiger methodologischer Sicht problematisiert und ihre Neigung zu einem »kulturellen Determinismus« entsprechend kritisiert werden können - was ja in populären, aber auch in wissenschaftlichen Publikationen teilweise ziemlich polemisch geschah (vgl. Freeman 1983) -, so werden doch die aus ihren Beobachtungen gezogenen allgemeinen Schlussfolgerungen des »kulturellen Relativismus« in der modernen Kulturanthropologie und Ethnologie überhaupt nicht in Frage gestellt. Wir können somit festhalten, dass selbst biologische Vorgaben wie das Geschlecht oder physische Merkmale wie Haarfarbe, Stellung der Nase oder des Kinns, Körpergröße u. Ä., durch die im Sozialisationsprozess vermittelte gesellschaftliche Sinngebung erst diese oder jene soziale Bedeutung erhalten. D. h., welche tatsächliche Bedeutung das Geschlecht, der Besitz bestimmter physischer Merkmale usw. hat, wird erst durch die damit verbundenen Definitionen und Zuschreibungen im jeweiligen Sozialsystem sinnhaft erhellt. Zur vertiefenden und ergänzenden Lektüre Peter L. Berger & Thomas Luckmann (2003): Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. Eine Theorie der Wissenssoziologie. 19. Aufl. (Darin Kapitel II »Gesellschaft als objektive Wirklichkeit«). Fischer: Frankfurt/ M. Claude Levi-Strauss (1966): Natur und Kultur. In Wilhelm Emil Mühlmann & Ernst W. Müller (Hrsg.), Kulturanthropologie, S. 80-107. Kiepenheuer & Witsch: Köln. Ludwig Liegle (2002): Kulturvergleichende Ansätze in der Sozialisationsforschung. In Klaus Hurrelmann & Dieter Ulich (Hrsg.), Handbuch der Sozialisationsforschung, 6. Aufl., S. 215-230. Beltz: Weinheim, Basel. Gisela Trommsdorff (1989): Kulturvergleichende Sozialisationsforschung. In Gisela Trommsdorff (Hrsg.), Sozialisation im Kulturvergleich, S. 6-24. Enke: Stuttgart. <?page no="94"?> 94 2.4.2 Aspekte und Dimensionen der Sozialisation: Sozialisation als soziale Interaktion Aus unseren bisherigen Darlegungen wurde schon deutlich, dass sich Sozialisationsvorgänge nicht auf die Kindheit beschränken, sondern als relativ allgemeine Bestandteile des menschlichen Lebenszyklus’ zu verstehen sind. Denn Sozialisationsprozesse lassen sich zunächst danach unterscheiden, ob es darum geht, die grundlegende Mitgliedschaft in der Gesellschaft und damit die Fähigkeit zur Teilnahme am sozialen Geschehen überhaupt zu erwerben oder darum, sich neue und weitere Möglichkeiten der Verwirklichung dieser Beteiligung anzueignen. Damit wird zum Ausdruck gebracht, dass nicht nur die Sozialisation als ein dynamischer Prozess, sondern auch der Begriff der Person selbst »dynamisch« zu sehen ist. Menschliches Leben können wir daher verstehen als eine komplexe Abfolge von Prozessen des Lernens, Verlernens und neuen Lernens. »So erfährt ein Kleinkind, dass die Umwelt auf sein Schreien in ganz bestimmter Weise reagiert.Wenn das Kind dann später eine elementare Sprache gelernt hat, wird erwartet, dass sich von da ab das Kind der Sprache bedient, statt undifferenziert zu schreien: Schreien als Form der Kommunikation ist zu verlernen, Sprechen selbst bei sehr dringlichen Bedürfnissen zu erlernen. Weinen als Form der Mitteilung des Kindes, nun wünsche es Trost und zumindest Aufmerksamkeit, wird in unserem Kulturkreis über viele Lebensjahre hinweg akzeptiert, wird dann aber mit dem Beginn des Schulalters immer weniger legitim. Zunächst soll das Kind sich vertrauensvoll an alle Erwachsenen wenden. Doch In dem Maße, wie der Kreis der Erwachsenen, denen das Kind begegnet, differenzierter wird, soll das Kind lernen, sich differenziert zu verhalten und unbekannten Erwachsenen gegenüber misstrauisch zu sein« (Scheuch & Kutsch 1972, 103 f.). Mit anderen Worten: Die Erwartungen, die mit der Teilnahme am gesellschaftlichen Leben verknüpft sind, ändern sich mit zunehmendem Alter und mit der Erweiterung der Lebenskreise. Veränderte Situationen und Umgebungen stellen an das Individuum neue Probleme der sozialen Beteiligung und Beanspru- <?page no="95"?> 95 chung. Manches muss daher im Lebensverlauf korrigiert, vieles neu erworben werden. Man bezeichnet die erste und elementare Sozialisation in der frühen Kindheit als primäre Sozialisation. Sie erfolgt in der Regel in der Familie und vermittelt inhaltlich und formal die Grunderfahrungen des sozialen Lebens in einer kleinen und vertrauten Gruppe: Das Kind lernt, welche Bedeutungen die Menschen seiner unmittelbaren Umgebung mit ihren Worten, Gesten, Mienen und mit ihrem Tun und Lassen verbinden; es lernt, sich selbst bestimmte Verhaltensweisen sowie vorsprachliche und dann auch sprachliche Ausdrucksformen anzueignen, die die anderen verstehen und gelten lassen; und schließlich muss das Kind lernen, seine Bedürfnisse nach und nach mit den Erwartungen seiner Umwelt in Einklang zu bringen. Fachlich gesprochen werden damit kognitive, sprachliche, motivationale und affektiv-emotionale Persönlichkeitsmerkmale in der primären Sozialisation elementar ausgeformt. Die hierbei vermittelten gesellschaftlichen Verhaltensmuster und Erfahrungen legen zwar ein relativ solides Fundament, das im Verlauf späterer Lebensphasen jedoch nach zahlreichen Richtungen hin weiter ausgebaut und ergänzt sowie differenziert und modifiziert werden muss. Dies geschieht dann in der sogenannten sekundären Sozialisation, die auf der Basis primärer Sozialisiertheit aufbaut, hingegen im Wesentlichen im außerfamiliären Raum verläuft, wie z. B. im Kindergarten, in der Schule und in Freundschaftsgruppen, in der beruflichen Ausbildung oder im Studium, in der Freizeit, in Vereinen, in religiösen Gruppen, aber auch in den »anonymen« Feldern der Konsumindustrie, der Massenmedien sowie der sozialen Netzwerke im Internet. Sozialisation müssen wir darum auch als einen kumulativen, aktuell sich vollziehenden lebenslangen Prozess verstehen, der nicht - wie auch manche frühere soziologische Autoren (z. B. Schelsky 1963, 84 ff.) noch annahmen - mit dem Ende der Jugendphase als abgeschlossen gelten kann. Vielmehr ergeben sich in jeder neuen Lebensphase nicht zuletzt unter veränderten materiellen Bedingungen und durch den Wechsel von sozialen Beziehungen, z. B. bei Eheschließung, Berufseintritt, Arbeitslosigkeit, <?page no="96"?> 96 Wahl in einen Vereinsvorstand o. Ä. (tertiäre Sozialisation) oder bei Pensionierung, Tod des Partners, Umzug in ein Altenheim (quartäre Sozialisation), immer wieder neue, meist auch mehr oder minder krisenhafte Konstellationen, die beim Individuum Veränderungen von bestehenden bzw. die Übernahme neuer Handlungsfähigkeiten erforderlich machen. Auch regressive Verlaufsformen sind letztlich beobachtbar, wenn sich beispielsweise infolge von Altersdemenz oder Alzheimer-Erkrankungen bei Menschen so etwas wie prozesshaft schleichende »De-Sozialisationen« in frühe kindliche Verhaltensmuster ereignen. So lässt sich unter soziologischer Perspektive für unsere Kultur und Gesellschaft als eine mögliche Strukturgliederung im Lebenslauf beispielsweise folgende Phaseneinteilung der sozialen Bedingungen und Folgen des lebenslangen Sozialisationsprozesses vornehmen. Tab. 1: Kulturspezifische Lebensalterphasen und Bedingungen eines lebenslangen Sozialisationsprozesses in Deutschland Soziologische Lebensalterphasen Soziales Feld, sozialisationsdominante Orientierungen und Rollenpartner 1) Klein(st)kind (bis 2 oder 3 Jahre) Mutter/ Vater, aber auch Alleinerziehende (und evtl. andere biologische oder soziale Mitglieder der Kleinfamilie), ggf. auch Großeltern,Tagesmutter, professionelles Betreuungspersonal in Kinderkrippen, Kitas u.Ä. 2) Familienkind (ca. 2.-4. Lebensjahr) Familie (traditionell oder in einer modernen Alternativform) und ihr Verkehrskreis (Verwandte, Nachbarn, Freunde, Handwerker, Postbote,Arzt u.a.m.). 3) Nachbarschaftliches Spielkind (ca. 3.-6. Lebensjahr) Neben Feld 1 und 2 werden nachbarschaftliche Spielgruppen und Kindergartenbzw.Vorschulgruppe einflussreich. 4) Schulkind (ca. 6.-16. Lebensjahr) Neben den Feldern 1-3 erhält die staatlich bestimmte Organisationsstruktur der Schule mit den Lehrern als Autoritätspersonen in Schulorganisation, Lehre und Prüfung große <?page no="97"?> 97 Soziologische Lebensalterphasen Soziales Feld, sozialisationsdominante Orientierungen und Rollenpartner 4) (Fortsetzung) Bedeutung; Motivierung und Disziplinierung zu systematischem schulischen Lernen, individuelle Leistungskonkurrenz und individuelle Zertifikate als Voraussetzung für künftigen Sozialstatus; Integration in das gesellschaftlichpolitische System. 5) Auszubildender, Berufs-, Fach- oder Hochschüler (ca. ab 16. und vielfach über das 25. Lebensjahr hinaus) Zu den Sozialisationsinstanzen aus den Feldern 1-4 kommen die Gruppe der Gleichaltrigen in einer stark jugendspezifischen Freizeitkultur sowie die Berufsschule und der Betrieb bzw. weiterführende und Hochschulen; Probleme der Berufswahl, der Ausbildungs- oder Studienplatzsuche und der Geschlechtspartnerbeziehung werden dominant. 6) Lediger, junger Erwachsener (ab ca. 18. Lebensjahr) Hinausgeschobene Elternschaft und evtl. nachfolgende (Erst-) Heirat (2013 in Deutschland: durchschnittliches weibliches Heiratsalter 30,9, männliches 33,5 - Tendenz steigend) Der öffentliche Raum mit freiwilligem Wehrdienst oder Engagement im sog. Bundesfreiwilligendienst in sozialen, ökologischen und kulturellen Bereichen sowie im Sport und Zivil-/ Katastrophenschutz kommt zu den Feldern 1-5; mit Ende der Lehr- oder Studienzeit ergibt sich das Problem der Arbeitsplatzfindung, möglicherweise auch eine notwendig gewordene Um- oder Weiterqualifizierung unter den Anforderungen beruflicher Flexibilität und Mobilität. Fragen der Lebenspartnersuche und eine evtl. Vereinbarkeit von beruflicher und familialer Lebensperspektive treten in den Vordergrund. 7) Phase des mittleren Erwachsenendaseins (etwa von der Heirat bis zum Ausscheiden der Kinder aus dem elterlichen Haushalt, ca. bis zum 50./ 55. Lebensjahr) Soziale Strukturen aus den Feldern 1-6 wirken selektiv nach. Neue Sozialisationsanforderungen ergeben sich aus eigenem Haushalt, ggf. Gattenrolle, Elternrolle,; dazu treten evtl. zusätzliche Sozialisationswirkungen durch Mitgliedschaften bei Verbänden, Elternbeiräten, Freizeitvereinigungen. <?page no="98"?> 98 Soziologische Lebensalterphasen Soziales Feld, sozialisationsdominante Orientierungen und Rollenpartner 7) (Fortsetzung) Erfahrungen der Abhängigkeit des eigenen und des familialen Status’ nicht nur von beruflicher Ausbildung, Fortbildung und Initiative, sondern auch von unvorhersehbaren Effekten raschen ökonomischen Wandels mit u.U. temporärer Arbeitssuche oder längerfristiger Arbeitslosigkeit. Zunehmend auch krisenhafte Eheerfahrungen mit hoher Scheidungsquote (2012 in Deutschland: 46,24 %), ggf. auch Rückzug als »Single« oder Bildung neuer Stiefbzw. »Patchworkfamilien«. 8) Phase des älteren Erwachsenen (etwa vom 55. Lebensjahr bis zur beruflichen Pensionierung) Schwiegerkinder und schwiegerelterliche Rollenprobleme; Nachlassen beruflicher Leistungs- und Konkurrenzfähigkeit, Konfrontation mit konkurrierendem jüngerem beruflichem Nachwuchs; Altersabstieg der eigenen Eltern in die statusmindernde Pensionierung, die Verwitwung und evtl. in die Pflegebedürftigkeit. 9a) Die Phase des rüstigen alten Menschen im Pensionsalter (ab 60./ 65. Lebensjahr) 1) Konfrontation mit dem Problem der stetigen Altersfreizeit und des Ausgeschiedenseins aus Berufstätigkeit und Berufseinfluss; 2) mit Fragen und Möglichkeiten früherer oder Entwicklung neuer Hobbies, der hobbyartigen Weiterführung früherer Berufsinteressen und Berufsbeziehungen; 3) mit der materiellen Versorgung im Alter,: »Altersreichtum« vs. rapid zunehmendem Problem versteckter oder offener »Altersarmut«; 4) mit dem Problem einer adäquaten und optimalen Distanz zu Haushalt, Ehe und Familie der Kinder; 9b) Die Phase des pflegebedürftigen alten Menschen 5) Konfrontation mit einem schrumpfenden Haushalt, mit Pflegebedürftigkeit und Verlust des Ehepartners; Notwendigkeit des Umzugs in ein Altenheim; <?page no="99"?> 99 Soziologische Lebensalterphasen Soziales Feld, sozialisationsdominante Orientierungen und Rollenpartner 6) zunehmende Begegnung mit den Organisationsstrukturen des Gesundheitswesens und der Altersfürsorge (ggfs. auch Betreuung) und 7) mit dem Problem des sich nähernden Lebensendes. (aktualisiertes und erweitertes Modell nach Wurzbacher 1977, 7 f.) Bei sog. »einfachen«, d. h. überschaubaren und relativ stabilen, nicht-industriellen Gesellschaften der Vergangenheit erscheinen solche lebenslangen Sozialisationsprozesse zweifellos deutlich weniger differenziert als in den hoch dynamischen Industriegesellschaften der Gegenwart, deren ökonomische, politische, soziale und kulturelle Strukturen raschen Wandlungen und rapiden Umbrüchen unterworfen sind. Gerade in unserer Gegenwart gewinnt daher dieser Prozess - und damit verbunden die Notwendigkeit lebenslangen Lernens - sowohl individuell als auch sozial zunehmend an existenzieller und funktionaler Bedeutung. Schließlich soll hierbei auch nochmals ausdrücklich auf die Eigenaktivität des Individuums im Sozialisationsprozess verwiesen werden. Zwar ist das zu sozialisierende Kind in seinen ersten Lebensjahren in seinem physischen Überleben völlig abhängig von seiner sozialen Umwelt, was es damit »bezahlt«, dass es von dieser Umwelt vereinnahmt wird und sich ihr anpasst. Aber diese Anpassung erfolgt nicht so, dass das Kind einfach alles aufnimmt, sondern es trifft schon unbewusst - und manchmal auch durchaus bewusst - eine Auswahl aus der angebotenen Fülle: Was ihm nicht passt, das sieht und hört es nicht; es lernt also durchaus nicht alles, und was es lernt, lernt es verschieden gut. So setzt sich das Individuum - mit zunehmendem Alter immer deutlicher - mit seiner materiellen und gesellschaftlichen Umwelt auseinander, wirkt auf dieselbe zurück und macht sie sich auf seine eigene Art und Weise zu eigen. Sozialisationsvorgänge sind deshalb keineswegs einseitig und unreflektiert als »Einbahnstraßen« zu be- <?page no="100"?> 100 trachten, sondern müssen notwendigerweise als soziale Interaktionsprozesse begriffen werden, - ein Aspekt, den beispielsweise Goslin (1969) betont, wenn er die Sozialisation als einen »twoway«-Prozess charakterisiert. In einem sozialen Interaktionssystem wie z. B. der Familie wird jedes Mitglied das Verhalten eines jeden anderen Familienmitglieds beeinflussen, regulieren und somit wechselseitig sozialisieren. Solche Effekte lassen sich beispielsweise immer wieder beobachten, wenn Paare erfahren, dass sie Nachwuchs erwarten; allmählich übernehmen sie ihre neue »familiäre Rolle« und wachsen dann auch bei der alltäglichen physischen und psychischen Versorgung ihres Kindes in ihre konkrete Elternrolle hinein, so dass dann - soziologisch gesehen - auch von einer »Geburt der Eltern« gesprochen werden kann. Zwar könnte hierzu angemerkt werden, dass in dem angeführten Beispiel der Eltern-Kind-Beziehung die Eltern ja ihren Säugling in dessen prägsamsten Zeit (primäre Sozialisation) beeinflussen, während umgekehrt die etwa durch das Lächeln des Kindes hervorgerufenen Sozialisationseffekte die Eltern zu einem Zeitpunkt treffen, in dem deren Persönlichkeitsentwicklung bereits eine bestimmte Strukturierung, Ausprägung und Reife erreicht hat (sekundäre Sozialisation), also solche wechselseitigen Sozialisationsprozesse auf zwei verschiedenen qualitativen Ebenen ablaufen. Doch lassen sich gegenseitige Sozialisationswirkungen auch in horizontalen bzw. symmetrischen Interaktionsbeziehungen altersgleicher Partner nachweisen, - etwa zwischen Geschwistern, den Spielgefährten in der Kindergartengruppe, zwischen den Schülern einer Klasse und selbstverständlich auch zwischen Erwachsenen. So lässt sich also sagen, dass im Sozialisationsprozess das Individuum psychisch und sozial zu einem potenziell handlungsfähigen menschlichen Subjekt wird, das nicht nur in der Lage ist, sich seiner gesellschaftlichen Umwelt anzupassen und sich deren Erwartungen entsprechend zu verhalten, sondern das zugleich auch kommunikativ und interaktiv auf deren Gestaltung Einfluss zu nehmen vermag. <?page no="101"?> 101 Zur vertiefenden und ergänzenden Lektüre Michael Argyle (1969): Soziale Interaktion. (Darin insbesondere Kapitel 2 »Biologische und kulturelle Ursprünge der Interaktion«, S. 26-89). Kiepenheuer & Witsch: Köln. Klaus Hurrelmann, Matthias Grundmann & Sabine Walper (2008): Zum Stand der Sozialisationsforschung. In Dies. (Hrsg.), Handbuch Sozialisationsforschung, 7. Aufl., S. 14-31. Beltz: Weinheim, Basel. George McCall & J. L. Simmons (1974): Identität und Interaktion. Untersuchungen über zwischenmenschliche Beziehungen im Alltagsleben. (Darin Kapitel 8 »Der interaktive Werdegang des Individuums«, S. 213-237). Schwann: Düsseldorf. 2.4.3 Die Regieanweisungen der Gesellschaft: Soziale Rollen 2.4.3.1 Textbücher und Aufführungen: Das Szenario Im Mittelpunkt der Erklärung von Sozialisation als Zugriff der Gesellschaft auf das Individuum steht ein Bild, das nicht nur von Soziologen im Laufe der Geschichte immer wieder herangezogen wurde, um den Geheimnissen des zwischenmenschlichen Handelns auf die Spur zu kommen: das Gleichnis vom Menschen als Rollenspieler. So sagen und hören wir im Alltag immer wieder: »Der Schüler A spielt in seiner Klasse eine wichtige Rolle« - »Wir brauchen einen Kollegen, der die Rolle des Vermittlers übernimmt« - »B ist gestern abend ganz schön aus der Rolle gefallen« - »Die C spielt doch nur Theater« - »Die Rollenverteilung innerhalb der politischen Führung der XYZ-Partei ist besonders effizient« usw. Oder wie es der junge melancholische Jacques in Shakespeares »Wie es euch gefällt« (II, 7) zum Ausdruck bringt: »Die ganze Welt ist Bühne, und alle Frau’n und Männer bloße Spieler. Sie treten auf und gehen wieder ab, Sein Leben lang spielt einer manche Rollen, Durch sieben Akte hin.« <?page no="102"?> 102 Aus dieser beliebten und umgangssprachlich vertrauten Theater- Metaphorik, die wir da und dort auf Vorgänge unseres täglichen Lebens anwenden, ergibt sich wohl der didaktische Vorzug des Rollenbegriffs. Denn mit dem in der Soziologie weithin verbreiteten und akzeptierten Konzept der sozialen Rolle lassen sich leicht und anschaulich die vielfältigen wechselseitigen Beziehungen zwischen Individuum und Gesellschaft abbilden und die Rollenhaftigkeit des menschlichen Lebens illustrieren: Mit der Geburt betritt man die »Bühne der Gesellschaft«, lernt nach und nach - nolens volens - diesen und jenen Part und damit verschiedene Rollen zu spielen, tritt in unterschiedlichen Masken auf, um mit dem Tod wieder von dieser Bühne abzutreten. Andere übernehmen dann »unseren« Part und spielen »unsere« Rollen. Zudem geschieht das Spielen der sozialen Rolle unter den kritischen Augen von Mitspielern und Zuschauern, die unser »Skript«, d. h. den der Rolle zugrunde liegenden »sozialen Text«, kennen und konkrete Vorstellungen und Erwartungen hinsichtlich unseres Verhaltens und Handelns sowie unserer Darstellungsqualität in der jeweiligen Szene hegen. In einem solchen gesellschaftlichen Szenario werden meist recht unterschiedliche Tätigkeiten und Verhaltensweisen in einen sinnvollen Zusammenhang gebracht, ja oft sind diese sogar direkt aufeinander bezogen und damit unmittelbar voneinander abhängig. Dabei handelt es sich dann um sogenannte »komplementäre Rollen«, wie etwa Arzt-Patient, Lehrer-Schüler, Meister-Auszubildender, Verkäufer-Kunde, Eltern-Kinder u. Ä., - soziale Rollen also, die ohne die entsprechenden Rollenpartner nicht nur keinen Sinn machen, sondern sich auch handlungsorientiert nicht realisieren lassen. Unser Rollenspiel muss also bewusst oder unbewusst auf die jeweilige »szenische« Situation und die dort uns gegenübertretenden Akteure abgestimmt werden, was letztlich auch plausible Erklärungen dafür liefert, dass die Menschen bei diesem oder jenem Auftritt verschiedene »Masken« tragen, in denen wir sie oft nicht mehr wiedererkennen, - etwa wenn wir ihr liebevolles und nachsichtiges Verhalten als Freund oder Partner vergleichen mit ihrem knallharten Habitus im Beruf oder anderswo. <?page no="103"?> 103 Dass schließlich auch unsere gewöhnlichen Wahrnehmungen voneinander durch das gegenseitige Einschätzen und Einordnen von Rollen (aufgrund von gewissen typischen Merkmalen und Signalen) abläuft, mag folgendes Beispiel illustrieren: »Eine Frau steht am Fenster einer Schule und schaut hinaus. Draußen fährt ein Mercedes vor, in dem ein Mann sitzt. Sie nimmt wahr: ein Autofahrer - ein Mercedesbesitzer. Ein Mann steigt aus, der einen blauen Overall trägt. Sie nimmt wahr: ein Monteur - ein Arbeiter … Der Mann geht auf den Schulhof, auf dem die Schüler gerade Pause haben. Ein Kind rennt auf ihn zu. Sie nimmt wahr: Vater. Kein Widerspruch. Der Hausmeister bringt dem Mann ein Bündel Plakate. Sie nimmt wahr: Parteimitglieder. Kein Widerspruch. Auch der Mann hat dieses Rollenraster. Als er hochsieht zur Frau am Fenster, nimmt er wahr: Lehrerin« (Müller 1977, 62). Dieses Beispiel zeigt deutlich, wie wir in alltäglichen Beobachtungen oder Begegnungen herauszufinden suchen, in welcher Rolle der andere auftritt bzw. wer oder was er »sozial« ist. Wenn wir seinen »sozialen Ort« kennen, den er in der Gesellschaft oder in einer Gruppe im Verhältnis zu anderen einnimmt, dann wissen wir meist auch, wie er sich verhalten wird und wie wir ihm begegnen müssen. In der Soziologie bezeichnet man diesen sozialen Ort als soziale Position. Sicher sind soziale Wahrnehmungen wie »Mann«, »Mercedesbesitzer«, »Arbeiter«, »Vater«, »Parteimitglied« oder »Lehrerin« noch keine ausreichenden Informationen über die Persönlichkeit der beobachteten Menschen. Aber dennoch wird durch derartige Wahrnehmungen oder durch solche Angaben bereits unsere soziologische Fantasie beflügelt. Wir glauben, konkrete Vorstellungen darüber entwickeln zu können, wie sich dieser Mann oder jene Frau mit hoher Wahrscheinlichkeit in ihren verschiedenen sozialen Positionen - weitgehend unabhängig von allen individuellen Besonderheiten - jeweils zu verhalten pflegen. Der soziologische Blickwinkel berührt hier insofern unsere Alltagsperspektive, als die Begriffe »Rolle« und »Position« abgelöst sind von ganz bestimmten Personen aus unserem eigenen Erfahrungsbereich und vielmehr abheben auf »Figuren« oder »Typen«, die im Zusammenleben mit anderen jeweils auf bestimmten gesellschaft- <?page no="104"?> 104 lichen Schauplätzen oder Bühnen in »entsprechender« Weise voraussehbar agieren. Damit entsprechen der sozialen Position auf der Verhaltensebene ganz bestimmte soziale Rollen. Oder in der griffigen Charakterisierung des amerikanischen Rollentheoretikers Ralph Linton: Der Begriff soziale Position bezieht sich auf den »strukturellen« oder »statischen« Aspekt, der korrespondierende Begriff der sozialen Rolle auf den »dynamischen« Aspekt des zwischenmenschlichen Handelns und Verhaltens. Die Gesellschaft erscheint uns dabei als ein riesiges organisiertes Gefüge, Netzwerk oder System, in dem vom einzelnen Individuum unabhängige Positionen zu besetzen sind: die Eltern in der Familie, die Lehrerin in der Schule, der Meister im Betrieb, der Pfarrer in der Kirchengemeinde, die Bürgermeisterin in der Verwaltung, der Offizier beim Militär, der Vorstand im Verein usw. Wird eine dieser sozialen Positionen z. B. durch freiwilliges Ausscheiden oder Tod ihres bisherigen Inhabers frei, so nimmt ein anderer die freigewordene Stelle ein. Soziologisch gesehen gibt es daher - anders als in Nachrufen - keine Lücke, die sich nicht wieder schließen lässt. Von seiner wissenschaftlichen Perspektive her lassen sich also für den Soziologen - wiederum im Unterschied zum Psychologen, den ja primär die besonderen Eigenschaften und individuellen Erlebniswelten interessieren - die Menschen vor allem differenzieren nach den sozialen Positionen, die sie im Laufe ihres Lebens einnehmen oder auch gleichzeitig nebeneinander innehaben. Hierbei unterscheidet man: • zugewiesene oder zugeschriebene Positionen, die wir ohne eigenes Zutun (gewissermaßen »natürlich«) erlangen und die z. B. bestimmt werden durch unser Geschlecht (Mann, Frau), durch unser jeweiliges Alter (Kleinkind, Kind, Jugendlicher, Erwachsener, Greis), durch unsere Position in der Herkunftsfamilie (Sohn, Bruder, Tochter, Schwester) und durch unsere Hautfarbe, ethnische Gruppe oder Nationalität; • erworbene Positionen, wie beispielsweise unsere berufliche Stellung (Lehrer, Auszubildender, Schreinermeister, Versicherungsvertreter, Beamter, Hilfsarbeiter, Ärztin, Friseuse, Sekretärin usw.), unsere Position in der selbst gegründeten Familie <?page no="105"?> 105 (Ehemann, Vater, Ehefrau, Mutter), in Freizeitgruppen (Freund, Freundin, Kegelbruder, Kassierer des Fußballklubs, Jugendtrainer u. Ä.) oder in öffentlichen Organisationen (Parteifreund, Gemeinderat, Kirchenältester, aber auch Patient im Krankenhaus usw. usf.). Mit den Positionen verbinden sich nicht nur entsprechende soziale Erwartungskomplexe, die rollengemäßes Handeln für die Akteure definieren, sondern auch bestimmte soziale Wertschätzungen. Wiederum unabhängig von der persönlichen Eigenart des Menschen, der eine Position zu einem bestimmten Zeitpunkt innehat, verknüpfen wir allein schon mit der Kenntnis einer bestimmten Position einen höheren oder niedrigeren sozialen Prestigewert. Diesen Prestigewert einer sozialen Position bezeichnet man als Status. So wird beispielsweise der Status eines Gymnasiasten höher bewertet als der eines Realschülers. Doch auch solche Bewertungen sind relativ: In den Augen einer Akademikerfamilie ist vermutlich der Status eines Realschülers wesentlich niedriger als in den Augen einer Arbeiterfamilie. Mit manchen Positionen verbinden sich bestimmte Äußerlichkeiten, die ihre Bedeutung nach außen hin sichtbar unterstreichen und eine entsprechende soziale »Einordnung« rascher ermöglichen sollen. Der Doppelsinn des Wortes »Bedeutung« verweist schon darauf, dass es sich hierbei einmal um mehr rationale Äußerlichkeiten im Sinne nützlicher Erkennungszeichen, d. h. um sogenannte Rollenattribute, zum anderen jedoch um eher irrationale Auswüchse der Dokumentation von eigenem Prestige, Macht und Reichtum, um sogenannte Statussymbole, handelt. So erleichtert es fraglos die soziale Orientierung, wenn wir im Krankenhaus den Arzt an seinem Stethoskop, auf dem Bahnsteig den Stationsvorsteher an seiner roten Mütze und Trillerpfeife oder in einer fremden Stadt den Verkehrspolizisten an seiner Uniform erkennen. Andererseits muss man sich fragen, inwieweit in vielen Betrieben und auch Behörden beispielsweise die Lage, Größe und Ausstattung der Büros eine vernünftige Grundlage haben. Wahrscheinlich gibt es in jeder größeren Firma den Gruppenleiter, der bisher viele Akten und Zeichnungen auf seinem relativ kleinen Schreibtisch in einem engen und vielleicht auch <?page no="106"?> 106 noch düsteren Büro zu bearbeiten hatte, jetzt aber - zum Abteilungsleiter befördert - ein repräsentatives, lichtdurchflutetes Zimmer mit einem sehr großen Schreibtisch, auf dem er jetzt aber nur noch wenige Akten auszubreiten hat, beanspruchen darf, ja sogar förmlich verordnet bekommt. Nur am Rande sei in diesem Zusammenhang auch auf die vielfältigen Ausdrucksformen von Statussymbolen verwiesen, mit denen wir überall um uns herum in Form von Autos, Kleidung, Luxusgegenständen u. Ä. konfrontiert werden und die oft lächerliche Versuche darstellen, sich um jeden Preis von den anderen zu unterscheiden bzw. manchmal auch schlicht soziale Täuschungsmanöver sind. Kehren wir zurück zu unserem Ausgangspunkt, zum Gleichnis vom Rollenspieler. Ralf Dahrendorf hat diese Metapher in der Rezeption früherer amerikanischer Beiträge zu diesem Thema bereits gegen Ende der 1950er-Jahre einem breiteren Leserkreis in Deutschland vorgestellt. Wahrscheinlich ist der Titel seines Buches »Homo sociologicus« etwas irreführend, weil man darunter vor allem eine Aussage über den Menschen vermuten kann und weniger eine Erörterung soziologischer Betrachtungsweisen und Modelle. Wie auch immer -, Dahrendorf hat mit dieser Schrift eine bis heute andauernde Auseinandersetzung mit dem Grundthema des sozialen Rollenspiels provoziert. Unsere bisherigen Überlegungen hierzu lassen sich deshalb in der Diktion Dahrendorfs wie folgt zusammenfassen: »Zu jeder Stellung, die ein Mensch einnimmt, gehören gewisse Verhaltensweisen, die man von dem Träger dieser Position erwartet; zu allem, was er ist, gehören Dinge, die er tut und hat; zu jeder sozialen Position gehört eine soziale Rolle. Indem der Einzelne soziale Positionen einnimmt, wird er zur Person des Dramas, das die Gesellschaft, in der er lebt, geschrieben hat. Mit jeder Position gibt die Gesellschaft ihm eine Rolle in die Hand, die er zu spielen hat. Durch Positionen und Rollen werden die beiden Tatsachen des einzelnen und der Gesellschaft vermittelt; dieses Begriffspaar bezeichnet homo sociologicus, den Menschen der Soziologie, und es bildet daher das Element soziologischer Analyse. Soziale Rollen bezeichnen Ansprüche der Gesellschaft an die Träger von Positionen, die von zweierlei Art sein können: einmal An- <?page no="107"?> 107 sprüche an das Verhalten der Träger von Positionen (Rollenverhalten), zum anderen Ansprüche an sein Aussehen und seinen ›Charakter‹ (Rollenattribute). Soziale Rollen sind Bündel von Erwartungen, die sich in einer gegebenen Gesellschaft an das Verhalten der Träger von Positionen knüpfen« (Dahrendorf 1964, 25 f.). Wenn in der Soziologie also von sozialer Rolle die Rede ist, steht zunächst die objektive Betrachtung eines Verhaltens im Hinblick auf eine bestimmte soziale Position im Vordergrund. D. h. es geht nicht darum, wie sich ein einzelnes Individuum selbst subjektiv sieht, sondern darum, wie es von anderen wahrgenommen wird, was andere an unausgesprochenen Erwartungen und/ oder direkt artikulierten Ansprüchen und Forderungen an es richten. In dieser Beziehung normieren dann auch Rollen systematisch und überindividuell das Aufgabenverhalten in einem sozialen System (einer Gruppe, einer Gesellschaft). Die an die sozialen Positionen geknüpften typischen Bündel von Verhaltenserwartungen werden deshalb auch Rollennormen genannt, d. h. sie sind Ausdruck gesellschaftlicher Wertstrukturen, treten unter bestimmten Bedingungen auf und verlangen vom Rollenträger ein regelhaftes Handeln und Verhalten. Hinzu kommt, dass im Feld sozialer Beziehungen eine Position immer auch mit anderen Positionen verknüpft ist, so dass die dazugehörenden Rollen sich wechselseitig aufeinander beziehen und beeinflussen. Wir haben solche Interdependenzen sozialer Rollen schon in komplementären Rollenbeziehungen wie Ehemann-Ehefrau, Lehrer-Schüler, Arzt-Patient, Verkäufer-Kunde u. Ä. kennengelernt. Die Erwartungen der einen Rolle beziehen sich hier auf das Verhalten der anderen und umgekehrt, wobei derartige Rollenbezüge häufig auch durch Überbzw. Unterordnung ihrer Spieler unterscheidbar sind. Allerdings bezieht sich die Komplementarität von Rollen nicht nur auf jeweils zwei Rollen, sondern muss meist als Ausdruck der Beziehungen zu mehreren anderen Positionen verstanden werden. Die Rolle »Kind« beispielsweise ist unaufhebbar mit den Rollen »Vater« und »Mutter« verschränkt, gegebenenfalls noch mit der Rolle »Erzieherin im Kindergarten«, später »Lehrerin« usw. Somit setzt sich fast jede <?page no="108"?> 108 Rolle aus den Verhaltenserwartungen mehrerer, jeweils in einer spezifischen Beziehung zum Rollenträger stehender Bezugspersonen und Bezugsgruppen zusammen. Die nachfolgende Abbildung zeigt, wie beispielsweise die Position des Lehrers eingebettet ist in ein ziemlich komplexes Beziehungsverhältnis verschiedener sozialer »Regisseure« und Bezugsgruppen innerhalb und außerhalb der Organisation Schule, die Universitäten Wissenschaftl. Vereinigungen Gewerkschaften Lehrerverbände Heimatverbände Schulträger Eltern Gemeinde Polit. Parteien Sportvereine Kulturelle Vereinigungen (Chöre, ...) Wirtschaft Kirche Kultusministerium Schulabteilung Staatl. Schulamt, Untere Schulaufsichtsbehörde Oberschulamt Binnenraum der Schule Schulleiter stellv. Schulleiter Lehrer Kollege Hilfspers. Schüler Hausmeister Abb. 3: Bezugsgruppen und -personen am Beispiel des Lehrers (modifiziert nach Klose 1971, 81) <?page no="109"?> 109 das »Drehbuch« für die Berufsrolle des Lehrers schreiben und inszenieren sowie deren individuelle »Aufführungsqualität« überwachen. In die Definition der Lehrerrolle gehen somit die Erwartungen von Schülern, Eltern, Kollegen, Vorgesetzten, aber auch vom Schulträger, von Gewerkschaften, von kulturellen Vereinigungen oder Sportvereinen, von Wirtschaftsverbänden, Handwerkskammern usw. ein. Jede dieser Bezugsgruppen richtet an das Lehrerverhalten spezifische Ansprüche, an jeder dieser Erwartungen muss der Lehrer sein Verhalten orientieren. Diese Ausschnitte aus den Rollenbeziehungen, die sich in der situativen Orientierung des Rollenspielers an den Verhaltenserwartungen seines jeweiligen Rollenpartners manifestieren (z. B. Lehrer gegenüber Schülerinnen im Unterricht, Lehrer gegenüber Kollegen im Konferenzzimmer, Lehrerin gegenüber Schulrat beim fälligen Schulbesuch), werden Rollensektoren oder auch Rollensegmente genannt. Die Gesamtmenge aller miteinander zusammenhängenden Rollenbeziehungen, die eine Person in einer bestimmten sozialen Position eingeht, wird dagegen als Rollensatz bezeichnet (z. B. der Lehrer als Klassenlehrer, Fachlehrer, Mitglied der Prüfungskommission, Sprecher des Kollegiums, Personalratsmitglied und Beauftragter für die Lehrerbibliothek). Die Bezugspersonen und Bezugsgruppen des Lehrers, wie Schüler, Eltern, Vorgesetzte oder Kollegen, legen mit ihren Erwartungen nicht nur die Lehrerrolle (oft mit gegenseitig recht widersprüchlichen und konfliktträchtigen Zumutungen, auf die wir noch zu sprechen kommen werden) weitgehend fest, sondern machen ihre Vorstellungen dem Lehrer als Rollenträger auch nachdrücklich bewusst. Hierfür stehen ihnen die klassischen Instrumente der sozialen Kontrolle zur Verfügung, indem sie auf die Erfüllung ihrer Ansprüche (= rollenkonformes Verhalten) mit Anerkennung, Lob und Belohnung (= positive Sanktionen), auf die Enttäuschung ihrer Erwartungen (= abweichendes Verhalten) aber mit Vorwürfen, Missbilligung, Verachtung oder gar mit der Androhung disziplinarischer Maßnahmen (= negative Sanktionen) reagieren. Auch in diesem Sinne bringt das Attribut »sozial« im Begriff der sozialen Rolle die gesellschaftliche Verbindlichkeit <?page no="110"?> 110 der Verhaltenserwartungen zum Ausdruck, denen man sich in der Regel nicht ohne Schaden entziehen kann. Zur vertiefenden und ergänzenden Lektüre Raymond Boudon & François Bourricaud (1992): Soziologische Stichworte. Ein Handbuch. (Darin »Rolle«, S. 435-440). Westdt. Verlag: Opladen. Ralf Dahrendorf (2006): Homo sociologicus. Ein Versuch zur Geschichte, Bedeutung und Kritik der Kategorie der sozialen Rolle. 16. Aufl. (Darin insbesondere Kapitel III bis VII). VS: Wiesbaden. Gottfried Eisermann (1991): Rolle und Maske. (Darin insbesondere die Kapitel V »Handeln«, VI »Rolle«, VIII »Rollenmerkmal« und XI »Maske«). Mohr (Siebeck): Tübingen. Ralph Linton (1973): Rolle und Status. In Heinz Hartmann (Hrsg.), Moderne amerikanische Soziologie. Neuere Beiträge zur soziologischen Theorie. 2. Aufl., S. 308-315. dtv/ Enke: München, Stuttgart. Johann August Schülein (1989): Rollentheorie revisited. In Soziale Welt, (4), S. 481-496. 2.4.3.2 Schwierigkeiten beim Rollenspiel: Rollenkonflikte Wie uns die Rollentheorie gezeigt hat, sind schon mit einer einzigen sozialen Position - beispielsweise der des Lehrers - unterschiedliche Erwartungen verbunden, aus denen zahlreiche Widersprüche und Konflikte resultieren können. So wird etwa der Lehrer immer wieder auf bestimmte Erwartungen seiner Schüler stoßen, die sich nicht mehr mit jenen Rollenvorstellungen vereinbaren lassen, die die Schulverwaltung an ihn richtet. Er muss also in jedem Fall bestimmten Erwartungen zuwiderhandeln. Und selbst innerhalb einer einzigen Bezugsgruppe können schon Widersprüche auftreten, wenn z. B. beim Elternabend der Klassenpflegschaft der eine Teil der Eltern vom Lehrer leistungsorientierten Unterricht und soziale Auslese fordert, während ein anderer Teil mehr für individuelle Förderung und pädagogische Hilfen plädiert. Kurz: Alle Personen und Gruppen, mit denen ein Lehrer im Rahmen seiner beruflichen Position zu tun hat, können ihn mit einander widersprechenden Erwartungen und grundsätzlich divergenten Zumutungen belasten. Da der Lehrer dadurch unter Umständen <?page no="111"?> 111 sozial in arge Bedrängnis und auch in einen inneren Zwiespalt gerät, wird diese typische Situation des Erwartungskonflikts innerhalb einer sozialen Rolle als Intra-Rollenkonflikt bezeichnet. Nun hat - wie wir auch gesehen haben - niemand im alltäglichen Leben und Handeln nur eine einzige soziale Position inne. Der Mensch des Alltags - nennen wir ihn Wilhelm Müller - ist ja z. B. nicht nur Lehrer, sondern auch Mann, Ehegatte, Vater, Katholik, Staatsbürger, aktives Mitglied eines Musikvereins u. v. a. Dieser Sachverhalt wird auch als Rollenkonfiguration bezeichnet und lässt sich grafisch wie folgt darstellen: Die mit diesen einzelnen Positionen verknüpften Rollenerwartungen können teilweise miteinander vereinbar sein. Man kann sich aber aufgrund der eigenen Alltagserfahrung sicher gut vorstellen, Wilhelm Müller Ehegatte Lehrer Katholik Vereinsmitglied Staatsbürger Vater Mann X Y Z Abb. 4: Rollenkonfiguration einer Person x, y, z = situativ aktualisierte andere Rollen (z. B. Autofahrer, Kunde, Patient usw.). <?page no="112"?> 112 dass sich aus diesem Nebeneinander von Rollen und der Gleichzeitigkeit unterschiedlicher Erwartungen auch erhebliche Spannungen und schwerwiegende Konfliktlagen ergeben können: Der Lehrer Wilhelm Müller ist vielleicht mit seinem Beruf »verheiratet« und begegnet deshalb den seitens der Familie an ihn als Ehemann und Vater gerichteten Ansprüchen nur unzureichend. Oder er probt mit seinem Musikverein intensiv für verschiedene bevorstehende Konzerte, was ihn an der notwendigen Unterrichtsvorbereitung hindert, die fälligen Korrekturen der Klassenarbeiten verzögert sowie das erwartete kollegiale Engagement beeinträchtigt. Je mehr soziale Positionen Wilhelm Müller im Netzwerk verschiedener sozialer Beziehungen einnimmt, desto wahrscheinlicher wird er den unterschiedlichen, oft auch noch grundsätzlich widersprüchlich formulierten Anforderungen und Erwartungen nicht mehr in vollem Umfang gerecht werden können. Und zwar nicht nur von der zeitlichen Erfüllung der Rollenzumutungen her, sondern auch insbesondere aufgrund verschiedener moralischer Implikationen, die die einzelnen Rollen beinhalten und die die eine oder andere Partei enttäuschen bzw. die eine oder andere Verhaltenserwartung verletzen (müssen). Diese Konfliktart zwischen verschiedenen Rollen wird Inter-Rollenkonflikt genannt. Noch komplizierter und spannungsreicher wird es, wenn man gegenüber einer Person oder einer Bezugsgruppe gleichzeitig verschiedene Positionen einnimmt und entsprechend heterogene Rollenverpflichtungen erfüllen soll. Wenn z. B. ein Lehrer sein eigenes Kind in der Klasse unterrichten muss, ein Vorgesetzter gleichzeitig Nachbar seines Mitarbeiters ist oder - allgemeiner - wenn beispielsweise Berufsrollen durch Alters- und Geschlechtsrollen überlagert sind (junger Schulleiter mit überwiegend älterem weiblichem Lehrerkollegium) usw. Die Ungewissheit darüber, in welcher Position die anderen einen gerade sehen bzw. welchen Status und welche Erwartungen sie damit verbinden, kann zu großer persönlicher Unsicherheit führen. Der portugiesische Werkmeister bei VW in Wolfsburg beispielsweise weiß oft nicht genau, ob man in ihm primär den Ausländer oder den Vorgesetzten sieht. Bei der Rolle des Jugendlichen in unserer Gesellschaft sind solche positionalen und statusmäßigen Unsicherheiten übrigens beson- <?page no="113"?> 113 ders charakteristisch: Seine Rolle wird nicht nur häufig doppelt negativ bestimmt (»nicht mehr Kind, - aber auch noch nicht Erwachsener«), was zweifellos keineswegs identitätsfördernd ist, sondern es kann ihm im Alltag tatsächlich in rascher Folge passieren, dass er einmal in dieser oder jener Altersrolle angesprochen und dabei mit gesellschaftlich höchst unterschiedlichen Erwartungen konfrontiert wird. Für empirische Rollenanalysen wie für das alltagspraktische Handeln ist es von zentraler Bedeutung, welche verschiedenen Lösungsmöglichkeiten dem Individuum bei Rollenstress bzw. einem »ausgewachsenen« Rollenkonflikt zur Verfügung stehen, um diesen in Grenzen zu halten, zu mildern oder ganz zu beseitigen und aufzulösen. Die Rollentheorie nennt hier eine Reihe von möglichen Mechanismen zur Lösung bzw. Regelung solcher Rollenkonflikte (z. B. Dreitzel 1972, Wössner 1986, Merton 1973). In Anlehnung hieran hat beispielsweise Kurt Holm (1970, 86 f.) für den Intra-Rollenkonflikt eines Werkmeisters einige »Lösungstricks« entworfen. Der von ihm dabei beschriebene Fall geht aus von der für Vorgesetzte geradezu typischen Konfliktlage einerseits zwischen den Erwartungen der Betriebsleitung, leistungsorientiert bei den Mitarbeitern bestimmte Ziele durchzusetzen und andererseits den Erwartungen der Mitarbeiter, auf ihre personalen Bedürfnisse einzugehen und sie »nach oben« zu transformieren. Die hierfür beschriebenen »Lösungsmuster« können unter Umständen auch auf andere Intra-Rollenkonflikte übertragen werden: • Handlungsverzögerung Wenn eine Situation entsteht, in der an den Werkmeister konträre Erwartungen gerichtet werden -, dann zögert er seine Handlungen so lange hinaus, bis sich die Situation inzwischen von allein geändert hat oder bis einer der »Erwartungsheger« die Angelegenheit vergessen hat. Im Extremfall führt diese Haltung des »Aussitzens« zur absoluten Verantwortungsscheu und zum »sozialen Rückzug«, da der Meister versucht, jeglichen Kontakt mit seinen Erwartungshegern zu vermeiden. • Handlungsverschleierung Der Meister vollzieht zwar eine Handlung, gibt sich dabei jedoch die größte Mühe, die Wahrnehmung seiner Handlung <?page no="114"?> 114 durch die eine oder durch beide Seiten zu trüben. In der Regel dürfte ihm das beim Betriebsleiter besser gelingen. • Alternierende Erwartungstreue Der Meister betreibt eine Art Schaukelpolitik. Um es nicht völlig mit einer der beiden Seiten zu verderben, entspricht er in seinem Handeln einmal den Erwartungen der einen und einmal den Erwartungen der anderen Seite. • Handlung nach Legitimitätsgesichtspunkten Der Meister entspricht jeweils der Erwartung, der er Legitimität zuerkennt. • Handlung nach Sanktionskalkül Der Meister trifft (allmählich und alle Möglichkeiten abwägend) eine grundsätzliche Entscheidung. Er stellt sich auf die Seite, die die stärkeren Sanktionsmittel besitzt: Und das ist in der Regel die Betriebsleitung. In der Realität erweisen sich häufig gerade Intra-Rollenkonflikte als derart kompliziert und vielschichtig, dass dem bedrängten Rollenträger selten eine einzige und spezielle Bewältigungsstrategie zur Verfügung steht, sondern er vielmehr zu situational entworfenen Mischformen der oben genannten fünf Möglichkeiten greifen dürfte. Letztendlich werden in der sozialen Wirklichkeit Rollenkonflikte jedoch meist zugunsten der stärker sanktionierenden Bezugspersonen oder -gruppen entschieden, zumal wenn von ihnen die berufliche Existenzsicherung oder Karriere abhängt. In ähnlicher Weise ergibt sich auch bei Inter-Rollenkonflikten im Allgemeinen die Möglichkeit zu einem situationsspezifischen Verhalten mittels einer sogenannten Rollenpriorisierung, indem die für die jeweilige Situation weniger bedeutsamen »externen Variablen« oder »privaten Externa« entsprechend hintangestellt werden. So könnte nach Scheuch & Kutsch (1972, 82) eine solche Prioritätenabfolge für unseren Wilhelm Müller etwa wie in Abb. 5 auf der folgenden Seite dargestellt werden. Damit wird es »immer mehr zu einer Kunst, im sozialen Leben die richtige Rolle zur rechten Zeit und am rechten Ort auszuüben und seine Rollen nicht durcheinander zu bringen. Häufiger und flexibler Rollenwechsel mit raschem und sozial-sensiblem Umschalten ist typisch für die Alltagsanforderungen in der heutigen <?page no="115"?> 115 Gesellschaft. Doch neben dieser sozial abgeforderten Virtuosität und Sensibilität beim Rollenspiel ist individuell auch immer gutes Augenmaß vonnöten. Denn man würde es Wilhelm Müller wohl übel nehmen, wenn er innerhalb der Organisation Schule die Rolle des Lehrers nicht wenigstens einigermaßen »standesgemäß« darstellt, sondern, weil ihm das vielleicht sympathischer erscheint, seinen Schülern unvermittelt kumpelhaft und distanzlos gegenübertritt. Vor einiger Zeit erschien dazu in verschiedenen pädagogischen Publikationen eine Karikatur mit soziologischem Tiefgang: Ein junger, »emanzipatorisch« sich dünkender Lehrer kommt am ersten Schultag in die neue Klasse mit den Worten: »Hallo, ich heiße Klaus, ihr könnt gerne zu mir ›Du‹ sagen.« - Reaktion des Klassensprechers: »Und Du darfst zu uns ›Sie‹ sagen! « Zur vertiefenden und ergänzenden Lektüre Heinz Hartmann (Hrsg.) (1973): Moderne amerikanische Soziologie. Neuere Beiträge zur soziologischen Theorie. 2. Aufl. (Darin insbesondere die Beiträge Robert K. Merton, »Der Rollen-Set: Probleme der soziologischen Theorie«, S. 316-333 und William J. Goode, »Eine Theorie des Rollen-Stress«, S. 336-360). dtv/ Enke: München, Stuttgart. Karl-Heinz Hillmann (2007): Wörterbuch der Soziologie. (Darin die Stichwörter »Rollenkonflikt«, und »Rollenüberlastung«). 5. Aufl. Kröner: Stuttgart. Abb. 5: Hypothetische Rollenpriorisierungen Dominante Situation: Familie → Beruf → Verein Hypothetische Reihenfolge der Absättigung von Rollenverpflichtungen: 1.Vater 1. Lehrer 1.Vereinsmitglied 2. (Ehe-)Mann 2. Mann 2. Mann 3. Katholik 3. Staatsbürger 3. Lehrer 4. Lehrer 4.Vater 4.Vater 5.Vereinsmitglied 5. Katholik 5. Staatsbürger 6. Staatsbürger 6.Vereinsmitglied 6. Katholik <?page no="116"?> 116 2.4.3.3 Abweichendes Verhalten und soziale Kontrolle: Weh’ dem, der aus der Rolle fällt Im Zusammenhang mit sozialen Normen begegnen wir im Alltag nicht nur Rollenkonflikten, sondern auch jenen Verhaltensweisen, die mit den geltenden Normen und Werten nicht übereinstimmen, darum gesellschaftlich als problematisch gelten und meist als »abweichend« oder »deviant« bezeichnet werden. Wir haben uns ja bereits in Abschnitt 2.3 mit kollektiven Abweichungen (insbesondere in der Form von subkulturellen Entwürfen und Verhaltensprägungen) befasst. Hier soll dieses Thema nochmals in systematischer Absicht aufgenommen werden, um u. a. auch die Prozesse individueller Abweichungen von Rollenvorgaben näher zu beleuchten, zumal wir uns im Alltag gerade mit diesen Formen der Abweichung immer wieder auseinander setzen müssen. Die Spannweite abweichenden Verhaltens und Handelns ist erheblich und hat auch ganz verschiedene Relevanzen. Sie beginnt bei augenfälligen Verletzungen bestimmter gesellschaftlicher Normen, Werte und Institutionen, also im engeren Sinne sog. delinquenten Verhaltensweisen, die von Strafgesetzen und von Strafverfolgungsinstanzen ausdrücklich kriminalisiert werden. Darüber hinaus umfasst sie aber auch Abweichungen und Devianzen im Sinne von »aktiver Neugestaltung der Umwelt, über versuchte Neuantworten auf die Sinnfrage bis hin zu wissenschaftlichen Erfindungen und Entdeckungen« (Bellebaum 2001, 84). Wie wir schon gesehen haben, lässt sich abweichendes Verhalten in allen uns bekannten Gesellschaften nachweisen und wird von der jeweils gesellschaftlich herrschenden Perspektive aus auch als negativ angesehen und bewertet. Erklärt wird es oft damit, dass die Erziehung wohl nicht funktioniert habe, dass verkehrte Leitbilder vermittelt worden seien und die soziale Kontrolle versagt habe. Neben solchen pädagogischen Ursachen werden häufig auch noch psychologische Erklärungsgründe angeführt, die sich auf die Persönlichkeitsstruktur bzw. auf bestimmte »schädliche Neigungen« und Veranlagungen des Abweichenden stützen. <?page no="117"?> 117 Wenn auch im Einzelfall das abweichende Verhalten eines Menschen mit einer falschen Erziehung, mit negativen Lernprozessen oder auch mit bestimmten Persönlichkeitseigenschaften mehr oder weniger monokausal plausibel gemacht werden kann, so hat doch eine ausgedehnte sozialwissenschaftliche Erforschung der Hintergründe von Abweichungen inzwischen komplexere Bedingungszusammenhänge nachgewiesen, von denen im Allgemeinen auszugehen ist. So kann es sein, dass gerade durch ein Übermaß bzw. eine allzu perfekte Organisation der sozialen Kontrolle bestimmte biologische oder psychische Bedürfnisse nur ungenügend befriedigt werden können, was zu Frustrationen führt, die dann beispielsweise als Abweichungen in Form von Aggressionen entladen werden (sogenannte Frustrations-Aggressions-Hypothese). Oder in einer Gesellschaft bzw. in einer sozialen Gruppe werden bestimmte Werte so übermäßig betont und entsprechend mit sozialer Anerkennung verknüpft, dass Individuen, die nicht in der Lage sind, diese Werte auf konventionell und rechtlich angemessene Art und Weise zu erreichen, sich ihretwegen gesellschaftlich nicht akzeptierter Mittel bedienen. Als ein entsprechendes Beispiel für abweichendes Verhalten führen Pearlin und Mitarbeiter die bekannte Erfahrung des »Abschreibens« in der Schule an: »›Abschreiben‹ kommt hauptsächlich bei solchen Schülern vor, bei denen die Diskrepanz zwischen dem Wert, der dem Vollbringen von Leistungen beigemessen wird, und den entsprechenden Leistungsmöglichkeiten am größten ist. Eltern, die ihren Kindern gute Leistungen abverlangen, wollen ihnen wahrscheinlich nur beibringen oder ihnen dabei helfen, etwas zu erreichen; sie können aber unbewusst und ungewollt auf diesem Wege dazu beitragen, dass ihre Kinder sich Formen eines abweichenden Verhaltens aneignen« (zit. n. Jager & Mok 1972, 70). Eine ganz andere Sichtweise hinsichtlich abweichenden Verhaltens entwickelt ein neuerer Erklärungsversuch, der sogenannte Etikettierungsansatz (auch als »labeling approach« oder »social reaction approach« bezeichnet). Abweichendes Verhalten ist dabei nach der berühmten Definition von Howard S. Becker (2014, <?page no="118"?> 118 26 ff., 172 ff.) das Verhalten, das Menschen so bezeichnen. Hiernach sind die Reaktionen der Umwelt im Hinblick auf den Devianten mindestens ebenso wichtig wie das abweichende Verhalten selbst. Abweichung wird daher als das Ergebnis eines sozialen Interaktionsprozesses aufgefasst, der auf mehreren Ebenen abläuft: • Gesellschaftlich werden bestimmte Normen und Regeln gesetzt, deren Verletzung »Abweichung« bedeutet; • diejenigen, die die Regeln bewusst oder unbewusst verletzen und dabei ertappt werden, werden von den anderen »gebrandmarkt« (»stigmatisiert«); • dementsprechend werden sie »behandelt«, »isoliert«, »bestraft« oder »resozialisiert«; • diese »Behandlung«, d. h. die Anwendung von Normen und Sanktionen auf die »Täter«, kann wiederum in der Konsequenz (im Sinne eines Teufelskreises, aus dem es scheinbar kein Entrinnen mehr gibt) für weiteres abweichendes Verhalten bestimmend sein usw. Beispielsweise kommt ein als »Dieb« verurteilter Jugendlicher im Gefängnis schnell mit echten Dieben in Kontakt und lernt dort erst richtig deren professionelle Praktiken; werden diese Lernerfahrungen mit entsprechenden Diskriminierungen der Umwelt gedoppelt, so können sich daraus leicht typische »kriminelle Karrieren« entwickeln. Obwohl dieser Etikettierungsansatz zunächst innerhalb der Kriminalsoziologie entwickelt wurde, lässt er sich auch übertragen auf die persönlich diskreditierenden Zuschreibungsprozesse gegenüber körperlich, psychisch oder geistig Behinderten sowie in Bezug auf Angehörige ethnischer, nationaler, politischer oder sexueller Minderheiten. Abweichendes Verhalten ist von diesem theoretischen Erklärungsversuch her weniger das Ergebnis bestimmter Persönlichkeitsstrukturen Einzelner als vielmehr das Produkt der sozialen Definitionskraft und durchgesetzter Zuschreibungsmacht von sozialen Gruppen und Institutionen. Eine Schwierigkeit dieses Ansatzes liegt jedoch in der begrenzten Möglichkeit, konkrete gesellschaftliche Bedingungen für die Existenz bestimmter Etikettierungen anzugeben und abzuleiten. <?page no="119"?> 119 Schließlich wird von bedeutenden Soziologen, wie beispielsweise George C. Homans (1910-1989) oder Lewis A. Coser (1913-2003), darauf verwiesen, dass eine Gesellschaft paradoxerweise ein gewisses Maß an normverletzenden Abweichungen zur Sicherung ihrer Stabilität geradezu benötigt. Solche - auf den ersten Blick möglicherweise provokanten - Erklärungen lassen sich indessen durch folgende empirische Befunde einsichtig machen: • Manche Abweichungen von Normen können in Bezug auf ungelöste oder unlösbare gesellschaftliche oder auch individuelle Probleme eine Art »Ventil-Charakter« haben. In diesem Zusammenhang wird dann immer wieder die Funktion der Prostitution als Beispiel angeführt, die in vielen Gesellschaften als eine »quasi-institutionalisierte Ausweich-Sitte« gilt. • Die Wahrnehmung abweichenden Verhaltens gibt den, auf Normeinhaltung achtenden Repräsentanten der entsprechenden sozialen Bezugsgruppe der »Erwartungsheger« beispielsweise auch die Möglichkeit, »aus gegebenem Anlass« die Gültigkeit von bestimmten Normen und Regeln wieder in Erinnerung zu rufen und deren unveränderten Geltungsanspruch anzumahnen und neu zu bekräftigen. • Die beispielsweise als Folge einer sozialen »Anprangerung« mögliche kollektive Reaktion auf »Abweichler« und »Sündenböcke« kann - sozialpsychologisch gesehen - die Kohäsion und Integration und damit die Stabilität einer sozialen Gruppe fördern, was jedoch nicht heißt, dass dieses Verfahren aufgrund seiner empirisch funktionalen Wirkungen auch pädagogisch oder moralisch zu rechtfertigen ist. • Wie kollektive Abweichungen sind auch die Devianzen Einzelner manchmal Vorboten und Schrittmacher gesellschaftlichen und kulturellen Wandels und damit auch vorweggenommene Ausdrucksformen künftigen »normalen« Verhaltens. Emile Durkheim wies z. B. auf Sokrates hin, der - gemessen am damaligen athenischen Recht - ein »Verbrecher« gewesen sei, dennoch aber einen neuen Glauben und eine neue Moral vorbereitet habe. Wäre jene Norm, die Gedankenfreiheit verbot, nicht nachhaltig verletzt worden, könnten wir uns heute nicht der Gedankenfreiheit erfreuen. <?page no="120"?> 120 Zur vertiefenden und ergänzenden Lektüre Howard S. Becker (2014): Außenseiter. Zur Soziologie abweichenden Verhaltens. 2. Aufl. Springer VS: Wiesbaden. Alfred Bellebaum (2001): Soziologische Grundbegriffe. Eine Einführung für Soziale Berufe. (Darin Kapitel 8 »Soziale Kontrolle«, S. 78-103). 13. Aufl. Kohlhammer: Stuttgart, Berlin, Köln. Emile Durkheim (1984): Die Regeln der soziologischen Methode. (Darin 3. Kapitel »Regeln für die Unterscheidung des Normalen und des Pathologischen«, S. 141-164). Suhrkamp: Frankfurt/ M. Erving Goffman (1967/ 2010): Stigma: Über Techniken der Bewältigung beschädigter Identität. Suhrkamp: Frankfurt/ M. Karl-Heinz Hillmann (2007): Wörterbuch der Soziologie. (Stichwort »Abweichendes Verhalten«). 5. Aufl. Kröner: Stuttgart. 2.4.4 Rollenübertragung und Rollenübernahme: Traditionelle Prüfsteine für die Effizienz von Erziehung und Sozialisation Die wohl systematischste und konsequenteste Anwendung rollentheoretischer Annahmen auf den Sozialisationsprozess findet sich bei dem amerikanischen Soziologen Talcott Parsons (1902- 1979), der als einer der großen modernen soziologischen Theoretiker und als Hauptvertreter der strukturell-funktionalen Theorie gilt. In vergleichender Analyse verschiedener Aspekte des sozialen Handelns bei Emile Durkheim, Max Weber und Vilfredo Pareto (vgl. Abschnitt 1.5.3) weist Parsons gemeinsame Grundlagen individuellen und gesellschaftlichen Handelns auf und fügt sie in einen einheitlichen Bezugsrahmen als »Theorie sozialen Handelns« (Parsons & Shils 1951, Parsons 1964 und 1976). Im Rahmen seiner allgemeinen Handlungstheorie geht Parsons der soziologischen Grundfrage nach, welche Bedingungen erfüllt sein müssen, damit ein Zusammenleben und -wirken von mehreren Menschen möglich ist. Dabei begreift er die Gesellschaften als Systeme, in denen bestimmte Funktionen erfüllt sein müssen, damit die Struktur des Systems über einen gewissen Zeitraum gesichert bleibt (daher auch: strukturell-funktionale Theo- <?page no="121"?> 121 rie). Hierbei ist nicht in vordergründiger Weise nur an das Funktionieren eines sozialen Systems und an die Erhaltung gerade bestehender Systemstrukturen zu denken, sondern ganz allgemein auch an den physischen Fortbestand der Menschen. Dieses physische Überleben ist an ein soziales Verhalten der Individuen geknüpft, das kulturell und gesellschaftlich wirksamen Mustern entspricht und so für andere voraussehbare und berechenbare Beziehungsabläufe zulässt. Damit die Mitglieder eines sozialen Systems diese selbstregulativen Bedingungen erfüllen, gibt es nach Parsons zwei Mechanismen, die dies sicherstellen: • Die Sozialisation der heranwachsenden Individuen, mittels derer sie gleichfalls über die gesellschaftlich notwendigen Verhaltensmuster (Rollen) verfügen und sich ihrer für vorhandene oder neu sich abzeichnende Systemzwecke bedienen können sowie • die sozialen Kontrollen, die dann einsetzen, wenn von den Rollenerwartungen abgewichen wird. Von den verschiedenen sozialen Positionen aus gesehen, ist dieser Rollenzwang objektiv unterschiedlich stark und wird auch von den Rollenträgern selbst subjektiv differenziert wahrgenommen. Je mehr das Individuum als Rollenträger sich solche, quasi von »außen« herangetragene Anforderungen zu eigen macht, sie bejaht und sich ihnen unterwirft, umso weniger wird es diese Zumutungen und Erwartungen als zwanghaft empfinden. Überdies ist der Einzelne auf viele Rollenverpflichtungen schon deshalb vorbereitet, weil er sie bereits in früher Kindheit gelernt und in selbstverständlicher Weise verinnerlicht hat. Über diese Norminternalisierung werden soziale Verhaltensvorschriften in das Repertoire der Handlungsmuster des Individuums übernommen, so dass sie mehr und mehr als subjektiv selbstbestimmt und quasi »natürlich« begriffen werden. Da parallel dazu auch das Gewissen eine Kontrollfunktion ausübt, erscheint das sozialisierte Individuum - relativ unabhängig von äußeren Zwängen - nicht nur fähig (im kognitiven Sinne), sondern vor allem auch willens (im motivationalen Sinne), sich in entsprechenden Situationen rollenkonform zu verhalten. Im Idealfall besteht somit zwischen den Rollenerwartun- <?page no="122"?> 122 gen und den Rollenentsprechungen ein reziprokes Gleichgewicht: Der Mensch ist Lehrer, Facharbeiter, Arzt, Beamter oder Familienvater. Grundannahme dieser strukturell-funktionalen Rollentheorie ist also nicht nur, dass die Individuen im Sozialisationsprozess ihre Rollen, d. h. insbesondere deren gesellschaftliche Bedeutung und funktionalen Sinn erkennen lernen, um ihre Rollen dann auch »textgetreu spielen« zu können, sondern auch, dass durch Sozialisation die Rollen geradezu zum Bestandteil der Persönlichkeit werden. Unser bisher zur Anschauung benutztes Bild, die Analogie zwischen Schauspiel und Gesellschaftsbühne, wird damit in einem entscheidenden Punkt eingeschränkt. Dahrendorf formuliert dies so: »Während die Uneigentlichkeit des Geschehens für das Schauspiel konstitutiv ist, wäre sie im Bereich der Gesellschaft eine höchst missverständliche Annahme. Der Terminus ›Rolle‹ darf also nicht dazu verführen, in der rollen-›spielenden‹ Sozialpersönlichkeit gewissermaßen einen uneigentlichen Menschen zu sehen, der seine ›Maske‹ nur fallenzulassen braucht, um in seiner wahren Natur zu erscheinen. Homo sociologicus und der integre ganze Einzelne unserer Erfahrung stehen in einem paradoxen und gefährlichen Missverhältnis zueinander, das zu ignorieren oder zu bagatellisieren wir uns schwerlich leisten können. Dass der Mensch ein gesellschaftliches Wesen sei, ist mehr als eine Metapher, seine Rollen sind mehr als ablegbare Masken, sein Sozialverhalten mehr als die Komödie oder Tragödie, aus der auch der Schauspieler in die ›eigentliche‹ Wirklichkeit entlassen wird« (Dahrendorf 1964, 22). An anderer Stelle heißt es (wie übrigens in ähnlicher Weise schon bei Parsons & Bales 1955, 107 sowie Parsons 1974, 55) bei ihm: »Am Schnittpunkt des Einzelnen und der Gesellschaft steht homo sociologicus, der Mensch als Träger sozial vorgeformter Rollen. Der Einzelne ist seine sozialen Rollen, aber diese Rollen sind ihrerseits die ärgerliche Tatsache der Gesellschaft« (Dahrendorf 1964, 16). Im Prinzip wird damit der Sozialisationsvorgang nicht nur als Integrations-, sondern auch als Durchdringungs-(Interpenetrations-) Prozess von Kultur, Gesellschaft und Person gedeutet. Sozialisation <?page no="123"?> 123 selbst erscheint bereits inhaltlich mit den gegebenen allgemeingesellschaftlichen bzw. subkultur-spezifischen Normen, Werten und sozialstrukturell verankerten Institutionalisierungen festgelegt. Der Sozialisationsprozess ist umso erfolgreicher, je mehr das Individuum seine Rolle auch »ist«, d. h. je mehr es so handeln will, wie es handeln soll. Das dieser Denkfigur zugrunde liegende »elementare Modell« einer Sozialisationssequenz lässt sich grafisch folgendermaßen veranschaulichen: Das Feld I bezeichnet gewissermaßen einen »Input« von Seiten der »Sozialisationsagenten« (z. B. Eltern, Lehrer u. Ä.), mit denen der Sozialisand interagiert und kommuniziert und von denen er die zu erwerbenden Normen und Werte in Form von Geboten und Verboten erhält. In der Konsequenz dieses Inputs wird in Feld II auf der personalen Ebene des Sozialisanden und poten- I II III „Dispositonen” Faktoren der Persönlichkeitsstruktur Rollenerwartung Bereich des sozialen Systems, in dem das Individuum mit der Rollenerwartung konfrontiert wird (Bezugsgröße) „Verarbeitung” der Rollenerwartung durch das Individuum als (potenzieller) Rollenträger (RT) SAG „Sozialisationsagent” RT „Sozialisand“ Schwankungsbereich des tatsächlichen Rollenverhaltens V innerhalb des sozialen Systems (Messgröße) VEE ideale Entsprechung der Rollenerwartung V RT Abb. 6: Struktur einer elementaren Sozialisationssequenz (nach Frey 1974, 42) <?page no="124"?> 124 ziellen Rollenträgers ein individual-psychologischer Umsetzungs- und Lernprozess in Gang gebracht, der die individuellen Bedürfnisse des Handelnden mit den normativen Erwartungen seiner Interaktionspartner in Einklang bringt. Dies äußert sich dann in Feld III als »Output« in einem mehr oder weniger angepassten faktischen Verhalten des Rollenträgers. Allzu starke Abweichungen von der idealen Entsprechung der Rollenerwartung - d. h. Überentsprechungen und insbesondere Untererfüllungen von Normen - werden als »Pannen« oder »Defekte« im Sozialisationsprozess angesehen bzw. als individuelle »Kurzschlüsse« und »Fehlreaktionen« bedauert bzw. verurteilt und je nach dem Grad der Abweichung mehr oder weniger scharf negativ sanktioniert. Die strukturell-funktionale Handlungs- und Sozialisationstheorie geht also - insbesondere in der Version von Parsons - von der Frage nach den Bedingungen aus, unter denen soziale Systeme stabil und überlebensfähig sind. Eine relative Gleichförmigkeit des Verhaltens und Handelns verschiedener Individuen in gleichen sozialen Situationen wird hierfür als entscheidende Voraussetzung angenommen. Entsprechend wird der Vermittlungsprozess von Individuum und Gesellschaft einseitig oder zumindest primär von der gesellschaftlichen Ebene her betrachtet, wenn Sozialisation in anpassungsmechanistischer Tendenz als ein Vorgang begriffen wird, durch den ein Individuum von diversen Sozialisationsagenturen und -medien in bestehende soziale Rollen- und Interaktionssysteme integriert wird, in denen es die normativen Erwartungen seiner Kultur lernt, verinnerlicht und dann ihnen entsprechend handelt. Letztlich geht diese Sozialisationstheorie von einem voll sozialisierten Individuum aus, das selbst wieder vorwiegend als Element eines integrierten Sozialsystems verstanden und in dieser Betrachtungsweise vorrangig auf seine Funktionalität für dieses System untersucht wird. Unterstellt wird gleichzeitig, dass beim einzelnen Menschen jeglicher »Naturrest« in Form von Triebimpulsen und Affekten kulturell überformt bzw. von den gesellschaftlichen Wertvorstellungen und Institutionen absorbiert worden ist. Fraglos bleiben hierbei aber jene Dimensionen möglicher <?page no="125"?> 125 Freiheitsgrade des Handelns und Denkens weitgehend unberücksichtigt, »in denen das Verhältnis des handelnden Subjekts zu seinen Rollen gefasst werden kann« (Habermas 1968, 8). Mit anderen Worten: Die Anteile des Individuums (das immer noch »mehr« ist als das Bündel der von ihm »getragenen« Rollen) am konkreten Rollenspiel, Probleme der autonomen Stellungnahme und der kritischen Auseinandersetzung des Individuums mit seinen Rollen werden von einer rein rollentheoretisch arbeitenden, strukturell-funktional orientierten Sozialisationsforschung nicht erfasst, »es sei denn mit dem Hinweis auf das im Prinzip über den Mechanismus der Sanktionen erfolgende ›Einspielen‹ des Menschen auf seine Rolle, eine Grundannahme, die ein deutlich pessimistisches Bild vom Menschen verrät« (Hartfiel 1973, 28). Empirisch ist leicht nachzuweisen, dass es sich bei den Annahmen des Parsonsschen Sozialisations- und Rollenmodells eher um idealtypische Prämissen eines theoretisch voll integrierten und stabilisierten Sozialsystems handelt. Explizit deutlich wird das bei Dahrendorf, der ja seine Rollentheorie nicht auf wirkliche Menschen bezog, sondern eben auf die gedankliche Konstruktion eines »homo sociologicus« (analog den wirtschafts- und politikwissenschaftlichen Konstrukten des »homo oeconomicus« und des »homo politicus«), - auf ein theoretisches Modell vom »soziologischen Menschen« also, an dem man das »ideale« Rollenverhalten darstellen und ableiten kann. Zur vertiefenden und ergänzenden Lektüre Hans-Peter Frey (1974): Theorie der Sozialisation. Integration von system- und rollentheoretischen Aussagen in einem mikrosoziologischen Ansatz. (Darin insbesondere Teil 1/ 3 »Die Funktion von Sozialisationsmechanismen im gesellschaftlichen Systemmodell von Parsons«, S. 4-18). Enke: Stuttgart. Rainer Geissler (1979): Die Sozialisationstheorie von Talcott Parsons. Anmerkungen zur Parsons-Rezeption in der deutschen Soziologie. In Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, 31/ 2, S. 267-281. <?page no="126"?> 126 Klaus-Jürgen Tillmann (2010): Sozialisationstheorien. Eine Einführung in den Zusammenhang von Gesellschaft, Institution und Subjektwerdung. (Darin Kap. 3.2 »Schulische Sozialisation in struktur-funktionaler Sicht«, S. 142-168). 16. Aufl. Rowohlt: Reinbek. 2.4.5 Sind wir wirklich alle Schauspieler? Zur Kritik und Erweiterung des Rollenmodells Kritische Einwände gegen die analytische Fassungskraft und theoretische Reichweite des strukturell-funktionalen Sozialisations- und Rollenkonzepts kamen vor allem von jenen Sozialwissenschaftlern, die weniger an einer (idealtypischen) Rekonstruktion sozialer Systeme als an Aussagen über das tatsächliche soziale Alltagshandeln von Menschen interessiert waren. Bedenken gegen die übermäßige Betonung des gesellschaftlich Normativen und damit auch gegen die, die sozialisierende Seite des Sozialisationsprozesses akzentuierende Rollentheorie (= »normatives Paradigma«) wurden dabei insbesondere von jenen Soziologen und Sozialpsychologen formuliert, die sich eher der Schule des sogenannten »Symbolischen Interaktionismus« verpflichtet fühlen (z. B. in den USA Gouldner 1960, Turner 1962, Goffman 1973, Wilson 1973 u. a., in Deutschland vor allem Jürgen Habermas 1968 und Lothar Krappmann 2010). Dieser von George Herbert Mead (1862-1931) begründete - allerdings erst nach dessen Tod zur breiteren wissenschaftlichen Anerkennung und Geltung gelangende - mikrosoziologischsozialpsychologische Theorieansatz (vgl. Mead 1973, zuerst 1934 postum) berücksichtigt zur Erfassung des alltäglichen Normalfalles von sozialem Handeln nämlich stärker die individuierenden Aspekte des Sozialisationsgeschehens. Das Kernstück dieses Ansatzes ist es, im Spannungsfeld zwischen den rollenmäßigen Begrenzungen und Zwängen der Gesellschaft und den primären Bedürfnissen und Voraussetzungen des Individuums gerade auch jene individuellen Freiheitsräume sozialen Handelns auszumachen und jene menschlichen Grundqualifikationen zu erkennen, die eine relative Autonomie bzw. subjektive Interpretation des <?page no="127"?> 127 Individuums beim Rollenspiel ermöglichen (= »interpretatives Paradigma«). Der symbolische Interaktionismus deutet also die Entwicklung des zwischenmenschlichen Handelns und Verhaltens nicht nach dem Lernmodell von »Reiz« (Stimulus) und »Reaktion« (Response), sondern betont nachhaltig die kommunikativen und symbolischen Aspekte von Sozialisation. Menschliches Verhalten entsteht zwar aus der Teilnahme an sozialen Prozessen innerhalb sozialer Strukturen und Ordnungen, beruht jedoch grundlegend auf Interaktion und Kommunikation und bedient sich überwiegend symbolischer Zeichen, insbesondere der Sprache. Durch gemeinsame Interpretationen erhalten alle Gegenstände, Strukturen, Personen und Verhaltensweisen der jeweiligen Kultur soziale Bedeutungen (»meanings«), die es dem Individuum ermöglichen, soziales Handeln - wie beispielsweise Rollenhandeln - stets auch intentional, d. h. mit einem bestimmten Sinngehalt, zu verwirklichen (vgl. Krappmann 2010, 20 f., Lindesmith & Strauss 1986, 27 ff.). Mit anderen Worten: Die soziologische Grundfrage nach den Entwicklungsgesetzen menschlichen Zusammenlebens beantwortet der symbolische Interaktionismus mit dem Prinzip einer einvernehmlichen Interpretation über Gegenstandsbedeutungen im Rahmen sozialer Beziehungen, in die sich die Persönlichkeitsentwicklung als Zusammenhang von »Interaktion« und »Selbst«- Entwicklung eingliedern lässt (= »Modell einer vereinbarten Ordnung«, Strauss 1969, 19). Diese nicht ganz einfachen Ableitungen versucht Mead im amerikanischen Original seiner Schriften mit den Termini »I« und »me« zu erhellen. Beide Begriffe wären im Deutschen mit »ich« wiederzugeben, was jedoch die von Mead beabsichtigte Differenzierung verwischen würde. Mit der grammatikalischen Unterscheidung von »I« als Subjektfall und »me« als Objektfall der ersten Person Singular möchte Mead vielmehr bewusst auf zwei verschiedene Seiten des sozialen Handelns aufmerksam machen. Auf die uns bereits geläufige Theatermetapher bezogen, stellt das »»me« die objektive Seite des Rollenspiels dar, das von anderen auf die Aufführungsrichtigkeit und »Werktreue« des <?page no="128"?> 128 »sozialen Textes« hin beobachtet und kontrolliert wird, während das »I« den subjektiven Aspekt, nämlich den Schauspieler in seiner persönlichen Originalität und individuellen Unverwechselbarkeit sowie der schöpferischen Interpretation seiner Rolle, zum Ausdruck bringt. Oder allgemeiner formuliert: Das »me« besteht aus einer Reihe von gesellschaftlich vorbestimmten und normierten Rollen (z. B. Lehrer oder Schüler, Sohn oder Tochter, Katholik oder Protestant) und stellt meine soziale Identität dar, während das nach Verwirklichung meiner genuin eigenen Bedürfnisse drängende »I« das Freiheitspotenzial meines »Selbst«, d. h. meine personale Identität bezeichnet. Das »I« denkt über die zugemuteten oder vorgeschriebenen Rollen nach, sucht sie individuell zu gestalten oder kennt auch Wege, sich unter bestimmten Voraussetzungen dem Zwang oktroyierter, beispielsweise tradierter Kulturmuster zu entziehen. Aus dieser Konstruktion von »I« und »me« ergibt sich für die Binnenstruktur des Selbst ein labiles Gleichgewicht. Begreift man bildhaft die analytische Trennung zwischen »I« und »me« gewissermaßen als eine flexible Membrane, so lassen sich die Austauschprozesse zwischen »I« und »me« grafisch etwa folgendermaßen erläutern: Je stärker die Umwelt seitens ihrer Sozialisationsagenturen bestimmte Erziehungsziele verfolgt und z. B. den Wert der sozialen Anpassung und Gleichförmigkeit über den der individuellen Originalität und Kreativität stellt (und derartige Ziele über damit Tendenzen der Individuation und Personalisation Tendenzen der Vergesellschaftung „Selbst“ „I“ „me“ personale Identität soziale Identität Ich-Identität Abb. 7: Das labile Gleichgewicht der Ich-Identität <?page no="129"?> 129 korrespondierende Erziehungspraktiken und Sozialisationskontrollen absichert), umso mehr wird das Individuum gesellschaftlichem Druck ausgesetzt und seine (tendenziell gleichfalls expandierenden) Selbstverwirklichungstendenzen einschränken. Das heißt, der individuelle Gestaltungs- und Einflussbereich des Einzelnen wird entsprechend beschnitten. Im äußersten Fall kann dies zu pathologischen Grenzfällen zwischenmenschlicher Beziehungen führen, wie dies in extremen Interaktionssystemen, sogenannten »totalen Institutionen« (Goffman 1973a) wie Kasernen, Gefängnissen oder (psychiatrischen) Kliniken vorkommen mag. Dort werden nämlich häufig die Insassen auf nur eine einzige und überdies noch sehr rigide definierte Rolle fixiert (»Rekrut«, »Sträfling«, »Patient«). - Einen entgegengesetzten Fall stellt gewissermaßen die ausufernde Tendenz zur Ignoranz gesellschaftlicher Ansprüche und Notwendigkeiten dar, wie sie beispielsweise in extremer Form als soziale Extravaganz, übersteigerter Egozentrismus oder in gesellschaftsfeindlichen, »asozialen« Attitüden (»Ich bin das Gesetz! «) in Erscheinung treten kann. Von daher wird es verständlich, dass sich das pädagogische Problem der Vermittlung und Gewinnung von Ich-Identität mit zunehmender Modernität und wachsender Komplexität einer Gesellschaft verschärft. Infolge des Pluralismus von Werten und daraus resultierender partieller oder grundsätzlicher Widersprüche in Bezug auf Ziele der Erziehung oder Inhalte der Sozialisation werden pädagogische Probleme in dem Ausmaße schwieriger, »wie die Zahl der Gruppen, in denen der Einzelne lebt, größer und ihre Heterogenität intensiver wird« (Braun & Hahn 1973, 111). Zusammenfassend kann an dieser Stelle bereits festgehalten werden, dass die im Anschluss an die Überlegungen von Mead vorgenommene Kritik und Erweiterung der herkömmlichen, strukturfunktionalistischen Rollentheorie über die begriffliche Darstellung der An- und Einpassungsprozesse des Menschen an und in ein solches System gesellschaftlich vorgegebener Rollenstrukturen und -funktionen hinausgeht. Indem auch explizit die Prozesse menschlicher Individuation und Personalisation thematisiert werden, wird hier der realitätsbezogenere Versuch unternommen, die sozialstrukturellen Bedingungen aufzudecken und auszu- <?page no="130"?> 130 leuchten, die einer sozial wirksamen Individualität bzw. Autonomie der Person eher förderlich oder eher hinderlich sein können. Illustrieren lässt sich dieses analytische Vorgehen an einem Versuch Hans Peter Dreitzels, soziale Rollen wirklichkeitsnah zu klassifizieren. Auch Dreitzel geht hierbei idealtypisch zunächst von zwei Grenzfällen des sozialen Handelns aus: zum einen von rigide festgelegten Rollen, zum anderen von Rollen mit einem relativ hohen Toleranz- und Gestaltungsspielraum. Im ersten Fall wird der Rollenträger dazu gezwungen, sich mit seiner Rolle zu identifizieren, im zweiten Fall wird es ihm aufgrund der verhältnismäßig vagen und »offenen« Rollenerwartungen ermöglicht, aktive Ich-Leistungen einzubringen und die Rolle individuell und schöpfe risch zu gestalten. Die zunehmende Verfügbarkeit des Individuums über seine sozialen Rollen ergibt sich dann auf einem Kontinuum resultierend aus den beiden Koordinaten »abnehmende Identifikation« und »zunehmende Ich-Leistungen«: »Die Verfügbarkeit der sozialen Rollen wächst mit dem Abstand vom Nullpunkt beider Koordinaten: je größer die geforderten Ich- Leistungen und je geringer die erforderliche Identifikation bei zunehmende Ich-Leistungen abnehmende Identifikation wachsende Verfügbarkeit Abb. 8: Determinanten der Verfügbarkeit über soziale Rollen (Dreitzel 1972, 138) <?page no="131"?> 131 einer sozialen Rolle ist, desto leichter kann der Rollenspieler über seine Rolle verfügen, sich von ihr lösen oder auch sie abwandeln und ausgestalten« (Dreitzel 1972, 138). Dreitzel begründet dieses Modell mit dem Hinweis darauf, dass die Dimension »abnehmende Identifikation« eng mit der gesellschaftlichen Herkunft der Rollennormen zusammenhängt, während die Dimension »zunehmende Ich-Leistungen« in hohem Maße von der Art der sich mit einer Rolle verbindenden Verhaltenserwartungen abhängig ist. - Das folgende Klassifikationsschema zeigt denn auch, wie der Zwang des Rollenspielers zur Identifikation mit seiner Rolle sich graduell verändern kann: abnehmende Identifikation zunehmende Ich-Leistung Herkunft der Normen Art der Normen Interaktionsnormen situationsbezogen Spielrollen Verkehrsteilnehmer, Fußballspieler Bewältigungsrollen Prüfling, Diskussionsleiter Beziehungsrollen Ehemann, Liebhaber, charismatischer Führer Kontaktrollen Nachbar, Gastgeber Herrschaftsnormen organisationsbezogen Ausführungsrollen Soldat, Strafgefangener Arbeitsrollen Postbeamter, Arbeiter, Vereinsvorsitzender Leistungsrollen Politiker, Schauspieler, Wissenschaftler Kulturelle Normen personenbezogen Sozialisierungsrollen Kind, Patient Helfer-Rollen Eltern, Doktorvater, Seelsorger Vollzugsnormen Gehorsam gegenüber Regeln Qualitätsnormen Bewältigung von Aufgaben Gestaltungsnormen Stil der Wertrealisierung Abb. 9: Klassifikationsschema für soziale Rollen (modifiziert nach Dreitzel 1972, 140) <?page no="132"?> 132 Während die weitgehend verinnerlichten »personenbezogenen« Rollen noch einen sehr hohen Identifikationsgrad voraussetzen, nimmt über die »organisationsbezogenen« bis hin zu den »situationsbezogenen« Rollen der Identifikationsdruck sukzessiv ab. Entsprechend wachsen die Möglichkeiten des Individuums zu interpretierenden Ich-Leistungen mit dem graduell abnehmenden Zwangscharakter der sozialen Normen. Die individuelle Verfügbarkeit über soziale Rollen und damit die subjektive Interpretationschance ist bei den Sozialisationsrollen (Kind, Patient) am geringsten, bei den situativ gestaltbaren Kontaktrollen (Nachbar, Gastgeber) dagegen am umfassendsten. In ähnlicher Weise unterscheidet auch Habermas in seiner berühmten Frankfurter Vorlesung über »Thesen zur Theorie der Sozialisation« soziale Rollen »nach dem Grad ihrer Repressivität, dem Grad ihrer Rigidität und der Art der von ihnen auferlegten Verhaltenskontrollen« (Habermas 1968, 10). Dadurch lassen sich unterschiedliche faktische oder potenzielle Interpretationsmargen ausmachen, die das Gleichnis vom Menschen als Schauspieler und die Veranschaulichung des sozialen Handelns durch das Szenario des Theaters in entscheidenden Punkten ergänzen. Ist der Auftritt des Akteurs auf der Theaterbühne durch seinen Rollentext und die Regieanweisung zwar weitgehend festgelegt und sind die Mitspieler gleichfalls auf die entsprechenden Stichwörter fixiert bzw. auf bestimmte, ihren Part auslösende Handlungen angewiesen, so erweist sich doch im sozialen Alltag der Rahmen der vorgegebenen Aktions- und Reaktionsweisen bei den meisten Rollen durchaus offen für mehrere Handlungsalternativen. Mit anderen Worten: Trotz aller Präskriptionen von Normen, trotz institutioneller Verfestigungen und trotz vielfältiger sozialer Kontrollen ist in den meisten Fällen die Darstellung der jeweiligen Rolle für den Rollenträger durchaus noch ein schöpferischer Akt, fordert ihn in der konkreten Situation zur Konstruktion seines Verhaltens auf und zwingt ihn auch zur gelegentlichen Improvisation. Wie das Individuum hierbei die Rolle entwirft und den gegebenen bzw. wahrgenommenen Spielraum ausfüllt, hängt sehr stark davon ab, wie es das sich entfaltende Verhalten seiner Interaktionspartner berücksichtigt, abschätzt und »versteht«, wie die <?page no="133"?> 133 am Rollenspiel Beteiligten ihre Situation erkennen und definieren und wie sie ihre wechselseitigen Erwartungen aufeinander abstimmen. Bezugspunkte der Situationsdefinition sind neben den subjektiv wahrgenommenen »äußeren« Bedingungen der Situation das Konzept des Selbst in der jeweiligen Situation und die (oft recht unterschiedlichen) Vorstellungen, die die Handelnden mit der Rolle ihres Gegenübers verbinden (vgl. Mead 1973). Über ein in der Regel von außen nicht wahrzunehmendes und beobachtbares und auch nur teilweise den Handelnden selbst immer ganz bewusstes wechselseitiges Sich-Abtasten, Sich-Vergleichen, Sich-Ausprobieren vollzieht sich zwischen den Interaktionspartnern ständig ein »Handel um Identität« (McCall & Simmons 1974). Ziel und Zweck ist es, dabei herauszufinden, wie der andere mich wohl in meiner Rolle haben möchte, bzw. den anderen deutlich zu machen, wie ich meine Rolle in dieser Situation auffasse. Die Rollenpartner kommunizieren bei diesem permanenten Prozess des Aushandelns über gemeinsam verfügbare Zeichensysteme und Symbole, wobei das Verhalten eines jeden teilweise eine Reaktion auf das Verhalten des anderen ist. Je nach den Interaktionspartnern kann deshalb ein und dieselbe Rolle im Alltag durchaus variieren und je nachdem mit mehr oder weniger stark abweichenden Handlungsfolgen verbunden werden. (Vgl. hierzu beispielsweise die Anwendung der »pragmatischen Axiome« menschlicher Kommunikation von Watzlawick et al. 2007 auf Lehrer-Schüler-Beziehungen in Henecka 1978, 104 ff.). Die Rollenspieler bringen also in ihr soziales Handeln über ihre sinnhafte Deutung der Situation auch ihre persönlichen Gefühle und Bedürfnisse, ihre individuellen Erwartungen und Fähigkeiten, ihre eigene Lebensgeschichte und Lebenserfahrungen, ihre gegenwärtige soziale und materielle Lage usw. ein, - insgesamt alles Bedingungen, die sich wiederum gegenseitig beeinflussen. Damit wird anerkannt, dass die Prozesse der individuellen Rollenprägung auch von diversen Faktoren mitbestimmt sind, die sich einer einseitigen soziologischen Reduzierung auf gesellschaftliche Normenmuster entziehen. <?page no="134"?> 134 Das, was in interaktionellen Prozessen geschieht, ist also niemals völlig und ausschließlich von sozialstrukturellen oder sozialkulturellen Kräften determiniert, wenn wir auch davon ausgehen können, dass derartige Wirkkräfte unter Umständen erheblich die Möglichkeiten von Denken und Handeln des Individuums einzuengen in der Lage sind. Andererseits haben aber sozial Handelnde immer auch »gewisse« Freiheitsspielräume, und zwar insoweit sie selbst ihre Lebenswelt sehen und interpretieren als auch innerhalb von Handlungsalternativen, die in bestimmten Situationen ergriffen werden können. Da zudem einem objektiv beobachtbaren Handeln sehr unterschiedliche subjektive Motive zugrunde liegen können, wird deutlich, dass ein Unterschied besteht zwischen der herkömmlichen theoretischen Rekonstruktion des sozialen Handelns als Zusammenspiel von Rollenerwartung und Rollenentsprechung und den alltäglich konkret erfahrbaren zwischenmenschlichen Handlungsabläufen. Es ist das Verdienst der erweiterten interaktionistischen Rollenperspektive, dass sie über die sozialpsychologische Analyse der differenzierten und zum Teil sehr subtilen sozialen Interaktions- und Kommunikationsvorgänge im Rahmen des sozialen Handelns die subjektiven Interpretationen der je institutionellen Bedingungen und Strukturen in den Vordergrund rückt. Alle sozialen Beziehungen und Systeme, in denen wir zusammen leben und arbeiten, Erziehungs- und Bildungsinstitutionen wie Familie und Schule, Arbeitsorganisationen wie Betriebe und Verwaltungen, politische Parteien, Verbände, Kirchen und Freizeitgruppen, ja selbst das Militär (vgl. hierzu das Konzept der »Inneren Führung« bei der Bundeswehr) lassen sich deshalb daraufhin überprüfen, inwiefern sie ihren Mitgliedern dazu verhelfen bzw. sie daran hindern, das Dilemma zwischen der sozialen Identität (= Normen, denen das Individuum im Interaktionsprozess gegenübersteht) und der personalen Identität (= die dem Individuum und seinen Bedürfnissen zugeschriebene Einzigartigkeit) zu bewältigen. Um den Menschen in Gesellschaften, die sich als offene, freiheitliche und demokratische Ordnungssysteme verstehen, ein optimales Maß an individueller Verfügbarkeit über ihre sozialen Rollen zu gewährleisten, sind indessen nicht nur strukturelle und <?page no="135"?> 135 normative Voraussetzungen zu überprüfen, sondern auch von Seiten der handelnden Individuen selbst sind bestimmte soziale Kompetenzen zu erwerben und nachzuweisen. In diesem Zusammenhang postuliert Lothar Krappmann (2010) einige Grundqualifikationen, die dem handelnden Subjekt im Erziehungs- und Sozialisationsprozess zu vermitteln sind und mittels derer es fähig werden soll, das labile Gleichgewicht der Ich-Identität auszubalancieren und die notwendige individuelle Präsentation des Selbst im Rollenhandeln des Alltags zu sichern. Diese sozialen Lernziele sind: • Rollendistanz Das Individuum kann sich über die Anforderungen seiner Rolle erheben, um bestimmte Erwartungen auswählen, negieren, modifizieren und interpretieren zu können. • Empathie Das Individuum besitzt kognitive und affektive Fähigkeiten zur Antizipation und Übernahme der Erwartungen des Interaktionspartners. • Ambiguitätstoleranz Das Individuum toleriert die Ambivalenzen von Rollen (Ambiguität = Doppeldeutigkeit, Widersprüchlichkeit) und findet sich mit deren Divergenzen, Inkompatibilitäten und unvollständiger Bedürfnisbefriedigung ab. • Identitätsdarstellung Das Individuum kann eigene Erwartungen und Bedürfnisse darstellen und damit sein Selbst artikulieren. Zur vertiefenden und ergänzenden Lektüre Peter L. Berger & Thomas Luckmann (2003): Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. 19. Aufl. (Darin Kapitel III »Gesellschaft als subjektive Wirklichkeit«). Fischer: Frankfurt/ M. Erving Goffman (1973b): Interaktion: Spaß am Spiel - Rollendistanz, S. 93-130. Piper: München. Lothar Krappmann (2010): Soziologische Dimensionen der Identität. Strukturelle Bedingungen für die Teilnahme an Interaktionsprozessen. 11. Aufl. (Darin insbesondere das Kapitel »Identität und Rolle«, S. 97-131). Klett-Cotta: Stuttgart. <?page no="136"?> 136 Alfred R. Lindesmith & Anselm L. Strauss (1986): Symbolische Bedingungen der Sozialisation. Teil 1. (Darin insbesondere das Kapitel »Der symbolische Interaktionismus«, S. 27-41). Ullstein: Berlin. George McCall & J. L. Simmons (1974): Identität und Interaktion. Untersuchungen über zwischenmenschliche Beziehungen im Alltagsleben. (Darin Kapitel 9 »Logistik der Identität«, S. 238-263). Schwann: Düsseldorf. <?page no="137"?> 137 3. Kapitel Soziale Zusammenhänge 3.1 Bausteine der Gesellschaft: Gruppierungen Wenn wir in Kapitel 2 versucht haben, das soziale Handeln aus dem Blickwinkel der Gesellschaft darzustellen und gleichzeitig aus der Perspektive des Individuums die Gesellschaft als den größeren Rahmen für zwischenmenschliche Prozesse zu begreifen, dann haben wir bislang jene vermittelnden sozialen Netzwerke vernachlässigt, in denen wir im Alltag faktisch unsere sozialen Beziehungen anknüpfen und entfalten. Gemeint sind damit jene mehr oder weniger deutlich voneinander abgrenzbaren Handlungsbereiche, die wir umgangssprachlich als »Gruppen«, »soziale Kreise« oder »Gruppierungen« bezeichnen und in denen sich im Alltag das »Skript« der Gesellschaft konkretisiert: in Familien, Freundes- und Bekanntenkreisen, Spielgruppen und Schulklassen, Arbeitsgruppen und Abteilungen, in Betrieben und Behörden, in Parteien und Verbänden, in Gemeinden, in der Region, im Land, - als Deutscher oder Ausländer, als Kirchgänger, Steuerzahler oder als Fußballfan, als zur Gruppe der Achtzehnjährigen oder zu den Rentnern zählend usw. usf. Diese »sozialen Gewebe« stellen recht unterschiedliche Verflechtungszusammenhänge dar, stehen in vielfältigen Beziehungen zueinander und bilden in ihrer eigentümlichen Gemengelage die eigentlichen Bausteine der Gesellschaft. Viele Soziologen haben sich gerade deshalb mit diesem Thema befasst, weil sie diese sozialen Einheiten für die wesentlichen Elemente von Gesellschaften und damit für den Hauptgegenstand der Soziologie überhaupt halten. Friedrich Tenbruck (1967, 296) hat dies so formuliert: »Um eine Gesellschaft zu begreifen, muss man zuerst die Arten von Gruppen, danach ihre charakteristische Zusammensetzung zu einer Gesellschaft erkennen.« <?page no="138"?> 138 Dementsprechend groß ist die Vielfalt von Versuchen zu definieren, was unter einer Gruppe oder Gruppierung zu verstehen ist. Um alle möglichen Arten und Formen gruppenmäßiger Beziehungseinheiten zu erfassen, kann man zwar zunächst ganz formal davon ausgehen, dass Gruppen bzw. Gruppierungen immer mehrere Menschen umfassen, die sich zumindest durch ein gemeinsames Merkmal von anderen abgrenzen. Da wir jedoch in einer solchen vagen Definition sowohl alle Weißen oder Europäer wie auch alle Deutschen bis hin zur konkreten Familie Müller unterbringen könnten, ist eine derart inflationäre Aufblähung des Gruppenbegriffs analytisch wenig hilfreich. Zur soziologischen Beschreibung und Untersuchung verschiedenartiger Flechtwerke sozialer Beziehungen benötigen wir vielmehr genauere Merkmale und Indikatoren, die sich auf beobachtbare und erfahrbare Unterschiede beziehen: z. B. die Dauer dieser zwischenmenschlichen Beziehungen, die Gruppengröße, die Art des Zugangs zur Gruppe und die Formen der Mitgliedschaft, die gefühlsmäßige Intensität, in der sich die Gruppenmitglieder untereinander verbunden wissen, die Förmlichkeit bzw. Zwanglosigkeit, mit der sie miteinander umgehen, die Bedeutung, die sie der Gruppe für ihr eigenes Leben zuschreiben u. Ä. In seiner logischen Konsequenz führt dies zu einer notwendigerweise differenzierteren Terminologie und damit zu einer präziseren und sozialwissenschaftlich brauchbaren Verwendung des Begriffs »Gruppe«. Denn es ist weder theoretisch noch empirisch sinnvoll, wenn einer unter »Gruppe« nur ad hoc gebildete Ansammlungen von Personen auf Straßen und öffentlichen Plätzen, bei Volksfesten oder in Ausstellungen versteht, der andere jedoch den Gruppenbegriff mit »Gemeinschaft« assoziiert und darunter nur Mitglieder von Vereinen und ähnlichen Sozialgebilden subsumiert oder schließlich wieder ein anderer zu »Gruppen« unterschiedslos auch organisierte Großgebilde wie Betriebe oder Verwaltungen zählt. Trotz voraussehbarer Schwierigkeiten - wenn nicht gar der Unmöglichkeit -, die Grenzen zwischen den verschiedenen sozialen Gebilden ein für allemal scharf und eindeutig zu ziehen, müssen wir dennoch versuchen, zumindest ansatzweise Kriterien <?page no="139"?> 139 zu entwickeln und Randbedingungen anzugeben, um die verschiedenen Formen kollektiver sozialer Zusammenhänge inhaltlich zu klären und damit auch begrifflich exakter zu fassen. Zur vertiefenden und ergänzenden Lektüre Bernhard Schäfers (Hrsg.) (1999): Einführung in die Gruppensoziologie. Geschichte, Theorien, Analysen. (Darin vor allem der Beitrag von Bernhard Schäfers, »Entwicklung der Gruppensoziologie und Eigenständigkeit der Gruppe als Sozialgebilde«, S. 19-36). 3. Aufl. Quelle & Meyer: Wiesbaden. 3.1.1 »Gemeinschaft« und »Gesellschaft« Einer der ersten Versuche, soziale Zusammenhänge voneinander zu unterscheiden, stammt von dem deutschen Soziologen Ferdinand Tönnies (1855-1936). Er knüpfte hierbei an romantisch-philosophische Vorstellungen bei Johann Gottlieb Fichte und Friedrich Schleiermacher an und reduzierte die Vielfalt sozialer Beziehungsmöglichkeiten sowie deren Konkretisierungen und Verfestigungen auf eine Zweiteilung in soziale Gebilde vom Typus der »Gesellschaft« und solche vom Typus der »Gemeinschaft«, - zwei elementare gesellschaftliche Formen »zwischen denen sich das wirkliche soziale Leben bewegt«. Diese zwei sozialen Gebilde konstituieren sich auch durch zwei unterschiedliche Arten des »Zusammenwollens«, durch den »Wesenwillen« (bei der »Gemeinschaft«) und den »Kürwillen« (bei der »Gesellschaft«). Entscheidendes Kriterium für die dichotomische Unterscheidung ist somit das Ausmaß an mitmenschlicher Vertrautheit und »seelischer, innerer« Verbundenheit: • Soziale Gebilde vom Typus der »Gemeinschaft« sind demnach durch einen sozialen Zustand der gefühlsmäßigen, teilweise sogar ethnisch und »blutsmäßig« begründeten Zusammengehörigkeit bestimmt. Mitglieder der Gemeinschaft sind füreinander da, bedeuten einander etwas und helfen einander in der Not. <?page no="140"?> 140 Die Gemeinschaft stellt nach Tönnies die ursprüngliche Form menschlichen Zusammenlebens dar und herrscht noch in kleinen, überschaubaren sozialen Einheiten: in der Familie, in der Nachbarschaft, im Stamm, im Dorf. • Dem gegenüber stehen die sozialen Erfahrungsbereiche der »Gesellschaft«, in denen man eigentlich nur miteinander in Verbindung tritt, um in egoistischer Absicht bestimmte Ziele zu verfolgen bzw. bestimmte Tauschinteressen möglichst vorteilhaft für sich durchzusetzen: »Keiner wird für den anderen etwas tun oder leisten, keiner dem anderen etwas gönnen und geben wollen, es sei denn um einer Gegenleistung oder Gegengabe willen, welche er seinem Gegebenen wenigstens gleich achtet« (Tönnies 1887, neu abgedr. 1991, 34). Die Mitglieder der Gesellschaft bleiben einander fremd und akzeptieren sich nur im Hinblick auf ihr gemeinsames Schicksal. Im Gegensatz zur ursprünglichen Form der Gemeinschaft repräsentiert die Gesellschaft als Folge der Ausbreitung industrieller Lebensbedingungen die moderne Form des »förmlichen« und von eigenen Interessen geleiteten Zusammenlebens. Soziale Konkretisierungen solcher anonymen und entfremdeten Beziehungen sind für Tönnies typischerweise die Lebensverhältnisse in den Groß- und Industriestädten, in Betrieben und Organisationen sowie überhaupt im modernen Staat. Der positiven Einschätzung der Gemeinschaft steht - so Tönnies in kulturpessimistischer Tendenz - der »bedauerlicherweise« nicht mehr rückgängig zu machende Fortschritt von der »Kultur des Volkstums« zur »Zivilisation des Staatstums« bzw. von der »organischen Gemeinschaft« zur »mechanischen Gesellschaft« gegenüber. Hier zeichnet er - ganz ähnlich wie vor ihm Emile Durkheim - (kultur)kritisch den Übergang von der traditionalen zur modernen Gesellschaft nach, wie überhaupt die Nähe zu Durkheims Unterscheidung von »organischer« und »mechanischer Solidarität« auch terminologisch auffällig ist. Dass aber der zweifellos sozialromantische Gemeinschaftsbegriff von der nationalsozialistischen Propaganda dann später zur »Volksgemeinschaft« ideologisch hochstilisiert wurde, hat Tönnies allerdings besonders geschmerzt. Seine öffentliche Zurückweisung einer <?page no="141"?> 141 derart vulgären und demagogischen Umdeutung sowie seine damit verknüpfte Kritik an der Person Hitlers und am Nationalsozialismus hat ihn schließlich seinen Lehrstuhl in Kiel und die Entlassung aus dem Beamtenstand gekostet. Andererseits hat auch Tönnies’ Gemeinschafts-Gesellschafts- Dichotomie wiederum eine ganze Reihe bedeutender Soziologen in den 20er-Jahren des letzten Jahrhunderts zu begrifflichen Ergänzungen und Variationen stimuliert: so etwa Hermann Schmalenbach, der diesen beiden Typen den charismatisch bestimmten »Bund« als weitere Kategorie anfügte, Alfred Vierkandt, der auf Tönniesscher Grundlage eine phänomenologische Typologie von Gemeinschaften entwickelte und nicht zuletzt Max Weber, der mit »Vergemeinschaftung« und »Vergesellschaftung« den prozesshaften Charakter beider Phänomene unterstreicht. Dass die Tönniessche Typologie nicht nur beschreibenden Charakter bzw. eine klassifikatorisch-formale Struktur hat, sondern auch normativ oder gar sozialethisch belegt erscheint, hat ihr zwar lange Zeit die Aufnahme in eine allgemeine soziologische Theorie erschwert. Neuerdings jedoch gewinnen die Bezüge von Gemeinschaft und Gesellschaft - sowohl theoretisch wie empirisch - insofern wieder an Relevanz, da sich zunehmend deutlich zeigt, dass die Menschen und ihre Beziehungen in modernen Gesellschaften sich nicht in zweckrationalem Kalkül erschöpfen lassen. Entsprechend sind - neben Philosophen und Theologen - auch zeitgenössische Soziologen wie Ulrich Beck, Anthony Giddens oder Scott Lash (1996) mit ihrem Konzept der »reflexiven Gemeinschaften« in der modernen Gesellschaft durchaus auf der Spurensuche nach gegenwärtig erfahrbaren funktionalen Äquivalenten traditioneller Gemeinschaftsformen. Zur vertiefenden und ergänzenden Lektüre Cornelius Bickel (2007): Ferdinand Tönnies. In Dirk Kaesler & Ludgera Vogt (Hrsg.), Hauptwerke der Soziologie, S. 423-428. 2. Aufl. Kröner: Stuttgart. Raymond Boudon & François Bourricaud (1992): Soziologische Stichworte. Ein Handbuch. (Darin »Gemeinschaft«, S. 161-165). Westdt. Verlag: Opladen. <?page no="142"?> 142 Ralf Dahrendorf (1965): Gesellschaft und Demokratie in Deutschland. (Darin zur Kritik an Tönnies Kapitel 9 »Gemeinschaft und Gesellschaft«, S. 144-158). Piper: München. Volker Ronge (2014): Ferdinand Tönnies: Gemeinschaft und Gesellschaft. Grundbegriffe der reinen Soziologie. In Georg W. Oesterdiekhoff (Hrsg.), Lexikon der soziologischen Werke, S. 721-722. 2. Aufl. Springer VS: Wiesbaden. 3.1.2 Statistische Gruppen (reine Kategorien) Weitaus nüchterner als der gerade im deutschen Sprachraum besonders normativ und emotional belegte Gemeinschaftsbegriff sind terminologische Differenzierungen, wie sie vor allem von Demographen und Sozialstatistikern bei Volkszählungen oder bei der Erstellung der amtlichen Statistik benutzt werden. Mit »statistischer Gruppe« oder besser (weil unmissverständlich) mit »Kategorie« wird hier schlicht eine Anzahl von Personen bezeichnet, die sich aufgrund eines oder mehrerer gemeinsamer Merkmale rein rechnerisch zusammenfassen lassen. Hierunter fallen beispielsweise Brillenträger, Mopedfahrer, Linkshänder, Menschen mit der Blutgruppe A usw. Als rein statistische Kategorie hat diese formale Gemeinsamkeit keine weitere soziale Bedeutung mehr: Träger solcher Charakteristika haben weder spezifische Normen und Werte gemein, noch stehen sie (in der Regel wenigstens) aufgrund ihres statistischen bzw. kategorialen Merkmals miteinander in Interaktion und Kommunikation. Es handelt sich hier lediglich um eine gedankliche Zusammenfassung bzw. quantifizierende Zuordnung von Menschen aufgrund bestimmter Merkmale und Kriterien. 3.1.3 Soziale Aggregate Ganz ähnlich verhält es sich auch, wenn Menschen im Zusammenhang mit irgendeinem Ereignis zu einem festgelegten Zeitpunkt an einem bestimmten Ort zusammenkommen. Man denke <?page no="143"?> 143 hier etwa an die Besucher eines Klavierabends in einem Konzerthaus oder an die Zuschauer eines Fußballmatchs in einem Stadion. Obwohl solche Menschen aufgrund eines gemeinsamen Merkmals und gemeinsamer Interessen in einem räumlichen (und oft noch »hautnahen«) Zusammenhang stehen, müssen sie dennoch überhaupt keine sozialen Kontakte und wechselseitigen Beziehungen aufweisen. Nach Fichter (1970, 58) ist bei der Definition und Beschreibung solcher sogenannter sozialer Aggregate u. a. von folgenden Eigenschaften und Merkmalen auszugehen: • Die Personen, die das Aggregat bilden, sind einander weitgehend fremd und bleiben auch relativ anonym. • Das soziale Aggregat hat keine hierarchische Struktur im Sinne von spezifischen Rollen und Funktionen, d. h. es ist auch nicht organisiert. • Trotz potenziell sehr großer physischer Nähe besteht innerhalb eines Aggregats - wenn überhaupt - nur sehr beschränkte soziale Kontaktmöglichkeit. • Die meisten sozialen Aggregate sind durch bestimmte räumliche Begrenzungen umschrieben, sodass sich ihre soziale Bedeutung im Wesentlichen auch auf diese territoriale Dimension beschränkt. • Die meisten Aggregate sind schließlich auch zeitlich definiert und haben vorübergehenden Charakter, insofern Menschen in rascher Abfolge in sie eintreten und sie wieder verlassen bzw. zwischen ihnen hin- und herpendeln. Haupttypen sozialer Aggregate sind demnach: • Die Menschenmenge als amorphe Ansammlung von Personen bei so unterschiedlichen und alltäglichen Anlässen wie als wartende Fußgänger am Zebrastreifen oder als neugierige Gaffer bei einem Verkehrsunfall. • Der Mob, der sich meist spontan aus einem konkreten, stark emotionalisierten Anlass heraus entwickelt (z. B. bei Unzufriedenheit mit dem Ausgang eines Fußballspiels) und in meist von irgendwelchen »Rädelsführern« angestifteten destruktiven, antisozialen und gewalttätigen Verhaltensweisen (Randale, Aufruhr, Lynchjustiz) seinen aggressiven Ausdruck fin- <?page no="144"?> 144 det. Zwar sind auch hier die sozialen Interaktionen zwischen den teilnehmenden Individuen minimal, doch besteht - im Gegensatz zur Menschenmenge - fast immer irgendein »gefühltes« (irrationales) Verhältnis zwischen »Anführern« und der »Gefolgschaft«. • Das Publikum als eine Anzahl von Personen, die sich mit dem Vorsatz und Ziel an einem bestimmten Ort versammeln, um dort eine bestimmte Aufführung oder Vorstellung zu besuchen und die sich hierauf in rezeptiver Absicht mit einer gewissen Aufmerksamkeit konzentrieren. • Als öffentliche Demonstrationen kann man oft kurzfristig geplante und organisierte soziale Aggregate bezeichnen, deren Personen sich in der bewussten Absicht zusammenfinden, eine bestimmte Idee oder Überzeugung zu unterstützen bzw. für eine Person oder eine Bewegung in sichtbarer Weise - und daher bevorzugt auf öffentlichen Straßen und Plätzen - Propaganda zu machen. Zu diesem Aggregatstyp gehören neben politischen Demonstrationen von Parteien, Bürgerbewegungen und Gewerkschaften, auch »ritualisierte«, jährlich wiederkehrende religiöse Ereignisse wie Prozessionen oder die traditionellen Fasnachtsbzw. Karnevalsumzüge. • Sogenannte Wohnaggregate werden ferner von Bewohnern großer - in der Regel urbaner - Wohnanlagen gebildet, die zwar physisch dicht beieinander wohnen, dennoch aber einander fremd bleiben und untereinander keinen Kontakt (außer vielleicht einem gegenseitigen »Grüßen«) pflegen wollen. • Als funktionelle Aggregate werden schließlich jene Aggregatsformen bezeichnet, deren Mitglieder und deren Grenzen meist von dritter Seite relativ willkürlich aufgrund bestimmter formaler Kriterien festgelegt werden. Hierzu zählen die kommunalen Abgrenzungen von Ortsteilen und Wohnvierteln, die verwaltungsmäßigen Einteilungen in Wahlkreise oder die räumlichen Zuordnungen zu Pfarrgemeinden usw. Aufgrund ihrer Festlegungen bzw. Bestimmungsverfahren können funktionelle Aggregate auch als Zwangsaggregate erfahren werden. Schulanfänger beispielsweise können hier erste gesellschaftlich-politische Erfahrungen sammeln, da Einschulungs- <?page no="145"?> 145 klassen ja in der Regel bürokratisch, d. h. »ohne Ansehen der Person« aufgrund der gesetzlichen Schulpflicht unter Berücksichtigung von Jahrgang und Einzugsbereich zusammengestellt werden. Gerade dieses Beispiel zeigt aber auch, dass funktionelle Aggregate durchaus Entwicklungschancen zu anderen Sozialformen eröffnen, wenn aus dem Zwangsaggregat des ersten Schultags nach einem Schuljahr eine echte Klassengruppe bzw. Klassengemeinschaft geworden ist. Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass es sich in all diesen Fällen insofern um soziale Aggregate handelt, als verschiedene Menschen raum-zeitlich zusammentreffen, jedoch hierbei zunächst weitgehend in gegenseitiger Anonymität verbleiben. Aus den Aggregatszuständen heraus können sich unter bestimmten Bedingungen gruppenbildende Prozesse und neue Sozialformen entwickeln, - sie sind jedoch keineswegs die Regel. 3.1.4 Sozialkategorien oder Quasi-Gruppen Bedeutet ein gemeinsames Merkmal bei den davon betroffenen Menschen mehr als bloß eine statistische Gemeinsamkeit, dann spricht man häufig von einer Sozialkategorie. Dieser Begriff kann beispielsweise auf Personen mit hohem Einkommen angewandt werden, wenn sie aufgrund dieses Merkmals gesellschaftlich eine besondere Stellung einnehmen, einer bestimmten sozialen Schicht angehören und dadurch oft Macht und politischen Einfluss ausüben. Ebenso stellen auch Arbeitslose und Sozialhilfeempfänger, deren Teilhabe am gesellschaftlichen Leben und sozialen Gütern mehr oder weniger stark eingeschränkt ist, eine Sozialkategorie dar. Auch die Zugehörigkeit zu einem bestimmten Geschlecht, zu einer bestimmten ethnischen Gruppe oder Nationalität, aber auch die Tatsache, dass man ein bestimmtes Alter hat oder einen bestimmten Schulabschluss nachweisen kann, hat im Allgemeinen mehr als eine nur statistisch feststellbare Bedeutung. Vielmehr haben derartige kategoriale Zugehörigkeiten meist weiterreichende, eben soziale Konsequenzen, die sich beispiels- <?page no="146"?> 146 weise auf den gesellschaftlichen Rang, die Arbeitsmöglichkeiten oder die Kreditwürdigkeit, aber auch auf eine prekäre Lebenslage, Armutserfahrungen, soziale Ausgrenzungen u. Ä. auswirken können. Das vordergründig bloß statistisch bzw. kategorial erfasste Merkmal wird damit sozial relevant. Da überdies die gemeinsamen sozialen Anknüpfungspunkte wie latent übereinstimmende Interessen, gleiche oder ähnliche Lebenslagen sowie Anteil an oder Ausschluss von Macht und Einfluss dazu führen können, dass sich Personen unter gewissen Bedingungen und in bestimmten Situationen organisieren und zu Gruppen zusammenschließen, um gemeinsame Aktionen zur Durchsetzung bestimmter Interessen zu realisieren (Beispiel: Streik der Assistenzärzte an Uni-Kliniken wegen unprofessioneller Arbeitszeitregelungen), spricht man nach einem Vorschlag des britischen Soziologen Morris Ginsberg (1889-1970) hier auch von Quasi-Gruppen. Solche Quasi-Gruppen können beispielsweise nach Ralf Dahrendorf überall dort vermutet werden, wo Menschen zueinander in einem Über- und Unterordnungsverhältnis stehen, die damit verbundenen divergierenden Interessen aber noch latent bleiben, d. h. noch nicht zur Bildung eines jeweils eigenen Gruppenbewusstseins geführt haben. Als Quasi- Gruppen können in diesem Sinne beispielsweise bestimmte Einkommensschichten, Berufe, sozialkulturelle Milieus u. Ä. bezeichnet werden. 3.1.5 Soziale Gruppen Aufgrund gleicher - sozial relevanter - kategorialer Merkmale können sich bei den hiervon betroffenen Menschen unter bestimmten Voraussetzungen Gefühle der Zusammengehörigkeit entwickeln, die zur Aufnahme von engeren sozialen Beziehungen untereinander und zur Ausbildung systematischer Muster der Interaktion führen können. Wird das so entstandene Gebilde von den Beteiligten selbst oder auch von ihrer Umwelt als soziale »Einheit« angesehen und behandelt, dann können wir von der Existenz einer »sozialen Gruppe« sprechen. <?page no="147"?> 147 Als Illustration zum Übergang von Quasi-Gruppen zu sozialen Gruppen mögen uns hier folgende alltägliche Beispiele dienen: »Die Haarfarbe spielt zwar bei uns im Allgemeinen keine große Rolle, wenngleich sie auch nicht völlig folgenlos für mancherlei Zu- und Abneigungen ist. Eine auffallend rote Haarfarbe dagegen kann besondere Aufmerksamkeit erregen.Tatsächlich gelten Rothaarige oft als Außenseiter und als Objekte von negativen Vorurteilen, Spott und Diskriminierung. Dabei könnte sich bei Rothaarigen ein Wir-Gefühl entwickeln und also eine soziale Gruppe entstehen. Körpergröße ist zwar nicht unbedingt folgenschwer, zwergenhafter Wuchs war aber seit jeher vielfach Anlass für Hohn und Beschränkung auf besondere Tätigkeiten. Und selbst auffällige Körperlänge kann zum Keim einer sozialen Gruppe werden, wie der ›Verein langer Menschen‹ zeigt. Die Sozialkategorie Einkommenshöhe bedeutet dann mehr, wenn die Bezieher höchster Einkommen beispielsweise der Oberschicht angehören und die Mitglieder der Oberschicht eine besondere Schichtmentalität aufweisen, die sich etwa an gleichen Lebenseinstellungen, Überzeugungen und Handlungen ablesen lässt. In dem Fall hätte man es mit einer sozialen Gruppe zu tun. Ähnliches kann, muss aber nicht zutreffen beispielsweise für Hauseigentümer, hohes Alter, Rasse, Konfession und Pkw-Besitzer, desgleichen für Geschiedene, unehelich Geborene oder Handwerker« (Bellebaum 2001, 27 f.). Für das Vorhandensein einer sozialen Gruppe müssen demnach folgende Bedingungen gegeben sein: • die Existenz gemeinsamer Motive, Ziele und Interessen, die die Einzelnen überhaupt erst zusammenführen; • ein »Wir«-Bewusstsein der Mitglieder, das einerseits bestimmt, »wer dazu gehört« (Eigengruppe) und andererseits zur Abgrenzung nach außen gegenüber »den anderen« (Fremdgruppe) dient; • ein gemeinsames Werte- und Normensystem, das die Identität der Gruppenmitglieder wesentlich mitbestimmt, die orientierende Grundlage ihrer Interaktions- und Kommunikationsprozesse bildet und ggf. auch ihre sozialen Beziehungen nach außen begleitet; <?page no="148"?> 148 • ein längerfristiges Zusammenwirken der Gruppenmitglieder und zumindest Ansätze, meist aber klar erkennbare Ausbildungen einer internen Rollenstruktur und Statusdifferenzierung. Dieses Rollenbzw. Statusdifferenzial soll sowohl das Gruppenziel verfolgen wie auch den sozial-emotionalen Bedürfnissen der Gruppenmitglieder gerecht werden und mögliche Konflikte lösen. Auch diese begriffliche Fassung der sozialen Gruppe ist noch relativ abstrakt, insofern sie eine ganze Reihe verschiedener Arten und Formen alltäglicher Konkretisierungen »sozialer Gruppen« umspannt. Ohne Anspruch auf Vollständigkeit und einzig gültige Systematisierung werden daher im Folgenden unter Berücksichtigung zusätzlicher bzw. feinerer Merkmale weitere Begriffsdifferenzierungen zur Charakterisierung bestehender sozialer Gruppen vorgenommen. Zur vertiefenden und ergänzenden Lektüre Oliver König & Karl Schattenhofer (2015): Einführung in die Gruppendynamik. (Kap. 2 »Was ist eine Gruppe? «, S. 15-22). 7. Aufl. Auer: Heidelberg. Bernhard Schäfers (2010): Die soziale Gruppe. In Hermann Korte & Bernhard Schäfers (Hrsg.), Einführung in Hauptbegriffe der Soziologie, S. 129-144. 8. Aufl. VS: Wiesbaden. Hans-Dieter Schneider (1985): Kleingruppenforschung. 2. Aufl. Teubner: Stuttgart. Martin Schwonke (1999): Die Gruppe als Paradigma der Vergesellschaftung. In Bernhard Schäfers (Hrsg.), Einführung in die Gruppensoziologie. Geschichte, Theorien, Analysen, S. 37-53. 3. Aufl. Quelle & Meyer: Wiesbaden. 3.1.5.1 Primär- und Sekundärgruppen Eine recht geläufige Unterscheidung von Gruppen ist die Einteilung in Primär- und Sekundärgruppen, - eine Differenzierung, die auf einen der Klassiker der amerikanischen Soziologie, Charles Horton Cooley (1864-1929) zurückgeht. <?page no="149"?> 149 • Charakterisiert werden die Primärgruppen durch enge und gefühlsmäßige Bindungen, überschaubare und umfassend personenbezogene Kontakte, direkte und unmittelbare zwischenmenschliche Beziehungen (sogenannte »face-to-face-relations«) sowie durch relativ freie Handlungsräume mit der Möglichkeit zur Spontaneität. Als »primär« sind diese Gruppen zunächst durchaus im zeitlichen Sinne als erste soziale Erfahrungsräume des Kindes zu sehen, darüber hinaus aber auch als »primär« unter dem qualitativen Aspekt besonders nachhaltiger und entscheidender Prägungen auf die Sozialnatur des Individuums zu verstehen. Gemeint sind Gruppen, die einem am nächsten stehen und denen man sich vor allen anderen Zugehörigkeiten verbunden fühlt. Als Prototyp einer Primärgruppe gilt daher die Familie, andere Beispiele wären aber auch eine enge freundschaftliche Verbindung, eine »Clique«, eine Bande u. Ä. • Den Primärgruppen stehen die übrigen gesellschaftlichen Gruppenverflechtungen gegenüber, die zusammenfassend als Sekundärgruppen bezeichnet werden. Bei diesen Sekun därgruppen handelt es sich in der Regel um Gruppen, die auf bestimmte Ziele hin zweckhaft ausgerichtet und organisiert sind, wie beispielsweise in Schulen, Industriebetrieben, Standesorganisationen, Vereinen oder politischen Parteien. Solche Sekundärgruppen sprechen nicht mehr den »ganzen« Menschen an, sondern sind - je nach ihren Zielsetzungen - überwiegend oder ausschließlich nur an dessen spezifischen Fähigkeiten interessiert (z. B. an bestimmten beruflichen Leistungen, betrieblichem Engagement, politischem Durchsetzungsvermögen usw.). Von daher grenzen Sekundärgruppen die sozialen Beziehungen auf bestimmte Ausschnitte der Person ein. Die zwischenmenschlichen Kontakte sind weniger gefühlhaft und eher unpersönlich, ja im Prinzip sachlich bestimmt; sie werden auch weniger auf der Grundlage wechselseitigen Vertrauens als vielmehr über formale Abmachungen und rechtliche Vertragsvereinbarungen geregelt. Hinzu kommt, dass Sekundärgruppen aufgrund ihrer zahlenmäßigen Größe für das einzelne Mitglied oft auch unübersichtlich sind. <?page no="150"?> 150 Gegenüber dem Begriff der Primärgruppe ist das Konzept der Sekundärgruppe relativ unscharf und diffus, was aber hier in der Natur der Sache liegt. Denn da es neben der Primärgruppe »gruppenmäßig alles Übrige« darstellt, ist es dem definitorischen Charakter nach eine ziemlich weit gespannte Restkategorie. Aus den Alltagserfahrungen ist uns aber bekannt, dass Primär- und Sekundärgruppen keineswegs immer so unvermittelt und kontrastierend einander gegenüberstehen, wie dies vielleicht von der theoretisch-systematischen Betrachtungsweise her erscheinen mag. Offenbar gibt es auch soziale Erfahrungsfelder, die sowohl primärals auch sekundärgruppenhafte Bezüge nebeneinander ermöglichen. Dies führt uns zu einer weiteren in der Soziologie üblichen Unterscheidung, nämlich derjenigen von informeller und formeller Gruppe. Zur vertiefenden und ergänzenden Lektüre Bernhard Schäfers (1999): Primärgruppen. In Ders. (Hrsg.), Einführung in die Gruppensoziologie. Geschichte, Theorien, Analysen, S. 97- 112. 3. Aufl. Quelle & Meyer: Wiesbaden. 3.1.5.2 Formelle und informelle Gruppen Formelle Gruppen finden wir überall dort, wo Menschen zusammengeführt werden, um bestimmte Ziele aufgrund planvoller organisatorischer Festlegungen zu erreichen, also insbesondere im beruflichen Bereich. Wie bei Sekundärgruppen im Allgemeinen steht im Besonderen auch bei formellen Gruppen der jeweils genau fixierte Zweckcharakter im Vordergrund. Die Aufteilung von Arbeiten und das Zusammenwirken im Hinblick auf die zu erreichenden Ziele sind vielfach so weitgehend vorweggedacht und die damit verbundenen Positionen neben möglichst eingehenden und präzisen Rollenerwartungen über Organigramme und Arbeitsplatzbeschreibungen so stark vorbestimmt und definiert, dass in der Regel nur noch Menschen gesucht werden, die in der Lage sind, sich in die so entworfenen und organisierten Handlungsabläufe optimal einzufügen. An den Bewerbern für <?page no="151"?> 151 Aufgaben in solchen formellen Gruppen ist daher in erster Linie ihre leistungsorientierte Funktionalität im Hinblick auf den formellen Gruppenzweck interessant. Sie sollen sich möglichst reibungslos in das ihnen zugeordnete Funktionsgefüge einordnen, in der vorgeschriebenen Weise arbeitsteilig zusammenwirken und die erwarteten spezifischen Leistungsnachweise erbringen. Dabei erscheint es systemlogisch, wenn sich die sozialen Beziehungen der Gruppenmitglieder untereinander im Prinzip auf den Austausch formal definierter Einzelleistungen beschränken. Infolgedessen sind auch die Handlungsabläufe in formellen Gruppen über entsprechende Organisationspläne, Geschäftsordnungen, Satzungen u. Ä. in der Regel eindeutig festgelegt und formal ausgestaltet: • Wer hat was zusammen mit wem unter Beachtung welcher Kommunikationskanäle (»Dienstwege«) zu tun? • Auf welchen Ebenen werden Anweisungen mit welchen Wirkungen an welchen Personenkreis erteilt? • Welche Schlichtungsstellen können in Konfliktfällen angerufen werden? Hierzu ein Beispiel: »Die im Außendienst tätige Fürsorgerin besucht einen Klienten und schreibt einen Bericht, der Sachbearbeiter im Innendienst liest den Bericht und hakt ab, der Abteilungsleiter liest ebenfalls und genehmigt, die Sekretärin schreibt die Zahlungsanweisung aus, der Kassierer liest gegen und überweist das Geld, der Prüfer liest erneut und entdeckt einen Fehler, der Leiter des Sozialamtes wird mit dem Fall befasst, sein Assistent hält die Auszahlung überhaupt für ungerechtfertigt, der Abteilungsleiter bekommt einen Rüffel, er gibt ihn an den Sachbearbeiter weiter, dieser hält die Sozialarbeiterin für schuldig, sie macht einen erneuten Besuch - und wenn sie auf ihrer Interpretation des Falles besteht und vielleicht noch die Presse davon erfährt, beginnt alles von vorn, exakt, bürokratisch geregelt […]. Nicht persönliche Gefühle sollen für die Gestaltung der sozialen Beziehungen maßgeblich sein, sondern ausschließlich die geltenden Arbeitsvorschriften. Würde sich ein Sachbearbeiter weigern, mit Inspektor Y zusammenzuarbeiten, weil dieser CDU-, SPD- Mitglied, Schürzenjäger, Jude, Beat-Anhänger, Bachliebhaber, Jung- <?page no="152"?> 152 geselle, Benutzer eines bestimmten Waschpulvers, Single oder Fernsehzuschauer ist, würde das die vom Zweck der Organisation her vorgeschriebenen sozialen Beziehungen stören« (Bellebaum 2001, 33 f.). Wie wir jedoch aus Ergebnissen einschlägiger soziologischer Untersuchungen, aber wohl auch aufgrund unserer eigenen Erfahrungen in beruflichen Arbeitsgruppen, in und mit großen Organisationen (Bundeswehr, Krankenhaus, Kirchen, Behörden, Verbände u. Ä.) her wissen, sind die dort tätigen Menschen im Allgemeinen keine »blutleeren Funktionäre«, die gleichsam mechanisch und emotionslos ihre Position verwalten und ihre Rollen in organisatorisch vorprogrammierten Formen vollziehen, sondern auch Menschen aus Fleisch und Blut, mit Stärken und Schwächen, deren Handeln sich - im Allgemeinen wenigstens - nicht auf rein formelle Beziehungen begrenzen lässt. Seitens der Organisationsleitung nicht berechenbar und im Hinblick auf die geplanten sozialen Beziehungen in formellen Gruppen durchaus nicht immer funktional, bringen die Gruppenmitglieder als Individuen doch immer auch nicht kalkulierbare Eigenschaften und Haltungen mit, persönliche Lebenserfahrungen und individuelle Arbeitsstile, mitmenschliche Wertungen und emotional getönte Zu- und Abneigungen, Kontaktbedürfnisse oder Distanzansprüche, so dass sie auf die ihnen dort zugedachten »objektiven« Anforderungen der Aufgaben im allgemeinen nur mehr oder weniger »persönlich« gefärbte Antworten zu geben vermögen. Diese Gegebenheiten führen beispielsweise in einem Industriebetrieb, einer Behörde oder einem Verband dazu, dass sich innerhalb oder auch außerhalb formeller bzw. organisierter Gruppen immer auch sogenannte informelle Sozialbeziehungen entwickeln, die wesentlich auf persönlicher Sympathie, ähnlichen Gefühlslagen, gleichgerichteten Interessen und Erwartungen beruhen, formelle Strukturen oft durchkreuzen und sich auch in informellen Gruppen kristallisieren können. Diese informellen Gruppen sind vergleichsweise klein und dienen primär der Befriedigung persönlicher, privater und emotionaler Bedürfnisse wie z. B. nach Anerkennung und Achtung, Mitsprache und Mit- <?page no="153"?> 153 wissen, spontaner Personenbeziehung, Geborgenheit, Kollegialität oder Freundschaft, - individuelle Bedürfnisse also, die im Rahmen von Großgruppen formal nur ungenügend berücksichtigt werden (können). Da sich informelle Gruppen jedoch nicht nur auf die sie begründenden affektiven Aspekte und Verbundenheiten begrenzen lassen, wirken sie sich auch häufig in positiver (funktionaler) oder negativer (dysfunktionaler) Weise auf die formalen Organisationsstrukturen, -ziele und -zwecke aus. Da vorweg unmöglich alle Eventualitäten einer Organisation formal zu regeln sind, können informelle Beziehungen beispielsweise bestehende Lücken der formalen Organisation im Sinne flexibler, situativ und sachlich angemessener, »unbürokratischer« Problemlösungen (z. B. auf dem »kleinen Dienstweg«) ausfüllen. Umgekehrt kann aber auch der von der Organisationsleitung unkontrollierbare Austausch einzelner Leistungen und Informationen »Sand ins Getriebe« bringen: Beispielsweise können sich leistungshemmende Cliquenstreitigkeiten und gruppenspaltende Rivalitäten entfalten, Gerüchte können sich ausbreiten, informelle, die offiziellen Arbeitsvorschriften unterlaufende Leistungs- und Verhaltensnormen können sich herausbilden u. v. m. Aus diesem Grunde können informelle Gruppen sowohl Folge wie Ursache von Spannungen und Problemen innerhalb formeller Gruppen sein. Im Zusammenhang mit formellen Gruppen sind praktisch immer und überall auch informelle Gruppen anzunehmen. Selbst in »totalen Institutionen« wie Gefängnissen lassen sich erfahrungsgemäß informelle Gruppen mit subkulturellen Effekten nicht verhindern, wobei sie sich dort allerdings in der Regel sehr geschickt zu tarnen vermögen. Zur vertiefenden und ergänzenden Lektüre Wolfram Burisch (1973): Industrie- und Betriebssoziologie. (Darin Kapitel IV »Das Sozialsystem des Industriebetriebs«, S. 77-108). 7. Aufl. de Gruyter: Berlin. George Caspar Homans (1978): Theorie der sozialen Gruppe. (Darin zum sog. Hawthorne-Effekt vor allem Kapitel 3: »Der ›Bank Wiring Observation Room‹«, S. 72-99). 7. Aufl. Westdt. Verlag: Opladen. <?page no="154"?> 154 Heiner Minssen (2006): Arbeits- und Industriesoziologie. (Darin Kapitel 5: »Der Betrieb als soziales System«, S. 64-89). Campus: Frankfurt/ M. Bernhard Schäfers (Hrsg.) (1999): Einführung in die Gruppensoziologie. Geschichte, Theorien, Analysen. (Darin die Beiträge von Hermann L. Gukenbiehl, »Formelle und informelle Gruppe als Grundformen sozialer Strukturbildung«, S. 80-97 und von Bärbel Kern, »Gruppen am Arbeitsplatz«, S. 194-226). 3. Aufl. Quelle & Meyer: Wiesbaden. Günter Wiswede (1981): Gruppe im Betrieb. In Paul G. v. Beckerath, Peter Sauermann & Günter Wiswede (Hrsg.), Handwörterbuch der Betriebspsychologie und Betriebssoziologie, S. 185-192. Enke: Stuttgart. 3.1.5.3 Großgruppen und Kleingruppen Dass jede Gesellschaft mehr ist als die Summe ihrer Individuen und dass sie sich nur über graduell abgestufte soziale Gruppen, Kreise und Kollektive in fließenden Übergängen und komplexen Vernetzungen konstruktiv begreifen lässt, haben wir bereits an anderer Stelle diskutiert. Wir wissen, dass jede Gesellschaft im Allgemeinen nach irgendwelchen Elementen und Kriterien (z. B. Alters-, Geschlechts-, Abstammungs-, Berufsgruppen) gegliedert ist. Diese interne funktionale Differenzierung gilt für kleine überschaubare Sozialgebilde, wie sie einfache Stämme und Naturvölker darstellen, ebenso wie für mittlere und große gesellschaftlichpolitische Entitäten wie beispielsweise die Schweiz oder auch die Bundesrepublik Deutschland und Frankreich bis hin zu den riesigen sozialen Gebilden vom Typ der Europäischen Union und der amerikanischen, russischen oder chinesischen Gesellschaft. Die hier überall nachweisbaren gesellschaftlichen Differenzierungen als Teile umfassender sozialer Einheiten lassen sich u. a. auch nach der Zahl ihrer jeweiligen Mitglieder aufteilen, wobei üblicherweise dann zwischen Großgruppen und Kleingruppen unterschieden wird. So sinnvoll diese Unterscheidung nach unserer Erfahrung ist, so theoretisch einleuchtend sich mit verschiedenen Quantitäten auch unterschiedliche Qualitäten verbinden, so schwierig kann es <?page no="155"?> 155 im Einzelfall werden, ein konkretes soziales Gebilde dem jeweils gemeinten Typ nach soziologisch eindeutig zuzuordnen. Bei näherer Betrachtung erweisen sich nämlich die Begriffe »Großgruppe« und »Kleingruppe« als außerordentlich vage, ja die jeweilige typologische Zuordnung kann - wie schon Georg Simmel bemerkte - geradezu sophistisch-spitzfindige Überlegungen provozieren: »Wie viel Soldaten eine Armee ausmachen, wie viel Teilnehmer nötig sind, um eine politische Partei zu bilden, wie viel Mittuende zu einem Auflauf gehören - sie scheinen die klassische Rätselfrage zu wiederholen: wie viel Weizenkörner einen Haufen geben? Denn da ein, zwei, drei, vier Körner es noch keineswegs tun, tausend aber jedenfalls, so müsse doch zwischen diesen Zahlen eine Grenze liegen, an der das Hinzufügen eines einzigen Kornes die bisherigen zu einem ›Haufen‹ ergänze; macht man aber diesen Versuch des Weiterzählens, so zeigt sich, dass niemand diese Grenze anzugeben vermag« (Simmel 1908/ 1968, 53). Wenn Simmel dennoch den Größenvariationen sozialer Gruppen besondere Bedeutung zumaß, dann deshalb, weil er klar erkannte, dass nicht nur die zunehmende Größe einer Gruppe ihre internen Strukturen verändert und unterscheidbare soziale Prozesse initiiert, sondern dass größere Gruppen auch inhaltlich und formal andere Probleme aufwerfen als kleinere soziale Gebilde. Hinzu kam seine Entdeckung, dass mit der numerischen Veränderung von Gruppen deren qualitative soziale Effekte nicht etwa linear, sondern vielmehr sprunghaft variieren, so dass nicht die relative, sondern die absolute Größe zur jeweils entscheidenden Variablen wird. Simmel erläutert dies so: »Wenn in einer parlamentarischen Partei von 20 Köpfen sich vier, gegen das Parteiprogramm kritische oder sezessionistische Mitglieder befinden, so wird deren Rolle für die Tendenz und das Verfahren der Partei eine andere sein als wenn die Partei 50 Köpfe stark ist und zehn Rebellen in ihrer Mitte hat: im allgemeinen wird, trotz der gleichgebliebenen Zahlrelation, die Bedeutung der letzteren in der größeren Partei eine größere sein […]. Man hat hervorgehoben, dass eine Militärtyrannis ceteris paribus um so haltbarer sei, je größer ihr Gebiet sei; denn umfasse das Heer <?page no="156"?> 156 etwa ein Prozent der Bevölkerung, so ließe sich eher eine Bevölkerung von zehn Millionen mit einem Heer von 100.000 Mann im Zaume halten, als eine Stadt von 100.000 Einwohnern mit 100 Soldaten oder ein Dorf von 100 Einwohnern mit einem einzigen. Das Eigentümliche ist hier, dass die absoluten Zahlen der Gesamtgruppe und der in ihr einflussreichen Elemente, obgleich ihre Relation als Zahlen die identische bleibt, doch gerade die Relationen innerhalb der Gruppe so merkbar verschieden bestimmen. Jene beliebig zu vermehrenden Beispiele zeigen, dass die Relation soziologischer Elemente nicht nur von der relativen, sondern zugleich von den absoluten numerischen Quanten dieser Elemente abhängt« (Simmel 1908/ 1968, 40 f.). Für unseren Zusammenhang wird vor allem auch Simmels Diskussion der unteren Grenze von Kleingruppen wichtig. Auf der Suche nach dem Grenzpunkt zwischen Individuum und sozialer Kleingruppe stieß er nämlich auf die sozialen Gebilde der Zweierbeziehung oder des Paars (Dyade) und der Dreierbeziehung (Triade). Hierbei erkennt er in einer umfassenden Analyse den dyadischen Beziehungen eine spezifische soziale Qualität zu, die es nahe legt, sie als Sozialgebilde eigener Art zu verstehen. Denn das Paar stellt jenes einzigartige soziale Gebilde dar, in der zwei - und nur zwei - Individuen sich unmittelbar gegenüber stehen und ihre Handlungen unvermittelt aufeinander beziehen. In keiner anderen sozialen Beziehung lassen sich so extrem und elementar die zwischenmenschlichen Gefühle der Liebe und des Hasses, der Freiheit und der Isolation, der Eifersucht und des Verständnisses, der Verehrung und des Verrats erfahren wie gerade in der Zweierbeziehung. Hier gibt es im Prinzip nur zwei zwischenmenschliche Bewegungen: das Aufeinanderzugehen und Miteinanderauskommen oder das Sichvoneinanderentfernen und sich schließlich Trennen. Mit dem Hinzukommen einer dritten Person verändert sich nicht nur grundlegend die Struktur der Paarbeziehung zur Triade, sondern auch die Auswirkungen auf die beteiligten Personen sind unverhältnismäßig groß. Völlig neue Möglichkeiten des sozialen Arrangements entstehen: Der »Dritte« kann in Konfliktfällen mit dem einen oder dem anderen »koalieren« oder auch als »lachen- <?page no="157"?> 157 der Dritter« abseits stehen, er kann aber auch als Vermittler oder Schiedsrichter intervenieren und - was Simmel für besonders wichtig hält - beim Ausscheiden einer Person aus der Triade wird, im Gegensatz zur Dyade, der soziale Charakter der Beziehung nicht fundamental erschüttert. Von daher empfiehlt es sich, die untere Grenze von Kleingruppen bei mindestens drei Mitgliedern anzusetzen. Zweierbeziehungen dagegen sind als soziale Verflechtungen besonderer Art zu betrachten, die sich in ihren Beziehungsqualitäten, aber auch in ihren Beziehungsmöglichkeiten von anderen sozialen Gebilden in so typischer Art und Weise unterscheiden, dass sie auch terminologisch von Kleingruppen abgehoben und begrifflich eigens als »Paar« oder »Dyade« gefasst werden müssen. Kann so die quantitative Bestimmung der Untergrenze von Kleingruppen noch einigermaßen problemlos konventionell festgelegt werden, so entstehen - wie schon bei Simmel angedeutet - größere Schwierigkeiten bei der Definition von deren Obergrenze. Zur Lösung dieses Problems kann als entscheidendes Kriterium für Kleingruppen das Vorhandensein direkter, unmittelbar persönlicher Beziehungsmöglichkeiten der Gruppenmitglieder untereinander herangezogen werden, jenes Merkmal der »face-to-face-relations«, das uns bereits bei der Bestimmung von Primärgruppen begegnet ist. Entsprechend definiert auch einer der bekanntesten Gruppentheoretiker, der amerikanische Soziologe George Caspar Homans (1910-1989), die Kleingruppe als »eine Reihe von Personen, die in einer bestimmten Zeitspanne häufig miteinander Umgang haben und deren Anzahl so gering ist, dass jede Person mit allen anderen Personen in Verbindung treten kann, und zwar nicht nur mittelbar über andere Menschen, sondern von Angesicht zu Angesicht« (Homans 1978, 29). Nun ist das menschliche Vermögen, mit anderen zu kommunizieren und zu interagieren, physisch wie psychisch begrenzt. Wir können nicht mit unendlich vielen Menschen irgendeines Kollektivs soziale Beziehungen aufnehmen und unterhalten. Wie groß beispielsweise die Zahl möglicher sozialer Kontakte innerhalb einer Gruppe mit der gegebenen Mitgliederzahl n ist, lässt <?page no="158"?> 158 sich nach einer »gruppendynamischen Formel« (Moore 1986, 97) auch mathematisch errechnen. Dabei gilt für eine Gruppe mit gegebener Mitgliederzahl (n): Summe der möglichen n (n - 1) Zweierbeziehungen 2 Für eine Fünfergruppe 5 (5 - 1) = 20 bedeutet dies: 2 2 d. h. zehn mögliche Zweierbeziehungen. Für eine Gruppe mit zehn Mitgliedern sind es bereits: 10 (10 - 1) = 90 = 45 2 2 potenzielle Kontakte, bei 20 Gruppenmitgliedern 190 usw. Berücksichtigt man darüber hinaus noch, dass Mitglieder sozialer Gruppen untereinander ja nicht nur wechselseitige Zweierbeziehungen, sondern auch größere Koalitionen, Cliquenverbindungen u. Ä. eingehen können, so steigt die Zahl der Beziehungsmöglichkeiten noch sprunghafter. Zur Berechnung der Summe aller theoretisch möglichen sozialen Beziehungen in Gruppen mit gegebener Personenzahl (n ≥ 2) bedient man sich der Formel: Summe der gruppeninternen= (3 n - 2 n+1 ) + 1 Beziehungsmöglichkeiten 2 Sind es bei einer Gruppe mit drei Mitgliedern noch sechs verschiedene mögliche Beziehungskonstellationen, so gibt es bei fünf Mitgliedern bereits 90 unterschiedliche Verbindungsmöglichkeiten, bei sieben schon 966, bei zehn bereits die unglaubliche Menge von 28.501 potenziellen gruppeninternen Arrangements usw. <?page no="159"?> 159 Diese Zahlen belegen eindrücklich, dass mit steigender Personenzahl die potenziellen Zweierbeziehungen und die Beziehungsmöglichkeiten insgesamt so stark zunehmen, dass die einzelnen Gruppenmitglieder in ihren Fähigkeiten, mit den anderen Kontakt aufzunehmen, ab einem gewissen Punkt überfordert sind. Schon von daher ist unter dem Aspekt der interaktionellen Muster und der kommunikativen Kapazität die obere Grenze von Kleingruppen bei einer verhältnismäßig geringen Zahl von Mitgliedern anzusetzen. Zwar hängt die optimale Größe nicht zuletzt vom jeweiligen Gruppenzweck ab, und es mag auch unter Umständen eine besondere Rolle spielen, ob die Zahl der Gruppenmitglieder gerade oder ungerade ist, doch sollen Kleingruppen - je nach ihrer »raison d’être« - nach Meinung von Soziologen und Sozialpsychologen nicht mehr als sieben bis 15 Mitglieder umfassen. Bei diesen Grenzen dürfte im Allgemeinen bei den Gruppenmitgliedern noch ein Sicherheitsgefühl durch realisierbare soziale Kontakte sowie auch ein Gefühl des Akzeptiertwerdens erreichbar sein. Darüber hinaus wird es zumindest kritisch: Eine Studie über das Lernverhalten zeigt beispielsweise, dass die persönliche Beteiligung der einzelnen Gruppenmitglieder bei einer Lerngruppe von über 15 Teilnehmern so stark zurückgeht, dass die Mitglieder sich dann genauso verhalten, als ob sie sich als Zuhörer in einer Vorlesung für 400 Personen befänden (Boocock 1966, zit. n. Hopper & Weyman 1977, 176). Aus der bisherigen Diskussion ergibt sich, dass die Mitglieder von Großgruppen sich nicht persönlich zu kennen brauchen, die übrigen Bestimmungsmerkmale für soziale Gruppen (gemeinsame Ziele und Interessen, Wir-Bewusstsein, gemeinsames Wert- und Normensystem, interne Rollenstruktur und Aufgabenverteilung) indessen vorhanden sein müssen. Als typische Beispiele für solche Großgruppen gelten Verbände, Gewerkschaften, politische Parteien, Kirchen und Religionsgemeinschaften. Solche Großgruppen konstituieren sich oft zunächst nur durch abstrakte, gemeinsam geltende Vorstellungen und einander verbindende Überzeugungen: Man denkt und handelt wie die anderen, die sich oft erst in bestimmten Situationen durch ihre Handlungen, <?page no="160"?> 160 Haltungen, Aussagen, auch Abzeichen, Symbole usw. als gleich gesinnte Mitglieder zu erkennen geben. Hinzu kommt bei vielen Großgruppen auch ein bestimmter Grad an Organisiertheit, der sie als Organisationen kenntlich macht: eingeschriebene Mitglieder, Mitgliedsausweis, Zeitschrift, Führungskader usw. Wie jedes andere Konzept gerät auch der Begriff der Großgruppe dort an die Grenze seiner praktischen Brauchbarkeit und analytischen Ergiebigkeit, wo er inhaltlich überfrachtet und formal überdehnt wird. Große und umfassende soziale Gebilde wie beispielsweise die Bundesrepublik Deutschland werden daher nicht mehr als Großgruppen, sondern als Gesamtgesellschaften bezeichnet, weil sich ja u. a. solche übergreifenden nationalen Systeme wieder selbst aus unüberschaubar vielen Großgruppen zusammensetzen. Zur vertiefenden und ergänzenden Lektüre Raymond Boudon & François Bourricaud (1992): Soziologische Stichworte. Ein Handbuch. (Darin »Gruppen«, S. 183-191). Westdt. Verlag: Opladen. Earl Hopper & Anne Weyman (1977): Große Gruppen aus soziologischer Sicht. In Lionel Kreeger (Hrsg.), Die Großgruppe, S. 154-183. Klett-Cotta: Stuttgart. Michael S. Olmsted (1971): Die Kleingruppe. Soziologische und sozialpsychologische Aspekte. Lambertus: Freiburg/ Brsg. Georg Simmel (1968): Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung. (Darin die Kapitel »Die quantitative Bestimmtheit der Gruppe«, S. 32-100 und »Die Erweiterung der Gruppe und die Ausbildung der Individualität«, S. 527-573). 5. Aufl. (zuerst 1908). Duncker & Humblot: Berlin. Haim Weinberg & Stanley Schneider (2003): The Large Group Re-Visited, (Darin »Background, Structure and Dynamics of the Large Group«, S. 13-28). Kingsley: London, Philadelphia. <?page no="161"?> 161 3.2 Soziale Stabilität und Wandel der Gesellschaft 3.2.1 Gesellschafts-»bilder« Zumindest glauben wir alle zu wissen, was »Gesellschaft« ist, aber meist fällt es uns schwer, genauer zu formulieren oder gar zu definieren, was unter diesem Begriff zu verstehen ist. Selbst bei Soziologen, den eigentlichen Gesellschaftswissenschaftlern, gibt es offenbar Schwierigkeiten, Gesellschaft präzise zu bestimmen. Der in Deutschland wohl bedeutendste soziologische Systemtheoretiker, Niklas Luhmann (1927-1998) versucht unser terminologisches Problem zunächst pragmatisch zu lösen, wenn er schreibt: »Es muss in der Soziologie einen Begriff geben für die Einheit der Gesamtheit des Sozialen - ob man dies nun […] als Gesamtheit der sozialen Beziehungen, Prozesse, Handlungen oder Kommunikationen bezeichnet. Wir setzen hierfür den Begriff der Gesellschaft ein. Gesellschaft ist danach das umfassendste Sozialsystem, das alles Soziale in sich einschließt und infolgedessen keine soziale Umwelt kennt« (Luhmann 1987, 555). Mit dieser Vorstellung von »Gesellschaft« als eine (die? ) oberste Ebene der Organisation sozialer Beziehungen kommt Luhmann dem am Schluss unseres vorangegangenen Abschnitts angesprochenen Konzept der »Gesamtgesellschaft« recht nahe, - wenn nicht gar in einer progressiven Projektion letztlich dem Modell einer »Weltgesellschaft« -, was uns im Hinblick auf unser Ausgangsproblem aber wohl nicht weniger ratlos lässt. Etwas später lesen wir dann unter dem von Luhmann noch selbst verfassten Stichwort »Gesellschaft« in einem der gebräuchlichsten soziologischen Fachwörterbücher seine lapidare Feststellung, Gesellschaft sei »das jeweils umfassendste System menschlichen Zusammenlebens«, wobei er resignierend fortfährt: »über weitere einschränkende Merkmale besteht kein Einverständnis« (Lexikon zur Soziologie 2007, 234 f.). <?page no="162"?> 162 Diese ziemlich diffuse Vorstellung und definitorische Verlegenheit rührt sicher nicht zuletzt daher, dass mit »Gesellschaft« eben keine konkrete Sache bezeichnet werden kann. Da mit diesem Begriff von soziologischen Theoretikern offensichtlich ganz verschiedene soziale Gebilde auf unterschiedlichen Realitätsebenen verknüpft werden, wird von ihnen gesellschaftstheoretisch wohl eher ein Bild kommuniziert, das einerseits in einer verwirrenden und unübersichtlichen Vielfalt von Einzelheiten sozialer Tatsachen aufzugehen scheint, andererseits aber auch eher abstrakte, weniger deutlich konturierte Züge mit ineinander verwobenen Fließzonen aufweist. Wir gehen für unsere weiteren Überlegungen deshalb davon aus, dass der einzelne Mensch als soziale und kulturelle Persönlichkeit zunächst die sozialen Bezüge zu seinen Primärgruppen als - wie Cooley dies nennt - »nursery of human nature« grundlegend benötigt, diese primären Beziehungsfelder jedoch wieder notwendigerweise in weitere und umfassendere Klein- und Großgruppen, formelle und informelle Kontakte, sekundäre Sozialgebilde und Organisationen eingebunden sind, so dass sich das Gesamt dieser mannigfachen Formen der Verflechtungseinheiten und -zusammenhänge sozialer Gebilde innerhalb einer Kultur als »Gesellschaft« (im Sinne von »Staat« oder »Nation«) begreifen lässt. Rein deskriptiv lassen sich die Rahmenbedingungen dieses Bildes annähernd bestimmen durch eine Aufzählung von Eigenschaften wie beispielsweise: • eine hinreichend große, altersmäßig und geschlechtlich gemischte Bevölkerung, • eine gemeinsame Sprache und ein gemeinsames Geschichtsbewusstsein, • das Vorhandensein einer politischen Ordnung und der Bezug auf ein Territorium, • bestimmte, das Gesamtsystem erhaltende bzw. dessen Grundbedürfnisse befriedigende Institutionen und Organisationen, • ein bestimmter Grad der wirtschaftlichen Entwicklung und ein entsprechender Lebensstandard, • eine eigene Kultur usw. <?page no="163"?> 163 Es gibt zahlreiche gedankliche Entwürfe und viele Bilder von Gesellschaften, und - was hinzukommt -, eine und dieselbe soziale Realität hat oft noch verschiedene, je nach Standort und Betrachtungsweise variierende Facetten: • Wenn wir beispielsweise von einer Agrar- oder einer Industriegesellschaft sprechen, so betonen wir damit zweifellos die für die jeweilige Gesellschaft typische Art und Weise wirtschaftlicher Produktion. • Reden wir von sozialistischer oder kapitalistischer Gesellschaft, dann steht die jeweilige Eigentumsordnung im Vordergrund. • Eine zurückgehende, stagnierende oder expandierende Gesellschaft bezieht sich auf die demographische Bilanz der Bevölkerungsentwicklung. • Bei primitiven Gesellschaften denken wir z. B. an deren schriftlose Kulturstufe. • Die Bezeichnungen kommunistische oder faschistische Gesellschaft verweisen auf die zugrunde liegenden gesellschaftlichpolitischen Ideologien. • Totalitär ist im allgemeinen Sprachgebrauch eine Gesellschaft, die durch die diktatorische Macht des Staates auf allen Ebenen und in allen Lebensbereichen charakterisiert wird. Eine Variante hiervon ist eine fundamentalistische Gesellschaft, die von einem fanatisch-radikalen, meist mehr oder weniger religiös motivierten Antimodernismus beherrscht wird. • Gegenwärtig viel diskutiert wird unser Thema Gesellschaft unter den Bezeichnungen »Überflussgesellschaft« (John Kenneth Galbraith), »Weltgesellschaft« (Niklas Luhmann), »Risikogesellschaft« (Ulrich Beck), »postindustrielle Gesellschaft« (Daniel Bell), »postmoderne Gesellschaft« (Ronald Inglehart), »Bürgergesellschaft« (Ralf Dahrendorf und Jürgen Habermas), »Erlebnisgesellschaft« (Gerhard Schulze), »Informations- und Mediengesellschaft« (Neil Postman), »Arbeitsgesellschaft« (Claus Offe), »Wissensgesellschaft« (Karin Knorr-Cetina), »Single-Gesellschaft« (Stefan Hradil), »multikulturelle Gesellschaft« (Claus Leggewie), »transparente Gesellschaft« (Gianni Vattimo), »Netzwerkgesellschaft« (Manuel Castells), »Multioptionsgesellschaft« (Peter Gross) u. Ä. <?page no="164"?> 164 Die jeweilige Bezeichnung hebt hierbei immer etwas Wichtiges in prägnanter Weise hervor, vernachlässigt aber gleichzeitig anderes und erfasst so die tatsächlichen gesellschaftlichen Strukturen und Abläufe nur unvollkommen. Ganz im Sinne der Max Weberschen Idealtypen haben solche Attribute eher heuristische Funktionen und besitzen den Charakter von abstrahierenden Modellen. Der Soziologe steht also vor der Schwierigkeit, immer nach belangvollen und untersuchungswerten, d. h. relevanten Bestimmungsfaktoren im Zusammenspiel der umfassenden sozialen Prozesse zu suchen, wohl wissend, dass in jeder Gesellschaft eigentlich alles vorkommt, irgendwie alles mit allem zusammenhängt und somit eine eng verwobene Totalität bildet. Jedoch, »um eine exakte Theorie der Totalität zu haben, müssten wir alle Einzelvorgänge und ihre Ursachen, auch im geschichtlichen Verlauf, kennen. Zur Totalität gehört schließlich auch das eigene Denken über sie. Deswegen ist prinzipiell keine eindeutige Beschreibung und Analyse einer Totalität möglich. Auch in den Naturwissenschaften sind die Vorstellungen vom Gesamtzusammenhang aller Naturvorgänge (›die Natur‹) notwendigerweise verschwommen. Eine ›präzise Vorstellung‹ kann man nur über etwas haben, das sich auch präzise abgrenzen lässt und somit keine Totalität darstellen kann« (Stromberger & Teichert 1986, 256). Dies erklärt auch, weshalb man in den meisten soziologischen Lehrbüchern vergeblich nach einem eigenen Kapitel über die Gesellschaft sucht: »Die Autoren haben durchaus ein Gedankenbild, aber es ist undifferenziert, verträgt keine systematische Darstellung und kann oft mit wenigen Sätzen formuliert werden« (Stromberger & Teichert, ebenda). Zur vertiefenden und ergänzenden Lektüre Hans Paul Bahrdt (1992): Schlüsselbegriffe der Soziologie. (Darin Kapitel IX »Bemerkungen zum Begriff der Gesellschaft«, S. 181-187). Beck: München. Ralf Dahrendorf (1961): Gesellschaft und Freiheit. Zur soziologischen Analyse der Gegenwart. (Darin vor allem Kapitel 1 »Soziologie und industrielle Gesellschaft«, S. 13-26). Piper: München. <?page no="165"?> 165 Karl-Heinz Hillmann (2007): Wörterbuch der Soziologie. 5. Aufl. (Dort das Stichwort »Gesellschaft«, S. 289-292, mit zusätzlichen Literaturhinweisen). Kröner: Stuttgart. Georg Kneer, Armin Nassehi & Markus Schroer (Hrsg.) (1997): Soziologische Gesellschaftsbegriffe. Konzepte moderner Zeitdiagnosen. Fink: München. Talcott Parsons (1976): Zur Theorie sozialer Systeme. (Darin der Beitrag »Der Begriff der Gesellschaft: Seine Elemente und ihre Verknüpfungen«, S. 121-160). Westdt. Verlag: Opladen. Armin Pongs (2004): Gesellschaft X. In welcher Gesellschaft leben wir eigentlich? Band 1. (Darin als Einstieg »Per Anhalter durch die Gesellschaft«, S. 11-17 und »Individuum und Gesellschaft in Zeiten der Globalisierung«, S. 25-37). 2. Aufl. Dilemma: München. 3.2.2 Gesellschaft als soziales System: Soziale Stabilität Trotz dieser vielfältigen Schwierigkeiten sind verschiedene Versuche gemacht worden, Gesellschaften auf ihre funktionalen Gemeinsamkeiten oder ihre strukturellen Unterschiede hin zu betrachten. Die wichtigsten klassischen Ansätze hierzu haben wir bereits bei Herbert Spencer (Gesellschaft als Organismus und Mechanismus) oder Karl Marx (Gesellschaft des historischen Materialismus) kennen gelernt. Für neuere, sogenannte systemtheoretische Ansätze sind insbesondere die Arbeiten von Talcott Parsons und Niklas Luhmann wegweisend geworden. So geht Parsons beispielsweise davon aus, dass in allen Gesellschaften bestimmte Funktionsvoraussetzungen für das zwischenmenschliche Zusammenleben erbracht werden müssen, die dann überdies zum Handlungszwang im Hinblick auf den Bestand eines gesellschaftlichen Systems werden. In seinem berühmt gewordenen, jedoch relativ abstrakt gebliebenen AGIL-Schema (worin die Begriffe adaption, goal-attainment, integration und latency die vier wichtigsten Systemprobleme bezeichnen) fasst Parsons die Grundfunktionen sozialer Systeme zusammen. <?page no="166"?> 166 • Anpassung (adaption) meint, dass alle Gesellschaften zunächst mit den natürlichen Gegebenheiten ihres Lebensraumes fertig werden müssen. Je nachdem wie die gegebenen Umweltbedingungen bewältigt werden und welche Ressourcen sich eine Gesellschaft hierbei zunutze macht, werden typische Formen des Arbeitens und Wirtschaftens entwickelt: in einer Jäger- und Sammlergesellschaft sichern die Menschen ihr Überleben vorwiegend durch das Sammeln von wild wachsenden Früchten und das Jagen von Tieren, in einer Agrargesellschaft erfolgt die materielle Lebenssicherung mit Hilfe von Ackerbau und Viehzucht sowie der Herstellung handwerklicher Gegenstände, in einer Industriegesellschaft sind die Arbeits- und Wirtschaftsprozesse vorwiegend durch die industrielle Güterproduktion und den damit verbundenen Gütertausch gekennzeichnet. • Zielerreichung (goal-attainment) weist darauf hin, dass die Mitglieder einer Gesellschaft auf gemeinsame Zielvorstellungen bzw. kollektive Grundüberzeugungen hin zu verpflichten sind. An solchen Grundwerten sollen sich im Alltag die konkreten Handlungsvollzüge orientieren. Normative Rahmenbedingungen dieser Art sind beispielsweise für die Gesellschaft der Bundesrepublik Deutschland im gesellschaftlich-politischen Auftrag des Grundgesetzes verankert. • Um die Systemziele zu erreichen, ist eine Integration aller Systemelemente oder - anders ausgedrückt - eine »soziale Einheit« anzustreben. Die gegenseitigen Interaktionen sollen, über gemeinsame Deutungsschemata verknüpft, zu komplementären Handlungsmustern bzw. zu einem koordinierten Zusammenhalt gebracht werden. • Schließlich ist allen Gesellschaften das Bemühen gemeinsam, ihre konstitutiven Merkmale, die sie als eigenständige Systeme von der Umwelt abheben, zu erhalten. Im Interesse dieser Strukturerhaltung (latency, pattern maintenance) und im Hinblick auf die Zukunft sollen daher die geltenden Überzeugungen und Maßstäbe im Innern der einzelnen Gesellschaftsmitglieder verankert werden. Diesen funktionalen Hauptproblemen entsprechend erscheint nach Parsons die komplexe Ganzheit der Gesellschaft in verschie- <?page no="167"?> 167 den strukturierte Teilsysteme ausdifferenziert. Jeweils bestimmte Teil- oder Subsysteme sehen eines dieser Probleme im Sinne des Gesamtsystems als ihre spezifische, jedoch nicht ausschließliche Aufgabe an, indem sie bestimmte Zwecke anstreben und gleichzeitig geeignete Mittel und geistige Bedingungen produzieren, um diese Zwecke zu erreichen: • So wird die Anpassungsfunktion dem Wirtschaftssystem zugeordnet, das imstande sein muss, gegebene Ressourcen je nach den sich entfaltenden Bedürfnissen zu erschließen und bereitzustellen. • Wesentliche Aufgaben der Politik sind dagegen das Aushandeln von kollektiv verbindlichen Zieldefinitionen, mittels derer die einzelnen gesellschaftlichen Gruppen mit ihren divergierenden Einzelinteressen zusammengehalten werden sowie die Mobilisierung von Potenzialen zur staatlichen Zielverwirklichung bzw. deren praktische Durchsetzung im Führungs- und Verwaltungshandeln. • Unter Zuhilfenahme von gemeinsamen Symbolen (z. B. Wappen, Hymne, Fahne, Dynastie, Staatsoberhaupt u. Ä.) und unter Bezug auf eine gemeinsame geschichtliche Entwicklung und kulturelle Tradition wird ein Bewusstsein der Zusammengehörigkeit aufgebaut, das die einzelnen Gruppen übersteigt, - eine integrative Funktion, die in modernen Gesellschaften im Wesentlichen vom Schulsystem bzw. von gesellschaftlich organisierten Instanzen öffentlicher Sozialisation, Erziehung und Bildung übernommen wird. • Das Subsystem Familie sorgt schließlich dafür, dass im Sinne der Erhaltungs- oder Reproduktionsfunktion der Gesellschaft neue Mitglieder zugeführt werden, die sich den gemeinsamen Maßstäben motivational verpflichtet fühlen und von sich aus handeln möchten, wie sie handeln sollen. Wenn auch in dieser strukturell-funktionalen Systemtheorie den gesellschaftlichen Teilsystemen primär bestimmte Aufgaben zugeordnet werden, so bedeutet dies - wie schon angedeutet - keineswegs, dass diese Subsysteme nicht bewusst oder unbewusst auch andere Funktionen miterfüllen. So treten beispielsweise im Bereich von Sozialisation und Erziehung Schule und Familie mit- <?page no="168"?> 168 einander in Konkurrenz (oder geraten gar in Konflikt miteinander), aber auch Wirtschaft und Politik sind an Inhalten und Formen von Erziehungs- und Bildungsprozessen nicht nur interessiert, sondern auch faktisch beteiligt. Gleichzeitig ist es für das Schulsystem über die integrative Funktionserfüllung hinaus unerlässlich, auch für das politische, ökonomische und familiale System bedeutsame Beiträge bzw. nachgefragte Leistungen zu erbringen. Insofern haben alle Teilsysteme von ihren je spezifisch ausdifferenzierten Aufgaben her einen interdependenten Bezug zum Gesamt der vier gesellschaftlichen Hauptprobleme herzustellen. Allerdings gilt in der Parsonsschen Systemkonzeption die normative Zielstruktur einer Gesellschaft als zentrale Regelinstanz für die konkreten Aufgaben und situativen Bedingungen. Die Imperative, die das normative Gefüge definieren, stellen das eigentliche Kräftefeld und die faktischen Bezugspunkte aller sozialen Prozesse dar. Hierbei perpetuieren gesellschaftliche Systeme über eine Art »Trägheitsgesetz« ihre Identität, weshalb auch Parsons den kontinuierlichen Vorgängen der Gleichgewichtserhaltung und Stabilitätssicherung von Gesellschaften seine besondere Aufmerksamkeit schenkt. Die Überlegungen von Talcott Parsons wurden von Niklas Luhmann weitergeführt, der sich insbesondere mit der Funktion von Systemstrukturen beschäftigt und seine Theorie sozialer Systeme im Zusammenhang eines interdisziplinären Paradigmas einer allgemeinen Systemtheorie entwickelt. Im Mittelpunkt steht dabei das Konzept der selbstreferenziellen Operationsweise (»Autopoiesis«), das Luhmann auf die gesellschaftlichen Systeme anwendet. Da die Welt stets komplexer ist als jedes System in der Welt, reduzieren nach Luhmann alle sozialen Systeme über ihren Sinnzusammenhang die Komplexität einer sozial kontingenten Welt dadurch, dass sie als strukturierte Beziehungsgefüge bestimmte soziale Handlungsmöglichkeiten auswählen, andere ausschließen und dadurch in der Lage sind, zwischenmenschliches Handeln und Erwarten sinnhaft zu orientieren. Dieses generell an die »Selektion von Sinngebung« gebundene Reduktionsprogramm findet seinen Ausdruck in einer spezifischen Sinnverwendung, <?page no="169"?> 169 die entsprechend differenziertes Rollenhandeln und -verhalten in den jeweiligen sozialen Systemen reguliert. Doch nicht nur durch innere Widersprüche, sondern auch durch externe Einflüsse einer äußerst komplexen und hochdynamischen Umwelt sind soziale Systeme kontinuierlich in ihrem Bestand gefährdet. Ein durch exogene Variablen provoziertes elementares Bestandsproblem kann beispielsweise durch den Versuch einer Stabilisierung der Innen-/ Außen-Differenz gelöst werden, indem der Komplexität der Umwelt eine hohe Eigenkomplexität des Systems entspricht. Diese Eigenkomplexität muss ausreichen, d. h. das System muss hinreichend viele Zustände annehmen können, um in einer sich verändernden Umwelt systemerhaltende Reaktionen zu ermöglichen. Oder anders ausgedrückt: Je größer die Eigenkomplexität des Systems ist, umso mehr Umweltkomplexität kann es absorbieren. Gleichzeitig werden die gesellschaftlichen Subsysteme mit ihrer spezifischen Orientierung im arbeitsteiligen Sinne von übermäßiger Komplexität entlastet. D. h. eine entsprechende Innendifferenzierung steigert letztlich die Anpassungsfähigkeit des Systems, da bei wechselnden Anforderungen der Umwelt nicht jeweils das ganze System korrigiert werden muss. Vielmehr können eine veränderte Umweltlage und/ oder auch interne Störungen ein Teilsystem zum Austausch oder zur Erweiterung seiner vorhandenen Programme (inklusive seiner Zwecke) zur Komplexitätsreduzierung geradezu zwingen, da sonst sein Bestand gefährdet wäre. Im Systemprozess übernehmen dann die anderen Teilsysteme ohne erneute Prüfung diese Selektionsleistung. Durch solche Innendifferenzierung lassen sich also Störungen bereits in einem Subsystem auffangen. Diese hochgradig abstrakte und formale soziologische Systemtheorie ist - zumindest teilweise - auch als Reaktion auf bestimmte Ansätze einer historisierenden Soziologie zu verstehen, die sich - oft recht spekulativ - in die Entstehungsbedingungen und Ursachen von Gesellschaft bzw. bestimmter gesellschaftlicher Phänomene vertiefte. Im Gegensatz dazu macht der systemtheoretisch geschulte Funktionalist die gegebene soziale Situation zum Ausgangspunkt möglichst exakter Deskription und analysiert <?page no="170"?> 170 eher die Folgen eines bestimmten Phänomens für die Gesellschaft insgesamt oder für bestimmte Bereiche bzw. Gruppen innerhalb derselben, wobei er den wechselseitigen Zusammenhängen (Interdependenzen) besondere Aufmerksamkeit widmet. Mit der zunehmenden Erkenntnis der tatsächlichen Komplexität des sozialen Lebens wird nicht mehr die Totalität der Gesellschaft zum Studienobjekt, sondern man beschränkt sich auf die Untersuchung von Teilen einer Gesellschaft oder bestimmten sozialen Erscheinungsformen. Über sogenannte »Theorien mittlerer Reichweite« (Robert K. Merton) will man bausteinartig wissenschaftliche Ergebnisse gewinnen, die schließlich zum Verständnis einer ganzen Gesellschaft führen können. Zur vertiefenden und ergänzenden Lektüre Niklas Luhmann (1987): Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie. Suhrkamp: Frankfurt/ M. Julius Morel u. a. (2007): Soziologische Theorie. Abriß der Ansätze ihrer Hauptvertreter. (Darin von Helmut Staubmann die Kapitel 7 »Handlungstheoretische Systemtheorie: Talcott Parsons«, S. 147-170, und Kapitel 10 »Sozialsysteme als selbstreferentielle Systeme: Niklas Luhmann«, S. 218-239). 8. Aufl. Oldenbourg: München. Talcott Parsons (1975): Die Entstehung der Theorie des sozialen Systems. Ein Bericht zur Person. In Talcott Parsons, Edward Shils & Paul Lazarsfeld, Soziologie - autobiographisch. Drei kritische Berichte zur Entwicklung einer Wissenschaft, S. 1-68. dtv/ Enke: München, Stuttgart. Talcott Parsons (1976): Zur Theorie sozialer Systeme. (Darin vor allem das Kapitel »Zur Allgemeinen Theorie in der Soziologie«, S. 85-120). Westdt. Verlag: Opladen. Helmut Willke (2006): Systemtheorie I. Grundlagen. 7. Aufl. Lucius & Lucius: Stuttgart. <?page no="171"?> 171 3.2.3 Gesellschaft als Konfliktfeld: Sozialer Wandel In diesem Zusammenhang erscheint die inzwischen schon »klassisch« zu nennende Auseinandersetzung Ralf Dahrendorfs mit Talcott Parsons von prinzipieller und nach wie vor höchst aktueller Bedeutung. Diese Debatte dreht sich in erster Linie um die Streitfrage: Wie können eigentlich soziale Konflikte in eine systematische soziologische Theorie eingebaut werden? Dahrendorf stellt Parsons dabei als einen Vertreter der sogenannten »Consensus-Theorie der gesellschaftlichen Integration« dar, die auf den folgenden vier Annahmen (Dahrendorf 1961, 209) über die Eigenschaften menschlicher Gesellschaften beruhe: • Jede Gesellschaft ist ein relativ beharrendes, stabiles Gefüge von Elementen (Annahme der Stabilität). • Jede Gesellschaft ist ein gleichgewichtiges Gefüge von Elementen (Annahme des Gleichgewichts). • Jedes Element in einer Gesellschaft leistet einen Beitrag zu ihrem Funktionieren (Annahme der Funktionalität). • Jede Gesellschaft erhält sich durch eine Verständigung ihrer Mitglieder über bestimmte gemeinsame Werte (Annahme des normativen Konsens). Diesem etwas vergröberten »harmonischen« Gesellschaftsmodell Parsons’ stellt Dahrendorf in einer zugespitzt formulierten Alternative seine eigene »Zwangstheorie der gesellschaftlichen Integration« gegenüber, die er durch folgende vier Annahmen (Dahrendorf 1961, 210) charakterisiert: • Jede Gesellschaft und jedes ihrer Elemente unterliegt zu jedem Zeitpunkt dem Wandel (Annahme der Geschichtlichkeit). • Jede Gesellschaft ist ein in sich widersprüchliches und explosives Gefüge von Elementen (Annahme der Explosivität). • Jedes Element in einer Gesellschaft leistet einen Beitrag zu ihrer Veränderung (Annahme der Dysfunktionalität oder Produktivität). • Jede Gesellschaft erhält sich durch den Zwang, den einige ihrer Mitglieder über andere ausüben (Annahme des Zwanges). <?page no="172"?> 172 Der Wahl von normativem Konsens, Integration, Konfliktlosigkeit und Stabilität als soziologische Zentralkategorien setzt Dahrendorf damit ein alternatives Begriffssystem entgegen, dessen zentrale Konzepte Zwang, Desintegration, Konflikt und Wandel sind. Nach Dahrendorf beinhaltet das theoretische System von Parsons einige empirische Annahmen, deren allgemeine Gültigkeit bestritten werden muss. Eine derartige »Integrationstheorie« sei eher programmatisch als realistisch, »weil sie sich darauf beschränkt, die Funktionsbedingungen eines utopischen sozialen Systems zu artikulieren« (Dahrendorf 1961, 99). Ferner - und das ist Dahrendorfs wichtigstes Argument gegen Parsons - lasse sich auf der Grundlage eines derartigen Systemmodells eine angemessene Analyse endogener sozialer Konflikte bzw. endogenen sozialen Wandels überhaupt nicht mehr durchführen. Um sozialen Konflikt oder Wandel zu erklären, müsse auf außerhalb des Systems liegende Variablen zurückgegriffen werden, da diese Theorie ja als Grundannahme die Tendenz sozialer Ordnung impliziere, die Grenzen einer bestehenden Struktur nicht zu durchbrechen. Soziale Konflikte oder sozialer Wandel erschienen so als abweichende Prozesse, als exzeptionell oder pathologisch. Diese von Dahrendorf vorgetragene Kritik an der strukturellfunktionalen Systemtheorie Parsons’ kann in dieser Form jedoch nicht unwidersprochen hingenommen werden. Denn obwohl sich Parsons häufig unangemessen schwierig und missverständlich ausdrückt, steht auch fest, dass er seine Aussagen nicht als allgemein gültige, generelle Hypothesen verstanden wissen will (vgl. Parsons 1960, 482 ff.). Vielmehr handelt es sich bei ihm einerseits um begriffliche Konstruktionen, andererseits um den Versuch der Spezifizierung von Bedingungen, unter denen bestimmte Phänomene wie etwa »Gleichgewicht« oder »Integration« eintreten. Ausdrücklich insistiert Parsons darauf, dass es sich hierbei nur um ein analytisches Hilfsmittel zur Vereinfachung des Erkenntnisproblems handelt. Der Verbindung zwischen den Prozessen und der Struktur eines Systems dient dabei der Begriff der Funktion, der sich sowohl auf die Funktionen im engeren Sinne (positive Beiträge zur Erhaltung der Struktur) als <?page no="173"?> 173 auch auf Dysfunktionen (negative Beiträge zur Veränderung der Struktur) bezieht. Trotzdem glaubt Dahrendorf, dass seine Grundannahme von der »Ubiquität«, d. h. Allgegenwart latenter Konflikte, die allerdings nur unter bestimmten Bedingungen manifest werden, besser zur Analyse sozialer Zusammenhänge geeignet sei als Parsons’ Systemmodell. Unter »Konflikt« versteht er »alle strukturell erzeugten Gegensatzbeziehungen von Normen und Erwartungen, Institutionen und Gruppen« (Dahrendorf 1961, 125). Die Hauptaufgabe einer soziologischen Konflikttheorie (und damit einer Theorie des sozialen Wandels) sieht er in der Erklärung der Modalitäten sozialer Bewegung. Um den Prozess der Entfaltung eines gegebenen Konflikts aus bestimmten sozialen Strukturlagen zu erklären, unterscheidet Dahrendorf (1961, 217 ff.) analytisch drei Etappen, deren Trennung allerdings empirisch nicht immer in der gewünschten Schärfe möglich sein dürfte: • Die erste Etappe der Manifestierung von Konflikten bildet die strukturelle Ausgangslage selbst. • Die zweite Etappe wird gekennzeichnet durch das Bewusstsein latenter Interessen in der Konfliktkristallisierung. • Die dritte Etappe schließlich besteht im Ablauf des ausgebildeten Konflikts. In der Frage nach den sozialen Einheiten, in oder zwischen denen soziale Konflikte ausgetragen werden, schlägt Dahrendorf (1961, 203 ff.) analytisch fünf Alternativen vor: A. Konflikte in und zwischen einzelnen Rollen; B. Konflikte innerhalb einzelner sozialer Gruppen; C. Konflikte zwischen organisierten oder nichtorganisierten sozialen Gruppierungen innerhalb von regionalen oder institutionellen Sektoren der Gesellschaft; D. Konflikte zwischen organisierten oder nichtorganisierten Gruppierungen, die eine ganze Gesellschaft erfassen; E. Konflikte innerhalb größerer Einheiten von Verbindungen zwischen zwei Ländern über breitere Föderationen bis zur gesamten Welt. <?page no="174"?> 174 Quer zu dieser Einteilung legt Dahrendorf eine Klassifikation nach dem Rangverhältnis der am Konflikt beteiligten Gruppen bzw. Elemente. Hierbei werden analytisch drei Möglichkeiten unterschieden: 1. Konflikte zwischen prinzipiell ranggleichen Gegnern; 2. Konflikte zwischen einander über- oder untergeordneten Gegnern; 3. Konflikte zwischen dem Ganzen der betreffenden Einheit und einem ihrer Teile. Eine Kombination dieser beiden Klassifizierungsmerkmale »Umfang« und »Rangverhältnis« ergibt bereits fünfzehn mehr oder weniger typische Arten sozialer Konflikte, die von Rollenkonflikten (A1, A2, A3) über Konkurrenzverhältnisse (B2, C2, D2), über Diskriminierungen abweichenden Verhaltens und Minderheitenkonflikte (B3, C3, D3) bis zu Auseinandersetzungen auf internationaler Ebene (E1, E2, E3) reichen. Die Mittelwahl zur Austragung eines Konflikts ist nach Dahrendorf abhängig von der allgemeinen gesellschaftlichen Situation, vom Grad der »Bedeutung« des Konflikts für die Beteiligten und schließlich vom erhofften Endergebnis. Der Grad der Gewaltsamkeit in der Austragung sozialer Konflikte hängt dabei weitgehend ab von einer Einschätzung ihrer instrumentalen Angemessenheit bzw. vom Vorhandensein oder Fehlen eines Systems rationaler Regelung. Überlagern sich soziale Strukturbereiche bei den Konfliktpartnern und/ oder fehlen solche Regelungsmechanismen, so nehmen die Konflikte an potenzieller Schärfe zu; umgekehrt nimmt die Intensität sozialer Konflikte in pluralistischen Gesellschaften entsprechend ab. Durch ein - für moderne Industriegesellschaften typisches - Regelungssystem können Auseinandersetzungen in verbindlicher Weise kanalisiert werden, und durch die Anerkennung dieser »Spielregeln« durch beide Konfliktpartner werden gewaltsame Methoden der Interessendurchsetzung eingeschränkt und der Konflikt selbst entschärft. Dabei werden Konflikte nicht notwendigerweise auch gleich »gelöst«; auch ihr Intensitätsgrad braucht bei der Existenz eines Regelungssystems nicht geringer zu werden. Jedoch werden <?page no="175"?> 175 Konflikte kontrollierbar und ihre konstruktive Kraft kann zur allmählichen Entwicklung neuer sozialer Strukturen beitragen. Dahrendorf gibt schließlich vier Voraussetzungen für die rationale Regelung von Konflikten an: • Konflikte müssen als berechtigt und sinnvoll anerkannt werden; • jeder Eingriff in Konflikte muss sich auf die Regelung seiner Formen beschränken; • Konflikte müssen organisiert und kanalisiert sein (z. B. in Parteien, Gewerkschaften, Unternehmerverbänden usw.); • es muss Einigkeit über gewisse Spielregeln bestehen, nach denen der Konflikt ausgetragen wird. Nach Dahrendorfs konflikttheoretischem Ansatz ist die Struktur sozialer Systeme nicht nur als integriertes, sondern vor allem als dichotomisches Ganzes zu sehen, als Ausdruck der verschiedenen Herrschaftsinteressen, die sich in der Gesellschaft überlagern. In jedem Sozialsystem ließen sich so grundsätzlich zwei, durch gemeinsame Klasseninteressen vereinte Quasigruppen (zum Begriff siehe Abschnitt 3.1.4) unterscheiden, deren Interessenorientierung durch den Anteil an bzw. den Ausschluss von der Herrschaft bestimmt sei. Der Konflikt zwischen kollidierenden Interessenorientierungen sei die Ursache des sozialen Wandels, der »rasch« oder »allmählich«, »heftig« oder »geregelt«, »umfassend« oder »stückweise« vonstatten gehe, jedoch niemals fehle (Dahrendorf 1961, 91). Damit sei sowohl der soziale Konflikt als auch der soziale Wandel in das allgemeine soziologische System integriert und nicht mehr von Variablen abhängig, die nach dem Modell von Parsons außerhalb des Systems gesucht werden müssten. Wenn Dahrendorf hierbei auch von Marx ausgeht und dessen umfassende und allgemeine Theorie des sozialen Wandels (oder genauer: des Klassenkampfs) als fruchtbare Anregung versteht, so weist er doch mit allem Nachdruck darauf hin, dass die vom Marxismus vorgenommene Rückführung sozialer Konflikte und Wandlungen auf die eine Ursache des Besitzes bzw. Nicht-Besitzes von Produktionsmitteln für die soziologische Analyse der vielfältig gelagerten und höchst komplizierten Strukturbedingungen der modernen Industriegesellschaft nicht angemessen sei. <?page no="176"?> 176 Zur vertiefenden und ergänzenden Lektüre Percy S. Cohen (1972): Moderne soziologische Theorie. Erklärungsmodelle zwischenmenschlichen Verhaltens. (Darin Kapitel 7 »Die Erklärung von sozialem Wandel«, S. 166-195). Böhlau: Wien, Köln, Graz. Julius Morel u. a. (2007): Soziologische Theorie. Abriß der Ansätze ihrer Hauptvertreter. (Darin von Heinz-Jürgen Niedenzu das Kapitel 8 »Konflikttheorie: Ralf Dahrendorf«, S. 171-189). 8. Aufl. Oldenbourg: München. Wolfgang Zapf (Hrsg.) (1984): Theorien des sozialen Wandels. (Darin besonders die Aufsätze von Talcott Parsons, »Das Problem des Strukturwandels: eine theoretische Skizze«, S. 35-54 und von Ralf Dahrendorf, »Zu einer Theorie des sozialen Konflikts«, S. 108-123). 4. Aufl. Athenäum: Frankfurt/ M. 3.2.4 Zur Reziprozität und Komplementarität von Gesellschaftstheorien Als Ergebnis unserer Diskussion der Konflikt- oder Zwangstheorie der Gesellschaft lässt sich festhalten, dass dieser von Dahrendorf besonders profiliert vertretene Ansatz nicht einen grundsätzlich neuen theoretischen Bezugsrahmen darstellt: »Sie [die Konflikttheorie, H.P.H.] erscheint im Gegenteil - extrem formuliert - ihrem Gegner, der strukturell-funktionalen ›Integrationstheorie‹, so sehr verbunden, dass man sie weitgehend als Variante der gleichen theoretischen Orientierung ansehen darf. Man kann sie auch als einen theoretischen Bezugsrahmen auffassen, der den kritisierten ergänzt, indem polar entgegengesetzte Begriffe und Problemstellungen […], die im Parsonsschen Ansatz implizit enthalten sind, explizit zum Bestandteil des analytischen Instrumentariums gemacht werden« (Rüschemeyer 1964, 25). Nach Wilhelm E. Mühlmann (1904-1988) ist darum auch die »Reziprozität« die allgemeinste Kategorie, unter die solche Polaritäten zu stellen sind: »Alle empirischen Gruppen und Gesellschaften, vor allem aber unsere moderne Gesellschaft, sind hochgradig asymmetrisch auf- <?page no="177"?> 177 gebaut, sie stecken voll von latenten oder offenen Unverträglichkeiten, Spannungen, Konflikten, Kämpfen, ›dyschronen‹ Entwicklungstendenzen. Es stehen aber die Menschen dauernd unter der Erwartung eines anpassenden Ausgleichs, einer ›gerechten‹ Lösung, einer vollkommenen Reziprozität in symmetrischen Sozialbeziehungen; an dieser Erwartung orientieren sie ihr Handeln. Diese Erwartung gehört […] zur Struktur der menschlichen Welt, sie ist die antizipierte ›künftige Umwelt‹. ›Anpassung‹ und ›Gleichgewicht‹ beim Menschen müssen unter dieser Perspektive gesehen werden« (Mühlmann 1962, 99). In diesem Sinne, jedoch unter Verzicht auf die bei Dahrendorf immer wieder durchbrechende intellektuelle Polemik gegenüber Parsons, finden wir bei dem amerikanischen Soziologen Lewis A. Coser (1912-2003) in seiner Diskussion Simmelscher Thesen zum Problem des »Streits« eine geeignete Synthese der beiden im Grunde komplementären bzw. reziprok aufeinander bezogenen Ansätze. Coser (1965/ 2009) geht dabei von Simmels zentraler These aus, die den Streit als eine »Vergesellschaftungsform« beschreibt. Das bedeutet bei Simmel, dass kein Sozialsystem völlig harmoniert, es sei denn, es lebe ohne Entwicklung und Struktur. Simmel (1908/ 1968, 189) schreibt wörtlich: »… ein gewisses Maß von Misshelligkeiten, innerem Auseinandergehen und äußeren Kontroversen (ist) mit alledem, was das Band schließlich zusammenhält, organisch verbunden und aus der Einheit des soziologischen Gebildes überhaupt nicht herauszulösen […].Auf der anderen Seite tritt die durchaus positive und integrierende Rolle des Antagonismus an Fällen hervor, wo die Struktur durch die Schärfe und sorgfältig konservierte Reinheit sozialer Einteilungen und Abstufungen charakterisiert wird […]. Feindseligkeiten hindern nicht nur die Abgrenzungen innerhalb der Gruppe am allmählichen Verschwinden […], sondern darüber hinaus sind sie direkt soziologisch produktiv: sie geben Klassen und Persönlichkeiten oft erst ihre gegenseitige Stellung, die diese nicht oder nicht so gefunden hätten, wenn etwa die objektiven Ursachen der Feindseligkeiten […] nicht von dem Gefühle und den Äußerungen der Feindschaft begleitet wären.« <?page no="178"?> 178 Coser verbindet diese und ähnliche Aussagen Simmels über die Funktionen sozialer Konflikte mit soziologischen Theoremen Robert K. Mertons sowie mit der genetischen Psychologie Jean Piagets und mit psychoanalytischen Erkenntnissen, wobei es sein Ziel ist, den Konflikt als positives Element in die strukturell-funktionale Theorie einzubauen. Sein theoretischer Ansatz, der sich inzwischen bei zahlreichen empirischen Analysen bewährt hat, unterstreicht den Nutzen von Konflikten für die Gesellschaftsordnung insofern, als Konflikte als unabdingbare Voraussetzungen für soziale Entwicklung und gesellschaftlichen Wandel gelten. Zur vertiefenden und ergänzenden Lektüre Johannes Berger (Hrsg.) (1986): Die Moderne - Kontinuitäten und Zäsuren. Sonderband 4 der Zeitschrift Soziale Welt. Thorsten Bonacker (Hrsg.) (2008): Sozialwissenschaftliche Konflikttheorien. Eine Einführung. (Darin u. a. Beitrag von Jörn Lamla »Die Konflikttheorie als Gesellschaftstheorie«, S. 207-230). 4. Aufl. VS: Wiesbaden. Lewis A. Coser (1965/ 2009): Theorie sozialer Konflikte. (Darin insbesondere Kapitel 1 »Einführung«, S. 15-35). VS: Wiesbaden. Richard Münch (1992): Die Struktur der Moderne. Grundmuster und differentielle Gestaltung des institutionellen Aufbaus der modernen Gesellschaften. Suhrkamp: Frankfurt/ M. <?page no="179"?> 179 4. Kapitel Soziologisches Messen und Prüfen 4.1 Soziologie als empirische Wissenschaft Der Begriff »Wissenschaft« lässt sich definieren als »das von einer Gruppe von Menschen (Wissenschaftlern) nach anerkannten Regeln methodisch gewonnene und systematisch geordnete Wissen« (Wössner 1986, 255). Solches Wissen erscheint im Allgemeinen zusammenhängend in entsprechenden Theorien ausformuliert, die den Charakter von konsistent angeordneten, mehrstufigen und logisch miteinander verbundenen Aussagen über die Wirklichkeit - bzw. genauer: über einen Teil der Wirklichkeit - haben. In diesem Sinne können Theorien jedoch beispielsweise auch in logisch geschickt angelegter Beweisführung letztlich lediglich plausible Ergebnisse spekulativer Schreibtischarbeit darstellen, von denen niemand nachweisen kann, ob das Behauptete auch tatsächlich der Wirklichkeit entspricht. Auch in der Soziologie muss deshalb das Verhältnis von methodischer Forschungspraxis und sozialwissenschaftlicher Theoriebildung gelöst werden. Beispielsweise birgt die rapide Entwicklung und Ausdifferenzierung von Forschungstechniken die Gefahr einer Verselbständigung der Methoden im Sinne eines naiven Empirismus in sich. Dies kann dann dazu führen, dass weniger die wissenschaftlichen Probleme die Forschungsstrategie bestimmen, sondern eher umgekehrt die Zugänglichkeit von Daten und die Anwendungsmöglichkeiten für Forschungstechniken die zu untersuchende soziale Realität definieren. Wie wir uns erinnern, haben wir (in Abschnitt 1.3.2) in der Übernahme der Definition von Imogen Seger Soziologie umschrieben als »das systematische und kontrollierte Beobachten und Erklären von regelmäßig auftretenden sozialen Beziehungen, von ihren Ursachen, Bedingungen und Folgen«. Dies bedeutet eben nichts anderes, als dass wir Soziologie als eine empirische, d. h. sich auf Erfahrung gründende Wissenschaft verstehen. <?page no="180"?> 180 Aus dieser programmatisch-methodischen Orientierung der Soziologie folgt nicht nur, dass soziologische Aussagen und Theorien informativ und von einer gewissen praktischen Bedeutung sein sollen, sondern vor allem auch, dass sie immer wieder an der Wirklichkeit geprüft werden müssen und die Überprüfung kommunizierbar und nachvollziehbar sein muss. Darüber hinaus folgt aus der Forderung nach empirischer Prüfbarkeit wissenschaftlicher Aussagen, dass diese - etwa aufgrund neuerer oder weitergehender Forschungsergebnisse - prinzipiell verwerfbar sein müssen (= Kriterium der Falsifizierbarkeit). Gelingt es nicht, eine Theorie bei der Überprüfung zu verwerfen (zu falsifizieren), so gilt sie so lange als »bewährt«, bis sie aufgrund neuer Erkenntnisse schließlich doch noch falsifiziert oder zumindest relativiert bzw. modifiziert werden muss. Empirische Theorien sind also allenfalls so lange gültig, bis in einem entscheidenden Punkt das Gegenteil bewiesen wird. Ein weiteres Grundproblem ist, dass die volle soziale Wirklichkeit - also das ganze »Material« möglicher Erkenntnis - niemals vollständig erfasst werden kann. So wie unsere Kapazität zur Aufnahme und Verarbeitung alltäglicher Informationen (z. B. beim Autofahren, beim Stadtbummel, beim Zeitungslesen oder Fernsehen usw.) beschränkt und somit auch unsere Wahrnehmungsmöglichkeit sowie unsere hierauf basierende Strukturierung von Informationen immer nur selektiv ist (vgl. hierzu Luhmanns Konzept der »Reduktion von Komplexität«), so kann auch wissenschaftliche Erkenntnis immer nur auf einen Ausschnitt der »unübersehbaren Mannigfaltigkeit« (Rickert) des Wirklichen gerichtet sein. Der Altmeister der modernen Wissenschaftstheorie, Karl Raimund Popper (2002, 46), berichtet hierzu von einem Versuch, den er einmal während einer Vorlesung unternommen hat. Er gab seinen Studenten den Auftrag: »Nehmt ein Blatt Papier! Beobachtet und schreibt Eure Beobachtung auf! « Sofort wurde im Hörsaal die Frage laut: »Ja, was sollen wir beobachten? Wie lautet unsere Beobachtungsaufgabe? « Diese Fragen zeigen uns, dass wir zuerst einmal eine Idee über den Gegenstand und Zweck unserer Beobachtungen haben müssen. Das, wonach wir schauen oder suchen und wie wir dann die <?page no="181"?> 181 so bestimmten Phänomene betrachten, müssen wir in jeweiligen Begriffen zu fassen versuchen. Denn solche Begriffe sind Ausdruck unseres Auswahlprinzips und heben nach Wössner unser »Denkobjekt« nach bestimmten Kriterien und Merkmalskomplexen aus dem »Erfahrungsobjekt« heraus. Während beispielsweise für alle Sozialwissenschaften die Gesellschaft als Erfahrungsobjekt materiell gleich ist, werden doch aufgrund der unterschiedlichen wissenschaftlichen Perspektiven etwa des Ökonomen, des Juristen, des Historikers, des Politologen und eben auch des Soziologen im Hinblick auf dieses gemeinsame Erfahrungsobjekt formell die unterschiedlichsten Denkobjekte konstituiert. Jede dieser wissenschaftlichen Disziplinen hat eigene Erkenntnisinteressen oder »Einkaufszettel«, wie das der schwedische Soziologe und Wissenschaftstheoretiker Hans L. Zetterberg (1927-2014) etwas salopp genannt hat, auf denen Begriffe stehen, die uns sagen, worauf wir achten müssen, wenn wir die Gesellschaft aus wirtschaftlichem, rechtlichem, geschichtlichem, politikwissenschaftlichem oder soziologischem Blickwinkel betrachten. Die hierfür benutzten fachspezifischen Begriffe beinhalten jeweils fachtypische Vorstellungen von einem gesellschaftlichen Phänomen und stellen auch immer Abstraktionen dar, über die wir uns paradoxerweise erst an die konkrete Wirklichkeit herantasten können, - was nach zunehmender Einsicht unter Sozialwissenschaftlern letztlich nur interdisziplinär gelingen kann. Zusätzlich erschwert wird unser erkenntnistheoretisches Problem dadurch, dass es auch in der Soziologie nicht nur einen einzigen »Einkaufszettel« gibt, sondern mehrere, da - wie wir es exemplarisch in der Diskussion zwischen Parsons und Dahrendorf gesehen haben - nicht alle Soziologen ihr Erkenntnisobjekt »Gesellschaft« auf dieselbe Art und Weise betrachten. Hinzu kommt ein nicht einheitliches Theorieverständnis unter den Sozialwisssenschaftlern selbst, so dass die Ziele sozialwissenschaftlichen Arbeitens bzw. der Anwendung empirischer Sozialforschung teilweise recht divergierend bestimmt werden können. So benutzen streng erfahrungswissenschaftlich ausgerichtete Forscher sozialwissenschaftliche Methoden zur Absicherung von Theorien, die sie selbst als Systeme von empirisch überprüfbaren <?page no="182"?> 182 Aussagen über begrenzte Sachverhalte verstehen. Vertreter einer eher kritisch-dialektischen Forschungsrichtung dagegen streben neben solchen Beschreibungen und Erklärungen kausaler Beziehungen vor allem eine kritische Beurteilung sozialer Phänomene in ihrem gesellschaftlich-politischen Gesamtzusammenhang an. Ganz abgesehen von der forschungs-»politischen« Frage, welchen Aspekt unseres Erkenntnisobjekts wir für eine Untersuchung auswählen bzw. wie wir unsere Problemstellung formulieren, kann uns aber das Fehlen bestimmter Begriffe gegenüber gewissen Phänomenen blind machen, ebenso wie eine einseitige Umschreibung bzw. Fassung von Theorien uns bestimmte Aspekte der sozialen Realität leicht übersehen lässt. Da also Begriffe in hohem Maße unsere Wahrnehmung beeinflussen, ist es keineswegs unerheblich, welche Konzepte wir für unsere analytischen Zwecke benutzen. Wie wir immer wieder in den vorangegangenen Abschnitten unseres Grundkurses zu zeigen versuchten, bemüht sich die moderne Soziologie in besonderem Maße, die selbstverständlich gewordenen Begriffe und Werturteile des Alltags, mit denen wir konkrete soziale Tatbestände als »normal« bezeichnen, in kritischer Distanz zu hinterfragen. Dem methodischen Postulat der »Werturteilsfreiheit« folgend müssen daher bei der Analyse und Erklärung eines sozialen Verhaltens alle Begriffe vermieden werden, die einen emotionalen Beigeschmack haben bzw. schon ein implizites Urteil über das enthalten, was eigentlich bezeichnet resp. erforscht werden soll. Zur Vermeidung von terminologischen Missverständnissen und überflüssigen Diskussionen ist es darum notwendig, soziologische Begriffe sorgfältig zu definieren und bei diesen Abgrenzungen (d. h. »Definitionen«) präzise alle Merkmale anzugeben, die ein soziales Phänomen besitzen muss, damit es mit dem entsprechenden Konzept belegt werden kann. Dies alles macht deutlich, wie sehr soziologische Theoriebildung und empirische Sozialforschung voneinander abhängig sind. Ein klassisches Beispiel dafür, wie durch theoretisch gesteuerte und methodisch reflektierte empirische Forschung nicht nur die analytischen Konzepte verfeinert, sondern gleichzeitig auch bestimmte theoretische Ansätze »bewiesen« bzw. weiterentwickelt <?page no="183"?> 183 wurden, bietet die berühmte Studie von Emile Durkheim (1897) über den Selbstmord. Bei der Untersuchung der in seinem umfangreichen empirischen Material wirksamen Faktoren erkannte Durkheim sehr verschiedene Ursachen und Formen des Selbstmords, die er auch begrifflich klar differenzierte und theoretisch unterschiedlich einordnete: Neben dem »egoistischen Selbstmord« zu dem bisweilen Menschen in sozialer Isolierung getrieben werden, unterschied Durkheim aufgrund seiner Befunde den »altruistischen Selbstmord« als Selbstaufopferung für eine Gruppe oder für die Gesellschaft sowie den »anomischen Selbstmord« als Folge des Verlustes einer verlässlichen normativen Orientierung (vgl. Durkheim 1973, dort auch das ausgezeichnete Nachwort von René König, 470-502). Zusammenfassend können wir demnach festhalten, dass ohne Erprobung an der Wirklichkeit Theorien spekulativ bleiben. Da ihnen neues - vor allem auch widersprüchliches - Material fehlt, können sie sich überdies nicht weiterentwickeln und drohen deshalb zu stagnieren oder sich in einem unfruchtbaren Dogmatismus zu verheddern. Andererseits bleibt bloßes Faktensammeln oder »Sozialtechnik« ohne theoretische Leitgedanken und vorbereitende Studien meist ebenso unfruchtbar, weil in diesem Fall unklar bleibt, worauf man achten und wonach man suchen muss: Eine blinde Methodengläubigkeit wird die soziale Praxis nachhaltig enttäuschen und eine ziellose Fragerei erweckt dann eher den Charakter eines aktionistischen »Fliegenbeinzählens«. Der amerikanische Soziologe Robert K. Merton (1910-2003) hat den einseitigen Theoretiker bzw. den einseitigen Empiriker einmal folgendermaßen charakterisiert: Der eine sagt, »ich weiß nicht, ob das, was ich behaupte, wahr ist, aber es ist jedenfalls wichtig«, der andere dagegen meint, »ob das, was ich behaupte, wichtig ist, weiß ich nicht, es ist aber auf jeden Fall wahr«. Aufgabe der Soziologie ist es daher, zwischen diesen beiden extremen Neigungen eine Balance herzustellen, indem sie versucht, über wichtige Sachverhalte richtige Aussagen zu machen. In diesem Zusammenhang ist auch die - vor allem seit dem teilweise zugespitzten und polemisch aufgeladenen sogenannten »Positivismusstreit in der deutschen Soziologie« (Adorno u. a. 1969) <?page no="184"?> 184 geführte - Kontroverse um Vorzüge und Nachteile quantitativer und qualitativer Verfahren zu sehen. Auf der einen Seite standen hier die von naturwissenschaftlichen Paradigmen beeinflussten »harten Empiriker«, die eine Deskription »objektiver Wirklichkeit« mit quantitativen (sogenannten »positivistischen«) Methoden, d. h. über eine standardisierte und kontrollierbare Datenermittlung und deren Auswertung mit statistischen Zähl- und Messverfahren, anstreben. Und auf der anderen Seite positionierten sich Anhänger einer geisteswissenschaftlich, sozialphilosophisch-kritisch orientierten »emanzipatorischen Sozialforschung« (= Kritisch-dialektische Theorie, Frankfurter Schule) mit ihrer Forderung nach qualitativen (sogenannten »interpretativen«) Verfahren, mittels derer die Inhalte sozialer Wirklichkeit »subjektorientiert« und hermeneutisch-deutend analysiert werden sollten. Während sich diese, übrigens nur in Deutschland so radikal geführte methodologische Entgegensetzung bald als doch ziemlich unfruchtbar und in dieser Form auch forschungspraktisch irrelevant zeigte, gilt die gegenwärtige Diskussion kaum noch dogmatischen Grundsatzfragen einer prinzipiellen Überlegenheit dieses oder jenes Forschungsansatzes. Vielmehr geht es heute unter Berücksichtigung gemeinsamer forschungsmethodologischer Grundprinzipien wie Gültigkeit (Validität), Zuverlässigkeit (Reliabilität) und intersubjektive Überprüfbarkeit um ganz praktische Fragen der Angemessenheit qualitativer und/ oder quantitativer Verfahren für ein spezifisches Forschungsproblem. Beispielsweise haben sich qualitative Verfahren, bei denen verbale bzw. nichtnumerische Daten interpretativ verarbeitet werden, vor allem bei Fragestellungen aus dem Bereich der Mikrosoziologie oder der Organisationsforschung bewährt. Andererseits müssen die Sozialberichterstattung, die Sozialstrukturanalyse oder auch die Wahlforschung nach wie vor primär mit quantitativen Messwerten und statistischen Verfahren arbeiten, da es hier vor allem um die Verallgemeinerung von Daten auf Populationen bzw. um präzise Bestimmungen von Verteilungen geht. Ferner zeigt sich auch gerade bei der anwendungsorientierten Forschung, dass ein adäquates Verständnis konkreter sozialer Probleme in der Regel nur erreicht werden kann durch einen kombinierten Einsatz <?page no="185"?> 185 unterschiedlicher, sich ergänzender, aber auch gegenseitig kontrollierender qualitativer und/ oder quantitativer Herangehensweisen im Sinne eines Methodenmix, - ein Prozess, der als methodische Triangulation bezeichnet wird. Wissenschaftsgeschichtlich lassen sich die Vorläufer heutiger Sozialforschung bis auf die sozialstatistischen Verfahren im 17. und 18. Jahrhundert zurückverfolgen, wo man mittels der damals üblichen »Politischen Arithmetik« versuchte, soziale Gesetzmäßigkeiten in den gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und politischen Massenerscheinungen zu entdecken. Im 19. Jahrhundert wurde dann - insbesondere angeregt durch die großangelegten Untersuchungen von Frédéric Le Play (1806-1882) in Frankreich und Charles Booth (1840-1916) in England - die Methode der Enquete entwickelt, um die durch den Frühindustrialismus entstandenen Lebensbedingungen der Arbeiterfamilien zu erfassen und mit ausführlichem Zahlenmaterial darzustellen. In Deutschland führte erst ab 1908 der »Verein für Socialpolitik« systematische Erhebungen über »Auslese und Anpassung der Arbeiterschaft« durch. Parallel dazu wurde zu Beginn des 20. Jahrhunderts die Enquete zur sozialen Übersichtsstudie (Survey-Methode) weiterentwickelt, die ab den Zwanzigerjahren besonders in den USA im Rahmen von berühmten Gemeindeuntersuchungen methodisch verfeinert wurde. Während in Nordamerika die empirische Sozialforschung in der Folgezeit institutionalisiert und laufend ausgeweitet wurde, dominierten in den deutschen Sozialwissenschaften bis in die Weimarer Zeit hinein theoretische und sozialhistorische Analysen. Erste Ansätze einer sich entwickelnden empirischen Sozialforschung erhielten dann durch die nationalsozialistische Herrschaft einen empfindlichen Rückschlag. Wenn sich deshalb mangels entsprechender Forschungstraditionen die Sozialforschung in Nachkriegsdeutschland anfangs eher an historisch bezogenen Einzelfallanalysen bzw. an qualitativen Verfahren der Datenerhebung und -analyse orientierte, wurde die Entwicklung quantitativer empirischer Verfahren bald schon vorangetrieben durch eine tendenzielle Planungsgläubigkeit der politischen Praxis und entsprechend zunehmendem Bedarf an gesicherten Daten zur Meinungsforschung. In den letzten Jahrzehnten ist es <?page no="186"?> 186 dann der deutschen Sozialforschung gelungen, durch ihre universitäre Verankerung bzw. durch Schaffung universitätsnaher Forschungszentren sowie durch die Gründung von überwiegend auf kommerzieller Basis arbeitenden Markt- und Meinungsforschungsinstituten an den elaborierten Standard der in den USA entwickelten empirischen Methoden Anschluss zu finden. Zur vertiefenden und ergänzenden Lektüre Theodor W. Adorno u. a. (1987): Der Positivismusstreit in der deutschen Soziologie. 12. Aufl. Luchterhand: Neuwied. Andreas Diekmann (2007): Empirische Sozialforschung. Grundlagen, Methoden, Anwendungen. (Darin Kapitel III »Von den Anfängen bis zur Gegenwart«, S. 90-115).18. Aufl. Rowohlt: Reinbek. René König (Hrsg.) (1967): Handbuch der empirischen Sozialforschung. Band I. (Darin insbesondere die Beiträge von René König, »Einleitung«, S. 3-17 und von Heinz Maus, »Zur Vorgeschichte der empirischen Sozialforschung«, S. 18-37). 2. Aufl. Enke: Stuttgart. Siegfried Lamnek (2000): Art. »Methoden der empirischen Sozialforschung«. In Gerd Reinhold (Hrsg.), Soziologie-Lexikon, S. 389-392. 4. Aufl. Oldenbourg: München. Philipp Mayring (2002): Einführung in die qualitative Sozialforschung. (Darin »Geschichte und Theorie qualitativen Denkens«, S. 9-39). 5. Aufl. Beltz: Weinheim, Basel. Rainer Schnell, Paul B. Hill & Elke Esser (2013): Methoden der empirischen Sozialforschung. (Darin Kap. 2 »Historische Entwicklung der empirischen Sozialforschung«, S. 13-44). 10. Aufl. Oldenbourg: München. 4.2 Zur Forschungslogik und -praxis empirischer Projekte Die folgenden Abschnitte verfolgen mehrere Intentionen: • Zum einen und auch zuallererst soll den Studienanfängerinnen und -anfängern die Scheu vor dem oft als »Buch mit sieben Siegeln« verstandenen Bereich der sozialwissenschaftlichen Empirie genommen werden. <?page no="187"?> 187 • Des Weiteren sollen den Leserinnen und Lesern im »genetischen« Zusammenhang (d. h. von der Entstehung über die Begründung bis zur Verwertung von Untersuchungen) einige Kriterien zur Beurteilung der Seriosität und wissenschaftlichen Dignität von veröffentlichten Forschungsergebnissen vermittelt werden. • Und schließlich könnten auch Studierende dazu ermutigt werden, ein bestimmtes »soziales Problem« aus ihrem Lebens- und Arbeitsbereich in eine »soziologische Frage« zu übersetzen und in Form eines zunächst vielleicht erst einmal bescheidenen eigenen Projekts zu überprüfen. Ziel wäre es dann, ein bestimmtes »Phänomen« aus dem Bereich des vagen Vermutens und Dafürhaltens der Alltagstheorien in begründete und objektive Aussagen und Handlungsgrundlagen zu überführen. Letzteres wird sicher von den Möglichkeiten dieses einführenden Grundkurses her nur ansatzweise »angestiftet« werden können. Denn hier kann lediglich ein geraffter und kursorischer Überblick über einige zentrale Aspekte und Techniken der empirischen Sozialforschung gegeben werden. Einmal »auf den Geschmack gekommen«, stehen indessen für interessierte Leserinnen und Leser einige ausgezeichnete Studientexte zur gründlicheren Einführung und Vertiefung in dieses Gebiet zur Verfügung (siehe wie immer: vertiefende und ergänzende Literatur am Schluss dieses Abschnitts). Darüber hinaus helfen bei der Planung und Realisierung von eigenen kleineren Projekten meist gerne mit ihrem fachlichen Rat in Forschungsfragen erfahrene Soziologen, Psychologen oder Statistiker weiter, die an jedem mittleren oder größeren sozialwissenschaftlichen Hochschulinstitut zu finden sind. Zunächst soll jedoch anhand eines Modells von Jürgen Friedrichs (vgl. Abb. 10 auf S. 189) der forschungslogische Aufbau empirischer Untersuchungen vorgestellt werden. Ähnliche Schemata finden sich in verzweigterer und detaillierterer Form bei Peter Zeugin (1979, 67 ff.) und Volker Dreier (1994, 36 f.) sowie unter dem Gesichtspunkt der synchronen Darstellung verschiedener Dimensionen des Forschungsprozesses bei Heine v. Alemann (1984, 148 f.). <?page no="188"?> 188 In den folgenden Abschnitten werden dann die drei, auch zeitlich aufeinander folgenden »Grobphasen« des • Entdeckungszusammenhangs, • Begründungszusammenhangs sowie • Verwertungs- und Wirkungszusammenhangs von empirischen Untersuchungen näher erläutert und diskutiert. Zur vertiefenden und ergänzenden Lektüre Heine von Alemann (1990): Der Forschungsprozess. Eine Einführung in die Praxis der empirischen Sozialforschung. 3. Aufl. Vieweg & Teubner: Stuttgart. Peter Atteslander (2010): Methoden der empirischen Sozialforschung. 13. Aufl. ESV: Berlin. Nina Baur & Jörg Blasius (Hrsg.) (2014): Handbuch Methoden der empirischen Sozialforschung. Springer VS: Wiesbaden. Jürgen Bortz & Nicola Döring (2006): Forschungsmethoden und Evaluation für Human- und Sozialwissenschaftler. 4. Aufl. Springer: Berlin. Andreas Diekmann (2007): Empirische Sozialforschung. Grundlagen, Methoden, Anwendungen. 18. Aufl. Rowohlt: Reinbek. Helmut Kromrey (2009): Empirische Sozialforschung. Modelle und Methoden der standardisierten Datenerhebung und Datenauswertung. (Mit beigelegter CD-ROM »PC-Tutor Empirische Sozialforschung. Version 4.0«, - als ergänzendes Lernprogramm für Modelle und Verfahren quantitativer Forschung besonders geeignet). 12. Aufl. Lucius & Lucius: Stuttgart. Rainer Schnell, Paul B. Hill & Elke Esser (2013): Methoden der empirischen Sozialforschung. (Darin Kap. 1 »Ziel und Ablauf empirischer Sozialforschung«, S. 1-12). 10. Aufl. Oldenbourg: München. Ernst Topitsch (Hrsg.) (1981): Logik der Sozialwissenschaften. 11. Aufl. Athenäum: Königstein. <?page no="189"?> 189 Abb. 10: Forschungslogischer Ablauf empirischer Untersuchungen (Friedrichs 1990, 51) <?page no="190"?> 190 4.2.1 Der Entdeckungszusammenhang Wie wir gesehen haben, beginnt soziologisches Denken und Forschen mit der Erfahrung und dem Bewusstwerden der Problematik sozialer Phänomene und gesellschaftlicher Zusammenhänge. Ausgangs- und Bezugspunkt soziologischer Analysen ist daher immer ein erklärungsbedürftiges bzw. zu lösendes soziales Problem. • Empirische Sozialforschung kann dabei im problemlösenden Sinne primär auf eine theoretische oder aber auf eine unmittelbar praktische Ebene zielen. So können beispielsweise zu einem bestimmten sozialen Problem schon verschiedene Untersuchungen mit unterschiedlichen Ergebnissen vorliegen, oder aber bereits vorhandene und bekannte Theorien lassen kontroverse Interpretationen des Problems zu (wie z. B. die Erklärung von aggressivem Schülerverhalten zurückgeführt werden kann auf endogene Triebimpulse, auf Folge von Frustrationen oder auf Resultate eines »Lernens am Modell«). • Konkreter Anlass von empirischer Forschung kann indessen auch ein unmittelbar praktischer Untersuchungsauftrag privater oder öffentlicher Interessenten sein, insofern ein bestimmtes soziales Problem analysiert werden soll, um Handlungsmöglichkeiten für soziale Veränderungen zu ermöglichen, die zu einer Lösung des Problems beitragen können: beispielsweise der Drogenkonsum von Jugendlichen, die politische Attraktivität extremistischer Bewegungen, die gesellschaftliche und politische Integration von Asylsuchenden und Arbeitsmigranten oder auch ein manifester bzw. latenter Konflikt innerhalb eines Unternehmens. Welches Problem »entdeckt« und für ein Projekt ausgewählt und aufbereitet wird, lässt sich selbst nicht forschungslogisch begründen. Denn dieser Entdeckungszusammenhang wird häufig von außer- oder vorwissenschaftlichen Zufällen und Momenten bestimmt, wie etwa durch das persönliche, in einer bestimmten politischen oder weltanschaulichen Einstellung gründende Interesse eines Forschers an einer ganz bestimmten Fragestellung. Das <?page no="191"?> 191 Projekt könnte aber auch schlicht »akquiriert« worden sein durch eine Bewerbung um einen privaten oder öffentlichen Forschungsauftrag in einem Bereich, in dem ein Forscher oder ein Forschungsteam kontinuierlich arbeitet und somit bereits eine spezielle Forschungskompetenz erworben hat. Umso mehr kommt es darauf an, dass Sozialforscher hier ein Gefühl dafür entwickeln, welche Problemstellungen im Hinblick auf die theoretische und methodologische Weiterentwicklung der Soziologie bzw. hinsichtlich praktisch verwertbarer Ergebnisse wichtige und bedeutungsvolle Sachverhalte darstellen, deren Analyse sich also theoretisch wie praktisch auch lohnt und die nicht im »soziologischen Datengrab« ihren »ewigen Frieden« (Friedrichs) finden. Dafür wiederum gibt es keine Rezepte, sondern erforderlich sind ein gewisses Maß an beruflicher Erfahrung sowie an sozialer Sensibilität und Neugierde; auch Originalität, Kreativität und ähnliche Forschereigenschaften sind hier gefragt. Ein professionell arbeitender Soziologe wird sich z. B. erst einmal in einem Stadtviertel umsehen und mit einigen Bewohnern ins Gespräch kommen, ehe er mit einer Studie über dessen Sanierung beginnt. In ähnlicher Weise wird er bei einer Studie über die Arbeitsmoral und das Betriebsklima in einem Industrieunternehmen sinnvollerweise zunächst erst einige Vertreter der Arbeitgeberwie auch der Arbeitnehmerseite, als Experten vor Ort, zu einigen Facetten des Problems aus ihrer Sicht anhören, ehe er sich der eigentlichen Problemformulierung und Erstellung des Untersuchungsdesigns, d. h. der theoretischen und methodologischen Konzeptualisierung seiner Studie, zuwendet. Solche explorativen Gespräche vermögen oft genug das Vorwissen des Forschers überraschend zu erweitern und dienen einer - wenn auch zunächst noch eher impressionistischen - Strukturierung des gestellten Problems. Hinzu kommt in dieser Phase zweifellos ein gründliches Studium der einschlägigen Literatur, um sich ein Bild darüber zu verschaffen, welche Aspekte des ausgewählten Problems mit welchen Methoden und welchen Ergebnissen bereits erforscht sind und welche »Gesetze« von allgemeiner Gültigkeit für die Untersuchung herangezogen werden können. Insofern ist also der Entdeckungszusammenhang bei <?page no="192"?> 192 aller schöpferisch-explorativen Intuition nicht völlig voraussetzungslos, sondern eingebunden in eine Forschungstradition, an der sich letztlich erst die Relevanz einer Problemstellung sowie der Grad bzw. die Qualität einer Problemlösung messen lassen. Zur vertiefenden und ergänzenden Lektüre Andreas Diekmann (2007): Empirische Sozialforschung. Grundlagen, Methoden, Anwendungen. (Darin Kapitel I »Einführung: Ziele und Anwendungen«, S. 18-46).18. Aufl. Rowohlt: Reinbek. Morton Hunt (1991): Die Praxis der Sozialforschung. Reportagen aus dem Alltag einer Wissenschaft. Campus: Frankfurt/ M. Claire Selltiz, Marie Jahoda, Morton Deutsch & Stuart W. Cook (1972): Untersuchungsmethoden der Sozialforschung. Teil 1. (Darin insbesondere Kapitel 2 »Auswahl und Formulierung eines Forschungsproblems«, S. 35-61 und Kapitel 3 »Forschungsplanung I«, S. 62-96). Luchterhand: Neuwied. 4.2.2 Der Begründungszusammenhang Das bereits angesprochene spezielle Literaturstudium soll nicht nur einen Einstieg in die Untersuchungsproblematik verschaffen und einen aktuellen Überblick über den vorhandenen Wissensstand ergeben, sondern insbesondere auch die Transformation des Problems in eine (testbare) soziologische Fragestellung erleichtern. Diese Übersetzung des Forschungsproblems in die Fachsprache soll sicherstellen, dass die benutzten Begriffe präzise definiert und in der soziologischen Terminologie sowie Forschungspraxis hinreichend ausgewiesen sind. In der Praxis erfolgt dieser erste wichtige Schritt im sogenannten Begründungszusammenhang eines Projekts mit der Suche nach einleuchtenden und beweisbaren Annahmen über gesellschaftliche Zusammenhänge, Abhängigkeiten oder Regelmäßigkeiten. Da Soziologen oft als Spezialisten dafür bezeichnet werden, dort, wo andere Leute sich zufrieden geben, überraschende Fragen aufzuwerfen und neue Annahmen zu wagen, gehört die Bildung und Entwicklung von Hypothesen gewissermaßen zu den <?page no="193"?> 193 elementaren soziologischen Arbeitsformen. Hypothesen können hierbei sowohl aus bestehenden Theorien formal abgeleitet oder auch - wie Heinz Hartmann (1986, 91) dies ausdrückt - in »Intuition und Mut« erforderndem »Freistil« gewonnen werden. Charakteristisch für die so gewonnenen Hypothesen ist, dass in ihnen ein erlebter oder bereits in der einschlägigen Literatur genauer beschriebener gesellschaftlicher Tatbestand entweder als Ursache oder als Folge bestimmter anderer sozialer Gegebenheiten angenommen wird. Da es sich jedoch im Allgemeinen dabei um veränderliche Größen handelt, die erst durch die Fragestellung des einzelnen Forschers genauer abgegrenzt werden, spricht man hier von Variablen. So ist beispielsweise das, was man als »soziale Schichtzugehörigkeit eines Schülers« umschreibt, bestimmten Schwankungen unterworfen, je nachdem, welche Kriterien man für das »Oben« und »Unten« in einer Gesellschaft anlegt bzw. wie man die Grenzen zwischen den einzelnen gesellschaftlichen Schichten oder sozialen Milieus definiert. Hinzu kommt, dass im Begründungszusammenhang eines Forschungsprojekts meist nicht nur zwei oder mehrere Variablen als Untersuchungsgegenstand in den Vordergrund gerückt, sondern auch die Beziehungen zwischen den einzelnen Variablen näher bestimmt werden. So enthält eine Hypothese immer eine Aussage darüber, welche Variable als Kausalfaktor (= unabhängige Variable) und welche als Wirkfaktor (= abhängige Variable) zu betrachten ist. Da indessen die meisten soziologischen Variablen in einem komplexen gegenseitigen Beziehungszusammenhang stehen und somit je nach Perspektive bzw. Fragestellung als abhängige oder als unabhängige Variable begriffen werden können, gehört es zur Entscheidung des Forschers, welchen Aspekt er primär untersuchen will. »Politische Partizipation« kann beispielsweise einmal als unabhängige Variable für die abhängige Variable »Demokratisierung von Gesellschaften« betrachtet werden; »politische Partizipation« könnte jedoch andererseits selbst als von bestimmten Sozialisationserfahrungen, Persönlichkeitsfaktoren und der Stellung im Sozialsystem abhängige Variable untersucht werden. Die Bezeichnung »unabhängig« ist also nicht wörtlich zu nehmen: Sie bezieht <?page no="194"?> 194 sich jeweils nur auf den theoretischen Bezugsrahmen einer bestimmten Hypothese und bedeutet, dass eine bestimmte Variable die andere Größe beeinflusst, sie selbst aber im Rahmen der Hypothese auf ihre eigenen Abhängigkeiten nicht weiter untersucht wird. Wie auch immer Untersuchungshypothesen zustande gekommen sein mögen, ihre eigentliche Bedeutung liegt im Anreiz zur Überprüfung ihrer Aussagen. Diese Möglichkeit zur Überprüfung hängt nun aber von der Messbarkeit der in den Hypothesen enthaltenen Begriffe und Beziehungszusammenhänge ab, was wiederum die Übersetzung der benutzten Begriffe in sogenannte operationale Definitionen voraussetzt. Durch operationale Definitionen sollen Begriffe der interpretativen Willkür entzogen und durch Angabe von messbaren Merkmalen bzw. Ereignissen präzisiert und standardisiert werden, so dass auch tatsächlich beobachtet und gemessen wird, was beobachtet und gemessen werden soll. Diese Indikatoren sind zur quantitativen Erfassung des durch den Begriff bezeichneten Sachverhaltes notwendig und werden zweckmäßigerweise jeweils im Hinblick auf die zu testenden Hypothesen entwickelt. Soziale Sachverhalte, die im Rahmen empirischer Forschung in den Sozialwissenschaften mittels »Rezeptoren«, d. h. mit natürlichen Sinnesorganen oder mit künstlich-apparativen Mitteln, systematisch erfasst werden können, sind sowohl objektive Tatbestände (wie Lebensalter, Ausbildung, Beruf, Einkommenshöhe, Familiengröße, Parteizugehörigkeit u. Ä.) als auch subjektive Daten (z. B. ethnische Identität, Kirchlichkeit, Einstellungen zum Wertewandel) oder reale Handlungen und Verhaltensweisen, die im Zusammenhang mit subjektiven Daten sozialwissenschaftlich gleichfalls relevant werden können. Während objektive Tatbestände in ihrer Konkretheit relativ leicht zu operationalisieren und damit beliebiger Interpretation zu entziehen sind, sind subjektive Daten schon viel schwieriger in operationale Definitionen zu transformieren und damit einer intersubjektiven Kontrolle zugänglich zu machen. Ob beispielsweise ein Bürger »politische Mündigkeit« oder »kirchliche Bindung« besitzt, kann man - falls nicht näher konkretisiert - prin- <?page no="195"?> 195 zipiell so lange nicht überprüfen, so lange jeder unter »politisch mündig« oder »kirchlich gebunden« etwas anderes verstehen kann. Um dennoch auch solche Einstellungen einigermaßen messbar zu machen, muss man sie in der Weise konkretisieren, dass man z. B. festlegt: Der »politisch Mündige« macht u. a. von seinem aktiven oder passiven Wahlrecht Gebrauch, kennt die Grundzüge unserer Verfassung und unserer politischen Institutionen und ist in der Lage, die aktuellen Themen der Kommunalpolitik seiner Wohngemeinde zu benennen, während andererseits der »kirchlich Gebundene« regelmäßig (nicht nur an Weihnachten) Gottesdienste besucht, die jeweilige konfessionelle Auffassung über den Sinn des Abendmahls kennt sowie über den Inhalt des Glaubensbekenntnisses Bescheid weiß. Natürlich wird mit diesen Operationalisierungen nicht vollständig abgebildet, was mit »politischer Mündigkeit« oder »kirchlicher Bindung« gemeint ist, und offensichtlich haben derartige operationale Umschreibungen für politische, religiöse, aber z. B. auch ästhetische und andere Dimensionen ihre Grenzen. Insofern also möglicherweise wichtige Tatbestände ausgeklammert werden müssen, weil sie empirisch nicht direkt beobachtbar bzw. messbar sind, rekurrieren Operationalisierungen teilweise zumindest auf spezifische Symptome, die immerhin bei der zu untersuchenden Gruppe, über die man Näheres wissen möchte, auftreten können. Unter diesen inhaltlichen Einschränkungen ist aber dann auch in diesen Fällen die Anwendung empirischer sozialwissenschaftlicher Methoden möglich, so dass andere Sozialforscher den Zusammenhang von Forschungshypothesen, theoretischer Fragestellung und zur Klärung benutzter Verfahren verstehen und kontrollieren können. Theodor W. Adorno (1903-1969) und seine Mitarbeiter haben beispielsweise in einer inzwischen schon klassisch gewordenen Studie (The Authoritarian Personality. Studies in Prejudice,1950) als Indikatoren für den Begriff der »autoritären Persönlichkeit« ein ganzes Bündel von in der Regel gemeinsam auftretenden Einstellungen, ein sogenanntes Syndrom, gewählt, wie z. B. eine hohe Bereitschaft zu konformem Verhalten, die Tendenz zur Unterwerfung unter Stärkere und zur Beherrschung <?page no="196"?> 196 von Schwächeren, eine übermäßige Kontrolle der eigenen Gefühle und Impulse, Intoleranz, sexuelle Prüderie sowie Ethnozentrismus und Antisemitismus, - alles mehr oder weniger innere Einstellungen, die dann über speziell hierfür entworfene »Einstellungsskalen« gemessen wurden. Durch die Indikatoren werden also die jeweiligen Forschungsoperationen schon mit festgelegt. Es ist daher notwendig, sie auf ihre Gültigkeit (Validität) und Zuverlässigkeit resp. Verlässlichkeit (Reliabilität) zu untersuchen, denn die Indikatoren sollen ja tatsächlich auch das messen, was sie zu messen vorgeben (Gültigkeit) bzw. unter gleichen Bedingungen bei wiederholter Messung desselben Sachverhalts gleiche Werte ergeben (Zuverlässigkeit). So ist z. B. ziemlich fragwürdig, ob Schulnoten als valide Indikatoren für Schulleistungen gelten können und ob derartige Messungen dann auch zuverlässig sind. Ähnliche Kritik lässt sich übrigens auch hinsichtlich der bekannten »Intelligenztests« begründen, da der jeweils gemessene Intelligenz-Quotient (IQ) das theoretische Intelligenz-Konzept allenfalls teilweise repräsentiert. Wie schon angedeutet ist eng mit den im Prozess der Operationalisierung zum Ausdruck gebrachten Messabsichten die Auswahl einer oder mehrerer geeigneter Messmethoden verbunden. Hierfür stehen der empirischen Sozialforschung verschiedene Verfahren zur Verfügung wie beispielsweise • die systematische Beobachtung, • die Befragung mittels Interview und Umfrage, • die Inhalts- oder Dokumentenanalyse, • die Soziometrie, • das Experiment usw. Selbstverständlich muss auch jedes gewählte und auf die Untersuchung hin organisierte bzw. oft auch speziell konstruierte Messinstrument den bekannten Gütekriterien der Validität und Reliabilität genügen. Da die methodische Entscheidung selten klar für nur einen Ansatz ausfallen wird, ist es somit in der Regel sinnvoll, in kontrollierender oder ergänzender Absicht »multimethodisch« zu verfahren, d. h. mit verschiedenen Techniken und Instrumenten gleichzeitig oder sukzessiv zu arbeiten (methodische Triangulation). <?page no="197"?> 197 Des Weiteren muss in dieser Phase einer Untersuchung auch über die Festlegung der Beobachtungseinheiten für die Datengewinnung entschieden werden. Bei einer qualitativ angelegten Einzelfallstudie (case study) werden beispielsweise verbale, d. h. nichtnumerische Daten interpretativ verarbeitet. So führt man mit einer Person oder allenfalls mit wenigen Menschen Gespräche, um etwas über ihre Lebensgeschichte in Erfahrung zu bringen und zu ergründen, wie sie zu bestimmten Denkweisen, Handlungen und Entscheidungen gekommen sind. Nur reicht eben dann das so gewonnene Wissen nicht über den untersuchten Einzelfall hinaus und führt allenfalls zur Entwicklung bestimmter Forschungshypothesen. Da Soziologen indessen ständig auf der Suche nach gewissen Regelmäßigkeiten und Zusammenhängen in der sozialen Wirklichkeit sind, benötigen sie für ihre Analysen eine breitere Datenbasis, weil nur so - durch das Gesetz der großen Zahl - zufällige Ergebnisse weitgehend ausgeschaltet werden können. Dieses Problem ist also abhängig von der Untersuchungsfrage, der Größe der dadurch definierten »Grundgesamtheit« oder »Population« (beispielsweise der zu erfassenden Personen oder Gruppen) sowie der Reichweite der beabsichtigten Schlussfolgerungen. Bei einer Untersuchung der Sympathie- und Antipathiebeziehungen innerhalb einer bestimmten Schulklasse muss man sicher eine Vollerhebung durchführen und kann in der Regel auch technisch ohne Schwierigkeiten alle Schüler dieser Klasse z. B. einem soziometrischen Test (vgl. hierzu Abschnitt 4.4.8) unterwerfen. Bei Untersuchungen über »Einstellungsänderungen der Wähler auf Grund des Bundestagswahlkampfs der Parteien«, über »Die soziale Lage der ethnischen Minderheiten in Berlin« oder über »Ursachen und Motive des Studienabbruchs von Pädagogikstudenten an baden-württembergischen Hochschulen« können indessen nicht nur aus technischen, sondern auch aus finanziellen Gründen nicht mehr alle Mitglieder der zu untersuchenden Grundgesamtheit befragt werden. Hier muss dann nach standardisierten Regeln eine repräsentative Stichprobe (»Sample«) gezogen werden, die ein möglichst genaues Spiegelbild der jeweiligen Population darstellt, um statistisch zuverlässige Schlussfolgerun- <?page no="198"?> 198 gen beispielsweise über das Wählerverhalten in der Bundesrepublik, über ethnische Subkulturen in Berlin oder über Studienabbrecher im Fach Pädagogik zu ermöglichen. Die Erkenntnis, dass aufgrund der statistischen Wahrscheinlichkeitsrechnung von einer relativ kleinen Zufallsauswahl auf die Grundgesamtheit geschlossen werden kann, hat die Entwicklung der empirischen Sozialforschung jedoch geradezu revolutioniert. Ohne allzu großen Kostenaufwand lassen sich heute über Stichproben mit geringen, überdies zuverlässig abschätzbaren Fehlermargen, verallgemeinernde Aussagen über ein bestimmtes soziales Phänomen und die Merkmale der damit in Verbindung stehenden Menschen der gesamten Population machen. Allgemein gilt dabei die Regel, dass die Größe der Stichprobe abhängig ist vom Grad der Heterogenität der Grundgesamtheit. Mit anderen Worten: Je mehr Variablen wie etwa Alter, Geschlecht, Konfession, Familienstand, Ausbildung, Beruf, Wohnort usw. in die Untersuchung miteinbezogen werden, desto mehr Personen müssen befragt werden. Hierbei haben sich nach Heine v. Alemann (1984, 91) folgende pragmatische Richtwerte für Stichprobengrößen eingebürgert: 2.000 Personen (Einheiten): repräsentative Stichprobe einer heterogenen, umfangreichen Bevölkerung (etwa die Stimmbürger der gesamten Bundesrepublik), angebracht bei einer Untersuchung mit offener Themenstellung, die auch detaillierte Analysen von Teilgruppen erlaubt. 1.000 Personen: repräsentative Stichprobe für eine Untersuchung mit spezifischer Themenstellung und verminderter Möglichkeit der Teilgruppenbildung. 500 Personen: repräsentative Stichprobe von spezifischen (homogenen) Grundgesamtheiten (Berufsgruppen, regionale Spezifizierung) und mit spezifischer Fragestellung der Untersuchung. 100-200 Personen: repräsentative Stichprobe von sehr spezifischen Grundgesamtheiten (einzelne Berufe) mit eingeschränkter, sehr spezifischer Fragestellung, wobei in der Auswertung weitgehend auf Teilgruppenaufgliederungen verzichtet werden muss. <?page no="199"?> 199 Bevor die eigentliche Datenerhebung durchgeführt wird, empfiehlt es sich, insbesondere bei Benutzung eines Beobachtungsschemas oder eines Fragebogens das Untersuchungsinstrument vorab an einer kleinen Gruppe von Personen, die zur Zielgruppe der Untersuchung gehören, auszuprobieren (z. B. Probeinterview). Dieser sogenannte Pretest vermag manche Schwachstellen etwa in sprachlicher (Eindeutigkeit, Verständlichkeit), aber auch in logischer oder praktisch-psychologischer Hinsicht aufzudecken und gleichzeitig die Diskriminationsfähigkeit der benutzten Begriffe, Kategorien, Fragen usw. zu überprüfen und gegebenenfalls zu korrigieren. Manche Hauptuntersuchung ist durch diesen Prüfstand des Pretests schon vor unliebsamen Überraschungen und vermeidbaren Enttäuschungen bewahrt worden. In der Hauptuntersuchung, der sogenannten »Feldphase«, erfolgt dann die Datenerhebung in der durch die gewählte Methode möglichen und durch diese festgelegten Form. Daran anschließend müssen die gesammelten Daten oft noch bereinigt werden, indem beispielsweise unvollständige Beobachtungsschemata oder unklare Fragebogenmarkierungen ausgeschieden werden. Erst mit »sauberen« Daten sollte die eigentliche Auswertung erfolgen, die heute - analytisch routiniert - nur noch mit Hilfe elektronischer Rechenanlagen vorgenommen wird. Hierfür sind auch einige einschlägige sozialwissenschaftliche Softwareprogramme zur Datenanalyse verfügbar, die das Schreiben eigener Analyseprogramme weitestgehend überflüssig machen. Gebräuchlich sind vor allem das international eingeführte SPSS (Statistical Package for Social Sciences) mit inzwischen leicht zu bedienender grafischer Benutzeroberfläche, das wegen seiner Komplexität für Anfänger etwas schwieriger zu bedienende, andererseits sich durch transparente Dokumentation auszeichnende SAS (Statistical Analysis System) und die beispielsweise für speziellere deskriptive und explorative Datenanalysen geeigneten beiden Statistikprogramme Systat und SigmaStat. Die Interpretation selbst sollte schließlich die methodisch gewonnenen Ergebnisse vor dem Hintergrund der in der Forschungsfrage zum Ausdruck gebrachten theoretischen Überlegungen diskutieren, wobei signifikante Ergebnisse in das theore- <?page no="200"?> 200 tische Ausgangskonzept zurückzuübersetzen sind.. Neben der deskriptiven Ausschöpfung des Gehalts der durchgeführten Erhebung sollen somit auch die formulierten Ausgangshypothesen überprüft, der Geltungsbereich der durch die Untersuchung gewonnenen - erweiternden, stabilisierenden oder ggf. auch einschränkenden - Aussagen abgeschätzt und die entsprechenden Konsequenzen für die Theorieentwicklung bzw. praktische Problemlösung gezogen werden. In vielen Fällen werden deshalb im Anschluss an eine Untersuchung neue und weiterführende Hypothesen zu entwickeln sein. Zur vertiefenden und ergänzenden Lektüre Jürgen Bortz & Nicola Döring (2006): Forschungsmethoden und Evaluation für Human- und Sozialwissenschaftler. (Darin Kapitel 2 »Von einer interessanten Fragestellung zur empirischen Untersuchung«, S. 35-80). 4. Aufl. Springer: Berlin. Claire Selltiz, Marie Jahoda, Morton Deutsch & Stuart W. Cook (1972): Untersuchungsmethoden der Sozialforschung. Teil I. (Darin Kapitel 4 »Forschungsplanung II«, S. 97-172). Luchterhand: Neuwied. 4.2.3 Der Verwertungs- und Wirkungszusammenhang Unter Verwertungs- und Wirkungszusammenhang einer empirischen Untersuchung werden ihr Beitrag zur Lösung des anfangs gestellten theoretischen oder praktischen Problems, ihre Resonanz in der »scientific community« der Fachkollegen und der interessierten Öffentlichkeit wie auch die Entwürfe entsprechender Handlungsstrategien bzw. die Effekte praktischer Schlussfolgerungen seitens eventueller Auftraggeber verstanden. Zweifellos entscheidet nicht zuletzt die Form der Darstellung einer Studie über die Zugänglichkeit und Verbreitung ihrer Ergebnisse. Hierbei kommt es sowohl auf eine ansprechende und gut dekodierbare grafische Aufbereitung der Daten wie gerade auch auf eine entsprechende Textverständlichkeit an. Es gilt, den Abstand - vielleicht sogar den »Abgrund« - zwischen der Denk- <?page no="201"?> 201 weise und Sprache der Soziologen, d. h. der Theorie und Forschung auf der einen, und dem alltäglichen Denken und Sprechen der interessierten Öffentlichkeit oder der Auftraggeber, d. h. der Praxis auf der anderen Seite, soweit wie möglich kommunikativ zu überbrücken und aufzuheben. Immer wieder zeigt es sich nämlich, dass soziologische Analysen für die soziale Praxis umso wirksamer zu vermitteln sind, je konkreter und u. U. auch dramatischer ihre Relevanz sichtbar wird und je erfolgreicher ihre Übertragung aus der Fachterminologie der Sozialwissenschaften in die öffentliche Sprache erfolgt. Besonders eindrucksvoll ist dies hierzulande den Autoren bzw. Forschungsleitern verschiedener jugendsoziologischer Studien gelungen (vgl. beispielsweise Allerbeck & Hoag 1985, Zinnecker u. a. 2003 oder die bekannten Shell-Studien, die seit 1953 in regelmäßigen Abständen mittels repräsentativer Stichproben und qualitativer Fallstudien die jeweiligen Jugendgenerationen in Deutschland spiegeln, zuletzt 2002, 2006, 2010 und 2015). Neben der Form der Darstellung vermag auch die Art und Weise der Interpretation von Untersuchungsergebnissen deren praktische Verwertung und Wirkung nachhaltig zu beeinflussen. Wie stark hier die subjektive Ausnutzung objektiver Interpretationsmargen bei gleichen Befunden ambivalente Problemlösungen für die Praxis zu suggerieren vermögen, lehrt in zugespitzter Form jene Anekdote von dem Schuhfabrikanten, der zwei Marktforscher nach Zentralafrika schickte und nach einiger Zeit zwei Telegramme erhielt: »Fantastische Möglichkeiten - Stop - Hier trägt niemand Schuhe« und zum andern »Keine Marktchance - Stop - Schuhe werden hier nicht getragen«. Diese amüsante Geschichte berührt indessen ein grundsätzliches Problem jeglicher Darstellung, Interpretation und Verwertung von empirischen Befunden - ein Problem, das besonders nachdrücklich die Forderung nach einer klaren und transparenten, kommunizierbaren und nachvollziehbaren Präsentation des Forschungsprozesses und seiner Ergebnisse unterstreicht: »Je exakter die Aussagen der Studie begründet wurden und je mehr die Untersuchung dem Umfang des anfangs formulierten Problems entspricht, desto eher werden sich auch Handlungsmöglichkeiten <?page no="202"?> 202 nennen lassen. Die Exaktheit des Begründungszusammenhangs ist demnach die Bedingung einer begründbaren Verwertung, einer Verwertung, die mehr ist als bloße Legitimation von Interessen durch einige empirische Ergebnisse« (Friedrichs 1990, 54). Im Fall einer primär theoretisch motivierten Forschung wird die Verbreitung der methodischen Prozesse und der Untersuchungsergebnisse im Allgemeinen zunächst mündlich auf wissenschaftlichen Fachtagungen, Symposien, Kongressen u. Ä. oder auch in einschlägigen wissenschaftlichen Publikationsorganen erfolgen. Beide Formen der Veröffentlichung haben den Vorteil, dass damit die Chancen einer kompetenten und oft auch hochgradig selektiven Kritik der Studie durch interessierte Fachkollegen genutzt und mögliche eigene Kunstfehler (beispielsweise im Hinblick auf Repräsentativität, statistische Datenanalyse etc.) oder unter Umständen inzwischen eingetretene »Betriebsblindheit« hinsichtlich unzulässiger Schlussfolgerungen (z. B. bezüglich Signifikanz oder Korrelationen) erkannt werden können. Damit sollen Untersuchungen nicht nur durch die »scientific community« kontrollierbar sein, sondern nach erfolgreich bestandener kritischer Prüfung und Diskussion auch als »Bausteine« dem allgemeinen theoretischen und methodologischen Wissensstand der Soziologie zugeführt werden können. Eine nachfolgende Verbreitung von relevanten Forschungsergebnissen über Pressemitteilungen, öffentliche Vorträge, Interviews in den Medien usw. ist dann sicher gerechtfertigt. Der umgekehrte Weg dagegen ist eher risikoreich, ja kann sogar recht blamabel werden, wenn über öffentliche Medien »sensationelle Forschungsergebnisse« angekündigt werden, die sich später wissenschaftlich als peinliche »Windeier« erweisen. Schwieriger erweist sich die Kontrolle des Verwertungs- und Wirkungszusammenhang bei angewandter und Auftragsforschung. Je nach Anlass der Studie soll die Verwertung ja mittelbar, unmittelbar oder in schrittweiser Anwendung im Rahmen sozialer Planung erfolgen. Für notwendige Entscheidungsprozesse sollen daher bestimmte Informationen als grundlegende Entscheidungshilfen bereitgestellt werden, wobei die praktische Problemlösung immer im Vordergrund steht. <?page no="203"?> 203 Gerade hier kommt es aber leider immer wieder vor, dass die rationale, wissenschaftliche Betrachtungsweise des forschenden (aber andererseits auch auftragsabhängigen) Soziologen zwischen nicht-rationalen Interessenstandpunkten verbogen und aufgerieben wird. Passt beispielsweise einem Auftraggeber das Resultat einer Untersuchung nicht, so ist von seiner Seite gelegentlich schnell der Vorwurf zur Hand, die Befunde könnten ja gar nicht wissenschaftlich, objektiv und »wertfrei« sein, sondern seien vielmehr von der politischen Position oder weltanschaulichen Optik des Forschers her diktiert. Umgekehrt mag jedoch auch mancher Forscher gelegentlich den Eindruck gewinnen, dass er den Beifall eigentlich von der falschen Seite erhält. Das hier angesprochene Problem der Bewertung der sich aus einer Untersuchung ableitbaren Schlussfolgerungen kann nun aber offenbar auf rationaler Ebene nicht mehr gelöst werden. Die hierfür notwendigen Kriterien sind vielmehr normativer Provenienz, also ethisch, moralisch, politisch usw., aber eben nicht mehr soziologisch begründbar. Aufgabe des Sozialforschers wird es daher sein, die verschiedenen praktischen Möglichkeiten, die sich aus verschiedenen (normativ gesetzten) Zielen ergeben, analytisch zu trennen und aufzuweisen, was geschehen kann, wenn dieser oder jener Zielsetzung Priorität eingeräumt wird. Insgesamt zeigt sich also, dass die Phase der Verwertung und Wirkung von Forschungsprojekten keineswegs eine »quantité négligeable« darstellt. Denn will ein Forscher nicht das unkalkulierbare Risiko einer willkürlichen Verfügung über seine Daten und Ergebnisse durch Dritte eingehen, wird er gut beraten sein, insbesondere die Prozesse der gesellschaftspolitischen Wirkung und ethisch verantwortlichen Verwertung seiner Untersuchung kritisch zu begleiten - eine Forderung, aus der manch einem forschenden Soziologen gelegentlich ein handfester Intraund/ oder Inter-Rollenkonflikt zuwachsen mag. Zur vertiefenden und ergänzenden Lektüre Jürgen Bortz & Nicola Döring (2006): Forschungsmethoden und Evaluation für Human- und Sozialwissenschaftler. (Darin Kap. 2.6 »Aus- <?page no="204"?> 204 wertung der Untersuchungsergebnisse« und Kap. 2.7 »Anfertigung des Untersuchungsberichtes«, S. 85-93). 4. Aufl. Springer: Berlin. Rainer Schnell, Paul B. Hill & Elke Esser (2013): Methoden der empirischen Sozialforschung. (Darin Anhang G »Regeln guter wissenschaftlicher Praxis«, S. 491 ff.). 10. Aufl. Oldenbourg: München. Claire Selltiz, Marie Jahoda, Morton Deutsch, Stuart W. Cook (1972): Untersuchungsmethoden der Sozialforschung. Teil II. (Darin insbesondere Kapitel 13 »Die Anwendung sozialwissenschaftlicher Forschung«, S. 267-291). Luchterhand: Neuwied. 4.3 Methodenprobleme Wie wir gesehen haben, stellt der sozialwissenschaftliche Forschungsprozess eine logisch organisierte Abfolge von Entscheidungen und Handlungsschritten in einzelnen Phasen dar: von der theoriegeleiteten Hypothesenbildung über die Erhebung der Daten mittels geeigneter Forschungsmethoden und -techniken sowie der Verarbeitung des erhobenen Materials mittels statistischer Verfahren bis hin zur Interpretation der Befunde im Hinblick auf ihre Folgen für Theorie und/ oder Praxis. Es muss in diesem Zusammenhang jedoch auch darauf aufmerksam gemacht werden, dass gelegentlich infolge von Mängeln oder unbeabsichtigten Fehlern innerhalb dieser methodischen Schritte und Entscheidungen auch Fakten suggeriert, d. h. sogenannte Forschungsartefakte hervorgerufen werden können, so dass das Untersuchungsergebnis letztlich trügt und keine angemessene Beantwortung der ursprünglichen Forschungsfrage durch die Ergebnisaussagen möglich ist. Bei einem Verdacht auf derartige Forschungsartefakte ist daher genau zu prüfen und zu spezifizieren, wo der oder die Fehler für das entstandene »Kunst-Produkt« liegen könnte. Erfahrungsgemäß liegen hierbei den Artefakten häufig Fehlerquellen im Bereich von Datenerhebung und -auswertung zugrunde. <?page no="205"?> 205 4.3.1 Datenerhebungsartefakte Da die meisten sozialwissenschaftlichen Untersuchungen über soziale Interaktionen und Kommunikationen zwischen mindestens zwei Personen laufen, kann es beispielsweise durch die Person des jeweiligen Versuchsleiters zu meist unbewussten und schwer kontrollierbaren Verzerrungen oder Verfälschungen bei der Versuchsplanung und -durchführung kommen. Unter einem derartigen Versuchsleitereffekt (experimenter effect) werden höchst diffizile Einflüsse verstanden, die durch äußerliche Merkmale des Versuchsleiters wie Alter, Geschlecht oder Habitus, aber auch durch kommunikativ unbewusst übertragene Signale und Hinweise paralinguistischer Art (Tonfall, Betonung, Dialektfärbung der Sprache, Pausen usw.) bzw. mimisch-gestischer Prägung (wie Lächeln, Zunicken, sichtbare Entspannung bei Erreichen der »richtigen«, - Stirnrunzeln oder nervöses Räuspern bei der »falschen« Antwort) vermittelt werden (experimenter bias). Derartige unterschwellig kommunizierte Erwartungshaltungen des Versuchsleiters können die Forschungssituation erheblich beeinflussen und ungewollt die Prüfung der Hypothesen in die Irre führen. Bekannt sind auch die Auswirkungen des Halo-Effekts beim Vorgang der Beobachtung (Wahrnehmungsfehler). Analog zum »Halo« - dem Lichthof von Sonne und Mond, der angeblich exakte Wetterprognosen erlaubt - wird die wahre Einschätzung einzelner Eigenschaften von Menschen (oder Objekten) irrtümlich geleitet von der subjektiven »Ausstrahlung« oder »Überstrahlung« durch andere hervorstechende Merkmale im Umkreis des betrachteten Sachverhalts bzw. von einem impliziten »Gesamteindruck« seitens des Untersuchenden. Ausstrahlende und zu selektiven Wahrnehmungsprozessen führende Merkmale sind auch hier häufig Alter, Geschlecht, Aussehen, Kleidung, soziale oder ethnische Herkunft, Konfession, Beruf, Sprache/ Dialekt oder Hautfarbe. Dies kann dann in Untersuchungen dazu führen, dass bei der Protokollierung der Erhebungssituation und der kategorialen Einordnung bestimmter sozialer Tatbestände Fehler überzufällig häufig im Sinne der Erwartungen und Hypothesen auftreten, so dass z. B. »sympathisch« eingestufte Personen auch <?page no="206"?> 206 bei anderen Merkmalsdimensionen (wie Intelligenz, Natürlichkeit oder soziale Aufgeschlossenheit) vergleichsweise positiv eingestuft werden. Auch auf Seiten der Versuchspersonen gibt es potenzielle Tendenzen, in bestimmten Situationen auf angebotene Reize nicht adäquat und flexibel zu reagieren, sondern bestimmten Mustern oder Schemata zu folgen (response sets). Insbesondere bei Fragebogenerhebungen mit vorgegebenen Ja/ Nein-Antworten sind so - unabhängig vom Inhalt der vorgelegten Fragen - öfter Ja-Sager-Tendenzen feststellbar. Prophylaktisch können solche Reaktionstendenzen bereits bei der Fragebogenkonstruktion, d. h. bei der Formulierung und Anordnung der Fragen, berücksichtigt sowie durch mehrfache Umformulierung derselben Fragen und Antwortvergleiche kontrolliert werden. In ähnlicher Weise können Versuchspersonen auch im Widerspruch zu ihren wahren Überzeugungen ihre Verhaltens- und Meinungsäußerungen an den von ihnen vermuteten Wünschen und Erwartungen der sozialen Umwelt, etwa des Versuchsleiters oder des Auftraggebers, ausrichten (social desirability). Hohe Werte bei Schülern hinsichtlich ihrer »Zufriedenheit mit dem Unterricht« könnten beispielsweise in einer Untersuchung auch dadurch zustande gekommen sein, dass die Schüler befürchteten, der Lehrer könnte vielleicht doch erfahren, welcher Schüler ihn wie beurteilt hat. Andererseits kann es auch zu einem »umgekehrten« Effekt der sozialen Erwünschtheit kommen: Jemand, der z. B. als »Nonkonformist« angesehen werden will, ist bestrebt, gerade deshalb prinzipiell nicht sozial-wünschenswerte Antworten zu geben. Forschungsgeschichtliche Berühmtheit hat auch der sogenannte Hawthorne-Effekt, im Sozialforscherjargon auch »Versuchskanincheneffekt« genannt, erreicht. Im Rahmen einer klassischen betriebssoziologischen und gruppenbasierten Studie im Hawthorne-Werk der Western Electric Company in Illinois/ USA hatte sich gezeigt, dass das Gefühl, Versuchsperson zu sein und dadurch verstärkte soziale Aufmerksamkeit zu erfahren, sich nicht unerheblich auf die Reaktionen von Personen, deren Verhalten experimentell untersucht werden soll, auswirken kann, so dass <?page no="207"?> 207 auch die Wirksamkeit einer bestimmten Intervention von den Forschern u. U. völlig falsch beurteilt wird. Ein ausgesprochen origineller Weg zur Vermeidung von Forschungsartefakten dieser Art liegt in einer verstärkten Berücksichtigung von sogenannten nicht reaktiven Verfahren (nonreactive measures) oder versteckten Messungen (unobtrusive measures). So können z. B bestimmte physikalische Verhaltensspuren wie der Abnutzungsgrad von Teppichen und Treppen in Museen auf das Interesse an bestimmten Ausstellungsobjekten, der Wasserverbrauch vor und nach dem Ende eines Films auf relative Einschaltquoten beim Fernsehen oder die Zusammensetzung des Mülls auf bestimmte materielle Lebensstile verweisen. Der quasi detektivischen Fantasie des Sozialforschers sind hier keine Grenzen gesetzt. 4.3.2 Datenauswertungsartefakte Die Aufbereitung und Weiterverarbeitung von erhobenen und zu Daten verschlüsselten Informationen erfolgt im Forschungsprozess in der Regel mit den Mitteln der Statistik. Als Teilgebiet der Mathematik benutzt die Statistik dabei bestimmte, nach strengen formalen Regeln axiomatisch eingeführte Strukturprinzipien, die mit der empirisch erhobenen sozialen Wirklichkeit nicht notwendigerweise abbildungsgleich sind. Typische Übersetzungsprobleme können hier aus dem Wechsel von sprachlicher zu numerischer Ebene entstehen, so dass beispielsweise immer kritisch geprüft werden muss, ob der statistisch exakt gleich definierte und durch identische Zahlenrelationen ausgedrückte Intensitäts- Abstand zwischen den Antwortkategorien »nie« und »selten« real genauso groß ist wie der zwischen »oft« und »sehr oft«. Denn was für den einen Befragten »oft« ist, bedeutet für den anderen vielleicht nur »öfter« - Zahlen indessen suggerieren den Eindruck des Genauen, Präzisen und Exakten. Pseudogenauigkeit wird überdies in manchen Tabellen vorgetäuscht, wenn prozentual mehrere Stellen hinter dem Komma angegeben werden, wo doch schon eine Stelle hinter dem Komma »genau« ist und sogar vielfach auf ganze Zahlen gerundete Prozentwerte ausreichen würden. <?page no="208"?> 208 Statistische Methoden sind daher nicht einfach mechanisch anzuwenden, vielmehr ist zur Umgehung von Artefakten bei jeder sozialwissenschaftlichen Untersuchung neu zu prüfen, inwieweit sie als »Modelle« für den untersuchten Tatbestand auch tatsächlich geeignet sein können. Im Forschungsprozess treten bei diesem Anpassungsversuch regelmäßig eine Vielzahl von theoretischen und praktischen Fragen auf. Wird jedoch diese Diskussion bewusst oder unbewusst vernachlässigt, dann können leichtere oder schwerwiegendere Forschungsartefakte das Ergebnis sein, wie die nachfolgende Übersicht anschaulich illustriert. Sozialwissenschaftler wollen primär nicht einzelne Daten sammeln und archivieren, sondern möglichst weitreichende theoretische und/ oder praktische Schlussfolgerungen aus ihrem Material ziehen. Sind z. B. in einer Untersuchung Verhaltensunterschiede bei verschiedenen Kategorien von Menschen, etwa Daten falsch Erhebung (Urmaterial) Aufbereitung Interpretation Auslegung durch den Leser Lüge (keine Statistik) Statistik wird zur Lüge missbraucht falsche Statistik (fehlerhafte statistische Arbeit) Leser versteht Leser fasst falsch auf richtig Daten richtig durch Fälschung durch Fehler fehlerhaft richtig richtig irrig bewusst irreführend irrig gute Statistik gefälscht Abb. 11: Schema der Fehlerquellen und Täuschungsmöglichkeiten beim Erarbeiten und Verarbeiten von Statistiken (modifiziert bei Zeugin 1979, 132 nach Swoboda 1974, 181) <?page no="209"?> 209 zwischen Männern und Frauen, Katholiken und Protestanten, Jugendlichen und Erwachsenen feststellbar, dann wird mit einem sogenannten Signifikanztest darüber zu entscheiden sein, ob diese Unterschiede nur zufällig sind oder aber so groß (d. h. statistisch signifikant), dass man auf ihrer Basis Aussagen über allgemeinere Hypothesen machen kann. Aufgrund methodologischer Missverständnisse werden jedoch Signifikanztests oft nicht als formale Entscheidungsmodelle über Hypothesen, sondern eher als Messverfahren zur Gütebezeichnung bestimmter Effekte benutzt. Schließlich werden auch nicht selten Korrelationskoeffizienten als Maß für den statistischen Zusammenhang zwischen zwei oder mehr Variablen kausal interpretiert. So wird beispielsweise aus einem gegebenen Zusammenhang zwischen X und Y geschlossen, X sei die Ursache von Y. Abgesehen davon, dass Y unter Umständen theoretisch auch X bewirken könnte, erweist sich nämlich bei näherer Prüfung manche festgestellte Beziehung zwischen Phänomenen nur als Scheinkorrelation (spurious oder nonsense correlation). So konnte z. B. tatsächlich eine statistische Beziehung gefunden werden zwischen der Anzahl der bei Brandkatastrophen eingesetzten Feuerwehren (X) und der Höhe des entstandenen Sachschadens (Y) oder auch zwischen der Anzahl der in einer bestimmten Region nistenden Störche (X) und der Geburtenrate (Y) in diesem Landstrich. Der Schluss, dass die Löschfahrzeuge den Sachschaden oder die Störche den Kindersegen verursachen, ist dann zwar erheiternd, übersieht aber, dass man bei jeder Kombination von Merkmalen immer wieder prüfen muss, ob nicht eine zunächst verborgene, dann jedoch zu kontrollierende dritte, sogenannte intervenierende Variable (Z) die Annahme einer Kausalbeziehung zwischen X und Y widerlegen oder wenigstens zum Teil miterklären kann. So lässt sich bereits mit gesundem Menschenverstand bei beiden Beispielen zeigen, dass die Beziehung zwischen der Anzahl der Löschzüge und der Höhe des Brandschadens mit der Größe des Schadenfeuers (Z) sowie die Beziehung zwischen der Anzahl der Störche und der Geburtenrate mit dem Grad der Urbanisierung (Z) zu erklären ist. Die Beispiele mögen zeigen, dass statistisch signifikante Zusammenhänge häufig eben keine kausalen Erklärungsmuster bie- <?page no="210"?> 210 ten, sondern lediglich vordergründig »rechnerisch« vermittelt sein können. D. h. der Prozess der Auswertung und vor allem auch der Interpretation von Daten schließt notwendigerweise Schritte ein, das erhobene Material auch unter anderen als den zunächst für »bedeutungsvoll« erkannten Zusammenhängen und Beziehungen zu analysieren. Zur vertiefenden und ergänzenden Lektüre Hartmut Esser (1986): Können Befragte lügen? In Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, 38/ 2, S. 314-336. Bernd Klammer (2005): Empirische Sozialforschung. Eine Einführung für Kommunikationswissenschaftler und Journalisten, S. 51 ff., 128 ff., 282 ff. UVK: Konstanz. Walter Krämer (2009): So lügt man mit Statistik. 12. Aufl. Piper: München. Jürgen Kriz (1981): Methodenkritik empirischer Sozialforschung. Eine Problemanalyse sozialwissenschaftlicher Forschungspraxis. S. 56-86. Teubner: Stuttgart. 4.4 Einige Methoden der Sozialforschung Die rapide Entwicklung und Ausdifferenzierung von Forschungstechniken sowie die Zahlenmagie und der Methodenfetischismus, dem manche Sozialforscher gelegentlich zu verfallen scheinen, bergen sicher die Gefahr einer Verselbständigung der Techniken im Sinne eines naiven sozialwissenschaftlichen Empirismus. In der Folge könnten dann weniger die wissenschaftlichen Probleme die Forschungsstrategie, sondern eher umgekehrt die Zugänglichkeit von Daten und die Anwendungsmöglichkeiten von Methoden die zu untersuchende soziale Realität definieren. In diesem Zusammenhang wird immer wieder grundlegende Kritik an den herkömmlichen Forschungstechniken der Soziologie laut. Hauptsächlicher Stein des Anstoßes ist dabei, dass auf diese Weise zustande gekommene Forschungsergebnisse komplexe und individuelle Lebensverhältnisse in fragwürdiger Trennschärfe zu problematischen Zahlen und Tabellen verdichten. <?page no="211"?> 211 Leicht bei der Hand ist dann auch die Redensart, wonach es Lügen, große Lügen und Statistiken gebe. Hinzu kommt, dass der Gegenstand soziologischer Untersuchungen immer die Gesellschaft oder genauer: ein bestimmter gesellschaftlicher Teilbereich ist. Dies kann bedeuten, dass der Sozialforscher auch selbst in den Untersuchungsbereich involviert ist oder auch, dass sich der Untersuchungsgegenstand sowohl während als auch gerade durch den Einsatz sozialwissenschaftlicher Forschungstechniken verändert. Ähnlich wie beim bereits beschriebenen »Hawthorne-Effekt« haben beispielsweise Personen bei einer Umfrage nach dem »Eheglück« oder nach ihren Motiven für den Beitritt in einen Verein erst beim Interview erkannt, dass sie unglücklich verheiratet oder mit dem Vereinsleben unzufrieden waren (Seeley 1963 in Jager & Mok 1972, 34). Ebenso kann die Veröffentlichung von Umfrageergebnissen Menschen in ihrem Denken und Handeln beeinflussen. In den methodologisch allerdings umstrittenen Ansätzen der sogenannten »Aktionsforschung« (siehe Abschnitt 4.4.7) wurde deshalb sogar die durch eine Untersuchung ausgelöste Dynamik des Forschungsgegenstands bewusst und gewollt in die Anlage eines Projekts miteinbezogen. Andererseits gibt es jedoch bei aller selbstkritischen Problematisierung soziologischer Forschung keine Alternative zur Empirie. Gleichzeitig muss natürlich eine berechtigte Methodenkritik ernst genommen werden, weshalb es sich in jedem Fall empfiehlt, bei empirischen Untersuchungen nicht nur die Ergebnisse vorzustellen, sondern auch die benutzten Methoden, insbesondere in ihrer je konkreten Anpassung an das Untersuchungsobjekt, ausführlich zu diskutieren. Im Folgenden sollen nun die wichtigsten Techniken der sozialwissenschaftlichen Datenerhebung mit ihren jeweiligen Einsatzmöglichkeiten und besonderen Charakteristika vorgestellt werden. Zur vertiefenden Auseinandersetzung wie im Hinblick auf eine mögliche praktische Anwendung wird auf die jeweils angegebene ergänzende Literatur verwiesen. <?page no="212"?> 212 4.4.1 Beobachtung Von naiver Beobachtung, wie wir sie alltäglich im Hinblick auf unsere Mit- und Umwelt anwenden, sind sozialwissenschaftliche Beobachtungsverfahren durch ihre geplante und systematische Erfassung sozialer Sachverhalte zu unterscheiden. Man kann sagen, dass die methodische Beobachtung sozialer Tatbestände und die entsprechende Beschreibung des Beobachteten als grundlegende Technik häufig am Anfang erfahrungswissenschaftlicher Forschung steht. Da jedoch grundsätzlich alle Wahrnehmungen selektiv sind, muss auch wissenschaftliche Beobachtung davon ausgehen, dass soziale Situationen niemals vollständig in allen Einzelheiten erfasst werden können. Im Unterschied zu einer unsystematischen, willkürlichen und in der Regel auch unbewussten Auslese von Umweltreizen bei der naiven Alltagsbeobachtung wird daher der erfahrungswissenschaftliche Selektionsprozess bei der systematischen Beobachtung bewusst geplant. Dabei müssen vorab drei Grundfragen geklärt werden: 1. Was überhaupt soll beobachtet werden? 2. Wann und wo und auf welche Art und Weise soll dies beobachtet werden? 3. In welcher Form kann das Beobachtete aufgezeichnet und festgehalten werden? Zu 1: Mit Beobachtungstechniken können sehr verschiedene soziale Situationen und Zusammenhänge erfasst werden, wie beispielsweise ganze Kulturen (was besonders in der Ethnologie oder Kulturanthropologie üblich ist), religiöse Sekten, soziale Bewegungen, Bürgerinitiativen, Rockergruppen, Entscheidungsprozesse in der Kommunalpolitik, das Verhalten von Lehrern und Schülern im Unterricht oder die Entwicklung und Dynamik einer Konferenzgruppe. Meist wird hier die Beobachtung des unmittelbaren sprachlichen Verhaltens als Analyseeinheit im Vordergrund stehen, doch je nach Untersuchungsziel bzw. Fragestellung werden oft auch außersprachliches Verhalten (wie Lautstärke, Modulation, Sprechdauer, Vokabular), non-verbales Verhalten (wie bestimmte Gestik, Mimik, Augenspiel und allgemeine Kör- <?page no="213"?> 213 persprache) sowie spezifisches personen-, raum- und zeitbezogenes Verhalten miteinbezogen. Zu 2: Methodisch können Beobachtungen auf recht unterschiedliche Art und Weise angelegt sein. Im Hinblick auf die Position des Forschers zum Untersuchungsobjekt bzw. den Versuchspersonen wird hier zunächst zwischen teilnehmender und nicht-teilnehmender Beobachtung unterschieden. Im ersten Fall versucht der Forscher, sich selbst in die zu untersuchende Gruppe zu integrieren, um über einen hohen Partizipationsgrad ein möglichst tiefes Verständnis seines Untersuchungsgegenstandes zu gewinnen, was allerdings auch die Gefahr in sich birgt, dass die Zuverlässigkeit der Beobachtung durch zu große Identifikation leiden kann. Bei der nicht-teilnehmenden Beobachtung geht der Forscher aus Gründen der Praktikabilität des Zugangs oder auch aus Sorge um die eigene Objektivität gleichsam von außen an sein Beobachtungsobjekt heran. Des Weiteren können Beobachtungen kontrolliert oder unkontrolliert sein, d. h. sie können aufgrund einer relativ eng vordefinierten Beobachtungsstruktur (z. B. zur Erfassung quantifizierbarer Elemente) oder aber auch auf eine eher lockere und impressionistische, dem generellen Untersuchungszweck dienende Art (z. B. zur Erfassung vornehmlich qualitativer Merkmale) gewonnen werden. Ferner können die Rahmenbedingungen für Beobachtungen natürliche soziale und physische Umgebungen der Untersuchungsobjekte oder auch künstliche soziale Arrangements (z. B. in einer experimentellen Laboratoriumssituation zur Ausschaltung des Einflusses bestimmter Merkmale) sein. Und schließlich können sie offen oder - falls Verzerrungseffekte bei den Versuchspersonen zu erwarten sind - auch verdeckt (z. B. der Investigativjournalist Günter Wallraff in großen Unternehmen in Deutschland als »Türke Ali«) durchgeführt werden, wobei gerade auch hier legale und ethische Aspekte zu beachten sind. Hinsichtlich der Anwendung in der Praxis ist eine vom Forschungszweck und den Forschungsmöglichkeiten abhängige Mischform dieser verschiedenen Dimensionen üblich. Zu 3: Wie die Wahrnehmung kann auch die Aufzeichnung von Beobachtungen mehr oder weniger strukturiert sein bzw. das, <?page no="214"?> 214 was man festhalten will, kann mehr oder auch weniger dem Zufall überlassen werden. »Sitzt man etwa lediglich dabei, während ein Ehepaar sich streitet, und versucht nur ›soviel wie möglich‹ aufzuschreiben oder zu behalten, so wird die Beobachtung weder vollständig noch objektiv sein. Hat man aber einen Bogen Papier bei sich, auf dem bereits bestimmte Kategorien vorgegeben sind, wie ›aggressive Bemerkung von ihm‹, ›aggressive Bemerkung von ihr‹, ›Hohnlachen‹, ›beschwichtigende Bemerkung‹, ›aggressive Geste‹, ›abwehrende Geste‹, ›weint‹, ›läuft davon‹ usw., und braucht man also nur noch Haken oder Kreuze einzuzeichnen, so kommt man erstens besser mit und erfasst zweitens wahrscheinlich die meisten Verhaltensformen, die den vorgegebenen Kategorien entsprechen - übersieht freilich andererseits wahrscheinlich viele, die man nicht vorgegeben hatte« (Seger 1970, 186). Zur Aufzeichnung und Dokumentation von Beobachtungen werden deshalb am häufigsten inhaltlich und formal definierte Kategorienschemata benutzt. Das bekannteste dieser Beobachtungssysteme ist wohl die Interaktionsanalyse von Robert F. Bales (1962), die zwölf theoretisch begründete Kategorien zur Erfassung von Kleingruppendiskussionen enthält. Auf der Basis von selektiven Beobachtungsdaten sollen hierdurch die wechselseitig aufeinander bezogenen Verhaltensweisen zweier oder mehrerer Menschen systematisch erfasst und klassifiziert werden (vgl. hierzu Abb. 12). Registriert wird dabei sowohl das verbale wie das nonverbale Verhalten der Interaktionspartner, das in der Regel sofort mit Hilfe des selektiven Analysesystems den jeweils ent sprechenden Bereichen bzw. Kategorien zugeordnet wird. Dadurch können für die Akteure bestimmte Verhaltensprofile erstellt, aber auch verschiedene Phasen und Sequenzen des Interaktionsprozesses abgebildet bzw. die Stabilität und Veränderung von sozialen Beziehungen transparent gemacht werden. Bales hat dann in den 1980er-Jahren zusammen mit Stephen P. Cohen seine Interaktionsanalyse methodisch und theoretisch konsequent zum SYMLOG-System (Systematic Multiple Level Observation of Groups) weiterentwickelt, das den Versuch unternimmt, Verhaltensweisen auf mehreren Ebenen - Verhaltens- <?page no="215"?> 215 Abb. 12: Beobachtungskategorien bei der Interaktionsanalyse von Bales (Krapp, Hofer & Prell 1982, 73) <?page no="216"?> 216 ebene, Statusebene, Werturteilsebene - zu beobachten, zu beschreiben und zu analysieren. Anwendungsbereiche solcher Beobachtungsverfahren sind beispielsweise die Gruppensoziologie, die Unterrichtsforschung sowie die angewandte Gruppendynamik (wie beschlussfassende und problemlösende Konferenzgruppen, Familiendiagnostik und -therapie usw.). Allgemein lässt sich sagen, dass Beobachtungsverfahren eine Reihe von Problemen in Bezug auf Zuverlässigkeit und Gültigkeit aufwerfen. In der Praxis versucht man, gerade bei komplexeren Kategorienschemata derartige Probleme dadurch aufzufangen, dass die Beobachter zuvor in intensiven Wahrnehmungs- und Kategorisierungstrainings entsprechend geschult werden und darüber hinaus die Registrierung des konkreten Verhaltensaktes - neben dem Einsatz von Tonband- und Videogeräten - durch multiple Beobachtung (zwei oder mehr Beobachter registrieren und kategorisieren den gleichen Sachverhalt) abgesichert wird. Zur vertiefenden und ergänzenden Lektüre Andreas Diekmann (2007): Empirische Sozialforschung. Grundlagen, Methoden, Anwendungen. (Darin Kap. XI »Beobachtung«, S. 548- 575).18. Aufl. Rowohlt: Reinbek. Werner Greve & Dirk Wentura (1997): Wissenschaftliche Beobachtung. Eine Einführung, (Darin Kap. 1 »Seh’ ich was, was Du nicht siehst? «, S. 9-31 und Kap. 3 »Wie zuverlässig und genau kann Beobachtung sein? «, S. 44-78). PVU: Weinheim. Oswald Huber (1999): Beobachtung. In Erwin Roth, Klaus Heidenreich & Heinz Holling (Hrsg.) Sozialwissenschaftliche Methoden. S. 126- 145. 5. Aufl. Oldenbourg: München, Wien. René König (Hrsg.) (1972): Beobachtung und Experiment in der Sozialforschung. Praktische Sozialforschung II. (Darin insbesondere die Beiträge von René König, »Einleitung: Beobachtung und Experiment«, S. 17-47, Marie Jahoda, Morton Deutsch und Stuart W. Cook, »Beobachtungsverfahren«, S. 77-96, Florence Kluckhohn, »Die Methode der teilnehmenden Beobachtung«, S. 97-114, Alvin Zander, »Systematische Beobachtung kleiner Gruppen«, S. 129-147 und Robert F. Bales, »Die Interaktionsanalyse: Ein Beobachtungsverfahren zur Untersuchung kleiner Gruppen«, S. 148-167). 8. Aufl. Kiepenheuer & Witsch: Köln 1972. <?page no="217"?> 217 4.4.2 Befragung: Interview und Umfrage Personen mittels Einzelgespräch, Gruppendiskussion, Fragebogen, persönlichem oder telefonischem Interview systematisch zu befragen, was sie über dies oder jenes denken und meinen, wie sie sich in diesem oder jenem Fall verhalten haben, was sie gewöhnlich tun oder welche Ziele sie in der Zukunft verfolgen, - dies ist immer noch der beliebteste und am häufigsten benutzte Weg der praktischen Sozialforscher, sozialwissenschaftlich wie gesellschaftlich-politisch relevante Daten zu sammeln. Und auch faktisch wird der weitaus größte Teil der Daten, die in der empirischen Sozialforschung verarbeitet werden (ganz abgesehen von den zahlreichen routinierten Umfragen der kommerziellen Demoskopie- und Marktforschungsinstitute), mit Hilfe von Umfragetechniken erhoben. Kein Wunder also, dass als typisches und gebräuchlichstes Forschungsinstrument soziologischer Datenerhebung der Fragebogen gilt und dass Soziologie und Umfragen oft geradezu gleichgesetzt werden. Imogen Seger (1970, 181) meint dazu: »Wie wir uns den Chemiker mit einem Reagenzröhrchen in der Hand vorstellen, den Biologen mit einem Mikroskop, so den Soziologen mit einem langen Fragebogen. Zwar teilt er dieses Instrument und Symbol seiner Arbeit mit einem Teil der Psychologen, zwar benutzt er noch eine ganze Reihe anderer Instrumente, doch hat sich der Fragebogen als charakteristisches (und häufig negativ beurteiltes) Werkzeug soziologischer Forschung im Bewusstsein jener Leute eingenistet, die sich überhaupt für Sozialwissenschaften interessieren.« Wenn nun auch die Befragung die inzwischen am weitesten und am systematischsten entwickelte sozialwissenschaftliche Forschungstechnik darstellt, die überdies sehr vielfältig einsetzbar ist, so ist gerade diese Methode auch einer wachsenden Kritik ausgesetzt. Als besonders diskussionswürdig erweisen sich hierbei folgende Argumente und Einwände: • Durch Befragungen werden nur Aussagen, eventuell auch Einstellungen und Meinungen, nicht aber die tatsächlichen Verhaltensweisen abgebildet. Es ist insofern schwierig, die Bedeu- <?page no="218"?> 218 tung von Aussagen, Meinungen oder Einstellungen im Hinblick auf das konkrete Verhalten der Befragten abzuschätzen. • Das übliche Frage- und Antwortspiel von Interview bzw. Fragebogen - oft noch mit vorgegebenen Antworten zur Auswahl - kann niemals die ganze Komplexität der sozialen Wirklichkeit erfassen, wie sie der Befragte faktisch in seinem Kontext erlebt. • Die Messung von Einstellungen ist neben der aktuellen physischen und psychischen Verfassung des Befragten oft auch abhängig vom jeweiligen sozialen Setting der Befragung bzw. von der konkreten Interviewerpersönlichkeit (Alter, Geschlecht, Kleidung und Sprache, unbewusstes oder bewusstes Aussenden von bestimmten Signalen oder Hinweisen usw.). Probleme der Gültigkeit entstehen deshalb u. U. dann, wenn prestigegeladene oder als indiskret empfundene Fragen gestellt werden, die möglicherweise keine sachliche, sondern eher eine sozial erwünschte oder ausweichende Antwort finden. • Da es - wenigstens in modernen Gesellschaften - keine »einheitliche Sprache mit gleichartigem Stimuluscharakter« (Scheuch) gibt und somit das Begriffsverständnis (Semantik) oder die Abstraktionsfähigkeit oft von der Zugehörigkeit zu einer sozialen Schicht abhängig ist, sind große Befragungen (z. B. von Bevölkerungsquerschnitten) von den Methoden wie den Ergebnissen her auch unter diesem Aspekt nicht unproblematisch. • Schließlich werden Umfragen von einer kritischen Öffentlichkeit im Hinblick auf die Datenauswertung und Datennutzung zunehmend gesellschaftspolitisch problematisiert. Für viele Bürgerinnen und Bürger sind die Verwertungsprozesse von erhobenen Daten nicht mehr durchschaubar. Ungeachtet der Datenschutzgesetze, der Unbedenklichkeitsbescheinigungen von Datenschutzbeauftragten und der ohnehin in der Regel zugesicherten Anonymisierung wächst die Angst vor Datenpannen bzw. Datenvernetzungen und unkontrollierbarer Überprüfung persönlicher Bereiche, die zum »gläsernern Bürger« führen können, so dass die Auskunftsbereitschaft vieler Probanden entsprechend abnimmt. <?page no="219"?> 219 Trotz dieser und anderer Bedenken erweisen sich aber Befragungen nach wie vor als eine zentrale Möglichkeit, bestimmte Aspekte und Ausschnitte der komplexen sozialen Wirklichkeit zu untersuchen. Hinzu kommt, dass es in vielen Fällen - nicht zuletzt aus Kostengründen - keine methodische Alternative gibt. Ansonsten werden eigentlich die Schwierigkeiten der Planung und Durchführung von seriösen Befragungen eher unter-, die Aussagekraft der erhobenen Befragungsdaten dagegen eher überschätzt. Insbesondere bei der Interpretation von Befragungsergebnissen und den hierauf gründenden Schlussfolgerungen sind deshalb die vorgenannten einschränkenden Argumente sorgfältig zu berücksichtigen. Scheuch (1973, 70 f.) definiert die Befragung als »ein planmäßiges Vorgehen mit wissenschaftlicher Zielsetzung, bei dem die Versuchsperson durch eine Reihe gezielter Fragen oder mitgeteilter Stimuli [das können z. B. non-verbale Reize wie die Darbietung von Figuren, Karten oder Bildern sein, H. P. H.] zu verbalen Informationen veranlasst werden soll«. Wie bei den anderen Methoden auch hängt hierbei die formale und inhaltliche Qualität einer Fragebogenerhebung oder eines Interviews entscheidend ab von der Art des Forschungsziels und seiner mittels Indikatoren zu leistenden Übersetzung in erfragbare Sachverhalte. Darüber hinaus sind bei der praktischen Anwendung dieser Forschungstechnik folgende Punkte zu klären: a) Befragungssituation Befragungen können mündlich (in »face-to-face«-Situationen oder telefonisch) und schriftlich erfolgen, wobei jedes Verfahren Vor- und Nachteile hat. Bei der direkten »face-to-face«-Befragung stellt ein, in der Regel speziell geschulter Interviewer einer Person oder auch einer zu diesem Zweck zusammengerufenen Gruppe Fragen und kann etwaige Gesprächsstörungen von außen unmittelbar kontrollieren. Darüber hinaus können vom Interviewer hier auch spezielle Befragungsmaterialien wie Auswahllisten, Bilder, Antwortvorgaben, Entscheidungskarten u. Ä. eingesetzt werden. Diese klassische Form der unmittelbaren Befragung ist indessen meist recht kosten- und zeitintensiv. Daneben steht das <?page no="220"?> 220 Zeit sparendere telefonische Interview, das auch bei größeren Befragungen noch eine Alternative darstellen kann und außerdem den Vorzug einer besseren Supervision der Interviewer durch die Projektleitung hat. Beide mündlichen Befragungsformen werden in zunehmendem Maße computergestützt durchgeführt, wobei die Antwortdaten vom Interviewer direkt in die entsprechende Maske des auf dem Laptop, Tablet-PC oder PDA gespeicherten Fragebogens eingegeben werden (CAPI - Computer Assisted Personal Interview / CATI - Computer Assisted Telephone Interview). Aus finanziellen Gründen dominieren jedoch schriftliche Befragungen. Denn als Folge verbesserter und befragtenfreundlicherer Erhebungstechniken erscheint es vielen Projektleitern akzeptabel, dass die Versuchspersonen selbständig, d. h. ohne externe Vermittlungshilfe oder Rücksprachemöglichkeit einen Fragebogen ausfüllen. Dies setzt jedoch in besonderem Maße voraus, dass die gestellten Fragen präzise und gleichzeitig im Hinblick auf die Zielgruppe möglichst verständlich formuliert sind. Auch hier wird in den letzten Jahren vor allem in der Markt- und Media- Forschung mit rechnergestützten Selbstinterviews (CASI - Computer Assisted Self Interviewing) gearbeitet, bei denen der Proband auf einem Laptop/ Pentop mittels Stifteingabe ein vorstrukturiertes Frageprogramm beantwortet. Es ist zwar kostengünstiger, Fragebögen per Post zu verschicken oder sonstwie zu verteilen (empfohlenermaßen mit frankiertem Rücksendeumschlag), doch ist bei diesem Vorgehen mit einer höheren Verweigerungsrate bzw. Ausfallquote (ca. 1/ 3 der verteilten Fragebögen) zu rechnen als beim Aufsuchen der zu Befragenden durch Interviewer. Auch sind bei diesem Verfahren in der Regel mindestens zwei schriftliche Mahnungswellen erforderlich. Trotzdem ist hier im Allgemeinen die Ausschöpfungsquote im Vergleich zu den mündlichen Befragungen niedriger. - Um diese Nachteile abzufedern, wird immer häufiger auch eine Kombination von schriftlichen und telefonischen Befragungsverfahren eingesetzt (Total-Design-Method). Seit den 1990er-Jahren werden schließlich auch Online-Befragungen durchgeführt. Personen, die in der Regel nach statisti- <?page no="221"?> 221 schen Kriterien ausgewählt wurden, werden dabei zunächst per E-Mail kontaktiert, über die Befragung informiert (z. B. anhand einer eigens zum Forschungsprojekt erstellten Website) und dann um ihre Mitarbeit gebeten. b) Standardisierungsgrad Befragungen können auch mehr oder weniger standardisiert sein. Beim echten, d. h. völlig offenen und freien Interview ist nur der Themenbereich als allgemeines Erkenntnisziel der Befragung grob vorgegeben. Der Interviewer kann also hier sensibel den Inhalt sowie auch situativ angemessen den Verlauf der Befragung gestalten, wofür er allerdings ein hohes Maß an Einfühlungsvermögen, Gesprächsgeschick sowie an Kenntnissen über das Forschungsziel und den theoretischen Rahmen benötigt. Ein solches nicht-standardisiertes Interview hat meist eine deutlich explorative Funktion, es dient also primär der qualitativen Auslotung eines bislang noch wenig erforschten Problemfeldes. Als bei qualitativen Projekten zunehmend eingesetzte Befragungsform gilt hierbei das narrative Interview oder das Tiefeninterview, bei dem beispielsweise die Interviewpartner unter minimaler Gesprächslenkung aufgefordert werden, spontan Geschichten zu ihrer Biografie, zu ihrer Rolle bei bestimmten politischen Prozessen oder anderen erlebten Ereignissen zu erzählen. Das gelenkte oder fokussierte, halbstandardisierte Interview erfordert dagegen für die anzusprechenden Themenbereiche einen Interviewleitfaden, anhand dessen der Interviewer die Fragen dann situationsadäquat variieren und nach Bedarf auch zusätzliche Sondierungsfragen einbringen kann. Auch hierfür ist ein entsprechendes fachliches Qualifikationsniveau des Interviewers die entscheidende Voraussetzung. Der Wunsch nach größtmöglicher Formalisierung führt schließlich zum standardisierten Interview. Über eine »Fragenbatterie« sind hier Wortlaut und Reihenfolge der Fragen eindeutig (und meist schriftlich) festgelegt; thematische Improvisationen seitens des Interviewers sind nicht erlaubt. Zwar können die einzelnen Fragen prinzipiell offen (Antworten können frei formuliert werden) oder geschlossen (Antwortalternativen sind vorgegeben) <?page no="222"?> 222 sein, doch werden in der Regel bei standardisierten Befragungen aus Gründen der Auswertbarkeit geschlossene Fragen bevorzugt. Beim voll strukturierten bzw. komplett standardisierten Interview wird dann zusätzlich noch das verbale und nonverbale Reaktionsverhalten des Interviewers detailliert vorgeschrieben. c) Einzelbefragung, Gruppeninterview und Delphi-Methode Befragungen können je nach Forschungsziel als Einzelbefragung und/ oder auch als Gruppeninterview (Gruppendiskussion) durchgeführt werden. Handelt es sich eher um subjektbezogene Fragestellungen (d. h. Einstellungen, Meinungen usw. der Versuchspersonen sollen erforscht werden), wird die Einzelsituation die Regel sein. Handelt es sich dagegen um eher objektbezogene Befragungen (z. B. Schüler werden über den Unterrichtsstil eines Lehrers, über das Schulklima oder über die Gestaltung des Pausenhofes befragt), dann ist auch ein halb- oder nicht-standardisiertes Gruppeninterview möglich, das heute (eine zuvor eingeholte Zustimmung der Befragten selbstverständlich vorausgesetzt) üblicherweise mittels Videoaufzeichnung dokumentiert wird. Seit den 1990er-Jahren gelangte auch in Deutschland die in den USA entwickelte sogenannte Delphi-Methode als professionelle Sonderform der Expertenbefragung zunehmend zur Anwendung. Die Methode verdankt ihren Namen dem als Entscheidungshilfe in der griechischen Antike angesehenen »Orakel von Delphi« und dient dazu, mittels eines systematischen, mehrstufigen Befragungsverfahrens bzw. einer Schätzmethode zukünftige Ereignisse, Trends, Entwicklungen oder Innovationen möglichst gut prognostizieren zu können. Hierbei handelt es sich zunächst formal um eine hoch strukturierte, immer häufiger auch schon computergestützte und via Internet arrangierte Kommunikation zwischen Projektleiter und den einzelnen Experten. Ziel dieser Befragungsform ist es, aus anonymisierten schriftlichen Einzelbeiträgen der an einem bestimmten Forschungsprozess Beteiligten, z. B. von Experten unterschiedlicher oder gleicher Fachrichtungen, über mehrere Befragungs- und Evaluationsstufen hinweg synthetisch aufbereitete Ideenfindungen und Lösungen für komplexe Problemstellungen wie z. B. gesellschaftliche <?page no="223"?> 223 Folgen bestimmter ökonomischer oder politischer Entscheidungen zu erarbeiten. d) Häufigkeit der Befragung: Panel oder Survey Neben der einmaligen Befragung bestimmter Personen oder Gruppen bedient man sich insbesondere in der Markt- und Meinungsforschung noch der sogenannten Panel-Methode. Dabei geht es um die Befragung einer einmal ausgewählten Personengruppe mit dem gleichen Erhebungsinstrument zum gleichen Sachverhalt in mehr oder weniger gleichmäßigen Zeitabständen. Ziel eines solchen Verfahrens ist es also, beispielsweise Änderungen von Einstellungen und Verhaltensweisen im Zeitverlauf zu analysieren. Dieses Befragungsverfahren ermöglicht damit eine diachrone Analyse (Längsschnitt) der interessierenden Untersuchungsvariablen unter veränderten Umweltbedingungen oder neuen Außeneinflüssen. Mit einem Panel lassen sich somit insbesondere die kurz- und langfristigen Effekte sozialen Wandels empirisch abbilden. Seit 1984 wird in der Bundesrepublik Deutschland beispielsweise das multidisziplinäre und am Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) in Berlin angesiedelte »Sozio-ökonomische Panel« (SOEP) durchgeführt, das ab 1990 auch auf die neuen Bundesländer ausgeweitet wurde und bei dem durch die jährlich wiederholte Befragung von zurzeit etwa 30.000 Probanden in bis zu 11.000 Haushalten der Wandel in den Lebensbedingungen und -weisen sowohl im Verlauf des Lebens von Individuen sowie im Zusammenhang ihrer familialen bzw. partnerschaftlichen Zugehörigkeiten kontinuierlich beobachtet und analysiert wird. Kritisch bei diesem Verfahren sind die meist recht hohen Kosten und die nicht zu beeinflussende Panel-»Mortalität« (neben Todesfällen auch Ausfälle von Probanden, Antwortverweigerungen u. Ä.), die Repräsentativitätsverzerrungen auslösen kann und eine zeitintensive »Panelpflege« erfordert. Als weitere Panelprobleme gelten bestimmte psychische Effekte, die durch wiederholte Befragung derselben Versuchsperson hervorgerufen werden und zu verändertem Reaktionsverhalten führen können. <?page no="224"?> 224 Als Variante des Paneldesigns gilt das Survey, also eine Übersichtsstudie oder Trendanalyse, die auch als unechte Panel-Untersuchung bezeichnet wird. Im Unterschied zum Panel ist das Survey eine wiederholte (replikative)Untersuchung(Follow-up-Studie) ein und desselben Problems mit zeitlichem Abstand, jedoch bei verschiedenen Stichproben. Damit entfällt die beim Panel gegebene Möglichkeit, Veränderungen bei einzelnen Individuen identifizieren zu können. Lediglich Veränderungen zwischen den jeweiligen Gesamtheiten (Populationen, Kohorten) der Befragten sind damit also feststellbar. Auf der anderen Seite empfiehlt sich jedoch (vor allem im Vergleich zum kostenintensiveren Panel) bei vielen Untersuchungen das Survey unter forschungsökonomischen Gesichtspunkten. Als Survey-Beispiele für gesellschaftliche Dauerbeobachtungen (»Social Monitoring«) seien hier genannt • die seit 1961 im Zusammenhang mit den Bundestagswahlen erfolgenden Wahlstudien, die Aufschluss geben über die Bedingungen des Wählerverhaltens und über wahlentscheidende Faktoren, • die von 1978 bis 1998 in unregelmäßiger Folge erhobenen sechs Wohlfahrtssurveys zur Entwicklung der aus objektiven Lebensbedingungen und subjektiven Bewertungen resultierenden Lebensqualität der Bevölkerung, • die seit 1980 in zweijährigem Turnus durchgeführte Allgemeine Bevölkerungsumfrage der Sozialwissenschaften (ALL- BUS) mit repräsentativen Stichproben von jeweils ca. 2.800 bis 3.500 Befragten oder • der 1988 erstmals durchgeführte und vom Deutschen Jugendinstitut (DJI) betreute Familiensurvey zum Wandel und zur Entwicklung familialer Lebensformen (zuletzt 3. Welle 2000). e) Fragebogenkonstruktion Bei der Entscheidung für ein standardisiertes Befragungsverfahren wird die Konstruktion eines Fragebogens notwendig. Hierbei sind einige generelle Grundsätze zu beachten: • Die Fragen sollen im Hinblick auf den sachlichen Zweck des hypothetischen Hintergrunds möglichst einfach formuliert <?page no="225"?> 225 sein. Der Befragte soll sich also, was Begrifflichkeit, Wissensstand, Abstraktionsniveau und Erinnerungsvermögen betrifft, nicht überfordert fühlen. • Die Fragen sollen dementsprechend eindeutig sein und präzise das erfassen, was abgefragt bzw. gemessen werden soll. • Schließlich dürfen Fragen nicht suggestiv sein, d. h. sie sollten so neutral wie möglich abgefasst werden. Neben der bereits oben genannten Möglichkeit, Fragen offen oder geschlossen zu formulieren, können noch direkte oder indirekte Frageformen unterschieden werden. Gerade bei sensiblen und heiklen Themen werden indirekte Fragen bevorzugt, indem z. B. eine kleine Geschichte erzählt wird, zu der dann projektiv Stellung bezogen werden kann. Weitere zu beachtende Besonderheiten bei der Fragebogenkonstruktion sind auch • die Formulierung der Einleitungsfrage als »Eisbrecher«, • geschickte Übergangsfragen zur Erleichterung eines Themenwechsels, • Ablenkungs- und Pufferfragen zur Verhinderung unerwünschter Ausstrahlungseffekte bereits angesprochener Themen, • Filterfragen zur Ausscheidung bestimmter, für den Befragten irrelevanter Fragen oder Fragengruppen oder • Kontrollfragen zur Aufdeckung von Widersprüchen bzw. zur Prüfung der Aufrichtigkeit der Antworten. Zu Einzelheiten der anwendungsorientierten Gestaltung solcher methodologischer »Raffinessen« wird auch hier auf die nachfolgende Literaturempfehlung verwiesen. Im Gegensatz zu einer bei fachfremden Anwendern weit verbreiteten Ansicht ist der Aufbau eines brauchbaren Fragebogens und der sachgemäße Umgang mit den erhobenen Daten ohne beratende Unterstützung durch sozialwissenschaftliche Experten eine recht schwierige, oft unlösbare Aufgabe. Die tatsächlichen Konstruktionsprobleme und Auswertungsfragen sind so vielseitig, dass sich inzwischen eine professionelle Methodenlehre des Interviews entwickelt hat, die ein System von Regeln bereitstellt, <?page no="226"?> 226 Fehlerquellen so weit wie möglich auszuschalten und den Forschungsprozess transparent und kontrollierbar zu machen. Probleme und Fehlerquellen ergeben sich vor allem daraus, dass die Befragung ein kommunikativer Prozess in einer nicht alltäglichen Situation ist, der je nach Gegenstand der Befragung und der kommunikativen bzw. interaktiven Relation zwischen Interviewer und befragter Person beeinflusst werden kann. Das heißt mit anderen Worten, dass sich die erhobenen Daten erst als Reaktion auf die Fragen des Forschers ergeben (reaktive Methode). Außerdem werden bei Befragungen nur Aussagen, eventuell auch Einstellungen und Meinungen bzw. Verhaltensdispositionen, nicht jedoch tatsächliches Verhalten abgebildet. Eine kritische Distanz des Forschers gegenüber den Datenerhebungs- und Auswertungsverfahren ist deshalb bei der Interpretation und Verwertung der Befunde unabdingbare Voraussetzung, da sonst die Möglichkeit besteht, dass artifizielle, in der sozialen Wirklichkeit nicht vorhandene, jedoch durch Erhebungs- und Auswertungsfehler produzierte Befunde für Abbildungen der faktischen gesellschaftlichen Realität gehalten werden. Gerade weil Befragungsergebnisse immer stärker auch als Argumentations- und Entscheidungshilfen in Politik, Verwaltung, Planung sowie in den Medien herangezogen werden, muss sich jeder, der in irgendeiner Form damit konfrontiert wird, vergegenwärtigen, dass solche Befunde immer nur vor dem jeweiligen Hintergrund ihrer seriös offen zu legenden Methodendiskussion und konkreten Erhebungs- und Auswertungsprobleme beurteilt werden können. Zur vertiefenden und ergänzenden Lektüre Peter Atteslander (2010): Methoden der empirischen Sozialforschung. (Kap. 4 »Befragung«, S. 109-170). 13. Aufl. ESV: Berlin. Andreas Diekmann (2007): Empirische Sozialforschung. Grundlagen, Methoden, Anwendungen. (Kap. X »Befragung«, S. 434-547). 18. Aufl. Rowohlt: Reinbek. Sabine Kirchhoff, Sonja Kuhnt, Peter Lipp & Siegfried Schlawin (2010): Der Fragebogen. Datenbasis, Konstruktion und Auswertung. (bes. <?page no="227"?> 227 Kap. 10 »Vorsicht Falle: Gesammelte Tipps«, S. 113 ff.). 5. Aufl. VS: Wiesbaden. Elisabeth Noelle-Neumann & Thomas Petersen (2005): Alle, nicht jeder. Einführung in die Methoden der Demoskopie. (vor allem Kap. I »Das demoskopische Interview«, S. 59-92, Kap. II »Der Fragebogen«, S. 93-207 und »Nachwort: Wie erkennt man Qualität in der Umfrageforschung? «, S. 612-618). 4. Aufl. Springer: Berlin, Heidelberg. Rolf Porst (2011): Fragebogen. Ein Arbeitsbuch. (vor allem Kap. 1 »Einleitung«, S. 9-16). 3. Aufl. VS: Wiesbaden. Erwin K. Scheuch (1967): Das Interview in der Sozialforschung. In René König (Hrsg.), Handbuch der empirischen Sozialforschung. Band 1, S. 136-196. Enke: Stuttgart. Reto U. Schneider (2006): »Ja. Nein. Weiss nicht«. In NZZ Folio: Statistik, 01/ 2006. Zürich. Rainer Schnell, Paul B. Hill & Elke Esser (2013): Methoden der empirischen Sozialforschung. (Kap. 7.1 »Befragung«, S. 315-380). 10. Aufl. Oldenbourg: München. 4.4.3 Sekundäranalyse Bei der Sekundär- oder auch Reanalyse (secondary analysis) handelt es sich um eine sozialwissenschaftlich weit verbreitete Methode, die bereits von anderen Forschern oder Institutionen erhobenen, meist quantifizierten Daten oder Datensammlungen (Primärdaten) für eigene Fragestellungen zu nutzen. Im Grunde genommen handelt es sich bei jeder am Schreibtisch produzierten Forschung um eine Sekundäranalyse, wenn bereits publizierte oder sonstwie über Forschungsinfrastrukturen zugängliche Daten für eigene Fragestellungen aggregiert und neu ausgewertet werden. Hierbei kann es sich um die amtliche Statistik wie dem Datenpool von GENESIS (= »Gemeinsames Neues Statistisches Informationssystem« des Statistischen Bundesamtes und der Statistischen Landesämter), um in öffentlichen Verwaltungen anfallende prozessproduzierte Datensätze (z. B. Immatrikulationen und Exmatrikulationen bei den Studierendensekretariaten von Hochschulen und Universitäten, Beantragung von Personalausweisen und Reisepässen bei kommunalen Bürgerbüros oder Pass- <?page no="228"?> 228 ämtern) oder auch um nichtamtliche Datensätze abgeschlossener Umfragen oder empirischer Untersuchungen handeln, die in entsprechenden Datenpools wie dem in Mannheim, Köln und Berlin angesiedelten Leibniz Institut für Sozialwissenschaften GESIS (mit Forschungsdaten- und Kompetenzzentren wie »ALLBUS«, »Internationale Umfrageprogramme«, »Wahlforschung« u. Ä.) als eine Art kollektiver Besitz früher oder später der wissenschaftlichen Öffentlichkeit zur Neuaufbereitung zur Verfügung stehen. Besonders im Bereich international vergleichender Forschung hat die quantitative Sekundäranalyse zur Überprüfung und Kumulierung von Ergebnissen in den letzten Jahren an Bedeutung gewonnen. Dagegen erscheint die analytische Weiternutzung qualitativ (z. B. durch biografische Interviews) gewonnener Daten aufgrund von Validitätsproblemen sowie datenschutzrechtlicher und forschungsethischer Fragen mit manchen Einschränkungen verbunden. Da das jeweilige Datenmaterial von den Untersuchungszielen der Primärerhebungen abhängig ist, sind eigenständigen Prob lemformulierungen und Fragestellungen unter einem neuen theoretischen Bezugssystem bei diesem Vorgehen allerdings inhaltliche und methodische Grenzen gesetzt. Der Vorteil der Sekundäranalyse besteht jedoch in der Ersparnis von Zeit und Kosten, die für die Primärerhebung und die Aufbereitung des Datenmaterials angefallen sind. Bewährt haben sich Sekundäranalysen von Umfragen auch beim Design sogenannter Replikationsstudien, bei denen gleiche Fragen mit nominell gleichen Grundgesamtheiten zu verschiedenen Zeitpunkten wiederholt werden. Dies lässt dann die Abbildung von Zeitreihen zu, mittels derer beispielsweise der soziale Wandel von Werteinstellungen oder Wahlpräferenzen bei bestimmten Bevölkerungsgruppen beschrieben werden kann. Zur vertiefenden und ergänzenden Lektüre Werner Beutelmeyer & Gabriele Kaplitza (1999): Sekundäranalyse. In Erwin Roth & Heinz Holling (Hrsg.), Sozialwissenschaftliche Methoden, S. 293-308. 5. Aufl. Oldenbourg: München, Wien. <?page no="229"?> 229 Rolf Porst (2000): Praxis der Umfrageforschung. Erhebung und Auswertung sozialwissenschaftlicher Umfragedaten. S. 130-153. 2. Aufl. Teubner: Stuttgart. 4.4.4 Inhaltsanalyse Eine der Beobachtung verwandte, allerdings vergleichsweise seltener angewandte Methode der Sozialforschung ist die Inhaltsanalyse (content analysis) - auch Text- oder Dokumentenanalyse genannt. Sie geht davon aus, dass Kommunikationen schriftlicher, mündlicher oder auch bildlicher Art wichtige soziale Funktionen haben und dass die in manifest gewordenen Kommunikationen übermittelten Symbole Indikatoren für Einstellungen, Meinungen, Werthaltungen, Tendenzen und Wirkungsabsichten, für Vorurteile oder andere nicht unmittelbar feststellbare Eigenschaften des jeweiligen Autors darstellen. Im Mittelpunkt der Inhaltsanalyse steht die von einem ihrer Begründer, dem amerikanischen Politologen und Kommunikationsforscher Harold D. Laswell (1902-1978), formulierte Frage: »Wer teilt wem, was, wie, mit welcher Absicht und mit welcher Wirkung mit? « Da Träger dieser Inhalte die verschiedensten Medien und Formate sein können, zählen zu den Untersuchungsobjekten der Inhaltsanalyse beispielsweise Gesprächsprotokolle, Verträge, Reden, archivierte Korrespondenz, Tagebücher und Autobiografien, bestimmte Zeitungsartikel oder ganze Jahrgänge von Zeitungen oder Zeitschriften, Plakate oder Annoncen, Prospekte und Rundbriefe aller Art, bestimmte Funk- oder Fernsehsendungen aber auch Schlagertexte oder Graffiti auf Häuserwänden, subkulturelle Sprüche oder Autoaufkleber, Internet-Blogs usw. David McClelland (1917-1998) hat beispielsweise in einer inzwischen zu den klassischen Inhaltsanalysen zählenden Studie versucht, anhand einer interkulturell vergleichenden Inhaltsanalyse von Volksmärchen und Kindergeschichten einen Zusammenhang zwischen Leistungsmotivation und wirtschaftlicher Entwicklung eines Landes nachzuweisen (The Achieving Society, 1961; dt. Die Leistungsgesellschaft, 1966). Insofern wird deut- <?page no="230"?> 230 lich, dass die Inhaltsanalyse methodisch einen recht breiten Anwendungsbereich bietet. Auch ist ihre geläufige Bezeichnung nicht ganz korrekt, da auch formale Merkmale von Mitteilungen wie Umfang, Stil oder Gestaltung untersucht werden. Man bedient sich ihrer zur quantitativen Beschreibung der Inhalte und auch der Formen bzw. zur systematischen qualitativen Analyse der sozialen Bedeutung und Wirkungen von bereits vorhandenen Mitteilungen oder eigens zum Untersuchungszweck erstellten Texte (z. B. Schulaufsätze). Anwendungsbereiche sind Forschungen nicht nur in der Soziologie und Sozialpsychologie, sondern in interdisziplinärer Erweiterung beispielsweise auch in der Literatur- und Kunstwissenschaft, Erziehungswissenschaft, Politikwissenschaft und Geschichte, ja selbst in der Kriminalistik z. B. bei der Klärung der Urheberschaft anonymer Texte oder Videobotschaften terroristischer Gruppen anhand von Mustervergleichen; in der Medien- und Kommunikationsforschung ist sie zu einer der wichtigsten Untersuchungsmethoden überhaupt avanciert, zumal mit fortschreitender Mediatisierung der Gesellschaften Informationen aus allen Lebensbereichen meist schon in digitaler Form via Internet verfügbar sind und sich damit auch computergestützten Auswertungsmodulen ganz neue technische Möglichkeiten eröffnen. In der Anwendung dieses Verfahrens muss in der Regel zu jedem Forschungsproblem eine spezielle methodische Variante entwickelt werden. Dabei werden zunächst mit dem Ziel, die vorhandene Komplexität des Untersuchungsmaterials zu reduzieren, objektiv vorgefundene und feststellbare Eigenschaften von Kommunikationsinhalten, wie die Art und Häufigkeit von übermittelten Symbolen (manifester Inhalt), aufgrund theoretischer Überlegungen als Indikatoren formalisiert und entsprechend kodiert. Über die den Indikatoren zugrunde liegenden problemorientierten Hypothesen wiederum lassen sich anhand der Messwerte nicht nur Schlüsse ziehen im Hinblick auf Einstellungen und Wertsysteme von Autoren bzw. Sender, sondern auch in Bezug auf Wirkungen bei Zielgruppen bzw. Empfängern (latenter Inhalt). Analyseeinheiten sind in der Regel bestimmte Wörter, Symbole, Schlagzeilen usw., deren Auftreten und Häufigkeit, Umfang <?page no="231"?> 231 und Intensität gemessen wird. Hierzu ein Beispiel aus der Praxis der Sozialforschung: »Mit einer Mutter wurde ein Interview über ihr Erziehungsverhalten durchgeführt. Die Auswertung der Tonbandabschrift orientierte sich an Dimensionen des Erziehungsverhaltens aus der Erziehungsstilforschung. Jede dieser Dimensionen wurde in Kategorien zerlegt. Schlüsselbegriffe, Beispiele, Prinzipien etc. aus den zu untersuchenden Satzeinheiten des Interviews wurden den Kategorien zugeordnet.Aus dem relativen Vergleich der Kategorienhäufigkeiten zueinander wurde eine vorherrschende Einstellungsdimension zum Erziehungsverhalten erschlossen. Die Gültigkeit des Schlusses kann durch eine kommunikative Validierung überprüft werden, indem man entweder den Interviewpartner zum Ergebnis der Analyse Stellung nehmen lässt oder dessen Einstellung mit dem tatsächlichen Verhalten konfrontiert (Handlungsvalidierung)« (Krapp, Hofer & Prell 1982, 69). Da dem Forscher in der Regel nur der konservierte Teil eines Kommunikationsprozesses vorliegt, sind Möglichkeiten zur »kommunikativen Validierung« wie in diesem Beispiel eher die Ausnahme. Insofern entstehen häufig praktische Probleme hinsichtlich der Herstellung des Kontextbezugs bzw. der situativen Bedeutungsrekonstruktion des Untersuchungsmaterials. So ist beispielsweise für die Wortfolge »Frische Brise aus dem Osten« nicht nur entscheidend, ob sie im Rahmen eines Wetterberichts, politischer Nachrichten, eines Wirtschaftsreports oder einer Sportreportage steht, sondern auch in welchem tagesaktuellen bzw. zeitgeschichtlichen Zusammenhang, in welchem Medium und möglicherweise auch von welchem Autor bzw. Sender sie benutzt wurde. Da darüber hinaus das grundlegende Textmaterial sehr oft recht umfangreich ist, ergeben sich weitere Probleme hinsichtlich der Repräsentativität der Textauswahl (Stichprobenproblem). Ebenso können Fragen in Bezug auf die Zuverlässigkeit auftauchen, da bei der Einordnung der Einheiten in Kategorien die Interpretationsmaßstäbe der Untersucher sowohl untereinander wie auch im Zeitverlauf variieren können. Die Einhaltungen von Kodierregeln müssen daher vorab durch entsprechende Prüfungen (Pretests) der Intrakoder-Reliabiltät (gleiches Ergebnis bei <?page no="232"?> 232 identischem Kodierer in verschiedenen Kodierphasen) bzw. der Interkoder-Reliabilität (gleiches Ergebnis von verschiedenen Kodierern bei identischem Untersuchungsmaterial) empirisch sichergestellt werden. Durch die Anwendung statistischer Methoden, insbesondere auch durch die Entwicklung maschinenlesbarer Kategoriensysteme für bestimmte Themenbereiche bzw. computergestützter Verfahren der Textkodierung und Textanalyse scheint das Problem der Textmasse heute weitgehend gelöst zu sein; allerdings wird bei diesen automatisierten Verfahren weniger das Problem der Reliabilität als das der Validität diskutiert. Insgesamt jedoch gilt als überragender Vorzug der Inhaltsanalyse, dass ihre Messungen beliebig oft wiederholt werden können und deshalb subjektive Untersuchungsfehler intersubjektiv relativ einfach überprüf- und korrigierbar sind. Drei Ansätze bzw. Anwendungsbereiche können hierbei unterschieden werden: • ein primär formal deskriptiver Ansatz, der sich vor allem auf äußere Merkmale des Untersuchungsmaterials bezieht, • ein eher diagnostischer Ansatz, mit dem versucht wird, aus dem Material Schlüsse (»Inferenzen«) über dessen Entstehungsbedingungen bzw. Motive zu ziehen sowie darüber hinaus • ein prognostischer Ansatz, mittels dessen man anhand des Materials Aussagen über dessen Wirkung auf potenzielle Adressaten bzw. Rezipienten zu formulieren versucht. Während bei den Forschungsmethoden der Beobachtung (4.4.1) und Befragung (4.4.2) das Problem des Einflusses des Beobachters oder des Interviewers auf die Untersuchungsperson nie vollständig gelöst werden kann, lässt die Inhaltsanalyse im Forschungsprozess dagegen keine derartigen Veränderungen zu, so dass man dieses Verfahren auch zu den sogenannten nicht-reaktiven Methoden zählt. Besondere Schwierigkeiten ergeben sich bei der Inhaltsanalyse indessen nach wie vor aus dem Problem, ganz bestimmte qualitative Elemente des Textverständnisses wie zum Beispiel eine feine Ironisierung oder eine subjektiv verfremdete Redeweise analytisch zu erfassen und intersubjektiv überprüfbar zu machen. <?page no="233"?> 233 Zur vertiefenden und ergänzenden Lektüre Peter Atteslander (2010): Methoden der empirischen Sozialforschung. (Kap. 6 »Inhaltsanalyse«, S. 195-224). 13. Aufl. ESV: Berlin. Werner Früh (2015): Inhaltsanalyse. Theorie und Praxis. (Darin Kap. 2 »Inhaltsanalyse als empirische Methode«). 8. Aufl. UVK: Konstanz. Philipp Mayring (2008): Qualitative Inhaltsanalyse. Grundlagen und Techniken. S. 11-41. 10. Aufl. Beltz: Weinheim, Basel. Patrick Rössler (2010): Inhaltsanalyse. (Kap 1 »Wozu quantitative, standardisierte Inhaltsanalysen? «, S. 13-26). 2. Aufl. UVK: Konstanz. Alphons Silbermann (1967): Systematische Inhaltsanalyse. In René König (Hrsg.), Handbuch der empirischen Sozialforschung, Band 1, S. 570-600. Enke: Stuttgart. 4.4.5 Biografische Methode Die biografische Methode will die soziale Wirklichkeit des Alltags durch eine Analyse lebensgeschichtlichen Materials von Individuen und der darin eingeschlossenen Bewertungen, Meinungen, Einstellungen und Ereignisse rekonstruieren. Diese, bereits von den Klassikern der sog. Chicagoer Schule der Soziologie wie William I. Thomas (1863-1947) und Florian Znaniecki (1882- 1958) Anfang der 1920er-Jahre benutzte qualitative Methode, nach der sich objektive gesellschaftliche Bedingungen in subjektiven Bewusstseinsphänomenen spiegeln, hatte bis in die 70er- Jahre des letzten Jahrhunderts lediglich den Status eines Material gewinnenden und Hypothesen generierenden Hilfsinstruments. Sie befand sich damals noch im Schatten einer stark expandierenden quantitativen Sozialforschung sowie des damals dominierenden Theorieansatzes des Strukturfunktionalismus, bei dem ja das soziale System und weniger das handelnde Individuum im Mittelpunkt steht. Insbesondere dann in Reaktion auf diese makrosoziologischen, systemtheoretischen und quantitativen Forschungsansätze sowie als Folge der Renaissance einer phänomenologisch orientierten Soziologie und der Verbreitung des aus der Chicagoer Schule hervorgegangenen Symbolischen Interaktionismus’ entwickelte sich während der 1980er-Jahre die Lebensverlaufsfor- <?page no="234"?> 234 schung als ein eigenständiges, aber gleichfalls interdisziplinär orientiertes Forschungsfeld mit der biografischen Methode als zentraler Analysetechnik. Mit diesem Paradigmenwechsel standen jetzt die sozial Handelnden als Akteure in ihrem Alltag und ihrer Lebenswelt im Fokus soziologischer Betrachtungen. Untersucht wurden seither verstärkt auffällige Lebensverläufe (z. B. in der Devianzforschung) sowie auch einzelne unauffällige, aber als exemplarisch geltende Lebensgeschichten. Da etwa zeitgleich mit der zunehmenden gesellschaftlichen Modernisierung und Differenzierung sowie der damit einhergehenden Pluralisierung und Individualisierung von Lebenswelten sich bisherige »Normalbiografien« auflösen und den Einzelnen die Aufgabe zufällt, ihren Lebenslauf in eigener Regie selbst zu gestalten (»Bastelbiografie«) und damit individuelle Antworten auf sehr komplexe und widersprüchliche Alltagskonfigurationen zu finden, werden die mit der selbst konstruierten biografischen Identität verbundenen sozialen Prozesse auch zu einem spannenden sozialwissenschaftlichen Forschungsfeld. Thematisiert werden hier beispielsweise das Individuum im Schnittpunkt divergierender Rollenanforderungen und normativer Leitbilder oder im Konfliktfeld zwischen institutioneller Steuerung und individueller Handlungsstrategie. Dabei stehen vor allem auch die verschiedenen Statuspassagen im Lebensverlauf mit ihren Sinnkrisen, teilweise riskanten Übergängen, Brüchen und rapiden Wechseln im Zentrum der Biografieforschung. Als Material dieser Methode gelten einerseits geschriebene Lebensläufe und Memoiren oder archivierte Briefe und Tagebücher, die dann insbesondere inhaltsanalytisch ausgewertet werden. Andererseits werden in den letzten Jahren hierzu ergänzend oder alternativ auch narrative Interviews und/ oder offene Leitfadenbzw. Tiefeninterviews eingesetzt, bei denen das Erzählen von Lebensgeschichten und bestimmten lebensgeschichtlichen Ereignissen (oral history) gleichfalls als sinnvoller und ertragreicher Modus der Material- und Datengewinnung gilt. Von der Forschungssystematik her gilt die biografische Methode als qualitative Einzelfallforschung. Der Vorteil dieses Verfahrens liegt in seiner relativ einfachen Praktikabilität; kritisch sind dagegen die durch nachträgliche Rationalisierungen der Pro- <?page no="235"?> 235 banden möglichen Modifikationen oder Verzerrungen autobiografischer Realität. Zwar lässt sich der menschlichen Fähigkeit, die eigene Biografie infolge sich im Lebensverlauf ständig verändernder Bezugspunkte und Reflexionen »sinnhaft« zu (re)konstruieren, nicht grundsätzlich Irrtümlichkeit anlasten. Doch ist hermeneutisch nicht bestimmbar, wann frühere Ereignisse an späteren relativiert oder unangenehme Einsichten etwa im Sinne der Reduktion kognitiver Dissonanz durch angenehmere ersetzt werden. Wenngleich die Art und Weise der subjektiven Verarbeitung sozialer Wirklichkeit für sozialwissenschaftliche Fragestellungen von grundlegender Relevanz ist, wird die Bewertung der Leistungsfähigkeit der biografischen Methode hinsichtlich der Rekonstruktion latenter Sinnstrukturen bei sozialexemplarischen Lebensverläufen noch kontrovers diskutiert. Zur vertiefenden und ergänzenden Lektüre Heinz Bude (1984): Rekonstruktion von Lebenskonstruktionen. Eine Antwort auf die Frage, was die Biographieforschung bringt. In Martin Kohli & Günther Robert (Hrsg.), Biographie und soziale Wirklichkeit. Neue Beiträge und Forschungsperspektiven, S. 7-28. Metzler: Stuttgart. Wolfram Fischer-Rosenthal (1995): Biographische Methoden in der Soziologie. In Uwe Flick, Ernst v. Kardorff u. a. (Hrsg.), Handbuch qualitative Sozialforschung, S. 253-256. 2. Aufl. PVU: München. Werner Fuchs-Heinritz (2009): Biographische Forschung. Eine Einführung in Praxis und Methoden. (Kap. II »Geschchte, Forschungsziele, Kontroversen«, S. 85-213). 4. Aufl. VS: Wiesbaden. Karl Ulrich Mayer (Hrsg.) (1990): Lebensverläufe und sozialer Wandel. (= Sonderheft 31 der Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie). Westdt. Verlag: Opladen. Reinhold Sackmann (2013): Lebenslaufanalyse und Biografieforschung. Eine Einführung. (Kap. 4 »Methoden der Lebenslaufanalyse und Biografieforschung«, S. 67-88). 2. Aufl. VS: Wiesbaden. Jan Szczepanski (1967): Die biographische Methode. In René König (Hrsg.), Handbuch der empirischen Sozialforschung. Band 1, S. 551-569. Enke: Stuttgart. <?page no="236"?> 236 4.4.6 Experiment Nach dem Vorbild der klassischen Naturwissenschaften gilt das Experiment als reaktivste Form und gleichzeitig sicherstes Verfahren zur Feststellung von Kausalbeziehungen bestimmter Sachverhalte im Bereich sozialer Phänomene. Grundlagen der Kausalbeziehungen sind Hypothesen über Sachverhalte, die in theoretischen Konstrukten ihren Ausdruck finden. Die »Übersetzung« dieser theoretischen Konstrukte in adäquate Messvariablen wird »Operationalisierung« genannt. Gemäß eines vorher erstellten Versuchsplans wird mindestens eine unabhängige Variable planmäßig und unter kontrollierten Bedingungen variiert. Dabei werden die Effekte dieser Veränderungen bei einer abhängigen Variablen beobachtet und gemessen. So kann man z. B. den Einfluss verschiedener Unterrichtsmethoden oder die Wirkungen unterschiedlicher Lehrmaterialien (= unabhängige Variable) auf den Lernerfolg der Schüler (= abhängige Variable) experimentell untersuchen. Andere Faktoren, die die abhängige Variable beeinflussen könnten - wie beispielsweise Alter, Geschlecht, Herkunft, Intelligenz oder Motivation - müssen entweder durch planvolle situative Bedingungen konstant oder mittels späterer mathematisch-statistischer Analyseverfahren herausgefiltert werden. Als wesentliche Kennzeichen des Experiments gelten die Planbarkeit (Kontrolle), die Wiederholbarkeit (Replikation) und die Variierbarkeit (»Manipulation«), - Kriterien, die allerdings in der empirischen Sozialforschung oft schwer oder überhaupt nicht erfüllbar sind, da sich im sozialen Bereich künstliche bzw. isolierte, d. h. labormäßige Experimentalsituationen nur sehr bedingt herstellen lassen. Nicht zuletzt aus diesem Grund erfolgen sozialwissenschaftliche Experimente häufiger unter weitgehender Belassung der natürlichen Umwelt (Feldexperiment). Bei diesen so genannten Ex-post-facto-Experimenten ist aufgrund natürlicher sozialer Prozesse die Situationsänderung durch die vermutete Ursache bereits eingetreten. So kann beispielsweise die Sympathiekurve für die XYZ-Partei (abhängige Variable) während verschiedener Phasen eines Wahl- <?page no="237"?> 237 kampfs anhand von Interviews oder auch nachträglichen Aktenstudien bzw. Inhaltsanalysen aus bestimmten Tagesereignissen, veränderten Wahlspots, der Teilnahme des Spitzenkandidaten an einer Fernsehdiskussion oder Ähnlichem, d. h. aus Veränderungen der unabhängigen Variablen, kausal erklärt werden. Mit anderen Worten: Die Rekonstruktion der unabhängigen Variablen hinsichtlich ihrer variierenden Rückwirkungen auf die abhängige Variable erfolgt in der Regel erst im Nachhinein. Während Laborexperimente in der Regel im Hinblick auf die untersuchte Situation ein hohes Maß an interner Gültigkeit beanspruchen können, haben Feldexperimente in natürlichen Situationen den Vorteil höherer externer Gültigkeit, da deren Ergebnisse eher verallgemeinernde Aussagen hinsichtlich realer sozialer Verhältnisse und Zusammenhänge zulassen. Andererseits ist neuerdings gegen diese klassischen experimentellen Verfahrensweisen eingewandt worden, dass sich die meisten konkreten sozialen Phänomene weniger als Ursache-Wirkungs-Folge, sondern eher als systemische Vernetzungen erfassen lassen, - ein anspruchsvolles neues experimentelles Forschungsprogramm, das bislang allerdings erst auf der Modellebene über Computer- Simulation realisiert werden konnte. Darüber hinaus stößt diese Methode aufgrund ihrer starken sozialen Eingriffsmöglichkeiten auf Individuen und Gruppen besonders rasch an forschungsethische und rechtliche Grenzen. Zur vertiefenden und ergänzenden Lektüre Nina Baur & Jörg Blasius (Hrsg.) (2014): Handbuch Methoden der empirischen Sozialforschung. (Darin Jürgen Friedrichs, »Forschungsethik«, S. 81-92).Springer VS: Wiesbaden. Walter Bungard (1988): Die »gute« Versuchsperson denkt nicht. Artefakte in der Sozialpsychologie. Psychologie Verlag: Weinheim. Peter Kriwy & Christiane Gross (Hrsg.) (2009): Klein aber fein! Quantitative empirische Sozialforschung mit kleinen Fallzahlen. (Darin z. B. Nicole J. Saam, »Computersimulationsmodelle für kleine und kleinste Fallzahlen«, S. 23-42). VS: Wiesbaden. <?page no="238"?> 238 Ingeborg Stelzl (1999): Experiment. In Erwin Roth, Klaus Heidenreich & Heinz Holling (Hrsg.), Sozialwissenschaftliche Methoden. S. 108- 125. 5. Aufl. Oldenbourg: München, Wien. Ekkart Zimmermann (2008): Das Experiment in den Sozialwissenschaften. 2. Aufl. VS: Wiesbaden. 4.4.7 Aktionsforschung Die Aktions- oder auch Handlungsforschung (action research) geht in ihrer theoretischen Orientierung auf die amerikanische Human-Relations-Bewegung innerhalb der Organisationssoziologie sowie auf gruppendynamische Überlegungen des Sozialpsychologen Kurt Lewin (1890-1947) vom Massachusetts Institute of Technology zurück und konstituierte sich in den 1970er- und 80er-Jahren in Deutschland unter dem Einfluss der Kritischen Theorie als ein vom damaligen Selbstverständnis her »innovatives« Forschungsprogramm. Ziel dieses Ansatzes war es, die jeweilige soziologische Erkenntnisgewinnung mit einer gleichzeitigen Verbesserung der untersuchten gesellschaftlichen Verhältnisse (z. B. Stadtteilsanierung, Abbau von Ausländerfeindlichkeit durch Gastarbeiterintegration, Resozialisation von Straffälligen, aber auch Innovationen in Bildungsinstitutionen oder Einführung verbesserter Arbeitsbedingungen in Industriebetrieben) zu verbinden. Der Idealfall für diese unmittelbare Verknüpfung von sozialwissenschaftlicher Forschungsmethode und praktischer Sozialreform erschien in der Aufhebung der traditionellen empirischen Trennung von Forschungssubjekt und -objekt durch die Herstellung eines kooperierenden wissenschaftlich-sozialen, quasi »symmetrischen« Beziehungsgefüges zwischen Forschenden und Betroffenen. In bewusster Abkehr von empirischen Forschungsstandards wie »Objektivität« und »Neutralität« sollte sozialwissenschaftliche Forschung vielmehr als »normativ« definiert und konkrete Projekte als »emanzipatorisch« und »politisch« begriffen werden. Die »Forscher« sollten gleichzeitig beobachtende wie aktiv handelnde Teilnehmer an den zu untersuchenden und zu verändernden sozialen Prozessen sein, während die von dem Programm »Betroffe- <?page no="239"?> 239 nen« (z. B. die Slumbewohner) ihrerseits nicht nur als »Datenlieferanten«, sondern auch als »Subjekte« aktiv und kontinuierlich an der Planung, Durchführung und Auswertung der Forschungen beteiligt werden sollten. Sinnvoll erschien diese Methode zunächst vor allem dann, wenn bestimmte soziale Probleme nur unter Mitwirkung der Betroffenen zu lösen waren. Irritationen und Schwierigkeiten entstanden in der Praxis allerdings dadurch, dass hier die »kritische Distanz«, die ja erst eine Intersubjektivität wissenschaftlicher Forschung ermöglicht, gewissermaßen programmatisch aufgekündigt wurde. Damit erschien das prinzipiell gegensätzliche Verhältnis von anwendungsorientierter Soziologie und praktischer Sozialarbeit zum gemeinsamen Wirklichkeitsbereich »Soziale Probleme« entscheidend eingetrübt. Da das soziale Feld durch diese Forschungspraxis bewusst verändert wurde oder werden sollte, war auch eine Hypothesenprüfung mit dieser, seit den 1990er-Jahren eher selten eingesetzten interventionistischen Methode kaum mehr möglich. Zur vertiefenden und ergänzenden Lektüre Günter Endruweit (1981): Beratungsforschung in wissenschaftstheoretischer Sicht. In Heinz Jürgen Kaiser & Hans-Jürgen Seel (Hrsg.), Sozialwissenschaft als Dialog, S. 264-280. Beltz: Weinheim. Jürgen Friedrichs (1990): Methoden empirischer Sozialforschung. (»Aktionsforschung«, S. 370-375). 14. Aufl. Westdt. Verlag: Opladen. Fritz Haag, Helga Krüger & Wiltrud Schwärzel (1986): Aktionsforschung. Forschungsstrategien, Forschungsfelder und Forschungspläne. 2. Aufl. Juventa: München. Kurt Lewin (1953): Die Lösung sozialer Konflikte. (Darin insbesondere den 1946 verfassten Aufsatz »Tat-Forschung und Minderheitenprobleme«, S. 278-298). Christian Verlag: Bad Nauheim. Heinz Moser (1976): Anspruch und Selbstverständnis der Aktionsforschung. In Zeitschrift für Pädagogik, S. 687-693. <?page no="240"?> 240 4.4.8 Soziometrie Unter der im Vergleich zur Aktionsforschung bekannteren soziologischen Forschungstechnik der Soziometrie versteht man ein sozialwissenschaftliches Messverfahren zur quantitativen Erfassung und Darstellung bestimmter affektiver und/ oder funktionaler Aspekte zwischenmenschlicher Beziehungen in einer Gruppe. Ursprünglich wurde dieses Konzept in den 1930er-Jahren in den USA von dem österreichischen Arzt und Psychiater Jacob L. Moreno (1892-1974) entwickelt, der es im Zusammenhang mit den gleichfalls auf ihn zurückgehenden sozialtherapeutischen Formen des »Psychodramas« und »Soziodramas« einsetzte, - zwei Weiterentwicklungen des damals in der klassischen Psychotherapie weit verbreiteten Stegreiftheaters zur Analyse der Beziehungen von Gruppenmitgliedern untereinander bzw. ihrer Abhängigkeiten von sozialen und kulturellen Normen. Inzwischen hat sich die vom ursprünglichen therapeutischen Kontext Morenos gelöste und eigenständig fortentwickelte Methode der Soziometrie überall dort analytisch bewährt, wo Spannungen zwischen formellen (z. B. durch die Arbeitsorganisation vorgeschriebenen) und informellen (d. h. spontan und freiwillig daneben entstehenden) Gruppenstrukturen und -beziehungen entstanden sind (vgl. Abschnitt 3.1.5.2). So findet die soziometrische Methode auch insbesondere in der Betriebssoziologie und in pädagogischen Bereichen Anwendung. Beispielsweise lassen sich mit diesem Diagnoseinstrument in Werkstätten, Büros oder Schulklassen die Kanäle informeller Kommunikations- und Informationsprozesse abbilden und die Bedeutung damit korrespondierender Autoritätspositionen bzw. informeller Führungsstrukturen für das allgemeine Gruppenklima wie für die Leistung der Gruppe und einzelner Gruppenmitglieder erforschen. Moreno versteht dabei die »soziometrische Struktur« als ein Gebilde der »sozialen Atome« (d. h. der Individuen und ihrer Beziehungen zu anderen) und der »sozialen Moleküle« (d. h. der psycho-sozialen Verflechtungen), die er Netzwerke (»networks«) nennt. Mit Hilfe eines relativ einfach durchführbaren, sogenannten soziometrischen Tests sollen über das, für Moreno soziologisch wie <?page no="241"?> 241 politisch zentrale Medium der Wahl (»choice«) die sozialen Wechselbeziehungen zwischen Gruppenmitgliedern über die Kriterien der Bevorzugung, Gleichgültigkeit und Ablehnung gemessen werden. Dies wird dadurch zu erreichen versucht, dass die Gruppenmitglieder hinsichtlich ihrer Interaktionspräferenzen oder faktischen Interaktionen meist schriftlich befragt werden, welche anderen Mitglieder der Gruppe sie am meisten mögen oder nicht mögen, als Partner in bestimmten Situationen (z. B. bei der Arbeit, in der Freizeit, im Urlaub) bevorzugen oder ablehnen oder mit wem sie üblicherweise interagieren und kommunizieren und mit wem nicht. Beim Psychodrama, der »Themenzentrierten Interaktion« (TZI) nach Ruth Cohn oder in Teamtrainings kann dies auch nonverbal erfolgen, indem die Gruppenmitglieder durch ihre räumliche Konstellation in einer bestimmten Situation (»Proxemik«) oder Berührungen mit ihren Körpern abstimmen, wer beispielsweise ihren »Fall« mitbearbeiten darf. Es werden also Wahlakte aller Art erfragt, die sich teils undifferenziert manifestieren können oder auch schon direkt auf die affektive Dimension Beliebtheit/ Sympathie (»Wen würdest Du als besten Freund ansehen? «) oder auf die funktionale Ebene Leistungsfähigkeit/ Tüchtigkeit (»Mit wem möchtest Du bei dieser Aufgabe am liebsten zusammenarbeiten? «) der Gruppe beziehen. Vielfach werden auch durch entsprechende Fragen nach den mutmaßlichen Ergebnissen des soziometrischen Tests, bezogen auf die eigene Person, die beziehungsmäßigen Erwartungshaltungen der Gruppenmitglieder miterhoben (»Was glaubst Du, wie oft Du selbst in diesem Zusammenhang genannt wirst? «). Aus Gründen der Auswertbarkeit bzw. Übersichtlichkeit wird bei soziometrischen Tests die Anzahl der Wahlmöglichkeiten häufig begrenzt, wodurch allerdings dann auch keine zuverlässigen Aussagen mehr über das ganze »emotionale Ausdehnungsvermögen« bzw. den Grad der »sozialen Expansion« (Moreno) der Gruppenmitglieder ermöglicht werden. So könnte es beispielsweise analytisch durchaus aufschlussreich sein, wenn eine Person nur einer einzigen anderen Person in ihrer Gruppe mit Sympathie begegnet, gleichzeitig aber zehn andere Gruppenmitglieder ablehnt. <?page no="242"?> 242 Die Häufigkeit, mit der einzelne Gruppenmitglieder »positive Wahlen« (+) oder »negative Wahlen« bzw. Ablehnungen (-) auf sich vereinigen, wird zunächst tabellarisch in eine Soziomatrix übertragen. Tabelle 2 zeigt hierzu beispielsweise die Soziomatrix einer Jugendgruppe, bei der die Anzahl der Wahlmöglichkeiten nicht begrenzt war. Tab. 2: Soziomatrix einer Jugendgruppe Gewählte Anzahl der abgegebenen Wahlen 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 + - Ges. Wählende 1 / + + + + - - 4 2 6 2 + / + + - 3 1 4 3 + + / - 2 1 3 4 + + / - 2 1 3 5 + + / 2 0 2 6 + + / - 2 1 3 7 - / + + - 2 2 4 8 + / + 2 0 2 9 - - / - 0 3 3 10 + + / - 2 1 3 11 + + / 2 0 2 12 + + / - 2 1 3 13 - - - - / 0 4 4 + 6 2 3 3 3 0 4 2 2 0 0 0 0 - 1 1 1 0 0 0 3 1 0 0 0 1 9 S 7 3 4 3 3 0 7 3 2 0 0 1 9 Erhaltene Wahlen (rekonstruiert von Wellhöfer 1984, 134 nach Höhn & Seidel 1976) <?page no="243"?> 243 Die Mitglieder der untersuchten Gruppe erscheinen dabei in der Randspalte als Wählende, in der Randzeile als Gewählte. Die Symbole in den einzelnen Matrixzellen informieren darüber, wer von wem gewählt oder abgelehnt wurde und wer nicht. Eine derartige Soziomatrix kann nun in unterschiedlicher Weise weiterbearbeitet werden. So können auf ihrer Grundlage einzelne Gruppenpositionen statistisch näher charakterisiert werden, wobei z. B. die Spaltensumme für die Kennwertberechnung des soziometrischen Status’ (S) der einzelnen Gruppenmitglieder (im Hinblick auf die Kriterien Sympathie und/ oder Leistung) herangezogen werden. Hierbei bedient man sich der folgenden Formeln S + = Anzahl der erhaltenen positiven Wahlen n - 1 bzw. S - = Anzahl der erhaltenen negativen Wahlen n - 1 wobei n der Anzahl der Gruppenmitglieder entspricht. Der so berechnete S-Wert schwankt zwischen 0 und 1. Falls die Anzahl der möglichen Wahlakte beim soziometrischen Test nicht begrenzt war, lässt sich in ähnlicher Weise über die Zeilensummen die soziale Expansion (E) der einzelnen Individuen anzeigen. Hier gelten die Formeln E + = Anzahl der von X abgegebenen positiven Wahlen n - 1 bzw. E - = Anzahl der von X abgegebenen negativen Wahlen n - 1 Um den Grad des Zusammenhalts einer Gruppe zu bestimmen, wird in diesem Rahmen häufig auch der Gruppenkohäsionsindex (K) nach folgender Formel ermittelt: K = Zahl der gegenseitigen Wahlen Zahl der prinzipiell möglichen gegenseitigen Wahlen <?page no="244"?> 244 Bei unbeschränkten Wahlmöglichkeiten berechnet sich dabei die Anzahl der potenziellen zwischenmenschlichen Wahlakte in einer Gruppe mit bekannter Mitgliedzahl (n) mit Hilfe der Formel n (n - 1) 2 War die Anzahl der Wahlen beim soziometrischen Text auf x beschränkt, dann ergibt sich der entsprechende Wert aus n · x 2 Neben solchen statistischen Kennwerten zur Auswertung soziometrischer Ergebnisse wird die Soziomatrix jedoch meist in ein sogenanntes Soziogramm überführt, wobei auch hier vielfältige Möglichkeiten der grafischen Darstellung (z. B. Säulen-, Kreis-, Profil-, Koordinatensoziogramm usw.) zur Verfügung stehen. Nach wie vor wird jedoch insbesondere im pädagogischen Bereich das von Moreno selbst entwickelte Netzsoziogramm benutzt. Bei dieser grafischen Form werden die am häufigsten gewählten »Stars« einer Gruppe zunächst in der Blattmitte verortet und um sie herum diejenigen, die sie gewählt haben, gruppiert. Die Randfiguren werden schließlich ins weitere Umfeld gezeichnet. Die Gruppenmitglieder werden dabei durch Dreiecke (männlich) und Kreise (weiblich) symbolisiert, die mit entsprechenden Identifikationsnummern versehen sind. Jede positive Wahl wird mit einem durchgezogenen Pfeilstrich, jede negative Wahl durch eine punktierte Pfeillinie verdeutlicht; gegenseitige Wahlen werden entsprechend verdickt und mit Pfeilen an beiden Enden dargestellt. In der qualitativen Interpretation dieses Soziogramms erscheint beispielsweise das am meisten gewählte Gruppenmitglied 1 eindeutig als »Star«, während das Gruppenmitglied 7 als »Antipode« oder vielleicht »Oppositionsführer« eine weniger klare Führungsposition innehat. Beide »Stars« lehnen sich gegenseitig ab und bilden um sich herum mit ihren »Verbündeten« Subgruppen. Gruppenmitglied 13 wird von den meisten Gruppenmitgliedern offensichtlich abgelehnt und übernimmt wohl auch durch sein eigenes Verhalten die Rolle des »Außenseiters«, vielleicht gar des <?page no="245"?> 245 »Schwarzen Schafs« oder »Sündenbocks«. Die Gruppenmitglieder 10 und 12 wollen sich anscheinend mit keiner Untergruppe überwerfen und sind sich darüber hinaus mit den anderen einig, den »Außenseiter« 13 abzulehnen usw. Derartige Ergebnisse sind als aktuelle Momentaufnahmen zwischenmenschlicher Beziehungsstrukturen in einer Gruppe zu deuten, d. h. sie sollten sinnvollerweise zur Validierung und interpretativen Absicherung sowohl hinsichtlich ihrer Entstehungsbedingungen wie auch im Hinblick auf ihre künftige potenzielle Prozessdynamik durch weitere Untersuchungsmethoden wie durch systematische Beobachtung u. Ä. ergänzt werden. Hierbei könnten die dadurch methodisch zusätzlich abgesicherten sozio- 6 2 5 1 3 4 7 9 8 11 12 13 10 Abb. 13: Netzsoziogramm einer (weiblichen) Jugendgruppe (nach Höhn & Seidel 1976, 33, vgl. die dazugehörige Soziomatrix auf S. 238) <?page no="246"?> 246 metrischen Befunde zur Regulierung von Entwicklungstendenzen der jeweiligen sozialen Netzwerke benutzt werden. Beispielsweise kann der Lehrer den von der Klasse isolierten Kindern zu helfen versuchen bzw. ältere Schüler auch mit dem Soziogramm ihrer Klasse kritisch konfrontieren und damit sozialpädagogisch herausfordern. Oder in betrieblichen Arbeitsgruppen können dem informell Führenden auch formal leitende Aufgaben übertragen werden, man kann ihn bei Personalförderungsprogrammen im Rahmen der betriebsinternen oder externen Weiterbildung berücksichtigen usw. Die Wirkungen solcher Maßnahmen lassen sich dann durch weitere Soziogramme untersuchen und dokumentieren. Soziometrische Analyseverfahren und Anwendungsbereiche sind sehr vielfältig und werden auch laufend weiterentwickelt. So versuchte man beispielsweise in der Kommunikationssoziologie über Soziometrie »Meinungsführer« (opinion leaders, change agents) im Bereich von Mode oder Politik zu ermitteln, wobei diese Methode hier an Grenzen stößt, da soziometrische Analysen aus technischen Gründen auf relativ kleine Gruppen beschränkt sind. Der Übergang zur neueren Forschungsmethode der soziologischen Netzwerkanalyse (Kap. 4.4.9), die dann - auch unter erweiterten Fragestellungen - weitaus größere und umfassendere Populationen untersucht, ist daher fließend. Zur vertiefenden und ergänzenden Lektüre Elisabeth Ardelt & Anton Laireiter (1999): Das Soziogramm. In Erwin Roth, Klaus Heidenreich & Heinz Holling (Hrsg.), Sozialwissenschaftliche Methoden. Lehr- und Handbuch für Forschung und Praxis, S. 668-673. 5. Aufl. Oldenbourg: München, Wien. Jacob L. Moreno (1996): Die Grundlagen der Soziometrie. Wege zur Neuordnung der Gesellschaft. 4. Aufl. Leske + Budrich: Opladen. Jiri Nehnevajsa (1967): Soziometrie. In René König (Hrsg.), Handbuch der empirischen Sozialforschung, Band 1, S. 226-240. Enke: Stuttgart. Horst-Joachim Rahn (2010): Erfolgreiche Teamführung, S. 24-30. 6. Aufl. Windmühle: Hamburg. <?page no="247"?> 247 Christian Stadler (Hrsg.) (2013): Soziometrie. Messung, Darstellung, Analyse und Intervention in sozialen Beziehungen. Springer VS: Wiesbaden. 4.4.9 Netzwerkanalyse Moderne Industriegesellschaften werden nicht zuletzt aufgrund der alle Lebensbereiche umfassenden und andauernd rasanten Entwicklungen ihrer Informations- und Kommunikationstechnologien gerne auch als »Netzwerkgesellschaften« (Castells 2003) beschrieben. So ist das World Wide Web heute nicht mehr nur Internet, sondern für dessen unzählige Nutzer inzwischen gleichfalls Socialnet. Ein aktives »networking« als nicht nur inflationär »freundschaftliche«, sondern strategische Handlungspraxis sowie ein dann möglichst »gutes Vernetzt-Sein« bei permanenter und ubiquitärer Erreichbarkeit (Konnektivität) erscheint heute für Individuen wie Organisationen vor allem in Wirtschaft und Politik, aber auch im Bereich der Wissenschaft als geradezu »existentiell« relevant. In diesem Kontext erfreut sich daher die soziologische Netzwerkanalyse als eine seit etwa 2000 zunehmend eingesetzte und relativ komplexe Methode der empirischen Sozialforschung einer ganz besonderen Konjunktur. Ähnlich wie bei der eher »konservativen«, auf Moreno zurückgehenden Methode der Soziometrie, die primär überschaubare und affektive Gruppenstrukturen sowie deren Anziehungs- und Abstoßungskräfte untersucht und als Vorläuferin der modernen Netzwerkanalyse zu betrachten ist, finden sich hier theoretische Wurzeln in der soziologischen Klassik: etwa in Georg Simmels berühmtem Kapitel über »Die Kreuzung sozialer Kreise«, in der er u. a. die Zahl der verschiedenen gesellschaftlichen Bezugssysteme, mit denen das Individuum verknüpft ist, als einen »Gradmesser der Kultur« (1908, 313) bezeichnet, - aber auch beispielsweise bei Ferdinand Tönnies’ Unterscheidung zwischen »Gemeinschaft« und »Gesellschaft« oder Emile Durkheims »mechanischer« und »organischer Solidarität«. <?page no="248"?> 248 Hieran anknüpfend versucht die soziologische Netzwerkanalyse soziale Auswirkungen einer zunehmend intensiven und allumfassenden Vernetzung auf individuelles Verhalten wie auf gesellschaftliche Systeme zu erforschen. Ein Netzwerk wird in diesem Sinne als eine Art Mesoebene begriffen, die einen analytischen »Link« zwischen individueller Handlungsebene und gesellschaftlicher Makrostruktur darstellt (vgl. Abb. 1 in Kap. 1.4.2). So lassen sich z. B. Differenzierungen zwischenmenschlicher Beziehungen in und zwischen sozialen Systemen - oder in der Terminologie der Organisationssoziologe: »intra-« und »interorganisationalen« Netzwerken - in ihrer Intensität und in ihrem Ausmaß mit dieser Methode erfassen und beschreiben. Bei interorganisationalen Netzwerken kann es sich etwa um einen Austausch von Gütern und Dienstleistungen bis hin zu personalen Verknüpfungen, Beziehungen und Identitäten handeln, während intraorganisationale Netzwerkanalysen eher als Operationalisierungen von informellen, formale Organisationshierarchien unterstützende oder konterkarierende Strukturen und Prozesse begriffen werden. Mittels Anwendung der mathematischen Graphentheorie, einem Gebiet der kombinatorischen Topologie, werden dabei algorithmisch komplexe Indizes für die Stellung von einzelnen Sozialakteuren und deren Eigenschaften sowie von Strukturmerkmalen sozialer Systeme rekonstruiert und in einer abstrakten Darstellung (ähnlich dem soziometrischen Soziogramm) visualisiert. Ein Graph besteht hier aus einer definierten Menge sozialer Akteure als Knoten sowie - zwischen Knotenpaaren - einer Menge von Kanten, die bestehende soziale Beziehungen zwischen den Akteuren repräsentieren. Ein »ungerichteter« Graph stellt symmetrische, ein »gerichteter« Graph dagegen einseitige Sozialbeziehungen dar, während ein »bewerteter« Graph mehr als zwei Ausprägungen bei den Beziehungsdaten symbolisiert. Verbindet eine Kante einen Knoten mit sich selbst (als Ausgangs- und Endpunkt), spricht man von Schleifen. Darüberhinaus kann je nach Eigenart der Sozialbeziehungen das Netzwerk graphentheoretisch als Relation oder bei komplexeren Verhältnissen mit soziometrischen und algebraischen Verfahren als (Sozio-)Matrix erfasst und interpretiert werden. <?page no="249"?> 249 Die ganze Gesellschaft wird damit als ein abgestuftes System sozialer Netzwerke begriffen, - von den primären Verwandtschafts-, Freundschafts- oder Nachbarschaftsbeziehungen bis hin zu gesellschaftlichen Zonen n.ter Ordnung. Entsprechend thematisieren konkrete Forschungsprogramme sehr unterschiedliche Fragestellungen, - etwa ehe- und familiensoziologisch von Rollendifferenzierungen bei Paaren oder familialen Unterstützungsnetzwerken, über politische und wirtschaftliche Kontexte von Macht in der Parteien-, Management- und Eliteforschung, über kundenzentrierte Fragen der Markt- und Konsumforschung, bis hin zu Netzwerken mafioser Struktur und organisierter Kriminalität oder des politischen Extremismus und internationalen Terrorismus, an deren soziologischer Analyse naturgemäß vor allem Kriminalisten und Geheimdienste ein vitales Interesse zeigen. Verschiedene Verfahren generieren dabei Maßzahlen zum besseren Verständnis solcher Netzwerke, womit dann z. B. wichtige und prominente, aber auch besonders aktive Akteure in ihren relativen Positionen bzw. dem differenzierten Grad ihrer Nähe und Verbundenheit sowie ihrer Interaktionsdichte und Transitivität identifiziert werden können. Nicht zuletzt lassen sich ggfs. dabei - durchaus ähnlich der klassischen Soziometrie - auch kohäsive Subgruppen im Sinne von »Cliquen« und »Seilschaften« graphentheoretisch bestimmen und formalisieren. Überhaupt werden bei der Netzwerkanalyse zentrale soziologische Grundbegriffe wie soziale Rolle, Position, Status und Prestige oder das Konzept der sozialen Gruppe mit seinen begrifflichen Varianten nicht nur »instrumentell« zu wichtigen Werkzeugen (»research tools«), sondern diese Begriffe werden ihrerseits über diese neuere empirische Methode auch theoretisch weiter ausdifferenziert. Angesichts der bei sozialen Gesamtnetzwerken meist unfassbar großen digitalen Datenmengen ist für die praktische Forschung vor allem entsprechend leistungsfähige Hardware Voraussetzung. Zur Softwareauswahl existieren mittlerweile weit über 50 verschiedene Computerprogramme, mit denen je nach ihrer Architektur deskriptive, explorative und/ oder stochastische Verfahren mit Signifikanzprüfungen sowie verschiedene Möglichkeiten der <?page no="250"?> 250 Visualisierung angeboten werden. UCINET ist dabei das derzeit in der Lehre wohl am meisten genutzte Softwareprogramm zur Anwendung dieser innovativen Forschungsmethode; frei zugängliche Datensätze aus der berühmten, in den Jahren 1954-56 entstandenen Studie des amerikanischen Sozialpsychologen Theodore M. Newcomb zur Entstehung von Freundschaftsnetzen unter Studienanfängern (bekannt als »Newcomb Fraternities«- Study) dienen beispielsweise mit diesem Programm und zunächst kleineren empirischen Fallzahlen als hochschuldidaktisch besonders geeignetes Übungsmaterial zur Einführung in soziologische Netzwerkanalysen. Zur vertiefenden und ergänzenden Lektüre Jens Beckert (2005): Soziologische Netzwerkanalyse. 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Die erste Jugendgeneration des neuen Jahrhunderts. Leske + Budrich: Opladen. <?page no="261"?> 261 Personenregister Adorno, Th.W. 183, 186, 195 Albrecht, G. 30 Alemann, H.v. 187, 188, 198 Allerbeck, K. 201 Amala 79 Ardelt, E. 246 Argyle, M. 101 Aristoteles 42, 43 Aron, R. 49, 61, 64, 66 Atteslander, P. 188, 226, 233 Bach, M. 64 Bahrdt, H.P. 88, 164 Baldwin, J. 70 Bales, R.F. 122, 214, 215, 216 Barley, D. 56 Baur, N. 188, 237 Beckerath, P.G.v. 154 Becker, H.S. 117, 120 Beckert, J. 250 Beck, U. 141, 163 Behrendt, R.F. 40 Bell, D. 163 Bellebaum, A. 81, 86, 88, 116, 120, 147, 152 Berger, B. 13, 16, 76 Berger, J. 178 Berger, P.L. 13, 16, 18, 22, 23, 73, 74, 75, 76, 93, 135 Bernsdorf, W. 51, 60, 73 Beutelmeyer, W. 228 Bickel, C. 141 Binder, J. 38 Blasius, J. 188, 237 Bonacker, Th. 178 Boocock, S.S. 159 Booth, Ch. 185 Bortz, J. 188, 200, 203 Boudon, R. 49, 51, 55, 64, 66, 110, 141, 160 Bourricaud, F. 49, 51, 55, 64, 66, 110, 141, 160 Bowlby, J. 80 Braun, H. 129 Bude, H.. 235 Bungard, W. 237 Burgess, E.W. 76 Burisch, W. 153 Casler, L. 81 Castells, M. 163, 247 Chaldun, Ibn 43 Child, I.L. 90 Cohen, P.S. 176 Cohen, St.P. 214 Comte, A. 26, 48, 49, 55, 56 Condorcet, M.J.A.M. 45, 48 Cook, St.W. 192, 200, 204, 216 Cooley, C.H. 148, 162 Coser, L.A. 119, 177, 178 Crouch, C. 51 Dahrendorf, R. 51, 72, 73, 82, 106, 107, 110, 122, 125, 142, 146, 163, 164, 171, 172, 173, 174, 175, 176, 177, 181 Darwin, Ch. 51 Deichsel, A. 26 Deutsch, M. 192, 200, 204, 216 Diekmann, A. 186, 188, 192, 216, 226 Dilthey, W. 70 Djilas, M. 25 Döring, N. 188, 200, 203 Dreier, V. 187 Dreitzel, H.P. 113, 130, 131 <?page no="262"?> 262 Durkheim, E. 27, 57, 58, 64, 65, 66, 70, 87, 90, 119, 120, 140, 183, 247 Eisermann, G. 43, 63, 110 Elias, N. 33, 41 Endruweit, G. 28, 38, 239 Engels, F. 52, 55 Esser, E. 186, 188, 204, 227 Esser, H. 23, 210 Fassler, M. 73 Fend, H. 88 Ferguson, A. 45 Fetscher, I. 55 Fichte, J.G. 46, 139 Fichter, J.H. 143 Fischer, A. 135 Fischer-Rosenthal, W. 235 Flick, U. 235 Freeman, D. 93 Frey, H.P. 123, 125 Friedrich, II. 77 Friedrichs, J. 187, 189, 191, 202, 237 Fritz-Vannahme, J. 41 Früh, W. 233 Fuchs-Heinritz, W. 235 Fügen, H.N. 61 Galbraith, J.K. 163 Gehlen, A. 90 Geissler, R. 125 Genie von Los Angeles 80 George, I. 78 Giddens, A. 41, 141 Giddings, F.H. 42 Ginsberg, M. 146 Goethe, J.W.v. 76 Goffman, E. 120, 126, 129, 135 Goldfarb, W. 80 Goode, W.J. 115 Goslin, D.A. 100 Gouldner, A.W. 126 Greve, W. 216 Groenemeyer, A. 30 Gross, Ch. 237 Gross, P. 163 Grundmann, M. 101 Gukenbiehl, H.L. 28, 154 Gumplowicz, L. 44, 70 Haag, F. 239 Habermas, J. 125, 126, 132, 163 Hahn, A. 129 Handke, P. 79 Hartfiel,G. 30, 125 Hartmann, H. 110, 115, 193 Hassenstein, B. 81 Hauser, K. 79, 80 Hazard, P. 44 Hegel, G.W.F. 46, 52, 55 Heidenreich, K. 216, 238, 246 Henecka, H.P. 73, 133 Hillmann, K.H. 28, 88, 115, 120, 165 Hill, P.B. 186, 188, 204, 227 Hoag, W. 201 Hobbes, Th. 45, 48 Hofer, M. 215, 231 Höhn, E. 242, 245 Holling, H. 216, 228, 238, 246 Holm, K. 113 Homans, G.C. 119, 153, 157 Hopper, E. 159, 160 Hradil, S. 163 Huber, O. 216 Hume, D. 45 Hunt, M. 192 Hurrelmann, K. 89, 93, 101 Inglehart, R. 163 Itard, J.M. 77, 78, 79, 81 <?page no="263"?> 263 Jaeggi, U. 73 Jager, H. 25, 84, 88, 117, 211 Jahoda, M. 192, 200, 204, 216 Joas, H. 81 Jonas, F. 32, 39, 45, 47, 48, 49, 51, 55 Jung, W. 62 Kaesler, D. 51, 55, 61, 62, 64, 66, 141, 250 Kaiser, H.J. 239 Kamala 79 Kant, I. 18, 46 Kaplitza, G. 228 Kardorff, E.v. 235 Kerber, K. 38, 81 Kern, B. 154 Kirchhoff, S. 226 Klages, H. 56 Klose, P. 108 Kluckhohn, F. 216 Kneer, G. 165 Knorr-Cetina, K. 163 Knospe, H. 51, 73 Kob, J. 89 Kohli, M. 235 König, O. 148 König, R. 66, 70, 73, 76, 183, 186, 216, 227, 233, 235, 246 Korte, H. 28, 38, 47, 49, 61, 148 Krämer, W. 210 Krapp, A. 215, 231 Krappmann, L. 126, 127, 135 Kreeger, L. 160 Kriwy, P. 237 Kriz, J. 210 Kromrey, H. 188 Krüger, H. 239 Kruse, V. 56, 61 Kuhnt, S. 226 Kunczik, M. 51 Kutsch, Th. 94, 114 Laireiter, A. 246 Lamla, J. 178 Lamnek, S. 186 Landmann, M. 91 Lash, S. 141 Laswell, H.D. 229 Lazarsfeld, P. 170 Leggewie, K. 163 Lehr, U. 81 Le Play, F. 44, 185 Levi-Strauss, C. 93 Lewin, K. 238, 239 Liegle, L. 93 Lindesmith, A.R. 127, 136 Linton, R. 104, 110 Lipp, P. 226 Locke, H.J. 76 Locke, J. 45, 48 Luckmann, T. 23, 93, 135 Luhmann, N. 36, 86, 161, 163, 165, 168, 170, 180 Machiavelli, N. 44 MacIver, R. 19 Malson, L. 77, 81 Mannoni, O. 77, 81 Marx, K. 25, 44, 48, 51, 52, 53, 54, 55, 56, 165, 175 Matthes, J. 30 Mayer, K.U. 235 Mayring, P. 186, 233 McCall, G. 101, 133, 136 McClelland, D.L. 229 Mead, G.H. 93, 126, 127, 129, 133 Mead, M. 91, 92, 93 Merton, R.K. 113, 115, 170, 178, 183 Millar, J. 45 Minssen, H. 154 Möbius, G. 47 Mok, A.L. 25, 84, 88, 117, 211 <?page no="264"?> 264 Montesquieu, Ch. 45 Moore, W.E. 158 Morel, J. 170, 176 Moreno, J.L. 240, 241, 244, 246, 247 Moser, H. 239 Mühlmann, W.E. 91, 93, 176 Müller, E.W. 93 Müller, H. 103 Müller, H.P. 66 Münch, R. 178 Nassehi, A. 165 Nedelmann, B. 62 Negt, O. 55 Nehnevajsa, J. 246 Newcomb, T.M. 250 Niedenzu, H.J. 176 Noelle-Neumann, E. 227 Oesterdiekhoff, G.W. 142 Offe, C. 163 Olmsted, M.S. 160 Oppenheimer, F. 44 Pappi, F.U. 250 Pareto, V. 57, 58, 62, 63, 64, 120 Parsons, T. 36, 72, 73, 120, 121, 122, 124, 125, 165, 166, 168, 170, 171, 172, 173, 175, 176, 177, 181 Pearlin, L.I. 117 Petersen, Th. 227 Piaget, J. 178 Platon 42 Pongs, A. 165 Popitz, H. 88 Popper, K.R. 42, 55, 180 Porst, R. 227, 229 Portmann, A. 90 Postman, N. 163 Prell, S. 215, 231 Psammetich, I. 77 Quetelet, A. 26 Rahn, H.J. 246 Rammstedt, O. 62 Reinhold, G. 186 Ricardo, D. 52 Rickert, H. 60, 180 Robert, G. 235 Ronge, V. 142 Ross, E.A. 25 Rössler, P. 233 Roth, E. 216, 228, 238, 246 Rousseau, J.J. 45, 47, 48 Rüegg, W. 42 Rüschemeyer, D. 176 Saam, N.J. 237 Sackmann, R. 235 Saint-Simon, C.H. 26, 45, 48 Sauermann, P. 154 Schäfers, B. 28, 38, 139, 148, 150, 154, 250 Schattenhofer, K. 148 Schelling, F.W. 46 Schelsky, H. 95 Scheuch, E.K. 94, 114, 218, 219, 227 Schlawin, S. 226 Schleiermacher, F. 46, 139 Schmalenbach, H. 141 Schmalohr, E. 81 Schmieder, A. 38, 81 Schneider, H.D. 148 Schneider, R.U. 227 Schnell, R. 186, 188, 204, 227 Schroer, M. 165 Schülein, J.A. 110 Schulze, G. 163 Schütz, A. 20 Schwärzel, W. 239 Schwonke, M. 148 Seeley, J.R. 211 <?page no="265"?> 265 Seel, H.J. 239 Seger, I. 28, 31, 33, 53, 58, 179, 214, 217 Seidel, G. 242, 245 Selltiz, C. 192, 200, 204 Seneca 23 Shakespeare, W. 101 Shils, E. 120, 170 Silbermann, A. 233 Simmel, G. 57, 58, 61, 62, 64, 155, 156, 157, 160, 177, 247 Simmons, J.L. 101, 133, 136 Singh, J.A.L. 79 Smith, A. 45 Sokrates 119 Spencer, H. 26, 48, 50, 51, 55, 56, 63, 165 Spitz, R. 80 Stadler, Ch. 247 Staubmann, H. 170 Stein, L.v. 46, 52 Stelzl, I. 238 Strauss, A.L. 127, 136 Stromberger, P. 164 Sumner, W.G. 84 Swoboda, H. 208 Szczepanski, J. 235 Teichert, W. 164 Tenbruck, F. 137 Thomas von Aquin 42, 43 Thomas, W.I. 233 Tillmann, K.J. 126 Tönnies, F. 139, 140, 141, 142, 247 Topitsch, E. 188 Trommsdorff, G. 38, 93 Truffaut, F. 79 Turgot, A.R.J. 48 Turner, R.H. 126 Ulich, D. 93 Vattimo, G. 163 Victor von Aveyron 78, 79 Vierkandt, A. 27, 141 Vogt, L. 55, 62, 64, 66, 141 Wallraff, G. 213 Walper, S.. 101 Watzlawick, P. 133 Weber, M. 35, 57, 58, 59, 60, 61, 62, 67, 88, 120, 141, 164 Wellhöfer, P.R. 242 Wentura, D. 216 Weyman, A. 159, 160 Wiese, L.v. 63 Willke, H. 170 Wilson, Th. 126 Wiswede, G. 154 Wolff, K.H. 73 Wössner, J. 113, 179, 181 Wurzbacher, G. 99 Zander, A. 216 Zapf, W. 176, 250 Zetterberg, H.L. 181 Zeugin, P. 187, 208 Zimmermann, E. 238 Zinnecker, J. 201 Znaniecki, F. 233 <?page no="266"?> 266 Sachregister abweichendes Verhalten 109, 116, 117, 118, 119 action research 238 Adel 47 Aggregat, soziales 144, 145 -, Haupttypen 143 AGIL-Schema 165 Agrargesellschaft 46, 166 Aktionsforschung 211 ALLBUS 224, 228 Alltag(s) 15, 16, 66, 82, 101, 116, 234 -erfahrung 39 -theorie 63, 187 -wissen 19, 20, 89 Alter 98 Ambiguitätstoleranz 135 Anomie 65, 87 Anpassung 81, 99, 166, 177 Antagonismus, sozialer 54, 177 Antike 42 Arbeitsteilung 42, 46, 65 Arbeitszerlegung 46 Aufklärung 44, 48, 49, 78 Auftragsforschung 202 Auslese, natürliche 51 Autopoiesis 168 Bastelbiografie 234 Befragung(s) 219, 232 -ergebnis 219, 226 Begriffe 19, 29, 60, 161, 181, 182, 192, 194, 199 Behinderte 118 Beobachtung 44, 58, 77, 180, 205, 212, 213, 214, 216, 229, 232 Bewusstsein 53, 70 -, kollektives 65 Bezugsgruppe 110, 112, 119 Bindestrich-Soziologie 36 Biografieforschung 221, 235 Brauch 14, 63, 83, 91 Bürgertum 46, 47 case study 197 Chicagoer Schule 233 Consensus-Theorie 171 content analysis 229 Darwinismus 51 Datenanalyse 199, 202 Datenpanne 218 Definition, operationale 194 Delphi-Methode 222 Deprivation 80, 81 Desintegration 172 Desozialisation 96 Devianz 29, 116, 119, 234 Differenzierung, funktionale 154 Distanz, kritische 28, 39, 67, 182, 226, 239 Dreistadiengesetz 49 Dyade 156, 157 Ehe 74, 75, 84, 98 Eigentum 42, 45, 46 Einzelbefragung 222 Elite 42, 58 Empathie 135 Empirie 186, 211 Empirismus 179, 210 Enquete 185 Erbanlagen 69 <?page no="267"?> 267 Erfahrung(s) 13, 44, 179, 190 -wissenschaft 43, 57, 181, 212 Erkenntnisinteresse 22, 39 Erziehung 65, 89, 116, 117, 167 Ethnologie 27, 85, 91, 93, 212 Etikettierungsansatz 117, 118 Evolution, soziale 50, 65 Experiment 58, 236 experimenter bias 205 face-to-face-relations 35, 149, 157 fait social 64 Faktor, sozialer 27, 29 Falsifizierbarkeit 180 Familie 35, 75, 78, 84, 85, 95, 96, 98, 100, 104, 167 -, Reproduktionsfunktion 84, 167 -, sozialer Mutterschoß 76, 79 Feldexperiment 236 folkways 84 Forschungsprozess 204, 207, 208, 222, 226, 232 Fortschritt, sozialer 47, 50, 51 Fragebogen 217, 220 -konstruktion 206, 224, 225 Frustrations-Aggressions- Hypothese 117 Funktionalität 124, 171 Funktion (Begriff ) 172 Geburt, sozial-kulturelle 76 Gemeinschaft 69, 70, 138, 139, 140, 141, 247 GENESIS 227 Gesellschaft(s) 17, 23, 27, 31, 36, 45, 46, 48, 50, 53, 62, 63, 65, 66, 69, 70, 76, 84, 87, 106, 119, 137, 139, 140, 141, 154, 161, 162, 164, 171, 173, 181, 211, 247 -, agrarische 163 als ärgerliche Tatsache 72, 122 -, bürgerliche 46, 54 -, fundamentalistische 163 -, industrielle 163, 166 -, kapitalistische 25, 53, 163 -, klassenlose 54 -, kommunistische 31, 54, 163 -philosophie 56 -, primitive 163 -, sozialistische 24, 25, 54, 66, 163 -, ständische 46, 47 -, totalitäre 163 -typen 141, 163 Gesellschaftsvertrag 42, 45 GESIS 228 Gewohnheit 15, 61, 63, 83, 84, 91 Gleichgewicht(s) 128, 135, 171, 172, 177 -erhaltung 63, 168, 171 Graphentheorie 248 Grundgesamtheit 197, 198 Grundwerte 166 Gruppeninterview 222 Gruppe(n), soziale 62, 64, 65, 69, 137, 138, 154, 159, 160, 245, 249 -begriff 138 -, Beziehungsmöglichkeiten 157, 158 -, formelle 240 -größe 138 -, informelle 240 -merkmale 148 -, primäre 148, 157, 162 -, sekundäre 148, 150 -, statistische 142 Gültigkeit 184, 191, 196, 216, 218, 231, 237 <?page no="268"?> 268 Halo-Effekt 205 Handeln, affektuelles 60 -, soziales 59, 60, 61, 62, 63, 64, 67, 69, 127, 130, 133 -, traditionales 61 -, wertrationiales 60 -, zweckrationales 60 Handlungstheorie 120 Hawthorne-Effekt 153, 206, 211 Herrschaft 44, 72, 175 homo sociologicus 106, 122, 125 Hospitalismus 80 Hypothese 193, 194 Idealtyp 60, 164 Identität 128, 129, 133, 147, 234 -, personale 128, 134 -, soziale 128, 134, 135 Identitätsdarstellung 135 Ideologiekritik 33, 36, 53 Imperativ, sozialer 74 Indikatoren 194, 195, 196, 219, 229, 230 Individuation 129 Individuum 34, 47, 58, 62, 65, 69, 70, 71, 75, 100, 101, 104, 107, 129, 233, 234 Industrialisierung 24, 46, 56 Industriegesellschaft 175 Inhaltsanalyse 229, 230, 232 Instinktersatz 86 Institution 74, 84 -, totale 129, 153 Integration(s) 84, 97, 166, 171, 172 -theorie 172, 176 Interaktionismus, symbolischer 35, 72, 126, 127, 233 Interaktionsanalyse 214, 215 Interaktion, soziale 17, 35, 80, 100, 118, 124, 127, 132, 133, 134, 142, 144, 146, 147, 159, 166, 205, 241 Interpenetration 122 Inter-Rollenkonflikt 112, 114 Interview 221, 222, 225 Intra-Rollenkonflikt 111, 113 Kapitalismus 24 Kategorie, soziale 145, 147 -, statistische 142 Kinder, wilde 77, 78 Klassenkampf 52, 53 Klassenlage 55 Klasse, soziale 25, 36, 52, 53, 54, 175, 177 Kleingruppe 36 Kommunikation 17, 94, 127, 133, 134, 147, 151, 161, 205, 229, 231, 240 Komplexitätsreduktion 86, 168, 169, 180 Konflikt, sozialer 172, 175 -arten 174 -etappen 173 -funktionen 55, 178 -intensität 174 -klassifikation 174 -theorie 36, 62, 72, 173, 176 Konformität 87 Kontrolle, soziale 109, 116, 117, 121 Korrelationskoeffizient 209 Kultur 13, 35, 74, 75, 76, 78, 79, 82, 83, 84, 85, 91, 93 Kulturanthropologie 27, 93, 212 labeling approach 117 Laborexperiment 237 Lebensalterphasen 96 Lebensverlauf 234, 235 <?page no="269"?> 269 Machiavellismus 44 Macht 44, 72, 105, 146 Makroebene 248 Makro-Ebene 35 Makrosoziologie 35, 56 Männlichkeit 91 Marxismus 52, 175 Maske 102, 110, 122 Materialismus, historischer 52 Menschenbild, soziologisches 69, 75 Menschwerdung, soziale 76 Meso-Ebene 35, 248 Meta-Ebene 35, 36 Metaphysik 48 Methoden 181, 186, 195, 208, 210, 211, 232 -, biografische 233, 234 -, nicht-reaktive 207, 232 -, qualitative 184, 233 -, qualtitative 230 -, quantitative 184, 194, 230, 233, 240 -, reaktive 226 Mikro-Ebene 35 Mikrosoziologie 35, 184 Milieu, soziales 36, 40, 69, 85, 146, 193 Minderheit(en), soziale 86, 118 -konflikt 174 Mittelalter 42, 43, 77 mores 84 Netzwerkanalyse 247 Netzwerk, soziales 17, 104, 112, 137, 240, 246 Norm(en) 20, 29, 35, 82, 83, 86, 87, 88, 92, 116, 119, 132, 173, 240 -internalisierung 121 -konflikt 87 -system 82, 147, 159 Operationalisierung 195, 196, 236 oral history 234 Organisation 17, 33, 35, 36, 117, 152, 153, 160 Organismus, sozialer 48, 50, 51, 63 Panel-Untersuchung 223 Paradigma, interpretatives 127 -, normatives 126 Person 69, 75, 94, 106, 109 Personalisation 129 Persönlichkeit, autoritäre 195 -, sozial-kulturelle 58, 75, 81, 90, 92, 118, 122, 127, 162, 177 Perspektive, soziologische 28, 71, 73, 89 Phänomenologie 35 physique sociale 26 PISA-Studie 29 Politik 13, 42, 44, 167, 168, 226 Population 197, 198 Position, soziale 103, 104, 106, 107, 111, 112, 249 -, erworbene 104 -, zugeschriebene 104 Positivismus 48 -streit 183 Pretest 199 Primäranalyse 227 Problem, soziales 29, 187, 190 Produktionsmittel 24, 53, 54 Prognose 32, 40, 54, 58 Proxemik 241 Quasi-Gruppe 146, 175 Reanalyse 227 Recht 13, 82, 85, 119 <?page no="270"?> 270 Relativismus, kultureller 41 Reliabilität 184, 196, 232 Replikationsstudie 228 response sets 206 Revolution 31, 53, 54 -, Französische 47, 78 -, industrielle 47 Rezeptoren 194 Reziprozität 176 Rolle(n), soziale 35, 91, 97, 101, 102, 103, 104, 106, 107, 109, 110, 111, 112, 114, 122, 128, 129, 130, 131, 132, 133, 134, 173, 244, 249 -attribut 105, 107 -begriff 102 -beziehung 107, 109 -distanz 135 -erwartung 124, 134 -handeln 127, 135, 169 -interpretation 128, 132 -, Klassifikationsschema 131 -komplementarität 107 -konfiguration 111 -konflikt 111, 113, 203 -norm 107, 131 -priorisierung 114 -satz 109 -segment 109 -sektor 109 -spiel 102, 115, 125, 127, 133 -stress 113 -struktur 148, 159 -theorie 110, 113, 125, 126, 129 Routine 14, 15 Sample 197 Sanktion 82, 87, 109, 114, 118, 125 Scheinkorrelation 209 Schicht, soziale 30, 36, 40, 145, 147, 193, 218 Schule 84, 96, 108, 167 Schulsystem 30, 167, 168 scientific community 200, 202 Sekundäranalyse 227, 228 Selbstmord 58, 65, 183 Selbstverwirklichung 72 Signifikanztest 209 Sitte 15, 45, 46, 53, 64, 82, 84, 91 Situationsdefinition 133 Social Monitoring 224 social reaction approach 117 Solidarität -, mechanische 65, 140, 247 -, organische 65, 140, 247 Sophisten 42 Sozialarbeit 239 Sozialforschung, empirische 182, 185 Sozialisation(s) 65, 88, 90, 91, 92, 94, 101, 121, 122, 167 -agent(ur) 123, 128 -effekt 92, 100 -, primäre 95, 100 -prozess 93, 94, 96, 100, 120, 122, 123, 126, 135 -, quartäre 96 -, sekundäre 100 -sequenz 123 -, tertiäre 96 -theorie 124, 132 Sozialismus 27, 31 Sozialphysik 26 Sozialpsychologie 27, 35, 44, 230 sozial, Soziales 23, 24, 25, 26, 27, 28, 64, 67, 109 Sozialwissenschaft 34 Soziogramm 244, 246, 248 - Netz- 244, 245 <?page no="271"?> 271 Soziologie 13, 16, 17, 18, 19, 22, 23, 26, 27, 28, 29, 31, 32, 33, 40, 41, 48, 49, 50, 57, 60, 61, 66, 69, 70, 71, 88, 107, 179, 230 -, formale 62 -, funktionale Wirkungen 39 -, marxistisch-leninistische 27 -, phänomenologische 233 -, spezielle 37, 38 -, verhaltenstheoretische 35 -, verstehende 35, 59 Soziologismus 64 Soziomatrix 242, 243, 244, 248 Soziometrie 240, 247 Spielregeln, gesellschaftliche 15, 72, 74, 174, 175 Sprache 76, 77, 78, 94, 127 Stabilität, soziale 72, 86, 119, 171, 172 Stabilitätssicherung 168 Statistik 26, 32, 207, 227 Status, sozialer 97, 249 -differenzierung 148 -passagen 234 -symbol 105, 106 Stichprobengröße 198 Stichprobe, repräsentative 197, 198 Streit 62, 177 Struktur 29, 87, 120, 172, 177 Strukturfunktionalismus 36, 72, 120, 121, 124, 125, 126, 129, 167, 172, 178, 233 Subkultur 85, 116, 153, 229 Survey 185, 224 SYMLOG-System 214 Syndrom 195 System, soziales 51, 248 -, Grundfunktionen 165 -, Innen-/ Außen-Differenz 169 ,- Selektionsleistung 169 Systemtheorie 36, 63, 165, 167, 168, 169, 172 Tabu 84 Tatsache, soziale 27, 64, 87 Test, soziometrischer 197, 240, 241 Theorie(n) 65, 180, 204 -bildung 179, 182 -, empirische 180 -, kritische 31, 182 -, mittlerer Reichweite 170 -, spekulative 183 Total-Design-Method 220 Triade 156, 157 Triangulation, methodische 185, 196 Umwelt 70, 75, 78, 81, 89, 90, 93, 94, 99, 116, 118, 161, 169, 236 Ungleichheit, soziale 24, 45 Validierung, kommunikative 231 Validität 184, 196, 228, 232 Variable 155, 169, 172, 193, 194, 209 -, abhängige 193, 236, 237 -, intervenierende 209 -, unabhängige 193, 236 Ventilsitte 119 Verhaltensmuster 95 Vertragstheorie 48 Vorurteil, soziales 20, 32, 229 Wandel, sozialer 45, 48, 56, 172, 173, 175 Weiblichkeit 91 Weltoffenheit 86, 90 Wert(e) 107, 117 <?page no="272"?> 272 -, Pluralismus 129 -systeme 85, 230 Werturteilsfreiheit 182 Wesen, soziales 25, 34, 43 Wir-Bewusstsein 147, 159 Wirtschaftssystem 167 Wissenssoziologie 23, 36, 93 Wolfskinder 79 Zielerreichung 166 Zielstruktur, normative 168 Zwang 15, 72, 131, 171, 172