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Soziologische Kommunikationstheorien

0916
2015
978-3-8385-4469-4
978-3-8252-4469-9
UTB 
Rainer Schützeichel

Unsere moderne Gesellschaft ist eine Kommunikationsgesellschaft. Unser gesamtes soziales Leben spielt sich in kommunikativen Beziehungen mit anderen Menschen ab. Einen Überblick über die bedeutenden Theorien der soziologischen Kommunikationsforschung bietet dieses Buch in völlig überarbeiteter 2. Auflage. Dabei kommen der Symbolische Interaktionismus, die phänomenologische Soziologie und die Ethnomethodologie, die Theorie des kommunikativen Handelns, die Praxissoziologie, die Cultural Studies und die Systemtheorie zur Sprache. Im Zentrum steht dabei immer die Frage, wie diese bedeutenden Ansätze Kommunikationsprozesse analysieren und konzeptualisieren. Es werden hierfür die unterschiedlichen Fragestellungen und Perspektiven dieser Ansätze herausgestellt und diskutiert. Das Lehrbuch von Rainer Schützeichel ist damit nicht nur eine Einführung in die soziologische Kommunikationsforschung, sondern auch eine Einführung in die allgemeine soziologische Theoriebildung. Über die soziologischen Theorien hinaus werden in Exkursen auch wichtige philosophische, sprach- und kommunikationswissenschaftliche Grundlagen dargestellt, um der soziologischen Diskussion ein breiteres Fundament und den Leserinnen und Lesern einen intensiveren Einblick in die kommunikativen Zusammenhänge unseres sozialen Lebens zu geben. Ein Lehrbuch für Studentinnen und Studenten in soziologischen, kultur- und kommunikationswissenschaftlichen Bachelor-Studiengängen.

<?page no="1"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Schuetzeichel__Soziologische_Kommunikationstheorien(2)____[Druck-PDF]/ 13.08.2015/ Seite 2 Prof. Dr. Rainer Schützeichel lehrt an der Fakultät für Soziologie der Universität Bielefeld. <?page no="2"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Schuetzeichel__Soziologische_Kommunikationstheorien(2)____[Druck-PDF]/ 13.08.2015/ Seite 2 www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Schuetzeichel__Soziologische_Kommunikationstheorien(2)____[Druck-PDF]/ 13.08.2015/ Seite 3 Rainer Schützeichel Soziologische Kommunikationstheorien 2., überarbeitete Auflage UVK Verlagsgesellschaft mbH · Konstanz mit UVK/ Lucius · München <?page no="3"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Schuetzeichel__Soziologische_Kommunikationstheorien(2)____[Druck-PDF]/ 13.08.2015/ Seite 4 Online-Angebote oder elektronische Ausgaben sind erhältlich unter www.utb-shop.de. Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über <http: / / dnb.ddb.de> abrufbar. Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und- Verarbeitung in elektronischen Systemen. 1. Auflage 2004 2. Auflage 2015 © UVK Verlagsgesellschaft mbH, Konstanz und München 2015 Einbandgestaltung: Atelier Reichert, Stuttgart Einbandmotiv: © Diego Schtutman/ Shutterstock.com Lektorat: Marit Borcherding, München Satz: Claudia Wild, Konstanz Druck und Bindung: Pustet, Regensburg UVK Verlagsgesellschaft mbH Schützenstr. 24 · D-78462 Konstanz Tel.: 07531-9053-0 · Fax 07531-9053-98 www.uvk.de UTB-Band Nr. 2623 ISBN 978-3-8252-4469-9 <?page no="4"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Schuetzeichel__Soziologische_Kommunikationstheorien(2)____[Druck-PDF]/ 13.08.2015/ Seite 4 www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Schuetzeichel__Soziologische_Kommunikationstheorien(2)____[Druck-PDF]/ 13.08.2015/ Seite 5 5 Inhaltsverzeichnis Vorwort zur Neuauflage 9 Einleitung 11 1 Soziologie der Kommunikation 13 1.1 Alltagskonzepte 17 1.2 Kommunikationstheoretische Modelle 19 1.3 Ausdruck und Eindruck 27 1.4 Ergon und Energeia 29 1.5 Kommunikation als Semiose 31 1.6 Sprache und Sprechen 33 1.7 Sprache als Organon 35 1.8 Funktionen von Kommunikation 36 1.9 Syntax, Semantik und Pragmatik 37 1.10 Hermeneutik und Kommunikation 38 1.11 Sprachsoziologie und Soziolinguistik 40 1.12 Zwischenbilanz 43 2 Pragmatismus und symbolische Interaktion 47 2.1 Die soziologische Entdeckung der Kommunikation 48 2.2 Der ›social act‹ 50 2.3 Gesten, Symbole und Bedeutung 51 2.4 Mind 55 2.5 I, Me and Self 58 2.6 Symbolischer Interaktionismus 61 2.7 Zwischenbilanz 65 3 Exkurs 1: Meinen und Sagen 69 4 Sozialphänomenologische Fundierungen 77 4.1 Phänomenologische Protosoziologie 79 4.2 Subjektivität und Intersubjektivität 79 4.3 Intersubjektivität und Fremdverstehen 81 4.4 Intersubjektivität und Sprache 84 4.5 Typisierungen und Idealisierungen 85 4.6 Appräsentationen 90 4.7 Lebenswelt, Sprache und Kommunikation 94 <?page no="5"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Schuetzeichel__Soziologische_Kommunikationstheorien(2)____[Druck-PDF]/ 13.08.2015/ Seite 6 www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Schuetzeichel__Soziologische_Kommunikationstheorien(2)____[Druck-PDF]/ 13.08.2015/ Seite 7 6 Inhaltsverzeichnis 4.8 Kommunikative Gattungen 99 4.9 Zwischenbilanz 103 5 Exkurs 2: Kommunikative Reflexivität und-Verstehen 107 6 Ethnomethodologie und Konversationsanalyse 113 6.1 Accountability 115 6.2 Präsuppositionen 117 6.3 Accounts 120 6.4 Indexikalität 121 6.5 Organisation der Konversation 123 6.6 Turn takings 126 6.7 Adjacency pairs 128 6.8 Multimodalität der Interaktion 129 6.9 Zwischenbilanz 130 7 Exkurs 3: Sprechakttheorie 133 8 Die kommunikative Rationalität der-Kommunikation 141 8.1 Handlungen und soziale Ordnungen 142 8.2 Sprechakte und Geltungsansprüche 145 8.3 Kommunikative Rationalität 152 8.4 Kommunikative Rationalität und Diskurs 154 8.5 Pragmatische Bedeutungstheorie 154 8.6 Universalpragmatik und soziologische Handlungstheorie 156 8.7 Handlungen 157 8.8 Zwischenbilanz 163 9 Die Unwahrscheinlichkeit von Kommunikation 167 9.1 Theoretische Ausgangsfrage 167 9.2 Sinn, Beobachtung und Kommunikation 168 9.3 Komponenten der Kommunikation 172 9.4 Kommunikation und Handlung 179 9.5 Soziale Systeme, psychische Systeme und Personen 184 9.6 Doppelte Kontingenz 189 9.7 Die Selektivität der Kommunikation 192 9.8 Zwischenbilanz 193 <?page no="6"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Schuetzeichel__Soziologische_Kommunikationstheorien(2)____[Druck-PDF]/ 13.08.2015/ Seite 6 www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Schuetzeichel__Soziologische_Kommunikationstheorien(2)____[Druck-PDF]/ 13.08.2015/ Seite 7 Inhaltsverzeichnis 7 10 Exkurs 4: Kommunikation, Regeln und-Sprachspiele 197 11 Die Ökonomie des sprachlichen Tauschs 203 11.1 Habitus, Feld, Kapital 204 11.2 Kritik der intellektualistischen Kommunikationstheorien 208 11.3 Strukturale Sprachsoziologie 210 11.4 Symbolische Macht 213 11.5 Zwischenbilanz 214 12. Cultural Studies 217 12.1 Encoding and Decoding 219 12.2 Lesarten von Kommunikation 221 12.3 Zwischenbilanz 223 13. Zum Abschluss: Soziologie der Kommunikation 225 Abbildungsverzeichnis 229 Literatur 231 <?page no="7"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Schuetzeichel__Soziologische_Kommunikationstheorien(2)____[Druck-PDF]/ 13.08.2015/ Seite 8 <?page no="8"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Schuetzeichel__Soziologische_Kommunikationstheorien(2)____[Druck-PDF]/ 13.08.2015/ Seite 8 www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Schuetzeichel__Soziologische_Kommunikationstheorien(2)____[Druck-PDF]/ 13.08.2015/ Seite 9 9 Vorwort zur Neuauflage Der Verfasser konnte erst nach langer Zeit dem Wunsch des Verlages nach einer Überarbeitung der Erstauflage dieses einführenden Lehrbuchs in soziologische Kommunikationstheorien nachkommen. Dies war zum einen dem überbordenden und dem mit engen Fristen operierenden Tagesgeschäft an der Universität und innerhalb der ›scientific community‹ geschuldet, welches nur bei einer gewissen Rigidität einen kleinen Raum für langfristige Vorhaben lässt. Mehr noch spielte zum anderen die Ratlosigkeit des Verfassers darüber eine Rolle, wie man einen komplexen Sachverhalt und sowohl horizontal wie vertikal stark verästelte Theorien in die Form einer für die neuen Studiengänge tauglichen Form gießen und dabei gleichzeitig der Bitte des Verlags nach einer deutlichen Verschlankung des Textes entsprechen kann. Denn schon die Erstauflage sparte manche Theorietradition aus und vernachlässigte zentrale Gegenstandsbereiche wie etwa die Medienforschung. Nun hat sich der Verfasser entschlossen, diesen Grenzziehungen mittels einer kombinierten Strategie zu begegnen. Auf der einen Seite wird in dieser überarbeiteten Neuauflage die schon in der Erstauflage verfolgte Konzentration auf eine leitende Fragestellung noch entschiedener verfolgt und das Profil als Einführung gestärkt. Dabei rückt die analytische Perspektive in den Vordergrund, die sich damit befasst, wie von bedeutsamen soziologischen Theorien Kommunikationsprozesse konzipiert und analysiert werden. Danach richtet sich die Auswahl der vorgestellten Theorien und Themen. Zwar sind manche Kapitel der Erstauflage gekürzt oder gar gestrichen worden, mit der Kommunikationstheorie von Stuart Hall wird jedoch nunmehr eine wichtige theoretische Strömung aufgenommen. Alle weiteren kommunikationstheoretisch und soziologisch wichtigen Fragen finden ihre Antwort in einem weiteren Band. Das vorliegende Buch wird also hoffentlich in nicht allzu weiter Ferne um einen Band ergänzt, der sich in systematischer Weise mit strukturellen und historischen Formen von Kommunikation befassen wird. Ein kleiner Ausblick auf diese Themen findet sich im abschließenden Kapitel. Bielefeld, im Juli 2015 Rainer Schützeichel <?page no="9"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Schuetzeichel__Soziologische_Kommunikationstheorien(2)____[Druck-PDF]/ 13.08.2015/ Seite 10 <?page no="10"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Schuetzeichel__Soziologische_Kommunikationstheorien(2)____[Druck-PDF]/ 13.08.2015/ Seite 10 www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Schuetzeichel__Soziologische_Kommunikationstheorien(2)____[Druck-PDF]/ 13.08.2015/ Seite 11 11 Einleitung Es gibt kein soziales oder gesellschaftliches Leben ohne Kommunikation. Kommunikation ist ein, wenn nicht der zentrale Akt, durch welchen sich die Gesellschaft produziert und reproduziert. Entsprechend ist auch für die Wissenschaft der Gesellschaft die Analyse von Kommunikation von zentraler Bedeutung. Daraus resultiert eine Vielzahl von soziologischen Theorien, die sich mit der Analyse von Kommunikation und kommunikativen Prozessen befassen und dabei unterschiedlichste analytische Perspektiven und Fragestellungen voraussetzen. Das vorliegende Buch richtet sich an Studentinnen und Studenten, die sich einführend mit soziologischen Kommunikationstheorien befassen. Deshalb verhandelt es nur einige ausgesuchte Theorien und Themen, die zudem auch nicht in der ihnen eigenen Tiefe und der Breite ausgelotet werden. Es bleibt also nicht aus, dass man den einen oder anderen theoretischen Ansatz hier vermissen wird. Was diese Einführung bietet, ist die Analyse der verschiedenen Theorien unter einer spezifischen Fragestellung: Wie erklären sie das Prozessieren von Kommunikation? Wie beschreiben sie Kommunikationsprozesse? Wir befassen uns also mit einer abstrakten Fragestellung, die gerade auch für die soziologische Theoriebildung von Interesse ist. Wie ist überhaupt Kommunikation möglich? Diese relativ abstrakte Fragestellung wird aus folgendem Grunde gewählt: Die Einführung ist aus Vorlesungen und Seminaren an verschiedenen Universitäten hervorgegangen. Hier hat sich gezeigt, dass es für viele Studentinnen und Studenten in den ersten Semestern ihres Studiums schwierig ist, einen guten Einstieg in die spezifischen Fragestellungen der Soziologie zu finden. Man kann versuchen, einen Sachverhalt deskriptiv gut zu beschreiben, also zu klären, was eigentlich der Fall ist. Man kann auch die Frage stellen, wie ein Sachverhalt zu erklären ist. All das sind wichtige soziologische Techniken. Um aber eine spezifisch wissenschaftliche Haltung zu den Dingen zu finden, ist vielleicht kein Weg geeigneter als derjenige, Vertrautes in Unvertrautes oder Evidentes in Problematisches zu überführen. Unsere Alltagsintuitionen müssen auf Abstand gebracht werden. Wir alle kommunizieren tagtäglich in vielfacher Weise. Kommunikation ist uns allen also überaus vertraut. Dass wir kommunizieren können, ist ein selbstverständlicher, evidenter Sachverhalt. Was aber sind die strukturellen oder funktionalen Bedingungen dafür, dass wir kommunizieren können? Diese analytische Verfremdung oder Problematisierung eines Sachverhalts ist überaus wichtig, um richtige Fragen stellen und adäquate Forschungen betreiben zu können, aber sie ist auch aus didaktischen Gründen geeignet, um in die Soziologie im Allgemeinen und die Kommunikationstheorie im Besonderen einzuführen. Aus diesem Grunde werden in dieser Einführung solche theoretischen Ansätze behandelt, die uns verschiedene Vorschläge und Antworten darüber unterbreiten können, wie Kommunikation möglich ist. Und die verschiedenen Ansätze werden <?page no="11"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Schuetzeichel__Soziologische_Kommunikationstheorien(2)____[Druck-PDF]/ 13.08.2015/ Seite 12 www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Schuetzeichel__Soziologische_Kommunikationstheorien(2)____[Druck-PDF]/ 13.08.2015/ Seite 13 12 Einleitung daraufhin verglichen, welche Aussagen sie bezüglich dieser Frage machen, welche Bezugsprobleme von Kommunikation sie identifizieren und welche Antworten sie geben. Andere Theorien wie auch andere Forschungsfragen können hier nicht analysiert werden. Dies gilt beispielsweise für die soziologische Medienforschung im engeren Sinne, also für die Kommunikation, die früher als Massenkommunikation bezeichnet wurde und heute unter Einschluss der digitalen Kommunikation in den Zuständigkeitsbereich der Mediensoziologie fällt. Dies gilt auch für eine intensivere Analyse der primären Kommunikationsmedien wie Sprache, Bild oder akustische Medien. Auch diese Thematik lässt sich hier nur andeuten. Zum Schluss dieser Einleitung stellen wir noch die Familie Schmidt vor. Herr und Frau Schmidt sind diejenigen Kommunikationspartner, auf die wir in unseren Darstellungen immer wieder zurückkommen, um bestimmte exemplarische Situationen oder Fälle zu analysieren. <?page no="12"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Schuetzeichel__Soziologische_Kommunikationstheorien(2)____[Druck-PDF]/ 13.08.2015/ Seite 12 www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Schuetzeichel__Soziologische_Kommunikationstheorien(2)____[Druck-PDF]/ 13.08.2015/ Seite 13 13 1 Soziologie der Kommunikation Die moderne Gesellschaft wird als eine Mediengesellschaft, Kommunikationsgesellschaft oder Informationsgesellschaft bezeichnet. Die Bedeutung der Massenmedien wächst stetig, die Alltagswelt wird immer stärker von den Massenmedien durchdrungen. Diese wirken nicht nur in die Tiefe, sondern auch globalisierend in die Breite und können selbst-- man denke an die Paralyse der realsozialistischen Länder-- riesige Reiche ins Wanken bringen. Die durchdringende Mediatisierung und Kolonialisierung unseres Alltagslebens durch die neue Kommunikationsform Internet ist offensichtlich-- mit noch nicht absehbaren Folgen. Und bei zwischenmenschlichen Problemen wird uns von sämtlichen Experten empfohlen, man solle doch miteinander reden. Für alle von uns spielen die Möglichkeiten, kompetent an den gesellschaftlichen Kommunikationsformen teilzuhaben, eine immer größere Rolle. Wir sind von den ersten Schuljahren an mehr oder weniger dazu gezwungen, uns in fremden Sprachen zu üben und sie zu erlernen. Bilingualität wird allmählich zum Ausbildungsstandard in vielen Berufen. Die kommunikative Kompetenz, die richtige kommunikative Dramaturgie und Inszenierung stellen einen enorm wichtigen Selektionsfaktor für unsere Karrieren dar. Dies bezieht sich nicht nur auf unsere sprachlichen Potenziale, sondern auch auf die Fähigkeit, in anderen Zeichen- und Kommunikationssystemen eine, wie man heutzutage sagt, adäquate Performanz zu bieten. Man denke beispielsweise an Zugehörigkeit zu Gruppen und zu Lebensstilen, die wir durch unseren Körper, unser Outfit und insbesondere durch unsere Kleidermoden kommunizieren. Wir reden und hören, schreiben und lesen, sehen fern oder lassen uns musikalisch in einer erstaunlichen Permanenz berieseln-- wann eigentlich kommunizieren wir in unserem alltäglichen Leben nicht? Diese oberflächlichen Indizien mögen genügen, um auf die enorme Relevanz von Kommunikation für das Leben in modernen Gesellschaften hinzuweisen. In dieser Hinsicht ist Kommunikation in all ihren verschiedenen Formungen und Differenzierungen ein zentrales Objekt der soziologischen Forschung über die Bedingungen und Strukturen der modernen Gesellschaft. Kommunikation nimmt dabei durchaus ambivalente Züge an. Die Veränderungen der Kommunikationsformen werden einerseits für den radikalen Wandel verantwortlich gemacht, dem sich die moderne Gesellschaft ausgesetzt sieht, sie werden andererseits aber auch gerade als Lösung für das von ihr hervorgerufene Problem angesehen- - nur in und durch Kommunikation und nicht mehr in festen, allseits akzeptierten Werten, Normen oder uniformen Kulturen scheinen sich moderne Gesellschaften in einer fragilen Weise integrieren zu können. Zum anderen tritt aber Kommunikation in all ihren Formen und Ausprägungen nicht nur als ein zu erforschender Sachverhalt in den Blickpunkt der Soziologie, sondern mehr und mehr auch als ein zentraler Leitbegriff der soziologischen Theoriebildungen. Manche Wissenschaftler sprechen schon seit Längerem von einem ›commuwww.claudia-wild.de: <?page no="13"?> [UTB-M]__Schuetzeichel__Soziologische_Kommunikationstheorien(2)____[Druck-PDF]/ 13.08.2015/ Seite 14 14 1 Soziologie der Kommunikation nicative turn‹ (vgl. Knoblauch / Luckmann 2000, Knoblauch 2000) in der Soziologie. Sie denken beispielsweise an die Theorie des kommunikativen Handelns von Habermas, an die soziologische Systemtheorie von Luhmann und selbstverständlich auch an ihren eigenen sozialphänomenologischen Ansatz. Diese Ansätze rücken Kommunikation in den Mittelpunkt ihrer Theoriebildung. Die Soziologie ist bekanntlich sehr reich an Kontroversen über Theoriebildungen, über ihre Erkenntnisziele und ihre Grundbegriffe. Und so ist der communicative turn vorläufig der letzte in einer längeren Reihe von turns, die sie in den letzten Jahren ereilt haben, angefangen von einem ›linguistic turn‹ in den 1980er-Jahren über den ›cultural turn‹ in den 1990er-Jahren. Es mag dahingestellt sein, ob man wirklich von einer kommunikativen Wende sprechen kann. Mit guten Gründen ließe sich argumentieren, dass ›Kommunikation‹ der Sache nach schon immer im Zentrum der Soziologie gestanden hat. Aber man darf vermuten, dass die postulierte kommunikative Wende in keinem zufälligen Zusammenhang mit den Veränderungen der Gesellschaft steht. Sowohl als Objekt wie als zentraler Begriff soziologischer Theorien genießt ›Kommunikation‹ also eine erhöhte Aufmerksamkeit. Kommunikation ist natürlich auch Gegenstand anderer Wissenschaften. Eine Disziplin, die Publizistik oder Kommunikationswissenschaft, manchmal auch Medienwissenschaft genannt, hat insbesondere die Massenmedien wie Zeitungen, Zeitschriften, Radio und Fernsehen zu ihrem Thema. Von besonderer Relevanz ist natürlich die Linguistik, insbesondere die Soziolinguistik. Diese weist eine hohe Affinität zur Soziologie der Sprache auf, wobei die Übergänge zwischen beiden Disziplinen durchaus fließend sind. Beide befassen sich mit den sozialen Bedingungen und sozialen Konsequenzen sprachlichen Verhaltens und sprachlicher Kompetenzen. Eine enge Beziehung besteht auch zu der Lehre von den Zeichen, der Semiologie oder der Semiotik, die im vorletzten Jahrhundert als moderne Wissenschaft gleich zweimal begründet wurde- - von dem Philosophen und Logiker Charles Sanders Peirce und von Ferdinand de Saussure als dem Ahnherrn der modernen Linguistik. Auch die Geschichtswissenschaften werden in Gestalt einer Mediengeschichte mehr und mehr auf die Bedingungen und die Folgen der verschiedenen Formen menschlicher Kommunikation für die Analyse historischer Verläufe und Entwicklungen aufmerksam (vgl. Faßler / Halbach 1998, Schanze 2001). Medien werden in den letzten Jahren zum Kristallisationskern eines neuen wissenschaftlichen Trends, der den Titel ›Kulturwissenschaft‹ trägt. Zu dieser können insbesondere geisteswissenschaftliche Disziplinen wie die verschiedenen Philologien, Kunst- und speziellen Kulturwissenschaften gerechnet werden. Die Psychologie befasst sich mit den psychischen Voraussetzungen für die Teilnahme an und den psychischen Folgen von Kommunikation. In den Erziehungswissenschaften werden neue pädagogischer Felder erfunden und erforscht, beispielsweise die Medienpädagogik oder neue Bildungstechnologien. Und schließlich ist die Philosophie, insbesondere die Sprach- und neuerdings auch die Medienphilosophie (vgl. Hartmann 2000), als eine wichtige Nachbardisziplin zu nennen. <?page no="14"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Schuetzeichel__Soziologische_Kommunikationstheorien(2)____[Druck-PDF]/ 13.08.2015/ Seite 14 www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Schuetzeichel__Soziologische_Kommunikationstheorien(2)____[Druck-PDF]/ 13.08.2015/ Seite 15 1 Soziologie der Kommunikation 15 In der Soziologie ist die Analyse von Kommunikation auf eine Vielzahl von verschiedenen Subdisziplinen aufgeteilt. Zu diesen gehört beispielsweise die Sprachsoziologie (vgl. Cicourel 1978, Schütze 1975), die sich mit den verschiedenen Sprachformen in ihren kommunikativen Verwendungsweisen, mit dem Verhältnis von Sprache, Wissen und Kultur oder der sprachlichen Kompetenz von Sprechern befasst. In dem Gebiet der sozialen Semiotik finden sich Soziologie und die Wissenschaft von den Zeichen, die Semiologie oder Semiotik, zusammen, um die verschiedenen Zeichensysteme in ihren sozialen Kontexten zu untersuchen. Eine weitere Sparte stellt die mikrosoziologische Analyse von Interaktionen dar. Sie befasst sich mit der mündlichen Kommunikation in so genannten Face-to-Face-Beziehungen. Die bedeutendste und bekannteste Interaktionssoziologie liegt in dem Werk von Erving Goffman (vgl. Goffman 1971) vor. Als Kommunikationssoziologie wird in der Soziologie häufig die Subdisziplin bezeichnet, die sich mit den sogenannten Massenmedien befasst. Sie untersucht die Produktions- und Rezeptionsweisen von Verbreitungsmedien wie Fernsehen, Zeitschriften und Zeitungen. Mit den neuen, sogenannten digitalisierten Kommunikationsmedien wie dem Internet beschäftigt sich zudem die sogenannte Techniksoziologie wie auch allgemein die Kultursoziologie. Daneben gibt es zahlreiche andere Einzelforschungen und Einzeldiskurse, die sich mit spezifischen Themen auseinandersetzen. So interessiert sich einer der berühmtesten Soziologen, Georg Simmel, beispielsweise für den Brief, das Schreiben von Briefen und sozialen Konsequenzen, die damit verbunden sind, dass Menschen einander Briefe schreiben (vgl. Simmel (1908 / 1992: 429-433). Andere Soziologen befassen sich mit Gesellschaften, in denen es keine oder Schrift gab. Diese so genannten oralen Kulturen mussten ihr soziales Leben und ihren kognitiven Haushalt völlig anders strukturieren und organisieren als Schriftkulturen oder gar Gesellschaften wie unsere heutige Gesellschaft, die auf digitale Techniken zurückgreifen können. Wiederum andere Forschungsfelder untersuchen beispielsweise Kommunikationsweisen in spezifischen sozialen Systemen, beispielsweise in Organisationen und Familien. Und wenn man einen weiten Kommunikationsbegriff verwendet, dann können auch solche Disziplinen wie die Soziologie der Wirtschaft oder der Politik als spezifische Kommunikationssoziologien begriffen werden, denn sie richten ihr Augenmerk auf besondere Kommunikationsmedien wie Geld oder Macht. Die Untersuchung von spezifischen sozialen Kommunikationsformen ist also in der Soziologie auf zahlreiche Disziplinen, Diskurse und Einzelforschungen verteilt. Neben diesen spezifischen Forschungsfeldern gibt es noch eine weitere Richtung, die man mitunter als ›Theoretische Soziologie‹ oder als ›Soziologische Theorie‹ bezeichnet. Ihr Erkenntnisinteresse besteht darin, allgemeine Grundlagen der Soziologie zu entwickeln. Sie stellt also keine Subdisziplin der Soziologie dar, sondern versucht eher, der Soziologie und der soziologischen Forschung ein Fundament in Gestalt von allgemeinen Kategorien, Begriffen, Leithypothesen, Erklärungsmodellen etc. zu geben. Auch die Soziologische Theorie ist keineswegs durch eine besondere theoretiwww.claudia-wild.de: <?page no="15"?> [UTB-M]__Schuetzeichel__Soziologische_Kommunikationstheorien(2)____[Druck-PDF]/ 13.08.2015/ Seite 16 16 1 Soziologie der Kommunikation sche Homogenität gekennzeichnet. Im Gegenteil, jede(r), die (der) einmal einen auch nur oberflächlichen Blick in ein soziologisches Buch geworfen hat, wird feststellen, dass es die soziologische Theorie nicht gibt. Jenseits des institutionell-universitären Zusammenhangs lassen sich nicht nur viele verschiedene Forschungsrichtungen, sondern auch viele verschiedene theoretische Orientierungen und theoretische Programme identifizieren. So führen beispielsweise Einführungen in die Theoriegeschichte der Soziologie kataraktartig verschiedenste Bezeichnungen, Benennungen, Thesen, Hypothesen, Methoden und Begriffe an, so dass man mit Recht nach ihrem Zusammenhang und vielleicht sogar nach ihrer Einheit fragen kann. Und es wäre in diesem Zusammenhang einmal interessant, der Frage nachzugehen, wie die Soziologen eigentlich untereinander kommunizieren und welchen Anforderungen sie dabei genügen müssen, wenn sich ein solches, nicht nur auf den ersten Blick verwirrendes Bild ergibt. Nun unterscheidet sich die Soziologie dabei nicht von der Mehrzahl der anderen wissenschaftlichen Disziplinen. Von daher ist diese theoretische Unübersichtlichkeit den einen ein Zeichen für die Innovativität und Kreativität dieser Disziplin, den anderen ein Indiz für ihren vorwissenschaftlichen Zustand. Den verschiedenen soziologischen Theorien ist weniger ein bestimmtes Forschungsobjekt gemeinsam, sondern eher eine Leitfrage: Wie ist soziale Ordnung möglich? Sie lässt sich je nach Geschmack und Erkenntnisinteresse auch anders formulieren: Wie kann man soziale Beziehungen, soziale Gebilde, Institutionen, Gesellschaften oder allgemein soziale Ordnungen erklären? Oder auch: Wie ist soziales Handeln möglich, wenn denn soziales Handeln eine Orientierung an anderen Handelnden voraussetzt? Wie können Menschen ihre Handlungen koordinieren und wie können sie kooperieren? Oder in Bezug auf Kommunikation formuliert: Wie ist überhaupt Kommunikation möglich? Dazu gehören solche Fragen wie: Wie geschieht eigentlich Kommunikation? Wie kommt Kommunikation zustande? Woraus baut sie sich auf? Wann liegt Kommunikation zwischen Menschen vor? Ist schon jede Wechselwirkung zwischen Menschen eine Kommunikation? Was unterscheidet etwa ein zufälliges Zusammenprallen zwischen Menschen auf dem Gehsteig von einem Gespräch zwischen ihnen? Welche Formen von Kommunikation kann man unterscheiden? Wie unterscheidet sich beispielsweise das Klatschgespräch im Hausflur von dem Jubel der Fussballfans beim Fallen eines Tores, das Lesen eines Buches von dem Kauf eines Buches? Handelt es sich immer um Kommunikationen? Wie stellt man das fest? Und aus welchen Komponenten besteht Kommunikation? Gibt es Komponenten, die für alle verschiedenen Kommunikationsformen maßgeblich sind? Diese Fragen unterscheiden das Erkenntnisinteresse der Soziologie von demjenigen anderer wissenschaftlicher Disziplinen, die ebenfalls mit Kommunikation befasst sind. In dieser Einführung analysieren wir solche theoretischen Positionen, die in besonders signifikanter Weise zur Beantwortung dieser Frage ›Wie ist Kommunikation möglich? ‹ beitragen können. Von daher versteht sich diese Einführung nicht nur <?page no="16"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Schuetzeichel__Soziologische_Kommunikationstheorien(2)____[Druck-PDF]/ 13.08.2015/ Seite 16 www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Schuetzeichel__Soziologische_Kommunikationstheorien(2)____[Druck-PDF]/ 13.08.2015/ Seite 17 1.1 Alltagskonzepte 17 als ein Beitrag zur Soziologie der Kommunikation, sondern auch als Einführung in soziologische Theorien oder gar in die allgemeine soziologische Theoriebildung überhaupt. Sie befasst sich mit solchen Theorien, die nicht nur an dieser oder jener spezifischen Kommunikationsform interessiert sind, sondern allgemein an der strukturellen Matrix von Kommunikation und die von daher auch für die allgemeine Theorie ein hohes Potenzial besitzen. Es geht also in dieser Einführung auch darum, den schon erwähnten communicative turn in der Soziologie ein wenig weiter zu treiben, weil nach Überzeugung des Verfassers ›Kommunikation‹ in der Soziologie dasjenige Basiskonzept darstellt, welches die höchste integrative Kraft aufweist und solche konkurrierenden Basiskonzepte wie ›Handlung‹, ›Wissen‹, ›Kultur‹ oder neuerdings ›Medien‹ nochmals zu fundieren vermag. Wenn man sich mit Kommunikation und Kommunikationstheorien befasst, so steht man vor einem schwierigen Problem, denn es gibt eine Phalanx unterschiedlicher Theorien, die Kommunikation sehr unterschiedlich konzeptualisieren. Im Jahre 1977 konnte Klaus Merten (vgl. Merten 1977) allein im soziologierelevanten Kontext 160 verschiedene Definitionen von Kommunikation identifizieren. Und die Zahl dürfte in der Zwischenzeit sicherlich nicht abgenommen haben. Dies liegt unter anderem daran, dass ›Kommunikation‹ wie auch ›Information‹ oder ›Sprache‹ keine Begriffe im normalen Sinne sind, obwohl sie häufig als solche behandelt werden. Sie beziehen sich nicht auf anschauliche, konkret fassbare, abgrenzbare Dinge, wie dies etwa ›Buch‹, ›Haus‹ oder ›Baum‹ tun. Sie sind unanschaulich, weil sie nicht einen sinnlich wahrnehmbaren Gegenstand untersuchen, sondern Gegenstände im übertragenen Sinne: Sie beziehen sich auf Formen des Handelns und der Praxis. Sie sind nicht Produkte menschlicher Praxis wie etwa Häuser oder Bücher, sondern Formen, in denen sich die menschliche Praxis vollzieht. Entsprechend schwierig ist ihre Konzeptualisierung. So lässt sich auch der Umstand erklären, dass es recht zahlreiche Vorstellungen und Theorien über Kommunikation gibt. In diesem Kapitel müssen wir uns mit gewissen Begrifflichkeiten und Problemstellungen vertraut machen. Dazu werden wir zunächst unsere Alltagsauffassung von Kommunikation beleuchten und anschließend auf renommierte wissenschaftliche Kommunikationsvorstellungen und deren theoretische Einrahmungen zu sprechen kommen. 1.1 Alltagskonzepte Im Alltagsleben ist eine spezifische Vorstellung über Kommunikation in besonderem Maße virulent (vgl. Fiehler 1990): Kommunikation wird häufig in Analogie zu dem Transport von Gütern aufgefasst, wie man an solchen Redewendungen wie ›Man kann seinen Worten entnehmen, dass…‹, ›In diesem Buch steht-…‹ oder ›Die Fernsehsendung hat den Inhalt-…‹ erkennen kann. Man spricht von der ›Conduit Metapher‹ der Kommunikation. Kennzeichnend für diese Auffassung sind folgende Punkte: <?page no="17"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Schuetzeichel__Soziologische_Kommunikationstheorien(2)____[Druck-PDF]/ 13.08.2015/ Seite 18 18 1 Soziologie der Kommunikation »(1) language functions like a conduit, transferring thoughts bodily from one person to another; (2) in writing and speaking, people insert their thoughts or feelings in the words; (3) words accomplish the transfer by containing the thoughts or feelings and conveying them to others; and (4) in listening or reading, people extract the thoughts and feelings once again from the words.« (Reddy 1979: 290) Das Modell suggeriert, dass sich im Geist des Sprechers etwas befindet, was er mitteilen möchte. Er verpackt es in einen sprachlichen Ausdruck und benutzt seine Sprechorgane, um es auszudrücken. Ein Hörer nimmt es durch seine Ohren auf und packt den transportierten Inhalt aus der sprachlichen Hülle aus. Wenn das Einpacken und das Auspacken richtig vollzogen werden, kann der Hörer verstehen, was der Sprecher meinte. Der Kommunikationsprozess ist zu seinem Ende gekommen. Die Kommunikationsbedingungen, die von der Conduit-Metapher unterstellt und suggeriert werden, sind folgende (Johnson / Lakoff 1982: 9, zit. nach Fiehler 1990: 105): »(1) The participants are equally competent speakers of the same dialect of the same language, and individual signification is insignificant. (2) Relevant to the subject matter and the context, the participants share (a) the same cultural assumptions, (b) the same relevant knowledge of the world, (c) the same relevant background assumptions about the context of the utterance, (d) the same understanding of what the conversation is about, and (e) the same relevant conceptual metaphors and folk theories.« Aber auch andere Metaphern leiten unsere Auffassung von Kommunikation (vgl. Krippendorff 1994). Mit der Conduit-Vorstellung eng verbunden ist die Vorstellung von einer durch Kommunikation verursachten Kausalität oder durch Kommunikation zu erreichenden Kontrolle. ›Deine Worte machen mich glücklich‹, ›Gewaltdarstellungen im Fernsehen erhöhen das Gewaltpotenzial bei Jugendlichen‹, ›Der Wetterbericht veranlasste mich, den Regenschirm zu Hause zu lassen‹- - all dies sind Redewendungen, mit denen wir gewisse Kausalitäten postulieren und qua Kommunikation eine Kontrolle über die Empfänger suggerieren. Damit steht eine andere alltägliche und auch wissenschaftliche Leitvorstellung im Zusammenhang. Wir gehen davon aus, dass sich durch Kommunikationen Gemeinsamkeiten herstellen lassen. Es werden eher die integrierenden als die desintegrierenden Funktionen oder Effekte von Kommunikation betont. Diese Tendenz verstärkte sich, als im 19.- Jahrhundert mit dem enormen Aufschwung im Bereich der technischen Medien die Metapher von der Kommunikation als einem Kanal oder einem Fluss aufkam. Kommunikation muss kanalisiert, in die richtigen Bahnen gelenkt, vor Überbeanspruchung geschützt und in ihren Kapazitäten berechnet werden. Es soll nun keinesfalls angedeutet werden, dass diese alltagstheoretischen Metaphern und Konzepte in einem trivialen Sinne falsch sind. Ist es nicht vielmehr so, dass wir uns in unseren Kommunikationen an unseren Leitvorstellungen orientieren und <?page no="18"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Schuetzeichel__Soziologische_Kommunikationstheorien(2)____[Druck-PDF]/ 13.08.2015/ Seite 18 www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Schuetzeichel__Soziologische_Kommunikationstheorien(2)____[Druck-PDF]/ 13.08.2015/ Seite 19 1.2 Kommunikationstheoretische Modelle 19 wir damit unsere eigene Wirklichkeit erzeugen? Ist es nicht so, dass wir, wenn wir Kommunikation etwa als kausal wirkendes Kontrollorgan begreifen, uns entsprechend verhalten, dies auch von unseren Kommunikationspartnern verlangen und somit in einer Art Selffulfilling Prophecy unseren Konzepten zur ihrer Realität verhelfen? Andererseits kann man nicht erwarten, dass unsere alltagsweltlichen Vorstellungen dem sozialen Phänomen der Kommunikation gerecht werden. Aber dies gilt auch für die in der Wissenschaft diskutierten Konzeptionen. Sie sind ebenfalls Metaphern und Leitbilder, die manche Perspektive auf die Gegenstands- oder Erfahrungsebene freigeben, andere wiederum versperren. Von daher ist es die stete Aufgabe der Soziologie, ihr analytisches Begriffsschema zu überprüfen und sich die Annahmen, die in dieses Schema einfließen, zu vergegenwärtigen. 1.2 Kommunikationstheoretische Modelle Wissenschaftliche Modelle sind nicht frei von Metaphern. Da wissenschaftliche Begriffs- und Theoriebildungen in der Regel immer auf lebensweltlichen Annahmen beruhen und von diesen ihren Ausgang nehmen, sind die alltäglichen Leitvorstellungen und Metaphern auch für viele wissenschaftliche Konzeptualisierungsvorschläge bindend. Dies gilt in besonderem Maße für das erste bedeutende Kommunikationsmodell überhaupt. Es stammt bezeichnenderweise nicht aus der Feder von Sozialwissenschaftlern, sondern von Claude Shannon und Warren Weaver (1949), zwei Mathematikern und Ingenieuren, deren Absicht es war, ein technisches Modell für die Übertragung von Informationen zu entwickeln. Im Auftrag einer Telefongesellschaft suchten sie nach Möglichkeiten einer störungsfreien Übermittlung von Telefonaten. Dabei unterschieden sie drei Problemebenen: • technisches Problem: Wie können Zeichen übertragen werden? • semantisches Problem: Wie genau entsprechen die Zeichen der gewünschten Bedeutung? • pragmatisches Problem: Wie effektiv beeinflusst die empfangene Nachricht das Verhalten? Ausdrücklich bekundeten sie, sich nur mit dem technischen Problem der Kommunikation befassen zu wollen. Das von ihnen entworfene Modell hat lediglich den Anspruch, diese technische Problemebene zu verdeutlichen. Zu großen Missverständnissen führte aber, dass sie ihre Theorie als ›Informationstheorie‹ (und nicht etwa als ›Signaltheorie‹) der Kommunikation bezeichneten und damit den Eindruck erweckten, allgemeine und insbesondere die menschliche Kommunikation beschreiben zu wollen. ›Information‹ ist bei Shannon und Weaver eine rein mathematische Größe, die als ›mittlere Auftrittswahrscheinlichkeit von Zeichen‹ definiert wird. Sie soll gerade die für die Humankommunikation zentrale semantische Komponente der ›Bedeutung‹ ausschließen. <?page no="19"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Schuetzeichel__Soziologische_Kommunikationstheorien(2)____[Druck-PDF]/ 13.08.2015/ Seite 20 20 1 Soziologie der Kommunikation Eine Nachrichtenquelle gibt eine Nachricht ab, die von einem oder mehreren Sendern nach den Regeln eines konventionellen Codes in ein Signal umgeformt werden muss, welches dem Übertragungskanal angemessen sein kann. Der Übertragungskanal ist ein Mittel, um Signale von einem Sender zu einem Empfänger zu befördern. Der Empfänger muss dann in einer inversen Weise die Arbeitsschritte des Senders wiederholen und das empfangene Signal in eine Nachricht umwandeln. Damit hat die Nachricht ihr Ziel erreicht. Ein wesentlicher Faktor in diesem Übertragungsprozess kann die Störquelle einnehmen, die durch ein Rauschen, also Verzerrungen, Übertragungsfehler o. ä. den Empfang zu beeinträchtigen vermag. Diesem Modell ist es gleichgültig, was Nachrichtenquelle oder Nachrichtenziel, was Sender oder Empfänger ist. Es können Götter, Menschen oder technische Apparaturen sein. Ebenso ignoriert dieses Modell Fragen der Bedeutung oder des Sinns oder allgemein semantische Fragen. Von daher kann auch die Nachricht eine beliebige sein. Dieses Modell wurde in der darauf folgenden Forschung um die Aspekte der Codierung bzw. Decodierung erweitert: Damit sich eine Nachricht von einem Sender zu einem Empfänger übermitteln lässt, muss sie zunächst von einem Sender mithilfe eines festen Codes in Signale gefasst, also encodiert werden. Der Empfänger muss den gleichen Code benutzen, um die Signale entsprechend decodieren und damit die ursprüngliche Nachricht rekonstruieren zu können. Unter einem Code wird dabei eine feste Menge von Zuordnungsregeln verstanden, die, wie z. B. bei Morsealphabeten, jedem sprachlichen Element ein festes technisches Signal in der Gestalt von elektrischen Impulsen oder Lichtsignalen zuordnen. Dieses ursprünglich für die Maschinenkommunikation entwickelte Modell kann jedoch auch für die Analyse menschlicher Kommunikation benutzt werden. In diesem Fall werden die Codes als feste Zuordnungsregeln zwischen subjekti- Nachrichtenquelle Nachricht Sender Signal Kanal Störquelle Nachricht Empfänger Nachrichtenziel Empfangenes Signal Abb. 1.1: Klassisches Konzept der Informationstheorie nach Shannon / Weaver <?page no="20"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Schuetzeichel__Soziologische_Kommunikationstheorien(2)____[Druck-PDF]/ 13.08.2015/ Seite 20 www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Schuetzeichel__Soziologische_Kommunikationstheorien(2)____[Druck-PDF]/ 13.08.2015/ Seite 21 1.2 Kommunikationstheoretische Modelle 21 ven Intentionen und sprachlichen Zeichen verstanden. Der Sender besitzt aufgrund seiner Sprachkompetenzen ein Wissen darüber, welche sprachlichen Zeichen oder Elemente er benutzen muss, um seine gedanklichen Intentionen ausdrücken und formulieren zu können. Das Modell baut also auf der Vorstellung auf, es gebe ein vorsprachliches Reich von Gedanken, welches in sprachliche Bedeutungen überführt werden müsse. Und soll die Kommunikation erfolgreich sein, soll die Übertragung also gelingen, so muss der Empfänger oder Hörer den gleichen Code benutzen, also ebenfalls über die äquivalenten Kompetenzen verfügen, um aus den sprachlichen Äußerungen die subjektiven Bedeutungszuschreibungen zu decodieren. Das klassische Kommunikationsmodell geht demnach davon aus, dass vorsprachliche Gehalte durch feste Codes in ein sprachliches Medium überführt und dieses durch Kommunikation übertragen werden kann. Die Qualität der Kommunikation bemisst sich danach, ob diese Übertragung geräuschlos funktioniert, ob die Codierungen auf beiden Seiten dieselben sind und die Sprache ein reines, nicht störendes Medium bleibt. In diesem Modell spielen Sender und Empfänger eine besondere Rolle, denn sie stellen die Schnittstelle zwischen der externen Nachricht und dem internen technischen System dar. Das Problem dieser Schnittstellen besteht darin, dass ein Ausgleich zwischen der Komplexität der Nachricht und der begrenzten Kapazität des Kanals geschaffen werden muss. Die Komplexität der Nachricht muss der Kapazität des Kanals angemessen sein. Hierbei lassen sich zwei mögliche Problemlösungen unterscheiden: analoge und digitale Kommunikation. Eine analoge Kommunikation liegt vor, wenn das vom Sender erzeugte und vom Empfänger rezipierte Signal zu der Nachricht in einem Verhältnis der Proportionalität steht, d. h. das Signal folgt der Nachricht in seinen Veränderungen im Raum und in der Zeit. Typische analoge Enkodierung der Information in einem Medium / Kanal Dekodierung der Information in einem Medium / Kanal Sender Empfänger Abb. 1.2: Erweitertertes klassisches Modell <?page no="21"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Schuetzeichel__Soziologische_Kommunikationstheorien(2)____[Druck-PDF]/ 13.08.2015/ Seite 22 22 1 Soziologie der Kommunikation Kommunikationsformen sind das Radio oder die Fotografie, der Film oder das Grammofon. Um digitale Kommunikation handelt es sich hingegen, wenn die Nachricht vor der Übertragung in spezifische Elemente ein und desselben Typs zerlegt wird, also z. B. in Buchstaben, in ganze Zahlen, in Pixel. Eine solche Form liegt in der Schrift oder in der elektronisch ermöglichten Kommunikation vor. Eine weitere Konkretisierung hat Badura (vgl. Badura 1971) vorgenommen. Badura berücksichtigte mehrfache Encodierungs- und Decodierungsprozesse, nämlich in Anlehnung an die Semiotik syntaktische, semantische und pragmatische Prozesse. Und er sozialisierte Sender und Empfänger, indem er sie in soziale Kontexte einbettete: Mit diesem Modell verwandt ist das etwa zur gleichen Zeit entwickelte, vornehmlich für die Untersuchung der Massenmedien wie der Werbung und der politischen Propaganda entworfene Konzept des Soziologen und Politikwissenschaftlers Harold Lasswell, welches sich auch heute noch in der Massenkommunikationsforschung großer Beliebtheit erfreut (Lasswell 1966: 178): A convenient way to describe an act of communication is to answer the following questions: • Who • Says What • In Which Channel • To Whom • With What Effect? 1. Pragmatische Decodierung 2. Semantische Decodierung 3. Syntaktische Decodierung 1. Syntaktische Decodierung 2. Semantische Decodierung 3. Pragmatische Decodierung Situation Informationsniveau emotiver Erlebnishorizont Interessen (Soziale Randbedingungen) Situation Informationsniveau emotiver Erlebnishorizont Interessen (Soziale Randbedingungen) Sender Signal Geräusche Empfänger Abb. 1.3: Baduras Kommunikationsmodell (nach Badura 1971: 20, stark modifziert) <?page no="22"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Schuetzeichel__Soziologische_Kommunikationstheorien(2)____[Druck-PDF]/ 13.08.2015/ Seite 22 www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Schuetzeichel__Soziologische_Kommunikationstheorien(2)____[Druck-PDF]/ 13.08.2015/ Seite 23 1.2 Kommunikationstheoretische Modelle 23 Die Kommunikationsforschung hat es dieser Konzeption zufolge mit den klassischen W-Fragen zu tun. Lasswell legte diesem Entwurf das behavioristische Stimulus-Response-Modell zugrunde: Massenmedien funktionieren so, dass sie bestimmte Stimuli mit bestimmten Reaktionen verknüpfen und dabei möglichst diejenigen Stimuli, die zu unerwünschten Reaktionen führen könnten, vermeiden (vgl. Lasswell 1927: 630). Das klassische Modell unterscheidet folgende Komponenten: Kommunikation ist eine Relation zwischen mindestens zwei Kommunikatoren, einem Sender und einem Empfänger; es liegen zwei kommunikative Handlungen vor, eine Mitteilung seitens eines Senders, eine Rezeption oder ein Empfangen dieser Mitteilung durch einen Empfänger; Sender und Empfänger müssen über einen hinreichend ähnlichen, in ihrer Bedeutung weitgehend isomorphen Vorrat an Zeichen und Symbolen verfügen. Ein Kanal stellt den materiellen Träger der Kommunikation dar. Das klassische Modell von Shannon / Weaver wie auch die in dieser Tradition stehenden Erweiterungen und Modifikationen formalisieren die in der alltagsweltlichen Auffassung von der Kommunikation als einer Übertragung oder einem Transport von Gütern unterstellten Annahmen. Es kann als eine Kodifizierung dieser Auffassung gewertet werden. Das Modell war, wie schon erwähnt, ursprünglich zur Modellierung von technisch übertragener und gestützter Information vorgesehen. Es enthält allein physikalische Größen, keine semantischen oder, wie Soziologen sagen würden, sinnhaften Elemente. Leider wurde und wird es aber häufig entgegen der Absicht ihrer Urheber als ein allgemeines kommunikationstheoretisches Modell betrachtet, als ein Modell, welches ausreichend sei, um auch die menschliche Kommunikation beschreiben zu können. Von daher sah man sich sehr schnell vor die Notwendigkeit gestellt, dieses Modell weiter zu entwickeln. Neben dem Desiderat des ›Sinns‹ musste das Modell vor allem in einer zweiten Hinsicht erweitert werden. Shannon / Weaver konzeptualieren Kommunikation als einen linearen Prozess und vernachlässigen dabei zirkulare, rekursive und reziproke Momente. In diesem Modell findet ein quantitativer oder syntaktischer Informationsbegriff Verwendung. Der Informationswert von Zeichen wird mit der Wahrscheinlichkeit ihres Vorkommens gleichgesetzt. Der syntaktische Informationsgehalt ist ein Maß für den Neuigkeitswert oder Überraschungsgrad eines Zeichens. Oder kurz: Information ist ein Maß für die Unwahrscheinlichkeit von Zeichen. Im Alltag und im sozialen Leben überhaupt verwenden wir einen qualitativen Informationsbegriff. Während sich der syntaktische Informationsbegriff allein auf die Kombination von Zeichen bezieht, umfasst der qualitative Informationsbegriff, so wie er in der Soziologie Verwendung findet, darüber hinaus aber noch andere Kontexte, wie etwa das Vorwissen der Kommunikatoren, ihr Interesse oder ihre Aufmerksamkeit. Er ist im Unterschied zum syntaktischen nicht formalisierbar. Kennzeichnend ist einerseits die <?page no="23"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Schuetzeichel__Soziologische_Kommunikationstheorien(2)____[Druck-PDF]/ 13.08.2015/ Seite 24 24 1 Soziologie der Kommunikation pragmatische These, dass nur das Information ist, was Information erzeugen kann, und die semantische These andererseits, dass nur das Information sein kann, was als Information verstanden wird. Gemeinsam scheint beiden Varianten der Bezug auf die Unterscheidung von Varietät und Redundanz zu sein. Informationen beruhen auf Varietät, also auf codierten Unterscheidungen oder Differenzen. Varietäten, die nicht für ein oder von einem System codiert sind, stellen bloßes ›noise‹ dar. Redundanz heißt, dass mehr Zeichen oder Signale gesendet werden müssen, um Informationen darzustellen, als notwendig ist. Ob Informationen redundant sind, hängt davon ab, ob sie schon in den jeweiligen Kontexten enthalten sind, so dass die Informationen von Zeichen oder Signalen notfalls auch auf dem Umwege über den Gebrauchskontext erschlossen werden könnten. Natürliche Zahlen sind z. B. nicht redundant. Wenn Sie die Zahlenkombination 156? 899 haben, dann können sie bei einem Verlust der vierten Ziffer aus dem Kontext nicht erschließen, um welche es sich handelt. Anders ist das z. B. in der Alltagssprache, bei der man eine Redundanz von 50 Prozent annimmt. Ähnlich dürfte es sich im Fall der Schrift verhalten, denn Sie k.nnen. anz g.wiß erschl..ssen, was ich Ihnen gerade sagen will. Auch in sozialen Beziehungen spielt die Redundanz des Mitgeteilten eine erhebliche Rolle. Nehmen wir ein Beispiel aus dem Leben unserer Eheleute Schmidt, die wir an dieser Stelle zum ersten Mal einführen, ein nunmehr seit 30 Jahren verheiratetes Ehepaar. Heute weiß Herr Schmidt sicherlich ganz genau, was das Naserümpfen seiner Frau zu bedeuten hat. Am Beginn ihrer Beziehung dürfte die Redundanz der Informationen wesentlich geringer gewesen sein- - ein Naserümpfen hätte wohl kaum als Mitteilung genügt, um den gerüffelten Sachverhalt zu erschließen. Welche Veränderungen erfährt dieses klassische Modell? Eine erste Modifikation wird an der Komponente des ›Codes‹ vorgenommen. Man geht davon aus, dass sowohl der Sprecher als auch der Adressat über eigene Zeichenrepertoires verfügen und eine Verständigung nur dann zustande kommt, wenn es eine genügend große Schnittmenge zwischen beiden Zeichenmengen gibt. Zeichen, die nur einem Repertoire angehören, können nicht zur Kommunikation benutzt werden. Dabei wird der Begriff ›Code‹ von den Kommunikationstheoretikern mehrdeutig verwendet. Er lässt sich auf zwei Wurzeln zurückführen, auf die juristische Terminologie, in welcher ein Code einen Gesetzestext bzw. eine Vorschrift darstellt (z. B. ›Code Napoléon‹), und auf die Kryptografie, in welcher ein Code eine Zuordnungsvorschrift für die Übertragung von Zeichenelementen einer natürlichen Sprache in die eine Geheimsprache darstellt. Kommunikationstheoretisch wird dieser Terminus in einer engeren und in einer weiteren Bedeutung verwendet. Er kann in einer zusätzlichen Bedeutung mit Zeichensystemen als solchen synonymisiert werden, und er kann in einer engeren Bedeutung als Zuordnungsregel zwischen Zeichensystemen benannt werden. Die Soziologie verwendet den Code-Begriff mit einer wesentlichen Ausnahme allgemein im Sinne einer Zuordnungsregel. Sie benutzt also den linguistischen Code-Begriff. Eine Ausnahme stellt die Systemtheorie dar, die einen kybernetischen Code-Begriff <?page no="24"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Schuetzeichel__Soziologische_Kommunikationstheorien(2)____[Druck-PDF]/ 13.08.2015/ Seite 24 www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Schuetzeichel__Soziologische_Kommunikationstheorien(2)____[Druck-PDF]/ 13.08.2015/ Seite 25 1.2 Kommunikationstheoretische Modelle 25 verwendet, der eine strikte Binarisierung der möglichen Werte des Codes beinhaltet und damit nicht Zuordnungen reguliert, sondern Unterscheidungen. Eine zweite Modifikation an dem ursprünglichen Modell wird erreicht, wenn man Kommunikationskreisläufe oder Rückkopplungsschleifen einbezieht. Dabei konnten sich die Kommunikationstheoretiker an dem frühen Modell des Redekreislaufs von Ferdinand de Saussure orientieren, der Kommunikation als einen sich in zwei Richtungen vollziehenden Informationsfluss beschrieb: vom Sprecher zum Hörer und vom Hörer, der nun seinerseits zum Sprecher wird, zurück zum ersten Sprecher oder nunmehr dem Hörer. Von besonderer Bedeutung ist auch die Theorie des Feedbacks von Watzlawick, Beavin und Jackson (vgl. Watzlawick u. a. 1967). Wenn der Sprecher das eigene kommunikative Handeln, die eigene Zeichenproduktion und deren Wirkung auf den Rezipienten betrachtet und beurteilt, entsteht möglicherweise eine Rückkopplung, wodurch er selbst zum Rezipienten seiner eigenen Mitteilung wird und seine Folgemitteilungen entsprechend beeinflussen oder korrigieren kann. Dabei kann zwischen negativen und positiven Rückkopplungen unterschieden werden. Positive Rückkopplungen liegen vor, wenn Zeichen, mit denen bereits eine positive bzw. erstrebte Wirkung erzielt wurde, verstärkt und bestätigt werden. Negative Rückkopplungen hingegen können den Sprecher veranlassen, seine Mitteilungen zu korrigieren, um die als negativ beurteilten Wirkungen auszugleichen. Dabei können in dem Kommunikationssystem selbst wieder weitere verschiedene Rückkopplungsschleifen identifiziert werden. Damit wird die Linearität des Kommunikationsmodells in Frage gestellt. Denn dieses Sender-Empfänger-Modell verteilt einseitig Aktivitäten und Passivitäten. Der Sender erhält den aktiven Part, der Empfänger den passiven Part. Kommunikation wird stattdessen von Watzlawick / Beavin 1966 als ein reziproker Prozess betrachtet, in welchem beide Beteiligten zugleich agieren und reagieren, handeln und erleben. Dabei lehnen sie sich an eine Beschreibung von Birdwhistell an, die die systemtheoretische Position schon früh vorwegnimmt: »Ein Individuum kommuniziert nicht, es lässt sich auf Kommunikation ein oder wird ein Teil derselben. Es bewegt sich, macht Geräusche […], aber es kommuniziert nicht. Genauso sieht, hört, riecht, schmeckt oder fühlt es-- aber es kommuniziert nicht.« (Birdwhistell 1959: 104) Mit anderen Worten: Von den Kommunikatoren geht keine Kommunikation aus, sondern sie nehmen an der Kommunikation teil. Sie sind nicht die Urheber von Kommunikation. Wenn man Rückkopplungsschleifen vorsieht, dann liegt der Gedanke nicht fern, dass jede Kommunikation die Fähigkeit oder die Notwendigkeit der Metakommunikation einschließt. Dieser Gedanke wird von Gregory Bateson entwickelt. Unter Metakommunikation versteht Bateson »die Fähigkeit, über Kommunikation zu kommunizieren und die Bedeutung der eigenen Handlungen und der Handlungen zu anderen zu kommentieren« (Bateson u. a. 1956b: 208). Kommunikationen sind auf sie begleitende Metakommunikationen angewiesen, weil nur so der Erfolg oder Misserfolg von kommunikativem Handeln festgestellt werden kann. Bateson intereswww.claudia-wild.de: <?page no="25"?> [UTB-M]__Schuetzeichel__Soziologische_Kommunikationstheorien(2)____[Druck-PDF]/ 13.08.2015/ Seite 26 26 1 Soziologie der Kommunikation siert sich besonders für die wechselseitigen Bezugnahmen von verbalen und nonverbalen Elementen in der normalen alltäglichen Interaktion. Diese können sich gleichsam wechselseitig kommentieren. Eine verbale Mitteilung kann eine nonverbale unterstützen oder konterkarieren, und dies gilt natürlich umgekehrt ebenso. Wenn beide nicht konkordant sind, dann besteht Anlass, darüber metakommunikativ zu kommunizieren. Dieser Punkt wird in dem metakommunikativen Axiom von Watzlawick, Beavin und Jackson weitergeführt und radikalisiert. Es geht davon aus, dass jedes verbale Handeln in einen nonverbalen Kontext eingebettet ist, welcher metakommunikativ interpretiert wird, was zu dem berühmten Diktum führt, dass man sich nicht nicht verhalten kann bzw.: »Man kann nicht nicht kommunizieren.« (Watzlawick u. a. 1967: 49) So lautet das erste der fünf Axiome des kommunikationspragmatischen Kalküls. Alles, was wir tun, kann als kommunikativer Beitrag interpretiert werden. Es führt im zweiten Axiom zu der Unterscheidung verschiedener Ebenen der Kommunikation, einer Inhalts- und einer Beziehungsebene. Nicht allein das Gesagte, der sachliche Aspekt spielt in Kommunikationen eine Rolle, sondern die Beziehung zwischen den Kommunikationspartnern. Im dritten Axiom wird darauf aufmerksam gemacht, dass die Kommunikationspartner ihre Kommunikation interpunktieren, also in verschiedene Ereignisfolgen und Verhaltenssequenzen einordnen können. Diese Interpunktionen müssen durchaus nicht einvernehmlich gesetzt werden. Berühmt ist die Untersuchung der Interpunktionstriaden zwischen Eheleuten. Vielleicht ist dies auch der Fall bei unserer Familie Schmidt. Herr Schmidt zieht sich zurück, und Frau Schmidt nörgelt. Herr Schmidt begründet sein Verhalten mit dem Nörgeln seiner Frau, und Frau Schmidt das ihre mit dem Verhalten ihres Mannes. Beide sind in einem Circulus vitiosus gefangen, aus dem sie ohne Metakommunikation nicht entfliehen können. Das vierte Axiom von Watzlawick, Beavin und Jackson besteht in der Beschreibung der menschlichen Kommunikation als einer solchen, die analoge und digitale Modalitäten miteinander verbindet. Analog ist eine Beziehung zwischen einem Repräsentant und einem Repräsentierten dann, wenn zwischen beiden Ähnlichkeitsbeziehungen vorhanden sind. Ein Beispiel für analoge Kommunikationsformen ist die nonverbale Kommunikation. Tränen können Schmerz oder Trauer ausdrücken. Digital ist hingegen die verbale Kommunikation. Die Buchstabenfolge B-u-ch weist keinerlei Ähnlichkeit mit dem entsprechenden Gegenstand auf. Der Beziehungsaspekt in Kommunikation ist nach Watzlawick, Beavin und Jackson analog, der inhaltliche Aspekt digital strukturiert. Da die menschliche Kommunikation beide Ebenen umfasst, kann es zu entsprechenden Übersetzungsproblemen kommen. Und schließlich das fünfte Axiom: Es besagt, dass die menschliche Kommunikation entweder symmetrisch oder komplementär organisiert ist. Komplementär ist sie dann, wenn sich die entsprechenden Kommunikationsakte komplementieren, so wie es sich zwischen Lehrer und Schüler, Arzt und Patient, Autor und Leser verhält. <?page no="26"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Schuetzeichel__Soziologische_Kommunikationstheorien(2)____[Druck-PDF]/ 13.08.2015/ Seite 26 www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Schuetzeichel__Soziologische_Kommunikationstheorien(2)____[Druck-PDF]/ 13.08.2015/ Seite 27 1.3 Ausdruck und Eindruck 27 Um symmetrische Kommunikation handelt es sich, wenn sie von dem Streben nach Gleichheit geprägt ist. Schließlich gibt es noch einen allgemeinen Grund, weshalb heutzutage in der Soziologie das klassische Modell als inadäquat für die Beschreibung von Kommunikationsprozessen zurückwiesen wird. Es geht davon aus, dass Kommunikation eigentlich nur durch äußere Gefahren und Störungen, durch ein »Rauschen« gefährdet werden kann. Wenn die Umwelt genügend abgeschottet ist, dann findet die Kommunikation ihr Ziel, und die Gedanken des einen gehen in den Gedanken des anderen auf. Aber ist der Kommunikationsprozess als solcher wirklich derartig risikolos? Ist es nicht der Normalfall, dass Kommunikation versandet, scheitert, dass unsere Vorstellungen und Intentionen nicht verstanden werden? Liegen die Störquellen nicht in den Prozessen und Komponenten von Kommunikation selbst? Und liegen sie vielleicht deshalb im Kommunikationsprozess selbst, weil Kommunikation etwas grundsätzlich anderes ist als der Transport von Gedanken und Sinn von A nach B? 1.3 Ausdruck und Eindruck Das Alltagsmodell wie auch das wissenschaftliche Informationsmodell der Kommunikation werden einer Kritik in den Arbeiten des Kommunikationswissenschaftlers Gerold Ungeheuer (vgl. Ungeheuer 1987a u. 1990) unterzogen. Diese Modelle stellen das Ausdrucksprinzip in den Vordergrund. Ungeheuer macht hingegen darauf aufmerksam, dass Kommunikation darauf angelegt ist, Eindrücke herzustellen. Ausgangspunkt der Überlegungen Ungeheuers ist das Urphänomen der Zweiteilung der menschlichen Erfahrung in einen Bereich der inneren Erfahrungen und Handlungen einerseits sowie einen Bereich der äußeren Erfahrungen und Handlungen andererseits. Innere Erfahrungen sind solche, die nur dem erfahrenden Individuum zugänglich sind. Dies trifft auch auf die inneren Handlungen wie das Fühlen, das Denken und das Vorstellen zu. Äußere Erfahrungen können hingegen auch andere Menschen machen, äußere Handlungen lassen sich auch von anderen beobachten, wie etwa Körperbewegungen oder die Manipulation von Gegenständen. Diese Zweiteilung in einen inneren und einen äußeren Bereich ist nach Ungeheuer Veranlassung und Ausgangspunkt von Kommunikation. Grund und Ursache von Kommunikation ist die unaufhebbare Innerlichkeit der Menschen und deren Intransparenz für die anderen. Aber die Zweiteilung stellt jede Kommunikation immer vor das neue Problem, ob und wie man verstanden wird. Kommunikation hat die Aufgabe, zwischen dem Innen und dem Außen zu vermitteln und diese Dichotomie zwar nicht zu beseitigen, aber zu vermitteln. Eine solche Funktion kann die Kommunikation nur erfüllen, wenn sie etwas, was immer nur innerlich ist und nur innerlich bleiben kann, durch äußere Zeichen darstellbar macht. Ein Sprecher muss dabei seine Aussagen so anlegen und planen, dass sie für einen anderen nachvollziehbar werden. <?page no="27"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Schuetzeichel__Soziologische_Kommunikationstheorien(2)____[Druck-PDF]/ 13.08.2015/ Seite 28 28 1 Soziologie der Kommunikation Jede Kommunikation ist also auch eine Handlung, ein Versuch, auf andere Einfluss zu nehmen (vgl. Lenke u. a. 1995: 68-90). Das Ausdrucksprinzip besagt nun, dass in der Kommunikation das, was ein Sprecher ausdrücken möchte, das dominante Element darstellt. Sprechen wird als ein Sich-Ausdrücken verstanden und Zuhören als ein passives Verstehen der ausgedrückten Mitteilung. Der Sprecher ist der aktive, der Zuhörer der passive Partner, das Sprechen ist alleinige Angelegenheit des Sprechers, das Zuhören eine passive Reproduktion. Dieses alltägliche wie auch wissenschaftliche Leitbild suggeriert, so Ungeheuer, dass die Kommunikation in zwei Handlungen zerfällt, in die des Sprechens und des Zuhörens, und es suggeriert zweitens, dass sich diese beiden Handlungen wie Ursache und Wirkung verhalten. Der sprachliche Ausdruck ist vollkommen Sache des Sprechers; der Hörer hat ihn, wenn er will, aufzugreifen und zu verstehen. Dementsprechend zerfällt die kommunikative Sozialhandlung in zwei partielle Individualhandlungen, und, da der Sprecher den sprachlichen Ausdruck verursacht, rückt er in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit, eine Konstellation, die aus wissenschaftlichen Traktaten nicht unbekannt ist (vgl. Ungeheuer 1987b: 294). Ungeheuer schlägt eine Alternative vor, welche den Aspekt des Eindrucks stärkt. Nicht der Sprecher, sondern der aktive Zuhörer steht im Mittelpunkt der Kommunikation, und es ist das kommunikative Ziel des Sprechens, Eindrücke bei einem Zuhörer zu erreichen oder, genauer noch, etwas hervorzubringen, welches der Zuhörer selbst zu seinem Eindruck machen kann. Es ist jedoch deutlich, dass im Modell der Eindrucks-Kommunikation der Hörer in den Vordergrund rückt, er mindestens aber in seiner kommunikativen Tätigkeit gleichrangig mit dem Sprecher behandelt werden muss. Denn hier handelt der Sprecher kommunikativ, indem er einen ›Eindruck‹ beim oder im oder für den Hörer hervorbringt. Dieser ›Eindruck‹ aber kann nur entstehen, wenn der Hörer das vom Sprecher Hervorgebrachte durch eigene Tätigkeit zu seinem ›Eindruck‹ gemacht hat. So bleibt schon im Ansatz die kommunikative Sozialhandlung erhalten und zerfällt nicht wie von selbst in personenbezogene Partialhandlungen (vgl. Ungeheuer 1987b: 294 f.). Das Modell der Eindrucks-Kommunikation stellt den Zuhörer in den Vordergrund. Ungeheuer hinterfragt auch das additive oder das Aggregationsmodell der Kommunikation, wie es sich häufig noch in soziologischen Auffassungen findet. Demnach ist Kommunikation in Einzelhandlungen dekomponierbar, die sich wie Ursache und Wirkung verhalten. Damit nimmt Ungeheuer eine Position vorweg, wie sie durch die Systemtheorie (vgl. Kap. 9) vertreten wird. Aber im Unterschied zur Systemtheorie, die dies an der funktionalen Synthese von Unterscheidungen festmacht, steht für Ungeheuer der Kommunikator als ein Erfahrungswesen im Zentrum. Kommunikationen, so definiert Ungeheuer, »sind Veranstaltungen von Sprechern, die beabsichtigen, Hörer bestimmte innere Erfahrungen, Erfahrungen des Verstehens, vollziehen zu lassen« (Ungeheuer 1987b: 316). Kommunikation hat das Ziel, dass der <?page no="28"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Schuetzeichel__Soziologische_Kommunikationstheorien(2)____[Druck-PDF]/ 13.08.2015/ Seite 28 www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Schuetzeichel__Soziologische_Kommunikationstheorien(2)____[Druck-PDF]/ 13.08.2015/ Seite 29 1.4 Ergon und Energeia 29 Hörende bestimmte innere Erfahrungen, bestimmte Verstehensakte machen kann. Der Sprecher muss diese Akte antizipieren und er muss die richtigen Zeichen, die adäquaten Mittel benutzen, um diese Verstehensakte evozieren zu können. Sprachliche Zeichen haben in erster Linie eine pragmatische Dimension. Sie stellen Anweisungen dafür dar, wie und welche inneren Erfahrungen ein Hörer vollziehen soll. Sprachliche Zeichen sind Instruktionen, keine Abbildungen. Wenn ein Sprecher die Formulierung »ein alter Mann« wählt, dann stellt dies an den Hörer die Anweisung dar, mit einer Konkretisierung dieser Vorstellung so lange zu warten, bis der Sprecher sie vollzieht. Wenn die Formulierung »der alte Mann« gewählt wird, so ist dies die Instruktion, den Bezug zu einer bestimmten Person herzustellen (vgl. Loenhoff 2002: 168). Im Mittelpunkt der Kommunikationstheorie von Ungeheuer steht also die Analyse der Prozesse und Methoden, mithilfe derer ein Hörer zu spezifischen Verstehensakten veranlasst werden kann. Dazu ist es aber nötig, dass ein Hörer in dieser kommunikativen Situation eine asymmetrische Rollenverteilung hinnimmt, denn er lässt es zu, dass die Kommunikation bzw. der Sprecher ihn in diesem Moment steuert. Dieses wichtige Moment einer jeden Kommunikation wird von Ungeheuer als »kommunikative Subjektion« (Ungeheuer 1987b: 317) bezeichnet. Kommunikative Subjektion besteht in der Subjektion, der Unterordnung des Hörers unter den Sprecher, in der »vom Hörer zum Zwecke der Kommunikation zugelassene(n) Steuerung seiner verstehensrelevanten inneren Erfahrungsakte durch die sprachlichen Formulierungen des Sprechers« (ebd.). Jede Kommunikation ist notwendigerweise asymmetrisch, aber die Asymmetrie wechselt mit jedem Sprecherwechsel. Die Subjektion des Hörers korrespondiert mit der Suggestion des Sprechers, der den Hörer in einer spezifischen Weise zu beeindrucken sucht. 1.4 Ergon und Energeia Wilhelm von Humboldt unterscheidet drei Aspekte von Sprache: das individuelle Sprechen, die einzelnen bestimmten Sprachen, wie sie für ihn maßgeblich nationale Sprachen darstellen, und schließlich die anthropologische Bestimmung der Idee der Sprache als dem Allgemeinen aller Sprachen. Jedes Sprechen bedeutet eine Aktualisierung der Mittel und Möglichkeiten einer bestimmten Sprache, Gedanken zu versinnlichen, ihnen im Sprechen einen sinnlichen, für andere und sich selbst wahrnehmbaren Ausdruck zu verleihen. Jedes individuelle Sprechen ist auf ein konkretes Gegenüber, auf einen Mitsprechenden angewiesen, denn nur im Sprechen, im Hören und im Erwidern ist die Sprache als solche erfahrbar. In der heutigen Terminologie formuliert: Nur im kommunikativen Sprechen aktualisiert sich eine Sprache, nur in der konkreten Sprechtätigkeit lassen sich die Sprachen als besondere Sprachen bestimmen. Im konkreten Sprechen gewinnt eine doppelte Individualität ihre Gestalt: Die Individualität der je verwendeten Sprache und die Individualität des Sprechers, das, <?page no="29"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Schuetzeichel__Soziologische_Kommunikationstheorien(2)____[Druck-PDF]/ 13.08.2015/ Seite 30 30 1 Soziologie der Kommunikation was dieser in die Sprechhandlung einbringt. Jede philosophische und wissenschaftliche Analyse muss von daher ihren Ausgangspunkt im Sprechen oder, besser noch, im Miteinander-Sprechen nehmen. Die Sprache, so Humboldt, ist kein Werk (ergon), sondern eine Tätigkeit (energeia). Das Sprechen ist ein produktiver Akt, der nicht in der bloßen Übernahme und Replikation von Regeln, nicht im normativen Handeln aufgeht. Weder das Wort noch der Satz, sondern nur die Sprechhandlung in ihrem Vollzug als Rede und Widerrede und als Hervorbringung eines sinnlich wahrnehmbaren wie auch sinnhaften Ganzen eröffnen den Blick auf das Wesen der Sprache. Jedes Sprechen ist zugleich ein Verwenden wie auch ein Erzeugen der Sprache. Erst im Individuum erhält die Sprache ihre letzte Bestimmtheit. Keiner denkt bei einem Wort genau das, was der andere denkt, und die noch so kleine Verschiedenheit zittert, wie ein Kreis im Wasser, durch die ganze Sprache fort. Alles Verstehen ist daher immer zugleich ein Nicht-Verstehen, alle Übereinstimmung in Gedanken und Gefühlen zugleich ein Auseinandergehen (vgl. v. Humboldt 1835 / 1994: 439). Die Sprache als solche ist aber kein Erzeugnis der menschlichen Tätigkeiten. Dies ist nur bei den bestimmten Sprachen der Fall, den National- oder Volkssprachen, den Soziolekten oder Dialekten. Sie sind das Produkt der Kommunikation in menschlichen Gemeinschaften. Die Sprache als solche, also Sprach- und Sprechfähigkeit, ihre organische und intellektuelle Ausstattung, ist eine anthropologische Eigenschaft. Sie ist den Menschen in der gleichen Weise natürlich und vorgegeben wie die Instinkte den Tieren. Die Sprache dient der menschlichen Verständigung, aber Verständigung ist nicht ihr vornehmster Zweck. Dieser besteht darin, dass sie den Gedanken, Wahrnehmungen und Empfindungen zu einem sinnlich wahrnehmbaren Ausdruck verhilft und ihrerseits Gedanken, Wahrnehmungen und Empfindungen bewirken und anregen kann. Diese drei Zwecke, die Verständigungsfunktion, die Ausdrucksfunktion wie die Wirkfunktion, sind nur gemeinsam zu verwirklichen. Sprache dient der Weltaneignung wie der Weltorientierung. Sie tritt zwischen die Menschen und die Dinge, sie schafft Distanz und damit die Möglichkeit, dass sich die Menschen von dem direkten Bezug zu den Dingen lösen und Vernunft ausbilden können. Welt ist dem Menschen nur dann verfügbar, wenn sie eine in Sprache verwandelte Welt ist (vgl. v. Humboldt 1829 / 1994: 151). Es gibt keine sprachlose Welt. Sprache vermittelt zwischen der Subjektivität der Menschen und der Objektivität der Welt, sie ist Mittlerin zwischen Mensch und Welt. Von daher ist die menschliche Sprachfähigkeit, die Fähigkeit, Inneres und Äußeres, Gedanken und äußere Gegenstände durch ein sinnliches Medium zu erzeugen, welches zugleich das Werk der Menschen wie auch Ausdruck der Welt ist. Nicht zufällig fällt hier das Wort ›Medium‹, und nicht zufällig hat dieses Medium der Sprache die Bedeutung der ›Mitte‹-- das Wort Medium hat traditionell die beiden Bedeutungen Mittel und Mitte. Wir müssen es an dieser Stelle leider bei dieser knappen Exposition der Humboldt’schen Sprachphilosophie belassen. Wenn man aber diese Begrifflichkeiten, die Humboldt über die Vermittlung durch Herder von Aristoteles übernahm, in die heutige soziologische Fachsprache <?page no="30"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Schuetzeichel__Soziologische_Kommunikationstheorien(2)____[Druck-PDF]/ 13.08.2015/ Seite 30 www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Schuetzeichel__Soziologische_Kommunikationstheorien(2)____[Druck-PDF]/ 13.08.2015/ Seite 31 1.5 Kommunikation als Semiose 31 übersetzt, dann wird ihre Aktualität gerade für die Soziologie offenkundig. Viele Gegensatzpaare, mit denen die Soziologie zu kämpfen hat wie diejenige von Handlung und Norm, von Handlung und Kultur, von Handlung und Wissen, wurden von Humboldt auf einem anderen Felde schon analysiert und auch seine Lösungen für eine Aufhebung dieser Dichotomien stehen hinter dem Niveau der heutigen Soziologie keinesfalls zurück. 1.5 Kommunikation als Semiose Im Mittelpunkt der Semiotik von Charles Sanders Peirce steht nicht das singuläre Zeichen, sondern der semiotische Prozess oder kurz die Semiose. Nach Peirce stellt ein Zeichen eine triadische Relation dar, die einen Interpretationsprozess auslöst. Semiose ist der Prozess, durch den ein Zeichen auf seinen Interpreten einen Effekt ausübt. Kommunikation-- diesen Terminus selbst wählt Peirce nicht-- zwischen Menschen ist eine Form eines solchen semiotischen Prozesses. Die menschliche Kommunikation stellt aber nur einen Teil eines die gesamte Natur und Kultur umfassenden semiotischen Prozesses dar. Was versteht Peirce nun unter Zeichen? Manches Mal bezeichnet er Zeichen als eine triadische Relation von Repräsentamen (oder Zeichen im engeren Sinn), dem Objekt, wofür das Repräsentamen steht, und dem Interpretanten, der sich auf die Relation von Objekt und Repräsentamen bezieht. In diesem Sinne sind Zeichen eine dreifache Verbindung zwischen dem Zeichen (im engeren Sinne), der bezeichneten Sache und dem Interpretanten. Manches Mal bezeichnet er auch nur das Repräsentamen oder Zeichen im engeren Sinne als Zeichen. Oder wie er selbst schreibt: »Ein Zeichen oder ein Repräsentamen ist ein Erstes, das in einer solchen genuinen triadischen Relation zu einem Zweiten, das sein Objekt genannt wird, steht, dass es fähig ist, ein Drittes, das sein Interpretant genannt wird, zu bestimmen, und zwar dahingehend, dieselbe triadische Relation zu seinem Objekt anzunehmen, in der es selbst zu diesem selben Objekt steht […].« (Peirce 1987, Bd. 2: 274 (CP 2.274), zit. nach Schönrich 1999: 20) Zeichen stellen eine Relation dar oder sie sind Element einer Relation. Und diese Relation ist eine dreifache von Repräsentamen, Interpretant und Objekt. Repräsentamen sind die beobachtbaren Dinge, die sich auf etwas beziehen, Objekte sind die Dinge, die durch ein Repräsentamen repräsentiert werden, Interpretanten stellen das interpretierende Bewusstsein dar, welches die Bezeichnungsrelation von Repräsentamen und Objekt interpretiert. Ein Zeichen liegt nur in einer solchen triadischen Relation vor, also immer und nur dann, wenn die Bezeichnungsrelation von Repräsentamen und Objekt von einem Interpretanten interpretiert wird. Semiose ist ein endloser Prozess, in welchem Zeichen in Zeichen übersetzt werden. Denn ein Zeichen ist darauf angewiesen, dass es von einem Interpretanten bestimmt <?page no="31"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Schuetzeichel__Soziologische_Kommunikationstheorien(2)____[Druck-PDF]/ 13.08.2015/ Seite 32 32 1 Soziologie der Kommunikation wird, der von einem weiteren Interpretanten wiederum als Repräsentamen identifiziert wird und somit Glied einer weiteren triadischen Relation ist. Ein Zeichen kann niemals alleine stehen, sondern ist nur Zeichen in einem Zeichenprozess, der immer wieder neue triadische Glieder generiert. Wenn man Kommunikation als einen semiotischen Prozess interpretiert, dann werden natürlich auch die ›Empfänger‹ und ›Sender‹ Glieder in diesem Prozess-- sie werden zu Zeichen. Von besonderer Relevanz in dieser Zeichensystematik ist die mittlere Spalte, da hier ein sehr vielseitiger Begriff auftaucht, der für die Soziologie von besonderer Relevanz ist. Symbole stellen nach Peirce eine Unterklasse von Zeichen dar, und zwar solcher Zeichen, deren Bedeutung auf Konventionalität bzw. auf Gewohnheit zurückzuführen ist. Ein Symbol ist ein Zeichen, dessen Eignung, das zu repräsentieren, was es repräsentiert, allein aus der Tatsache resultiert, dass es eine Regel, eine Gewohnheit oder gar eine Disposition gibt, dass das Zeichen so interpretiert wird. Wichtiger noch als die Konventionalität ist, dass das Symbol in einer Sprachgemeinschaft nach einer allgemeinen Regel gebraucht wird. Peirce hebt damit den Gewohnheits- oder Gesetzesaspekt hervor, der für die Interpretation von etwas als Symbol konstitutiv ist. In der Soziologie trifft man hingegen häufiger einen Symbolbegriff an, der auf die Konnotativität des Symbols verweist. Zeichen werden zu Symbolen, wenn sie neben ihrer primären Bedeutung eine sekundäre, konnotative Bedeutungsebene aufweisen. Zeichenbezüge Kategorie Erstheit Zweitheit Drittheit Repräsentamen Qualizeichen Sinzeichen Legizeichen Objekt Ikon Index Symbol Interpretant Rhema Dicizeichen Argument Abb. 1.4: Die Systematik der Zeichen nach Peirce <?page no="32"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Schuetzeichel__Soziologische_Kommunikationstheorien(2)____[Druck-PDF]/ 13.08.2015/ Seite 32 www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Schuetzeichel__Soziologische_Kommunikationstheorien(2)____[Druck-PDF]/ 13.08.2015/ Seite 33 1.6 Sprache und Sprechen 33 1.6 Sprache und Sprechen Der Einfluss von Ferdinand de Saussure auf die gesamte Wissenschafts- und Geistesgeschichte des 20.- Jahrhunderts kann schwerlich überschätzt werden. Er selbst war maßgeblich beeinflusst von einem der großen Gründerväter der Soziologie, nämlich von Émile Durkheim. Saussure fasst die Semiologie als Wissenschaft von den Zeichen als Zweig einer übergeordneten Sozialpsychologie. Die Sprache nimmt unter den Zeichensystemen eine herausragende Stellung ein; sie ist das komplexeste Zeichensystem, da es auf völlig arbiträren Zeichen beruht und damit den semiologischen Prozess in besonderer Weise kenntlich machen kann. Der Einfluss von Durkheim wird in einigen der folgenden Punkte deutlich, mit denen Saussure die Merkmale der Sprache beschreibt (nach Wunderli 1981): (1) Sprache ist eine soziale Institution; (2) Immutabilität: Die Sprachzeichen sind für die Individuen unveränderlich; (3) Völlige Arbitrarität; (4) Die Sprachzeichen sind nur durch das Sprachsystem bestimmt; (5) Produktivität: Mit einem begrenzten Zeicheninventar lassen sich unbegrenzt viele Nachrichten produzieren; (6) Akustische Manifestation der Zeichen. Von besonderer Bedeutung ist die These von der völligen Arbitrarität sprachlicher Zeichen. Auch moderne soziologische Zeichentheorien legen sie zugrunde. Nach Saussure weisen Zeichen eine bilaterale, dyadische Struktur auf. Das Zeichen bezeichnet ein Ganzes, welches ein Signifikat und einen Signifikanten enthält. Der Signifikant ist das Lautbild, das Signifikat die Vorstellung. Das Zeichen ›Fußball‹ weist also zum einen das phonetische Lautbild Fußball, zum anderen die Vorstellung eines Fußballes auf. Die These von der Arbitrarität von Zeichen betrifft nun nicht, wie häufig unterstellt, den Zusammenhang von Zeichen und Referenzobjekt-- dieser Zusammenhang ist von Saussures dyadischer Zeichenlehre nicht erfasst. Zeichen sind deshalb arbiträr, weil jeglicher Zusammenhang zwischen Signifikant und Signifikat, dem Lautbild und der Vorstellung nicht natürlich, d. h. konventionell ist. Es gibt beispielsweise keinen sachlichen, sondern nur einen konventionellen Grund, die Vorstellung eines Fußballes, also das Signifikat, mit dem Lautbild / fußball/ , also dem Signifikanten, in einem Zeichenelement zusammenzustellen. »Das Band, welches das Bezeichnete mit der Bezeichnung verknüpft, ist beliebig; und da wir unter Zeichen das durch die assoziative Verbindung einer Bezeichnung mit einem Bezeichneten erzeugte Ganze verstehen, können wir dafür auch einfacher sagen: Das sprachliche Zeichen ist beliebig. So ist die Vorstellung ›Schwester‹ durch keinerlei innere Beziehung mit der Lautfolge / schwester / verbunden, die ihr als Bezeichnung dient; sie könnte ebensowohl dargestellt sein durch irgendeine andere Lautfolge [….].« (Saussure 1967: 79; Hervorh. weggel.) <?page no="33"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Schuetzeichel__Soziologische_Kommunikationstheorien(2)____[Druck-PDF]/ 13.08.2015/ Seite 34 34 1 Soziologie der Kommunikation Arbiträr heißt auch nicht, dass der Zusammenhang zwischen dem Bezeichneten und dem Bezeichnenden ein willkürlicher wäre. Das ist nach Saussure völlig ausgeschlossen, denn die Sprache ist trotz aller Konventionalität den Individuen vorgegeben und sozial verbindlich. Zeichen sind soziale Tatsachen. Signifikat und Signifikant müssen also als kollektive Vorstellungen bzw. als kollektive Lautbilder betrachtet werden. Wenn die Bezeichnung, also der Signifikant, hinsichtlich der Vorstellung, also des Bezeichneten, auch als arbiträr oder frei gewählt erscheint, so ist sie in Bezug auf die Sprachgemeinschaft unveränderlich. Es ist auf den ersten Blick natürlich erstaunlich, dass Saussure aus der Definition des Zeichens jeglichen Verweis auf den Gegenstand, auf den das Zeichen referiert, tilgt. Sprachliche Zeichen verbinden nicht eine Sache, ein Objekt mit einem Namen, so wie dies traditionell in der Semiotik gedacht wurde, sondern sie verbinden nach Saussure eine Vorstellung mit einem Lautbild. Mit dieser These wird Saussure zum Begründer der strukturalistischen Wissenschaftsauffassung, denn sie besagt, dass Zeichen nur intern, innerhalb des Systems der Zeichen in Differenz zu anderen Zeichen (anderen Signifikaten und Signifikanten) gebildet werden. Die Bezugnahme auf ein Referenzobjekt ist nicht konstitutiv, da erst Zeichen vorliegen müssen, damit wir in der ansonsten amorphen Welt Objekte unterscheiden können. Das Signifikat ist nach Saussure auch nicht Ausdruck einer mentalen Vorstellung, einer Idee, die vor den Zeichen schon vorhanden sein könnte, sondern es erschließt sich nur aus dem Spiel der Differenzen im System der Sprache. Die Bedeutung von Zeichen ist also weder auf mentale noch auf reale Objekte zurückzuführen. Sie verdanken sich ihrer Stellung im System aller anderen Zeichen einer Sprache. Die Auffassung der Sprache als ein in sich geschlossenes, auf intern konstituierten Differenzen aufruhendes System von Zeichen führt dazu, dass Saussure der Sprach- Zeichen Signifikat / Vorstellung Signifikant / Lautbild / haus/ Abb. 1.5: Saussures Bilateralität des Zeichens (nach Nöth 2000: 74) <?page no="34"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Schuetzeichel__Soziologische_Kommunikationstheorien(2)____[Druck-PDF]/ 13.08.2015/ Seite 34 www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Schuetzeichel__Soziologische_Kommunikationstheorien(2)____[Druck-PDF]/ 13.08.2015/ Seite 35 1.7 Sprache als Organon 35 wissenschaft einen genuinen Gegenstand gibt. Es ist die Sprache, nicht das Sprechen. Es ist die Sprache im Sinne der ›langue‹, die synchron in ihren Strukturen und Formen zu beschreiben ist. Die ›parole‹ im Sinne des Sprechens oder allgemein im Sinne eines jeglichen Gebrauchs der Sprache wird aus dem Focus der Sprachwissenschaft ausgeschlossen. Damit wurde zum ersten Mal ein Prinzip formuliert, welches auch für die Soziologie eine weit über die Sprache hinausgehende Relevanz hat. Die Sprache wird als ein in sich geschlossenes Bedeutungs- und Regelsystem aufgefasst, das Sprechen hingegen als eine pure Anwendung dieses Systems. In der Folge konnten dann auch andere ›Systeme‹, in erster Linie die ›Kultur‹ als Realität sui generis konzipiert werden. Saussures dyadische Semiologie hat in der Soziologie wesentlich stärkeren Einfluss gehabt als die triadische Semiotik von Peirce. 1.7 Sprache als Organon Karl Bühlers Organonmodell der Sprache ist Ausgangspunkt vieler soziologischer und kommunikationswissenschaftlicher Überlegungen. Das Organonmodell stellt die drei verschiedenen Funktionen dar, die ein sprachliches Zeichen haben kann: Sender Empfänger Zeichen Gegenstände und Sachverhalte Ausdruck Darstellung Appell Abb. 1.6: Das Organonmodell der Sprache nach Karl Bühler (modifiziert nach Bühler 1934 / 1982: 28) <?page no="35"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Schuetzeichel__Soziologische_Kommunikationstheorien(2)____[Druck-PDF]/ 13.08.2015/ Seite 36 36 1 Soziologie der Kommunikation Lassen wir zunächst einmal Bühler selbst zur Sprache kommen. Die semantischen Funktionen des Sprachzeichens bestehen in folgenden: »[Das Sprachzeichen, R. S.] ist Symbol kraft seiner Zuordnung zu Gegenständen und Sachverhalten, Symptom (Anzeichen, Indicium) kraft seiner Abhängigkeit vom Sender, dessen Innerlichkeit es ausdrückt, und Signal kraft seines Appells an den Hörer, dessen äußeres oder inneres Verhalten es steuert wie andere Verkehrszeichen.« (Bühler 1934 / 1982: 28; Hervorh. weggel.) Bühler konzipiert sprachliche Zeichen als ›organon‹, mit dessen Hilfe ein Sender einem Empfänger etwas über etwas mitteilen kann. Sie werden also aus einer kommunikationstheoretischen Perspektive konzipiert und weisen entsprechend drei Relationen oder Dimensionen auf. Sie sind als Symptom anzusehen, weil ein Sender sich ihrer bedient, um etwas auszudrücken, sie tragen einen Signalcharakter, weil sie einen Empfänger beeinflussen oder gar steuern sollen, und sie sind schließlich Symbol deshalb, weil sie über Gegenstände oder Sachverhalte in der Welt informieren, sich auf sie beziehen, sie repräsentieren oder wie immer man diese Funktion genauer definieren will. Zeichen oder allgemein kommunikative Ausdrücke dienen also dazu, Intentionen eines Sprechers zum Ausdruck zu bringen, Sachverhalte darzustellen und Beziehungen mit einem Adressaten einzugehen. 1.8 Funktionen von Kommunikation Die Kommunikationstheorie des Linguisten und Semiotikers Roman Jakobson ist seit der Rezeption durch den Strukturfunktionalismus für die Soziologie eine maßgebliche Inspirationsquelle. Linguistik als die Wissenschaft von der Erforschung verbaler Kommunikation und Semiotik als die auf die Linguistik übergreifende Wissenschaft von der Erforschung jeder beliebigen Zeichenbotschaft sind nach Jakobson nur Teilgebiete einer allgemeinen Kommunikationswissenschaft, die er als ›Sozialanthropologie mit Ökonomie‹ bezeichnet. Diese hat jeglichen zwischenmenschlichen Tausch von Informationen und Waren zum Gegenstand (vgl. Jakobson 1973: 36). Als Vertreter der Soziologie ist man natürlich geneigt, diesen übergreifenden, integrativen Status seiner Wissenschaft zuzusprechen. Das Kommunikationsmodell von Jakobson stellt einer Erweiterung des Organon- Modells von Bühler dar. Er beschreibt es folgendermaßen: »Der SENDER sendet eine BOTSCHAFT an einen EMPFÄNGER. Um wirksam sein zu können, benötigt die Botschaft einen KONTEXT, auf den sie sich bezieht (›Referent‹ in einer anderen, etwas ambigen Terminologie): Dieser Kontext muss dem Empfänger verständlich sein und entweder verbaler oder verbalisierbarer Art sein. Ferner gibt es einen KODE, der vollständig oder zumindest teilweise dem Sender und Empfänger (oder i. a.W. dem Kodierer und dem Dekodierer der Botschaft) gemeinsam sein muss. Schließlich ermöglicht es ein KONTAKT, ein physikalischer Kanal <?page no="36"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Schuetzeichel__Soziologische_Kommunikationstheorien(2)____[Druck-PDF]/ 13.08.2015/ Seite 36 www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Schuetzeichel__Soziologische_Kommunikationstheorien(2)____[Druck-PDF]/ 13.08.2015/ Seite 37 1.9 Syntax, Semantik und Pragmatik 37 und eine psychologische Verbindung zwischen dem Sender und dem Empfänger, dass beide in Verbindung treten und die Kommunikation aufrechterhalten.« (Jakobson / Halle 1960: 353, zitiert nach Nöth 2000: 105) Jakobsons Kommunikationstheorie hat den Vorteil, dass sie die Funktionen, die Kommunikation haben kann, sorgfältig und differenziert zu bestimmen und diese verschiedenen Kommunikationsformen zuzuordnen vermag. Dabei übernimmt er das Dominanzprinzip von Bühler, welches besagt, dass Kommunikationen zwar multifunktional sind, aber nur jeweils eine Funktion in einer spezifischen Kommunikation dominant ist. Eine Funktion ist jeweils dominant, die anderen treten in den Hintergrund, können aber ihrerseits die dominante ablösen. Jakobson benennt folgende Funktionen (nach Nöth 2000: 105 f.): • Referentielle Funktion: Diese dominiert, wenn die Kommunikationsteilnehmer auf den Kontext, den Referenten gerichtet sind (Beispiel: deskriptive Texte, Nachrichten etc.); • Expressive oder Emotive Funktion: Diese dominiert, wenn es um die Einstellung des Senders zum Text oder zur Rede geht und weniger um deren Inhalt (Beispiel: Emphasen etc.); • Konative Funktion: Diese dominiert, wenn es primär um einen Appell an den Empfänger der Botschaft geht (Beispiel: Aufrufe, Befehle etc.); • Phatische Funktion: Diese dominiert, wenn es um die Herstellung von gemeinschaftlichen Beziehungen zwischen den Kommunikationsteilnehmern geht (Beispiel: Grußformeln etc.); • Metalinguistische Funktion: Diese dominiert, wenn es um eine Kommunikation über die Kommunikation und deren Sprache geht (Beispiel: »Was meinst du? « etc.); • Poetische Funktion: Diese dominiert, wenn die Einstellung der Kommunikationsteilnehmer in erster Linie auf die Botschaft selbst gerichtet ist. 1.9 Syntax, Semantik und Pragmatik Endgültig seit Charles Morris (1938) werden drei Dimensionen von Zeichen oder Symbolen unterschieden. Zeichen oder Symbole beziehen sich auf außersprachliche oder sprachliche Gegenstände, sie referieren oder verweisen auf etwas, sie bedeuten etwas. Dies ist die semantische Dimension. Entsprechend analysiert die Semantik die Bedeutung von Zeichen oder Symbolen. Diese beziehen sich aber nicht nur auf etwas, sondern sie stehen auch in Relation zu anderen Zeichen. So können, wie wir alle wissen, z. B. nur bestimmte Zeichen miteinander kombiniert werden, um grammatisch korrekte und verständliche Aussagen zu produzieren. Eine Aussage wie z. B. ›Peter Doris London reisen und‹ würde von keinem ›native speaker‹ des Deutschen als grammatisch korrekte Aussage bewertet werden. Diese Dimension wird als syntaktiwww.claudia-wild.de: <?page no="37"?> [UTB-M]__Schuetzeichel__Soziologische_Kommunikationstheorien(2)____[Druck-PDF]/ 13.08.2015/ Seite 38 38 1 Soziologie der Kommunikation sche bezeichnet. Dementsprechend untersucht die Syntax oder Syntaktik die Regeln, nach denen Zeichen in unterschiedlichen Sprachen miteinander kombiniert werden können. Die dritte Dimension schließlich betrifft die Beziehung zwischen den Zeichen und den Zeichenbenutzern. Es handelt sich um die pragmatische Dimension. Die Pragmatik untersucht, wie Zeichen von Zeichenbenutzern verwendet werden oder was die Zeichenbenutzer mit bestimmten Verwendungsweisen intendieren. 1.10 Hermeneutik und Kommunikation Nach der sprachphilosophischen Tradition, wie sie hier durch Wilhelm von Humboldt repräsentiert wird, und der semiotischen bzw. semiologischen Tradition, wie sie durch Peirce und Saussure, Jakobson und Morris vertreten wird, kommen wir nun zur dritten großen Theoriegruppe, der Hermeneutik. Die Hermeneutik als die Kunst des Verstehens oder die Lehre der Interpretation ist eine sehr alte Wissenschaft, die sich im Zusammenhang mit der Exegese vormals religiöser, dann der vertexteten Kommunikation im Allgemeinen ausbildete. In all ihren vielen verschiedenen Spielarten ist die Hermeneutik eine Reaktion auf die Nichteindeutigkeit der Bedeutungsstruktur schriftlich verfasster Texte. Hermes, in der antiken Götterwelt der Überbringer und Sprachbenutzer und ihre Situation Gegenstände Zeichen andere Zeichen pragmatische Dimension semantische syntaktische Dimension Abb. 1.7: Dimensionen sprachlicher Zeichen nach Morris <?page no="38"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Schuetzeichel__Soziologische_Kommunikationstheorien(2)____[Druck-PDF]/ 13.08.2015/ Seite 38 www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Schuetzeichel__Soziologische_Kommunikationstheorien(2)____[Druck-PDF]/ 13.08.2015/ Seite 39 1.10 Hermeneutik und Kommunikation 39 Künder von Botschaften, war bewandert in der Kunst der Interpretation und Übersetzung von kryptischen Zeichen. Er galt als Erfinder von Sprache und Schrift. Die Hermeneutik hat natürlich vielfach Umbrüche erfahren. Auf eine antike und eine jüdische Hermeneutik folgte eine mittelalterliche, christlich geprägte Hermeneutik, deren Lehre von dem vierfachen Schriftsinn als exemplarisch angesehen werden kann. Die Heilige Schrift, so die Überlegung, weist verschiedene Sinnschichten auf. Die erste Stufe befasst sich mit dem ›Cortex‹, der Oberflächenstruktur von Texten. Sie zu erfassen ist Aufgabe der Grammatik (littera) und der Semantik (sensus), die sich mit dem wörtlichen und historischen Sinn der Aussagen beschäftigt. Die Tiefenstruktur von Texten (Nucleus), in welcher sich erst der spirituelle Sinn manifestiert, liegt in drei Arten vor, im tropologischen Sinn, der auf den Sinn der Schrift für das Leben jedes einzelnen Gläubigen zielt, im allegorischen Sinn, der auf Christus und die Kirche gerichtet ist, und im anagogischen Sinn, der sich auf die himmlischen Mysterien und das Leben im Jenseits bezieht. Die moderne Hermeneutik beginnt im 19.-Jahrhundert mit Friedrich Schleiermacher und Wilhelm Dilthey im Übergang von einer theologischen zu einer philologischen Hermeneutik. Beide befassen sich intensiv mit der Zirkularität des Verstehens. Diese wird als ›hermeneutischer Zirkel‹ bezeichnet und stellt neben anderen Postulaten eines der wesentlichen Argumente der Hermeneutik in der Begründung einer von den Methoden und Erkenntniszielen der Naturwissenschaften deutlich unterschiedenen Geisteswissenschaft dar. Es gibt den Zirkel in zwei Varianten. Die erste Variante macht darauf aufmerksam, dass sich die Bedeutung eines Teils immer nur im Gesamtkontext eines Ganzen erschließt und das Ganze nur aus seinen Teilen verstanden werden kann. Die Bedeutung eines Wortes erschließt sich nur aus dem Zusammenhang des Satzes und die des Satzes nur aus der Kenntnis der einzelnen Worte. Damit sind die logischen Verfahren, mit denen die Naturwissenschaften arbeiten, nämlich der Deduktion als dem logischen Schluss vom Allgemeinen auf das Besondere und der Induktion als dem logischen Schluss vom Besonderen auf das Allgemeine, auf dem Gebiete des hermeneutischen Verstehens eben nicht anwendbar. Verstehen ist weder Induktion noch Deduktion. Die zweite Variante des hermeneutischen Zirkels hebt darauf ab, dass jedes Verständnis eines Textes von einem Vorverständnis abhängt. Jede Interpretation ordnet einen Text in ein Vorverständnis des Textes ein. Passt es, so müssen weder Vorverständnis noch Textverständnis revidiert werden. Widerspricht die Interpretation hingegen gewissen Erwartungen, so ist der Interpret gehalten, sein Vorverständnis oder sein Textverständnis zu revidieren. Die Hermeneutik versteht sich nicht als Kommunikationstheorie. Weshalb haben wir sie als eine der maßgeblichen Referenztheorien einer jeden soziologischen Kommunikationstheorie angeführt? Nun, alle diese Kommunikationstheorien sehen eine Position des Interpreten vor, ob als Empfänger oder Rezipient, als ›Verstehensakt‹ oder ›Schema‹. Kommunikationstheorien müssen also darüber Auskunft geben könwww.claudia-wild.de: <?page no="39"?> [UTB-M]__Schuetzeichel__Soziologische_Kommunikationstheorien(2)____[Druck-PDF]/ 13.08.2015/ Seite 40 40 1 Soziologie der Kommunikation nen, wie ›Verstehen‹ verstanden werden kann, und in all den Positionen, die wir behandeln werden, wird implizit oder explizit der hermeneutische Zirkel in der einen oder anderen Variante eine maßgebliche Rolle spielen. Aber sicherlich gilt auch: Kommunikationstheorien können sich nicht auf hermeneutische Theorien reduzieren, Kommunikation erschöpft sich nicht im Verstehen. 1.11 Sprachsoziologie und Soziolinguistik Zwischen der Sprachsoziologie und der Soziolinguistik lässt sich kaum differenzieren, zu eng sind beide Subdisziplinen miteinander verwoben (vgl. Dittmar 1980, Grimshaw 1987, Hymes 1974 u.1979, Murray 1998). Der zentrale Untersuchungsgegenstand der Linguistik ist die Sprache als ein abstraktes System, ihre grundlegende Untersuchungseinheit ist der Satz, vornehmlich der Aussagesatz. Der Gegenstand der Soziolinguistik geht über diese Ebene hinaus. Ihr Untersuchungsgegenstand sind nicht einfache Sätze, sondern Satzfolgen und Aussagesequenzen in Gesprächen und Konversationen. Je nach wissenschaftlicher Ausrichtung spielen auch weitere soziale Kontexte des Sprechens eine große Rolle. Das Sprechen wird in seinen Wechselbeziehungen zu bestimmten sozialen Positionen oder sozioökonomischen Kategorien wie Klassen, Geschlecht, Generationen oder Ethnien bestimmt. Wie macht sich zum Beispiel die Zugehörigkeit von Menschen zu unterschiedlichen sozialen Klassen oder ethnischen Gruppen in deren sprachlichen Performanzen und Kompetenzen bemerkbar und, vice versa, wie wirken sich diese unterschiedlichen Performanzen und Kompetenzen auf die Reproduktion gesellschaftlicher Differenzierungen aus? Besonders bekannt sind die Arbeiten von Basil Bernstein (vgl. Bernstein 1972) zu den klassenabhängigen Sprachcodes oder von William Labov (vgl. Labov 1982) zu den Sprachstilen unterschiedlicher ethnischer Gruppen. Werden solche Variablen wie sprachliches Verhalten einerseits, soziale Kategorien andererseits aufeinander bezogen, so kann man von einem variablensoziologischen Ansatz in der Soziolinguistik sprechen-- er stellt soziale Strukturen und sprachliche Performanzen oder Kompetenzen als unabhängige und abhängige Variable (manchmal auch in umgekehrten Rollen) in ein Verhältnis. Davon ist der interpretative Ansatz zu unterscheiden, dem insbesondere Dell Hymes (vgl. Hymes 1979) Untersuchungen zu einer ›Ethnografie der Kommunikation‹ bzw. einer Ethnografie des Sprechens und John J. Gumperz (vgl. Gumperz 1982a) interaktionale Soziolinguistik zuzuordnen sind. Diesen geht es nicht um Relationen und Korrelationen zwischen sozialen Strukturen und sprachlichem Verhalten, sondern sie fassen die soziale Welt selbst als eine kommunikative, sprachliche Welt auf. Die soziale Wirklichkeit ist keine außersprachliche, und die Sprache selbst ist keine asoziale. Sie untersuchen, wie durch kommunikatives Handeln soziale Strukturen produziert und reproduziert werden- - und vice versa. Einen entsprechenden Gestaltwechsel vollzieht auch die Sprachsoziologie im engeren Sinne von einem ältewww.claudia-wild.de: <?page no="40"?> [UTB-M]__Schuetzeichel__Soziologische_Kommunikationstheorien(2)____[Druck-PDF]/ 13.08.2015/ Seite 40 www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Schuetzeichel__Soziologische_Kommunikationstheorien(2)____[Druck-PDF]/ 13.08.2015/ Seite 41 1.11 Sprachsoziologie und Soziolinguistik 41 ren, kulturalistisch geprägten Ansatz (vgl. Weisgerber 1931), der Sprache als kulturelle Objektivation auffasst, über einen von der Soziologie von Talcott Parsons beeinflussten Ansatz (vgl. Fishman 1972), der das Verhältnis von Sprache einerseits, Handeln und Verhalten andererseits zum Forschungsgegenstand hat, zu solchen Ansätzen, die Sprechen als ein soziales Handeln konzipieren. Die verschiedenen soziolinguistischen bzw. sprachsoziologischen Ansätze reichen also von kompetenztheoretisch orientierten Ansätzen wie etwa demjenigen von Labov, die von der kommunikativen Bedeutung sprachlicher Merkmale abstrahieren und Sprachäußerungen mit sozialen Merkmalen der Sprecher korrelieren bis hin zu interaktionistischen Positionen, die in der Sprache ein Mittel zur Herstellung sozialer Ordnung erblicken und das Herstellen dieser Ordnung im Medium der Sprache und des Sprechens aufzeigen wollen (vgl. Schwitalla 1992). Auf den folgenden Seiten stellen wir diese Ansätze kurz im Einzelnen vor: Soziosemantische Ansätze werden durch die berühmten Arbeiten von Basil Bernstein repräsentiert. Bernstein unterscheidet zwei Weisen des Sprachverhaltens, ein kontextabhängiges, partikularistisches, in seinen Möglichkeiten restringiertes sprachliches Verhalten, und ein universalistisches, elaboriertes. Diese werden in Beziehung zu einer dualistisch aufgefassten Sozialstruktur gesetzt, die sich in eine Arbeiter- und eine Mittelschicht aufgliedert. Bernstein formuliert kausale Hypothesen über den Zusammenhang beider Faktoren. Dabei greift er auf den Begriff des Codes zurück, der in etwa der ›langue‹ im Sinne Saussures entspricht. Neben einem allgemeinen Code einer Nationalsprache gibt es verschiedene Sub- oder Sprechercodes, die diesen allgemeinen Code verwenden. Die Differenzen zwischen den verschiedenen Sprechercodes sind darauf zurückzuführen, dass die Individuen bzw. Gruppen vornehmlich in Prozessen der primären Sozialisation unterschiedliche Selektionen aus dem allgemeinen Code treffen. Bernstein stellt in seinen Untersuchungen die Codes der Arbeiter- und der bürgerlichen Mittelschicht gegenüber. Die Mitglieder der Arbeiterschicht verfügen vornehmlich nur über einen restringierten Code, die Mitglieder der Mittelschicht hingegen vornehmlich über einen elaborierten Code. Der restringierte Code wird im Vergleich zu dem elaborierten Code als defizitär aufgefasst. Ein früherer Aufsatz (vgl. Bernstein 1961) stellt folgende Eigenschaften des elaborierten und des restringierten Codes heraus: Der elaborierte Code ist z. B. gekennzeichnet durch folgende Eigenschaften: • Das, was gesagt wird, wird durch die Syntax und Grammatik genau reguliert. • Häufiger Gebrauch von Präpositionen. • Häufiger Gebrauch des Personalpronomems der 1. Person Singular. • Unterschiedliche Auswahl aus einer Reihe von Adjektiven und Adverbien. • Grammatisch komplexe Satzkonstruktionen, besonders durch die Verwendung von Konjunktionen und Nebensätzen. Der restringierte Code hingegen weist folgende Merkmale auf: • Kurze, grammatisch einfache Sätze, die häufig unvollendet bleiben. <?page no="41"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Schuetzeichel__Soziologische_Kommunikationstheorien(2)____[Druck-PDF]/ 13.08.2015/ Seite 42 42 1 Soziologie der Kommunikation • Einfacher Gebrauch von Konjunktionen. • Geringer Gebrauch von untergeordneten Sätzen. • Starrer und begrenzter Gebrauch von Adjektiven und Adverbien. • Dominanz impliziter Bedeutungen. Untersuchungen in der Tradition der korrelativen Soziolinguistik stellen bestimmte soziale Faktoren mit bestimmten sprachlichen Verhaltensmustern in Beziehung. Für diese Tradition stehen in erster Linie die Arbeiten von William Labov (vgl. Labov 1980a, 1980b u. 1982). Labov stellt statistische Untersuchungen über die Zusammenhänge zwischen den Sprachstilen einerseits, sozialen, askriptiven Merkmalen wie der Zugehörigkeit zu ethnischen Gruppen, Alterskohorten, Geschlechts- und Schichtzugehörigkeiten andererseits an, um anhand von so genannten Variablenregeln die Soziolekte zu identifizieren, mithilfe derer sich Sprecher in spezifischen Situationen miteinander verständigen. Im Unterschied zu Bernstein vertritt Labov nicht die Auffassung, dass die unterschiedlichen Soziolekte auf unterschiedliche kognitive Vermögen schließen lassen. Er stellt der Defizithypothese Bernsteins die Differenzhypothese entgegen. Die korrelative Soziolinguistik ist nicht an der kommunikativen Bedeutung von sprachlichen Elementen interessiert, sondern an den differenten Sprachstilen von Sprechern unterschiedlicher Sprachvarianten. Die Sprachsoziologie untersucht, welche sozialen Gruppen welche Sprachvarianten in welchen sozialen Situationen sprechen, wie diese Sprachvarianten in und zwischen den Gruppen bewertet werden und wie der soziale Wandel sich im sprachlichen Wandel reflektiert. Neben der klassischen, strukturfunktionalistisch geprägten Forschungsrichtung, wie sie z. B. von Fishman (vgl. Fishman 1972) repräsentiert wird, sei für die deutschsprachige Soziologie insbesondere auf die interaktionistische Sprachsoziologie von Schütze (vgl. Schütze 1975) verwiesen. Eine wichtige Stellung in der Phalanx der verschiedenen Ansätze nimmt die schon erwähnte und dargestellte Ethnografie des Sprechens ein, wie sie von Hymes und Gumperz (vgl. Kap. 5) herausragend repräsentiert wird. Die Ethnografie des Sprechens setzt eine pragmatische Sprachauffassung in der Soziolinguistik durch. Das Sprechen selbst wird als soziales Handeln, als eine soziale Praxis thematisiert, Sprache als ein Interaktionsmedium, in welchem Sprecher auf der Basis von geteilten Normen und kulturellem Wissen ihre sozialen Beziehungen ordnen. Und schließlich ist als weiterer Meilenstein die Konversationsanalyse zu nennen, der wir ein eigenes Kapitel widmen. Ihr Interesse gilt den Konstruktionen sozialer und kommunikativer Ordnung im Vollzug von alltäglichen und institutionellen Konversationen, die eine unaufhebbare Indexikalität aufweisen und die Sprecher und Hörer deshalb dazu zwingen, sich durch ein entsprechendes ›accounting‹ verstehbar zu machen. Diesen sprachsoziologischen oder soziolinguistischen Ansätzen ist trotz ihrer Heterogenität die Auffassung gemeinsam, dass Sprache eine soziale Entität darstellt, die in <?page no="42"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Schuetzeichel__Soziologische_Kommunikationstheorien(2)____[Druck-PDF]/ 13.08.2015/ Seite 42 www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Schuetzeichel__Soziologische_Kommunikationstheorien(2)____[Druck-PDF]/ 13.08.2015/ Seite 43 1.12 Zwischenbilanz 43 ihrem Gebrauch zu studieren ist. Sie wenden sich gegen solch idealisierte Auffassungen von der Sprache, wie sie etwa in der die Linguistik dominierenden Transformationsgrammatik von Chomsky (1992) zu Grunde gelegt wird. Die Sprache besteht der Soziolinguistik zufolge nicht aus eindeutigen und einheitlichen phonetischen, syntaktischen und lexikalischen Strukturen, sondern aus variablen Komponenten, die in ihrer sozialen Bedingtheit zu erfassen sind. 1.12 Zwischenbilanz Ziehen wir zum Abschluss dieses Kapitels ein kurzes Resümee im Hinblick auf eine soziologische Kommunikationstheorie. Diese kann angesichts ihrer umfassenden Ansprüche sich nicht auf eine hermeneutische Position, also eine Position des Verstehens oder der Interpretation beschränken. Sie kann sich auch nicht, wie manche sprachphilosophischen Theorien, vornehmlich auf den Sprecher, den vermeintlichen Produzenten von kommunikativen Akten reduzieren. Und sie kann sich auch nicht allein auf das Medium der Sprache konzentrieren. Eine soziologische Kommunikationstheorie muss alle drei Komponenten aufeinander beziehen. Die Hermeneutik, die Linguistik, Sprachphilosophie und Semiotik stellen in kommunikationssoziologischer Hinsicht gleichsam Prototheorien dar. Sie rücken nur einen Aspekt des kommunikativen Geschehens in den Vordergrund. Entweder befassen sie sich, wie die Hermeneutik, mit dem Verstehen. Oder sie setzen am Pol des Sendens an, fragen also nach den kommunikativen Kompetenzen eines Sprechers. Oder sie untersuchen vornehmlich den Kanal, die Botschaft, den Code oder allgemeiner das Medium der Kommunikation, die Zeichen und die Sprache. Diese einflussreichen theoretischen Strömungen abstrahieren also von dem Kommunikationsprozess als solchem und spezialisieren sich auf gewisse Aspekte. Die Soziologie hingegen strebt eine integrale, alle Komponenten des Kommunikationsprozesses umfassende Theorie an. Lektüreempfehlungen: Sprachwissenschaftliche und sprachwissenschaftlicher Klassiker, die einen großen Einfluss auf die Soziologie haben, sind: Bühler, Karl (1934 / 1982): Sprachtheorie. Jena 1934 (zit. nach dem Neudruck: Karl Bühler: Sprachtheorie. Stuttgart, New York 1982). Humboldt, Wilhelm von (1835 / 1994): Über die Verschiedenheit des menschlichen Sprachbaues und ihren Einfluss auf die geistige Entwicklung des Menschengeschlechts. In: ders.: Schriften zur Sprachphilosophie (Werke in 5 Bänden, Bd. 3). Darmstadt. Hymes, Dell (1981): Die Ethnographie des Sprechens. In: Arbeitsgruppe Bielefelder Soziologen (Hg.): Alltagswissen, Interaktion und gesellschaftliche Wirklichkeit. 5. Aufl. Opladen, S. 338-456. <?page no="43"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Schuetzeichel__Soziologische_Kommunikationstheorien(2)____[Druck-PDF]/ 13.08.2015/ Seite 44 44 1 Soziologie der Kommunikation Saussure, Ferdinand de (1967): Grundfragen der allgemeinen Sprachwissenschaft. Berlin. (2. Aufl.) Theoriegeschichtliche Grundlagen der Soziologie, Sprachphilosophie und Sprachtheorie präsentieren: Grewendorf, Günther (1995): Sprache als Organ, Sprache als Lebensform. Frankfurt am Main. Krämer, Sybille (2002): Gibt es eine Sprache hinter dem Sprechen? Frankfurt am Main. Schneider, Wolfgang Ludwig (1994): Die Beobachtung von Kommunikation. Zur kommunikativen Konstruktion sozialen Handelns. Opladen. Schneider, Wolfgang Ludwig (2002): Grundlagen der soziologischen Theorie. 2 Bände. Wiesbaden. In die Medien- und Kommunikationssoziologie führen ein: Badura, Bernhard / Gloy, Klaus (Hg.) (1972): Soziologie der Kommunikation. Stuttgart, Bad Cannstatt. Faßler, Manfred (1997): Was ist Kommunikation? München. Ludes, Peter (2001): Mediensoziologie. In: Helmut Schanze (Hg.): Handbuch der Mediengeschichte. Stuttgart, S. 119-139. Neumann-Braun, Klaus / Müller-Doohm, Stefan (Hg.) (2000): Medien- und Kommunikationssoziologie. Eine Einführung in zentrale Begriffe und Theorien. Weinheim, München. Rommerskirchen, Jan (2014): Soziologie &-Kommunikation. Theorien und Paradigmen von der Antike bis zur Gegenwart. Wiesbaden: Springer VS. Klassiker der Kommunikationsforschung stellen die Werke des Biologen, Psychologen und Kommunikationsforschers Gregory Bateson dar: Bateson, Gregory (1996): Ökologie des Geistes. 6. Aufl. Frankfurt am Main. Bateson, Gregory / Ruesch, Jürgen (1995): Kommunikation: Die soziale Matrix der Psychiatrie. Heidelberg. Eine Einführung in die Kommunikationswissenschaft liegt vor in: Burkart, Roland (2002): Kommunikationswissenschaft. Grundlagen und Problemfelder. Wien, Köln, Weimar. Lenke, Nils / Lutz, Hans-Dieter / Sprenger, Michael (1995): Grundlagen sprachlicher Kommunikation. München. Sottong, Hermann / Müller, Michael (1998): Zwischen Sender und Empfänger: eine Einführung in die Semiotik der Kommunikationsgesellschaft. Bielefeld. Einführungen in die Semiotik oder Semiologie stellen dar: Keller, Rudi (1995): Zeichentheorie. Tübingen, Basel. Volli, Ugo (2002): Semiotik: eine Einführung in ihre Grundbegriffe. Tübingen, Basel. <?page no="44"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Schuetzeichel__Soziologische_Kommunikationstheorien(2)____[Druck-PDF]/ 13.08.2015/ Seite 44 www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Schuetzeichel__Soziologische_Kommunikationstheorien(2)____[Druck-PDF]/ 13.08.2015/ Seite 45 1.12 Zwischenbilanz 45 Weiterführende Literatur: In der Kommunikationsforschung ist der Ansatz des erkenntnistheoretischen Konstruktivismus bedeutsam, wie er vor allem von Klaus Krippendorff repräsentiert wird: Krippendorff, Klaus (1988): A Heretic Communication about Communication about Communication about Reality. In: Miriam Campanella (Hg.): Between Rationality and Cognition. Turin, S. 257-276. Krippendorff, Klaus (1993): Major Metaphors of Communication and Some Constructivist Reflections on their Use. In: Cybernetics &-Human Knowing 2: 3-25. Schmidt, Siegfried J. (1994): Die Wirklichkeit des Beobachters. S. 3-19 in: Klaus Merten u. a. (Hg.): Die Wirklichkeit der Medien. Opladen. In die Medientheorie und Mediengeschichte führen ein: Faßler, Manfred / Halbach, W. (1998): Geschichte der Medien. München. Flusser, Vilém (1998): Kommunikologie. Frankfurt am Main. Hartmann, Frank (2000): Medienphilosophie. Wien. McLuhan, Marshall (1968): Die magischen Kanäle. Düsseldorf. Soziologische Untersuchungen zur Kommunikationsgesellschaft bieten: Giesecke, Michael (2002): Von den Mythen der Buchkultur zu den Visionen der Informationsgesellschaft. Frankfurt am Main. Wenzel, Harald (2001): Die Abenteuer der Kommunikation. Echtzeitmassenmedien und der Handlungsraum der Hochmoderne. Weilerswist. <?page no="45"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Schuetzeichel__Soziologische_Kommunikationstheorien(2)____[Druck-PDF]/ 13.08.2015/ Seite 46 <?page no="46"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Schuetzeichel__Soziologische_Kommunikationstheorien(2)____[Druck-PDF]/ 13.08.2015/ Seite 46 www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Schuetzeichel__Soziologische_Kommunikationstheorien(2)____[Druck-PDF]/ 13.08.2015/ Seite 47 47 2 Pragmatismus und symbolische Interaktion Der Pragmatismus versteht sich als eine philosophische Richtung, die die alte Frage nach der Entstehung von Geist oder Bewusstsein und Sinn oder Bedeutungen neu zu beantworten sucht. Herkömmlichen mentalistischen Traditionen, die von substantialistischen Annahmen über den Geist ausgehen, setzen die pragmatistischen Theoretiker ein funktionales Konzept entgegen. Geistige Vorgänge müssen in ihrer Funktion im allgemeinen Prozess der Produktion und Reproduktion des menschlichen Lebens betrachtet werden, als aktive Anpassung des menschlichen Organismus an seine kommunikative und physische Umwelt. Diese Modifikation betraf auch das Verständnis von Intersubjektivität, sozialer Interaktion und Kommunikation. Menschen verhalten sich zueinander-- aber was ist der grundlegende Mechanismus, der erklären kann, dass und wie sich Menschen zueinander verhalten können? Die bisher gegebenen Antworten, etwa biologisch gegebene Anlagen, Triebe, Instinkte oder Imitationsverhalten, erachtet man als unzureichend. Ihnen setzt man ein Konzept entgegen, welches für die Soziologie und jede Kommunikationstheorie wegweisend werden sollte: Symbolvermittelte Kommunikation. Die folgenden Seiten gehören drei wichtigen Vertretern dieser pragmatisch orientierten Soziologie: Charles Horton Cooley (1864-1929) ist wohl der erste Soziologe, der dezidiert die Soziologie als eine Wissenschaft von der menschlichen Kommunikation entwirft. George Herbert Mead (1863-1931) ist neben Charles S. Peirce, dessen semiotisches Konzept wir in wenigen Grundzügen in Kapitel 1 vorgestellt haben, sowie William James und John Dewey einer der großen pragmatistischen Theoretiker. Ein direkter Einfluss von Peirce auf Mead lässt sich nicht nachweisen (vgl. Morris 1938); Mead selbst war insbesondere von dem Werk seines Freundes und Kollegen John Dewey beeinflusst, dessen Kommunikationstheorie auch den Ausgangspunkt für andere pragmatistisch orientierte Soziologen bildet. So etwa für Robert E. Park, der mit Dewey davon ausgeht, dass Kommunikationsprozesse für die Einheit und den Erhalt von sozialen Systemen sowohl in räumlicher wie auch in zeitlicher Hinsicht verantwortlich sind. Oder genauer noch und damit die moderne Systemtheorie vorwegnehmend: Soziale Systeme existieren nicht allein durch Kommunikation, sondern in Kommunikation (vgl. Park 1939: 191). Schon Dewey (1926: 5) schrieb Kommunikation gesellschaftskonstitutive Eigenschaften zu, da »Gesellschaft nicht nur aufrechterhalten wird durch Kommunikation, sondern […] überhaupt durch Kommunikation existiert«. Und drittens kommen diejenigen Positionen kurz zur Sprache, die sich unter dem Etikett des symbolischen Interaktionismus versammeln und den Pragmatismus als eine ihrer maßgeblichen Grundlagen betrachten (vgl. Abels 2001, Bd. 2: 156 ff.). <?page no="47"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Schuetzeichel__Soziologische_Kommunikationstheorien(2)____[Druck-PDF]/ 13.08.2015/ Seite 48 48 2 Pragmatismus und symbolische Interaktion 2.1 Die soziologische Entdeckung der Kommunikation Charles Horton Cooley gilt neben Albion Small, William Sumner, Franklin Giddings und Lester Frank Ward als einer der frühen großen amerikanischen Soziologen. Er führt Kommunikation als Grundbegriff in die Soziologie ein. Der historisch-biografische Zusammenhang ist dabei vergleichsweise trivial. Cooley befasst sich in innovativen Studien (vgl. Cooley 1894 u. 1909; Cooley / Cooles 1894; vgl. auch Mead 1987a und als Einführung Schubert 1995) mit einer Analyse des amerikanischen Transportsystems und dessen Bedeutung für verschiedene gesellschaftliche Bereiche wie die Ökonomie, die Politik, den Staat oder die Kultur. Dabei setzt er sich mit den Annahmen der wissenschaftlich vorherrschenden theoretischen Tradition des Utilitarismus auseinander, die nicht nur in der Ökonomie großen theoretischen Einfluss hat. Dem Utilitarismus zufolge stellt sich das Zusammenwirken der Menschen als eine Aggregation von Einzelinteressen dar, die in einem vertraglich regulierten Wettbewerbshandeln miteinander stehen. Der Utilitarismus fragt gemäß Cooley aber nicht danach, woher die Einzelinteressen der einzelnen Menschen und woher die Verträge zwischen ihnen kommen. Die Voraussetzungen der vertraglichen Aggregation werden, wie Cooley in Übereinstimmung mit anderen klassischen Soziologen-- insbesondere mit Émile Durkheim-- sagt, schlichtweg vorausgesetzt. Sowohl die Einzelinteressen als auch die vertraglichen Verhältnisse können sich aber nur dann bilden, so Cooley, wenn die Menschen miteinander kommunizieren. Die Annahmen der utilitaristischen Ökonomie verlangen also nach einem tragfähigen theoretischen Fundament. Dieses Fundament wird durch eine Kommunikationstheorie bereitgestellt. Sie zu entwickeln, ist Aufgabe der Soziologie. Die Soziologie hat es deshalb nach Cooley im Unterschied zur Ökonomie mit kommunikativen Sachverhalten zu tun. In einem autobiografischen Rückblick auf seine ersten frühen soziologischen Arbeiten hält er fest: »Communication was thus my first real conquest, and the thesis a forecast of the organic view of society I have been working out ever since.« (Cooley 1926: 8) Cooley wendet sich damit gegen vorherrschende philosophische oder psychologische Theorien, die die Vergesellschaftung zwischen Menschen auf biologische Faktoren oder auf Imitationsverhalten zurückführen. Nur durch Kommunikation kann der Mensch eine Beziehung zu anderen Menschen aufbauen. Aber Kommunikation ist nicht nur für die Beziehung zu anderen Menschen maßgeblich, sondern auch für die Ausbildung der eigenen Identität. Dabei führt er den Terminus des ›looking glass effect‹ ein. Cooley beschreibt, wie ein Kind lernt, sein eigenes Verhalten durch die Augen anderer, insbesondere der Mutter, zu betrachten. Es lernt, sein eigenes Verhalten zu beobachten, indem es sein Verhalten an den Reaktionen der anderen kontrolliert. »Without communication the mind does not develop a true human nature, but remains in an abnormal and nondescript state neither human nor properly brutal.« (Cooley 1909: 62) <?page no="48"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Schuetzeichel__Soziologische_Kommunikationstheorien(2)____[Druck-PDF]/ 13.08.2015/ Seite 48 www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Schuetzeichel__Soziologische_Kommunikationstheorien(2)____[Druck-PDF]/ 13.08.2015/ Seite 49 2.1 Die soziologische Entdeckung der Kommunikation 49 Was aber heißt Kommunikation? Cooley gibt schon früh eine wegweisende und immer noch aktuelle Definition: »By communication is here meant the mechanism through which human relations exist and develop-- all the symbols of the mind, together with the means of conveying them through space and preserving them in time. It includes the expression of the face, attitude and gesture, the tones of the voice, words, writing, printing, railways, telegraphs, and whatever else may be the latest achievement in the conquest of space and time. All these taken together, in the intricacy of their actual combination, make up an organic whole corresponding to the organic whole of human thought; and everything in the way of mental growth has an external existence therein.«(Cooley 1909: 61) Kommunikation hat also einen Ausdrucks- und Mitteilungseffekt. Es handelt sich um eine durch die bedeutungsgleiche Verwendung von Symbolen herbeigeführte Austauschbeziehung zwischen Menschen. Dabei schränkt Cooley Kommunikation nicht auf das Medium der Sprache ein. Er betont insbesondere die Bedeutung der körperlichen Kommunikation, wie sie durch Gebärden, Gesten, den Gesichtsausdruck oder die Tonlage der Stimme geprägt wird. Aber auch andere, durch neue Techniken ermöglichte Kommunikationsformen wie das Telefon, ja selbst künstlerische Werke stellen für ihn bedeutsame Kommunikationsmedien dar. Dennoch genießt die Sprache unter den Medien eine Sonderstellung. Dies wird insbesondere durch eine Gegenüberstellung von leiblichen Gebärden und sprachlichen Zeichen deutlich. Gebärden haben einen sehr engen Situationsbezug, sie können zur Verständigung nur benutzt werden, wenn sie sich auf einen konkreten, für alle Kommunikationsteilnehmer präsenten Sachverhalt beziehen. Im Gegensatz dazu können sprachliche Zeichen von konkreten Situationen abstrahieren. Sie haben eine situationsübergreifende Bedeutung. Die kommunikative Verwendung von sprachlichen Zeichen führt dazu, dass die Menschen voneinander lernen können. Sie sind nicht mehr an eigene, konkrete Erfahrungen gebunden, um die Gebärden der anderen nachvollziehen zu können, sondern sie sind in der Lage, sich Erfahrungen mitzuteilen, ohne diese selbst gemacht zu haben. Sprachliche Zeichen müssen den Charakter von Symbolen annehmen, wenn die Menschen sich situationsübergreifend verständigen und ihre Handlungen koordinieren wollen. Symbole sind Zeichen, die für Kommunikationsteilnehmer die gleiche Bedeutung haben. Wenn Symbole die gleiche Bedeutung haben, dann können die Menschen ihre Handlungen an den erwarteten Reaktionen der anderen ausrichten und sie können ihre eigenen Erwartungen im Hinblick auf die antizipierten Erwartungen der anderen bilden. Und deshalb können sie sich auf sich selbst beziehen. Nur durch solche signifikanten Symbole können die Menschen sich selbst zum Objekt machen und eine Ich-Identität entwickeln. Voraussetzung wie auch Resultat von Kommunikation ist nach Cooley ein gemeinsames symbolisches Hintergrundwissen. Die Menschen können einander nur verstehen, wenn sie über ein als gemeinsam unterstelltes, implizites Hintergrundwissen verfügen. Er spricht von einer »sympathetic introspection« (Cooley 1909: 7), die zu <?page no="49"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Schuetzeichel__Soziologische_Kommunikationstheorien(2)____[Druck-PDF]/ 13.08.2015/ Seite 50 50 2 Pragmatismus und symbolische Interaktion einer Übernahme der Perspektive der anderen (sympathetic) auf der Basis der Interpretationsmöglichkeiten (introspection) führt, die das eigene implizite Hintergrundwissen bereitstellt. Kommunikation hat aber nach Cooley mitnichten zur Konsequenz, dass die Menschen sich automatisch besser verstehen. Kommunikation hat überaus ambivalente Züge, die sowohl zur Integration als auch zur Desintegration unter den Menschen führen kann. Cooley (1909: 91) führt das Beispiel der Massenmedien an. Er betont ihr emanzipatorisches Potenzial. Massenmedien können dazu beitragen, dass die Menschen sich aus übermächtigen sozialen Strukturen und repressiven sozialen Verhältnissen lösen, andere Kulturen und Milieus kennenlernen und die Perspektive von anderen übernehmen können. Massenmedien reduzieren die räumlichen Distanzen. Und in der zeitlichen Dimension erlauben sie es, dass immer mehr Information gespeichert werden kann. Dies kann aber auch dazu führen, dass die Menschen orientierungslos werden, dass anomische gesellschaftliche Zustände auftreten, dass die Menschen überfordert und manipuliert werden. 2.2 Der ›social act‹ George Herbert Mead gibt der Soziologie eine neue Theoriebasis. Ihm zufolge sind Handlungen »Derivate der Interaktion«, wie Schneider (2002, Bd. 1: 180) zutreffend formuliert. Aus diesem Grunde kann dieser Theorieansatz in seiner Bedeutung für die Soziologie nicht überschätzt werden. Andere soziologische Ansätze setzen den sich seiner selbst bewussten Handelnden als Grundlage ihrer Theorie voraus, ohne zu klären, wie der Handelnde zu seinem Bewusstsein und damit zu seinem Handeln kommt- - paradigmatisch hierfür etwa die soziologische Theorie von Max Weber. Oder sie setzen eine Sphäre des kollektiven Bewusstseins oder der Kultur voraus, ohne zu klären, wie eine solche Sphäre entstehen kann-- paradigmatisch hierfür steht etwa die soziologische Theorie von Durkheim. Mead eröffnet der Soziologie gleichsam einen neuen theoretischen Rahmen, indem er die Individuierung von Menschen und ihre Vergesellschaftung durch Kommunikation in einen konditionalen Zusammenhang stellt. Dieser Punkt spiegelt sich auch in der methodologischen Devise wider. Mead erklärt das Verhalten der Individuen durch den sozialen Kommunikationszusammenhang und nicht umgekehrt den sozialen Kommunikationszusammenhang aus den individuellen Beiträgen. »We are not, in social psychology, building up the behavior of the social group in terms of the behavior of the separate individuals composing it; rather, we are starting out with a given social whole of complex group activity, into which we analyze (as elements) the behavior of- - each of the separate individuals composing it […]. For social psychology, the whole (society) is prior to the part (the individual), not the part to the whole, and the part is explained in terms of the whole, not the whole in terms of the part or parts.« (Mead 1934: 7) <?page no="50"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Schuetzeichel__Soziologische_Kommunikationstheorien(2)____[Druck-PDF]/ 13.08.2015/ Seite 50 www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Schuetzeichel__Soziologische_Kommunikationstheorien(2)____[Druck-PDF]/ 13.08.2015/ Seite 51 2.3 Gesten, Symbole und Bedeutung 51 Das individuelle Handeln und Verhalten ist funktionaler Bestandteil eines umfassenderen sozialen Zusammenhangs. Es erzeugt seine Bedingungen nicht aus sich selbst, sondern ist Teil eines gemeinschaftlichen Verhaltensablaufs, des ›social act‹, der sich in einer natürlichen und einer sozialen Umwelt abspielt. Die natürliche Umwelt wird in der Auseinandersetzung des Menschen mit der Natur geschaffen, in der Produktion von materiellen Gütern, die für seine Reproduktion notwendig sind. Sie besteht also aus verobjektivierter Arbeit. Die soziale Umwelt besteht in den verobjektivierten Bedeutungen und Sinnbezügen, die in der Kommunikation zwischen den Menschen entstanden sind. Social acts- - die nicht mit den ›sozialen Handlungen‹ Max Webers verwechselt werden dürfen-- sind also organisierte, prozessuale Zusammenhänge, die aus einzelnen Handlungen einzelner Organismen oder Handelnder bestehen. Sie bilden die Basis für die Analysen von Mead, dessen Position man mit Fararo (2001: 30) dementsprechend als ›action holism‹ bezeichnen kann. 2.3 Gesten, Symbole und Bedeutung Meads Theorie ist sowohl phylogenetisch wie auch ontogenetisch orientiert. Er untersucht, welche Bedingungen es für den Erwerb von Reflexions-, Sprach- und Kommunikationskompetenzen in der Gattungsgeschichte wie auch in der Lerngeschichte der einzelnen Menschen gibt. Zudem analysiert er die Ebenen, die aus einem biologischen Instinkt- und Reflexwesen ein soziobiologisch-kulturelles Reflexionswesen machen. Von daher nimmt Mead seinen Ausgangspunkt in der biologischen Sphäre, nämlich im beobachtbaren Verhalten von Organismen, welches aufeinander bezogen ist und den objektiv-sozialen Sachverhalt konstituiert, den Mead (1934: 42) »the same social act« nennt, also eine gemeinsame soziale Handlung, die eine objektive Bedeutung aufweist und auf dem Austausch von Gesten beruht. Mead führt das Beispiel eines Hundekampfes an, um dies zu illustrieren: Zwei Hunde kämpfen miteinander. Dabei tauschen sie Gesten oder Gebärden aus. Mead spricht von einer »conversation of gestures« (Mead 1934: 43; vgl. auch Mead 1987b). Der eine Hund knurrt, und dieses Knurren ist eine Geste, die den anderen Hund zu einem bestimmten Verhalten stimuliert, der seinerseits mit einem Blecken der Zähne, einem Knurren oder einer Flucht reagieren kann. Der zweite Hund reagiert dabei nicht allein auf das Knurren des ersten Hundes, sondern auf die Geste des Knurrens, die als Anzeichen dafür dient, dass der erste Hund zum Kampf übergehen wird, wenn der zweite Hund nicht ein bestimmtes Verhalten zeigt. Die Geste des Knurrens ist also sowohl Stimulus für den zweiten Hund wie auch Anzeichen für ein mögliches Verhalten des ersten Hundes. Sie ist in ihrer Bedeutung also integriert in ein das Verhalten der beiden Hunde übergreifenden sozialen Akt. Deshalb hat die Geste eine objektive Bedeutung, die sich aus dem gemeinsamen sozialen Akt ergibt. <?page no="51"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Schuetzeichel__Soziologische_Kommunikationstheorien(2)____[Druck-PDF]/ 13.08.2015/ Seite 52 52 2 Pragmatismus und symbolische Interaktion »Meaning is thus a development of something objectively there as a relation between certain phases of the social act; it is not a psychical addition to that act and it is not an ›idea‹ as traditionally conceived. A gesture by one organism, the resultant of the social act in which the gesture is an early phase, and the response of another organism to the gesture, are the relata in a triple or threefold relationship of gesture to first organism, of gesture of second organism, and of gesture to subsequent phases of the given social act; and this threefold relationship constitutes the matrix within wich meaning arises, or which develops into the field of meaning.« (Mead 1934: 76) Auch bei einem Boxkampf haben Gebärden eine kommunikative Bedeutung, die einem Bewusstsein von dieser Bedeutung vorausgeht. Bedeutung entsteht mit der Kommunikation, nicht mit dem Bewusstsein. Die Bedeutung einer Geste oder eines Reizes ist eine objektive, die sich aus einer dreistelligen Relation ergibt: aus der Beziehung zwischen der Geste, der Reaktion auf diese Geste und dem Anschlussverhalten innerhalb des sozialen Aktes. Das heißt nun nicht, dass den Hunden diese Bedeutung in irgendeiner Weise bewusst wäre. Sie haben weder ein Bewusstsein noch bedeuten ihnen die Gesten etwas. Der Hundekampf wird von Mead aus der Sicht eines Verhaltensforschers analysiert, der sich die objektive Bedeutung des tierischen Verhaltens dadurch vor Augen führt, dass er es in einen Funktionskreislauf einordnet. Mead interessiert sich ja auch nicht für die tierische, sondern für die Genese der menschlichen Kommunikation. Schauen wir uns im Unterschied zum Hundekampf einen Boxkampf zwischen Menschen an. Mead benutzt dieses Beispiel, um auf einen bedeutsamen Unterschied hinzuweisen: »The man who makes a feint is calling out a certain blow from his opponent, and that act of his own does have that meaning to him, that is, he has in some sense initiated the same act in himself.«(Mead 1934: 68) Einem Boxer ist es möglich, durch eine Finte seinen Gegner aus der Deckung zu locken, weil er die Reaktion des Gegners auf seine Geste antizipieren kann. Dies setzt voraus, dass er wissen muss, wie sein Gegner auf sein Verhalten im Normalfall reagieren würde. Er muss also antizipieren können, welche Erwartungen der andere hat, wenn er eine bestimmte Geste macht. Mit anderen Worten: Die Gesten haben nicht mehr nur eine objektive Bedeutungsstruktur, sondern sie sind verinnerlicht, und zwar als signifikante Symbole, die einen für die Beteiligten identischen Bedeutungskern aufweisen. Das ist nach Mead ein zentraler Unterschied zur tierischen Kommunikation. Gesten können in der tierischen Kommunikation als Signal, als Auslöser für bestimmte Verhaltensweisen fungieren. Dort sind sie in eine objektive Bedeutungsstruktur eingebettet. Aber Tiere reagieren nur wechselseitig aufeinander, ohne dass sie das gegenseitige Verhalten mit vollziehen. In dem Maße aber, in dem die Organismen mit diesen Gesten eine gemeinsame Bedeutung verbinden, also ein subjektives Bewusstsein über die objektive Bedeutung einer Geste entwickeln, und, was entscheidend ist, eine gemeinsame, identische Bedeutung von den Gesten entwickeln, werden diese zu dem, was Mead signifikante Gesten oder Symbole nennt. Deshalb kann Mead die <?page no="52"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Schuetzeichel__Soziologische_Kommunikationstheorien(2)____[Druck-PDF]/ 13.08.2015/ Seite 52 www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Schuetzeichel__Soziologische_Kommunikationstheorien(2)____[Druck-PDF]/ 13.08.2015/ Seite 53 2.3 Gesten, Symbole und Bedeutung 53 Genese von Bedeutung darauf zurückführen, dass die Bedeutung für alle beteiligten Organismen eine identische sein muss, obwohl sie auf ganz unterschiedliche Weise auf das Bedeutete reagieren können. »Meaning as such, i. e., the object of thought, arises in experience through the individual stimulating himself to take the attitude of the other in his reaction toward the object. Meaning is that which can be indicated to others while it is by the same process indicated to the indicating individual.« (Mead 1934: 89) Eine wichtige Position in diesem Transformationsprozess nimmt dabei die Lautgebärde ein. Im Unterschied zu anderen Gebärden dienen Laute zur Selbstaffektion. Man kann sich hören, wenn man etwas sagt. Eine Lautsequenz kann von ein und demselben Individuum geäußert und gehört werden. Diese Selbstaffektion wird von Mead in die triadische Relation eingebaut. Die Bedeutung der Selbstaffektion ergibt sich durch die Reaktion von Alter auf das Gesagte. Die Selbstaffektion ermöglicht es, dass Ego damit in sich selbst die gleiche Reaktion auf das Gesagte auslösen kann, die er bei Alter erreichen will. Beide, Ego und Alter, können damit eine funktionale bzw. soziale Identität von Bedeutungen erwerben. Die Bedeutungen werden signifikant. Ego kann die Einstellung von Alter einnehmen oder in dessen Rolle schlüpfen und dadurch ein reflexives Verhältnis zu sich selbst entwickeln. Die Transformation von gestischer Kommunikation zu symbolisch vermittelter Kommunikation beruht im Einzelnen also auf drei komplementären Schritten (vgl. Habermas 1981, Bd. 2: 19): • Internalisierung der objektiven Bedeutungsstruktur: Die objektive Bedeutung von Gesten wird subjektiv verfügbar gemacht. Dadurch erhalten die Gesten eine symbolische Bedeutung, aber dies auch nur dann, wenn für alle Kommunikationsteilnehmer die Gesten eine identische Bedeutung haben. Das heißt, die Internalisierung als solche muss unterstützt werden durch • Signifikante Symbole: Signifikante Symbole sind Symbole, die für alle Kommunikationsteilnehmer eine identische Bedeutung haben. Bedeutungen werden konventionalisiert. Nur signifikante Symbole erlauben die Antizipation der Reaktionen von anderen und damit die Möglichkeit, sich auf diesem Wege auf andere einzustellen. Individuen können sich zu signifikanten Symbolen nur verhalten, weil sie sich wechselseitig zueinander verhalten, und sie können sich wechselseitig nur zueinander verhalten, also kommunizieren, wenn sie sich zu identischen Bedeutungen von Zeichen, also signifikanten Symbolen verhalten. Damit ist der dritte Schritt benannt: • Einstellungsübernahme (taking the attitude of the other): Signifikante Symbole erlauben es, die von den anderen Kommunikationspartnern vorgenommene Interpretation von Gesten nachzuvollziehen und deshalb ihre Einstellung zu übernehmen. Und umgekehrt gilt auch: Symbole werden signifikant dadurch, dass die Kommunikationspartner davon ausgehen, dass die anderen sie in der gleichen, wenn auch nicht derselben Einstellung benutzen. <?page no="53"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Schuetzeichel__Soziologische_Kommunikationstheorien(2)____[Druck-PDF]/ 13.08.2015/ Seite 54 54 2 Pragmatismus und symbolische Interaktion Im Unterschied zu dem von Cooley beschriebenen ›looking glass effect‹ der sich nur auf die Reaktionen anderer auf das eigene Verhalten bezieht, ist das von Mead beschriebene ›taking the attitude of the other‹ auf die Übernahme der Einstellung anderer bezogen. Mit Habermas (1981, Bd. 2: 28), der die Argumentationsschritte Meads systematisch zu entfalten sucht, können dabei drei Stufen der Einstellungsübernahme unterschieden werden: Die erste Stufe besteht darin, dass die Kommunikationspartner die objektive Bedeutungsstruktur in dem Maße verinnerlichen, dass sie auf eine Geste in gleicher Weise reagieren und dadurch diese Geste in einer übereinstimmenden Weise interpretieren können. Die zweite Stufe besteht darin, dass die Kommunikationspartner um sich selbst als Partner in einer Kommunikation wissen. Sie lernen, zwischen sich reziproke Beziehungen aufzubauen und sich selbst als Sender und Empfänger von Kommunikationsangeboten zu verstehen. Die dritte Stufe der Einstellungsübernahme besteht darin, dass sie die Gesten nicht nur in einer übereinstimmenden Weise interpretieren, sondern ihnen auch eine identische Bedeutung zuweisen, die dann vorliegt, wenn sie wissen, wie die anderen auf eine Geste reagieren müssten. Kern der pragmatistischen Bedeutungstheorie ist es also, dass Bedeutungen weder Vorstellungen eines Bewusstseins noch Eigenschaften eines sozialen oder natürlichen Objekts sind, sondern Reaktionen, die Objekte in einem Organismus auslösen können. Oder mit anderen Worten: Bewusstsein ist nicht für die Existenz von Bedeutungen notwendig, da die Bedeutung eines Aktes sich aus der Reaktion eines anderen Aktes ergibt. Aber diese Bedeutung von Objekten kann auf der Stufe der menschlichen Kommunikation symbolisiert werden. Symbole können stellvertretend zur Anzeige der Bedeutung von Objekten eingesetzt werden und, mehr noch, im sozialen Kommunikationsprozess können Symbole benutzt werden, um die Objekte oder Situationen, die sie symbolisieren, erst zu erschaffen. Dies ist eine der entscheidenden Leistungen des Mediums der Sprache. Sprache symbolisiert nicht nur schon Vorhandenes, sondern sie schafft eine neue Welt voll neuer Bedeutungen. »Symbolization constitutes objects not constituted before, objects which would not exist except for the context of social relationships wherein symbolization occurs. Language does not simply symbolize a situation or object which is already there in advance; it makes possible the existence or the appearance of that situation or object, for it is a part of the mechanism whereby that situation or object is created.« (Mead 1934: 78) Die Sprache stellt nach Mead das symbolische System dar, welches sich auf der Basis von vokalen Gesten entwickelt hat. Vokale Gesten haben gegenüber anderen Gesten einen spezifischen Vorzug. Gesten haben die kommunikative Bedeutung, eine bestimmte Handlung oder Reaktion auszulösen. Vokale Gesten können in dem Sender die gleiche Reaktion auslösen wie in dem Empfänger, da er sie genauso wahrnehmen kann wie dieser. Vokale Gesten synchronisieren dann, wenn es sich um signifikante Symbole, also um Sprache handelt, die Kommunikationsteilnehmer, indem sie <?page no="54"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Schuetzeichel__Soziologische_Kommunikationstheorien(2)____[Druck-PDF]/ 13.08.2015/ Seite 54 www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Schuetzeichel__Soziologische_Kommunikationstheorien(2)____[Druck-PDF]/ 13.08.2015/ Seite 55 2.4 Mind 55 bei ihnen allen die gleichen Vorstellungen auslösen. Sprache ermöglicht Kommunikation, indem sie die Beteiligten mit identischem Sinn versorgt. Wenn Frau Schmidt ihrem Ehemann den Sauerbraten empfiehlt, dann kann sie davon ausgehen, dass Herr Schmidt mit ›Sauerbraten‹ die gleichen Vorstellungen verbindet wie sie, eben weil es sich um ein Symbol handelt, welches signifikant ist. »What language seems to carry is a set of symbols answering to certain content which is measurably identical in the experience of the different individuals. I f there is to be communication as such the symbol has to mean the same thing to all individuals involved.« (Mead 1934: 54) 2.4 Mind Mead rekonstruiert also phylogenetisch den Übergang von der tierischen zur humanen Kommunikation als allmählichen Übergang von der gestenvermittelten zu einer symbolisch vermittelten Kommunikation. Dieser sukzessive Übergang markiert für Mead den Beginn der Hominisation. Aber führen wir uns seine komplexe Argumentation zunächst nochmals vor Augen. Mead geht davon aus, dass in der tierischen Kommunikation Gesten oder Reize eine objektive Bedeutung haben, die sich aus der triadischen Relation von Geste, Reaktion und dem social act bzw. dem sozialen Verhaltenszusammenhang ergibt. Diese Relation besteht darin, dass die Geste sowohl als Stimulus die Reaktion der anderen Organismen auslöst, wie auch als Anzeige für den social act dient. Einer Geste kommt also eine objektive Bedeutung insofern zu, als sie bei den anderen Organismen eine Reaktion auslösen kann, die auf den sozialen Verhaltenszusammenhang bezogen ist. Der Übergang zur menschlichen Kommunikation weist zwei korrespondierende Aspekte auf: Internalisierung der Bedeutungsstruktur und Transformation der gestenvermittelnden zu einer symbolisch vermittelten Kommunikation. Die Internalisierung der Bedeutungsstruktur ist ein erster Schritt zu dem, was Mead ›mind‹ nennt, also Geist oder Bewusstsein. Mead bindet also die Genese des menschlichen Bewusstseins und die Entwicklung humaner Kommunikationsformen aneinander. Internalisierung der Bedeutungsstruktur heißt, dass der objektive Bedeutungszusammenhang von Gesten subjektiv repräsentiert wird. Das wird dann möglich, wenn der Organismus, der eine Geste zeigt oder einen Reiz erzeugt, in der Lage ist, die Reaktion des anderen Organismus wie den sich dadurch abzeichnenden social act zu antizipieren. Und umgekehrt gilt, dass der Adressat eines Reizes fähig sein muss, seine Reaktion als eine Antwort auf einen Reiz und damit als Antwort auf die Anzeige einer sozialen Handlung zu verstehen. Die Gesten werden dadurch zu signifikanten Symbolen, und die interagierenden Organismen bilden in sich die Fähigkeit aus, die Einstellung der anderen zu übernehmen und dadurch alternative Reaktionen zu entwickeln. Es kommt zu einer Entkopplung von Reiz und Reaktion als Voraussetzung für <?page no="55"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Schuetzeichel__Soziologische_Kommunikationstheorien(2)____[Druck-PDF]/ 13.08.2015/ Seite 56 56 2 Pragmatismus und symbolische Interaktion mind. Schneider weist auf diesen wichtigen Argumentationsschritt von Mead hin: Die Transformation von einem reizstimulierten Verhalten zu einem teleologischen Handeln ist erreicht, »wenn die Beziehung von Reiz, Reaktion und Gesamthandlung zum Gegenstand der Vorstellung, der geistigen Analyse und der Entscheidung werden kann. Wenn dies der Fall ist, dann kann ein Individuum sich gleichsam selbst konditionieren.« (Schneider 2002, Bd. 1: 201) Mead bindet die Handlungsfähigkeit von Menschen an ihre Kommunikationsfähigkeit und der Internalisierung von objektiven Bedeutungsstrukturen. Durch Internalisierung erwerben sie die Möglichkeit, die objektive Bedeutung subjektiv zu repräsentieren und über Konsequenzen ihres Tuns zu disponieren. Ein reizstimuliertes Verhalten kann durch ein zweckgerichtetes, rationales Handeln ersetzt werden, weil Individuen sich die objektive Bedeutung von Reiz, Reaktion und der Gesamthandlung des social act bewusst machen können. Damit sind sie in der Lage, sich darauf einzustellen, welche Beziehungen zwischen Reizen, Reaktionen und der daraus resultierenden Gesamthandlung existieren, welche Konsequenzen ihre Reaktionen auf fremde Reize, welche Konsequenzen ihre Reize auf die Reaktionen anderer und schließlich welche Gesamthandlung sich überhaupt ergeben könnte, wenn bestimmte Reize oder Reaktionen angezeigt werden. Die Komponenten der objektiven Bedeutungstruktur werden durch die Internalisierung zu Komponenten von Handlungen transformiert (vgl. Schneider 2002: 201 f.): • Die Reize, denen das Verhalten von Organismen unterliegt, werden in Situationen transformiert, in denen die Handlungen eingebunden sind. • Die Reaktionen der Organismen werden in Mittel transformiert, denen sich ein Handelnder bedienen kann, um bestimmte Ziele zu erreichen. • Die Gesamthandlung, denen das Verhalten der Organismen unterworfen ist, wird in Ziele transformiert, die von den Handelnden erreicht werden können. • Und aus der Energie, mit welcher Organismen bestimmte Verhaltensschemata verfolgen, werden Motive, mit denen Handelnde ihre Ziele verfolgen. Pragmatische Theorien wie diejenige Meads betonen den Situationsbezug von Handeln. Handeln findet stets in Situationen- - und die Soziologie interessiert sich in erster Linie für soziale Situationen-- statt, die dadurch gekennzeichnet sind, dass sie ein Set von möglichen Handlungsoptionen einerseits, ein Set von möglichen Handlungsbedingungen andererseits umfassen. Handelnde erfahren diese Situationen gewöhnlich auf der Basis von präkognitiven Erwartungshaltungen, und auch ihr Verhalten findet in der Regel auf der Basis von habitualisierten Handlungsregularitäten und -routinen statt. Sie handeln vielfach so, wie es ihnen ihre Routinen erlauben. Aber dann, wenn eine Handlungssituation Probleme aufwirft, wenn Erwartungshaltungen oder eingeübte Handlungsabläufe versagen, können sie reflexiv mit dieser Störung des gewohnten Handlungsablaufs umgehen und ihr Handeln neu organisieren. Dies kann etwa die Angemessenheit der Mittel betreffen, um bestimmte Ziele zu <?page no="56"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Schuetzeichel__Soziologische_Kommunikationstheorien(2)____[Druck-PDF]/ 13.08.2015/ Seite 56 www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Schuetzeichel__Soziologische_Kommunikationstheorien(2)____[Druck-PDF]/ 13.08.2015/ Seite 57 2.4 Mind 57 erreichen, dies kann sich auf die Definition der Situation beziehen, in der sie sich befinden, dies kann aber auch ihre Zielsetzung selbst beinhalten. Dabei führen sie sich die Komponenten des Handlungsablaufs symbolisch vor Augen, um mögliche Störquellen zu identifizieren und über mögliche Alternativen zu disponieren. Durch die Internalisierung und subjektive Aneignungen von objektiven Bedeutungsstrukturen werden die einzelnen Komponenten von Handlungsvollzügen symbolisch repräsentiert, die, da sie kommunikativen Ursprungs sind und auf der Übernahme der Einstellung von anderen beruhen, eine soziale Signifikanz haben, also signifikante Symbole sind. Reflexion ist an problematische Handlungssituationen gebunden und wird von daher von Mead als diejenige Phase von Handlungen bestimmt, die dem Umgang und der Kontrolle von Störungen des normalen, habitualisierten Handlungsablaufs dient. Hans Joas (1992) spricht dementsprechend von der Kreativität des Handelns. Handelnde interagieren mit sozialen und nicht sozialen Objekten in ihrer Situation. Dabei wird im Pragmatismus von Mead der Terminus ›Interaktion‹ in einer spezifischen Bedeutung benutzt. Er bedeutet nicht etwa, wie dies später bei Herbert Blumer im symbolischen Interaktionismus oder auch in der heutigen Soziologie der Fall ist, so viel wie ›Face-to-Face-Kommunikation‹, sondern man muss ihn als Adaptation an Situationen oder Akkomodation in Situationen übersetzen. Für die Pragmatisten stellt Interaktion ein allgemeines Realitätsprinzip dar- - alle Dinge der natürlichen und der sozialen Welt stehen untereinander in interaktiven Anpassungsprozessen. Diese Auffassung weist eine gewisse Parallelität zum Prinzip der ›Wechselwirkung‹ auf, welches nach Simmel Grundprinzip und Grundbegriff der Soziologie ist. Wie bei Simmel, so kann auch das Prinzip der Interaktion auf die intensive Auseinandersetzung von Mead und Dewey mit der Evolutionstheorie von Charles Darwin zurückgeführt werden, der Anpassung als wichtigen evolutionären Mechanismus betrachtete (vgl. Shalin 1986: 9-13). Nach Mead versuchen Menschen, ihr Verhalten so einzurichten, dass sie stabile und koordinierte Adaptationen an und Akkomodationen mit sozialen und nicht sozialen Objekten in ihrer Situation erreichen können. Wichtig ist es in soziologietheoretischer Hinsicht zudem, den folgenden Punkt festzuhalten: Mead vertritt nicht die Auffassung, dass die Bedeutung von Handlungen oder kommunikativen Akten auf dem ›subjektiv gemeinten Sinn‹ der handelnden Akteure beruht, wie dies seit Max Weber in manchen handlungstheoretischen Argumentationen behauptet wird. Sondern es gilt nach Mead umgekehrt, dass die Handlungen einen objektiven Sinn haben, der auf ihrer funktionalen Integration in ein prozessuales Gesamtgeschehen beruht. So betont Mead, dass eine Theorie, welche Individuen als atomare Grundlagen des sozialen Geschehens betrachtet, nicht in der Lage sind, die Genese von ›mind‹ und ›selves‹ zu erklären. Eine Theorie, die »[…] assumes individual selves as the presuppositions, logically and biologically, of the social process or order within which they interact […] cannot explain the existence of minds and selves […].« Aber eine Theorie, die im Gegensatz dazu »[…] assumes a <?page no="57"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Schuetzeichel__Soziologische_Kommunikationstheorien(2)____[Druck-PDF]/ 13.08.2015/ Seite 58 58 2 Pragmatismus und symbolische Interaktion social process or social order as the logical and biological precondition of the appearance of the selves of the individuals involved in that process or belonging to that social order […] can explain that which it takes as logically prior, namely the existence of the social process of behavior, in terms of such fundamental biological relations and interactions as reproduction.« (Mead 1934: 222 f.) 2.5 I, Me and Self Nicht nur die Fähigkeit zur Reflexion und damit die Fähigkeit zum Handeln wird von Mead auf Kommunikation zurückgeführt, sondern auch das bewusste Verhältnis der Menschen zu sich selbst, ihr Selbstbewusstsein oder ihre Identität. Mead spricht von dem ›self‹ (Selbst) eines Individuums. »That the person should be responding to himself is necessary to the self, and it is this sort of social conduct which provides behavior within which that self appears. I know of no other form of behavior than the linguistic in which the individual is an object to himself, and, so far as I can see, the individual is an object to himself, and, the individual is not a self in the reflexive sense unless he is an object to himself. It is this fact that gives a critical importance to communication, since this is a type of behavior in which the individual does so respond to himself.« (Mead 1934: 142) Aufgrund der Verwendung signifikanter Symbole wie der Sprache können Individuen ein reflexives Verhältnis nicht nur zu ihren Handlungen, sondern auch zu sich selbst etablieren, weil sie zu sich selbst in eine Objekt-Beziehung treten können. Kommunikation ermöglicht es, die Rolle bzw. die Haltung von anderen einzunehmen, vor allem auch die Haltung der anderen in Bezug auf ihre eigene Person. Individuen können sich dadurch selbst zum Objekt machen. Sie lernen also, sich zu sich selbst zu verhalten, indem sie sich kommunikativ zu anderen verhalten und deren Perspektive auf sie selbst für sich selbst zu übernehmen. Signifikante Symbole erlauben es, dass ein Individuum sich selbst und seine Handlungen vom Standpunkt anderer betrachten kann (to take the attitude of the other). Es nimmt sich selbst gegenüber die Perspektive anderer Personen, anderer Gruppen, anderer Gemeinschaften ein. Mead unterscheidet mit dem I (Ich) und dem Me (Mich) zwei Komponenten oder zwei Phasen des Selbst. Dabei orientiert er sich wiederum an der ursprünglichen objektiven Bedeutungsstruktur von Reiz, Reaktion und social act, die aber jetzt als internalisierte, nach innen verlegte Bewusstseinsakte verstanden werden. Mead geht also von einer prozessualen Strukturlogik aus, die sowohl objektiven, sozialen Kommunikationen als auch subjektiven, bewussten Prozessen gemeinsam ist. Dem Ich entspricht der Reiz, dem Mich entspricht die Reaktion, der Entscheidung schließlich die Gesamthandlung des social act. Der äußere Dialog wird zu einem inneren Dialog. Diese allgemeine prozessuale Logik, die sowohl in Kommunikationswie in gedanklichen Prozessen fungiert, weist eine triadische Struktur auf (vgl. Schneider 2002, Bd. 1: 210). <?page no="58"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Schuetzeichel__Soziologische_Kommunikationstheorien(2)____[Druck-PDF]/ 13.08.2015/ Seite 58 www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Schuetzeichel__Soziologische_Kommunikationstheorien(2)____[Druck-PDF]/ 13.08.2015/ Seite 59 2.5 I, Me and Self 59 Machen wir uns dies an einem Beispiel mit unserer eingangs eingeführten Familie Schmidt klar, die sich in folgender Situation befindet: Frau Schmidt empfiehlt ihrem Mann den Sauerbraten. Herr Schmidt entgegnet ein wenig schroff, dass er, was doch bekannt sei, Sauerbraten nicht möge und die Entenkeule bevorzuge. Als Frau Schmidt ihre Empfehlung ausspricht, gerät Herr Schmidt in die Phase des ›I‹, er verspürt einen unmittelbaren Reiz, seiner Ehefrau diese Empfehlung zu untersagen, weil sie es doch nun nach den vielen Ehejahren wissen müsse, dass er keinen Sauerbraten mag, aber er weiß auch, wie schroff seine Worte auf seine Ehefrau wirken können. Er kommt in die Phase des ›Mich‹, wenn er sich die möglichen Erwartungen und Reaktionen seiner Frau vor Augen führt. Er möchte den ersten gemeinsamen Abend seit Wochen nicht gefährden und versucht deshalb, obwohl es ihm nicht ganz gelingt, seine Reaktion in ihrer Vehemenz abzuschwächen. Seine Äußerung schließlich vollendet einen social act der Eheleute. Oder nehmen wir ein anderes Beispiel: Sie reisen in ein fremdes, zum Beispiel ein arabisches Land. Dort sehen Sie eine Moschee und möchten diese besichtigen. Auf diesen Handlungswunsch folgt, wenn sie mit den Gepflogenheiten unvertraut sind, in der Phase des Mich weniger die Ausrichtung an einer festen Verhaltensnorm, sondern eher ein Versuch, die Situation zu definieren und sich mit den Normen vertraut zu machen: Ist es mir erlaubt, die Moschee aufzusuchen? Wie muss ich mich verhalten? Wie muss ich gekleidet sein? In Handlungssituationen, dies soll unser Beispiel zeigen, die unvertraut sind, in denen das Mich keine festen Erwartungen bereit hält, ist routinisiertes Handeln nicht möglich. Auf die Phase des Mich folgt nun die Entscheidung des Self ob, konfrontiert mit den sozialen Erwartungen, der ursprüngliche Handlungsplan durchgeführt werden soll oder nicht. Dieser triadische Prozess von I, Me und Entschluss als Phasen des Selbst ist natürlich nicht auf einen einzigen Durchlauf beschränkt, er kann mehrmals miteinander kombiniert und verschachtelt werden. Das Ich und das Mich sind also zwei notwendige Phasen im Handlungsprozess. Sie werden von Mead mit unterschiedlichen Funktionen ausgestattet. Das Mich repräsentiert die vom Selbst angeeignete und definierte soziale Situation, in welcher eine Handlung stattfindet, und das Ich ist die aktuelle Antwort auf diese Situation seitens des Individuums (vgl. Mead 1934: 277). Das Mich steht stellvertretend für die sozialen Regeln, mit denen sich ein Individuum konfrontiert sieht. Mead (1934: 210) selbst weist auf entsprechende Analogien zu der Instanzenlehre von Freud hin, insbesondere auf die Analogie von Mich und Über-Ich. Beide haben die Funktion inne, Handlungen bzw. Handlungsimpulse zu zensieren. Das Ich ist demgegenüber diejenige Phase, die für die Aktivierung etablierter und die Erprobung neuer Handlungsmuster sorgt. Das Mich muss aber nicht unbedingt, wie man vielleicht unterstellen könnte, homogen sein. Da es durch die Übernahme von Haltungen ganz unterschiedlicher Personen und ihrer Rollen konstituiert wird, die mit diesen Rollen verbundenen Erwartungshaltungen aber nur selten homogen und konfliktfrei sind, kann es zu konfliktären und widersprüchlichen Aufforderungen in der Phase des Mich <?page no="59"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Schuetzeichel__Soziologische_Kommunikationstheorien(2)____[Druck-PDF]/ 13.08.2015/ Seite 60 60 2 Pragmatismus und symbolische Interaktion kommen. Mead berücksichtigt auch unterschiedliche Dominanzen der Phasen von Ich und Mich in unterschiedlichen Personen und Rollen. Manche Personen verhalten sich überaus konform, in ihnen dominiert das Mich das Selbst, es gibt auch Personen, bei denen das Ich die wichtigere Phase darstellt (vgl. Mead 1934: 200). Entsprechend sind auch soziale Rollen unterschiedlich gewichtet. Manche Rollen, zum Beispiel die eines Verwaltungsbeamten oder eines Priesters, sehen geradezu eine Dominanz der Mich-Phase vor, andere hingegen, zum Beispiel die eines Künstlers oder eines Medienstars, die Dominanz der Ich-Phase, da von ihnen mindestens nonkonformes Verhalten erwartet wird. Bisher wurden die phylogenetischen Prozesse betrachtet, in welchen Menschen zu ihrer Kommunikations-, Reflexions- und Sprachkompetenz kommen. Mead macht aber auch wichtige Unterscheidungen über die ontogenetischen Entwicklungsprozesse, in denen Individuen in ihre jeweiligen sozialen Umwelten hineinwachsen. Dabei unterscheidet er zwischen ›play‹ und ›game‹ als zwei verschiedenen sozialen Handlungszusammenhängen. Sie stellen nach Mead Entwicklungsstufen dar, in denen Kinder die Instanzen des Mich unterschiedlich besetzen, ihre Handlungen also durch die Perspektive unterschiedlicher anderer zu betrachten und zu beurteilen lernen. Ontogenetisch übersetzt geht es um Lernstufen, in denen ein Kind lernt, unterschiedliche Erwartungshaltungen zu identifizieren bzw. sich in unterschiedliche Rollen zu versetzen. Als ›play‹ bezeichnet Mead die erste Stufe der Rollenübernahme. Auf dieser ersten Stufe spielt das Kind unterschiedliche Personen in ihren Rollen nach, es lernt die Erwartungen kennen, die an diese unterschiedlichen Rollen geheftet werden, und es lernt, sich darauf aus der Perspektive eines anderen zu verhalten. Es lernt, etwas zu sein, etwa Indianer oder Polizist. Die Antizipationsfähigkeit ist an die unmittelbare Sequenz von Aktion und Reaktion gebunden. Kennzeichnend für die Phase des play ist die Bedeutung einzelner, realer oder imaginierter Bezugspersonen, an denen sich das Kind orientiert. Auf der zweiten Stufe, dem ›game‹, ist die Antizipationsfähigkeit des Kindes insofern erweitert, als es nicht nur den nächsten Schritt einer Rolle, sondern die nächsten Schritte unterschiedlicher Rollen miteinander verbinden kann. Typisch für eine solche Phase sind nach Mead Wettkampfspiele, bei welchen das Kind die Handlungen und Haltungen vieler Beteiligter antizipieren und sich an situationsübergreifenden Regeln und Normen orientieren muss. Es handelt sich nicht mehr nur um einzelne Rollen, die nach und nach eingeübt werden können, sondern um Rollen, die in einem Netzwerk anderer Rollen fungieren und deshalb durch wechselseitige Regeln und Normen, Rechte und Pflichten gekennzeichnet sind. Das Kind muss die Perspektive mehrerer Rollenträger übernehmen, um seine eigenen Handlungen einbringen zu können. Dabei lernt es, sich nicht mehr nur, wie in der Phase des play, an den Reaktionen des konkreten Interaktionspartners zu orientieren, sondern es lernt, normative Erwartungen aus der allgemeinen Perspektive sozialer Gruppen zu betrachten. Mead <?page no="60"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Schuetzeichel__Soziologische_Kommunikationstheorien(2)____[Druck-PDF]/ 13.08.2015/ Seite 60 www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Schuetzeichel__Soziologische_Kommunikationstheorien(2)____[Druck-PDF]/ 13.08.2015/ Seite 61 2.6 Symbolischer Interaktionismus 61 spricht von der Perspektive des ›generalized other‹ (verallgemeinerten Anderen). Kennzeichnend für diese Phase ist die Bedeutung ›generalisierter Anderer‹, womit Mead nicht Gruppen oder Kollektive, sondern generalisierte Normen von Gruppen oder Kollektiven meint. Andeutungsweise formuliert Mead in den »Fragments on Ethic« (Mead 1934: 379-389) auch noch eine dritte Entwicklungsstufe, in welcher auch die Perspektive des generalized other, die in der Stufe des game auf konkrete Gruppen oder Gemeinschaften bezogen ist, noch weiter auf die universale menschliche Gesellschaft ausgeweitet wird. Die Phase des game sieht keine Lösung für Konflikte vor, die sich zwischen sozialen Gruppen abspielen, da keine Vermittlungsposition zwischen diesen Gruppen etabliert werden kann. Als mögliche Entwicklungsstufe einer zukünftigen sozialen Evolution wird deshalb von Mead die Position eines generalized other proklamiert, der nicht nur Gruppeninteressen, sondern die Interessen aller Menschen vertritt. Individuen, die zukünftig diese Stufe erreichen werden, reflektieren ihre Handlungen also nicht nur in der Perspektive von Gruppenregeln, sondern von verallgemeinerten, universalen Menschheitsregeln. Das Selbst einer Person ist nach Mead also abhängig von seiner Teilnahme an kommunikativen Prozessen, weil es nur durch das Lernen der Bedeutung signifikanter Symbole in sich selbst die soziale Bedeutung seiner Handlungen reflektieren kann. Das Selbst einer Person ist auch abhängig von dem Kreis der Personen, mit denen es in Kommunikationen involviert ist. Mead führt diesen Gedanken weiter aus und kommt auf die Bedeutung bestimmter Kommunikationsmedien zu sprechen. Er identifiziert Phasen der historischen Entwicklung von Massenmedien, die von der griechischen Tragödie über das Drama, den bürgerlichen Roman bis hin zum modernen Journalismus reichen (vgl. Mead 1934: 253-260). Je mehr Personen in diese Kommunikationsmedien eingebunden sind, desto größer die Basis, Perspektiven anderer kennenzulernen. Mead entwickelt damit Ansätze für die Beschreibung der Geschichte der menschlichen Gesellschaft als einer Geschichte ihrer kommunikativen Medien. 2.6 Symbolischer Interaktionismus Der symbolische Interaktionismus kann nicht, wie oftmals unterstellt, als eine direkte Fortsetzung des pragmatischen Interaktionismus von Mead betrachtet werden. Er weicht in einigen Punkten vom Pragmatismus ab. Die Theorie von Mead ist sicherlich eine der wichtigsten Referenztheorien, aber auch andere theoretische Ansätze haben auf diese soziologische Schule einen maßgeblichen Einfluss. Als deren Inaugurator gilt Herbert Blumer (1900-1986). Blumer studierte an der University of Chicago, wurde dort mit der sogenannten Chicago School of Sociology bekannt, die eine sowohl vom Pragmatismus wie von der Theorie Simmels geprägte Auffassung von Soziologie vertrat. Sie zeichnet sich dadurch aus, dass sie an empirischer Feldforwww.claudia-wild.de: <?page no="61"?> [UTB-M]__Schuetzeichel__Soziologische_Kommunikationstheorien(2)____[Druck-PDF]/ 13.08.2015/ Seite 62 62 2 Pragmatismus und symbolische Interaktion schung und sensitiven empirischen Konzepten und nicht an abstrakten Theoriegebäuden interessiert ist. Als eine der wichtigsten Untersuchungen gilt die von William I. Thomas und Florian Znaniecki durchgeführte Studie über »The Polish Peasant in Europe and America« (Thomas / Znaniecki 1927). Mit gutem Recht kann diese Studie als Gründungsdokument der interaktionistischen Soziologie begriffen werden, die Blumer später als symbolischen Interaktionismus bezeichnet. Blumer steht für eine subjektivistische Lesart von Mead. Er betont die aktive Rolle der Individuen im gesellschaftlichen Handlungsprozess. Daneben gibt es eine zweite Schule des symbolischen Interaktionismus, die eine stärker objektivistische Lesart vertritt. Man nennt sie im Unterschied zur Chicagoer Schule von Blumer die Iowaer Schule, als deren Haupt Manford Kuhn gelten kann. Er konzipiert das handelnde Subjekt normativer, also weniger als ›role-maker‹, sondern stärker als ›role-taker‹. Der Grundkanon des symbolischen Interaktionismus besteht aus folgenden drei Prämissen: »The first premise is that human beings act toward things on the basis of the meanings that things have for them […]. The second premise is that the meaning of such things is derived from, or arises out of, the social interaction that one has with one’s fellows. The third premise ist that these meanings are handled in, and modified through, an interpretative process used by the person in dealing with the things he encounters.« (Blumer 1969: 2) Individuen handeln und erleben auf der Basis von Bedeutungssetzungen. Dinge, Sachverhalte, Ereignisse in ihrer situativen Umwelt, aber auch sie selbst, ihre Körper und Emotionen wie auch die anderen Handelnden sind für Individuen nur als bedeutungsvolle relevant. Diese Bedeutungen sind keine privaten Bedeutungen, sondern sie werden in der Interaktion mit anderen erworben und festgelegt, und diese Bedeutungen sind keine starren, sondern sie entstehen in einem permanenten Prozess der interpretativen Auseinandersetzung der Individuen mit ihrer Umwelt. Damit nehmen die Vertreter des symbolischen Interaktionismus zentrale Inhalte der pragmatistischen Theorie von Mead wieder auf, aber sie interessieren sich für andere soziologische Sachverhalte als dieser. Dies ergibt sich schon aus den unterschiedlichen Interaktionsbegriffen. Mead bezieht diesen Begriff auf die Interaktion eines Organismus mit seiner natürlichen und sozialen Umwelt, und betrachtet den Interaktionsprozess vornehmlich als Anpassungs- und Akkomodationsprozess. Der symbolische Interaktionismus sieht von dem umfassenden Begründungsprogramm des Pragmatisten Mead ab und beschränkt den Begriff vornehmlich auf die Face-to- Face-Beziehung zwischen Menschen. In einem Punkt geht der symbolische Interaktionismus über Mead hinaus. Er betont, dass die symbolische Welt durch permanente Revisionen und Neudefinitonen und wechselseitige Aushandlungen (negotiations) kommunikativ geschaffen wird. Die symbolische Welt befindet sich stets in einem permanenten Wandel. Dies gilt insbesondere für die wechselseitige Zuschreibung von Bedeutungen, denen die Interwww.claudia-wild.de: <?page no="62"?> [UTB-M]__Schuetzeichel__Soziologische_Kommunikationstheorien(2)____[Druck-PDF]/ 13.08.2015/ Seite 62 www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Schuetzeichel__Soziologische_Kommunikationstheorien(2)____[Druck-PDF]/ 13.08.2015/ Seite 63 2.6 Symbolischer Interaktionismus 63 aktionspartner in kommunikativen Prozessen unterliegen. Auch sie selbst treten nicht als solche in die Kommunikation ein, sondern nur im Rahmen von zugeschriebenen Bedeutungen, als Objekt von Bedeutungssetzungen. Dem symbolischen Interaktionismus können viele bedeutende Soziologen zugerechnet werden. Einer von ihnen ist der auch durch seine methodischen Arbeiten zur Grounded Theory bekannt gewordene Anselm Strauss. Strauss hat nicht nur in Gestalt der Theorie der parasozialen Interaktion wichtige Grundlagen für das Studium der Massenmedien geliefert (vgl. Horton / Strauss 1957 u. 1979), sondern er hat auch aus der Tradition des symbolischen Interaktionismus drei Konzepte aufgenommen und weiterentwickelt, die für jede soziologische Theorie des kommunikativen Handelns von Interesse sind: ›trajectory‹, ›social world‹ und ›arena‹. Sie stehen für die Strategie von Strauss, die mikrosoziologischen Basiskonzepte des symbolischen Interaktionismus wie ›Selbst‹ oder ›Identität‹ stärker an Meso- und Makrostrukturen heranzuführen. Schon das berühmte, frühe Werk von Strauss über »Mirrors and Masks« (Strauss 1959) zeugt von diesem Erkenntnisinteresse, da es die Organisationsanalyse einer Klinik- - des Michael Reese Hospitals in Chicago, einer psychiatrischen und psychosomatischen Klinik, in welcher Strauss zeitweise beschäftigt war-- auf symbolisch-interaktionistischer Grundlage liefert. Mit dem Begriff der Trajektorie macht Strauss auf die temporale Dimension von sozialen Phänomenen aufmerksam. Jedes soziale Phänomen weist eine temporale Strukturierung auf, die durch die Interaktionen der beteiligten Akteure mit beeinflusst wird. Jedes soziale Phänomen kann also, wenn man es hinsichtlich seiner inhärenten temporalen Strukturierung untersucht, als eine Trajektorie betrachtet werden. Als beispielhaft gilt die von Strauss selbst untersuchte Trajektorie von chronischen Krankheitsverläufen. Diese entfalten sich nicht nach einer inneren Logik, sondern werden in ihrer temporalen Entwicklung von dem sozialen Setting, in dem sie verlaufen, sehr stark beeinflusst (vgl. Strauss / Glaser 1975). Trajektorien können hinsichtlich ihrer Phasen untersucht werden: Welche Phasen werden von den Akteuren oder von den Beobachtern unterschieden? Welche Eigenschaften weisen diese Phasen auf? Eine zweite Forschungsfrage gilt den Projektionen, die sich die Beteiligten vom erwarteten Verlauf spezifischer Trajektorien machen: Wie verändern sich diese Projektionen, und wie können Projektionen wiederum den trajektorischen Verlauf selbst ändern? Diese Untersuchung kann in die Analyse des Managements von Trajektorien seitens der Beteiligten übergehen: Wie steuern oder beeinflussen Akteure diese Prozesse? Die Akteure orientieren sich dabei an Interaktions- und Handlungsschemata, in welchen sie insbesondere auch auf die anderen beteiligten Akteure Bezug nehmen. Und schließlich können Trajektorien retrospektiv noch hinsichtlich der jeweiligen Kumulationen von Handlungen und Interaktionen untersucht werden, die Strauss als ›arc of action‹, als Handlungspfeil bezeichnet. Trajektorien bilden die temporale Dimension von Netzen kommunikativen Handelns. Die Netze selbst werden von Strauss als ›social worlds‹ konzeptualisiert. Dieser <?page no="63"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Schuetzeichel__Soziologische_Kommunikationstheorien(2)____[Druck-PDF]/ 13.08.2015/ Seite 64 64 2 Pragmatismus und symbolische Interaktion Begriff ist mit einer gewissen Anstrengung den aus anderen soziologischen Traditionen entstammenden Begriffen der ›Institution‹, der ›Systeme‹ oder der ›Netzwerke‹ vergleichbar. Schon Shibutani führt das Konzept der social worlds in die Soziologie ein. Unter einer solchen versteht er ein »universe of regulated mutual response [whose boundaries are, R. S.] set neither by territory nor formal membership but by the limits of effective communication.« (Shibutani 1955: 524) Nach Strauss sind es Gemeinschaften, die sich durch wechselseitige Kommunikation konstituieren und dabei eigene symbolische Welten oder Bedeutungsuniversen generieren. Soziale Welten entstehen durch die Errichtung von spezifischen Kommunikationsordnungen. Ändern sich die Kommunikationsordnungen, so ändern sich auch die sozialen Welten. Sie sind dadurch gekennzeichnet, dass die Kommunikation untereinander sich meist auf eine zentrale Aktivität konzentriert (z. B. Bankgeschäfte, Politik, Pferderennen, Erziehung etc.), was dazu führt, dass sie eine sehr starke Tendenz zur Organisierung und Technologisierung ihrer Aktivitäten aufweisen. Soziale Welten finden sich in allen gesellschaftlichen Bereichen. Strauss untersucht auch diejenigen sozialen Welten, die über die Face-to-Face-Beziehungen hinausgehen, also solche Gemeinschaften, die durch Kommunikationsmedien wie Brief oder Telefon oder Computer miteinander verbunden sind. Diese Gemeinschaften zeichnen sich dadurch aus, dass sie überaus fluide sind, sehr wandelbar, aber dennoch mit mehr oder weniger festen Mitgliedschaften, organisatorischen Strukturen, gemeinsamen Aktivitäten und gemeinsamen Interessen. Dabei ist Strauss an der Analyse von drei Prozessen interessiert, denen die sozialen Welten unterliegen. Diese können in Subwelten segmentiert werden, sie prallen aufeinander, und sie müssen sich Legitimationsprozeduren unterziehen. Mit ›segmentation‹ meint Strauss die interne Differenzierung von sozialen Welten in diverse Subwelten. Unter dem Stichwort ›legitimation‹ befasst sich Strauss mit der Frage, wie sich soziale Welten oder ihre Subwelten von anderen unterscheiden, wie sie ihre Authentizität gegenüber anderen herstellen und erhalten. Und mit ›intersection‹ wird die Kommunikation über die Grenzen von sozialen Welten hinweg bezeichnet Schließlich wird gefragt, was die Bedingungen dafür sind, dass Mitglieder unterschiedlicher sozialer Welten miteinander kommunizieren können. Soziale Welten haben intern wie auch in der Kommunikation untereinander Handlungsprobleme zu lösen. Das heißt, sie entscheiden über die zukünftige Trajektorie in der Entwicklung von sozialen Welten wie in der Kooperation von unterschiedlichen sozialen Welten. Solche Handlungs- und Entscheidungssysteme werden von Strauss unter den Begriff der ›arena‹ gefasst. »The concept of arena will refer here to interaction by social worlds around issues- - where actions concerning these are being debated, fought out, negotiated, manipulated, and even coerced within and among social worlds.« (Strauss 1993: 226) Bei der soziologischen Analyse solcher Handlungsfelder und Handlungsprozesse betont Strauss- - ganz in der Tradition des Pragmatismus- - die Tätigkeit des Sprechens. Die psychischen Leistungen der Individuen sind an die Sprache gebunden, die <?page no="64"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Schuetzeichel__Soziologische_Kommunikationstheorien(2)____[Druck-PDF]/ 13.08.2015/ Seite 64 www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Schuetzeichel__Soziologische_Kommunikationstheorien(2)____[Druck-PDF]/ 13.08.2015/ Seite 65 2.7 Zwischenbilanz 65 ihnen zur Verfügung steht. Perspektiven und Perspektivenübernahmen können nur in dem Maße entworfen bzw. vollzogen werden, wie es die verfügbare Sprache erlaubt. Strauss koppelt also den Erwerb neuer Perspektiven an den Erwerb eines neuen sprachlichen Vokabulars und diesen mit der Zugehörigkeit zu sozialen Gruppen und dem Erlernen von gruppenspezifischen Sprachen. Damit ist auch eine jede Interaktions- oder Organisationsordnung an die in ihr vorliegende sprachliche Ordnung gebunden. 2.7 Zwischenbilanz Im Mittelpunkt der pragmatistischen Kommunikationstheorie stehen zwei Probleme: das Sozialitätsproblem und das Bewusstseinsproblem. Sie fragt danach, wie es Kommunikatoren möglich ist, zu kommunizieren und wie es den Kommunikatoren in und durch die Kommunikation gelingt, eine Identität aufzubauen. Die Antwort auf beide Fragen lautet: Perspektivenübernahme durch Symbolisierung. Kommunikation ist möglich, wenn eine hinreichend gemeinsame Symbolwelt gegeben ist, und die Teilnahme an Kommunikation ist Voraussetzung für die Ausbildung eines höheren, reflexiven Bewusstseinslebens. Die pragmatistische Tradition stellt den wechselseitigen Konstitutionszusammenhang von Kommunikation, Bewusstsein und Identität heraus. Personale Identität, reflexive Intelligenz und soziale Kooperationsformen treten in ein wechselseitiges Konstitutionsverhältnis, deren gemeinsame Klammer die symbolisch vermittelte Kommunikation darstellt. Mead geht von umfassenden social acts aus, die eine triadische Prozesslogik aufweisen. Die Bedeutung von Handlungen ergibt sich aus ihrer funktionalen Stellung in den social acts. Oder mit anderen Worten: Kommunikation als der umfassende Akt steht konstitutionslogisch vor den einzelnen kommunikativen Handlungen. Der objektive Sinn von Handlungen geht konstitutionslogisch der subjektiven Aneignung und Sinnbestimmung von Handlungen voraus. Werden diese Handlungen in einer signifikanten Weise symbolisiert, so wird es den Individuen möglich, auf dem Weg der Perspektivenübernahme ein reflexives Verhältnis und eine personale Identität zu entwickeln. Symbolische Kommunikation macht es möglich, den objektiven oder sozialen Sinn von Handlungen subjektiv verfügbar zu machen. Durch wechselseitige Perspektivenannahme können signifikante Symbole entstehen, die allen Beteiligten die objektive Bedeutung von Handlungen in einer identischen Weise anzeigen und damit für jeden Beteiligten die Möglichkeit der Reflexion und der Antizipation von Handlungen und Erwartungen eröffnen. Das Verstehen der Handlungen anderer ist an die Rollenbzw. Perspektivenübernahme gebunden. Dem Verstehen anderer sind keine Grenzen gesetzt, sofern man qua Kommunikation deren Rollen bzw. Perspektiven übernehmen kann. <?page no="65"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Schuetzeichel__Soziologische_Kommunikationstheorien(2)____[Druck-PDF]/ 13.08.2015/ Seite 66 66 2 Pragmatismus und symbolische Interaktion Durch Verinnerlichung der objektiven, triadischen Kommunikationsstruktur entsteht im Selbst der Individuen eine Triade von Phasen (I, Me, Self ), die der sozialen Prozesslogik nachgebildet ist. Aber Kommunikation wird nicht auf die Kompetenzen eines einzelnen Individuums zurückgeführt, sondern auf die Kooperationsbereitschaft in einer sozialen Gruppe. Mead macht die Möglichkeit von Kommunikation von einer Bedeutungsgleichheit der Symbole für alle Kommunikatoren abhängig. Kommunikation setzt die Bedeutungsgleichheit von Symbolen voraus. »I f there is to be communication as such the symbol has to mean the same thing to all individuals involved.« (Mead 1934: 54) Die Struktur, in diesem Fall die Existenz signifikanter Symbole, ist maßgeblich für den kommunikativen Prozess. Ergeben sich hieraus Probleme für diese Theorie? Wie können Individuen neue Symbole generieren oder verstehen? Der symbolische Interaktionismus weicht diese Voraussetzung auf zugunsten der Annahme einer permanenten Aushandlung (negotiation) von Symbolen und deren Bedeutungen. Die klassischen Kommunikationstheorien stellen das Prinzip der Vermittlung oder Übertragung von Informationen in den Mittelpunkt-- eine solche Vorstellung findet sich bei Mead nicht. Interaktion bzw. Kommunikation heißt bei ihm: Wechselseitige Anpassung an Kommunikationsvorgaben. Damit kommt Mead jüngeren Kommunikationstheorien sehr nahe. Basislektüre: Mead, George Herbert (1934): Mind, Self &-Society. From the Standpoint of a Social Behaviorist. Chicago 1962. Blumer, Herbert (1981): Der Methodologische Standort des Symbolischen Interaktionismus. In: Arbeitsgruppe Bielefelder Soziologen (Hg.): Alltagswissen, Interaktion und gesellschaftliche Wirklichkeit. 5. Aufl. Opladen, S. 80-146. Einführungsliteratur: Joas, Hans (1980): Praktische Intersubjektivität: Die Entwicklung des Werkes von George Herbert Mead. Frankfurt am Main. Weiterführende Literatur: Haferkamp, Hans (1985): Mead und das Problem des gemeinsamen Wissens. In: Zeitschrift für Soziologie 14: 175-187. Helle, Horst Jürgen (1980): Soziologie und Symbol. Verstehende Theorie der Werte in Kultur und Gesellschaft. 2. überarb. und erw. Aufl. Berlin. Joas, Hans (1992): Die Kreativität des Handelns. Frankfurt am Main. <?page no="66"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Schuetzeichel__Soziologische_Kommunikationstheorien(2)____[Druck-PDF]/ 13.08.2015/ Seite 66 www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Schuetzeichel__Soziologische_Kommunikationstheorien(2)____[Druck-PDF]/ 13.08.2015/ Seite 67 2.7 Zwischenbilanz 67 Plummer, Ken (2000): Symbolic Interactionism in the Twentieth Century. In: Bryan S. Turner (Hg.): The Blackwell Companion to Social Theory. 2. Aufl. Malden, MA., Oxford, S. 193- 222. Wenzel, Harald (1985): Mead und Parsons. Die emergente Ordnung des sozialen Handelns. In: Hans Joas (Hg.): Das Problem der Intersubjektivität: neuere Beiträge zum Werk George Herbert Meads. Frankfurt am Main, S. 26-59. <?page no="67"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Schuetzeichel__Soziologische_Kommunikationstheorien(2)____[Druck-PDF]/ 13.08.2015/ Seite 68 <?page no="68"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Schuetzeichel__Soziologische_Kommunikationstheorien(2)____[Druck-PDF]/ 13.08.2015/ Seite 68 www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Schuetzeichel__Soziologische_Kommunikationstheorien(2)____[Druck-PDF]/ 13.08.2015/ Seite 69 69 3 Exkurs 1: Meinen und Sagen Jeder von uns wird schon oft die Erfahrung gemacht haben, dass man mehr meinen kann, als man sagt, aber auch mehr sagen kann, als man meint. Die Differenz zwischen dem Meinen und dem Sagen ist eine der zentralen Differenzen, mit denen die Kommunikation arbeitet. Man kann jemandem über das hinaus, was gesagt wird, noch etwas Bestimmtes zu verstehen geben. Aber wie ist diese Differenz möglich? Woran liegt es, dass man mehr meinen kann, als man sagt? Schauen wir uns ein Beispiel an: Frau Schmidt: »Weißt du, wie spät es ist? « Herr Schmidt: »Die Sportschau hat gerade angefangen.« Wenn man unter dem ›Sagen‹ das verstehen will, was wörtlich durch die konventionelle Bedeutung der Äußerungen gesagt wird, dann kann man die beiden Äußerungen wie folgt paraphrasieren: Frau Schmidt*: Hast du die Fähigkeit oder Möglichkeit, mir die Zeit zu nennen? Herr Schmidt*: Die Sportschau hat kurz vor der Zeit deiner Äußerung angefangen. Aber jedem kompetenten Sprecher ist klar, dass das Gesagte nicht das Kommunizierte ist. Es wird in diesem kurzen Frage-und-Antwort-Spiel der Eheleute Schmidt wesentlich mehr kommuniziert, als gesagt wird, zum Beispiel: Frau Schmidt**: Hast du die Möglichkeit, mir die Zeit des gegenwärtigen Augenblicks zu nennen, die Zeit, die standardgemäß auf deiner Armbanduhr angezeigt wird, und wenn du die Möglichkeit hast und die Fähigkeit dazu, dann sag’ mir bitte die Zeit. Herr Schmidt**: Nein, ich habe leider nicht die Möglichkeit, dir eine genaue Zeitangabe zu machen, weil ich meine Armbanduhr verlegt habe. Aber ich kann dir soviel sagen, dass eben die Sportschau begonnen hat, und die Sportschau beginnt immer um 18 Uhr, und deshalb kannst du ungefähr erschließen, um welche Zeit es sich jetzt handeln könnte. Herr Schmidt könnte aber auch durchaus in einem anderen Sinne verstanden werden-- er könnte seiner Frau schlichtweg den Hinweis geben, dass er jetzt keine Zeit hat, sich um diese Frage zu kümmern. Herr Schmidt***: Nein, ich habe nicht die Möglichkeit, die Zeit zu nennen, weil gerade die Sportschau begonnen hat und ich nicht gestört werden will. <?page no="69"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Schuetzeichel__Soziologische_Kommunikationstheorien(2)____[Druck-PDF]/ 13.08.2015/ Seite 70 70 3 Exkurs 1: Meinen und Sagen Man kann dadurch, dass man etwas sagt, Inhalte kommunizieren, die in dem reinen wortwörtlichen Diktum so nicht enthalten sind. Die Bedeutung von Sätzen bzw. Aussagen oder anderen sprachlichen Einheiten einerseits und die Sprecherbedeutung, das, was der Sprecher meint und bei einem Hörer zu erreichen sucht, fallen nicht zusammen. Herbert Paul Grice, dessen sprachpragmatischen Untersuchungen wir in dieser Hinsicht folgen, fasst die Differenz zwischen dem Sagen und dem Meinen wie folgt: Das, was gesagt wird, ergibt sich aus der wortwörtlichen Bedeutung (der natürlichen Bedeutung), das, was mit einer Äußerung gemeint wird, ergibt sich aus den Implikaturen (der nicht natürlichen Bedeutung). Demnach können das Gesagte und das Implikierte als zwei unterschiedliche Aspekte dessen aufgefasst werden, was von einem Sprecher einem Hörer zu verstehen gegeben werden kann. Der Ausdruck ›BedeutungNN‹ ist kein Druckfehler, sondern eine theoretische Größe. Sie steht für die von Grice von den natürlichen Bedeutungen eines Ausdrucks unterschiedenen nicht natürlichen Bedeutungen (vgl. Rolf 1994: 23 ff.). Die nichtnatürliche Bedeutung wird nicht, wie die natürliche Bedeutung von Ausdrücken, auf kausale, sondern auf intentionale Relationen zurückgeführt. Die intentionalen Relationen wiederum sind Ausdruck von Intentionen eines Sprechers, der bei einem Hörer spezifische Wirkungen erzielen will. Auch die Bezeichnungen ›Implikatur‹ oder ›implikieren‹ beruhen nicht auf Druckfehlern. Sie werden von Grice eingeführt, um die pragmatischen Implikaturen nicht mit den semantischen Implikationen zu verwechseln. Bei Implikationen handelt es sich um semantische Wahrheitsbeziehungen zwischen Sätzen, bei Implikaturen hingegen um pragmatische Schlussprozesse.Sie beruhen darauf, dass ein Hörer erkennt, dass ein Sprecher bestimmte Wirkungen absichtlich erzielen will. Grice spricht von »inducing a belief« (Grice 1989: 219). Bedeutung NN das Gesagte das Implikierte Abb. 3.1: Das Gesagte und das Implikierte <?page no="70"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Schuetzeichel__Soziologische_Kommunikationstheorien(2)____[Druck-PDF]/ 13.08.2015/ Seite 70 www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Schuetzeichel__Soziologische_Kommunikationstheorien(2)____[Druck-PDF]/ 13.08.2015/ Seite 71 3 Exkurs 1: Meinen und Sagen 71 Die Kluft zwischen dem Gesagten und dem Gemeinten, dem Diktum und dem Implikatum, wird durch das Konzept der Konversationsimplikaturen zu erklären versucht. Was versteht man unter Implikaturen? Sie sind Inferenzen, Folgerungen, aber es handelt sich nicht unbedingt um logische oder semantische Folgerungen oder Implikationen, sondern um Inferenzen, die sich aus dem pragmatischen Kontext der Kommunikation ergeben. Die Inferenzen entstehen dann, wenn man die Kommunikationsbeiträge unter einer gewissen Maxime betrachtet. Implikaturen ergeben sich mitunter aus der strikten Befolgung von Konversationsmaximen, aber in der Regel handelt es sich um intendierte oder nicht intendierte Verstöße gegen Konversationsmaximen. Durch diese Verstöße oder Verletzungen von dem, was aufgrund der Maximen erwartet werden kann, lässt sich ein informationeller Mehrwert, eine Implikation erschließen, die in dem Diktum nicht mitgeteilt wird. Der Theorie der Konversationsimplikaturen von Grice liegt von daher eine Theorie über Konversationsmaximen zugrunde, eine Auffassung darüber, wie Kommunikationsteilnehmer die Sprache benutzen, wie sie ihre Gespräche steuern, wie sie zwischen möglichen Redebeiträgen wählen. Rationale Selektionskriterien voraussetzend, postuliert Grice vier Konversationsmaximen (A-D), die in dem allgemeinen Kooperationsprinzip (E) münden (vgl. auch Grice 1957 / 1979): A. Quantitätsmaxime (Grice 1989: 26): 1. Make your contributions as informative as is required (for the current purposes of the exchange). 2. Do not make your contribution more informative than is required. B. Qualitätsmaxime (Grice 1989: 27): 1. Do not say what you believe to be false. 2. Do not say that for which you lack adequate evidence. C. Maxime der Art und Weise (Grice 1989: 27): 1. Avoid obscurity of expression. 2. Avoid ambiguity. 3. Be brief (avoid unnecessary prolixity). 4. Be orderly. D. Relevanzmaxime (Grice 1989: 27) Be relevant E. Kooperationsprinzip (Grice 1989: 26): Make your conversational contribution such as it required, at the stage at which it occurs, by the accepted purpose or direction of the talk exchange in which you are engaged. Grice beschreibt damit nicht das reale kommunikative Verhalten, auch nicht Richtlinien, die von allen, die an Kommunikationen teilnehmen, performativ befolgt werden, sondern kontrafaktische Prinzipien, von denen Sprecher und Hörer unterstellen, dass alle Teilnehmer sie auf einer tieferen Ebene anerkennen. Er sagt also nicht, dass <?page no="71"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Schuetzeichel__Soziologische_Kommunikationstheorien(2)____[Druck-PDF]/ 13.08.2015/ Seite 72 72 3 Exkurs 1: Meinen und Sagen wir uns in unserem Reden immer an diesen Prinzipien orientieren, wohl aber, dass die Kommunikationsteilnehmer die Aussagen wo und wann immer möglich so interpretieren, als ob sie mit diesen Maximen konform gingen. Sie stellen rationale Maximen für kooperative Gesprächsführungen dar. Wir setzen als Kommunikationsteilnehmer die Kooperativität voraus. Die Maximen haben eine Schlüsselfunktion-- sie erlauben es, Folgerungen von dem Gesagten über die Kooperativität in verbalen Interaktionen zu ziehen. Denn ein kommunikativ Handelnder kann aus ganz unterschiedlichen Gründen mit diesen Prinzipien in Konflikt geraten. Manchmal können verschiedene dieser Prinzipien miteinander kollidieren, z. B. können die Quantitätsmaximen in Widerspruch zu der zweiten Qualitätsmaxime (›Belege angemessen, was du sagst‹) geraten. Ein Kommunikationspartner kann auch absichtlich gegen bestimmte Maximen verstoßen und seinen Unwillen kundtun, dem Kooperationsprinzip zu genügen. Besonders wichtig ist jedoch die flagrante, als solche offenkundig gemachte Verletzung unter Aufrechterhaltung des allgemeinen Kooperationsprinzips. In diesem Fall liegt eine konversationale Implikatur vor, ein offener Bruch von Maximen, jedoch unter der Prämisse, mit anderen kooperieren zu wollen. Denn wenn wir auch eine Verletzung des Kooperationsprinzips selbst unterstellen würden, so würden wir den kommunikativen Beiträgen weder prima facie noch auf einer tieferen Ebene irgendeinen kommunikativen Sinn beimessen können. Wenn wir uns den Dialog zwischen Frau und Herr Schmidt anschauen, dann könnten wir auf den ersten Blick vermuten, dass Herr Schmidt auf die Frage von Frau Schmidt nicht antwortet, also das Kooperationsprinzip verletzt. Auf einer tieferen Ebene jedoch gehen wir davon aus, dass Herr Schmidt die Maxime der Relevanz beachtet und damit seiner Frau dennoch antwortet -- wir würden seine Antwort als kooperativ einschätzen. In diesen Fällen entstehen Inferenzen, wir überlegen, was die Antwort von Herrn Schmidt mit der Frage von Frau Schmidt zu tun haben könnte. Grice behauptet also nicht, dass wir uns an der Oberfläche immer stets an die Maximen und Prinzipien halten, wohl aber, dass wir in Kommunikationen wo immer möglich unser Verhalten so interpretieren, als ob wir diese Maximen und Prinzipien beachten. Implikaturen entstehen also auf der Basis von kontrafaktischen Unterstellungen über die Geltung dieser Maximen und Prinzipien, die Grice selbst nicht als kontingente Konventionen oder Regeln auffasst, sondern als rationale Prinzipien kooperativer Gesprächsführung. Man kann zwei Formen von Implikaturen unterscheiden, nämlich Standardimplikaturen oder generalisierte Implikaturen einerseits, Verletzungen der Maximen andererseits. Standardimplikaturen gehen daraus hervor, dass die Maximen beachtet bzw. bestätigt werden, Maximenverletzungen hingegen entstehen eben aus der Verletzung von Maximen. Implikaturen können also sowohl durch die Bestätigung wie auch durch die Verletzung der konversationalen Maximen erschlossen werden. Eine Standardimplikation liegt z. B. in folgendem Fall vor: Frau Schmidt: »Mein Sohn hat drei Kinder.« <?page no="72"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Schuetzeichel__Soziologische_Kommunikationstheorien(2)____[Druck-PDF]/ 13.08.2015/ Seite 72 www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Schuetzeichel__Soziologische_Kommunikationstheorien(2)____[Druck-PDF]/ 13.08.2015/ Seite 73 3 Exkurs 1: Meinen und Sagen 73 Wenn man diese Aussage hört, dann wird man zu der Implikatur verleitet, dass der Sohn von Frau Schmidt wirklich nur drei Kinder hat und nicht fünf, obwohl dieser Sachverhalt durchaus mit der Aussage von Frau Schmidt zu vereinbaren wäre. Das Meinen, dass der Sohn von Frau Schmidt wirklich nur drei Kinder hat, lässt sich also aus der Quantitätsmaxime (»Make your contributions as informative as is required«) herleiten. Eine Maximenverletzung liegt im folgenden Fall vor, in welchem Frau Schmidt die Frage ihrer Nachbarin nach der momentanen Tätigkeit ihres Mannes so beantwortet: Frau Schmidt: »Entweder mäht mein Mann den Rasen, oder er mäht ihn nicht.« Dabei wird die Quantitätsmaxime zwar verletzt, denn die Aussage ist notwendigerweise wahr, aber sie besitzt enorme pragmatische Implikaturen, denn es wird von Frau Schmidt kundgetan, dass sie wohl keinen Einfluss auf den Willen ihres Mannes hat, den Rasen zu mähen oder nicht. Implikaturen werden nach Grice durch Schlussprozesse ermittelt. Ein Hörer kann bei diesen Inferenzen (a) auf die konventionale Bedeutung der Wörter, (b) auf das Koordinationsprinzip und seine Maximen, (c) den sprachlichen und außersprachlichen Kontext der Äußerung, (d) auf sonstiges Hintergrundwissen und (e) auf das Wissen zurückgreifen, dass auch der Sprecher um diese Zusammenhänge weiß (vgl. Grice 1989). Damit ist eine wichtige Eigenschaft von Implikaturen benannt- - sie können errechnet bzw. rekonstruiert werden. Eine weitere wichtige Eigenschaft besteht darin, dass sie kontextabhängig sind-- in bestimmten kommunikativen Kontexten kann eine Implikatur auftreten, in anderen wiederum nicht. Wir können uns in diesem Exkurs nicht mit den weiteren Implikaturen, Implikationen und Problemen der Grice’schen Theorie auseinandersetzen (vgl. Feilke 1994; Heuft 2004; Meggle 1979 u. 1997; Rolf 1994). Versuchen wir aber, soziologisch relevante Folgerungen aus der Disjunktion von Meinen und Sagen zu ziehen: Zum einen lässt sich in besonderer Hinsicht feststellen, dass diese Disjunktion in der Soziologie, insbesondere der Ethnomethodologie und Konversationsanalye (vgl. Kap. 6), ein zentrales Thema darstellt. Sie wird jedoch dort nicht nur durch die konversationalen Implikaturen erklärt, sondern auch durch die Präsuppositionen, die wechselseitigen Vorannahmen, die Sprecher und Hörer leiten. Zwischen Präsuppositionsanalysen und der Analyse von konversationalen Implikaturen kann aber eine enge Beziehung hergestellt werden. In allgemeiner Hinsicht lässt sich deshalb festhalten, dass Propositionen oder Aussagen oder Informationen stets unterspezifiziert sind. Sie müssen durch Schlussprozesse angereichert werden. Oder in die soziologische Terminologie übersetzt: Kommunikationen sind stets erwartungsgeleitet. Sprecher und Hörer interpretieren das Gesagte vor dem Hintergrund dessen, was erwartet wird. Wir haben mit der Grice’schen Implikaturtheorie eine Theorie kennengelernt, die die rationalen Prinzipien bzw. Erwartungshaltungen herausstellt. Kommunikationen weisen also zwei Seiten auf, die man mit Sperber / Wilson (1986) als ostensive und als inferentielle Seite bezeichnen kann. Die Ostension besteht darin, dass ein Sprecher einem Hörer <?page no="73"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Schuetzeichel__Soziologische_Kommunikationstheorien(2)____[Druck-PDF]/ 13.08.2015/ Seite 74 74 3 Exkurs 1: Meinen und Sagen etwas mitteilt, die inferentielle Seite besteht darin, dass ein Hörer durch Schlussfolgerungen die Bedeutung des Gesagten ableitet. Was aber meint Grice eigentlich mit ›Meinen‹? Es lassen sich viele Bedeutungsnuancen von ›Meinen‹ unterscheiden. Man kann es als ›etwas als etwas meinen‹ verstehen, als ›in der und der Bedeutung verwenden‹, als ›glauben‹ oder ›die Meinung haben‹ und in anderen Nuancen. Nach Meggle (vgl. Meggle 1997: 19) versteht Grice unter ›Meinen‹ ›etwas zu verstehen geben wollen‹. Grice untersucht im Gegensatz zu dem natürlichen Meinen, welches sich auf die konventionelle Bedeutung von Zeichen oder Worten und deren Stellung in einem Satzgefüge bezieht, das nicht natürliche Meinen (MeaningNN), durch welches spezifische Sprecher in spezifischen Situationen ihren Hörern etwas zu verstehen geben wollen. Statt von dem nicht natürlichen Meinen spricht Grice auch von der Sprecherbedeutung. MeaningNN bezieht sich auf das, was ein Sprecher mit der Äußerung seines Satzes meint, und das kann sich ja innerhalb gewisser Grenzen durchaus von der natürlichen Bedeutung des Gesagten unterscheiden. Das, was ein Sprecher mit seiner Äußerung meint, begreifen viele Sprachtheoretiker als zentralen Untersuchungsgegenstand. Sätze werden als Werkzeuge aufgefasst, die man zum Reden verwendet. Das vom Sprecher Gemeinte unterliegt zwar Beschränkungen der Sprache, stellt aber dennoch die primäre Form von sprachlicher Bedeutung dar, weil eben die sprachliche Bedeutung von Sätzen die Funktion hat, Sprecher in die Lage zu versetzen, etwas zu meinen. Unter ›Meinen‹ versteht Grice also ein spezifisches Handeln, welches bei einem Hörer etwas bewirken soll. Was soll es bewirken? Es soll in dem Hörer eine bestimmte Überzeugung hervorrufen, beispielsweise eine bestimmte Reaktion. Wann aber kann bei einem Hörer eine gemeinte Überzeugung hervorgerufen oder eine bestimmte Reaktion evoziert werden? Wenn der Hörer in der Lage ist, zu erkennen, dass der Sprecher mit seinem Sagen eine bestimmte Intention verbindet, und wenn ihn das Erkennen dieser Intention dazu leitet, eine Überzeugung oder eine Reaktion im Sinne dieser Intention zu zeigen. Von daher kann Grice behaupten, dass die Aussage, »ein Sprecher U meine mit dem Äußern von x etwas«, dann und nur dann wahr ist, wenn U in Bezug auf einen Hörer oder eine Hörerschaft A genau diese Intentionen hegt (Grice 1989: 92): ›U meant something by uttering x iff, for some audience A, U uttered x intending: (1) A to produce a particular response r (2) A to think (recognize) that U intends (1) (3) A to fulfill (1) on the basis of his fulfillment of (2) Die Sprecherbedeutung, die mit einer Äußerung x verbunden ist, ist nicht nur diejenige Bedeutung, die mit der Absicht geäußert wurde, bei einem Kommunikationspartner eine gewisse Überzeugung hervorzurufen, sondern liegt in der Absicht des Sprechers, dass der Kommunikationspartner die Absicht hinter der Äußerung erkennt. <?page no="74"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Schuetzeichel__Soziologische_Kommunikationstheorien(2)____[Druck-PDF]/ 13.08.2015/ Seite 74 www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Schuetzeichel__Soziologische_Kommunikationstheorien(2)____[Druck-PDF]/ 13.08.2015/ Seite 75 3 Exkurs 1: Meinen und Sagen 75 Die intentionalistische Semantik-- und Grice ist einer ihrer wichtigsten Vertreter-- behauptet nun, dass sich die Bedeutung des Gesagten und Gemeinten aus der Intention des Sprechers ergibt. Man kann sie als Programm der handlungstheoretischen Fundierung der Semantik oder kurz als Grice-Programm (vgl. Greve 2003) bezeichnen. Dieses Programm versucht, Bedeutungen auf die Absichten bzw. Intentionen zurückzuführen, die ein Sprecher mit seiner Äußerung beabsichtigt. Der Sprach-, Bedeutungs- und der Kommunikationstheorie soll ein handlungstheoretisches Fundament gegeben werden. Nach Grice lassen sich Bedeutungen daraus ableiten oder, besser formuliert, sind damit identisch, was ein Sprecher mit seinem Sprechen meint. Bedeutungen sind auf Sprecherintentionen zurückführbar, und es gilt nicht umgekehrt, dass Intentionen auf Bedeutungen zurückführbar sind. Intentionen sind eine vorsprachliche Kategorie, sie gehen den sprachlichen Bedeutungen voraus. Mit anderen Worten: Nicht die Art und Weise, wie etwas von einem Hörer verstanden wird, auch nicht die sprachlichen Zeichen oder sonstigen kommunikativen Einheiten, die Sätze oder Aussagen, sind die eigentlichen Bedeutungsträger, sondern die Intentionen eines Sprechers. Den Vertretern der intentionalistischen Semantik wie Grice stehen Vertreter des Konventionalismus gegenüber, die die Bedeutung von Aussagen auf sprachliche Konventionen und regelgeleitete Praxisformen zurückführen wollen. Aus deren Reihen-- etwa Searle oder Habermas- - kommen eine Reihe von gewichtigen Argumenten gegen die intentionalistische Semantik. Andere Einwände betreffen den Status der Intentionalität als einer vorsprachlichen, privaten, nicht intersubjektiven Voraussetzung sowie den Umstand, dass Grice vorwiegend strategische Kommunikationssituationen in seinen Überlegungen berücksichtigt. Basislektüre: Grice, Herbert Paul (1957): Meaning. In: The Philosophical Review 66: 377-388, wiederabgedruckt in: ders. (1989): Studies in the Way of Words. Cambridge, S. 213-223 (dt. : Intendieren, Meinen, Bedeuten. In: Georg Meggle (Hg.): Handlung, Kommunikation, Bedeutung. Frankfurt am Main, S. 2-15). Weiterführende Lektüre: Greve, Jens (2003): Kommunikation und Bedeutung. Grice-Programm, Sprechakttheorie und radikale Interpretation. Würzburg. Meggle, Georg (1997): Grundbegriffe der Kommunikation. 2. akt. Aufl. New York. Rolf, Eckard (1994): Sagen und Meinen. Opladen. <?page no="75"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Schuetzeichel__Soziologische_Kommunikationstheorien(2)____[Druck-PDF]/ 13.08.2015/ Seite 76 <?page no="76"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Schuetzeichel__Soziologische_Kommunikationstheorien(2)____[Druck-PDF]/ 13.08.2015/ Seite 76 www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Schuetzeichel__Soziologische_Kommunikationstheorien(2)____[Druck-PDF]/ 13.08.2015/ Seite 77 77 4 Sozialphänomenologische Fundierungen Aufbauend auf der phänomenologischen Philosophie von Edmund Husserl (vgl. insbesondere (Husserl 1900 / 01) die ›Logischen Untersuchungen‹ und (Husserl 1931) die ›Cartesianischen Meditationen‹) und in Auseinandersetzung mit den klassischen Werken der Soziologie, insbesondere mit Max Weber, versucht Alfred Schütz, eine umfassende theoretische Grundlage für die Soziologie zu erarbeiten. Aus diesem Grunde versteht sich die phänomenologisch inspirierte Soziologie oft nicht als eine besondere, eben phänomenologische Soziologie, sondern als Protosoziologie (vgl. z. B. Luckmann 1993), als ein theoretisches Begründungsprogramm der Soziologie, welches der eigentlichen soziologischen Forschung vorausgeht. Der Soziologie soll ein neues, ein phänomenologisches Fundament gegeben werden, welches vom Bewusstseinsleben der Handelnden in ihrer Lebenswelt ausgeht. Schütz nimmt dabei Abstand von der transzendentalen Phänomenologie im Sinne Husserls und gleichzeitig Abschied von dem Gedanken eines letztbegründenden Fundaments für Philosophie und Wissenschaften. Husserl untersucht die Konstitutionsstrukturen des Bewusstseinslebens in transzendentaler Hinsicht, Schütz hingegen befasst sich mit den invarianten Strukturen der Lebenswelt von Menschen. Es geht ihm um eine ›mundane Phänomenologie‹, also auf die Lebenswelt orientierte Phänomenologie, welche die invarianten Ordnungen der Lebenswelt von Menschen aufzeigen will. Sie sucht den Ort der Selbstkonstitution der Lebenswelt nicht mehr nur in den transzendentalen Strukturen des Bewusstseins sieht, sondern in der pragmatischen Interaktion bzw. den Wirkensbeziehungen zwischen Menschen. Es ist aber in der Literatur umstritten, wie viel an transzendentaler Phänomenologie Schütz auf diesem Weg wirklich hinter sich lässt. Wir gehen davon aus, dass sich zwar das Erkenntnisinteresse von Schütz gewandelt hat, dass aber auch die späte mundane Phänomenologie von Schütz immer noch zentrale phänomenologische Ausgangsprämissen teilt. Es ist schwierig, die sozialphänomenologischen Analysen auszubreiten, ohne dabei einige wenige phänomenologische Ausgangspunkte vorauszusetzen. Am besten ist es, wenn wir uns dabei an Schütz selbst halten. In einem Artikel, welcher den Sozialwissenschaftlern die Phänomenologie nahe bringen will, erwähnt Schütz (1945 / 1971) folgende Punkte: Der Phänomenologie zufolge weist das Bewusstsein eine intentionale Struktur auf. Intentionalität heißt, dass jeder Bewusstseinsakt, sei es ein Denken oder ein Erinnern, ein Fantasieren oder ein Fürchten, auf einen Gegenstand bezogen ist, auf etwas, das gedacht oder erinnert, fantasiert oder gefürchtet wird. Intentionalität heißt also, dass jeder Bewusstseinsakt auf etwas hin gerichtet ist. Dies macht sich in der Unterscheidung von Bewusstseinsakt und Bewusstseinsgegenstand bemerkbar. Die Phänomenologie befasst sich demzufolge nicht mit den Dingen oder Gegenständen als solchen, sondern so, wie sie als Bewusstseinsphänomene in Bewusstseinsakten erscheinen. Und die Phänomenologie, ob in ihrer transzendentalen oder ihrer munwww.claudia-wild.de: <?page no="77"?> [UTB-M]__Schuetzeichel__Soziologische_Kommunikationstheorien(2)____[Druck-PDF]/ 13.08.2015/ Seite 78 78 4 Sozialphänomenologische Fundierungen danen Variante, befasst sich mit den unterschiedlichen Bewusstseinsformen und Bewusstseinsleistungen, aus denen sich die (soziale) Welt sinnhaft konstituiert. Die phänomenologische Soziologie-- ein neuerer Überblick findet sich bei Vaitkus (vgl. Vaitkus 2000)-- beschäftigt sich mit dem Sozialen in seinen verschiedenen Gestalten also insofern, wie es sich in dem Bewusstsein der miteinander interagierenden Handelnden konstituiert. Von daher sieht es Schütz als Ziel seiner Untersuchungen an, die sozialwissenschaftlichen Probleme bis auf die Tatsachen des Bewusstseinslebens zurückzuverfolgen. In vielem steht damit der phänomenologische Ansatz in einem direkten Gegensatz zu der pragmatistischen Position, die wir im vergangenen Kapitel kennengelernt haben. Während Mead als Ausgangspunkt die objektive Bedeutungsstruktur von Gesten nimmt und die Prozesse der Verinnerlichung nachzeichnet, geht die sozialphänomenologische Tradition von subjektiven Sinnsetzungen aus, um die Intersubjektivität und die Objektivationen der sozialen Welt zu begründen. Das Erkenntnisinteresse der sozialphänomenologischen Soziologie besteht darin, über die Grundlagen von Intersubjektivität und Kommunikation aufzuklären: »[….] alle Sozialwissenschaften nehmen die Intersubjektivität des Denkens und Handelns für selbstverständlich hin. Dass Menschen existieren, dass Menschen auf andere Menschen einwirken, dass Kommunikation in Zeichen und Symbolen möglich ist, dass soziale Gruppen und Institutionen, juristische und ökonomische und andere Systeme untrennbare Elemente unserer Lebenswelt sind, dass diese Lebenswelt ihre eigene Geschichte und ihren besonderen Bezug auf Raum und Zeit hat […]. Aber die Phänomene selbst werden einfach als selbstverständlich hingenommen. Der Mensch wird einfach als soziales Wesen aufgefasst; Sprache und andere Kommunikationssysteme existieren; das Bewusstseinsleben des Anderen ist mir zugänglich- - kurzum, ich kann den Anderen und seine Handlungen verstehen, und er versteht mich und mein Tun […]. Aber wie kommt es dazu, dass gegenseitiges Verstehen und Kommunikation überhaupt möglich werden? « (Schütz 1945 / 1971: 134) Wir gehen im Folgenden mit Alfred Schütz und Thomas Luckmann auf die beiden Sozialphänomenologen ein, die wohl am meisten zu einer Soziologie der Kommunikation und des kommunikativen Handelns beigetragen haben. Die wesentlichen Fundamente werden von Schütz gelegt. Luckmann erweitert diese Konzeption in zwei Punkten. Er befasst sich ausführlicher als Schütz mit dem Medium der Sprache, und er macht mit seiner Theorie der kommunikativen Gattungen einen wichtigen Schritt in eine empirisch angelegte Kommunikationstheorie. <?page no="78"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Schuetzeichel__Soziologische_Kommunikationstheorien(2)____[Druck-PDF]/ 13.08.2015/ Seite 78 www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Schuetzeichel__Soziologische_Kommunikationstheorien(2)____[Druck-PDF]/ 13.08.2015/ Seite 79 4.2 Subjektivität und Intersubjektivität 79 4.1 Phänomenologische Protosoziologie Max Weber bindet die Soziologie an die Untersuchung sozialen Handelns. Soziales Handeln, so die berühmte Definition in den »Soziologischen Grundbegriffen«, ist ein Handeln, welches seinem subjektiven Sinn nach an dem Verhalten und Handeln von anderen Handelnden orientiert ist. Weber lässt die Frage mehr oder weniger offen, wie die Handelnden zu ihrem subjektiven Sinn kommen und wie sie den subjektiven Sinn der Handlungen anderer Individuen verstehen können. Für Alfred Schütz stellt diese Frage nach dem subjektiven Sinn jedoch die entscheidende Ausgangsfrage dar. Wie konstituieren die Handelnden den subjektiven Sinn ihrer Handlungen? Und wie können sie den subjektiven Sinn anderer Handelnder, an denen sie sich orientieren müssen, verstehen? Die erste Frage betrifft das Konstitutionsproblem, die zweite Frage das Intersubjektivitätsproblem der Sinnthematik. Beide sind engstens miteinander verbunden. Schütz geht in seinen grundlegenden Analysen in »Der sinnhafte Aufbau der sozialen Welt« (Schütz 1932 / 2004) mit Weber davon aus, dass soziale Wirklichkeit auf das soziale Handeln von Individuen oder, entsprechend, dass jede Kommunikation auf das kommunikative Handeln von Individuen zurückgeführt werden muss. Er teilt also mit Weber den Standpunkt, der später als ›methodologischer Individualismus‹ bezeichnet werden wird. Dabei bedient er sich einer Methodik, die in der phänomenologischen Philosophie von Edmund Husserl entwickelt wurde. Die Bezeichnung ›Phänomenologie‹ stammt von dem altgriechischen Wort ›phainomenon‹ und bedeutet das Studium der Phänomene, so wie sie sich selbst zeigen. Die wissenschaftlichen, aber auch die alltäglichen objektiven Voreinstellungen, Vor-Urteile, Idealisierungen sollen eingeklammert werden, und der Blick soll unverstellt auf die fundierenden, ursprünglichen Erfahrungen im Bewusstseinsleben gerichtet werden. Mithilfe der phänomenologischen Philosophie strebt Schütz eine Begründung der soziologischen Kategorien- und Theoriebildung an- - sie stellt ein protosoziologisches, die eigentliche Soziologie begründendes Fundament dar. 4.2 Subjektivität und Intersubjektivität Wie die Phänomenologie, so geht auch Schütz von dem egologischen Bewusstseinsleben eines Individuums aus. Phänomenologische Analysen setzen an dem Punkt an, wo sich etwas für ein Bewusstsein zeigt. Anfangspunkt der phänomenologischen Konstitutionsanalysen sind die evidenten Bewusstseinssetzungen. Bezogen auf die Problematik des subjektiven Sinns heißt das, dass der Sinn von Handlungen oder Erfahrungen zunächst immer nur ein egologischer Sinn ist. Es muss untersucht werden, wie die Subjekte zu ihrem Sinn kommen, und diese Analyse darf sich nicht von der alltäglichen Unterstellung leiten lassen, dass der Sinn des einen auch der Sinn des <?page no="79"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Schuetzeichel__Soziologische_Kommunikationstheorien(2)____[Druck-PDF]/ 13.08.2015/ Seite 80 80 4 Sozialphänomenologische Fundierungen anderen ist. Im Alltagsleben gehen wir zwar davon aus, dass wir die Handlungen anderer so verstehen können, wie sie gemeint sind. Aber ist dies nicht eine naive Unterstellung, die erst geprüft werden muss? Und welche Voraussetzungen für soziales und kommunikatives Handeln kommen in den Blick, wenn man den Ausgangspunkt radikalisiert und mit einem egologischen Standpunkt beginnt? Der Sinn, so die Prämisse von Schütz, ist auf die Bewusstseinssphäre eines Subjektes oder, wie die Phänomenologie auch sagt, eines ›Egos‹ bezogen, und dieser Sinn ist für ein anderes Subjekt bzw. für ›Alter‹ nicht transparent. Wie konstituiert Ego nun den Sinn seines Erlebens und Handelns? Nicht, indem es einfach erlebt oder handelt. Denn, wie Schütz betont, Sinn ist Sinn für ein Subjekt, und Sinn kann für ein Subjekt nur dadurch konstituiert werden, dass es sich reflexiv seinen Erlebnissen und seinem Handeln zuwendet. Sinn ist Produkt einer reflexiven Zuwendung, in welcher ein unmittelbares Bewusstseinsleben oder ein ursprüngliches Verhalten zu bestimmten Sinn-Einheiten verdichtet und in bestimmte Erfahrungsschemata eingeordnet wird, und zwar im Nachhinein. Reflexion setzt voraus, dass ein Subjekt sich auf sein eigenes Erleben und Verhalten rückbezieht. Sie kommt deshalb immer zu spät. Aber nur durch Reflexion wird Sinn für ein Subjekt konstituiert, und zwar dadurch, dass es Erlebnisse in einen vorgegebenen Erfahrungszusammenhang einordnet, der dem Subjekt als ein Deutungsschema zur Verfügung steht. Dies gilt auch für das Verhalten der Subjekte. Verhalten wird von Schütz als eine besondere Kategorie von Erlebnissen definiert: als solche, in denen das Subjekt spontan aktiv ist, in denen es spontan zu etwas Stellung nimmt-- was auch wiederum erst reflexiv sinnhaft bestimmt werden kann. Eine besondere Form des Verhaltens ist auf Zukünftiges gerichtet. Diese Form nennt Schütz Handeln. Handeln ist ein Verhalten, welches sich an einem Entwurf oder einem Plan orientiert. Soziales Handeln liegt dann vor, wenn im thematischen Rahmen dieses Entwurfs andere auftreten (vgl. Schütz / Luckmann 1984: 99)- - so reformuliert Schütz die begrifflichen Vorgaben von Weber. Ein Entwurf antizipiert einen zukünftigen Zustand, der erreicht werden soll. Nun unterscheidet Schütz zwischen dem Handeln als dem unabgeschlossenen Prozess der Realisierung eines Entwurfs und der Handlung als dem Resultat dieses Prozesses. Schütz macht diesen Unterschied, um einen wesentlichen Aspekt herauszustellen. Der subjektive Sinn des Handelns ist abhängig von der Perspektive, in die man ihn einordnet. Dies gilt in mehrfacher Hinsicht. Der Sache nach wird der Sinn des Handelns danach bestimmt, welches Ziel erreicht werden soll, welche Motive mit ihm verfolgt werden, in welche anderen Pläne und Konfigurationen das Handeln eingebettet ist. Der Zeit nach können der Handlungssinn und der Handelnssinn auseinander treten. Der Sinn des Handelns kann ein anderer sein als der Sinn der Handlung. Der Sinn des Handelns ergibt sich durch den Entwurf, durch die Antizipation eines Ziels, der Sinn der Handlung ergibt sich im Rückblick auf die schon vollzogene Handlung. Nach Schütz ist der Entwurf der primäre Sinn des Handelns. Aber dieser Sinn kann nach der <?page no="80"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Schuetzeichel__Soziologische_Kommunikationstheorien(2)____[Druck-PDF]/ 13.08.2015/ Seite 80 www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Schuetzeichel__Soziologische_Kommunikationstheorien(2)____[Druck-PDF]/ 13.08.2015/ Seite 81 4.3 Intersubjektivität und Fremdverstehen 81 abgeschlossenen Handlung modifiziert werden, Prozess und Resultat lassen sich aufeinander beziehen, der Entwurf steht möglicherweise im Lichte des Resultats anders dar, Entwurf und Resultat können, und dies ist eine allgemeine, alltägliche Erfahrung, voneinander abweichen. In zeitlicher Hinsicht lässt sich also das, was als der subjektive Sinn gilt, in unterschiedliche Perspektiven auflösen. Dies gilt nicht nur in sachlicher und zeitlicher, sondern auch in sozialer Hinsicht. Denn aufgrund des von Schütz eingenommenen egologischen Standpunkts ist der subjektive Sinn mit dem Sinn, den ein Beobachter unterstellen kann, nicht identisch. Der subjektive Sinn, den Ego seinem Handeln zuordnet, ist von dem ihm von Alter zugeschriebenen grundsätzlich verschieden, denn er ist nur bestimmbar, wenn man den gesamten Erfahrungswie Planungshorizont von Ego kennt. Schütz charakterisiert im »Sinnhaften Aufbau« (vgl. Schütz 1932 / 2004: 221) und in seiner Auseinandersetzung mit Parsons (vgl. Schütz / Parsons 1977: 30) den Begriff des subjektiven Sinns als einen ›Limesbegriff‹, der niemals vonseiten anderer erreicht werden kann. 4.3 Intersubjektivität und Fremdverstehen Welche Konsequenzen hat dies für die Intersubjektivität zwischen Menschen? Wir haben schon kurz angedeutet, dass Schütz sich im Unterschied zu Husserl nicht der Frage zuwendet, wie und auf welche Weise im einsamen Bewusstsein von Ego der oder die andere(n) konstituiert wird (werden). Schütz wendet sich von dieser transzendentalphänomenologischen Fragestellung ab und geht von der natürlichen Einstellung aus, das heißt in dem Fall: Die Existenz der Sozialwelt und damit die Existenz von anderen Handelnden wird fraglos hingenommen. Und mehr noch: Alter werden die gleichen Eigenschaften zugeschrieben, wie Ego sie sich selbst zuschreibt. Dazu gehört, dass Alter über Bewusstsein verfügt, dass er in seinem Bewusstseinsstrom ›Handeln‹ und ›Handlungen‹ konstituiert, dass er in mannigfaltigen Setzungen und Zuwendungen Sinn konstituiert. Aber, so Schütz (vgl. Schütz 1932 / 2004: 219 ff.), Fremdverstehen ist nicht möglich, wenn darunter verstanden werden soll, dass Ego die Erlebnisse von Alter so auslegt, wie dieser sie selbst erlebt. Dies ist nicht möglich, weil das Bewusstseinsleben von Alter in seiner Komplexität, Geschichtlichkeit und Vielschichtigkeit für Ego nicht nachvollziehbar ist. Der gemeinte Sinn-- der Sinn, den Alter mit seinem Handeln verbindet- - ist für Ego nicht zugänglich. Wie aber ist dann Intersubjektivität möglich, wenn wir darunter die Möglichkeit des Verstehens von anderen, von Fremdseelischem, wie Schütz sagt, fassen wollen? Alter ist für Ego nur signitiv zugänglich. Wenn Frau Schmidt zu ihrem Ehemann sagt ›Schau dir mal den Sauerbraten an. Das klingt verlockend‹, dann erlebt Herr Schmidt dies nicht in der Weise, wie Frau Schmidt es erlebt- - er kann es nur signitiv, über und als Zeichen erfassen. Und wenn sich Frau Schmidt dann auch noch ein wenig die Lippen leckt, dann kann Herr Schmidt dies nur als Anzeichen für die Erlebnisse, die Frau Schmidt gerade bewegen, erfahren. <?page no="81"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Schuetzeichel__Soziologische_Kommunikationstheorien(2)____[Druck-PDF]/ 13.08.2015/ Seite 82 82 4 Sozialphänomenologische Fundierungen Der fremde Leib, der Leib von Frau Schmidt, dient in diesem Fall als »Medium« (Schütz 1932 / 2004: 223), als Ausdrucksfeld für die als solche nicht erreichbaren inneren Erlebnisse von Frau Schmidt. Wie aber, so müssen wir ebenfalls fragen, erfährt Herr Schmidt die Ausdrucksbekundungen seiner Ehefrau? Auf der Basis der Erfahrungen, die er bisher mit seiner Ehefrau gemacht hat. Und so kann Schütz sagen, »daß jede Erfahrung von Fremdseelischem auf der Erfahrung meiner je eigenen Erlebnisse von diesem alter ego fundiert ist.« (Schütz 1932 / 2004: 230; Hervorh. weggel.) Damit meint Schütz die verstehenden Sinnschichten und Sinnsynthesen, auf denen das Verstehen von anderen Personen und der kommunikativen Akte anderer Personen aufruht. Wenn Frau Schmidt die Aussage über ihren Sauerbraten macht, dann gehen dem Verstehen dieser Aussage von Herrn Schmidt verschiedene Sinnsetzungen voraus. Er richtet sich auf die Leibesbewegungen von Frau Schmidt und interpretiert diese, er nimmt die Laute wahr und schreibt sie seiner Frau zu, er betrachtet die Art und Weise, wie seine Frau sich artikuliert und er deutet die Laute als Zeichen für spezifische Worte und die Worte als Zeichen für spezifische Wortbedeutungen. In all diesen Deutungen legt Herr Schmidt nur seine eigenen Erlebnisse aus. Er überschreitet die Grenzen seines eigenen Wissensvorrats und seiner eigenen Deutungsschemata nicht. Diese sinnhaften Synthesen sind Voraussetzung dafür, dass er, wie Schütz dies formuliert, zum Fremdverstehen übergehen kann. In dem Fall deutet Herr Schmidt die Worte nicht als Zeichen für spezifische Sachverhalte oder Gegenstände, sondern als Anzeichen für Bewusstseinsvorgänge seiner Frau. Er kann dann fragen, was seine Frau zum Ausdruck bringen will, was sie meint, wenn sie so spricht, wie sie spricht, was sie damit bezweckt. Er kann also danach fragen, welche Um-Zu-Motive oder Weil-Motive seine Frau mit ihrer Aussage verbindet, und er kann danach fragen, in welcher Situation sich seine Frau befindet und wie sie selbst diese Situation definiert, so dass sie sagt, was sie sagt. Das Fremdverstehen baut also auf unterschiedlichen Akten auf, in denen der Verstehende nicht die Erlebnisse des anderen empfindet, sondern es nur mit Auslegungen seines eigenen Erlebens zu tun hat. Erst auf der Ebene des eigentlichen Fremdverstehens kommt es zu einer Deutung der Bewusstseinsabläufe von Alter. Diese Deutung beruht auf einem Perspektivenwechsel, wie Mead dies nennt, oder auf einer ›Personenvertauschung‹, wie die entsprechende Bezeichnung von Schütz lautet: Personenvertauschung hat aber nichts mit Einfühlung zu tun, sondern mit der Rekonstruktion der Handlungen anderer in meinem eigenen Erleben und auf der Basis meiner eigenen Erfahrungen und meines eigenen Wissens. Dem Fremdverstehen sind demnach deutliche Grenzen gesetzt, die darin liegen, ob der Verstehende aufgrund eigener Erfahrungen und eigenen Wissens in der Lage ist, die Handlungen nachzuvollziehen. Wir nehmen also gewissermaßen eine Personenvertauschung vor, indem wir uns anstelle des Handelnden setzen und nunmehr unsere Bewusstseinserlebnisse bei einem dem beobachteten gleichartigen Handeln mit den fremden Bewusstseinserlebnissen identifizieren. (Schütz 1932 / 2004: 242) <?page no="82"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Schuetzeichel__Soziologische_Kommunikationstheorien(2)____[Druck-PDF]/ 13.08.2015/ Seite 82 www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Schuetzeichel__Soziologische_Kommunikationstheorien(2)____[Druck-PDF]/ 13.08.2015/ Seite 83 4.3 Intersubjektivität und Fremdverstehen 83 ›Verstehen‹ ist ein enorm komplexer Vorgang. Schütz untersucht die verschiedenen Sinnsetzungen, die diesen Vorgang insgesamt konstituieren. Die doch sehr kompakten Begriffe ›kommunikative Handlung‹ oder ›Verstehen‹ bestehen also bei einer genaueren phänomenologischen Betrachtung aus einer Synthese unterschiedlicher Akte. Und es wird gleichzeitig deutlich, dass auf jeder Ebene unterschiedliche Setzungen möglich sind. Man könnte von ›Selektionen‹ oder ›Unterscheidungen‹ sprechen, um die stets auch anders möglichen Setzungen zu bezeichnen. Herr Schmidt muss die von ihm wahrgenommenen Laute nicht einer Person, erst recht nicht seiner Frau zuschreiben, er muss sie nicht verstehen wollen, er muss sie nicht akzeptieren. Das Verstehen der Handlungen, gerade auch der Ausdruckshandlungen anderer, setzt voraus, dass ich dessen Motive verstehen kann. Schütz unterscheidet zwischen Um-zu-Motiven und Weil-Motiven. Die Um-zu-Motive beziehen sich auf die zukünftigen Ziele, die ein Subjekt mit der Realisierung bestimmter Entwürfe verfolgt, die Weil-Motive auf die vergangenen Ursachen oder Gründe, die ein Subjekt veranlassen, gerade diesen und keinen anderen Handlungsentwurf zu verfolgen. Nehmen wir als Beispiel folgenden Sachverhalt: Ich habe mich in ärztliche Hände begeben, um zu genesen-- die Genesung ist ein zukünftiges Ziel. Aber ich habe mich in ärztliche Hände begeben, weil ich einen Unfall hatte-- der Unfall ist die äußere Ursache meines Arztbesuchs. Nach Schütz sind die Um-zu-Motive maßgeblich für den Sinn des Handelns, der sich ja aus seinem Entwurfscharakter ergibt. Sie sind in der Regel nur dem handelnden Subjekt selbst zugänglich, es sei denn, das Subjekt würde sein Um-zu-Motiv anderen mitteilen. Anders verhält es sich mit den Weil-Motiven. Diese ergeben sich in der Regel aus einer Position der Beobachtung, nicht zuletzt deshalb, weil der Handelnde sich selbst in die Position eines Selbstbeobachters begeben muss, um die Gründe oder Ursachen seiner Handlungsentwürfe zu rekonstruieren, eines Selbstbeobachters, der sich aber wie jeder andere Fremdbeobachter auch über die Weil-Motive täuschen kann, also keinen privilegierten Zugang hat (vgl. Schneider 2002, Bd. 1, 238 ff.). Handlungen, auch und gerade kommunikative Handlungen, liegen dann vor, wenn der Handelnde ein Um-zu-Motiv hat. Sie können als Handlungen entsprechend auch nur verstanden werden, wenn das Um-zu-Motiv berücksichtigt wird. Damit kann Schütz zwischen Ausdrucksbewegungen und echten Ausdruckshandlungen (im Sinne von kommunikativen Handlungen) unterscheiden (vgl. Schütz 1932 / 2004: 245 ff.). Ausdruckshandlungen liegen nur dann vor, wenn ein Um-zu-Motiv vorliegt, wenn also Ego mit seinem Tun eine bestimmte kommunikative Absicht verbindet. Diese kann sich auf Gesten oder auf sprachliche Mitteilungen beziehen. Davon sind Ausdrucksbewegungen zu unterscheiden, die das Ausdruckshandeln begleiten können. Wenn Herr Schmidt die Empfehlung seiner Frau ablehnt, dann wird seine sprachliche Aussage oder das Ausdruckshandeln sicherlich von einem entsprechenden gestischen oder mimischen Verhalten unterstützt. Dieses Verhalten bezeichnet Schütz als Ausdrucksbewegungen, die dadurch gekennzeichnet sind, dass sie nicht auf eine Intention, ein Um-zu-Motiv zurückzuführen sind. Sprachliches Handeln besitzt solwww.claudia-wild.de: <?page no="83"?> [UTB-M]__Schuetzeichel__Soziologische_Kommunikationstheorien(2)____[Druck-PDF]/ 13.08.2015/ Seite 84 84 4 Sozialphänomenologische Fundierungen che Eigenschaften, dass es in seiner kommunikativen Intentionalität kaum zu verkennen ist. Von daher zweifeln wir auch nur selten an der Handlungsförmigkeit der mündlichen Rede, obwohl es natürlich Grenzbereiche gibt, etwa das Brabbeln von Kindern oder die nur wenig artikulierte Rede von Alkoholisierten. Bei Gesten oder mimischen Verhalten ist dies aber anders, sie werden vergleichsweise selten von einem Sprecher oder Hörer (schon diese Bezeichnung weist auf das Primat der akustischen und nicht der optischen Wahrnehmung hin) mit einem expliziten Um-zu-Motiv versehen. Sie werden natürlich in der Regel zur Deutung der mündlichen Rede hinzugezogen, und sie können zu diesen passen oder eben nicht. Nach Schütz stehen Ausdrucksbewegungen nur für einen externen Beobachter in einem Sinnzusammenhang. Er kann sie als Anzeichen fremden Bewusstseinslebens deuten, während der Mitteilende selbst mit dem Vollzug seines Ausdruckshandelns befasst ist. Ausdrucksbewegungen asymmetrisieren also die Kommunikation. 4.4 Intersubjektivität und Sprache Erst durch jüngst veröffentliche Dokumente-- so die Mitschriften einer Vorlesung zur Sprachsoziologie (Schütz 2004b), die Schütz im Jahre 1952 / 53 an der New School for Social Research in New York gehalten hat-- erschließt sich die Breite seiner sprachsoziologischen Reflexionen. Auch im Hinblick auf die Sprache geht er von einer phänomenologischen Fundierung aus. Nach Schütz ist die Ich-Du-Beziehung, die Beziehung eines Ich zu einem Du, konstitutiv für den sinnhaften Aufbau der sozialen Welt. Diese intersubjektive Beziehung ist aber nicht sprachlich fundiert, sondern die Sprache hat ihr Fundament in der intersubjektiven Beziehung zwischen einem Ich und einem Du, zwischen Ego und Alter. Dies ergibt sich aus der phänomenologischen Prämisse, dass sich alles Sprachliche auf vorsprachliche Bewusstseinsintentionalitäten zurückführen lasse. Dies ist schon der Ansatzpunkt in einem frühen Aufsatz aus den Jahren 1925 bis 1927, der später unter dem Titel »Erleben, Sprache und Begriff« herausgegeben wurde (Schütz 1981 / 2004). Der Herausgeber, Ilja Srubar, sieht dabei den von Husserl und von Henri Bergson gewonnenen Gedanken als fundierend an, »daß alle Kategorien des Verstandes sowie alle sozialen entstehenden Instrumente der Welterfassung (so die Sprache, die sozial institutionalisierten Betrachtungsweisen etc.) schon immer eine Rekonstruktion der ursprünglich im Erleben gegebenen Realität darstellen.« (Srubar 1981: 25) Und so können auch Schütz und Luckmann konstatieren: »Die Sprache konstituiert sich in der Wir-Beziehung vermittels der intersubjektiven Spiegelung, der ›Sozialisierung‹ der subjektiven Anzeichen und deren Ablösung von der unmittelbaren Erfahrung.« (Schütz / Luckmann 1979: 299) Die Sprache baut auf vorsprachlichen Bewusstseinsleistungen auf, und Schütz und Luckmann nennen uns wesentliche Voraussetzungen intersubjektiver Beziehungen für die Entwicklung von sprachlicher Kommunikation. Konstitutionstheorewww.claudia-wild.de: <?page no="84"?> [UTB-M]__Schuetzeichel__Soziologische_Kommunikationstheorien(2)____[Druck-PDF]/ 13.08.2015/ Seite 84 www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Schuetzeichel__Soziologische_Kommunikationstheorien(2)____[Druck-PDF]/ 13.08.2015/ Seite 85 4.5 Typisierungen und Idealisierungen 85 tisch zunächst als monologisch isolierte Subjekte gedacht, erreichen Ego und Alter durch Typisierungen und Idealisierungen eine Verschränkung, eine Reziprozität der Perspektiven, eine Personenvertauschung, eine intersubjektive Spiegelung. Diese drückt sich in der unmittelbaren Face-to-Face-Situation in einem gemeinsamen Ablauf unserer Erfahrungen, in einer Synchronisierung der Bewusstseinsabläufe aus. Die Reziprozität der Perspektiven ist Voraussetzung dafür, dass Ego und Alter bestimmte Ausdrucksweisen und Handlungen als Anzeichen für das Bewusstseinsleben und Bewusstseinserleben des anderen erleben. Und auf dieser Basis können sich typische Zeichen ausbilden, die sich von der unmittelbaren, lebendigen Erfahrung des Du ablösen und eine sozial-objektive Bedeutung erlangen. Sprachen stellen eine objektive oder sogar transsubjektive Ebene dar, da diese Ebene gemeinsam benutzbare sprachliche Symbole zur Verfügung stellt. In ihrer sozial objektivierten Gestalt können Sprachen schließlich eine eigene Charakteristik, einen eigenen kulturellen Sinn, eine ›innere Sprachform‹ (W. v. Humboldt) aufweisen, so dass die sprachlichen Bedeutungs- und Strukturebenen schließlich auf den subjektiven Sinn zurückwirken können. Kommen wir aber zunächst auf die Momente zu sprechen, die eine Personenvertauschung ermöglichen, und anschließend auf den komplexen Zusammenhang von Anzeichen und Zeichen. 4.5 Typisierungen und Idealisierungen Schütz koppelt also das Verstehen von Alter durch Ego und die Kommunikation zwischen Ego und Alter an Akte der Selbstauslegung von Ego. Der egologische Ausgangspunkt reißt zwischen Ego und Alter eine Sinnlücke auf. Sie führt zu der Frage, wie Ego sein Verhalten an Alter orientieren kann, wenn er keinen Zugang zu dessen subjektiven Sinndimensionen hat. Oder anders gewendet: Wie können Ego und Alter miteinander kommunizieren, wenn sie über keinen gemeinsamen Sinn verfügen? Aber der Vorzug dieses radikalen phänomenologischen Ausgangspunktes besteht eben darin, die Bedingungen der Möglichkeit von sozialem und kommunikativem Handeln neu überdenken zu können. Wie schließt also Schütz diese Sinnlücke zwischen Ego und Alter? Nun, zunächst werden, wie schon erwähnt, erhebliche Abstriche an einem naiven Verstehenskonzept gemacht. Verstehen heißt nicht: Hineinversetzen in jemanden anderen, sondern Einordnung in Typisierungen. Motive werden unter typische Motive subsumiert, Handlungen unter typische Handlungen, Individuen unter Selbst- und Fremdtypisierungen. Es kann nach Schütz nicht darum gehen, in der Begegnung mit anderen den subjektiv gemeinten Sinn zu erfassen-- der ist nicht verstehbar und auch in gewisser Weise nicht mitteilbar. Sondern es kann nur darum gehen, den gemeinten typischen Sinn zu erfassen. Wir begegnen den anderen, uns selbst und allen Gegenständen unseres Erlebens nur in einer typisierten Form. Typisierungen können als <?page no="85"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Schuetzeichel__Soziologische_Kommunikationstheorien(2)____[Druck-PDF]/ 13.08.2015/ Seite 86 86 4 Sozialphänomenologische Fundierungen Interpretationsschemata aufgefasst werden. Sie abstrahieren immer von den konkreten Individuen, Handlungen und Ereignissen, sie beruhen immer auf Idealisierungen, die die konkreten, besonderen, partikularen Aspekte ausblenden. Schütz unterscheidet in sozialer Hinsicht verschiedene Formen der Typisierung. Sie lassen sich als Personen, als Rollen wie als Typen des Handlungsablaufs fassen (vgl. Schütz 1953 / 1971: 19 f.-- vgl. insbes. Berger / Luckmann 1969 und die Rekonstruktion von Schneider 2002, Bd. 1: 245 f.). Der Typus Person wird dadurch konstitutiert, dass jemand Handlungen vollzieht und wir ihm gegenüber spezifische Erwartungen ausbilden, die nur für ihn als Person charakteristisch sind. Der Typus Rolle wird hingegen durch solche Handlungs- und Erwartungsformen gebildet, die für Mitglieder einer bestimmten Kategorie von Personen charakteristisch sind. Und allgemeine Typen des Handlungsablaufs bestehen in situationsspezifischen Handlungs- und Erwartungsformen, die sich nicht auf Personen oder Rollen beschränken lassen. Erläutern wir dies an einem Beispiel: Ich gehe über die Straße, werde von einem Mann gegrüßt und grüße zurück. Das wechselseitige Grüßen kann dem Typus ›Person‹ zugeordnet werden, wenn ich mit diesem Mann befreundet bin oder wenn das Grüßen selbst eine individuelle Gestalt annimmt in der Weise, dass nur mein Freund und ich uns so begrüßen. Das Grüßen kann aber auch ein rollenspezifisches kommunikatives Handeln sein: Es ist mein Postbote, dem ich auf der anderen Straßenseite begegne und den ich deshalb grüße, weil ich jeden Postboten in unserer Straße grüße. Es kann aber auch ein allgemeines situationsspezifisches Kommunikationsmuster sein- - in der Kleinstadt grüßt man sich, wenn man sich begegnet, gleichgültig, ob man das Gegenüber kennt oder nicht. Da wir nach Schütz nicht wissen können, welchen subjektiven Sinn jemand zum Beispiel mit einer Grußformel verbindet, können wir mithilfe der Typisierungsformen seinem Grüßen einen Sinn zusprechen und uns in unserer Reaktion daran orientieren. Auf ›Personen‹ beziehe ich mich anders als auf Rollen oder situationstypische Handlungsmuster. Wenn ein Freund mich grüßt, dann bleibe ich zu einem Gespräch stehen. Wenn ich nur kurz zurückgrüße, dann würde mir dies als Unhöflichkeit zugeschrieben. Es ist dagegen unüblich, bei dem Gruß von einem Postboten, den ich eigentlich nur an seiner Berufskleidung identifiziere, ein Gespräch zu erwarten. Und wenn mich jemand nur deshalb grüßt, weil man halt in einer Kleinstadt jeden grüßt, dann reicht auch ein kurzes Gemurmel, um die Erwartung zu erfüllen. Dieses Beispiel weist auf zwei wichtige Punkte hin: Zum einen unterscheiden sich die Typisierungsformen hinsichtlich ihres Anonymitätsgrades und ihres Abstraktionsgrades. Person, Rolle und situationsspezifische Handlungsmuster sind in dieser Reihenfolge mit einer zunehmenden Anonymität ausgestattet. Dem korrespondiert, dass sie auch zunehmend abstrakter werden und von konkreten Eigenheiten der Individuen abstrahieren. Zum anderen aber dürfte auch deutlich geworden sein, dass die Typisierungen ihrerseits abhängig von bestimmten Zwecksetzungen oder Problemstellungen sind, und diese lassen sich auf unterschiedliche Relevanzsysteme beziehen. <?page no="86"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Schuetzeichel__Soziologische_Kommunikationstheorien(2)____[Druck-PDF]/ 13.08.2015/ Seite 86 www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Schuetzeichel__Soziologische_Kommunikationstheorien(2)____[Druck-PDF]/ 13.08.2015/ Seite 87 4.5 Typisierungen und Idealisierungen 87 Relevanzsysteme geben wider, wie eine Situation für jemanden ist. Und auch hier lassen sich wiederum verschiedene Typen unterscheiden. Das Relevanzsystem des ›normalen‹ Menschen in seiner Alltagswelt besteht zum Beispiel in Folgendem: »Der normale Mensch ist hellwach. Das bedeutet, dass seine ganze Aufmerksamkeit aufs Leben gerichtet ist. Sein Relevanzsystem ist durch die von ihm zu bewältigenden Aufgaben bestimmt. Die offenen Möglichkeiten seiner typischen Erwartungen typischer Ereignisse und Begebenheiten werden von ihm in die augenscheinliche Gegenwart gleichsam hineingezogen. Diese Möglichkeiten sind zwar noch im offenen Horizont verborgen, werden sich aber-- in der Überzeugung des normalen Menschen-- in Übereinstimmung mit seinen Erwartungen verwirklichen. Diese Überzeugung ist auf das Vorwissen von typischen Ereignissen und Begebenheiten fundiert, die sich in der Vergangenheit in ähnlichen Situationen auf ähnliche Weise als relevant erwiesen haben.« (Schütz 1950 / 2004: 108) Ob man eine Handlung oder eine bestimmte Kommunikation dem einen oder dem anderen Typus zuordnet, hängt davon ab, inwieweit eine Situation für einen Handelnden relevant ist und welche Problemstellungen sich deshalb für den Handelnden ergeben. Schütz spricht von Problem-Relevanzen: »Die Beziehung des Typs auf ein Problem, für dessen Lösung er gebildet wurde, also die Problem-Relevanz, wie wir sie nennen wollen, konstituiert den Sinn der Typisierung.« (Schütz 1957 / 1972: 213) Typisierungen haben nach Schütz die Funktion, die Intersubjektivität oder die Kommunikation unter den monadischen Individuen zu ermöglichen. Typisierungen sind subjektiven Ursprungs. Ihnen obliegt die Funktion, das Bewusstseinsleben der Kommunikationspartner zu synchronisieren. Wenn sie aber diese Funktion wahrnehmen wollen, dann müssen sie als objektiv oder sozial konstituiert betrachtet werden. Mit anderen Worten: Es handelt sich zwangsläufig um standardisierte oder um institutionalisierte Typisierungen und Typisierungsschemata, derer sich die Individuen bedienen müssen. Dabei stellt die Sprache wohl das wichtigste Typisierungsschema dar-- weshalb dieser Punkt besondere Beachtung verdient. Denn das egologische Bewusstseinsleben der Subjekte wird von Schütz wie in der phänomenologischen Tradition als ein vorsprachliches oder vorprädikatives Bewusstsein konzipiert. Sprache ist ein nachträgliches Phänomen. Schütz baut sie in seine Theorie an der Stelle ein, wo er auf trans- oder intersubjektive Bedingungen von Verständigung und sozialer Ordnung zu sprechen kommt. Die Sprache wird vor allem als Wissensträger betrachtet. In ihr wird das soziale Wissen, das Wissen, welches man als gemeinsames unterstellen kann, produziert und reproduziert. Sie stellt die Typisierungsschemata bereit, die wir in der intersubjektiven Verständigung über Handlungsgründe und Handlungsmotive benützen müssen. Wie gesagt, der subjektive Sinn, der von den einzelnen Handelnden mit ihren Handlungen verbunden wird, bleibt dabei in letzter Konsequenz intransparent-- und wir wissen jetzt auch, warum dies der Fall ist: Er ist vorsprachlich und kann auch durch eine nachträgliche Typisierung mittels der Sprache nicht eingeholt werden. <?page no="87"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Schuetzeichel__Soziologische_Kommunikationstheorien(2)____[Druck-PDF]/ 13.08.2015/ Seite 88 88 4 Sozialphänomenologische Fundierungen In der Sprache werden nicht nur die sozialen Objekte, sondern alle Gegenstände in einer typisierenden und typischen Weise bezeichnet. Sie werden allgemeinen Kategorien unterworfen, die auch verschiedene Stufen der Abstraktion aufweisen. Den grünen Gegenstand in meinem Garten kann ich je nach Problemrelevanz als ›Baum‹ als ›Fichte‹, als ›meine Fichte‹, als ›Lieblingsbaum, den ich beim Einzug gesetzt habe‹ etc. identifizieren und typisieren. Aber Sprache dient auch zur Typisierung von sozialen Objekten. Halten wir diesen Punkt fest-- die Sprache wird als ein Kommunikationsmedium betrachtet, weil sie die Kluft zwischen den egologischen Bewusstseinszentren zwar nicht schließen, aber insoweit zu überbrücken in der Lage ist, dass sie aufgrund ihrer Symbole eine wechselseitige Orientierung ermöglichen kann. Eine Privatsprache, die nur Bedeutungen und Relevanz für ein einzelnes Subjekt hat, ist nach Schütz unsinnig. Man muss sich allgemeiner sprachlicher Bedeutungen bedienen, um sich auf sich selbst sprachlich beziehen zu können. Aber der Allgemeinheitsgrad der Bedeutungen fällt durchaus unterschiedlich aus, er kann zum Beispiel nur für kleine Gruppen oder auch für eine umfassende Kultur gelten. Schütz stützt die Möglichkeit von Intersubjektivität neben der typisierenden Kommunikation noch durch ein zweites Fundament. Typisierungen ermöglichen zwar die zwischenmenschliche Kommunikation, indem sie Handlungs- und Erwartungsformen institutionalisieren. Die Sprache und andere Kommunikationsmedien stellen die Mittel bereit, mithilfe derer wir kommunizieren können. Aber reicht eine solche Standardisierung und Institutionalisierung der Kommunikationsmittel aus? Woher weiß ich denn, dass der andere die Situation so einschätzt wie ich und sich auch derselben Typisierung bedient? Unterstellen wir nicht, wenn wir miteinander kommunizieren, dass der andere nicht nur normenkonform handelt, sondern die Welt auch in einer Weise erlebt, wie ich sie erlebe? Und wie können wir über unsere Erfahrungen und Erlebnisse berichten, wenn wir nicht voraussetzen, dass sie für den anderen nachvollziehbar sind? Ich fahre in ein fremdes Land, schildere meinen Gastgebern einige wichtige Erlebnisse aus meinem Leben-- wie könnte ich dies tun, wenn ich nicht davon ausgehen würde, dass diese Erlebnisse mehr oder weniger für sie nachvollziehbar und verstehbar sind? Schütz geht deshalb davon aus, dass wir unterstellen, dass andere, wenn sie an meiner Stelle wären, die gleiche Perspektive haben würden. Er nennt dies die ›Generalthese der Reziprozität der Perspektiven‹. Die grundlegende, egologische Perspektivenintransparenz wird dadurch nicht aufgehoben, sie wird aber für Zwecke der Kommunikation appräsentiert, außer Kraft gesetzt. Diese Generalthese wird von Schütz untergliedert in (a) Idealisierung der Übereinstimmung der Relevanzsysteme und (b) Idealisierung der Austauschbarkeit der Standpunkte. (a) Die ›Idealisierung der Übereinstimmung der Relevanzsysteme‹ geht davon aus, dass trotz der subjektiven Bedingtheit der je eigenen Relevanzsysteme bei den Kommunikatoren eine hinreichend überlappende Situationsdefinition und identische Situationsauffassungen vorausgesetzt werden müssen. Unter Relevanzsystemen verwww.claudia-wild.de: <?page no="88"?> [UTB-M]__Schuetzeichel__Soziologische_Kommunikationstheorien(2)____[Druck-PDF]/ 13.08.2015/ Seite 88 www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Schuetzeichel__Soziologische_Kommunikationstheorien(2)____[Druck-PDF]/ 13.08.2015/ Seite 89 4.5 Typisierungen und Idealisierungen 89 steht Schütz, dass wir die Dinge, Ereignisse und Personen so auffassen, wie wir sie in unserer bisherigen Erfahrung kennengelernt haben. Es handelt sich um Auffassungsperspektiven, die verschieden sind, weil wir unterschiedliche Biografien haben. Die Relevanzen sind also unterschiedlich, aber trotz dieser Unterschiedlichkeit gehen wir zunächst davon aus, dass der andere die Welt in einer für praktische Zwecke ausreichenden identischen Weise deutet. Natürlich können wir uns dabei irren. Dann müssen wir uns reflexiv oder diskursiv über unsere unterschiedlichen Relevanzen verständigen, aber die Idealisierung gilt solange, bis es zu offenkundigen Missverständnissen kommt. (b) Mit der ›Idealisierung der Austauschbarkeit der Standpunkte‹ bezieht sich Schütz nicht auf divergente Perspektiven. In Kommunikationen unterstellen wir, dass der andere, wenn er meinen Standort einnehmen würde, die Dinge genauso sehen würde wie ich. Dabei handelt es sich nicht um einen trivialen Sachverhalt. Denn wie könnten die Informationen, die mir jemand mitteilt, von mir verstanden und als Prämisse meines weiteren Handelns und Erlebens akzeptiert werden, wenn ich nicht unterstellen würde, dass ich, wenn ich seinen Platz eingenommen hätte, diese Informationen auch hätte erfahren können? »Ich setze es als selbstverständlich voraus, dass mein Mitmensch und ich typisch die gleichen Erfahrungen von der gemeinsamen Welt machen würden, wenn wir unsere Plätze austauschten, wenn sich also mein ›Hier‹ in sein ›Hier‹, und sein ›Hier‹, für mich jetzt noch ein ›Dort‹, in mein ›Hier‹ verwandelte.« (Schütz 1955 / 2004: 152) Diese idealisierende Unterstellung der Kongruenz der Erlebnisperspektiven unterstützt die idealisierende Unterstellung der Kongruenz der Relevanzperspektiven. Es handelt sich beide Male um kontrafaktische Idealisierungen, die bis zum Beweis des Gegenteils die Kommunikation und die wechselseitige Orientierung des Handelns und Erlebens ermöglichen. Die Generalthese der Reziprozität der Perspektiven nimmt in der Sozialtheorie von Schütz eine außerordentlich wichtige Position ein. Sie sorgt für die soziale Kohäsion und ist konstitutiv für soziale Ordnung. Sie reguliert Kommunikationen in der Weise, dass die unabstreitbaren Differenzen in den Auffassungsperspektiven zwischen Menschen bis auf Widerruf neutralisiert werden. Man kann davon ausgehen, dass man sich gegenseitig versteht-- eine eigentlich doch erstaunliche Unterstellung und Idealisierung. Nun gilt die Generalthese nicht uneingeschränkt. Sie setzt ein gemeinsames Wissen voraus. Aber die Gemeinsamkeit des Wissens wird durch vielerlei Formen von Differenzierungen in Frage gestellt. Es gibt unterschiedliche Kulturen, und die Angehörigen dieser Kulturen betrachten sich gegenseitig als ›Fremde‹. Es gibt soziale Differenzierungen zwischen unterschiedlichen Gruppen, Schichten, Berufen, Geschlechtern, Generationen. Schließlich gibt es auch Differenzierungen im Bereich des Wissens selbst. So ist jedermann in vielen Bereichen ein Laie, in manchen oder nur einem aber ein Experte. <?page no="89"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Schuetzeichel__Soziologische_Kommunikationstheorien(2)____[Druck-PDF]/ 13.08.2015/ Seite 90 90 4 Sozialphänomenologische Fundierungen 4.6 Appräsentationen Kommunikation, Sprache und Wissen beruhen auf Symbolen und Zeichen. Was aber sind Symbole und Zeichen? Sie stehen für etwas anderes als für sich selbst. Aber was heißt das genau? Zur Klärung dieser Frage bezieht sich Schütz (vgl. Schütz 1955 / 2004) auf Husserls Begriff der Appräsentation, der als Mitvergegenwärtigung übersetzt werden kann. Etwas mit-vergegenwärtigt etwas anderes. Wenn wir zum Beispiel ein Objekt in der Außenwelt wahrnehmen, so nehmen wir immer nur die Vorderseite dieses Objektes wahr, aber die Wahrnehmung ist gleichzeitig mit Erwartungen darüber verbunden, wie die Rückseite dieses Objektes ist. Wir nehmen einen Schrank wahr, sehen, dass er aus Buche gezimmert ist, dass er diese oder jene Maserung aufweist und diese oder jene Form besitzt. Wir sehen immer nur die uns zugewandte Seite, bilden aber gleichzeitig Erwartungen darüber aus, wie die Rückseite des Schrankes aussehen könnte, Erwartungen, die natürlich enttäuscht werden können. Wie auch immer-- wir haben es in der Wahrnehmung mit einer Paarung von einer appräsentierenden und einer appräsentierten Seite zu tun. Und diese Appräsentationsbeziehung gilt auch für andere Bewusstseinsleistungen. Wir erinnern uns daran, wie wir das erste Mal an einem Meeresstrand standen, und schon steigt uns der Geruch von Salzwasser in die Nase. Oder wir lesen eine Zeile aus dem Roman unseres Lieblingsdichters, und schon kommen in uns Fantasievorstellungen oder Träume darüber auf, wie es wäre, wenn wir an der Stelle des Romanhelden wären. Es handelt sich um Beziehungen zwischen etwas, das uns in seiner Präsenz evident ist, das auf etwas, was nicht präsent ist, verweist, dieses weckt oder hervorruft. Nach Husserl beruhen alle Symbole und Zeichenformen auf solchen Appräsentationsbeziehungen. Signitive Beziehungen sind Sonderfälle von Appräsentationsbeziehungen. Es gibt natürlich unterschiedliche signitive Appräsentationsbeziehungen. Schütz nennt Merkzeichen, Anzeichen, Zeichen und Symbole. »Anzeichen, Merkzeichen, Zeichen und Symbole verweisen von einem gegenwärtig Gegebenen (um es genau festzuhalten: von einem aktuellen Wahrnehmungsdatum) auf ein gegenwärtig Nichtgegebenes.« (Schütz / Luckmann 1984: 181; Hervorh. weggel.) Die signitiven Appräsentationspaarungen sind von Schütz aber funktional definiert. Sie können in mehrfachen Stufungen vorkommen. Ein appräsentierter Gegenstand steht möglicherweise für einen Gegenstand, den er seinerseits appräsentiert. Ein Zeichen kann in einer anderen Paarung als Symbol fungieren und dieses wiederum in einer anderen Paarbeziehung als Signal. Es lassen sich Verkettungen appräsentativer Verweisungen bilden. Merkzeichen sind mnemonische Hilfsmittel, Kennzeichnungen, die ich vornehme, um mir bestimmte Dinge zu merken-- etwa das berühmte ›Eselsohr‹ als Lesezeichen in einem Buch. Sie lassen sich aber auch auf die Vorbereitung eines zukünftigen Zustandes beziehen- - etwa eine Kreidelinie, die markiert, dass ich diese oder jene Strecke gelaufen haben werde. Merkzeichen beziehen sich also auf zeitlich Abwesenwww.claudia-wild.de: <?page no="90"?> [UTB-M]__Schuetzeichel__Soziologische_Kommunikationstheorien(2)____[Druck-PDF]/ 13.08.2015/ Seite 90 www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Schuetzeichel__Soziologische_Kommunikationstheorien(2)____[Druck-PDF]/ 13.08.2015/ Seite 91 4.6 Appräsentationen 91 des, sie tranzendieren Erfahrungen der Zeit. Sie haben eine Bedeutung, die nur für mich relevant ist, und sind von daher willkürliche Setzungen. Anzeichen sind Appräsentationspaarungen zwischen Sachverhalten, die typischerweise zusammen auftreten-- beispielsweise ›Rauch‹ und ›Feuer‹. Anzeichen transzendieren Erfahrungen des Raumes, sie können sich auf räumlich Abwesendes beziehen. Anzeichen stehen also nicht mehr nur für subjektive Setzungen, sondern für objektiv verknüpfte Sachverhalten oder Ereignisfolgen, die aber wiederum nur subjektiv relevant sein müssen. Beide, Merkzeichen und Anzeichen, sind nicht notwendigerweise intersubjektiv; sie können auch eine Bedeutung nur für ein Subjekt haben. Dies ändert sich aber bei den beiden Klassen der Zeichen und Symbole. Den Begriff Zeichen reserviert Schütz (vgl. Schütz 1955 / 2004: 148 ff.) ausdrücklich für jene Klasse von appräsentativen Beziehungen, in denen ein Subjekt eine Mitteilung oder eine Kundgabe (also Anzeichen) als Zeichen für die ihm nicht präsenten und transparenten Bewusstseinszustände eines anderes Subjekts auffasst. Oder genauer beschrieben: Zeichen haben-- hier könnte man auf die entsprechenden Funktionen im Organon-Modell von Bühler verweisen- - nach Schütz (vgl. Schütz 1932 / 2004: 249 f.) eine Bedeutungs- und eine Ausdrucksfunktion. Zeichen finden sich in sozialen Beziehungen, in denen durch wechselseitiges Verstehen eine den Beteiligten gemeinsame kommunikative Umwelt geschaffen wird. Sie bezeichnen oder beziehen sich auf etwas, nämlich den Sachverhalt oder Gegenstand, für den sie stehen (Bedeutungsfunktion). Sie sind aber zugleich auch Ausdruck fremder Bewusstseinserlebnisse und mit einer Ausdrucksabsicht gesetzte Zeichen, was aber wiederum nicht heißt, dass jemand, der ein Zeichen versteht, stets auch immer die Ausdrucksfunktion berücksichtigen muss. Mit sozialem Handeln ist Kommunikation verbunden, und jegliche Kommunikation ist notwendigerweise auf Akte des Wirkens gegründet. Um mit anderen zu kommunizieren, muss ich offene Handlungen in der Außenwelt vollziehen, die von den anderen als Zeichen dessen interpretiert werden sollen, was ich übermitteln will. Gestikulieren, Sprechen, Schreiben usw. sind auf Körperbewegungen gegründet. (Schütz 1945 / 2003: 194) In pragmatischer Hinsicht, also um Zeichen verwenden zu können, ist es wichtig, Zeichen einem Zeichensystem zuzuordnen, einem Deutungsschema, welches Ego und Alter Ego in die Lage versetzt, das Zeichen selbst als Zeichen und möglicherweise auch das Zeichen in seiner Bedeutung zu setzen oder zu verstehen. Zeichen müssen also, wenn man sie verstehen will, auf schon bekannte Sinnzusammenhänge bezogen werden. Und dies in zweierlei Hinsicht. Man kann den objektiven Sinn von Zeichen, ihren subjektiven Ausdruckssinn und ihren okkasionellen Sinn unterscheiden. Der objektive Sinn von Zeichen wird durch seine Stellung in einem Zeichensystem konstituiert. Der objektive Sinn von Zeichen beruht also auf ihrer Bedeutungsfunktion-- sie haben eine spezifische Bedeutung unabhängig von den Zeichenbenutzern und abhängig nur von dem Zeichensystem, in welches sie integriert sind. Daneben haben <?page no="91"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Schuetzeichel__Soziologische_Kommunikationstheorien(2)____[Druck-PDF]/ 13.08.2015/ Seite 92 92 4 Sozialphänomenologische Fundierungen sie aber auch noch einen subjektiven oder okkasionellen Sinn. Der subjektive Sinn besteht in Folgendem: »Jeder einzelne, welcher ein Zeichen verwendet, mit ihm einem Anderen etwas bedeuten will oder dem von einem Anderem mit ihm etwas bedeutet wird, verbindet mit diesem Zeichen einen besonderen Sinn, der seinen Ursprung in dem besonderen Wie der erfahrenden Akte hat, in denen es sich für ihn in der Weise des Vorwissens konstituierte. Dieser Hintersinn oder Nebensinn umkleidet den objektiven Sinn des Zeichens als identischen Kern.« (Schütz 1932 / 2004: 256) Und neben dem subjektiven Sinn hat jedes Zeichen auch noch einen okkasionellen oder situationsspezifischen Sinn- - er hängt davon ab, in welcher kommunikativen Situation das Zeichen verwendet wird. Wenn Herr Schmidt aus dem Munde seiner Frau das Wort ›Sauerbraten‹ hört, dann hat dieses Zeichen einen subjektiven Sinn, der darin liegt, dass er mit dem entsprechenden Gegenstand schon anderweitige Erfahrungen gemacht hat, dass er ihn verabscheut oder was auch immer. Und der okkasionelle Sinn besteht eben darin, dass Frau Schmidt dieses Zeichen in der und der Situation erwähnt-- was will sie ihm sagen, wenn sie gerade in dieser Situation und in diesem Restaurant und an dem heutigen Abend auf Sauerbraten zu sprechen kommt? Mit der Unterscheidung von objektivem, subjektivem und okkasionellem Sinn nimmt Schütz eine alte und bedeutsame sprachphilosophische und semiotische Unterscheidung auf, die auch als Denotation und Konnotation, als Extension und Intension oder als Sinn und Bedeutung bekannt ist. Der subjektive Sinn wie auch der okkasionelle Sinn von Zeichen sind im Unterschied zum objektiven Sinn natürlich wiederum in ihrer vollen Adäquatheit und Sinnhaftigkeit nur dem Sinnsetzenden, dem Sprecher bewusst und bekannt. Die »Einheit der Rede« (Schütz 1932 / 2004: 258) ist in ihrer subjektiven Vermeintheit nur dem Redenden deutlich. »[Die Einheit der Rede, R. S.] konstituiert sich nur im Entwurf des Sinnsetzenden und ist dem Sinndeutenden, solange sie nicht entworfen und vollendet ist, in adäquater Erfassung prinzipiell unzugänglich. Der Deutende gewinnt nur Näherungswerte an das vom Redenden Gemeinte, die von seinem Vorwissen im jeweiligen Jetzt und So abhängen; denn auch die ›objektive‹ Erfassung der Rede gelingt erst, nachdem sie vollendet ist. Was hier Rede heißt, ob ein einzelner Satz, ein Buch, das Gesamtwerk eines Autors oder einer ganzen Literaturrichtung, was also jeweils letztes Deutungsschema für den Sinndeutenden ist, bleibt immer quaestio facti.« (Schütz 1932 / 2004: 258) Dagegen sind die objektiven Bedeutungen von Zeichen intersubjektiver Natur: »Zeichen sind intersubjektiv konstituiert-- und ein schon konstituiertes Zeichensystem wird intersubjektiv erworben. Die wesentliche Funktion von Zeichen in der Lebenswelt des Alltags ist die der Verständigung; sie geht über die Verstehensfunktion von Anzeichen und Merkzeichen hinaus.« (Schütz / Luckmann 1984: 192 f.) Zeichen konstituieren, da sie intersubjektiver Natur sind, Bedeutungen. Kommunikation ist auf die Voraussetzung angewiesen, dass die Interpretationsschemata und Relevanzsysteme in der kommunikativen Gemeinschaft in einem hohen Maße überwww.claudia-wild.de: <?page no="92"?> [UTB-M]__Schuetzeichel__Soziologische_Kommunikationstheorien(2)____[Druck-PDF]/ 13.08.2015/ Seite 92 www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Schuetzeichel__Soziologische_Kommunikationstheorien(2)____[Druck-PDF]/ 13.08.2015/ Seite 93 4.6 Appräsentationen 93 einstimmen (vgl. Schütz 1955 / 2004: 159) bzw. entsprechend standardisiert und typisiert sind. Es muss zudem die Generalthese der Reziprozität der Perspektiven vorausgesetzt werden. Aber dennoch bleibt der subjektive Sinn in seiner konkreten Vermeintheit unzugänglich. »Das Kommunikationssystem ermöglicht es mir in bestimmten Grenzen, durch den Gebrauch von Zeichen die cogitationes des Anderen zu erfassen und, unter bestimmten Umständen, sogar den Strom meiner inneren Zeit mit dem seinen in vollständigen Einklang zu bringen. Wie wir aber gesehen haben, ist eine vollkommen erfolgreiche Kommunikation nicht möglich. Eine unzugängliche Zone im Eigenleben des Anderen bleibt und transzendiert alle meine möglichen Erfahrungen.« (Schütz 1955 / 2004: 163) Zeichen stellen also Appräsentationsbeziehungen für drei Bereiche dar. Sie appräsentieren das Bewusstsein der anderen Menschen, sie ermöglichen als zeichenhaftes Medium die lebensweltliche Kommunikation, und sie sind bezogen auf die der Lebenswelt immanenten ›kleinen‹ Transzendenzen. Die Kommunikation von und mit Zeichen findet in der Alltagswelt, in der Welt der ›natürlichen Einstellung‹ statt. Davon ist eine weitere Klasse von Appräsentationsverweisungen unterschieden: die Symbole. »Es wurde betont, dass in allen Appräsentationsverweisungen der appräsentierte Gegenstand das jeweilige hic et nunc des Deutenden in spezifischer Weise transzendiert. Mit Ausnahme der symbolischen Appräsentation gehören jedoch die drei Elemente der Appräsentationsbeziehung- - das appräsentierte Glied des Paares und der Deutende-- zur gleichen Wirklichkeitsebene, nämlich zur ausgezeichneten Wirklichkeitsebene des Alltags. Die symbolische Verweisung aber ist dadurch gekennzeichnet, dass sie den geschlossenen Sinnbereich des Alltags transzendiert, und dass nur das appräsentierende Glied des Paares ihr angehört, während die Wirklichkeit des appräsentierten Glieds zu einem anderen geschlossenen Sinnbereich […] gehört. Wir können daher die symbolische Beziehung definieren, indem wir sagen, dass sie eine Appräsentationsbeziehung zwischen zwei Größen ist, die mindestens zu zwei geschlossenen Sinnbereichen gehört.« (Schütz 1955 / 2004: 182) Symbole transzendieren den geschlossenen Sinnbereich der Alltagswelt und verweisen aus dieser auf andere Sinnwelten. Symbole sind dementsprechend Appräsentationsbeziehungen, in denen das appräsentierende Element unserer Alltagswelt angehört, aber das, was appräsentiert wird, auf eine transzendente Sinnwelt hinweist. Die Symbole selbst sind Teil der Alltagswelt, aber sie verweisen auf etwas, was die Alltagswelt transzendiert. Prototypisch stehen hierfür etwa religiöse Symbole, im Christentum beispielsweise das Kreuz. Aber auch andere Sinnbereiche wie die Wissenschaft oder die Kunst zeichnen sich durch eigene Symbolwelten aus. Und dies gilt insbesondere für die Welten, in denen wir uns befinden, wenn wir träumen oder fantasieren. Nur in dem geschlossenen Sinnbereich der Alltagswelt ist Kommunikation über die symbolisierten Sinnregionen möglich. Wir können unsere religiösen Erfahrungen oder unsere wissenschaftlichen Erkenntnisse, unsere Träume oder Fantasien nur symbolisieren, <?page no="93"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Schuetzeichel__Soziologische_Kommunikationstheorien(2)____[Druck-PDF]/ 13.08.2015/ Seite 94 94 4 Sozialphänomenologische Fundierungen und wir müssen sie symbolisieren, damit wir über sie kommunizieren können. Das ist der Grund, weshalb Schütz die Lebens- oder Alltagswelt, in welcher wir kommunikativ aufeinander bezogen sind, als die ausgezeichnete Wirklichkeit bezeichnet. Zeichen oder Symbole stellen also Paare von appräsentierenden und appräsentier ten Komponenten dar. Sie transzendieren gegebene Ordnungen und stellen Verweisungen zu anderen Ordnungen her. Flaggen (als physikalischer Gegenstand) symbolisieren Staaten, Eselsohren verweisen auf Lektüreunterbrechungen, Worte auf entsprechende Bewusstseinszustände oder auf die bedeuteten Gegenstände. Alle signitiven Appräsentationsbeziehungen können strukturell durch vier schematische Ordnungen gekennzeichnet werden. Diese Schemata stellen allgemeine, fundamentale Ordnungen dar, die bei jeder Zeichen- oder Symbolverwendung vorausgesetzt werden. Apperzeptionsschema: wirkt im Wahrnehmungsbereich, zu dem der appräsentierende Bestandteil gehört, wobei jedoch von der Appräsentationsbeziehung als solcher abgesehen wird. Eine Fahne wird in dieser Hinsicht nicht als Fahne, sondern als bloßes Tuch genommen und gehört somit zur Klasse aller Tücher. Appräsentationsschema: stellt den Bereich der Gegenstände dar, zu denen der appräsentierende Bestandteil als Glied der Appräsentation, also der Mitverweisung auf den appräsentierten Sachverhalt gehört. Eine Fahne ist dann nicht mehr nur ein Tuch, sondern Element der Klasse aller Symbole, die als ›Fahne‹ bezeichnet werden können. Verweisungsschema: öffnet den Bereich der Gegenstände, zu denen der appräsentierte Sachverhalt oder Gegenstand gehört. Also ›Ehre‹, ›Patriotismus‹, ›Kollektivgeschichte‹ etc. als appräsentierte Sachverhalte einer Fahne als Fahne (und nicht als Tuch). Deutungs- oder Rahmenschema: gibt den situativen Rahmen wider, in welchem die Appräsentationsbeziehung stattfindet. Zeichen oder Symbole können trotz identischer Verweisungsschemata in unterschiedlichen Situationen Unterschiedliches bedeuten. Eine Fahne auf dem Dach eines Parlamentsgebäudes oder als Stander an der Karosse von Staatsfahrzeugen symbolisiert etwas anderes als eine Fahne, mit der man in eine militärische Auseinandersetzung zieht oder welche bei der Besteigung eines Berges gehisst wird. Bei diesen Schemata handelt es sich um analytische Unterscheidungen, auf denen jede Zeichen- oder Symbolverwendung aufruht, die aber als solche nur selten in den Blick kommen. 4.7 Lebenswelt, Sprache und Kommunikation Um die von Schütz vorgenommene begriffliche Differenzierung von Zeichen und Symbolen nachvollziehen zu können, müssen wir einen kurzen Blick auf die Gliederungen der Sozialwelt und ihrer Stellung unter den verschiedenen Sinnwelten werfen. Die Sozialwelt ist die Lebens- oder Alltagswelt. Es ist die Welt, die uns vorgegeben ist, <?page no="94"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Schuetzeichel__Soziologische_Kommunikationstheorien(2)____[Druck-PDF]/ 13.08.2015/ Seite 94 www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Schuetzeichel__Soziologische_Kommunikationstheorien(2)____[Druck-PDF]/ 13.08.2015/ Seite 95 4.7 Lebenswelt, Sprache und Kommunikation 95 die uns tradiert wird, in welcher wir den Dingen in einer natürlichen Einstellung zugewandt sind. Diese Welt teile ich mit Mitmenschen, die mich zu bestimmten Handlungen und Erlebnissen bewegen wollen, und umgekehrt. Diese Welt ist eine intersubjektive. Sie wird in Kommunikationen hergestellt. »Die Wissenschaften, die menschliches Handeln und Denken deuten und erklären wollen, müssen mit einer Beschreibung der Grundstrukturen der vorwissenschaftlichen, für den-- in der der natürlichen Einstellung verharrenden-- Menschen selbstverständlichen Wirklichkeit beginnen. Diese Wirklichkeit ist die alltägliche Lebenswelt. Sie ist der Wirklichkeitsbereich, an der der Mensch in unausweichlicher, regelmäßiger Wiederkehr teilnimmt. Die alltägliche Lebenswelt ist die Wirklichkeitsregion, in die der Mensch eingreifen und die er verändern kann, indem er in ihr durch die Vermittlung seines Leibes wirkt. Zugleich beschränken die in diesem Bereich vorfindlichen Gegenständlichkeiten und Ereignisse, einschließlich des Handelns und der Handlungsergebnisse anderer Menschen, seine freien Handlungsmöglichkeiten. Sie setzen ihm zu überwindende Widerstände wie auch unüberwindliche Schranken entgegen. Ferner kann sich der Mensch nur innerhalb dieses Bereichs mit seinen Mitmenschen verständigen, und nur in ihm kann er mit ihnen zusammenwirken. Nur in der alltäglichen Lebenswelt kann sich eine gemeinsame kommunikative Umwelt konstituieren. Die Lebenswelt des Alltags ist folglich die vornehmliche und ausgezeichnete Wirklichkeit des Menschen.« (Schütz / Luckmann 1979: 25) Schütz’ Auffassung von der Lebenswelt unterscheidet sich in mehreren Punkten deutlich von dem ursprünglichen Verständnis bei Husserl (vgl. Welter 1986). Man kann cum grano salis folgende Bedeutungskomplexe ausmachen: • Lebenswelt ist zum einen die Welt des in Betracht stehenden Subjekts-- sie ist Welt meines Lebens; • Lebenswelt integriert die Wirklichkeitsvorstellungen einer kulturellen Gemeinschaft, die in dem Wissensvorrat niedergelegt sind; • Lebenswelt kann auf das Alltagsleben einer kulturellen Gemeinschaft bezogen sein-- sie stellt den ›common sense‹ einer Gemeinschaft dar, der sich von den Spezialwelten dieser Gemeinschaft absondert; • Lebenswelt kann umfassend als Boden und als Horizont der invarianten Dimensionen des subjektiven und intersubjektiven Sinnerlebens bezeichnet werden; • und schließlich kann auch-- und dies ist wohl die häufigste Bedeutung-- der Wirklichkeitsbereich gemeint sein, den man in seiner natürlichen Einstellung als fraglos gegeben hinnimmt. Zu diesen fraglosen Gegebenheiten, die konstitutiv für die natürliche Einstellung in der Lebenswelt sind, gehören zum Beispiel die Existenz anderer Menschen, die Unterstellung, dass die Dinge, Gegebenheiten und Ereignisse für sie die gleiche Bedeutung haben wie für mich, dass ich mich mit anderen Menschen verständigen kann oder dass ich pragmatisch auf die Dinge bezogen bin. Diese fraglose Welt ist durch eine spezifische Urteilsenthaltung oder Epoche gekennzeichnet, wie der Fachterminus lautet, nämlich diejenige, nicht an seinen <?page no="95"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Schuetzeichel__Soziologische_Kommunikationstheorien(2)____[Druck-PDF]/ 13.08.2015/ Seite 96 96 4 Sozialphänomenologische Fundierungen Wahrnehmungen und seinen Urteilen zu zweifeln. Die Welt ist so, wie sie einem erscheint (vgl. Schütz 1945 / 2003: 205). Nach Schütz weist die Lebenswelt verschiedene primordiale Strukturierungen auf. In zeitlicher Hinsicht ist die Lebenswelt in die Dimensionen der Vergangenheit, der Gegenwart und der Zukunft (mit ihren subjektiven Korrelaten der Erinnerung, der Erfüllung und der Erwartung) gegliedert, in sachlicher Hinsicht in die pragmatisch relevanten Zonen der aktuellen, der wiederherstellbaren und der potenziellen Reichweite. Besonders relevant für unseren Zusammenhang ist die Gliederung in sozialer Hinsicht nach Mitmenschen (soziale Umwelt), Nebenmenschen (soziale Mitwelt) und Vorfahren (soziale Vorwelt). Man kann auch, ohne dass sich dieser Terminus bei Schütz selbst wiederfindet, von unterschiedlichen Regionen kommunikativer Zugänglichkeit sprechen. In der natürlichen Einstellung bildet der Platz, an dem ich mich befinde, gleichsam den Nullpunkt des Koordinatensystems, in welchem diese Regionen aufgespannt sind. Die Welt, die mir durch Wahrnehmung zugänglich ist, stellt die Welt in meiner aktuellen Reichweite (vgl. Schütz 1955 / 2004: 141 ff.) dar. Sie umfasst alle Gegenstände und Personen, die sich in Hör- und Sehweite befinden. Ausgehend von diesem Nullpunkt unterscheidet Schütz alltagsweltliche Regionen anhand des Kriteriums der kommunikativen Zugänglichkeit und Erreichbarkeit der Handelnden füreinander. Demzufolge kann man eine soziale Umwelt von einer sozialen Mitwelt und einer sozialen Vorwelt unterscheiden. Zu der sozialen Umwelt von Ego gehören alle Akteure, die für Ego direkt erreichbar sind, die sich mit Ego also gleichzeitig in einer Situation der unmittelbaren Kommunikation befinden. Schütz charakterisiert diese Face-to-Face-Beziehung in zeitlicher Hinsicht als ein Geschehen in einer gemeinsamen lebendigen Gegenwart (vgl. Schütz 1945 / 2003: 195). Die soziale Mitwelt wird von den Akteuren konstituiert, die sich zwar mit Ego nicht gleichzeitig in einer Situation befinden, wohl aber grundsätzlich für ihn kommunikativ ansprechbar sind. Der sozialen Vorwelt gehören alle Akteure an, die vor Ego gelebt haben und deshalb für ihn nur noch durch deren Hinterlassenschaften und Zeugnisse kommunikativ erreichbar sind. Diese interne Strukturierung der Lebenswelt in Umwelt, Mitwelt und Vorwelt anhand der Kriterien der ›Reichweite‹ von Ego oder der ›Erreichbarkeit‹ von Alter durch Ego kann medientheoretisch, wie Knoblauch (vgl. Knoblauch 1995 und 2001) zeigt, zugespitzt werden. Knoblauch unterscheidet drei mögliche Kontexte von kommunikativen Handlungen. Sie können entweder einem unmittelbaren Interaktionskontext, einem mediatisierten Kontext oder einem durch Symbole konturierten gesellschaftlichen Kontext zugeordnet werden. Im unmittelbaren Interaktionskontext oder in der Face-to-Face-Interaktion findet eine sehr dichte nonverbale sowie verbale Kommunikation statt. Der mediatisierte Kontext ist dadurch gekennzeichnet, dass <?page no="96"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Schuetzeichel__Soziologische_Kommunikationstheorien(2)____[Druck-PDF]/ 13.08.2015/ Seite 96 www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Schuetzeichel__Soziologische_Kommunikationstheorien(2)____[Druck-PDF]/ 13.08.2015/ Seite 97 4.7 Lebenswelt, Sprache und Kommunikation 97 kommunikative Handlungen durch technische Apparaturen zeitlich und räumlich distribuiert werden können. Und der gesellschaftliche Kontext wird durch das Medium der Symbole charakterisiert, auf die man in der Kommunikation interaktiv oder durch Massenmedien vermittelt Bezug nimmt. Wichtig für die Kommunikationstheorie von Schütz ist die Feststellung, dass die Alltagswelt sich durch Intersubjektivität und Kommunikation auszeichnet und ihre Regionen sich an dem Kriterium der kommunikativen Zugänglichkeit und Erreichbarkeit differenzieren lassen. Die Alltagswelt ist diejenige Welt, in der kommunikativ eingesetzte Zeichen die Funktion haben, uns die appräsente Bewusstseinswelt der anderen präsent zu machen. Wir erleben einzelne Mitmenschen und ihre Bewusstseinsakte (cogitationes) als Wirklichkeiten in der Welt des Alltags. Sie sind in unserer aktuellen oder potenziellen Reichweite, und wir haben mit ihnen durch Kommunikation eine gemeinsam verständliche Umwelt oder könnten sie jedenfalls jederzeit haben. Wir können zwar diese einzelnen Mitmenschen und ihre Bewusstseinsakte nur durch das schon beschriebene System von Appräsentationsverweisungen in Analogie erfassen, und in diesem Sinne transzendiert die Welt des anderen die meine; doch handelt es sich hier um eine ›immanente Transzendenz‹, die noch immer innerhalb der Wirklichkeit unseres Alltags liegt. Folglich gehören beide Elemente der Appräsentationsbeziehung, durch die wir diese Transzendenz erfassen, zum gleichen geschlossenen Sinnbereich, nämlich zur ausgezeichneten Wirklichkeit des täglichen Lebens. (Schütz 1955 / 2004: 193; Hervorh. weggel.) Die Alltags- oder Lebenswelt unterscheidet sich von den anderen Sinnregionen darin, dass sie eine kommunikative Welt ist. Sie stellt das Medium bereit, welches Kommunikation ermöglicht, nämlich die Umgangssprache. Diese spiegelt das Relevanzsystem einer sozialen Gemeinschaft und stellt somit die mediale Grundlage für die alltäglichen Kommunikationen dar. Die Sprache, so hatten wir schon gesagt, hält ein Reservoir von Typisierungen, Standardisierungen und Idealisierungen vor, welches eine Reziprozität der Perspektiven erlaubt und somit Kommunikation erst ermöglicht. Das Relevanzsystem einer sozialen Gemeinschaft gibt in der sachlichen Dimension wieder, welche Dinge oder Sachverhalte überhaupt benannt oder ausgedrückt werden können oder welche Eigenschaften den Dingen zugesprochen werden. Kurz, in der Sprache manifestiert sich die Ontologie einer sozialen Gemeinschaft. In sozialer Hinsicht ist das Relevanzsystem der Umgangssprache dafür verantwortlich, dass sie den Kommunikationsteilnehmern eben mithilfe der Idealisierung der Übereinstimmung der Relevanzsysteme ein gemeinsames Medium an die Hand gibt und sie zu der Überzeugung kommen lässt, dass der andere die Welt genauso erlebt wie ich. Sie können ihre privaten, subjektiven Erfahrungen durch typisierende sprachliche Konstruktionen ausdrücken. Dabei gehen Kommunikationsteilnehmer bei ihren Mitteilungsakten so vor, dass sie durch Perspektivenübernahme abschätzen, wie ihre Mitteilung von den Adressaten <?page no="97"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Schuetzeichel__Soziologische_Kommunikationstheorien(2)____[Druck-PDF]/ 13.08.2015/ Seite 98 98 4 Sozialphänomenologische Fundierungen interpretiert werden könnte. Sie selektieren ihre kommunikativen Handlungen nach den von ihnen den Adressaten unterstellten Deutungs- und Interpretationsschemata: »Das bei Kommunikation gebrauchte Zeichen wird vom Kommunizierenden immer im Sinne der zu erwartenden Deutung durch den Adressaten vorgedeutet […]. Der Kommunizierende muß daher sozusagen die zu erwartende Deutung durchprobieren.« (Schütz 1955 / 2004: 159) Aber auch hier gilt wieder die phänomenologische Grundprämisse: Kommunikation setzt zwar die Kongruenz der Relevanz- und Deutungsschemata in einem notwendigen und hinreichenden Maße voraus. Dennoch ist diese Kongruenz niemals vollkommen. Es handelt sich um Idealisierungen, da der ›subjektiv gemeinte Sinn‹ im egologischen Bewusstsein der Akteure konstituiert wird und von außen nicht adäquat rekonstruiert und verstanden werden kann. Von daher sind auch die Mittel der Kommunikation, die Sprache und ihre Zeichen, niemals für die Kommunikationsteilnehmer in ihrer Bedeutung identisch. Schütz unterscheidet zwischen dem Bedeutungskern und den Bedeutungsrändern, die er mit William James als ›fringes‹ oder ›offene Ränder‹ bezeichnet. »Das Wörterbuch enthält nur den Kerngehalt der Wortbedeutungen, die von ›offenen Rändern‹ umgeben sind. Es sei hinzugefügt, dass diese offenen Ränder verschiedenartig sind: Manche entstammen einem rein persönlichen Sprachgebrauch; andere entstehen im Zusammenhang der Rede, in der die Ausdrücke verwendet werden; wiederum andere sind abhängig von der Person, mit der man spricht, oder von der Situation, in der das Gespräch stattfindet, oder von dem Zweck der Mitteilung oder auch von den jeweils vorliegenden und zu lösenden Problemen. Was hier von der Sprache gesagt wird, gilt ganz allgemein für alle Arten appräsentativer Verweisungen. Sowohl in der Kommunikation als auch in jedem anderen sozialen Verkehr enthalten appräsentative Verweisungen, sofern sie von der Gesellschaft gebilligt sind, lediglich einen von offenen Rändern umgebenden Kern.« (Schütz 1955 / 2004: 190) Da die Alltags- oder Lebenswelt der Ort und der Hort der Kommunikation und der Verständigung zwischen Menschen ist, stellt sie nach Schütz die ausgezeichnete Sinnwelt dar. Andere Sinnbereiche gehören jedoch nicht der Alltagswelt an. Schütz erwähnt sowohl soziale Sinnwelten wie Kunst und Religion, Politik und Wissenschaft, wie auch subjektive Sonderwelten wie Träume und Fantasien oder die Welt des Kinderspiels. Obwohl sie auf gedanklichen Konstruktionen der Alltagswelt beruhen, haben sie ihre Wirklichkeit in einem geschlossenen Sinnbezirk. Es handelt sich um geschlossene Sinnbereiche, die sich von der Alltagswelt in verschiedenen Dimensionen unterscheiden. So haben sie einen anderen Wirklichkeits- und Erkenntnisstil. Nehmen wir etwa den Sinnbereich der Wissenschaft. Im Unterschied zur natürlichen Einstellung, in welcher wir uns auf die Dinge so beziehen, wie sie uns erscheinen, wird in der Wissenschaft die Methodik des Zweifels zum Prinzip erhoben. Die Wissenschaft ist von den Relevanzsystemen, die in der natürlichen Einstellung gelten, abgelöst. Dies gilt auch für einen anderen Sinnbereich, den wir beispielhaft anführen können. Unser Träumen <?page no="98"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Schuetzeichel__Soziologische_Kommunikationstheorien(2)____[Druck-PDF]/ 13.08.2015/ Seite 98 www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Schuetzeichel__Soziologische_Kommunikationstheorien(2)____[Druck-PDF]/ 13.08.2015/ Seite 99 4.8 Kommunikative Gattungen 99 unterscheidet sich von der natürlichen Einstellung des Alltagslebens dadurch, dass wir es nicht in einer bestimmten Absicht tun und auch nicht nach einem bestimmten Entwurf. Wir können nicht planen, was wir träumen. Auch innerhalb der sozialen Sonderwelten wird natürlich kommuniziert, es bilden sich Fachsprachen heraus, die aber ihr Fundament in der Alltagssprache der Lebenswelt haben. Denn Kommunikation ist nur dann möglich, wenn von Personen oder sozialen Gruppen im Wesentlichen gleiche Relevanzsysteme geteilt werden, die sich in einer gemeinsamen Sprache manifestieren. Je unterschiedlicher die Relevanzsysteme, desto schwieriger die Verständigung. Aber auch noch so kongruente Relevanzsysteme können im Unterschied zu dem objektiven Sinn oder dem Kerngehalt von Bedeutungen weder den okkasionellen noch subjektiven Sinn bzw. die ›fringes‹ abdecken. Sprachen weisen aber eine soziale Verteilung auf. In vertikaler Hinsicht manifestieren sich soziale Ungleichheiten in unterschiedlichen Sprachgemeinschaften, und in horizontaler Hinsicht weisen Expertenwelten Sondersprachen auf. 4.8 Kommunikative Gattungen Das Erkenntnisinteresse der sozialphänomenologischen Soziologie besteht in einer Rekonstruktion der gesellschaftlichen Wirklichkeit, in einer Rekonstruktion des typischen Sinns typischer Handlungen in typischen sozialen Welten. Die gesellschaftliche Wirklichkeit ist vor aller Soziologie schon konstituiert und konstruiert durch den Sinn, an dem die Gesellschaftsmitglieder sich in ihrem Tun typisch orientieren. Die Aufgabe der Soziologie besteht also in einer Rekonstruktion der Konstruktionen, die von den Gesellschaftsmitgliedern in ihrem Alltag vorgenommen werden. Diese Konstruktionen sind, wie schon Schütz in seiner Untersuchung der Typisierungen herausstellte, vornehmlich in der Sprache und im Wissen abgelagert. Beide, Sprache und Wissen, bilden damit den hauptsächlichen Untersuchungsgegenstand der sozialphänomenologischen Soziologie. Dabei gilt das Interesse von Luckmann, seinen Mitarbeitern und Schülern der wissenssoziologischen Frage nach der gesellschaftlichen Konstruktion der Wirklichkeit, die in und durch die sprachliche Kommunikation vorgenommen wird. Sprachen spiegeln nicht die Welt wider, sondern sie produzieren Welten. Oder in den Worten von Knoblauch: »Unablässig und schier pausenlos scheinen die Menschen zu reden, zu schreiben, zu lesen, in Bildschirme hineinzustarren oder auf Tastaturen zu drücken. Wenn wir dann noch das vielfältige Repertoire an nichtsprachlichen Zeichen berücksichtigen, das von unzähligen Pendel- und Wünschelrutenformen über die Codes des politisch korrekten Benehmens oder die geheimnisvollen Zahlenreihen der Bank-Computer bis hin zur geschlechtsmarkierten Kleiderordnung reicht, können wir schwer umhin, die Lebenswelt als ein Reich der Kommunikation zu betrachten. Diese Beobachtung erscheint nur unspektakulär, betrachtet man die Kommunikation lediglich als einen <?page no="99"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Schuetzeichel__Soziologische_Kommunikationstheorien(2)____[Druck-PDF]/ 13.08.2015/ Seite 100 100 4 Sozialphänomenologische Fundierungen Spiegel, in dem gesehen werden kann, was ›eigentlich‹ geschieht. Wir gehen hier jedoch davon aus, dass die vielfältigen kommunikativen Handlungen nicht lediglich widerspiegeln, was geschieht und getan wird, sondern das Instrument sind, mit dem diese Wirklichkeiten geschaffen, aufrechterhalten und verändert werden, und dass sich eine jede dieser Wirklichkeiten je besonderer Instrumente bedient.« (Knoblauch 1996: 8) Luckmann (2002b: 162) unterscheidet zwischen der unmittelbaren und der mittelbaren Kommunikation. Die unmittelbare Kommunikation ist die sprachliche Kommunikation, in welcher sich die Kommunikanden in wechselseitiger Reichweite gegenüberstehen, in welcher sie füreinander präsent sind. Die mittelbare ist diejenige Kommunikation, in welcher technische Hilfsmittel wie Buchdruck oder elektronische Medien den Kommunikationsprozess massenmedial strukturieren. Das besondere Interesse gilt jedoch den unmittelbaren Kommunikationsformen sogenannter kommunikativer Lebenswelten wie spezifischer sozialer Gruppen, Organisationen oder Milieus. Im Vordergrund steht hierbei die Analyse von sogenannten kommunikativen Gattungen. Im Alltag machen wir uns unser Handeln und Erleben durch Handlungs- und Erfahrungsbeschreibungen intelligibel. Solche Beschreibungen können ihrerseits wiederum typisch unterschieden werden. Wir wissen im Alltag zum Beispiel zwischen Tischgesprächen in Familien und Klatschgesprächen mit Bekannten auf der Straße, Zeugenaussagen vor Gericht und Vorstellungsgesprächen, psychotherapeutischen Interventionen und religiösen Beichten, Berichterstattungen in der Presse und Erzählungen von Romanciers, Predigten und Werbungen, Beratungen und Belehrungen zu differenzieren. Bei all diesen und der Unzahl weiterer ähnlicher handelt es sich um soziale Situationen, die sich in ihrer Typik unterscheiden, für die aber allgemein charakteristisch ist, dass Wissen in einer geordneten Weise kommunikativ produziert, vermittelt und tradiert wird. Luckmann (vgl. Luckmann 1986) nennt diese Ordnungen ›kommunikative Gattungen‹. Er unterscheidet sie von dem spontanen kommunikativen Handeln, welches sich nicht an vorgegebenen Mustern orientieren kann, sondern sich Schritt für Schritt etablieren muss. Kommunikative Interaktionen, die sich an Gattungen orientieren können, treten »wie Inseln im Fluss weniger streng strukturierter kommunikativer Prozesse« (Luckmann 2002c: 189) auf. Kommunikative Gattungen sind immer auf bestimmte soziale Problemlagen zugeschnitten. In vielen gesellschaftlichen Bereichen stellt sich das Problem, wie Ereignisse, Erfahrungen oder Sachverhalte thematisiert werden können. Wie kann man zum Beispiel voneinander Abschied nehmen? Wie begrüßt man sich? Wie kommuniziert man mit Trauernden? Und wie kommunizieren Trauernde? Diese Kommunikationen verlaufen nach einem Ordnungsprinzip oder einem festen Handlungs- und Interaktionsmuster. Sie zeichnen sich also dadurch aus, dass in ihnen bestimmte Verlaufspläne der Kommunikation bestehen, die von den einzelnen Beteiligten mit ihren eigenen Beiträgen ausgefüllt werden müssen. Kommunikative Gattungen geben in einer mehr oder minder verbindlichen Weise vor, wie man kommunikative oder <?page no="100"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Schuetzeichel__Soziologische_Kommunikationstheorien(2)____[Druck-PDF]/ 13.08.2015/ Seite 100 www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Schuetzeichel__Soziologische_Kommunikationstheorien(2)____[Druck-PDF]/ 13.08.2015/ Seite 101 4.8 Kommunikative Gattungen 101 außerkommunikative soziale Probleme auf einem kommunikativen Wege löst, indem man sich an bestimmten kommunikativen Abläufen orientiert. Kommunikative Gattungen strukturieren die Beiträge vor allem in zeitlicher Hinsicht-- sie strukturieren zeitliche Handlungsabläufe (vgl. Luckmann 2002c: 185). Somit können sie als kommunikative Institutionen aufgefasst werden. »[Im Gegensatz zu spontanen kommunikativen Handlungen (R. S.)] gibt es wohl in allen Gesellschaften kommunikative Handlungen, in denen sich der Handelnde schon im Entwurf an einem Gesamtmuster orientiert, als dem Mittel, das seinen Zwecken dient. Dieses Gesamtmuster bestimmt weitgehend die Auswahl der verschiedenen Elemente aus dem kommunikativen ›Code‹, und der Verlauf der Handlung ist hinsichtlich jener Elemente, die vom Gesamtmuster bestimmt sind, verhältnismäßig gut voraussagbar. Wenn solche Gesamtmuster vorliegen, zu Bestandteilen des gesellschaftlichen Wissensvorrats geworden und im konkreten kommunikativen Handeln erkennbar sind, wollen wir von kommunikativen Gattungen sprechen.« (Luckmann 1986: 201 f.) Es bedarf der Institutionalisierung, in welcher Situation eine kommunikative Gattung zur Anwendung kommt, es kann die soziale Rolle, das Geschlecht, der Status der Kommunikationspartner vorgegeben sein, das Wechselspiel oder den Redezugwechsel der kommunikativen Beiträge (z. B. Reden und Schweigen, Sprechen und Hören, Vorsinger und Nachbeter). Kommunikative Gattungen schreiben die Anfänge, die Verlaufsformen und die Beendigungsmuster vor. Und sie bestimmen nicht nur die kommunizierbaren Themen, sondern sie reichen bis auf die phonologische Ebene, legen Syntax und Semantik der Äußerungen fest, berühren Fragen der Prosodie und sehen insbesondere bestimmte Kommunikationssequenzen vor. Kommunikative Gattungen unterscheiden sich untereinander durch die Rigidität, mit der solche Strukturmerkmale reglementiert werden. Die Kommunikationen selbst sind (vgl. Günthner / Knoblauch 1997) natürlich in ihrem Ablauf und ihrer Ordnung nicht durch die Regeln der jeweiligen Gattungen determiniert. Sondern sie dienen nur als Orientierungsrahmen für die Produktion und das Verstehen von kommunikativen Handlungen. Es wird zwischen der Binnen- und der Außenstruktur kommunikativer Gattungen sowie einer strukturellen Zwischenebene zwischen beiden unterschieden. Zur ihrer Binnenstruktur gehören die je typischen Ordnungsmuster, die die Selektion der Themen und der Mitteilungsformen bestimmen, aber auch die rein sprachlichen Merkmale: Fragen der Prosodie (Sprechgeschwindigkeit, Lautstärke, Intonation u. a.), Fragen der Sprachvarietät (Jargon, Dialekt, Soziolekt oder Hochsprache), der verwendeten stilistischen Figuren und andere interne Unterscheidungsmerkmale. Zur Zwischenstruktur gehören jene Ordnungsmuster, die in sozialer Hinsicht die Ordnung und Abfolge der kommunikativen Sequenzen in spezifischen Situationen ordnen. Wie sieht die Redeabfolge, das ›turn-taking‹ aus, welche Strategien können legitimerweise verfolgt werden? Zur Außenstruktur werden all jene Kriterien gezählt, die das Verhältnis der kommunikativen Gattung zu ihrer sozialstrukturellen Umwelt ausmawww.claudia-wild.de: <?page no="101"?> [UTB-M]__Schuetzeichel__Soziologische_Kommunikationstheorien(2)____[Druck-PDF]/ 13.08.2015/ Seite 102 102 4 Sozialphänomenologische Fundierungen chen. In welchen gesellschaftlichen Situationen und Kontexten, welchen Milieus, welchen Rollen werden welche Formen von kommunikativen Gattungen verlangt? Führen wir uns dies am Beispiel der von Bergmann (1994) untersuchten kommunikativen Gattung der Grußbotschaften vor Augen. Im Unterschied zu wechselseitigen Begrüßungen, die sich in einer interaktiven sozialen Beziehung abspielen, sind Grußbotschaften übermittelte Grüße. Es handelt sich um Grüße an jemanden, um deren Ausrichtung man jemanden anderen bittet. Die empirische Kommunikationssoziologie untersucht, welche strukturellen Merkmale für solche Grußbotschaften charakteristisch sind. Bergmann stellt eine zweiphasige Struktur solcher Botschaften heraus: Die erste Phase besteht in der Auftragserteilung, in welcher die Bitte geäußert oder der Auftrag erteilt wird, Grüße an jemanden auszurichten. Die zweite Phase besteht in der Auftragsausführung, in welcher die Grüße übermittelt werden. Die erste Phase beginnt mit einem Wunsch, einer Bitte, einem Auftrag, und sie wird beschlossen nicht durch einen Gegengruß, sondern durch eine Art der Bestätigung der empfangenen Botschaft. Es gibt in Gesprächssituationen unterschiedliche Positionen, in denen um die einseitige oder wechselseitige Ausrichtung von Grußbotschaften gebeten werden kann. Sie finden sich sehr häufig am Ende eines Gesprächs oder einer Konversation, manchmal aber auch in der Mitte, wenn sie mit einer sachlichen Angelegenheit gekoppelt werden. Auch für die zweite Phase gelten in der Regel strukturierte Abläufe. So erwidert man auf eine überbrachte Grußbotschaft nicht selbst mit einem Gruß, sondern man nimmt sie zur Kenntnis, manchmal aber auch nicht. Das Überbringen von Grußbotschaften ist, wie Bergmann (1994: 206) dies beschreibt, »heimatlos«- - diese Botschaften haben keine festen Ort in einer Konversation, in einem Gespräch, man kann sie an jeder Stelle einfließen lassen. Dies hat zur Folge, dass ihre Übermittlung auch oft vergessen wird: »Im Vergleich zur kommunikativen Gattung der Begrüßung erscheint die kommunikative Form der Übertragung von Grußbotschaften wie ein weitläufiger, etwas schäbiger Verwandter ohne festen Wohnsitz.« (Bergmann 1994: 206 f.) Grußbotschaften haben die Funktion, bestehende soziale Beziehungen auch dann zu aktivieren, wenn man keinen unmittelbaren Kontakt zueinander hat. Sie können nach Bergmann eingesetzt werden, um formalen oder geschäftlichen sozialen Beziehungen eine persönliche Note zu verleihen, sie dienen der »rituellen Verpersönlichung geschäftlicher Sozialbeziehungen« (Bergmann 1994: 213). Oder man kann sie dazu nutzen, soziale Beziehungen herzustellen. Kommunikative Gattungen wie Grußbotschaften stehen natürlich nicht isoliert da. Sie werden in vielen sozialen Bereichen mit anderen Gattungen kombiniert. So ist zum Beispiel für familiäre Tischgespräche charakteristisch, dass sie viele verschiedene kommunikative Gattungen miteinander regelgeleitet verbinden und koordinieren müssen (vgl. Keppler 1994). Kommunikative Gattungen bilden damit das Grundgerüst des kommunikativen Haushalts von Gruppen und Gesellschaften. Mit dem metaphorischen Begriff des kommunikativen Haushalts benennt Luckmann all jene gattungsmäßig institutionalisierten, aber auch <?page no="102"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Schuetzeichel__Soziologische_Kommunikationstheorien(2)____[Druck-PDF]/ 13.08.2015/ Seite 102 www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Schuetzeichel__Soziologische_Kommunikationstheorien(2)____[Druck-PDF]/ 13.08.2015/ Seite 103 4.9 Zwischenbilanz 103 die spontanen, frei fließenden Kommunikationen, die für eine Gesellschaft eines bestimmten Typs charakteristisch sind. Nehmen wir ein anderes Beispiel: Wenn wir uns in Gesprächen über nicht anwesende Personen entrüsten oder mokieren, verwenden wir bestimmte feste kommunikative Muster, mithilfe derer man anderen signalisieren kann, was man gerade tut. Gerade an diesem Beispiel lässt sich studieren, wie sehr kommunikative Gattungen nicht nur der Kommunikation ihre Strukturierung geben, sondern auch die soziale Situation erst produzieren, damit die Kommunikation erfolgreich verlaufen kann. Kommunikative Gattungen kontextualisieren die Kommunikation, indem sie die sozialen Situationen, Rahmen oder Formen mitproduzieren, in denen die Kommunikation selbst stattfindet. Moralische Entrüstungen sind durch folgende strukturelle Merkmale gekennzeichnet: • Auf der lexikalisch-semantischen Ebene werden Terminologien gewählt, die negative Evaluationen zum Ausdruck bringen. • Auf der Ebene der Gesprächsorganisation werden Entrüstungen durch eine Äußerung eingeleitet, die ein noch niedriges, aber steigerbares Entrüstungsniveau impliziert. Es müssen disproportionale Sprach- und Sprechfiguren im weiteren Verlauf eingebaut werden, die erkennen lassen, dass jemand nicht nur moralisch gefehlt, sondern sich moralisch verwerflich verhalten hat. Dies wird durch Dramatisierungen erreicht, welche sich verschiedener rhetorischer Mittel bedienen kann. • Auf der Ebene der Prosodie wird die Kommunikation von moralischer Entrüstung durch rhythmisches Sprechen, dichter Akzentuierung, steigend-fallender und / oder fallend-steigender Intonation, Modifikation der Lautstärke und der Stimmqualität (gepresste Stimme) erreicht. Für das Sich-Mokieren über abwesende Personen in Dialogen sind folgende Formen maßgeblich: • Eine erste Person signalisiert zu der porträtierten Person Distanz, indem sie von ihr selbst abstrahiert und einem bestimmten Personentypus zuordnet. Das inkriminierte Verhalten sollte ironisiert oder durch Lachen missbilligt werden. • Eine zweite Person begleitet diese Aktivitäten selbst durch ein früh einsetzendes, besser wissendes Lachen und / oder durch missbilligende Formulierungen. 4.9 Zwischenbilanz Im Mittelpunkt der phänomenologischen Kommunikationstheorie stehen das Sozialitäts- und das Wissensproblem der Kommunikation. Die zentrale Problematik des Sozialitätsproblems bzw. das Problem des Verstehens von kommunikativen Handlungen und die kommunikative Transparenz des Fremdpsychischen ergeben sich aus <?page no="103"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Schuetzeichel__Soziologische_Kommunikationstheorien(2)____[Druck-PDF]/ 13.08.2015/ Seite 104 104 4 Sozialphänomenologische Fundierungen der phänomenologischen Konstitutionsproblematik, die trotz aller pragmatischen und lebensweltlichen Fundierungen den Ausgang in der Bewusstseinswelt nimmt. Die Lösung des Sozialitätsproblems liegt in der Wissensdimension: Über Typisierungen und Objektivationen wird ein als gemeinsam unterstelltes Wissen produziert, das Kommunikation und das Verstehen von kommunikativen Handlungen ermöglicht. Damit findet auch das prozessuale und das Selektionsproblem der Kommunikation seine Berücksichtigung: Denn durch Institutionalisierungen, insbesondere in der Form von kommunikativen Gattungen, lassen sich prozessuale Kommunikationspfade und strukturelle Bedingungen der Selektion von kommunikativen Handlungen identifizieren. Ein Schwerpunkt der sozialphänomenologischen Soziologie besteht in der Konstitutionsanalyse von Kommunikation. Dabei geht sie von einer Phänomenologie des Bewusstseins aus und stellt sich die Frage, welche Bedingungen gegeben sein müssen, damit Menschen miteinander kommunizieren können. Kommunikation gilt mit der kommunikativen Wende als Zentralbegriff der Soziologie. Kommunikation hat die Funktion der Koordination von Handlungen und der Synchronisierung des Bewusstseinslebens von Handelnden. Sie beruht auf einer komplexen Einheit sehr unterschiedlicher Bewusstseinsakte. Als Mittel der Kommunikation werden Zeichen bzw. das Zeichensystem der Sprache untersucht. Zeichen stellen eine Appräsentationsbeziehung dar, die von einem physisch wahrnehmbaren Substrat auf eine subjektive Sinnsetzung schließen lassen. Anders als die pragmatistische Tradition, die auf der Basis eines objektiven Kommunikationszusammenhangs die Bedingungen der Möglichkeit kommunikativen Handelns untersucht, geht die sozialphänomenologische Analyse von dem Bewusstseinsleben der Individuen aus und untersucht auf dieser Basis die Objektivierungs- und Institutionalisierungsprozesse, die Kommunikation ermöglichen und durch Kommunikation evoziert werden. Beide Theorietraditionen setzen also an unterschiedlichen Enden an-- während Mead, ausgehend von einem social act, die Prozesse der Verinnerlichung und Versubjektivierung untersucht, geht Schütz von dem Bewusstseinsleben der Individuen aus und untersucht Prozesse der Institutionalisierung und Verobjektivierung. Wie in der pragmatistischen Tradition, so wird auch in der Sozialphänomenologie eine subjektive Bedingung der Möglichkeit von Kommunikation vorausgesetzt. Sie besteht nicht in dem ›taking the attitude of the other‹, sondern in der Generalthese der Reziprozität der Perspektiven. Auch wenn es sich hierbei sicherlich um unterschiedliche Sachverhalte handelt, so besteht beider Funktion darin, Erwartungen sowie Erwartungen über Erwartungen zu bilden und zu stabilisieren. Deshalb kann man vorläufig formulieren, dass beide Theorietraditionen die Möglichkeit von Kommunikation an die Genese von stabilen Erwartungszusammenhängen binden. Solche werden insbesondere in Gestalt von kommunikativen Gattungen und Topiken untersucht. <?page no="104"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Schuetzeichel__Soziologische_Kommunikationstheorien(2)____[Druck-PDF]/ 13.08.2015/ Seite 104 www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Schuetzeichel__Soziologische_Kommunikationstheorien(2)____[Druck-PDF]/ 13.08.2015/ Seite 105 4.9 Zwischenbilanz 105 Wie in der pragmatistischen Tradition, so wird auch von der Sozialphänomenologie die Aufgliederung der sozialen Welt vornehmlich daran festgemacht, welche kommunikativen Medien Verwendung finden. Die sozialphänomenologische Kommunikationstheorie spricht der Kommunikation vornehmlich die Funktion zu, das Bewusstseinsleben der Kommunikatoren zu synchronisieren. Man kann es noch ausdrücklicher formulieren: Kommunikation ist eine Bewusstseinsleistung, die sich institutionalisierter Erwartungen bedient. Als eine Objektivation oder durch Idealisierungen, Typisierungen und Erwartungen institutionalisierte Sphäre hat Kommunikation ein gewisses Eigengewicht. Ansonsten ist sie auf Bewusstsein reduzierbar. Basislektüre: Luckmann, Thomas (1979): Soziologie der Sprache. In: René König (Hg.): Handbuch der empirischen Sozialforschung. Bd. 13: Sprache / Künste. Stuttgart, S. 1-116. Schütz, Alfred (1955 / 2004): Symbol, Reality and Society, in: Lyman Bryson u. a. (Hg.): From Symbols and Society, New York 1955 (zit. nach der dt. Übersetzung: Alfred Schütz: Symbol, Wirklichkeit und Gesellschaft. In: ders.: Theorie der Lebenswelt 2: Die kommunikative Ordnung der Lebenswelt. Alfred Schütz Werkausgabe, Bd. V.2. Hg. von Hubert Knoblauch, Ronald Kurt, Hans-Georg Soeffner. Konstanz 2004, S. 117-201). Einführungsliteratur: Endreß, Martin (2000): Alfred Schütz: Der sinnhafte Aufbau der sozialen Welt. In: Dirk Kaesler / Ludgera Vogt (Hg.): Hauptwerke der Soziologie. Stuttgart, S. 372-378. Weiterführende Literatur: Keller, Reiner / Knoblauch, Hubert / Reichertz, Jo (Hg.): Kommunikativer Konstruktivismus: Theoretische und empirische Arbeiten zu einem neuen wissenssoziologischen Ansatz. Wiesbaden. Knoblauch, Hubert / Luckmann, Thomas (2000): Gattungsanalyse. S. 538-546 in: Uwe Flick u. a. (Hg.): Qualitative Forschung. Reinbek bei Hamburg, S. 538-546. Reichertz, Jo (2009): Kommunikationsmacht. Wiesbaden. Srubar, Ilja (1988): Kosmion. Die Genese der pragmatischen Lebenswelttheorie von Alfred Schütz und ihr anthropologischer Hintergrund. Frankfurt am Main. Straßheim, Jan (2014): Sinn und Relevanz. Wiesbaden. Vaitkus, Steven (2000): Phenomenology and Sociology. In: Bryan S. Turner (Hg.): The Blackwell Companion to Social Theory. Malden, London, S. 270-298. <?page no="105"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Schuetzeichel__Soziologische_Kommunikationstheorien(2)____[Druck-PDF]/ 13.08.2015/ Seite 106 <?page no="106"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Schuetzeichel__Soziologische_Kommunikationstheorien(2)____[Druck-PDF]/ 13.08.2015/ Seite 106 www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Schuetzeichel__Soziologische_Kommunikationstheorien(2)____[Druck-PDF]/ 13.08.2015/ Seite 107 107 5 Exkurs 2: Kommunikative Reflexivität und-Verstehen Dass kommunikative Handlungen immer auf ihren Kontext verweisen und Kontexte auf die kommunikativen Handlungen, führt zu der doppelten Selektivität, die in Verstehensprozessen zu bewältigen ist. Jemand, der eine kommunikative Handlung verstehen will, muss sowohl die Handlung selbst als auch den Kontext dieser Handlung in ihrer Bedeutung erfassen. Er muss einen doppelten Selektionsprozess vollziehen und im Zuge dessen sowohl die Situation wie auch die Handlung bestimmen. Was die Soziologen als ›doppelte Selektivität‹ betrachten, wird von der Hermeneutik als ›hermeneutischer Zirkel‹ bezeichnet. Der nämliche Sachverhalt nimmt hier zwei Formen an: Der Zirkel verweist zum einen darauf, dass die Bedeutung von Textelementen immer auf das Textganze verweisen, und umgekehrt. Und er verweist in der zweiten Form auf den Zusammenhang von Text und Kontext- - Interpreten erschließen die Bedeutung eines Textes auf der Grundlage ihres Vorverständnisses, welches in die Interpretation selbst einfließt. Kommunikative Handlungen sind immer kontextgebunden und kontextsensitiv. Maßgeblich für die Produktion wie auch die Rezeption bzw. Interpretation von kommunikativen Handlungen ist also stets die Relation dieser Handlungen selbst zu dem Kontext, der ihnen zugeschrieben wird (vgl. Goodwin / Duranti 1992). Man kann jedoch noch einen Schritt weitergehen. Am Beispiel des von der Ethnomethodologie untersuchten ›Accounting‹ (vgl. Kap. 6) lässt sich eine weitere Konstellation aufgezeigen. Kommunikative Akte sind auf ihr Verstehen hin angelegt. Sie signalisieren, wie sie verstanden werden wollen. Dies kann allgemein als die Reflexivität von Kommunikation bezeichnet werden. Wenn wir uns vor Augen führen, dass sich kommunikative Handlungen immer in einem Kontext, in einem Rahmen, in einer Situation abspielen, dann heißt kommunikative Reflexivität, dass die kommunikativen Handlungen auch ihre Kontexte, ihren Rahmen, ihre Situation bzw. ihr System so präformieren, damit sie zu verstehen geben können, wie sie verstanden werden wollen. Bevor man sich in Kommunikationen überhaupt nutzenmaximierend oder dramaturgisch, wertrational oder emotional präsentieren und entsprechend seine Selektionen vornehmen kann, muss eines gesichert sein, nämlich dass die eigene Mitteilung auch für andere verständlich ist. Grundlegend für alle anderen möglichen, darauf aufbauenden Selektionen ist also die Verständlichkeit der Mitteilung. In der Soziolinguistik wird dieser Sachverhalt als ›contextualization‹ bezeichnet. Er geht auf die Arbeiten von John J. Gumperz (vgl. Gumperz 1982a, 1982b u. 1992) zurück, die maßgeblich von den Untersuchungen über Metakommunikation von Gregory Bateson (vgl. Bateson 1956) geprägt wurden. Gumperz’ interaktionistisch-soziolinguistischer Ansatz zeichnet sich dadurch aus, dass er Sprache nicht als abhängige <?page no="107"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Schuetzeichel__Soziologische_Kommunikationstheorien(2)____[Druck-PDF]/ 13.08.2015/ Seite 108 108 5 Exkurs 2: Kommunikative Reflexivität und-Verstehen Variable von sozialen Kontextfaktoren, wie z. B. dem Geschlecht, der Sozialstruktur oder dem Alter untersucht, auch das kommunikative Handeln nicht als normativ reguliert und von Regeln determiniert auffasst. Stattdessen geht er der Frage nach, wie und mit welchen kommunikativen Mitteln Sprecher ihre kommunikativen Ziele in kommunikativen Situationen erreichen können. Wir haben mit der intentionalistischen Semantik von Grice (Kap. 3) schon eine Theorie kennenlernen können, die auch die Mitteilung von Sprecherabsichten in den Mittelpunkt ihrer Theoriebildung stellt. Im Unterschied zu Grice, der die Relevanz von außersprachlichen Kommunikationserwartungen und -intentionen hervorhebt, versucht Gumperz, auf die Möglichkeiten der sprachlichen Kommunikation zur Lösung dieses Problems hinzuweisen. Die mündliche Kommunikation selbst stellt Differenzen bereit, mithilfe derer Sprecher ihren Absichten zum Ausdruck verleihen und zum Verständnis bringen können. »[Speaker, R. S.] were not automatically obeying normative sociolinguistic appropriateness constraints, but were strategically deploying variable choices in such a way as to be rhethorically effective in achieving particular communicative ends.« (Gumperz 1992: 41) Eine der wesentlichen Kontextualisierungsstrategien in Kommunikation ist das ›Framing‹ (Gumperz 1992: 41 f.) der Situationen, in denen sich kommunikative Handlungen ereignen. »[…] frames are constitutive of the interaction itself. In other words, framing is part of the chunking process by which we segment off what we see as belonging together and what must thus be looked at as a subunit whithin a broader whole. Such chunking is necessary both to speech production and to comprehension. In as much as frames constitute the ground against which communication takes place, they significantly affect how communication is interpreted.« (Gumperz 1992: 41 f.) Kontextualisierung heißt, dass in der Kommunikation Sprecher und Hörer verbale, aber auch nonverbale Zeichen, sogenannte ›contextualization cues‹ benutzen, um ihr Tun zu indizieren, um bestimmte Erwartungen ihrer Hörerschaft und bestimmte Kontexte ihrer Kommunikation zu strukturieren. Cues sind Kontextualisierungsstrategien. Sie dienen- - wie das auch schon von Erving Goffmann und Anselm Strauss beschrieben wird-- dazu, Situationen zu definieren. Diese Kontextualisierungen treten naturgemäß dann zutage, wenn sie versagen. Dies ist besonders häufig bei Situationen interkultureller Kommunikation der Fall, die Gumperz in einer Vielfalt empirischer Studien untersucht (vgl. Gumperz 1975). Beispielsweise kann der Fall eines in den Vereinigten Staaten der fahrlässigen Tötung angeklagten philippinischen Arztes angeführt werden, der auf der Ebene der Grammatik und des Lexikons perfekt die englische Sprache beherrschte, aber in den polizeilichen Vernehmungen an bestimmten Kontextualisierungskonventionen, insbesondere solchen der Intonation, scheiterte und weder bei den vernehmenden Beamten noch vor Gericht erreichen konnte, dass die von ihm mitgeteilten, ihn entlastenden Informationen entsprechend verstanden wurden (vgl. Gumperz 1982b). <?page no="108"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Schuetzeichel__Soziologische_Kommunikationstheorien(2)____[Druck-PDF]/ 13.08.2015/ Seite 108 www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Schuetzeichel__Soziologische_Kommunikationstheorien(2)____[Druck-PDF]/ 13.08.2015/ Seite 109 4.9 Zwischenbilanz 109 Zu solchen Kontextualisierungsschlüsseln gehören insbesondere folgende: • Prosodie, wie z. B. die Intonation oder die Akzentsetzungen; • Paralinguistische Zeichen, wie z. B. das Äußerungstempo, die Pausen, der zeitliche Abstand in den Sprecherwechseln; • Code-Wechsel, also das linguistische Repertoire, welches benutzt wird; • Wahl der lexikalischen Formen. Diese immer auch mitkommunizierten ›cues‹ erzeugen den kommunikativen Kontext, in dem sich die Kommunikation befindet, und sie weisen darauf hin, wie ein Sprecher sich verstanden wissen will und in welcher Situation er sich wähnt bzw. welche er unterstellt. Sprecher signalisieren stets, in welchem kommunikativen Kontext sie sich befinden. Kontexte- - darauf weist insbesondere Knoblauch (2001: 12) hin-- sind also niemals nur etwas den Kommunikationen Äußerliches. Kommunikationen spielen sich nicht lediglich in Situationen oder Kontexten ab, sondern sie produzieren auch immer die Situation oder den Kontext mit, in dem sie stattfinden. Die Kontextualisierungshinweise oder -schlüssel sind in der Regel Konventionen, die sich der bewussten Steuerung entziehen. Sie funktionieren und fungieren als unhinterfragte Selbstverständlichkeiten. »In most general terms, contextualization therefore comprises all activities by participants which make relevant, maintain, revise, cancel any aspect of context which, in turn, is responsible for the interpretation of an utterance in its particular locus of occurence.« (Auer 1992: 4, Hervorheb. weggel.) Die Kontextualisierung von kommunikativen Akten lässt sich durch das gesamte kulturelle Arsenal von Gesten, Mimiken, Körperhaltungen praktizieren, durch die Wahl des jeweiligen Sprachcodes und Lexikons, prinzipiell durch alle Formen, die für die Art und Weise der Mitteilung von Informationen bedeutungsvoll sein können. Sprecher versuchen, durch entsprechende Kontextualisierungen sich selbst eine soziale Identität zu geben, etwa dadurch, dass man, je nachdem, mit wem man kommuniziert, unterschiedliche Codes, Dialekte, Sprachen verwendet. Besonders plastisch treten Kontextualisierungen dann vor Augen, wenn uns jemand eine Geschichte erzählen möchte (vgl. Müller 1992). Uns erschiene jemand als ein schlechter Erzähler, wenn er seine Geschichte so vorträgt, als ob es sich um einen Zeitungsbericht handeln würde. Erzähler müssen ihre Erzählungen mit einer Vielzahl von expressiven Interjektionen begleiten, die es erlauben, die Erwartungen ihrer Zuhörer zu strukturieren. Man kann sich fragen, weshalb sprachliche Äußerungen überhaupt auf Kontextualisierungen angewiesen sind. Wenn sich die Bedeutung von sprachlichen Äußerungen in pragmatischer Hinsicht auch aus der Situation ergibt, in der sie stattfinden, dann dient die Kontextualisierung dazu, die Definition der Situation- - Situationen sind per definitionem in einer unendlich mannigfaltigen Weise interpretierbar- - zu erleichtern. Gumperz geht also von der Annahme aus, dass Kommunikationspartner <?page no="109"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Schuetzeichel__Soziologische_Kommunikationstheorien(2)____[Druck-PDF]/ 13.08.2015/ Seite 110 110 5 Exkurs 2: Kommunikative Reflexivität und-Verstehen sich wechselseitig durch ihre Kontextualisierungsbemühungen Interpretationsrahmen vorgeben, um sie gleichsam davor zu bewahren, die überzählig vielen anderen möglichen Kontextfaktoren in ihrem Framing zu berücksichtigen. Es handelt sich, systemtheoretisch formuliert, um Mechanismen der Reduktion von situationaler Komplexität. Man kann zweitens mithilfe der Kontextualisierung aber auch den sprachlichen Akt selbst konturieren. Kontextualisierungen können in Widerspruch oder Gegensatz zu dem Gesagten treten- - und dies ist dann die eigentliche Mitteilung. Wenn ein Vater zu seinem Kind sagt ›Ich liebe dich doch‹, diese Aussage aber mimisch und gestisch nicht nur nicht unterstützt, sondern geradezu konterkariert, dann haben wir es mit der metakommunikativen Form des ›double bind‹ zu tun. Kontextualisierungen sind auf das Verstehen bzw. die Interpretation von Mitteilungen bezogen. Das Prinzip und die Praxis der Kontextualisierung zeigt auf, dass kommunikative Handlungen nicht nur einfach in Kontexten stattfinden, sondern die Kontexte, in denen sie stattfinden, immer auch mitproduzieren. Und das Verstehen von kommunikativen Handlungen ist darauf angewiesen, die Kontextualisierung mit zu vollziehen. Dabei geht Gumperz davon aus, dass die Interpretation von Äußerungen oder Mitteilungen von logischen Folgerungen und Präsuppositionen, von einem ›Interpretationsrahmen‹ abhängt. »My basic assumption is that all understanding is framed understanding, that it ultimately rests on contingent inferences made with respect to presuppositions concering the nature of the situation, what is to be accomplished and how to be accomplished.« (Gumperz 1992: 43 f.) Mitteilungen und Kontextualisierungshinweise werden durch ›conversational inferences‹ entschlüsselt, durch gedankliche Verfahren, die sowohl die Mitteilung wie auch den Kontext interpretieren. Aber auch hier gilt, dass es nicht ausreichend wäre, wenn man Kontextualisierungen als strategische oder nachträgliche Kontextuierung von kommunikativen Akten begreifen wollte. Es ist wichtig, auf die interaktionale, intersubjektive Basis von Kontextualisierungen zu achten: Kontextualisierungen sind in und von den Sequenzen einer Kommunikation vorgenommene Situationsdefinitionen, in denen ein Handeln definiert wird-- es handelt sich um eine Form kommunikativer Selbstbezüglichkeit, mithilfe derer man kommuniziert, was man kommuniziert. Damit wird eine Bedeutungsebene angesprochen, die weder in herkömmlichen Zeichentheorien noch in herkömmlichen Bedeutungstheorien thematisiert wird. Kommunikative Einheiten bedeuten nicht nur etwas, sondern sie indizieren auch etwas, nämlich ein Schema, in welchem Rahmen sie verstanden werden wollen. Sprecher äußern dann, wenn sie sprechen, nicht nur bestimmte Aussagen mit einem bestimmten propositionalen Gehalt, sondern sie indizieren auch Schemata, die für eine situierte, kontextsensitive Interpretation sorgen können. Sprachliche Kommunikation ist deshalb keineswegs bloß ein Vorgang, bei dem die Gedanken in Worte gefasst werden; sie setzt vielmehr eine aktive Zusammenarbeit zwischen den Produzenten der Mitteilungen und den Rezipienten voraus, deren Antwww.claudia-wild.de: <?page no="110"?> [UTB-M]__Schuetzeichel__Soziologische_Kommunikationstheorien(2)____[Druck-PDF]/ 13.08.2015/ Seite 110 www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Schuetzeichel__Soziologische_Kommunikationstheorien(2)____[Druck-PDF]/ 13.08.2015/ Seite 111 4.9 Zwischenbilanz 111 worten als Rückmeldungen für die Schlüsselsituationen der Interaktion fungieren. (Gumperz 1990, zit. nach Knoblauch 1991: 457) Erlauben wir uns ein kurzes Wort zu den theoretischen Problemen der interpretativen Soziolinguistik von Gumperz. Kommunikation kann dieser Theorie zufolge nur in dem Maße gelingen, wie die kulturell bestimmten Rahmen bzw. Kontextualisierungsschlüssel sich hinreichend überlappen. Die Grenzen der Kommunikation fallen mit den Grenzen der kulturellen Codes zusammen (vgl. auch Hinnenkamp 1989). Missglückte Kommunikationen beruhen auf missglückten Inferenzen von eigenkulturellen Standards auf neue Kommunikationssituationen. Von daher lässt sich dieser Ansatz als kulturalistisch charakterisieren. Aber gibt es nicht auch Faktoren außerhalb der jeweiligen Kommunikationssituation, die für kommunikative Probleme verantwortlich gemacht werden können, etwa mangelnde kommunikative Kompetenz, bestimmte strategische Kommunikationsabsichten oder ein klassenspezifischer Habitus im Sinne von Pierre Bourdieu (vgl. Kap. 11)? Und man kann danach fragen, ob es nicht transkulturelle Kommunikationsnormen gibt, die Kommunikationen auch dann ermöglichen, wenn die Grenzen spezifischer Kommunikationskulturen überschritten werden müssen. Sind wirklich spezifische Kulturen, Regeln, Normen Voraussetzung dafür, dass Kommunikationen stattfinden können, oder ist es nicht umgekehrt so, dass Kommunikationen die Voraussetzung für die Etablierung unterschiedlicher Kulturen und somit auch Voraussetzung für die Überschreitung unterschiedlicher kultureller Grenzen sind? Aber diese Fragen betreffen nicht nur den Gumperz’schen Ansatz, sondern alle Positionen, die im Sinne eines kulturalistischen oder normativistischen Ansatzes die Voraussetzung von Kommunikation außerhalb der Kommunikation suchen. Basislektüre: Gumperz, John J. (1975): Sprache, lokale Kultur und soziale Identität. Düsseldorf. Gumperz, John J. (1982a): Discourse Strategies. Cambridge. Einführungsliteratur: Knoblauch, Hubert (1991): Kommunikation im Kontext. John J. Gumperz und die Interaktionale Soziolinguistik. In: Zeitschrift für Soziologie 20: 446-462. Weiterführende Literatur: Knoblauch, Hubert (2001): Communication, Contexts and Culture. S. 3-33 in: Aldo di Luzio / Susanne Günthner / Franca Orletti (Hg.): Culture in Communication. Analyses of Intercultural Studies. Amsterdam, Philadelphia. <?page no="111"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Schuetzeichel__Soziologische_Kommunikationstheorien(2)____[Druck-PDF]/ 13.08.2015/ Seite 112 <?page no="112"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Schuetzeichel__Soziologische_Kommunikationstheorien(2)____[Druck-PDF]/ 13.08.2015/ Seite 112 www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Schuetzeichel__Soziologische_Kommunikationstheorien(2)____[Druck-PDF]/ 13.08.2015/ Seite 113 113 6 Ethnomethodologie und Konversationsanalyse In gewisser Weise lassen sich Ethnomethodologie und Konversationsanalyse, auf die wir nun zu sprechen kommen, als Fortführung der phänomenologischen Soziologie von Alfred Schütz betrachten. Schütz ist nicht nur einer ihrer theoretischen Kronzeugen, die Sozialphänomenologie nicht nur eines ihrer Fundamente, sondern sie setzen das Forschungsprogramm von Schütz auch insofern fort, als sie nach der Konstitution der Intersubjektivität von Sinn im sozialen oder kommunikativen Handeln fragen. Aber diese Programmatik wird nicht nur fort-, sondern auch umgesetzt. Ethnomethodologie und Konversationsanalyse zeichnet eine strikt empirische Orientierung aus: Soziale Phänomene sollen unter Vermeidung konzeptioneller Vorannahmen in ihrem natürlichen Zustand untersucht werden. Nur selten ist in der Soziologie eine Forschungsrichtung so mit einem Namen oder gar nur mit einem Buch verbunden, wie dies bei der Ethnomethodologie der Fall ist. Sie geht zurück auf Harold Garfinkel (*1917) und dessen 1967 unter dem Titel »Studies in ethnomethodology« erschienen Untersuchungen, wobei die Bezeichnung ›Ethnomethodologie‹ der Forschungsrichtung der kognitiven Anthropologie nachgebildet ist, die mithilfe der Untersuchung der semantischen Kategorien einer Sprache die kognitiven Ordnungsschemata von Gruppen und Kulturen analysiert (vgl. Bergmann 1981: 10). Ähnliches gilt für die Konversationsanalyse, die als eine Fortsetzung der Ethnomethodologie mit anderen Mitteln verstanden werden kann. Sie ist verbunden mit dem Namen von Harvey Sacks (1935-1975), dessen wichtige Arbeiten posthum unter dem Titel »Lectures on conversation« 1992 herausgegeben wurden, und dessen Mitarbeitern Emanuel A. Schegloff und Gail Jefferson. Bevor wir uns diesen Theorien im Einzelnen zuwenden, müssen wir nochmals in aller Kürze der Frage nachgehen, weshalb diese beiden eng verschwisterten soziologischen Forschungsprogramme in keiner Einführung in soziologische Kommunikationstheorien fehlen dürfen. Bei der Konversationsanalyse versteht sich dies fast schon vom Eigennamen her, denn sie befasst sich mit einer Soziologie der sprachlichen Interaktion (Konversation), also einem kommunikativen Phänomen sui generis. Bei der Ethnomethodologie liegt der Fall anders, denn ›Kommunikation‹ oder ›kommunikatives Handeln‹ gehören nicht zu den tragenden Begrifflichkeiten dieser Tradition. Die Ethnomethodologie befasst sich mit dem situativen oder praktischen Alltagshandeln. Ihr Erkenntnisinteresse gilt den selbstverständlichen (lebensweltlichen) Praktiken, Verfahren und Methoden (methods), mit denen sich Mitglieder einer bestimmten Gruppe oder Gesellschaft (ethnos) ihr Handeln und ihre soziale Wirklichkeit erkennbar machen, mit denen sie ihre Situation ordnen und strukturieren. Sie ist nicht an der Einordnung von sozialen Phänomenen unter soziologische Kategorien interessiert, sondern daran, wie im alltäglichen Handeln Sinn konstruiert wird. Im alltäglichen Handeln erscheinen uns die Dinge in der sozialen Welt als unabhängig von uns, als <?page no="113"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Schuetzeichel__Soziologische_Kommunikationstheorien(2)____[Druck-PDF]/ 13.08.2015/ Seite 114 114 6 Ethnomethodologie und Konversationsanalyse unabhängige Realitäten, obwohl sie erst durch unser Handeln produziert werden. Oder um dies in eine stärkere kommunikationstheoretische Begrifflichkeit zu fassen: Sie untersucht in ihren Respezifikationen, wie soziales Handeln soziale Ordnung produziert und wie soziales Handeln selbst in sozialen Ordnungen eingebettet ist-- und dies ist das genuine soziologische Erkenntnisinteresse an Kommunikationen. »Ethnomethodology is an alternate sociology in terms of its respecification of order ›in-and-as-of-the-workings-of-ordinary-society‹.This means […] that social actions are irreducibly events-in-a-social order and they cannot therefore be adequately identified independently of the social order in which they are embedded. Neither, on the other hand, can the social order in which the actions are sited be itself identified independently of the action themselves. An ethnomethodological respecification is, consequently, a respecification of action and order-- order in-and-as-of-the-workingsof-ordinary-society.« (Button 1991: 7; Hervorheb. weggel.) Der Terminus der sozialen Ordnung fällt nicht zufällig, denn Garfinkels Werk kann als eine stetige Auseinandersetzung mit der Theorie sozialer Ordnung gelten, die sein Doktorvater Talcott Parsons erstellte. Man kann ohne Übertreibung sagen, dass Garfinkel von Parsons die soziologische Problemstellung adoptierte, aber diese mit anderen, nämlich einer empirisch gewendeten Lebensweltanalyse im Sinne der Protosoziologie von Schütz lösen will. Im Unterschied zu Parsons, der das Problem sozialer Ordnung durch die Übernahme und Internalisierung gemeinsam geteilter Normen und Werte als weitgehend gelöst ansah, analysiert Garfinkel die elementaren Akte und Prozesse der Konstitution von Sinn in der alltäglichen Kommunikation, um die Produktion von sozialer Ordnung in den Interpretations- und Übersetzungsleistungen der Individuen nachvollziehen zu können. Parsons betrachtet die Konstitution sozialer Ordnung als ein motivationales Problem-- soziale Ordnung ist erreicht, wenn die Individuen bzw. personalen Systeme im Laufe ihrer Sozialisation Werte und Normen in einem ausreichenden Maße internalisieren, um den ihnen zugemuteten Rollenanforderungen gerecht werden zu können. Garfinkel sieht das Problem aber nicht allein auf der motivationalen, sondern der kognitiven Ebene-- die Individuen müssen, um soziale Ordnung interaktiv produzieren oder reproduzieren zu können, eine hinreichende gemeinsame Situationsdeutung gewinnen, eine gemeinsame Situationsdeutung, die aber stets fragil ist und bleibt und situativ stets neu hergestellt werden muss. Garfinkel geht deshalb davon aus, dass Kommunikationen sich durch ein kompliziertes Wechselspiel von normativen Erwartungen und kognitiven Anstrengungen konstituieren. Normative und kognitive Elemente sind in jeder Kommunikation unauflöslich miteinander verbunden. Parsons und Garfinkel unterscheiden sich auch noch in einem zweiten wichtigen Punkt: Die Alltagsrationalität der Handelnden und die wissenschaftliche Rationalität der Soziologie, der Parsons folgt, unterscheiden sich nach Garfinkel eklatant. Wenn die Soziologie das Alltagshandeln analysieren will, dann kann sie nicht von wissenwww.claudia-wild.de: <?page no="114"?> [UTB-M]__Schuetzeichel__Soziologische_Kommunikationstheorien(2)____[Druck-PDF]/ 13.08.2015/ Seite 114 www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Schuetzeichel__Soziologische_Kommunikationstheorien(2)____[Druck-PDF]/ 13.08.2015/ Seite 115 6.1 Accountability 115 schaftlich konstruierten Modellannahmen ausgehen. Die Soziologie kann nicht ihr Ziel darin finden, dem Alltagshandeln ein begriffliches Netz überzustülpen, ihm eine sekundäre, wissenschaftlich generierte Sinnstruktur zu verleihen, sondern sie muss die Alltagshandlungen und Alltagsmethoden selbst beschreiben, wie auch Harvey Sacks (1963) in seinem programmatischen Aufsatz über »Sociological Description« betonte, in welchem er sich von einer Soziologie im Sinne Webers oder Durkheims absetzte. Obwohl Garfinkel also von Parsons in einem signifikanten Maße abweicht, gilt Parsons, wie Garfinkel (1991: 11) rückblickend sagt, als die wichtigste Inspirationsquelle seiner Soziologie. Von daher ist es auch nicht zufällig, dass Garfinkel Harvey Sacks, den Inaugurator der Konversationsanalyse, zu Beginn der 1950er-Jahre in Harvard in einem Parsons-Seminar kennenlernte. Neben Parsons ist für die theoretische Ausrichtung der Konversationsanalyse die Philosophie Wittgensteins, die Soziologie Goffmans und der Chicagoer Schule sowie die Linguistik Chomskys von besonderer Bedeutung. In welchem Verhältnis Ethnomethodologie und Konversationsanalyse heutzutage stehen, ist umstritten. Manche betrachten die Konversationsanalyse als eine Spezialisierung der Ethnomethodologie, manche halten die Ethnomethodologie für die erste Phase der Konversationsanalyse, und für viele stellen sie ein einziges, identisches Unternehmen dar (vgl. Schegloff 2001: 289). 6.1 Accountability In Fortsetzung der These von Alfred Schütz, dass wir durch spezifische Idealisierungen die Intersubjektivität unserer Lebenswelt herstellen, studiert die Ethnomethodologie die Methoden, mithilfe derer Individuen sich und ihrer sozialen und sonstigen Welt Sinn geben. Wie gelingt es den beteiligten Individuen, darzustellen, dass es sich beispielsweise um ein Gespräch zwischen Arzt und Patient handelt? Wie gelingt es zwei Personen, die gemeinsam zu Fuß gehen, zu zeigen, dass sie gemeinsam zu Fuß gehen? Die Ethnomethodologie geht davon aus, dass den sozialen Tatbeständen keine inhärente Wirklichkeit und kein inhärenter Sinn eigen ist. Sie geht auch nicht davon aus, dass die sozialen Tatbestände durch das Bewusstseinsleben der beteiligten Individuen mit Sinn ausgestattet wird. Sondern sie vertritt die Position, dass sich soziale Tatbestände ›öffentlich‹, im praktischen sozialen Leben, in der Interaktion zwischen Individuen verwirklichen. Um zu analysieren, wie die sozialen Tatbestände soziale Wirklichkeit werden, verfolgt Garfinkel eine bekannte methodische Devise: Man muss kommunikative Unordnung stiften. Auf dieser Idee beruhen die berühmten Krisenexperimente der Ethnomethodologie. Um zu analysieren, wie soziale Ordnung hergestellt und aufrechterhalten wird, gilt es, anomische Situationen herzustellen. In diesen Experimenten wird das infrage gestellt, was die alltägliche Kommunikation auszeichnet. Diese ist vage und indexikalisch, kennt keine fixierten sprachlichen Bedeutungen, sondern ist <?page no="115"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Schuetzeichel__Soziologische_Kommunikationstheorien(2)____[Druck-PDF]/ 13.08.2015/ Seite 116 116 6 Ethnomethodologie und Konversationsanalyse permanent im Fluss. Wenn man nun in der alltäglichen Kommunikation darauf besteht, dass die sprachlichen Äußerungen einen festen Sinn aufweisen, dann hat das ihr Kollabieren zur Folge. Die Krisenexperimente zielen darauf, die »Routine Grounds of Everyday Activities« zu analysieren. Dabei bedient man sich einer einfachen Technik. Eine im Alltagsleben vertraute, fraglos geltende, selbstverständliche Erwartung wird außer Kraft gesetzt. Auf die Frage »Wie geht es dir? « erwarten wir ein bestimmtes Set von möglichen Antworten, aber sicherlich nicht die reflexive Rückfrage: »Was meinst du denn eigentlich damit: Wie geht es dir? « Herkömmliche Situationsdefinitionen versagen ebenso wie die gewohnten Sprachspiele und kommunikativen Strategien. Was würde etwa die uns schon bekannte Frau Schmidt sagen, wenn ihr Ehemann auf ihre Empfehlung, doch den Sauerbraten zu wählen, mit folgender Replik retournieren würde: »Sauerbraten-- was ist denn Sauerbraten? « Aber schauen wir uns die Dokumentation eines Falles einmal genauer an. Garfinkel gab seinen Studenten den Auftrag, in normalen Gesprächssituationen mit Bekannten, Freunden oder Verwandten diese in einer selbstverständlichen Weise um die Klärung bestimmter alltäglicher Redewendungen oder Aussagen zu bitten. Eines der Gespräche zwischen der Versuchsperson (S) und dem studentischen Experimentator (E) verlief folgendermaßen (zit. nach Garfinkel (1967: 42 f.): (S) Hi, Ray. How is your girl friend feeling? (E) What do you mean, ›How is she feeling? ‹ Do you mean physical oder mental? (S) I mean how is she feeling? What’s the matter with you? (He looked peeved.) (E) Nothing. Just explain a little clearer what do you mean? (S) Skip it. How are your Med School applications coming? (E) What do you mean, ›How are they? ‹ (S) You know what I mean. (E) I really don’t. (S) What’s the matter with you? Are you sick? Mit Schütz könnte man sagen, dass in diesem Gespräch die Idealisierung der Kongruenz der Relevanzsysteme infrage steht (vgl. Schneider 2002, Bd. 2: 19 f.). Diese für alltägliche Kommunikationssituationen notwendige Idealisierung geht davon aus, dass der Sinn von Mitteilungen über spezifische Themen in einer hinreichend überlappenden Weise interpretiert wird, dass sich die Beteiligten also wechselseitig ein hinreichend gemeinsames Vorwissen unterstellen können. Der Experimentator hebt dadurch, dass er auf einer Bedeutungsanalyse alltäglicher Redewendungen besteht, diese Idealisierung auf. Wie reagieren nun die Probanden? Sie stellen weder ihre eigene noch die Zurechnungsfähigkeit des Interaktionspartners in Frage, sondern sie fassen die Rückfragen als Regelverletzungen auf. Sie fragen ihrerseits nicht, wie der Experimentator, nach der wortwörtlichen Bedeutung der Rückfragen, weil es eine solche fixierte Bedeutung in der Alltagskommunikation sowieso nicht gibt. Sie stellen also <?page no="116"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Schuetzeichel__Soziologische_Kommunikationstheorien(2)____[Druck-PDF]/ 13.08.2015/ Seite 116 www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Schuetzeichel__Soziologische_Kommunikationstheorien(2)____[Druck-PDF]/ 13.08.2015/ Seite 117 6.2 Präsuppositionen 117 somit nicht die Idealisierung selbst in Frage, sondern sie markieren die Rückfragen als eine explizite Regelverletzung. Deshalb wird der Experimentator aufgefordert, sich für seine Nachfragen zu rechtfertigen. Kommunikationen, so könnte man schlussfolgern, zeichnen sich dadurch aus, dass sie durch kognitive und normative Erwartungen gelenkt werden. So lange, wie die Kommunikationspartner elementare Idealisierungen und wechselseitige Unterstellungen voraussetzen, herrscht das kognitive Element vor. Die Kommunikation kann sich an den mitgeteilten Informationen orientieren. Werden diese Idealisierungen aber in einem elementaren Sinne verletzt, dann richtet sich das Interesse auf die Mitteilungen selbst, auf die normativ aufgeladene Frage, weshalb jemand in seinen Mitteilungen von dem unterstellbaren Wissensvorrat abweicht. 6.2 Präsuppositionen Die von Garfinkel durchgeführten Krisenexperimente verdeutlichen noch etwas anderes. Kommunikation kann nicht, wie in klassischen Kommunikationstheorien vorausgesetzt, als ein von Regeln determiniertes Handeln begriffen werden. Der klassischen Kommunikationstheorie zufolge ist die Möglichkeit von Kommunikation daran geknüpft, dass Regeln existieren, die die Bedeutung von Worten oder Sätzen bestimmen. Sowohl die Encodierung wie auch die Decodierung von Informationen sind diesem Modell zufolge an die Anwendung richtiger, gemeinsamer Regeln gebunden. In der Kommunikation müssen dementsprechend die gleichen Regeln angewendet werden, damit die Bedeutung der sprachlichen Einheiten korrekt vom Sprecher auf den Hörer übertragen werden können. Die Ethnomethodologie zeigt demgegenüber auf, dass dieses Modell zu einfach ist, um die menschliche Kommunikation beschreiben zu können. Dies zeigt sich in einem weiteren Experiment. Garfinkel bat einige seiner Studenten um die Protokollierung von Gesprächen, an denen sie beteiligt waren. Sie sollten sowohl notieren, was gesagt wurde, wie auch, wie das Gesagte verstanden wurde. Ein Student berichtete von folgender Unterhaltung mit seiner Ehefrau (zit. nach Garfinkel 1967: 38 f.): »Husband: Dana succeeded in putting a penny in a parking meter today without being picked up [This afternoon as I was bringing Dana, our four-year-old son, home from the nursery school, he succeeded in reaching high enough to put a penny in an parking meter when we parked in a meter parking zone, whereas before he has always had to be picked up to reach that high.] Wife: Did you take him to the record store? [Since he put a penny in a meter that means that you stopped while he was with you. I know that you stopped at the record store either on the way to get him or on the way <?page no="117"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Schuetzeichel__Soziologische_Kommunikationstheorien(2)____[Druck-PDF]/ 13.08.2015/ Seite 118 118 6 Ethnomethodologie und Konversationsanalyse back. Was it on the way back, so that he was with you or did you stop there on the way to get him and somewhere else on the way back? ] Husband: No, to the shoe repair shop. [No, I stopped at the record store on the way to get him and stopped at the shoe repair shop on the way home when he was with me.] Wife: What for? [I know of one reason why you might have stopped at the shoe repair shop. Why did you in fact? ] Husband: I got some new shoes laces for my shoes. [As you will remember I broke a shoe lace on one of my brown oxfords the other day so I stopped to get some new laces.] Wife: Your loafers need new heels badly. [Something else you could have gotten that I was thinking of. You could have taken in your black loafers which need heels badly. You’d better get them taken care of pretty soon.]« In dieser Protokollierung wird deutlich, dass die Äußerungen nicht dem Wortlaut nach verstanden werden, sondern auf kontingente Situationsbezüge hin interpretiert und retrospektiv und prospektiv in Sequenzen eingebunden werden. Die Interpretationen der Äußerungen leben von den gemeinsamen Erfahrungen und dem gemeinsamen Wissen, und sie sind nicht durch die konkrete sprachliche Äußerung gedeckt. Bedeutungen sind offen und vage und können in nachträglichen Äußerungsakten reinterpretiert oder revidiert werden. Sie hängen von dem lebensweltlichen Kontext, den Erfahrungen und den Situationsdeutungen der Beteiligten ab. Die Bedeutung des Gesagten wird in der Kommunikation selbst festgelegt, sie ergibt sich weder aus irgendwelchen Regeln noch aus dem subjektiven Sinn, den die jeweiligen Sprecher mit ihren Äußerungen verbinden. Kommunikation kann nicht, wie in dem klassischen Modell vorgegeben, als eine Übertragung von Sinn verstanden werden, und das Medium der Sprache funktioniert nicht als ein Codierungsmechanismus, in welchem durch feste Zuordnungsregeln sprachliche Zeichen mit einem subjektiv intendierten Bedeutung aufgeladen werden. Diese Verstehensprämissen werden als Präsuppositionen bezeichnet. Der Sinn des Gesagten verdankt sich somit den Präsuppositionen, in denen das Gesagte verstanden wird. <?page no="118"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Schuetzeichel__Soziologische_Kommunikationstheorien(2)____[Druck-PDF]/ 13.08.2015/ Seite 118 www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Schuetzeichel__Soziologische_Kommunikationstheorien(2)____[Druck-PDF]/ 13.08.2015/ Seite 119 6.2 Präsuppositionen 119 Präsuppositionen stehen in einem Korrespondenzverhältnis zu Strategien des Accounting. Präsuppositionen, also die Deutungsmuster, mit denen man kommunikative Handlungen versteht, werden durch soziale Techniken beeinflusst oder bestätigt, mit denen Handelnde füreinander zu verstehen geben, wie sie verstanden werden wollen bzw., stärker noch, wie sie ihre Handlungen dargestellt und materialisiert wissen wollen. Solche Techniken werden als ›Accounts‹ bezeichnet. Sie geben an, dass Äußerungen sich als ›Hinweis auf etwas‹ oder als ›Dokument für etwas‹ verstanden wissen wollen. Kommen wir nochmals auf den Einwand von Garfinkel gegen Parsons zu sprechen. Nach Garfinkel führt Parsons soziale Ordnung zu stark auf die Akzeptanz gemeinsamer Werte, Erwartungen und Normen zurück. Man könnte seinen Einwand gegen diese normative Lösung des Problems sozialer Ordnung so formulieren: Konkrete soziale Situationen im Allgemeinen wie Kommunikationssituationen im Besonderen sind normativ bzw. durch Regeln unterdeterminiert. Zwischen den immer nur allgemein formulierbaren Normen und Regeln und der immer nur partikularen Kommunikationssituation liegt eine Kluft, die nicht überwunden werden kann. Normen und Regeln gelten nicht eo ipso für alle sozialen Situationen, sondern sie müssen von den Handelnden auf ihre konkrete Handlungssituation bezogen werden, sie müssen interpretiert und im Hinblick auf eine Situation definiert werden. Nicht durch Internalisierung, sondern durch sinnhafte und situationsgerechte Interpretation von Normen und Regeln stiften Individuen soziale Ordnung. Dabei wendet sich Garfinkel in den »Studies« vor allem gegen eine soziologische Vorstellung von der sozialen Wirklichkeit, wie sie der Durkheim-Tradition zugrunde liegt (vgl. Garfinkel 1967: VII). Nach Durkheim tragen die sozialen Tatsachen einen objektiven, von den Handelnden unabhängigen objektiven Charakter. Auch nach Garfinkel haben die sozialen Tatsachen einen objektiven Charakter, aber er fragt danach, wie Individuen in ihren Interaktionen diese Objektivität immer wieder neu erzeugen und stabilisieren. Die gesellschaftliche Wirklichkeit ist eine Wirklichkeit, die von den Individuen fortwährend in interaktiven Prozessen, in jedem Moment und in jeder sozialen Situation immer wieder neu hergestellt wird. Gesellschaftliche Wirklichkeit steht nicht den handelnden Individuen gegenüber, sie ist nicht etwas, was das soziale Handeln determiniert, sondern sie wird von diesen interaktiv in sozialen Situationen lokal produziert und sie erhält gerade als eine interaktiv hergestellte Wirklichkeit ihren objektiven Charakter. Dabei stützen sich die Handelnden auf Routinen und Wissensvorräte, insbesondere aber auf Verfahren und Methoden, mit denen sie füreinander anzeigen, wie ihre Handlungen verstanden werden sollen. Die Konstitution der sozialen Wirklichkeit wird durch Methoden garantiert, die nicht in das Belieben der Individuen gestellt sind. Die Ethno-Methoden sind keine Techniken des Bewusstseins, sondern institutionell verankerte Strukturen sozialer Interaktionen. Garfinkel exemplifiziert dies in den »Studies« in einer berühmten Studie über die Transsexuelle Agnes. <?page no="119"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Schuetzeichel__Soziologische_Kommunikationstheorien(2)____[Druck-PDF]/ 13.08.2015/ Seite 120 120 6 Ethnomethodologie und Konversationsanalyse Geschlechtliche Differenzierungen, so Garfinkel, sind keine natürlichen Tatsachen, sondern sie müssen ständig produziert und reproduziert werden. Agnes wurde mit männlichen Geschlechtsmerkmalen geboren und als Junge erzogen, unterzog sich aber mit 19 Jahren einer Geschlechtsumwandlung. Sie sah sich fortan vor die Notwendigkeit gestellt, ihr Frau-Sein zu kommunizieren, also die Methoden zu studieren und zu erlernen, mit denen sich Frauen wechselseitig als Frauen behandeln und ihr Frau-Sein dokumentieren. Garfinkel gelingt es in dieser berühmten Studie, die objektiven, sozialen Methoden zu analysieren, die Frauen in besonderen Situationen benutzen müssen, um anderen Frauen und Männern ihr Frau-Sein zu dokumentieren. Schon die ersten Arbeiten von Garfinkel gelten solchen Ethnomethoden oder Kommunikationsmechanismen. In einem knappen Artikel aus dem Jahre 1956 untersuchte Garfinkel beispielsweise die »Conditions of Successful Degradation Ceremonies« (Garfinkel 1956). Dabei stellt er folgende Voraussetzungen für die kommunikative Konstruktion von Außenseitern und deren öffentliche Degradierung heraus (nach Helle 1999: 166 f.): 1. Abweichler müssen als etwas Außerordentliches angesehen werden. 2. Derjenige, der eine Degradierung vornimmt, muss als jemand definiert werden, der im öffentlichen Auftrag handelt. 3. Er muss den Statusentzug mit der Verletzung von anerkannten Werten begründen. 4. Er muss eine Situation definieren, die ihm das Recht gibt, von solchen Werten zu sprechen. 5. Er muss erfolgreich eine Situation so definieren, dass er von den Zeugen des Degradierungsprozesses als ein Unterstützer der sanktionierten Werte anerkannt wird. 6. Die degradierte Person muss rituell als Fremder oder Aussenseiter definiert werden. 6.3 Accounts Bei den folgenden Alltagsmethoden handelt es sich um soziale Techniken, mithilfe derer die Individuen ihre Tätigkeiten füreinander mitteilbar und darstellbar machen. Oder, wie Garfinkel dies in einer berühmten Sequenz formuliert: »Ethnomethodological studies analyze everyday activities as members’ methods for making those same activities visibly-rational-and-reportable-for-all-practical-purposes, i. e., ›accountable‹, as organizations of commonplace everyday activities.« (Garfinkel 1967: VII) Und er führt weiter aus: »When I speak of accountable my interests are directed to such matters as the following. I mean observable-and-reportable, i. e. available to members as situated practices of looking-and-telling.« (Garfinkel 1967: 1) <?page no="120"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Schuetzeichel__Soziologische_Kommunikationstheorien(2)____[Druck-PDF]/ 13.08.2015/ Seite 120 www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Schuetzeichel__Soziologische_Kommunikationstheorien(2)____[Druck-PDF]/ 13.08.2015/ Seite 121 6.4 Indexikalität 121 Das entscheidende Stichwort, welches Anlass zu intensiven Diskussionen gegeben hat, lautet ›accountable‹. Dies ist ein Terminus technicus, der nicht direkt in die deutsche Sprache übertragbar ist. Garfinkel meint mehr als nur zurechenbar, verstehbar oder interpretierbar. Am ehesten eignet sich noch der Vorschlag von Bergmann (vgl. Bergmann 1988: 46), von praktischen Erklärungen zu sprechen. Im Alltag geben sich Handlungen als ›Zeichen-und-Zeugnis‹ von sozialen Ordnungen zu erkennen. Sie machen sich ›accountable‹, was man als ›sichtbar machen‹, ›darstellbar machen‹ und ›erklärbar machen‹ übersetzen kann. Bei ›Accounts‹ handelt es sich also um die beobachtbaren Darstellungen von Handlungen, um Praktiken, in denen Individuen ihren Handlungen Sinn geben. Sie sind also Formen, in denen sich die intersubjektive Sinnkonstitution vollzieht. Andere Bezeichnungen für ›accountable‹ sind ›picturable‹, ›tellable‹, ›recordable‹. Durch die methodische Bezugnahme auf Accounts werden im Alltagsleben Ereignisse, Erlebnisse und Handlungen erst zu spezifischen Ereignissen, Erlebnissen oder Handlungen konstituiert, sie erhalten ihren Rahmen und ihre Typik, sie werden füreinander verfügbar und interpretierbar gemacht, sie erhalten ihren Kontext und Situationsbezug. Accounts umfassen, wie es im obigen Zitat heißt, zwei Seiten, die je spezifische Aneignung von Geschehnissen und deren kommunikative Weiterverarbeitung. Gerade auch Handlungen beruhen ihrem Sinn nach auf den wechselseitigen Accounts der Handelnden. Handlungen werden also immer kommunikativ konstituiert. Kommunikationspartner, so Garfinkel, liefern mit ihren Handlungen stets Beschreibungen und Erklärungen für ihre Handlungen mit. Dies betrifft zwei wichtige Aspekte. Zum einen führen Handlungen ihren Account mit, sie machen sich selbst darstellbar und erklärbar, indem sie sich als Handlungen in diesem Kontext oder dieser Situation ausweisen. Accounts sind also grundsätzlich reflexiv- - sie sind Teil des sozialen Geschehens und weisen sich als solches aus. Beispielsweise macht sich eine Mitteilung in einem Kneipengespräch, einer Beratungssituation oder in einer Prüfung accountable dadurch, dass sie sich auf diese jeweiligen Rahmen bezieht, nur dadurch wird sie verständlich. Accounts stellen also keine Konstruktion des Soziologen dar, der Handlungen unter Typen bringen will, sondern sie sind Eigenwerte von Kommunikationen, sie sind Formen, die Handlungen füreinander identifizierbar machen. 6.4 Indexikalität Accounts haben keine transsituationale Bedeutung- - sie sind auf einen jeweiligen Kontext, auf eine spezifische soziale Situation bezogen. Jede kommunikative Handlung wird in einem bestimmten Kontext realisiert. Sie führt einen indexikalischen Wert mit sich und bekommt ihren Sinn nur in Bezug auf die lokale, spezifische Situation, in der sie stattfindet. Wenn Frau Schmitz im heimischen Wohnzimmer zu ihrem Mann »Na, du oller Döskopp« sagt, dann hat diese Aussage in dieser Situation <?page no="121"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Schuetzeichel__Soziologische_Kommunikationstheorien(2)____[Druck-PDF]/ 13.08.2015/ Seite 122 122 6 Ethnomethodologie und Konversationsanalyse eine ganz andere Bedeutung, als wenn sie im Restaurant, bei einem offiziellen Anlass oder unter vielen Beobachtern realisiert würde. Und selbst wenn Frau Schmidt dies nicht wüsste-- ihr Mann wüsste es ganz bestimmt. Diese Indexikalität kommunikativer Handlungen ist unaufhebbar (vgl. Garfinkel / Sachs 1976). Die These von der Unaufhebbarkeit der Situationsbezogenheit oder der Indexikalität aller Handlungen führt zu einer folgenreichen kommunikationstheoretischen Einsicht. Wie ist Kommunikation möglich, wenn kommunikatives Handeln prinzipiell indexikalisch ist? Kommunikatives Handeln kann nur bedingt und überaus begrenzt vorhergesehen und geplant werden. Wenn Sinn und Bedeutung von Äußerungen indexikalisch sind, die Situationen, in denen man diese Äußerungen vornimmt, sich aber beständig verändern, stets einmalig sind, dann können kommunikative Handlungen nicht fixiert und formalisiert werden. Sie sind prinzipiell vage und mehrdeutig. Die alltägliche Kommunikation ist durch Ambivalenzen und Ambiguitäten, durch Vagheiten und unabschließbare Interpretationsprozesse gekennzeichnet. Um aber dem Eindruck vorzubeugen, die Alltagskommunikation sei defizitär, spricht Garfinkel an diesem Punkt von der genuinen Rationalität alltäglicher Handlungen und Kommunikationen, die von der wissenschaftlich postulierten erheblich abweicht. Weil die kommunikativen Handlungen unaufhebbar indexikalisch sind, müssen die Kommunikatoren die soziale Wirklichkeit in jeder Situation und in jedem Moment neu produzieren. Dies wäre kaum möglich, wenn man, wie in verschiedenen Kommunikationstheorien postuliert, von festen Regeln und Normen, gemeinsamen Überzeugungen und Wissensvorräten, festen und fixierten Bedeutungen als Bedingung der Möglichkeit von Kommunikation ausgeht. Die Ethnomethodologie stellt dies in Frage. Kommunikationen schaffen sich ihre eigene Wirklichkeit. Es kommt noch ein zweiter Punkt hinzu. Die indexikalische Gebundenheit von Handlungen führt dazu, dass die Interpretation dieser Handlungen im Prinzip nicht abschließbar ist. Es gibt nicht die wahre und richtige Interpretation von Handlungen in Kommunikationen. Stattdessen lassen sich immer wieder neue Verweisungen und Kontexte finden, die Handlungen in ein neues Licht stellen. Nur handlungspragmatische Gründe garantieren ein Ende dieser Sinnzuschreibungsprozesse. Damit beleuchtet die Ethnomethodologie wichtige Aspekte einer Theorie der Kommunikation. Ihre Ergebnisse werden in der soziologischen Community hingegen unterschiedliche bewertet. Man kann (mit Eberle 1993) konstatieren, dass die Ethnomethodologie weitgehend Programm geblieben ist. Die Ergebnisse seien nur wenig systematisiert. Dies könne man gerade an solchen Versuchen (vgl. Handel 1982, Leiter 1980) ablesen, die Ethnomethoden zu ordnen und zu inventarisieren. Sie würden kaum über die schon von Schütz genannten Vorgaben hinausreichen. Andererseits kann man die Ethnomethodologie gegen solche Einwände in Schutz nehmen, denn sie fordern etwas, was nach Ansicht der Ethnomethodologen unfruchtbar ist, nämlich eine Verallgemeinerung der immer nur indexikalischen Accounts. <?page no="122"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Schuetzeichel__Soziologische_Kommunikationstheorien(2)____[Druck-PDF]/ 13.08.2015/ Seite 122 www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Schuetzeichel__Soziologische_Kommunikationstheorien(2)____[Druck-PDF]/ 13.08.2015/ Seite 123 6.5 Organisation der Konversation 123 6.5 Organisation der Konversation Die Konversationsanalyse ist ein in der Ethnomethodologie verwurzeltes Forschungsprogramm, welches verbale und nonverbale Kommunikationen, seltener schriftliche Kommunikationen (siehe Knauth / Wolff 1991) daraufhin untersucht, wie in diesen in einem fortwährenden Prozess sozialer Sinn produziert und soziale Ordnung hervorgebracht wird. Wenn man die grundlegende Fragestellung der Konversationsanalyse beschreiben will, dann kann man sagen, dass sie nicht wie andere soziologische oder linguistische Theorien Sprache und Gesellschaft aufeinander bezieht und die wechselseitigen Implikationen und Beeinflussungen untersucht, sondern, sie interessiert sich dafür, wie Sprache als eine soziale Praxis funktioniert. Oder wie Lee (1991: 207) dies formuliert: »His [Sacks’, R. S.] work reveals that natural language is, itself, a socially organised activity which takes its character, and furnishes its order, from the ›context‹ in which it occurs and which it illuminates.« Man sollte Lee und vielleicht auch die Konversationsanalytiker selbst in dem einem Punkt korrigieren: Sie untersuchen nicht die Sprache (langue) im Sinne Saussures, Chomskys und allgemein der Linguistik, sondern das Sprechen-in-Interaktionen, die sprachliche Praxis bzw. die soziale Praxis so, wie sie sich in Gesprächen und Konversationen, im Miteinander-Sprechen zu erkennen gibt. Dabei geht die Konversationsanalyse aber nicht von Krisenexperimenten aus, sondern beschäftigt sich mit naturalen, alltäglichen Konversationen. Ihr Interesse gilt dabei nicht nur, wie man der Bezeichnung nach meinen könnte, der Rekonstruktion der inneren Dynamik und Logik von alltäglichen, nur wenig formalisierten Gesprächen, sondern sie untersucht auch stark formalisierte Gespräche in sozialen Institutionen. Aus diesem Grunde bezeichnet Schegloff ›talk-in-interaction‹ als allgemeinen Gegenstand der Konversationsanalyse. Auch ihr geht es wie der Ethnomethodologie um die Analyse der Methoden, durch die in Interaktionen Sinn konstruiert wird. Aber die Konversationsanalytiker betonen noch stärker die Irreduzibilität von Gesprächen: »[…] that the talk can be examined as an object in its own right, and not merely as a screen on which are projected other processes, whether Balesian system problems or Schutzian interpretative strategies, or Garfinkelian commonsense methods. The talk itself was the action.« (Schegloff 1992: XVII) Die Ordnung von Gesprächen lässt sich also weder von oben noch von unten, weder durch funktionale Probleme von sozialen Systemen noch durch die interpretativen Strategien der Handelnden ableiten. Sie haben eine ihnen inhärente Ordnung. Die Konversationsanalyse widmet sich Interaktionen, um hinter die inneren Strukturen und inneren Konstruktionsbedingungen von Gesprächen zu kommen. Dabei spielen zwei Aspekte eine besondere Rolle. <?page no="123"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Schuetzeichel__Soziologische_Kommunikationstheorien(2)____[Druck-PDF]/ 13.08.2015/ Seite 124 124 6 Ethnomethodologie und Konversationsanalyse Sprachliche Interaktionen weisen sequentielle Ordnungen auf. Äußerungen folgen aufeinander, aber nicht in einer beliebigen, sondern in einer strukturierten Weise. Mit sequentieller Ordnung von Interaktionen ist also nicht bloß das zeitliche Nacheinander von Äußerungen gemeint, sondern die strukturierte Kopplung von Äußerungen zu einer gewissen Einheit, einem gewissen Abfolgemuster, eben einer Sequenz. Die sequentielle Organisation von Interaktionen ist sowohl für die Strukturierung der Handlungen als auch für das Verstehen der kommunikativen Abläufe zentral. Stellt Frau Schmidt ihrem Mann beispielsweise eine Frage, so legt die sequentielle Ordnung fest, welchen Äußerungstyp Herr Schmidt im Anschluss realisieren sollte, nämlich eine Antwort auf diese Frage. Selbstredend kann er gegen dieses Abfolgemuster verstossen, er kann schweigen, er kann mit einer Gegenfrage reagieren oder er kann etwas Drittes tun. Aber diese Äußerungsakte würden dann von Frau Schmidt als intendierte oder nicht intendierte Verstöße gegen die sequentielle Ordnung interpretiert werden können. Sie würde sich ihre Gedanken machen. Nicht nur Frage-Antwort-Sequenzen, sondern auch Begrüßungen und Verabschiedungen, ja die Vielzahl unserer kommunikativen Alltagsgespräche sind in dieser Weise nach Sequenzen geordnet und entsprechend ritualisiert. Oft handelt es sich um Paarsequenzen (adjacency pairs, s. Kap. 6.7), die eine Serie von zwei gekoppelten Akten umfassen. Aber es gibt selbstverständlich auch sequentielle Ordnungen von umfassenderen Interaktionen, etwa Verkaufs- oder Verhandlungsgesprächen. Eine wichtige Forschungsfrage der Konversationsanalyse gilt nun der Analyse der spezifischen Ordnungsprinzipien von Interaktionssequenzen. Von Bedeutung ist zweitens das Prinzip der Indexikalität oder Kontextsensitivität. Äußerungen verweisen auf einen Äußerungskontext, und der Sinn oder die Bedeutung von Äußerungen ergibt sich nur dadurch, dass man sie in einen Kontext situiert. Sprachliche Äußerungen und ihr situativer Kontext sind unaufhebbar aufeinander bezogen. Das Erzählen eines Witzes wird nicht durch die besondere Kompetenz des Erzählers zu einem kommunikativen Erfolg, sondern, so Harvey Sacks (vgl. Sacks 1974), weil bestimmte kommunikative Rahmenbedingungen gegeben sein müssen, dass aus einem Witz wirklich ein Witz werden kann. Für die Kommunikationsbeteiligten-- und erst recht für alle Analytiker-- stellt sich aber das Problem, den Aspekt der Situation oder des Kontextes zu bestimmen, der für eine Äußerung oder eine Handlung relevant ist. Der Kontext selbst weist eine unerschöpfliche und unauslotbare Qualität von Bezugs- und Bedingungsfaktoren auf. Aus diesem Grunde postuliert die Konversationsanalyse, dass ein ganz bestimmter Kontext für die Kommunikatoren eine herausgehobene Relevanz besitzt, nämlich der sequentielle Kontext. Damit ist folgender Sachverhalt gemeint: Eine jede Äußerung ist ein Ereignis, das für die nachfolgende Äußerung bzw. die nachfolgenden Äußerungen einen Kontext schafft. Jede Äußerung bezieht sich oder wird von den Kommunikatoren auf die vorhergehende Äußerung bezogen. In Interaktionen werden vorangegangene Äußerungen ständig herangezogen, um gegenwärtige Äußerungen zu interpretieren, interprewww.claudia-wild.de: <?page no="124"?> [UTB-M]__Schuetzeichel__Soziologische_Kommunikationstheorien(2)____[Druck-PDF]/ 13.08.2015/ Seite 124 www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Schuetzeichel__Soziologische_Kommunikationstheorien(2)____[Druck-PDF]/ 13.08.2015/ Seite 125 6.5 Organisation der Konversation 125 tierbar oder ›accountable‹ zu machen. In Konversationen stellt die sequentielle Bezugnahme die wichtigste Methode (im ethnomethodologischen Sinn) der Produktion und der Interpretation von einzelnen Äußerungen dar. Und die Sequenzanalyse selbst ist die wichtigste (soziologische) Methode der Konversationsanalyse zur Rekonstruktion der Logik und Dynamik von Gesprächen. Wichtig ist in diesem Zusammenhang die Unterscheidung von ›structural provisions‹ und ›participant’s work‹, die Gail Jefferson (1972: 315) getroffen hat. Jefferson weist damit darauf hin, dass in Konversationen zwar bestimmte strukturelle Bedingungen vorherrschen, diese strukturellen Bedingungen aber immer den Interaktionspartnern Optionen, Alternativen und Spielräume eröffnen. Das Grußritual verlangt, dass auf einen Gruß ein Gegengruß erfolgt, aber man kann sowohl durch das Verweigern des einen wie des anderen seine distanzierte Haltung zu dem Interaktionspartner dokumentieren. Oder wenn jemand beginnt, eine Geschichte zu erzählen, so befinden sich die Partner automatisch in einer zuhörenden Rolle, die sie aber wiederum durch bestimmte Botschaften mehr oder weniger zugewandt gestalten können. Oder wenn Frau Schmidt den Sauerbraten empfiehlt, dann kann ihr Mann diese Empfehlung annehmen oder ablehnen und damit ganz andere Sachverhalte mitkommunizieren-- aber eben auch nur dann, wenn eine Empfehlung erfolgt. Konversationen bewegen sich also nicht wie einmal auf Schienen gesetzte Züge (vgl. Bergmann 1981: 22), sondern sie stellen, wenn man im Bild bleiben will, ein Gleisbett dar, in welchem die Interaktionspartner an jedem Knotenpunkt die entsprechenden Weichenstellungen vornehmen können. Bevor wir einzelne Untersuchungsbereiche der Konversationsanalyse darstellen, müssen wir kurz auf die methodischen Positionen zu sprechen kommen (siehe hierzu insbesondere Bergmann 1981), falls man überhaupt von einem festen methodischen Regelkanon sprechen kann. Denn für die Konversationsanalyse wie für die Ethnomethodologie gilt, dass sie methodologisch induzierte Vorannahmen als potenzielle Störfaktoren für eine gegenstandsadäquate Rekonstruktion betrachtet. Im Gegensatz zu vielen anderen linguistischen und soziologischen Theorien, die ihren Gegenstand gleichsam introspektiv analysieren, legen die Konversationsanalytiker größten Wert auf empirische Untersuchungen in möglichst naturalen Settings. Die Methoden der Konversationsanalyse sind induktiv. Viele Aufzeichnungen natürlicher Konversationen sucht man nach wiederkehrenden Strukturmustern ab. Die Analyse von Gesprächssequenzen lässt sich dabei in einem ersten Schritt von der Frage leiten, ob gemeinsame Ordnungsmuster identifiziert und lokalisiert werden können. Daraufhin stellt sich zweitens die Frage, welche kommunikativen Probleme mit diesen interaktiven Ordnungsmustern gelöst werden sollen. Konversationen werden also methodisch dadurch aufgeschlüsselt, dass sie auf Kommunikationsprobleme hin bezogen werden. <?page no="125"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Schuetzeichel__Soziologische_Kommunikationstheorien(2)____[Druck-PDF]/ 13.08.2015/ Seite 126 126 6 Ethnomethodologie und Konversationsanalyse 6.6 Turn takings Ein wichtiger Untersuchungsbereich resultiert aus der Frage, wie Konversationen in ihrem Aufbau und in ihrem Ablauf organisiert sind-- hier bestehen zahlreiche Parallelen zu dem Konzept der kommunikativen Gattungen von Luckmann. Einzelne ›turns‹, Gesprächsbeiträge oder Redezüge stellen die Grundeinheiten sprachlicher Kommunikation dar. Wie ist die Abfolge der turns organisiert und wie wird der Wechsel der Sprecher- und Hörerrollen, das sogenannte ›turn taking‹, vorgenommen? Welche Methoden sind hierfür verantwortlich? Diese Frage ist nicht nur für die Frage der sozialen Positionierung von Sprecher und Hörer wichtig, sondern auch für die soziale Semantik. Denn die Bedeutung dessen, was in Interaktionen geäußert wird, hängt davon ab, an welcher Stelle und in welcher Sequenz man es mitteilt. Und es kommt noch ein weiterer wesentlicher Punkt hinzu: In den Konversationen selbst wird interaktiv über den Sinn der einzelnen Redezüge entschieden. Man kann Kommunikationen also nicht als eine Addition einzelner Redebeiträge auffassen, deren kommunikative Identität die jeweiligen Sprecher bestimmen. Die einzelnen turns sind eher Produkt der jeweiligen kommunikativen Situation (vgl. Goodwin 1979). Oder wie es Schegloff (1992: XVII) formuliert: »The talk was the action«. Konversationen sehen meist alternierende Sprecherabfolgen vor, in denen jeweils in und mit den einzelnen Beiträgen die Positionen für mögliche Sprecherwechsel und in der Regel auch der nachfolgende Sprecher und unter Umständen auch die möglichen Äußerungstypen festgelegt werden. Eine typische Konversation sieht so aus: Ein Teilnehmer A sagt etwas und endet, Teilnehmer B beginnt, sagt etwas, und endet-- bei zwei Teilnehmern ergibt sich also die A-B-A-B-A-B-…-Verteilung. Wie aber wird im Gespräch selbst eine solche Distribution erreicht? Dieser in einer natürlichen Einstellung selbstverständliche und kaum nachfragewürdige Sachverhalt stellt sich aus einer analytischen Perspektive doch als erklärungsbedürftig dar. Denn es ist erstaunlich, dass nur weniger als fünf Prozent von Gesprächen simultan verlaufen, Pausen dauern oft nur wenige Mikrosekunden. Wie also werden diese Übergänge ohne bemerkenswerte Simultaneität und ohne große Pausen produziert? Die Sprecherrolle stellt ein knappes Gut dar, deren Verteilung durch Regeln reguliert werden muss. Sacks, Schegloff und Jefferson (1974, 1978) bezeichnen diese Regeln als ›local management system‹, welches die einzelnen Redebeiträge in ihrer Abfolge reguliert. Diese lassen sich wiederum in einfache syntaktische Einheiten wie Sätze, Teilsätze oder einfache Nominalphrasen untergliedern, die sich mittels Intonation oder Prosodie als Bausteine von Redebeiträgen zu erkennen geben. Zwischen den einzelnen Redebeiträgen befinden sich übergangsrelevante Orte (transition relevance places), die markieren, wo der Wechsel in der Sprecherrolle stattfinden kann. Aus welchen syntaktischen Einheiten ein Redebeitrag auch immer besteht- -jeder Redebeitrag muss es zulassen, dass sein Ende eingeplant ist (projectability), um einen Sprecherwechsel zuzulassen. <?page no="126"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Schuetzeichel__Soziologische_Kommunikationstheorien(2)____[Druck-PDF]/ 13.08.2015/ Seite 126 www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Schuetzeichel__Soziologische_Kommunikationstheorien(2)____[Druck-PDF]/ 13.08.2015/ Seite 127 6.6 Turn takings 127 Neben dem Wechsel der Redebeiträge können in Konversationen auch bestimmte Anredetechniken vorgesehen sein, die einen bestimmten Sprecher zur Einnahme der Sprecherposition einladen. Hierbei kann man folgendes allgemeine Regelsystem identifizieren (nach Levinson 1994: 297): Regel 1: Gilt für den ersten transition relevant place zu Beginn eines jeden Redebeitrags: a) Wenn Sprecher A in seinem laufenden Beitrag Sprecher B auswählt, muss Sprecher B als nächster sprechen. b) Wenn Sprecher A nicht Sprecher B auswählt, kann jeder anderer Sprecher X sich selbst wählen, wobei der erste, der sich meldet, das Recht gewinnt, den nächsten Beitrag zu liefern. c) Wenn Sprecher A nicht Sprecher B auswählt und auch kein anderer Sprecher X die Option B wählt, dann kann Sprecher A fortfahren. Regel 2: Wenn von Sprecher A Regel 1c) angewandt wurde, dann gelten bei dem nächsten übergangsrelevanten Ort die Regeln 1a) bis 1c): Diese Regeln sorgen dafür, dass kommunikative Handlungen ganz unterschiedliche Zuschreibungen und Bewertungen erfahren können. Schweigen lässt sich z. B. dann als ein Verstummen begreifen, wenn Regeln 1a) bis 1c) von einem Beteiligten falsch ausgelegt werden, es kann aber auch als zuschreibbares Schweigen interpretiert werden, wenn Regel 1a) in Kraft tritt, der eingeladene Sprecher aber nicht das Wort ergreift. Dies ist wiederum ein Beispiel für das Prinzip der Lokalität-- Gespräche sind durch ein lokal und situativ bezogenes Regelsystem, ein ›local system management‹ strukturiert. Sie orientieren und entwickeln sich von Beitrag zu Beitrag, die retrospektiv und prospektiv aufeinander Bezug nehmen. Konversationsanalytiker behaupten, dass die oben angeführten Regeln für viele informelle Alltagsgespräche gelten. Aber natürlich kann die Zuordnung von Sprecherrollen auch nach anderen Prinzipien geregelt sein. Es gibt in allen Gesellschaften und Kulturen konversationelle Systeme für den Wechsel der Sprecherrollen. Dieser kann zum Beispiel nach Senioritätsprinzipien organisiert sein. Er kann sich an dem Status und dem sozialen Rang der Beteiligten anlehnen-- wenn A einen höheren Rang als B und B einen höheren Rang als C innehat, dann wird wohl die Reihenfolge A-B-C eintreten. Viele andere Situationen sehen hingegen formalisierte und institutionalisierte Wechsel der Sprecherrollen vor. Man denke z. B. an rituelle und ritualisierte Kommunikationen wie Gottesdienste, an Schulunterricht, an Aufsichtsratssitzungen, Gerichtsverhandlungen. In die oben genannten Regeln, die für informelle Gespräche gelten, können also formalisierte Subregeln eingreifen. Konversationen orientieren sich retrospektiv und prospektiv. Und sie weisen eine sequentielle Strukturierung auf. Die Form der Sequenzen ergibt sich aus den Problemen, die jeweils in den Konversationen gelöst werden müssen. So heben sich z. B. <?page no="127"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Schuetzeichel__Soziologische_Kommunikationstheorien(2)____[Druck-PDF]/ 13.08.2015/ Seite 128 128 6 Ethnomethodologie und Konversationsanalyse Sequenzen, in denen metakommunikativ Verständigungsprobleme zur Lösung anstehen, insular aus der allgemeinen Gesprächsabfolge heraus. Sequentielle Organisation der Konversation heißt auch, dass sich Konversationen immer nur in dem Übergang von einem Redezug zum nächsten organisieren, denn es hängt ja, wie schon angedeutet, von den Optionen ab, die in den jeweiligen Übergängen ergriffen werden, welche Bedeutung die einzelnen Beiträge in den jeweiligen Situationen haben. Das heißt nicht, dass es raum- und zeitenthobene strukturelle Vorgaben für die jeweiligen Konversationsformen gibt, sondern dass diese strukturellen Vorgaben nicht aus sich heraus den Ablauf und den Aufbau von Konversationen bestimmen. Sie sind auf die situative Umsetzung angewiesen, wie es dem Prinzip der Kontextsensitivität entspricht. Es handelt sich bei den konversationalen Ordnungsprinzipien um Regeln, die nicht immer befolgt werden müssen, die aber gerade auch durch Abweichungen eine Bestätigung erfahren. 6.7 Adjacency pairs Besonders intensiv werden von den Konversationsanalytikern Paarsequenzen bzw. ›adjacency pairs‹ untersucht. Sie stellen ein weiteres local system management dar. Dabei handelt es sich um Paare kommunikativer Handlungen, die aufeinander folgen. Viele unserer Situationen, man denke nur an Begrüßungen oder Verabschiedungen, sind durch die Ordnungsparameter solcher adjacency pairs geregelt. Neben zweigliedrigen Adjazenzpaaren (Fragen- - Antworten, Gruß- - Gruß), die in unserem kommunikativen Haushalt wohl die Mehrheit darstellen, gibt es auch mehrgliedrige Sequenzen (Fragen-- Gegenfragen-- Antworten, Fragen-- Antworten-- Nachfragen). Nach Schegloff und Sacks (1973) lassen sich adjacency pairs in der folgenden Weise charakterisieren: Es handelt sich um eine Sequenz von zwei oder mehreren Äußerungen, die a) nebeneinander stehen, b) von verschiedenen Sprechern produziert werden, c) als erster Teil und zweiter Teil geordnet sind und d) so geordnet sind, dass ein bestimmter erster Teil einen bestimmten zweiten Teil verlangt. Für solche Paarsequenzen gilt die Regel, dass der Sprecher, der den ersten Teil liefert, bei der erstmöglichen Vollendung seinen Part beendet und dem zweiten Sprecher Raum für seinen Part lässt, der sich auf den ersten bezieht. Wenn Frau Schmidt nach Hause kommt und von ihrem Ehemann begrüßt wird, so sollte dieser nach einem »Hallo, wie geht es dir? Schön, dich zu sehen« oder Ähnlichem eine Pause einlegen, um Frau Schmidt ihrerseits die Möglichkeit der Vollendung der Paarsequenz zu geben. Ist dies nicht der Fall, so könnte sich Frau Schmidt fragen, ob sie überhaupt <?page no="128"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Schuetzeichel__Soziologische_Kommunikationstheorien(2)____[Druck-PDF]/ 13.08.2015/ Seite 128 www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Schuetzeichel__Soziologische_Kommunikationstheorien(2)____[Druck-PDF]/ 13.08.2015/ Seite 129 6.8 Multimodalität der Interaktion 129 begrüßt wurde. Am Beispiel der Paarsequenzen macht die Konversationsanalyse auf einen wichtigen Sachverhalt aufmerksam. In Kommunikationen legt jede Äußerung eine Situationsbestimmung vor, die von der oder den sich anschließenden Äußerungen interpretiert und weitergeführt wird. Dieser Sachverhalt wird als ›sequentielle Implikativität‹ bezeichnet (vgl. auch Coulter 1991). Adjacency pairs können aber im Alltagsgespräch vielerlei Modifikationen erfahren (vgl. Levinson 1994: 303 f.). Die Regel a) der Nachbarschaft wird oft durch Einschubsequenzen gelockert, was nicht heißt, dass das zentrale Prinzip der Erwartbarkeit eines abschließenden zweiten Teils aufgehoben würde. Eine solche Einschubsequenz könnte z. B. bei einer Grußadjazenz folgendermaßen aussehen: T1 Frau Schmidt: Hallo! Schön, dass du schon nach Hause kommen konntest. T2 Herr Schmidt: Mein Gott, ist das ein Wetter draußen. Weißt du, was mir heute passiert ist? T3 Frau Schmidt: Nein. T4 Herr Schmidt (drückt Frau Schmidt einen Kuß auf die Wange) T5 Frau Schmidt: Was ist denn passiert? Die eigentliche Adjazenz in der kommunikativen Ordnung eines Grußes besteht zwischen T1 und T4. Aber sie kann natürlich in einen weiteren diskursiven Zusammenhang eingelagert sein. Adjazent sind T1 und T4, weil sie in diesem Kontext aufeinander verweisen, weil T1 eine Erwartung weckt und von T4 eingelöst wird, wobei natürlich auch andere Einlösungsmöglichkeiten bestehen und an anderen Sequenzorten platziert werden könnten. Aber auch zwischen T2 und T5 besteht eine adjazente Beziehung. 6.8 Multimodalität der Interaktion Kommen wir in aller Kürze noch auf eine wichtige jüngere Entwicklung im Kontext der ethnomethodologischen Konversationsanalyse zu sprechen. Diese befasst sich mit der situativen Verschränkung von materieller Welt, körperlichen Gesten, insbesondere von Gesten des Zeigens, und Sprechakten bzw. Äußerungen. Damit nimmt sie auf Untersuchungen zur mutualen Organisation von Sprache und Gestik (vgl. Kendon 2004) oder von sogenannter verbaler und nonverbaler Kommunikation auf, betont nun viel stärker die Kokonstitution und wechselseitige Abhängigkeit dieser beiden semiotischen Ressourcen in interaktiven Situationen. Diese Entwicklung ist deshalb wichtig, weil sie den Eindruck revidiert, dass es sich bei Kommunikation immer nur um sprachliche Kommunikation handelt, in der man sich durch sprachliche Äußerungen auf etwas in der Welt bezieht und alleine diese bedeutungskonstituierend sind. Aber das gilt zumindest für Interaktionen in der Regel nicht: Hier wirken sprachliche Äußerungen, Gesten des Zeigens und damit auch die materiale Welt an <?page no="129"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Schuetzeichel__Soziologische_Kommunikationstheorien(2)____[Druck-PDF]/ 13.08.2015/ Seite 130 130 6 Ethnomethodologie und Konversationsanalyse der Konstitution von Bedeutung im Kommunikationsprozess multilateral mit. Dies wird als Multimodalität der Kommunikation beschrieben. Und mehr noch: Die Bedeutung von sprachlichen Äußerungen ergibt sich gerade aus den körperlichen Zeigegesten auf etwas. Die beiden Ebenen sind miteinander verschränkt und auch analytisch nicht zu trennen. Machen wir uns dies an einem Beispiel deutlich, welches Jürgen Streeck, Charles Goodwin und Curtis LeBaron benutzen, um auf die »embodied interaction in the material world« hinzuweisen (vgl. Streeck / Goodwin / LeBaron 2011: 1 f.; vgl. auch Goodwin 2000 u. 2007). Bei einer archäologischen Grabung stehen die Grabungsleiterin und eine Studentin gebückt über einer Fundstelle. Die Grabungsleiterin sagt »Wha’do you think of: « und sie zeigt mit ihrem Zeigefinger auf ein bestimmtes Objekt. Die Äußerung ist unvollständig, es wird nichts über den möglichen Gegenstand gesagt, sondern es wird eine Lücke gelassen, die durch eine Zeigegeste gefüllt wird. Die Grabungsleiterin zeigt auf ein Objekt. Auch die Studentin zeigt nun auf etwas. Es kommt also zu einer triadischen Konstellation von Gesten und etwas in der materiellen Welt, die ihrerseits ›talk‹ evozieren-- und umgekehrt. Interaktionen sind demnach in unterschiedlichen Graden stets als verkörperte Interaktionen zu begreifen, in denen der materiale Kontext eine sinnkonstitutierende Rolle spielt. Interaktionen greifen also auf unterschiedliche semiotische Ressourcen zurück: »[…] talk, gesture, and structure in the world mutually elaborate each other.« (Streeck / Goodwin / Le Baron 2011: 2) Somit stellt sich die Frage, wie diese Ressourcen zusammenwirken und in interaktiven Situationen kombiniert und wieder aufgelöst werden. Dabei wird von den Interaktionsteilnehmern ein ›Accounting‹ dergestalt vorausgesetzt, dass sie in der Lage sind, die körperlichen Bewegungen als an sie adressierte Gesten zu interpretieren. Die Konversationsanalyse geht diesbezüglich davon aus, dass sich in Interaktionen »embodied participation frameworks« (Goodwin 2000) bilden, also verkörperlichte Interaktionsmuster, die situationsübergreifend die wechselseitige Wahrnehmung wie die gemeinsame Fokussierung auf Elemente der materialen Welt leiten. 6.9 Zwischenbilanz Im Zentrum der Ethnomethodologie und der Konversationsanalyse steht die Frage, wie in Kommunikationen Ordnungen hergestellt und Verständigungsweisen organisiert werden. Sie analysieren die Strukturen, die den Verlauf von Kommunikationsprozessen ordnen. Dabei gehen sie von der Prämisse aus, dass sich kommunikative Ordnung nur mit kommunikativen Mitteln herstellen lässt. Es gibt kein Jenseits der Kommunikation, das strukturbildend in die Kommunikation hineinragt, sondern alles beruht auf Eigenleistungen. Nicht die kommunikativen Absichten oder Intentionen, sondern die kommunikativen Praktiken legen die Bedeutung des Gesagten fest. <?page no="130"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Schuetzeichel__Soziologische_Kommunikationstheorien(2)____[Druck-PDF]/ 13.08.2015/ Seite 130 www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Schuetzeichel__Soziologische_Kommunikationstheorien(2)____[Druck-PDF]/ 13.08.2015/ Seite 131 6.9 Zwischenbilanz 131 Ethnomethodologie und Konversationsanalyse untersuchen die Methoden und Regeln der Kommunikation. Sie machen darauf aufmerksam, dass aufgrund der unhintergehbaren Indexikalität Kommunikation nicht als regelgeleiteter Prozess begriffen werden kann, sondern als situativ zu bewältigende Koordination interpretativer Leistungen. Dabei zehren die Interpretationsleistungen von einem als gemeinsam unterstellten Erfahrungs- und Wissenshorizont. Die Kommunikation schafft sich ihre eigene Wirklichkeit. Ethnomethodologie und Konversationsanalyse machen deutlich, dass sprachliche Äußerungen in ihrem Gehalt unterdeterminiert sind- - sie können auf ganz unterschiedliche Weisen interpretiert werden und sind nicht imstande, den Hörer bzw. Rezipienten auf eine einzelne Interpretationsweise festzulegen. Im Unterschied zur Ethnomethodologie stellt die Konversationsanalyse stärker die Leistungen der Sprache in den Vordergrund-- es sind die ›Methoden‹ der Sprache, weniger die Intepretationsleistungen der Kommunikatoren, die Kommunikation ermöglichen. Ethnomethodologie und Konversationsanalyse befassen sich nur mit mündlicher Kommunikation und ihrer unaufhebbaren Indexikalität. Wie aber ist das bei medial anders fixierten Kommunikationsformen? Wie wird die Indexikalität bei der schriftlichen Kommunikation oder bei den Formen, die wir symbolisch generalisierte Kommunikationsmedien genannt haben, bearbeitet? Stellt die Indexikalität auch in diesem Formen das zentrale Problem dar, oder zeichnen sich diese Formen nicht gerade dadurch aus, dass die Medien von sich aus die Indexikalität viel stärker reduzieren? Basislektüre: Garfinkel, Harold (1981): Das Alltagswissen über soziale und innerhalb sozialer Strukturen. In: Arbeitsgruppe Bielefelder Soziologen (Hg.): Alltagswissen, Interaktion und gesellschaftliche Wirklichkeit. 5. Aufl. Opladen, S. 189-262. Garfinkel, Harold (1996): Ethnomethodology’s Program. In: Social Psychology Quarterly 59: 5-21 Sacks, Harvey (1992): Lectures on conversation. Vol. I and II. Edited by G. Jefferson with introductions by E. A. Schegloff. Oxford. Einführungsliteratur: Bergmann, Jörg R. (2000a): Ethnomethodologie. In: Uwe Flick u. a. (Hg.): Qualitative Forschung. Reinbek bei Hamburg, S. 118-135. Bergmann, Jörg R. (2000b): Konversationsanalyse. In: Uwe Flick u. a. (Hg.): Qualitative Forschung. Reinbek bei Hamburg, S. 524-537. Lehn, Dirk vom (2012): Harold Garfinkel. Konstanz. <?page no="131"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Schuetzeichel__Soziologische_Kommunikationstheorien(2)____[Druck-PDF]/ 13.08.2015/ Seite 132 132 6 Ethnomethodologie und Konversationsanalyse Weiterführende Literatur: Bergmann, Jörg R. (1991): Goffmans Soziologie des Gesprächs und seine ambivalente Beziehung zur Konversationsanalyse. In: Robert Hettlage / Karl Lenz (Hg.): Erving Goffman- - ein soziologischer Klassiker der zweiten Generation. Bern, Stuttgart, S. 301-326. Garfinkel, Harold (2008): Toward a Sociological Theory of Information. Boulder. Schegloff, Emanuel A. (2001): Accounts of Conduct in Interaction: Interruption, Overlap, and Turn-Taking. S. 287-321 in: Jonathan H. Turner (Hg.): Handbook of Sociological Theory. New York. Schegloff, Emanuel A. (1988): Goffman and the analysis of conversation. In: Paul Drew (Hg.): Erving Goffman: Exploring the interaction order. Cambridge, S. 89-135. Sidnell, Jack / Stivers, Tanya (Hg.) (2014): The Handbook of Conversation Analysis. Malden / Oxford. Ten Have, Paul (1999): Doing Conversation Analysis. A Practical Guide. London. <?page no="132"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Schuetzeichel__Soziologische_Kommunikationstheorien(2)____[Druck-PDF]/ 13.08.2015/ Seite 132 www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Schuetzeichel__Soziologische_Kommunikationstheorien(2)____[Druck-PDF]/ 13.08.2015/ Seite 133 133 7 Exkurs 3: Sprechakttheorie Wer etwas sagt, der handelt auch- - dies ist die Grundprämisse der sogenannten Sprechakttheorie, die in ihren Grundlagen und Grundzügen von John L. Austin und John R. Searle, zwei bedeutenden Philosophen, entwickelt wurde. Es gibt wohl keinen genuin sprachphilosophischen Ansatz, der einen solchen Einfluss in der Soziologie-- besonders vermittelt über das Werk von Jürgen Habermas-- gewonnen hat wie diese Theorie. Sie unterscheidet sich von anderen sprachphilosophischen und linguistischen Ansätzen darin, dass nicht Worte, Sätze oder Aussagen, sondern in der Gestalt von Sprechakten handlungstheoretisch definierte Elemente im Zentrum der Analyse stehen. Von daher gibt es eine enge Verwandtschaft zu den Überlegungen von Grice (Kap. 3). Sie unterscheiden sich jedoch in einem Punkt sehr deutlich: Gemäß den Sprechakttheoretikern, insbesondere Searle, sind nicht Sprecherabsichten, sondern Regeln oder Konventionen für das Verstehen von Sprechakten konstitutiv. Herausragender Inaugurator der Sprechakttheorie ist John L. Austin. Austin, der in der Tradition von Wittgenstein den Gebrauch von sprachlichen Einheiten klären will, sagt der zu seiner Zeit vorherrschenden sprachphilosophischen Auffassung, die mit dem logischen Positivismus einhergehende verifikationistische Theorie der Bedeutung den Kampf an. Dieser Auffassung zufolge sind alle Sätze sinnlos, die nicht prinzipiell verifiziert werden können. Nach Austin werden damit aber nicht nur ethische oder ästhetische Sätze sinnlos, sondern viele andere, mit denen wir uns im Alltag verständigen. Streng genommen, so Austin, haben viele Sätze auch nicht die Funktion, wahr oder falsch zu sein, sondern es sind Sätze, mit denen wir etwas tun. Dabei handelt es sich um solche Sätze wie ›Ich entschuldige mich‹, ›Die Regierung des Landes XY erklärt dem Land AB den Krieg‹, ›Ich gebe dir mein Wort‹ oder ›Ich wette, dass morgen die Sonne scheint‹. Es handelt sich um Akte wie andere Handlungen auch, aber um Sprechakte. Wenn man die letztgenannten Aussagen so analysiert, als ob mit ihnen Sachverhalte so beschrieben würden, wie dies etwa der Fall ist in einem normalen deskriptiven Satz wie ›Der Ball ist rot‹, begeht man einen deskriptiven Fehlschluss. Wenn etwa Herr Schmidt zu seiner Frau sagt ›Ich entschuldige mich‹, so beschreibt er damit ja nicht seinen privaten Bewusstseinszustand oder einen seiner mentalen Akte, sondern er vollzieht eine Handlung. Solche Aussagen haben also nicht die Funktion, Tatsachen zu beschreiben, sondern soziale Tatsachen zu bewirken und zu konstituieren. Von daher forderte Austin, dass der eigentliche Gegenstand der Sprachphilosophie der Sprechakt im jeweiligen Kontext einer Redesituation zu sein habe (vgl. Austin 1962: 163). Nicht Zeichen oder Wörter oder Sätze sind der primäre oder grundlegende Gegenstand der sprachphilosophischen Untersuchungen, sondern Sprechakte, und diesen ist eine performativ-propositionale Doppelstruktur eigen. Performative Äußerungen sind nicht wahr oder falsch, wohl aber können sie scheitern. Austin erstellte eine Typologie von Bedingungen, denen diese Äußerungen <?page no="133"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Schuetzeichel__Soziologische_Kommunikationstheorien(2)____[Druck-PDF]/ 13.08.2015/ Seite 134 134 7 Exkurs 3: Sprechakttheorie genügen müssen, wenn sie erfolgreich sein wollen (felicity conditions). Zu diesen Bedingungen gehören folgende: (1) Es muss ein konventionelles Verfahren mit entsprechend spezifizierten Personen und Begleitumständen geben, in denen die Sprechakte zu einem Ergebnis führen können. (2) Alle Beteiligten müssen das Verfahren korrekt durchführen. (3) Die Personen müssen die in dem Verfahren verlangten Gedanken und Gefühle hegen und sich nach ihnen richten. Wenn Herr Schmidt gegenüber Frau Schmidt äußern würde ›Hiermit spreche ich unsere Scheidung aus‹, so muss dieser Sprechakt misslingen, weil es in Deutschland kein Verfahren gibt, welches Herrn Schmidt befugt, sich selbst von seiner Ehefrau zu scheiden. Wohl aber könnte dieser Sprechakt in manchen Ländern mit islamischen Recht, wenn er dreimal wiederholt wird, durchaus glücken. Ein Sprechakt wird andererseits-- und dies wird durch die Bedingungen unter (3) kenntlich gemacht-- missbraucht, wenn sie unaufrichtig geäußert werden. Performative Äußerungen, so Austin, sagen nicht (oder nicht nur) etwas aus, sondern sie bewirken etwas, und sie können etwas bewirken, weil sie in entsprechende soziale Kontexte oder Institutionen eingebettet sind. Institutionen geben vor, ob sie glücken oder missglücken. Seit Austin hat der Terminus der Performanz in den Sozial- und Kulturwissenschaften eine eindrucksvolle Karriere gemacht. Er hat sich von einem Terminus technicus zu einem ›umbrella term‹ gewandelt, der auch noch die verschiedensten Phänomene unter sich versammeln muss (vgl. Wirth 2002). Die von Austin eingeführte Differenzierung von performativen und konstativen Äußerungen, mit denen Äußerungstypen unterschieden werden, wird von ihm schließlich aus Gründen, mit denen wir uns hier nicht zu befassen brauchen, erheblich modifiziert und ausgeweitet. Austin unterscheidet nicht mehr Äußerungstypen, sondern Akttypen, und zwar solche, die für alle möglichen Äußerungen gleichermaßen gelten. Die Dichotomie performativ / konstativ wird abgelöst von der These, dass jeder Sprechakt zusätzlich zu seiner Bedeutung eine spezifische Handlung ausführt oder eine spezifische Kraft hat. Austin transformiert den Begriff der performativen Äußerung in den der illokutionären Kraft von Sprechakten. Nach Austin kann man auf drei grundlegende Arten und Weisen etwas tun, indem man etwas sagt (wobei Parallelen mit dem Organonmodell von Bühler nicht zu übersehen sind): • lokutionärer Akt: die Äußerung eines Satzes mit bestimmter Bedeutung und Referenz (etwas sagen); • illokutionärer Akt: durch die Äußerung eines Satzes wird etwas mittels seiner illokutionären Kraft vollzogen (etwas tun, indem man etwas sagt); • perlokutionärer Akt: durch die Äußerung eines Satzes wird auf den Hörer in Abhängigkeit von den Begleitumständen eine Wirkung ausgeübt. An die Stelle der Dichotomie von performativen und konstativen Äußerungen tritt also die Unterscheidung von lokutionären, illokutionären und perlokutionären Akten. Im Zentrum des Interesses stehen dabei die illokutionären Akte. Alle Äußewww.claudia-wild.de: <?page no="134"?> [UTB-M]__Schuetzeichel__Soziologische_Kommunikationstheorien(2)____[Druck-PDF]/ 13.08.2015/ Seite 134 www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Schuetzeichel__Soziologische_Kommunikationstheorien(2)____[Druck-PDF]/ 13.08.2015/ Seite 135 6.9 Zwischenbilanz 135 rungen dienen nicht nur dazu, Propositonen auszudrücken, sondern sie führen auch Handlungen aus. Sie sind mit einer illokutionären Kraft (illocutionary force) ausgerüstet. Und dieser Bedeutungsaspekt von Sprechakten ist etwas, was sich in einer wahrheitsfunktionalen Semantik nicht erfassen lässt, da er nicht wahr oder falsch ist, sondern nur gelingen kann oder nicht. Illokutionen weisen Gelingensbedingungen auf. Propositionen beschreiben etwas, was der Fall ist, die illokutionären Akte hingegen geben an, wie diese Beschreibungen von einem Hörer verstanden werden und was er mit einem Sprechakt anfangen soll. Illokutionen lassen sich deshalb nur in der pragmatischen Dimension analysieren. Man kann sagen, dass es sich bei den illokutionären Aspekten um die kommunikative Funktion von sprachlichen Äußerungen handelt, eine Funktion, die nicht auf die Darstellungs- oder propositionale Funktion reduziert werden kann. Illokutionäre Akte sind in Konventionen eingebettet und erreichen ihre Ziele dadurch, dass sie gewisse Konventionen vollziehen. Sie sind in ihrer Wirkung dadurch bestimmt. Das ist der wesentliche Unterschied zu den perlokutionären Akten von Sprechhandlungen, deren Wirkung nicht an Konventionen geknüpft ist, sondern von dem Sprecher intentional berechnet wird. Die Bestimmung der illokutionären Kraft von Sprechakten steht auch im Mittelpunkt der Überlegungen von Searle (vgl. Searle 1969 / 1971 u. 1979 / 1982), der die Ansätze von Austin weiterführt, systematisiert und modifiziert. Zu diesem Zweck führt Searle die wichtige Unterscheidung von konstitutiven und regulativen Regeln ein. Diese regeln Praktiken, die logisch von ihnen unabhängig sind und bereits bestehen, konstitutive Regeln ermöglichen erst bestimmte Praxen. Regulative Regeln kontrollieren vorgängige Aktivitäten, so, wie die Verkehrsregeln den Straßenverkehr zu regulieren suchen, obwohl es Straßenverkehr sicherlich auch ohne solche Regeln gibt. Ähnlich verhält es sich mit Kleidungsvorschriften oder Benimmregeln. Konstitutive Regeln aber produzieren erst die Handlungen selbst, sie konstituieren die Aktivität. Dies ist der Fall bei vielen Spielen, etwa dem Schach oder dem Fußball. Im Fußball wird etwas zu einer Handlung, etwa das Erzielen eines Tores, durch die Regeln, die festlegen, wann etwas als eine solche Handlung zu zählen hat. Ohne Regeln kein Fußballspiel. Konstitutive Regeln verfahren also nach der Form ›das Tun von X zählt als Y‹. Nach Searle erhalten Sprechakte ihre illokutionäre Kraft dadurch, dass sie in konstitutive Regeln eingebunden sind. Sprechakte sind Handlungen, für die es konstitutiv ist, dass sie in Übereinstimmung mit gruppenspezifischen, konstitutiven Regeln vollzogen werden. Sie stellen institutionelle Tatsachen dar. Entsprechend ist es die Aufgabe der Sprechakttheorie, a posteriori zu analysieren, was a priori gilt, nämlich die konstitutiven Regeln der einzelnen Sprechakttypen. Searles zentrale Aussage lautet: »Die Grundeinheit der sprachlichen Kommunikation ist nicht, wie allgemein angenommen wurde, das Symbol, das Wort oder der Satz, oder auch das Symbol-, Wort- oder Satzzeichen, sondern die Produktion oder Hervorbringung des Symbols oder Wortes oder Satzes im Vollzug des Sprechaktes. Das Zeichen als Mitteilung aufwww.claudia-wild.de: <?page no="135"?> [UTB-M]__Schuetzeichel__Soziologische_Kommunikationstheorien(2)____[Druck-PDF]/ 13.08.2015/ Seite 136 136 7 Exkurs 3: Sprechakttheorie zufassen bedeutet, es als produziertes oder hervorgebrachtes Zeichen aufzufassen. Genauer: die Produktion oder Hervorbringung eines Satzzeichens unter bestimmten Bedingungen stellt einen Sprechakt dar, und Sprechakte […] sind die grundlegenden oder kleinsten Einheiten der sprachlichen Kommunikation.« (Searle 1969 / 1971: 30) »[Und Searle stellt dem die zentrale Bemerkung voran,] dass eine Sprache sprechen bedeutet, Sprechakte auszuführen-- Akte wie z. B. Behauptungen aufstellen, Befehle erteilen, Fragen stellen, Versprechungen machen usw., und auf abstrakterer Ebene Akte wie z. B. Hinweisen und Prädizieren- -, und dass die Möglichkeit dieser Akte allgemein auf bestimmten Regeln für den Gebrauch sprachlicher Elemente beruht und der Vollzug dieser Akte diesen Regeln folgt.« (Searle 1969 / 1971: 30) Wenn ein Sprecher einen Satz äußert, so müssen nach Searle drei Aspekte dieser Tätigkeit unterschieden werden. Er vollzieht (1) einen Äußerungsakt, indem er bestimmte Worte gebraucht, er vollzieht (2) einen propositionalen Akt, indem er gleichzeitig auf etwas referiert und etwas prädiziert, und er vollzieht (3) einen illokutionären Akt, indem er eine Handlung ausführt. Äußerungsakt, propositonaler Akt und illokutionärer Akt sind stets miteinander verbunden; man kann den einen nicht tun, ohne die anderen mit zu vollziehen. Searle versucht weiterhin, ein Schema zu entwickeln, welches die Arten möglicher illokutionärer Akte festhält. Dabei legte er folgende Aktklassen zugrunde: • Repräsentativa oder Assertiva: Verpflichten einen Sprecher auf die Wahrheit der ausgedrückten Proposition (aussagen, feststellen, bestreiten, insistieren, schließen etc.); • Direktiva: Versuche eines Sprechers, einen Adressaten dazu zu bringen, etwas zu tun (bitten, fragen, auffordern, anordnen, beauftragen, befehlen etc.); • Kommissiva: Verpflichten einen Sprecher zu einer künftigen Handlung (versprechen, anbieten, drohen, geloben, schwören, erlauben, garantieren etc.); • Expressiva: Drücken eine psychischen Zustand aus (danken, sich entschuldigen, gratulieren, loben, begrüßen etc.); • Deklarativa: Bewirken sofortige Veränderungen in einem konventionell-institutionellen System und hängen von komplexen außersprachlichen Bedingungen ab (taufen, kündigen, exkommunizieren, ernennen, verurteilen etc.). Wie aus der Aufzählung zu ersehen ist, stellt natürliche Sprache bestimmte performativ verwendbare Verben oder von diesen abgeleitete Ausdrücke bereit, um den illokutionären Sinn zu explizieren. Aber natürlich haben auch alle Aussagen, in denen keine expliziten performativen Verben vertreten sind, eine illokutionäre Kraft. Die Aussage von Frau Schmidt »Der Sauerbraten sieht lecker aus« muss entsprechend expliziert werden, z. B. zu der Aussage: »Ich behaupte, dass der Sauerbraten lecker aussieht«. In diesem Fall könnten je nach situativem Kontext sogar noch andere illokutionäre Klassen in Frage kommen, z. B. »Ich gratuliere dir dafür, dass der Sauerbraten so lecker aussieht« oder ähnliches. <?page no="136"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Schuetzeichel__Soziologische_Kommunikationstheorien(2)____[Druck-PDF]/ 13.08.2015/ Seite 136 www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Schuetzeichel__Soziologische_Kommunikationstheorien(2)____[Druck-PDF]/ 13.08.2015/ Seite 137 6.9 Zwischenbilanz 137 Illokutionäre Akte werden, wie bei Austin, von perlokutionären Akten unterschieden: »Illokutionäre Akte […] müssen wir von den Wirkungen oder Folgen unterscheiden, die sie bei Hörern haben. So könnte ich zum Beispiel dadurch, daß ich jemandem befehle, das-und-das zu tun, ihn dazu bringen, es zu tun. Indem ich mit ihm streite, mag ich ihn überreden. Indem ich eine Feststellung mache, mag ich ihn überzeugen; indem ich eine Geschichte erzähle, mag ich ihn amüsieren. In diesen Beispielen bezeichnet das jeweils erste Verb dieser vier Paare einen illokutionären Akt, das jeweils zweite Verb hingegen die Wirkung, die der illokutionäre Akt auf einen Hörer hat- - eine Wirkung wie: überreden, überzeugen oder jemanden zu etwas bringen. […] Illokutionäre Akte müssen typischerweise absichtlich vollzogen werden. Wer nicht die Absicht hatte, ein Versprechen zu geben oder eine Feststellung zu treffen, der hat kein Versprechen gegeben und keine Feststellung gemacht. Aber perlokutionäre Akte müssen nicht absichtlich vollzogen werden. Man mag jemanden von etwas überzeugen, zu etwas bringen, mit etwas belästigen oder amüsieren, ohne die Absicht zu haben, dies zu tun.« (Searle 2001: 163 f.; Hervorh. weggel.) Wir haben oben darauf hingewiesen, dass Sprechakte nicht Wahrheits-, sondern Gelingensbedingungen gehorchen. Diese bestehen in den für einen Akt konstitutiven Bedingungen. Ein Dank gelingt dann, wenn ein Sprecher aufrichtig seine Freude oder Zufriedenheit zum Ausdruck bringt. Und ein Versprechen gelingt dann, wenn ein Sprecher auf eine zukünftige Handlung Bezug nimmt und sich auf die Ausführung dieser Handlung festlegt. Gelingensbedingungen müssen erfüllt sein, wenn der jeweilige Sprechakt keinen Defekt aufweisen soll. Sie sind konstitutiv für den jeweiligen Akt. Davon zu unterscheiden sind Erfüllungsbedingungen. Sprechakte können nicht garantieren, dass sich auch erfüllt, was sie angeben. Denn es hängt nicht vom Vollzug des Aktes selbst ab, ob er erfüllt wird oder nicht, sondern von möglichen gegenwärtigen oder zukünftigen Zuständen in der Welt. Illokutionäre Akte haben allgemein die Form F(P), wobei ›F‹ die illokutionäre Kraft oder die kommunikative Funktion meint, ›P‹ den jeweiligen propositionalen Gehalt. Bei der Aussage von Frau Schmidt ist ›P‹ also ›dass der Sauerbraten lecker aussieht‹, und ›F‹ hat die illokutionäre Kraft einer Behauptung (einer Expression, einer Bitte). Die auf dem Werk von Austin und Searle aufbauende illokutionäre Logik (vgl. Rolf 1997, Searle / Vanderveken 1985, Vanderveken 1990 u. 1991) hat es sich zur Aufgabe gemacht, die illokutionäre Kraft von Sprechakten und deren Bedingungen näher zu untersuchen. Aber mit dieser müssen wir uns hier nicht weiter auseinandersetzen. Es sollte deutlich geworden sein, dass mit der sprechakttheoretischen Unterscheidung von Lokution, Illokution und Perlokution auf die unaufhebbar kommunikative Dimension von Sprachhandlungen hingewiesen wird. Im Zentrum der älteren Untersuchungen von Searle steht die Frage nach dem Verhältnis der konstitutiven Regeln zu den Sprechakten. Sprechakte lassen sich Searle zufolge als Realisierungen von zugrundeliegenden konstitutiven Regeln begreifen. <?page no="137"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Schuetzeichel__Soziologische_Kommunikationstheorien(2)____[Druck-PDF]/ 13.08.2015/ Seite 138 138 7 Exkurs 3: Sprechakttheorie Sprechen bedeutet, »Sprechakte in Übereinstimmung mit Systemen konstitutiver Regeln zu vollziehen.« (Searle 1969 / 1971: 69) Und genauer noch: Sprechakte sind institutionelle Gebilde, die wie alle anderen institutionelle Gebilde auf konstitutiven Regeln beruhen. Dies arbeitet Searle beispielsweise am Beispiel des Sprechakttyps ›Versprechen‹ heraus, indem er die Bedingungen analysiert, unter denen solche Sprechakte gelingen können. Aus den Gelingensbedingungen von Sprechakten lassen sich Searle zufolge die konstitutiven Regeln ableiten. Zu diesen Gelingensbedingungen gehören (1) allgemeine Rahmenbedingungen (die mit dem Sprechen von Sprachen und von Kommunikation im allgemeinen verbunden sind), (2) dass mit einer Äußerung eine bestimmte Proposition verbunden ist bzw., mit anderen Worten, dass zwischen dem lokutionären und dem illokutionären Akt unterschieden werden kann, dass man sich (3) auf Zukünftiges hin orientiert, dass (4) der Adressat erwartet, dass dieses Versprechen eingehalten wird, also spezifische Erwartungshaltungen vorherrschen, ohne dass (5) Sprecher wie Hörer das Einhalten des Versprechens als selbstverständlich voraussetzen können, dass (6) das Versprechen in redlicher Absicht unternommen wird, dass der Sprecher (7) moralische Verpflichtungen übernimmt und (8) der Adressat um diese moralischen Verpflichtungen weiß, und schließlich (9) dass die semantischen Regeln der Sprache so sind, dass ein Versprechen nur dann geäußert werden kann, wenn die Regeln 1 bis 8 erfüllt sind. Soziologisch ist es natürlich interessant, die illokutionäre Kraft wie auch die perlokutionäre Potenz von Sprachhandlungen mit anderen als rein sprachlichen Bedingungen in Beziehung zu setzen. Bourdieu wird uns (in Kap. 11) einen Hinweis geben. Er behauptet, dass die illokutionäre Kraft zurückzuführen ist auf die sozialen Konstellationen, in denen Sprecher und Hörer miteinander stehen. Nach Bourdieu haben Aussagen nur deshalb eine illokutionäre Kraft, weil sie in soziale Machtbeziehungen eingebettet sind. Habermas ist aber sicherlich derjenige, der die Sprechakttheorie in seiner Universalpragmatik für die Soziologie fruchtbar gemacht hat. Er verknüpft die Bestimmung der illokutionären Kraft mit seinen Analysen hinsichtlich der Geltungsansprüche, die in und durch Sprechakte erhoben werden. In besonderer Weise ist für Habermas die Unterscheidung und Abgrenzung von Illokution und Perlokution interessant. Diese Unterscheidung benutzt er, um soziale Handlungsformen und soziale Kommunikationssphären zu differenzieren. Zum Abschluss dieses kurzen Exkurses über die Sprechakttheorie müssen wir aber noch eine weitere Frage stellen: Ist die Sprechakttheorie schon eigentlich eine Theorie der Kommunikation? Sie ist es nicht, denn die Sprechakttheorie befasst sich mit der Analyse der Gelingens- und Erfüllungsbedingungen singulärer, isolierter Sprechakte (vgl. auch Sander 2002). Sie arbeitet zwar den Regel- oder den institutionellen Kontext einzelner Akte heraus, aber sie stellt sich nicht die Frage, wie Sprechakte aufeinander Bezug nehmen. Und mehr noch: Kann man nicht vermuten, dass Sprechakte wie auch Sprecher schon im Vollzug des Sprechers retentional auf gewesene und protentional auf andere mögliche zukünftige Sprechakte Bezug nehmen? Ist die Sprechwww.claudia-wild.de: <?page no="138"?> [UTB-M]__Schuetzeichel__Soziologische_Kommunikationstheorien(2)____[Druck-PDF]/ 13.08.2015/ Seite 138 www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Schuetzeichel__Soziologische_Kommunikationstheorien(2)____[Druck-PDF]/ 13.08.2015/ Seite 139 6.9 Zwischenbilanz 139 aktebene wirklich, wie insbesondere Searle behauptet, die elementare Ebene sprachlichen Handelns, oder ist es nicht eher die Bezugnahme, die Verweisung, die ›Kommunikation‹ eines Sprechaktes auf andere Sprechakte? Und gibt es hierfür nicht pragmatische Regeln? Austin, aber stärker noch Searle, benennen keine Regeln für die Einbettung von Sprechakten in Sprechaktsequenzen bzw. in umfassende kommunikative Einheiten. Von Searle (vgl. Searle 1992) wird sogar ausdrücklich die Auffassung abgelehnt, es gebe nicht nur für einzelne Sprechakte, sondern auch für Gespräche insgesamt konstitutive Regeln. Das hat mit seiner mentalistischen Begründung von Sprache (vgl. Searle 1987) zu tun, die dem sozialen oder kommunikativen Aspekt von Sprache nur wenig oder gar keine Relevanz einräumt. Für unseren Zusammenhang ist noch eine weitere Beobachtung wichtig: Die von der Sprechakttheorie postulierten, für die einzelnen Sprechakttypen verbindlichen, konstitutiven Regeln sind ihrer jeweiligen kommunikativen Verwendung vorgegeben. Searle kann von daher als einer der wichtigsten Vertreter der konventionalistischen Bedeutungstheorie gelten. In jüngeren Arbeiten von Searle (bspw. Searle 2001) schiebt sich an die Stelle der Regeln mehr und mehr die Sprecherintentionalität, also das, was ein Sprecher meint, wenn er etwas sagt, weil sich konstitutive Regeln zwar als notwendig, aber nicht als hinreichend für die Produktion wie für das Verstehen von Sprechakten herausstellen. Basislektüre: Austin, John L. (1981): Zur Theorie der Sprechakte. Stuttgart Searle, John R. (1969 / 1971): Speech Acts. Cambridge 1969 (zit. nach der dt. Übersetzung: John R. Searle: Sprechakte. Frankfurt am Main 1971) Einführungsliteratur: Rolf, Eckard (1997): Illokutionäre Kräfte. Grundbegriffe der Illokutionslogik. Opladen. Weiterführende Literatur: Searle, John R. (1997): Die Konstruktion der gesellschaftlichen Wirklichkeit. Reinbek bei Hamburg. Wirth, Uwe (Hg.) (2002): Performanz. Zwischen Sprachphilosophie und Kulturwissenschaften. Frankfurt am Main. <?page no="139"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Schuetzeichel__Soziologische_Kommunikationstheorien(2)____[Druck-PDF]/ 13.08.2015/ Seite 140 <?page no="140"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Schuetzeichel__Soziologische_Kommunikationstheorien(2)____[Druck-PDF]/ 13.08.2015/ Seite 140 www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Schuetzeichel__Soziologische_Kommunikationstheorien(2)____[Druck-PDF]/ 13.08.2015/ Seite 141 141 8 Die kommunikative Rationalität der-Kommunikation Die Bedeutung der Theorie des kommunikativen Handelns von Jürgen Habermas für die soziologische Grundlagendiskussion im Allgemeinen und die soziologische Kommunikationstheorie im Besonderen kann nicht hoch genug eingeschätzt werden. Ist es doch seinem Werk zu verdanken, dass nach den ersten Anfängen im Pragmatismus die Thematik der Kommunikation wieder in den Mittelpunkt der Soziologie rückte. Ein Kommentator steht mit seiner Behauptung sicherlich nicht alleine, dass Habermas’ Theorie den bisher besten Versuch in der Soziologie darstelle, eine umfassende, allgemeine Theorie des sozialen Handelns zu konzipieren (vgl. Heath 2001: 1). Diese Aussage wird damit begründet, dass es Habermas gelungen sei, eine Theorie zu entwickeln, die die handlungs- und gesellschaftstheoretischen Konzepte anderer soziologischer Ansätze integrieren und ihnen einen Platz in einem umfassenden Korpus zuweisen könne. Dies sind sicherlich treffende Beobachtungen. Dabei wird aber übersehen, dass es Habermas selbst um etwas anderes ging, nämlich nicht um eine allgemeine Theorie des sozialen Handelns, sondern um einen von ihm so genannten Paradigmenwechsel in der Soziologie. Dieser Paradigmenwechsel berührt verschiedene Richtungswechsel, wie die folgende Aufzählung zeigt: • grundlagentheoretisch: von der bewusstseinsphilosophischen zur sprachphilosophischen und kommunikationstheoretischen Grundlegung der Soziologie; • handlungstheoretisch: vom zweckrationalen zum kommunikativen Handeln; • rationalitätstheoretisch: von der Zweckrationalität zur kommunikativen Rationalität; • gesellschaftstheoretisch: von einer einstufigen zu einer zweistufigen Gesellschaftstheorie, die Lebenswelt und System, kommunikative und Systemrationalität und damit Sozial- und Systemintegration neu balanciert; • und im Hinblick auf eine Theorie der Moderne von einer funktionalen zu einer normativ ausgewiesenen Theorie, die die Pathologien der Moderne zu identifizieren vermag. Was ist mit dem Paradigmenwechsel gemeint? Nach Habermas nehmen die grundlegenden Konzepte und Prämissen der Soziologie ihren Ausgangspunkt bei bewusstseinsphilosophischen Theorien mit ihrem Modell des einsamen, monologischen Subjektes. Dieses bezieht sich erkennend oder handelnd auf das als Inbegriff des Seienden vorgestellt Objekt und vergewissert sich dadurch seiner selbst. Habermas sieht diesen Ausgangspunkt als defizitär an, weil er nicht erlaube, das in den Blick zu nehmen, was doch für die Soziologie das Eigentliche ist, nämlich die ›Relationen‹ zwischen den Subjekten, die ›Intersubjektivität‹ bzw. die Kommunikation zwischen den Subjekten, <?page no="141"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Schuetzeichel__Soziologische_Kommunikationstheorien(2)____[Druck-PDF]/ 13.08.2015/ Seite 142 142 8 Die kommunikative Rationalität der-Kommunikation einer Kommunikation, die sich vornehmlich des Mediums der Sprache bedient. Von daher fordert er eine »sprachtheoretische Grundlegung der Soziologie« (Habermas 1970 / 71), die er schließlich in seiner »Theorie des kommunikativen Handelns« (Habermas 1981) darlegt (siehe auch die Kommentare in Bernstein 1985, Honneth / Joas 1986 und Thompson / Held 1982). Nach Habermas müssen kommunikationstheoretische und sprachphilosphische- - insbesondere universalpragmatische- - Betrachtungen die Fundamente der Soziologie und eines unverkürzten Verständnisses von menschlicher Subjektivität, Intersubjektivität und Rationalität bilden. 8.1 Handlungen und soziale Ordnungen Die soziologische Handlungstheorie geht nach Habermas (1982: 571 f.) von zwei Fragestellungen aus: ›Wie ist soziales Handeln möglich? ‹ und ›Wie ist soziale Ordnung möglich? ‹. Beide Fragen sind zwei Seiten einer Medaille. Sie sind komplementär, weil die Soziologie die Verknüpfung zwischen sozialer Handlung und sozialer Ordnung herstellen muss. Denn sie geht nicht von dem Modell eines einsamen Aktors aus, der einer Welt existierender Sachverhalte gegenübersteht, sondern von einem intersubjektivitätstheoretischen Modell, basierend auf zwei Kommunikatoren, die ihre Handlungen aufeinander beziehen müssen, die in diesem Sinne von einer sozialen Ordnung abhängig sind bzw. diese erst herzustellen haben. Die Frage nach den Bedingungen der Möglichkeit sozialen Handelns kann sich also nicht mit einem einsamen Aktor und dessen Kompetenzen befassen, sondern impliziert die Frage nach den sozialen intersubjektiven Bedingungen der Möglichkeit sozialen Handelns. Oder anders gewendet: Sie impliziert die Frage, wie Kommunikatoren ihre Handlungen aufeinander beziehen und wie sie ihre Handlungen koordinieren können oder eben kurz, wie soziale Ordnung möglich ist. Für den Ansatz von Habermas ist entscheidend, dass er beide Fragestellungen von vornherein aufeinander bezieht. Der Ausgangspunkt der soziologischen Theoriebildung muss nach Habermas in dem Problem der Intersubjektivität liegen. Intersubjektivität bedeutet Koordination von Handlungen. Wie können Aktoren ihre Handlungen miteinander koordinieren? Habermas unterscheidet zwei grundlegende Modelle sozialer Ordnung oder Mechanismen der Handlungskoordination, nämlich Einverständnis und Einflussnahme. Einverständnis heißt, dass die Handelnden ihre Handlungen verständig und einvernehmlich auswählen und koordinieren. Und sie müssen der Wahl von Handlungen zustimmen können. Einflussnahme hingegen heißt, dass Handelnde andere Handelnde beeinflussen, um diese zu ganz bestimmten Handlungen zu veranlassen. Führen wir uns den Unterschied dieser beiden Mechanismen am Beispiel unserer Eheleute Schmidt vor Augen: Sie möchten in Urlaub fahren. Frau Schmidt schlägt als Urlaubsziel Holland vor. Auf die Frage von Herrn Schmidt, weshalb sie gerade dorthin möchte, gibt Frau Schmidt als Grund das angenehme Klima und die weiten <?page no="142"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Schuetzeichel__Soziologische_Kommunikationstheorien(2)____[Druck-PDF]/ 13.08.2015/ Seite 142 www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Schuetzeichel__Soziologische_Kommunikationstheorien(2)____[Druck-PDF]/ 13.08.2015/ Seite 143 8.1 Handlungen und soziale Ordnungen 143 Dünenlandschaften an. Frau Schmidt begründet also ihren Vorschlag, und es ist liegt nun an Herrn Schmidt, ob er ihr zustimmt oder nicht. Beide sind in der Lage, durch argumentative Rede und Widerrede zu einem Einverständnis über ihren Urlaub zu kommen. Aber stellen wir uns eine zweite Situation vor: Herr Schmidt schlägt vor, an die Algarve zu reisen, und er begründet dies Frau Schmidt gegenüber damit, dass dort stets die Sonne scheine und die Hotelpreise moderat seien. Nur, er gibt seinen wahren Grund nicht an, nämlich dass sein Fußballverein, der VfL Bochum, dort zur gleichen Zeit ein Trainingslager abhält und er somit die Tage auf angenehme Weise auf dem Fußballplatz verbringen könnte. Und auf den Einwand von Frau Schmidt, es sei ihr dort zu heiß, stellt er sie vor die Wahl, entweder dorthin oder überhaupt nicht zu verreisen. In diesem Fall kann von einer einverständigen Koordination ihrer Handlungen keine Rede sein. Es liegt der Mechanismus der Einflussnahme vor- - Herr Schmidt versucht, Frau Schmidt durch Verheimlichung und angedrohten Sanktionen zu einem bestimmten Handeln zu bewegen. Mit den beiden unterschiedlichen Mechanismen glaubt Habermas nicht nur, zwei gesellschaftlich bedeutsame Formen der Koordination von Handlungen identifiziert zu haben, sondern auch, mit diesen die unterschiedlichen soziologischen Theorien systematisieren zu können. Während nach Habermas die einen, wie etwa die Rational-Choice-Theorie oder die Systemtheorie auf den Modus der Einflussnahme als zentralen Kooperationsmodus setzen, gehen andere, wie etwa der symbolische Interaktionismus oder die Ethnomethodologie, paradigmatisch von dem Modus des Einverständnisses aus. Habermas’ Sozialtheorie sieht sich diesen Theorien gegenüber in der Position eines Platzanweisers: Sie untersucht die theoretische Reichweite und die theoretischen Grenzen dieser Theorien und weist ihnen ihren Platz in einer umfassenden Gesellschaftstheorie zu, die beide Modi zu integrieren sucht. Einverständnis und Einflussnahme, die beiden Mechanismen der Handlungskoordination, unterscheiden sich nun danach, wie die Handelnden in einer Situation ihre Handlungen miteinander abstimmen. Der Mechanismus der Einflussnahme liegt dann vor, wenn die Handelnden aufeinander (kausalen) Einfluss ausüben, um ihre jeweiligen Ziele zu erreichen. Der Mechanismus des Einverständnisses liegt dann vor, wenn die Handelnden untereinander Einverständnis darüber erreichen wollen, wie sie ihre Handlungen miteinander abstimmen können. Aus einer Beobachterperspektive dürfte es oftmals recht schwierig sein, zu entscheiden, welche Form der Handlungskoordination vorliegt. Für die Teilnehmerperspektive gilt das nicht. Ein Betroffener könne, so Habermas, sehr wohl erkennen, ob er aufgrund einer externen Einflussnahme oder aufgrund seines Einverständnisses eine Handlung vollziehe (vgl. Habermas 1982: 575). Kommen wir zunächst zum Mechanismus des Einverständnisses: Ein Einverständnis liegt nach Habermas nicht schon dann vor, wenn die Handelnden über gemeinsames Wissen verfügen und dieses Wissen auch als gemeinsames unterstellen können. Sondern Einverständnis setzt Verständigung voraus, und zwar Verständigung über die <?page no="143"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Schuetzeichel__Soziologische_Kommunikationstheorien(2)____[Druck-PDF]/ 13.08.2015/ Seite 144 144 8 Die kommunikative Rationalität der-Kommunikation Gültigkeit von Geltungsansprüchen, die mit einzelnen kommunikativen Handlungen verbunden sind. Der Mechanismus des Einverständnisses beginnt mit den Intentionen der Handelnden, da er die Anerkennung von Geltungsansprüchen durch eine an Gründen orientierte, also rational motivierte Zustimmung fordert, und er setzt voraus, dass die Handelnden eine verständigungsorientierte Einstellung einnehmen. Dem Koordinationsmechanismus des Einverständnisses korrespondiert aufseiten der Handelnden also eine bestimmte Einstellung, nämlich eine verständigungsorientierte, die auf ein Einverständnis mit anderen Handelnden in einer und über eine bestimmte Situation zielt. Einverständnis heißt nach Habermas (1981, Bd. 1: 387) stets ein rational begründetes Einverständnis, ein Einverständnis, das auf wechselseitig kritisierbaren Überzeugungen und somit auf Verständigung beruht. Der sozialen Ordnung des Einverständnisses kommt die Sprache entgegen, denn dieser wohne, so Habermas, ein Telos der Verständigung inne (ebd.: 387). Einverständnis ist zentral für eine spezifische Form der Integration von Gesellschaften, nämlich der Sozialintegration. Ihr Ort ist derjenige der Lebenswelt von Gesellschaften. Bei der Handlungskoordination unter dem Mechanismus der Einflussnahme steht nun nicht eine möglichst mit einem Konsens abschließenden Verständigung über etwas in der Welt im Vordergrund, sondern die Beeinflussung der Akteure untereinander, um ihre Ziele zu erreichen. Solche Mittel der Beeinflussung kennen wir alle: ›Wenn du dieses oder jenes nicht machst, dann tue ich folgendes.‹ Oder denken Sie auch an eine ökonomische Transaktion: Wenn ich Brötchen kaufen möchte, dann muss und kann ich mit dem Verkäufer nicht erst ein Einverständnis herstellen, sondern muss ihn schlicht bezahlen. Der Mechanismus der Einfluss- Soziale Ordnungen Einverständnis Verständigung über Geltungsansprüche verständigungsorientierte Einstellung Sozialintegration Lebenswelt der Gesellschaft Einflussnahme Beeinflussung von Akteuren erfolgsorientierte Einstellung Systemintegration System der Gesellschaft Abb. 8.1: Soziale Ordnungen und Handlungen <?page no="144"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Schuetzeichel__Soziologische_Kommunikationstheorien(2)____[Druck-PDF]/ 13.08.2015/ Seite 144 www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Schuetzeichel__Soziologische_Kommunikationstheorien(2)____[Druck-PDF]/ 13.08.2015/ Seite 145 8.2 Sprechakte und Geltungsansprüche 145 nahme setzt nun nicht an den Intentionen der Handelnden an (Was interessiert mich die Intention des Bäckers, wenn ich doch nur seine Brötchen kaufen will? ), sondern am Erfolg und damit an den Folgen und Konsequenzen, die mein Handeln hat. Einflussnahme erfordert nach Habermas bei den Handelnden vorab eine erfolgsorientierte Einstellung. Und Einflussnahme ist kennzeichnend für die von Habermas sogenannte Systemintegration. Ihr Ort ist das von Habermas sogenannte System der Gesellschaften. Diese beiden Modelle der Koordination von Handlungen liegen allen weiteren handlungs-, rationalitäts- und gesellschaftstheoretischen Unterscheidungen von Habermas zugrunde. Er rekonstruiert in einem nächsten Schritt die mit den unterschiedlichen Mechanismen verbundenen Rationalitätsansprüche der Akteure. Dabei bezieht sich Habermas auf Untersuchungen im Rahmen der Sprechakttheorie. Das analytische Instrumentarium, welches die Sprechakttheorie zur Verfügung stellt, wird von ihm benutzt, um die ursprünglich schon im Organon-Modell von Bühler unterschiedenen drei Dimensionen eines jeden Zeichen- und Sprachgebrauchs für eine sprachtheoretische Grundlegung der Soziologie fruchtbar zu machen. 8.2 Sprechakte und Geltungsansprüche Kapitel 7 präsentiert die Sprechakttheorie in ihren wesentlichen Grundzügen, weshalb wir hier vieles voraussetzen können. Zur Erinnerung: Sprechakte sind elementare Sprachhandlungen, wobei die Betonung wirklich auf ›Handlung‹ liegen muss. Dass die Sprache nicht nur ein Medium ist, mit dessen Hilfe man wahre oder falsche Aussagen machen kann, sondern ein Medium, mit dem man Handlungen ausführt, ist ihr zentraler Ausgangspunkt. Sprechakte können drei analytisch unterscheidbare Akte aufweisen, einen lokutionären Akt, einen illokutionären Akt, einer perlokutionären Akt. • lokutionär: ›Etwas Sagen‹-- der propositionale Gehalt einer Aussage. • illokutionär: ›Handeln, indem man etwas sagt.‹ • perlolutionär: ›Einen Effekt dadurch erreichen, dass man handelt, indem man etwas sagt.‹ Mit lokutionären Akten kann ein Sprecher über Sachverhalte in der Welt informieren (Frau Schmidt: ›Es gibt Sauerbraten‹). Mit illokutionären Akten wird eine Handlung vollzogen, indem etwas gesagt wird. Sie können dabei verschiedene illokutionäre Rollen einnehmen, also etwas behaupten, versprechen, empfehlen, befehlen usw.-- dies wird in der Regel dadurch vollzogen, dass der Sprecher ein performatives Verb benutzt (Frau Schmidt: ›Ich empfehle dir den Sauerbraten‹). Aber je nach situativem Kontext lässt sich die illokutionäre Rolle auch ohne solche Verben identifzieren. Illokutionärer Erfolg liegt dann vor, wenn der Kommunikationspartner das Gesagte versteht und <?page no="145"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Schuetzeichel__Soziologische_Kommunikationstheorien(2)____[Druck-PDF]/ 13.08.2015/ Seite 146 146 8 Die kommunikative Rationalität der-Kommunikation akzeptiert. Die Verständigung zwischen Sprecher und Hörer kommt durch rational motivierte Stellungnahmen zustande. In der Unterscheidung von Lokutionen und Illokutionen wird also die alle Sprechakte kennzeichnende Doppelstruktur deutlich: Etwas wird (Lokution-- propositionaler Gehalt) zu jemandem gesagt (Illokution). Es finden sich also jeweils immer zwei Kommunikationsebenen. Die eine Ebene ist die der Intersubjektivität. In ihr stellt der illokutionäre Akt eine Beziehung zwischen Sprecher und Hörer her, die sich miteinander verständigen. Die zweite Ebene ist die Ebene der Dinge oder Entitäten in der Welt, über die sie sich verständigen. Sprechakte können nur dann gelingen, wenn Sprecher und Hörer jeweils beide Ebenen vereinigen. Sie können jedoch metakommunikativ oder diskursiv in einem anschließenden Sprechakt entweder die Ebene des kommunikativen Sprachgebrauchs, also die der sprachlich hergestellten intersubjektiven Bindungen, oder die Ebene des kognitiven Sprachgebrauchs, also das, worüber sie sprechen, thematisieren. Durch perlokutionäre Akte versucht der Sprecher, ganz bestimmte Effekte bei einem Hörer zu erreichen. Wie kommen perlokutionäre Akte zustande? Nach Habermas werden sie dadurch erreicht, dass man sie in einen teleologischen bzw. zweckrationalen Handlungszusammenhang eingeordnet. Illokutionäre Sprechakte sind selbstidentifizierend, sie geben zu verstehen, wie sie verstanden werden wollen. Bei Perlokutionen ist das nicht der Fall, weil es an dem Handlungskontext und der kommunikativen Absicht des Sprechers liegt, ob sie sich ergeben oder nicht. Perlokutionen ergeben sich, wie Habermas (vgl. Habermas 1981, Bd. 1: 390) schreibt, nicht aus dem manifesten Gehalt der Sprechhandlung, sondern nur aus den Intentionen des Handelnden. Illokutionen und Perlokutionen stehen in einem komplexen Verhältnis zueinander. Habermas (vgl. Habermas 1999: 126 f.) unterscheidet zwischen perlokutionären Effekten von illokutionären Akten einerseits und genuinen Perlokutionen andererseits. Illokutionäre Akte können perlokutionäre Effekte in mehrfacher Hinsicht nach sich ziehen. Perlokutionäre Effekte können sich zum einen dann ergeben, wenn die Illokution erfolgreich ist-- wenn etwa ein Befehl ausgeführt oder eine Absicht realisiert wird. In diesem Fall werden die perlokutionären Effekte durch die Illokutionen beherrscht. Sie können sich zweitens als kontingente, also nicht durch die Grammatik des Sprechaktes selbst bedingte Effekte von illokutionären Akten einstellen- - wenn etwa bestimmte Aussagen bei einem Adressaten bestimmte emotionale Zustände evozieren. Und sie können sich drittens als im weitestgehenden Sinne unbewusste Folgen von Sprechhandlungen bei einem Adressaten einstellen. All diesen Fällen ist gemeinsam, dass sie in Abhängigkeit von dem Erfolg von Illokutionen stehen-- die Illokutionen dominieren die perlokutionären Effekte. Die genuinen Perlokutionen sind eine eigene Sprechaktklasse, die auch auf den Vollzug von Illokutionen angewiesen sind, aber mit welchen Mitteln auch immer offen perlokutionäre Ziele verfolgen-- etwa durch Beleidigungen und Beschimpfungen, in Drohungen und Herabwürdigungen, durch Hohn und Spott. Bei diesen dominieren die perlokutionären die illokutionären Inhalte. Das zeigt sich zum Beiwww.claudia-wild.de: <?page no="146"?> [UTB-M]__Schuetzeichel__Soziologische_Kommunikationstheorien(2)____[Druck-PDF]/ 13.08.2015/ Seite 146 www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Schuetzeichel__Soziologische_Kommunikationstheorien(2)____[Druck-PDF]/ 13.08.2015/ Seite 147 8.2 Sprechakte und Geltungsansprüche 147 spiel in dem Sprechakt von Herrn Schmidt: ›Wenn du mit mir nicht an die Algarve fährst, fällt unser Urlaub ins Wasser.‹ Die illokutionäre Ankündigung, der illokutionäre Gehalt, wird von der perlokutionären Drohung regiert. Damit ist offensichtlich, wie Habermas in einem ersten Schritt die Sprechakttheorie mit den beiden Modellen sozialer Ordnung verbinden kann. Schauen wir uns die vorigen Beispiele an: Der Unterschied zwischen Frau und Herrn Schmidt besteht darin, dass Herr Schmidt seinen Sprechakt in einen strategischen Interaktionszusammenhang stellt. Er ist nicht darauf bedacht, die Handlungskoordination, d. h. die Planung des gemeinsamen Urlaubs allein auf der Ebene der Illokutionen auszutragen, sondern er bemüht die Perlokution, um bestimmte Wirkungen zu erzielen. Dem Ordnungsmodell Einflussnahme entspricht also auf der Ebene der Sprechakte das Ziel der Beeinflussung durch Perlokutionen, also durch Akte, deren Ziel nicht im Sprechakt selbst identifiziert werden kann, sondern welche in strategische Interaktionszusammenhänge eingeordnet sind. Dem Ordnungsmodell Einverständnis entspricht auf der Ebene der Sprechakte das Ziel der Herstellung von Konsens zwischen Kommunikationspartnern durch den Verzicht auf perlokutionäre Effekte, also durch eine Beschränkung auf illokutionäre Ziele. Interaktionen, in denen die Kommunikationspartner ihre illokutionären Ziele vorbehaltlos verfolgen, nennt Habermas kommunikatives Handeln. Auch in sozialen Ordnungen, die der Beeinflussung von anderen dienen, wird natürlich gesprochen, es werden Sprechakte ausgetauscht und man kommuniziert in einem landläufigen Sinne. Aber, so Habermas (vgl. Habermas 1999: 113 ff.), in solchen sozialen Situationen wird die Sprache in einem nicht kommunikativen Sinne verwendet. Man benutzt sie, um Aussagen zu formulieren, um zu verstehen zu geben, ob etwas der Fall ist oder nicht. Aber diese Aussagen werden nicht in einem kommunikativen Sinne so benutzt, dass man mit ihnen die Zustimmung anderer Hörer, also illokutionäre Erfolge erreichen will, die davon abhängig sind, ob der oder die Hörer die erhobenen Geltungsansprüche akzeptieren oder nicht. Illokutionen können natürlich als Ereignisse in der objektiven Welt wie alle teleologischen Handlungen auch ganz bestimmte Effekte, also z. B. perlokutionäre Effekte hervorrufen, indem sie kausal etwas bewirken. Aber wenn sich Sprecher und Hörer über etwas verständigen, so Habermas, dann treten sie sich performativ in einer Einstellung als erster oder zweiter Person gegenüber und nicht in dritter Person als Objekt, welches es zu beeinflussen gilt. Ihre illokutionären Ziele liegen jenseits der objektiven Welt, über die sie sich verständigen, in der sie aber in kommunikativer Hinsicht nichts bewirken wollen. Die Sprechakttheorie stellt für Habermas den ersten Schritt zur Entwicklung einer formalen Pragmatik dar, die über die Grundlagen und Prinzipien kommunikativen Handelns aufzuklären vermag. Kommunikatives Handeln liegt dann vor, wenn in Interaktionen auf strategisches Handeln verzichtet wird, wenn Sprechakte nicht in strategische oder instrumentelle Handlungszusammenhänge eingebunden sind, sonwww.claudia-wild.de: <?page no="147"?> [UTB-M]__Schuetzeichel__Soziologische_Kommunikationstheorien(2)____[Druck-PDF]/ 13.08.2015/ Seite 148 148 8 Die kommunikative Rationalität der-Kommunikation dern wenn es um eine vorbehaltlose Koordination von Handlungen allein auf der Ebene des Gesagten geht. Damit haben wir auch den unmittelbaren Zusammenhang zwischen der Sprechakttheorie und dem gewonnen, was Habermas Geltungsansprüche nennt. Dies ist der nächste Schritt, den wir vollziehen müssen. Habermas reichert die Sprechakttheorie im Interesse einer Rekonstruktion der impliziten Rationalitätsvoraussetzungen mit einer Theorie der Geltungsansprüche an. Mit jedem Sprechakt werden Geltungsansprüche erhoben, und zwar drei. Ursprünglich hatte Habermas noch einen vierten Geltungsanspruch benannt, nämlich den der Verständlichkeit von Äußerungen, aber dieser liegt auf einer anderen Ebene. Er bezieht sich auf das Medium der Sprache und nicht, wie die drei anderen, auf Weltbezüge. Jeder Sprechakt erhebt einen • Anspruch auf Wahrhaftigkeit im Hinblick auf Absichten des Sprechers. • Anspruch auf Wahrheit der gemachten propositionalen Aussagen. • Anspruch auf Richtigkeit im Verhältnis zu sozial anerkennten Regeln und Normen. Geltungsansprüche sind »Statthalter einer Rationalität« (Habermas 1989: 47), die auf eine rational motivierte Übereinkunft zwischen Sprecher und Adressaten zielen. »Der Sprache wohnt also die Dimension der Geltung inne.« (Habermas 1989: 50) Geltungsansprüche sind in Strukturen jeder sprachlichen Kommunikation eingebaut. Denn in jeder dieser drei Dimensionen kann ein Sprechakt kritisiert werden, und zwar im Hinblick auf die Wahrheit der Aussage, die Wahrhaftigkeit der Intention des Soziale Ordnungen Einverständnis Verständigung über Geltungsansprüche verständigungsorientierte Einstellung Einflussnahme Beeinflussung von Akteuren erfolgsorientierte Einstellung Perlokutionäre Effekte / Perlokutionen Strategisches Handeln I llokutionäre Akte Kommunikatives Handeln Abb. 8.2: Soziale Ordnungen und Sprechakte <?page no="148"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Schuetzeichel__Soziologische_Kommunikationstheorien(2)____[Druck-PDF]/ 13.08.2015/ Seite 148 www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Schuetzeichel__Soziologische_Kommunikationstheorien(2)____[Druck-PDF]/ 13.08.2015/ Seite 149 8.2 Sprechakte und Geltungsansprüche 149 Sprechers oder die Richtigkeit im Hinblick auf den normativen Kontext, in dem diese Aussage gemacht wurde. Die Lokution bezieht sich auf Entitäten oder Sachverhalte in der Welt-- mit ihr wird ein Anspruch auf Wahrheit des Gesagten erhoben. Mit der illokutionären Kraft von Sprechakten, in welcher die intersubjektive Beziehung zwischen Sprecher und Hörer konstituiert wird, verweist man auf einen Hintergrund gemeinsamer Werte, Normen, Rollen und das geteilte Wissen in einer gemeinsamen Lebenswelt. Und gleichzeitig wird in Sprechakten die Wahrhaftigkeit des Sprechers vorausgesetzt. Wenn ein Sprecher seine Glaubwürdigkeit oder seine Wahrhaftigkeit verliert, dann ist zugleich die Kommunikation behindert und kann unter Umständen nicht mehr fortgesetzt werden. Da aufgrund der implizierten Geltungsansprüche Sprechhandlungen eine zustimmende oder ablehnende Stellungnahme herausfordern, kann Habermas gleichsam als kleinstes soziales Element die Einheit einer Sprechhandlung und einer diesbezüglichen Stellungnahme bezeichnen. Die kleinste selbständige Einheit eines Verständigungsprozesses besteht 1.) aus einer elementaren Sprechhandlung ›Mp‹, mit der ein Sprecher S mindestens einen Geltungsanspruch erhebt, und 2.) aus einer Stellungnahme seitens eines Hörers H, die darüber Auskunft gibt, ob der Hörer die Offerte von S versteht und akzeptiert. In jedem Sprechakt werden drei Geltungsansprüche erhoben. Aber es ist nun so, dass Sprechakte in der Regel jeweils einen Geltungsanspruch hervorheben, während die anderen unthematisiert im Hintergrund bleiben. Entsprechend kann Habermas drei Klassen von Sprechakten unterscheiden: konstative, regulative und repräsentative Sprechakte. Konstative Sprechakte oder kurz Konstativa sind solche, in denen der Geltungsanspruch der Wahrheit hervorgehoben ist. Die kommunikative Funktion von Konstativa besteht darin, Sachverhalte in der Welt zu thematisieren. Konstativa referieren also auf die objektiv existierende Welt, über die wahre oder falsche Aussagen gemacht werden können. Zu den Konstativa gehören etwa Feststellungen, Schilderungen, Berichte, Behauptungen. Wenn ein Sprecher sagt: ›Das Restaurant bietet Sauerbraten an‹, dann erhebt er einen Anspruch auf die Wahrheit seiner Aussage, und er muss bereit sein, seine Aussage dementsprechend zu begründen und dem Geltungsanspruch nachzukommen. Regulative Sprechakte oder kurz Regulativa sind solche, in denen der Geltungsanspruch der Richtigkeit bzw. der Angemessenheit hervorgehoben ist. Die kommunikative Funktion von Regulativa besteht darin, soziale oder interpersonale Beziehungen zwischen Sprecher und Hörer zu thematisieren. Regulativa referieren also auf eine durch unterschiedliche Normen oder Wertvorstellungen regulierte soziale Welt. In diese Klasse fallen etwa Versprechen, Aufforderungen, Empfehlungen oder Entschuldigungen. Die Aussage von Herrn Schmidt ›Ich entschuldige mich für mein schroffes Verhalten‹` wäre zum Beispiel ein regulativer Sprechakt, der sich auf sozial anerkannte Normen bezieht. <?page no="149"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Schuetzeichel__Soziologische_Kommunikationstheorien(2)____[Druck-PDF]/ 13.08.2015/ Seite 150 150 8 Die kommunikative Rationalität der-Kommunikation Repräsentative Sprechakte oder kurz Repräsentativa sind solche, in denen der Geltungsanspruch der Wahrhaftigkeit im Vordergrund steht. Die kommunikative Funktion von Repräsentativa besteht darin, die subjektiven oder mentalen Zustände eines Sprechers zum Ausdruck zu bringen. Repräsentativa beziehen sich also auf die subjektive Welt. Zu ihnen gehören Aussagen, die Bezug nehmen auf die Überzeugungen, die Absichten, die Gefühle und Empfindungen, die jemand hat. Ein typische Aussage wäre etwa: ›Ich bin der festen Überzeugung, dass-…‹ oder ›Ich bevorzuge Sauerbraten‹. Habermas ordnet den Sprechaktklassen unterschiedliche Weltbezüge zu. Er gewinnt seine Version einer Drei-Welten-Theorie in der Auseinandersetzung mit der bekannten Drei-Welten-Theorie von Karl Popper. Popper unterscheidet eine Welt der physikalischen Zustände, eine Welt der Bewusstseinszustände und eine Welt der objektiven Gedankeninhalte. Habermas überträgt die erkenntnistheoretisch angelegte Theorie von Popper in handlungs- und sprachtheoretische Zusammenhänge und unterscheidet zwischen einer objektiven, einer sozialen und einer subjektiven Welt (vgl. Habermas 1981, Bd. 1: 149): • Die objektive Welt als die Gesamtheit all dessen, über welches wahre Aussagen möglich sind. • Die soziale Welt als die Gesamtheit aller interpersonalen Beziehungen. • Die subjektive Welt als die Gesamtheit der Zustände, zu der ein Handelnder einen privilegierten Zugang hat. Bevor Habermas die von ihm reformulierte Drei-Welten-Theorie von Popper mit der Sprechakttheorie verbindet, macht er nochmals einen wichtigen argumentativen Zwischenschritt, um die Drei-Welten-Theorie sprachpragmatisch zu untermauern. Er integriert diese drei Welten in das von Karl Bühler entwickelte Organonmodell der Sprache (vgl. Kap. 1). Bühler geht davon aus, dass das Medium der Sprache drei Funktionen erfüllen muss. Wenn jemand einen Ausdruck kommunikativ verwendet, dann meint er etwas und bringt seine Intentionen oder Erlebnisse zum Ausdruck (1), dann sagt er etwas, indem er auf Sachverhalte in der Welt Bezug nimmt (2), und dann teilt er etwas mit und richtet er sich an bestimmte Adressaten (3). Jeder kommunikative Akt weist also eine Ausdrucksfunktion (1), eine Darstellungsfunktion (2) und eine Appellfunktion (3) auf. In diesen drei Funktionen lassen sich die drei Welten identifizieren. Jeder Sprecher bezieht sich mit einer elementaren Sprechhandlung auf etwas in der subjektiven Welt (1), der objektiven Welt (2) und der sozialen Welt (3). Habermas hat eine sprachtheoretische Grundlage dafür gefunden, in welchen Dimensionen man mit sprachlichen Akten handeln kann. Aber er geht nochmals einen Schritt weiter. Er sagt nicht nur, dass diese drei Welten oder diese drei Dimensionen in jeder Sprachhandlung impliziert sind, sondern mit ihnen sind auch intersubjektiv einlösbare Geltungsansprüche verbunden. Dies ist der entscheidende Schritt, den Habermas über Bühler oder die Sprechakttheoretiker hinaus macht, um eine auf der Basis des Mediums Sprache gewonnene Form von Rationalität, die komwww.claudia-wild.de: <?page no="150"?> [UTB-M]__Schuetzeichel__Soziologische_Kommunikationstheorien(2)____[Druck-PDF]/ 13.08.2015/ Seite 150 www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Schuetzeichel__Soziologische_Kommunikationstheorien(2)____[Druck-PDF]/ 13.08.2015/ Seite 151 8.2 Sprechakte und Geltungsansprüche 151 munikative oder die Verständigungsrationalität zu gewinnen. Diese Untersuchungen werden von Habermas unter der Bezeichnung ›Universalpragmatik‹ durchgeführt. Die Universalpragmatik hat nach Habermas die Aufgabe der Rekonstruktion universaler Bedingungen möglicher Verständigung. Die Rekonstruktion der pragmatischen Regeln der verständigungsorientierten Kommunikation soll eine Explikation des in der Geltungsbasis der Rede verankerten Rationalitätspotenzials erlauben. Die kommunikative Vernunft kann nicht einem einzelnen Aktor zugeschrieben werden. Sie ist einer bestimmten Kommunikationsform inhärent: der natürlichen Sprache. Habermas versucht, die in der kommunikativen Alltagspraxis verkörperte und eingelagerte Vernunft zu identifizieren. »Wer immer sich einer natürlichen Sprache bedient, um sich mit einem Adressaten über etwas in der Welt zu verständigen, sieht sich genötigt, eine performative Einstellung einzunehmen und sich auf bestimmte Präsuppositionen einzulassen. Er muss unter anderem davon ausgehen, dass die Beteiligten ihre illokutionären Ziele ohne Vorbehalte verfolgen, ihr Einverständnis an die intersubjektive Anerkennung von kritisierbaren Geltungsansprüchen binden und die Bereitschaft zeigen, interaktionsfolgenrelevante Verbindlichkeiten, die sich aus einem Konsens ergeben, zu übernehmen. Was derart in die Geltungsbasis der Rede eingelassen ist, teilt sich auch den übers kommunikative Handeln reproduzierten Lebensformen mit.« (Habermas 1992: 18) Halten wir die bisherigen Unterscheidungen in folgender Tabelle fest: Pragmatische Merkmale Herstellung von interpersonalen Beziehungen Handlungstypen Sprechakte Sprachfunktionen Handlungsorientierungen Geltungsansprüche Weltbezüge strategisches Handeln kommunikatives Handeln Beeinflussung Perlokutionen Imperative Konstativa Regulativa Expressiva Darstellung von Sachverhalten Selbstrepräsentationen erfolgsorientiert verständigungsorientiert verständigungsorientiert verständigungsorientiert [Wirksamkeit] Wahrheit Richtigkeit Wahrhaftigkeit objektive Welt objektive Welt soziale Welt subjektive Welt Abb. 8.3: Handlungstypen und pragmatische Merkmale (nach Habermas 1981, Bd. 1: 439, modifiziert) <?page no="151"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Schuetzeichel__Soziologische_Kommunikationstheorien(2)____[Druck-PDF]/ 13.08.2015/ Seite 152 152 8 Die kommunikative Rationalität der-Kommunikation 8.3 Kommunikative Rationalität Die drei illokutionären Sprechakt-Klassen bilden das Rückgrat kommunikativer Handlungen. Mit ihnen ist die Rationalität kommunikativen Handelns verbunden. Denn mit jedem Sprechakt übernimmt der Sprecher die Verantwortung dafür, die erhobenen Geltungsansprüche einlösen zu müssen. Von daher erklärt sich, dass Habermas eine intrinsische Beziehung zwischen Rationalität und Wissen unterstellt. Er vertritt ein pragmatisches Konzept der Rationalität. Rationalität hat nach Habermas vornehmlich damit zu tun, wie Personen ihr Wissen erwerben und wie sie dieses verwenden (vgl. Habermas 1989). Es reicht nicht aus, Rationalität nur auf eine bestimmte Disposition von Personen zurückzuführen. Rationalität impliziert nach Habermas ein bestimmtes Selbstverhältnis der Personen und sie impliziert Reflexivität. Die Personen müssen ihre Handlungen oder ihre Meinungen begründen und sie durch dieses Begründen als die ihnen zurechenbaren ausweisen. Dieses Selbstverhältnis-- und hier schließt sich Habermas wiederum Mead an-- ist aber ein dialogisches: Das Verhältnis einer Person zu sich selbst setzt voraus, dass diese Person in der Lage ist, die Perspektive anderer auf sich selbst zu übernehmen (vgl. Habermas 1999). Entsprechend der Untergliederung der Weltbezüge unterscheidet Habermas zwei kategoriale Formen von Rationalität. Man kann Wissen verwenden, um in einer Welt objektiver Sachverhalte Eingriffe und Interventionen vorzunehmen, um Dinge zu verändern, um bestimmte Effekte zu erreichen. Diese Form der Rationalität bezeichnet Habermas als instrumentelle, teleologische oder als Zweckrationalität. Die Grundstruktur dieser Rationalität besteht darin, dass ein Akteur sich einer Welt von objektiven Dingen und Ereignissen gegenübersieht, in der er bestimmte Veränderungen vornehmen will. Der Akteur muss eine adäquate Situationsdefinition vornehmen, er muss die geeigneten Mittel wählen, um die gesteckten Ziele zu erreichen. Typisch für diese Grundstruktur ist- - von Habermas als ›Arbeit‹ bezeichnet- - alle Auseinandersetzung mit der äußeren Natur. Teleologische Rationalität bemisst sich nicht nur danach, ob ein Akteur mit seinen Eingriffen in die Welt Erfolg hat (knowing how), sondern ob er begründen kann, weshalb er Erfolg hat (knowing that). Auch eine teleologische Rationalität entspringt also einer reflexiven Einstellung des Akteurs zu sich selbst. Sie bemisst sich nicht nach dem Erfolg, sondern der Begründbarkeit seines Tuns. Eine andere Form der Rationalität wird aber impliziert, wenn es darum geht, mit anderen Akteuren Verständigung über etwas in der objektiven, der sozialen oder der subjektiven Welt zu erreichen. Diese Form der Rationalität bezeichnet Habermas als Verständigungs- oder als kommunikative Rationalität. Sie ist in der Sprache als das Medium der Kommunikation angelegt, denn die Sprache weist nach Habermas ein Vernunftpotenzial auf, welches in kommunikativen Handlungen genutzt werden kann. Die Grundstruktur dieser Rationalität besteht darin, dass Akteure untereinanwww.claudia-wild.de: <?page no="152"?> [UTB-M]__Schuetzeichel__Soziologische_Kommunikationstheorien(2)____[Druck-PDF]/ 13.08.2015/ Seite 152 www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Schuetzeichel__Soziologische_Kommunikationstheorien(2)____[Druck-PDF]/ 13.08.2015/ Seite 153 8.3 Kommunikative Rationalität 153 der zu einer Verständigung darüber kommen wollen, welche Handlungsziele sie anstreben, wie sie diese erreichen wollen, wie die Situation ist, in der sie sich befinden. Sie müssen in kommunikativen Handlungen ein Einverständnis über diese Punkte herstellen. Typisch für diese Grundstruktur können etwa die Gespräche im Familienkreis über den nächsten Urlaub sein, die Gespräche in Wissenschaftlerkreisen, wie man eine neue Entdeckung zu bewerten hat, oder auch das Gespräch unter Ingenieuren oder Betonbauern oder Lkw-Fahrern, wenn sie in Kooperation bestimmte Eingriffe in der objektiven Welt vornehmen wollen. Das Modell der Zweckrationalität setzt eine Subjekt-Objekt-Relation voraus: Ein Akteur steht einer Welt von Sachverhalten gegenüber. Das Modell der kommunikativen Rationalität setzt eine Subjekt-Subjekt-Relation voraus, bezieht sich auf eine Mehrheit von Akteuren, die über etwas in der Welt mithilfe von begründeten Aussagen Verständigung erzielen wollen. Nun haben wir aber gesehen, dass sich auch in Subjekt-Subjekt-Relationen gleichsam parasitär Subjekt-Objekt-Orientierungen einschleichen können. Typisches Beispiel sind die Perlokutionen, mithilfe derer jemand gleichsam hinter dem Rücken des Gesagten Einfluss auf andere dadurch erzielen will, dass er Sprechakte in instrumentelle Handlungszusammenhänge einbezieht. Perlokutionen sind typisch für strategisches Handeln, und strategisches Handeln kann man als ein Handeln verstehen, in dem die Subjekte die anderen Subjekte als Objekt ihrer Interessen und Zwecksetzungen auffassen. Kommunikative Rationalität, die kennzeichnend für die sprachlich vermittelte Interaktion ist, kann also in sich in eine instrumentelle Rationalität oder Zweckrationalität umschlagen. Worin besteht nun die Verbindung von dieser universalpragmatischen Analyse zum Konzept der kommunikativen Rationalität? Wenn bei gelungenen kommunikativen Handlungen der Sprecher Geltungsansprüche in diesen drei Dimensionen erhebt, dann wird er begründungspflichtig für seine Handlung. Er muss Gründe anführen und seine Hörer überzeugen oder sich von Gründen selbst überzeugen lassen. Der illokutionäre Erfolg, den ein Sprechakt haben kann, bemisst sich daran, ob die Geltungsansprüche, die mit ihm formuliert werden, auf intersubjektive Anerkennung stoßen. Die Rationalität der Kommunikation hängt also davon ab, ob der Sprechakt erstens akzeptabel ist, ob ein Sprecher zweitens Gründe für die Akzeptabilität beizubringen in der Lage ist und ob er drittens glaubwürdig darstellen kann, dass er die von ihm formulierten Geltungsansprüche auch diskursiv einzulösen vermag. Sie hängt also von der Verständlichkeit des Gesagten ab, von der Akzeptabilität bzw. dem illokutionären Erfolg, den ein Sprechakt haben kann, wie auch davon, ob das Gesagte gegebenenfalls gerechtfertigt, also in einem Diskurs eingelöst werden kann. <?page no="153"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Schuetzeichel__Soziologische_Kommunikationstheorien(2)____[Druck-PDF]/ 13.08.2015/ Seite 154 154 8 Die kommunikative Rationalität der-Kommunikation 8.4 Kommunikative Rationalität und Diskurs Wenn ein Sprecher diesen Geltungsansprüchen nicht in einer zufriedenstellenden Weise nachkommen kann, dann besteht nach Habermas die Möglichkeit, eine Metakommunikation, also eine Kommunikation über die Kommunikation zu führen. Habermas nennt dies Diskurs. Diskurse haben die Funktion, problematische Geltungsansprüche zu thematisieren. Diskurse sind zwanglose Kommunikationsformen, in denen in dem Sinne nur ein Zwang erlaubt ist, nämlich der Zwang, seine Ansichten begründen zu müssen. Alle anderen äußeren Bedingungen wie auch inneren Motivlagen sind zu suspendieren-- sie dürfen in der diskursiven Verständigung über Geltungsansprüche keine Rolle spielen. Entsprechend den involvierten Geltungsansprüchen unterscheidet Habermas zwischen verschiedenen Diskursformen: • Der problematische Geltungsanspruch der Wahrheit einer propositionalen Aussage über die objektive Welt wird in theoretischen Diskursen verhandelt. • Der problematische Geltungsanspruch der Richtigkeit von Handlungsnormen in der sozialen Welt wird in moralisch-praktischen Diskursen verhandelt. Neben den Handlungsnormen können auch Wertstandards, zum Beispiel im ästhetischen Handeln, problematisch werden-- die Angemessenheit von Wertstandards wird in der Diskursform ästhetische Kritik thematisiert. • Der problematische Geltungsanspruch der Wahrhaftigkeit von expressiven Handlungen, die sich auf die subjektive Welt von Sprechern beziehen, wird in der Diskursform der therapeutischen Kritik behandelt. 8.5 Pragmatische Bedeutungstheorie Was heißt es, einen sprachlichen Ausdruck zu verstehen? Verstehen wir kommunikative Handlungen so, wie wir auch instrumentelle Handlungen verstehen? Wie erfassen wir die Bedeutung, die eine kommunikative Handlung haben kann? Nach Habermas ergibt sich die Bedeutung von nicht sprachlichen Handlungen aus den Intentionen des oder der Handelnden. Wenn ich eine nicht sprachliche Handlung verstehen will, dann muss ich um deren subjektiven Sinn wissen. Dies ist aber anders bei sprachlichen Handlungen. Sie identifizieren sich selbst. Die in natürlichen Sprachen formulierten Sprechakte sind selbstreferenziell, weil sie in ihren illokutiven Bestandteilen sagen, was sie tun. An dieser wichtigen Erkenntnis setzt Habermas an. Er entwirft eine pragmatische Bedeutungstheorie, die die Einseitigkeiten anderer Bedeutungstheorien vermeiden und eine integrative Lösung anbieten möchte. Dabei orientiert er sich an Bühlers Organon-Modell (vgl. Kap. 1). Dieses Modell zeigt auf, dass die Sprache ein Medium darstellt, welches drei unterschiedliche, aber intern aufeinander verweisende Funktionen erfüllt. Nach Habermas muss eine Bedeutungstheorie diese drei Funktionen analytisch zu erfassen vermögen. <?page no="154"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Schuetzeichel__Soziologische_Kommunikationstheorien(2)____[Druck-PDF]/ 13.08.2015/ Seite 154 www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Schuetzeichel__Soziologische_Kommunikationstheorien(2)____[Druck-PDF]/ 13.08.2015/ Seite 155 8.5 Pragmatische Bedeutungstheorie 155 Daran scheitert seines Erachtens die intentionalistische Semantik, wie sie vor allem Grice vorgeschlägt (vgl. Kap. 3). Diese Semantik favorisiert die Ausdrucksfunktion-- die Bedeutung eines sprachlichen Ausdrucks erschließt sich daraus, was ein Sprecher mit dem Ausdruck in einer Situation meint. Sprachliches Handeln besteht darin, dass ein Sprecher Zeichen benutzt, um einem Hörer mitzuteilen, was er beabsichtigt, glaubt oder weiß. In dieser Konzeption ist die Sprache ein reines, pures Übertragungsmedium, welches wirklich nur als Bote fungiert. Die Vorstellungen, die ein Sprecher hat, können sich problemlos in den ihm zur Verfügung stehenden konventionellen Zeichen ausdrücken. Sie treten aus der Innerlichkeit in die Öffentlichkeit der gemeinsamen Sprache, ohne Bedeutungs- und Informationsverlust und ohne Zugabe der Sprache selbst, die wiederum nur als ein Instrument der Beeinflussung anderer Sprecher und Hörer gesehen wird. Kommunikatives Handeln, so Habermas, reduziert sich in dieser Konzeption auf teleologisches Handeln. Kommunikation wird in der folgenden Weise modelliert: Ein Sprecher S, der bei einem Hörer H einen bestimmten Effekt R evozieren möchte, äußert einen Satz, der seine Bedeutung eben durch S erhält. Der beim Hörer H evozierte Effekt R besteht darin, dass H nun veranlasst wird, die Intention von S zu erkennen und bestimmte Handlungen auszuführen. Nach Habermas werden in diesem Modell Ausdruck und Appell konfundiert. Die eigentlichen Dimensionen der Intersubjektivität einerseits, der Medialität der Sprache andererseits treten nicht hervor. Das Meinen diktiert das Sagen, der Appell die Darstellung, so könnte man in einer Bühler’schen Diktion formulieren. Daran scheitert auch die formale oder wahrheitsfunktionale Semantiktheorie, wie sie insbesondere von dem Logiker Gottlob Frege Ende des 19.-Jahrhunderts entworfen wurde. Diese Tradition sieht die Darstellungsfunktion als dominant an. Die formale Semantik abstrahiert von den Intentionen von Sprechern. Ihr Interesse gilt den grammatischen Formen von Aussagen. Sprachliche Einheiten werden nicht dadurch verstanden, dass man die Intentionen der Sprecher kennt, sondern die grammatischen Strukturen der Sprache selbst. Dementsprechend leitet man auch die Bedeutung einer Aussage aus ihrer Darstellungsfunktion ab. Die Bedeutung ist der Sachverhalt, den sie wiedergibt. Wenn eine Aussage dann wahr ist, wenn der ausgedrückte Sachverhalt der Fall ist, dann verstehen wir diese Aussage, wenn wir die Bedingungen kennen, unter denen er wahr ist. Nach Habermas abstrahiert diese Semantik von der Ausdruck- und Appellfunktion der Sprache. Die Appellfunktion tritt nach Habermas schließlich in der sogenannten Gebrauchstheorie der Bedeutung in den Vordergrund. Sie betont, dass die Sprache Element einer Praxis oder einer Lebensform ist. Die intersubjektive Dimension zwischen Sprecher und Hörer tritt bei diesem Modell in den Vordergrund. Die Bedeutung der sprachlichen Ausdrücke ergibt sich aus ihrem Gebrauch in intersubjektiven Sprachspielen, umgekehrt lernen Sprecher und Hörer die Bedeutung von Ausdrücken dadurch kennen, dass sie sich in eine Lebensform mit ihren Sprachspielen eingewöhwww.claudia-wild.de: <?page no="155"?> [UTB-M]__Schuetzeichel__Soziologische_Kommunikationstheorien(2)____[Druck-PDF]/ 13.08.2015/ Seite 156 156 8 Die kommunikative Rationalität der-Kommunikation nen. Aber auch diese Konzeption ist ob ihrer Betonung der Gebrauchs- oder Äußerungsbedeutung eine einseitige. Habermas’ formalpragmatischer Gegenentwurf setzt an den Geltungsansprüchen an, die mit jedem Sprechakt verwoben sind. Wir verstehen eine Sprechhandlung, wenn wir die Art von Gründen kennen, die ein Sprecher anführen könnte, um einen Hörer davon zu überzeugen, dass er unter den gegebenen Umständen berechtigt ist, Gültigkeit für seine Äußerung zu beanspruchen. Wir verstehen einen Ausdruck also dann, wenn wir wissen, wie man ihn gebrauchen muss, um uns mit anderen verständigen zu können. Die formalpragmatische Theorie der Bedeutung und des Verstehens von sprachlichen Ausdrücken setzt an dem Gedanken der Verständigung an. Verstehen wird auf Verständigung bezogen. Wir wüssten gar nicht, was es heißt, einen Ausdruck zu verstehen, wenn es nicht darum ginge, uns mit seiner Hilfe über etwas zu verständigen. 8.6 Universalpragmatik und soziologische Handlungstheorie Die Universal- oder Formalpragmatik hat die Aufgabe, das fundamentale Regelsystem zu analysieren, welches Sprecher für die richtige Verwendung von Äußerungen beherrschen (vgl. Habermas 1976). Die Universalpragmatik überführt Habermas nun auf soziologisches Terrain. Seit Max Weber verstehen sich viele soziologische Theorien als verstehende Soziologie. Es war und ist zwar immer umstritten gewesen, was man unter dem Verstehen zu verstehen hat. Habermas macht einen eindeutigen Vorschlag, indem er das Verstehen von Handlungen bzw. Sprechhandlungen an die mit den unterschiedlichen Dimensionen verbundenen Geltungsansprüche bindet. Oder genauer: »Wir verstehen einen Sprechakt, wenn wir wissen, was ihn akzeptabel macht.« (Habermas 1989: 49) Wir können Sprechakte dann verstehen, wenn wir zu wissen glauben, welche Gründe ein Sprecher anführen könnte, um uns von seiner Wahrheit, seiner Wahrhaftigkeit oder seiner Richtigkeit zu überzeugen. Wir müssen in der Lage sein, einen Sprechakt zu verstehen, um dann zustimmend oder ablehnend Stellung nehmen zu können. Habermas macht noch einen weiteren Schritt. Er leitet aus seinem sprechakttheoretisch untermauerten Konzept kommunikativer Rationalität eine Typologie von soziologischen Handlungsbegriffen ab. An dieser Stelle verzahnen sich die sprachphilosophische, die rationalitätstheoretische und die soziologische Diskussion. Habermas geht dabei von folgenden Kategorien aus: Zunächst gibt es-- entsprechend den beiden unterschiedlichen Rationalitätsformen-- ein ›nicht soziales‹ und ein ›soziales‹ Handeln. Das soziale Handeln kann verschiedene Formen annehmen. Zur Grundlage seiner Differenzierung nimmt Habermas dabei die beiden Mechanismen, wie Akteure ihre Handlungen miteinander koordinieren können, nämlich Einflussnahme und Einverständnis. Dabei unterscheidet er zwischen dem strategischen Hanwww.claudia-wild.de: <?page no="156"?> [UTB-M]__Schuetzeichel__Soziologische_Kommunikationstheorien(2)____[Druck-PDF]/ 13.08.2015/ Seite 156 www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Schuetzeichel__Soziologische_Kommunikationstheorien(2)____[Druck-PDF]/ 13.08.2015/ Seite 157 8.7 Handlungen 157 deln einerseits, dem kommunikativen Handeln bzw. verschiedenen derivativen Formen dieses Handelns andererseits. Strategisches Handeln liegt vor, wenn die Akteure sich wechselseitig beeinflussen wollen. Kommunikatives Handeln mit seinen derivativen Formen liegt vor, wenn sie Einverständnis bzw. Verständigung zwischen sich herstellen wollen. 8.7 Handlungen Was verbindet die verschiedenen Handlungsbegriffe? Nach Habermas haben alle soziologischen Handlungsmodelle eine gemeinsame teleologische Grundstruktur. Sie gehen von Handelnden aus, die ihre Zwecke verfolgen, zwischen Handlungsalternativen entscheiden müssen und Handlungspläne in einer Welt realisieren wollen, von der sie nur begrenzte Kenntnis haben. In soziologischen Theorien, die das soziale Handeln thematisieren und deshalb mit der Prämissen von mindestens zwei aufeinander bezogenen Handelnden arbeiten, wird die Welt zu einer Welt sozialer Situationen. Die Handelnden haben nicht nur ein begrenztes propositionales Wissen von ihrer Handlungssituation, sondern auch ein nur ungenügendes Wissen von dem Wissen und den Erwartungen der anderen Handelnden in ihrer Handlungssituation, ein Wissen aber, das den Handelnden mindestens so weit gemeinsam ist, dass sie eine sich hinreichend überlappende Situationsdefinition gewinnen können. Diese teleologi- 1. Unterscheidung: Nicht-soziales und soziales Handeln 2. Unterscheidung: Typen sozialen Handelns 3. Unterscheidung: Nicht-strategisches Handeln 4. Unterscheidung: Formen kommunikativen Handelns Handeln Instrumentelles Handeln (Arbeit) Soziales Handeln (Interaktion) Strategisches Handeln (Einflussnahme) Kommunikatives Handeln (Einverständnis) Normenorientiertes Handeln Dramaturgisches Handeln Kommunikatives Handeln einverständnisorientiert verständigungsorientiert 10.4 Abb. 8.4: Handlungstypen nach Habermas <?page no="157"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Schuetzeichel__Soziologische_Kommunikationstheorien(2)____[Druck-PDF]/ 13.08.2015/ Seite 158 158 8 Die kommunikative Rationalität der-Kommunikation sche Handlungsstruktur ist nach Habermas (1982: 575 f.) der Ausgangspunkt vieler soziologischer Theorien, und sie ist auch der Ausgangspunkt seiner Analysen. Sie liegt all den von ihm unterschiedenen Handlungsformen zugrunde. Die teleologische Grundstruktur des Handelns besteht also darin, dass ein Akteur bestimmte Handlungspläne realisieren will. Er muss sich dabei auf bestimmte Situationsdefinitionen stützen. In der Abhängigkeit von seinen Situationsdefinitionen stehen ihm bestimmte Handlungsoptionen offen, unter denen er sich entscheiden muss. Die erste Unterscheidung differenziert zwischen Handlungen, die auf eine Handlungskoordination mit anderen Aktoren angewiesen sind oder nicht. Sie differenziert also zwischen sozialem und nicht sozialem Handeln. Nicht soziales Handeln wird von Habermas als instrumentelles Handeln bezeichnet. Es liegt vor, wenn ein einsamer Aktor einer Welt objektiver Sachverhalte gegenübersteht. Soziales Handeln ist hingegen ein Handeln, welches der Handlungskoordination bedarf und demnach in sozialen Situationen angesiedelt und durch die Bezugnahme von zwei Aktoren aufeinander gekennzeichnet ist. Die zweite Unterscheidung ist diejenige von verschiedenen Typen sozialen Handelns: einerseits dem strategischen Handeln als einem Handeln, das den Koordinationsmechanismus der Einflussnahme konstituiert, andererseits dem normenorientierten, dem dramaturgischen und dem kommunikativen Handeln, welche in je verschiedener Weise den Koordinationsmechanismus des Einverständnisses konstituieren. Ein Aktor handelt strategisch, wenn er auf etwas in der objektiven Welt Bezug nimmt, dabei aber die Erwartungen und Entscheidungen von anderen Aktoren in seinem egozentrischen Handlungskalkül berücksichtigen muss. Obwohl hier also eine soziale Situation vorliegt, ist für die strategische Handlungsorientierung der andere Handelnde eine zu beeinflussende Größe in der objektiven Welt. Maßgeblich ist dieser Begriff der objektiven Welt. Das teleologische Handlungsmodell, welches einen erfolgsorientierten Handelnden in einer objektiven Welt von Sachverhalten vorsieht, wird also zu einem strategischen Handlungsmodell erweitert, wenn es zwei erfolgsorientierte Handelnde gibt, in deren Handlungskalkül wechselseitige Erwartungen über das Handeln des jeweils anderen einfließen. Gemäß diesem Modell verfolgt jeder der beiden Handelnden egozentrisch seine Ziele, wobei ihm die Handlungen des anderen als Mittel für die Erreichung seiner Ziele dienen können, und er muss die Erwartungen des anderen vorwegnehmen, damit er dessen Handlungen beeinflussen kann. Habermas (vgl. Habermas 1981, Bd. 1: 444 f.) unterscheidet verschiedene Formen des strategischen Handelns. Da ist das offen strategische Handeln, wie es etwa immer dann vorliegt, wenn imperativische Sprechakte (Befehle u. a.) ins Spiel kommen. Zudem kennt er das verdeckt strategische Handeln, welches auf die Manipulation und Täuschung von Koakteuren abzielt. Insbesondere hebt er aber jene Formen der systematisch verzerrten Kommunikation hervor, die auf einer unbewusswww.claudia-wild.de: <?page no="158"?> [UTB-M]__Schuetzeichel__Soziologische_Kommunikationstheorien(2)____[Druck-PDF]/ 13.08.2015/ Seite 158 www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Schuetzeichel__Soziologische_Kommunikationstheorien(2)____[Druck-PDF]/ 13.08.2015/ Seite 159 8.7 Handlungen 159 ten Täuschung der Kommunikationsteilnehmer über seine Einstellungen beruhen. Die Bedeutung von strategischen Handlungen identifiziert man nicht anhand dessen, was jemand sagt, also nicht anhand der Regeln der Sprache, sondern anhand der Handlungsabsichten, die jemand mit seinem Sagen verfolgt. Strategisches Handeln wird durch die Intentionen der Handelnden identifiziert. Im strategischen Handeln wird das Medium der Sprache nur in einer sehr eingeschränkten Weise einbezogen, nämlich nur insoweit, als die Meinungen und Absichten anderer von einem Sprecher beeinflusst werden können, und zwar durch die perlokutionären Effekte der Sprachhandlungen. Das wesentliche Medium der Kommunikation in den gesellschaftlichen Bereichen, die durch strategisches Handeln gekennzeichnet sind, ist nicht die auf Verständigung abzielende Sprache, sondern es sind die auf Beeinflussung anderer zielenden symbolisch generalisierten Kommunikationsmedien. Strategisches Handeln orientiert sich daran, die vorhandenen Mittel möglichst effektiv einzusetzen, um die individuell angestrebten Ziele optimal zu erreichen. Nach Habermas vertreten insbesondere utilitaristische bzw. Rational- Choice-Theorien in der Soziologie einen solchen Handlungsbegriff. Aber lassen wir Habermas selbst zu Worte kommen: »In strategischen Handlungszusammenhängen funktioniert die Sprache allgemein nach dem Muster von Perlokutionen. Die sprachliche Kommunikation wird hier Imperativen des zweckrationalen Handelns untergeordnet. Strategische Interaktionen sind durch die Entscheidungen von erfolgsorientiert eingestellten Aktoren bestimmt, die sich wechselseitig beobachten. Sie begegnen einander unter Bedingungen doppelter Kontingenz als Gegenspieler, die im Interesse je eigener Handlungspläne aufeinander […] Einfluss nehmen. Sie suspendieren die performativen Einstellungen von Kommunikationsteilnehmern insofern, als sie die beteiligten Sprecher- und Hörerrollen aus der Perspektive von dritten Personen einnehmen. Aus dieser Sicht sind illokutionäre Ziele nur noch als Bedingungen für perlokutionäre Erfolge relevant. Strategisch handelnde Subjekte, die miteinander kommunizieren, verfolgen mithin ihre illokutionären Ziele nicht- - wie im kommunikativem Sprachgebrauch- - ohne Vorbehalt.« (Habermas 1999: 128; Hervorh. weggel.) Es ist dem strategischen und dem kommunikativen Handeln gemeinsam, dass es sich um soziale Handlungstypen handelt. Strategisches oder kommunikatives Handeln wird dann erforderlich, wenn ein Aktor seine Handlungspläne nur mithilfe der Handlung von anderen Akteuren durchführen kann. Kommunikatives Handeln unterscheidet sich von strategischem Handeln in mehrfacher Hinsicht: (a) Die Aktoren versuchen, ihre Handlungspläne auf der Grundlage hinreichend gemeinsamer Situationsdeutungen abzustimmen. (b) Die Aktoren versuchen, eine gemeinsame Situationsdefinition dadurch zu erreichen, dass sie vorbehaltlos illokutionäre Ziele verfolgen, d. h. sie orientieren sich an wechselseitig kritisierbaren Geltungsansprüchen. <?page no="159"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Schuetzeichel__Soziologische_Kommunikationstheorien(2)____[Druck-PDF]/ 13.08.2015/ Seite 160 160 8 Die kommunikative Rationalität der-Kommunikation Obwohl den drei Weltdimensionen bestimmte Handlungstypen in ihrer reinen Formen korrelieren (Habermas 1981, Bd. 2: 183)-- das teleologische Handeln der objektiven Welt, das normenregulierte Handeln der sozialen Welt und das dramaturgische Handeln der subjektiven Welt--, so geht Habermas doch davon aus, dass diese reinen Typen Grenzfälle darstellen. Alle kommunikativen Äußerungen sind zugleich immer in die drei Welten eingebettet. Sie werden nur, wie wir schon am Beispiel der unterschiedlichen illokutionären Formen gesehen haben, von den Sprechern unterschiedlich herausgehoben und dienen den Hörern als Interpretationsrahmen, in welchem sie die Äußerungen deuten. Normenreguliertes Handeln: Normenreguliertes Handeln liegt dann vor, wenn die Handelnden ihre Handlungen an den in ihrer sozialen Gruppe bestehenden Normen orientieren und dies voneinander erwarten können. Ein Aktor muss sich auf zwei Welten beziehen, nicht nur auf die objektive, sondern auch auf die soziale Welt. Er bezieht sich nicht nur auf etwas in der objektiven Welt, sondern in Gestalt der Normen, die die Wahl seiner Handlungsziele und Handlungsmittel bestimmen und die der Aktor als für sein Handeln verbindlich betrachtet, auch auf eine soziale Welt. Im normenorientierten Modell kommt das Medium der Sprache nur eingeschränkt zur Geltung- - Sprache dient der Tradierung von Wissen und Normen und damit der Aktualisierung eines schon bestehenden Einverständnisses. Im Modell des normenregulierten Handelns wird die individuelle Zweckrationalität der Akteure durch eine Orientierung an sozial institutionalisierten und an psychisch internalisierten Normen gesteuert. Habermas selbst dient die Parsonianische Handlungstheorie mit ihrer Heraushebung der Normenkonformität des Handelns als Prototyp dieser Handlungskonzeption. Dramaturgisches Handeln: Beim dramaturgischen Handeln geht es nicht um die Einhaltung von Normen, sondern um die Selbstpräsentation Handelnder voreinander. Da in sozialen Beziehungen die subjektive Welt, also die Gedanken- und Gefühlswelt der Handelnden füreinander verschlossen ist, können sie sich vor anderen in einer besonders stilisierten Weise präsentieren. Ein Aktor, der sich in einer bestimmten Weise vor einem Publikum darstellen möchte, muss sich ebenfalls auf zwei Welten beziehen, nämlich auf die objektive und die subjektive Welt. In Bereichen dramaturgischen Handelns wird das Medium der Sprache zur expressiven Selbstdarstellung und Selbstinszenierung genutzt. Habermas orientiert sich bei diesem Handlungstyp an den paradigmatischen Analysen Goffmans über die Selbstrepräsentation von Individuen in Interaktionen. Kommunikatives Handeln: Als einziger Handlungstypus verweist das kommunikative Handeln auf alle drei Weltdimensionen. Ein Sprecher und ein Hörer beziehen sich auf etwas in der objektiven, in der sozialen und in der subjektiven Welt, um zu einer gemeinsamen Situationsdefiniton zu gelangen. Sie beziehen sich aber nicht nur allein auf diese drei Welten, sondern im kommunikativen Handeln liegt auch eine stärkere Reflexivität vor: Handelnde wissen, dass sie die mit ihren Äußerungen verwww.claudia-wild.de: <?page no="160"?> [UTB-M]__Schuetzeichel__Soziologische_Kommunikationstheorien(2)____[Druck-PDF]/ 13.08.2015/ Seite 160 www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Schuetzeichel__Soziologische_Kommunikationstheorien(2)____[Druck-PDF]/ 13.08.2015/ Seite 161 8.7 Handlungen 161 bundenen Geltungsansprüche gegebenenfalls einlösen müssen, und orientieren sich daran (vgl. Habermas: 1981, Bd. 1: 149). Allein im kommunikativen Handeln kommt die Sprache mit ihrem vollen Verständigungs- und Rationalitätspotenzial zur Geltung. Kommunikatives Handeln liegt dann vor, wenn Akteure ihre Handlungspläne durch die Mittel der Sprache, d. h. durch die illokutionären Bindungskräfte der Sprache, die zu einer Verständigung bzw. einem Einverständnis über Geltungsanspruche herausfordern, koordinieren. Nach Habermas sind alle Sprachhandlungen mit den explizierten Geltungsansprüchen versehen. Aber diese Geltungsansprüche kommen nur beim kommunikativen Handeln zum Tragen. Nur das kommunikative Handeln ist ein umfassend verständigungsorientiertes Handeln. Alle anderen sozialen Handlungen wie das normenorientierte und das dramaturgische blenden sämtliche oder einige dieser Geltungsansprüche aus oder neutralisieren sie. Diese stellen nur »Derivate des verständigungsorientierten Handelns« (Habermas 1976: 174) dar. Kommunikatives Handeln gilt Habermas als Originalmodus der Kommunikation. Um von einem kommunikativen Handeln sprechen zu können, müssen nach Habermas ganz bestimmte Bedingungen erfüllt sein: Es braucht eine kooperative Einstellung der Beteiligten, die versuchen, ihre Handlungspläne im Horizont eines lebensweltlich geteilten Wissens auf der Grundlage hinreichend überlappender Situationsdefinitionen miteinander abzustimmen. Auch das kommunikative Handeln hat eine teleologische Kernstruktur. Aber diese Teleologie wird für eine gewisse Zeit inhibiert und durch den Mechanismus der sprachlichen Verständigung unterbrochen (vgl. Habermas 1989: 52). Dafür ist es erforderlich, dass die beteiligten Aktoren dazu bereit und in der Lage sind, ihre Handlungskoordination und ihre gemeinsame Weltbezug Handlungstyp normenorientiert dramaturgisch kommunikativ soziale Welt subjektive Welt objektive Welt X X X X X X X Abb. 8.5: Formen kommunikativen Handelns und Weltbezüge <?page no="161"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Schuetzeichel__Soziologische_Kommunikationstheorien(2)____[Druck-PDF]/ 13.08.2015/ Seite 162 162 8 Die kommunikative Rationalität der-Kommunikation Situationsdefinition durch Verständigung zu erreichen. Sie orientieren sich dabei an wechselseitig erhobenen und kritisierbaren Geltungsansprüchen. Habermas unterscheidet weiterhin zwischen zwei Formen kommunikativen Handelns. Ihm zufolge kann es sowohl in einem einverständnisorientierten wie auch in einem verständigungsorientieren Sinne gebraucht werden. Bei beiden geht es um unterschiedliche Modi der Verständigung. Kommunikatives Handeln, so hatten wir gesagt, ist daran gebunden, dass man für sein Handeln Gründe anzuführen vermag. Diese Gründe können aber aktorabhängig und aktorunabhängig sein. Bei aktorabhängigen Gründen sind sich Sprecher und Hörer darüber im Klaren, dass der Sprecher gute Gründe für sein Handeln hat, aber der Hörer muss sich diese Gründe aufgrund anderer Präferenzen nicht zu eigen machen. Wenn Frau Schmidt nach Holland in den Urlaub fahren möchte und dies gut begründet, so muss Herr Schmidt dem aufgrund anderer Präferenzen nicht zustimmen, und dies gilt auch umgekehrt. Beide verständigen sich über ihre guten Gründe, aber sie möchten zu keinem Einverständnis kommen bzw. sie handeln nicht einverständnisorientiert und belassen es bei den guten Gründen. Ein einverständnisorientieres kommunikatives Handeln setzt voraus, dass aktorunabhängige Gründe vorliegen. Dies ist gegeben, wenn die Beteiligten gleiche Gründe für die Ablehnung oder Zustimmung von Geltungsansprüchen haben. Es macht einen Unterschied, ob Frau Schmidt sagt ›Lass uns nach Holland fahren‹ oder ›Ich verspreche dir, dass wir nach Holland fahren‹. Verständigungsorientiertes kommunikatives Handeln liegt z. B. in monologischen, einseitigen Willensäußerungen vor, einverständnisorientieres kommunikatives Handeln z. B. in Versprechungen. Dementsprechend unterscheidet Habermas zwischen einem schwachen und einem starken kommunikativen Handeln. Schwaches kommunikatives Handeln liegt vor, wenn die Akteure zwar verständigungsorientiert agieren, wenn sich die Verständigung aber nur auf aktorrelative Gründe erstreckt. Starkes kommunikatives Handeln liegt vor, wenn die Akteure eine Verständigung durch aktorunabhängige Gründe erreichen, also z. B. durch intersubjektiv geteilte Wertorientierungen. Im schwachen Modus orientieren sich die Akteure an Wahrhaftigkeitsansprüchen, im starken Modus darüber hinaus an allgemein geltenden Richtigkeitsansprüchen. Wie ersichtlich, orientiert sich die Handlungstypologie von Habermas an dem kommunikativen Handeln als demjenigen Handeln, welches das durch das Medium der Sprache eröffnete Rationalitätspotenzial am stärksten ausschöpfen kann. Das kommunikative Handeln stellt soziales Handeln par excellence dar. Alle anderen strategischen oder nicht strategischen Handlungsformen sind nur Derivate und Schwundformen dieser Rationalität. Das kommunikative Handeln wird, im Gegensatz zum strategischen Handeln, nicht anhand der Intentionen eines Akteurs, sondern anhand der Regeln der Sprache identifiziert. Halten wir diese Zusammenhänge in folgender Tabelle fest: <?page no="162"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Schuetzeichel__Soziologische_Kommunikationstheorien(2)____[Druck-PDF]/ 13.08.2015/ Seite 162 www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Schuetzeichel__Soziologische_Kommunikationstheorien(2)____[Druck-PDF]/ 13.08.2015/ Seite 163 8.8 Zwischenbilanz 163 Um dies nochmals zusammenzufassen: Mit seiner Theorie kommunikativen Handelns versucht Habermas, nicht nur den üblichen soziologischen Handlungs- und Kommunikationsmodellen additiv eine weitere Handlungsform, eben das kommunikative Handeln, an die Seite zu stellen. Sondern umgekehrt: Das kommunikative Handeln stellt für Habermas die basale Grundform aller Handlungsformen dar. Alle anderen Formen sind für ihn Verkürzungen dieses Handlungstypus. Sie ergeben sich logisch durch das Weglassen von konstitutiven Momenten und auf der empirischen Ebene durch die gesellschaftlich bedingte Realabstraktion von solchen konstitutiven Momenten, die das kommunikative Handeln ausmachen. 8.8 Zwischenbilanz In der Theorie des kommunikativen Handelns von Habermas nehmen das Selektionsproblem und das Sozialitätsproblem der Kommunikation eine zentrale Stellung ein. Er fragt, welcher Zusammenhang zwischen Formen sozialer Ordnung, den Handlungkoordinationen und den Handlungsselektionen besteht. Damit rückt der Zusammenhang von Kommunikation und Koordination mit den unterschiedlichen Formen der Intersubjektivität bzw. Koordination von Handlungen ins Zentrum. Es wird zwischen strategischen und nicht strategischen Handlungskoornormativ eingebettete Akte (Normativa, Konstativa, Expressiva) Äusserungstypen Aktoreinstellung Handlungstyp Selbstrepräsentationen objektivierend: zielgerichtete Intervention performativ: schwach-kommunikatives Handeln objektivierend: strategisches Handeln nicht-soziales Handeln rein sprachliche Darstellung normativ nicht-eingebettete Willensäußerung Sprachgebrauch nichtkommunikativ verständnisorientiert einverständnisorientiert folgenorientiert performativ: schwach-kommunikatives Handeln soziales Handeln soziales Handeln soziales Handeln Abb. 8.6: Sprachgebrauch und Handlungstypen (nach Habermas 1999, 129 u. 130, modifiziert) <?page no="163"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Schuetzeichel__Soziologische_Kommunikationstheorien(2)____[Druck-PDF]/ 13.08.2015/ Seite 164 164 8 Die kommunikative Rationalität der-Kommunikation dinationen (Einflussnahme und Einverständnis) unterschieden, wobei die nicht strategischen Formen sich in normenkonformes, dramaturgisches und kommunikatives Handeln differenzieren lassen. Das Kriterium dieser Unterscheidungen wird durch die je involvierten Rationalitätsimplikationen gewonnen. Die umfassendste Rationalität ist dem kommunikativen Handeln inhärent. Es zeichnet sich dadurch aus, dass Handlungen nur auf der Basis guter Gründe aneinander anschließen. Der Kommunikation sind drei Dimensionen inhärent: eine sachliche Dimension der Kommunikation über etwas, eine soziale Dimension der interpersonalen Beziehungen zwischen den Kommunikatoren und eine subjektive Dimension, in welcher die Kommunikatoren subjektive Erlebnisse und Zustände zum Ausdruck bringen. Die formalpragmatische Bedeutungstheorie versucht, die Verkürzungen einer intentionalistischen, einer wahrheitsfunktionalen und einer gebrauchstheoretischen Semantik sichtbar zu machen, indem sie darauf hinweist, dass die Bedeutung eines sprachlichen Ausdrucks sich in allen drei kommunikativen Dimensionen ausweisen muss. Als kommunikatives Handeln wird solches Handeln verstanden, das konsens- und verständigungsorientiert ist. Dieses wird wegen seiner besonderen Rationalität vor allen anderen ausgezeichnet. Die Bezeichnung ›kommunikatives Handeln‹ wird von Habermas in dieser eminenten Bedeutung gebraucht. Das heißt nicht, dass andere Formen sozialen Handelns nicht ebenfalls Formen von Kommunikation darstellen. Auch strategisches Handeln ist, da es sich zum Beispiel des Mediums Geld oder der Macht bedient, eine Form von Kommunikation mit anderen. Aber das kommunikative Handeln stellt eine besonders ausgezeichnete Form von Kommunikation dar. Gemäß des von ihm postulierten Paradigmenwechsels stellt Habermas das Medium der Sprache in das Zentrum der soziologischen Theoriebildung. Das der Sprache immanente Rationalitätspotenzial wird zum Leitbild der soziologischen Handlungs- und Gesellschaftstheorie. Diese Fokussierung wirft die Frage auf, ob damit nicht von vorneherein ein zu enger und ein paradigmatisch zu eingeschränkter Rationalitätsbegriff zugrunde gelegt wird und andere Medien unberücksichtigt bleiben (vgl. Vogel 2001). Der handlungstheoretischen Unterscheidung von kommunikativem und strategischem Handeln korrespondiert schließlich eine gesellschaftstheoretische von Lebenswelt und System. Basislektüre: Habermas, Jürgen (1981): Theorie des kommunikativen Handelns. 2 Bände. Frankfurt am Main. Habermas, Jürgen (1982): Erläuterungen zum Begriff des kommunikativen Handelns. In: Ders.: Vorstudien und Erläuterungen zur Theorie des kommunikativen Handelns. Frankfurt am Main, S. 571-606. <?page no="164"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Schuetzeichel__Soziologische_Kommunikationstheorien(2)____[Druck-PDF]/ 13.08.2015/ Seite 164 www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Schuetzeichel__Soziologische_Kommunikationstheorien(2)____[Druck-PDF]/ 13.08.2015/ Seite 165 8.8 Zwischenbilanz 165 Einführungsliteratur: Schneider, Wolfgang Ludwig (2002): Grundlagen der soziologischen Theorie. 2 Bände. Wiesbaden. Weiterführende Literatur: Greve, Jens (2002): Bedeutung, Handlung und Interpretation. Zu den Grundlagen der verstehenden Soziologie. In: Zeitschrift für Soziologie 31: 373-390. Honneth, Axel / Joas, Hans (Hg.) (1986): Kommunikatives Handeln. Beiträge zu Jürgen Habermas ›Theorie des kommunikativen Handelns‹. Frankfurt am Main. Vogel, Matthias (2001): Medien der Vernunft. Frankfurt am Main. <?page no="165"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Schuetzeichel__Soziologische_Kommunikationstheorien(2)____[Druck-PDF]/ 13.08.2015/ Seite 166 <?page no="166"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Schuetzeichel__Soziologische_Kommunikationstheorien(2)____[Druck-PDF]/ 13.08.2015/ Seite 166 www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Schuetzeichel__Soziologische_Kommunikationstheorien(2)____[Druck-PDF]/ 13.08.2015/ Seite 167 167 9 Die Unwahrscheinlichkeit von Kommunikation Nunmehr kommen wir zu der Theorie, die wohl in der bisherigen soziologischen Theoriegeschichte am radikalsten eine kommunikationstheoretische Wende gefordert und auch eingeleitet hat. Die Systemtheorie von Niklas Luhmann zeichnet sich aber nicht nur dadurch aus, dass Kommunikation als die zentrale, basale Einheit aller sozialer Phänomene unterstellt wird, sondern dass-- wie besonders eindrücklich in Luhmanns (vgl. Luhmann 1995b) Diskussion von Habermas’ Konzeption des kommunikativen Handelns nachzulesen ist- - der Anspruch formuliert wird, das Verständnis von Kommunikation auf eine neue theoretische Basis zu stellen. Da trotz aller Prominenz der Komplex der Kommunikation nur einer unter vielen anderen in diesem begrifflich überaus stark verwobenen Theorienetzwerk darstellt, ist es schwierig, diesen in einer isolierten Weise zu behandeln, aber es ist für unsere Zwecke unabdingbar. Von daher werden wir uns nur mit dem engen thematischen Kern befassen und müssen alle anderen Fragen an Luhmann selbst bzw. die Kommentarwerke zu der Systemtheorie delegieren (vgl. die »Einführung in die Systemtheorie« von Luhmann (2002) selbst sowie aus der Vielzahl der Kommentarbände Becker / Reinhardt-Becker 2001, Berghaus 2003 und Kneer / Nassehi 1994). 9.1 Theoretische Ausgangsfrage Wie bei allen anderen Theorien, so ist es gerade auch bei der Systemtheorie wichtig zu wissen, unter welcher Perspektive, unter welcher Fragestellung ein Sachverhalt oder ein Gegenstand thematisiert und analysiert wird. Die Systemtheorie nähert sich dem Gegenstand Kommunikation unter einer spezifischen Leitfrage, und diese lautet: Wie ist Kommunikation möglich? Das ist eine ziemlich ungewöhnliche Frage, denn wir wissen alle, dass Kommunikation möglich ist. Schließlich verbringen wir einen hohen Anteil unserer Lebenszeit damit, uns mit anderen zu unterhalten, Zeitung zu lesen, Fernsehen zu schauen oder Geld auszugeben. Aber die Systemtheorie stellt diese Frage nicht unbedacht. Sie möchte die Bedingungen analysieren, die Konstellationen aufzeigen, die Faktoren untersuchen, die dazu beitragen, dass wir kommunizieren können. Sie erklärt die Kommunikation für unwahrscheinlich, um gerade die Voraussetzungen zu klären, die dafür verantwortlich sind, dass diese Unwahrscheinlichkeit in eine gewisse Wahrscheinlichkeit transformiert wird. Die soziologische Systemtheorie interessiert sich nicht oder nur am Rande für die individuellen Voraussetzungen des Kommunizierens. Die bestehen darin, dass wir ganz bestimmte Kompetenzen aufweisen müssen: Laute bilden, Sätze bilden, grammatikalische Transformationsregeln beherrschen, Lesen oder Schreiben, oder dass wir ganz bestimmte Einstellungen und Haltungen einnehmen müssen, um erfolgreich oder verständig kommunizieren <?page no="167"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Schuetzeichel__Soziologische_Kommunikationstheorien(2)____[Druck-PDF]/ 13.08.2015/ Seite 168 168 9 Die Unwahrscheinlichkeit von Kommunikation zu können. All dies wird von der Systemtheorie vorausgesetzt, aber sie interessiert sich für die sozialen Bedingungen von Kommunikation selbst. Noch ein weiterer Punkt ist wichtig. Im Unterschied zu anderen soziologischen Kommunikationstheorien oder auch zur Sprechakttheorie ist die Systemtheorie nicht daran interessiert, unterschiedliche Formen und Typen von Kommunikation zu unterscheiden. Sie versucht im Gegenteil, eine allgemeine, umfassende Kommunikationstheorie zu entwickeln, also eine Theorie, die nicht nur für die sprachliche oder schriftliche oder massenmediale Kommunikation gilt, nicht nur für das persönliche Gespräch unter Anwesenden oder die Anweisungen in Organisationen, sondern die in der Lage ist, all diese verschiedenen Bereiche und Ebenen zu thematisieren. Dies führt umgekehrt dazu, dass die Systemtheorie einen recht abstrakten Begriff entwickelt, der auf rein funktionalen Betrachtungen basiert. Somit stützt sich die Systemtheorie auf eine funktionale Analyse von Kommunikation. Das theoretische Bezugsproblem dieser funktionalen Analyse besteht darin, zu fragen, wie Kommunikation als ein soziales Phänomen zustande kommen kann. Oder in den Worten der Systemtheorie formuliert: Sie fragt nach der Operativität der Kommunikation. Welche Komponenten müssen funktional integriert werden, damit Kommunikation als eine Operation mit möglichen Anschlussoperationen zustande kommen kann? Ihre Antwort lautet, dass drei Selektionen funktional integriert werden müssen, damit sich die Operation einer Kommunikation bilden kann, nämlich Information, Mitteilung und Verstehen. Werden diese selektiven Komponenten integriert, dann bildet sich ein Kommunikationsakt heraus, auf den dann weitere ebenso funktional integrierte Kommunikationsakte folgen können. Das Interesse der Systemtheorie gilt also nicht den Inhalten von Kommunikation, es gilt auch nicht den Individuen, die miteinander kommunizieren, oder gar ihren psychischen Voraussetzungen, sondern der Frage, wie sich Kommunikationsprozesse operativ bilden und schließen können. Aus der Antwort, die die Systemtheorie in Bezug auf diese Problemstellung gewinnt, lassen sich alle weiteren, heftig und kontrovers diskutierten Theoreme der Systemtheorie ableiten, so auch die nicht nur auf den ersten Blick verstörende Feststellung, dass nicht Menschen, sondern nur Kommunikation kommunizieren kann. 9.2 Sinn, Beobachtung und Kommunikation Sinn ist der Zentralbegriff der soziologischen Theorie von Luhmann. Es ließe sich viel über die verschiedenen Entwicklungsstufen, Schattierungen und Implikationen dieses Begriffs sagen (hier sei nur auf die grundsätzlichen Ausführungen in Luhmann 1971 und 1984 verwiesen), aber wir müssen uns auf wenige Aspekte beschränken. Sinn wird auf Komplexität bezogen und hat die Funktion, die Komplexität des Handelns und Erlebens einerseits zu reduzieren und bestimmbar zu machen, andererseits aber auch auf andere Möglichkeiten des Handelns und Erlebens zu verweisen. Ja, <?page no="168"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Schuetzeichel__Soziologische_Kommunikationstheorien(2)____[Druck-PDF]/ 13.08.2015/ Seite 168 www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Schuetzeichel__Soziologische_Kommunikationstheorien(2)____[Druck-PDF]/ 13.08.2015/ Seite 169 9.2 Sinn, Beobachtung und Kommunikation 169 mehr noch, der Sinn des Handelns und Erlebens wird geradezu darauf bezogen, dass einerseits eine bestimmte Möglichkeit gewählt wird, aber andererseits andere Möglichkeiten des Verhaltens erhalten bleiben. Sinnhaft ist das Erleben und Handeln also dann, wenn es selektiv ist, wenn es als Selektion aus einem weiten Kreis anderer Möglichkeiten des Verhaltens begriffen werden kann. Handeln und Erleben wird sinnhaft nicht dadurch, dass ein Handelnder sein Tun mit einem gewissen Sinn ausstattet, dass es für ihn subjektiv sinnhaft ist, sondern deshalb, weil es selektiv ist. Machen wir uns dies an einem Beispiel deutlich. Wenn Frau Schmidt ihrem Ehemann empfiehlt, doch den Sauerbraten zu wählen, dann ist diese Empfehlung für beide sinnhaft deshalb, weil sie eine Selektion aus einem weiten Horizont anderer Möglichkeiten des Handelns und Erlebens darstellt. Frau Schmidt hätte auch anders handeln können, aber dass sie gerade diese Empfehlung ausspricht, konstituiert in Differenz zu den anderen Möglichkeiten den Sinn ihres Tuns. Und Herr Schmidt hätte die Empfehlung anders erleben können, aber dass er sie gerade so erlebt, wie er sie erlebt, konstituiert für ihn den Sinn ihres Tuns. Sinn wird von Luhmann also nicht auf Zwecke oder Werte bezogen, sondern auf Selektionen und Differenzen. Von daher kann er auch sagen, dass Sinn eigentlich das grundlegende Medium des Erlebens, Handelns und Kommunizierens von Menschen darstellt. Wann immer erlebt, gehandelt und kommuniziert wird, ist Sinn involviert-- ansonsten hätten wir es mit Naturabläufen zu tun. Durch Sinn kommt Kontingenz in die Welt hinein, denn Sinn verweist immer auf andere Möglichkeiten des Handelns und Erlebens. Von daher ist Sinn nicht hintergehbar und nicht negierbar. Wenn man die Sinnhaftigkeit des Handelns und Erlebens negiert, so kann sich die Negation, wenn sie sinnhaft sein will, nur im Medium Sinn vollziehen. Sinn ist also das zentrale Medium, weil alle Formen des Handelns und Erlebens immer auf andere Möglichkeiten des Handelns und Erlebens verweisen. Von daher kann man aber auch sagen: Die Formen des Handelns und Erlebens sind Differenzen, sie stellen Selektionen dar, die immer auf andere, nicht gewählte Möglichkeiten verweisen. Das Medium Sinn erlaubt also Formbildungen, in denen sinnhaft spezifische Differenzen oder Unterscheidungen aktualisiert werden. Diese Aktualisierungen nennt Luhmann ganz allgemein Beobachtungen. Unter Beobachtung versteht die Systemtheorie: Treffen von Unterscheidungen. Beobachtung hat also nichts zu tun mit dem alltäglichen Beobachtungsbegriff, der sehr eng mit Wahrnehmung verbunden ist, obwohl auch Wahrnehmungen Beobachtungen sind, denn auch sie unterscheiden. So sehen die Salzkartoffeln, die sich Frau Schmidt zu ihrem Sauerbraten bestellt hat, ein wenig weißlich aus und nicht gelblich. ›Beobachtung‹ ist der Oberbegriff für solche Sachverhalte wie Denken, Handeln, Wahrnehmen, Kommunizieren, denn alle diese Vorgänge leben davon, dass sie Unterscheidungen benutzen. Gedanken denken an dieses-- und nicht an jenes. Man versucht, dieses Ziel durch solche Handlungen zu erreichen, und nicht jenes Ziel durch andere Handlungen. Man teilt diese Information mit, nicht jene, die aber auch anders <?page no="169"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Schuetzeichel__Soziologische_Kommunikationstheorien(2)____[Druck-PDF]/ 13.08.2015/ Seite 170 170 9 Die Unwahrscheinlichkeit von Kommunikation verstanden werden könnte. Beobachtungen in diesem umfassenden Sinn setzen zwei Momente voraus: das Unterscheiden und das Bezeichnen. Es müssen zwei Seiten unterschieden und eine dieser Seiten bezeichnet oder benutzt werden, damit man beobachten, also denken, handeln, wahrnehmen oder kommunizieren kann. Diese Aussage darf nicht so verstanden werden, dass man zunächst unterscheidet und dann bezeichnet, nein, es handelt sich um einen Vorgang, der aus diesen beiden Momenten besteht. Man spricht über etwas, aber um dies tun zu können, hat man dieses ›etwas‹ von anderem unterschieden. Man kann also nur etwas bezeichnen, indem man unterscheidet, und umgekehrt- - nur dann, wenn man unterscheidet, kann man etwas bezeichnen. Luhmann übernimmt dabei die Formentheorie von George Spencer Brown (vgl. Spencer Brown 1972). Mit dem Begriff der Form wird die Einheit der Unterscheidung bezeichnet. Jede Unterscheidung weist zwei Seiten auf, eine bezeichnete Seite und eine Seite, die in diesem Moment nicht bezeichnet wird. Frau Schmidt spricht über den Sauerbraten und nicht über den Rest der Welt. Die Unterscheidung von Sauerbraten und ›Rest der Welt‹ ist notwendig dafür, dass sie über den Sauerbraten sprechen kann. Der Sauerbraten wird bezeichnet oder, wie die Systemtheorie auch sagt, markiert, der Rest der Welt bleibt unbezeichnet auf der zweiten Seite der Unterscheidung zurück, kann aber im nächsten Moment, also im nächsten Ereignis durchaus thematisiert werden, etwa durch Herrn Schmidt, der nun von der Entenbrust oder, besser noch, von der Differenz von Sauerbraten und Entenbrust, also der Form Sauerbraten und Entenbrust spricht und diese Differenz gegen den Rest der Welt unterscheiden muss, also mehrfach gestaffelte Formen verwendet. Wichtig ist, dass im Rahmen einer Beobachtung nicht gleichzeitig beide Seiten markiert bzw. bezeichnet werden können. Wenn man von der einen auf die andere Seite wechselt, dann braucht dies eine weitere Beobachtung, also Zeit. Dies ist durchaus möglich, aber auch für diese zweite Beobachtung gilt selbstverständlich, dass sie eine Beobachtung, also eine Unterscheidung ist, wie wir eben am Beispiel des Gesprächs der Eheleute Schmidt demonstriert haben. Die Beobachtungstheorie hat enorme theoretische Konsequenzen, die wir an dieser Stelle nicht alle anführen können. Dass die Systemtheorie Kommunikation als Prozessieren von Selektionen, also Unterscheidungen und mithin Beobachtungen versteht, haben wir schon dargelegt. Aber für die Kommunikationstheorie ist noch eine zweite Implikation wesentlich, nämlich die Unterscheidung einer Beobachtung erster Ordnung und einer Beobachtung zweiter oder n-ter Ordnung. Denn: Kommunikationen müssen über diese unterschiedliche Beobachtungsebenen verfügen. Beobachtungen erster Ordnung beobachten, also unterscheiden-und-bezeichnen etwas. Beobachtungen zweiter Ordnung beobachten die Unterscheidung, mit der eine Beobachtung erster Ordnung etwas unterscheidet-und-bezeichnet. Beobachtungen zweiter Ordnung beobachten also Beobachtungen. In der Kommunikation werden beide und vielleicht sogar noch höhere Ebenen als die zweite miteinander komwww.claudia-wild.de: <?page no="170"?> [UTB-M]__Schuetzeichel__Soziologische_Kommunikationstheorien(2)____[Druck-PDF]/ 13.08.2015/ Seite 170 www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Schuetzeichel__Soziologische_Kommunikationstheorien(2)____[Druck-PDF]/ 13.08.2015/ Seite 171 9.2 Sinn, Beobachtung und Kommunikation 171 markierte Seite unmarkierte Seite Abb. 9.1a: Formen I Sauerbraten Rest der Welt Abb. 9.1b: Formen II Sauerbraten Entenbrust Rest der Welt Abb. 9.1c: Formen III <?page no="171"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Schuetzeichel__Soziologische_Kommunikationstheorien(2)____[Druck-PDF]/ 13.08.2015/ Seite 172 172 9 Die Unwahrscheinlichkeit von Kommunikation biniert. Herr und Frau Schmidt sprechen über den Büroalltag von Frau Schmidt, die den neuesten Klatsch zum Besten gibt und was Frau Müller über Herrn Maier gesagt hat (Beobachtung 3. Ordnung), sie wechseln zum Thema Sauerbraten oder Entenbrust (Beobachtung 1. Ordnung), beginnen sich zu streiten, wobei Frau Schmidt ihrem Mann seine schroffe Ausdrucksweise (Beobachtung 2. Ordnung) vorwirft. Auf der Basis der Formenlogik von Spencer Brown versucht Luhmann auch im Anschluss an Saussure und Peirce eine Zeichentheorie zu entwickeln, die Zeichen als reine kommunikationsinterne Unterscheidungen konzipiert. Zeichen stellen die Einheit der Unterscheidung von Bezeichnendem und Bezeichnetem dar. Zeichen sind also Zwei-Seiten-Formen. Aber, wie Luhmann selbst sagt, ist er in die Semiotik nicht besonders eingearbeitet. Man tut gut daran, seiner Anregung zu folgen und sich die semiotische Literatur direkt anzuschauen (vgl. Luhmann 2002: 283), um ob der terminologischen Inkonsistenzen nicht in kommunikative Verwirrungen zu geraten. (Verweisen möchte ich jedoch auf Luhmann 1993 und die Auseinandersetzung mit Luhmanns Entwurf bei Scheibmayr 2004). 9.3 Komponenten der Kommunikation Kommunikation wird- - auch hier sind Anklänge an Bühlers Organonmodell allzu deutlich- - als Einheit eines dreistelligen Selektionsprozesses aufgefasst. Bei diesen Selektionen handelt es sich um Information, Mitteilung und Verstehen. Sie alle müssen in einem Akt zu einer Synthese gebracht werden, und zwar in der Weise, dass Information Verstehen Mitteilung Information Verstehen Mitteilung 1. Akt 2. Akt Abb. 9.2: Komponenten der Kommunikation <?page no="172"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Schuetzeichel__Soziologische_Kommunikationstheorien(2)____[Druck-PDF]/ 13.08.2015/ Seite 172 www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Schuetzeichel__Soziologische_Kommunikationstheorien(2)____[Druck-PDF]/ 13.08.2015/ Seite 173 9.3 Komponenten der Kommunikation 173 eine Information mitgeteilt und die Differenz von Mitteilung und Information verstanden wird. Machen wir uns dies an unserem Beispiel klar: Das Ehepaar Schmidt sitzt in einem Restaurant und betrachtet die Speisekarte. Frau Schmidt sagt zu ihrem Mann: »Schau’ dir mal den Sauerbraten an. Der sieht verlockend aus.« Herr Schmidt entgegnet ihr »Nein, du weißt doch, ich mag das nicht. Ich bleibe lieber bei der Entenbrust.« Wir haben es mit einer Gesprächssequenz zu tun, wie sie so oder ähnlich wohl oft stattfinden dürfte. Wenden wir die systemtheoretische Begrifflichkeit auf dieses Beispiel an: Der erste Kommunikationsakt besteht in der Präferenzbekundung von Frau Schmidt und dem Verstehen dieser Bekundung durch ihren Ehemann. Frau Schmidt macht eine Aussage, eine Mitteilung, und die Proposition oder Information dieser Aussage besteht darin, dass sie den Sauerbraten probieren und dies auch Herrn Schmidt empfehlen möchte. Dieser erste Kommunikationsakt umfasst aber nicht nur die von Frau Schmidt mitgeteilte Information, sondern es fehlt eine wesentliche Komponente, damit dieser Akt ein sozialer und damit ein kommunikativer sein kann. Herr Schmidt muss diese Aussage verstehen. Der Begriff des Verstehens ist der schwierigste in diesem Triple, weil er von der Systemtheorie in einem von der üblichen Bedeutung abweichenden Sinn gebraucht wird. Verstehen beinhaltet das Unterscheiden von Information und Mitteilung. Damit wird nicht ausgeschlossen, dass es auch um das Verstehen der Information selbst gehen kann, aber es geht in jedem Fall um die Differenz von Information und Mitteilung. Wieso das? Wenn Herr Schmidt mit seinem Verstehen nicht zwischen der Mitteilung und der Information unterscheiden würde, dann hätte er überhaupt keine kommunikative Offerte, auf die er reagieren müsste. Er würde schlichtweg nur ein Verhalten seiner Gattin beobachten, aber nicht eine an ihn adressierte Aufforderung, in welcher etwas mitgeteilt wird. Damit ein Verhalten als eine Mitteilung einer Information verstanden werden kann, muss unterstellt werden, dass es sich um eine Selektion handelt, und zwar eine Selektion, in der sich der Mitteilende selbst festlegt, die er sich selbst zuschreibt und die er im Hinblick auf andere selektiert-- ansonsten würden wir ein Verhalten kaum als eine kommunikative Offerte akzeptieren und entsprechend gar nicht reagieren. Mit der Unterscheidung von Information und Mitteilung nimmt Luhmann diejenige von konstativen und performativen Sprechakten oder, besser noch, diejenige von lokutionären und illokutionären Akten auf. Das Verstehen im systemtheoretischen Sinne als dem Unterscheiden und der Zuschreibung von Mitteilung und Information hat im Grunde genommen zwei Funktionen: Es konstituiert retrospektiv kommunikative Offerten bzw. Selektionsvorschläge, und es dient dazu, die Systemzustände des Verstehenden festzulegen. In der alltäglichen Kommunikation ist uns diese Unterscheidung so vertraut und selbstverständlich, dass wir uns ihrer nicht bewusst sind. Nur in Grenzbereichen überlegen wir, ob nun ein Verhalten oder die Mitteilung einer Information, also eine Handlung vorliegt. Beispielsweise ist nicht immer klar, ob ein Augenzwinkern als ein physiologischer Reflex zu bewerten ist oder eine Mitteilung, <?page no="173"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Schuetzeichel__Soziologische_Kommunikationstheorien(2)____[Druck-PDF]/ 13.08.2015/ Seite 174 174 9 Die Unwahrscheinlichkeit von Kommunikation die etwas zu verstehen geben will. Wenn ein Augenzwinkern als ein physiologischer Reflex wahrgenommen wird, dürften wir dies kaum zum Anlass nehmen, uns als Adressat eines Selektionsvorschlags zu sehen und deshalb unseren eigenen Systemzustand neu zu justieren. Eine Zwischenüberlegung: Die Kommunikation führt stets die Unterscheidung von Selbst- und Fremdreferenz mit. Deshalb wird in jedem Akt zwischen Mitteilung und Information unterschieden. Sie kann in einem nächsten Akt sich selbst, also die Mitteilung einer Information, sie kann auch etwas anderes, also das, worüber die Mitteilung informiert, thematisieren. Aber, und dies ist wichtig, sie kann das eine nur dann tun, wenn sie auch die Möglichkeit hat, das andere zu tun. Selbst- und Fremdreferenz bzw. Mitteilung und Information werden zwar in der Kommunikation stets unterschieden, sonst gäbe es sie nicht, aber das Unterschiedene gehört zusammen, es stellt eine Unterscheidung dar. Eine Information, die nicht mitgeteilt würde, und eine Mitteilung, die über nichts informieren würde-- sie wären unbeobachtbar und kommunikativ nicht verfügbar. Die Folgerung: Wenn die Kommunikation in all ihren Akten Selbst- und Fremdreferenzen prozessiert, dann kann sie nicht anders, als auch über etwas anderes als sich selbst zu kommunizieren, nämlich über Realität. Kommunikation stellt immer einen Realitätsbezug her, sie muss auf Realität verweisen oder, wie ein nicht weniger explikationsbedürftiger, aber prominenterer Terminus sagt, sie muss Realität und Realitäten konstruieren. Aber kommen wir zurück zu den Eheleuten Schmidt. Der erste Kommunikationsakt synthetisiert Mitteilung, Information und Verstehen. Der zweite Kommunikationsakt besteht in der Replik von Herrn Schmidt, der etwas indigniert seine Ehefrau darauf hinweist, ihre Empfehlung könne seinen Beifall nicht finden, und er würde die Entenbrust dem Sauerbraten vorziehen. Auch hier haben wir es wieder mit einer Synthesis von Information, Mitteilung und Verstehen zu tun. Herr Schmidt macht die Mitteilung, in welcher er über seine Vorliebe informiert, und diese muss ebenso wiederum verstanden werden, d. h. als eine Differenz von Information und Mitteilung aufgefasst werden. Damit haben wir auch zwei Kommunikationsakte vorliegen, die sich aufeinander beziehen- - der zweite Akt kann als Ablehnung einer im ersten Akt formulierten Aufforderung verstanden werden. Formulieren wir dies wiederum mithilfe der systemtheoretischen Begrifflichkeit: Die drei Selektionen Information, Mitteilung und Verstehen müssen zu einer Synthese gebracht werden, damit sich ein Kommunikationsakt bilden kann. Aber ein singulärer Kommunikationsakt macht in der Regel keinen Sinn. Er verlangt eine Nachfolge. Das heißt, es schließt sich ein weiterer Kommunikationsakt an, der als solcher ebenfalls als eine Selektion aufgefasst werden kann. Es handelt sich um die wichtige vierte Selektion, nämlich um die Annahme oder Ablehnung, um die Affirmation oder Negation, um Bestätigung oder Widerlegung eines vorausgegangen Kommunikationsaktes. Ein einzelner Kommunikationsakt ergibt sich in der Synthese der drei Selektionen von Information, Mitteilung und Verstehen, denn dadurch wird <?page no="174"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Schuetzeichel__Soziologische_Kommunikationstheorien(2)____[Druck-PDF]/ 13.08.2015/ Seite 174 www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Schuetzeichel__Soziologische_Kommunikationstheorien(2)____[Druck-PDF]/ 13.08.2015/ Seite 175 9.3 Komponenten der Kommunikation 175 schon eine Zustandsänderung der Kommunikatoren erreicht- - sie verändern ihre Zustände aufgrund einer mitgeteilten Information. Das Verstehen ist jene dritte Selektion, die den Kommunikationsakt abschließt. Man liest: Tabak, Alkohol, Butter, Gefrierfleisch usw. gefährde die Gesundheit, und man ist (als jemand, der das hätte wissen und beachten können) ein anderer- - ob man’s glaubt oder nicht nicht! Man kann es jetzt nicht mehr ignorieren, sondern nur noch glauben oder nicht glauben. Auf Annahme oder Ablehnung und auf weitere Reaktionen kommt es daher beim Kommunikationsbegriff nicht an (vgl. Luhmann 1984: 203 f.). Aber für die Autopoiesis von Kommunikation und damit den Zusammenhang von Kommunikation und sozialer Ordnung ist die vierte Selektion maßgeblich, denn sie entscheidet erst darüber, ob eine Kommunikationsofferte angenommen oder verworfen, akzeptiert oder negiert wird. Kommunikation baut sich der Systemtheorie zufolge aus diesen vier Selektionen auf, und nur diese werden in der Kommunikation prozessiert. Kommunikationen sind also ein rekursiver Sachverhalt. Sie wenden Kommunikationen immer wieder auf das Ergebnis von Kommunikation an. Was aber heißt eigentlich Selektion? Selektion heißt, dass eine Auswahl aus einem Horizont von Möglichkeiten vorgenommen wird. Die Mitteilung wird als eine Selektion aufgefasst, weil sie auch anders oder gar nicht hätte stattfinden können. Frau Schmidt hätte ihre Präferenz auch schriftlich niederlegen oder mit einer anderen Intonation vorbringen können- - bekanntlich macht der Ton oft die Musik. Auch die Information stellt eine Selektion dar. Frau Schmidt hätte über das Wetter sprechen können oder den schlechten Service im Restaurant. Dass sie über den Sauerbraten gesprochen hat und nicht über etwas anderes, stattet die Proposition mit Sinn und Information Verstehen Mitteilung Information Verstehen Mitteilung Annahme / Ablehnung 1. Akt 2. Akt Abb. 9.3: Kommunikationssequenzen <?page no="175"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Schuetzeichel__Soziologische_Kommunikationstheorien(2)____[Druck-PDF]/ 13.08.2015/ Seite 176 176 9 Die Unwahrscheinlichkeit von Kommunikation Bedeutung aus. Und schließlich hätte Herr Schmidt die Empfehlung seiner Ehefrau gar nicht oder auch ganz anders verstehen können. Wie er sie verstanden hat, zeigt sich in dem anschließenden Kommunikationsakt. Auch dieser nimmt eine sinnhafte Selektion vor, denn er kann als Ablehnung und eben nicht als Annahme einer Offerte von Frau Schmidt verstanden werden. Damit zeigt sich ein weiterer wichtiger Sachverhalt: Woraus ergibt sich eigentlich die Bedeutung der ersten oder der zweiten Aussage? Wird die kommunikative Bedeutung des ersten Aktes durch die Intention von Frau Schmidt konstituiert, also dadurch, was sie ihrem Mann sagen will? Nein. Die kommunikative Bedeutung des ersten Aktes ergibt sich durch die Replik ihres Mannes, also durch den zweiten Akt. Und für diesen zweiten Akt gilt ebenso: Auch seine kommunikative Bedeutung wird nicht durch die kommunikativen Absichten von Herrn Schmidt konstituiert, sondern durch den ersten und die weiteren Akte, die sich möglicherweise anschließen. Nachdem Frau Schmidt feststellt, dass ihr Mann leicht indigniert reagiert, kann sie dies bedauern und bekunden, dass sie dies nicht beabsichtigt habe, oder sie kann wütend darüber sein, dass ihr Mann so vorwurfsvoll reagiert. Sie habe ihre Empfehlung doch anders gemeint. Doch ihre kommunikative Intention deckt sich nicht mit der kommunikativen Bedeutung. Wenn sie diese korrigieren möchte, dann kann sie nur eines machen, nämlich sich wieder dem Schicksal der Kommunikation anvertrauen. Die Bedeutung von Kommunikationen ergibt sich nur in und durch die Kommunikation. Wieso unterscheidet die Systemtheorie gerade diese drei Selektionen? Wieso geht sie nicht, wie so viele andere, auch soziologische Kommunikationstheorien davon aus, dass sich die Einheit von Kommunikationen in der Einheit von Mitteilungen erschöpft? Wieso reicht es nicht aus, Kommunikationen nur als kommunikative Handlungen, insbesondere als Mitteilungen zu betrachten? Das hat einen einfachen Grund: Die Systemtheorie beansprucht, die selbstreferenziellen Unterscheidungen zu erfassen, die in jeder Kommunikation selbst getroffen werden. Und um dies nochmals zu betonen, da es eine häufige Quelle von Missverständnissen ist: Natürlich ist es nicht so, dass derjenige, der versteht, zunächst eine Mitteilung von ihrer Information unterscheidet und dann anfängt, einer Rede zuzuhören oder einen Text zu lesen. Hier überschneiden sich die Operationen der Kommunikation und der beteiligten psychischen Systeme. Diese lesen einen Text, weil sie unterscheiden-- und sie unterscheiden, indem sie lesen. An dieser Stelle finden, wie die Systemtheorie sagt, operative Kopplungen statt. Das sind ereignishafte, nur momenthaft existierende Kopplungen zwischen Operationen von Systemen. Ein Text wird gelesen, eine Aussage wird gehört-- dies hat für die Kommunikation einerseits, für das psychische System des Lesers andererseits ganz unterschiedliche Konsequenzen, weil die getroffenen Unterscheidungen ganz unterschiedliche sind und in den Systemen mit verschiedenen Operationen ganz unterschiedlich prozessiert werden. Etwas deutlicher kann man diesen Sachverhalt dadurch fassen, dass man mit Luhmann von Multisystemereignissen ausgeht. Das sind Ereignisse, die von unterschiedlichen Systemen als ein- und dasselbe <?page no="176"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Schuetzeichel__Soziologische_Kommunikationstheorien(2)____[Druck-PDF]/ 13.08.2015/ Seite 176 www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Schuetzeichel__Soziologische_Kommunikationstheorien(2)____[Druck-PDF]/ 13.08.2015/ Seite 177 9.3 Komponenten der Kommunikation 177 Ereignis aufgefasst werden, obwohl man sie ganz unterschiedlich beobachtet. Herr Schmidt hört den Vorschlag seiner Ehefrau, rechnet diesen Vorschlag gedanklich nicht sich selbst oder seinen Gedanken zu, sondern als Mitteilung seiner Ehefrau, und überlegt, wie er darauf antworten möchte. Das Kommunikationssystem macht den Vorschlag zu einem kommunikativen Ereignis, indem es zwischen der Mitteilung und der Information trennt und unterstellt, dass das, was gesagt wurde, eine gewisse psychische Entsprechung aufseiten von Frau Schmidt vermuten lässt. Halten wir die essentiellen Annahmen der Systemtheorie zunächst einmal fest: • Die Systemtheorie fasst Kommunikation als eine Synthesis von Selektionen auf. Diese Selektionen sind Information, Mitteilung und Verstehen bzw. als vierte diejenige von Annahme oder Ablehnung von Kommunikationsofferten. • Diese Selektionen werden in der Kommunikation selbst produziert. Das Verstehen differenziert zwischen Mitteilung und Information, und die Mitteilung von Informationen orientiert sich daran, verstanden werden zu können. • Die Systemtheorie begreift Kommunikation nicht von der Position der Mitteilung, der ›kommunikativen Handlung‹ aus, sondern von der Position des Verstehens. • Diese Selektionen sind sinnhafte Selektionen, die eine Auswahl aus anderen Möglichkeiten darstellen. • Die einzelnen kommunikativen Akte referieren aufeinander; ihre Bedeutung ergibt sich im Netzwerk der anderen Kommunikationsakte. Kommen wir zu anderen wesentlichen Eigenschaften von Kommunikation: Sie dauert nicht an. Sie ist ein Ereignis oder, wie die Systemtheorie auch sagt, eine zeitpunktgebundene Operation, die mit ihrem Erscheinen schon wieder vergeht. Welche Komponente ist aber verantwortlich für die Realisierung dieses Ereignisses? Man könnte sagen: die Mitteilung. Durch Mitteilungen werden Kommunikationen zeitlich fixiert. Luhmann, der Kommunikation vom Ende her denkt, legt sich hingegen auf das Verstehen fest und nicht auf den Zeitpunkt der Mitteilung, was in seiner Sicht nur konsequent ist, denn erst durch das Verstehen findet ein kommunikativer Akt zu seiner Einheit. »Die Zeitpunktgebundenheit der Operation Kommunikation bezieht sich auf den Zeitpunkt des Verstehens auf Grund der Beobachtung einer Differenz von Information und Mitteilung. Erst das Verstehen generiert nachträglich Kommunikation.« (Luhmann 1997, Bd. 1: 72) Woran orientiert man sich eigentlich, wenn man über etwas spricht oder schreibt? So, wie der Verfasser hofft, dass sich die einzelnen Sätze und Absätze dieser Kapitel an einer übergreifenden Fragestellung orientieren, so orientiert sich Kommunikation in ihren einzelnen Kommunikationsofferten in der Regel an Themen. Themen bündeln einzelne Beiträge, also einzelne mitgeteilte Informationen. Sie präsentieren die Fremdreferenzen der Kommunikation. Darüber haben sie auch wieder die Funktion, die <?page no="177"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Schuetzeichel__Soziologische_Kommunikationstheorien(2)____[Druck-PDF]/ 13.08.2015/ Seite 178 178 9 Die Unwahrscheinlichkeit von Kommunikation Kommunikation an ihre Umwelt anzukoppeln. Psychische Systeme würden schnell die Fähigkeit, aber auch das Interesse verlieren, an Kommunikationssystemen zu partizipieren, wenn sie mit jeder neuen Sequenz eine neue Thematik präsentiert bekommen würden. Und schließlich eine schon angedeutete These: Kommunikation kann nicht als eine Übertragung von Sinn, von Information oder von Botschaften von einem Sender auf einen Empfänger verstanden werden, da die beteiligten Systeme selbstreferenziellgeschlossen operieren. Sie arbeiten mit keinen anderen Informationen als denjenigen, die sie selbst in ihrem Operieren erzeugen. Wenn Kommunikation als eine Übertragung von Sinn aufgefasst werden könnte, dann hätte es Frau Schmidt in unserem Beispiel sehr einfach-- sie könnte dirigieren, wie ihr Mann ihre Mitteilung aufzufassen habe. Sie mag zwar manchmal den Glauben gewonnen haben, ihren Mann diesbezüglich dirigieren zu können, aber dann liegt das nicht daran, dass sie Sinn überträgt, sondern dass sie nach vielen Ehejahren ihren Mann so gut kennt, dass sie bestimmte Reaktionen mit einer hohen Treffsicherheit einzuschätzen in der Lage ist. Die Systemtheorie bezeichnet einen solchen Umstand mit dem Terminus der ›strukturellen Kopplung‹-- Herr und Frau Schmidt können ungefähr einschätzen, welche Erwartungserwartungen sie hegen, also welche Erwartungen sie voneinander erwarten und dementsprechend ihr Handeln einpendeln können. Oder um es technischer auszudrücken: Zwischen dem familiären sozialen System der Eheleute Schmidt und den Beteiligten, also dem psychischen System Frau Schmidt und dem psychischen System Herr Schmidt, sind durch die Kommunikation miteinander Kopplungen in der Gestalt von wechselseitigen Erwartungen über das jeweilige Handeln und Verhalten eingerichtet-- mit dem paradoxen Effekt, dass aufgrund der festen Erwartungen das wechselseitige Irritationspotenzial spürbar zugenommen hat. Während operative Kopplungen die momenthafte Kopplung von Operationen darstellen, verweisen strukturelle Kopplungen auf dauerhafte Kopplungen zwischen Erwartungs- und Sinnstrukturen unterschiedlicher Systeme. Kommunikationssysteme müssen bestimmte Haltungen und Eigenschaften aufseiten der psychischen Systeme dauerhaft voraussetzen und unterstellen, dies gilt umgekehrt auch für die psychischen Systeme. Zentrales Medium für die Kopplungen von Erwartungsstrukturen stellen ›Personen‹ dar, zentrales Medium für die Kopplung von Sinnstrukturen ist die Sprache. Der Begriff der Erwartung bzw. der Erwartungsstruktur ist in der Systemtheorie eng mit dem Begriff des Codes verknüpft, denn der Code eines sozialen Systems gibt an, was erwartbar ist und was nicht. Codes stecken Relevanzrahmen ab, sie definieren die Situation, und sie geben innerhalb einer so definierten Situation Werte vor, wie etwas beobachtet werden kann. Codes sind zweiwertige Schemata, die einen Innen- und einen Außenhorizont bestimmen. Sie stellen eine doppelte Selektivität her. Wenn sich Herr und Frau Schmidt im Restaurant befinden, so gibt das Schema oder der Code ›Restaurant‹ vor, dass für sie nur diejenigen Sinneinheiten relevant sind, die eben die Situation ›Restaurant‹ ausmachen- - eine Lokalität, in der man Speisen zu sich <?page no="178"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Schuetzeichel__Soziologische_Kommunikationstheorien(2)____[Druck-PDF]/ 13.08.2015/ Seite 178 www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Schuetzeichel__Soziologische_Kommunikationstheorien(2)____[Druck-PDF]/ 13.08.2015/ Seite 179 9.4 Kommunikation und Handlung 179 nehmen kann, in der man bedient wird, in der man ein nettes Ambiente vorfindet, eine gepflegte Atmosphäre, die zu einem Gespräch einlädt. Alles andere, was auch in dieser Situation beobachtet werden könnte, wird ausgeblendet. Sie definieren ihre Situation als Restaurantbesuch und nicht als ein kunsthistorisches Ereignis, als Aufsuchen eines Etablissements oder als eine Hygienekontrolle. Und in dieser so selektierten Situation gibt es nochmals zweiwertig codierte Leitdifferenzen, die z. B. die Wahl von Speisen (schmeckt / schmeckt nicht oder angesagt / nicht angesagt), die Wahl des Verhaltens, die Wahl des Erscheinungsbildes oder die Dramaturgie des Auftretens bestimmen. Im Alltag werden wir von einer Vielzahl solcher Codes beeinflusst. Besonders wichtig sind Codes der Moral oder der Mode. Codes können aber auch sehr spezialisiert sein und für besondere Zwecke eingerichtet werden. In dem Fall sorgen sie für die Einrichtung und Perpetuierung spezifischer sozialer Situationen bzw. Kommunikation. Gemeint sind etwa Codes der Ökonomie, Politik, Religion oder Medizin. Es ist eine der Voraussetzungen von und für Kommunikation, dass diese Codes von den Kommunikatoren in einer annähernd standardisierten Form wechselseitig vorausgesetzt werden können (vgl. Luhmann 1984: 197). Kommen wir nun zu den beiden Thesen der Kommunikationstheorie, die sicherlich den meisten Diskussionsbedarf ausgelöst haben. Die erste These betrifft das Verhältnis von Kommunikation und Handlung und behandelt vornehmlich die innersoziologische Diskussion. Die zweite These behauptet, dass nur Kommunikation kommunizieren kann. Sie betrifft über die Soziologie hinaus unser grundlegendes Alltagsverständnis von Kommunikation. 9.4 Kommunikation und Handlung Die Systemtheorie unterläuft das Selbstverständnis der Soziologie als einer Handlungswissenschaft. Damit aber steht sie nicht alleine: Dass Einzelhandlungen eine abstrakte Einheit darstellen, wird auch von anderen soziologischen Theorien behauptet, beispielsweise von der pragmatistischen Soziologie von Mead oder dem genetischen Strukturalismus von Ulrich Oevermann (vgl. Oevermann 1991). Theorien, die von Einzelhandlungen ausgehen, unterstellen, dass sich konstitutionslogisch Kommunikation oder Interaktion aus einer Aggregation von Einzelhandlungen ergeben. Demgegenüber behaupten die genannten Theorien wie auch die Systemtheorie, dass es sich umgekehrt verhält: Interaktionen oder Kommunikationen sind die kleinste analytische Einheit. Diese setzen sich nicht aus Einzelhandlungen zusammen, sondern Einzelhandlungen stellen Abstraktionen von Interaktionen oder Kommunikationen dar. Die Systemtheorie unterscheidet sich jedoch von den anderen genannten Ansätzen darin, wie sie Kommunikation bzw. Interaktion konzipiert. Der Systemtheorie zufolge ist die Soziologie eine Kommunikationswissenschaft oder, vielleicht besser noch, eine Handlungswissenschaft auf kommunikationstheorewww.claudia-wild.de: <?page no="179"?> [UTB-M]__Schuetzeichel__Soziologische_Kommunikationstheorien(2)____[Druck-PDF]/ 13.08.2015/ Seite 180 180 9 Die Unwahrscheinlichkeit von Kommunikation tischer Grundlage. Nicht Handlung, sondern Kommunikation gilt als Zentralbegriff und als ›unit act‹ der Soziologie. Handlungen sind Produkte von Zurechnungsprozessen, die in Kommunikationen statthaben. Klären wir zunächst den Begriff der Zurechnung. Ein bestimmtes Verhalten, eine bestimmte Selektion kann auf zweierlei Art und Weise zugerechnet werden: als Handeln und als Erleben. Eine Selektion wird als Handeln bestimmt, wenn sie einem System zugerechnet wird. Sie wird als Erleben bestimmt, wenn sie der Umwelt des Systems zugerechnet wird (vgl. Luhmann 1981). Handlungen liegen also nicht als naturale Gegebenheiten vor, sie konstituieren sich auch nicht einfach durch den subjektiven Sinn der Handelnden, denn dieser, so argumentiert Luhmann mit Schütz, muss konstituiert ebenfalls werden, sondern sie verdanken sich in der sozialen Dimension Zuschreibungsprozessen, die sich bestimmter Beschreibungsformen bedienen, etwa ›Verantwortung‹, ›Motiv‹ oder ›Absicht‹. In sozialen Systemen- - und hier konvergiert die Systemtheorie etwa mit der Ethnomethodologie oder der phänomenologischen Soziologie- - erscheinen Individuen immer nur als Personen, als Rollenträger, als typisierte Handlungsträger, deren Bewusstsein(e) füreinander nicht transparent ist. Von daher können Handlungen nur zugeschrieben und beobachtet werden. Handlungen werden sinnhaft konstituiert durch soziale Zuschreibungsregeln bzw. durch Skripte. In der Regel werden sie Personen zugeschrieben. Wird hingegen die Umwelt für die Selektionen eines Systems verantwortlich gemacht, so bezeichnet die Systemtheorie dies als Erleben. Machen wir uns diese Unterscheidung von Handeln und Erleben an einem Beispiel mit den Eheleuten Schmidt klar. Im Laufe des Restaurantbesuches verhält sich Herr Schmidt ziemlich schroff gegenüber seiner Frau. Frau Schmidt hat zwei Möglichkeiten, dieses Verhalten zuzurechnen. Sie kann sich sagen, dass ihr Ehemann einen sehr strapaziösen Arbeitstag hinter sich hat und sein Chef ihm wohl mächtig zugesetzt haben muss, aber sie kann auch ihn selbst für sein ruppiges Verhalten verantwortlich machen und ihm vorwerfen, dass er den Ärger mit seinem Chef immer an ihr auslasse. Unabhängig davon, ob und weshalb sich Herr Schmidt überhaupt ärgert, dürften beide Zurechnungsmöglichkeiten zu einem sehr unterschiedlichen Verlauf der weiteren Abendgestaltung beitragen. Handlungen werden also sozial konstituiert, also in Kommunikationen zugeschrieben (vgl. Schneider 1994). Ein Verhalten muss beobachtet und entsprechend zugeschrieben werden, und dies findet nicht immer, aber in der Regel in kommunikativen Verhältnissen statt. Es gibt einen weiteren Grund für die Vorordnung des Kommunikationsbegriffs. Die Soziologie befasst sich mit dem Sozialen. Man mag zwar sehr unterschiedlicher Auffassung sein, worin genau das Soziale besteht, aber einen gewissen Grundkonsens dürfte man darüber erzielen, dass das Soziale etwas mit der Relation zwischen Ich und Du, Er und Sie, Individuum und Individuum zu tun hat. Kann dieses relationale Moment durch den Handlungsbegriff eingefangen werden? Luhmann bestreitet das. Soziale Handlungen haben ein Sozialitätsdefizit dann, wenn sie nur aus der Sicht eines Handelnden beschrieben werden. <?page no="180"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Schuetzeichel__Soziologische_Kommunikationstheorien(2)____[Druck-PDF]/ 13.08.2015/ Seite 180 www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Schuetzeichel__Soziologische_Kommunikationstheorien(2)____[Druck-PDF]/ 13.08.2015/ Seite 181 9.4 Kommunikation und Handlung 181 »[Kommunikation, R. S.] ist eine genuin soziale (und die einzige genuin soziale) Operation. Sie ist genuin sozial insofern, als sie zwar eine Mehrheit von mitwirkenden Bewußtseinssystemen voraussetzt, aber (eben deshalb) als Einheit keinem Einzelbewußtsein zugerechnet werden kann.« (Luhmann 1997, Bd. 1: 81) Das Verhältnis von Kommunikation und Handlung hat aber noch einen zweiten Aspekt. Es ist nicht so, dass die Zuschreibung von Handlungen in Kommunikationen lässlich ist. Nein, sie ist ein notwendiges Moment des Prozessierens von Kommunikation. Wie das? Kommunikation kommt zustande, wenn drei Selektionen zu einer Synthesis finden. Aber als solche ist sie viel zu komplex, als dass sie sich selbst beobachten oder kontrollieren könnte. Eine solche Selbstbeobachtung erreicht sie dadurch, dass sie Mitteilungen als Handlungen auffasst und Personen zurechnet. Sie abstrahiert also gleichsam von sich selbst und konstitutiert Mitteilungen als Handlungen mithilfe der Unterscheidung von Handeln und Erleben. (Man kann dies auch formenanalytisch formulieren: Das Verstehen differenziert zwischen Mitteilung und Information, indem es entweder die Mitteilung oder die Information markiert, aber in diesem Verstehensakt kann das Verstehen sich selbst nicht beobachten-- dafür benötigt die Kommunikation eine weitere Operation.) In unserem Beispiel sind wir schon immer von dieser Selbstreduktion ausgegangen. Wir haben unser Beispiel sehr alltagspragmatisch eingeführt. Wenn Sie aufmerksam gelesen haben, so hätten Sie einen Widerspruch zwischen Beispiel und Erläuterung entdecken können. Wir haben gesagt, dass die erste Aussage diejenige von Frau Schmidt ist: »Schau dir mal den Sauerbraten an. Der sieht verlockend aus.« Und wir haben die systemtheoretische Erläuterung nachgeschoben, dass diese Aussage ein kommunikatives Ereignis nur durch die Synthese der drei Selektionen von Information, Mitteilung und Verstehen wird. Aber erst im Verstehen von Herrn Schmidt wird diese Aussage als eine Mitteilung konstituiert und Frau Schmidt unterstellt bzw. zugerechnet. Herr Schmidt wird die seiner Frau zugerechnete Aussage als Kommunikation auffassen und gerade dabei davon absehen, dass diese Aussage als Kommunikation erst durch den Verstehensakt möglich geworden ist. Und auch diese Interpretation ist noch viel zu alltagsnah, denn dass Herr Schmidt derjenige ist, der versteht, ist eine Zuschreibung, die wiederum nur in der Kommunikation, und zwar in einem nächsten Akt unterstellt werden könnte. In unserem Beispiel haben wir also schon das Kommunikationssystem als ein Handlungssystem aufgefasst, was zwar eine für die Kommunikation selbst und für unsere Erläuterung notwendige Reduktion ist, aber eben eine Reduktion, die davon absieht, dass Kommunikation nur aus diesen drei Komponenten besteht, die sich selbst differenzieren und produzieren und dabei Zurechnungen auf Personen benutzen. Eine Kommunikation verknüpft also diese drei Komponenten, aber sie muss sich selbst auf Handlungen in der Gestalt von Mitteilungen reduzieren. Ein Kommunikationsakt, so haben wir gesagt, kommt erst durch das Verstehen zustande, welches <?page no="181"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Schuetzeichel__Soziologische_Kommunikationstheorien(2)____[Druck-PDF]/ 13.08.2015/ Seite 182 182 9 Die Unwahrscheinlichkeit von Kommunikation zwischen Mitteilung und Information unterscheidet. Aber das Verstehen kann sich nicht gleichzeitig auch als Verstehen verstehen, sondern es bleibt gleichsam bei den Mitteilungen hängen. Erst in einem nächsten Akt kann dann das Verstehen der Mitteilung oder der Information kommunikativ behandelt werden, aber auch dabei muss es zu einer Reduktion auf Handlung durch das Verstehen kommen, welches sich dabei nicht beobachten kann. Wenn man diesen aktförmigen, ereignishaften oder, wie Luhmann sagt, operativen Charakter der Kommunikation, die Akt an Akt, Operation an Operation anschließt, nicht berücksichtigt, dann kann man die Notwendigkeit der Selbstreduktion von Kommunikation auf Handlung nicht nachvollziehen. Deshalb kann Luhmann schreiben: »Ein soziales System konstituiert sich mithin als Handlungssystem, aber es muß dabei den kommunikativen Kontext des Handelns voraussetzen; beides also, Handlung und Kommunikation, ist notwendig und beides muß laufend zusammenwirken, um die Reproduktion aus den Elementen der Reproduktion zu ermöglichen.« (Luhmann 1984: 233) Halten wir diesen wichtigen Punkt nochmals explizit fest. Nach Luhmann kommt Kommunikation nicht durch eine Aggregation von Handlungen, auch nicht durch kommunikative Handlungen zustande. Zunächst sagt Frau Schmidt etwas, dann sagt Herr Schmidt etwas, dann wieder Frau Schmidt und so weiter und so fort den ganzen Abend und das ganze Leben lang. Nein, dass Frau und Herr Schmidt etwas sagen können, liegt nicht an ihnen, sondern es ist der Kommunikation zu verdanken. Luhmann enttäuscht also unser Alltags- und auch manches soziologische Verständnis massiv: Nur die Kommunikation kann kommunizieren, nicht die Menschen, die Individuen, nicht der Soziologe XY oder Herr und Frau Schmidt. Aber er beruhigt uns auch wieder, indem er unsere Alltagsauffassung rehabilitiert und als eine für das Prozessieren von Kommunikation notwendige Selbstabstraktion und Reduktion betrachtet. Herr Schmidt kann ganz beruhigt sein, es ist seine Frau, die zu ihm spricht, aber er weiß nicht, dass dies keine Leistung seiner Frau ist, sondern eine der Kommunikation, ihrer Differenzen und Unterscheidungen. Ein Punkt ist wesentlich: Kommunikation determiniert nicht die Selektionen, auch nicht die Selektion der Handlungszuschreibungen. Die Systemtheorie macht-- obwohl ihr dies fälschlicherweise oft unterstellt wird-- überhaupt keine Aussagen darüber, welche Selektionen selektiert werden. Ihr Ziel ist es nicht, die Selektionen zu erklären, weder kausal noch funktional. Ihr Ziel ist, die kommunikative Konstruktion von Sinn und, umgekehrt, die sinnhaften Voraussetzungen der Autopoiesis von Kommunikation zu klären. Eine solche Handlungskonzeption, wie sie Luhmann vorlegt, steht in einem beträchtlichen Spannungsverhältnis zu handlungstheoretischen Kommunikationstheorien, insbesondere der Sprechakttheorie von Searle bis Habermas. Eine ausführliche Stellungnahme von Luhmann findet man in der zwölften Vorlesung seiner »Einführung in die Systemtheorie« (Luhmann 2002: 267 ff.). Obwohl dort Luhmann <?page no="182"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Schuetzeichel__Soziologische_Kommunikationstheorien(2)____[Druck-PDF]/ 13.08.2015/ Seite 182 www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Schuetzeichel__Soziologische_Kommunikationstheorien(2)____[Druck-PDF]/ 13.08.2015/ Seite 183 9.4 Kommunikation und Handlung 183 manchmal ›Sprache‹ und ›Sprechen‹ zu verwechseln scheint, werden die unterschiedlichen Theoriestrategien deutlich: Nach Luhmann besteht eine wesentliche Differenz in der Konzeption des basalen Aktes von Kommunikation: Die Einheit der drei Selektionen in der Systemtheorie, die Reduktion auf Mitteilung in der Sprechakttheorie. Diese, so Luhmann, lasse das Verstehen und den Verstehenden draußen und müsse es dann gleichsam in der Gestalt von Kontrolleffekten aufseiten des Mitteilenden wieder einführen. Dadurch aber würde die Kommunikation normativ aufgeladen. »Wenn ich mir überlege, was dieses Kommunikationskonzept [der Systemtheorie, R. S.] von der Theorie des kommunikativen Handelns unterscheidet, dann glaube ich, dass man die Wahl hat, entweder Sprache als Handlung zu begreifen, den Verstehenden nicht in die Handlungseinheit aufzunehmen und entsprechende Disziplinierungs- oder Rationalelemente oder Kalküle oder-- bei Habermas: normative-- Anforderungen in die Handlung einzubauen. Die Handlung gerät unter Überlegungsdruck, unter Rationalitätsbedingungen oder unter normative Vorstellungen, weil der Verstehende ein Gegenüber ist und irgendwie berücksichtigt werden muss. Oder aber man baut die Theorie so, dass das Verstehen in der Kommunikation immer schon Teil des unit act, der elementaren Einheit des Systems ist. Man kommt dann zu einer anderen, zu einer normativ und von Rationalität entlasteten Theorie. Wie mir scheint, steht man dann auch nicht vor der Notwendigkeit, verschiedene Typen von speech acts oder von kommunikativem Handeln zu unterscheiden, zum Beispiel zwischen strategischem Handeln und im eigentlichen Sinne kommunikativem, konsensorientierten, verständnisorientiertem Handeln, wie Habermas das tut, sondern hat einen umfassenderen Kommunikationsbegriff.« (Luhmann 2002: 280 f.) Und Luhmann zieht dann folgende Konsequenz: »Wenn man Sprache als Mechanismus struktureller Kopplung heterogener, komplett verschiedener Systeme begreift, ist Sprache kein System, hat keine eigene Operationsweise, die Operationsweisen sind entweder Kommunikation oder bewusstes Nachvollziehen des Sprachsinns, und Sprache ist keine Handlung-- obwohl Attribution hinsichtlich der Handlung vorgenommen werden: Man rechnet eine Mitteilung zu und weiß, wen man fragen muss, wenn man es nicht verstanden hat, wen man verantwortlich machen muss oder auch, wem man widersprechen möchte, das heißt, man weiß, an welche Adressen man sich halten kann. Das ist klar, nur handelt es sich dabei um ein Sekundärphänomen in der Autopoiesis der Kommunikation und nicht um die primäre, basale, elementare Einheit der Kommunikation. Von drei üblichen Aspekten der Sprachtheorie müssen wir uns also trennen: System, Operation, Handlung.« (Luhmann 2002: 281 f.) Damit wird nochmals deutlich, worum es in diesem für viele Nichtsoziologen und Soziologen vielleicht müßigen Streit über die Vorordnung von Kommunikation oder Handlung eigentlich geht. Luhmann betont die operative Kopplung der drei Selektionen und damit die Einheit von kommunikativen Akten, weil nur so in funktionaler <?page no="183"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Schuetzeichel__Soziologische_Kommunikationstheorien(2)____[Druck-PDF]/ 13.08.2015/ Seite 184 184 9 Die Unwahrscheinlichkeit von Kommunikation Hinsicht die Autopoiesis von Kommunikation und damit die Prozessualität von Kommunikation sichergestellt werden könne. Die Sprechakttheoretiker bzw. Handlungstheoretiker befassen sich damit in Luhmanns Augen mit einem Sekundärphänomen, nämlich der Frage der Selektion und der Konstituion von kommunikativen Handlungen in Kommunikationen. Aber stellen beide Fraktionen damit nicht unterschiedliche Fragen, die eventuell auch durchaus komplementäre Züge aufweisen? Wir haben gesagt, dass Kommunikationen sich zu Handlungen selbstsimplifizieren, indem sie Mitteilungen auf Personen zurechnen. Was aber heißt ›Person‹? Und sind Personen Menschen? 9.5 Soziale Systeme, psychische Systeme und Personen Kommunikationen stellen in der Sichtweise der Systemtheorie das basale Element sozialer Systeme dar. Systeme bestehen aus Kommunikationen bzw. Operationen und ihren Medien einerseits, und den Strukturen, die für die Anschlussfähigkeit von Kommunikationen sorgen, andererseits. Kommunikationen und Strukturen- - dies reicht aus, um soziale Systeme zu beschreiben. Soziale Systeme wie Familien oder Freundschaften, Politik oder Religion, Krankenhäuser oder Universitäten bestehen also nicht aus Menschen oder dem, was sie tun. Diese Festsetzung ergibt sich aus der Konstruktion des Kommunikationsbegriffs. Kommunikation ist gleichzusetzen mit einer differenzengeleiteten Synthesis der Selektionen von Information, Mitteilung und Verstehen. Die Folgerung lautet: Nur Kommunikation kann kommunizieren. Sie kann nicht auf das, was gedacht oder gefühlt oder wahrgenommen wird, zurückgreifen, sondern nur auf das, was entsprechend kommuniziert wird. Das Bewusstsein der Menschen bleibt dabei außen vor. Es gehört zur Umwelt sozialer Systeme. Luhmann führt für diese Behauptung vornehmlich das Argument der Intransparenz des Bewusstseins an. Kommunikation kann nur an Kommunikation anschließen, nicht an Bewusstsein. Wenn Herr Schmidt wissen möchte, welchen Sinn seine Ehefrau mit ihren Sprechakten verbindet, dann kann er dies nicht dadurch ermitteln, dass er in ihren Kopf oder in ihr Bewusstsein, wo immer es sich aufhält, hineinschaut-- es ist für ihn nicht verfügbar, nicht einsehbar, nicht transparent. Er muss sich auf seine Personenkenntnis verlassen und das, was sie ihm mitteilt. Es gibt noch einen weiteren Grund, den die Systemtheorie für die These der Emergenz der sozialen Systeme gegenüber den psychischen Systemen anführt. Das Bewusstsein der beteiligten Individuen ist nicht nur füreinander intransparent, und sie müssen nicht nur, wenn sie etwas voneinander erfahren wollen, kommunizieren, sondern der soziale Sinn, der in Kommunikation generiert, ist zu unterscheiden von dem psychischen Sinn der Individuen. Dieses Argument betrifft also den sozialen Sinn, der in und durch Kommunikation generiert wird. Dieser ist nicht auf den ›subjektiven Sinn‹ <?page no="184"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Schuetzeichel__Soziologische_Kommunikationstheorien(2)____[Druck-PDF]/ 13.08.2015/ Seite 184 www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Schuetzeichel__Soziologische_Kommunikationstheorien(2)____[Druck-PDF]/ 13.08.2015/ Seite 185 9.5 Soziale Systeme, psychische Systeme und Personen 185 der beteiligten Individuen zurückführbar, sondern bildet sich eigenlogisch im Prozess des Kommunizierens und hat von daher emergente Qualitäten. Das, was gesagt wird, ist nicht unbedingt das, was gemeint ist. Die Systemtheorie unterscheidet zwischen sozialen Systemen, die auf der Basis von Kommunikation operieren, und Bewusstseins- oder psychischen Systemen, die auf der Basis von Gedanken, Vorstellungen oder Wahrnehmungen operieren. Beide Systeme operieren überschneidungsfrei, Gedanken dringen nicht in die Kommunikation ein, und Kommunikation nicht in die Gedanken, selbst wenn zwischen der Psyche und der Kommunikation mehrere Kopplungsformen diese Differenz bearbeitbar machen und dabei erhalten. Auch psychische Systeme sind im systemtheoretischen Sinne keine Menschen; Menschen im landläufigen Sinn dieses Wortes bestehen ja auch aus mehr als ihrem Bewusstsein. Psychische Systeme sind Systeme, die Gedanken mit Gedanken oder Vorstellungen mit Vorstellungen und Wahrnehmungen mit Wahrnehmungen verknüpfen und sich in diesen Verknüpfungen fortspinnen. Ich sitze am Schreibtisch und überlege, wie ich mein Wissen aufs Papier bringen und mein Nichtwissen verbergen kann, benutze dabei Sprache als das Medium, welches mir die sozialen Systeme zur Verfügung stellen, und versuche, meinen Gedanken einen Sinn abzugewinnen und dabei die Informationen zu verarbeiten, die ich durch die Teilnahme an der soziologischen Diskussion über Kommunikation gewonnen zu haben glaube. Ich benutze, wenn man überhaupt von benutzen sprechen kann, dabei neben dem Medium der Sprache dasjenige der Schrift, aber ich kommuniziere nicht. Meine Gedanken sind nicht kommunikationsfähig und kommunikationsförmig, und das nicht, weil es meine sind, sondern weil dies prinzipiell so ist. Meine Gedanken können nur an meine Gedanken anschließen, sie können nicht an die Gedanken von anderen psychischen Systemen anschließen, und sie können nicht an Kommunikation anschließen. Ich kann zwar in meinen Gedanken über die Gedanken anderer und über die Kommunikation mit anderen nachdenken, aber dann sind es immer noch meine Gedanken, die ich nur mit meinen Gedanken bearbeiten kann. Die Systemtheorie formuliert dies in der Aussage, dass psychische Systeme autopoietische, selbstreferenziell-geschlossene Systeme sind. Und zweitens: Psychische Systeme sind füreinander intransparent. Man kann sich nicht trotz aller Personenkenntnis in das Bewusstsein anderer hineinschmuggeln. Und man kann wohl hinzufügen: Die psychischen Systeme sind auch für sich selbst in einem großen Maße intransparent-- sie wissen nicht, was sie tun. Psychische und soziale Systeme sind selbstreferenziell-geschlossene Systeme-- die einen auf der Basis von Gedanken, die anderen auf der Basis von Kommunikation (vgl. Luhmann 1995c u. 1995d). Die Unterschiedlichkeit beider Systeme gründet also in der Differenz der Operationen, die selbstreferenziell-geschlossen (re-)produziert werden. Selbstreferenziell-geschlossen heißt, dass Kommunikation nur an Kommunikation anschließen kann, und Gedanken nur an Gedanken anschließen könwww.claudia-wild.de: <?page no="185"?> [UTB-M]__Schuetzeichel__Soziologische_Kommunikationstheorien(2)____[Druck-PDF]/ 13.08.2015/ Seite 186 186 9 Die Unwahrscheinlichkeit von Kommunikation nen. Und es handelt sich in der Sprache der Systemtheorie um autopoietische Systeme. Solche Systeme produzieren die Einheiten, aus denen sie bestehen, durch die Einheiten, aus denen sie bestehen. Soziale und psychische Systeme bestehen aus Operationen und Strukturen. Soziale Systeme produzieren also ihre Kommunikationen bzw. Handlungen (Operationen) und Strukturen (Normen, Regeln, Codes, Personen etc.) durch ihre Kommunikationen bzw. Handlungen und Strukturen immer wieder neu, solange, bis sie an ein inneres oder von außen gesetztes Ende kommen. Psychische Systeme produzieren ihre Gedanken, Vorstellungen, Gefühle, Wahrnehmungen und die Strukturen, die diese Operationen miteinander verbinden, durch die Gedanken etc. und Strukturen, aus denen sie bestehen. Das Kommunikationssystem der Eheleute Schmidt besteht also aus den Kommunikationen der verschiedenen medialen Ebenen (vorsprachlich, sprachlich, schriftlich, bildlich), mit denen die Eheleute Schmidt kommunizieren, und den Strukturen, die die Selektion ganz bestimmter Kommunikationen forcieren. Und ihr Kommunikationssystem ist ein autopoietisches, weil sie mit jeder Kommunikation weitere Kommunikation heraufbeschwören und jede Kommunikation sich an zeitlich vorausliegenden und zukünftig möglichen Kommunikationen orientiert. Kommunikationsketten bestehen aus Selektionen bzw. Synthesen von Selektionen, die sich antizipativ und reaktiv, protentional und retentional miteinander verknüpfen. Die Kommunikationen orientieren sich dabei- - deshalb Selbstreferenz- - nur an Kommunikationen, und sie schließen nur selbstreferenziell produzierte Kommunikationen an selbstreferenziell produzierte Kommunikationen an- - deshalb selbstreferenzielle Geschlossenheit. Wann enden eigentlich solche Systeme? Die Autopoiesis endet simplerweise dann, wenn keine Kommunikationen mehr intern produziert werden. Das eheliche Kommunikationssystem von Herrn und Frau Schmidt würde also nicht dann enden, wenn sie geschieden würden (dies ist in erster Linie ein rechtliches Faktum), es besteht auch nicht unbedingt lebenslänglich (wie nach den Dogmen der katholischen Kirche), sondern es hört dann auf, wenn nicht mehr kommuniziert wird in dem Sinne, dass das Verhalten des oder der einen nicht mehr an den Selektionen des oder der anderen orientiert wird-- und dies kann sehr lange dauern. Das Kommunikationssystem der Eheleute produziert also seine Einheiten durch nichts anderes als diese Einheiten, obwohl in der Umwelt dieses Kommunikationssystems ganz bestimmte Voraussetzungen gegeben sein müssen, um das Kommunikationssystem am Arbeiten zu halten. Zu diesen Voraussetzungen gehören vielleicht eine wohltemperierte Wohnung, genügende finanzielle Ressourcen für den materiellen Lebensunterhalt, ab und an die körperliche Anwesenheit von beiden und sicherlich ab und an die Teilnahme der psychischen Systeme an den kommunikativen Vorgängen. Gedanken von Frau Schmidt oder Herrn Schmidt dringen nicht in ihre Kommunikationen ein, sie müssen mitgeteilt und verstanden werden. Auch dies wird Herrn Schmidt enttäuschen. Bisher hatte er doch immer den Eindruck, dass er mit seiner Frau redet, wenn er mit ihr redet. Nun, im präzisen theorewww.claudia-wild.de: <?page no="186"?> [UTB-M]__Schuetzeichel__Soziologische_Kommunikationstheorien(2)____[Druck-PDF]/ 13.08.2015/ Seite 186 www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Schuetzeichel__Soziologische_Kommunikationstheorien(2)____[Druck-PDF]/ 13.08.2015/ Seite 187 9.5 Soziale Systeme, psychische Systeme und Personen 187 tischen Sinn redet ja auch nicht Herr Schmidt, wenn er redet, sondern nur die Kommunikation, die intern zurechnet. Aber sowohl bei der Wahl seiner Beiträge als auch bei der Wahl seines Verstehens orientiert sich Herr Schmidt, wenn er sich mit seiner Ehefrau unterhält, nicht an dem psychischen System der Frau Schmidt-- dieses ist ja für ihn nicht transparent--, sondern an der Person der Frau Schmidt. Personen sind solche kommunikativen Produkte, die die Kommunikation mit und über andere Systeme orientieren. Sie stellen ein Kompensat für die Intransparenz der psychischen Systeme füreinander dar. Personen sind kommunikative Wirklichkeiten, die der Strukturierung der kommunikativen Beiträge dienen. Es handelt sich um Konstruktionen, in denen bestimmte Erwartungen darüber, was man voneinander erwarten kann, gebündelt sind. Sie dienen der strukturellen Kopplung der psychischen und sozialen Systeme. Man hat keinen Einblick in die psychischen Systeme, mit denen man kommuniziert, aber man kennt in unterschiedlichen Graden die Personen, die an diesen psychischen Systemen haften und ihnen zugemutet werden. »Psychische Systeme, die von anderen psychischen oder von sozialen Systemen beobachtet werden, wollen wir Personen nennen.« (Luhmann 1984: 155) Personen sind also keine Systeme, sondern Zumutungen, die von Beobachtern getroffen werden. Es handelt sich um »individuell attribuierte Einschränkung von Verhaltensmöglichkeiten« (Luhmann 1995a: 148), demnach um soziale, kommunikative Strukturen, die in Bezug auf Individuen das festhalten, was von ihnen aufgrund gewonnener kommunikativer Erfahrungen erwartet werden kann. Zur Person von Herrn Schmidt gehört es für Frau Schmidt, dass er gerne englische Kleidung trägt und nicht italienische, ihr zu Weihnachten Schmuck schenkt und eben nicht gerne Sauerbraten isst. Was aber passiert, wenn sie eines Tages auf dunkle Seiten seiner Lebensführung aufmerksam würde, die ihr jahrelang verborgen geblieben sind, etwa, dass er während seiner häuslichen Abwesenheit Neigungen nachgeht, über die er sich zu Hause empören würde. Auch dann lernt Frau Schmidt nicht das psychische System des Herrn Schmidt kennen, sondern schlichtweg die andere Seite der Person, die Unperson, all das, was nicht von ihm erwartet wurde. Personen sind also keine Systeme, sondern Differenzen, die eben, wie Luhmann sagt, aus der Form ›Person‹ und ›Unperson‹ bestehen und das festhalten, was von psychischen Systemen erwartet werden kann und was nicht. Gesellschaften regulieren also dadurch, dass sie Personen konstituieren, ihre Kommunikationen. Sie haben auch einen Nutzen für die psychischen Systeme, denn schließlich erfahren sie dadurch das, was von ihnen als Individuen erwartet wird, was ihnen ganz neue Möglichkeiten einräumt. Sie können sich konform oder abweichend verhalten, sie können mit ihren Personen spielen. Im systemtheoretischen Sinne sind Personen spezifische strukturelle Kopplungen zwischen den Bewusstseins- und den Kommunikationssystemen, mit deren Hilfe beide ihre Operationen, also ihre Gedanken und Vorstellungen, ihre Gefühle und ihr Verhalten auf der einen <?page no="187"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Schuetzeichel__Soziologische_Kommunikationstheorien(2)____[Druck-PDF]/ 13.08.2015/ Seite 188 188 9 Die Unwahrscheinlichkeit von Kommunikation Seite, ihre Kommunikationsangebote und Handlungserwartungen auf der anderen Seite regulieren können. Zum Glück für beide arbeiten soziale Systeme und psychische Systeme operativ und strukturell auf getrennten Wegen, wenn auch aufs Engste gekoppelt, und zwar durch die schon eingeführten operativen und strukturellen Kopplungen, etwa der Sprache oder den Personen. Wieso aber zum Glück? Wenn es keine Differenz zwischen beiden gäbe, dann müssten die armen psychischen Systeme in heilloser Überforderung das bewältigen, was vonseiten der sozialen Umwelt auf sie einstürzt; sie wären ein Annex sozialer Verhältnisse. Und die sozialen Systeme müssten sich mit all dem befassen, was ihnen an Gedanken und Wahrnehmungen präsentiert würde- - Kommunikation würde zum Erliegen kommen. Kommen wir nochmals auf die Eingangsfrage zurück, ob wirklich nur Kommunikationen kommunizieren können. Soziale Systeme operieren auf der Basis von Kommunikationen, Bewusstseinssysteme auf der Basis von Gedanken und Wahrnehmungen. Aber soziale Systeme, besonders dann, wenn sie so personennah orientiert sind wie Familien- oder Ehesysteme, müssen sich gelegentlich an dem orientieren, was die beteiligten psychischen Systeme denken und wollen. Und sie setzen, da sie gerade personennah konzipiert sind, die beteiligten psychischen Systeme unter Kommunikations- und Verhaltensdruck. Wie machen das die sozialen Systeme? Sie forcieren Entscheidungen, sie binarisieren soziale Situationen so, dass die psychischen Systeme vor der Wahl stehen, entweder so oder so an der Kommunikation teilnehmen zu müssen. Dies wird vor allem durch die vierte Selektion der Kommunikation erreicht. Die vierte Selektion ist diejenige von Annahme oder Ablehnung von Kommunikationsofferten, und, wie wir gleich sehen, besteht der sogenannte Code der Sprache gerade darin, Ja- und Nein-Versionen von Sachverhalten zu produzieren. Den psychischen Systemen wird zugerechnet, welche Version sie kommunizieren. Kommunikationen, so haben wir gesagt, prozessieren Selektionen. Selektionen stellen eine Auswahl möglichen Erlebens oder Handelns dar. Die Kommunikationen orientieren sich in ihrem Prozessieren also daran, welches Erleben (Information und Verstehen) oder welches Handeln (Mitteilung) wie selektiert wird. »Du magst doch Sauerbraten«- - »Nein! «- - und schon nimmt die Kommunikation einen ganz anderen Weg als bei einer Zustimmung. Aus systemtheoretischer Sicht kann nur Kommunikation kommunizieren. Aber auf die Frage, welche Möglichkeiten den psychischen Systemen (Individuen, Subjekten etc.) bereitstehen, die Kommunikationen zu beeinflussen oder zu beeindrucken oder ihnen ihren Stempel aufzudrücken, könnte man mit ebenso guten systemtheoretischen Argumenten sagen: Alle Möglichkeiten- - aber eben nur solche, die ihnen die Kommunikation bietet. Und dies gilt auch umgekehrt. Wie Herr und Frau Schmidt, so wird auch jeder von uns in allen möglichen Lebenslagen die Erfahrung gemacht haben, dass man durch Kommunikation oft nicht viel erreichen kann. Unsere Vorschläge werden nicht akzeptiert oder erst gar nicht verstanden. Psychische Systeme sind nur zu einem geringen Teil kommunikativ zu beeindrucken und zu erreichen. <?page no="188"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Schuetzeichel__Soziologische_Kommunikationstheorien(2)____[Druck-PDF]/ 13.08.2015/ Seite 188 www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Schuetzeichel__Soziologische_Kommunikationstheorien(2)____[Druck-PDF]/ 13.08.2015/ Seite 189 9.6 Doppelte Kontingenz 189 9.6 Doppelte Kontingenz Weshalb kommunizieren wir eigentlich? Eine Theorie, die nach den Bedingungen der Möglichkeit von Kommunikation fragt, muss eine Antwort auf diese Frage haben. Und sie wird auch von dieser Theorie beantwortet, wenngleich in einer vielleicht überraschenden Weise: Kommunikationen haben die Funktion, durch Selektionen selbstreferenziell das Handeln und Erleben zu selektieren und damit Handlungen zu koordinieren. Um diese Aussage zu verstehen, müssen wir uns bestimmte theoretische Prämissen anschauen, die unter dem Titel ›doppelte Kontingenz‹ verhandelt werden. Dabei geht es wiederum um das zentrale Thema der Soziologie: Wie ist soziale Ordnung möglich? Ausgangspunkt dieser hypothetischen Betrachtung sind zwei Systeme und ein Problem. Nennen wir die beiden Systeme Ego und Alter. Und das Problem ist ein Koordinationsproblem. Ego und Alter sind selbstreferenziell-geschlossene Systeme, die füreinander intransparent operieren- - sie wissen also nicht, welche Interessen, Motive, Zwecke sie einander unterstellen können, wie das andere System auf ihr eigenes Tun reagieren wird, welche Erwartungen sie über das andere System haben können und, vor allem, welche Erwartungen sie von dem anderen System erwarten können. Das ist ja als solches kein Problem. Ein Problem wird es nur dann, wenn die Handlungen von Ego von den Handlungen von Alter abhängig sind in dem Sinne, dass Ego, um seine Handlungen bestimmen zu können, wissen muss, welche Handlungen von Alter erwartet werden können. In einer solchen Situation ist der Möglichkeitsraum viel zu groß, als dass man Handlungen festlegen kann. Beide Systeme sind nicht in der Lage, Erwartungserwartungen, also Erwartungen über die Erwartungen des anderen Systems auszubilden und damit diesen Möglichkeitsraum strukturell zu bestimmen. In der Systemtheorie wird eine solche Situation als doppelt kontingente oder, genauer noch, als doppelt doppelt kontingente Situation bezeichnet. Kontingenz heißt, dass etwas nicht notwendig, auch nicht unmöglich, sondern auch anders möglich ist. Ego kann sich für Alter so verhalten, aber auch anders. Sein Verhalten ist kontingent. Doppelt kontingent wird die Situation von Ego und Alter dadurch, dass für Ego das Verhalten von Alter kontingent ist und für Alter das Verhalten von Ego. Und doppelt doppelt kontingent ist diese Situation deshalb, weil für Ego das Verhalten von Alter kontingent ist und deshalb (! ) sein eigenes Verhalten auch, und weil für Alter das Verhalten von Ego kontingent ist und deshalb (! ) auch sein eigenes Verhalten. Beide, Ego und Alter, erfahren doppelte Kontingenz, weil die Situation, in der sie sich befinden, absolut unbestimmbar ist, und beide wissen, dass es für den anderen ebenso ist. Es ist eine rein hypothetische Situation, die dazu dient, ganz bestimmte theoretische Fragen zu stellen, es handelt sich nicht um eine reale soziale Situation, denn alle sozialen Situationen sind in sich schon genügend strukturiert, dass Handlungen möglich sind. Aber dennoch, so die Systemtheorie, wird die doppelte Kontingenz in sozialen Situationen niemals aufgewww.claudia-wild.de: <?page no="189"?> [UTB-M]__Schuetzeichel__Soziologische_Kommunikationstheorien(2)____[Druck-PDF]/ 13.08.2015/ Seite 190 190 9 Die Unwahrscheinlichkeit von Kommunikation hoben- - sie lauert im Hintergrund dann, wenn strukturelle Vorgaben enttäuscht werden können. Wir haben eine Theorie kennengelernt, die mit einer anderen Theoriesprache und mit einer anderen Erkenntnistheorie die Kommunikation in sozialen Situationen mit genau der Maßgabe untersucht, wie doppelte Kontingenz minimiert wird, nämlich die Ethnomethodologie, die in ihren Krisenexperimenten eigentlich kommunikative Anschlüsse wieder unbestimmbar macht. Herr Schmidt fragt seine Frau: »Wie geht es dir? «, sie antwortet: »Was soll das heißen: ›Wie geht es mir? ›«- - und schon ist Herr Schmidt dabei, Erwartungserwartungen zu überprüfen und nicht einfach weiter vor sich her zu kommunizieren. Die Systemtheorie interessiert sich nun im Unterschied zu der Ethnomethodologie nicht dafür, wie solche Kontingenzen in Kommunikationen empirisch bestimmbar gemacht werden. Ihr reicht die grobe Mechanik. Doppelte Kontingenz ist nicht aufzuheben, aber sie ist in ihrer unbestimmbaren Form in eine bestimmbare zu überführen. Wie wird der Zirkel der doppelten doppelten Kontingenz aufgelöst? Die Antwort liegt nahe-- durch Kommunikation. Durch Kommunikation kann die unbestimmte Situation doppelter doppelter Kontingenz in eine bestimmbare Situation überführt werden. Luhmann hat dabei insbesondere die Temporalität von Kommunikation im Auge. Die Situation doppelter Kontingenz findet bei ihm eine temporale Auflösung. Alter sagt etwas, und Ego ist vor die Situation gestellt, darauf zu reagieren, weil sein Handlungsraum nun auf diese neue Situation hin geordnet ist. Wie in einem Trichter wird das Verhalten von Ego auf das kommunikative Verhalten von Alter bezogen. Die Konsequenz davon ist, dass sich Strukturen im Sinne von Erwartungskonstellationen bilden können. Alter ist in der Lage, Erwartungen über das Verhalten und über die Erwartungen von Ego dann auszubilden, wenn er ein Verhalten von Ego beobachten kann, welches auf einer Selektionsvorgabe von ihm beruht. Er wird irgendetwas tun und die Reaktion von Ego auf sein Tun beobachten. Und für Ego gilt das gleiche. Damit bahnt sich ein Kommunikationssystem zwischen Ego und Alter an, in welchem es Ego und Alter möglich ist, Handlungen bei dem jeweiligen anderen System zu beobachten, also Handlungen dem anderen System zuzurechnen, und aufgrund dieser Zurechnung das eigene Verhalten festzulegen. Die immer nur fragile Lösung des Problems doppelter Kontingenz durch Kommunikation hat zwei Seiten. Kommunikation dient zum einen dazu, dass Ego und Alter ihre Selektionen, ihr Handeln und Erleben bestimmen können. Und zwar wird durch Kommunikation ein Rahmen vorgegeben, eine Situation definiert, der bestimmte Handlungsmöglichkeiten offenhält, unter denen gewählt werden muss. Kommunikation führt also zu der Selektion von Situationen und der Selektion von Handlungen in diesen Situationen (vgl. Luhmann 1984: 188). Die Bestimmung von Selektionen, die Festlegung von Handlungen nennt Luhmann die »elementare Selbstreferenz« (Luhmann 1984: 183). Es kommt eine zweite Form der Selbstreferenz hinzu, nämlich die soziale Selbstreferenz. Kommunikation hat nicht nur die Funktion, situationsabwww.claudia-wild.de: <?page no="190"?> [UTB-M]__Schuetzeichel__Soziologische_Kommunikationstheorien(2)____[Druck-PDF]/ 13.08.2015/ Seite 190 www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Schuetzeichel__Soziologische_Kommunikationstheorien(2)____[Druck-PDF]/ 13.08.2015/ Seite 191 9.6 Doppelte Kontingenz 191 hängige, kontextsensitive Handlungen zu selektieren oder die Binnenzustände der psychischen Systeme zu beeindrucken, sondern Kommunikation dient auch sozialen Systemen zum Aufbau ihrer selbst-- dies versteht Luhmann unter Autopoiesis. Gehen wir dies an unserem Beispiel einmal durch: Wenn Frau Schmidt die Sauerbraten- Empfehlung ausspricht, dann ist eine neue Situation geschaffen für Herrn Schmidt, aber ebenso für Frau Schmidt. Beide müssen sich überlegen, wie sie mit dieser Situation umgehen, wie sie ihre nächsten (kommunikativen) Schritte wählen. Aber zugleich ist damit ein Kommunikationselement für das soziale System definiert, welches weitere Elemente, weitere Kommunikation nach sich ziehen kann. Die Aussage von Frau Schmidt geht ja nicht in dem Bewusstseinsleben beider Beteiligter unter, sondern sie macht Geschichte, sie wird erinnert, man kommt auf sie zurück, sie forciert Anschlusskommunikationen, die wiederum nur verstanden werden können, wenn man weiß, was gesagt wurde. Kommunikation hat also sowohl die Funktion, Handlungen zu selektieren und zu koordinieren wie auch die Funktion, soziale Systeme zu bilden. Diese Unterscheidung zwischen der elementaren und der sozialen Selbstreferenz von Kommunikationen ist fundamental-- sie weist auf, dass die Systemtheorie sowohl die psychische oder Akteursebene wie die soziale Ebene berücksichtigt. Beide müssen zusammenwirken, damit Kommunikation zustandekommt. Durch Kommunikation werden Selektionen prozessiert-- und es liegt an den Akteuren, zwischen den Möglichkeiten zu wählen, die ihnen kommunikativ zur Verfügung gestellt werden. »Soziale Systeme bilden sich […] nur dort, wo Handlungen verschiedener psychischer oder sozialer Systeme aufeinander abgestimmt werden müssen, weil für die Selektion der einen Handlung die andere Voraussetzung ist oder umgekehrt.« (Luhmann 1984: 161) Kommunikation macht es möglich, dass die beteiligten Systeme sich wechselseitig konditionieren, also Erwartungserwartungsstrukturen ausbilden. Eine solche Konditionierungsform haben wir schon kennengelernt-- die Person. Aber neben ihr gibt es noch andere. Dazu gehören die über die Soziologie hinaus prominenten Rollen, aber auch Programme, die wir weiter unten noch kurz ansprechen werden, sowie Werte. Das Theorem der doppelten Kontingenz, die Art und Weise, wie es von der Systemtheorie konzipiert wird, und die Folgerungen, die aus diesem Theorem gezogen werden, sind von kaum zu überschätzender Bedeutung für die Architektonik und die Argumentation dieser Theorie. Leider können wir es hier nur in sehr groben Zügen darstellen. Aber es dürfte deutlich geworden sein, welche Funktion diese Theorie Kommunikation zuschreibt und was sie unter Kommunikation versteht: »Kommunikation ist koordinierte Selektivität. Sie kommt nur zustande, wenn Ego seinen Eigenzustand auf Grund einer mitgeteilten Information festlegt.« (Luhmann 1984: 212) <?page no="191"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Schuetzeichel__Soziologische_Kommunikationstheorien(2)____[Druck-PDF]/ 13.08.2015/ Seite 192 192 9 Die Unwahrscheinlichkeit von Kommunikation 9.7 Die Selektivität der Kommunikation Kommunikation, so Luhmann, besteht aus einer Synthese von Information, Mitteilung und Verstehen. Und diese drei Komponenten stellen Selektionen dar, sie sind kontingent, also auch anders möglich. Von daher sind diese einzelnen Elemente für sich genommen schon einmal alles andere als selbstverständlich. Weshalb sollte überhaupt eine Mitteilung vorgenommen werden? Gibt es nicht interessantere Beschäftigungen? Weshalb sollte man sich durch Informationen beeinflussen oder düpieren lassen? Das Leben könnte doch so nett sein! Und weshalb sollte ich mir auch noch die Mühe machen, viele dieser mitgeteilten Informationen verstehen zu wollen? Welche Anstrengung ist damit oft verbunden! Wenn diese einzelnen Elemente schon alles andere als selbstverständlich sind, dann gilt dies noch umso mehr für ihre Synthesis. Und wie ist es eigentlich zu erklären, dass auf eine einzelne Kommunikation auch noch eine Folgekommunikation folgt? Ich grüße-- und werde ebenfalls gegrüßt. Frau Schmidt stellt eine Frage-- und sie erhält eine Antwort. Herr Schmidt sagt zu seiner Gattin: »Ich liebe dich«- - und er wird von ihr geküsst. Der Finanzminister fordert höhere Steuern-- und die Steuererhöhung wird befolgt. Der Soziologie XY schreibt ein Buch-- und das wird auch noch gelesen. Luhmann geht von drei grundsätzlichen Unwahrscheinlichkeitsschwellen der Kommunikation aus, von Schwellen, die überwunden werden müssen, damit Kommunikation entstehen und sich reproduzieren kann. • Das Verstehen von Mitteilungen: Wie können mitgeteilte Informationen verstanden werden, wenn doch die beteiligten psychischen Systeme hochgradig individualisiert sind? • Das Erreichen von Adressaten: Wie können Kommunikationsangebote auch solche Personen erreichen, die nicht füreinander leiblich kopräsent sind, sich nicht wahrnehmen können, sich also nicht in einer Interaktion miteinander befinden? • Der Erfolg der Kommunikation: Wie kann über das Verstehen von Kommunikation hinaus der Erfolg von Kommunikation hinreichend erwartbar gemacht werden? Unter kommunikativem Erfolg versteht Luhmann, dass der Adressat eine vorgeschlagene Selektion als Prämisse des eigenen Erlebens und Handelns übernimmt. Der kommunikative Erfolg bezieht sich also auf die vierte Selektion, die der Anschlusskommunikation, und er besteht darin, dass eine Selektionsofferte angenommen und nicht abgelehnt wird. Diese Kommunikationsprobleme stehen nicht isoliert nebeneinander, sondern sie verstärken sich gegenseitig. Wenn das Verstehen ermöglicht ist, dann ist damit noch nicht die Annahme von Selektionsofferten gewährleistet-- im Gegenteil. Auch dann, wenn über den Interaktionsrahmen hinaus die kommunikativen Angebote einem größeren Kreis präsentiert werden können, heißt das noch nicht, dass diese auch verstanden oder gar akzeptiert werden. <?page no="192"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Schuetzeichel__Soziologische_Kommunikationstheorien(2)____[Druck-PDF]/ 13.08.2015/ Seite 192 www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Schuetzeichel__Soziologische_Kommunikationstheorien(2)____[Druck-PDF]/ 13.08.2015/ Seite 193 9.8 Zwischenbilanz 193 Die sozialen Einrichtungen, die die Unwahrscheinlichkeit der Kommunikation in all ihren Punkten bearbeiten, werden von Luhmann Medien genannt. Medien werden also funktional definiert, nämlich auf die Unwahrscheinlichkeitsschwellen der Kommunikation bezogen. Entsprechend unterscheidet Luhmann drei verschiedene Medienformen: • Sprache: steigert die Wahrscheinlichkeit des Verstehens von Kommunikation. • Verbreitungsmedien: steigern die Wahrscheinlichkeit des Erreichens von Kommunikatoren. Verbreitungsmedien sind z. B. Schrift, Buchdruck, die herkömmlichen Massenmedien oder die modernen digitalen Medien. • Erfolgsmedien: steigern die Wahrscheinlichkeit des Erfolgs von Kommunikation. Die wesentlichen Erfolgsmedien sind die symbolisch generalisierten Kommunikationsmedien. Zu ihnen gehören Geld, Macht, Wahrheit, Liebe, Glaube und andere. Wie bewirken diese Medien eigentlich die Steigerung der Wahrscheinlichkeiten? An dieser Stelle kommt wieder der Codebegriff zum Tragen. Luhmann verwendet nicht einen weiten linguistischen, sondern einen engen kybernetischen Codebegriff. Codes sind nicht Symbolreihen oder allgemeine Zuordnungsregeln, sondern Duplikationsregeln. Es sind binäre Strukturen, die für jedes beliebige Item ein komplementäres Item aufsuchen und zuordnen. Medien können also aufgrund ihrer binären Codestruktur auf die Selektionsmöglichkeiten Einfluss nehmen, indem sie die Selektionsmöglichkeiten begrenzen, die Situationsdefinitionen rahmen und die Wahl bestimmter Selektionen präferieren. Auf der Ebene der Sprache gilt der Code ja / nein. Die Sprache stellt für alle Informationen zwei Fassungen, ein Ja- und eine Nein-Fassung zur Verfügung (Ist etwas der Fall oder ist etwas nicht der Fall / p oder non-p) Auf der Ebene der Verbreitungs- oder Diffusionsmedien findet sich eine Duplikationsregel von der Sprache zu den jeweiligen Medien, vornehmlich dem der Schrift, in der Form vor, dass sich eine Zuordnung von den Lauten zu den jeweiligen Medienelementen ergibt. Es werden also Elemente aus zwei Mengen einander zugeordnet. Auf der Ebene der symbolisch generalisierten Kommunikationsmedien übernehmen binäre Schematismen diese Duplikationsfunktion (z. B. Haben / Nichthaben, Wahrheit / Falschheit etc.). Diese Schematismen präferieren den einen und dispräferieren den anderen Wert. 9.8 Zwischenbilanz Im Mittelpunkt der systemtheoretischen Konzeption steht das prozessuale Problem von Kommunikation. Wie können kommunikative Handlungen bzw. kommunikative Akte aneinander anschließen? Die Antwort lautet: durch Selbstreferenz bzw. die <?page no="193"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Schuetzeichel__Soziologische_Kommunikationstheorien(2)____[Druck-PDF]/ 13.08.2015/ Seite 194 194 9 Die Unwahrscheinlichkeit von Kommunikation Unterscheidung von Selbstreferenz und Fremdreferenz. Hieraus ergeben sich alle anderen Unterscheidungen, die die Systemtheorie einführt, insbesondere diejenige zwischen sozialen und psychischen Systemen. Auch die medialen Bedingungen von Kommunikation werden auf das prozessuale Problem bezogen. Neben diesem prozessualen Problem stehen das Sozialitätsproblem und damit das Konzept der doppelten Kontingenz im Vordergrund. Luhmann spielt auch mit dem Gedanken der Unterscheidung von zwei Ebenen der Kommunikation, einer elementaren Ebene der Koorientierung und einer Ebene der sozialen Selbstreferenz. Die Systemtheorie differenziert zwischen Kommunikation und Bewusstsein, sozialen und psychischen Systemen. Soziale Systeme bilden sich durch die sinnhafte (Re-) Produktion von Kommunikationen durch Kommunikationen, psychische Systeme durch die ebenfalls sinnhafte (Re-)Produktion von Gedanken, Vorstellungen und Wahrnehmungen durch Gedanken, Vorstellungen und Wahrnehmungen. Beide Systeme operieren überschneidungsfrei. Kommunikationen können nur Kommunikationen anschließen, psychische Elemente nur psychische Elemente. Von daher können trotz aller notwendigen Voraussetzungen aufseiten der psychischen Systeme nur die sozialen Systeme kommunizieren. Kommunikation wird als eine Synthese von drei Selektionen verstanden, von Information, Mitteilung und Verstehen. Eine Synthese dieser drei Selektionen stellt einen elementaren Kommunikationsakt dar, der sich im Verlauf der weiteren Kommunikation einer vierten Selektion aussetzen muss, nämlich der Annahme oder Ablehnung. Die vierte Selektion markiert das Kriterium für den Erfolg von Kommunikation. Kommunikation wird auf die soziale Problemstellung der Koordination von Handlungen bezogen. Sie hat die Funktion, die Selektion von Handlungen dadurch koordinierbar zu machen, dass sie den Kommunikatoren selektiven Anlass bietet, ihre Zustände selbstreferenziell zu verändern, ohne dass sie die Intransparenz dieser Zustände für die Kommunikatoren aufzuheben in der Lage ist. Umgekehrt ist es den psychischen Systemen nur unter Inanspruchnahme kommunikativer Mittel möglich, die Kommunikation zu beeinflussen. Weshalb also ist Kommunikation ein eigenständiger Operationstypus im Medium Sinn? Auch mit Luhmann können alle einzelnen Komponenten auf ihre psychischen Korrelate reduziert werden, jedoch nicht die Selbstreferenz bzw. die Rekursivität von Kommunikation: Kommunikationen bilden sich nur im Rück- und Vorgriff auf andere Kommunikationen und nicht auf Gedanken, Vorstellungen oder Wahrnehmungen. An die Stelle des Übertragungskonzepts und des Konzepts der kommunikativen Intentionalität setzt die Systemtheorie das Konzept der Rekursivität. Ein Verhalten wird erst dann zu einem Element von Kommunikation, wenn eine Folgekommunikation anschließt. Erst dadurch wird das Verhalten als eine kommunikative Realität konstituiert. Auch der Sinn und die Bedeutung einer kommunikativen Handlung erschließt sich erst im retentional und protentional operierenden Netzwerk der anderen Kommunikationen. <?page no="194"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Schuetzeichel__Soziologische_Kommunikationstheorien(2)____[Druck-PDF]/ 13.08.2015/ Seite 194 www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Schuetzeichel__Soziologische_Kommunikationstheorien(2)____[Druck-PDF]/ 13.08.2015/ Seite 195 9.8 Zwischenbilanz 195 Kommunikation wird im Hinblick auf das Problem der doppelten Kontingenz konzipiert. Kommunikation steht in einem Wechselverhältnis zu der Selbstfestlegung von Selektionen durch die beteiligten (psychischen) Systeme. Auch in der Systemtheorie finden wir also ein Bedingungsverhältnis von Kommunikation und der Selektion bzw. der Handlung in Kommunikationen. Erst Kommunikation zwingt die Systeme dazu, sich selbstreferenziell im Modus ihrer eigenen Operationen auf bestimmte Selektionen festzulegen, und umgekehrt dient Kommunikation dazu, diese Selbstfestlegungen zu prozessieren und zu koordinieren. Als Medien werden diejenigen Einrichtungen bezeichnet, die Kommunikation wahrscheinlich machen. Dabei geht es um die Erhöhung der Wahrscheinlichkeit des Verstehens von Kommunikation durch das Medium der Sprache, um die Erhöhung der Wahrscheinlichkeit des Erreichens von Adressaten durch die Verbreitungsmedien und um die Erhöhung der Wahrscheinlichkeit der Akzeptanz von Kommunikation durch die symbolisch generalisierten Kommunikationsmedien. Der Schwerpunkt der systemtheoretischen Kommunikationstheorie liegt eindeutig auf der Analyse der operativen Bedingungen von Kommunikation. Aber in jeder Kommunikation wird auch über etwas informiert oder es wird auf etwas referiert. Die referenzielle Seite von Kommunikation wird in der Systemtheorie mithilfe von semantischen Analysen durchgeführt, die an der Differenztheorie bzw. der Formenanalyse nach George Spencer Brown orientiert sind. Auf diese können wir hier leider nur verweisen. Basislektüre: Luhmann, Niklas (2001): Aufsätze und Reden. Stuttgart. Luhmann, Niklas (2002): Einführung in die Systemtheorie. Heidelberg Einführungsliteratur: Baecker, Dirk (1992): Die Unterscheidung zwischen Kommunikation und Bewußtsein. S. 217-268 in: Wolfgang Krohn / Günther Küppers (Hg.): Emergenz: Die Entstehung von Ordnung, Organisation und Bedeutung. Frankfurt am Main. Fuchs, Peter (2002): Die Form der autopoietischen Reproduktion am Beispiel von Bewußtsein und Kommunikation. In: Soziale Systeme 8: 333-351. Weiterführende Literatur: Fuchs, Peter (1997): Adressabilität als Grundbegriff der soziologischen Systemtheorie. In: Soziale Systeme 3: 57-79. Gilgenmann, Klaus (1997): Kommunikation-- ein Reißverschlußmodell. In: Soziale Systeme 3: 33-56. <?page no="195"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Schuetzeichel__Soziologische_Kommunikationstheorien(2)____[Druck-PDF]/ 13.08.2015/ Seite 196 196 9 Die Unwahrscheinlichkeit von Kommunikation Greshoff, Rainer (2008): Ohne Akteure geht es nicht! Oder: Warum die Fundamente der Luhmannschen Sozialtheorie nicht tragen. In: Zeitschrift für Soziologie 37(6): 450-469. Jahraus, Oliver / Nassehi, Armin (Hg.) (2012): Luhmann-Handbuch. Leben- - Werk- - Wirkung. Stuttgart. Jahraus, Oliver / Ort, Nina (Hg.) (2001): Bewusstsein-- Kommunikation-- Zeichen. Wechselwirkungen zwischen Luhmannscher Systemtheorie und Peircescher Zeichentheorie. Tübingen. Scheibmayr, Werner (2004): Niklas Luhmanns Systemtheorie und Charles S. Peirces Zeichentheorie. Tübingen. Schneider, Wolfgang Ludwig (1996): Die Komplementarität von Sprechakttheorie und systemtheoretischer Kommunikationstheorie. In: Zeitschrift für Soziologie 25: 263-277. Schneider, Wolfgang Ludwig (1997): Die Analyse von Struktursicherungsoperationen als Kooperationsfeld von Konversationsanalyse, objektiver Hermeneutik und Systemtheorie. S. 164-227 in: Tilmann Sutter (Hg.): Beobachtung verstehen, Verstehen beobachten. Opladen. <?page no="196"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Schuetzeichel__Soziologische_Kommunikationstheorien(2)____[Druck-PDF]/ 13.08.2015/ Seite 196 www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Schuetzeichel__Soziologische_Kommunikationstheorien(2)____[Druck-PDF]/ 13.08.2015/ Seite 197 197 10 Exkurs 4: Kommunikation, Regeln und-Sprachspiele Mit den sprachpragmatischen Theorien, wie wir sie in der Sprechakttheorie (vgl. Kap. 7) oder in der Theorie des kommunikativen Handelns von Habermas (vgl. Kap. 8) kennenlernten, geht der Wittgenstein der ›Philosophischen Untersuchungen‹ (Wittgenstein 1984b) davon aus, dass der pragmatische oder Tätigkeitsaspekt des Sprechens im Vordergrund der Analyse von sprachlichen oder kommunikativen Praktiken stehen sollte. Aber anders als diese Theorien behaupten, besteht für Wittgenstein das Sprechen nicht in der Anwendung sprachlicher Regeln, nicht in der Artikulation und der Aktualisierung von kommunikativen Regeln. Nach Wittgenstein sind Sprechen bzw. Kommunizieren genuine Praxisformen. Was ist damit gemeint? Kommunizieren ist eine Praxis, weil wir beim Kommunizieren nicht (in einem genauen Wortsinn) Regeln folgen, sondern kommunizieren. Und wenn wir die Regeln explizieren wollen, die wir beim Kommunizieren voraussetzen, dann ist dies eine neue Form der Praxis, ein Kommunizieren über Regeln, welches aber nicht die Regeln durchschaut, die wir beim Kommunizieren über Regeln voraussetzen. Die kommunikative Praxis und der Diskurs über die Praxis stehen nicht einem hierarchischen Verhältnis oder Begründungsverhältnis. Es handelt sich um unterschiedliche Kommunikationsformen oder, wie Wittgenstein sagt, um unterschiedliche Sprachspiele. Sprachspiele sind mehr oder weniger ritualisierte Handlungszusammenhänge, die sowohl sprachliche wie nicht sprachliche Elemente enthalten. Sie sind nicht in Regeln fundiert, sondern in Lebensformen. Das Miteinandersprechen ist wie das Spielen eines Spiels. Spiele erschöpfen sich nicht darin, dass man Regeln anwendet oder Regeln folgt. Diese mögen zwar ein notwendiger Bestandteil des Spielens sein, aber was wäre das für ein Spiel, das nur in der Anwendung und Ausführung von Regeln bestünde? Und bei vielen Spielen ist es so, dass wir nicht in der Lage sind, die Regeln zu explizieren. So verhält es sich auch mit dem Sprechen einer Sprache. Das Miteinandersprechen kann nach Wittgenstein mit einem Sprachspiel verglichen werden, einem Spiel, das nicht wie das Schachspiel auf festen, definiten, kalkülisierbaren Spielzügen beruht, sondern mit einem offenen Spiel, welches sich dadurch auszeichnet, dass Regeln nicht ihre Anwendung regeln können. Mit anderen Worten: Regeln sind immer unterschiedlich interpretierbar, sie müssen immer mit neuen Situationen konfrontiert werden, die zu neuen Interpretationen herausfordern. Regeln regulieren nicht Situationen, sondern in Situationen müssen Regeln stets neu interpretiert werden. Und es gilt auch umgekehrt: Regeln regulieren Handlungen nicht so, dass sie ganz bestimmte Handlungen ausschließen können, sondern alle Handlungen sind durch irgendeine Interpretation immer als Ausführung einer Regel interpretierwww.claudia-wild.de: <?page no="197"?> [UTB-M]__Schuetzeichel__Soziologische_Kommunikationstheorien(2)____[Druck-PDF]/ 13.08.2015/ Seite 198 198 10 Exkurs 4: Kommunikation, Regeln und-Sprachspiele bar. Was Wittgenstein damit zum Ausdruck bringen will, ist die erhebliche Kluft zwischen Regeln und Handlungen, zwischen Regeln und Praxis, die durch Regeln selbst nicht überbrückt werden kann. Regelmäßigkeiten im Handeln und Kommunizieren kommen nicht dadurch zustande, dass man Regeln explizit anwendet, sondern dass bestimmte Gebrauchsmuster benutzt, gepflegt und durch Wiederholung erlernt werden. Erst in der Praxis zeigt sich, wie eine Regel gebraucht wird. Aber wie sie gebraucht wird, lässt sich nicht durch die Regel festlegen. Und der Regelgebrauch kann auch nicht in derselben Praxis expliziert werden, denn es handelt sich um ein anderes Sprachspiel. Entweder werden Regeln blind im Vollzug benutzt, oder man beschreibt sie. Aber der Vollzug, die Praxis, ist nicht identisch mit dem, was beschrieben wird. Mit dem Sprachspielkonzept wendet sich Wittgenstein gegen eine Auffassung, die sprachlichen Ausdrücken eine definite Bedeutung zuweisen will-- Bedeutungen von Ausdrücken ergeben sich aus dem sprachlichen wie auch dem nicht sprachlichen Kontext, in dem die Ausdrücke gebraucht werden. Sprachspiele sind ihrerseits in Lebensformen verwoben. Mit dem Ausdruck ›Lebensform‹ bezieht Wittgenstein sich auf das umfassende soziale und kulturelle Ganze, in das unsere sprachliche Praxis involviert und integriert ist (vgl. die Beiträge in Lütterfels / Roser 1999). Wittgenstein wendet sich also gegen ein Regelkonzept, welches unterstellte, dass Regeln praxisunabhängig, eindeutig und erschöpfend bestimmen können, welches Verhalten den Regeln entspricht und welches nicht, dass das praktische Tun als sekundär, als bloßes Befolgen und Umsetzen dieser Regeln einzustufen ist, und welches Regeln als geistige Zustände auffasst, aus denen die richtige Praxis entspringt- - ein auch in der Soziologie häufig vertretener Standpunkt, der davon ausgeht, dass das Befolgen einer Regel davon abhängt, ob die Regel subjektiv repräsentiert ist, als Wissen, als Meinung, als Norm. Er selbst vertritt einen invertierten Standpunkt: Das Regelexplizieren tritt gegenüber der sprachlichen und kommunikativen Praxis in den Hintergrund. Er vertritt ein praxeologisches Verständnis von Regeln (vgl. Krämer 2001: 130). Unsere kommunikative Praxis besteht nicht darin, dass wir uns dafür entscheiden, dieser oder jener Regel zu gehorchen, sondern wir folgen Regeln ohne Reflexion und Nachdenken und ohne Gründe. Dies betrifft nicht nur das Sprechen, sondern auch das Verstehen. Verstehen ist nach Wittgenstein ebenso wenig etwas Mentales wie das Sprechen. Und es handelt sich auch nicht um ein Verstehen psychischer Akte. Um zu verstehen, was jemand gesagt hat oder wie jemand etwas verstanden hat, müssen wir uns nicht der Psyche der betreffenden Person zuwenden, weil sie uns keine Gründe benennen kann, sondern der Kommunikationspraxis. Wittgensteins Argumente gegen die Regeldeterminiertheit der kommunikativen oder sprachlichen Praxis sollte man nicht so verstehen, dass die kommunikative Praxis nun regellos wäre. Dies behauptet er gerade nicht, sondern nur, dass das Regelfolgen der kommunikativen Praxis nicht vorausliegt. Damit nähern wir uns einem zweiten Aspekt der Argumentation von Wittgenstein: Kommunizieren ist eine soziwww.claudia-wild.de: <?page no="198"?> [UTB-M]__Schuetzeichel__Soziologische_Kommunikationstheorien(2)____[Druck-PDF]/ 13.08.2015/ Seite 198 www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Schuetzeichel__Soziologische_Kommunikationstheorien(2)____[Druck-PDF]/ 13.08.2015/ Seite 199 10 Exkurs 4: Kommunikation, Regeln und-Sprachspiele 199 ale Praxis. Damit sind die Regeln soziale Regeln. Und es stellt sich aufgrund dessen die Frage, ob ein isoliertes Individuum überhaupt einer Regel folgen kann oder ob jegliche Regelbefolgung eine soziale Gemeinschaft voraussetzt. Denn erst eine soziale Gemeinschaft kann kontrollieren und bestimmen, welches Verhalten schon als eine richtige, regelkonforme Praxis angesehen werden kann. Mit Bezug auf ein einzelnes Individuum lässt sich nicht sagen, ob es einer Regel richtig folgt oder falsch, d. h. gar nicht. Diese Kontrolle kann nur in der Gemeinschaft von anderen Teilnehmern entschieden werden. Hier stehen sich also zwei Lager gegenüber, wie wir sie aus der Soziologie auch von Beginn an kennen: Individualisten und Kollektivisten. Der Hauptstreitpunkt besteht in der Frage nach der Verbindlichkeit von institutionellen Ordnungen für das Handeln von Einzelnen. Die Kollektivisten behaupten, dass die Einzelnen sich in ihrem Handeln an allgemein geltenden Regeln orientieren müssen, die Individualisten, dass die institutionelle Praxis sich aggregativ aus dem Handeln der Einzelnen ergibt. Oder übertragen auf das Kommunikationsproblem: Kann ein Individuum, wenn es mit seinem Sprechen etwas meint, also anderen etwas bedeuten will, diese Bedeutung selbst festlegen, oder ist es darauf angewiesen, dass es die Bedeutung gebraucht, die in der sozialen Gemeinschaft akzeptiert ist? Die individualistische Position würde behaupten, dass die Bedeutung einer Aussage eine referenzielle Bezugnahme auf den Gegenstand voraussetzt, die anti-individualistische oder kollektivistische Position würde dagegen einwenden, dass nicht die außersprachlichen Entitäten, sondern das Zustimmungsverhalten anderer kompetenter Sprecher ausschlaggebend für die Bedeutung des Gesagten sind. Dies wird als sozialer Externalismus bezeichnet. Ein weiterer Schritt in der Argumentation von Wittgenstein führt zum sogenannten Privatsprachenargument bzw. zu der Frage, ob es private Sprachen geben kann? Kann ein Individuum seinen Empfindungen, Schmerzen oder Gefühlen sprachlichen Ausdruck verleihen, oder ist der sprachliche Ausdruck daran gebunden, dass man auf soziale, öffentliche Kriterien der Anwendung dieser Empfindungsworte zurückgreift? Ergibt sich die Bedeutung der Aussage von Frau Schmidt »Ich bin traurig« daraus, dass diese Aussage ihrer Empfindung entspricht, oder ist es so, dass es öffentliche Kriterien dafür gibt, wie sie diese Worte zu gebrauchen hat? Haben solche Empfindungsworte überhaupt eine referenzielle Funktion oder nur eine pragmatische, eine kommunikative Funktion, weil sie nicht auf innere Empfindungen referieren, sondern bestimmte Wirkungen bei anderen Hörern und Sprechern evozieren sollen? Das sogenannte Privatsprachenargument ist ein sehr komplexes Arrangement von verschiedenen Überlegungen über die Frage, ob es möglich ist, eine Sprache zu sprechen, die nur von einer einzigen Person verstanden werden kann, nämlich derjenigen, die diese Sprache entworfen hat. Ist es möglich, dass in einer Sprache Ausdrücke, z. B. Empfindungsworte, vorkommen, die nur von dieser Person verstanden werden können, beispielsweise die Ausdrücke ›Schmerz‹ oder ›rot sehen‹? Da sich diese Ausdrücke scheinbar auf etwas beziehen, was sich gleichsam im Innenraum einer Person ereignet, <?page no="199"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Schuetzeichel__Soziologische_Kommunikationstheorien(2)____[Druck-PDF]/ 13.08.2015/ Seite 200 200 10 Exkurs 4: Kommunikation, Regeln und-Sprachspiele nämlich das Erleben von Schmerz oder das Sehen eines roten Gegenstandes, und diese Erfahrungen scheinbar nur der erlebenden Person zugänglich sind und niemand in den Geist des anderen schauen kann, stellt sich die Frage, ob sich die Ausdrücke in einer privaten Weise nur auf private Zustände beziehen. Ist es beispielsweise auszuschließen, dass das, was jemand vor Augen hat, wenn er ›rot‹ sagt, mit dem identisch ist, was eine andere Person meint, wenn sie ›gelb‹ sagt? Wie wollte man das überprüfen? Spielt sich überhaupt etwas ab? Kann es private Sprachen geben, deren Ausdrücke lediglich eine einzige Person verstehen kann? Wittgensteins Überlegungen nehmen folgende Richtung: Wenn es eine private Sprache gäbe, so hätte die Person, die sie verwendete, keine Kriterien darüber, wie sie die Ausdrücke dieser Sprache verwenden müsste oder ob es eine gleiche Verwendung dieser Ausdrücke gäbe. Im berühmten § 258 der Philosophischen Untersuchungen führt er das Beispiel eines Tagebuchschreibers an, der über seine Empfindungen Buch führt und immer dann, wenn er eine bestimmte Empfindung hat, ›E‹ einträgt. Wie will er feststellen, ob die Empfindung des einen Tages mit der Empfindung des nächsten Tages identisch ist, ob er also berechtigt ist, beide mit ›E‹ zu bezeichnen? »Angenommen, es hätte Jeder eine Schachtel, darin wäre etwas, was wir ›Käfer‹ nennen. Niemand kann je in die Schachtel des Anderen schaun; und Jeder sagt, er wisse nur vom Anblick seines Käfers, was ein Käfer ist.-- Da könnte es ja sein, daß Jeder ein anderes Ding in seiner Schachtel hätte. Ja, man könnte sich vorstellen, daß sich ein solches Ding fortwährend veränderte.« (Wittgenstein (1984b: § 293) Wittgenstein zieht- - zumindest der vieldiskutierten Interpretation von Kripke (1987) zufolge-- die Konsequenz, dass der Gebrauch von Sprache die Orientierung an Regeln voraussetzt, die Orientierung an Regeln aber nur in einer gemeinsamen, von mehreren oder vielen Sprechern geteilten Sprachpraxis gewährleistet ist. Derjenige, der meint, alleine einer Regel, beispielsweise der korrekten Verwendung von Empfindungsworten, folgen zu können, verfügt nicht über Kriterien, die angeben, ob er einer Regel folgt oder nicht. Aber es lässt sich noch eine andere Conclusio ziehen: Der Gedanke, dass das, worauf wir uns beziehen, wenn wir mit unseren Sinnen wahrnehmen, sich in einem für andere unzugänglichen geistigen Innenreich befindet, ist verfehlt. Wittgenstein kritisiert also die Vorstellung, dass jedes Sprechen von einer unabhängigen Paralleltätigkeit des Geistes begleitet wird, welche den Wörtern erst ihre Bedeutung verleiht. Sprachen verfügen über Regeln. Sie sind nach Wittgenstein in der Grammatik einer Sprache festgehalten. Grammatische Sätze bringen die Regeln zum Ausdruck, wie wir mit sprachlichen Einheiten umgehen sollen. Im Gegensatz zu empirischen Sätzen, die sich auf die Wirklichkeit beziehen, können sie nicht wahr oder falsch sein. Sie legen nur fest, wie Ausdrücke richtig verwendet werden können. So bestimmt beispielsweise die Grammatik des Wortes ›Empfindung‹, dass Empfindungen privaten Charakters sind. Der Satz »Empfindungen sind privat« ist keine empirische Aussage, sondern eine grammatikalische, die wiedergibt, wie wir in unserer Sprache und <?page no="200"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Schuetzeichel__Soziologische_Kommunikationstheorien(2)____[Druck-PDF]/ 13.08.2015/ Seite 200 www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Schuetzeichel__Soziologische_Kommunikationstheorien(2)____[Druck-PDF]/ 13.08.2015/ Seite 201 10 Exkurs 4: Kommunikation, Regeln und-Sprachspiele 201 in unseren Sprachspielen den Ausdruck ›Empfindung‹ gebrauchen sollen. Mentale Begriffe sind von einer anderen Ordnung als solche Worte, mit denen man sich auf physische Ereignisse bezieht. Wenn man ›Schmerz‹ genauso behandelt wie ›Stein‹, also als eine Entität, auf die man ebenso referieren kann wie bei wahrnehmbaren äußeren Gegenständen, dann wird man nach Wittgenstein irregeleitet. »Die Grammatik ist keiner Wirklichkeit Rechenschaft schuldig. Die grammatischen Regeln bestimmen erst die Bedeutung (konstituieren sie) und sind darum keiner Bedeutung verantwortlich und insofern willkürlich.«Wittgenstein (1984b: § 133) Versuchen wir, kommunikationssoziologische Folgerungen aus den Überlegungen von Wittgenstein zu ziehen! Wenn wir uns das klassische Kommunikationsmodell (siehe Kap. 1) vor Augen halten, dann werden zwei Annahmen in Frage gestellt. Dieses Modell hat ein sehr striktes Regelverständnis- - der Code als eine Übersetzungs- und Zuordnungsregel kann Kommunikation zwischen Sender und Empfänger eben nur bei einer strikten Regeldeterminiertheit der kommunikativen Akte gewährleisten. Aber nicht nur die Annahme der Regeldeterminiertheit kommunikativer Prozesse kann man mit Wittgenstein in Zweifel ziehen, sondern das Transport- oder Conduitmodell der Kommunikation überhaupt. Denn dieses Modell sieht vor, dass ein gedachter, gedanklicher, vorsprachlicher Inhalt in ein codiertes Medium überführt, vom Sender zum Empfänger transportiert und von dem Empfänger wiederum ausgepackt, decodiert und schließlich in ein gedankliches Substrat überführt wird. Sprachen können diesem Leitbild zufolge unterschiedliche Vehikel darstellen, die es erlauben, den gedanklichen Inhalt, zum Beispiel den Gedanken von Frau Schmidt »Der Sauerbraten ist ausgezeichnet«, in eine deutsche, eine englische, eine chinesische sprachliche Form zu bringen. Mit Wittgenstein lässt sich bezweifeln, ob überhaupt ein gedanklicher Inhalt sprachlich ausgedrückt oder ›zum Ausdruck gebracht‹ werden kann. Gibt es solch einen abstrakten Inhalt, der unterschiedliche sprachliche Formen annehmen kann? Und umgekehrt: Sind die Sprachen nur Vehikel, die identische, gedankliche Inhalte transportieren können? Mit den Überlegungen Wittgensteins kann man in Zweifel ziehen, ob sich die für das klassische Modell konstitutive Trennung von Gedanken und Medium aufrechterhalten lässt, von einem Gedanken, der unabhängig von dem Medium bestehen kann, und von einem Medium, welches nur als ein Vehikel fungiert (vgl. Schneider 1992). Greifen die Überlegungen Wittgensteins damit die Prämissen mancher soziologischer Kommunikationstheorien (wie etwa der phänomenologischen oder der systemtheoretischen) an, die die Nichtverstehbarkeit oder Intransparenz des Fremdpsychischen unterstellen? Was das Problem des Regelfolgens angeht, so weist die Praxissoziologie Bourdieus (vgl. Kap. 11) die stärksten Affinitäten mit der Praxisphilosophie Wittgensteins auf. <?page no="201"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Schuetzeichel__Soziologische_Kommunikationstheorien(2)____[Druck-PDF]/ 13.08.2015/ Seite 202 202 10 Exkurs 4: Kommunikation, Regeln und-Sprachspiele Basislektüre: Wittgenstein, Ludwig (1984b): Philosophische Untersuchungen. In: ders.: Tractatus logicaphilosophicus, Tagebücher, Philosophische Untersuchungen (Werkausgabe, Bd. 1). Frankfurt am Main. Weiterführende Literatur: Glüer, Kathrin (1999): Sprache und Regeln. Zur Normativität von Bedeutung. Berlin. Meggle, Georg (2010): Handlungstheoretische Semantik. Berlin, New York. Schneider, Hans Julius (1992): Phantasie und Kalkül. Über die Polarität von Handlung und Struktur in der Sprache. Frankfurt am Main. Streeck, Jürgen (1995): Sprachanalyse als empirische Geisteswissenschaft: Von der ›philosophy of mind‹ zur ›kognitiven Linguistik‹. S. 90-100 in: Uwe Flick u. a. (Hg.): Handbuch Qualitative Sozialforschung. 2. Aufl. Weinheim. Wiggershaus, Rolf (Hg.) (1975): Sprachanalyse und Soziologie. Die sozialwissenschaftliche Relevanz von Wittgensteins Sprachphilosophie. Frankfurt am Main. Winch, Peter (1974): Die Idee der Sozialwissenschaft und ihr Verhältnis zur Philosophie. Frankfurt am Main. <?page no="202"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Schuetzeichel__Soziologische_Kommunikationstheorien(2)____[Druck-PDF]/ 13.08.2015/ Seite 202 www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Schuetzeichel__Soziologische_Kommunikationstheorien(2)____[Druck-PDF]/ 13.08.2015/ Seite 203 203 11 Die Ökonomie des sprachlichen Tauschs Wenn man die bisher dargestellten Theorien Revue passieren lässt, so kann man sich gerade als Leser einer soziologischen Einführung die Frage stellen, ob eigentlich Macht- und Herrschaftsverhältnisse für unseren Gegenstand irrelevant sind. Finden Kommunikationen in einem herrschaftsfreien Raum statt? Spielen für die kommunizierenden Akteure Machtfragen keine Rolle? Beruhen Kommunikationen nicht selbst auf Machtbeziehungen? Wir kommen nun zu derjenigen soziologischen Theorie, die diese Fragen in den Mittelpunkt rückt. Pierre Bourdieu wendet sich gegen die in der Soziologie und den Sprachwissenschaften gleichermaßen vorherrschende intellektualistische Vorstellung, Sprache als ein Objekt der Erkenntnis und des Wissens, aber nicht als ein Instrument der Macht zu begreifen. »Jeder Sprechakt und allgemeiner jede Handlung ist eine bestimmte Konstellation von Umständen, ein Zusammentreffen unabhängiger Kausalreihen: auf der einen Seite die-- gesellschaftlich bestimmten-- Dispositionen des sprachlichen Habitus, die eine bestimmte Neigung zum Sprechen und zum Aussprechen bestimmter Dinge einschließen (das Ausdrucksstreben), und eine gewisse Sprachfähigkeit, die als sprachliche Fähigkeit zur unendlichen Erzeugung grammatisch richtiger Diskurse und, davon nicht zu trennen, als soziale Fähigkeit zur adäquaten Anwendung dieser Kompetenz in einer bestimmten Situation definiert ist; auf der anderen Seite die Strukturen des sprachlichen Marktes, die sich als ein System spezifischer Sanktionen und Zensurvorgänge durchsetzen.« (Bourdieu 1990: 11 f.) In diesem Zitat sind in nuce die Grundparameter der soziologischen Theorie Bourdieus wiedergegeben, die über die Kommunikationstheorie hinaus seinen Versuch kennzeichnen, eine soziologische Position jenseits von Subjektivismus und Objektivismus zu formulieren. Unter einer subjektivistischen Soziologie versteht Bourdieu eine solche, die das Soziale auf die Handlungen und Vorstellungen sozialer Akteure reduziert und dabei die den Akteuren vorausgehenden objektiven Strukturen ausblendet. Eine objektivistische Soziologie stellt vice versa eine solche dar, die die Handlungen und Vorstellungen der Akteure für ephemer erklärt und das Soziale allein in den objektiven Relationen und Strukturen ansiedelt. Wenn wir diese Position auf das Thema Kommunikation beziehen, so erklärt Bourdieu sowohl solche Theorien für einseitig und nicht ausreichend, die das Kommunizieren und Sprechen objektivistisch als Ableitung und pure Ausführung sprachlicher Regelsysteme begreifen, wie auch subjektivistisch Kommunikation auf eine Aggregation purer individueller Akte reduzieren und sowohl die Objektivität der Sprache wie auch die Sozialität der Akteure unberücksichtigt sein lassen. Man darf vermuten, dass nach Bourdieu alle bisher in dieser Einführung behandelten Theorien in der einen oder anderen Weise diesem Verdikt zum Opfer fallen würden. <?page no="203"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Schuetzeichel__Soziologische_Kommunikationstheorien(2)____[Druck-PDF]/ 13.08.2015/ Seite 204 204 11 Die Ökonomie des sprachlichen Tauschs Folgt man Bourdieu, so ist trotz dieser Unterschiede subjektivistischen und objektivistischen Theorien eine rationalistische, intellektualistische oder scholastische Tendenz gemeinsam. Sie betonen die Explizitheit, die Systematizität und Logizität sozialen Sinns und sind mentalistisch orientiert. Er stellt diesen intellektualistischen Theorien seine praxeologische Soziologie entgegen (vgl. Bourdieu 2001). Diese betont die Implizitheit sozialen Sinns, die Mehrdeutigkeit von sozialem Sinn und schließlich im Unterschied zum Bewusstsein oder Geist den menschlichen Leib als Ort des Wissens. In der praxeologischen Soziologie sollen die den subjektivistischen wie objektivistischen Ansätzen gemeinsamen Einseitigkeiten überwunden werden. Und wiederum bezogen auf unser Thema heißt das: Die Relation von Sprache und Sprechen ist wie diejenige von Regel und Praxis. Sprechen ist nur möglich, wenn eine Sprache existiert, aber gleichzeitig ist die Existenz einer Sprache nur im Sprechen gegeben. Im Sprechen wird eine Sprache aktualisiert, erneuert und modifiziert. Es handelt sich also um ein reziprokes Verhältnis von Sprache und Sprechen, von Regel und Praxis. Zentral für diese Soziologie sind drei Begriffe, denen wir uns zunächst widmen: Habitus, Feld und Kapital. 11.1 Habitus, Feld, Kapital »Wie können Verhaltensweisen geregelt sein, ohne dass ihnen eine Befolgung von Regeln zugrunde liegt? « (Bourdieu 1992: 86) Dies ist die Ausgangsfrage der soziologischen Theorie von Bourdieu-- und das Konzept des Habitus ist die Antwort darauf. Unter Habitus versteht Bourdieu das Dispositionssystem von Akteuren oder genauer »[…] Systeme dauerhafter Dispositionen, strukturierte Strukturen, die geeignet sind, als strukturierende Strukturen zu wirken, mit anderen Worten: als Erzeugungs- und Strukturierungsprinzip von Praxisformen und Repräsentationen.« (Bourdieu 1976: 165) Der Habitus sozialer Akteure ist eine gesellschaftlich bedingte Dispositionsstruktur, die ihrerseits für die Generierung und Strukturierung von gesellschaftlichen Praxisformen verantwortlich ist. Er setzt sich aus drei verschiedenen Schemata zusammen: den Wahrnehmungsschemata, mithilfe derer die Akteure ihre Umwelt wahrnehmen, den Denkschemata, die die kognitive Klassifikation und Bewertung von Umweltzuständen anleiten, und den Handlungsschemata, die die jeweiligen Praktiken der Akteure generieren. Der Habitus stellt ein vorreflexives Dispositionssystem dar, das von den Akteuren selbst nur bruchstückhaft diskursiv eingeholt werden kann. Er sozialisiert die menschlichen Körper, ist verantwortlich für die »leibliche Hexis« (Bourdieu 1987: 136) der Akteure, für ihre Körperhaltung, ihr Körperschema bis hin zu ihrer Motorik. Auch die sprachlichen und kommunikativen Kompetenzen der Akteure, von ihrem phonetischen Artikulationsverhalten bis hin zu ihren grammatikalischen Kompetenzen, sind durch ihren Habitus geprägt-- <?page no="204"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Schuetzeichel__Soziologische_Kommunikationstheorien(2)____[Druck-PDF]/ 13.08.2015/ Seite 204 www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Schuetzeichel__Soziologische_Kommunikationstheorien(2)____[Druck-PDF]/ 13.08.2015/ Seite 205 11.1 Habitus, Feld, Kapital 205 Bourdieu spricht von dem sprachlichen Habitus, den jeder soziale Akteur ausbildet und der jedem Akteur eigen ist. Der Habitus ist aber keine psychologische, sondern eine soziologische Kategorie. Er wird bestimmt durch die gesellschaftliche Position, die ein Akteur im sozialen Raum, im Netz der sozialstrukturellen Relationen einnimmt. Dabei zählt insbesondere, über welches kulturelle, ökonomische oder soziale Kapital ein Akteur verfügt. Der Habitus eines Akteurs kann folglich als Inkorporation äußerer sozialer Existenzbedingungen beschrieben werden. Er stellt eine »zur zweiten Natur gewordene, in motorische Schemata und körperliche Automatismen verwandelte gesellschaftliche Notwendigkeit« (Bourdieu 1982: 739) dar. Diese Inkorporation ist nicht als eine mechanistische zu verstehen. Soziale Existenzformen determinieren nicht den Habitus ihrer Akteure, wohl aber erlegen sie den Dispositionen spezifische Grenzen auf, die der Akteur in seinen Wahrnehmungen, seinen Denkweisen und seinen Handlungsformen kaum zu überschreiten vermag. Die sozialen Positionen schlagen also nicht deterministisch auf den Habitus durch, wohl aber ziehen sie Grenzen dessen, was den Akteuren möglich ist. Bourdieu bezeichnet deshalb den Habitus auch als einen ›modus operandi‹, der festlegt, wie welche Praktiken ausgeführt werden können. Zudem vergleicht Bourdieu (vgl. Bourdieu 1992: 30) den Habitus mit der generativen Grammatik von Chomsky. Nach Chomsky verfügen Sprachproduzenten über ein begrenztes System generativer sprachlicher Strukturen, mithilfe dessen sie unbegrenzt viele Äußerungen erzeugen können. Wie die generative Grammatik, so besitzt auch der Habitus die Fähigkeit, auf neue Situationen kreativ zu reagieren und neue Handlungen zu entwerfen. Der Habitus ist also nicht als eine Internalisierung sozialer Regeln zu verstehen, er stellt keine Rolle dar, sondern er kann als ein generatives Prinzip gelten, eine kreative Instanz, ein inneres Produktionssystem. Gleichwohl- - und dies im Unterschied zu Chomsky, der das grammatikalische Produktionssystem als angeboren betrachtet-- beruht der Habitus von Menschen auf Erfahrungen, die diese in der Interaktion mit anderen gemacht haben. Er ist also nicht angeboren, sondern selbst generiert in sozialen Verhältnissen. Der Habitus wird auch als ein Gegenprinzip zum soziologischen Regelbegriff angesehen (vgl. Bouveresse 1993, Taylor 1993). Bourdieu kritisiert dabei insbesondere die Vorstellung, dass die Regeln, die die Soziologie zur theoretischen Erklärung von Handlungen anführen, als Regeln der Praxis selbst ausgegeben werden. In Anlehnung an die Überlegungen Wittgensteins (siehe Kap. 10) erlaubt es der Habitus- Begriff, die soziale Welt als einen Ort von Regelmäßigkeiten aufzufassen und nicht als einen Ort von expliziten Regeln, die befolgt werden. Beziehen wir dies auf den sprachlichen Habitus: Das Sprechen, die verschiedenen Sprech- und Artikulationsformen, die den Menschen zur Verfügung stehen, kann nicht als eine Manifestation von sprachlichen Regeln begriffen werden. Das Sprechen ist nicht eine bloße Realisierung sprachlicher Regeln, sondern es ist eine soziale Praxis, in der die sprachlichen Regeln mit praktischem Sinn aufgeladen werden. <?page no="205"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Schuetzeichel__Soziologische_Kommunikationstheorien(2)____[Druck-PDF]/ 13.08.2015/ Seite 206 206 11 Die Ökonomie des sprachlichen Tauschs Fügen wir die verschiedenen Aspekte zusammen: Die Theorie des Habitus stellt das Gegenprogramm zu den intellektualistischen, sowohl subjektivistischen wie objektivistischen Theorieansätzen dar und trägt insofern eine enorme theoretische Last: Der Habitus ist im Akteur mental und körperlich verankert, er stellt zugleich aber auch ein kollektives, soziales und von daher dem Akteur präexistentes, dispositionelles Schema für sein Handeln und Erleben dar. Er ermöglicht ein praktisches Verstehen und gibt dem Akteur einen praktischen Sinn (sens pratique) für die Bewältigung von Situationen und Problemen an die Hand und ist nicht als ein explizites Regelsystem, sondern als ein implizites und inkorporiertes Wissensschema zu begreifen. Laut Bourdieu existiert die soziale Realität zweimal, sie existiert »in den Sachen und in den Köpfen, in den Feldern und in den Habitus, innerhalb und außerhalb der Akteure.« (Bourdieu / Wacquant 1996: 161) Neben dem Habitus verobjektiviert sich die soziale Realität auch in den verschiedenen Ordnungen und Institutionen des sozialen Raumes. Bourdieus Interesse gilt vornehmlich drei verschiedenen Ordnungen-- den sozialen Klassen als der vertikalen Differenzierung von Gesellschaften, den sozialen Feldern als der horizontalen Differenzierung von Gesellschaften und den sozialen Geschlechtern als der in allen sozialen Dimensionen vorzufindenden geschlechtlichen Arbeitsteilung. Diese Ordnungen stehen zum Habitus in einem komplementären Verhältnis. Es handelt sich um spezifische Praxisformen, die durch den Habitus sozialer Akteure generiert werden. Habitus und soziale Ordnungen bedingen einander. Um dies kenntlich zu machen, spricht Bourdieu von den beiden Existenzformen, in denen sich das Soziale manifestiert. Es handelt sich um die »Leib gewordene und Ding gewordene Geschichte« (Bourdieu 1985: 96), um den Habitus als der Leib gewordenen und den Ordnungen als der Ding gewordenen Gesellschaftsgeschichte. Die gesellschaftlichen Ordnungsstrukturen werden symbolisch produziert und reproduziert. Das heißt, dass die Relationen, in denen Menschen zueinander stehen, in und durch symbolische Formen zum Ausdruck gebracht werden. Unter symbolischen Formen versteht Bourdieu Relationen von Zeichen, die in signifikanter Form soziale Unterschiede markieren können. Dabei kann es sich um solch unterschiedliche Dinge handeln wie kulturelle Ausdrucksformen oder unterschiedliche Lebens- oder Sprechstile. Machen wir es uns an einem Beispiel klar. Wenn Herr und Frau Schmidt sich überlegen, mit welchem Gemälde sie ihr Wohnzimmer ausschmücken können, dann können sie sich je nach Geschmack für einen röhrenden Hirsch, eine Reproduktion eines Bildes von Monet oder eine Kopie von David Hockney entscheiden. Bilder sind symbolische Elemente, die für einen bestimmten Geschmack und Lebensstil stehen, der jeweils habituell verankert ist und auf das Milieu, die Schicht oder die Klasse verweist, die sich durch den Habitus reproduziert. Die Welt der symbolischen Formen reflektiert das System der gesellschaftlichen Ordnungen, und zwar in der Weise, dass die Unterschiede in den gesellschaftlichen Strukturierungen deutlich machen, in welchen Relationen die Menschen zueinander stehen. Ein röhrender <?page no="206"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Schuetzeichel__Soziologische_Kommunikationstheorien(2)____[Druck-PDF]/ 13.08.2015/ Seite 206 www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Schuetzeichel__Soziologische_Kommunikationstheorien(2)____[Druck-PDF]/ 13.08.2015/ Seite 207 11.1 Habitus, Feld, Kapital 207 Hirsch, eine Hockney- oder eine Monet-Kopie stehen also nicht für sich, sondern sie verweisen auf eine ganze Matrix von Möglichkeiten, die mit unterschiedlichem symbolischen Wert oder, wie Bourdieu auch sagt, mit unterschiedlichem symbolischen Kapital verknüpft sind. Und homolog verhält es sich mit der Kleidung oder eben mit sprachlichen Ausdrucksformen- - wenn jemand Genetivkonstruktionen beherrscht oder sein Sprechen durch ein bestimmtes Idiom gezeichnet ist, dann wird ihm das in der Matrix der gesellschaftlichen Unterschiede symbolisch zugerechnet. Der soziale Raum ist zum einen durch soziale Klassen strukturiert. Kriterium für die Unterscheidung von sozialen Klassen ist die Verfügbarkeit über Kapital. Bourdieu unterscheidet verschiedene Kapitalsorten: das symbolische, das soziale, das ökonomische und schließlich das kulturelle Kapital, das insbesondere aus dem sprachlichen Kapital von Akteuren besteht. Im symbolischen Kapital sind allgemein alle Formen versammelt, mit denen Akteure soziale Anerkennung erreichen können. Das ökonomische Kapital umfasst den materiellen Reichtum und den Besitz an Produktionsmitteln, das soziale Kapital umfasst diejenigen Ressourcen, die damit verbunden sind, dass man spezifische soziale Beziehungen aufrechterhalten kann oder in spezifische soziale Gruppen integriert ist. Von besonderem Interesse ist für unseren Zusammenhang das kulturelle Kapital. Bourdieu führt drei verschiedene Zustände kulturellen Kapitals an. In seinem inkorporierten Zustand sind mit dem kulturellen Kapital alle verinnerlichten und leiblich angeeigneten Kompetenzen, kulturellen Fertigkeiten, Wissensinhalte und Wissensformen gemeint, also das, was man in einem klassischen Sinne als Bildung bezeichnet. In seinem objektivierten Zustand umfasst kulturelles Kapital die Gemälde, Kunstwerke, Bücher etc., auf die ein Akteur zurückgreifen kann. Und in seiner institutionalisierten Form wird das kulturelle Kapital durch Bildungstitel realisiert, die ein Akteur erworben hat. Das kulturelle Kapital drückt sich aber insbesondere darin aus, wie ein Akteur sich sprachlich und schriftlich zu verständigen versteht und in welcher Relation seine Form der Verständigung zu den anderen am sprachlichen Markt gehandelten Verständigungsformen steht. Der soziale Raum der Klassen ist also nicht nur eine Form von diversen Kapitalsorten, über die die Akteure in unterschiedlicher Form und unterschiedlicher Kombination verfügen, sondern auch ein Feld von Relationen zwischen Klassen, Milieus, Gruppen oder Akteuren mit ihren unterschiedlichen Lebensstilen und Lebensführungen, die in symbolischer Weise artikuliert und durch den Habitus-- Bourdieu spricht auch vom Klassenhabitus-- reproduziert werden. Klassen und Milieus weisen unterschiedliche Konsumpraktiken auf, unterschiedliche sprachliche Codes und Ausdrucksweisen, unterschiedliche ästhetische Präferenzen, unterschiedliche Sportpraktiken usw.- - dies dokumentiert Bourdieu in seiner schon klassischen Studie über die »feinen Unterschiede« der französischen Gesellschaft der 1960er- und 1970er-Jahre (vgl. Bourdieu 1982). Das zweite wichtige Strukturprinzip, nach dem Gesellschaften differenziert und geordnet sind, ist die geschlechtliche Arbeitsteilung (vgl. Bourdieu 1997 u. 1998a). <?page no="207"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Schuetzeichel__Soziologische_Kommunikationstheorien(2)____[Druck-PDF]/ 13.08.2015/ Seite 208 208 11 Die Ökonomie des sprachlichen Tauschs Auch hier wirkt der Habitus als generierende und generierte Struktur. Der geschlechtliche Habitus ist wesentlich durch die Zweiteilung der Welt in eine männliche und eine weibliche geprägt. Dies lässt sich an der Art und Weise ablesen lässt, wie Dinge klassifiziert, wie soziale Räume aufgeteilt und wie körperliche Identitäten und psychische Dispositionen generiert werden-- eine Zweiteilung, die in der Regel antagonistisch konzipiert und antagonistisch erlebt wird. Wesentliches Medium des geschlechtlichen Antagonismus ist die Sprache und ihre semantischen Klassifikationsmöglichkeiten (vgl. hierzu auch die Studien von Lakoff 1987) Drittes, horizontales Differenzierungsprinzip des sozialen Raumes einer Gesellschaft ist die Ordnung der sozialen Felder. Soziale Felder wie etwa die Religion, die Wissenschaft, die Politik, die Kunst oder die Massenmedien (vgl. Bourdieu 1998b), um nur einige wenige zu nennen, weisen einen ›nomos‹, eine eigene Logik, Strukturen oder Regeln auf, die einen objektiven, von den Akteuren unabhängigen Gehalt haben. Diesen Regeln können sich die Akteure nicht entziehen. Gleichwohl haben die Regeln keinen determinierenden Charakter. Sie legen nicht die Handlungen oder Strategien der Akteure fest, sondern sie eröffnen Optionen, unter denen die Akteure wählen können. Es handelt sich nicht um regulative, sondern um konstitutive Regeln. Bourdieu verdeutlicht dies mithilfe der Analogie zu Wettkämpfen, z. B. dem Schachspiel. Die Regeln des Schachspiels konstituieren dieses Spiel. Das Schachspiel wird dadurch erzeugt, dass die Spieler sich den Regeln entsprechend verhalten. Aber die Regeln legen ja nicht die einzelnen Züge fest, sondern die Optionen, die den Spielern offenstehen. Wenn sie die Regeln befolgen, dann können die Spieler unterschiedliche Spielstrategien verfolgen. Sie müssen diese Regeln befolgen, sie müssen, wie Bourdieu sagt, eine ›illusio‹ einbringen, einen Glauben an und eine Identifikation mit dem Spiel, sonst treten sie aus dem Spiel aus. Aber die Regeln diktieren nicht die einzelnen Züge, nicht die einzelnen Handlungen, die von den Akteuren gewählt werden können. Entsprechend agieren die Akteure in den unterschiedlichen sozialen Feldern. Ihre strategischen Möglichkeiten sind dabei abhängig von dem Kapital, über welches sie verfügen, und dem Habitus, welcher sie leitet. Soziale Felder sind Kräftefelder, in denen es für die Akteure um vieles geht, in welchen sie in Konkurrenz zueinander stehen und um Positionen, Einfluss und Kapital ringen. 11.2 Kritik der intellektualistischen Kommunikationstheorien Kommen wir wieder auf Sprache und Kommunikation zurück. Bourdieu kritisiert soziologische und kommunikationstheoretische Ansätze des Intellektualismus dann, wenn sie sich allein auf die kommunikativen Handlungen und die Kompetenzen, die notwendig sind, um solche Handlungen hervorbringen zu können, richten. Sie sind intellektualistisch, weil sie von den sozialen Bedingungen der Produktion und Rezeption von kommunikativen Äußerungen abstrahieren, sei es in der Form, dass sie eine <?page no="208"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Schuetzeichel__Soziologische_Kommunikationstheorien(2)____[Druck-PDF]/ 13.08.2015/ Seite 208 www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Schuetzeichel__Soziologische_Kommunikationstheorien(2)____[Druck-PDF]/ 13.08.2015/ Seite 209 11.2 Kritik der intellektualistischen Kommunikationstheorien 209 Entität der Sprache als Regelsystem reifizieren, sei es in der Form, dass sie sprachliche oder kommunikative Akte aus dem sozialen Kontext des Sprechens abstrahieren. Diese Kritik trifft nicht nur linguistische Theorien von Ferdinand de Saussure bis hin zu Noam Chomsky (vgl. Bourdieu 1987: 57-64), sondern auch die sprechakttheoretisch argumentierenden Kommunikationstheorien, wie diejenigen von Searle oder Habermas. Die Sprechakttheorien schreiben nach Bourdieu den analytisch isolierten Sprechakten Kräfte (illokutionäre oder perlokutionäre Kräfte) zu, die diese nur vor dem Hintergrund von sozialen Kräfteverhältnissen und Machtkonstellationen entfalten können (vgl. Bourdieu 1990: 19 u. 52 f.). Sie isolieren kommunikative Einheiten von ihrem sozialen Kontext, sprechen diesen Einheiten aber dann Eigenschaften zu, die sie nicht sich selbst, sondern eben den objektiven sozialen Relationen verdanken. Der Intellektualismus hat »keine andere Wahl, als verzweifelt in der Sprache zu suchen, was doch in die Sozialbeziehungen gehört, in denen sie ihre Funktion erfüllt […].« (Bourdieu 1990: 12) Aus dem gleichen Grunde kritisiert Bourdieu auch den Hyper-Empirismus der ethnomethodologischen Konversationsanalyse, die seines Erachtens den sozialen Kontext von Konversationen außer Kraft setzt. Das Soziale, so Bourdieu, erschöpft sich nicht in den Interaktionen und Kommunikationen der Menschen, sondern es besteht aus einer objektiven Struktur von Relationen, welche die möglichen Formen von Interaktionen und Kommunikationen bestimmen. Dabei widerspricht Bourdieu nicht der These von der Autonomie der Sprache und ihrer Logik, wohl aber der These, dass der Sinn dessen, was gesagt wird oder verstanden wird, allein ein sprachlicher Sinn ist. Der soziale Sinn von kommunikativen Äußerungen ist nicht auf den sprachlichen, auch nicht auf den subjektiven, intentionalen Sinn dessen, was gemeint ist, zu reduzieren. Der soziale Sinn von kommunikativen Äußerungen ergibt sich aus ihrem Distinktionswert zu den sprachlichen Produkten, die ansonsten in ihrem sozialen Feld angeboten werden oder realisiert werden könnten. Er ergibt sich aus den institutionalisierten Machtverhältnissen, die dem Diskurs, der Interaktion, dem Sprechakt vorausgehen. »Die Grammatik definiert den Sinn nur ganz partiell, und erst in der Beziehung zu einem Markt wird die Bedeutung der Rede vollständig bestimmt. Einen Teil der Bestimmungen- - und nicht den geringsten- -, die zur praktischen Definition des Sinns führen, erfährt die Rede automatisch und von außen. Ursprung des objektiven Sinns, der in der sprachlichen Zirkulation erzeugt wird, ist zunächst der Distinktionswert, der sich aus der Beziehung ergibt, die die Sprecher bewußt oder unbewußt zwischen dem von einem gesellschaftlich bestimmten Sprecher angebotenen sprachlichen Produkt und den in einem bestimmten sozialen Raum gleichzeitig angebotenen Produkten herstellen.« (Bourdieu 1990: 12) Bourdieu (vgl. Bourdieu 1990: 12) betont die Inadäquatheit der Übertragungsmetapher für die Beschreibung von Kommunikationen wie auch die Relevanz der Rezeption für das Zustandekommen von Kommunikation-- und dies in zweierlei Hinsicht. Ohne die Dechiffrierung durch einen Empfänger stellen die sprachlichen Produkte <?page no="209"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Schuetzeichel__Soziologische_Kommunikationstheorien(2)____[Druck-PDF]/ 13.08.2015/ Seite 210 210 11 Die Ökonomie des sprachlichen Tauschs keine kommunikative Einheit, also keine Mitteilung dar. Und die Bedeutung dessen, was gesagt wird, hängt entscheidend von den Interpretationsschemata dessen ab, der eine Mitteilung versteht. Jeder Empfänger erzeugt die Mitteilung, die er wahrnimmt und interpretiert. Bourdieu spricht in diesem Zusammenhang von dem »Paradox der Kommunikation« (ebd.: 13). Dieses liegt darin begründet, dass Kommunikation zwar ein gemeinsames Medium voraussetzt, nämlich die Sprache, dass das Sprechen und das Verstehen von kommunikativen Äußerungen aber von situativ bedingten, individuellen Erfahrungen abhängt, von subjektiven Produktions- und Rezeptionsschemata, die die Sprachproduzenten im Laufe ihrer Habitualisierung erworben haben. Worte besitzen zwar einen festen Bedeutungskern, wie er oftmals in Wörterbüchern festgehalten ist, aber ihre spezifische kommunikative Bedeutung ergibt sich aus ihrem situativen Gebrauch. Bourdieu verdeutlicht dies am Unterschied der Denotation und der Konnotation von Worten. Die Denotation von Worten ist fest und objektiv. Die Konnotation hingegen, die individuellen Assoziationen, die mit ihnen verbunden sind, die Erfahrungen, auf die sie verweisen, sind in der Regel einzigartig, kontext- und situationsgebunden und abhängig von den durch den jeweiligen Habitus bedingten Erfahrungsmöglichkeiten. So wie sich der Wert von Aktien durch ihre auf spezifischen Finanzmärkten konstituierten Relationen zu anderen Aktien definiert, so werden nach Bourdieu die denotativen und konnotativen Bedeutungen von Worten auf Sprachmärkten konstitutiert, auf denen sich die von unterschiedlichen sozialen Gruppen und Klassen gebrauchten Bedeutungen treffen (vgl. Bourdieu 1990: 14 f.). 11.3 Strukturale Sprachsoziologie Bourdieus wissenschaftliches Interesse gilt den sozialen Bedingungen und Voraussetzungen der Kommunikation. Hierzu gehören in allererster Linie die sozialen Positionen, die von Personen im sozialen Raum, im Relationsgefüge der mit unterschiedlichen Kapitalien ausgestatteten Gruppen und Klassen eingenommen werden. Es gibt keine unschuldigen Worte mehr, so Bourdieu (vgl. Bourdieu 1990: 15), und man könnte hinzufügen: Es gibt kein unschuldiges Sprechen. Denn jeder sprachliche Ausdruck und jeder Ausdrucksstil führt einen spezifischen Distinktionswert mit sich, einen Wert, der sich durch ihre Stellung auf dem Sprachmarkt als dem Markt ergibt, auf dem die verschiedenen Sprachen, Soziolekte, Dialekte etc. miteinander um Anerkennung ringen. Jede sprachliche Artikulation verdankt ihren Stellenwert der Position, welche sie im System aller sozial möglichen Artikulationsformen einnimmt (vgl. Bourdieu 1974: 67). Dementsprechend fordert Bourdieu (vgl. Bourdieu 1990: 31) von einer strukturalen Sprachsoziologie, dass sie diese Homologien zwischen den strukturierten Systemen von sprachlichen Differenzen einerseits und den Strukturen sozialer Ungleichheit andererseits zu ihrem Gegenstand macht: <?page no="210"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Schuetzeichel__Soziologische_Kommunikationstheorien(2)____[Druck-PDF]/ 13.08.2015/ Seite 210 www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Schuetzeichel__Soziologische_Kommunikationstheorien(2)____[Druck-PDF]/ 13.08.2015/ Seite 211 11.3 Strukturale Sprachsoziologie 211 »Der eigentlich soziale Wert der sozialen Verwendung der Sprache liegt in ihrer Tendenz, Systeme von Unterschieden […] zu bilden, die das System der sozialen Unterschiede in der symbolischen Ordnung der differentiellen Unterschiede widerspiegeln. Sprechen heißt, sich eines der Sprachspiele anzueignen, die es bereits im Gebrauch und durch den Gebrauch gibt und die objektiv von ihrer Position in der Hierarchie der Sprachspiele geprägt sind, deren Ordnung ein Abbild der Hierarchie der entsprechenden sozialen Gruppen ist.« (Bourdieu 1990: 31; Hervorh. weggel.) Die strukturale Sprachsoziologie geht der Frage nach, wie sich die sozialen Unterschiede im Medium der Sprache reproduzieren. Im Unterschied zu Kompetenztheorien wie denjenigen von Chomsky oder Habermas, die die universalen Prinzipien sprachlicher oder kommunikativer Kompetenz zu rekonstruieren suchen, ist die strukturale Sprachsoziologie an den Kompetenzen interessiert, die Sprecher erwerben müssen, um sich in ihrer Gruppe, ihrer Schicht, ihrem Milieu verständigen zu können, um Gehör zu finden, um verstanden zu werden, und diese Kompetenzen sind nicht rein grammatikalische. Sondern es sind Kompetenzen, die damit verbunden sind, dass man den Distinktionswert berücksichtigen kann, die die unterschiedlichen Sprachen mit ihren Soziolekten und Dialekten und Sprachspielen auf dem sprachlichen Markt haben. Oder mit anderen Worten: Es sind Kompetenzen, die sich in dem jeweiligen sprachlichen Kapital der Sprachbenutzer manifestieren. Dementsprechend ist der Gegenstand der Bourdieu’schen Sprachsoziologie auch nicht die Sprache, sondern das Sprechen oder, noch genauer, die Artikulationsmöglichkeiten, die auf dem Markt möglicher Artikulationsformen miteinander ringen und deshalb symbolischen Charakter annehmen. »Tatsächlich bilden, im Unterschied zum spezifisch linguistischen System, die symbolischen Systeme, die man Kundgabesysteme nennen kann […], hierarchische Systeme, die sich in Beziehung auf einen Fixpunkt hin gliedern, z. B. die ›vornehmen‹ Manieren der ranghöchsten Gruppe oder, im Gegenteil, ›gemeine‹ Manieren der Gruppen niederen Ranges. Da das Prinzip der Kundgabesysteme nichts anderes ist als die Suche nach Unterscheidung oder, genauer gesagt, nach Distinktion, im Sinne eines Unterscheidungsmerkmals […], wird man verstehen, warum die Standesgruppen dazu neigen, sich voneinander durch mehr oder weniger subtile Gegensätze zu unterscheiden.« (Bourdieu 1974: 68 f.) Entsprechend den Hierarchien der Sprachen auf dem Sprachmarkt verfügen die Sprecher über unterschiedliches sprachliches Kapital (vgl. Bourdieu 1990: 32), wobei diejenigen über das höchste Kapital gebieten, die die als legitim anerkannten Diskurs- und Stilformen beherrschen, also z. B. über eine besondere Bildungssprache verfügen oder spezifische Diskurse beherrschen, die im politisch-administrativen oder kulturellen Sektor dominant sind (vgl. Collins 1993). Mit unterschiedlichen Sprachstilen und Artikulationsmöglichkeiten lassen sich also unterschiedliche Distinktionsgewinne erzielen. Das sprachliche Kapital beruht auf den Sprachstilen, die ein Sprecher beherrscht, und ihrem Distinktionswert, den diese auf dem Sprachmarkt oder dem <?page no="211"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Schuetzeichel__Soziologische_Kommunikationstheorien(2)____[Druck-PDF]/ 13.08.2015/ Seite 212 212 11 Die Ökonomie des sprachlichen Tauschs objektiven Sprachfeld realisieren können. Bourdieus Entwurf einer strukturalen Sprachsoziologie ersetzt die Frage nach den Sprach- oder Kommunikationskompetenzen durch die Frage nach dem sprachlichen Kapital, über welches Sprecher aufgrund ihrer habitualisierten Kompetenzen verfügen, wobei das Sprachkapital als spezifische Manifestation des kulturellen Kapitals betrachtet werden kann. Und wie das kulturelle Kapital im Allgemeinen, so ist auch das sprachliche Kapital wesentlich abhängig von zwei Faktoren, nämlich der Familie, der ein Sprecher entstammt, und der Stufe im System der Bildung, welche er erreichen konnte. In jedem Diskurs, in jeder Interaktion ist von daher die ganze Sozialstruktur präsent (vgl. Bourdieu 1990: 63). Bourdieu bezieht sich dabei exemplarisch auf die Arbeiten von William Labov (vgl. Labov 1980b) über die Hyperkorrektheit im sprachlichen Ausdruck, die unteren Mittelschichten eigen ist. Untere Mittelschichten orientieren sich in ihrer Phonetik so sehr an den, von den und für die Oberschichten geltenden Standards, dass sie überkorrekt werden, diese Standards in formaler Hinsicht also wesentlich stärker berücksichtigen als die Oberschicht selbst, die sich ihre Unterkorrektheiten leisten kann, für die eine solche möglicherweise sogar zum guten Ton gehört. Vertreter der unteren Mittelschicht besitzen nach Labov eine Hypersensitivität für solche sprachlichen, insbesondere phonetischen Merkmale, die stigmabildend sind, also die Zuordnung zu gesellschaftlichen Statuspositionen ermöglichen. Entsprechend ist wiederum die Kritik von Bourdieu an den intellektualistischen Kommunikationstheorien, dass der sprachliche Austausch nicht erschöpfend beschrieben sei, wenn er auf reine Chiffrierungs- und Dechiffrierungsprozeduren reduziert werde. Jeder sprachliche Austausch ist auch ein ökonomischer Austausch. Sprache ist nicht nur reines Kommunikationsmittel, sondern auch ein Mittel der Produktion und Reproduktion von Reichtum und Autorität. Und gegen Kommunikationstheorien gewendet, die den Akt der Informationsaktualisierung oder -übertragung in den Mittelpunkt stellen, führt Bourdieu an, dass »[…] in der Praxis des Sprechens außer der Information, die als solche deklariert wird, ganz unvermeidlich auch noch eine Information zu der (differenzierenden) Art und Weise des Kommunizierens übermittelt wird, das heißt zum Sprachstil, der mit Bezug auf das Universum der theoretisch und praktisch konkurrierenden Stile wahrgenommen und bewertet wird und dadurch einen sozialen Wert und symbolische Wirksamkeit bekommt.« (Bourdieu 1990: 45) Wie jedes Kapital, so kann auch das Sprachkapital unterschiedlichen Profit abwerfen. Bei den sprachlichen Zeichen, die jemand benutzt, handelt es sich um Güter, die einen bestimmten Preis haben und unterschiedlichen Kredit verschaffen können. Entsprechend orientieren sich nach Bourdieu die Sprachbenutzer bei der durch ihren Habitus bedingten Selektion ihrer Mitteilungsformen daran, welchen Preis sie erzielen und welchen Kredit sie sich erwerben können. Sie wissen, dass es niemals nur um reine Kommunikation geht, sondern sie immer auch ihren Habitus mitkommunizieren und auf ihr sprachliches Kapital hin bewertet werden. Und der Preis und das <?page no="212"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Schuetzeichel__Soziologische_Kommunikationstheorien(2)____[Druck-PDF]/ 13.08.2015/ Seite 212 www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Schuetzeichel__Soziologische_Kommunikationstheorien(2)____[Druck-PDF]/ 13.08.2015/ Seite 213 11.4 Symbolische Macht 213 Kreditvermögen ihres sprachlichen Einsatzes richten sich nach objektiven Regeln des sprachlichen Marktes. Dies führt nach Bourdieu dazu, dass der sprachliche Markt mit seiner Distinktionspraxis das Reden und das Schweigen der Sprecher wesentlich mitbestimmt. Die Sprecher müssen, wenn sie vor dem Hintergrund ihres Sprachkapitals bestimmte Preise realisieren wollen, sich einer Selbstzensur unterwerfen, die nicht nur das betreffen kann, was mitgeteilt werden soll, sondern gerade auch die Form der Mitteilung selbst. Sie müssen sich an dem orientieren, was sie für akzeptabel halten. Der sprachliche Markt bestimmt also wie jeder andere Markt auch die Güter, die auf ihm gehandelt werden können, und das heißt in unserem Fall: Er bestimmt maßgeblich die Inhalte, über die und die Formen, mit denen kommuniziert werden kann. Von unseren ersten kommunikativen Schritten an, so Bourdieu, müssen wir unsere sprachlichen Produkte auf Märkten anbieten, zunächst in unserer Familie, die uns aufgrund ihrer Position im sozialen Raum Modelle für unser Sprechen offeriert, dann in den verschiedenen Instituten des Erziehungs- und Bildungssystems. Alle diese sozialen Räume fungieren als sprachliche Märkte, auf denen unsere sprachlichen Angebote bestätigt und akzeptiert oder negativ sanktioniert und verworfen werden. Sie geben die Akzeptabilitätsbedingungen unseres Sprechens vor, an denen wir uns orientieren müssen, wenn wir verstanden werden und an Kommunikationen teilhaben wollen. Und diese Akzeptabilitätsbedingungen, die unseren Habitus formen, betreffen nicht nur unser sprachliches Ausdrucksvermögen, sondern verankern sich tief in unserer körperlichen Erscheinung und unserem Körperschema, dem, was Bourdieu die Hexis des Körpers nennt, die maßgeblich für unsere Körpersprache und unser phonetisches Verhalten ist. 11.4 Symbolische Macht Die Art und Weise unseres Sprechens weist sich nicht nur als eine spezifische Kapitalform aus, sondern die Macht der Wörter beruht auf der Macht des Sprechers (Bourdieu 1990: 73) und wird von daher zu einer symbolischen Macht. Die Sprache wird zu einer Macht, weil sie unsere soziale Welt in Akten des Benennens konstruiert. Dies wird nirgends so deutlich wie in den Klassifikationen, mit denen wir Menschen eine soziale oder kollektive Identität zuschreiben. Benennungen, seien es nationale oder ethnische, Altersgruppen oder Geschlechter, formen durch ihre Klassifikationen die soziale Welt, geben der einen Gruppe eine Identität, indem sie sie von anderen Gruppen unterscheiden. Benennungen sind nicht nachträgliche Bezeichnungen, sondern gruppen- und identitätsstiftende Konstruktionen, deren symbolische Macht wiederum von der Positionierung der Sprecher im sozialen Raum abhängt. Aber nicht nur in Akten des Benennens erweist sich die Sprache als eine symbolische Macht, sondern in allen Formen sozialer Praxis und ihrer Diskurse. Bourdieu demonstriert dies am Beispiel liturgischer Diskurse, seien es Gottesdienste, Tauf- oder <?page no="213"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Schuetzeichel__Soziologische_Kommunikationstheorien(2)____[Druck-PDF]/ 13.08.2015/ Seite 214 214 11 Die Ökonomie des sprachlichen Tauschs Sterbesakramente. Die Macht der religiösen Sprache kann sich nur dort entfalten, wo sie als legitim anerkannt wird. Die Legitimität der religiösen Sprache hängt wiederum davon ab, ob sie in der Lage ist, legitime Sprecher und Empfänger zu konstruieren, also von dem Glauben der Beteiligten, aber nicht im Sinne des religiösen Glaubens, sondern des Glaubens im Sinne der ›illusio‹ an den Ernst des Spiels. »Die symbolische Wirkung der Wörter kommt nur in dem Maße zustande, wie derjenige, der ihr unterliegt, denjenigen, der sie ausübt, als den zur Ausübung Berechtigten anerkennt beziehungsweise, was auf dasselbe hinausläuft, wie er sich selbst in der Unterwerfung als denjenigen vergißt und nicht wiedererkennt, der durch seine Anerkennung dazu beiträgt, dieser Wirkung eine Grundlage zu geben. Sie beruht gänzlich auf dem Glauben, der die Grundlage des Amtes ist- - also auf einer gesellschafltlichen Fiktion-- und der viel tiefer geht als der Glaube und die Mysterien, von denen das Amt kündet und für die es steht.« (Bourdieu 1990: 83) Die Sprache hat eine symbolische Macht, aber diese symbolische Macht beruht auf den Institutionen und Ordnungen, in denen sie kommunikativ verwendet wird. 11.5 Zwischenbilanz In der Kommunikationstheorie von Bourdieu stehen die sozialen Selektionsbedingungen der Kommunikation eindeutig im Mittelpunkt. Sein Interesse gilt der Frage, welche kommunikativen Handlungen aufgrund welcher sozialen Machtverhältnisse selektiert werden können. Er befasst sich weniger mit Kommunikationsakten oder Kommunikationsprozessen als solchen, sondern den sozialen Konstellationen und Bindungskräften wie Habitus, Feldern, gesellschaftlichen Differenzierungen, Macht, Diskurs und Autorität, die die Kommunikation strukturieren. Bourdieus Sprach- und Kommunikationssoziologie bezieht das Sprechen und Kommunizieren auf soziale Ordnungsstrukturen. Sein Interesse richtet sich auf den sprachlichen Habitus, der durch die Position von Sprechern im Felde der sozialen Herrschafts- und Kapitalverhältnisse und durch die Stellung auf dem Markt möglicher Sprach- und Kommunikationsformen konstituiert wird. Seine Kritik gilt den intellektualistischen Theorien, die die Sprech- und Kommunikationsformen aus den sozialen Relationen abstrahieren und ihnen deshalb Eigenschaften zusprechen, die nur dem gesellschaftlichen Gefüge geschuldet sein können. Der sprachliche Habitus ist maßgeblich für die Produktion wie auch für das Verstehen von Sprachakten. Der soziale Sinn von kommunikativen Äußerungen ergibt sich nicht aus dem sprachlichen Sinn, nicht aus den Sprecherintentionen, sondern aus dem Distinktionswert dieser Äußerungen im Gefüge der auf dem Sprachmarkt angebotenen Äußerungsmöglichkeiten. Das individuelle Sprechen muss sich an den Akzeptabilitätsbedingungen, den Diskurs- und Stilbedingungen orientieren, welche der Position bzw. der sozialen Gruppe, <?page no="214"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Schuetzeichel__Soziologische_Kommunikationstheorien(2)____[Druck-PDF]/ 13.08.2015/ Seite 214 www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Schuetzeichel__Soziologische_Kommunikationstheorien(2)____[Druck-PDF]/ 13.08.2015/ Seite 215 11.5 Zwischenbilanz 215 der der Sprecher angehört, gemäß sind. Kommunikation kann nicht auf den Aspekt des Informationsaustauschs reduziert werden, sondern stellt ein Mittel der Produktion und Reproduktion von gesellschaftlichen Verhältnissen dar. Basislektüre: Bourdieu, Pierre (1990): Was heißt sprechen? Die Ökonomie des sprachlichen Tauschs. Wien. Einführungsliteratur: Fuchs-Heinritz, Werner / König, Alexandra (2014): Pierre Bourdieu. 3. Aufl. Konstanz. Weiterführende Literatur: Gebauer, Gunter / Wulf, Christoph (Hg.) (1993): Praxis und Ästhetik. Neue Perspektiven im Denken Pierre Bourdieus. Frankfurt am Main. Fröhlich, Gerhard / Rehbein, Boike (Hg.) (2014): Bourdieu-Handbuch. Leben, Werk, Wirkung. Stuttgart. <?page no="215"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Schuetzeichel__Soziologische_Kommunikationstheorien(2)____[Druck-PDF]/ 13.08.2015/ Seite 216 <?page no="216"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Schuetzeichel__Soziologische_Kommunikationstheorien(2)____[Druck-PDF]/ 13.08.2015/ Seite 216 www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Schuetzeichel__Soziologische_Kommunikationstheorien(2)____[Druck-PDF]/ 13.08.2015/ Seite 217 217 12. Cultural Studies Die Cultural Studies bilden einen transdisplinären Forschungszusammenhang, der in den letzten Jahrzehnten einen erheblichen Einfluss auf die Kulturwissenschaften wie auch auf die Soziologie gewonnen hat. Sie befassen sich mit dem Verhältnis von Kultur, Identität und Macht. Die wichtigsten Entwicklungen der Cultural Studies gehen auf die Forschungen in den 1960er-Jahre am ›Birmingham Centre for Contemporary Cultural Studies‹ (CCCS) zurück. Dieses Zentrum wurde 1964 von dem kritischen Marxisten und Literaturwissenschaftler Richard Hoggart gegründet (und löste sich im Juli 2002 auf ). Die Cultural Studies sind, wie später Stuart Hall (1980b, 1990) formulieren wird, auf eine ›Crisis of the Humanities‹, also die Krise der traditionellen, an einem bürgerlichen Kanon orientierten Geisteswissenschaften zurückzuführen. Aber wie die anderen in dieses Projekt involvierten Wissenschaftler sah Hoggart auch die Cultural Studies nicht in erster Linie als ein akademisches Unternehmen an, sondern als ein politisches und ein kulturelles Projekt, welches seine wichtigen Adressaten in sozialen Bewegungen und zivilgesellschaftlichen Öffentlichkeiten zu finden suchte. Das Forschungsziel in der frühen Phase bestand darin, einen adäquaten, gegen die ›Humanities‹ und das bürgerliche Verständnis einerseits, gegen einen dogmatischen Marxismus andererseits gerichteten Kulturbegriff zu entwickeln. Es geht um eine Analyse der der ›hohen Kultur‹ entgegengesetzten ›Popularkultur‹ oder der Kultur der Arbeiter (vgl. Storey 2012). Hoggart (1957) selbst hatte in seinem Klassiker über »The Uses of Literacy« Kulturen der Arbeiterklasse minutiös untersucht und dabei einen negativen, verarmenden Einfluss der kommerziellen Massenkultur auf die Arbeiterkultur festgestellt. Neben Hoggart war diese frühe Phase von zwei weiteren herausragenden Wissenschaftlern geprägt, von Raymond Williams und von Edward Thompson, die alle in einem lockeren Diskussions- und Arbeitszusammenhang standen und trotz wichtiger politischer und theoretischer Berührungspunkte keine gemeinsame wissenschaftliche Programmatik ausarbeiteten. Der Historiker Edward Thompson, dessen viel gerühmtes Werk über »The Making of the English Working Class« (1963) der Genese und Entwicklung der Kultur der englischen Arbeiterklasse nachspürte, war gleichsam schon aufgrund seiner wissenschaftlichen Disziplin der Konflikttheoretiker unter den frühen Vertretern der Cultural Studies. Kultur ist nach Thompson eingebettet in gesellschaftliche Konflikte und sie ist Ausdruck dieser Konflikte. Der Literaturwissenschaftler und Soziologe Raymond Williams (1958) bestimmte schließlich ›Kultur‹ in wegweisender Hinsicht und in Abgrenzung zur bürgerlichen Vorstellungen als ›a whole way of life‹, als den symbolischen Raum, in dem eine Gemeinschaft oder Gesellschaft ihre Erfahrungen reflektiert. Eine Verschiebung in der Thematik wie in der Theorie findet sich mit der Übernahme der Leitung des CCCS durch Stuart Hall im Jahre 1969. Theoretisch änderten sich die Grundlagen der Cultural Studies insofern, als man sich nun verstärkt strukwww.claudia-wild.de: <?page no="217"?> [UTB-M]__Schuetzeichel__Soziologische_Kommunikationstheorien(2)____[Druck-PDF]/ 13.08.2015/ Seite 218 218 12. Cultural Studies turalistischen Positionen zuwendete. Insbesondere der Strukturalismus wurde für diese zweite Generation der Cultural Studies um Hall bedeutsam, da er die Sprache als ein symbolisches System auffasste, das alle unsere Erfahrungen vorstrukturiert und prägt. Von daher erklärt sich die Distanz zu den theoretischen Positionen der ersten Generation. Während diese von der Möglichkeit eines unmittelbaren Zugriffs auf die Alltagserfahrungen von Menschen ausging, wandte man sich nun den strukturalen Ordnungen zu, die den Alltagserfahrungen und überhaupt dem Handeln der Menschen voraus liegen. Thematisch veränderte sich der Schwerpunkt insofern, als man nun verstärkt marginalisierte Kulturen wie jugendliche Subkulturen und Migrantenkulturen in den Blick nahm. Dieser Übergang wurde von Hall in seinem Text über die zwei Paradigmen der Cultural Studies (Hall 1980b) reflektiert. In einer Auseinandersetzung mit Raymond Williams stellt er dessen Werk als ein Werk des Übergangs dar, in welchem noch verschiedene Kulturbegriffe miteinander ringen, nämlich ein älterer, der Kultur im bürgerlichen Sinne auf Ideen reduziere, und ein neuerer, der Kultur als Praxis verstehe. Später stellt Hall den Kulturalismus dem Strukturalismus gegenüber und setzt sich damit gegen die Vorgängergeneration ab. Der Kulturalismus der ersten Generation der Cultural Studies habe die kulturelle Lebenswelt und die kulturellen Erfahrungen von Klassen in ihren sozialgeschichtlichen Dimensionen untersucht. Der Strukturalismus hingegen beschäftige sich mit der diskursiven Formation von Kulturen. Während der Kulturalismus die Subjekte, also die handelnden Individuen der Arbeiterklasse in den Mittelpunkt ihrer Studien gestellt habe, analysiere der Strukturalismus die Konstitution von Subjekten in und durch die diskursiven Formationen. Der Kulturalismus behaupte also eine Position, in der Subjekte Kultur produzieren, der Strukturalismus eine Position, in welcher kulturelle Diskurse ›Subjekte‹ produzieren. Oder anders formuliert: Dem Kulturalismus zufolge sind Erfahrungen das Fundament des sozialen Lebens, während der Strukturalismus betont, dass Erfahrungen nur im Rahmen von Kategorien, Klassifikation und Diskursen gemacht werden können. Später wurde dieser Strukturalismus durch die Hegemonietheorie von Antonio Gramsci ergänzt. Damit rückten Machtverhältnisse und das hegemoniale Ringen um die ideologische Vorherrschaft und politische Macht auf dem Felde der Kultur in den Blickpunkt der Forschungen. Kultur kann damit als ein gesellschaftliches Feld begriffen werden, in dem Gruppen und Klassen um eine hegemoniale Position kämpfen. Kultur ist also eine Arena des Politischen, in der man um gesellschaftliche Macht ringt und durch diese Kämpfe soziale Identitäten produziert werden. Die späten Cultural Studies legen ein Triumvirat von Konzepten zugrunde: Kultur-- Macht-- Identität. Es kennzeichnet die Cultural Studies, dass sie die wechselseitigen Artikulationsverhältnisse zwischen diesen drei Phänomenen untersucht: Wie bilden sich im Bereich der Macht Identitätszuschreibungen und kulturelle Diskurse, wie artikulieren sich in der Kultur Machtbeziehungen und Identitäten, und wie sind Identitätszuschreibungen als Artikulationen von Macht und Kultur zu verstehen? Alle diese Phänomene haben ihren Ort nicht in irgendwelchen spezifischen gesellschaftliwww.claudia-wild.de: <?page no="218"?> [UTB-M]__Schuetzeichel__Soziologische_Kommunikationstheorien(2)____[Druck-PDF]/ 13.08.2015/ Seite 218 www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Schuetzeichel__Soziologische_Kommunikationstheorien(2)____[Druck-PDF]/ 13.08.2015/ Seite 219 12.1 Encoding and Decoding 219 chen Feldern, sondern alle Felder einer Gesellschaft beruhen auf einer wechselseitigen Spiegelung von Kultur, Macht und Identität. Vielleicht könnte man noch genauer formulieren: Diese Phänomene artikulieren sich nicht nur wechselseitig, sondern durch diese Artikulation werden sie zu einer Synthese gebracht: Macht ist Identität, so wie Identität Kultur ist und Kultur Macht. 12.1 Encoding and Decoding Von herausgehobener Bedeutung für die Cultural Studies ist die Theorie der Medienkommunikation von Stuart Hall. Diese kennt man als das Encoding-Decoding- Modell, sie geht auf einen gleichnamigen Aufsatz von Hall aus dem Jahre 1973 zurück, der in einer überarbeiteten Form 1980 erschienen ist. Hall orientiert sich kritisch an der historisch-materialistischen Analyse von ökonomischen Kreisläufen und Prozessen, die in die Phasen bzw. Sphären der Produktion, Zirkulation bzw. Distribution wie Konsumtion unterschieden werden und eine Vorrangstellung der Produktionssphäre gegenüber den anderen Sphären vorsehen. Wichtig ist auch die Hegemonie-Theorie von Antonio Gramsci. Gramsci hatte in seiner Kritik des traditionellen, marxistischen Basis-Überbau-Modells auf die Bedeutung von kulturellen, normativen, ideologischen und massenmedialen Faktoren zur Herstellung von hegemonialen Verhältnissen und die Integration von Gesellschaften hingewiesen. Hall entwirft nun eine Kommunikationstheorie, die sich an der analytischen Modellierung des ökonomischen Kreislaufs orientiert, aber die Zirkulation und Konsumtion von Bedeutungen nicht als ein gegenüber ihrer Produktion abgeleitetes, sekundäres Phänomen betrachtet. Informationen, Nachrichten, Aussagen oder generell kommunikative Offerten erhalten ihre Bedeutung erst im Kontext des gesamten Kommunikationsprozesses, also durch die Strukturen, in denen sie artikuliert werden. Die Artikulation von etwas ist ein polyvalentes, strukturdeterminiertes Phänomen. Zwei Strukturebenen haben eine konstituierende Rolle, das jeweilige Medium einerseits, also beispielsweise der Sprache, sowie die sozialen Institutionen wie technischen Apparaturen andererseits, in denen sich Kommunikation vollzieht, also beispielsweise beim Fernsehen die technischen Infrastrukturen, die Aufnahme- und Übertragungsmöglichkeiten und die Gebrauchs- und Rezeptionsweisen. Hall konzipiert Kommunikation als eine Zirkulation von Bedeutungen und unterscheidet diesbezüglich die Produktion (Encoding) und die Konsumption (Decoding) von Bedeutungen, die dann wiederum zu einer neuen Produktion führen kann. In diesem Aufsatz setzt Hall ein lineares gegen ein semiotisches Kommunikationsmodell ab. Lineare Kommunikationsmodelle gehen davon aus, dass ein Empfänger die Bedeutung einer Information so aufnimmt, wie sie von einem Sender gemeint bzw. in einem symbolischen System codiert wurde. Nach Hall übersehen solche einfachen, linearen Kommunikationsmodelle (siehe hierzu in Kap. 1.2 die klassische Kommuniwww.claudia-wild.de: <?page no="219"?> [UTB-M]__Schuetzeichel__Soziologische_Kommunikationstheorien(2)____[Druck-PDF]/ 13.08.2015/ Seite 220 220 12. Cultural Studies kationstheorie von Shannon und Weaver) den Umstand, dass sprachliche Aussagen auf sprachlichen Konstruktionen beruhen und demnach nicht in einer eindeutigen, sondern nur immer in einer vieldeutigen Weise und mitunter auch verzerrt verstanden werden können. Wie die Systemtheorie, so kritisiert also auch die Kommunikationstheorie der Cultural Studies einfache Übertragungsmodelle wie auch behavioristische Stimulus-Response-Modell, in denen Aspekte der Interpretation und Rezeption wie auch des situativen Kontextes der Konstruktion und Artikulation von Bedeutungen nicht vorgesehen sind. Damit werden also auch solche Kommunikationsmodelle einer Kritik unterzogen, die die Rezipienten bzw. ›Empfänger‹ als passive Resonanzkörper behandelten, in denen sich eine Botschaft oder Information ablagert. Die Cultural Studies betrachten den Rezipienten als einen aktiven, bedeutungskonstituierenden Faktor von Kommunikation. Der Kommunikationsprozess ist somit ein konstruktiver, interpretativer, kontextabhängiger Prozess, der unterschiedlichen hegemonialen oder subversiven Strategien offensteht. Bedeutungen sind nicht eindeutig fixierbar, sondern sie entwickeln sich im Kommunikationsprozess selbst, und Kommunikationsprozesse finden nicht in einer sozialen Isolation statt, sondern unter sozialen Bedingungen, die durch die oben schon beschriebene Triangulation von Macht, Kultur und Identität stattfinden. Berücksichtigt man diesen Kontext, dann muss damit im Sinne der Cultural Studies auch die Funktion von Kommunikation anders betrachtet werden. Kommunikation hat nicht die einfache Funktion, einen Informationsfluss herzustellen, sondern die Funktion, kulturelle Hegemonien herbeizuführen bzw. solchen zu widerstreiten. In dem Kommunikationsmodell der Cultural Studies wird damit der hegemoniale Einfluss der Medien nicht unterschätzt. Es handelt sich nicht um ein konstruktivistisches Modell in dem Sinne, dass ein jeder Kommunikationsteilnehmer Herr seiner Interpretationen und Bedeutungssetzungen ist. Es handelt sich auch nicht um ein technizistisches Kommunikationsmodell insofern, dass Kommunikationstechnologie wie beispielsweise seinerzeit das Radio oder heutzutage das Internet von sich aus gewisse emanzipatorische Potenziale entfalten. Nicht die Kommunikatonstechnologien selbst, sondern die politischen Konstellationen, in denen sich diese Kommunikationstechnologien entfalten können, bilden das entscheidende Gravitationszentrum. Ob Kommunikationstechnologien emanzipatorisch oder manipulativ eingesetzt werden, hängt nicht von diesen Technologien ab, sondern von den politischen Konstellationen und den gesellschaftlichen Kräfteverhältnissen. Im Rahmen der Cultural Studies gibt es verschiedene Ausarbeitungen dieser kommunikationstheoretischen Prämissen. Das bekannteste und einflussreichste Modell ist aber sicherlich das Encoding-Decoding-Modell von Stuart Hall. Dieses Modell geht davon aus, dass Kommunikation einen Prozess darstellt, der vier eigenständige Phasen durchläuft. Jede dieser Phasen besitzt eine relative Autonomie, d. h. sie kann eigene Bedeutungen setzen. Dabei handelt es sich um die folgenden Phasen: Produktion, Zirkulation, Distribution (Nutzung oder Konsumtion) und Reproduktion (Hall <?page no="220"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Schuetzeichel__Soziologische_Kommunikationstheorien(2)____[Druck-PDF]/ 13.08.2015/ Seite 220 www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Schuetzeichel__Soziologische_Kommunikationstheorien(2)____[Druck-PDF]/ 13.08.2015/ Seite 221 12.2 Lesarten von Kommunikation 221 1980a). In diesen Phasen verkörpern sich komplexe soziale Mächte bzw. Institutionen. Wie sieht dieses Modell im Einzelnen aus? Hall exemplifiziert dieses Modell am Beispiel des Fernsehens. Seine Analyse kann mit Marchart in der folgenden Weise zusammengefasst werden: »Ein auftretendes Ereignis wird von einem medialen Apparat auf Basis der in diesem Apparat gemäßen Regeln und Diskurse in ›Nachrichtenform‹ gebracht, zugleich aber vor dem Hintergrund des allgemeinen gesellschaftlichen Diskurshorizontes, also bestimmter zur Verfügung stehender Kodes, mit Bedeutung ausgestattet. Kann eine Nachricht mit keinen oder nur mit randständigen Diskursen in Verbindung gebracht werden, besitzt sie keinen Nachrichtenwert. Auf der anderen Seite kann eine Nachricht nur unter Einsatz der dem Empfänger zu Verfügung stehenden Bedeutungsstrukturen dekodiert werden. Beide Seiten, die Bedeutungsstrukturen 1 und die Bedeutungsstrukturen 2, können in unterschiedlichem Ausmaß überlappen. Wenn sie das an keinem Punkt tun, wenn also gänzlich unterschiedliche Kodes in Anschlag gebracht werden, kann keinerlei Verständigung und Konsens bezüglich der Bedeutung der Botschaft hergestellt werden (was nicht heißt, dass Kommunikation als solche deshalb schon gescheitert wäre, denn auch Unverständnis oder Radikalopposition gegenüber der Botschaft ist eine Form von Kommunikation). Wenn die Bedeutungsstrukturen oder besser: Lesarten der Botschaft hingegen vollständig überlappen, dann wird die Botschaft in der Tat so ›empfangen‹, wie sie intendiert war.« (Marchart 2007: 145 f.) 12.2 Lesarten von Kommunikation Dieses Modell sieht vor, dass zwischen den Phasen der Produktion und der Reproduktion (Rezeption) andere Einflussgrößen eingeschaltet sind, die eine direkte Beeinflussung der Reproduktion oder Rezeption durch die Produktion unmöglich machen. Zugleich sind diese Phasen in den Möglichkeiten, Bedeutungen zu generieren, auch immer durch den Kreislauf insgesamt begrenzt. Sie sind nicht autonom, sondern haben nur eine ›relative Autonomie‹. Hall geht also in seinem Kommunikationsmodell von zwei Kommunikatoren mit ›autonomen‹, jeweils selbstbezüglich organisieren Bedeutungsstrukturen aus. Er unterlässt es, genauer zu begründen, wie sich Bedeutungsstrukturen oder eben ›Codes‹, also bestimmte Zuordnungsregeln von Signifkat und Signifikant oder von Zeichen und Vorstellung, herausbilden können, denn gemäß der strukturalistischen Vorgabe von Saussure herrschen zwischen diesen Relata Verhältnisse der Arbitrarität. Aber Hall scheint von konventionalisierten Signifkationspraktiken auszugehen. Entscheidende Unterstellung ist, dass diese Konventionen in den kommunikativen Akten immer wieder hergestellt werden und sich bewähren müssen. Sie können keineswegs als generalisierte, die Parteien übergreifende Vereinbarungen verstanden werden. Von daher stellt sich innerhalt dieses Modells die Frage, wie es zu einer gemeinsamen Bedeutungsproduktion bzw. zu einer Produktion <?page no="221"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Schuetzeichel__Soziologische_Kommunikationstheorien(2)____[Druck-PDF]/ 13.08.2015/ Seite 222 222 12. Cultural Studies gemeinsamer Bedeutungen kommen kann. Dabei werden der Empfänger, das Publikum, die Rezipienten ebenso wie der Sender oder Nachrichtenproduzent als aktive Bedeutungsproduzenten aufgefasst. So zeigte Ien Ang (1985) in der Analyse der Rezeptionsweisen der amerikanischen Fernsehserie ›Dallas‹, in welcher großen Variationsbreite von Zuschauerinnen Interpretationen vorgenommen und ausgewählt werden. Die Bedeutung steckt nicht im Text oder im Medium oder gar auf der Seite des Produzenten, sondern in der rezeptiven Auseinandersetzung mit diesen Angeboten. Da beide Seiten über jeweils eigene Bedeutungsstrukturen verfügen, die nicht notwendigerweise zu einer hinreichenden Überlappung führen müssen, ist der Kommunikationsprozess nach Hall selbst ein kontingenter Prozess. Kommunikation kann scheitern. Dabei wird Bedeutung in diesem Kommunikationsprozess konstituiert. Bedeutung ist nichts, was der Kommunikation gegenüber vorgängig ist, eine eigene Essenz besitzt, sie ist auch nichts, was in einem Medium wie zum Beispiel der Sprache als solchem mit einem festen, kommunikationsvorgängigen Sinn verankert ist, sondern sie ist eine kommunikationsrelative Entität. Es hängt zudem von den politischen oder diskursiven Konstellationen ab, ob es im Kommunikationsprozess, der in die beiden Phasen der Encodierung und der Decodierung eingeteilt wird, zu einer hinreichenden Überlappung der Bedeutungsstrukturen kommt. Hier zeigt sich wiederum der zentrale Einfluss des Hegemoniekonzepts von Gramsci: Konsens in dem Sinne, dass hinreichend gemeinsame Bedeutungsrahmen produziert werden, ist eine Frage der diskursiven Hegemonie. Das Encoding-Decoding-Modell unterscheidet weitgehend verschiedene Typen kommunikativer Bedeutungskonstrukion, die sich nach dem Verhältnis richten, in dem ›Encodierer‹ und ›Decodierer‹ zueinander stehen: • Dominant-hegemoniale Bedeutungskonstruktionen: Die Decodierung wird im Sinne des vorherrschenden Kodes vorgenommen. • Negotiations oder ausgehandelte Bedeutungskonstruktionen: Die Decodierung richtet sich zwar weitgehend nach dem herrschenden Code, aber weicht in speziellen Fällen von diesem ab. • Oppositionelle Bedeutungskonstruktionen: Die Decodierung wird in einer dem dominanten Code widersprechenden Lesart vorgenommen. Ein Fernsehzuschauer, ein Leser oder Hörer benutzt alternative bzw. oppositionelle Interpretationsrahmen. Dieses Kommunikationsmodell widerstreitet also unilinearen, eindimensionalen Kommunikationstheorien, denen zufolgen Kommunikation das strategische Mittel der Steuerung von Verhalten ist. Durch Kommunikation können Verstehens- und Interpretationsprozesse ebenso wenig determiniert werden wie Verhaltens- oder Handlungsakte. Wie eine Kommunikation rezipiert wird, hängt von der politischkulturellen Situation der Rezipienten ab. Und dabei umfasst der Prozess der Rezeption sowohl den Aspekt der Interpretation wie auch den der darauf folgenwww.claudia-wild.de: <?page no="222"?> [UTB-M]__Schuetzeichel__Soziologische_Kommunikationstheorien(2)____[Druck-PDF]/ 13.08.2015/ Seite 222 www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Schuetzeichel__Soziologische_Kommunikationstheorien(2)____[Druck-PDF]/ 13.08.2015/ Seite 223 12.3 Zwischenbilanz 223 den bejahenden, diskursiven oder widerstreitenden Stellungnahme zu einer kommunikativen Offerte. 12.3 Zwischenbilanz Das Kommunikationsmodell der Cultural Studies rückt die kulturellen Aneignungsprozesse von Kommunikation in den Vordergrund. Dabei werden idealtypischerweise drei Fälle unterschieden: hegemoniale, aushandelnde und oppositionelle Aneignungen. Diese Aneignungsweisen sollte man aber nicht in einem strikt individualistischen oder hermeneutischen Sinne auffassen. Kommunikation wird von transindividuellen, strukturalen Diskursen getragen und findet in Kämpfen um die diskursive Hegemonie zwischen sozialen Gruppen statt. Diesem Ansatz liegt damit wie auch schon der Bourdieu’schen Sprachsoziologie die Absicht zugrunde, die Analyse von kommunikativen Prozessen stärker in die Analyse von gesellschaftlichen Konflikten und Kämpfen zu integrieren und damit zu einer Soziologisierung dieser Analysen beizutragen. Nicht die Selektivität oder die Rationalität von Kommunikation stehen im Vordergrund, sondern die Analyse von Kommunikation im Felde gesellschaftlicher Macht und Gegenmacht. Die Cultural Studies fragen danach, wie sich im Ringen um gesellschaftliche Hegemonie widerstreitende oder hegemoniale Identitäten bilden. Basislektüre: Hall, Stuart (1980a): Encoding / Decoding. In: Stuart Hall u. a. (Hg.): Culture, Media, Language. Working Papers in Cultural Studies 1972-1979. London, New York, S. 128-138. 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Fassen wir in einer abstrakten Weise die jeweiligen Erkenntnisinteressen zusammen: Die pragmatistische Theorie von Mead und Cooley einerseits und die phänomenologische Soziologie andererseits betonen die funktionale und intentionale Voraussetzung einer gemeinsamen symbolischen (semiotischen, sprachlichen etc.) Welt, die hinreichend mit geteilten Bedeutungen ausgestattet ist, um Kommunikationen zu ermöglichen. Wie ist eine solche gemeinsame symbolische Welt möglich? Die Ethnomethodologie und Konversationsanalyse analysieren die kommunikativen Methoden, mit denen wir eine kommunikative Ordnung errichten und erhalten. Wie, mit welchen Methoden und mit welchen kommunikativen Praktiken vollziehen wir ein ›Doing Communication‹? • Die Theorie des kommunikativen Handelns analysiert soziales bzw. kommunikatives Handeln im Hinblick darauf, ob das in der Sprache begründete Rationalitätspotenzial entfaltet werden kann und durch welche sozialen Mechanismen Kommunikation beeinflusst und beeinträchtigt wird. • Die Systemtheorie hingegen geht analytisch von der Unwahrscheinlichkeit von Kommunikation aus und untersucht Kommunikationsprozesse funktional im Hinblick darauf, wie kommunikative Selektionen Möglichkeiten für den Anschluss weiterer Selektionen schaffen. • Die Theorien von Bourdieu und den Cultural Studies analysieren die sozialen Kontexte von Kommunikation und befassen sich mit der Frage, wie durch kommunikative Prozesse soziale Machtverhältnisse reproduziert oder transformiert werden. Diese Erkenntnisinteressen schließen sich selbstverständlich nicht aus. Sie können miteinander verschränkt werden. Die theoretischen Grundannahmen und Prämissen dieser Theorien divergieren jedoch, wie wir gesehen haben, erheblich. In Bezug auf Kommunikation aber teilen alle hier betrachteten Ansätze eine gemeinsame Haltung, nämlich die Ablehnung der traditionellen und sicherlich auch im Alltag weitverbreiteten Auffassung von Kommunikation als einem einfachen Übertragungsprozess. Kommunikation ist keine einfache Übertragung von A nach B, sondern ein komplexes Geschehen. <?page no="225"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Schuetzeichel__Soziologische_Kommunikationstheorien(2)____[Druck-PDF]/ 13.08.2015/ Seite 226 226 13. Zum Abschluss: Soziologie der Kommunikation Dadurch, dass sich diese Einführung auf die Fragestellung konzentriert, wie denn Kommunikation möglich ist, kommen andere Themen leider zu kurz. Zum Abschluss seien diese Themen aber wenigstens kurz vorgestellt. Diskursivität von Kommunikation: Was ist Inhalt oder Gegenstand von Kommunikation? In jeder Kommunikation wird über etwas gesprochen oder es wird auf etwas gezeigt. Dieses ›Etwas‹ wird oft mit dem Terminus des ›Diskurses‹ bezeichnet. Diskurse sind dann Ordnungen, die die Artikulation von Themen in kommunikativen Akten ermöglichen oder verhindern. Neben der Diskursivität darf jedoch auch die Selbstbezüglichkeit von Kommunikation nicht vernachlässigt werden. In Kommunikationsprozessen wird immer mitkommuniziert, dass und wie man kommuniziert. Beide Dimensionen, die fremdreferenziell orientierten Diskursivitäten wie die selbstreferenziell organisierten Kommunikationsmodalitäten wirken stets zusammen und ermöglichen nur in Kombination miteinander kommunikative Prozesse. Die Soziologie der Kommunikation steht vor der Aufgabe, beide Ebene zusammenzuführen. Beide Ebenen, die Kommunikation über etwas in diskursiven oder semiotischen Ordnungen wie auch die selbstbezügliche Kommunikation, realisieren sich darüber hinaus immer medial. Medialität von Kommunikation: Jede Kommunikation setzt ein Medium voraus. Neben Sprache und Schrift stehen der Kommunikation noch weitere Medien zur Verfügung, insbesondere Bilder und Töne. Diese stellen unterschiedliche semiotische Ordnungen dar. Häufig ist Kommunikation in der Weise multimodal, dass diese Medien im Gebrauch miteinander verschränkt werden. Und diese Medien sind jeweils ganz unterschiedlich an unsere Sinnesorgane angeschlossen. Aufgrund ihrer jeweiligen Eigenlogik haben sie unterschiedliche Möglichkeiten, auf etwas zu referieren und etwas zu thematisieren. Dass Medien keine neutralen Mittel von Kommunikation sind, mithilfe derer wir einfach unsere Gedanken formulieren, sondern Inhalte und Formen des Kommunizierens prägen, wird als ›Generativität‹ von Medien bezeichnet. Affektivität von Kommunikation: Kommunikationstheorien neigen zu einem ›kognitivistischen bias‹. Sie modellieren Kommunikationen im Hinblick darauf, wie etwas thematisiert und kognitiv angeeignet werden kann. Das ›Verstehen‹ in seinen vielfachen Funktionen bildet einen Fixpunkt. Dabei wird aber die affektive Dimension häufig übersehen. In unterschiedlichen Graden sind Kommunikationsteilnehmer jedoch affektiv aufeinander bezogen. In Interaktionen bildet die pathische, affektive Dimension von Kommunikation den Rahmen und das Fundament dafür, wie etwas kognitiv angeeignet werden kann. Affekte wie Emotionen, Gefühle oder Stimmungen entstehen in kommunikativen Beziehungen und sie werden selbst in Kommunikationen stets (mit-)kommuniziert. Materialität von Kommunikation: Keine Kommunikation kommt ohne körperliche, leibliche, dingliche und im weitesten Sinne technische Infrastrukturen zustande. Diese Voraussetzungen von Kommunikation werden unter dem Stichwort der ›Matewww.claudia-wild.de: <?page no="226"?> [UTB-M]__Schuetzeichel__Soziologische_Kommunikationstheorien(2)____[Druck-PDF]/ 13.08.2015/ Seite 226 www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Schuetzeichel__Soziologische_Kommunikationstheorien(2)____[Druck-PDF]/ 13.08.2015/ Seite 227 12.3 Zwischenbilanz 227 rialität‹ behandelt. Manche Kommunikationsformen wie Face-to-Face-Interaktionen setzen allein die Körperlichkeit der Teilnehmer und bestimmte günstige physikalische Gegebenheiten voraus, andere-- man denke nur an das Internet-- benötigen überaus komplexe technische Apparaturen oder benötigen wie alle sogenannten Verbreitungs- oder Massenmedien technische Infrastrukturen (vgl. hierzu insbesondere Kittler 2013). Technik kann von daher in bestimmter Weise auch als ein Medium von Kommunikation betrachtet werden. Deshalb kommt auch hier die Frage auf: Inwiefern stellen die Materialitäten der Kommunikation nicht nur eine äußere, funktionale Voraussetzung von Kommunikation dar, sondern inwiefern sind sie konstitutiv dafür, was in welcher Weise kommuniziert werden kann. Sozialität von Kommunikation: In Kommunikationstheorien wird fast zwangsläufig stets eine dyadische Situation zum Ausgangspunkt genommen. Eine Person teilt einer anderen Person etwas mit, Ego bezieht sich auf Alter, ein Sprecher auf einen Hörer, ein Sender auf einen Empfänger. Auch Kommunikationen, an denen mehrere Personen beteiligt sind oder auch massenhaft sich vollziehende Kommunikationen werden nach dem Vorbild von dyadischen Grundsituationen konzipiert. Alle von uns in dieser Einführung behandelten Theorien orientieren sich an diesem Muster. Aber ist dieses dyadische Modell nicht zu einfach? Es gibt gute Gründe, zu triadischen Grundmodellen überzugehen (vgl. Krämer 2008), denn allein eine dritte Position erlaubt es, die Institutionalisierung solcher Phänomene wie die Bedeutung von Zeichen, die Stabilität und übersituative Konstanz von Erwartungen, den kontinuierenden Gebrauch von Bedeutungen zu analysieren, die eine strukturelle Voraussetzung für Kommunikationsprozesse darstellen. <?page no="227"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Schuetzeichel__Soziologische_Kommunikationstheorien(2)____[Druck-PDF]/ 13.08.2015/ Seite 228 <?page no="228"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Schuetzeichel__Soziologische_Kommunikationstheorien(2)____[Druck-PDF]/ 13.08.2015/ Seite 228 www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Schuetzeichel__Soziologische_Kommunikationstheorien(2)____[Druck-PDF]/ 13.08.2015/ Seite 229 229 Abbildungsverzeichnis Abb. 1.1: Klassisches Konzept der Informationstheorie nach Shannon / Weaver 20 Abb. 1.2: Erweitertertes klassisches Modell 21 Abb. 1.3: Baduras Kommunikationsmodell (nach Badura 1971: 20, stark modifziert) 22 Abb. 1.4: Die Systematik der Zeichen nach Peirce 32 Abb. 1.5: Saussures Bilateralität des Zeichens (nach Nöth 2000: 74) 34 Abb. 1.6: Das Organonmodell der Sprache nach Karl Bühler (modifiziert nach Bühler 1934 / 1982: 28) 35 Abb. 1.7: Dimensionen sprachlicher Zeichen nach Morris 38 Abb. 3.1: Das Gesagte und das Implikierte 70 Abb. 8.1: Soziale Ordnungen und Handlungen 144 Abb. 8.2: Soziale Ordnungen und Sprechakte 148 Abb. 8.3: Handlungstypen und pragmatische Merkmale (nach Habermas 1981, Bd. 1: 439, modifiziert) 151 Abb. 8.4: Handlungstypen nach Habermas 157 Abb. 8.5: Formen kommunikativen Handelns und Weltbezüge 161 Abb. 8.6: Sprachgebrauch und Handlungstypen (nach Habermas 1999, 129 u. 130, modifiziert) 163 Abb. 9.1a: Formen I 171 Abb. 9.1b: Formen II 171 Abb. 9.1c: Formen III 171 Abb. 9.2: Komponenten der Kommunikation 172 Abb. 9.3: Kommunikationssequenzen 175 <?page no="229"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Schuetzeichel__Soziologische_Kommunikationstheorien(2)____[Druck-PDF]/ 13.08.2015/ Seite 230 <?page no="230"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Schuetzeichel__Soziologische_Kommunikationstheorien(2)____[Druck-PDF]/ 13.08.2015/ Seite 230 www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Schuetzeichel__Soziologische_Kommunikationstheorien(2)____[Druck-PDF]/ 13.08.2015/ Seite 231 231 Literatur Abels, Heinz (2001): Einführung in die Soziologie. 2 Bde. 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ISBN 978-3-8252-4224-4 Dieses Lehrbuch führt aus zwei Richtungen in die Mediensoziologie ein: In einem ersten Teil werden medientheoretische Perspektiven diskutiert, um zu klären, was unter Medialität verstanden werden kann, und begriffliche Grundlagen entwickelt. Dabei werden die LeserInnen auf relative große (empirieferne) Sätze der Medientheorie stoßen, die nicht nur in der Soziologie, sondern auch in der Literaturwissenschaft und der Philosophie angesiedelt sind. In einem zweiten Schritt werden die Ansätze der Medientheorie in eine soziologisch-empirische Fragestellung überführt: Welche Bedeutung können Medien für soziale Ordnung haben? Verändern Medien soziale Praktiken? Woran wird dies sichtbar? Was entsteht, wenn ein (neues) Medium zum Einsatz kommt? Dr. Elke Wagner ist Juniorprofessorin für Mediensoziologie an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz. Lothar Bunn Erfolgreich Klausuren schreiben 2013, 156 Seiten, flex. Einb. ISBN 978-3-8252-3853-7 »Erfolgreich Klausuren schreiben« bietet Studierenden der Geistes- und Sozialwissenschaften einen praktischen Leitfaden zum prüfungsorientierten Lernen und effizienten Schreibverhalten während der Klausur. Studierenden- und Dozentenbefragungen ergaben, dass Klausuranforderungen meist nur unbewusst erfasst werden. Lothar Bunn untersuchte erstmals die kognitiven, textlichen und methodischen Anforderungen. Er zeigt anhand zahlreicher konkreter Beispiele, wie Klausuren erfolgreich vorbereitet und gemeistert werden können. Im Mittelpunkt des Buchs steht die Analyse authentischer Aufgabenstellungen unterschiedlicher Fächer. Lothar Bunn gibt daraus ableitend praktische Tipps zum Lern- und Studierverhalten. MC- Klausuren und Beurteilungskriterien sind eigene Kapitel gewidmet. Lothar Bunn ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Sprachenzentrum der Universität Münster im studienbegleitenden Bereich Deutsch als Fremdsprache. <?page no="245"?> Weiterlesen bei utb. Klicken + Blättern Leseprobe und Inhaltsverzeichnis unter Erhältlich auch in Ihrer Buchhandlung. www.utb.de Günter Endruweit Empirische Sozialforschung Wissenschaftstheoretische Grundlagen 2015, 100 Seiten, flexibler Einband ISBN 978-3-8252-4460-6 Die Wissenschaftstheorie ist unabdingbare Grundlage für alle Arbeiten in den empirischen Sozialwissenschaften. Günter Endruweit stellt anschaulich den Zusammenhang her zwischen Theorie und Praxis. Seine kompakte Einführung beinhaltet alle für den Forschungsprozess (von der Formulierung des Forschungsthemas bis zur Datenanalyse) wichtigen wissenschaftstheoretischen Aspekte. Studierende werden so sensibilisiert für häufige Fragen und deren frühzeitige Erkennung. Dr. Günter Endruweit war Professor für Soziologie an der Universität des Saarlandes, der Technischen Universität Berlin, der Ruhr-Universität Bochum, der Universität Stuttgart und lehrte bis zu seiner Emeritierung an der Universität Kiel sowie als Gast an der Istanbul Üniversitesi und der Northwestern University in den USA. Er hatte zudem zahlreiche Ämter in der Selbstverwaltung in Bochum, Stuttgart (Dekan), Saarbrücken (Vizepräsident der Universität) und Kiel (Dekan der Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Fakultät) inne. <?page no="246"?> Weiterlesen bei utb. Klicken + Blättern Leseprobe und Inhaltsverzeichnis unter Erhältlich auch in Ihrer Buchhandlung. www.utb.de Jörn Lamla, Henning Laux, Hartmut Rosa, David Strecker (Hg.) Handbuch der Soziologie 2014, 522 Seiten, fester Einband ISBN 978-3-8252-8601-9 Das Referenzwerk der Soziologie gibt einen systematischen Überblick über den Stand der Forschung und die aktuellen Diskussionen. International renommierte Soziologinnen und Soziologen berichten über die historischen Grundlagen, methodischen Werkzeuge, grundbegrifflichen Weichenstellungen, theoretischen Grundpositionen, klassischen Untersuchungsfelder und wichtigsten Herausforderungen der Gesellschaftsanalyse. Univ. Prof. Dr. Jörn Lamla, Universität Kassel, Fachgebiet Soziologische Theorie. Henning Laux, Dr. phil, wiss. Mitarbeiter am Institut für Soziologie der Universität Bremen, Leiter des DFG-Projekts »Desynchronisierte Gesellschaft«. Univ. Prof. Dr. Hartmut Rosa, Lehrstuhl für Allgemeine und Theoretische Soziologie und Sprecher der DFG-geförderten Kollegforschergruppe 1642 »Postwachstumsgesellschaften« an der Friedrich- Schiller-Universität in Jena; seit Oktober 2013 auch Direktor des Max- Weber-Kollegs in Erfurt. David Strecker, Dr. phil., Gastprofessur für Kritische Gesellschaftstheorie an der Goethe-Universität Frankfurt. <?page no="247"?> Weiterlesen bei utb. Klicken + Blättern Leseprobe und Inhaltsverzeichnis unter Erhältlich auch in Ihrer Buchhandlung. www.utb.de Günter Endruweit, Gisela Trommsdorff, Nicole Burzan (Hg.) Wörterbuch der Soziologie 3.,völlig überarbeitete Auflage 2014, 670 Seiten, fester Einband ISBN 978-3-8252-8566-1 Mit dem Wörterbuch erscheint das maßgebliche Nachschlagwerk der Soziologie komplett überarbeitet und erweitert in 3. Auflage. Mit knapp 300 Stichwörtern ist es mehr als ein »Wörterbuch«: Besonders wichtige Konzepte werden ausführlich behandelt, sodass es zugleich eine Einführung in die moderne Soziologie darstellt. Dr. Günter Endruweit war Professor für Soziologie an der Universität des Saarlandes, der Technischen Universität Berlin, der Ruhr-Universität Bochum, der Universität Stuttgart und lehrte bis zu seiner Emeritierung an der Universität Kiel. Prof. Dr. Gisela Trommsdorff, bis zur Emeritierung Lehrstuhlinhaberin und weiterhin tätig für Entwicklungspsychologie und Kulturvergleich der Universität Konstanz; ferner Forschungsprofessorin am Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW; SOEP). Dr. Nicole Burzan ist Professorin für Soziologie an der Technischen Universität Dortmund.