Linguistische Texttheorie
Eine Einführung
1028
2015
978-3-8385-4471-7
978-3-8252-4471-2
UTB
Hans Jürgen Heringer
Dieses Buch führt systematisch in die Texttheorie ein. Es bietet eine konzise und kritische Darstellung der aktuellen Forschungslage, behandelt textlinguistische Fragestellungen und Methoden. An Beispielen literarischer Texte und an Gebrauchstexten wird vorgeführt, wie diese Methoden auf Texte anzuwenden sind. Die Einführung richtet sich gezielt an Studienanfänger und Studierende der germanistischen Linguistik auf BA-Niveau. Kapitel zu Textkritik und literarischen Texten (Fiktionalität, stilistische Bewertung, Interpretieren etc.) machen die Lektüre auch für Literaturwissenschaftler interessant.
Zusätzlich steht ein Online-Buch mit vielen Übungsaufgaben und kritischen Texten zur Vertiefung und Erweiterung einzelner Aspekte auf der UTB-Homepage zur Verfügung.
<?page no="0"?> Hans Jürgen Heringer Linguistische Texttheorie Eine Einführung <?page no="1"?> Eine Arbeitsgemeinschaft der Verlage Böhlau Verlag · Wien · Köln · Weimar Verlag Barbara Budrich · Opladen · Toronto facultas · Wien Wilhelm Fink · Paderborn A. Francke Verlag · Tübingen Haupt Verlag · Bern Verlag Julius Klinkhardt · Bad Heilbrunn Mohr Siebeck · Tübingen Nomos Verlagsgesellschaft · Baden-Baden Ernst Reinhardt Verlag · München · Basel Ferdinand Schöningh · Paderborn Eugen Ulmer Verlag · Stuttgart UVK Verlagsgesellschaft · Konstanz, mit UVK / Lucius · München Vandenhoeck & Ruprecht · Göttingen · Bristol Waxmann · Münster · New York utb 4471 <?page no="3"?> Hans Jürgen Heringer Linguistische Texttheorie Eine Einführung A. Francke Verlag Tübingen <?page no="4"?> Prof. (em.) Hans Jürgen Heringer lehrte Linguistik an den Universitäten Heidelberg, Tübingen und Augsburg. Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Gedruckt auf chlorfrei gebleichtem und säurefreiem Werkdruckpapier. © 2015 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen www.francke.de · info@francke.de Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb.dnb.de abrufbar. Einbandgestaltung: Atelier Reichert, Stuttgart Druck und Bindung: Friedrich Pustet GmbH & Co. KG, Regensburg Printed in Germany UTB-Nr. 4471 ISBN 978-3-8252-4471-2 Verlag und Autor haben sich bemüht, alle Rechteinhaber der Textauszüge zu ermitteln. Berechtigte Hinweise auf übersehene Rechtsansprüche erbitten wir an den Verlag. <?page no="5"?> 5 Inhalt Vorwort ............................................................................................... 7 1 Grundfragen und Grundlagen .................................................. 9 1.1 Was ist und was soll Textlinguistik? ............................................ 9 1.2 Was ist ein Text? ......................................................................... 11 1.3 Vom Umgang mit Texten ............................................................ 14 2 Kohärenz: Textstrukturen ........................................................ 16 2.1 Kohäsion ...................................................................................... 16 2.2 Kohärenz ...................................................................................... 24 2.3 Propositionale Analyse .............................................................. 27 3 Kohärenz: Deixis und Phorik .................................................. 31 3.1 Deixis und Referenz ................................................................... 31 3.2 Gegenständliche Anaphorik ..................................................... 33 3.3 Raum-Zeit-Anaphorik ............................................................... 41 4 Der semantische Gehalt ........................................................... 51 4.1 Semantische Relationen ............................................................. 51 4.2 Assoziationen .............................................................................. 56 4.3 Präsuppositionen ........................................................................ 60 5 Texte als Mittel der Kommunikation ...................................... 63 5.1 Sprechakte und Sprechakttypen ............................................... 63 5.2 Komplexe Akte und Sprechaktsequenzen .............................. 68 5.3 Textverstehen, Textsinn, Intention ........................................... 71 5.4 Prinzipien der Kommunikation und Implikaturen ................ 73 6 Lokale Kohärenz: trigger und transitions .............................. 78 6.1 Noch einmal: Textverstehen ...................................................... 78 6.2 Wissen .......................................................................................... 79 6.3 Wissensstrukturen ...................................................................... 83 6.4 score keeping und transitions ................................................... 86 7 Globale Kohärenz: Das Thema eines Textes ......................... 99 7.1 Terminologische Vorbemerkung .............................................. 99 7.2 Was ist das Thema? .................................................................. 100 7.3 Thematische Strukturen und Textaufbau .............................. 106 <?page no="6"?> 6 Inhalt 8 Modulare und elektronische Texte ...................................... 115 8.1 Textbausteine: Absatz, Abschnitt, Paragraph ...................... 115 8.2 Textmodule, multimediale und modulare Texte ................. 117 8.3 Hypertext und Internet ........................................................... 122 9 Textsorten oder Texttypen ..................................................... 127 9.1 Textsorten: Welche und wie viele? ........................................ 127 9.2 Textsorten bestimmen: Sensitive Kriterien? ......................... 133 9.3 Textmuster und Textformulare .............................................. 135 10 Intertextualität ........................................................................ 139 10.1 Intertextualität im Diskurs ................................................... 139 10.2 Anspielung, Variation, Parodie ........................................... 144 10.3 Plagiat ...................................................................................... 147 11 Text und Stil ........................................................................... 151 11.1 Wie gewinne ich Stil? ............................................................ 151 11.2 Was sich zeigt und was gezeigt wird .................................. 153 11.3 Aus der Kralle den Löwen ................................................... 157 12 Textkritik und Textbewertung ............................................ 162 12.1 Philologische Textkritik ........................................................ 162 12.2 Kritische Texte und Sprachkritik ......................................... 170 12.3 Textverständlichkeit und Informativität ............................ 175 13 Literarische Texte ................................................................... 180 13.1 Ficta et facta ............................................................................ 180 13.2 Eigenheiten literarischer Texte ............................................ 186 13.3 Interpretieren ......................................................................... 192 14 Lesen und Schreiben ............................................................. 197 14.1 Lesen und Lesen .................................................................... 197 14.2 Verzögertes und kritisches Lesen ........................................ 202 14.3 Schreiben und Lesen ............................................................. 204 Literatur und Nachweise ............................................................. 211 Register ........................................................................................... 216 <?page no="7"?> 7 Vorwort „Buy one! Get one free! “ Wenn Sie das Buch gekauft haben, dann bekommen Sie noch eins dazu. Und der Clou: Das geschenkte ist wesentlich dicker. Warum mach ich das? Nun, ich trenne und teile. Die Druckversion ist als konzise Darstellung gedacht, zum Lesen und Reflektieren. Die elektronische Version bietet Ihnen einen Stall voll Texte zur Anschauung, Materialien zur Vertiefung, erhellende Aufgaben und kritische Seiten, auf denen ich Ihnen vorführe, was in der Forschung so alles gesagt wurde und wie Sie das sehen sollten. Die PDF ist downzuloaden auf utb-shop.de . Marginale Pfeile im Buch verweisen auf einschlä gige Seiten. Aber da ist noch ein anderer Grund für die Teilung: Es ist der viele Stoff. Je länger ich mich mit der Textlinguistik befasse, umso klarer wird mir, wie lange ich mich mit ihr befasst habe. Mit den Details als Linguist, mit dem Ganzen in Interpretationen. Und so wird immer mehr Stoff wieder lebendig wie die kreativen Texte, die aus einem Seminar in Costagrande hervorgingen, oder all die ausgesuchten Texte, die als Lehrmaterial für die Deutschstunden dienten. Und ehrlich gesagt: Dass ich elektronisch einen anderen Stil schreiben kann, gefällt mir auch. Ich glaube, man sollte überhaupt nur noch solche Bücher lesen, die einen beißen und stechen. Wenn das Buch, das wir lesen, uns nicht mit einem Faustschlag auf den Schädel weckt, wozu lesen wir dann das Buch? [...] ein Buch muss die Axt sein für das gefrorene Meer in uns. Franz Kafka, Brief an Oskar Pollak, 27. Januar 1904 Na ja. Hans Jürgen Heringer Herrsching, im Studio August 2015 - <?page no="8"?> 8 Für Doris number one <?page no="9"?> 9 1 Grundfragen und Grundlagen Überall, nicht nur in unserem eigenen Leben ist das Buch Alpha und Omega alles Wissens und jeder Wissenschaft Anfang. Und je inniger man mit Büchern lebt, desto tiefer erlebt man die Gesamtheit des Lebens [...] Stefan Zweig, Das Buch als Eingang zur Welt (1931) 1.1 Was ist und was soll Textlinguistik? Am Beginn eines Buches wünschen sich viele eine Definition des Gegenstandes. Sie wollen damit anschließen an ihr gegenwärtiges Wissen und das Neue einordnen. Das ist verständlich, aber für den Autor schwierig. Einerseits weiß er ja nicht, wie das Vorwissen seiner Leser ausschaut, andererseits wird sich das Vorwissen unterscheiden. Noch schwieriger wird es für ihn, weil es keine gültige Definition einer Disziplin gibt. Der Gegenstand ist historisch geworden mit der Disziplin und im Wandel. Wer nun aber sagen würde, Texttheorie oder Textlinguistik sei die linguistische Disziplin, die sich mit Texten, ihrer Analyse, ihrer Struktur und ihrem Sinn befasst, der würde vergessen, dass fast alle anderen linguistischen Disziplinen sich ebenso mit Texten befassen, vor allem die Gesprächsanalyse und die discourse analysis. Einen Alleinvertretungsanspruch gibt es da nicht. Also muss es etwas Besonderes mit der linguistischen Texttheorie auf sich haben. Das Besondere ist in der Disziplin entstanden und es wird manchmal nach hinten ausgedehnt auf Untersuchungen, die sich noch nicht als Textlinguistik verstanden. Da werden dann Vorläufer ermittelt, die schon vor der Textlinguistik textlinguistisch gearbeitet haben. So etwas erhöht die Dignität der Disziplin, besonders wenn jene Vorläufer wissenschaftliche Berühmtheiten sind. Eine Disziplin definiert sich über Methoden und Betrachtungsweisen. Aber auch sie können sich wandeln. Ja, sie müssen sich wandeln wie der Gegenstand, weil es ja gerade darum geht, neue Erkenntnisse über den Gegenstand zu gewinnen und neue Methoden dafür zu entwickeln. Dies alles bedeutet nichts Anderes, als dass eine Disziplin sich definiert über ihre Geschichte und ihre Tradition, dass sie aber offen ist für den Wandel, für neue Methoden, neue Betrachtungsweisen, neue Aspekte des Gegenstands und neue Gegenstände gar. Was ist eine Disziplin? <?page no="10"?> 10 Gegenstand der Textlinguistik sind zweifellos Texte. Darum wird man zuerst einmal eine Definition von Text entwickeln und dabei Bezug nehmen auf die Tradition und diverse Ansätze zu einer Definition. Jede Definition bleibt aber Gegenstand der Textlinguistik und offen für neue Aspekte. Gegenstände der Textlinguistik sind beispielweise: Grundstrukturen von Texten Verhältnis linearer Kette zu Textstruktur Textsinn und Textverstehen Kohärenz: Phorik und Verknüpfung von Sätzen Referenz: Einführung von Gegenständen und Weiterführung Kommunikative Funktionen von Texten Rolle des Wissens in der Textrezeption Kontext- und Wissensdynamik Adressierung von Texten und recipient design Thematische Strukturen Textsorten, Texttypen und ihre Eigenschaften Beschreibung funktionaler Textmodule Arrangement von Textmodulen Textmodule und Struktur von Hypertexten Bewertungskriterien für Texte Kommunikative Prinzipien der Textkonstruktion und Rezeption Schreibstrategien und Lesestrategien Und zu diesen Gegenständen dürfen Leser auch etwas erwarten. Dazu werden reguläre Erscheinungen, Formen und Strukturen wie Methoden des Schreibens, Deutens und Verstehens durchaus auch an einzelnen Texten exemplifiziert. Ziele der Textlinguistik Grundfragen und Grundlagen | 1 <?page no="11"?> 11 1.2 Was ist ein Text? Mit der Aussage, der Gegenstand der Textlinguistik seien Texte, ist noch nicht allzu viel gesagt. Ein erster Blick auf den normalsprachlichen Gebrauch des Wortes gibt aber eine erste Idee wichtiger Kriterien. Daraus können wir schon Einiges entnehmen, was Thema der Textlinguistik sein sollte: Text - Bild - Melodie - Grafik verfassen - lesen - schreiben Sprache: englisch - lateinisch - deutsch vollständig - gekürzt literarisch Linguistisch ist eine andere Vordefinition zu erwarten. Ein Text ist eine kommunikative Einheit. Sie folgt in der Hierarchie linguistischer Einheiten dem Satz. Daher rührt auch der Slogan aus den Anfangszeiten: Über den Satz hinaus! Ein Text ist eine kohärente Folge von Sätzen. Würde man nun etwa mit einer solchen Definition beginnen, dann stellen sich gleich Anschlussfragen wie: Was heißt kohärent? Was ist ein Satz? Sätze bestehen ja aus Wörtern. Solche Definitionen sind rekursiv, sie führen sogleich in die Materie und müssen sich in der Theorie bewähren. Das ist entscheidend. Text normalsprachlich Phonem Morphem Wort Phrase Satz Text Erste Definition 1.2 | Was ist ein Text? <?page no="12"?> 12 Etwas anders verhält es sich mit der folgenden Definition: Ein Text ist die konkrete Realisierung der Struktur „Textualität“. Es ist der geäußerte sprachliche Bestandteil eines Kommunikationsakts und hat ein erkennbares Illokutionspotential. Sie ist bereits theoriegeladen und zeigt sich damit in einem theoretischen Rahmen. Solche Definitionen gibt es in Mengen. Eher einführend und bescheiden erörtern wir wichtige definitorische Merkmale. Als kommunikative Einheit spielen für Texte Sprecher und Hörer oder Autor und Leser, genereller Produzenten und Rezipienten eine Rolle. Wie sich hier zeigt, geht es um mündliche und schriftliche Texte, was vielleicht schon etwas über den üblichen Sprachgebrauch hinausgeht. Texte sind linear, werden als Sequenz von Sätzen gesehen. Dies ist der Grund, warum Einzelsätze gemeinhin nicht als Texte gesehen werden, wenngleich sie sozusagen nach vorn und nach hinten offen und anschlussfähig sind. Das gilt gemeinhin für Texte nicht. Über die lineare Struktur hinaus sind Sätze streng hierarchisch organisiert. Das gilt für Texte nicht. Dennoch haben Texte eine komplexe Struktur. Ein Text zeichnet sich gegenüber reinen Satzfolgen dadurch aus, dass er einen inneren Zusammenhang hat. Der Zusammenhang entsteht oder besteht in der Deutung des Rezipienten. Er ist also nicht objektiv gegeben. Darum mag jemandem eine Sequenz sprachlicher Ausdrücke als Text erscheinen, einem anderen eher nicht. Außerdem dürfte in der Normalsprache das Wort Text eher vage verwendet werden. Für den einen mag ein Telefonbuch ein Text sein, für den anderen nicht. In der Texttheorie könnte es aber sinnvoll sein, Listen als Texte zu betrachten und somit auch den Satzbegriff zu erweitern. Im Anschluss an syntaktische Methoden könnte man fragen, ob Texte zu beurteilen sind nach Wohlgeformtheit. In der Syntaxtheorie ist ein akzeptabler Satz einer, der von den Sprechern als akzeptabel erkannt wird und somit zur Langue gehört. Das ist empirisch nicht einfach (Heringer 2009). Wenn Syntaktikern die reguläre Beschreibung der akzeptablen Sätze gelungen ist, dann kann man auch davon sprechen, dass eine lineare Kette ein wohlgeformter Satz ist. Von einem Satz wird man sagen, dass er nur aus regulären Ausdrücken bestehen darf, bei Texten sollten wir etwas großzügiger sein. 11 Text vs. Satz Grundfragen und Grundlagen | 1 <?page no="13"?> 13 Texte mit absichtlichen oder unabsichtlichen Fehlern werden wir dann doch als Texte sehen. Außerdem ist es nicht gelungen, Texte in der stringenten Weise strukturell zu beschreiben wie Sätze in der Syntax. Zwar gibt es auch unüberschaubar viele Sätze, da die Syntax natürlicher Sprachen kombinatorisch und rekursiv so viele ermöglicht. Aber je länger eine Einheit wird, ums so mehr Kombinationen sind möglich. Und Texte sind meist länger und schwerer überschaubar, auch wenn sich darin Sätze oder Segmente wiederholen werden, die auch in anderen Texten vorkommen. Sätze werden gewöhnlich als Einheiten der Langue betrachtet und untersucht, wenngleich hier zu unterscheiden ist zwischen Satz und seiner Äußerung in der Parole. Texte hingegen sind Einheiten der Parole. Sie bestehen also weniger aus Sätzen denn aus Äußerungen. In diesem Sinn sind - vor allem längere - Texte auch individuell einmalige Phänomene. Schon wenn Sie in einer Suchmaschine im Internet nur eingeben „Versöhnender, der du nimmer geglaubt“ oder „es war als hätt der“, werden Sie fündig und finden einen einzigen Text. Allerdings zerfließt der Unterschied von Langue und Parole im unendlichen Text. Denn die Langue ist ja nichts Anderes als eine Art Abstraktion aus dem unendlichen Text. Und Textlinguisten wollen sicherlich aus vorliegenden Texten zu Verallgemeinerungen kommen. Sie gehen im Grunde ähnlich vor wie Syntaktiker und vielleicht haben die Strukturen, die sie finden, doch einen analogen Status. All diese Kriterien werden öfter zusammengefasst unter dem Superkriterium Textualität. Eine solche Hypostasierung ist allerdings dann irreführend, wenn sie als homogene, vorgegebene Eigenschaft von Texten ausgegeben wird. Was Textualität in diesem Sinn ausmachen würde, ist im Detail zu zeigen. Sonst bleibt eine solche Aussage trivial: Textualität ist gegeben, wenn es sich um einen Text handelt. Methodisch bleibt festzuhalten: Übliche Textdefinitionen versuchen, einen intuitiven, sprachlich basierten Textbegriff zu explizieren und ihre Explikation zur Definition zu erheben. Ersteres ist vernünftig, Letzteres nicht. Texte sind Parole- Einheiten 1.2 | Was ist ein Text? 10 14 <?page no="14"?> 14 1.3 Vom Umgang mit Texten Wir leben mit und in Texten. Wir werden mit Texten sozialisiert, unsere Welterfahrung ist weitgehend durch Texte bestimmt. Alltäglich haben wir mit Texten zu tun. Ob wir einen Vertrag abschließen oder ein Gedicht genießen, ob wir einen Witz erzählen oder Bürgermeister wählen, ob wir eine Rechnung stellen oder ein strenges Urteil fällen, ob wir Zwistigkeiten schlichten oder einen Sinnspruch dichten. Unser ganzes Studium besteht in Texten. Alles Text, nur Text - außer was in unserem Kopf ist, damit wir die Texte verstehen. Und wie ist es da hineingekommen? Über Texte. Für manche Bereiche wurden Texte seit eh und je als so fundamental erkannt, dass man Methodenlehren entwickelt hat für ihre Deutung und ihre Interpretation (Sowinski 1983, Kap.1). In der Theologie und der religiösen Praxis ging es vor allem um die richtige Deutung des Wortes Gottes. Das war natürlich oft nicht in der Sprache Gottes, aber doch in einer älteren Sprachstufe formuliert und für Heutige nicht ohne Weiteres verständlich. Bemerkenswert mag dabei sein, dass Gottes Wort zeitgebunden ist und dass es professionelle Deuter gibt mit Deutungshoheit. In der Jurisprudenz hatte man schon früh die Idee, Regulierungen des sozialen Zusammenlebens in verbindlichen Texten niederzulegen, eben damit sie fest und für alle und immer verbindlich sind. Es ist aber sehr schwer, vielleicht Menschen unmöglich, per Regeln und konsistent alle möglichen Fälle vorherzusehen und zu erfassen. So musste man in konkreten Verhandlungen den verbindlichen Text auf den Fall anwenden und eruieren, unter welchen Text er fällt und was der Text dafür besagt. In der Geschichtswissenschaft hat man es per se mit historischen Quellen zu tun, die in der Sprache früherer Zeiten verfasst sind. Da ging es darum, den Wert und die Bedeutung der textuellen Quelle im Jetzt der wissenschaftlichen Beschreibung wiederzugeben, und auch, sie zu deuten. Dazu gehören nicht nur die immanenten sprachlichen Formulierungen (die schon unlösbare Probleme aufwerfen), sondern auch im Umfeld übliche Sprachgebräuche der Zeit, Ziele und Glaubwürdigkeit des Verfassers und vor allem die Einschätzung seiner Parteilichkeit. Texte in der Theologie Texte in der Jurisprudenz Texte in der Historie Grundfragen und Grundlagen | 1 <?page no="15"?> 15 In der Philologie und Literaturwissenschaft war der Text per se der Gegenstand. Es gab erst einmal die Aufgabe, aus vielen überlieferten Textexemplaren den Urtext oder den Originaltext wieder herzustellen. Erst damit hatte man die Basis für eine ästhetische und inhaltliche Interpretation des Textes. Die entwickelten Methoden gewichteten im Laufe der Zeit unterschiedliche Aspekte unterschiedlich: das historische und soziale Umfeld der Entstehung, die Biographie des Autors, die ästhetische Qualität, Texte verwandter Art, den Text immanent. Die Textlinguistik schließlich verstand sich als eine Art Überwissenschaft, die für alle diese Bereiche allgemeine Erkenntnisse über Texte zu Verfügung stellen könnte. Im Alltag überlässt man die Aufgabe, Texte zu analysieren, also den Linguisten. Zu diesem Zweck sollen sie Texttheorien entwerfen und empirisch validieren. Texte analysieren hat aber auch seinen Wert in der alltäglichen Sprachpraxis für uns alle, besonders wenn wir einen Text nicht sofort verstehen, wenn es Verständnisprobleme gibt oder wenn strittig ist, wie ein Text zu verstehen ist. Dann fangen wir an zu interpretieren und dazu brauchen wir die Analyse. Textanalyse ist also durchaus auch praktisch: wenn zum Beispiel eine Sprachlehrerin eine Textproduktion ihrer Schüler bewerten soll, wenn ein Text kritisch zu betrachten und zu beurteilen ist, wenn ein Text unter ästhetischen und stilistischen Kriterien gesehen werden soll, wenn die Verständlichkeit eines Lehrtexts oder eines Gesetzestexts zur Debatte steht, wenn die Autorschaft eines Textes ermittelt werden soll, wenn vor Gericht Verbaldelikte verhandelt und argumentativ behandelt werden, wenn Implizites explizit zu machen ist, wenn Missverständnisse erkannt und geklärt werden sollen. Im Grunde aber - so verstehe ich sie - soll Textanalyse immer dem besseren Verständnis des Textes dienen. Texte in der Literaturwissenschaft 1.3 | Vom Umgang mit Texten <?page no="16"?> 16 2 Kohärenz: Textstrukturen Language does not occur in stray words or sentences, but in connected discourse ... Zellig Harris, Discourse Analysis 1952, 3 2.1 Kohäsion Als man mit der Textlinguistik auf die Idee kam, man müsse über den Satz hinaus, kam alsbald auch die Idee, man könne über die Satzgrammatik hinaus eine Textgrammatik entwickeln. Jeder Grammatiker dürfte gewusst haben, dass das nicht geht: Sätze haben eine operational ermittelbare und exhaustiv reguläre innere Struktur. Von Texten ist so etwas bisher nicht bekannt geworden. Entsprechend greifen textgrammatisch orientierte Textdefinitionen isolierbare Aspekte heraus: [...] ein durch ununterbrochene pronominale Verkettung konstituiertes Nacheinander sprachlicher Einheiten (Harweg 1968, 148) [...] ein durch eine ununterbrochene Kette zweidimensionaler Substitutionen gebildetes Nacheinander sprachlicher Einheiten (Harweg 1968, 148) Oder vielleicht noch wichtiger: ... ein durch verbindende Ausdrücke konstituiertes Nacheinander sprachlicher Einheiten. Ein Zeitungstext mit diversen verbindenden Ausdrücken hier: Ist Deutschland eine Bananenrepublik? Ein Generalstaatsanwalt hat besonders die Korruption mit einer Krebskrankheit verglichen. Denn die Korruption sei über die Bundesrepublik weit verbreitet. So sei von der Herzklappenaffäre eine große Anzahl von Kliniken betroffen und auch im Pharmabereich stünden die Ermittlungen erst am Anfang. Korruption hängt ebenso zusammen mit Betrug wie mit Urkundenfälschung und Untreue. Das organisierte Verbrechen nimmt sowieso Einfluss auf die Wirtschaft und Politik. Korrupte Amtsträger oder Politiker sind dabei behilflich. Soweit wie in Italien dürfe es doch nicht kommen. Aber so weit seien wir von italienischen Verhältnissen nicht mehr entfernt. Listen der Staatsanwaltschaft sprechen nämlich Bände. Konnektoren im Text Kohärenz Kohäsion 11 <?page no="17"?> 17 Verbindungen im Text tragen wesentlich zur Kohärenz bei. Darum ist eine wichtige Frage, wie derartige Verbindungen sprachlich realisiert werden. Einschlägig dafür sind Bindewörter, umgangssprachlich gesprochen. Bindewörter müssen nicht am Satzanfang stehen, also zwischen den Sätzen, es gibt auch satzinterne. Alle können jeweils semantisch ausgedeutet werden. Eine grammatisch fundierte Typologie wurde für Subjunktionen entwickelt, die in Satzgefügen den jeweiligen Nebensatz einleiten. Geläufig ist auch, dass innerhalb einer semantischen Kategorie diverse Ausdrucksmittel zur Verfügung stehen und dass die Mittel eben nicht beschränkt sind auf satzinterne in der sog. Parataxe, sondern auch satzextern und analog in der Hypotaxe auftreten können. Eine Variation von kausalen Konnektoren haben wir in diesem Text (Tageszeitung 1995): Der Weg zurück wird weit und mit Steinen gepflastert bleiben, weil jede Kirche gerne ihre Besitzstände retten möchte, von Rom und dessen Vormacht-Anspruch ganz zu schweigen. Der Weg zurück wird weit und mit Steinen gepflastert bleiben. Denn jede Kirche möchte gerne ihre Besitzstände retten, von Rom und dessen Vormacht-Anspruch ganz zu schweigen. Der Weg zurück wird weit und mit Steinen gepflastert bleiben. Jede Kirche möchte nämlich gerne ihre Besitzstände retten, von Rom und dessen Vormacht-Anspruch ganz zu schweigen. In seiner Stimme klingt überschwengliche Freude mit. Berechtigte Freude. Denn was zunächst nur gute Hoffnung ist, stellt sich später als Gewissheit heraus. Weil schon zu DDR-Zeiten in der brandenburgischen Naturschutzstation Buckow der Versuch gelungen war, durch künstliche Bebrütung, Aufzucht und anschließende Auswilderung einen kleinen Trappenbestand zu sichern. Die verbindenden Elemente werden zusammengefasst und werden als Konnektoren bezeichnet, die die Konnexion oder Kohäsion eines Textes sichern. Konnektoren sind sprachliche Ausdrücke, die Sätze in eine spezifische semantische Beziehung zueinander setzen können. Es gibt im Deutschen etwa 300 Konnektoren. Es gibt eingliedrige wie weil, denn, nämlich, wenn, obwohl und zwei- oder mehrgliedrige, beisammen angesichts dessen, anstatt dass, das heißt, für den Fall dass, nicht einmal, vor allem oder paarig mit Fernstellung: entweder ( ...) oder, sowohl ( ...) als auch. Kohäsion und Konnektoren 2.1 | Kohäsion Konnektoren 24 <?page no="18"?> 18 Wie gezeigt, ist für die kohäsive Wirkung nicht entscheidend, ob ein Konnektor satzintern oder extern zu verwenden ist. Allerdings ist immer zu bedenken, dass diese Wörter in diverse Kategorien gehören können: So die Vergleichspartikel als oder die gleichlautende Subjunktion, der kausale Konnektor da und das lokale Pronominaladverb, der kausale Konnektor denn und die Abtönungspartikel. Die wichtigsten syntaktischen Kategorien sehen sie hier: Konnektoren sind oft gerichtet, blicken nach vorn oder hinten, andere sind Janusköpfe, die nach hinten und nach vorn schauen können. Janusköpfe Arten von Konnektoren Konjunktionen Sie haben nichts gespart und keine Bank will ihnen Geld leihen. Das Haus ist ziemlich klein, aber es liegt sehr schön. Subjunktionen Wir haben im Lotto gewonnen, sodass wir uns ein Haus kaufen können. Sie wollen ein Haus kaufen, obwohl sie nur wenig Eigenkapital haben. Bindeadverbien Wir müssen mehr sparen, sonst können wir das Haus nicht kaufen. Sie haben nur wenig Eigenkapital, trotzdem wollen sie ein Haus kaufen. Das Haus ist ein echtes Schnäppchen, wir sollten es also nehmen. Das Haus ist schon ziemlich alt, es steht jedenfalls unter Denkmalschutz. Partikeln Das Haus steht unter Denkmalschutz. Es ist nämlich ziemlich alt. Das Haus steht unter Denkmalschutz. Es ist ja ziemlich alt. Brückenausdrücke Vorausgesetzt man hat Eigenkapital, geben die Banken gern Geld. Gesetzt den Fall man hat Eigenkapital, geben die Banken gern Geld. Kurz gesagt: Ein Superbeispiel für Satzverbindungen. ← daher ← damals ← deshalb ← deswegen ← nämlich ← nur ← seit ← seitdem ← vorher ← und → ← oder → ← anstatt → ← dagegen → ← hingegen → ← statt → ← zusätzlich → ← aber → ← auch → allerdings → alsdann → also → bald → bis → dann → ferner → nachher → nun → weiter → Kohärenz: Textstrukturen | 2 23 28 <?page no="19"?> 19 Asymmetrisch sind mehr gerichtete, sie fokussieren in eine Richtung. Mit Blick nach vorn: Er blieb eine Zeitlang ruhig, dann überschlug er sich rückwärts in die Tiefe. Mit Blick zurück: Sie haucht: Ich liebe dich. Zuvor hat sie nie so gesprochen. Offener und stellungssensitiv sind die Subjunktionen. Blick nach vorn: Weil ich mir Sorgen mache, habe ich Sie herbeordert. Blick nach hinten: Ich habe Sie herbeordert, weil ich mir Sorgen mache. Die Variation der Blickrichtung kann sozusagen die semantischen Verhältnisse drehen: Er kam zu später Stunde zu seiner Gaststätte zurück. Denn [dort bekam er noch zu trinken.] Grund [In seiner Gaststätte bekam er noch zu trinken.] Grund Deshalb kam er zu später Stunde dorthin zurück. Von der semantischen Klassifikation der Subjunktionen in der Grammatik wurde eine allgemeinere für die Relationen hergeleitet und erweitert. Für sie gibt es deutsche Bezeichnungen und latinisierende wie additiv, adversativ, alternativ, kausal, final, konzessiv, konditional, konsekutiv, komparativ, temporal. Zweck Bedingung Wahl Gegenerwartung Folge Vergleich Anreihung Gegensatz Grund wenn, falls sonst anstatt oder obwohl obgleich trotzdem sodass also, folglich damit dazu, dass Zeit und dann als, ehe Konnektoren aber, doch sondern weil, daher denn und, auch weder ... noch so, ebenso wie Semantische Relationen 2.1 | Kohäsion 26 <?page no="20"?> 20 anreihend des Weiteren hinzu kommt und sowohl ... als auch noch zusätzlich gleichermaßen mit sowie wie auch je ... desto dazu mehr noch weiters Bei diesen Relationen sprechen manche auch von logischen Beziehungen, vielleicht mit einer etwas idiosynkratischen Auffassung von Logik. Sie ist allerdings für einige Relationen zu rechtfertigen, auch wenn es eigentlich um Semantik geht. Im Fall der adversativen Relation ist das einfach: Es handelt sich um ein „und nicht“. Die konditionale Relation entspricht zwar nicht dem logischen Konditional, sie kann aber logisch rekonstruiert werden als Implikation. In „wenn p, dann q“-Behauptungen wird weder p noch q behauptet, im Unterschied zu den folgenden beiden, wo sowohl p als auch q behauptet würde. Die kausale Relation ist logisch zu rekonstruieren: „p weil q“ gilt nur, falls „Immer wenn q, dann p“, die konzessive Relation letztlich auch: „p obwohl q“ gilt nur falls „Wenn p, dann normalerweise nicht-q“. Schon Einzelrelationen haben eine Palette von Konnektoren: Solche Bilder kann man zu allen Relationen erstellen. Die diversen Relationen sind weder trennscharf noch präzise noch exhaustiv. Auch die Konnektoren sind wie alle Lexeme schon mal vage. nämlich kann etwa kausal oder explikativ verwendet werden, es sei denn konzessiv oder restriktiv, ja kausal oder explikativ. Konnektoren- Paletten konzessiv Gegengrund x verhindert nicht y, ganz egal, ob dennoch, sowieso, freilich immerhin trotzdem desungeachtet allerdings trotz, ungeachtet unbeschadet obwohl obgleich wenngleich zwar ... aber gleichwohl doch Kohärenz: Textstrukturen | 2 29 <?page no="21"?> 21 Hier ein Überblick über die Möglichkeiten kausaler Konnexionen. Die Kausalrelation hängt zusammen mit Begründungen und ist weiter aufzudröseln. Dafür sollte es Hinweise im Text geben. Hinweis auf Anzeichen oder Rechtfertigung für einen Schluss gibt auch weil in der Verwendung als eine besondere Art Konjunktion mit Verbzweitstellung. Hier bringt der Sprecher Evidenz für seine Behauptung. Man spricht vom epistemischen weil: Anja ist schon da. Weil ihr Mantel hängt an der Garderobe. In all den Fällen wirken Subjunktion und Kontext zusammen. Verfeinerungen sind je nach Kontext und Präzisionsansprüchen möglich. Ohne Konnektor: Textlinguisten sind der Texttreue verpflichtet. Sie sind Spezialisten. Brückenverb: Dass Textlinguisten Spezialisten sind, begründet, dass sie der Texttreue verpflichtet sind. Brückenausdruck: Textlinguisten sind der Texttreue verpflichtet. Der Grund: Sie sind Spezialisten. Konjunktion: Textlinguisten sind der Texttreue verpflichtet. Denn sie sind Spezialisten. Subjunktion: Textlinguisten sind der Texttreue verpflichtet, weil sie Spezialisten sind. Subjunktion: Da Textlinguisten Spezialisten sind, sind sie der Texttreue verpflichtet. Proform: Textlinguisten sind Spezialisten. Daher sind sie der Texttreue verpflichtet. Partikel: Textlinguisten sind der Texttreue verpflichtet. Sie sind nämlich Spezialisten. w-Wort: Textlinguisten sind Spezialisten, weshalb sie der Texttreue verpflichtet sind. Präposition: Wegen ihres Spezialistenstatus‘ sind Textlinguisten der Texttreue verpflichtet. „kausal“ ausgefaltet 2.1 | Kohäsion Ursache: Das Wiesengrundstück war eigentlich viel zu feucht, weil ein Bach es durchzog. Motiv: Der Bauer gibt das Wiesenstück nicht frei, weil er es selbst nutzen will. Anzeichen: Irgendwas ist mit dem Wiesenstück, weil es einfach so brach da liegt. <?page no="22"?> 22 Für die textuelle Kohäsion können auch frequente und usuelle Folgen von Konnektoren sorgen. Nach Korpusrecherchen sind etwa die folgenden Tripel häufig, sogar Quadrupel sind signifikante Folgen. Bezüglich der semantischen Leistung der Konnektoren gibt es konkurrierende Ansätze. Wer sagt „p aber q“, der sagt „p und q“. Er sagt aber noch ein Drittes, nämlich außerdem, dass normalerweise nicht-q, wenn p. Für die Formulierung dieses Dritten sind Alternativen in Umlauf. Stellt sich zuerst die Frage, ob der Sprecher es wirklich sagt. So hatte Frege seinerzeit davon gesprochen, dass er es andeute, hat aber nicht bestritten, dass es das gibt. Er wollte seine wahrheitsfunktionale Logik sauber halten. Andere sprechen davon, der Sprecher signalisiere es, er impliziere es, er deute es an oder gar er kommentiere. Außer, dass man nicht so genau weiß, was man mit diesen diffusen Termini (? ) anfangen soll, spricht alles dafür, dass der Sprecher es sagt (oder behauptet). Alle drei Aussagen müssen wahr sein, damit die ganze Äußerung wahr ist. Die möglichen Reaktionen auf „p aber q“ sind die gleichen wie für „p“ und für „q“. Wer ja sagt, stimmt allen dreien zu. Wer nein sagt, negiert das Ganze und wird spezifizieren müssen, welche der drei insbesondere er für falsch hält. In vielen Fällen kann man davon ausgehen, dass die gesamte Äußerung gerade wegen der Verbindung der drei Akte gemacht wird oder dass sogar das Dritte im Vordergrund steht. All dies spricht dafür, dass der Sprecher dieses Dritte behauptet. Konnektor- Folgen Semantische Analyse Frequente Abfolgen Tripel und_und_auch und_und_bis nur_sondern_auch und_und_oder aber_auch_und und_aber_auch auch_noch_und und_und_nun und_zwar_aber selbst_und_und und_damit_auch so_auch_und und_ebenfalls_und und_jedoch_und und_und_weiter Frequente Abfolgen Quadrupel und_und_und_auch bis_und_und_und nur_sondern_auch_und und_aber_auch_und und_und_und_noch aber_auch_und_und und_nur_sondern_auch oder_und_und_und und_und_und_nur und_bis_und_bis und_und_und_also und_und_selbst_und und_und_ebenso_und und_und_und_dazu und_und_und_jedoch Kohärenz: Textstrukturen | 2 27 <?page no="23"?> 23 Auch wenn die Gesamtäußerung ein Befehl ist (aber geht bei Fragen kaum), findet sich eine solche Behauptung: Mach bitte das Fenster zu, aber mach nichts kaputt. Wäre wohl zu refomulieren als: Mach bitte das Fenster zu und mach nichts kaputt. Wenn du das Fenster zumachst, könntest du etwas kaputt machen. Dieses letzte Beispiel bringt uns zu einem anderen Punkt: Wie ist dieses ominöse Dritte zu formulieren? Wofür genau hat der Sprecherautor grade zu stehen? Was genau wird der Leser verstehen? Das ändert sich offenbar von Fall zu Fall. In unseren anfänglichen Überlegungen haben wir ein normalerweise eingesetzt, im letzten Beispiel Konjunktiv II. Dennoch ist es jeweils eine assertive Aussage. Insofern ist die Formulierung fehlgeleitet „der Sprecher bringe zum Ausdruck, er glaube, dass normalerweise nicht-q, wenn p“. Da wird nicht unterschieden zwischen dem, was jemand behauptet, und dem, wofür er grade zu stehen haben könnte. Der Unterschied zwischen den Behauptungen „p“ und „ich glaube, dass p“ wird hier nicht bedacht. Wer „p“ behauptet muss eigentlich auch dafür grade stehen, dass er p glaubt. Andernfalls lügt er. Er hat es aber nicht gesagt. (Zwar mag es Fälle geben, in denen mit dem Dritten der Sprecher etwas über sich selbst kundtut, was eben nicht wahrheitsfähig ist. Aber das ist ein anderer Fall.) Dass wir es hier mit zusätzlichen Behauptungen zu tun haben, wird deutlich bei anderen Konnektoren. So liegt die Betonung bei kausalen Konnektoren gerade auf diesem Dritten. Wer sagt „p denn q“, sagt, dass p und dass q und dass q der Grund für p ist. Ist eines der drei falsch, insbesondere das Dritte, wird das Ganze falsch sein. Hier wäre die Reaktion „nein“ zu spezifizieren, wenn sie auf p oder q zielte, etwa „Aber p doch gar nicht“ oder „Aber q doch gar nicht“. Normal zielt die Reaktion gerade auf die Begründung, expliziter vielleicht „Nein, nicht deshalb“, „Nein, das ist nicht der Grund“, „Das ist doch keine Begründung“. Bei den Konnektoren sollten wir entsprechend diesen Überlegungen zwei Gruppen unterscheiden: anreihende mit Spezifizierung wie temporale oder explikative, implikative (eben jene mit dem Dritten). 2.1 | Kohäsion Was dahinter? 28 <?page no="24"?> 24 2.2 Kohärenz Zusammenhang oder Kohärenz ist das Zauberwort der Textanalyse. Konnektoren sichern nicht die Kohärenz, Kohärenz entsteht im Verstehen. So wird zwar für eine Sprache oft vorausgesetzt, alle Sprecher würden einen einfachen Text verstehen und ihn im Grunde gleich verstehen. Das aber ist ein Mythos. Für die eine Person mag ein Text kohärent sein, für eine andere eher nicht. Und in einem Kontext mag eine Folge kohärent verstanden werden, in einem anderen nicht. Das zeigt sich an kontextlosen Beispielsätzen. Weil ich dir geholfen habe, hilfst du mir auch. Wenn ich dir geholfen habe, hilfst du mir auch. Obwohl ich dir geholfen habe, hilfst du mir auch. Alle drei Folgen sind kohäsiv, bei der dritten werden wir allerdings stutzen. Irgendwas passt da nicht so recht. Kann man sagen: Wir verstehen die Folge und ihren inneren Zusammenhang, er ist uns nur nicht plausibel? In der konzessiven Formulierung wird eine stereotype Annahme vorausgesetzt, eben die Gegenerwartung. Das wäre in diesem Fall: Wenn ich dir nicht geholfen habe, hilfst du mir auch. Absurd ist hierbei das auch, es geht ins Leere, denn ich habe dir ja nicht geholfen. (Interessant, dass hier die Betonung eine Rolle spielt und das Verständnis beeinflusst. Zu meiner Deutung ist Kontrastbetonung, ich vs. du, vorausgesetzt. Bei Betonung auf auch würden wir es im Sinne von trotzdem verstehen.) Lassen wir das auch weg, haben wir immer noch unsere Zweifel. Die aber würden im Kontext vielleicht gar nicht entstehen: Du bist wahrlich ein christlicher Mensch. Und du scheust dich vor Retourkutschen und Rückzahlungen. Ja, du suchst sogar jeden Anschein zu vermeiden, es handle sich bei deinen Nettigkeiten um eine Rückzahlung. Nun aber: Obwohl ich dir geholfen habe, hilfst du mir auch. Dafür danke ich dir von Herzen. Bisschen lang und weit hergeholt, werden Sie sagen. Aber es läuft gut und glatt und Texte könnten noch länger sein, sie sind meistens länger - und gottseidank oft sehr weit hergeholt. Vortexte wärmen unser Verständnis auf und Nachtexte bringen Klärung. Das dominiert die Kohäsion und Konnektoren. Kohäsion = Kohärenz? Kohärenz: Textstrukturen | 2 <?page no="25"?> 25 Um Kohärenz zu erkennen oder herzustellen brauchen wir nicht unbedingt overte Konnektoren. Für unverbunden dastehende Sätze inferieren wir relationale Zusammenhänge, so dass sie kohärent werden. Allerdings kann man sich fragen, wie wir zu dieser Fähigkeit kommen, all dies aus dem Kopf zu erschließen. Ich nehme an, dass sie über explizite Formulierungen und ihre übliche Verwendung hineingekommen ist. Im Spracherwerb geht es meistens darum, was mal explizit war, zu routinisieren und zu automatisieren. Jedenfalls kann ich mir schwer vorstellen, dass ein Kind eine Begründung geben kann, ehe es einen Konnektor wie weil zum Beispiel verwenden kann. Selbst wir Textlinguisten verwenden Konnektoren, wenn wir die relationalen Verhältnisse verdeutlichen wollen. Wenn wir etwa in unseren Konnektorenbeispielen die Konnektoren tilgen, werden die Folgen zwar offener, aber wir können durchaus Zusammenhänge sehen, wenngleich der Text etwas unglatt wirkt. Ist Deutschland eine Bananenrepublik? Ein Generalstaatsanwalt hat die Korruption mit einer Krebskrankheit verglichen. Die Korruption sei über die Bundesrepublik weit verbreitet. Von der Herzklappenaffäre sei eine große Anzahl von Kliniken betroffen und im Pharmabereich stünden die Ermittlungen erst am Anfang. Korruption hängt zusammen mit Betrug, mit Urkundenfälschung und Untreue. Das organisierte Verbrechen nimmt Einfluss auf die Wirtschaft und Politik. Korrupte Amtsträger, Politiker sind dabei behilflich. Wie in Italien dürfe es aber nicht kommen. Wir seien nicht weit von italienischen Verhältnissen entfernt. Die Listen der Staatsanwaltschaft sprechen Bände. In Diskussionen über Kohärenz wurden immer wieder Beispiele für inkohärente Folgen gegeben. Da geht es öfter etwas vordergründig her. Ganz üblich sind Beispiele wie das folgende (seinerzeit von Bierwisch erfundene), das eine inkohärente Satzfolge zeigen soll. Es ist aber eher kontextlos geboten. Es gibt niemanden, den ihr Gesang nicht fortreißt. Unsere Sängerin heißt Josephine. Gesang ist ein Wort mit sieben Buchstaben. Sängerinnen machen viele Worte. (Heinemann/ Heinemann 2002, 13) Was würden Sie ergänzen, um die Folge kohärent zu machen? Es geht auch ohne 2.2 | Kohärenz <?page no="26"?> 26 Da es sich um kontextlose Abfolgen handelt, entsprechen solche Beispiele nicht normaler Kommunikation. Denn da sind Folgen eingebettet in Kontext. So konnte unsere Folge mit obwohl durchaus kohärent sein im passenden Text. Ähnliches gilt für unverbundene Sätze. Scherner (1989) hat mit dieser Folge experimentiert: Am Nordpol ist es kalt. Mein Mandelbäumchen blüht. Köln liegt am Rhein. Was würden Sie daraus machen? Und mutet Sie der folgende Text etwas seltsam an? Wenn wir den Titel des Gedichts von Hölty „Die Maynacht“ lesen, mutet uns der Text wohl immer noch seltsam an. Aber wenn wir den Titel des ganzen Textes hier erfahren, dann geht uns ein Licht auf: „Asklepiadeische Ode“. Es gibt sogar regelrechte Kohärenzjoker, etwa wenn wir vordergründig Inkohärentes zitieren oder als Zitat ausgeben. Auch so etwas wie Da fällt ihr grade ein ... oder Was ich noch sage wollte ... kann man als Kohärenzjoker sehen. Was inkohärent ist, verstehen wir nicht. Was wir nicht verstehen, ist inkohärent. Wir müssen uns also weiter dem Verstehen widmen. Und vor allem der Frage, wie Kohärenz im Verstehen zustande kommt. Titel und Joker ¯ ˘ ¯ ˘ ˘ ¯ ¯ ˘ ˘ ¯ ˘ ¯ ¯ ˘ ¯ ˘ ˘ ¯ ¯ ˘ ˘ ¯ ˘ ¯ ¯ ˘ ¯ ˘ ˘ ¯ ˘ ¯ ˘ ¯ ˘ ˘ ¯ ˘ ¯ Wenn der silberne Mond durch die Gesträuche blickt Und sein schlummerndes Licht über den Rasen geußt, Und die Nachtigall flötet, Wandl ich traurig von Busch zu Busch. Kohärenz: Textstrukturen | 2 34 <?page no="27"?> 27 2.3 Propositionale Analyse Um zu erkennen, was in Sätzen und Satzfolgen steckt, wurde die sog. propositionale Analyse oder Satzsemantik entwickelt. Dabei werden Sätze und Satzfolgen in Propositionen zerlegt, um ihren Zusammenhang und ihre Struktur zu erkennen und darzustellen. Eine Proposition ist eine elementare Einheit der Aussagenlogik. Die Proposition drückt einen möglichen Sachverhalt (oder einen Gedanken) aus. Propositionen sind wahrheitsfähig, aber selbst gegenüber der Wahrheit neutral. Eine Standardformulierung ist: ... dass p. Frege unterscheidet in seiner Begriffsschrift die Proposition von der Behauptung, sie sei wahr. Dazu dient der Behauptungsstrich: p Die logische Formulierung „p“ hat eine innere Struktur. Sie besteht aus einem Prädikatsausdruck P und seinen Argumenten x, y, usw. P(x, y, ...) Wichtig ist zu unterscheiden die sprachliche Form des Propositionsausdrucks und was damit ausgedrückt wird. Mit diesen Argumenten referiert man, ihre Referenten sind Gegenstände im weitesten Sinn. Mit Prädikaten prädiziert man, sie drücken Relationen zwischen den Gegenständen aus. Propositionen bilden nicht einfach die Struktur außersprachlicher Wirklichkeit ab. Sie wirken vielmehr selbst strukturbildend und entwerfen Sachverhalte. Elementare Propositionen können verknüpft werden und zu komplexeren Propositionen ausgebaut werden. Dabei kann man unterscheiden zwischen Modifikationen, Einbettungen und Reihungen. Bei der Modifikation wird das Prädikat modifiziert, etwa laufen zu schnell laufen. Bei der Einbettung wird eine Proposition zum Argument einer anderen. Dadurch entsteht eine Stufung: P1(x, (P2(y,z)). Bei der Reihung werden Propositionen linear verkettet: P1(a,b) ― P2(x,y,z) ... In der Textanalyse kann man Propositionen in Elementarsätzen formulieren, darf aber nicht vergessen, dass damit nicht deren Wahrheit behauptet wird. Logik? 2.3 | Propositionale Analyse Proposition 30 <?page no="28"?> 28 Einen Ansatz dieser Art entwickelte von Polenz (von Polenz 1988). Hier handelt es sich um Reformulierungen. Der Text selbst ist kompakt und in gewissem Sinn inexplizit. Deshalb kann man verschiedene Reformulierungen geben. Ja, die Vagheit zeigt sich vielleicht gerade hierin. Auflösungen zeigen die Komplexität kompakter Strukturen. Je mehr Propositionen in einem Satz desto kompakter. Das kann vor allem nützlich werden für Fragen der Textverständlichkeit. Vorsorglich muss ich hier allerdings sagen, dass Kompaktheit nicht einfach schwerer verständlich ist. Propositionale Einbettungsstrukturen sind zur Darstellung der Komplexität nicht besonders geeignet, weil sie die Struktur nicht auflösen. Auch die Linearisierung erfasst nicht alles. Ich führe deshalb eine TAB- Darstellung ein, die beides verbinden kann. Jeder Mensch hat eine Würde. Die Würde des Menschen besteht darin, ... Die Würde darf nicht angetastet werden. Die staatliche Gewalt hat eine Verpflichtung. Die staatliche Gewalt muss die Würde achten. Die Würde achten bedeutet ... Sätze sind in diesem Ansatz voll von Propositionen und entsprechend Texte noch voller. Satzsemantik Grundordnung Artikel 1 (1) Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt. Der Mensch hat eine Würde. Die Würde darf/ kann nicht angetastet werden. Kein Mensch/ keine Institution darf/ kann die Würde antasten. Die staatliche Gewalt hat eine Verpflichtung. Die staatliche Gewalt muss die Würde achten. Die staatliche Gewalt muss die Würde schützen. Kohärenz: Textstrukturen | 2 Kompakt <?page no="29"?> 29 Eine oberflächennahe Segmentierung in propositionsverdächtige Einheiten im Text könnte etwa so aussehen: Den komplexen Satz aus dem zweiten Absatz könnte man weitergehend so aufdröseln: Clay preist seine Idee. Er macht dazu viele Worte. Er will den Regenwald retten. Er will dessen Bewohner retten. Er will dessen Bewohner retten, dadurch, dass [er? / ] sie Produkte verkaufen. Die Produkte konnten die Bewohner selbst ernten. Dazu mussten sie keinen Baum fällen. Hiermit bleibt man noch nahe bei den satzförmigen Ausdrücken des Textes. Man könnte aber noch mehr auflösen, etwa beim ersten Satz: Clay saß irgendwo. Er saß in einem Hotel. Das Hotel war tief im Westen Amazoniens. Er saß zusammen mit zwei Geschäftsleuten. Diese Umformung geht stärker in den Satz hinein. Die Satzgrenze zählt weniger. Ob als Nebensatz in Hypotaxe formuliert oder als zwei Hauptsätze in Parataxe, wird gleich gewertet. Beide Umformungen sind weder semantisch noch stilistisch äquivalent mit den Ausgangssegmenten. Doch sie zeigen etwas von der inhaltlichen Struktur. Sie zeigen auch, dass derartige Aufdröselungen sehr komplex werden können, vielleicht so komplex, dass sie nicht mehr erhellend sind. Kompakte Strukturen 2.3 | Propositionale Analyse Das Geschäft mit der Rettung [Tief im Westen Amazoniens saß Jason Clay in einem Hotel mit zwei Geschäftsleuten.] [Die beiden wirkten restlos abgekämpft.] [Clay dagegen war nicht zu bremsen.] [Er preist wortreich seine neue Idee], [den Regenwald und dessen Bewohner zu retten] [durch den Verkauf von Produkten], [die von den Bewohnern selbst geerntet werden konnten] - [ohne auch nur einen Baum zu fällen.] [Jason Clay hat schon Dutzende von Unternehmern mit seiner Botschaft umworben]: [dass es sich bezahlt macht], [den Regenwald zu erhalten] und [dessen Bewohner zu schützen.] Aus Geo, Das neue Bild der Erde 1992, 94 <?page no="30"?> 30 Aber als Methode, die Komplexität am Beispiel zu zeigen und aufzulösen, ist eine solche Zerlegung lehrreich. Die intrasententiale Auflösung betrifft vor allem Satzglieder, die propositionalen Charakter haben und nebenbei ausgesprochen sind. So kann man zum Beispiel den semantischen Zusammenhang zeigen zwischen Nebensätzen und Präpositionalphrasen und man kann Attribute auflösen (zu einer detaillierten, grammatisch orientierten Darstellung Heringer 2001, Kap. 5). Insbesondere kann man Präpositionen als Konnektoren ausbuchstabieren: [Trotz der Müdigkeit der Partner] war Clay nicht zu bremsen. [Obwohl die Partner müde waren], war Clay nicht zu bremsen. [Wegen der Bedrohung der Umwelt] ernten die Bewohner immer weniger. [Weil die Umwelt bedroht ist], ernten die Bewohner immer weniger. Vor allem kann eine solche Analyse - wie im Beispiel schon angedeutet - Mehrdeutigkeiten und Vagheiten aufdecken: Volker erinnert sich seines Physiklehrers mit dem ironischen Lächeln des Besserwissers. Volker lächelt ironisch und fühlt sich als Besserwisser. Der Physiklehrer lächelte ironisch und fühlte sich als Besserwisser. Der Physiklehrer lächelte ironisch und Volker hält/ hielt ihn für einen Besserwisser. Hier geht es um den Status und das Verhältnis der NP. Im folgenden haben wir eine deverbale NP, aus der man oft eine Proposition herausholen kann: Die Einschüchterungen der Bewohner nehmen zu. Die Bewohner werden eingeschüchtert. Die Bewohner schüchtern ein. Auf keinen Fall sollte man meinen, die propositionale Darstellung gebe die eigentliche Struktur. Sie geht ja geradezu an der Stärke unserer Sprache vorbei, die derartige Kondensierung ermöglicht. Als Maß für den Sinn eines Texts taugt sie nicht. Die propositionale Analyse ist weitgehend dekontextualisiert und geht damit an manchen wichtigen Zügen des Textverstehens vorbei. Wert dieser Analyse Kohärenz: Textstrukturen | 2 <?page no="31"?> 31 3 Kohärenz: Deixis und Phorik Zeig auf ein Stück Papier! - Und nun zeig auf seine Form, - nun auf seine Farbe, - nun auf seine Anzahl (das klingt seltsam! ). Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen, 33 3.1 Deixis und Referenz Im Lexikon einer Sprache unterscheidet man grob zwei Kategorien: Autosemantika und Synsemantika. Für Autosemantika denkt man sich, dass man kontextlos per Bedeutung versteht, was damit gesagt wird, während Synsemantika, zwar auch eine Bedeutung haben, ihren Sinn aber erst in der Verwendung entfalten. Autosemantika wären etwa Person, Mensch, rauchen, Synsemantika wären ich, du, gestern usw. Diese Unterscheidung ist zwar grob und könnte sich bei genauerem Hinsehen teilweise auflösen, sie ist aber hinreichend für die folgenden Ausführungen. Die überwiegende Zahl der Synsemantika hat mit Deixis zu tun. Dabei geht es um eine Komponente, eine Art Urform menschlicher Kommunikation: das Zeigen. Beim Zeigen ad oculos hat man sich das etwa so vorzustellen: Ein Sprecher steht an einer Stelle oder wandert durch einen Raum und zeigt nacheinander auf Gegenstände. Da ist die Maschine, der Hebel hier ... und dann dieses Rad links dient dem ... Die räumliche Orientierung wird dabei durch einen Fixpunkt ermöglicht, von dem aus der Raum konzipiert und strukturiert wird. Die Adverbien hier, da, links und dann zeigen ihren Sinn erst in der Verwendung. Denn hier kann letztlich überall sein, je nach Sprecherstandpunkt. Daran sehen wir, dass zum Fixpunkt mehrere Aspekte gehören. Er wird darum als origo des Sprechens so dargestellt: Die Darstellung soll zugleich darauf hinweisen, dass das Sprecher-Ich das eigentliche Zentrum ist. Von ihm aus wird der Raum entworfen. Die Zeit wird von der Sprechzeit her organisiert. Mit hier und jetzt werden natürlich keine Punkte benannt, beide zeigen eine unbestimmte Ausdehnung. Bedeutung und Sinn ich hier jetzt Origo des Sprechens <?page no="32"?> 32 Jeder Sprecher bringt seine eigene origo ein. In der kommunikativen Dynamik der face-to-face-Situation (F2F) wandert die origo mit dem Sprecher-Ich von Sprecher zu Sprecher. Die origo bleibt nicht immer durch den Standort des Sprechers bestimmt. Sprecher können eine neue origo einführen, von der aus dann situiert wird. Ein Beispiel für den räumlichen Aspekt: Dahinten steht mein Auto. Davor siehst du einen Supermarkt. Bei einer solchen imaginierten origo - hier das Auto - spricht man auch von Deixis am phantasma. Diese origo ist nicht durch die Sprechsituation gegeben, sie wird textuell eingeführt. Es fängt mit einem Zeigen nach außen an, geht aber im Text weiter. Das phantasma selbst kann sogar eine eigene Gerichtetheit haben, eine Art von Gesicht wie das Auto, das ein Vorn und ein Hinten hat. Entsprechend kann etwa vom fahrenden Sprecher aus vor dem Auto paradoxerweise hinter dem Auto sein. Die Raumdeixis wird vom Hier aus organisiert etwa mit Adverbien, die die Dimensionen zeigen: hier und dort, oben und unten, vorn und hinten. Während man landläufig davon ausgeht, man könne im Raum auf Gegenstände zeigen, ist bei Zeit mit Zeigen nichts zu machen. So wird auch Zeit nach Raum metaphorisiert. Dabei wird allerdings die Dreidimensionalität reduziert auf ein lineares Vorher und Nachher. Vorher ist die Vergangenheit, nachher ist die Zukunft. (Das gilt allerdings nicht für alle Kulturen.) Deiktische Ausdrücke gehören vor allem in drei Kategorien: Pronomen und Adverbialpronomen: sie, wir, dies; dadurch, deswegen Definite Artikelwörter: die, diese, jene usw. Adverbien: links, rechts, vorn, hinten, vorhin, später Die Ausdrücke sind öfter antonymisch oder skalar angeordnet: einst ← neulich ← vorhin ← jetzt → sofort → gleich → nachher → bald → demnächst vorgestern ← gestern ← heute → morgen → übermorgen Kohärenz: Deixis und Phorik | 3 Deixis am phantasma Wandernde origo Ich erinnere mich, dass ich einen Mann aus dem Volk beim Anblick eines vorüberrennenden Hundes sagen hörte: „Wenn ich so laufen könnt, tät ich auch nichts mehr arbeiten! “ Gerade seiner logischen Sinnlosigkeit wegen prägte der Ausruf sich mir so erheiternd ein. Thomas Mann 36 <?page no="33"?> 33 Sprecher 1. Person: ich, wir Angesprochener 2. Person: du, ihr Gegenstand (worüber) 3. Person: er, sie, es spricht 3.2 Gegenständliche Anaphorik In einem Text kann man schwerlich zeigen. Bei deiktischen Ausdrücken in Texten sprechen wir von Verweisen und von Anaphorik. Dabei wurden die üblichen Verfahren der F2F-Deixis auf Texte übertragen, schließlich ging es bei F2F ja auch um Texte. Die origo wird aus der Kommunikationssituation heraus entfaltet in der Personaldeixis. Wie das grammatisch orientierte Modell der personalen Deixis zeigt, geht es hier wesentlich um die dritte Person, die ja offen ist für Gegenstände aller Art. Sie ist die Domäne der Anaphorik. Seit Jahrmillionen kreist die Sonne um die Erde. Sie spendet den Menschen Licht und Wärme. Mit diesen Sätzen sind zwei Gegenstände im weitesten Sinn kommunikativ eingeführt. Die Gegenstände sind Unikate. Wir haben kein Problem, sie zu identifizieren. Um ein Unikat handelt es sich auch hier: Mann wurde als zweites Kind in großbürgerlichen Verhältnissen in München geboren. Er war der erste Sohn von ... Das artikellose Mann verstehen wir als Eigennamen. Wir haben also neben der Einführung mittels definiter Nominalphrase (eine defNP mit definitem Artikel oder Demonstrativpronomen) auch die Möglichkeit, einen Eigennamen definit zu verwenden. Allerdings handelt es sich hier nicht um ein echtes Unikat: Der Autor nimmt an, der Leser weiß, um welchen Mann es sich handelt. Wenn das nicht gleich klar ist, werden Leser vielleicht klüger, wenn sie weiterlesen. In unseren beiden Beispielen finden wir die gleiche Struktur: eine NP, die als Antezedens fungiert, und ein anaphorisches Pronomen, das auf das Antezedens verweist. Jede Anapher führt eine Existenzpräsupposition mit sich, die für den sinnvollen Gebrauch erfüllt sein muss. Anapher Antezedens Mann wurde als zweites Kind geboren. Er war der erste Sohn ... 3.2 | Gegenständliche Anaphorik Diverse Antezedenzien <?page no="34"?> 34 Es sei gleich vorweg gesagt, dass nicht auf die Gegenstände, sondern auf die Ausdrücke verwiesen wird. Eine andere Art der Gegenstandseinführung liegt hier vor: Der Bundeskanzler wird auf Vorschlag des Bundespräsidenten vom Bundestage ohne Aussprache gewählt. (GG Artikel 63) Er ... Hier wird mit der defNP nicht eine Person, sondern eine Rolle eingeführt, die von verschiedenen Personen wahrgenommen werden kann und wurde. Die anaphorische Fortführung bleibt ambivalent. Es könnte weiter die Rolle definiert werden oder aber auf einen bestimmten Kanzler Bezug genommen werden. Etwa so: Der Bundeskanzler wird auf Vorschlag des Bundespräsidenten vom Bundestage ohne Aussprache gewählt. Er wurde aber damals nicht im ersten Wahlgang gewählt. Bei einer solchen Fortsetzung fällt auch auf, dass wir im Grundgesetz keine movierte Form finden, in den Augen manch einer altfränkisches Gepäck mitschleppen. Aber sicher wäre die folgende Fortsetzung ungewöhnlich. Wir würden sie wohl als Hinweis des Autors verstehen, dass ihm dieses Problem bewusst ist. Der Bundeskanzler wird auf Vorschlag des Bundespräsidenten vom Bundestage ohne Aussprache gewählt. Sie wurde damals auch im ersten Wahlgang gewählt. Nebenbei: Auch in unserem Eingangsbeispiel ist den Menschen nicht anaphorisch zu verstehen, sondern generisch, eine Generalisierung, die wir als solche verstehen, weil wir kein Antezedens parat haben. Wir werden - übertragen gesprochen - ins mentale All verwiesen. (Grammatik und Bedeutung der Artikelwörter sind hierbei wichtig.) Mit der Einführung kommunikativer Gegenstände wird sozusagen eine Karteikarte angelegt, die im Text dann sukzessive gefüllt wird (Fritz 2013, 241). Bei den bisherigen Beispielen steht auf der Karteikarte schon etwas drauf. Das kann den Gegenstand präzisieren, aber auch den Verweis sichern. Hier bleibt sie erst einmal ziemlich leer: Er war etwas kompliziert. Er brauchte einfach Zeit. Nun ist er fertig und alle sind mit ihm zufrieden. Das Einzige, was hier anfänglich zu verzeichnen wäre, könnte nach mancher Meinung sein: Einzahl und Sexus männlich. Wie aber, wenn es dann um einen Vertrag geht? Kohärenz: Deixis und Phorik | 3 Generisches Antezedens Genus und Sexus 37 <?page no="35"?> 35 Wenn ein Text oder ein Textsegment mit einem schwebenden Pronomen beginnt, dessen Bezugsausdruck folgt, sprechen wir von Kataphorik: Das Pronomen verweist als Katapher nach vorn auf ein Sukzedens. Die Karteikarte wird auch hier angelegt, bleibt aber recht offen und wird sukzessive gefüllt. Die Katapher weckt beim Leser die Erwartung, dass etwas folgt. Sie wird darum als Spannungsmittel gesehen. Sie haben sie eingekerkert und gefoltert. Viele von ihnen sind elendiglich verendet. So wurden die Timoresen fast ausgerottet. Kataphern müssen nicht mit antezedentiellen Personalpronomen beginnen und sie können auf komplexere Sukzedentien verweisen: Seine Schriften wurden verbrannt. Seine Familie wurde bespitzelt und er selbst immer wieder verhört. So wurde für Kleiber das Leben zur Hölle. Wir haben lange darauf gewartet, wir haben gebangt und gezittert, bis endlich das Projekt in die Gänge kam. Das Verhältnis von Anapher und Antezedens wird gemeinhin beschrieben als Koreferenz. Mit dem Antezedens referieren wir auf einen Gegenstand und mit der Anapher auf den gleichen Gegenstand. Dabei ist vorausgesetzt, dass die Einführung des Gegenstands gelingt, sodass anschließend weiter auf ihn referiert werden kann. Dazu muss die Aussage wahr sein, könnte man meinen. So ist es aber nicht - wie Ihnen das Eingangsbeispiel zeigt. Die Referenz kann auch gelingen, gleich ob Autor und Leser der Meinung sind, die Aussage stimme, wie auch sie stimme nicht. Ja sogar, wenn der Autor glaubt, die Aussage stimme, der Leser glaubt das aber nicht, kann er die Referenz erfassen, sonst könnte er ja gar nicht über die Wahrheit urteilen. Sukzedens Katapher Er war wirklich etwas kompliziert. Dieser Mann war der erste, den ... x Koreferenz Mann wurde als zweites Kind geboren. Er war der erste Sohn ... referiert auf referiert auf x 3.2 | Gegenständliche Anaphorik Katapher Koreferenz Existenzpräsupposition 43 44 <?page no="36"?> 36 Der Aspekt der Koreferenz wird von Textlinguisten oft überdehnt und auf Fälle angewendet, bei denen das Antezedens gar nicht referentiell verwendet wird. Anaphorik strukturiert Texte und dient der Kohärenz. So ziehen sich etwa Verweisketten durch einen Text. Über Anaphern, Kataphern, Wiederholungen und andere Formen von Wiederaufnahme konstituiert sich in jedem Text eine Kette von Verweisen und oft ein ganzes Geflecht mit sich kreuzenden Ketten. Was sich am längsten durch den Text zieht, ist vielleicht das Wichtigste und hat viel mit dem Thema des Textes zu tun: Pit kauft sich ein neues Motorrad. Die Maschine ... sie ... Pit hat geheiratet: Seine Frau ... dieses Luder ... das Mensch ... es ... Das Forschungsgebiet der Gesprächsforschung ... dieses Gebiet ... der ganze Bereich ... Hier wird Weichweizen produziert ... der Weizen ... das Produkt ... solche Erzeugnisse ... So ein anaphorisches Geflecht sehen Sie hier. (Text nach Hans Ritz: Die Geschichte vom Rotkäppchen) In einem solchen Geflecht können sich die Verbindungslinien auch kreuzen. Das verdankt sich nicht nur der hier gewählten Textdarstellung und würde auch nicht aufgelöst in einer rein linearen und sozusagen dem natürlichen Text folgenden. Übrigens habe ich eine kreuzende Linie ausgelassen, der übersichtlichen Darstellung halber. Es war einmal vor vielen, vielen Jahren - mehr als tausend Jahre mögen es her sein - ein blondes, blauäugiges BDM-Mädel. Das trug immer sein rotes Barett und wurde darum nur Rotkäppchen gerufen. Rotkäppchen war so zuckersüß, dass ein jeder es lieb hatte. Am liebsten aber hatte es seine arische Großmutter, die im Mütterheim der NSV lebte und deren Betreuung Rotkäppchen übernommen hatte. Eines Tages nun sprach seine Mutter zu ihm: „Komm Rotkäppchen, da ist ein Körbchen mit einer Pfundspende und einer Flasche Patenwein. Bring es der Großmutter, sie ist krank und schwach. Geh gleich los, lauf aber nicht vom Weg ab und nimm dich vor fremden Männern in acht.“ Kohärenz: Deixis und Phorik | 3 Verweisstrukturen Caveat 44 45 <?page no="37"?> 37 Mit den folgenden beiden Beispielen haben wir eine weitere Art der Gegenstandseinführung. Das gilt oft als klassischer Anfang: Hier wird ein Textgegenstand indefinit und unbestimmt eingeführt. Es geht mehr um ein X dieser Art. Im Anschluss kann auf ihn referiert werden mit einer defNP. Ein solcher Verweis kann auch mit einer pronominalen Anapher gegeben werden. In der Karteikarten-Metapher wird hier ein Eintrag angelegt mit einer ersten Deskription. Weitere Deskriptionen mit NPs können folgen. So wird in einem Artikel über Franz von Sickingen (Spiegel 22, 2015) ein thematischer Ablauf gegeben: das kleine Fränzgen, das stämmige Knäblein, der letzte Ritter, der Rebell, Bannerträger des niederen Adels, der deutsche Robin Hood, der Adlige, der Raufbold, der Störenfried, der Empörer, der Unhold, der Beutegreifer, der Umstürzler, der Raubritter, der Unruhestifter. Die charakterisierenden Eigenschaften können auch wertend und manipulativ zugesprochen werden: der fahrlässige Autofahrer, die klugen Frauen. Wir kommen zu einem dritten Fall der gegenständlichen Anaphorik, zur komprimierenden Anapher. Das Antezedens ist hier allerdings kein normaler kommunikativer Gegenstand. Deshalb sollte man von Referenz hier auch mit Vorsicht sprechen. Das Antezedens ist ein Textsegment, dessen Grenzen nicht immer ganz klar sind. 3.2 | Gegenständliche Anaphorik Textsegment als Antezedens indef ― def Ein Auto hat im Berliner Stadtteil Tegel einen Linienbus gerammt und neun Menschen teilweise schwer verletzt. Laut Polizei verlor der 45-jährige Autofahrer aus unbekannten Gründen die Kontrolle über sein Fahrzeug und prallte frontal gegen den Bus. Zwei Frauen wegen geplanten Bombenanschlags angeklagt: Die verdächtigen Frauen sollen sich im Netz über Bombenbau informiert haben. Experten sehen als Gründe für den steilen Abstieg vom letzten Zinsgipfel die positiven Rahmendaten, die „besser als erwartet ausgefallen“ seien. Michael Heise, Leiter der Volkswirtschaftlichen Abteilung bei der DG-Bank, nennt vor allem die deutliche Beruhigung beim Preisauftrieb, die mäßige Geldmengenexpansion und die Sparbemühungen der öffentlichen Hand. Dies alles habe - so Heise - zu einer „Korrektur“ der Zinsentwicklung des vergangenen Jahres geführt. (Tageszeitung 1995) 46 <?page no="38"?> 38 Eine NP-Anapher bietet auch in diesem Fall die Möglichkeit, das Antezedens zu spezifizieren: Auch Wertung ist hier möglich: Der 30jährige wurde verurteilt aufgrund seiner widersprüchlichen Aussagen. Bei den Anhörungen hatte er behauptet, Mitglied der PKK gewesen zu sein und bei den „Grünen“ gearbeitet zu haben. Diese Lügen habe er alle mehrmals geäußert. Was braucht nun ein Leser, um den Verweis zu verfolgen, zu verstehen? Wie findet er das Antezedens? Ihm muss eine Art Überbrückung vom Verweis zum Antezedens gelingen. Um den roten Faden zu entwickeln, muss der Leser die Bezüge zwischen anaphorischen Ausdrücken und ihrem Antezedens erfassen, zurückschauen, denken manche. Zum Blick zurück raten sie für pronominale Anaphern: Sicherlich ist das entscheidende Kriterium das letzte. Kohärenz: Deixis und Phorik | 3 Verweisregeln Truman war unsicher (er hatte das Amt erst im April übernommen) und unerfahren. Einen Tag vor Konferenzbeginn hatten die Amerikaner die erste Atombombe gezündet. Diese Tatsache hat Trumans Haltung zu den Sowjets bestimmt. (Tageszeitung 1995) Die NATO ist bereit, einen Frieden durchzusetzen, wenn dieser beschlossen ist. Claes zeigte sich mit dem NATO-Programm „Partnerschaft für den Frieden“ sehr zufrieden. „Dieser Prozess hat an Fahrt gewonnen“, sagte er. (Tageszeitung 1995) 1. Suche nach einem Antezedens, das mit dem anaphorisch verwendeten, genus-sensitiven Ausdruck in Genus und Numerus kongruiert. 2. Suche nach einem geeigneten Antezedens, das der Anapher in der inearen Kette nach links nicht zu fern steht. 3. Suche nach einem Antezedens, das öfter oder im vorherigen Satz die Subjektfunktion erfüllt. 4. Suche nach einem Antezedens, das dieselbe semantische Rolle innehat wie die Anapher (sog. Rollenträgheit). 5. Suche nach dem Thema im Vortext: Je häufiger von etwas die Rede ist, umso attraktiver als Antezedens. 6. Suche nach einem Antezedens, das eine sinnvolle Deutung der Sequenz ermöglicht (Kohärenzforderung). Existenzpräsupposition eingelöst? 39 <?page no="39"?> 39 Entscheidend für die Kohärenz ist es, die Relation zwischen Antezedens und Anapher zu erkennen und zu verstehen. Das geht in der Regel nicht so, wie der Terminus „Rückverweis“ suggerieren könnte. Der Leser sucht nicht zurück nach einem Antezedens, es steht meist aufgewärmt parat. Einfach scheint das bei Rekurrenz. Allerdings ist Rekurrenz nicht der bloße Default (unmarkierter Normalfall), sondern bringt eigene Sinnaspekte ein. Sie ist die auffällige Fortsetzung, nicht der Default. Hier klingt Rekurrenz eher eindringlich und feierlich: Im Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott, und Gott war das Wort. Weiter sind - außer der bloßen Rekurrenz - diverse Verfahren üblich, die auf einigermaßen wohldefinierten Sinnrelationen ruhen: Synonymie, Obergriff, Unterbegriff. Im einzelnen wird man die semantische Relation nicht immer ganz genau angeben können, besonders nicht bei sogenannter Synonymie. Frames, die durch die Verbvalenz geöffnet werden, lassen mögliche Füllungen als Anaphern verstehen: Wo gestohlen wird, gibt es Handelnde, und da es sich um Ungesetzliches dreht, auch Täter: In einem Eigenheim wurde in der Nacht ein Handy vom Nachttisch gestohlen, als die Bewohner im Tiefschlaf lagen. Der Täter muss hochprofessionell vorgegangen sein. Solche Beispiele sind besonders interessant, weil sie sich stereotypische Muster zu eigen machen: Nur ein Täter? Ein Mann, keine Frau? 3.2 | Gegenständliche Anaphorik Rekurrenz Anaphorische Muster Verstehen von Anaphern Größere Probleme werfen die handschriftlichen Texte des Nachlasses auf. Die Manuskripte sind zum Teil in einer Art Steno geschrieben, zum Teil in Spiegelschrift. Eine elegante Dame hatte das Feuer auf einem Betriebshof entdeckt und die Feuerwehr alarmiert. Die Frau ... Eine Frau hatte das Feuer auf einem Betriebshof entdeckt und die Feuerwehr alarmiert. Die elegante Dame ... Dieser Tage wurde ein neuer Fußballverein gegründet. Der Verein wird von einem Milliardär gesponsert. Dieser Tage wurde ein neuer Fußballverein gegründet. Der Club wird von einem Milliardär gesponsert. So eine Vokabel fällt mir schwer zu lernen. Das Lexem hat es aber auch wirklich in sich. <?page no="40"?> 40 Auch kollektive Anaphern sind leicht zu erkennen. Im dritten Beispiel eine kollektive Katapher. Hier geht das sie am Beginn eher ins offene Allgemeine, indes die Kataphorik mit dem zweiten sie beginnt. Einen weiteren wichtigen Zusammenhang von Anapher und Antezedens bieten Assoziationen, die mit der Bedeutung des Antezedens vor allem gegeben sind. Sie werden unter bridging zusammengenfasst. Im Übrigen kann das Nomen der NP auch elliptisch ausgelassen sein. Das letzte Beispiel macht Gebrauch vom weiteren Wissen. Wichtig ist hierbei, dass man dieses Wissen nicht unbedingt schon haben muss. Wenn man die Struktur kennt und erkennt, kann man es erschließen. Insofern können solche Fälle neues Wissen schaffen. Bei assoziativen Anaphern geht es nicht um Referenz und Koreferenz. Anaphorik verschwimmt hier zur Suche nach dem Anker für die Deutung einer defNP. Da zeigt sich wieder, dass die Erklärung der Anaphorik über Koreferenz mit zwei Körnchen Salz zu sehen ist. Kohärenz: Deixis und Phorik | 3 bridging Trainer, Verteidiger und Stürmer standen zusammen. Die ganze Mannschaft hat den Sieg verdient. Sehr viele Handschriften enthält der Nachlass. Aber auch Typoskripte und Gedrucktes. Das Ganze zu bearbeiten wird Jahre in Anspruch nehmen. Sie haben sie eingekerkert, gefoltert. Viele von ihnen sind umgekommen. So wurde das Volk der Timoresen fast ausgerottet. Der Nachlass ist recht umfangreich. Die Texte gehören in verschiedene Kategorien. Zuerst die Manuskripte, dann die gedruckten Teile und schließlich die elektronischen [...]. Über Jahrzehnte standen die Schweizer Banken unter dem Verdacht, Steuersünder zu begünstigen. Die amerikanischen Behörden haben nun eine Frist gesetzt ... Ein Auto hat im Berliner Stadtteil Tegel einen Linienbus gerammt. Laut Polizei verlor der 45-jährige Autofahrer die Kontrolle über sein Fahrzeug und prallte frontal gegen den Bus. Einer Autofahrerin wurde der Führerschein entzogen. Sie hat 51mal den doppelt durchgezogenen Streifen überfahren. Wir gehen nie mehr in dieses Restaurant: Die Suppe war kalt, der Braten zäh und die Kellner muffig. 40 <?page no="41"?> 41 3.3 Raum-Zeit-Anaphorik Ein schriftlicher Text ist situationsentbunden. Autor und Rezipient wissen das. Ein Autor geht aus von seiner eigenen origo. Als Sprecher kann er implizit im Text sichtbar werden, wenn er etwa am Anfang von einem Er spricht, denn das setzt voraus, dass da ein Ich spricht. Ansonsten gibt es im Text vorderhand keine Außendeixis. Was das Sprecher-Jetzt betrifft, könnte der Rezipient ja gar nichts damit anfangen. Das wissen beide Beteiligte und sie wissen auch voneinander, dass sie dies wissen. Für das Sprecher-Hier gilt das ebenso. Darum wird in einem Text alsbald eine eigene origo gesetzt, die hinfort als Bezugspunkt gilt. Wenn etwa ein geschriebener Text mit einem deiktischen morgen zu beginnen scheint, so wird sich das alsbald als kataphorisch herausstellen. Denn Autor und Rezipient wissen, dass alles Andere nicht sinnvoll wäre. Der Text wird ja in der Regel nicht zu dem Zeitpunkt rezipiert, zu dem er geschrieben wird. Analoges gilt für ein scheindeiktisches dort. Darum muss im Text jedem relativen morgen als temporärer Fixpunkt alsbald ein Heute zugeordnet werden, jedem dort ein Hier. Von diesen Überlegungen nicht betroffen sind Fälle, wo im Text bereits eine neue origo gesetzt wurde. Von dieser origo her kann ein Ich sprechen und es kann auch sozusagen fingierte Deixis nutzen. Man könnte hier von Binnendeixis sprechen. In vielen darstellenden Texten wird überhaupt keine Außendeixis verwendet. Zum Beispiel hier (uns kümmern nicht die Behauptungen): Von Anapher wird in zweierlei Sinn gesprochen: Für eine rhetorische Figur, bei der Satzanfänge wiederholt werden. Für die Wiederaufnahme von etwas, das zuvor im Text erwähnt worden ist. Das lässt den Text autorlos erscheinen und gibt ihm für viele Rezipienten einen objektiven Anstrich. Man sollte aber nie vergessen, dass jeder Text, auch der sich noch so objektiv gebende, einen Autor hat und dass der Autor mit im Spiel ist. Diese Einsicht gilt selbstverständlich über die Anaphorik hinaus. Bei der Raum-Zeit-Anaphorik geht es nun darum, wie räumliche und zeitliche Verhältnisse in Texten dargestellt werden und wie dies zur Textkohärenz beiträgt. 3.3 | Raum-Zeit-Anaphorik Textuelle origo <?page no="42"?> 42 Für das Setzen einer origo gibt es klassische Erzählmuster. Solche Anfänge entsprechen einem Teil der sog. Lasswell-Formel für Kommunikation allgemein. Es gilt zu wissen: Wer - wann - wo? In diesen Texten wird aus einer impliziten Perspektive Autor-Leser eine origo gesetzt, von der aus anschließend weitergeführt werden kann. (Man spricht auch von Situierung.) In zweien der Beispiele wird die Zeit kalendarisch genannt. Der Ort in den ersten Beispielen eher unvollständig, im dritten als Unikat, das letzte zeigt die Möglichkeit der Fortführung mit bridging. Kohärenz: Deixis und Phorik | 3 Orientierung am Anfang Flaubert: L'Education Sentimentale Von der Ville de Montereau, die am 15. September 1840 gegen sechs Uhr morgens zur Abfahrt bereit vor dem Quai-Bernard lag, wirbelte dichter Dampf auf. Atemlos eilten Leute herbei; Fässer, Taue, Wäschekörbe hinderten den Verkehr. Die Matrosen gaben niemand eine Antwort. Man stieß sich; die Gepäckstücke häuften sich zwischen den beiden Luken und der Lärm verlor sich in dem Zischen des entweichenden Dampfes, der alles in eine weißliche Wolke hüllte, während die Glocke vorn am Bug unablässig läutete. Goethe: Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten - Kapitel 5 In einer italienischen Seestadt lebte vor Zeiten ein Handelsmann, der sich von Jugend auf durch Tätigkeit und Klugheit auszeichnete. Er war dabei ein guter Seemann und hatte große Reichtümer erworben, indem er selbst nach Alexandria zu schiffen, kostbare Waren zu erkaufen oder einzutauschen pflegte, die er alsdann zu Hause wieder abzusetzen oder in die nördlichen Gegenden Europens zu versenden wusste. A.B.C.-Projekt beginnt im November Am 1. November startet bei der Volkshochschule Oldenburg in Niedersachsen das A.B.C.-Projekt (Alphabetisierung - Beratung - Chancen), ein Forschungsvorhaben zur Erhöhung von Effizienz und Qualität von Unterstützungs- und Beratungsmaßnahmen in der Erwachsenenalphabetisierung. Das dreijährige Projekt wird zunächst ... (abc-projekt.de) In Berlin soll schon wieder ein neues Gedenkmuseum errichtet werden. Die Stadt quillt fast ... 50 <?page no="43"?> 43 Mitten hinein geht es hier: Von dem er-Protagonisten her wird der Text weiter entwickelt: Eine ungewisse Umgebung, eine Uhrzeit, die im Verlauf präzisiert wird. So entsteht eine - wenn auch diffuse und unvollständige origo. Der Fall ähnelt der Flaubert-Eröffnung, ist aber kataphorisch organisiert. Anders dieser Typ Eröffnung, der heutzutage literarisch ganz üblich ist. Da wird eine neue Sprechsituation kreiert, besser fingiert, mit einem Ich als origo. Autor und Leser bleiben außen vor. Das Muster sind normale F2F-Kommunikation und entsprechende Texte. In solchen Texten können auch neue Ich-Sprecher mit eigener origo eingeführt werden. Fingiert wird ein Dialog auch hier in der rhetorischen Figur der Apostrophe (griechisch mit Endbetonung! ) bei Müller-Westernhagen: 3.3 | Raum-Zeit-Anaphorik fingierte Sprechsituation Er wartete. Alles war still, leblos. Dann schlug die Uhr im Korridor: Drei. Er horchte. Leise hörte er von ferne das Ticken der Uhr. Irgendwo hupte ein Automobil, dann fuhr es vorüber. Leute von einer Bar. Einmal glaubte er, atmen zu hören, doch musste er sich getäuscht haben. So stand er da, und irgendwo in seiner Wohnung stand der andere, und die Nacht war zwischen ihnen, diese geduldige, grausame Nacht, die unter ihrem schwarzen Mantel die tödliche Schlange barg, das Messer, das sein Herz suchte. Der Alte atmete kaum. (Friedrich Dürrenmatt) Ich ging nun auf einer Gasse, die vom Bazar des Eingangs tiefer in die Mellah hineinführte. Sie war dicht belebt. Mitten unter den zahllosen Männern kamen mir einzelne Frauen entgegen, unverschleiert. Ein uraltes, völlig verwittertes Weib schlich daher, sie sah aus wie der älteste Mensch. Ihre Augen waren starr in die Ferne gerichtet, sie schien genau zu sehen, wohin sie ging ... Elias Canetti, Die Stimmen von Marrakesch Johnny Walker Jetzt bist du wieder da. Johnny Walker Ich zahl dich gleich in bar. Johnny Walker Du hast mich nie enttäuscht. Johnny Du bist mein bester Freund! <?page no="44"?> 44 Es beginnt mit einem angesprochenen Du, danach folgt das Sprecher- Ich. Die Personalpronomen werden dabei in unterschiedlichen Pronominalformen wieder aufgenommen. Auch ein Hier wird gesetzt. Im weiteren Text kann von der gesetzten origo aus verwiesen werden: mit gegenständlichen Anaphern, mit räumlichen (herbei, von Ferne, irgendwo, da, daher) und mit zeitlichen (dann, zunächst, gleich). Auch Deixis am phantasma ist möglich (vorn am Bug). Paradebeispiel räumlicher Anapher ist das Adverb dort mit positionaler Bedeutung, wie auch die Ableitung dorthin mit direktionaler. Auch in diesen Fällen wird oft von Koreferenz gesprochen, wenngleich das Antezedens nicht immer leicht zu bestimmen ist. Das wird in diesem Beispiel noch deutlicher als im ersten. Will man hier von Koreferenz sprechen, muss man die Anapher dort semantisch aufsplitten: eine anaphorische Komponente und eine referenzielle. Desgleichen öfter das, was als Antezedens gesetzt wird, zum Beispiel in X, nach X. Kohärenz: Deixis und Phorik | 3 lokale Anapher Aber der Morgen kam, wo er, während des Frühstücks, zu Hans Castorp trat, der zu dieser Zeit am Guten Russentisch seinen Platz hatte, am oberen Ende, dort, wo dereinst sein großer Dutzbruder gesessen, und ihm unter redensartlichen Glückwünschen eröffnete, der Kettenkokkus sei nun doch in einer der angelegten Kulturen zweifelsfrei festgestellt. (Thomas Mann) Er zögerte, seine Haltung zu lösen, in Erwartung einer Anrede durch die Witwe. Da keine erfolgte, wünschte er vorläufig nicht zu stören und sah sich nach der Gruppe der übrigen Anwesenden in seinem Rücken um. Der Hofrat winkte mit dem Kopfe in der Richtung des Salons. Hans Castorp folgte ihm dorthin. (Thomas Mann) Denn erstens war das keine optische Veranstaltung, die man eines Abends - und man schlug die Hänenholz, dieses mattschwarzen Tempelchens, vor dessen offener Flügeltür er im Sessel saß, die Hände gefaltet, den Kopf auf der Schulter, den Mund geöffnet, und sich von Wohllaut überströmen ließ. Die Sänger und Sängerinnen, die er hörte, er sah sie nicht, ihre Menschlichkeit weilte in Amerika, in Mailand, in Wien, in Sankt Petersburg, - sie mochten dort immerhin weilen, denn was er von ihnen hatte, war ihr Bestes, war ihre Stimme, und er schätzte diese Reinigung ... (Thomas Mann) <?page no="45"?> 45 x Koreferenz Starnberg ist eine schöne alte Stadt. Heutzutage ist dort nur Stau. in x Der mit dem Fixpunkt eingeführte Ort wird im Prinzip im Text durchgehalten, von ihm aus werden ganz wie in der Deixis auch Nebenorte eingeführt über Deixis am phantasma. Um diesen Rahmen zu verlassen, muss eine neue origo eingeführt werden. Nach einigen Weisen der Lokalisierung nun zur Temporalisierung. Zeit ist in unserer Sprache konzipiert nach Raum, allerdings mit einer wichtigen Einschränkung: Zeit ist linear konzipiert. In normaler F2F- Kommunikation gibt das Jetzt die Sprechzeit, von der alles Weitere ausgeht. In schriftlichen, situationsentbundnen Texten wäre die Sprechzeit nicht beiden Partnern gemeinsam. Der Autor schreibt zwar zu einer bestimmten Zeit, aber wann der Leser den Text liest, ist ungewiss und offen, folgt aber naturgemäß der Schreibzeit. Darum bleibt hier die Sprechzeit gewissermaßen in der Schwebe. Sie wird jedoch übergeordnet als Bezugszeit genutzt, etwa wie im Flaubert-Text, wo das Ganze als vergangen von der Sprechzeit aus temporalisiert wird. Typischerweise wird aber dann im Text eine Bezugszeit gesetzt, von der aus als Fixpunkt weiter temporalisiert werden kann. So eine Art Temporalisierung zeige ich am Beispiel. x Koreferenz Starnberg ist eine alte Stadt. Aber ich fahre wegen Staus nicht dorthin. x nach 3.3 | Raum-Zeit-Anaphorik lokale Anaphern temporale Anaphorik Dann überquerten sie wieder die See und verbrachten einen ganzen Winter in einer befestigten, keine Obrigkeit anerkennenden und von keiner Obrigkeit anerkannten Stadt in der Nähe der Säulen des Herkules. Danach fuhren sie durch die Straße von Gibraltar und kamen nach Britannien, wo sie ihre Galeere auf den Strand zogen, säuberten und ausbesserten. Von da fuhren sie nach Irland, wo sie Stoffe und billigen Schmuck gegen den goldenen Zierat der irischen Stämme eintauschten. (Howard Fast, Spartacus) 49 <?page no="46"?> 46 Ganz wie in der Raumdeixis können dann auch temporale, transitorische Fixpunkte gesetzt werden. Wenn jemand erst heute eine Einladung bekommen hat, konnte er natürlich gestern nicht absagen. So ist das eben leider. In der textuellen Temporalisierung wirken temporale Angaben und Tempus zusammen. Wichtig: Diese Angaben sind fakultativ, Tempus muss aber in jedem Verbalsatz vorkommen. Darum ist eine wichtige Frage, wie beide Verfahren zusammenwirken und ob eines und wann den Vorzug in der Deutung bekommt. Mit morgen wird eine transitorische Bezugszeit gesetzt, von der aus das Präsens Vorzeitigkeit signalisiert. In einer solchen Folge werden wir das Adverb für dominant halten und das Präsens entsprechend als künftig verstehen: Sie arbeitet Tag und Nacht. Aber was morgen in einer Zeitschrift erscheint, weiß sie nicht. In den nächsten beiden hingegen ist das Tempus dominant: Sie arbeitet Tag und Nacht. Aber was morgen in einer Zeitschrift erschienen ist, weiß sie nicht. Sie hatte ordentlich eingekauft. Denn morgen kamen ihre Freunde zu Besuch. Bei den temporalen Adverbien sind zwei Typen zu unterscheiden: Deiktisch und situationsbezogen: einst ← vordem ← früher ← neulich ← vorhin ← [Bezugszeit] → sofort → nachher → bald Anaphorisch, also textbezogen: ← vorher/ zuvor ← [Bezugszeit] → dann → danach/ darauf → Die Aufstellung zeigt die Verwendungsweisen temporaler Adverbien. vorzeitig, situationsdeiktisch, begrenzt gestern, vorgestern, vorvorgestern vorzeitig, situationsdeiktisch eben, einst, früher, gerade, kürzlich, neulich, vorhin gleichzeitig, situationsdeiktisch, begrenzt heute, heuer gleichzeitig, situationsdeiktisch augenblicklich, derzeit, gegenwärtig, jetzt, mittlerweile, momentan, neuerdings, nun nachzeitig, situationsdeiktisch, begrenzt morgen, übermorgen nachzeitig, situationsdeiktisch bald, demnächst, gleich, nachher, sofort, später Kohärenz: Deixis und Phorik | 3 Tempus Temporaladverbien 50 <?page no="47"?> 47 Natürlich kann der erste Typus auch in Texten vorkommen, muss aber dann entsprechend gerahmt sein. Diese Verwendung nutzt dann zum Beispiel den Leseprozess als zeitlichen Verlauf: Jetzt behandeln wir die Anaphorik weiter. Vorhin haben wir schon gesehen, dass sie textbezogen ist. Kohärenz wird auch durch textimmanente Rahmen gesichert. Sie mögen textuell repräsentiert sein oder aus dem Wissen drübergelegt. Solche Rahmen umrahmen Cluster oder Textsegmente. Dabei arbeiten Raum- und Zeitkriterien Hand in Hand. Was den Raum betrifft, mag es im Rahmen eine Art Turmschau geben. Es wird rundum geblickt, was es in der Umgebung der origo noch gibt. Dabei kann auch die ein oder andere origo am phantasma neu gesetzt werden. Die zweite Möglichkeit ist die Wandertour: Das Auge wandert etwa mit dem Protagonisten oder auch ohne durch die Szenerie und mit ihm vielleicht die origo oder die Deixis am phantasma. Dabei spielen auch Zeitrahmen eine Rolle. Entsprechende Rahmen können durch Gleichzeitigkeit bestimmt sein oder durch einen Sukzess. Bei der Turmschau liegen beide Typen nahe, bei der Wandertour eher der Sukzess. vorzeitig, anaphorisch davor, vorher, zuvor gleichzeitig, anaphorisch derweil, gleichzeitig, unterdessen, währenddessen, zugleich nachzeitig, anaphorisch danach, dann, darauf, anschließend, endlich, schließlich 3.3 | Raum-Zeit-Anaphorik Anaphorische Rahmen Dem 1.780 Meter hohen Wank gegenüber liegt die Zugspitze. Gen Osten blickt man auf das Karwendel- und Wettersteingebirge. Im Tal unten liegt Garmisch-Partenkirchen und etwas hinauf das Loisachtal. Nach Norden kann man bis an die Grenzen von München kucken und drinnen sogar die Frauenkirche erkennen. Wir starteten von unserem Hotel aus. Unser Weg führt uns direkt nach Osten. Von hier sind es 12 km bis zum Ostende der Insel. Die Straße führt uns aus dem Ort hinaus. Rechts und links von uns nun nur Wiesen und Dünen. Da sind auch die Tiere, die ich von meinem Aufenthalt hier als Kind noch in Erinnerung habe. Unterwegs kommen uns Radler entgegen. Einer fährt rechts an uns vorbei. Schneller als gedacht kommen wir am Ende unseres Weges an. Vor uns nur Sand und Dünen und Meer. Hier ist also das Ostende. <?page no="48"?> 48 Für die temporalen Verhältnisse im Text sind die obligatorischen Tempora wichtig. Im Prinzip kann man davon ausgehen, dass im Text durch konstantes Tempus Gleichzeitigkeit ausgedrückt wird, solange keine temporalen Angaben intervenieren. Vorzeitigkeit ist in der consecutio temporum systematisch geregelt, weil es zu jedem Grundtempus ein vorzeitiges Tempus gibt. Das Grundtempus liefert hier die Bezugszeit. In diesem Karl-May-Text finden sich drei Tempora. Das ich meine im Präsens gibt die Bezugszeit. Von da wird Vergangenes erzählt im Präteritum. Von diesem aus relativ alles, was vor dieser Zeit lag. Das alles muss im Text gar nicht in dieser zeitlichen Reihenfolge erscheinen. Wie Sie sehen, kommen wir sogar damit zurecht, dass in der Vorvergangenheit eingestiegen wird. Bemerkenswert ist der Tempuswechsel hier. Damit soll wohl angedeutet werden, dass Blazer noch lebt. Futur I Präsens Präteritum Futur II Perfekt Plusquamperfekt Kohärenz: Deixis und Phorik | 3 Tempus Seit dem bisher Erzählten waren vier Monate vergangen, in denen die ersten zwölf Wochen lang ein mir unendlich teures Leben mit sehr abwechselnden Erfolge mit dem Tode gerungen hatte. Ich meine dasjenige meines Freundes Winnetou. Seine sonst so widerstandsfähige Natur hatte doch unter dem Aufenthalte in Afrika, so kurz derselbe war, gelitten. Wir bekamen in Marseille schnelle Gelegenheit nur nach Southampton. Karl May: Im Todesthale Raymond J. Dearie ließ sich Zeit. Seinen Gerichtssaal ließ er ordnungsgemäß verschließen, die Beamten der US-Bundespolizei FBI und der Steuerbehörde IRS hatten Platz genommen. Aber zunächst erkundigte sich der Richter an jenem 25. November 2013 nach dem Befinden des Beklagten. Chuck Blazer, 17 Jahre lang Mitglied im Vorstand des Weltfußball-Verbandes Fifa und Generalsekretär des Verbands von Nord- und Mittelamerika (Concacaf), saß im Rollstuhl. Er hat Krebs. (SZ 2015) 51 <?page no="49"?> 49 Das ikonische Prinzip „Nachzeitigkeit entsprechend dem Verlauf im Text“ ist ansonsten eingehalten. Dieser sog. ordo naturalis gilt im Rahmen, dessen Verlassen zu kennzeichnen ist. Die ikonische Ordnung wird aber vom Tempus dominiert, wie hier zu sehen: Wie Raum und Zeit interagieren, kann man demonstrieren mit der Verwendung der Adverbien gleich und da. In diesen Beispielen werden wir das Adverb temporal verstehen. Das temporale Umfeld stützt das. Was aber, wenn es nahe bei lokalen Angaben steht? Wenn wir die intensivierende Verwendung von gleich mal vernachlässigen (die Frage wäre, wie es dazu gekommen ist), so könnten wir annehmen, die Idee der Wandertour liege zugrunde und schaffe leicht den Übergang vom Temporalen zum Lokalen. Das wäre doch eine schöne Retourkutsche für die Grundmetaphorisierung des Temporalen nach Raum. 3.3 | Raum-Zeit-Anaphorik Ikonismus ... antwortete Settembrini und warf zu dem neben ihm Stehenden einen Blick empor, um sich gleich danach von ihm abzuwenden und den Kopf in die Hand zu stützen. „Nenne mich ‚Sesemi‘, Kind“, sagte sie gleich am ersten Tage zu Tony Buddenbrook, indem sie sie kurz und mit einem leicht knallenden Geräusch auf die Stirn küsste. Thomas Mann Er schwärmte von Renaissancebrunnen, die Kühlung spendeten, von wohlbeschnittenen Alleen, in denen es sich so angenehm lustwandeln lasse, und jemand erwähnte des großen, verwilderten Gartens, den Buddenbrooks gleich hinter dem Burgtore besaßen. Als ich schon hübsch zu Fuße war [...], wollte der Pate Jochem auch mich einmal mitnehmen nach Maria Schutz. „Meinetweg“, sagte mein Vater, „da kann der Bub gleich die neue Eisenbahn sehen, die sie über den Semmering jetzt gebaut haben. Das Loch durch den Berg soll schon fertig sein.“ Peter Rosegger, Als ich noch der Waldbauernbub war Wir bekamen in Marseille schnelle Gelegenheit nur nach Southampton. Seit dem bisher Erzählten waren vier Monate vergangen [...] (Karl May: Im Todesthale) 52 <?page no="50"?> 50 Am Ende bleibt noch eine Erscheinung, die wohl öfter der textuellen Anaphorik zugewiesen wird. Es handelt sich aber um Deixis am Textphantasma. Der Text wird dabei als Bezugsobjekt genommen, einerseits räumlich konzipiert, was er ja tatsächlich ist, und andererseits als Verlauf (auch durch die Leserichtung) temporal. Dabei kann man auch die Lesezeit als textuelle Bezugszeit sehen. So kann der Text als deiktische Basis genutzt werden. Während es bei Anaphorik um vorher Gesagtes geht, geht es hier um den Hinweis auf eine bestimmte Textstelle. Räumlich sieht das dann wie normale Deixis aus. Wichtig ist hierbei, dass die räumliche Organisation weniger von links nach rechts als vielmehr (vielleicht aufgrund älterer Texte in Rollenform) weitgehend von oben nach unten gedacht ist: Hier erörtern wir die Gründe für ... Am linken Rand sehen Sie das Diagramm ... Dort finden Sie weitere Argumente für ... Oben wurden die Gründe erörtert, weiter unten wird es um die Folgen gehen. Die zeitliche Konzipierung folgt eher dem Verlauf von links nach rechts, der Leserichtung eben. Wir kommen nun endlich zu der Frage ... Später werden wir ... Um das zu verstehen braucht der Leser allerdings Hinweise wie Verb im Präsens, einschließendes wir, Art und Bedeutung des temporalen Konnektors. Dass es hierbei um Deixis, nicht um Anaphorik geht, erkennt man daran, dass anaphorische Verweismittel abweichend erscheinen - wohlgemerkt, wenn es nicht um textinterne Figurenrede geht oder um Dialog des Autors mit dem Leser: Vorhin haben wir die ersten Anfänge kennen gelernt. Eben haben wir uns mit den ersten Anfängen befasst. Zur Zusammenfassung komme ich später. ¿Vorher haben wir die ersten Anfänge kennen gelernt. ¿Bald behandeln wir die weitere Entwicklung. Selbstverständlich sind hier nicht alle möglichen Temporaladverbien sinnvoll. Aber Deixis im Text gibt es nur in der Figurenrede. In der Textdeixis hat der Verweis eine viel größere Reichweite als die Anapher. Die Textstelle kann ja explizit genannt werden: in Kapitel X, auf den Seiten x-y, Zeile 3 v. o. Kohärenz: Deixis und Phorik | 3 <?page no="51"?> 51 4 Der semantische Gehalt „When I use a word,“ Humpty Dumpty said, in a rather scornful tone, „it means just what I choose it to mean - neither more nor less.“ „The question is,“ said Alice, „whether you can make words mean so many different things.“ „The question is,“ said Humpty Dumpty, „which is to be master - that's all.“ Lewis Carroll, Through the looking glass, 1871 4.1 Semantische Relationen Das vielbesungene Carrollsche Motto könnte man so verstehen, als maße sich Humpty Dumpty an, Gewalt über die Bedeutung von Wörtern zu haben. Man kann es aber auch so deuten, dass er betonen will, dass wir mit der Verwendung eines Wortes genau das sagen, was wir sagen wollen. Für das englische Wort mean wählen wir im Deutschen zwei Übersetzungen (und sind nicht immer sicher, welche besser oder jeweils passend ist). Wir können aber im Deutschen eine wichtige Unterscheidung leicht machen. Es geht dabei eigentlich um das Langue- Parole-Problem: Mit einer Äußerung meine ich etwas, ein Satz oder ein Wort hat eine Bedeutung per Langue. Dass ich mit einem Wort etwas meinen kann, verdankt sich nur der Bedeutung. Mit dem deutschen meinen habe ich eine Tür aufgemacht für eine schöne Diskussion. Das Verb hat einige Verwendungsweisen. Hier ist weniger an die Verwendung X meint, dass ... gedacht, sondern was jemand mit einer Äußerung gemeint hat. Etwa eine Antwort auf die Frage Was hast du damit gemeint? oder Ich habe gemeint ... Charakteristisch ist allerdings, dass wir so nicht viel weiter kommen. Denn wir bekommen nur eine andere Formulierung. Was aber ist mit der nun gemeint? Auch die Bedeutung ist ein nicht ungefährliches Konstrukt, wie wir sehen werden. Es tauchen ja sofort die Fragen auf, was sie ist, wie sie zustande gekommen ist, wie sie sich wandelt. Im Allgemeinen wird sie so aufgefasst, dass sie sprachlichen Zeichen per Langue zukomme und dass es zur Sprachkompetenz gehört, sie zu kennen. Diese Ansicht unterschlägt aber die Ontogenese. Jeder Sprecher hat ja seine eigene Lerngeschichte und so wäre es nicht verwunderlich, wenn seine subjektive Bedeutung eben subjektiv ist. sagen und meinen <?page no="52"?> 52 Das Wunder ist, dass wir trotzdem davon ausgehen, dass es die eine Bedeutung gibt, an der wir alle gleichermaßen partizipieren. Der Grund dafür ist: Ohne diese Annahme könnten wir nicht darauf hoffen, dass wir uns verstehen. Und damit sind wir bei einem anderen Verständnis des Mottos. Wenn es so gedacht wäre, dass Humpty Dumpty derart Gewalt über die Bedeutung hätte, dass er mit dem Äußern meinen könnte, was er will, dann würde er nicht verstanden. Genau in dieser Paradoxie kann man die Pointe Carrolls sehen. Kann ich mit dem Wort „bububu“ meinen „Wenn es nicht regnet, werde ich spazieren gehen“? - Nur in einer Sprache kann ich etwas mit etwas meinen. (Wittgenstein 1967, 38) Der Sinn eines Textes muss aus den vorliegenden tokens, den geäußerten Zeichen erschlossen werden. Wenn wir als Textlinguisten den Sinn erschließen, inferieren wollen, dann inferieren wir aus dem Vorliegenden ganz wie die Sprecher. Wir reklamieren aber kontrafaktisch, dass alle Sprecher so inferieren. Wir rekurrieren auf eine konventionalisierte Bedeutung. Das muss sich natürlich bewähren. Auf jeden Fall sollten wir bedenken und beherzigen, dass der Rede vom Sinn eines Textes eine gewisse Hypothesenhaftigkeit anhaftet und mögliche Verständnisse zugrunde liegen. Auf die Annahme, es gebe eine gemeinsame konventionelle Bedeutung sprachlicher Zeichen, baut die Idee, es gebe im Text Explizites und Implizites. Das Explizite komme den Zeichen overt zu, das Implizite tun wir dazu. Diese tradierte und wohlgelittene Unterscheidung ruht auf einem weiteren Mythos: Wenn ein Wort geäußert wird oder so dasteht, dann ist es explizit und dann sei auch die Bedeutung explizit. Diese Ansicht ist so offenkundig falsch, dass man sich fragen könnte, warum sie so resistent ist. Sie fußt auf einem Korollarmythos, nämlich dass ein Wort eine bestimmte Bedeutung habe und sie irgendwie auch zeige durch das Äußere des Wortes. Der Mythos wird nicht nur durch Wörterbücher, sondern auch von Linguisten gestützt. Aber in einem Text sind nicht einmal die geäußerten Zeichen, die tokens explizit (sie müssen ja einem mentalen Muster zugeordnet werden) und erst recht nicht ihr Sinn. In einem Text ist nichts Nennenswertes explizit. Wollten wir explizit und implizit unterscheiden, müssten wir den Unterschied im Impliziten begründen. Das Explizite ist ein kommunikativer Traum. Der semantische Gehalt | 4 Mythos des Expliziten 56 62 <?page no="53"?> 53 Auf jeden Fall wird es beim Impliziten und dem sog. Expliziten um Semantik gehen, um Wortsemantik und um Satzsemantik. Den semantischen Gehalt können wir dabei als ein Extrakt aus der Verwendung des Ausdrucks sehen, ein Extrakt aus dem, wofür der Autor Gründe hat und grade zu stehen hat, was der Leser schließt und was er schließen kann. Eine über einen bestimmten Ansatz hinausgehende Methode hierfür ist die relationale Analyse. Man will Bedeutungen von Ausdrücken näher bestimmen, indem man ihre Relationen zu anderen Ausdrücken eruiert. Für das Explizite wird dabei vorausgesetzt, dass einem Satz die Bedeutung per Langue und Konvention zukomme, ein Satz seine Bedeutung kontextlos habe, alle Sprecher den Satz so und so verwenden würden, alle Sprecher mit dem Äußern das Gleiche meinen würden, mit dem Satz gesagt werde, was alle Sprecher mit ihm meinen würden und was alle Sprecher darunter verstehen würden. Semantische Relationen sind Antonymie oder Unverträglichkeit, wenn zwei Sätze sich ausschließen, und Implikation, wenn einer aus dem anderen folgt. Die Implikation ist im Gegensatz zur Antonymie nicht symmetrisch. Wird A von B impliziert, sagt man A sei ein Hyponym, ein Unterbegriff von B, und umgekehrt, B sei ein Hyperonym, ein Oberbegriff von A. Trotz der geäußerten Reserven werden wir uns dieser fruchtbaren Beschreibungsweise bedienen. Wichtig ist dabei: Semantische Relationen bestehen nicht zwischen den Wörtern A und B. Das ist nur eine verkürzende und abgeleitete Redeweise. Sie bestehen zwischen Sätzen oder Propositionen, in denen die Wörter vorkommen, und zwar in bestimmter Weise vorkommen. Handlungen wie widersprechen, negieren machen von der Unverträglichkeit Gebrauch. Mit Wahrheit haben solche semantischen Relationen nicht direkt zu tun. Sie bestehen zwischen Sätzen und nicht zwischen Äußerungen, die wahr oder falsch sein könnten. Und es geht ja nicht nur um assertive Sätze. Eher ist es so: Wenn jemand einen Satz äußert, dann legt er sich fest auf alles, was per semantischer Relation dazugehört, und als Rezipienten billigen wir das - wenigstens vorläufig. Die verbreitete realistische Redeweise von der Wahrheit wäre hier irreführend. Wege zum sog. Expliziten 4.1 | Semantische Relationen 57 <?page no="54"?> 54 Aus dieser kurzen Meldung können wir Folgerungen erschließen. Experten wenden zudem ein, dass die Schwierigkeiten nicht allein naturgegeben sind. Die Planer räumen dies ein. (Mannheimer Morgen 2002) Wir können zum Beispiel schließen: Experten sind Menschen. Es gab noch andere Monita. Experten wie Planer sagen/ äußern etwas. Die Schwierigkeiten sind auch naturgegeben. Planer sind Menschen. Da gibt es aber schon Vagheiten und verbreitet vielleicht eher subjektive Deutungen: Man kann meinen, Experten und Planer sollten Männer oder wenigstens männlich sein und so weiter. Der semantische Gehalt ist nicht beschränkt auf Lexeme. Auch die Struktur von Wörtern und die syntaktische Struktur spielen ihre Rolle. In unserem Textlein steckt in Schwierigkeiten, dass irgendetwas schwierig ist oder dass es mit etwas schwierig ist. Und dass die Planer doch irgendwas geplant haben oder planen werden. Sonst wären sie keine. Für das folgende Textstück stellen sich Fragen, die durch die syntaktische Struktur bedingt sind (und nicht beantwortet werden). Im lexikalischen System einer Sprache grenzen sich die Wörter gegeneinander ab. Jedes Wort hat seine Bedeutung sui generis. Wenn wir in einem Text Wörter austauschen, bekommen wir einen anderen Sinn. Experten fragen, ob die Schwierigkeiten nicht naturgegeben sind. Die Planer räumen dies ein. Die Bedeutungen sind meist nicht völlig distinkt. Sie grenzen sich ab über unterschiedliche Implikationen, über nahe und welche in weiter Ferne. So unterschiedlich die Bedeutungen von einwenden und fragen sein mögen, so sind sie doch unter einem Dach von sprachlich äußern und Rede wiedergeben. Der semantische Gehalt | 4 Lexikonstruktur Aus einer Promotionsordnung Ein Promotionsverfahren kann eingestellt werden, wenn sich in seinem Verlauf Schwierigkeiten bei der Zusammenstellung der Promotionskommission oder der Bestellung von Gutachtern ergeben, deren Beseitigung als unzumutbar anzusehen sind. 62 <?page no="55"?> 55 Im Extrem schließen sich entsprechende Sätze aus, sind unverträglich. Die Planer räumen dies ein. vs. Die Planer bestreiten dies. vs. Die Planer räumen dies nicht ein. Der Prototyp der Unverträglichkeit ist die totale Negation. Totale Negation fungiert syntaktisch, kann aber auch lexikalisch ausgedrückt sein. Am deutlichsten in Wortbildungen: zumutbar vs. unzumutbar. Aber schon bei der Negation nicht im Satz erkennen wir, dass es nicht nur die totale Negation, die totale Unvereinbarkeit gibt, sondern auch Zwischenfälle: Nicht die Planer räumen dies ein. Die Planer räumen nicht dies ein. In der Ableitung vom Satz zu den Lexemen kommen wir zu n-tupeln, die polar angeordnet sind. Wir unterscheiden hier: Antonyme sind paarig: Die beiden Pole schließen sich aus. groß vs. klein, lang vs. kurz, breit vs. schmal, viel vs. wenig, verheiratet vs. ledig, schwer vs. leicht, dick vs. dünn Da ist auch ein Körnchen Salz angebracht. Nicht immer ist es überhaupt sinnvoll eines der beiden zu verwenden. Von Babys wird man kaum erörtern, ob sie verheiratet sind oder nicht. Wann aber doch? Kontraste sind skalar: Zwischen beiden Polen gibt es graduierende Übergänge. Ein Glied des n-tupels schließt regelmäßig alle anderen aus (dabei aber per Implikatur jeweils mitgemeint, dass der ganze benannte Gegenstand dieser Farbe ist): schwarz vs. rot vs. grün vs. blau vs. gelb vs. weiß Implikation und Unvereinbarkeit wirken auch zusammen. In sie räumt ein, dass X steckt die Implikation sie behauptete, dass nicht-X, vielleicht weil sie es vorher selbst behauptet hat oder weil es ihr unterstellt wurde oder ... Schon die linguistischen Erzzeugen Paul und de Saussure hatten die paradigmatischen Beziehungen als assoziative gesehen. Die Umgebung eines Wortes muss differenziert werden in das Syntagmatische und das Assoziative [...] in eine Zusammenstellung in praesentia [...] und eine Zusammenstellung in absentia (Saussure 1974, 1190e). In absentia heißt letztlich im Wissen oder Gedächtnis der kompetenten Sprecher. Unverträglichkeit 4.1 | Semantische Relationen 59 <?page no="56"?> 56 4.2 Assoziationen Einen Text verstehen wird öfter als inferieren gesehen. Ein Leser zieht seine Schlüsse aus allem, was ihm zur Verfügung steht, vor allem aus dem Text und seinem Wissen. Für dieses Verstehen sind die eingeführten Relationen grundlegend, weil sie das Inferieren ermöglichen. Aber dies ist nur ein mögliches Verstehensmodell. Wir nennen es das kognitive, wahrheitsfunktionale Modell, das das Gesagte erfassen will. Mit der wahrheitsfunktionalen Betrachtungsweise wähnt man sich auf der sicheren Seite - und in diesem Rahmen ist man es auch. Aber außerhalb des Rahmens gibt es noch vielerlei. Neben dem Gesagten in diesem Sinn gibt es auch das, was anklingt, was mitschwingt. Das wird dann gern beiseitegeschoben und meist der emotiven oder konnotativen Bedeutung zugeschrieben, die bei Weitem nicht solche Dignität genießt. Das Modell strippt die Bedeutung von all solchen Komponenten und verkürzt menschliche Kommunikation. Demgegenüber gibt es aber auch das konnexionistische Modell, das auf dem assoziativen Wissen basiert. Dabei denkt man sich die Bedeutung eines Wortes als Menge der Assoziationen, die es hervorruft. Das klingt erst einmal nach Subjektivität. Empirisch kann man aber feststellen, dass zwar manche Assoziationen individuell sind, viele aber auch allgemein in der Sprachgemeinschaft. Außerdem kann man hier empirischer werden durch eine Art Übertragung auf Texte. Die Grundthese dieser distributiven Betrachtungsweise ist, dass die Bedeutung von Wörtern bestimmt ist durch die Menge ihrer frequenten Umgebungen. Um sie zu bestimmen hat man dann eine gute empirische Basis in Textkorpora und valide Methoden, diese Distribution eines Wortes zu bestimmen. Assoziative Aspekte der Bedeutung sind nicht infiziert durch die Idee, es komme auf eine Definition an. Sie gehen darum wesentlich weiter und sie scheinen auch im Verstehen ihre entscheidende Rolle zu spielen. Der semantische Gehalt | 4 Assoziative Bedeutung Das Recht auf Heimat Ein kollektives Menschenrecht auf Heimat kennt das Völkerrecht nicht. Zwar ist in der Charta der Vereinten Nationen das Selbstbestimmungsrecht der Völker verankert, doch gelten als Träger von Rechten und Pflichten bisher grundsätzlich nur die Staaten. <?page no="57"?> 57 In der Fortsetzung wird die Frage der Definition aufgeworfen und zugleich in Frage gestellt. Ein anderes Problem stellt sich bei der Definition von Heimat. Es besteht kein Zweifel, dass beispielsweise die Vertriebenen in der Bundesrepublik Deutschland Heimatrecht genießen; viele, die diesen Status besitzen, sind hier bereits geboren. In solchen Fällen wird es schwierig, eine rechtlich fundierte Begriffsbestimmung zu finden: Ist Heimat das Land der Väter? Wenn ja, wie viele Generationen müssen dort gelebt haben? Oder ist Heimat der frei gewählte Wohnsitz? Dennoch wollen wir nicht daran zweifeln, dass wir den Text ganz gut verstehen. Ein assoziatives Bild kann vielleicht etwas zeigen von dem, was wir da verstehen könnten, was uns alles in Sinn kommt. Dieses Bild basiert auf verallgemeinerten Assoziationen von Probanden. Wir sehen es als prototypisches Bild von Deutschsprechern. Zum Beispiel Heimat daheim Stadt Heimat verlassen heimatlos Verbundenheit Vertriebene vertrieben Fremde Film Heimweh Sehnsucht Roman Haus und Hof Rückkehr zurück Land Sprache Dorf Gefühl Liebe Deutschland angestammt Recht alt 4.2 | Assoziationen Assoziative Struktur <?page no="58"?> 58 Wir können das Bild sicherlich noch verbessern mit einer Methode, die auf große Textkorpora zurückgreift. Ein solches Vorgehen gewinnt die Bedeutung - wenn Sie es etwas weicher möchten - wichtige Züge des Verstehens eines Wortes aus den Kontexten, in denen es vorkommt. Das ist plausibel und verlässlich, weil die Bedeutung sich ja in Kommunikation, also in Texten konstituiert. In diesem Text kommt zum Beispiel ein richtig dickes Wort vor, das große Wort: Liebe, getränkt mit erlebten, literarischen, ... Traditionen. Wenn Sie in ein Wörterbuch schauen - tun Sie es ruhig -, dann fängt es in der Regel mit dem genus proximum an. Liebe sei ein Gefühl, heißt es meistens. Nicht, dass ich jetzt weiterfragen will, was denn ein Gefühl sei. Natürlich kommen wir vom Hundertsten ins Tausendste. Vielleicht ist Liebe manchmal ein Gefühl (im Bauch? im Herzen? ), dann aber: Was ist gleich bei der Liebe zu Gott und beim Liebe machen? Ist da was gleich? Für das Verstehen des Wortes sollten wir lieber eine Sammlung von Zügen, Kriterien und dergleichen haben, eben Assoziationen, die aufgehen. Liebe Treue romantisch Dankbarkeit Leid Lust voller Leidenschaft heimlich Zärtlichkeit blind unerwidert Eifersucht Der semantische Gehalt | 4 Distributive Bedeutung Rezept (aus der Speisekarte der Autobahn-Raststätte Waldmohr/ Pfalz) Man nehme 12 Monate, putze sie sauber von Bitterkeit, Geiz, Pedanterie und Angst und zerlege jeden in 30 oder 31 Teile, so dass der Vorrat für ein Jahr reicht. Es wird jeder einzeln angerichtet aus 1 Teil Arbeit und 2 Teilen Frohsinn und Humor. Man füge 3 gehäufte Teelöffel Optimismus hinzu, einen Teelöffel Toleranz, ein Körnchen Ironie und eine Prise Takt. Dann wird die Masse sehr reichlich mit Liebe übergossen. Das fertige Gericht schmücke man mit Sträußchen kleiner Aufmerksamkeiten und serviere es täglich mit Heiterkeit. 60 <?page no="59"?> 59 Mai Nacht Morgen Wonnemonat prüfen Mond Tanz Feiertag beginnen Muttertag geboren heiraten vergangen Im Zusammenhang dieses Gedichts könnte zusätzlich etwa Folgendes aufgehen. Im wunderschönen Monat Mai, Als alle Knospen sprangen, Da ist in meinem Herzen Die Liebe aufgegangen. Heinrich Heine Mit dieser Methode kann man auch spezifischer werden: Man kann einzelne Autoren untersuchen oder einzelne Werke, hier etwa Grass‘ Blechtrommel. Die Unterschiede sind signifikant und textspezifisch. Einleuchtend die Protagonisten: Oskar und Maria. Dann aber stark der sexuelle Aspekt und im Gegensatz dazu das Religiöse: Glaube, Liebe, Hoffnung. Und vor allem Gott. Hätten Sie das bei Grass erwartet? Und von den Radieschen gar nicht zu reden. Es ist ein Fall für die Interpretation. Liebe im Text Herz Seele Schmerz ausschütten prüfen Lust Brust zerreißen pochen begehren warm bluten klopfen Liebe Oskar Hoffnung Radieschen keusch Maria Glaube Leidenschaft ungeniert liebestoll Gott machen Jungfrau 4.2 | Assoziationen Liebe bei Grass <?page no="60"?> 60 4.3 Präsuppositionen Präsuppositionen wurden in der Logik und sprachanalytischen Philosophie entdeckt. In der Logik sollte eine wohlgeformte Aussage entweder wahr oder falsch sein. Frege hatte die Frage, ob das ausreicht, aufgeworfen und Russell hat fortgesetzt mit dem berühmten Satz: Der gegenwärtige König von Frankreich ist kahl. Was, wenn es - wie jetzt - keinen König von Frankreich gibt? Russell hatte angenommen, dann sei die Äußerung einfach falsch. Das schien unbefriedigend. Eine Lösung brachte eine Analyse von Strawson. Er zeigte, dass Russells Beispiel und sein Negat Der gegenwärtige König von Frankreich ist nicht kahl diesen Satz voraussetzen: Es gibt gegenwärtig einen König von Frankreich. Dieser Satz wird nicht einfach impliziert, vielmehr präsupponieren wir den Satz, setzen ihn für die Wahrheit des Ausgangssatzes wie seiner Negation voraus. Man spricht von einer Existenzpräsupposition. Die Bayerische Landesbank bestätigte, dass ein Pfändungsbeschluss gegen Krause beim Amtsgericht Bad Doberan erwirkt wurde. Dies sei bei einem säumigen Kreditschuldner üblich. ╟ Es gibt die Bayerische Landesbank. Präsupposition ist eine Art unter Negation konstanter Implikation. Oft sind die Präsuppositionen schwer ans Licht zu bringen. So kann man schon fragen, ob unser Textbeispiel Folgendes impliziert oder präsupponiert: Ein Pfändungsbeschluss gegen Krause wurde beim Amtsgericht Bad Doberan erwirkt. In der kommunikativen Betrachtungsweise wird die Basis der Präsupposition nicht nach wahr oder falsch bewertet, sondern danach, ob der Satz sinnvoll geäußert werden kann. Eine Präsupposition wird damit Voraussetzung für die sinnvolle Äußerung (nicht für die Bedeutung des Satzes oder die Wahrheit der Äußerung). Sie soll eine Eigenschaft des geäußerten Satzes bleiben. Jemand sagt, dass ein Pfändungsbeschluss erwirkt wurde. Alle glauben, dass ein Pfändungsbeschluss erwirkt wurde. In solchen indirekten oder obliquen Kontexten überlebt die Präsupposition des dass-Satzes nicht. Der semantische Gehalt | 4 Konstanz unter Negation 61 <?page no="61"?> 61 Wo überleben Präsuppositionen, wo nicht? Matrixverben wie sagen oder erwähnen blockieren Präsuppositionen, dagegen lässt ein Matrixverb wie wissen, die Präsupposition des Ergänzungssatzes durch, weshalb eine Behauptung wie ich weiß nicht, dass das stimmt paradox erschiene und auch nur in besonderer Verwendung so formuliert würde. Weshalb mit er weiß, dass p gesagt ist ich weiß, dass p. Oft scheint schwer zu entscheiden, ob eine Präsupposition oder eine Implikation anzusetzen ist. Wir sehen das am Beispiel wieder. Mit diesem Adverb wird irgendwie eine Wiederholung ausgedrückt. Jetzt motzt er wieder. Jetzt motzt er nicht wieder. ╟ Er hat gemotzt. Hier ist wichtig die Stellung der Negation nicht. Für folgendes Pärchen gilt die Präsupposition nicht. Jetzt motzt er wieder. Jetzt motzt er wieder nicht. Hingegen: Die Nachricht wurde bestätigt. Die Nachricht wurde nicht bestätigt. ╟ Die Nachricht wurde schon ausgesprochen/ berichtet/ ... Gemeinhin werden diverse Arten von Präsuppositionen unterschieden. Sie werden ausgelöst durch diverse Ausdrücke und Ausdrucksformen. Kleine Probleme Definite Nominalphrasen wie die Ansicht bilden einen ersten Bereich. Generell gilt: Verwendungen von X in defNP präsupponieren: Es gibt X. Hat Humpty Dumpty die Ansicht vertreten? ╞ Es gibt die Ansicht. Hat Humpty Dumpty die Ansicht nicht vertreten? ╞ Es gibt die Ansicht. Humpty Dumpty hat das gesagt. ╞ Es gibt Humpty Dumpty. Humpty Dumpty hat das nicht gesagt. ╞ Es gibt Humpty Dumpty. Du-Anreden präsupponieren: Es gibt ein Ich. Kommst du heute? ╞ Es gibt ein Sprecher-Ich. Kommst du heute nicht? ╞ Es gibt ein Sprecher-Ich. 4.3 | Präsuppositionen <?page no="62"?> 62 Eine wichtige Frage ist auch hier: Was ist der Stellenwert der Präsupposition? Wurde sie gesagt oder gar behauptet? Sie wird sozusagen stillschweigend vorausgesetzt, dennoch ist der Sprecher dafür verantwortlich (Fritz 2013, 68). Der Rezipient macht da in der Regel mit, sogar wenn er sie nicht glaubt. Ja, auch wenn beide im normalen Sinn nicht an die Existenz glauben und das voneinander wissen, läuft die Kommunikation perfekt: Das Einhorn wiegte seinen Kopf hin und her, als versuche es, seine Fassung zu bewahren. Dann tropften ihm dicke Tränen aus den Augen. Wenn nötig wird der Rezipient aber protestieren. Die Standardformel: ... ist doch gar nicht ... Wer im entscheidenden Moment nicht gegensteuert, wird mit seiner Antwort schon mal an der Nase herumgeführt wie im altrömischen Beispiel: Hat deine Frau aufgehört, dir Hörner aufzusetzen? In manchen Fällen kann die Präsupposition dem gutwilligen Rezipienten auch untergejubelt werden - wie man sagt. Faktive Verben wie erkennen, verzeihen, bedauern präsupponieren den eingebetteten dass-Satz: Wir bedauern, dass es so kam. ╞ Es kam so. Wir bedauern nicht, dass es so kam. ╞ Es kam so. Sie wussten, dass es gewagt war. ╞ Es war gewagt. Sie wussten nicht, dass es gewagt war. ╞ Es war gewagt. Achievement Verben wie gelingen präsupponieren den Versuch: Es ist gelungen, das Feuer zu löschen. ╞ Es wurde versucht ... Es ist nicht gelungen, das Feuer zu löschen. ╞ Es wurde versucht ... Welche-Fragen Welche Textregeln hat er verletzt? ╞ Es gibt Textregeln. Welche Textregeln hat er nicht verletzt? ╞ Es gibt Textregeln. Kontrafaktische Konditionale Hättst du gelesen, wär es besser. ╞ Du hast nicht gelesen. Hättst du gelesen, wär es nicht besser. ╞ Du hast nicht gelesen. Verbselektion Man hat sie alle entwürdigt. ╞ Sie sind Menschen. Man hat sie alle nicht entwürdigt. ╞ Sie sind Menschen. Kontrastbetonung Sie hat ihn verlassen. ╞ Jemand hat ihn verlassen. Sie hat ihn nicht verlassen. ╞ Jemand hat ihn verlassen. Der semantische Gehalt | 4 <?page no="63"?> 63 Deine Waschmaschine ist kaputt? Mit ein bisschen handwerklichem Geschick kannst du dir selbst helfen. Du brauchst nicht allzu viele Werkzeuge: Schraubendreher mit Schlitz- und mit Kreuzschlitz-Profil. (Vielleicht auch Torx-Schraubendreher für Schrauben mit Kopf-Profil) Vorbereitung 1. Maschine abschalten, Stecker ziehen. 2. Wasserhahn zudrehen. 3. Einen Lappen unter die Maschine schieben Um die Front der Waschmaschine zu entfernen, muss zuallererst der Gerätedeckel abgeschraubt werden. Gehäusedeckel entfernen Kreuzschlitzschrauben des Deckels lösen, entfernen, Gehäusedeckel abnehmen Waschmittelschublade entfernen Bis zum Anschlag herausziehen, Herunterdrücken der Arretierung, aus dem Waschmittelbehälter ziehen Jetzt zeigen sich zwei Kreuzschlitzschrauben. Waschmittelbehälter und Bedienfeld voneinander lösen Und so weiter. 5 Texte als Mittel der Kommunikation ... und lausch ihrem zweiten und jeweils zweiten und zweiten Ton. Paul Celan, Fadensonnen 1968 5.1 Sprechakttheorie und Sprechakttypen Kommunizieren ist Handeln. An diesem Text kann man die allgemeine Struktur menschlicher Handlungen zeigen. Wir erkennen folgende Komponenten der komplexen Handlungsbeschreibung: Es gibt Voraussetzungen, gewisse Bedingungen, die erfüllt sein müssen: Die Waschmaschine ist defekt. Sollte sich herausstellen, dass sie nicht defekt war, konnte sie gar nicht repariert werden. Der Reparateur braucht Werkzeug. Der Reparateur sollte handwerkliches Geschick haben. Struktur von Handlungen Handlungen und Textstruktur <?page no="64"?> 64 Menschliches Handeln ist in mancherlei Hinsicht komplex. Handlungen haben eine innere Struktur: Man tut etwas, indem man etwas Anderes tut. Den Deckel entfernt man, indem man die Schrauben löst. Deckel entfernen → Schrauben lösen In flüssigen Formulierungen sagen wir, dass die Handlung links die Handlung rechts erzeugt (je nach Perspektive könnte man auch sagen, dass die rechte die linke erzeugt). Handlungen können spezifiziert und modifiziert werden. Die Schrauben entfernen ist ein Sonderfall von entfernen und eine andere Handlung als den Deckel entfernen: (Deckel)entfernen, (Schrauben)entfernen Handlungen stehen selten allein da, meist haben wir Sequenzen von Handlungen: Stecker ziehen ― Wasserhahn zudrehen ― Decke unterschieben Man kann hier auch von Teilhandlungen einer komplexeren Handlung sprechen (darf allerdings diese Komplexität nicht verwechseln mit der Erzeugung). Letztendlich tun wir so etwas nur des Erfolges wegen: Man will, dass die Waschmaschine am Ende repariert ist. Nach dieser sonntäglichen Einführung sollten wir für unsere Zwecke etwas spezifischer werden. Menschliche Kommunikation ist ein Sonderfall menschlichen Handelns - zumindest vordergründig gesehen. Vielleicht ist sie sogar Voraussetzung dafür, unser Handeln zu verstehen, nicht nur rein sprachliches Handeln. In menschlicher Kommunikation möchte ein Sprecherautor einem Partner etwas zu verstehen geben. Dazu äußert er Sätze und Texte. Auch monologische Texte sind in diesem Sinn an Partner gerichtet, wenngleich bei situationsentbundenen Texten der Partner nicht dabei und nicht bekannt sein muss. Wenn wir erfassen wollen oder darüber reden wollen, was jemand in der Kommunikation getan hat, was und wie er etwas mit seinem Text zu verstehen gegeben hat, verwenden wir ein bestimmtes Vokabular. Wir sagen, was er getan hat. Der weiteste Fall scheint hier: A hat gesagt, dass p. Diese Struktur kennen wir schon. Frege hatte sie im Blick mit der Trennung von Behauptung und Proposition. Sprachliches Handeln Texte als Mittel der Kommunikation | 5 <?page no="65"?> 65 Verben und Sprechakte Behaupten ist aber ein Sonderfall des Sagens und ebenso ist das Äußern einer Proposition ein Sonderfall. Inwiefern? In unserem Vokabular haben wir insbesondere Redeverben für die Wiedergabe dessen, was jemand redend getan hat. Was eben seine Äußerung erzeugt hat. Dieses Vokabulars bedienen sich die Sprecher wie die Linguisten. Eine kleine Sammlung haben wir hier. Da sehen wir, dass nicht bei allen Sprechaktverben auch eine Proposition geäußert sein muss. Wenn jemand fragt, ob p, so könnten wir vielleicht noch sagen, die Proposition komme hier vor. Aber in dieser Form? Es würden ja eher zwei Propositionen vorkommen, nämlich nicht-p und p. Deutlicher noch in einer w-Frage: Wer hat diese Theorie weiterentwickelt? Für eine vollständige Proposition wäre da an der w-Stelle eher ein Loch. Es wird erwartet, dass es gefüllt werde, eben zur Proposition ergänzt. Noch weiter weg von den wahrheitsfunktionalen (propositionsaffinen) Akten kommen wir mit Akten wie in diesen Zeitungsmeldungen: Am Mittwoch hatte sich Ballauf im Mainzer Landtag öffentlich für die Affäre entschuldigt: „Auch wenn ich nichts dafür kann, entschuldige ich mich dafür, dass die Wähler betrogen worden sind“. Der Präsident der USA begrüßte die Teilnehmer mit einem herzlichen „Welcome“. Im ersten Beispiel wäre eine propositionale Rekonstruktion möglich, im zweiten sicher nicht so leicht. „Er sagte, dass er sie willkommen heiße,“ würde etwas Anderes besagen. Mit den Redeverben bezeichnen wir sprachliche Handlungen, Sprechakte, wie man in der Linguistik sagt. Ob wir mit solchen Verben alle erfassen können, ist eine strittige Frage. Sprechaktverben abschwächen, aufzählen, befehlen, begründen, behaupten, beleidigen, berichten, beschimpfen, beschreiben, danken, differenzieren, einwenden, erklären, erwidern, exemplifizieren, explizieren, fortsetzen, fragen, gratulieren, grüßen, hinzufügen, informieren, klären, kommentieren, kontrastieren, präzisieren, raten, schwören, spezifizieren, steigern, trösten, versprechen, verstärken, vorwerfen, zurücknehmen 5.1 | Sprechakte und Sprechakttypen 65 <?page no="66"?> 66 Sprechakte haben die folgende allgemeine Aktstruktur: Bedingungen: Wie jedes menschliche Handeln ist auch sprachliches Handeln an Bedingungen gebunden. So wie ich die Maschine nur reparieren kann, wenn sie kaputt ist, kann ich nur antworten, wenn ich irgendwie gefragt wurde. Und ich kann nur etwas bestreiten, was irgendwie behauptet wurde. Eher ganz allgemein und trivial klingend ist die Bedingung, dass man wirklich kommunizieren will. Das unterstellen wir schon Kleinkindern, wenn sie nicht mehr brabbeln, sondern wir Sprachliches erkennen können. Ebenso trivial erscheint, dass man etwas zu verstehen geben will, indem man es formuliert in einer Sprache, die der Partner kann und versteht. Erzeugung: Frage ist bei jedem Akt: Wie macht man das? Man macht es, indem ... Man kann einen Sprechakt auch indirekt vollziehen. Am äußersten rechten Ende steht immer das Äußern. Gerade deshalb sind es eben Sprechakte. In der Sprechakttheorie wurde besonders die allgemeine Form wahrheitsfunktionaler Akte entwickelt, eben solche, die prototypisch dass-Sätze verlangen: Modifikation: (nüchtern)konstatieren, (sinngemäß)sagen. Der Chef der Jungen Union konstatiert nüchtern: „Wir haben seit über sechs Monaten einen Partner, den wir nicht richtig kennen.“ Dann hatte der Leutnant im Wohnheim auf dem Campus mehrmals sinngemäß gesagt: „Zyklon B hat es für über sechs Millionen nicht gegeben.“ In Sequenzen vollzieht man zwei Sprechakte nacheinander: Auch einwortige Ausrufe sind Sätze. So wenn etwa in unterschiedlichen Zusammenhängen „Feuer! “ gerufen wird. Hier haben wir die Sequenz: definieren -- exemplifizieren. vorwerfen äußern(Du hast schon wieder ...) behaupten bitten fragen äußern Illokution Referenzakt Propositionaler Akt Prädikationsakt äußern Texte als Mittel der Kommunikation | 5 <?page no="67"?> 67 Man kann auch mehrere Akte gleichzeitig vollziehen und den einen etwa nebenbei: Demnächst wird es Umschichtungen - sind es wirklich welche? - in mehreren Bereichen geben. Searle hat die folgende exhaustiv gedachte Typologie der Sprechakte entwickelt, die Textlinguisten für ihre Zwecke ausgebeutet haben. Nach dieser Vorlage wurden verschiedene Textsorten unterschieden, eben assertive Texte, direktive Texte, kommissive Texte, deklarative Texte, expressive Texte (Brinker/ Cölfen/ Pappert 2014, 110). Assertiva wie behaupten Kommissiva wie versprechen Direktiva wie befehlen Expressiva wie bedauern Deklarativa wie definieren In einem assertiven Sprechakt teilt der Sprecher dem Hörer mit, dass etwas der Fall ist, dass er eine Proposition für wahr hält. Prototyp eines assertiven Sprechakts ist die Aussage. In einem direktiven Sprechakt versucht der Sprecher, den Hörer dazu zu bringen, etwas Bestimmtes zu tun. Prototypen sind die Frage und die Aufforderung. Die Welt ist mit der Äußerung in Übereinstimmung zu bringen; der ausgedrückte mentale Zustand ist ein Wunsch. Im kommissiven Sprechakt verpflichtet sich der Sprecher selbst zu einer künftigen Handlung. Prototyp ist versprechen. So ist die Welt mit der Äußerung in Übereinstimmung zu bringen; der ausgedrückte mentale Zustand ist eine Absicht. In deklarativen Sprechakten schafft der Sprecher durch seine Worte einen Sachverhalt. Wie die Taufe sind diese Sprechakte meist performativ und an die Existenz von Institutionen gebunden (z. B. Gericht, Kirche, Regierung). In einem expressiven Sprechakt gibt der Sprecher seiner Haltung oder seinem Gefühl (bezüglich einer Art Sachverhalt) Ausdruck. Beispiele sind die Danksagung und die Gratulation. Nebenbei Sprechakttypologie 5.1 | Sprechakte und Sprechakttypen 66 <?page no="68"?> 68 5.2 Komplexe Akte und Sprechaktsequenzen Die Komplexität von Sprechakten zeigt sich vor allem in Erzeugungsstrukturen und in Abfolgen. Manche Akte sind eher satzbezogen und können mit einem einzelnen Satz (im weiten Sinne) ausgeführt werden. Da gibt es dann natürlich immer unüberschaubar viele Möglichkeiten. Wir können aber auch typische Satzstücke eruieren. Sequenzen sind per se mehr textbezogen, auf jeden Fall auf mehrere Sätze oder satzförmige Ausdrücke verteilt. Manche Sequenzen sind eher monologisch, sehr viele aber dialogisch. Eher monologisch sind etwa vorwerfen und argumentieren, wenngleich sie natürlich in dialogischen Zusammenhängen auftauchen. Häufige Sequenzen sind behaupten ― argumentieren oder behaupten ― begründen. Etwas weiter ausgebaut und dialogisch: Begründen wird natürlich auch nach rechts wieder eine Art behaupten erzeugen und noch weiter rechts mit typischen sprachlichen Ausdrücke verbunden sein, neben Konnektoren auch mit typischen Satzstücken. Das Ganze muss auch nicht mit begründen weitergehen. Das Argumentieren hängt gewiss nicht im luftleeren Raum. In der Kommunikation argumentiert man nur unter bestimmten Bedingungen, etwa wenn etwas zweifelhaft ist, für zweifelhaft gehalten wird oder in der Kommunikation bezweifelt wird. Da erkennen wir auch, dass als Bedingung aufgefasst werden kann, was aber eigentlich auf einer Aktabfolge beruht. äußern(ich wollte/ ich musste) äußern(es ist eben so ...) äußern(man muss doch ...) begründen bestreiten behaupten begründen Ausbau Texte als Mittel der Kommunikation | 5 hinhalten übergehen aufweichen Thema wechseln rückfragen konterkarieren ausweichen bestreiten behaupten <?page no="69"?> 69 Sprechakte und Sprechaktsequenzen bilden einen wichtigen Aspekt der Textstruktur. Sowohl in der Sprechakttheorie wie in der Konversationsanalyse hat man Aktsequenzen und deren Muster behandelt, etwa Frage-Antwort-Folgen und weitere adjacency pairs. Dabei konzentrierte man sich auf eins-zu-eins-Abfolgen. Für Texte gilt es sicherlich, die Darstellungen zu öffnen für eins-zu-viele-Abfolgen. Denn sie sind die überwiegende Mehrzahl. Hier sehen Sie erwartbare, weil häufige Abfolgen. Behaupten Begründen Texttheorie ist die Zukunft der Linguistik. Sie erschließt uns neue Anwendungen. Behaupten Abschwächen Texttheorie ist die Zukunft der Linguistik. Sie erfordert allerdings empirische Detailarbeit. Behaupten Präzisieren Texttheorie ist die Zukunft der Linguistik, besonders im Hinblick auf neue Anwendungen. Behaupten Belegen Texttheorie ist die Zukunft der Linguistik. Wir erkennen das an den ersten Reaktionen. Behaupten Bezweifeln Texttheorie ist die Zukunft der Linguistik. Natürlich gibt es auch andere Aufgaben. Behaupten Einschränken Texttheorie ist die Zukunft der Linguistik. Vielleicht gibt es aber noch wichtigere. Behaupten Erklären Texttheorie ist die Zukunft der Linguistik. Es geht da um ganz neue Aufgaben. Behaupten Kommentieren Texttheorie ist die Zukunft der Linguistik. Das glauben jedenfalls viele. Behaupten Entgegensetzen Texttheorie ist die Zukunft der Linguistik. Syntaxtheorie eher nicht. 5.2 | Komplexe Akte und Sprechaktsequenzen 68 <?page no="70"?> 70 Sprechakte und Sprechaktsequenzen bilden eine wichtigen Aspekt der Textstruktur. Wir erkennen das auch daran, dass zum Beispiel die Bedeutung von Konnektoren weitgehend mit Sprechakten und Sprechaktsequenzen angegeben wird. Klar ist das etwa für „kausal“ und begründen oder für „konzessiv“ und einwenden. Für alle Gruppen gibt es eine Palette von Sprechakten. Wie beim Handeln allgemein verfolgen wir auch mit unseren Sprechakten Ziele. Wir wollen jemanden informieren, was aber nur gelingt, wenn er am Ende informiert ist. Wir wollen jemanden überzeugen oder überreden, was aber nur gelungen ist, wenn er am Ende überzeugt ist. Für diesen Zweck hat man die sog. perlokutionären Akte erfunden, eine fischige Spezies, weil der Sprecherautor es ja nur versuchen kann. Ob es gelingt, ist von vielerlei abhängig, natürlich auch vom Adressaten. Dennoch hat man versucht, nach diesem Muster Textfunktionen zu bestimmen. Danach gebe es dann: direktive Texte mit anleiten, anordnen, befehlen, empfehlen expressive Texte mit gratulieren, sich entschuldigen, kondolieren informative Texte mit Akten wie berichten, beschreiben, erklären, darstellen, erzählen kommissive Texte mit geloben, versprechen, empfehlen, anbieten Sicherlich haben diese Textsorten Affinitäten zu bestimmten Sprechakten. Ihre Rolle ist für die Analyse wichtig. Aber wenn man die Sprechakttypologie einfach auf Texte überträgt, ist man gezwungen für einen Text dominante Akte zu ermitteln. Denn in Texten kommen meist allerlei Sprechakte zum Tragen. entgegen, ungeachtet, wohingegen, dagegen, doch, jedoch, einerseits ... andererseits, vielmehr, im Gegenteil, aber, sondern, vielmehr entgegensetzen konterkarieren kontrastieren unterscheiden widersprechen adversativ dazu, mehr noch, weiters, sowie, wie auch, des Weiteren, hinzukommt, noch, zusätzlich, und, sowohl ... als auch anfügen aufzählen ergänzen erweitern fortsetzen anreihend Textsorten über Sprechakte? Texte als Mittel der Kommunikation | 5 <?page no="71"?> 71 5.3 Textverstehen, Textsinn, Intention Verstehen ist wie Text ein Wort, das wir alle verstehen. Wie andere Wörter hat es vielerlei Verwendungsweisen: einen Menschen verstehen, Verständnis für ihn und sein Handeln haben, eine Sprache verstehen, sie können, einen Satz verstehen, seine Bedeutung kennen, eine Text verstehen, seinen Sinn erfassen. Ich schließe hier an die letzte Verwendungsweise an. Wichtig ist dabei der Unterschied von Bedeutung und Sinn. Sätze haben Bedeutung, Texte haben Sinn. Wir erschließen ihren jeweiligen Sinn über die Bedeutung, die wir kennen. Das kommunikative Ziel des Sprecherautors ist, dem Rezipienten etwas zu verstehen zu geben. Ziel des kooperativen Rezipienten ist, zu verstehen, was gemeint ist. Auch Kommunikation mit schriftlichen Texten ist Kommunikation. Das Spezifische der schriftlichen Kommunikation ist einerseits das Medium und andererseits die Tatsache, dass Produktion und Rezeption zeitversetzt statthaben. Verstehen erscheint uns natürlich und unproblematisch, weil wir beim Verstehen selten Mühe haben. Es stellt sich eben ein - oder auch nicht. Wieso halten wir trotzdem die Ansicht für normal, dass es beim Spracherwerb besonders darum gehe, sprechen zu lernen, also die aktive Kompetenz zu entwickeln? Der Grund könnte eben sein, dass wir verstehen für natürlich halten. Aber zu verstehen geben kann schwierig werden. Wenn wir verstanden haben, bleibt immer die Frage, was wir verstanden haben. Gibt es dafür ein Kriterium, ein Kriterium des guten, des richtigen Verstehens? Jeder Text lässt eine unbestimmte Zahl von Verständnissen zu. Explikationen solcher Verständnisse sind selbst wieder Texte, die zwar methodische Vorteile bieten, da sie und ihr Zusammenhang weiteren Untersuchungen zugänglich sein können. Aber letztlich sind all die einzelnen Verständnisse nicht explizierbar, weil sich jede Explikation selbst wieder der Urfrage gegenübersieht: Wie wird sie verstanden? Sprachliches Verstehen 5.3 | Textverstehen, Textsinn, Intention <?page no="72"?> 72 Für den Verstehenden ist das entscheidende Kriterium, zu verstehen, was der Autor, sein Partner, gemeint hat. Verstehen ist kein frei schwebendes Ratespiel mit Texten, wo es etwa darum ginge, schöne Deutungen zu finden. Verstehen ist Teil der Kommunikation, und da geht es immer darum, den Andern zu verstehen. Verstehen, was der Autor gemeint hat, setzt dem Verstehen eine sinnvolle Grenze. Sicher kann ich gute Intuitionen darüber haben, warum jemand dies oder jenes sagt. Ich kann sozusagen seinen Motiven nachgehen, seiner Lebensgeschichte gar und damit den Partner vielleicht besser verstehen. Aber verstehe ich so auch besser, was er gemeint hat? Möglich ist das. Und da gehört es eben zum Verstehen dazu. Aber etwas verstehen, was der Autor gar nicht gemeint hat, setzt einen wesentlich anderen, nämlich einen nicht kommunikativen Verstehensbegriff voraus. Diese Verstehensidee scheint oft eine Rolle zu spielen in der F2F-Kommunikation beim Interesse an der Körpersprache, die uns dann etwas verraten soll, was der Sprecher nicht kundtun wollte. Ein wesentlicher Aspekt des Verstehens liegt darin, zu ergründen, was der Sprecherautor bezweckt hat mit seinem Text und wie er es zu verstehen gegeben hat. Natürlich sind uns seine Intentionen nicht zugänglich, wenngleich manchmal so geredet wird. Wir sind angewiesen auf den Text. Da können wir erschließen, was der Sprecherautor gemacht hat, um uns etwas zu verstehen zu geben. Darum ist die Analyse nach Sprechakten eine wesentliche Grundlage für das Verstehen. Wenn die Sprache in der Dichtung feiert, feiert das Verstehen mit. Gedichte sind kritische Experimente für das Verstehen. Wäre so eine Art Deutung sinnvoll in Ihren Augen? meinen und verstehen Texte als Mittel der Kommunikation | 5 Sprich - Doch scheide das Nein nicht vom Ja. Gib deinem Spruch auch den Sinn: gib ihm Schatten. Paul Celan negiert den Anspruch auf wahr oder falsch opponiert gegen vordergründige Klarheit toleriert das Paradox empfiehlt, das Dunkle hinter den Wörtern zu bedenken <?page no="73"?> 73 5.4 Prinzipien der Kommunikation und Implikaturen Menschliche Kommunikation ist ein MiniMax-Spiel. Ihr liegen zwei konstitutive Prinzipien zugrunde: Wir sagen, so viel wir können. (Maximumprinzip) Wir sagen nur, so viel wir müssen. (Minimumprinzip) Hierbei handelt es sich nicht um kommunikative Hygiene, sondern um die Grundlage menschlicher Kommunikation: Ein Sprecherautor handelt selbstverständlich so und der Partner nutzt es fürs Verstehen. (Eben darum kann der Sprecherautor auch davon ausgehen.) Dieser Bereich ist ein Musterbeispiel dafür, dass man mit der Idee des Expliziten nicht weit genug kommen würde. Wir nutzen die Prinzipien als Inferenzhelfer oder Inferenzbasen. Wenn mir jemand sagt: „Ich mag dich.“, dann gehe ich davon aus, dass es sich um die stärkste Aussage handelt, die sie machen will. Sie will eben nicht sagen: „Ich liebe dich.“ Wenn jemand sagt: „Ich war dreimal in Italien.“, dann wäre das logisch auch korrekt, wenn er viermal da war, und es wäre in diesem Fall auch korrekt, wenn er gesagt hätte: „Ich war zweimal in Italien.“ So verstehen wir das aber nicht: Nach dem Maximumprinzip gehen wir selbstverständlich davon aus, dass er so viel sagt, wie er kann. Das ist natürlich immer partnerbezogen: Man sagt so viel der Partner braucht, nicht mehr und nicht weniger. Wer sich nicht daran hält, täuscht den Partner womöglich. Inferenzen auf der Basis der Prinzipien sind Implikaturen. Implikaturen kann man nicht wie Implikationen an einzelnen und bestimmten Ausdrücken festmachen. Wenn Bedeutung sich aber durch den Gebrauch ergibt und im Gebrauch, dann sollten auch Implikaturen in einer Gebrauchsbeschreibung erfassbar sein. Sprecher (und Linguisten) unterscheiden intuitiv zwischen verschiedenen Weisen des Ausdrückens, etwa das overt Gesagte und das als selbstverständlich Mitverstandene, zwischen eigentlicher und übertragener, uneigentlicher Bedeutung. Mit den Implikaturen können wir diese Intuition erklären. Implikaturen spielen in vielen Bereichen eine Rolle. Man kann im Detail zeigen, wie das jeweilige Verständnis zustande kommt. Ich zeige, wie Implikaturen im Verstehen eingehen und welche Rolle dabei den einzelnen Ausdrücken zukommt. Kommunikative Prinzipien 5.4 | Prinzipien der Kommunikation und Implikaturen Inferieren und Implikatur 69 <?page no="74"?> 74 Nehmen wir als erstes die Äußerung: Sicher ist sicher. Das wäre eigentlich trivial wie alle Aussagen der Form „X ist X“. Wir wissen aber, dass es weder so gemeint ist noch so verstanden wird. Wir schließen nach dem Minimumprinzip, dass etwas Anderes gemeint sein muss. Formeln dieser Art sind häufig, auch Variationen: Mann ist Mann. Nein ist Nein! Gold bleibt Gold. Für das Verständnis gewinnen wir Implikaturen aus dem Kontext und stereotypen Bedeutungszügen des X. Solche Züge muss man auch aktivieren, um den Sparwitz „Mann wäscht ab.“ zu verstehen. Der Witz von Formeln der Form „X ist X“ liegt aber gerade darin, dass man auf die jeweilige Implikatur kommen muss. Die „Mann-ist-Mann“- Behauptung möchte ich hier nicht auslegen. Aber es geht zum Beispiel in Brechts Stück „Mann ist Mann“ gerade nicht um die pejorative Verwendung im Sinne „die sind doch alle gleich und wollen/ machen ...“ Die Unterspezifizierung wird gemildert durch das jeweilige Umfeld und eher formelhafte Zusätze: Politik ist Politik, und Geschäft ist Geschäft. Tut uns leid, aber Gesetz ist Gesetz. „Das Maß ist voll, genug ist genug“, sagt er. Aber was soll's, vorbei ist vorbei. Im Fall von Eigennamen mit wenig Langue-Bedeutung bleibt die Deutung sehr offen. Man muss Bescheid wissen. Karasek ist Karasek. „Bosnien ist Bosnien“, sagt Ravbar bestimmt. Alain ist Alain, und Marie ist Marie. Deshalb finden sich auch Hinweise oder Klärungen im Kontext: Images sind Images; sie lassen sich nur schwer beschreiben und leben von ihrer Ungenauigkeit und Undefinierbarkeit. Im folgenden Beispiel ist die Formel in anderer Weise genutzt: Genug ist nicht genug: Selbst vor der Kirche knutschten Konstantin und Annik zügellos. Das soll ja wohl heißen: Die können den Rachen nicht voll kriegen. Durch die Negation wird es aber zum Paradox. Texte als Mittel der Kommunikation | 5 Implikatur 70 <?page no="75"?> 75 Scheinbar trivial Das führt uns zur nächsten Spielwiese. Overte Widersprüche sind nichtssagend (ex falso nihil), in gewissem Sinn auch trivial. So würde wie bei der behandelten Trivialität zu wenig gesagt. Das gilt auch bei extremen Beispielen wie dieses beliebte: Sie hat g-X-t, aber ich glaube es nicht. Wir hätten allerdings Deutungsmöglichkeiten im Kontext. Es könnte sich um ein Beispiel für Widersprüchlichkeit handeln, man kann aber auch den ersten Teil zitativ verstehen. Trivialitäten und Paradoxien scheinen wenig zu sagen - und sagen doch viel. Oder? In den beiden Beispielen ist die Trivialität Auslöser einer Implikatur. Sie wäre das Extrembeispiel für Unterinformation. Aber es geht auch sanfter. Wenn der Sprecher etwas äußert, was offenkundig falsch ist, vom Hörer als offenkundig falsch verstanden würde und der Sprecher auch davon ausgeht, dann kann ein Verständnis aus persönlicher Kenntnis oder Situationswissen gespeist sein. Ein solcher Fall ist die Ironie. Bei offenkundigem Sauwetter sagt einer: Schönes Wetter heute. Hier nimmt man an, dass das Gegenteil gemeint ist, nämlich: Ein Sauwetter heute. So genau weiß man das aber nicht, weil es allerhand gegenteilige Verständnisse geben könnte. Und so offenkundig muss das Ganze auch nicht sein. Warum wird es dann gesagt? Diese Beispiele findet der Netzfischer: Demokratie haben wir erst, wenn in jeder Familie abgestimmt wird, wer die Mutter ist. (Willy Brandt) Und mit schöner Anleitung für Aktsequenzen: Der beste Weg, sich zu entschuldigen, ist, die Schuld eines anderen aufzudecken. (Bill Clinton) Subtile Ironie im eingefühlten Stil bei Georg Christoph Lichtenberg: Da wird Lavater-Stil ironisch imitiert. Verstehen wird das nur, wer Lavaters Schreibe und humanoide Denke kennt. 5.4 | Prinzipien der Kommunikation und Implikaturen Der du mit menschlichen warmen Herzen die ganze Natur umfängst, mit andächtigen Staunen dich in jedes ihrer Werke hinfühlst, lieber Leser, teurer Seelenfreund, betrachte diesen Hundeschwanz, und bekenne ob Alexander, wenn er einen Schwanz hätte tragen wollen, sich eines solchen hätte schämen dürfen ... 72 <?page no="76"?> 76 Und wer im Text von Karl Kraus ironisch karikiert sein könnte, können Sie selbst rauskriegen: Da sehen wir, dass es bei Ironie mit dem Gegenteil nicht immer getan ist. Das Verständnis bleibt in der Schwebe. Aber oft ist die Inferenz recht simpel, auch wenn wir nur die Übertreibung erkennen. Viel schwieriger und unbestimmter wird es bei der Metapher. Ähnlich wie bei den X-ist-X-Beispielen wird man inferieren müssen aus der assoziativen Bedeutung. Man muss zwei irgendwie zusammenkriegen. Das kann schwierig sein. Haben Sie Folgendes gewusst? Diese Textlinguistik ist ein Bikini. Vielleicht verstehen Sie es am Ende des Buchs. Doch auch bei der Metapher gibt es Muster und Routinen. Nach gängigen Modellen kann man Metaphern ordnen, so Containermetaphern, etwa bei der Rede über Bedeutung, wo vom Inhalt eines Wortes die Rede ist oder was in einem Satz enthalten ist. Dann auch metaphorische Modelle wie „Geld ist Flüssigkeit“, die uns das Verstehen erleichtern bei Äußerungen wie ... und es musste vom Westen her viel hartes Geld fließen, bis dato über eine Billion ... Es bleibt eine Ungewissheit, welcher Aspekt jeweils zu sehen ist. Implikaturen lassen uns auch Übertreibungen und Understatements anders verstehen. Übertreibungen laufen über das Minimumprinzip: Mehr als erwartet, Understatements über das Maximumprinzip: Weniger als erwartet, Ellipsen über: Nicht mehr als nötig. Texte als Mittel der Kommunikation | 5 Er hat die Einstellung wie die Einfühlung, er kennt den Antrieb wie den Auftrieb, die Auswertung wie die Auswirkung, die szenische Aufmachung, den filmischen Aufriss wie die Auflockerung und was sonst zum Aufbruch gehört, er hat Lebensgefühl und Weltanschauung, er will das Ethos, das Pathos, jedoch auch den Mythos, er besorgt die Einordnung wie die Gliederung in den Lebensraum und den Arbeitsraum der Nation ... Gefälliger, männlicher Einband sucht eine „Leserin“ zum (ent) blättern … Mein Buch hat keine sieben Siegel, aber noch ein paar leere Seiten, die es zu beschreiben gilt. Den Ausgang der Handlung darfst du bestimmen … Interesse an umgänglicher Kreativität? Dann schreib mir doch bitte an Chiffre 8010. 75 73 <?page no="77"?> 77 Horn-Skalen In manchen Fällen sind die Implikatur-Auslöser auf einer Horn-Skala (eingeführt von Horn 1976) nach der Spezifität angeordnet. <einige, viele, die meisten, alle > Hier geht der Rezipient immer davon aus, dass das spezifischste Lexem gewählt wurde und dass damit alles weiter rechts nicht zutrifft. Ähnlich bei Modalverben, Graduierung und für Paare: <dürfen, sollen, müssen> <etwas, ziemlich, sehr> <glauben, wissen> <manchmal, immer> Für negierte Äußerungen werden die Skalen invertiert. Schließlich noch ein verwandtes Beispiel für Implikaturauslösung: indefiniter Artikel, der im Allgemeinen weniger spezifisch ist als der definite, von daher also unterinformativ wäre, wo ein definiter angebracht wäre. In diesem Grass-Segment gehen wir davon aus, dass es sich nicht um die Frau des Protagonisten handelt. Wenn Sie es doch wäre, hätte er als Erzähler gegen das Maximumprinzip verstoßen. Was das allerdings im Text bedeutet, ist eher offen und variabel. Wir haben ja nur den Ausschnitt. Es könnte vom Vortext dem Leser bekannt sein, dass es sich um seine Frau handelte. Dann bekäme der Satz einen etwas anderen Sinn. Es könnte sich später herausstellen, dass er zwei Frauen hatte, gleichzeitig oder nacheinander. Und so weiter. Die Prinzipien sind keine Regeln. Man kann nicht gegen sie verstoßen. Wer scheinbar nicht danach handelt, wird einfach anders verstanden. So ist Wiederholung in vielen Fällen angebracht. Nicht umsonst heißt es - auch für Lehrer - von altersher: Repetitio est mater studiorum. Wiederholung ist die Mutter des Lernens. Missverständnisse sind damit aber - leider - nicht ausgeschlossen. Auch anstrengendes Deuten nicht. Ihr Mann ist tot und lässt Sie grüßen ... 5.4 | Prinzipien der Kommunikation und Implikaturen Zuerst wurde es hinter dem Milchglas dunkel, dann hörte ich den Schlüssel, die Tür ging, Schuhe auf dem Kokosläufer - ich griff nach ihr, stieß gegen einen Koffer, gegen ihr Strumpfbein; da traf sie mich mit einem jener derben Wanderschuhe, die ich in ihrem Kleiderschrank gesehen hatte, gegen die Brust, warf mich auf den Läufer, [...] da fiel die Wohnungstür schon ins Schloss: eine Frau hatte mich verlassen. 69 <?page no="78"?> 78 6 Lokale Kohärenz: trigger und transitions ... im Werk das zu suchen, was es sagen würde, ohne es zu sagen Roland Barthes 6.1 Noch einmal: Textverstehen Hier werden wir uns nicht mehr mit der Unterscheidung explizit vs. implizit befassen, sondern damit, wie ein Verständnis, mein Verständnis zustande kommt oder zustande kommen könnte. Beim verstehenden Lesen kommt es darauf an, aus der potentiell unendlichen Kombinatorik der Elemente die Übergangswahrscheinlichkeiten von einem Element zum folgenden zu reduzieren. Als erstes muss ich Wörter identifizieren. Ich imaginiere (stelle mir vor) etwa - zur Anschauung nur, denn so gehe ich nicht vor - ein Wort aus 7 Buchstaben. Bis ich mit dem Lesen zu Ende käme und das Wort als Ganzheit erfasst hätte, müsste ich mit etwa 35 7 (n = Zahl der Phoneme des Deutschen) Kombinationsmöglichkeiten fertig werden. Aber ich habe Hilfen. Die Langue reduziert die Übergangsmöglichkeiten an jeder Stelle immens. Nach einem s am Anfang folgt kein r, kein x, kein n (na ja, vielleicht mal ein snob oder snack), am Wortanfang keine Doppelkonsonanten usw. Bestimmte Tripel, etwa kkk, ccc (vielleicht mal in einer römischen Zahl) oder mnm, sqr kommen gar nicht vor und bei Quadrupeln sind die Kombinationen noch viel eingeschränkter. Je länger ein Wort, umso mehr Einschränkung der reinen Kombinatorik. Ich erfasse den Text nicht Fitzel für Fitzel. Ich überblicke den Text mehr von oben, sehe Anfang und Ende, erkenne Wörter zwischen Blanks. Und wahrscheinlich erfasse ich Wörter sogar noch schneller. Sog. Badewannen zeigen, dass wir Texte recht glatt lesen, in denen nur signifikante Wortanfänge und Wortenden erhalten sind. In diesem Text (den Sie autorlos im Netz finden) sind die Buchstaben verwirbelt. Luat enier sidtue an eienr elgnhcsien uvrsnäiett, ist es eagl in wcheler rhnfgeeloie die bstuchbaen in eniem wrot snid. das eniizg whictgie ist, dsas der etrse und der lztete bstuchbae am rtigeichn paltz snid. der rset knan tatol deiuranchnedr sien und man knan es ienrmomch onhe porbelm lseen. das legit daarn, dsas wir nhcit jeedn bstuchbaen aeilln lseen, srednon das wrot als gzanes. Badewannen und ... 78 <?page no="79"?> 79 Verwendung Wenn ich nun das erste Wort verdaut habe, gehe ich nicht rein kombinatorisch weiter. Mein syntaktisches Wissen schränkt die Übergangsmöglichkeiten ein. Mit der erwarteten syntaktischen Strukturierung gewinne ich kleinere strukturierte Päckchen: die Phrasen oder spezifische Chunks. Wenn das erste Wort flektiert ist, mögen sofort Kongruenzen zwischen Flexiven aufgemacht sein, die die Übergänge zum nächsten oder übernächsten Wort bestimmen. Auch der Übergang von Phrase zu Phrase ist durch Satzmuster eingeschränkt. Nun komme ich weiter. Eigentlich erging es mir nicht so, wie oben erzählt. Ich erwarte nicht irgendein Wort meines mentalen Lexikons als erstes Wort. Da dürften manche schon für die Erststelle ausgezeichnet sein. Ich aber habe bereits mehr aufgebaut: Vortext, Kommunikationsziele und Titel lassen mich eher Wörter aus einem Teilwortschatz erwarten. Das Verstehen ist kopfgesteuert. 6.2 Wissen Ein Bild: Ein Text ist ein grobes Gewebe, mit offenen Stellen, mit Löchern, die zu füllen sind. Ein anderes auch nicht schlechtes: Der Text ist der Samen, der auf das Wissen fällt und da aufgeht. Das Wissen ist die Ressource für das Deuten. Es wirkt schon, wenn der Lautstrom zu segmentieren ist und die Segmente Mustern oder Schemata zuzuordnen sind. Es wirkt, wenn die physikalischen Flecken auf dem Papier als Buchstaben schematisiert werden und die Folgen zu Wörtern. Kontext und Situation, die oft als Quelle angeführt werden, gehen nur über das Wissen ein. Wenn eine Person sagt: „Mir geht es gut hier“, zählt nicht, wo sie ist, sondern nur, wo sie glaubt oder vorgibt zu sein. Mit der Verwendung von Wissen gehen wir einen bias ein, dem wir zwar nicht entkommen, auf den ich aber hinweisen muss: Es geht hierbei nicht um Objektives oder Wahres. Mit dem Verb wissen gaukeln wir uns so etwas vor. Es geht darum, was ein Mensch glaubt. Das macht sein Wissen aus. Wenn wir allerdings hier von Glauben reden, dann haben wir uns einen noch schwereren bias eingehandelt. Denn wir distanzieren uns sozusagen von dem, was Andere wissen. Aber den Kategorienfehler, als Weltwissen zu deklarieren, was wir selbst glauben, sollten wir meiden. 6.2 | Wissen 78 von Wissen <?page no="80"?> 80 Als Vorbemerkung noch: In dieser Wissensauffassung ist auch Handlungswissen, also landläufig Können, einbezogen. Ebenso wird nicht angesetzt, alles Wissen sei formulierbar oder propositional. Vieles ist automatisiert, nicht formuliert. Vieles bleibt schwer oder gar nicht formulierbar. Das gilt leider besonders für unser Textwissen. Üblich ist die Unterscheidung von Sprachwissen und Sachwissen. Ich mache sie nicht. Ob sie begründet ist und wie weit sie reicht, soll uns hier nicht weiter kümmern. Es wird sich erweisen. Wenigstens wird, wer von der Wiedervereinigung spricht, dies schwerlich tun können, ohne die Bedeutung von die Wiedervereinigung zu kennen. Im Sprachwissen kann man unterscheiden nach den verschiedenen Aspekten sprachlicher Zeichen und vielleicht nach den Disziplinen, die dafür zuständig sind: Phonologisches Wissen, syntaktisches Wissen, semantisches Wissen und für manche noch pragmatisches Wissen. Wie weit diese Trennung reicht und nötig ist, bleibt abzuwarten. Wichtig die Unterscheidung von stehendem Wissen und Laufwissen. Stehendes Wissen können wir als unsere Sprachkompetenz sehen. Das Laufwissen ist veränderlich, läuft ständig mit und weiter. Es ist im Kurzzeitgedächtnis - wie man sagt -, während stehendes Wissen im Langzeitgedächtnis als persistenter gilt. Es ist aber nicht statisch. Es wurde ja erworben und bleibt plastisch. Bildlich kann man sich vorstellen, dass immer wieder etwas vom Laufwissen durchsickert. Stehendes Wissen wurde weitgehend aus Laufwissen genährt und wird weiter genährt. (Pessimisten meinen, es dringe ziemlich wenig durch.) Das Laufwissen brauchen wir beispielsweise als Situationswissen für die Deixis, das Kontextwissen in der Phorik. Wir sind damit ständig auf der Höhe der Kommunikation. Wir können zugreifen auf bisher Gelesenes und bisher Gesagtes. Wir können zurückkommen auf Festlegungen, die der Sprecherautor eingegangen ist, auf Impliziertes und Implikatiertes. So stellen wir fest, dass er sich wiederholt, widerspricht, sich verbessert oder etwas einschränkt. Stehendes Wissen Laufwissen phonetisches Wissen syntaktisches Wissen semantisches Wissen Situationswissen Kontextwissen Lokale Kohärenz: trigger und transitions | 6 Arten des Wissens <?page no="81"?> 81 Reziprokes Wissen Selbstverständlich wird bei irgendeinem Text nicht unser gesamtes Wissen gefordert. Wir brauchen nur, was wir zum Verständnis brauchen. Gewisse Teile des Wissens werden online aktiviert, andere mögen schon aufgewärmt parat stehen (sog. priming). Dieses aktivierte Wissen bestimmt das Verständnis, und ob jeweils das beste aktiviert wird, wissen wir nicht. Wir sind uns ausgeliefert. Dass einem das Beste einfällt, gehört zur Verstehenskunst. Das schreiben wir uns alle zu. Die Kommunikationssituation gibt es in der Kommunikation nicht. Es handelt sich um eine objektivierende Erfindung von Linguisten. Gegen diese naive Betrachtungsweise: Es geht um Konstruktionen der Beteiligten. Sie müssen nicht eine Kommunikationssituation konstruieren bis ins letzte Detail. Im Übrigen geht es auch hier um aktiviertes Wissen. Die Konstrukte der Beteiligten müssen nicht deckungsgleich sein. Das Risiko des Verstehens: Es kann klappen, man mag glauben, dass es klappt, auch wenn keine Deckungsgleichheit gesichert ist. Aber auch Missverständnisse gibt es, entdeckte und unentdeckte. Entscheidend in Kommunikation und entscheidend für das Verstehen ist nicht das individuelle Wissen der Partner, sondern die Koordination ihres Wissens. Da geht es nun nicht darum, dass ihr Wissen sich überlappt und die Gemeinsamkeit darin bestünde. Der Knackpunkt menschlicher Kommunikation ist koordiniertes, gegenseitiges, gestuftes Wissen: Ich weiß, dass du weißt, dass ich weiß ... Und koordiniert: Du weißt, dass ich weiß, dass du weißt ... Und gestuft hier grafisch dargestellt. Nur mit dieser Art Wissen können wir sprachliche Zeichen in der Kommunikation verstehen, eben verstehen, was gemeint ist. A glaubt, dass A glaubt, dass A glaubt, dass B glaubt, dass B glaubt, dass B glaubt, dass 6.2 | Wissen Aktiviertes Wissen <?page no="82"?> 82 In einem Text etwa wird der Autor davon ausgehen können, dass der Leser das jeweils Vorangehende gelesen hat, also weiß, was gesagt wurde. (Springen Leser irgendwo ein, liegt die Verantwortung dafür bei ihnen.) Das ist die eine Komponente des Laufwissens. Hinzu kommen Aktivierungen aus dem stehenden Wissen. Und auch hier geht es um reziprokes Wissen. Wir gehen davon aus, wir gehen einfach davon aus, dass es einen gemeinsamen Wissensfundus gibt, den wir teilen. Dies bildet den common ground, der in jeder Kommunikation vorausgesetzt wird. Es ist das, was wir mehr oder weniger alle glauben, zumindest glauben, dass wir es glauben. Es kommt nicht darauf an, was wahr ist, wie die Welt beschaffen ist, welche Gegenstände und Ereignisse es wirklich gibt. Darum sind entsprechende Redeweisen naiv (zu einer allgemeineren Diskussion Brandon 2009, Kap. 6). Es kommt nur darauf an, was die Partner glauben. Wenn das gemeinsame Wissen koordiniert ist, geht alles glatt. Im Normalfall ist das weitgehend durch den common ground gesichert. Eine erhellende Anwendung dieser Betrachtungsweise ergibt sich bei der Desambiguierung. Einige Textlinguisten sprechen - mit nicht unüblichem Kategorienfehler: die Bedeutung werde monosemiert - davon, der Kontext desambiguiere vage und polyseme Ausdrücke. Demnach hätte der Leser beide Bedeutungen im Sinn (wenn es überhaupt zwei sind), das Umfeld gestatte ihm aber, die passende zu selegieren. Es ist aber eher so: Das aktive Laufwissen ist im Normalfall so beschaffen, dass Desambiguierung gar nicht nötig ist. Priming sorgt vor: Pedro kränkelte jahrelang vor sich hin. Zuletzt hat man in der Klinik diagnostiziert, dass etwas mit der Galle nicht stimmte. Nach der Operation geht es ihm besser. Kämen Sie da auf die Idee, Operation so zu verstehen wie hier: Letztlich sind sie mit ihren Truppen eingefallen. Diese Operation war ein glatter Verstoß gegen das Völkerrecht. Das Gleiche funktioniert mit anderen Ausdrücken analog: Pedro kränkelte jahrelang vor sich hin. Zuletzt hat man in der Klinik diagnostiziert, dass etwas mit der Galle nicht stimmte. Nach dem Eingriff geht es ihm besser. Bei den neuen Textilien wird überall gespart. Knöpfe, die man nicht mehr öffnen kann, Unterhosen ohne Eingriff und so weiter. Lokale Kohärenz: trigger und transitions | 6 Ambiguität? 79 <?page no="83"?> 83 Wie wir Lücken füllen Letztlich mag aber alles in der Schwebe bleiben, wie am Ende des tiefsinnigen Gedichts von Eduard Mörike, das eine rege Diskussion fand: Eine Deutung oder die andere? Natürlich beide! 6.3 Wissensstrukturen Gehen wir weiter im fingierten Lesen. In Sprachprüfungen präsentiert man Lückentexte verschiedener Art: per Hand vorbereitete und standardisierte c-Tests wie diesen. Ich kenne vorgängige Muster, die mich leiten. Es sind Muster, die ich in vorgängiger Kommunikation erworben, sozusagen aufgebaut habe. Ich stoße auf „kaufen“, da kommen mir gleiche viele Assoziationen wie Ware, Bücher, teuer und danach kommen viele Lücken. Wie kann ich die füllen? Was aktiviere ich im Laufwissen? Wo nun kaufen? Liesel Lebssal hat jet_ _ ihr tradition_ _ _ _ _ch_ _ Geschäft aufge_ _ _ _ _ . Die Leu_ _ kaufen i_ Groß_ _ndel, i_ Sup_ _ _arkt. Nu_ für Besonde_ _ _ _ _en laufen si_ in di_ Metzgerei. Dav_ _ können wi_ nicht leb_ _, dazu si_ _ die Unko_ _ _ _ zu gr_ _ . Wenn al_ _, die jamm_ _ _, wenn ei_ Laden versch_ _ _ _ _ _, vorher do_ _ gekauft hät_ _ _, gäb e_ keine Prob_ _ _ _ . Aber de_ Rückgang de_ Umsatzes mus_ _ _ zu die_ _ Entschluss füh_ _ _ . 6.3 | Wissensstrukturen Eduard Mörike: Auf eine Lampe Noch unverrückt, o schöne Lampe, schmückest du, An leichten Ketten zierlich aufgehangen hier, Die Decke des nun fast vergessnen Lustgemachs. Auf deiner weißen Marmorschale, deren Rand Der Efeukranz von goldengrünem Erz umflicht, Schlingt fröhlich eine Kinderschar den Ringelreihn. Wie reizend alles! lachend, und ein sanfter Geist Des Ernstes doch ergossen um die ganze Form - Ein Kunstgebild der echten Art. Wer achtet sein? Was aber schön ist, selig scheint es in ihm selbst. 82 80 <?page no="84"?> 84 Im Zuge des Kognitivismus ist es üblich geworden, Phänomene über ihre (ausgedachte) mentale Repräsentation zu erfassen. Gute Beispiele bieten Verben über ihre Valenz. Die Valenz öffnet einen Frame, einen Rahmen mit Leerstellen oder Slots, die unterschiedlich gefüllt werden können, aber beschränkt sind durch die semantischen Rollen. [___] kaufen [___] [___] [___] [Käufer] kaufen [Ware] [Verkäufer] [Zahlungsmittel] Wenn wir also auf ein Verb wie kaufen treffen, dann werden wir erwarten, dass diese Slots gefüllt werden, wenigstens weitgehend. Wir haben damit ein Muster, das unser Verstehen leiten kann. Auch was die jeweiligen Füllungen betrifft, sind nicht alle möglichen gleich häufig. So wird es also spezifischere Muster geben, die sich durch ihre Frequenz auszeichnen und damit noch stärker leiten. Solche Muster - wir nennen sie Chunks - kann man empirisch gewinnen. Sie zeigen ein strukturiertes Umfeld und bieten ein Gerüst, dessen Leerstellen unterschiedlich besetzt sein können. Chunks für kaufen wären etwa: Die Kunden [...] kaufen ... die ... ihre ein neues [...] Auto [zu] kaufen Bücher [ ... zu] kaufen im Supermarkt [ ... zu] kaufen am Kiosk [ ... zu] kaufen auf dem Markt [ ... zu] kaufen zum Preis von ... Euro zu kaufen für teures Geld [zu] kaufen auf Kredit [...] gekauft nicht die Katze im Sack kaufen Bei „kaufen“ fällt mir ein, wie und wo ich als Kind Bonbons gekauft habe. Das ist eher persönlich. Mein Vorwissen entwirft mir aber auch eine allgemeinere Szene, von der ich weiß, was nach dem common ground erwartbar sein könnte und was mich erwarten könnte. Es verwundert mich nicht, wenn auf einmal definit vom Verkäufer die Rede ist. Ich bin auf diese Anaphorik gefasst. Im common ground entwerfen Verben eine Szene, in der die wichtigen Rollen und Aspekte vorgesehen sind. Zur Szene von kaufen gehören im Allgemeinen: ● Personen, die kaufen ● Personen, die verkaufen ● Ware, die gekauft wird ● Preis, zu dem man kauft ● Zahlungsmittel, die verwendet werden ● Verkaufsweg oder Ort Lokale Kohärenz: trigger und transitions | 6 Chunks Szene 85 86 Frames und Chunks <?page no="85"?> 85 Skript als mentales Muster Szenen sind animierbar. Die Animationen stellen übliche Handlungsabläufe als Skript dar. Im Verstehen nutzen wir sie wie Szenen, etwa in der Anaphorik. Hier ein Skript für „Einkaufen im Supermarkt“. Skript von F. Buck: Einkaufen im Supermarkt K geht zum Supermarkt K nimmt Einkaufswagen (ab jetzt: Einkaufswagen ist bei K) K geht durch Sperre *K geht zum Regal K schaut Ware an K entscheidet sich, X zu nehmen K legt X in Einkaufswagen (beliebig oft wiederholen) Wenn gewünschte Ware nicht vorhanden, zurück zu * K geht zur Kasse K schaut, wo kürzeste Warteschlange ist K überlegt, wo K sich anstellt K legt Waren auf Förderband V tippt Preise in Kasse V sagt K Summe V gibt K Kassenzettel K gibt V Geld V legt Geld in Kasse V gibt K Wechselgeld K legt Waren in Einkaufswagen K geht zu Verpackungstisch K legt Ware in Tasche K schiebt Einkaufswagen zu Depot (im Supermarkt) K geht zu Parkplatz K legt Ware in Auto K schiebt Einkaufswagen zu Depot (auf Parkplatz) 6.3 | Wissensstrukturen 84 <?page no="86"?> 86 6.4 score keeping und transitions Verstehen gehört in den Kopf des Rezipienten, in gängiger Metaphorik. Dabei spielen Text und mentale Muster gemeinsam. Das Verstehen wird - wie man sagt - top down gefüttert und bottom up. Bisher stand hier top down im Vordergrund. Im bottom up kommen mehr Text und Laufwissen ins Spiel, die beide die Vorerwartung füttern. Im Laufwissen halten wir fest, was textuell bisher passiert ist, und knüpfen daran stets Erwartungen, was passieren wird. Das gilt für Sprecher wie für Hörer. Der Sprecher legt sich fest auf das, was bisher gesagt ist, das Explizite wie das Implizite, und der Leser hat das notiert. Es ist eine Art von Spielprotokoll oder scorekeeping, wie David Lewis (1979) es in seinem initiierenden Essay nennt. Wichtig ist dabei der Übergang zum nächsten Satz. (Aber ohne die übliche Verkürzung der textuellen Gegebenheiten auf die semantischen Beziehungen von Satzpaaren.) Im Übergang zum nächsten Satz ergibt sich die lokale Kohärenz. Den Übergang sehe ich geregelt durch mögliche transitions. Vielleicht kennen Sie die Idee von Power Point her, wo für den Übergang von einem Screen zum nächsten einige transitions implementiert sind wie blättern, wischen, zoom in, zoom out, split und bleech out. Analog kann man ein kleines Vokabular von transitions für das Textverstehen zusammenstellen, ein mentales Vokabular, das Sprecher per Sprachkompetenz kennen. Ich formuliere es als Fragen, die simulieren, was der Leser sich an der Stelle fragen könnte. Die transition ist nicht die Nahtstelle zwischen den beiden Sätzen, sondern das semantische Verhältnis der beiden. Der Default ist das eher triviale „und weiter? “, das den Leseverlauf bestimmt. Es ist die reine Fortsetzung, wird aber meistens spezifiziert. Das Vokabular von transitions können wir semantischen Relationen zuordnen. Eine Reihenfolge ist nach der vermuteten Frequenz von transitions hergestellt. Vermutlich sind temporale transitions häufiger als kausale und die häufiger als die sehr seltenen konzessiven. mehr? anreihend und dann? temporal genauer? explikativ dagegen? adversativ wieso? kausal und dennoch? konzessiv wozu? final Lokale Kohärenz: trigger und transitions | 6 Top down und bottom up transitions 88 <?page no="87"?> 87 temporale transitions Der Default ist die unmarkierte reine Fortsetzung. Sie wird in einer transition meist spezifiziert, etwa durch Konnektoren im Folgesatz. Eine Art sekundären Default haben wir durch die Linearität des Textes. Sie schafft im Lesen eine zeitliche Reihenfolge, die ikonisch übertragen wird auf Nachzeitigkeit: Alles, was im Text aufeinander folgt, wird als zeitliche Folge des Ausgedrückten gesehen. (Gleichzeitigkeit und Vorzeitigkeit sind in der gerichteten Abfolge ikonisch nicht darzustellen.) Wenn allerdings der Default lexikalisch ausgedrückt wird, dann löst das Implikaturen aus, etwa Verdeutlichung des temporalen Verlaufs und Absetzung gegen andere Möglichkeiten. Dann wählt der Leser per Implikatur die passende Deutung. Das kommunikative Prinzip, stets das Spezifischste zu sagen, lässt die spezifischste Deutung wählen. Darum muss bisweilen auch der Default ausgedrückt werden: Sie nimmt die Vorspeise. Genießt ihren Barolo. Denkt gleichzeitig über Textlinguistik nach. Bemerkenswert ist hier der Umschlag der Verwendungen von dann: Bis 1600 Euro zahlt man monatlich 30 Euro. Dann steigen die Beiträge um erst 15, später dann 18 Euro pro 200 Euro Einkommenszuwachs. Nach 3 Jahren könne dann das Verhältnis geändert werden, dann könne nach fünf, sechs Jahren der prozentuale Anteil gemindert werden. Eine Spezifizierung des temporalen Verlaufs kann man in der konsekutiven Relation sehen. Sie wird öfter ausgedrückt durch overte Konnektoren, Formeln oder Floskeln, kann aber auch durch kommunikatives Wissen gesteuert sein: Die Schuhindustrie fertigt im Jahr wenigstens 5000 neue Herrenschuhmodelle. Eine sehr große Anzahl von Modellen ähnelt sich. Selbstverständlich sollten wir uns das Erfassen der Übergänge und die Wahl einer transition nicht so vorstellen, als stelle der Leser sich am Satzende all diese Fragen oder checke jeweils alle Möglichkeiten ab. Alles geht viel glatter. Ein wichtige Rolle spielen dabei trigger, sowohl textuelle wie generelle, die im Laufwissen bestimmte transitions nahelegen. Der bisherige Verlauf im Scoreboard schränkt so die Möglichkeiten ein, filtert aus. Von der Anzahl möglicher Alternativen stehen welche aufgewärmt parat, andere sind eher unwahrscheinlich. 6.4 | score keeping und transitions 89 <?page no="88"?> 88 Als trigger bezeichne ich alles, was bestimmte Fortsetzungen und Strukturierungen auslöst. Sichere trigger können prospektive Konnektoren sein: Prospektiv paarige Konnektoren kündigen die Fortsetzung an wie auch das semantische Verhältnis, etwa nicht nur ..., sondern auch; bald ..., bald ...; einerseits ..., andererseits ...; entweder ... oder ...; erstens ..., zweitens ...; mal ..., mal ...; sowohl ... als auch; teils ..., teils ... und so weiter. Sie sind meist satzintern, können aber auch Sätze übergreifen. Bei ihnen läuft alles glatt, das Verstehen ist im Normalfall routinisiert. (Konnektoren im Folgesatz sind keine trigger, keine Auslöser, sie sind eher Einlöser in dieser Betrachtungsweise.) Etwas diffuser triggert auffällige Wortstellung, die von der Normalstellung abweicht. So erwartet man hier vielleicht Kontrastierung: Durchs Gebirg ging Lenz am 20. Jänner. Erklärungsbedürftig sind all die Fälle, bei denen es scheint, dass wir für das semantische Verhältnis der beiden Sätze keinen overten Ausdruck wie einen Konnektor finden, also all die Fälle, bei denen alle möglichen transitions in Frage kämen. Hier nehmen wir an, dass irgendwelche trigger im Text die Deutung auslösen, und zwar irgendetwas, das im Laufwissen durch den Vortext aktiviert wurde. Zur Einstimmung an Kleintexten Beispiele möglicher trigger. Anschließend führe ich einige Typen vor. Lokale Kohärenz: trigger und transitions | 6 Paarige Konnektoren trigger und transitions „Bloß nicht berühren! “ Die Warnung kommt aus berufenem Munde. [wieso berufen? ] Ursula Madeker von der Unteren Naturschutzbehörde kennt die Gegend ganz genau. [weiter? ] Am liebsten würde sie das Pflänzchen mit bloßen Händen herausreißen. [und dennoch? ] Sie weiß genau, wie gefährlich dieser Doldenblütler ist, im Volksmund auch Riesen- Bärenklau genannt. [wieso gefährlich? ] In Verbindung mit Sonnenlicht führt er bei Menschen und Säugetieren zu schwer heilenden und schmerzhaften Verbrennungen. Die Infinitiv-Aufforderung kann die explikative defNP triggern. berufener Mund könnte eine Erklärung triggern. Der Konjunktiv II triggert, warum sie es nicht tut. gefährlich könnte gut eine Erklärung oder Begründung triggern. 88 <?page no="89"?> 89 triggering Nun also zu den Typen von triggern. Overte trigger können Satzzeichen sein. Eher der Default ein Schlusspunkt, der einfach den Satz abgegrenzt. Signifikant sind Doppelpunkt und Fragezeichen: Der Wohnungsmarktbericht der Stadt klingt düster: Die Mieten steigen weiter, die Immobilienpreise sogar noch schneller. Was ist eigentlich der Grund dafür? Es sind ... Doppelpunkte triggern eine bestimmte Art der Fortsetzung, insbesondere Auflistungen, Konsequenzen und Explikationen. Fragezeichen kennzeichnen Fragen auch in eher monologischen Texten und triggern Antworten. Auch bestimmte Ausdrücke triggern analog, Aufzählungen oder Explikationen hier: Deutsche Dialekte haben unterschiedliche Syntax. Auf dem Tisch standen die verschiedensten edlen Speisen. Weitere overte trigger sind gliedernde Ankündigungen. Hierzu kann man auch n-tupel von Konnektoren zählen, deren erster die folgenden triggern kann. Hierfür gibt es gute Gründe ... Wir kommen zum letzten Punkt: ... Hier gilt es zu unterscheiden ... Abschließend ... ... aber ... und auch ... In seltenen Fällen triggern Formeln oder Floskeln am Textanfang sogar die Textsorte, so etwa Es war einmal ... eine Erzählung und Kommt ein ... einen Witz. Kontrastpaare kündigen eine Gegenüberstellung an: Rein oder unrein ... Karma oder Sünde? Wie der Name sagt, wirkt in diesem Sinne auch die Kontrastbetonung, die einen Gegensatz triggert. In nicht so perfekten schriftlichen Texten wird sie auch durch Kursive und Ähnliches gekennzeichnet: Auf diese Weise erklären wir die eine Komponente des Wissens ... [und die andere? ] Sie greift zum Telefon. Eine Mitarbeiterin erreicht sie im Urlaub .... [und die andere? ] 6.4 | score keeping und transitions 89 <?page no="90"?> 90 Extrem unwahrscheinliche Aussagen und scharfe Bewertungen sind auffällig. Sie triggern Begründungen, Erklärungen oder Rechtfertigungen: Wir mussten tagtäglich dieses muffige Wasser trinken. [wieso? ] Der sog. Wildwasserlachs war grottenschlecht. [wieso? ] Je mehr das semantische Wissen beansprucht wird, umso dünner oder unsicherer mag die trigger-Funktion erscheinen. Dennoch wird die Aktivierung der Gerichtsszene hier Einiges triggern. Dreimal stand Lohmeyer vor Gericht. [weshalb? ] Das erste Mal wurde er wegen ... angeklagt. Dreimal stand Lohmeyer vor Gericht. [und dann? ] Das erste Mal wurde er wegen ... verurteilt. Dreimal stand Lohmeyer vor Gericht. [welche Strafe jeweils? ] Das zweite Mal wurde er zu einer Geldstrafe von ... verurteilt. Getriggert werden die Anklage, das Strafmaß und so weiter. Eine Unterlage für das Erfassen der semantischen Struktur bilden Sprechakte, insbesondere übliche Sprechaktsequenzen. Ich habe sie in der bisherigen Darstellung schon genutzt. Generell gibt es ja schon Affinitäten von Sprechakten zu semantischen Relationen. Ein Sprechakt muss nicht fest oder eins-zu-eins einen anderen triggern. Es genügt eine erhöhte Wahrscheinlichkeit für die jeweilige transition. Viele Akte streuen, sie mögen auch in indem-Relation stehen. mehr? anreihen, hinzufügen, aufzählen und dann? erzählen, berichten, anleiten genauer? explizieren, präzisieren, exemplifizieren, konkretisieren dagegen? kontrastieren, entgegensetzen wieso? begründen, stützen, rechtfertigen, belegen und dennoch? einwenden wozu? motivieren Lokale Kohärenz: trigger und transitions | 6 Sprechakte als trigger erklären konkretisieren präzisieren exemplifizieren <?page no="91"?> 91 Sprechakt- Strukturen Getriggerte Sprechakte ordne ich hier zu. Der Übersichtlichkeit halber ein Text in alinea-Schreibweise. Etwas negieren kann ein trigger für begründen sein. Man negiert nicht aus heiterem Himmel. Negieren ist ein markierter Sprechakt, mit dem etwas Gesagtem oder etwas in der Luft Liegendem widersprochen wird. Das lässt ein Begründen oder Rechtfertigen erwarten - zumindest bei normalen Leuten. Aber auch noch Anderes: Die Stadtmeisterschaft ist nicht nur für Profis gedacht. [sondern? ] Ambitionierte Amateure können sich bei einem solchen Turnier vergleichen. Nein, das ist nicht altmodisch. [wieso? ] Es ist eine aktuelle Erkenntnis moderner Erziehungswissenschaftler und Psychologen. Die Welt ist nicht so heil, wie die Sonntagsreden weismachen wollen. [wieso? ] Die Medien sind ein Spiegel der Gesellschaft. In diesen Beispielen wird mit dem Äußern des zweiten Satzes begründet oder ein eng verwandter Sprechakt ausgeführt. In dem folgenden könnte man ein Erläutern sehen und im nächsten ein Abschwächen: Abzug von Vorkosten ist nicht unbegrenzt möglich. Es gilt eine einheitliche Pauschale, um die steuerpflichtiges Einkommen sinkt. Anmeldung für Einzelpersonen ist nicht möglich. Gruppenführungen können vereinbart werden. Glaubt man der Bundesregierung, dann wird dieser Tage um das Weltklima wieder mal hart gerungen, Wort für Wort. Ein eigenes Kapitel „Klimapolitik“ sollen die G-7-Staaten in Elmau verabschieden, eine Art Langfrist-Verpflichtung im Kampf gegen die Erderwärmung. Von einer „Dekarbonisierung“ im Laufe des Jahrhunderts soll dort die Rede sein, einer Wirtschaft ohne Kohlenstoffe, vielleicht sogar mit konkreten Prozentzahlen. Würde es die Dinge ändern? Vermutlich nicht. Jedenfalls nicht direkt. (SZ 4. 6. 2015) (gehedgt kritisch)behaupten nebenbei präzisieren explizieren → wiedergeben → behaupten nebenbei präzisieren explizieren → wiedergeben → behaupten nebenbei präzisieren nebenbei vermuten (rhetorisch)fragen antworten → vermuten präzisieren → behaupten 6.4 | score keeping und transitions 83 <?page no="92"?> 92 Naheliegend: Wenn man etwas kritisch eingeführt hat, dann spezifiziert man es. So darf der Leser hier eine Explikation erwarten. Getriggert wird auch durch einleitende Hinweise. So wird ein Hinweis wie die Debatte um oder zur Kontroverse im weiteren Text ein Entgegensetzen erwarten lassen. Das muss hier nicht ein einzelner Sprechakt sein, der Hinweis kann auch eine adversative Folge triggern. Die Beispiele zeigen wieder, dass Textsegmente mit eigener innerer Struktur getriggert sein können. Entgegensetzen mag sogar so weit gehen, dass in einer Textsorte wie der schulischen Erörterung der ganze Text entsprechend nach Pro und Contra strukturiert ist. Lokale Kohärenz: trigger und transitions | 6 Hinweise als trigger Am 1. Januar tritt eine neue Hundesteuersatzung in Kraft. Damit auch jeder im Lande weiß, was ihm blüht, wenn er auf den Hund kommt, wurde der Text der Satzung jetzt in unverfälschtem Amtschinesisch als amtliche Bekanntmachung der staunenden Umwelt vorgelegt. [genauer? ] Dem genauen Studium der ausführlichen Erläuterungen kann der Tierfreund entnehmen, dass mit dem „Steuergegenstand“ nicht etwa sein Hund gemeint ist, sondern Gegenstand der Steuer ist das Halten von wenigstens 3 Monate alten Hunden im Stadtgebiet. „Kann das Alter eines Hundes nicht nachgewiesen werden, so ist davon auszugehen, dass der Hund mehr als drei Monate alt ist“. Folgende Beträge werden erhoben: Jahressteuer für den ersten Hund 25 Euro, für den zweiten Hund 50 Euro, für jeden weiteren Hund 75 Euro, Hunde, für die die Steuer ermäßigt wird, gelten als erste Hunde. Die Frage bietet Zündstoff für erbitterte Kontroversen und spaltet in zwei Lager: Während die Linksparteien sich schützend vor die Kunst stellen, verteidigen die Rechtsparteien den Status Quo. Debatte mit alten Vorwürfen Bundeskanzler und andere Koalitionspolitiker wiesen im Bundestag den Vorwurf von SPD-Fraktionschef Sch. zurück. Er hatte dem Kanzler vorgehalten, die Koalition missbrauche die Arbeitslosigkeit. Der Kanzler hielt der SPD vor, jede Diskussion über die Zukunft der Industriegesellschaft mit dem Vorwurf des sozialen Kahlschlags abzuwürgen. Er räumte ein, dass ... 91 <?page no="93"?> 93 getriggerte Anaphern Als trigger kommen auch explizit genannte Sprechaktverben oder gar Performative vor. Sie triggern die propositionale Ergänzung. Eine weitere Quelle für trigger und transitions ist die Textphorik. Der default für die Weiterführung ist hier die Grunderwartung, dass man beim Gleichen bleibt. Deshalb wird eher getriggert, wenn im nächsten Satz der default nicht eingehalten wird, die Vorerwartung sozusagen enttäuscht würde. Musterbeispiele sind Kataphorik und die Einführung neuer Gegenstände, wo die Erwartung auf weitere Spezifizierung geweckt wird. Kataphern (sowohl pronominale wie solche mit defNP) und einführende indefNP lassen erwarten, dass die Karteikarte weiter gefüllt wird. Sie bilden trigger für Explikationen. 6.4 | score keeping und transitions Ein agiler Jubilar feiert seinen 80. Geburtstag. Als Jugendlicher wurde er kurz vor Kriegsende zur SS abkommandiert. Nach langer russischer Gefangenschaft kam er als gebrochner Mann nach München zurück. Seine Familie war bei einem Bombenangriff umgekommen. Nun musste er langsam wieder ins Schreiben finden. Zuerst ging ihm nur der Krieg durch den Kopf. Aber dann kam ihm die glückliche Kindheit in den Sinn und er begann, Kinderbücher zu schreiben. Schon das erste wurde ein Bestseller. Viele folgten. Heute wird Xaver Claus achtzig. Herzlichen Glückwunsch. Weder die Bundesbank noch das EWI sind von der Kommission gehört worden. Dies bestreitet Salgy energisch: Wir haben größten Wert auf die Abstimmung mit dem EWI gelegt. Es heißt: Weder die Bundesbank noch das EWI sind von der Kommission gehört worden. Dies bestreite ich. Wir haben beide Institutionen laufend über den Stand unterrichtet. Er ist ein agiler Jubilar. Als Lehrling ging Alfred Bohrmann vor 60 Jahren zur Volksbank, 1971 wurde er deren Direktor. Heute, an seinem 75. Geburtstag zehn Jahre im Ruhestand, kann er stolzen Rückblick halten. Aus der Spar- und Darlehenskasse wurde eine Stütze vor allem für den Mittelstand und Kleinbetriebe. Unterbrochen hatte auch Bohrmanns Karriere der Krieg, erst 1948 kam er schwerverwundet aus Gefangenschaft zurück. Inzwischen prüft er nur noch Vereinskassen, aber ganze Busladungen von Freunden führte er auf organisierten Reisen in Eismeer, Karibik, Mittelmeer. <?page no="94"?> 94 Das definite Antezedens dient im folgenden Beispiel als Anker, das mit seinen Assoziationen den trigger für definite Referenz bietet: Die Mannschaft hat den Sieg erkämpft und gespielt wie in früheren Zeiten. Die Spieler standen zusammen. Jeder war auf die Minute fit. Zu Mannschaft gehören Spieler, Sieg und Niederlage. Beim anaphorischen jeder haben wir es mit einer üblichen elliptischen Anapher zu tun, in der eine NP definit zu verwenden ist, weil ein kontextuell erschließbares Attribut ausgelassen ist: jeder (von ihnen). In diesem Text ist vieles für Anaphorik getriggert mit der Szene Zoo. Mit assoziativ Getriggertem kann auch gespielt werden: „Noch mit der Mathestudentin zusammen? ” - „Hab sie verlassen. Sie hat sich nächtelang mit zwei Unbekannten beschäftigt.” Getriggerte, ausgelöste Erwartungen müssen natürlich auch eingelöst werden: Der nächste Satz muss passen, er muss eine befriedigende Deutung ermöglichen. Das klappt nicht immer. Hier lässt der Eingangssatz schlimme Folgen erwarten. Die Erwartung wird aber enttäuscht. Das verlangt Erklärung, auch mit den Folgen. Szenen als trigger Im Zoo Sie stehen vor dem Affenhaus und gucken den Affen beim Spielen zu. Sofie brüllt: „Guten Tag, du Affe! “ Papa zuckt zusammen. Ein anderer Mann zuckt auch zusammen. Zwei Frauen drehen sich zu Sofie um. Vater zieht Sofie weg und sagt leise: „Affen begrüßt man nicht. Sie können ja nicht antworten.“ Sofie sagt: „Dann ist Herr Schneider auch ein Affe.“ Vater sagt: „Na, hör mal! So etwas kannst du doch nicht sagen.“ Aber Sofie bleibt dabei. „Der antwortet auch nicht, wenn ich guten Tag sage. Also ist er ein Affe.“ Jetzt lacht Vater endlich. (Peter Härtling) Das literarische Quartett vernichtete Buch und Autor: Das war eine Werbung für das Buch. [wieso? ] Die Menschen haben die vernichtenden Kritiken zur Kenntnis genommen. [mehr? ] Sie wollen sich eine eigene Meinung bilden und kaufen das Buch. [und dann? ] Es gibt nichts, was in letzter Zeit bei den Neuerscheinungen so schnell über den Ladentisch gegangen ist wie das neue Grass-Buch. Lokale Kohärenz: trigger und transitions | 6 87 <?page no="95"?> 95 Satzzeichen als trigger In den letzten drei Beispielen wirken auch die Satzzeichen, besonders Doppelpunkt. Satzzeichen sind Dienst am Leser, haben ihre Funktionen im Text. Wir haben ein festes Vokabular von Satzzeichen, die wir in ihrer eigenen Syntax unterscheiden. Wichtig für die Textlinguistik: Für die textuelle Funktion der Satzzeichen nehmen wir hier die Rezipientenperspektive ein (es gibt aber umgekehrt auch die Produzentenperspektive, die mehr onomasiologisch wäre). Alle einstelligen (bis auf „/ “) haben gliedernde Funktion. Sie stehen an syntaktischen Einschnittstellen und an Satzübergängen. Rückwärts gewandt und den Sprechakt des abgeschlossenen Satzes signalisierend sind der neutrale Schlusspunkt, Ausrufezeichen für die verschiedenen Arten direktiver Sprechakte und Ausrufe, Fragezeichen für die verschiedenen Arten des Fragens. Stärker transitorisch oder janusköpfig kann man Komma, Semikolon und Doppelpunkt sehen. Sie signalisieren die Fortsetzung, also erst einmal den default der transition. Das Komma signalisiert die schwache Fortsetzung. Es kann satzintern Phrasen oder Satzförmiges (propositionale Ausdrücke) trennen oder satzübergreifend konkurrieren mit Semikolon und Satzschlusszeichen. Dabei wird syntaktisch unterschieden, aber nicht durch das Komma signalisiert, ob der Anschluss koordinativ oder subordinativ ist. (Erinnert sich noch jemand an das Drama der alten Rechtschreibung mit dem Komma vor und? ). Im Gegensatz zum Komma wird das Semikolon als stärker trennend gesehen. Darum ist ein Semikolon in einer koordinativen Aufzählung auffällig und wird als gewollt oder als übertrieben verstanden. Der Doppelpunkt ist ein trigger in der Einschnittstelle. Seine Wirkung kann wesentlich mit Sprechakten charakterisiert werden: Er kündigt an, etwa ein Zitieren (Beispiele unter unseren dreien), ein Schließen auf, ein Aufzählen, ein Exemplifizieren. Öfter wird das verstärkt durch Alineas mit Spiegelstrichen und deren graphische Äquivalente. Einstellige Paarige Eher rückwärts gerichtet: . ! ? Transitorische: , ; : / ( ...) „ ...“ - ...- < ...> [...] { ...} 6.4 | score keeping und transitions <?page no="96"?> 96 Bei den paarigen ist die trigger-Funktion ganz deutlich und gut zu beschreiben. Getriggert wird mit dem öffnenden Teil. Gedankenstriche und Klammern kennzeichnen in der Grundfunktion ein Nebenbei. Der Gedankenstrich - es ist ein Geviertstrich zwischen Leerzeichen, kein Bindestrich - kennzeichnet - so wie hier - im Prinzip Einschübe, nicht nur - wie sein Name sagt - Gedanken. Klammern sind im Regelfall Rundklammern, in mathematisch angehauchten Texten mit Spezifizierung auch die anderen. triggernde Gedankenstriche triggernde Klammern Lokale Kohärenz: trigger und transitions | 6 explizieren, resümieren Wir werden in diesem und im nächsten Jahr - in zwei Jahren - neue Arbeitsplätze für Einheimische und Immigranten schaffen. Regierungen haben sich - ich darf das hier noch einmal wiederholen, damit es auch ganz deutlich wird - mit Vehemenz eingesetzt. präzisieren Sie, meine Damen und Herren, haben in einer großen Allianz - mit Ausnahme der GRÜNEN - Bundesgrenzschutzbeamte geschickt. kommentieren Aber der Einsatz dieser Beamten muss natürlich - ich denke, da sind wir uns einig - ausgesprochen sorgfältig geplant werden. einschieben Wir werden - es ist darüber gesprochen worden; ich will der Kürze der Zeit wegen nicht wiederholen, was gesagt worden ist - alle gesetzgeberischen Maßnahmen ergreifen müssen, um ... nebenbei charakterisieren Der Beamte (blond, Anzug, weißes Hemd, süßliches Eau de Toilette): „Die Botschaft ist geschlossen. Wir können nichts tun.“ erläutern Gestern bekam er einen Job (17 Euro pro Stunde) als Dachdecker. erklären Ähnliches gilt für den Bezirkschef der SED in Karl-Marx-Stadt (Chemnitz). einwerfen Er ist ein mieser Karnevalist! (Dr. Vogel: Was soll denn das? ) Sie betreiben mit Ihren Leuten eine ganz üble Demagogie. kommentieren Satzschlusszeichen sind Symbole (? ) für Sprechakte. <?page no="97"?> 97 triggernde Anführungszeichen Schließlich zu den Anführungszeichen, mit denen wir, wie ihr Name sagt, in ihrer Grundfunktion etwas anführen oder zitieren. Die paarigen Klammern und Anführungszeichen (in Maßen auch Gedankenstriche) haben einen Skopus über alle anderen Satzzeichen hinaus. Das heißt, in ihrem Rahmen könne alle andern Satzzeichen vorkommen. Auch sonst können Satzzeichen kumulieren. Eine Frage ist: Was passiert, wenn zwei Zeichen zusammentreffen? Dann kann eines regulär als dominant gesehen werden. Es frisst das andere auf. Aufgefressen wird der schließende Gedankenstrich. Hier zusammengefasst die Arten von transitions und triggern. Die wesentlichen transition-Fragen sind: mehr? und dann? genauer? dagegen? wieso? und dennoch? wozu? Als trigger wurden behandelt: Satzzeichen als deutliche trigger Einzelne Ausdrücke, Wortstellung Gewagte, markierte Aussagen, z. B. Negation Sprechakte, Sprechaktverben und Sprechaktsequenzen Antezedenzien Szenen 6.4 | score keeping und transitions Beginn direkter Rede kennzeichnen Sofie brüllt: „Guten Tag, du Affe! “ sich distanzieren Das „Unmögliche“ aber ist nicht in den Zeiten der Konfrontation, das „Unmögliche“ ist nicht durch Gesprächsverweigerung, sondern durch eine Politik des Dialogs möglich geworden. Titel oder Themen nennen Das neue Buch mit dem treffenden Titel „Dynamische Texttheorie“ <?page no="98"?> 98 Trigger und transitions erklären kein Verständnis, sie bieten eine Form der Analyse, der Erklärung. Das Verständnis ist primär, nicht die Analyse. Im Verstehen wirkt alles zusammen. Wenn der Folgesatz passt, dann ergibt „der nächste und der nächste Satz“ die fortlaufende Struktur des Textes, ergibt den oft beschworenen roten Kohärenzfaden, der allerdings öfter eine verdrillte Schnur sein mag, in der kein Faden wirklich durchläuft. Aber leichte Übergangsstörungen können einen Text auch attraktiv machen - wenn sie aufgelöst werden. Da braucht es vielleicht nach der Scheinauflösung einen Refresh wie in gewissen Witzen. Der Leser muss zurückschauen, er muss re-vidieren, um die Pointe zu fassen. Und besser vorgewärmt? Lokale Kohärenz: trigger und transitions | 6 Eine junge Frau in der Apotheke: „Ich hätte gern ein neues Medikament. Ihren Brusttee können Sie vergessen. Ich trinke ihn täglich. Und er hat überhaupt nicht geholfen.“ Kommt eine gertenschlanke Blondine zum Apotheker: „Ich hätte gern ein besseres Aufbaumedikament. Ihren Brusttee können Sie vergessen. Ich trinke ihn jetzt seit Monaten. Und nicht das Geringste ist zu sehen.“ <?page no="99"?> 99 Aufgeräumt? 7 Globale Kohärenz: Das Thema eines Textes ... an individual’s intentions or wishes can no more produce the general meaning for a word than they can produce horses for beggars, or home runs from pop flies. Stanley Cavell, „Must We Mean What We Say? “, 1958 7.1 Terminologische Vorbemerkung Das Thema ist Thema in fast allen Einführungen in die Textlinguistik. Das hängt vor allem damit zusammen, dass es einen ambigen Gebrauch des fischigen Terminus gibt, dass eine der Verwendungen terminilogisiert wurde (gegen den Sprachgebrauch), dass die Materie zu komplex ist. So wundert es auch nicht, dass in verschiedenen Darstellungen ein optimistisches Noch-Nicht vorkommt (etwa Vater 1992, 95), das uns für eine präzisere Darstellung in die (ferne? ) Zukunft verweist. Die Terminologisierung findet sich im sog. Thema-Rhema-Ansatz. Danach könne man einen Satz nach seinem Mitteilungswert in zwei Teile zerlegen: das Thema = der Ausgangspunkt der Aussage, das Rhema = Kern der Aussage. Das wird gemeinhin noch etwas präzisiert, das Thema sei das bereits Bekannte (aus Welt- oder Kontextwissen), das Rhema, was darüber ausgesagt wird. Oft wird die Thema-Rhema-Idee in Zusammenhang gebracht mit Traditionen, die alle von diesem Schlag sind. In der topic-comment- Tradition ist topic das Gegebene (given), comment das Neue. Bisweilen ist auch textuell gesicherter von Vorerwähntem die Rede, das man ja vielleicht im Text identifizieren könnte, wenn man wüsste, was Erwähnung heißt. Es geht dabei ja nicht einfach um das Vorkommen von Wörtern. Als Linguist sollte man schon mal fragen: Was ist es, was bekannt ist? Gegenstände? Propositionen? Wie ermittelt man das Bekannte? Von welcher syntaktischen Kategorie können thematische Ausdrücke sein? Einfach eine NP oder ein N oder was? Der Ansatz ist nicht operational. Wir sollten ihn der Anaphorik zuweisen. Die Figuren des Thema-Rhema-Ansatzes habe ich gezeigt. 48 <?page no="100"?> 100 7.2 Was ist das Thema? Anschließend an den allgemeinen Sprachgebrauch befassen wir uns mit einer üblichen Verwendung des Wortes Thema. In der F2F-Kommunikation ist eigentlich kein Thema vorgegeben, es wird oft erst ausgehandelt, kann sich dynamisch entwickeln, kann eröffnet und beendet werden. Normalerweise bleibt das Thema im Selbstverständlichen. Nur wenn es Unstimmigkeiten gibt oder darauf Bezug zu nehmen ist, wird die Themenfrage thematisiert. Dann beanspruchen Sprecher zu wissen, worum es geht. Daraus nähren sich etablierte Redeweisen wie vom Thema abkommen oder abschweifen oder Das gehört nicht hierher. Wir nehmen dann an, wir kennen das Thema. Wenn es hart auf hart kommt, müssen wir es auch formulieren. Was können wir aus dem Gebrauch des Wortes schöpfen? das heikle Thema [...] angeschnitten lautet das Thema eines Vortrags von ... verschiedene politische Themen ... diskutieren verschiedene [...] Themen [...] behandeln sich ... intensiv mit dem Thema [zu] befassen Und weiter reden wir davon: sich mit einem Thema auseinandersetzen, beschäftigen, sich einem Thema nähern, widmen, mit ihm umgehen. Themen können sich gewissermaßen selbstständig machen und sogar die Diskussion beherrschen. Hier sehen Sie Verben oder Sprechhandlungen, mit denen wir im Zusammenhang mit Thema reden. Eine gewisse Reihenfolge in Phasen werden Sie erkennen. Damit werden unterschiedliche Aspekte und Ausführungen des Themas thematisiert. Wenn wir für alle wissen, wie das geht, dann wissen wir viel über Texte und Textstrukturen. Wichtiger Aspekt ist, dass Themen genannt werden. Wie geht das? In der Geschichte geht es um die Eroberung einer freimütigen ... Die Publikation behandelt die Durchführung der Transporte .... Und doch: Irgendwie bleibt das Thema vage. vorgeben anschneiden ansprechen angehen anpacken behandeln besprechen diskutieren abhandeln erörtern verfehlen ausklammern aufgreifen abhaken erledigen Globale Kohärenz: Das Thema eines Textes | 7 Wie wir mit Themen umgehen 95 <?page no="101"?> 101 Reden vom Thema Ich ziehe eine Art Fazit aus den Vorüberlegungen zum Gebrauch von Thema in folgenden Kriterien: Das Thema kann man benennen oder formulieren. Das Thema ist nicht vorbestimmt, eher offen. Das Thema ist oft strittig. Man sollte beim Thema bleiben, nicht abschweifen. Die Frage, worum es geht, wird unterschiedlich genutzt. Sie dient nicht nur der textuellen Domestizierung, möglicherweise dient sie der Texterschließung oder in der Schule als Aufgabe, einen passenden Text zu verfassen. Da droht dann auch das schlimme Urteil: „Thema verfehlt“. Wir erproben die wichtigen Themenfragen: Worum geht es nun hier? Wovon handelt der Text? Eigentlich ein perfekter Text. Aber was ist das Thema? Eine Kölnerin? Der Kölner Dom? Klarer wird das schon, wenn der Text eine Überschrift bekommt. Da sehen wir erst einmal, was Thema sein soll. Mit dem Titel kann sich das Thema ändern. So ganz realisiert ist es aber damit nicht. Das bekundet dann auch die Schreiberin: Sie schweift ab. 7.2 | Was ist das Thema? Also: Ich bin Kölnerin, hier geboren und aufgewachsen, mit all den zwiespältigen Gefühlen. Auch mir geht das Herz auf, wenn ich den Dom sehe. Wie er so gewaltig dasteht. Über die Jahrhunderte hat die Zeit ihre Spuren hinterlassen. Die witternde Farbe mahnt uns: Vergänglichkeit. Aber dieses Bauwerk mahnt auch in die Zukunft, das bauliche Meisterwerk fortzusetzen. Die Macht der reinen Form in uns aufzunehmen und fortzuführen. Nach der Schule habe ich Deutsch und Philosophie studiert und wurde Lehrerin. Mein Lebenslauf Also: Ich bin Kölnerin, hier geboren und aufgewachsen, mit all den zwiespältigen Gefühlen. Auch mir geht das Herz auf, wenn ich den Dom sehe. Wie er so gewaltig dasteht. Über die Jahrhunderte hat die Zeit ihre Spuren hinterlassen. Die witternde Farbe mahnt uns: Vergänglichkeit. Aber dieses Bauwerk mahnt auch in die Zukunft, das bauliche Meisterwerk fortzusetzen. Die Macht der reinen Form in uns aufzunehmen und fortzuführen. Oh Gott, ich schweife ab. Nach der Schule habe ich Deutsch und Philosophie studiert und wurde Lehrerin. 96 <?page no="102"?> 102 Nur, so ganz geheilt scheint die Sache damit nicht. Für einen Lebenslauf hätten wir gern etwas mehr und das längere Zwischenspiel gestrichen. Hier scheinen wir es nach wie vor mit der Vermischung zweier Themen zu tun zu haben. Auf jeden Fall haben wir unsere Intuition. Außerdem wissen wir, wie Themen üblicherweise formuliert werden: Neben einfacher NP, auch Über NP, Von NP, und NP sind w-Sätze eine übliche und weithin akzeptierte Form, ein Thema zu formulieren: Wovon der Text handelt. Worum es im Text geht. Weitere einschlägige Formulierungen wären: Jemand schreibt über, redet über ... In einer Debatte über/ um ... Das Thema eines Textes wird, besonders in Aufgabenstellungen, schon mal als Überschrift gegeben. Hier ein paar typische, manche mit Anführungszeichen abgesetzt, andere durch Doppelpunkt. Da stellt sich natürlich die Frage, in welchem Verhältnis Thema und Titel stehen. Ein Titel steht im Text alinea, am Anfang und wird öfter auch durch Auszeichnung gekennzeichnet (fett, unterstrichen usw.). Das Thema wird vielleicht im Titel formuliert oder angerissen, es muss aber in irgendeiner Weise im Text zu erkennen sein. Denn schließlich kann man es sogar verfehlen, wenngleich man den Titel korrekt setzt. Alternativfrage Zum Thema „Verpacken oder Verhüllen? Christo und sein Reichstagsprojekt“ Erweitert Zum Thema „Bürgergeld. Steuer- und Transferordnung aus einem Guss“. Frage Zum Thema „Welche Freiräume können die Schulen ihren Theater-AGs bieten? “ Zusatzfragen Zum Thema Fassadenanstrich: Wie dick? Wie teuer? Wie lange haltbar? Infinitivisch Zum Thema „Den Islam verstehen“ Koordination Zum Thema: Sex, Liebe und Heirat Nominalphrase Zum Thema Jugendschutz Ausgebaute Nominalphrase Zum Thema Frauen in der Geschichte Mannheims Satz Zum Thema „Dem Glücklichen schlägt keine Stunde.“ Satz Zum Thema „Frauen gestalten die Welt“ Satz Zum Thema „Mieten müssen bezahlbar bleiben.“ w-Satz Zum Thema „Warum der chinesische Drache kein Feuer speit“ Kurzsatz Zum Thema „Dritte Welt - Eine Welt“ Globale Kohärenz: Das Thema eines Textes | 7 Thema formulieren Thema und Titel <?page no="103"?> 103 Titel und Thema Wenn Titel oder Themen erwähnt werden, ist der Titel fast ausnahmslos in Anführungszeichen gesetzt, beim Thema kommt das öfter vor, muss aber nicht. Eine Ersatzprobe scheint nahezulegen, dass Themen auch Titel sein können, aber nicht alle Titel einfach als Thema gelten können. Im ersten Päckchen ist in üblichen Wendungen „zum Thema“ ersetzt durch „ ... mit dem Titel“: ... mit dem Titel „Abfall“ ... mit dem Titel „Das große Format - Malerei“ ... mit dem Titel „Entlassung: Freiheit auf Dauer? “ ... mit dem Titel „Helm ab zum Gebet“ ... mit dem Titel Friedenseinsätze Gewisse Zweifel haben wir da beim letzten Beispiel, weil es für manche abweichend ist, hier keine Anführungszeichen zu setzen. Im folgenden ist „ ... mit dem Titel“ ersetzt: ... zum Thema „Konservativismus des gesunden Menschenverstands“ ... zum Thema „Scientology auf dem Vormarsch“ ... zum Thema „Umweltmedizin“ ... zum Thema „Junger Mann gereizt durch den Flug einer nichteuklidischen Fliege“ Beim letzten Beispiel kann man nun Zweifel haben: Es klingt recht singulär, vielleicht zu spezifisch um als Thema durchzugehen. Offenbar braucht ein Thema eine gewisse Allgemeinheit. Die Ähnlichkeit der beiden ist jedoch bemerkenswert. In ihren Funktionen könnten sich beide allerdings unterscheiden. Der Titel ist ja immer Teil des Textes, während das Thema nicht formuliert sein muss. Ein Titel hat oft eine orientierende Funktion, weckt Vorerwartung und leitet so das Verstehen. Wenn das Thema im Titel steckt, wird er das Gleiche leisten. Man kann allerdings immer bewerten, ob der Text das Versprochene hält. Eine andere Funktion von Titeln ist die thematische Einordnung (hier wird schon wieder die Verwandtschaft deutlich). Wenn es darum geht, Texte für Suche und Einordnung zuzubereiten, spielt der Titel eine entscheidende Rolle. Das mag für literarische Texte per se weniger wichtig sein, für wissenschaftliche Texte ist eine solche Titelgebung allerdings unerlässlich. Wir halten fest: Mit Überschriften können wir Themen benennen. Nicht alle Überschriften nennen Themen. Themen können durch Titel benannt werden. Nicht alle Themen können durch Titel benannt werden. 7.2 | Was ist das Thema? Titelfragen Themafragen 98 <?page no="104"?> 104 Eine bohrende Frage bleibt generell: Sind überhaupt alle Themen so leicht formulierbar? Vielleicht schon. Aber sind sie auch anders als intuitiv zu gewinnen? In der Textlinguistik wollte man genauer bestimmen, was ein Thema ist. Doch öfter begegnen wir der Einsicht (auch Lötscher 2008, 105): ... dass es in der Textlinguistik bis heute nicht gelungen ist, klar operationalisierte Verfahren zur eindeutigen Bestimmung bzw. ‚Destillation‘ von Textthemen zu entwickeln. (Linke/ Nussbaumer/ Portmann 1994, 237) Das hat sich bis heute nicht sehr geändert. Die beiden selbst fallen mit der Tür ins Haus, wenn sie im definitionsartigen Teil gleich von Sub- und Nebenthemen reden oder wissen, dass man bei einem Privatbrief nicht erwarte, dass ein Thema durchgehalten werde, bei einem Vortrag über Lyrik aber schon (Linke/ Nussbaumer/ Portmann 1994, 249). Für die Texttheorie bleibt die Frage: Gibt es einen Weg, das Thema aus dem Text zu gewinnen? Denn nach der gängigen Metaphorik sollte es ja irgendwie im Text stecken, den Kern des Textinhalts darstellen (Brinker/ Cölfen/ Pappert 2014, 52). Eine verbreitete Idee ist, das Thema als eine Art Kondensat aus dem Text zu gewinnen. Dazu dienen vor allem zwei Methoden: Aus mehreren Sätzen des Textes werden Supersätze abstrahiert. Der Text wird kürzer zusammengefasst als eine Art Abstract. Methode 1: Die Schrumpftechnik: vom Text zum Thema. Sollte es vielleicht per Abstraktion gehen? ... wir müssen es aus dem Textinhalt abstrahieren, und zwar durch das Verfahren der zusammenfassenden (verkürzenden) Paraphrase. (Brinker/ Cölfen/ Pappert 2014, 53) Ein kurzes Beispiel soll genügen, um die Unzulänglichkeit zu erkennen. Wenn wir das Ganze etwas von terminologischem Overkill entkleiden (Brinker/ Cölfen/ Pappert 2014, 50; Schwarz-Friesel/ Consten 2014, 101), hätten wir in etwa folgendes Vorgehen: Nicht Relevantes, nicht relevante Sätze werden gestrichen. Sätze werden zu einem allgemeineren Satz zusammengefasst. Daraus gewinnt man einen globalen Sachverhalt, den man nun benennt. Man erkennt, dass hier viel Vorwissen, viel menschliche Intelligenz und Sprachkompetenz im Spiel ist. So könnte die Methode vielleicht als Heuristik dienen. Wohlgemerkt: Es geht immer um Propositionen und wenn am Schluss die Superproposition steht, dann entspricht das nicht den üblichen Formulierungen von Themen. Propositionen wären ja in wahrheitsfähigen Satzradikalen der Form dass-p zu formulieren. Globale Kohärenz: Das Thema eines Textes | 7 Thema aus dem Text <?page no="105"?> 105 Strange? Methode 2: Wie magert man einen Text zum Thema ab? Eine validere Abmagerungsmethode könnten wir in der automatischen Erzeugung von Abstracts finden. Nach dieser Idee wäre die Fassung des Themas als kurzem Abstract nicht unangemessen. Könnten wir das operationalisieren? Normalerweise geht man in drei Schritten vor (auch Stede 2006): Unwichtige oder unbrauchbare Sätze im Text werden ausgefiltert. Wichtige Sätze im Text werden ausgewählt. Ähnliche Sätze in der Menge der wichtigen werden getilgt. Sie sehen, dass auch hier wieder viel Intuition im Spiel wäre, so ganz anders ist dieses Verfahren also nicht. Vor allem müsste man ja entscheiden, welche Wörter unwichtig sein sollen. Aber ein Abstract ist sowieso nicht das Thema. Abstracts sind Texte, Themen selbst sind keine Texte. Die Idee scheint eher, dass sie nur in Texten manifest werden. Da wir ja den Textinhalt auch nicht haben, sage ich lieber mal: aus dem Text entwickeln. Ganz luftig gesprochen muss das Thema an Wörtern des Textes festzumachen sein. Woran sonst? Umgekehrt: Selbst bei eher rätselhaften Themenformulierungen werden Sie auf was kommen: Wie Winnetou meine Karriere ruiniert. Kostenlosen Käse gibt es nur in der Mausefalle. Das Thema ist irgendwie im Text enthalten. Ein Thema ruht auf einem Verständnis des Textes. Es wird in diesem Verständnis entwickelt und leitet es im Text. Darum ist ein gutes Verständnis der thematischen Struktur auch zugleich Teil und Voraussetzung eines guten Verständnisses. Zwar ist nicht für alle Texte sinnvoll vom Thema zu reden, nicht etwa beim Steuerbescheid. Aber sogar für kurze Witze kann man ein Thema formulieren. Steht ein Manta vor der Uni. Was ist das Thema? Über die Doofheit der Mantafahrer. Doofe Mantafahrer gehören nicht in die Uni. 7.2 | Was ist das Thema? 99 98 <?page no="106"?> 106 7.3 Thematische Strukturen und Textaufbau Wie schon gesagt: Nicht für alle Texte scheint die Rede vom Thema sinnvoll. Gewiefte können vielleicht für ein Celan-Gedicht ein Thema bestimmen, aber ob das wirklich Sinn macht und was es bringt, bleibt die Frage. Bei Texten, die ein Thema haben, wird das Thema in der Regel eingeführt und im Text entwickelt. Dazu mag das Generalthema unter verschiedenen Aspekten dargestellt und unterschiedlich beleuchtet werden - wie man öfter sagt. Das muss der Autor möglichst deutlich zeigen. Textuell wird sich das zeigen, indem der Autor in Teilthemen oder auch hierarchisch in Unterthemen gliedert. Für das Verständnis ist das Erfassen der thematischen Struktur elementar. In diesem Kochrezept geht die Darstellung der Struktur bis ins Layout. ZUTATEN 275 g Blätterteig 4 Stück Äpfel 2 EL Vanillezucker 1 EL Zucker 50 g Mandelblätter 1 Spritzer Zitrone 1 Eigelb 2 EL Milch Apfelstrudel aus Blätterteig (ohne Rosinen) ZUBEREITUNG 1 Äpfel schälen und entkernen. Dann in mittelgroße Stücke schneiden, einen Spritzer Zitrone darüber geben und verrühren, damit sie nicht braun werden. Zucker hinzugeben, sowie die Mandelblätter und ordentlich rühren. 2 Den Blätterteig rechteckig ausrollen oder den fertig ausgerollten aus dem Supermarkt benutzen. Die Mischung darauf verteilen. Den Ofen auf 200°C vorheizen. 3 Das Ei und die Milch vermischen und die Ränder des Blätterteiges damit bestreichen. Nun die Füllung einschlagen und die Ränder des Teiges, die überlappen, leicht andrücken. Kleine längliche Schlitze in den Blätterteig oben schneiden, damit er beim Backen nicht aufplatzt. Die Enden ordentlich schließen und fest andrücken, damit die Füllung beim Backen nicht ausläuft. Nun den gesamten Blätterteig mit dem Ei-Milch-Gemisch bestreichen. 4 Nun für ca.25-30 Minuten in den Ofen. Schmeckt lecker warm mit einer heißen Vanillesauce oder einer Kugel Eis. Globale Kohärenz: Das Thema eines Textes | 7 Textaufbau 100 <?page no="107"?> 107 Unterthemen Subthemen Bestimmt haben Sie bemerkt, dass mit dem Apfelstrudel-Rezept was nicht stimmt. In der Zubereitungsspalte können wir drei Unterthemen erkennen und alinea entsprechend drei Textabschnitte. Die verschiedenen Päckchen müssten nicht rein linear vorgeführt werden, auch flächige Layouts und Arrangements sind üblich, mit Bildern etwa. Aber insgesamt ist ein Kochrezept doch stark am linearen Handlungsablauf orientiert. Ich bereite ein X zu, indem ich die Zutaten besorge und bereitstelle, indem ich dann die Zutaten vorbereite, indem ich dann ... Eine solche Anordnung hat offenbar eine plausible Tradition und das darf der Leser auch erwarten. Allerdings, die Dreiteilung hat dieses mittelalterliche Rezept noch nicht. Französische Küche! Haben Sie jetzt eine Idee, was ein Blamensir ist? Kochen Sie mal einen nach dem Rezept, am besten gleich einen vom Hecht. Guten Appetit! Inhaltsverzeichnisse bieten den Blick auf die globale Kohärenz, auf die thematische Struktur von oben. Sie sollen auf die Lektüre vorbereiten, den Leser von oben sozusagen bei der Lektüre leiten oder auch Einsprünge an diversen Stellen ermöglichen. Inhaltsverzeichnisse haben eine lange Tradition und es gibt eine Fülle unterschiedlicher Abbildmethoden. Sie betreffen Struktur wie Inhalt. Wilt du machen einen blamensir Wie man sol machen einen blamenser. Man sol nemen zigenin milich vnd mache mandels ein halp phunt. einen virdunc ryses sol man stozzen zvo mele, vnd tuo daz in die milich kalt. vnd nim eines huones brust, die sol man zeisen vnd sol die hacken dor in. vnd ein rein smaltz sol man dor in tuon. vnd sol ez dor inne sieden. vnd gibs im genuoc vnd nime es denne wider. vnd nim gestozzen violn vnd wirfe den dor in. vnd einen vierdunc zuckers tuo man dor in vnd gebs hin. Also mac man auch in der vasten machen einen blamenser von eime hechede. http: / / www.staff.uni-giessen.de/ gloning/ tx/ bvgs.htm 7.3 | Thematische Strukturen und Textaufbau Inhaltsverzeichnis 101 <?page no="108"?> 108 Natürlich verweisen alle Inhaltsverzeichnisse auf Seiten des Buchs. Etwas ungewöhnlich scheint dieses Inhaltsverzeichnis: Das Verzeichnis stammt aus Fichtes „Bestimmung des Menschen. Anweisungen zum seligen Leben“. Es bringt fortlaufend thematische Hinweise, meist in thesenhafter Form. Es wirkt fast wie ein eigenständiger Text, eine Art Abstract. Warum bietet es nicht einmal Alineas? Waren es Platzgründe oder was? Man kann eine gewisse Verwandtschaft mit modernen Advance Organizern erkennen. Andere seriell orientierte Verzeichnisse listen eher Titel auf, wenngleich die natürlich auch auf Themen hinweisen können. Das denken wir uns dann als eine Sammlung von Texten, vielleicht - je nach Titel - auch Geschichten. Globale Kohärenz: Das Thema eines Textes | 7 Typen von Inhaltsverzeichnissen 102 <?page no="109"?> 109 Struktur zeigen Neben den rein seriell orientierten sind üblicher und nötiger (? ) tiefer strukturierte Inhaltsverzeichnisse wie dieses hier, das Unterthemen, Unterunterthemen und deren Struktur zeigt. Hier wird die übersichtliche dezimale Strukturierung verwendet, wie sie seit Wittgensteins Tractatus allgemeiner bekannt wurde. Das treiben manche dann in tiefe Tiefen wie schon Wittgenstein selbst: 4.1212: Was gezeigt werden kann, kann nicht gesagt werden. Die tiefe Gliederung wird auch dargestellt durch Buchstabenarten. Da könnte die Wiki-Darstellung wie unten aussehen. (Übrigens, schauen Sie mal hier: http: / / www.thelatinlibrary.com/ valmax1.html). Thematische Strukturierungskonzepte im Geschichtsunterricht Inhaltsverzeichnis 1 Einleitung 2 Die Verfahren 2.1 Das genetisch-chronologische Verfahren 2.2 Der Längsschnitt 2.3 Das strukturierende Verfahren 2.4 Die Fallanalyse 2.5 Das vergleichende Verfahren 2.6 Die individualisierenden oder biographischen Verfahren 2.6.1 Das sozialbiographische Verfahren 2.6.2 Das personalisierende Verfahren 2.7 Das perspektiv-ideologiekritische Verfahren 3 Literatur 4 Einzelnachweise Thematische Strukturierungskonzepte im Geschichtsunterricht Inhaltsverzeichnis A Einleitung B Die Verfahren a Das genetisch-chronologische Verfahren b Der Längsschnitt c Das strukturierende Verfahren d Die Fallanalyse e Das vergleichende Verfahren f Die individualisierenden oder biographischen Verfahren α Das sozialbiographische Verfahren β Das personalisierende Verfahren g Das perspektiv-ideologiekritische Verfahren C Literatur 7.3 | Thematische Strukturen und Textaufbau 103 <?page no="110"?> 110 Beide sind nicht gleichwertig. Zwar leisten sie inhaltlich dasselbe, für den Leser wäre die Dezimalgliederung angenehmer. Als übersichtlich ist so ein Graph hier gedacht. Er zeigt durch Verzweigung mehr Zusammenhänge, doch sie zu erfassen braucht es mehr Leseanstrengung. Globale Kohärenz: Das Thema eines Textes | 7 Übersicht? Sprechen und Handeln Handlungsmuster Handlungskonstellation Verstehen Verständnis sichern Missverständnis Klassen von Sprechakten Regeln und Konventionen Performative Sprechakttheorie Präzedenz Pragmatik Definition Satz und Äußerung Deixis und Anaphorik Nicht-wörtlich Indirekte Sprechakte Bedeutung und Sinn Personendeixis Implikaturen Grice: Implikaturtheorie I mplikaturtests Höflichkeit Reformulieren Zeitdeixis Raumdeixis Diskursdeixis Sozialdeixis Arten der Implikatur Metaphern Anwendungen Kontrastive Pragmatik Foren kontrastiv Interkulturelle Pragmatik Sprache und Kultur Sprechakte kontrastiv Höflichkeit Universell vs. kulturell Critical Incidents Übersetzen <?page no="111"?> 111 Leser- Orientierung Wäre die Grafik gleichwertig linear darzustellen? Als Leseerleichterung und Anregung werden immer schon Bilder verwendet. Üblicherweise wird bei Kochrezepten das Produkt abgebildet, als Anreiz vorneweg oder zur Überprüfung am Schluss. In elektronischen Texten ergeben sich neue Möglichkeiten und Probleme. All diese Mittel zeigen die thematische Struktur von oben und zur Voreinstellung. Der Autor muss den Leser aber im laufenden Text leiten. Selbst wenn der Leser die Inhaltsstruktur noch im Kopf hätte, müssen die Themen so gemanagt werden, dass der Leser folgen kann. Bei dieser Orientierung helfen - wie beim Kochrezept - gängige Muster. Aber auch im Text braucht es leitende Verfahren und sprachliche Ausdrucksweisen, die die thematische Einordnung klären. An der kurzen Wiki-Übersicht können wir bereits Einiges exemplifizieren. Aufzählende Übergänge für Subthemen sind zu erkennen an wiederkehrenden der/ die/ das-NPs. Der direkte Übergang vom Stichwort zur Explikation wird meist durch Alinea und Rekurrenz des Stichworts markiert. Außerdem finden wir Hinweise nach vorn wie das ankündigende verschiedene Aspekte. Die Verfahren Das genetisch-chronologische Verfahren Kern des genetisch-chronologischen Verfahrens ist die eigentliche Darstellung historischer Ereignisse in ihrer chronologischen Reihenfolge Der Längsschnitt An der Verfahrensweise des Längsschnitts wird betont, dass ... Das strukturierende Verfahren Bezüglich des [...] Verfahrens wird betont, dass im Gegensatz ... Die Fallanalyse Bei diesem Verfahren wird ein historisches Ereignis oder ein Prozess eines thematischen Gegenstandes ausgewählt und ... Das vergleichende Verfahren Beim vergleichenden Verfahren werden verschiedene Aspekte ... Die individualisierenden oder biographischen Verfahren Die individualisierenden oder biographischen Verfahren setzen ... Das sozialbiographische Verfahren Das sozialbiographische Verfahren ist eine Form der ... Das personalisierende Verfahren Das personalisierende Verfahren ist zwar ebenfalls eine Form des biographischen Verfahrens steht aber ... Das perspektiv-ideologiekritische Verfahren Dieses Verfahren zielt auf eine kritisch reflektierte ... 7.3 | Thematische Strukturen und Textaufbau Themen- Management 105 <?page no="112"?> 112 In längeren Texten wird die thematische Struktur vielleicht schon zu Beginn entworfen. Vielleicht wären monotone Anfänge glatter zu verstehen. Aber die Autoren befleißigen sich des Variationsstils. Er hat zwar eine ehrwürdige Tradition, ist aber fürs Lesen eher hinderlich, wenn es um synonymische Ausdrucksweisen geht, die keine weitere Information bringen. Sind sie dazu gedacht, die Kompetenz des Autors zu zeigen? Erste Absätze verdeutlichen die Struktur vielleicht mit Ausdrücken wie Zu Beginn/ Zum Auftakt/ Gleich zu Beginn möchte ich feststellen. Mit Übergängen und triggern orientiert der Autor sowohl über die Position in der Gesamtstruktur wie auch über den Status des einzelnen Abschnitts. Vielleicht endet das Ganze mit einem Abschließend/ Zum Schluss/ Noch eine abschließende Bemerkung. Bei den Kochrezepten haben wir es mit einer etablierten Struktur zu tun, die wir kennen. In der Didaktik versucht man solche Strukturen zu lehren, für Beschreibungen zum Beispiel. Für eine Personenbeschreibung werden etwa folgende Abfolgen empfohlen. Die Beschreibung der Person wird vielleicht mit dem Gesamteindruck beginnen, dann bestimmte Partien der äußeren Gestalt beschreiben: Gesicht, Figur, Kopf, Hände, Beine und so weiter. Für all dies werden Vokabularien vorgeschlagen. Manchmal soll auch der Charakter beschrieben werden. Ob das geht? Oder ist da schon überdehnt, was man beschreiben kann? Derartige Ratschläge vernachlässigen etwas, dass wir unsere Beschreibungen nach Adressaten und Funktion strukturieren. Als Beispiel die Beschreibung räumlicher Gegebenheiten. Wenn wir auf der Straße einen Passanten per Beschreibung zu einer bestimmten Stelle führen möchten, wählen wir in aller Regel das Geh- oder Fahrmuster: origo = Standort der beiden, weiter mit Bewegen und Orientierung über Deixis am phantasma: „Nach dem Bahnhof kommt das Restaurant „La dolce vita“, dahinter ist ein großer Biergarten. Den lassen Sie rechts liegen, biegen nach links ab auf die Seepromenade: Von da sind es noch 100 Meter.“ Im einleitenden Kapitel „Interaktion - Kommunikation - Text“ wird zunächst der konzeptionelle Rahmen für den Gesamtansatz abgesteckt. Im Kapitel 2 geht es den Autoren um die detaillierte Kennzeichnung der Begriffe „Text“ und „Diskurs“. Im dritten Kapitel werden methodologische Grundlagen für das Erfassen und Beschreiben von Texten und Textkomplexen thematisiert. Das Kapitel 4 vermittelt Einblicke in das praktische Umgehen mit Texten. (Heinemann/ Heinemann 2002, X - XIII) Globale Kohärenz: Das Thema eines Textes | 7 Formeln zeigen Struktur Wegbeschreibung 104 <?page no="113"?> 113 Beschreiben - aber wie? Wenn Städteplaner Beschreibungen vorlegen, dann kann das wesentlich anders aussehen. Hier sind vor allem gemäß der Funktion auch Wertungen nötig. Elemente und Motive erscheinen immer wieder, oft leicht abgewandelt, aber dennoch zu erkennen. So schaffen sie Vertrautheit, die dem Leser Sicherheit gibt. Ein Märchen könnten wir wie folgt gliedern: Zum Schluss als kleine Besonderheit: der Plot. Plot ist eine Kurzform von Komplott. Von da hat er auch einige der Eigenschaften mitgebracht. In einem Plot hält man stichwortartig einen Handlungszusammenhang fest, eine Verwicklung vielleicht. Den Plot will man später genau füllen und ausführen. Plots - so heißt es - werden gewöhnlich fürs Schreiben genutzt, etwa von Drehbuchschreibern. Man kann sie aber auch analytisch und darstellend nutzen. Ausgangssituation/ Orientierung Auftrag/ Gefahr/ Verbot Gebotsübertretung Das Böse siegt vorläufig Heilung/ Rettung Das Böse wird bestraft Moral 7.3 | Thematische Strukturen und Textaufbau Struktur- Elemente Aus der Beschreibung des Beurteilungsgremiums: Die Zuordnung von öffentlichen und privaten Grünflächen ergibt eine angenehme Großzügigkeit der gut vernetzten Grünräume. Auch die Überlagerung von Erschließungsstraßen und Grünräumen schafft angenehme Erlebnisräume. Der Ortsrand fügt sich sehr gut in den Zusammenhang der Gesamtsiedlung ein. Der Anschluss an den südlichen Landschaftsraum ist bemerkenswert. (http: / / www.schober-stadtplanung.de/ ) Plot 105 <?page no="114"?> 114 Hier als Beispiel der Plot für die Einleitung einer Textlinguistik. Sie sehen, es geht darum, wie manche Wissenschaftler ihren eigenen Ansatz historisch (einseitig) einbetten und als neu präsentieren. Diesen Plot hier könnten Sie kritisch nutzen für Ihre eigene Zula. Die Anfänge ... Zunächst galt ... als ... Im Zentrum stand damals ... ... erwies sich als beschränkt ... alsbald mit Recht überwunden als ... galt nun nicht mehr ... ... ging nun von der Grundannahme aus ... Eine moderne ... muss jetzt ... Kompletter Neuansatz ... Mit dieser Arbeit lege ich eine empirische Untersuchung zu ... vor./ Immer wieder gibt es Probleme mit ... Die Arbeit zerfällt in drei Teile .../ Ich habe die Arbeit in drei Teile gegliedert. Bevor ich zu den Untersuchungen und dem Ergebnis komme ein Wort zur bisherigen Forschung./ Bevor ich mich zu ... äußere ... Der state of the art Die bisherige Forschung .../ So blieben vor allem die Fragen ... offen. In diesem Kapitel ... Damit / Somit ... Vorbereitend wurde ein Fragebogen entwickelt zu ... Als Probanden ... Das Kapitel 3 widmet sich .../ Der dritte Teil der Arbeit bezieht sich auf ... Kapitel 4 nimmt den Aspekt ... in den Blick./ Mit diesem Kapitel endlich ... Soweit meine empirischen Untersuchungen/ Was sagen uns diese Untersuchungen? Anhang Hier ... die Daten der Untersuchung Ergebnis Schlusswort Globale Kohärenz: Das Thema eines Textes | 7 Der Plot <?page no="115"?> 115 Gliedernde Elemente Aufgeräumt? 8 Modulare und elektronische Texte Die übersichtliche Darstellung vermittelt das Verständnis, welches eben darin besteht, dass wir die „Zusammenhänge sehen“. Wittgenstein 1967, 122 8.1 Textbausteine: Absatz, Abschnitt, Paragraph In der Regel sind Texte in ihrer Erscheinungsform gegliedert. In längeren Texten mögen das Kapitel und Unterkapitel sein, die durch eine neue Seite oder ein Alinea gekennzeichnet und vielleicht für ein bestimmtes Thema gedacht sind. Darunter in der Texthierarchie finden wir Abschnitte, Absätze, je nach Textsorte auch Paragraphen und in Wörterbüchern etwa Artikel. Derartige Untereinheiten kann man öfter thematisch bestimmt sehen, da sie bestimmte Themen und Unterthemen behandeln. Absätze - so empfiehlt man - sollten nicht zu lang und nicht zu kurz sein. Ein Maß gibt es aber dafür nicht. Man schaue dazu im Vergleich ein Gesetzbuch und einen Roman von Thomas Bernhard an. Dies alles stellt mehr oder weniger ein Ideal dar, von dem in der Praxis in verschiedener Weise abgewichen wird. Dennoch wird es sich lohnen, einzelne Absätze im Text funktional zu verstehen, den Übergang und die Einheit jeweils als Einheit zu deuten. Absätze können auch eine ganz bestimmte Funktion haben und an bestimmter Stelle plaziert sein wie etwa Advance Organizer. Ein Absatz mag eine interne Gliederung aufweisen mit Spiegelstrichen oder ppt-bullets für Auflistungen und Aufzählungen. Dabei ist wichtig, wie lang und welcher Art die Elemente sind, vielleicht auch wie viele bullets. Auch Paragraphen zeigen interne Gliederung wie üblich in Verordnungen und Gesetzen. Seit ewigen Zeiten - möchte man fast sagen - hat man erkannt, dass es Textsegmente gibt, die an gewissen Stellen in Texten wiederkehren, überschaubar lang sind, analoge Funktion haben, in Texte eingepasst werden können, weitgehend identischen Aufbau zeigen. 48 111 <?page no="116"?> 116 Solche Segemnte werden allgemein als Textbausteine bezeichnet. Der Terminus „Textbaustein“ hat eine Tradition in der Textgestaltung und Textbetrachtung. In der elektronischen Textverarbeitung kam eine neue Verwendung hinzu, die übrigens der ganz alten Tradition der Formularbücher verpflichtet ist. Hier geht es um Versatzstücke, aus denen man einen Text zusammenbasteln kann, etwa einen Brief oder ein juristisches Dokument. Man kann dann vielleicht ergänzen oder Lücken und Übergänge füllen. Im Vordergrund für die Einpassung steht natürlich die Funktion, die der Baustein erfüllen soll (Fritz 2013, 37). Sie wird meist thematisch angegeben. Für Textlinguisten könnte ein Textbaustein eine allgemeine Struktur bieten, eine Art Formular, das sprachlich partiell gefüllt ist, weiter gefüllt werden kann oder partiell ergänzt. Solche Textbausteine sind keine neuen Erfindungen, die etwa durch Hypertexte nötig geworden wären. In den historischen Vorbildern der Briefsteller wurden schon Funktion, Ordnung und Plazierung bestimmt. Im mittelalterlichen Beispiel kann man die standardisierte innere Gliederung erkennen. Zeugnis Am [...]unterricht nimmt [...] mit Freude und Interesse teil. Anleitungen auf [...] kann sie/ er sicher verstehen und umsetzen, einfache Fragen stets/ meist/ nicht immer richtig beantworten. Einzelne Wörter kann sie/ er schnell/ problemlos behalten und im Prinzip/ meistens korrekt aussprechen. Vokabeln und kurze Texte kann sie/ er sich problemlos/ nach einiger Übung merken und wiedergeben. Mietvertrag Der Mieter ist verpflichtet, das Mietobjekt während der gesamten Mietzeit seiner Zweckbestimmung entsprechend ununterbrochen zu nutzen. Er ist verpflichtet sein Ladengeschäft montags bis freitags in der Zeit von [...].00 Uhr bis [...].00 Uhr und samstags von [...].00 Uhr bis [...].00 Uhr offen zu halten. Der Mieter wird den Mietgegenstand weder ganz noch teilweise ungenutzt oder leer stehen lassen. Der Vermieter ist berechtigt, die Ladenöffnungszeiten nach billigem Ermessen unter Beachtung der einschlägigen gesetzlichen Regelungen über Ladenöffnungszeiten zu ändern. Hierbei hat der Vermieter auf eine maximale Wochenöffnungszeit von [...] Stunden zu achten. Modulare und elektronische Texte | 8 Bausteine 112 <?page no="117"?> 117 Brief klassisch Der durchluchtigeen, hochgebornen furstin und frouen, frou Margret, herzogin zu Saffoyen, grefin zu Wirtenberg, myner gnedigen, lieben frouen. Durchluchtige, hochgeborne furstin, gnedige frou. Wuer furstlichen genoden sy myn undertenigen, willigen dienst allzit demietiglich zuvor. Gnedige frou, alß ist wyveren gnoden vol zu wissen, das mir der hofmeister solt geben haben 22 gulden, die mir noch nitt worden sind, do beger ich von wyweren genoden, mir semlich gelt zu schicken, dan mir uff diß zit fil daran litt. Dan ich gen Franckfurt fast fil schuldig bin und uf diß ouch bezalen mus das gold und sylber, das mir gestolen ward, alß ich wyweren genoden formolß geseit han.Und darumb so mus ich wywer genod anrieffen alß ein besonder genedige frou, und bit ouch wywer genod mytt grossen fliß und ernst, mich daran nitt zu lossen: das vil ich hernoch diemietlich umb vywer gnod mit mym armen dienst willechlich werdienen. Dan dett eß mir nitt nott, ich hett wyweren genoden nit so ernstlich geschriben oder kein eygen botten geschick. Dan der bott kost ein guldin, den het ich hersparett. Darumb, gnedige frou, dunt, alß ich wyweren genoden das und meres vol getru will. Geben uf mondag noch mitfast im 67 Duch, gnedige frou, so han ich die guldin schnier beschlagen und wegent an gold 2 gulden und 3 ortt. Vir machen und abgang dut die sum zusamen 27 gulden mynder ein ortt. Michel Danbach, goltschmid zu Strosburg. In Briefstellern wurden für die Realisierung eines Briefes Alternativen vorgegeben, die weitgehend auch normiert waren. Dazu hatte man unterschiedliche Formularsammlungen. Besonders an kam es auf die salutatio, in der zu differenzieren war nach sozialen Rängen und geistlichen Ständen. Besondere Anreden galten für Kaiser, Papst und so weiter bis hinab zu den Bauern und Handwerkern. Sie sehen, so ganz klar ist die Reihenfolge nicht immer eingehalten, vor allem im Mittelteil. Ungewöhnlich kurz ist hier die conclusio. 8.2 Textmodule, multimediale und modulare Texte Textmodule sind verwandt mit Textbausteinen. Manche Textbausteine kann man als Modul sehen. Ein Textmodul ist ein Textsegment, das begrenzt ist, abgeschlossen ist, keinen festen Platz in der Lesefolge beansprucht, unterschiedlich plaziert werden kann, sowohl auf dem Papier wie im Leseweg, von unterschiedlichen Positionen her zugänglich ist. Eine untere Grenze für ein Modul könnte der Satz sein, sodass etwa auch Überschriften als Module zählen. Eine obere Grenze ist durch die Funktion gesetzt und mag in diesem Sinn variabel sein. 8.2 | Textmodule, multimediale und modulare Texte salutatio captatio narratio conclusio petitio Modul 113 <?page no="118"?> 118 Ein Modul soll in verschiedenen Zusammenhängen verwendbar und wiederverwendbar sein. Dazu muss es vor allem versatil sein, muss an viele Stellen passen. Das ist der Grund für die Abgeschlossenheit. Abgeschlossen ist ein Textmodul vor allem dadurch, dass es nur Binnenanaphorik zulässt (Ausnahme von Links in elektronischen Texten? ). Weitere Aspekte können sein: Hat ein Modul einen fixen Inhalt? Ist das Modul funktional kategorisiert? Ist das Modul charakteristisch gestaltet? Gängige Module sind: Titel, Leads, Teaser, Index, Register. Auch Definitionen sind kleine Textmodule. Klassisch in fester Struktur, rechts auf unterschiedliche Weise erweitert, ihre Stringenz abgeschwächt: Wörterbuchartikel und die logischen Schlussmodi können wir als Module ansehen. Sie haben eine innere Struktur. Wörterbuchartikel sind meist alphabetisch in die Gesamtstruktur eingebettet und mit anderen Artikeln über Verweise vernetzt. Als Module kann man Sprichwörter, Sprüche und Aphorismen sehen, sie sind nicht voll versatil, müssen sinnvoll plaziert werden. Literaturangaben zeigen eine Binnenstruktur, sind prinzipiell fest strukturiert, letztlich aber mobil. Module - so wird allgemein angenommen - müssen nicht sprachlich formuliert sein. Auch multimediale Realisierungen sind häufig. In Texten auf Papier sind seit je Bilder als kleine Module zu betrachten. Mit multimedialen Texten stehen wir in einem terminologischen Konflikt mit unserem Textverständnis. Denn hier geht es über das Sprachliche hinaus zu Grafik, Bild (und Audio, vielleicht). Hier ist nicht der Platz - das heißt, es gibt ihn nicht - auf das verwickelte Verhältnis von Text und Bild einzugehen, geschweige denn auf eine Bildtheorie zu kommen (dazu der Klassiker Muckenhaupt 1986). Wichtig ist mir erst einmal der Unterschied: Bildlich wird etwas gezeigt. Sprachlich wird etwas gesagt. Bilder sind im Unterschied zu Text zweidimensional. Das gilt auch für Grafiken, die statistische Daten und Strukturen visualisieren können. Ein X ist ein Y, das Z ist. X-en ist Y-en mit Z. Ein X ist ein Y1 oder Y2, das Z ist. Ein X ist ein Y, das Z1 oder Z2 ist. Modulare und elektronische Texte | 8 Kriterien für Module Beispiele für Module Text und Bild 114 114 115 <?page no="119"?> 119 Funktionen von Bildern Die Unterscheidung von zeigen und sagen wird nicht tangiert von metaphorischen Redeweisen: „Bilder sagen mehr als tausend Worte“. Wesentlich für das Verstehen von Bildern ist: Was soll das Bild hier? Was will der Autor damit bezwecken? Im Prinzip also: Er will etwas zeigen. Das können wir ausfalten. Zeigen, dass es X gibt. Zeigen, wie X aussieht. Zeigen, wie etwas geht. Das Zeigen dient auch in Erzeugungen mit anderen Akten: X illustrieren → Y Zeigen Beim Zeigen, wie X aussieht, können Text und Bild integriert sein. Das Bild wird fast wie Text behandelt. Man kann vom Bild ausgehen. Dann wird mit dem Bild ein Antezedens gesetzt, auf das eine Anapher verweisen kann. Man kann vom Text ausgehen und kataphorisch auf das Bild als Sukzedens verweisen: „Hier sehen Sie ...“ oder ohne Hinweis: Er hat ... erfunden. Sie hat mitgewirkt an ... Beide Möglichkeiten gibt es auch ohne Anaphorik, einfach durch entsprechende Benennung, Unterschrift unter dem Bild und dergleichen. Dies gibt es auch mit elliptischen Varianten ohne die Anapher. Wichtig ist für uns, wie das Verhältnis von Text und Bild jeweils zu verstehen ist. Geht es bei den Akten um eine Sequenz oder um eine Erzeugung? (jemanden)nennen + (ein Bild von ihr)zeigen (etwas über jemanden)sagen + (ein Bild von ihm)zeigen (etwas)schildern + (ein Bild davon)zeigen (etwas)erklären → (etwas)sagen + (ein Bild dazu)zeigen (zu etwas)anleiten → (eine Darstellung)zeigen + (darauf)referieren Damit sind wir bei der Frage: Wie wirken Text und Bild zusammen? Welche Funktion und Anteile am Verstehen haben die unterschiedlichen Module? 8.2 | Textmodule, multimediale und modulare Texte Integration von Bildern 116 <?page no="120"?> 120 Aspekte von Modulen ± fixer Inhalt ± funktional kategorisiert ± charakteristisch gestaltet Gemäß unseren Sehgewohnheiten kann man mit Grafiken anschaulich und übersichtlich etwas zeigen, möglicherweise auch etwas, das in linearem Text mit TAB-Schreibweise formulierbar wäre. Allerdings werden hier die Knoten eher mit kürzeren (vor allem nominalen) Ausdrücken etikettiert. So wie Grafiken und Bilder nicht mit verbalen Formulierungen konkurrieren können, so verbale Formulierungen komplexerer Grafiken nur schwer mit der grafischen Darstellung, vor allem wenn es um Zahlen und Verlaufsdarstellungen geht. Bildliche Darstellung ist nicht auf Grafiken und Fotos beschränkt. Es gibt eine Fülle von Realisierungen, ältere wie dieses Emblem (mit sprechendem Text integriert) und moderne wie Icons und Piktogramme, die auf Handlungsanweisungen aus sind. Modularisierte Texte sind nicht mehr linear. Man braucht ein Arrangement auf der Seite. Eine wesentliche Frage betrifft dabei Erscheinungsformen und Plazierung der Module. Das erfasst man im Layout. Gutes Beispiel ist das Layout von Zeitungen und Zeitschriften. Dies ist das Grundlayout einer Seite aus Spektrum der Wissenschaft. Seitenfest ist wie üblich die Seitenzahl, textsortenfest die Charakterisierung des Autors. Vertikaler Aufbau wird durchgehalten. Grafik aaaa xxxx zzzzzzzzzz link mit QRCode Fließtext in 2 Spalten Zeitungspalte Überlauf nächste Autor lore ipsum teelingo Seitenzahl Die Arschkriecher Modulare und elektronische Texte | 8 Anordnung von Modulen Layout Struktur in Grafik 118 120 117 <?page no="121"?> 121 Layout Für ein Layout stellen sich folgende Fragen: Welche Module gibt es und wie viele? Wie werden Module gekennzeichnet, wie Module unterschiedlicher Kategorie? (Kästen, Farbe, Schriftfont, Unterlegung usw.) Wie plaziert man die Module, um Übersichtlichkeit und Lesbarkeit zu fördern? Welche Darstellungsformen stehen zur Verfügung? Welche Farben? Was würden sie besagen? Farben haben durchaus eine wichtige Bedeutung. Mit ihnen werden verschiedene Eigenschaften assoziiert. (Rada 2002 zum Textdesign) Fernsehbildschirme sind modular gebaut, besonders wenn es sich um Info-Sendungen handelt. Was würden Sie da als erstes und in welcher Funktion lesen? Hier ist Hypertextstruktur zu erkennen. Module sind farblich abgesetzt, animiert, dynamischer Text, Texte werden refreshed, werden just in time oder zeitnah upgedatet. Betrachter werden auf bestimmte Module je nach Interesse fokussieren, etwa die Links zur Programmvorschau nutzen usw. Da braucht es besondere Sehfähigkeiten, die heutzutage wohl in der Frühsozialisation schon erworben werden. Modularer Fernsehbildschirm 8.2 | Textmodule, multimediale und modulare Texte 118 <?page no="122"?> 122 8.3 Hypertext und Internet Ein Hypertext ist nicht strukturell, aber in Realität und Nutzung verbunden mit dem Internet. Ein Hypertext ist gekennzeichnet durch folgende Stichwörter: Ein Hypertext ist kein zusammenhängender Text, er besteht aber in Texten oder aus für Hypertext konzipierten Textmodulen. Dass Hypertext in Textlinguistiken kaum vorkommt (jedoch Storrer 2008), dürfte nicht nur zeitbedingt sein. Ihn wie Heinemann/ Heinemann (2002, 141) nur zu nennen und als Textsorte zu führen scheint jedoch leicht nebendran. Hypertexte sind modular. Die Module im Hypertext variieren in ihrer Länge. In der Regel sollten sie kurz und überblickbar sein, doch auch längere Texte sind nicht selten. Sie können von unterschiedlicher Art und Textsorte sein. Sie können in unterschiedlichen Rubriken plaziert sein: Auf offiziellen Seiten, auf persönlicher Homepage, in Blogs, in Foren oder im Chat. Und sie mögen zu den unterschiedlichsten Kommunikationsformen gehören: Es mögen monologische oder dialogische Texte sein, die Themen der Module mögen wechseln. Außerdem variieren die Module erheblich in der Stillage: offiziell, kolloquial oder eine Art Sprechschreibsprache. Die Autoren bleiben meist mehr oder weniger anonym (Pseudonyme und Avatare) und fühlen sich kaum verantwortlich. So wird dies zu einer Fundgrube für Sprachkritikaster und Verfallstheoretiker. Man sollte aber bedenken, dass hier an sprachlicher Kompetenz und Ideologie vielleicht sichtbar wird, was sonst im Verborgenen blüht. Hypertext nicht-linear multimedial verlinkt elektronisch modular Modulare und elektronische Texte | 8 121 119 Merkmale von Hypertext <?page no="123"?> 123 Linearität Hypertexte sind nicht-linear. Im Gegensatz zu normal geschriebenen und gedruckten Texten handelt es sich hier nicht um fortlaufende Texte, sondern eben um Module, die unterschiedlich angeordnet und gelesen werden können. Dieses Kriterium ist vordergründig nicht so spektakulär: Einerseits können wir als Leser linearer Texte wie Tarzan von Stelle zu Stelle springen und wir tun es auch, wir haben auch Erfahrung mit modular angeordneten Zeitungstexten, mit Wörterbüchern und dergleichen. Andererseits ist zwar die Anordnung der Module nicht linear, das Lesen hingegen ist aber recht linear, weil der Leser am Band der Autoren gehalten und nur einen einsträngigen Leseweg gehen kann. Der technische Autor wird vielleicht den Leser in dessen Sinn führen, wenigstens könnte er das glauben. Er muss es aber nicht. Im Hypertext sind die Module verlinkt. Sie werden als Knoten verknüpft über Links. Durch die Verweisfunktion der Links entsteht eine Netzstruktur. Ein Link ist sozusagen die Absprungstelle zu einem Landeplatz. Der Landeplatz ist in der Regel ein Modul oder wieder ein Link. Jeder Link hat einen und nur einen Landeplatz, jeder Landeplatz kann aber von verschiedenen Links aus angesprungen werden. Linkmodule und hybride Module erzeugen ein Netzwerk mit multiplen, sternförmigen Landeplätzen und manchmal leider auch Zirkel. Die Links sind unterschiedlich materialisiert, etwa Buttons, und unterschiedlich arrangiert. Außerdem sind sie funktional verschieden. Sie können echte Sprünge ausführen oder nur die Fortsetzung in einem Modul aufrufen. Das erkennt man oft durch die Beschriftung oder eine andere Etikettierung (etwa ein „mehr“ oder ein bestimmtes Icon). Link Landeplatz Landeplatz Landeplatz Link Landeplatz Landeplatz Landeplatz Landeplatz Landeplatz 8.3 | Hypertext und Internet Verlinkung <?page no="124"?> 124 Eine wichtige Erweiterung finden wir hierin: Auf einem Screen können mehrere Links positioniert sein, auch in einer Navigationsleiste. Landeplätze in PopUps und Pulldown-Menüs sind wieder Links. In hybriden Modulen fungieren als Links ausgezeichnete Wörter oder Ausdrücke innerhalb, die Teil des Textes sind, nicht zur Benutzeroberfläche gehören. Hiermit öffnet ein Modul den Weg in den entsprechenden Diskurs, zumindest soweit er im Netz zur Verfügung steht. Von dieser Art sind Suchmaschinen, bei denen der Nutzer quasi seine eigenen Links eingibt. Der Unterschied solcher Links, denn das sind sie im Grunde, besteht nun darin, dass es nicht nur eine einzige Landestelle gibt, sondern eine unüberschaubare Menge von Landestellen aus dem Diskurs. Hier wird sozusagen alles aufgemacht. Der Hypertext entfaltet seine Stärken - ein bisschen auch seine Schwächen. Für den Nutzer ist wichtig sein Eingabegerät. Zur Zeit können das die Tastatur, die Maus oder das Display sein, beginnend auch die Stimme. Mit der Maus kann man Clicks auf Links ausführen, je nach Ort kann sie sich formen und je nach Link auch eine Animation auslösen (Veränderung der Erscheinungsform des Links bei Mouseover etwa). Touchscreen und Pad sind mit den Fingern zu bedienen. Neben den offenen Hypertextnetzen gibt es auch geschlossene Netze oder Netzauftritte wie etwa den des IDS (www.ids-mannheim.de/ ) und seine internen Systeme mit Intralinks, mit eigenen internen Suchen, eigenem Design und Layout. Im Grunde kann man auch die eigene PowerPoint-Anwendung als ein geschlossenes Hypertextnetz anlegen (gegebenenfalls auch mit Links nach außen). Ein Hypertext ist elektronisch und damit eher virtuell im Gegensatz zu materialen Erscheinungsformen. Das ist heute die übliche und allgemein bekannte Form der Realisierung. Papierversionen gab es anfänglich im programmierten Lernen, in Buchform zum angeleiteten, verlinkten Blättern und Springen. Im Netz liegt einem Hypertext auch ein Code zugrunde, er wird in Programmiersprachen geschrieben, die früheste die Hypertext Markup Language mit neuen Varianten (HTML, HTML5, XML). Hier aber widme ich mich nicht der Technik mit der neuesten Variante oder dem Code, sondern pflege nur den texttheoretischen Blick. Home | Grundlagen | ? ? ? ? | Exempel | Weiterführung Modulare und elektronische Texte | 8 Navigation Geschlossenes HT-Netz Virtuell 123 113 <?page no="125"?> 125 Manipuliert? Von der gängigen elektronischen Realisierung sagt man auch, sie sei interaktiv, vor allem weil der Nutzer agieren kann, mausklicken und screentouchen, zu anderen Modulen springen, aus dem Angebotenen selegieren und aus den unüberschaubar vielen möglichen Wegen seinen eigenen Leseweg generieren. Interaktiv suggeriert allerdings ein bisschen viel. Die Texte selbst sind hier starr. Wir haben es nicht mit echter kommunikativer Interaktion zu tun: Die Wegsetzer reagieren ja nicht, sie geben vor. So hat man öfter den Eindruck, es mit einem Homunculus zu tun zu haben, der in unserem Sinne handelt - zumindest denkt, dass er das tut -, es vielleicht auch vorgibt. Die Homunculi übernehmen keine Verantwortung, kein commitment für das, was sie sagen oder tun. Wer mit Suchmaschinen zu tun hat, wird sich nicht wundern, dass, was immer Sie suchen, Amazon und tripadvisor ganz oben kommen, und sei es per Werbung. Interaktion gibt es im Internet aber doch. Sie findet statt zwischen den Nutzern - und das ist alltägliche normale Kommunikation - , hat mit Hypertext an der Oberfläche nichts zu tun. Der dynamische elektronische Text macht es möglich in Foren, Chats und Blogs. Außerdem gibt es Kooperation zwischen den Nutzern. Auch das ist eher normale Kommunikation. Und dennoch ist es eine Art kooperatives Wunder, dass derartige Kommunikation mehr oder weniger ungesteuert funktioniert, wenn auch administriert. Hier kommt eine andere Eigenschaft elektronischer Texte zum Tragen: Sie sind elektronisch gespeichert, eher flüssig und dynamisch. In Wikis kann man sogar Links setzen. Das fördert kooperatives Schreiben wie in Wikipedia. Hier sind die Stadien der Genese eines gemeinsamen Textes in einem Protokoll festzuhalten, Autoren zuzuordnen, Versionen zu verfolgen und als ein Text wieder herzustellen. Das öffnet den Weg zu einer Art philologischer Textkritik. Leider geht auch das nicht ganz ohne Eingriffe und Administration. Was die Administration tut, bleibt allerdings diskutabel, so wenn etwa - automatisch - eher blödsinnige Links gelegt werden. Und auch sonst kommt schon mal Wikiwaki raus, wenn man all die Meinungen, Überzeugungen, Ideologien und Argumentationsstile ansieht. Für Textlinguisten eine Fundgrube. 8.3 | Hypertext und Internet Kooperatives Schreiben <?page no="126"?> 126 Hypertexte sind multimedial (wer mehr an den Leser denkt, sagt nun auch multimodal). Als Module fungieren Text, Bild, Grafik, Audio, Video, Animationen. Dies macht für das Handling keinen großen Unterschied. Man braucht etwa eine Abspielsoftware, die man auf dem PC sowieso schon hat. Eine andere Frage ist, ob man nun noch von Text sprechen kann. Sprachlich ist manches nur bedingt. Viele bevorzugen darum den Terminus „Hypermedia“. Sie sind für die Nutzung des Internets ein nicht zu überschätzender Schritt. Generell gilt: In linearen Texten ist ein erster Hinweis auf Kohärenz mit der linearen Abfolge gegeben. Bei nicht-linearen Texten im weitesten Sinn muss der Rezipient einen Schritt früher beginnen: Er muss einen linearen Weg erst verstehend gewinnen oder erzeugen. Das Design - sei es auf Papier oder elektronisch - hat die Aufgabe, ihn hierbei zu unterstützen, eben keinen Weg vorzugeben, sondern ihm bei seiner Wahl zu helfen. Hierfür beachten wir folgende Aspekte (zusammengestellt nach Bucher 2007): Sicherlich findet man so nicht alles. Aber wie findet man schon alles? Modulare und elektronische Texte | 8 Aufgabe Typische Darstellungsmittel Einordnung Mit welchem Kommunikationspartner, mit welchem Angebot habe ich es zu tun? Logos, Titel, Signalfarben, Typografie Orientierung Wo stehe ich? Was weiß ich schon? Was habe ich bisher gelesen? Inhaltsverzeichnisse, Sitemaps, Zeiteinblendungen, Seitenzahlen, Farbleitsysteme Hierarchisierung Wie sind die verschiedenen Elemente zu ordnen: Unterordnung, Überordnung, Nebenordnung? Typografie, Plazierung, Bebilderung, druckgrafische Auszeichnungen, Textsortenauszeichnungen Navigation Wie gelange ich von einem Element zu einem inhaltlich verbundenen? Verweise und Seitenhinweise, Links, Navigationsleisten, Inhaltsverzeichnisse, Sitemaps Gewichtung Was gehört wie zusammen? Was ist wie wichtig? Was ist aktuell relevant? Seitenlayout, Plazierung, Rubriken, Übergangsmarkierer (optisch, verbal, oder akustisch) Sequenzierung Wie hängen die Elemente zusammen: funktional, strategisch, thematisch? Etikettierte Links, Textsortenangaben, verbale Verweise auf weiterführende oder vorherige Beiträge <?page no="127"?> 127 Textsorten: Zu ordnen? 9 Textsorten oder Texttypen Wissen möchtet ihr gern die geheime Struktur des Gebäudes [...] Johann Wolfgang v. Goethe: Xenien 9.1 Textsorten: Welche und wie viele? Im Motto hab ich zwar die Pointe weggelassen, aber Sie können selbst eine passende dazumachen. Im Alltag haben Sprecher ein mehr oder weniger ausgeprägtes Bewusstsein davon, was eine Textsorte ist und wie sie in etwa ausschaut. Sie kennen und erkennen den Unterschied zwischen einem Brief und einem Einkaufszettel, sie kennen den Unterschied zwischen Wegwerftexten und solchen für die Ewigkeit wie der Koran oder die Bibel. Hieran sollte eine textlinguistische Analyse anschließen. Allerdings ist die Anzahl derartiger Textsorten unüberschaubar groß. Allein die diversen Brieftypen zeigen die Vielfalt. Man könnte sie zum Beispiel nach verbreiteten textlinguistischen Kriterien so ordnen: Bemerkenswert ist, dass bei weitem die meisten hiervon Sprechakten zuzuordnen sind. Auch nach der Funktion kann man viele sortieren. Der Beförderungsweg ist allerdings wenig allgemein, ganz briefspezifisch. Und der Rest? Insgesamt habe ich mehr als 170 solcher Komposita gefunden. Die hier nicht aufgeführten sind nach gängigen Kriterien noch schwerer zuzuordnen. Sprechakt Absagebrief, Abschiedsbrief, Anempfehlungsbrief, Antwortbrief, Bannbrief, Beileidsbrief, Bekennerbrief, Beschwerdebrief, Bettelbrief, Bittbrief, Dankesbrief, Drohbrief, Einladungsbrief, Empfehlungsbrief, Informationsbrief, Klagebrief, Mahnbrief, Protestbrief, Schmähbrief, Trostbrief, Werbebrief Funktion Ablenkungsbrief, Anstandsbrief, Bestallungsbrief, Geburtstagsbrief, Geleitbrief, Geschäftsbrief, Kraftfahrzeugbrief, Leserbrief, Sparbrief, Spendenbrief, Trauerbrief, Wahlbrief Bereich Börsenbrief, Bräutigamsbrief, Bundesschatzbrief, Euroschutzbrief, Fachbrief, Frachtbrief, Ladebrief, Musterbrief, Reisebrief, Sparkassenbrief Beförderung Doppelbrief, Eilbrief, Einschreibebrief, Kettenbrief, Rundbrief, Telebrief ? ? ? Bürgerbrief, Pfandbrief, Postbrief, Stadtbrief, Standardbrief, Wertbrief Intuition der Sprecher 9.1 | Textsorten: Welche und wie viele? 127 <?page no="128"?> 128 Bei der großen Menge von Textsorten und ihrer Unüberschaubarkeit lag es für ordnungsliebende Textlinguisten nahe, eine ordnende Typologie zu entwickeln. Am liebsten eine Art hierarchischer Ordnung, ganz wie einst Linné im biologischen Bereich mit seiner spektakulär erfolgreichen Supertaxonomie. Jede Textlinguistik befasst sich damit, ebenso wie die textlinguistische Forschung. Damit gehen die Ordner natürlich bestimmte Verpflichtungen ein wie, dass die Typologie exhaustiv ist, alle Textsorten erfasst, dass alle Textsorten sauber und trennscharf einzuordnen sind, dass jede Textsorte einem und nur einem Typ zuzuordnen ist. Es ging hier weniger um das einzelne Textexemplar als um generelle Eigenschaften einer Textsorte, Systematisierung der Eigenschaften und eine valide Definition von Textsorten. Dies alles im Rahmen einer allgemeinen Texttypologie. Im Wesentlichen können wir folgende Typologisierungen unterscheiden: 1. Typen werden definiert nach allgemeinen kommunikativen Kriterien. 2. Typen werden definiert nach Bereichen ihrer Verwendung. 3. Typen werden definiert nach der kommunikativen Funktion oder nach der Intention des Schreibers. 4. Typen werden definiert nach dem dominanten Sprechakt. Eine angestrebte Taxonomie der Textsorten basiert auf Merkmalen, die entweder vorliegen (+), nicht vorliegen (-) oder ambivalent (±) sind. Es gäbe unüberschaubar viele solcher Merkmale. Merkmale, die für eine Taxonomie tatsächlich verwendet wurden, sind (Sandig 1972): gesprochen - 1. Pers. - 2. Pers. - 3. Pers. - Imperative - Redundanz - konventioneller Textaufbau - Thema festgelegt - symmetrische Kommunikation - monologisch - nur Sprachliches - restringierter Tempusgebrauch - spontan - vorbereitet - öffentlich Für Demonstationszwecke gekürzt könnte eine Matrix so beginnen: konventioneller Aufbau Thema festgelegt symmetrische Komm. monologisch nur Sprachliches Tempusgebrauch restringiert. spontan vorbereitet öffentlich Interview - + - - + + ± + ± Brief - ± ± ± ± + ± + ± Textsorten oder Texttypen | 9 Systematisierbar? 128 <?page no="129"?> 129 Kriterien für eine Taxonomie Eine solche Matrix ist nicht exhaustiv. (Selbst auf den Kopf gestellt nicht Heinemann/ Viehweger 1991, 136.) Die taxonomischen Versuche würden auf jeden Fall drei methodische Kriterien erfüllen müssen: Abgeschlossenheit: Der Set der Merkmale müsste vollständig sein. Hier ist man unsicher, wie die Merkmale gewonnen sind und wozu sie alle gut sind. Trennschärfe: Die Textsorte sollte exakt bestimmbar sein. Tatsächlich kommen verbreitet diverse Typen in einem Text vor. Dramen sind gemischt aus Dialogen und anweisendem Text, Anleitungen enthalten anweisende und deskriptive Teile. Anwendbarkeit: In einer sauberen Taxonomie sollten alle Kriterien auf jedes Item anwendbar sein. Unschön ist es, wenn manche sich als nicht einschlägig erweisen. Das gilt hier für alles Ambivalente, das mit ± Ausgezeichnete. So bleibt durchaus strittig, ob es gelingen kann, eine methodisch saubere Taxonomie dieser Art zu gewinnen, und wie weit derartige Systematisierungen reichen (auch Adamzik 2008, 153). Weicher ist der Versuch, Texte zu klassifizieren nach Kommunikationsbereichen. So wären Texte zu unterscheiden aus Alltag, Bildung, Bürokratie, Journalismus, Kunst, Politik, Presse, Publizistik, Recht, Religion, Sport, Wissenschaft (Brinker/ Cölfen/ Pappert 2014, 142; Gansel/ Jürgens 2009, 94, 107, 177; Schwarz-Friesel/ Consten 2014, 43). Sogar der HSK-Band (2000, Kap. IX) wurde so gegliedert. Für die detailliertere Charakterisierung macht man dann Anleihen aus den sog. Funktionalstilen. Allerdings weiß man nicht, wie daraus eine Systematik zustande käme. Woher kommt eine solche Einteilung? Wie differenziert könnte sie sein? Manchmal wird auf die Soziologie verwiesen. Das trifft den Nagel auf den Kopf, weil solche Einteilungen von außen und weit hergeholt sind: In all diesen Bereichen gibt es unüberschaubar viele Textsorten. Briefe werden vielleicht überall geschrieben. Und wieso sollten sie im Sportbereich von vornherein so anders aussehen als im Privaten, in der Journalistik so anders als in der Bildung? Das wäre ja erst mal zu untersuchen. Kreuzklassifikation wird nicht zu vermeiden sein. 9.1 | Textsorten: Welche und wie viele? 129 <?page no="130"?> 130 Ein weiteres Ordnungskriterium bietet die Textfunktion. (Mit der luftigen Intention des Schreibers befasse ich mich nicht. Welche Intention habe ich, wenn ich einen Brief schreibe? Einen Brief zu schreiben? Ist es das? ) Hier finden wir dann - auch ohne rechte Begründung leicht modifiziert (und vielleicht gar verkürzt oder erweitert) - Texte mit folgenden Grundfunktionen (Brinkers Texttypologie 2014, 105). Informationstexte mit dem Zweck, Wissen über die Welt zu vermitteln: Zeitungsmeldung, Nachricht, Bericht, Protokoll, Sachbuch, Horoskop, Rezension Appelltexte mit dem Zweck der Meinungs- oder Verhaltensbeeinflussung: Ein anderer soll dazu gebracht werden, etwas Bestimmtes zu denken oder zu fühlen, zu wollen oder zu tun: Werbeanzeige, Kommentar, Gesetz, Antrag, Stellenanzeige Obligationstexte mit dem Zweck, dass sich der Autor selbst zu einer Handlung verpflichtet: Garantieerklärung, Vertrag, Gelöbnis Kontakttexte mit dem primären Zweck, eine Beziehung zum Adressaten zu initiieren, zu pflegen oder zu gestalten, Emotionen und Einstellungen gegenüber dem Adressaten zum Ausdruck zu bringen: Danksagung, Kondolenzschreiben, Ansichtskarte Deklarationstexte mit dem Zweck, die thematisierte Handlung zu vollziehen und so eine soziale Tatsache zu etablieren, typischerweise kraft eines Amtes und mittels verfestigter Formulierungsmittel: Testament, Ernennungsurkunde Es keimt schon ein gewisser Verdacht, ob die Einteilung furchtbar wäre und mit dem Wust von Textsorten fertig würde, wenn man sieht, dass die Zahl der Beispiele immer mehr abnimmt. Gibt es sie nicht oder werden sie seltener je weiter unten? In dieser Ordnung hat man sich orientiert am Bühlerschen Organonmodell, in dem drei kommunikative Funktionen sprachlicher Zeichen gesetzt werden: Darstellung, Appell, Ausdruck. Das ergab dann die Grundunterscheidung. Was genau eine Funktion ist, bleibt jedoch eher schwammig. In der Folge hat man sich angelehnt. Textsorten oder Texttypen | 9 Sind Funktionen bestimmbar? 130 <?page no="131"?> 131 Alles Werbung? Angelehnt hat man sich an Searles Sprechaktklassifikation im nächsten Versuch. Es gab und gibt aber wenig Grund, anzunehmen, man könne einem Text des gleichen Typs mehr Gemeinsamkeit entnehmen als typübergreifend. Im Übrigen besteht auch in dieser Version das Problem der Mischung. Das ist gewiss ein Werbetext. Darin finden wir reihenweise Kommissiva von der Art Garantieerklärung. Vor allem der Titel ist schon ein Versprechen. Aber auch Direktives! Vielleicht finden wir auch Informationen im Text. Das zeigt: Der Text zeigt die Funktion überhaupt nicht. Einer vorderhand gesichert erscheinenden Typologie liegt die Idee zugrunde: Eine Textsorte ist eine Klasse von Texten, die einem komplexen Handlungsmuster zugeordnet sind. Um eine übersichtlichere Taxonomie zu gewinnen übernahm man die Sprechakttheorie Searles auch hier. Das ergab dann: assertive Texte, direktive Texte, kommissive Texte, expressive Texte, deklarative Texte. Auch dazu das Fitnessstudio: Dies ist völlig direktiv. Ein Trainingsbeispiel für Formulierungsvarianten. Und ein Exempel für andere direktive Texte? 9.1 | Textsorten: Welche und wie viele? 130 <?page no="132"?> 132 Dazu ist einmal zu sagen, dass diese Hoffnung sich alsbald zerschlägt, wenn man in eine genauere Analyse geht. Da ist dann der Zusammenhang mit intuitiven Textsorten schnell verloren. Eine inflationäre Erweiterung droht bei genauer Ausfaltung und Einbeziehung etwa aller direktiven Sprechakte. Zwar ist die Idee, es gebe textübergreifende Sprechakte, öfter plausibel, etwa erzählen, beschreiben, berichten, argumentieren, erörtern, darstellen, schildern, interpretieren. Hier ist sogar die Textsorte nach dem Sprechakt benannt: Kommentar - kommentieren. Doch greifen solche Sprechakte nur für wenige Textsorten. Und selbst dann kommt es darauf an, wie es da drinnen aussieht. Drinnen gibt es immer eine Vielzahl von Sprechakten. Die beiden letzten Typologien kranken vor allem daran, dass weder die Funktion noch der Sprechakt eines Texts leicht zu ermitteln wäre, insbesondere auch weil etwa ein Text nicht eine einheitliche Funktion haben muss oder auch nicht einem einzigen Sprechakt zugeordnet werden kann. Letzteres ist von vornherein kontraintuitiv und hält keiner Betrachtung mehrerer Texte stand. So sah man sich in beiden Ansätzen auch gezwungen, Gewichtungen einzuführen, etwa die dominante Funktion oder den dominanten Sprechakt, was bei Sprechakten schon von vornherein Probleme wegen der internen Struktur der Akte aufwirft und auch dabei, den Satzäußerungen eindeutig Sprechakte zuzuordnen. Als Fazit könnte man festhalten, dass diese Versuche daran kranken: Keines der Kriterien taugt für die Rekonstruktion einer Textsorte im landläufigen Sinn. Die Kriterien selbst sind nicht immer ganz klar und eindeutig. Eigentlich scheint es nur unter gewissen Zielsetzungen wichtig, zu einer Typologie zu kommen, zu der einen Superklassifikation, die alles umfasst, für alle Fälle taugt. Alternativ hat man deshalb an eine Clusterlösung oder an Familienähnlichkeiten gedacht, wollte so Texte nach bestimmten Kriterien anordnen und in Textfamilien zusammenfassen. Dann wäre die textlinguistische Aufgabe eher darin zu sehen, für jeweils einen vorliegenden Text und im Detail derartige Züge oder Kriterien herauszuarbeiten. Die Mischungen ergeben sich dann für einzelne Texte. Textsorten oder Texttypen | 9 Ein Fehlschlag <?page no="133"?> 133 Welche Textsorte? 9.2 Textsorten bestimmen: Sensitive Kriterien? Wir drehen nun sozusagen die Betrachtungsweise, suchen nicht mehr nach einer Taxonomie von Textsorten, sondern erproben und präzisieren die skizzierten Kriterien für die Analyse vorliegender Texte, schauen, wie sie realisiert sind, was sie uns eröffnen. Die Methode, vom Vorbegriff auszugehen, dafür Kriterien zu suchen und zu bewerten, ist in der Wissenschaft gang und gäbe. In diesem Text werden Sie gewiss Versatzstücke erkennen, die Sie auf die Textsorte schließen lassen, wenn vielleicht auch nicht ganz eindeutig. Möglicherweise haben Sie sogar eine Idee, was das soll und von wem der Text stammt. Hier Versatzstücke als Erkennungsmarken. Wenn ich heute das Wort ergreife, so halte ich es für meine Pflicht, einer Sache näherzutreten, die Ihnen und für alle Zukunft ein Problem von schwerwiegender Bedeutung zu bleiben scheint. Gewiss haben wir nicht die volle Gewissheit, was in Anbetracht einer Zerklauberei der ewig unmöglich [...] in sich vereinigt, denn gerade hier bieten sich [...] Bedingungen, die von vornherein ein für allemal [...] Die Vergangenheit hat uns gezeigt ... Hier vier-eins-sieben-sieben-sieben Telefongespräch Wiederhören - Wiederhören Telefongespräch In Erwartung Ihrer geschätzten Antwort Geschäftsbrief Im Namen des Volkes ... Urteil In tiefer Trauer ... Todesanzeige Alles in allem ... Zusammenfassung Es war einmal ... Märchen Wir lieferten Ihnen ... Rechnung u. A. w. g. Einladung hdgdl SMS Amen Gebet Man nehme ... Kochrezept Gegeben, den ... Urkunde ... hol dir ... Werbung Versatzstücke 9.2 | Textsorten bestimmen: Sensitive Kriterien? 132 <?page no="134"?> 134 In Experimenten wurde gezeigt, dass Sprecher auch in manipulierten Texten die Textsorte erkennen. Sie sehen, dass es sich hier um ein Gedicht und dann um eine bürokratische Anweisung handelt. Als Kennzeichen von Textsorten gelten auch stilistische Eigenschaften (Nominalstil, Funktionsverben). Verlässlicher und empirisch zu realisieren wäre ein Verfahren, die Zugehörigkeit zu einer Textsorte zu bestimmen, das auf lexikalischen Eigenheiten basiert. Solche Vokabularien kann man verlässlich über entsprechende Korpora gewinnen. Natürlich ist da auch ein Vorverständnis vorausgesetzt. Das folgende Vokabular ist aus einem mittelgroßen Text gewonnen. Die Wortformen sind belassen, keine Lemmatisierung. Sie sind hier linear nach der Vorkommenshäufigkeit angeordnet. Jim - Craighton - Mescalero - El - nur - ihm - wenn - seine - Jims - wieder - um - seinen - Revolver - nichts - Larry - Sattel - Juan - bin - einmal - Craightons - San - Kampf - lachte - Augen - hier - stieß - gegen - alles - Seite - Colt - hinter - mich - Lorena - McLee - Mann - Bluff - Springs - Hand - Stimme - halten - Street - werde - genau - Waffe - schnell - jeder - Junge - Creek - Staub - einfach - Reiter - Pferde - Pferd - deinen - doch - Wort - kommen - Leben - saß - kein - Kopf - Ende - Faust - Stuhl - Rock - Gesicht - brummte - Bewegung - Bill - Spur - Arm - stehen - Boden - hielt - Straße - Tages - Partner - links - Larrys - beiden - Moment - Bigfoot-Bill - plötzlich - rechts - fallen - Kennon - Baxter - Revolvermann - Halfter - Gewehr - Haar - Cole - Verfolger - verdammter - Kugel - Kugeln - grinsend - Lachen - Griff - Kinn - gepresst - leise - lag - lautlos An die Abteilung X im Hause Betr. : XXX In Fortführung der Durchsetzung der Minimierung der Aufgaben des YYY als Rechtsnachfolger des ZZZ und infolge des Wegfalls der Bedingungen, die zur Bearbeitung verschiedener Personen geführt haben, sowie zum Schutz der Quellen wird der Bestand an UUU reduziert. Dazu ordne ich an: Die in der Anlage aufgeführten RRR sind der Verkollerung zuzuführen und die betroffenen Personen sind aus den Speichern der Abt. XII zu PPP. Termin: sofort Verantwortl.: SSS Vokabular Wovon? Textsorten oder Texttypen | 9 Vokabularien themabezogen Wer hegt die düftsten Wollsäck? Die hegt das fuchsne Licht, das achter unserm Höhling am Blauspreit drogen pficht. <?page no="135"?> 135 Vokabular Wovon? Wahrscheinlich haben Sie erkannt, um welche Textsorte es sich handelt. Vielleicht können Sie sogar eigene Textteile extemporieren. Ganz einfach wird es auch hier sein. Das Korpus, das hier verwendet wurde, ist allerdings sehr klein. Außerdem wurden im Vokabular die Funktionswörter entfernt, die im Deutschen hochfrequent sind. Offen blieben als wichtige Fragen: Wie sind die Ergebnisse, wenn man die Methode verfeinert, typische Eigenschaften mit Überfrequenzen im Kontrast zu allgemeinen Korpora des Deutschen ermittelt? Sind die Ergebnisse besser, wenn man Inhaltswörter und Funktionswörter trennt oder alles in einem abgleicht? 9.3 Textmuster und Textformulare Manche Textsorten sind seit langem so standardisiert oder standardisierbar, dass Textformulare für sie zu entwickeln sind. Ein Textformular gibt den Aufbau einer Textsorte textuell vor und enthält Slots, die vom Adressaten zu füllen sind. Im Unterschied zu Textbausteinen können wir Textformulare als abstraktere Muster sehen, insbesondere erfassen sie vollständige Texte, nicht nur Module: Es sind Vorlagen für ganze Texte. Dabei können wir verschiedene Abstraktionsstufen unterscheiden. Wir haben klassische Formulare, in denen der entscheidende Text vorgegeben ist, nur Lücken spezifisch auszufüllen sind. Solche Formulare kann man beliebig viele produzieren. Im Allgemeinen handelt es sich dabei um offizielle Vordrucke (nicht etwa didaktische Lückentexte). Dann gibt es abstraktere, offenere Formulare, die eigentlich nur die Textstruktur, modulare Gliederung und Modulkategorien vorgeben. Abstrakte Formulare sind ungleich seltener. Sie geben in gewissem Sinn die Struktur einer Textsorte wieder. Beispiele für einen Vordruck und für ein Briefformular auf der nächsten Seite. ich - du - hi - deine - ferien - schon - hallo - hab - auch - mich - jetzt - ist - in - hast - wieder - mit - dir - wir - und - hdl - meine - ne - am - zum - sms - dich - noch - bis - handy - war - mal - das - im - ein - training - nicht - gerade - gute - ja - mir - auf - lg - aber - zu - ninchen - hdgdl - die - habe - der - sie 9.2 | Textsorten bestimmen: Sensitive Kriterien? 134 <?page no="136"?> 136 Vollmacht Ich, der Unterzeichner/ in Vollmachtgeber/ in [persönliche Daten] erteile hiermit: Herrn/ Frau [persönliche Daten] eine Vollmacht zur Vertretung vor Behörden im folgenden Bereich: in meinem Namen alle verlangten Rechtsgeschäfte in Behörden durchzuführen. Diese Vollmacht gilt für den Zeitraum von ... ... .... bis ... ... .... [Ort], den ... ... .... Mit freundlichen Grüßen Absender [Adresse] Adressat [Adresse] Betreff Datum Anrede Grußformel Unterschrift Anlagen Textkorpus [mit Binnengliederung] Textsorten oder Texttypen | 9 Formular- Beispiele <?page no="137"?> 137 Das Briefformular bietet die reine Struktur und das Arrangement. Es ist eher das Format für offizielle Briefe. Dazu gibt es mögliche Varianten, in Privatbriefen wird schon mal der Betreff wegbleiben. Für manche Briefmodule gibt es Sammlungen üblicher Füllungen, die - wenngleich hier alles offen scheint - eine Auswahl bereitstellen. Bei den Abschiedsformeln ergeben sich sehr viele Freiheiten, es finden sich stilistisch hoch markierte. Vielleicht zur Anregung: Antifaschistische Grüße, Einen erfolgreichen Start ins neue Semester wünscht Euch, Mit der Bitte um Unterstützung verbleibe ich mit freundlichen Grüßen, Mit feministischen Grüßen, Vielen Dank im Voraus, Wir freuen uns auf Euch, Mit freundlichem rot-schwarzgrün-gelb-lila-blau-pink-türkisenem Gruß. Textformulare gibt es für Nachrufe, Todesanzeigen und einige andere Textsorten. Sie mögen auch interkulturell verschieden gebaut sein. Sehr geehrter Herr Falk Mit den besten Grüßen Sehr geehrte, liebe Frau Falk Herzliche Grüße Sehr verehrte Frau Falk Ade Sehr verehrte, liebe Frau Falk Herzlichst Sehr verehrte gnädige Frau Gruß Hallo Alles Liebe Hi Es grüßt dich Guten Tag, Herr Falk Es grüßt Sie Hochzuverehrender Herr Rat Deine Oma Hochgeehrte Frau Rat In inniger Liebe Sehr geehrte Damen und Herren Ihr sehr ergebener Sehr geehrte Frau Dr. Ina Rat Dein Max Liebste Tschüss Liebster Professor Eure Reni und Euer Pit Liebe Carola Küsschen Liebe Frau Rothe Ihre Ina und Max Moll Ihr Lieben Mit freundlichen Grüßen Sehr geehrter Herr Landrat Gruß und Kuss Sehr geehrte Frau Rektorin Von Herzen Dein 9.2 | Textsorten bestimmen: Sensitive Kriterien? Verwürfelte Formeln 137 <?page no="138"?> 138 Formulare dienen öfter der Regulierung, der Standardisierung oder Domestizierung der textuellen Vielfalt. Das ist in vielen Bereichen für sich orientierende Leser gedacht, aber auch für die Schreiber. Hier liegt auch der Grund, warum in der Sprachdidaktik mehr oder weniger feste Formulare verwendet werden. Dies hier können Sie als perfekte Realisierung eines Formulars für Vortragsabstracts sehen. Sie könnten daraus das Formular gewinnen. Vielleicht zum guten Schluss noch dies, das alles auf den Punkt bringt und in voller Komplexität zeigt, in der die Autoren sich selbst grammatisch verheddern: 51. Jahrestagung des Instituts für Deutsche Sprache Sprachliche und kommunikative Praktiken 10. - 12. März 2015 Praktiken sprachlicher und gestischer Gestaltung Jürgen Streeck (The University of Texas at Austin) In meinem Vortrag sollen die Vorteile einer praxeologischen Analyse sprachlicher Formen am Beispiel der Koordination von Handgesten und Äußerungsformaten in ‘multimodalen’ Darstellungen illustriert werden: bei der Beschreibung von Ereignissen, Gebäuden und Bildern, sowie bei der Produktion improvisierter ‘oral poetry’. Der Darstellung gestischer Praktiken in den verschiedenen Kontexten folgt eine Betrachtung einiger lexikalischer Mittel und grammatischer Konstruktionen, die der syntaktischen und semantischen Integration von Gesten in sprachliche Äußerungen dienen, sowie ihrer Grammatikalisierung. Das Ziel ist es zu zeigen, wie multimodale Konstruktionen als Sedimente multimodaler Praktiken entstehen. Textsorten oder Texttypen | 9 Konkretes Abstract Textsorten konstituieren sich durch ein prototypisches Aufeinander- Bezogen-Sein kontextueller und struktureller Merkmale. Sie bilden den Rahmen für prototypische, auf Konventionen der Sprachteilhaber beruhende sprachliche Muster mit charakteristischen funktionalen, medialsituativen und thematischen Merkmalen sowie einer diesen Merkmalen entsprechenden formalen Struktur. (Gansel/ Jürgens 2009, 92) 138 <?page no="139"?> 139 10 Intertextualität Wenn wir den Mund aufmachen, reden immer zehntausend Tote mit. Hugo v. Hofmannsthal, Gesammelte Werke in Einzelausgaben 10.1 Intertextualität im Diskurs Dieses schöne Motto wandert durch die Zeit. Und ist ein Exempel für das, was es sagt. Von Intertextualität sprechen wir, wenn in einem Text T ein Textsegment S aus einem anderen Text Q - ich nenne ihn Quelltext - erscheint. Das ist die Grundidee. Sie bedarf einiger Präzisierungen. Zuerst einmal: Keine Intertextualität in diesem Sinne liegt vor, wenn am Schluss des Werthers aufgeschlagen „Emilia Galotti“ da liegt. Damit wird ein anderer Text per Titel nur genannt. Auch wenn gar nicht ein Textsegment aufgenommen wird, sondern eine abstraktere Form, wäre mein Rat, nicht von Intertextualität zu sprechen. Eine erste Präzisierung betrifft die Eigenschaften von S. Es ist die grundlegende Eigenschaft menschlicher Sprache, dass sie entsteht und sich entwickelt durch Präzedenz, ständige Wiederholung und Modifikation. Der Spracherwerb des Individuums lebt ebenso von Präzedenz und Nachahmung. In diesem Sinn ist der texte infini voller Wiederholungen. Bestimmte Diskurse sind voll spezifischer Wiederholungen. Die Ausdrücke und Wörter erscheinen in jedem Text wieder. Darauf weist das schöne Motto und ein Diktum von Gabriel García Márquez: „Eine Sprache ist eine Sammlung von Zitaten“. Wir präzisieren Intertextualität nun so: Das S sollte charakteristisch und eher einmalig sein. Und vielleicht: Der Autor von Q sollte bekannt sein. Klassischer und reinlicher Fall der Intertextualität ist die Anführung. In der reinsten Form das Zitat. Der Zitierer öffnet ein Fenster, durch das wir aus T in Q blicken. Die Anführungszeichen bilden den Rahmen. Sie sollten genau zeigen, wo S anfängt und wo es endet. Aber in diesem idealen Fall treten schon kleinere Probleme auf. Stimmt das zitierte S exakt mit dem originalen überein? Es ist ja eine neue Okkurrenz. Kriterien für Intertextualität 142 143 <?page no="140"?> 140 Mit dem unfallträchtigen Wort bin ich bei einem lehrreichen Beispiel für Textlinguisten. In diversen Einführungen (etwa Fix 2008, 20; Gansel/ Jürgens 2009, 23, zweite Auflage, auch „3. unveränderte Auflage“; apart gemischt und hier zitiert: Adamzik 2004, 50) finden wir wörtlich zitiert und bei Fix auch weiter so verwendet, dabei sinnigerweise die englische Version weggelassen (in Gansel/ Jürgens ohne Hinweis): Wir definieren einen TEXT als eine KOMMUNIKATIVE OKKU- RENZ (engl. ‚occurrence‘), die sieben Kriterien der TEXTUALITÄT erfüllt. Wenn irgendeines dieser Kriterien als nicht erfüllt betrachtet wird, so gilt der Text nicht als kommunikativ. Daher werden nicht-kommunikative Texte als Nicht-Texte behandelt. (De Beaugrande/ Dressler 1981, 3) Wörtlich zitiert, dachten wohl viele. In dieser Form geisterte die Definition durch die Textlinguistikwelt bis hin zu Wikipedia (da habe ich’s selbst korrigiert). Sie sehen: Zitate für bare Münze nehmen ist Vertrauenssache. Aber jetzt wird es noch weicher. Zitierungen wie Redewiedergaben bestehen gewöhnlich aus dem Zitat und einer Redeeinführung. Auch da lauern Gefahren. Hier ein textlinguistisches Zitat mit Geschlechtsumwandlung: Dieser Gedanke, der in S. J. Schmidts Buch „Texttheorie“ (1973), [...] anklingt, wird von Inger Rosengren in seiner Neufassung des „Texttheorie“-Artikels [...] dahingehend präzisiert, dass er die Texttheorie als zuständig für „die für alle Texte gemeinsamen Regularitäten“ erklärt [...]. (Sowinski 1983, 30) Dies alles sind Probleme, die Textkritikern wohl bekannt sind. Kritischer wird das Ganze in indirekten Wiedergaben. Da können wir beobachten wie S langsam fadet, wie der T-Autor es sich langsam zu eigen macht. Da erkennen wir, wie akzeptiertes Wissen entsteht. Während in seriöser Redewiedergabe der Q-Autor sichtbar bleibt, kann er im Laufe der Geschichte mehr oder weniger verschwinden. Ich präsentiere einen verbreiteten Lauf des S. Das S hier schon ohne Anführungszeichen. In Freuds Traumdeutung heißt es: Träume können ganz sinnvoll sein oder wenigstens kohärent, ja sogar geistreich, phantastisch schön; andere wiederum sind verworren, wie schwachsinnig, absurd, oft geradezu toll, wie ich finde. Intertextualität | 10 Zitier- Gewohnheiten? Fading der Anführung <?page no="141"?> 141 Freuds Text ist grundlegend verändert, im Schritt 2 mit Weglassungen Umstellungen und Kommentar. Vor allem ist die origo des Q-Autors im Schritt 2 ersetzt durch die des T-Autors. In Schritt 3 schon autorlos und zur Wahrheit geworden. Und dennoch bleibt etwas von Freud- Erkenntnis. Wir wissen nur nicht genau was. Bleiben noch zwei wichtige Frage: Was kann als S fungieren, insbesondere wie lang kann S sein? Was macht der T-Autor mit S? Hierauf kurze Antworten. Für die Länge von S scheint es keine obere Grenze zu geben, nach unten vielleicht das Wort, wenn es als charakteristisch gesehen und präsentiert wird, etwa Pallaksch. Jedenfalls ist alles darunter schwer vorstellbar. Reime, Gedichtformen, Textstrukturen sind keine Segmente und bleiben damit schon außen vor. Ähnlich sehe ich Motive und Topoi. Sie sind eher thematische Kondensate aus Texten, die öfter wiederkehren und sich durch die Tradition ziehen. Bessere Kandidaten sind Geflügelte Worte. Sie sind Textsegmente, denen der Autor abhanden gekommen ist (wenngleich er vielen bekannt ist). Sie sind Allgemeingut geworden. Mit der Einbettung von S in seinen Text wird der T-Autor eine Idee verbinden. Möglicherweise wird ihm gar nicht bewusst, dass S einen bestimmten Autor hat und aus einem bestimmten Text kommt. Wenn ihm das bewusst ist, muss er vielleicht nicht wissen, wer der Autor ist, wie etwa bei den Redensarten. In jedem Fall sollte S in T passen, seine Verwendung sollte einen Sinn ergeben. Übliche Einpassungen sind: zustimmen und honorieren, kommentieren, vorführen, kritisieren, auch imitieren und parodieren, um nur einige zu nennen. In der Intertextualität mögen Sinnsprüche und Aphorismen ihre eigene Verwendung und adaptierte Form gewinnen. Das demonstriere ich an einem berühmten Beispiel rückwärts. Freud lehrt uns, dass Träume nicht nur kohärent sein können, sondern auch Sinn haben können. Sie können aber auch verworren und schwachsinnig sein, geradezu toll, wie er für uns schön zweideutig sagt. Träume scheinen oft verworren und sinnlos. Aber sie haben meist einen inneren Zusammenhang und ihren Sinn. 10.1 | Intertextualität im Diskurs Sedimentierte Realität 151 <?page no="142"?> 142 Die Zitierer glänzen - wie viele andere - mit ihren Kenntnissen und sie hoffen, vom Glanz des Illustren etwas abzubekommen, ihrem Eigenspruch Dignität zu verschaffen. Mit diesen Varianten sind wir in der Nähe der Anspielung. Die Philosophen haben die Welt nur verschieden verändert; es kömmt darauf an, sie zu verschonen. Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert, es kommt darauf an sich selbst zu verändern. Es kommt darauf an sich selbst - und damit ein Stück weit die Welt - zu verändern. Die Philosophen haben die Welt bisher nur männlich interpretiert. Es kommt aber darauf an, sie auch weiblich zu interpretieren, um sie menschlich verändern zu können. Die Philosophen haben den Menschen nur verschieden interpretiert, es kommt darauf an, ihn zu verändern. Die Philosophen haben die Welt nur versucht zu verändern, es kommt aber darauf an, sie zu interpretieren. Die Philosophen haben bisher nur die Welt verändert, aber nicht sich selbst. Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert, es kommt aber darauf an sie zu verandern. Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert, es kommt darauf an, sie zu verändern. Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert, es kömmt drauf an, sie zu verändern. Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert, es kommt darauf an, sie zu verändern. Intertextualität | 10 Ausgelutscht 151 <?page no="143"?> 143 Ich komme zurück aufs Zitieren, den klassischen Fall der Intertextualität. Was und wozu wird zitiert? Sicherlich wird alles Mögliche zitiert. Wissenschaftlich wäre aber eine gewisse Hygiene angebracht. Es sollte um Gesagtes gehen, Gesagtes in dem Sinn, dass es propositionalen Gehalt haben sollte. Eher nichtssagend ist das Zitieren einzelner Wörter und Ausdrücke: Sie steht vor der [...] Aufgabe, den prätheoretischen und „intuitiv ungemein einleuchtenden“ (H. Sitta 1973, S. 64) Begriff ... (Gansel / Jürgens 2009, 67) Zitieren ist ein Sprechakt. Er erzeugt immer ein Äußern des T-Autors. Die Grundfunktion ist, etwas zu belegen, indem man es zitiert. Man mag auch eher diffuse Erzeugungen sehen: seine Belesenheit zeigen sich in einem Diskurs lokalisieren Aber wozu das Zitat sonst? Der T-Autor spannt das Zitat vor seinen eigenen Karren. Im Text tritt zitieren als Paar mit anderen Handlungen des T-Autors auf. Eine solche Handlung mag vorangehen oder folgen, wichtig ist die Paarung. Der T-Autor kann auch zwei Zitate gegenüberstellen und selbst erörtern, wer für ihn Recht hat. Die Nutzung des Zitats bringt der T-Autor öfter zum Ausdruck in der Zitateinleitung. Wie bei Redewiedergaben involviert er sich, bewertet und featured (? ) den Autor seiner Wahl. Hierzu eine Sammlung. 10.1 | Intertextualität im Diskurs X stellt unmissverständlich fest (Adamzik 2004, 109, 19) Wie X sehr zu Recht feststellt (Adamzik 2004, 50) ... meint X feststellen zu können (Adamzik 2004, 110) Sehr modern wirkt folgende Aussage von X ... (Adamzik 2004, 20) Neu ist hingegen die Fortsetzung von X ... (Sowinski 1983, 35) X unterscheidet ... X weist nachdrücklich zurück ... Zitieren: Aktstruktur Kommentierendes Zitieren Aktstruktur 145 S zitieren und sich dem anschließen sich damit identifizieren es kommentieren es widerlegen es kritisieren <?page no="144"?> 144 Intertextualität | 10 10.2 Anspielung, Variation und Parodie In Anspielungen kann man einen besonderen Fall der Intertextualität sehen. Auch hier spielt ein S eine Rolle, es kommt aber in T gar nicht vor. In T haben wir eher ein modifiziertes S‘, dessen Verwandtschaft mit S es zu erkennen gilt. Anspielungen sind riskante Kommunikation. Ähnlich wie Ironie brauchen sie ein doppeltes Verstehen. Denn hinter dem präsenten S‘ steht ja ein S in absentia. Der Textautor geht davon aus oder hofft, dass der Rezipient den Basistext oder S kennt. Zum Verstehen der Anspielung muss man: erkennen, dass es sich bei S‘ um eine Anspielung handelt, das zugehörige S kennen, die Zugehörigkeit von S‘ zu S erkennen, S verstehen, den Witz der Anspielung erfassen. Dass der Rezipient das S kennt, scheint gesichert, wenn es als allgemein bekannt gilt. Aber der Autor trifft auch irgendwie Vorsorge, damit der Rezipient die Anspielung erkennt. Er darf sein S‘ nicht bis zur Unkenntlichkeit verändern, muss eine Ähnlichkeit erhalten: Er wendet verbreitete Verfahren an. Das S‘ aus Q mag unterschiedlich lang sein, meist sind es aber kurze Redensarten, geflügelte Worte, Sprichwörter oder berühmte Titel. (Weitere Beispiele in Heringer 2011, 256) Substitution Buchstabe ausgetauscht: Sich regen > pflegen bringt Segen > Regen. Wort substituiert: Die Bremer Stadtspekulanten Permutation Er ist ein rechtes Schaf im Wolfspelz. Addition Bei uns muss nicht immer Kaviar sein. Deletion Herr vergib ihnen, denn sie wissen, was sie tun. Substitution + Addition Bei uns muss jetzt öfter Kaviar sein. Das modifizierte S Wie spielt man an? 152 <?page no="145"?> 145 Anspielungen durch einzelne Wörter sind exzeptionell. Dazu müssen die S auch exzeptionell sein wie das berühmte „Pallaksch, Pallaksch“ in Celans „Tübingen, im Jänner“, das anspielt auf Hölderlin. In der Anspielung - kann man sagen - wird als S‘ eine Art Variante erzeugt. Varianten und Variationen gibt es auch für ganze Texte. Im Extremfall könnte man sagen, dass wir im Korrigieren schon einen anderen Text, eben eine Variante erzeugen. Hier aber sind die Proportionen zwischen Q, T und S anders als bei der Anspielung. Zwar wird das modifizierte S vielleicht auch kurz sein, aber Q und T sind doch ähnlich lang. Der Unterschied zur Anspielung: Beide stammen vom gleichen Autor - wenigstens in der Regel. Die Einheit des Textes bleibt bewusst. Anders kann man den Fall sehen, wenn der Autor eigenständige Texte schafft. Das wären dann Varianten. Varianten werden öfter im kreativen Schreiben geschaffen, etwa eine Werbung im Märchenstil (Gansel/ Jürgens 2009, 110). Beliebt sind Varianten berühmter Texte. Im Anfang war nix, aber schon rein gar nix. Nachher war wieder a Weil‘ nix. Und nachher war erst recht nix. Und wia dös vorbei war, is der Gottvater selber kommen. Der hat der G’schicht‘, dö umadum nix war, a Zeit lang zuag’schaut, hat den Kopf g’schüttelt und zu si selber g’sagt: „Nix is nix! So geht’s nimmer weiter! Da muaß i schon die Welt erschaffen! “ Der hat gar koa Handwerkszeug braucht, als bloß a einzig’s Wörterl. „Fiat! “ hat er g’sagt - und g’schehen is alles, was er g’wollt hat. Z’allererst, wia die Erschaffung angegangen is, hat’s in der ganzen Welt a Finsternis g’habt, gegen dö die spätere ägyptische Finsternis a Fackelbeleuchtung g’wesen wär. Weil man aber zu der Arbeit z’erst amal sehen muaß, hat’s der Gottvater vor allem andern liacht werden lassen. Am zwoat’n Tag is ‘s Firmament g’macht worden, was’s nachher später Himmel g’hoaßen hab’n. Am dritten Tag hat der Gottvater amal gründlich mit der Unmasse Wasserlacken aufg’räumt, dö überall auf der ganzen Welt umanand g’wesen sein. Da hat der Gottvater si auch nit lang b’sonnen, hat die Landkarten herg’nommen, - da hat er’s trockene Land hin tan un da ‘s Meer. Wia dö Arbeit vorbei war, hat si der Gottvater am siebenten Tag auf a Wolken g’setzt, wia man’s oft aufg’malt sieht, und hat si amal ordentlich ausg’rastet. Aus Rudolf Greinz: Tiroler Bauern-Bibel. Leipzig 1937 10.2 | Anspielung, Variation und Parodie Variationen 155 Variation? Oder was? <?page no="146"?> 146 Intertextualität | 10 Die Grenze der Anspielung zur Parodie ist so klar nicht. Die Variation von Otto dürfte auf der Grenze liegen. Wir sollen sie goutieren. Aber immer wird der Quellautor ein bisschen verhonepipelt. Wer hier? Parodie ist die aufrichtigste Form der Verehrung, sagen manche, vor allem weil sie Distanz wahrt. Allerdings kann sie auch bös gedacht sein und so wirken. Dennoch enthält die Parodie etwas von Kritik am Original. Hier scheint es eher umgekehrt. Es wird Nacht, Señorita Es wird Nacht, Señorita, und ich hab kein Quartier. Nimm mich mit in dein Bettchen, ich will gar nichts von dir! Ein bisschen Liebe vielleicht, ich bin müde vom Wandern, doch ich lieb dich vielleicht nicht so schlecht wie die andern. Es ist Nacht Señorita, und ich liege auf dir. Wie du vielleicht bemerkt hast, will ich gar nichts von dir. Es wird Tag, Señorita, und du sagst leis zu mir: Steh jetzt auf und mach Kaffee, oder kannste das auch nicht? Parodieren - wozu? Der Kerl, dieser Werther Der Kerl ..., dieser Werther, wie er hieß, macht am Schluss Selbstmord! ... Schießt sich einfach ein Loch in seine olle Birne, weil er die Frau nicht kriegen kann, die er haben will, und tut sich noch ungeheuer leid dabei. Wenn er nicht völlig verblödet war, musste er doch sehen, dass sie nur darauf wartete, dass er was machte, diese Charlotte. Ich meine, wenn ich mit einer Frau allein im Zimmer bin und wenn ich weiß, vor einer halben Stunde oder so kommt keiner da rein, Leute, dann versuch ich doch alles. ... Und dieser Werther war ... zigmal mit ihr allein. Schon in diesem Park. Und was macht er? Er sieht ruhig zu, wie sie heiratet. Und dann murkst er sich ab. Dem war nicht zu helfen. Ulrich Plenzdorf, Die neuen Leiden des jungen W. Parodie? <?page no="147"?> 147 10.3 Plagiat Plagiate sind eine besondere Art der Intertextualität. Plagiatoren sind intertextuelle Trittbrettfahrer. Auch hier haben wir es zu tun mit einem T, einem Q und einem S. Für das Verhältnis von Q, S und T stellen sich für jede Intertextualität Fragen, die ich hier in einer Frageleiter arrangiere, von unten nach oben zu sehen. Alle Fragen der unteren Stufe stellen sich auch bei der höheren. Zu bedenken: Eigentlich wird in jeder Übernahme das S zu einem S‘, allein durch die Einbettung in die neue Umgebung. Stufe 1 S wird in T mit Autor und Quelle versehen und in Anführungszeichen zitiert. (Variante: Eins von beiden, nur Autor oder nur Quelle ist hier unerheblich.) Wie lang ist T, wie lang ist S? Wie wird Länge gemessen? Zahl von Wörtern? Wie lang ist Q? Wie lang ist S? In welchem Längenverhältnis stehen S und T, in welchem S und Q? Wie viel Prozent macht S jeweils aus? Autor oder Quelle werden genannt, aber S kommt in Q gar nicht vor. S in T enthält Schreib- oder Druckfehler. Woher kommen sie? Wie viele Fehler machen aus S ein anderes Segment? S in Q enthält Schreib- oder Druckfehler. In T sind sie korrigiert. Wie viele Korrekturen machen aus S ein anderes Segment? S in Q enthält argumentativ oder sachlich Fragwürdiges. In T ist das verbessert. Wie viele Verbesserungen machen aus S ein anderes Segment? S in Q enthält Schreib- oder Druckfehler. In T sind sie korrigiert. Wie viele Korrekturen machen aus S ein anderes Segment, einen Text, der weder dem T-Autor noch dem Q-Autor zuzusprechen ist? Stufe 2 S wird in T reformuliert, Autor wird genannt oder Quelle wird angegeben. (Variante: Nur Autor oder nur Quelle ist hier unerheblich.) Wie in der Anspielung haben wir es ausgewiesen mit zwei Segmenten zu tun, einem originalen S und einem reformulierten S‘. Was zählt als Reformulierung? Wie ist das semantische Verhältnis von S und S‘? Stufe 3 S wird in T reformuliert, weder Autor noch Quelle werden als solche angegeben. (Q-Autor in anderer Rolle genannt ist hier nicht relevant.) Wie ist S in S‘ modifiziert? 10.3 | Plagiat Komplizierte Sache <?page no="148"?> 148 Intertextualität | 10 Für Plagiatsnachweise können insbesondere wichtig werden: der Zeitpunkt der Entstehung: S vor S‘, Identität und Ähnlichkeit, die Längenverhältnisse von S und S‘, die Art des Quelltexts. Für die ersten beiden liefert ein Beispiel die Celan-Goll-Affäre. Die beiden Dichter waren befreundet und haben viel zusammengearbeitet. Nach dem Tod von Yvan Goll erhob seine Witwe Plagiatsvorwürfe gegen Celan (was Celan zutiefst deprimierte). In der Verteidigung, etwa durch Walter Jens zeigte sich alsbald (Kuschel 2008), dass die Celan-Texte zum Teil vor den Goll-Texten entstanden waren. Lief die sog. Plagiierung eher umgekehrt? dass für dichterische Textsegmente der Nachweis der Ähnlichkeit äußerst diffizil wäre. Wie insbesondere sind Anspielungen oder textuelle Verneigungen von Plagiaten zu unterscheiden? Auch für den letzten Aspekt gibt es historische Beispiele. Manche Texte gelten als vogelfrei. Dazu gehören Märchen, Volkslieder und Geflügelte Worte. Das ruht nicht nur darauf, dass der Autor nicht bekannt ist. Ähnliches gilt für bestimmte Informationstexte, die nur in Ausnahmefällen zugewiesen werden, so Wetterbericht oder Wörterbücher. Wörterbücher selbst bewegen sich im freien Raum. Eine Abschreibtradition wurde für frühere Zeiten nachgewiesen. Das mag vor der Erfindung des Plagiats gewesen sein, mag aber auch heute nicht unüblich sein. Wir nehmen den Vergleich auf der nächsten Seite. Wörterbücher tun so, als sagten sie uns, wie es ist. Erstaunlich, dass sie Unterschiedliches sagen. Mit beiden Artikeln befassen wir uns nicht der schrägen Textdefinitionen oder Bedeutungseinteilungen wegen. Es fällt auf, dass keine Quellen angegeben sind. Sollten die Autoren das alles gewusst haben? Aber woher denn? Wie wohl 3 in Wahrig kommt? Woher beziehen beide ihr etymologisches Wissen und die Bedeutungsangaben für das Lateinische? Sie sind zum Teil leicht verschieden, zum Teil verblüffend identisch. Noch verblüffender die Bedeutung „Bibelstelle“. Sie deutet für Philologen auf eine gemeinsame Quelle. (Es spricht Einiges für Grimm). Unter den Kookkurrenten von Text tendiert Bibelstelle gegen Rang 2000. Wenn das nicht ein Hinweis auf koindizierende Idiosynkrasien ist. Keine Plagiate! Freiwild und Gemeingut! <?page no="149"?> 149 Ein weiterer historischer Fall ist der von Karl May, der ähnlich zu sehen ist wie die Verfahren der Wörterbuchmacher. Für seine vielen Bücher und für all die fremden Länder brauchte May natürlich reichlich Infomaterial. Woraus man den Vorwurf der Plagiierung machte, dem er noch die verschärfte Basis lieferte, indem er - wohl im dichterischen Sinn - behauptete, überall in den fremden Länder gewesen zu sein. (www.karl-may-gesellschaft.de/ kmg/ seklit/ JbKMG/ 1991/ 324.htm) Bei der Anspielung wie bei den Stufen hier zeigt sich die Rolle des gemeinsamen Wissens, die ich noch mal zusammenfasse. In der Regel gibt es zwei Sprecher oder Autoren (es könnte auch der gleiche sein). Außerdem zwei Schreibsituationen. Trivialerweise ist der Quelltext früher verfasst, und auch meist an anderem Ort. Text, der; -(e)s, -e (spätmhd. text < spätlat. textus = Inhalt, Text, eigtl. = Gewebe der Rede < lat. textus = Gewebe, zu textum, 2. Part. von: texere = weben, flechten; kunstvoll zusammenfügen: 1 a) [schriftlich fixierte] im Wortlaut festgelegte, inhaltlich zusammenhängende Folge von Aussagen: ein literarischer T.; der T. lautet wörtlich: ...; einen T. entwerfen, abfassen, kommentieren, interpretieren, korrigieren, verändern, verfälschen, auswendig lernen, übersetzen; der Schauspieler kann seinen T. (Rollentext) noch nicht richtig; schlagt euren T. (euer Buch mit dem Text) auf! ; ein Buch mit vielen Bildern und wenig T.; *weiter im T.! (ugs.: Aufforderung, fortzufahren); b) Stück Text (1a), Auszug aus einem Buch o. Ä.: der Lehrer teilte die -e aus. 2. zu einem Musikstück gehörende Worte: der T. des Liedes ist von Luther. 3. (als Grundlage einer Predigt dienende) Bibelstelle: über einen T. predigen. [...] Duden, Deutsches Universalwörterbuch, 2001, 1574 Text I (m. 1) 1 Folge von Wörtern, die eine sprachl. Äußerung in einer aktuellen (geschichtl.) Situation darstellt; → Lexikon der Sprachlehre 2 genauer Wortlaut einer Aufzeichnung 3 genauer Wortlaut eines Werkes als Grundlage der Literaturwissenschaft 4 inhaltl. Hauptteil eines Buches im Unterschied zu Vor- und Nachwort 5 zusammenhängendes Schriftbild einer bedruckten od. beschriebenen Seite im Unterschied zu Überschrift, Fußnote, Illustration 6 die begleitenden Worte zu einer musik. Komposition (Opern~,Lieder~) 7 (erklärende) Beschriftung von Abbildungen, Karten usw. 8 Bibelstelle als Thema einer Predigt [...] [<lat. textus „Gewebe, Geflecht“, zu texere „weben, flechten, kunstvoll zusammenfügen“] Wahrig, Deutsches Wörterbuch, 2006, 1471 10.3 | Plagiat Plagiierung? Schöpfen aus Quellen? <?page no="150"?> 150 Intertextualität | 10 (1) A insertiert in seinen Text T ein S‘, das er kopiert oder gepasted hat, aus diversen Texten zusammengeschustert hat, modifiziert hat. A geht davon aus und möchte, dass B nicht bemerkt, dass (1). B bemerkt nicht, dass (1). Das ist eine gelungene Plagiierung. Eine misslungene Plagiierung ist ähnlich einer misslungenen Lüge: A geht davon aus und möchte, dass B nicht bemerkt, dass (1). B erkennt, dass (1). Und nun Selbstplagiat - eine furchtbare Idee. Textlinguistisch doppelt interessant ist der schnelle Vergleich von Gansel/ Jürgens 2008 und Gansel/ Jürgens 2009. In solchen Fällen müssten Leser zu kritischen Philologen werden - wenn es sich lohnt. Für Wissenschaftler ist es fast unmöglich, nicht zum Selbstplagiator zu werden, auch darum ist die Idee dahinter nicht tragend. Die wissenschaftliche Hygiene besteht eher in einem „Nicht-Zuviel-Wiederholung“. Es heißt, alle Professoren glauben, dass sie zu wenig gelesen, zu dünn rezipiert werden. Das werden sie mit anderen Autoren teilen. Von daher kann man auch verstehen, dass sie ihre Botschaft in unterschiedliche Zusammenhänge, an unterschiedliche Adressaten bringen wollen. Das scheint besonders wichtig, wenn man das wissenschaftliche Ideal nicht mehr hochgehalten sieht, dass nämlich jeder Wissenschaftler in seinem Bereich alles Publizierte zu kennen habe. So werden Wissenschaftler das Gleiche an mehreren Stellen publizieren. Aber was heißt hier das Gleiche? Eigentlich müsste es genau der gleiche Wortlaut sein, vielleicht mit kleinen Retuschen oder Präzisierungen. Das kann für den Autor ein Fortschritt sein, wenngleich der Fortschritt von innen meist größer ausschaut als von außen. Für mich als Leser gilt aber: Was ich schon weiß, muss ich ja nicht lesen, das Selbstplagiat wäre also Ressourcenverschwendung. Ja, nun aber das Gleiche? Als Linguist habe ich vielleicht eine durchlaufende Botschaft oder wissenschaftliche Grundätze, die ich vermitteln will. Die kehren wohl immer wieder, vielleicht variiert. Ist das Selbstplagiat? Nein, aber wo liegt die Grenze? Wenn Sie begründbare Antworten auf all die aufgeworfenen Fragen haben, dann wissen Sie, was ein Plagiat ist. Eine Definition 158 <?page no="151"?> 151 11 Text und Stil Ich künstle so lange an meinem Stil herum, bis er natürlich wird. Johann Wolfgang v. Goethe 11.1 Wie gewinne ich Stil? In diesem Kapitel wird der Stil in den Blick genommen. Haben Sie gemerkt und gewusst, dass in diesem Buch so nicht geredet wird, dass die Wendung zu einem modischen, hermeneutischen Stil gehört, dass man das als Jargon sehen könnte? Mich erinnert es daran, dass etwas richtig hergenommen wird. Anschließend wird dann vielleicht festgestellt, was wem geschuldet ist. Wer so schreibt, der zeigt, in welchem Diskurs er sich aufhält, zeigt wohl auch, in welchem Diskurs er beheimatet ist. Er zeigt etwas von seiner intellektuellen Person. Der Autor kann das allerdings nicht allein, nicht für sich. Er muss auch so verstanden werden. In diesem Sinn ist Stil - wie neuere Stiltheorien ansetzen - ein soziales, kommunikatives Konstrukt. Es schafft Identität. Je nach dem, in welchem Register, in welcher Varietät ich mich ausdrücke, werde ich auch wahrgenommen. Dies stiftet nicht nur die eigene Identität, sondern auch die Einheit von Gruppen, etwa in Jugendsprache, in Kiezdeutsch oder in formalisierter linguistischer Fachsprache. Bei Stilfragen geht es oft darum, wie man noch sagen könnte, was an dieser Stelle noch passen könnte. An dieser Stelle könnte man vielleicht auch sagen: Wir beschäftigen uns in diesem Kapitel mit ... Das Kapitel behandelt ... Ich behandele in diesem Kapitel ... Mit allen dreien wird etwas Anderes gesagt. Die erste Formulierung schließt den Leser ein, schafft eine Art Arbeitsgemeinschaft. Die zweite Formulierung könnte man als eine Art unpersönlicher Redeweise verstehen, vielleicht als einen Subjektschub, der entstanden ist aus: Ich behandle in diesem Kapitel ... Ein Warmup Stil und Identität 162 <?page no="152"?> 152 Text und Stil | 11 Diese dritte Formulierung schließlich nennt den Autor, was für manche in solchen Zusammenhängen stilistisch verpönt ist. Hier aber trifft es wirklich zu, weil es wirklich auch um eine Behandlung gehen wird. Damit sind wir bei einer üblichen Stildefinition, nach der zu unterscheiden sei, das Was und das Wie, was gesagt werde und wie es gesagt wird. Dies ist schwer haltbar: Denn hier wird tatsächlich etwas Anderes gesagt. Das Wie vom Was abzutrennen ruht auf dem Mythos, es gebe synonyme Ausdrucksweisen, der auch vielen Linguisten willkommen ist. Aber was soll da gleich sein, wenn man die Alternative in den Blick nehmen und behandeln in den Blick nimmt? Wer in den Blick nimmt, stellt sich metaphorisch dar als jemand, der umherschaut, das ein oder andere fokussiert, vielleicht sogar den Überblick hat. behandeln wird auffällig oft passivisch verwendet, man kommt sofort in die Krankheitsszene: Arzt und Patient, ambulant, pfleglich, ärztlich. Dies sind nicht irgendwelche subjektiven Assoziationen, sondern Aspekte des Gebrauchs. Frequente Chunks zeigen das. und musste [im Krankenhaus] behandelt werden seien [von ...] korrekt behandelt worden Den Mythos der Synonymie brauchen wir nicht: Stil ist das, was sich zeigt, was sich in jeder Formulierung zeigt. Insofern können wir auch vom Wie sprechen, ohne zu supponieren, es sei das Gleiche gesagt. Stil zeigt sich sogar im Nicht-Gesagten. Der Anklang an Wittgenstein passt: „Was gezeigt werden kann, kann nicht gesagt werden! “ (TLP 4.1212) Das hatten wir schon. Wittgenstein handelt von Logik und vom logischen Satz, der seine logische Form nicht darstellen kann. Sie spiegelt sich in ihm. Ganz so können wir den Stil sehen. Stil begleitet alles, was wir sagen, zeigt sich überall, in allen Texten. Man kann nichts sagen ohne Stil. Er ist ein Huckepack-Phänomen. So zeigt sich sogar im Nicht-Gesagten: Ob ich Tabus ausspreche und wie oder ob ich sie meide. Ob ich politisch korrekt rede und mich als brav, normbewusst, sozial angepasst zeige oder nicht. Stil zeigt sich, kann aber auch gezeigt werden. Ob wir ihn sehen und wie, ist kommunikativ bestimmt. Als Rezipienten müssen wir hinsehen. Stil ist hier das Auffällige, was uns als Rezipienten auffällt. Doch auch das Unauffällige kann auffällig werden. Es gibt keinen Default: Auch die graue Maus ist Stil. Stil zeigt sich Stil ist das Auffällige 158 <?page no="153"?> 153 Der kommunikative Ansatz betont: Stil ist dynamisch. Stil wird interaktiv hergestellt. Stil wird konstituiert in Interaktion durch Produzenten und Rezipienten. Die möglichen Alternativen muss der Produzent nicht unbedingt kennen oder in Betracht ziehen. Der Rezipient sieht sie für seine Deutung. Der kommunikative Ansatz befasst sich mit dem Overten. Vom Denken dahinter weiß man nichts. Man muss Stil so nicht überhöhen und mit dem Denken zusammenbringen: Der Stil ist die Physiognomie des Geistes. [...] Fremden Stil nachahmen heißt eine Maske tragen. (Arthur Schopenhauer) Und sogar noch umkehren zum didaktischen Traum: Den Stil verbessern - das heißt den Gedanken verbessern, und gar Nichts weiter! (Friedrich Nietzsche) Wir bleiben beim Text. Hier brauchen wir nicht all die klassischen Stilebenen (dichterisch, gehoben, normalsprachlich, umgangssprachlich, salopp, derb) und die Stilmerkmale. Für unsere Zwecke sind das nur Schablonen. Stil ist fisselig und detaillierter. 11.2 Was sich zeigt und was gezeigt wird In der Stilanalyse steht alles offen. Alles ist verwendbar, alles, was in mein Bild passt. Stilkritiker haben Schablonen für solche Texte. Es ist der bürokratische Stil. Dazu werden sogar Merkmale geboten wie Nominalisierung, unpersönlich, Adjektiverweiterungen, antiquierte Kanzlei-Ausdrücke, Funktionsverbfügungen, bis hin zu einem typischen Wortschatz, der für die jeweilige Sparte zuständig ist. Gemeinden können gemäß § 29 Abs. 1 Satz 2 Bundesnaturschutzgesetz in Verbindung mit Art. 51 Abs. 1 Nr. 5 des Bayerischen Naturschutzgesetzes Baumschutzverordnungen zum Schutz von Bäumen und Sträuchern innerhalb der im Zusammenhang bebauten Ortsteile erlassen. Die damit erreichte Durchgrünung der bebauten Bereiche hat erhebliche positive Wirkungen, wie z.B. die Belebung und Pflege des Ortsbildes, eine Verbesserung des Stadtklimas sowie die Minderung des Lärms und Reinhaltung der Luft. 11.2 | Was sich zeigt und was gezeigt wird Stil kommunikativ Stilanalyse 163 <?page no="154"?> 154 Text und Stil | 11 Stilkritiker werden dann auch schnell kritisch und wissen, wie es besser wäre. Sie empfehlen: Kein Nominalstil! Kein Stopfstil! Keine Klemmkonstruktionen! Sparen mit der Leideform! Doch die Schreiber werden schon wissen, was sie brauchen. Sie schreiben in ihrem Register und für bestimmte Zwecke. Indem er ein Märchen transkribiert, führt Troll vor, wie inadäquat bürokratisch hier wäre. Der bürokratische Text zeigt kaum Individuelles. Das ist ja geradezu Vorbedingung für solcher Art Texte. Aber auch das ist Stil. Um Stil zu erkennen, zu eruieren und darzustellen, braucht man viel sprachliches, auch linguistisches Wissen. Großen Stilforschern wie einst Leo Spitzer wurde es zugesprochen. Aber in diesem Sinn bleiben Stildarstellungen luftig, angreifbar und vielleicht auch idiosynkratisch. Bei Stildarstellungen, die auf die Person des Autors zielen, ist immer der Darsteller beteiligt. Wir alle sitzen im Glashaus. Vorwörter zu textlinguistischen Arbeiten für den universitären Unterricht betonen häufig ihre Fundierung in der Lehre. Das ist Standard, ebenso wie Dankesworte. In diesen beiden Ausschnitten sehe ich kleine Idiosynkrasien. Bei Sowinski spricht Widersprüchliches für sich, bei Gansel/ Jürgens sehe ich „Stellvertretend danken“ problematisch. Im Kinderanfall unserer Stadtgemeinde ist eine hierorts wohnhafte, noch unbeschulte Minderjährige aktenkundig, welche durch ihre unübliche Kopfbekleidung gewohnheitsmäßig Rotkäppchen genannt zu werden pflegt. Der Mutter besagter R. wurde seitens ihrer Mutter ein Schreiben zustellig gemacht, in welchem dieselbe Mitteilung ihrer Krankheit und Pflegebedürftigkeit machte, worauf die Mutter der R. dieser die Auflage machte, der Großmutter eine Sendung von Nahrungs- und Genussmitteln zu Genesungszwecken zuzustellen. (Thaddäus Troll) Das vorliegende Buch ist zu einem großen Teil aus dem akademischen Unterricht erwachsen und in seiner Entstehung auch durch diese Tätigkeit beeinträchtigt worden. [...] Ich möchte nicht versäumen mich zu bedanken: [...] bei Kollegen und Studenten für manch fruchtbare Anregung ... (Sowinski 1983, 9) Viele Fragen zur Anwendung systemtheoretischer Kategorien auf die Textlinguistik und die Institutionelle Kommunikation sind in Seminaren mit Studierenden [...] diskutiert und in das dritte Kapitel einbezogen worden. Stellvertretend danken wir ... (Gansel/ Jürgens 2007, 10) Bürokratischer Stil? Stilkritik 164 <?page no="155"?> 155 Dies sind natürlich Kleinigkeiten, könnten aber doch etwas besagen. Etwas allgemeiner und nicht Einzelpersonen zuzuordnen sind gängige Topoi in Textlinguistiken. Einer ist das Noch-Nicht: Sie finden reihenweise Hinweise, dass es irgendetwas noch nicht gibt, nicht befriedigend gibt oder noch ungeklärt bleibt. Brinker ist ein Meister hierin (Brinker/ Cölfen/ Pappert 2014, 16, 121, 125, 127, 132, 135). Ist das der Drübersteher? Ich lese es meist als optimistisch auf künftige Lösungen hoffend und nicht kritisch, wie ich es doch lieber sehen würde. Auf der anderen Seite ist es üblich, die Textlinguistik zu heben durch unbegründete Behauptungen über die Unzulänglichkeit anderer linguistischer Teildisziplinen. Auch Abwertung formaler Darstellung ist nicht unbeliebt (gleich wiederholt und diskreditierend scheinbegründet in Schwarz-Friesel/ Consten 2014, 12, 23). Das scheint die Verfasser umzutreiben. Da sehen Sie vielleicht, was alles zum guten Stil von Wissenschaftlern gehören könnte. Auch das verwendete Vokabular mag etwas sagen. Ich vergleiche zwei Artikel von Linguistinnen, beide gleichen Umfangs, etwa 5k Textwörter. Das Prinzip der stilistischen Betrachtung ist: Alles, was überfrequent gegen Normaldeutsch, zählt als auffällig. Überfrequente Inhaltswörter zeigen, um welches Thema es geht: Textlinguistik. Details werden Sie selbst erkennen. Daneben gibt es signifikante Unterschiede in der Schreibhaltung. Bei den überfrequentesten in der linken Spalte erkenne ich eine gewisse Vorsicht in den häufigen Formen von können. Das aber auch in der rechten. Dagegen links Distanzierung im sog. und Anrede im Sie. Rechts ganz stark das hedging und downgrading in meist usw. Bei beiden steht gottseidank argumentieren im Vordergrund: also! 11.2 | Was sich zeigt und was gezeigt wird Links, Modell, Nutzer, Module, Abschnitt, Text, Abfolge, thematisch, Repräsentation, Texte, Zusammenhang, Autor, Diskussion, kognitive, explizit, globalen, mentale, Strategien Präteritum, Textlinguistik, Lernenden, Texte, Perfekt, Tempora, Text, Anwendungsorientierte, textlinguistische, Unterricht, Beschreibung, Analyse, linguistische, Lehrwerken, Fremdsprachenunterricht, Grundstufe, Vergleich, Unterschiede, Bereich kann, oder, sog., können, also, Sie oder, kann, auch, etc., also, meist, durchaus, zumindest Linguisten- Stil? 165 167 <?page no="156"?> 156 Text und Stil | 11 Auch bei wissenschaftlichen Autoren stellt sich die Frage, welchen Personalstil sie pflegen. Gemäß dem Prinzip „Sag nur, was zu sagen ist“ bewerten wir Texte, wenn wir selbst meinen, es werde zu viel gesagt. Wir projizieren es dann auf den Autor. Weithin wird angenommen, es gebe eine Art Standard für wissenschaftlichen Stil (ohne eigenes Ich zum Beispiel). Tatsächlich würde sich dahinter die graue Maus verbergen. Tatsächlich erkennen wir in der Prolixität stilistisch Charakteristisches der Person. Aber auch hier gilt der kommunikative Aspekt: Ich bin dabei, wenn ich persönlichen Stil darstelle. Als Stildarsteller sehen wir das Individuelle in den Augen des Allgemeinen, ganz so, wie wir als Texttheoretiker das Allgemeine in parole- Texten sehen. Holly hat den Personalstil von Johannes Gross im „Neuen Notizbuch” analysiert (Holly 2001, 2009). Er zeigt, wie Gross sich als großbürgerlich Gebildeten inszeniert: die illustren Figuren, mit denen er umgeht, sein intimes Verhältnis zu ihnen, seine Lektüre und kulturelle Teilhabe, seine Kenntnisse als Genießer und nicht zuletzt die Ausstellung seiner verächtlichen Meinung über die Dummen und die Dummheit. Hier nur ein Blick auf seinen Wortgebrauch. Stilisierung muss nicht bewusst sein. Dennoch wird sie Teil der Person. Wir sollten das weniger kritisch sehen, sondern danken, wenn jemand sich zeigt, ihm zurufen: Sprich, dass ich dich sehe! anheben einhertreten stillestehn beigewohnt hierzulande anderwärts manchenorts allenthalben zuweilen allweil dermaleinst vormals vordem bös generös kirchgängerisch famos anmutig worinnen für altmodisch gegolten ward Erdkreis Herzenshärtigkeit Lebenssattheit Hinschied Klugmeiereien Sich stilisieren als Personalstil 170 166 <?page no="157"?> 157 11.3 Aus der Kralle den Löwen Der Ausspruch „Aus der Kralle den Löwen ...“ wird Phidias, dem größten griechischen Bildhauer der Antike zugeschrieben. Gemeint ist vielleicht die Kunst, im kleinsten Detail das große Ganze zu erkennen, aus dem kleinsten Detail verlässlich auf das Ganze zu schließen. Phidianer brauchen auch im Text nur die Kralle. Sie müssen nichts Biographisches von außerhalb wissen, produzieren den analysierten Löwen rein aus dem Text. Das dürfte letztlich sogar nach außen gehen, bis zur Spekulation, wie der Löwe sich gekleidet hat. Da wäre jeder Treffer ein gelungenes experimentum crucis für die Methode. In einer Analyse entwirft Sandig (2009) ein gewagt erscheinendes Stil- Person-Porträt von Peter Wapnewski. Ihr Titel „Das getilgte Ich und sein Stil“ sagt, worum es ihr geht. Es ist eine Replik auf Wapnewskis Einlassung, er wolle in der Autobiographie „Mit dem anderen Auge“ sein Ich tilgen. Dazu erst mal zwei Zitate. Gleich zu Beginn: Das „Ich“, weil schreibend nicht zu vermeiden, ist nicht der eigentliche Gegenstand dieser Seiten, sondern nur eine Stilfigur. Die Absicht des Schreibenden ist in umso höherem Maße erfüllt, als es ihm gelingt, sein Ich zu tilgen. (Wapnewski 2005, 12) Das wird dann weiter expliziert: Nicht das „Interessante“ an meinem Ich wollte ich spiegeln, sondern das, was diesem Ich als interessant erschien. Zum Leitfaden wurde das asketische Wort des großen Ranke: „Ich möchte mein Ich auslöschen“. (Wapnewski 2005, 14) Das Ziel, das im letzten Zitat formuliert wird, scheint schon leicht widersprüchlich. Denn in dem, was ihm interessant erschien, ist er ja doch dabei, nicht ausgelöscht. Besser noch kommt das im ersten Zitat zum Vorschein. Da ist einmal der Schreibende dabei, nicht tilgbar. So kommt keine Bescheidenheit oder Zurücknahme des Ich zum Ausdruck, vielmehr eine Erhöhung, weil es generalisiert, eben hochstilisiert wird. Das ist eine Spur, der ich als Stilschnüffler folgen will. Schon der Titel der Autobiographie lässt ahnen, dass der Gestus nicht eingelöst werden soll. Dazu muss man wissen, dass Wapnewski im Krieg ein Auge verloren hatte, stattdessen ein Glasauge hatte. Von daher auch die kreative Frage: Welches Auge ist gemeint? 11.3 | Aus der Kralle den Löwen Ein Exempel Stilanalyse Personalstil 165 <?page no="158"?> 158 Text und Stil | 11 Wapnewski geht durchaus ernsthaft mit seinem Versprechen um. Schon die kluge vage Formulierung von der Stilfigur, um die es gehe, zeigt, dass ihm das Problematische bewusst ist: Eben er als stilisierte Figur. Das Individuum, wie es sich hier zeigt. Einige Mittel der Ich-Tilgung sind bekannt aus anderen Registern. Einmal die Anthropomorphisierung von Gegenständen und Ereignissen, die handeln: Hier will [...] ein mannigfach zerstückeltes, unausgewogenes und in unkontrollierten Schüben sich fortlebendes Leben Zeugnis ablegen von der Zeit, die seine Zeit war und die mit ihm umgegangen ist nach einem sehr willkürlich scheinenden Belieben. (Wapnewski 2005, 12) Es meldet sich die gespenstische Vorstellung von einer deutschen Kontinuität […] (Wapnewski 2005, 191) Das Gleiche hier, dazu noch ganz ausgespart das ich als simple kontextuelle Ellipse des mich-Ichs: Von hier aus luden Gastprofessuren ein in die USA, nach Neuseeland […] (Wapnewski 2006, 13) Die kontextuelle Ellipse ist auffällig, fordert etwas mehr Verstehensaufwand und spielt so verdeckt das Ich wieder in den Vordergrund. Ein weiteres Mittel der ich-Vermeidung besteht in der Anaphorik mit defNPs. Solche Anaphern haben stets als Antezedens eben jenes nicht mehr aufscheinende ich. Ansonsten blieben sie unverständlich, leerlaufend. Und der Vizepräsident des DAAD und des Goethe-Instituts hatte die Chance, auf mannigfachen Wegen in Orient und Okzident Universitäten und Kulturinstitute beratend und lehrend zu visitieren. Der Mediävist lernte ... (Wapnewski 2006, 13) Hier folgen dann - ganz wie bei Gross - die großen Namen, die das unscheinbare Ich überhöhen. Wir finden hier auch die preziös altertümelnden Wörter wie visitieren (der Himmel weiß, was das ist), abundante Gastfreundschaft, den Grundsatz exekutieren oder heutzutage kaum gebräuchliche wie Knabe, Pennäler, die wohl anspielen auf jene Zeit seiner eigenen Jugend und damals übliche Benennungen. (Vielleicht sollte ich darauf hinweisen, dass ich rein den Text betrachte. Das fragliche Ich ist nicht die reale Person Peter Wapnewski. Wir dürfen aber doch annehmen, dass der Autor das fingiert.) name dropping <?page no="159"?> 159 Anaphorik mit impliziten ich-Antezedens auch in den folgenden Ausschnitten: Ein D-Zug geistert durch die Nacht, fast menschenleer. Die Fahrt geht nach Osten. Darin der 18-jährige Abiturient P.W. (Wapnewski 2005, 65) […] was ich bisher nie für berichtenswert hielt: Dass der Soldat P.W., in voller Uniform „mit Orden und Ehrenzeichen“, in dem dicht besetzten Kellergewölbe unmittelbar neben dem anderen saß, dessen Ehrenzeichen der gelbe Stern war. (Wapnewski 2005, 128) Zurückgenommen erneut und vordergründig Wapnewski in der attributiven Akü „P. W.“, die stilistische Kompetenz W.s zeigend in dem Anklang an PW (prisoner of war). Andererseits macht W. sich groß, da er nur per Abkürzung zu nennen ist. Solche Abkürzungen setzen Bekanntheit voraus. Womit auch hier wieder gespielt wird, etwas beansprucht wird, was im Kontext mehr oder weniger trivial erfüllt ist. Aber Wapnewski schillert nicht nur, er glänzt auch. Er zeigt sich als gebildet, belesen und gelehrt. Da sind erst einmal Anspielungen eher schlichter Art, etwa auf „Wes das Herz voll ist, des läuft der Mund über“: [...] und ich redete, wohl ebenso befangen wie unbefangen über das, wovon das Herz voll war. (Wapnewski 2006, 150) Schöner wäre noch gewesen des das Herz voll war. Aber an Archaisierendem, Altertümelndem, Preziösem mangelt es nicht. Adverbale Genitive oder vorangestellte attributive Genitive taugen dafür immer. Über August Everding erfahren wir, dass er das Mögliche schuf: „die Kaskaden der üppig sprudelnden Spiel-Lust auffangend im Becken des Maßes und der Ordnung“ (Wapnewski 2006, 98) und Sombarts zweite Ehefrau „brillierte in der Perfektion jenes kunstvoll unvollkommenen Deutsch, dessen Defizite dem Sprechenden die Autorität des Reizvoll-Seltsamen verleihen, und über den Urgrund des rumänischen Wortklangs sang die melodiöse Nasalität der französischen Diktion“ (Wapnewski 2006, 37). Für solcher Art Darstellung eignen sich preziöse Wörter wie Gebresten, Sehnsuchtsweh, mählich, Gewogenheiten und die Menge kühn scheinender Wortbildungen: Schweigsamkeit [...] hat für die Plauderfrohen etwas Irritierendes. (Wapnewski 2006, 201) 11.3 | Aus der Kralle den Löwen Verstecktes Ich Archaismen <?page no="160"?> 160 Text und Stil | 11 Kühn scheinen Adjektive wie irrtumsfrohendste, rokokofein, freundwillig. [...] die alte Friedrichstraße in ihrem derzeitigen Zustand bietet sich allenfalls dar als eine wolkengreifende Anspruchsgebärde aus wechselnden Kränen und Baugerüsten [...] (Wapnewski 2006, 209) Ausweis der Gelehrsamkeit war immer schon das Latinisierende: Das Delectare darf nicht gelten als Vehikel der bildenden Belehrung, sondern bleibe, wo überhaupt zugelassen, dessen schüchterne Magd. (Wapnewski 2006, 125) Man konnte von ihm [Everding] lernen, was eine schwarze Gattung mittelalterlicher Literatur lehrte: die Ars moriendi. (Wapnewski 2006, 99) An dieser Table Ronde sind alle pares, doch einer ist der Erste, ist Nabe des Rades, Mitte aller Bezüge und Festigungspunkt aller Streben. Wollte man einen Namen finden, der diese Energie und ihre ritualisierende, ordnende, gliedernde und stimulierende Kraft bezeichnet, so gibt es dafür den Begriff der auctoritas. (Wapnewski 2006, 114) Fast einen Tick kann man in Wapnewskis Verwendung von Präsenspartizipien sehen (mehr Wapnewski auf Seiten 48, 89, 90, 192, 218): [...] im Jahre 1971 Monica geb. Plange heiratend [...] [Sie] wurde seit jenem Tag Maß und Mitte meines Lebens, Ruhe wie Unruhe sinnreich spendend. (Wapnewski 2006, 80) Nun haben wir genug gesehen vom getilgten Ich. Aber die Tilgung kann auch overt nicht gelingen. Wieder strotzend vor Erhabenheit: Das privat-intime Gegenbild zur geweihten Erhabenheit des Marianne-Weber-Kreises, zu dem ich schon als Assistent ehrenvollen Zugang fand ... (Wapnewski 2006, 36) Dann als historisches Ereignis der Ruf nach Berlin (Wapnewski 2006, 36) und ein Blick in die „Architektur des inneren Selbst“. (Wapnewski 2006, 50) Wapnewskis Selbstdarstellung zeigt ihn inmitten als hehr apostrophierter Institutionen und Personen. Der Selbstüberhöhte wird nicht einfach berufen, sondern gerufen. All die vielen Menschen um ihn herum sind hochberühmt oder werden es, viele sind seine Freunde. In ihnen kann er sich spiegeln. Selbstdarsteller 172 <?page no="161"?> 161 Ein unverfänglicher Weg scheint die Selbstdarstellung durch die Darstellung im Spiegel jener berühmten Freunde. So gibt Wapnewski über einen launisch familiären Brief von Uwe Johnson zumindest Einblick in seine Vergangenheit von außen gesehen (Wapnewski 2006, 117). Sollte das nicht doch sehr privat sein? Oder gehört es zur Zeitgeschichte? Ich würde es gerne auf das Konto Selbstdarstellung schreiben. Und da zeigt sich Wapnewski als mutig distanziert zu seinem Ich. Später verweist Wapnewski bescheiden darauf, was Peter Glotz über ihn zu sagen hatte (Wapnewski 2006, 140). Solcher Art Selbstdarstellung aus der Fremdperspektive wirkt vordergründig nicht als Selbstlob. Aber glaubt der versierte Schreiber das selbst? Es bleibt Selbstbespiegelung, zumal wenn die Darsteller eben diese bekannten Persönlichkeiten sind. Fast peinlich wird es, wenn Wapnewski auf den Tod von Benno Ohnesorg zu sprechen kommt (Wapnewski 2006, 58). Da wird das historische Ereignis skizziert, die Person Ohnesorg kommt namentlich nicht vor, stattdessen einverleibt in W.s Plural majestatis: „Er hatte zu uns gehört.“ Damit ist gemeint: Er hat an meinem Seminar teilgenommen. Im zweiten Band (2006) finden sich im separaten Register die 300 Namen von Personen der Zeitgeschichte, die mit dem Ich zu tun hatten, auch fotografische Schnapp-Schüsse mit bekannten Personen. Da ist dann fast ausnahmslos das getilgte Ich gezeigt. Ja, das ist ein Stilist von Gnaden - wie gesagt wurde. Wenn wir schon kein Phidias werden können, sollten wir doch Phidianer werden. Aus einem Brief Uwe Johnsons an Wapnewskis Mutter vom 1. März 1970 Ihr Sohn Peter hat uns gebeten, Ihnen einen Bericht über seine Führung zu geben [...]. Seine Schusseligkeit ist leider wenig abgenutzt und wird ihm im künftigen Leben noch so manches vermasseln. Stunden später begab er sich unter einem Vorwand in die Küche und [...] Man mag über seine Beherrschung der Tischsitten auch denken wie [...] Über den Rest seines Besuches in dieser Stadt wissen wir im Grund nichts, geben aber mit großem Vergnügen die nichtsnutzigen Gerüchte wieder [...] Danach soll er zwar seine Inspektion der mannbaren Töchter aus vermögenden Häusern [...] ... war er bemüht, bereits verheirateten Damen ein rechtes Verständnis seiner Gemütslage beizubringen. 11.3 | Aus der Kralle den Löwen Im Spiegel Dritter 173 <?page no="162"?> 162 Ziel Kritische Edition 12 Textkritik und Textbewertung Ich denke immer, wenn ich einen Druckfehler sehe, es sei etwas Neues erfunden. Goethe: Maximen und Reflexionen 12.1 Philologische Textkritik Die philologische Textkritik könnte ein Lehrstück sein (oder es werden) für die Texttheorie. Darum erstaunt es, dass sie in Textlinguistiken nicht vorkommt. Denn umgekehrt könnte Textlinguistik auch für die Textkritik interessant werden. In der Textkritik werden Fragen behandelt wie: Textzeugen und diverse Erscheinungsformen eines Textes Ein Text und seine unterschiedlichen Fassungen Der Zusammenhang von Fassungen und Texten Fassung oder Korrektur? Ziel der philologischen Textkritik ist die Herstellung einer kritischen Edition eines Textes, der Nachvollzug seiner Entstehung und der Verwandtschaft der Varianten. Die kritische Edition macht einen Text dynamisch, dokumentiert etwas von seiner Entstehung. Da wird schon deutlich, dass es auch um die Grenzen eines Textes und um seine Identität geht: Ist etwas ein eigener Text oder nur eine Variante? Ausgangspunkt der textkritischen Methode sind Textzeugen, physisch vorliegend Handschriftliches, Gedrucktes oder gar Gemeißeltes. Der Textzeuge kann ein Textexemplar sein, kann Teile eines Exemplars enthalten; ein Textexemplar kann zerschnitten über verschiedene Zeugen verteilt sein. Ein Textexemplar ist ein token oder besteht aus tokens. Der Text ist ein type. Gegenüber sehen Sie etwa den gleichen type in unterschiedlicher Erscheinungsform. Beides sind saubere Prachthandschriften. Es gibt aber signifikante Unterschiede. Nicht nur im Text, sondern schon auf den ersten Blick: Initialen sind unterschiedlich gestaltet, stilistisch anders ausgeschmückt, Initialen sind unterschiedlich in dem Text inkorporiert, der Textverlauf ist unterschiedlich. <?page no="163"?> 163 Will man wissen, was der Autor ursprünglich geschrieben hat, muss man als erstes die gemeinsame Vorlage (Archetypus) aller erhaltenen Handschriften rekonstruieren. Das ist meist schwierig, geht oft gar nicht. Vor allem auch, weil Abschreiber selbst zu Autoren wurden, so dass eine Art Gemeinschaftswerk entstand. So bleibt der Urtext oder Archetyp des Nibelungenliedes ein Postulat, er ist nicht rekonstruierbar, weil die drei ältesten Handschriften zu unterschiedliche Fassungen überliefern. Insgesamt ist die Lage komplex, weil es so viele Handschriften und Fragmente über mehrere Jahrhunderte gibt, die sich in Wortlaut und Sprache erheblich unterscheiden. Eine Voraussetzung für den Textvergleich ist für Handschriften eine allgemein lesbare und verarbeitbare Transkription. Auch dies erfordert philologische Fähigkeiten und ist fehleranfällig, wie Sie sich denken können. Sie kennen das vielleicht von eigenen handschriftlichen Aufzeichnungen. Handschriften Vergleich Verwandtschaften 12.1 | Philologische Textkritik <?page no="164"?> 164 Wie viel schwieriger wird es bei Fremdtexten. Hier ein Ausschnitt aus einem Manuskript von Schopenhauer. Wäre die Entschlüsselung unterhaltsam? Wie weit kämen Sie da? Das prinzipielle Problem ist die Umsetzung der zweidimensionalen Vorlage in einen linearen Text. Das lösen kritische Editionen mehr oder weniger gut über einen Apparat. Sie werden leicht erkennen, dass eine solche kritische Edition Leseaufwand mit sich bringt. Sie ist nicht für jeden Leser gedacht und fordert eher eine Rekonstruktion im Lesen. Hölderlin Kritische Edition Ich haße mich! es ist ein ekles (Herz)Ding Des Menschen Herz so kindischschwach, so stolz, So freundlich wie Tobias Hündlein ist, Und doch so hämisch(,i)(weg) wieder! weg! ich haße mich! So schwarmerisch wen es des Dichters Flame wärmt" 5 Und ([s])ha wen sich ein (gute(r)[s] Junge) Seite freundeloser Junge An uns(ern)re (Arm sich) schmiegt so(k)(stolz)stolz so kalt! S[]o from wen uns des Lebens Sturm De(n)n Naken beugt. 10 -------------- 6 vergeße -: StA vergezze - 7 u.: StA und 8 Knabenschritte(,)! : StA Knabenschritte(! ). duld[‘]: StA duld 18 trübe(n)m: StA trüben * Fortsetzung 22/ 4 in leichter Type www.hoelderlin.de auszug aus FHA 1 Gedichte 1784-1789 Textkritik und Textbewertung | 12 176 <?page no="165"?> 165 Schriftzeichen umsetzen Für ältere Handschriften können wir methodische Schritte gehen. Ich zeige das an der Handschrift A des Nibelungenliedes. Schritt 1: Dekodieren Man muss etwas wissen über die Verwendung diakritischer Zeichen und Ligaturen. Es gibt einen gewissen Usus, aber auch in den Fällen kann das Zeichen unterschiedlich verwendet sein. Eine Standardisierung gab es nicht. Diphthonge sind durch Superskript dargestellt, Umlaut vielleicht mal durch ein kleines Horn in froiden oder gar nicht? In lobebären dürfte ein Umlaut gehören, der in Transkriptionen durch eine Ligatur dargestellt wird, wenn das ä lang ist. Das wäre hier eine Konjektur. Der Überstrich scheint eine Auslassung zu kennzeichnen, nicht aber genau, was ausgelassen ist. Im Text hier meist ein -n, aber auch mal ein -d. (In anderen Handschriften ist es die Kürze des vorangehenden Vokals, die heute durch Doppelung des Folgekonsonanten bezeichnet wird.) Dann erkennen Sie einen Unterschied zwischen „n“ und „ü“? Der Schreiber vertraut auf Sprach- und Lesekunst der Rezipienten. Spektakulär etwa hier: „wunder hören sagen“ Schritt 2: Transkribieren Beim Transkribieren ist die Aufgabe die Umsetzung des Dekodierten in ein Alphabet, in ein anderes, ärmeres. Öfter werden dafür Transkriptionsregeln dokumentiert. Aber alles ist im ärmeren Alphabet nicht darstellbar. 12.1 | Philologische Textkritik <?page no="166"?> 166 Zwei Fassungen Aus der Korrektur könnte eine Variante werden, wenn sie als eigenes Exemplar realisiert ist, zum Beispiel neu - erst mal ohne weitere Korrekturen - geschrieben wird. Das gilt auch, wenn das neue Exemplar sich nur in Rechtschreibung (heutzutage alte oder neue) und Zeichensetzung unterscheidet. Wenn Varianten recht unterschiedlich sind, können sie in der kritischen Edition auch als selbständig realisiert sein. Meist wird die seltenere, die ältere Variante gewählt (lectio difficilior.) Varianten gibt es nicht nur bei verschiedenen Schreibern, sondern auch für einen Autor. Eine Fassung wird allgemein angesetzt, wenn der Autor seinen Text der Öffentlichkeit übergibt, wenn er etwa gedruckt wurde. Solange alles beim Autor bleibt, wird es im Normalfall nicht greifbar. Was in der kritischen Edition als eigenständig aufgenommen wird, richtet sich auch nach dem zugeschriebenen Wert des Werks und der Fassung, nach dem Aufwand der Herstellung. Dann spielt auch die Lesbarkeit ihre Rolle. Jüngere Handschrift d 1 (C 1) Es iſt in alteŋ / maªreŋ · wun= / ders vil geſagt · / von Helden lobñ= / werŋ · von groſ= / ſer arbait · voŋ / freªudeŋ · hochzeiteŋ · voŋ wai= / nen vnd von clagen · von kuªe= / ner Recken ſtreiten · muªgt jr / hie wunder horen ſageŋ: 2 (B 1) Es / / wuchs in Burgunden · Ein / vil edel Magedin · daz in allñ / lannden nicht ſchoªner mocht / geſin: Krÿmhilt gehaiſſen / ſy ward ein ſchoªn weib · dar= / umb můſten degen verlierŋ / den leib: Handschrift C 000011 (U2)<Uns ist> Inalten mæren wnd*er|s vil geseit 000012 von heleden lobebæren vo*n| grozer arebeit 000013 von frevde vñ hochgeciten von weinen vñ klagen 000014 von kvner recken striten mvget ir nv wnd*er| horen sagen 000021 Ez whs <inBvregonden> ein vil edel magedin 000022 daz in allen landen niht schon*er|s mohte sin 000023 Chriemhilt geheizen div wart ein schone wip 000024 dar vmbe mvsin degene vil v*er|liesen den lip Textkritik und Textbewertung | 12 Eingriffe 178 <?page no="167"?> 167 Hier sehen Sie im Vergleich drei Darstellungen eines Wittgenstein- Paragraphen aus einer Version der Philosophischen Untersuchungen. Links gut lesbar die gedruckte Version. In der Mitte zum rekonstruierenden und springenden Lesen die Apparat-Version und rechts eine integrierte Version, die beim Lesen direkt die Rekonstruktion verlangt. Eine aufwendige Version kann die synoptische Darstellung werden, auch eine, die das Original als Faksimile wiedergibt. Sie ist, was die Erscheinungsform betrifft, natürlich fast authentisch. Aber sie überlässt letztlich dem Leser die Dekodierarbeit und wird deshalb im Anschluss meist in kritischer Transkription ediert. Eines der Hauptziele der philologischen Textkritik war, den historischen Zusammenhang von Textexemplaren zu eruieren, um so im Idealfall zu einem Stemma, dem Stammbaum der Verwandtschaft zu kommen. Für das mittelalterliche Nibelungenlied hier ein Ausschnitt: Eine Tendenz zur binären Verzweigung scheint ein methodisches Artefakt? Darstellungsalternativen D e n k e n wir uns eine Sprache, für die die Beschreibung, wie Augustinus sie gegeben hat, stimmt: Die Sprache soll der Verständigung eines Bauenden A mit einem Gehilfen B dienen. Denken wir uns eine Sprache, für die die Darstellung, die Augustinus gegeben hat, stimmt: Sie soll der Verständigung eines Bauenden A mit seinem Gehilfen B dienen. Denken wir uns eine Sprache, für die die Darstellung zutrifft, die Augustinus gegeben hat |Darstellung zutrifft, wie sie Augustinus gegeben hat zutrifft|stimmt : Sie soll der Verständigung eines Bauenden A mit einem Gehilfen B dienen. 3-4 Darstellung, wie sie Augustinus gegeben hat, zutrifft stimmt 12.1 | Philologische Textkritik A (Hohenems München) *Archetypus Hyperarchetyp St. Gallen ADb* s D (München) 179 <?page no="168"?> 168 Für die Rekonstruktion von Abstammungsverhältnissen werden die Textzeugen chronologisch sortiert - wenn möglich - und dann Wort für Wort, Satz für Satz miteinander verglichen. So erkennt man den historischen Zusammenhang. Für den systematischen Zusammenhang, für die Verwandtschaft von Fassungen und Varianten stützt man sich besonders auf Fehler in den Textexemplaren: Gleicher Fehler in zwei Exemplaren wird als Indiz ihrer Verwandtschaft genommen. Diese Redeweise selbst ist methodisch ein Fehler, weil man ja den Text noch gar nicht hat, also für Abweichungen oder Fehler keine Basis. Genereller wäre die Aufgabe, Texte oder Textfassungen zu vergleichen und Ähnlichkeiten zu ermitteln, ihren systematischen Zusammenhang. Beim Textvergleich wäre zu eruieren, welche Segmente zwei Exemplaren gemeinsam sind und in welchen sie differieren. Damit nicht genug: Man muss auch Permutationen und Umplazierungen in Betracht ziehen. In jedem Fall war die Hand-Auge-Kopf-Methode äußerst komplex; die philologischen Kopfwerker sind zu bewundern. Heutzutage kann man schon mal phantasieren, wie das mit dem Computer schneller und verlässlicher ginge. Solche elektronischen Verfahren setzen aber eine Normalisierung der zu vergleichenden Fassungen oder Texte voraus und wäre in diesem Sinn nicht authentisch. Ein einfaches Verfahren wäre der Vergleich der Vokabularien und der Frequenz von Textwörtern. Anspruchsvoller wäre schon der Vergleich von n-Grammen. Der Einfachheit halber demonstriere ich das hier mit zwei Editionen. Textverwandtschaft Textkritik und Textbewertung | 12 bette_stat_des_wirt bettestat_des_wirt_noch Lm bî_mir_læge_wesse Lm bî_mir_lege_wesses da_mugent_ir_vinden dâ_mugent_ir_vinden Lm dac_ich_bin_selig daz_ich_bin_sælic Lm Dô_hat_er_gemachet Dô_hete_er_gemachet Lm er_mit_mir_pflæge Lm er_mit_mir_pflege got_so_schamt_ich got_so_schamte_ich Lm kuste_mich_wol_tûsent kuster_mich_wol_tûsentstunt Lm riche_von_bluomen_ein riche_von_bluomen_eine Lm tûsent_stunt_tandaradei_seht tûsentstunt_tandaradei_seht_wie Lm Vergleich in n-Grammen 178 <?page no="169"?> 169 Hier sind ausschnittweise tetra-Gramme vorgeführt aus dem berühmten Gedicht Walthers von der Vogelweide: Under der linden. Das Gedicht ist ediert nach der Originalhandschrift (Manesse) und nach der gleichen Vorlage vom Altmeister der Editionstechnik Karl Lachmann (Lm). Ich zeige nur einige tetra-Gramme. Schon das erste lässt zweifeln: Wurde unterschiedlich gelesen oder zeigt eines einen Eingriff? Beim zweiten Pärchen dürfte die Dekodierung mitspielen. Bei der Umlaut-Ligatur hat Lachmann gewiss verdeutlichen wollen. Der Unterschied im vorletzten Pärchen hat zu tun mit Lachmanns Version im ersten Pärchen. Es scheint, dass im Mittelhochdeutschen stat nicht femininum war? Oder wie war bete stat zu verstehen? Solcher Art Fragen müssen den Editor umtreiben. Bei Lachmanns kuster vs. Manesse kuste bräuchte man vielleicht die Lupe, um zu sehen, ob an dem e noch was dran war. Ein Horn oder was? Die Textkritik kann uns viel zum Umgang mit Texten lehren. Ihr oberstes Gebot ist die Texttreue: Der Autortext und nichts als der Autortext. Zur philologischen Ethik gehört: Alle Eingriffe müssen dokumentiert werden. Ein Mischtext aus verschiedenen Fassungen gehört sich nicht. Dies sind Errungenschaften, die über Jahrzehnte etabliert wurden. In der Praxis ergeben sich aber viele Probleme. Der Editor ist ein Mittler zwischen Textzeugen oder Autor und dem Leseradressaten. Editoren haben es öfter mit verderbten Stellen zu tun, in Handschriften Radierungen, Schabungen oder Verletzungen. Da geben viele Editoren Konjekturen und weisen sie aus. Dann gibt es offenkundige Schreibfehler (nud statt und). Verbessert man sie? Persönliche Kürzel. Löst man sie auf? Die simple Geheimschrift in Wittgensteins Tagebüchern. Dekodiert man sie? Publiziert man sie überhaupt? Als Kenner kann der Editor bei verderbten Stellen Konjekturen anbringen, die er natürlich kennzeichnen muss. Dem Leser könnte eine Konjektur lieber sein als eine xxx-Stelle. Eine Idee der Rechtfertigung solcher Eingriffe ist das Konstrukt des Autorwillens. Ist das so etwas wie die Intention des Autors? Darauf stützen sich verlässliche Editoren nicht. Für sie zählt nur der Text, und in diesem Fall der Text so, wie ihn der Autor aus der Hand gegeben hat. Selbst wenn er Änderungen durch fremde Hände zulässt, ist das sein letzter Wille. Ethos 12.1 | Philologische Textkritik Editorenrolle 179 <?page no="170"?> 170 12.2 Kritische Texte Kritische Texte sind Texte, deren Ziel und Aufgabe es ist zu bewerten, insbesondere zu kritisieren. Mit kritischen Texten wird nicht nur kritisiert, sie sind auch selbst kritisierbar. Kritische Texte gehören vor allem zu den Textsorten: Anzeige, Beurteilung, Buchbesprechung, Erörterung, Fernsehkritik, Filmkritik, Gutachten, Kommentar, Konzertkritik, Lobrede, Rezension, Theaterkritik, Verhörprotokoll, Zeugnis Im Zentrum steht der Sprechakt des Bewertens. Für ein begründetes Bewerten ist wichtig, in welchen Bereich das zu Bewertende gehört, der Bezug, in dem bewertet wird (etwa X ist Y in Bezug auf Genauigkeit), und der begründete Standard, nach dem bewertet wird. Gegenstand der Bewertung kann in kritischen Textsorten alles Mögliche sein. Hier wird es um die Bewertung von Texten gehen. Bewerten Aktstruktur Bewerten Bereich Bezug Standard Kohärenz Konsistenz Logik Normgerechtheit Komplexität Aktualität Originalität Gliederung Variation Redundanz Vollständigkeit Genauigkeit Explizitheit Anschaulichkeit Bezüge der Textbewertung Textkritik und Textbewertung | 12 181 <?page no="171"?> 171 Nun konzentriere ich mich exemplarisch auf Rezensionen und Gutachten. In Rezensionen bei Amazon ziehen manche ganz schön vom Leder. Das taugt gut, um vorzuführen, wo es nur um Geschmacksurteile geht und wo doch eine argumentierende Bewertung vorliegt. Was ist der Zweck einer solchen Rezension? Man weiß nicht genau. Empfehlung? Lust sich zu äußern? Andere informieren? Die Rezension bringt einige Geschmacksurteile, über die man schwer argumentieren kann, etwa dass Albion unbefriedigt war. Ähnliches gilt für die Aussage, dass er robuster Dauerfan ist. Das könnte natürlich seine kritischen Äußerungen verstärken und glaubwürdiger machen. Manche seiner Kritikpunkte könnte der Rezensent durchaus begründen, das geht wohl aus Platzgründen nicht. Ich könnte auch fragen: Hat er die Gattung nicht verstanden? Wenn man am Anfang eine globale Wertung über einen Text abgibt wie „Dieser Text ist gut“, dann sollte man dies mit Details und deren Bewertung begründen. Wenn man am Ende eine Bewertung wie „Dieser Text ist schlecht“, abgibt, dann sollte dies ein Fazit aus Einzelheiten sein, die man vorher einzeln bewertet hat. In jedem Fall sind globale Urteile riskant und zu begründen. Rezension gelungen? Die Lektüre von „Grimms Wörter“ hat mich doch etwas unbefriedigt zurückgelassen. Die Geschichte der Gebrüder Grimm und ihres Wörterbuchs gerät im Verlauf des Buchs immer mehr zugunsten der ewig gleichen Selbstdarstellung von GG aus dem Blick; ein weiteres Mal entfaltet er chronologisch die Geschichte seines beständigen Rechthabens/ Rechtgehabthabens [...] Wäre das nicht zum allergrößten Teil literarisch ausgezeichnet gelungen (und bibliophil höchst ansprechend dargeboten), man würde sehr rasch die Lust an der Lektüre verlieren; das gilt m. E. selbst für hartnäckige und robuste Dauerfans von Grass, zu denen ich mich durchaus zählen würde. Besonders amüsant ist dabei eine Episode, in der Grass ein Treffen zwischen Schriftstellern aus Ost- und Westdeutschland schildert und im Zuge dessen auf seine umfangreiche Stasiakte zu sprechen kommt, in der er unter dem charmanten Decknamen „Bolzen“ geführt wird. Das ist meine ich ein recht zutreffender Name. Albion Friedlos 12.2 | Kritische Texte Geschmacksurteile 180 <?page no="172"?> 172 Für eine gewisse Verallgemeinerung habe ich einige Amazon- Rezensionen analysiert. Die beispielhaften Wertungen sind geordnet nach der Art des wertenden Urteils und dem textuellen Aspekt, unter dem bewertet wird. Hier werden allerdings nicht literarische Texte, sondern linguistische Texte für studentische Lerner (und weitgehend von Studenten) bewertet. Bewertung didaktischer Bücher Geschmacksurteile Mit dem Buch hat xxx eine hervorragende Einführung in die Textlinguistik vorgelegt Allerdings fehlen mir kurze und knackige Definitionen für wichtige Fachwörter Am Ende weiß man nicht so recht, worauf der Autor eigentlich hinauswollte Nur loses Dahergeplänkel des Autors - ein richtiges Aha-Erlebnis fehlt Das habe ich so noch nicht gesehen und ist für mich ein kleines Highlight Die ausgewählten Wörter sind uninteressant und die Beschreibungen flappsig Eine nette Einführung mit vielen wichtigen Grundinformationen Es bleibt bei einer nichtssagenden Nebenbemerkung über die Rechtschreibreform Ich und meine Kursteilnehmer sind mit dem Buch sehr zufrieden Sehr, sehr ärgerlich, ich wollte kein Spaß-Buch Sicher nicht einfach zu lesen, aber definitiv empfehlenswert Zu oft kritelt er ein wenig an einem dargestellten Ansatz herum Insgesamt enttäuschend Ich vergebe ___ Sterne Begründbare Bewertungen Hunderterlei wird kurz angetippt, von ... bis ..., die sich weit vom Thema entfernen Wobei die praktische Anwendung doch sehr auf den Lernenden zugeschnitten ist Allerdings sind ganz viele Antworten im Lösungsheft falsch Das sehr umfangreiche Literaturverzeichnis und ein ausreichendes Register runden den Band in dieser Hinsicht ab Der Inhalt ist verständlich geschrieben, wobei die Thematik an sich ja schon schwierig genug ist Es gibt ständig Problematisierungen von Gegenständen, die als solche überhaupt noch nicht eingeführt sind, sodas die Darstellung ebenso abstrakt wie banal bleibt Es ist wirklich schade, dass es so viele Fehler in den Buch gibt Das Buch ist für Seminare oder Vorlesungen von Nutzen, auch zur Vorbereitung von Hausarbeiten und Prüfungen, sowohl im Grundals auch im Hauptstudium Hierzu werden übersichtliche Informationen geboten und alle wesentlichen Aspekte benannt, die es dabei zu beachten gilt Ich fand die gewählte Sprache zudem kompliziert und mit einer Vorliebe für Fremdwörter und technische Begriffe, die das lesen nicht leicht machen Kein einziger Text wird mit den Verfahren der Textlinguistik gründlicher analysiert Textkritik und Textbewertung | 12 181 <?page no="173"?> 173 Alles, was Sie hier plausibel finden, können Sie für eigene Urteile nützen und Sie können es im eigenen Schreiben beherzigen. Sie können auch kritisch damit umgehen. Nicht nur kleine Rechtschreibfehler, sondern besonders, wie einzelnen Bewertungen begründet werden könnten und welche Sie wie begründen würden. Im nächsten Schritt behandeln wir Gutachten, die sich mit der Qualität von Texten befassen. Rezensionen und Gutachten sind verwandt. Allerdings sollten Gutachten keine Geschmacksurteile enthalten. (Tun sie es nicht oft? ) Textbewertende Aussagen Form und Präsentation An den Seitenrändern finden sich Schlagworte und das Buch ist von Graphiken und Tabellen durchzogen Anfangs werden wichtige Begriffe wie Text oder Textualität genauer definiert und vorgestellt Besonders dankbar werden Studenten für die einzelnen Illustrationen, tabellarischen oder graphischen Darstellungen sein Dank des übersichtlichen didaktischen Aufbaus findet sich der Leser schnell zurecht Das Buch ist außerdem in (fehlerhafter) Reformorthographie geschrieben Das Buch ist gut und handlich Das Schriftbild (das gehört für mich mit zu einem guten Buch) ist angenehm zu lesen Der Rand ist grau eingefärbt und mit den wichtigsten Schlagwörtern zu jedem Thema versehen Wichtige Informationen werden durch einen Kasten hervorgehoben, was dem Leser eine bessere Orientierung und Fokussierung erlaubt Wissenswerte Aspekte, vor allem im Hinblick auf Prüfungen, werden durch hervorgehobene Abschnitte präzise verdeutlicht Zahlreiche Literaturangaben liefern weiterführende Informationen zum jeweiligen Thema Zudem sind sehr gute Informationskästchen beigefügt worden Am Ende ist zudem ein Glossar untergebracht Aufbau und Gliederung Aufbau: Zunächst zum formalen Aufbau des Buches ... Der Aufbau ist sehr übersichtlich gehalten Der Aufbau des Buches scheint wohl durchdacht zu sein Das Werk ist logisch in die großen Teile Wort-, Satz- und Textstrukturen gegliedert Inhalt: Struktur: Zielgruppe: Fazit: Fazit: Ein für alle Studenten aber auch Dozenten empfehlenswertes Buch Am Ende eines jeden Kapitels finden sich ein Fazit und die Möglichkeit der Vertiefung durch Aufgaben 12.2 | Kritische Texte <?page no="174"?> 174 Hier sehen Sie übliche bewertende Aussagen aus Textgutachten. Geschmacksurteile bleiben außen vor. Sie können an den Beispielen sehen, was Sie selbst an Wertung erwarten könnte. Insofern mag dies lehrreich sein. Aber bedenken Sie: Nicht alle Korrektoren bewerten gleich. Nicht alles, was ein Korrektor sagt, ist allgemein sakrosankt. Wertende Gutachten Begründbare Bewertungen Das Thema wird in seiner Komplexität vollständig erfasst, wie aus der gut strukturierten Gliederung herauszulesen ist. Die Arbeiten sind durchweg korrekt und konsistent zitiert. Die Regeln der Rechtschreibung, Grammatik und Interpunktion sind bis auf wenige Ausnahmen, welche den Lesefluss aber nicht unterbrechen, eingehalten worden. Die vollständigen Ergebnisse sind sehr übersichtlich im Anhang dargestellt worden. Hier bekommt man den Eindruck, dass alle präsentierten Ergebnisse nicht zielführend sind. Kritikwürdig ist zum Teil die Tiefe der Gliederung. Themenbearbeitung: Die inhaltliche Umsetzung der zuvor gezeichneten Thematik und der Gliederung ist gut gelungen. Merkwürdig erscheint auch, dass hier mehr Länder zu finden sind als in einem einzelnem Jahr (siehe Anhang 3). Weiterhin wurde die Arbeit in einem angemessenen sprachlichen Stil verfasst. Ferner fehlt eine Aussage über die Güte dieser Methode. Hier fehlen Aussagen zur Genauigkeit beider Schätzungen und ihrer Aussagekraft. Die Argumentation innerhalb der Arbeit ist zumeist logisch und konsistent. Die Dissertation ist sehr umfangreich. Ein großes Manko aller drei Kapitel ist, dass ... Insgesamt gesehen stellt die Arbeit eine selbständige wissenschaftliche Arbeit dar Kapitel ist überraschend kurz. Kapitel 2 und 3 sind allerdings ausgezeichnet. Stilistisch ist die Arbeit auf einem hervorragenden Niveau. Es wird zu keiner Zeit klar, welche 43 Länder ausgewählt wurden. Ich empfehle die Annahme dieser Arbeit als gültige Promotionsleistung ohne Auflagen ... Aufbau und Gliederung Deckblatt und alle Verzeichnisse entsprechen den gestellten Anforderungen. Den weitaus größten Teil der Arbeit nimmt das Kapitel über ... ein. Der Umfang der Bachelorarbeit beträgt 74 Seiten inkl. Etwas unklar sind die Formulierungen im xxx-Abschnitt (Seite 00). Alle erforderlichen Verzeichnisse (Inhalts- und Quellenverzeichnis, Abkürzungs-, Abbildungs-, Tabellen- und Anhangsverzeichnis) sind vollständig in die Arbeit integriert worden. Textkritik und Textbewertung | 12 <?page no="175"?> 175 12.3 Textverständlicheit und Informativität Textverständlichkeit handelt von der Bewertung von Texten in Bezug auf Verständlichkeit. Dies hat zwei Seiten: Taugliche Merkmale von Texten Außenkriterium oder Maßstab der Verständlichkeit Als taugliche Merkmale sind zwei Sorten zu unterscheiden: Am Text objektiv feststellbare Merkmale, möglichst auch zählbare Eher subjektive, die Rater - auch trainierte Rater - ermitteln Beim Außenkriterium muss man ähnlich vorgehen wie bei Intelligenztests. Das Konstrukt Verständlichkeit muss in Zusammenhang gebracht werden mit Kriterien, die eher indirekt mit Texten zu tun haben. Manche Tests nutzen zum Beispiel schulische Bildung in Stufen, so als seien in der gleichen Schulstufe die Lesekompetenzen gleich verteilt. Üblicher ist die Lesezeit als Kriterium. Sie kann in Probandengruppen empirisch erhoben werden. Je langsamer gelesen, umso schwieriger für den Leser. Das ist selbstverständlich diskutabel. Am üblichsten scheint allerdings die Festlegung von Verständlichkeitsmaßen, wie etwa: Lange Sätze sind schwerer zu verstehen als kurze. Da kann man dann gut zählen: Langer Satz = Anzahl der Wörter im Satz. Dabei allerdings vorausgesetzt, dass die Ermittlung von Wörtern mittels blanks und von Sätzen mittels Satzzeichen möglich sei. Dass das problematisch ist, will ich hier nicht erörtern. Linguisten (und auch Verständlichkeitsforscher) haben argumentiert, dass viele kurze Sätze aufgrund ihrer Kompaktheit gerade schwer verständlich sind. Eine andere Art der Festlegung bewertet das Vokabular, hier etwa Wortlänge (in Buchstaben), Registerzugehörigkeit, Frequenz, Wortart. Sie alle würden natürlich ein echtes Außenkriterium erfordern. Sie sind ja nichts Anderes als Texteigenschaften. Auf alte Stiltraditionen baut die Betrachtung der Textverständlichkeit in vier Dimensionen, wie es heißt: All diese Ansätze leiden daran, dass sie sich nur auf den Text konzentrieren, der Verstehende bleibt außen vor. Aber natürlich wissen wir, dass Menschen unterschiedlich gut lesen, unterschiedliche Sprachkompetenz besitzen und unterschiedliches Vorwissen. In diesem Sinn kann man nicht alle über einen Kamm scheren. Kriterien der Verständlichkeit 12.3 | Textverständlichkeit und Informativität Einfach Wohlgegliedert Kurz und prägnant Anregend 183 <?page no="176"?> 176 In Israel gibt es eine Stadt, die heißt Nazaret. Dort lebt eine junge Frau. Sie heißt Maria. Maria hat einen Freund. Der heißt Josef. Josef ist Zimmer-Mann. Er baut Häuser und Dinge aus Holz. Eines Tages wird es sehr hell in Marias Zimmer. Da steht ein Engel vor ihr. Der Engel heißt Gabriel. Engel Gabriel sagt: Maria, du bekommst bald ein Kind. Das Kind soll Jesus heißen. Jesus bedeutet Retter. Jesus wird die Menschen retten. In der Zeit von Josef und Maria gibt es einen Kaiser. Der Kaiser heißt Augustus. Kaiser Augustus herrscht über viele Länder. Er herrscht auch über das Land Israel. Er bestimmt über die Menschen. Augustus sagt: Ich will wissen, wie viele Menschen in meinen Ländern leben. Darum befehle ich: Alle Menschen sollen gezählt werden. Das hört auch Josef. Er redet mit Maria: Ich bin in der Stadt Bethlehem geboren. Wir müssen dort hin gehen. Aber Bethlehem ist sehr weit weg. Wie soll das gehen? Das Baby kommt doch bald! Maria sagt: Wir müssen tun, was Augustus sagt. Das Kind ist von Gott. Gott wird uns beschützen. Hier möchte ich mich mit dem Projekt „Leichte Sprache“ befassen, das zum Ziel hat, Behinderten (die aber so nicht heißen sollen) den Zugang zu öffentlichen Informationen zu erleichtern, indem man ihnen Texte in verständlicherer Form bietet (Linz 2013). Ein Stück aus dem Lukasevangelium schaut dann so aus. Sie erkennen es noch? Weihnachts- Geschichte Warum alles im Präsens? Wie kommt man auf Freund? Es ist ihr Mann! Denn sie ist sein Weib. Wozu die Erklärung? Genitiv sei verpönt. Und dann gleich zwei? Ginge etwas kürzer. Langer Satz + Subordination Baby: Frequenzrang > 5000 Dazu noch englisch Gut lesbar? Variation? Braucht es so viel falsche Rechtschreibung? Leichte Sprache Textkritik und Textbewertung | 12 183 <?page no="177"?> 177 Ein bisschen milder könnte man den Text so variieren: Hier ist einiges für das Textverstehen Redundante entfernt. Manches wurde weiter vereinfacht. Insbesondere wurde das seltene Baby ersetzt durch das hochfrequente und stilistisch bessere Kind. Und dennoch wird es kein Meisterwerk: Der Charakter des biblischen Texts ist verloren. Das Altertümliche ist weg. Die religiöse Funktion des Texts ist entschwunden. In der Fortsetzung verfahren die Autoren auch vorsichtiger. Sie erhalten typische - wenngleich - schwierige Sätze: Euch ist heute der Heiland geboren! Ehre sei Gott in der Höhe und Friede auf Erden. Das scheint ein gutes Prinzip. Besser! Schon gut? Diese Geschichte spielt vor über 2000 Jahren. In Israel, in der Stadt Nazaret lebt eine junge Frau. Sie heißt Maria. Ihr Mann heißt Josef. Eines Tages wird es ganz hell bei Maria. Da steht der Engel Gabriel vor ihr. Gabriel sagt: Maria, du bekommst bald ein Kind. Das Kind soll Jesus heißen. Jesus bedeutet Retter. Jesus wird die Menschen retten. In der Zeit gab es den Kaiser Augustus. Augustus herrscht über Israel. Augustus fragt: Wie viele Menschen leben in meinen Ländern? Ich befehle: Zählt alle Menschen! Jeder muss in seinen Geburtsort. Josef sagt zu Maria: Ich bin in der Stadt Bethlehem geboren. Wir müssen dorthin gehen. Aber Bethlehem ist weit weg. Wie soll das gehen? Das Kind kommt doch bald! Maria sagt: Das Kind ist von Gott. Gott wird uns beschützen. Erste Kritik 12.3 | Textverständlichkeit und Informativität Anapher dort getilgt Alinea besser lesbar? Direkte Rede! Genitiv weg Kürzer Hochfrequentes Präteritum Redundanz weg Redundanz weg Fehlte <?page no="178"?> 178 Wir können uns die Entstehung des Projekts „Leichte Sprache“ so vorstellen: Man erkennt und weiß, dass viele Menschen Probleme haben, Texte zu verstehen. Man möchte die Situation verbessern. Aber wie? Man informiert sich über Konzepte der Textverständlichkeit. Man gewinnt daraus Regeln, die man anwenden will. Man wendet die Regeln an und gewinnt verständliche Texte. Die textuellen Kriterien dafür sind bekannt aus der Verständlichkeitsforschung. Entsprechend befolgen Leichtsprachler Regeln: Kurze Sätze Kurze Wörter, Komposita mit Bindestrich gespaltet Keine seltenen Wörter. Bevorzugt frequente Wörter Bevorzugt Verben statt Nomen Keine Fremdwörter, keine Fachwörter Möglichst keine Hypotaxe, keine Konjunktive, kein Passiv Möglichst keine Idiome und Metaphern Keine größeren Zahlen Eine Stärke des Verfahrens kann man darin sehen, dass die Texte Probanden zur Beurteilung vorgelegt werden. Allerdings weiß man nicht, wie. Verschiedene Alternativen? Wie vielen Probanden? Alles in allem scheint das Verfahren doch sehr subjektiv und eher abhängig von der Kompetenz der Lightsprachler als der der Rezipienten. Ein Detailvergleich Lukasevangelium vs. Lightversion ist erhellend. Der Leichte Text ist um Einiges länger. Das mag mit größerer Explizitheit zu tun zu haben, braucht allein schon dadurch mehr Lesezeit. Die vielen Doppelpunkte haben mit den wenigen Kommas zu tun. Manche Passagen werden in direkte Rede gebracht, Kommas markieren lightsprachlich keine Sätze, sie sind durch Punkte zu ersetzen. Insbesondere scheinen die Leichttexte oft die Textsorte wie den Stil zu verfehlen. Diese Weihnachtsgeschichte dürfte Sie und mich doch eher zum Lachen bringen. Was geht verloren. Was wäre eigentlich rüberzubringen? Das Religiöse? Das Archaische? Das Liturgische? Textwörter: 380 zu 480 Types: 179 zu 209 Kommas: 32 zu 6 Punkte: 17 zu 69 Semikolon: 4 zu 0 Doppelpunkt: 0 zu 12 Regeln für Leichte Sprache Textkritik und Textbewertung | 12 Vergleich 184 <?page no="179"?> 179 Nicht so geschickt Im Detail erkennen wir diverse Probleme: Welche Regeln wählt man, welche nicht? Konfligieren die Regeln öfter? Was dann? Sind die Leichtsprachler fähig, die Regeln immer zu befolgen? Leider muss man sagen: Leichtsprachler zeichnen sich aus durch sture Anwendung ihrer Regeln. Die Auflösung von Komposita durch Bindestriche scheinen sie um jeden Preis einzuhalten (wenngleich sie per se schon problematisch ist). Wenn man trennt Weihnachts-Mann, schafft man ein nichtexistentes Wort. Dazu noch etwas, was wie der verpönte Genitiv aussieht. Das gilt für alle Komposita mit Fugen-s. Hinzu kommt eine Annahme über das Lesen, die wohl nicht so ganz der rezenten Forschung entspricht. Wir lesen in Wortbildern. Drum ist wohl Weihnachtsmann leichter lesbar als Weihnachts-Mann. Allerdings eine empirische Frage. Die strikte Vermeidung des Präteritums, wie wird sie begründet? Die Vertrautheit mit frequenten Präteritumformen scheint mir keine Frage (wohlgemerkt als Lesenicht als Sprachproblem). Formen wie war, wurde oder konnte sind hochfrequent, sogar würde und sollte kommen noch unter Rang 200. Weit frequenter als Unterkunft (Rang > 7000) zum Beispiel. Oder gar Ziegen (Rang > 18000) und Schafe (Rang > 8000). Kritikwürdiger erscheinen ideologische Grundlagen und Äußerungen der Leichtsprechler. Unnötige Verbreitung von Vorurteilen: Texte aus der Wissenschaft oder Fachvorträge sind kompliziert und langatmig. Leichte Sprache können alle besser verstehen. Und natürlich die Grundideologie, man könne Texte übersetzreformuliertransformieren und den Inhalt erhalten. Jeder komplexe Sachverhalt kann einfach ausgedrückt werden. Der Inhalt wird kompliziert durch schwerverständliche Ausdrucksweise. Ja, warum machen wir‘s uns so schwer? Für Sie und für mich ist die Geschichte in leichter Form einfach lächerlich. Vielleicht stimmt die Behauptung, alle Menschen verstehen leichte Sprache besser. Aber was verstehen sie? Eben ein anderes Was. Und wer leichte Sprache braucht, versteht sie wohl nicht, wie ich diese Texte verstehe. Leider. Schwierige Gedanken gehören einfach abgeschafft. 12.3 | Textverständlichkeit und Informativität <?page no="180"?> 180 13 Literarische Texte Ich interessiere mich nicht für die sogenannte Wirklichkeit, wenn ich schreibe. Sie stört mich. Wenn ich schreibe, interessiere ich mich nur für die Sprache … Peter Handke 13.1 ficta et facta Was ein literarischer Text sein soll, ist naturgemäß alles Andere als klar. Literarische Texte sind eigentlich Gegenstand der Literaturwissenschaft. Von Beginn an legten Textlinguisten fest, dass ihr Gegenstand Gebrauchstexte seien. Gründe dafür mögen gewesen sein: Man hatte hier ein eigenes, ein anscheinend unbeackertes Feld. Man überließ den Literarhistorikern ihre Spielwiese. Nicht selten möchte man einer Definition des literarischen Texts näherkommen in der Gegenüberstellung zu Gebrauchstexten, für deren Definition es in Wikipedia einen hyperkurzen Eintrag gibt, der ebenso wenig hergibt und vor allem den üblichen Gebrauch von Gebrauchstext einzuschränken versucht: Gebrauchstexte dienten weitgehend dazu, einen Sachverhalt zu verdeutlichen oder stünden in einem unmittelbaren Zusammenhang mit einem kommerziellen Zweck. Und dann: „Im Gegensatz zu literarischen Texten wird bei einem Gebrauchstext oft die Gestaltung und Wortwahl zugunsten einer eindeutigen und klaren Darstellung des Inhalts vereinfacht.“ Ja, wenn es dann so schön einfach wäre. In der Gegenüberstellung von Gebrauchstext und literarischem Text sollte man nicht vergessen, dass auch literarische Texte ihren Gebrauch haben (so gibt es auch Gebrauchslyrik wie Kirchenlieder, Albumsprüche, Gebete), und mit der Annahme, Gebrauchstexte seien für den Alltag gedacht, fürs normale Leben sozusagen, sollte man sich nicht verirren im Dickicht von Alltagsdefinitionen, wo doch viele von uns auch im Alltag literarische Texte lesen. Hier eine kommentierte Zusammenstellung eines anderen Kontrastierungsversuchs. Er geht weniger von einer angesetzten Funktion aus als von einem semantischen Unterschied. <?page no="181"?> 181 Was wären Sachtexte? Ein besseres Kriterium für literarische Texte scheint Fiktionalität. Auch in ihrem Schlepptau eine Reihe von Hotwords wie wirklich, real, Realität, tatsächlich und auf der anderen Seite fingiert, verisimile, Imagination, Illusion, bis hin zu Lüge. Ich möchte mich nicht verwickeln in logische Fragen unterschiedlicher Existenzweisen, auch nicht in ontologisierende Postulate inflationärer Welten, weder in Ikeawelt noch in Weinwelt. Vielleicht genügt der verbreitete Konsens, mit literarischen Texten werde kein Wahrheitsanspruch erhoben: „But the poet [...] never affirmeth“ (Sir Sidney Philip). Halten wir uns auch an Frege und sehen in fiktionalen Texten: „ ... das Setzen eines Falles, ohne über sein Eintreten zu urteilen“. Der literarische Autor gibt etwas vor, er tut so als ob ... Alle Akte, die er ausführt, sind als-ob-Akte, alles Gesagte ist ein Als-ob, im langen irrealen Konjunktiv II, der impliziert, dass es so nicht ist. Ein solcher Autor führt aus, wie es wäre, wenn es anders wäre. Er stärkt unseren Möglichkeitssinn, von dem Robert Musil gesprochen hat. Literarische Texte entwerfen fiktionale Welten, bilden eine eigene Welt. Eine angenehm offene Metaphorik. Jeder Text = eine Welt? Sollte eine Welt nicht ein bisschen größer sein? Ein Gedicht = eine Welt? Sie sind Alternativmodelle zur Entweder Welt oder nur Modell. Fiktionale Texte stellen eine eigene Wirklichkeit dar. Diese Wirklichkeit existiert nur im Text. Wie könnte man sie darstellen, wenn es sie nicht gibt? Wie kann die Wirklichkeit im Text sein? Eine Übereinstimmung zwischen der im Text geschilderten Wirklichkeit mit der Wirklichkeit außerhalb des Textes ist also nicht erforderlich. Und was ist die Wirklichkeit außerhalb? Ein Kategorienfehler? Und wieder: Kann man eine Welt schildern? Gar eine nicht wirkliche? Typisch ist systematische Unbestimmtheit und Mehrdeutigkeit. Mit einem mehrdeutigen Text eine Wirklichkeit? Sachtexte stellen keine eigene Wirklichkeit dar, sondern beziehen sich auf die Wirklichkeit außerhalb des Texts. Übereinstimmung mit der äußeren Wirklichkeit ist Definiens. Wie könnte ein Text übereinstimmen mit der Wirklichkeit? Ein weiterer Kategorienfehler. Sachtexte sollen einen eindeutigen Sinn an den Leser herantragen. Sollten fiktionale Texte das nicht? Was heißt hier eindeutig? Gibt es mehrdeutige Sinne? Sachtexte dienen in erster Linie dem Informationsbedürfnis. Und in zweiter Linie? Was gibt es alles zwischen Sachtext und fiktionalem Text? Witze! Alle unterhaltenden Texte? Lit.text vs. Sachtext 13.1 | ficta et facta 186 <?page no="182"?> 182 Einen Text als fiktional zu verstehen besteht darin, eine große Klammer um den ganzen Text zu machen, die kennzeichnet, dass das Ganze fiktiv ist. Innerhalb der Klammer ist alles Übliche möglich und auch das Unübliche bis hin zum Phantastischen und Unmöglichen. Doch all das mit fingierendem f-Operator versehen: f-Referieren, f-Prädizieren, f-Behaupten, f-Darstellen, f-Beschreiben, f-Schildern, f-Gegenstände. Wer den Operator weglässt, endet in einem Kategorienfehler wie Textlinguisten, die davon sprechen, der Autor schildere oder beschreibe etwas, wo es sich quasi nur um Quasi-Akte handelt. Der Autor schafft die Ficta, indem er sie beschreibt. Er ist ein bisschen wie Gott, der die Welt mit Performativen geschaffen hat. Die Klammer aber ist in der Welt des Rezipienten. Die beiden Sphären mögen verwoben sein. Die Arten der Übertritte werden interessant. Der Leser bleibt hier, taucht aber ein in Ficta. In ihm mögen beide verschmelzen. Ihm gelingt nicht immer und vollständig, beides auseinanderzuhalten - und es soll auch nicht auseinandergehalten werden. Im Gruselfilm soll man sich ruhig etwas gruseln und Gewaltdarstellungen mögen zum Schema realer Gewalt übertreten. Ja, auch alles in der Klammer ist eng mit der Facta-Welt verbunden. Und kann darum auch in sie übergehen. Die f-Indikative mögen auf der Klippe zu Indikativen stehen. Alles ist weitgehend in unserer Sprache formuliert oder wenigstens von ihr abgeleitet. Denn ohne Sprache kein Verständnis. Nicht nur der Rezipient braucht den Übertritt, in literarischen Texten kann der schon inszeniert sein. So wenn der Erzähler zugleich Romanfigur wird. Und dann: Der Erzähler ist im Roman, der Autor versteckt, aber erkannt außerhalb. Die Suspension des Wahrheitsanspruchs oder des Anspruchs auf Glaubwürdigkeit ist nichts Unvertrautes. Wahrheit ist auch in anderen Kommunikationsarten suspendiert (obwohl das öfter in der Schwebe bleibt). Dazu gehört Kommunikation in Laberatorien wie am Stammtisch, am Kiosk und in Blogs. Dazu gehört Flunkern, Dummbabbelei und Bullshit. Und doch haben diese Arten ihren kommunikativen Sinn (nicht unbedingt Wert). Sie stützen Verallgemeinerungen und Stereotypen etwa, weil man sich ohne Wahrheitsanspruch einig ist. Das ist geradezu der soziale Sinn - und Unsinn - derartiger Rede. Literarische Texte | 13 <?page no="183"?> 183 Sachen gibt‘s! In fiktionalen Texten kann von Wahrheit schon deshalb keine Rede sein, weil die referenziellen Ausdrücke nicht normal referierend verwendet werden. Referenten sind fiktionale Gegenstände (Gedankendinge), besonders auch solche, von denen alle wissen, dass es sie nicht gibt. Sie werden oder wurden sozusagen in Text kreiert. Wir wissen, welche Eigenschaften so etwas hat und - wenn nötig - auch, was es tut. Aber wir sollten besser nicht fragen, wie viele Zehen ein Drache oder Fafnir hat. Es sei denn in einer f-Drachendarstellung. Der Autor hat auch hier die Macht. Er kann einen lieben, goldigen Drachen kreieren, eine Drachin, die Schnaps speit, oder auch hybride Gegenstände. Wenn in seinem Text vom Eiffelturm die Rede ist, wird man an den (realen) Eiffelturm denken. Wenn er dann aber zum Eifelturm wird und in Berlin steht? Wenn er aus Schoko ist und Kinder an ihm schlotzen dürfen? Die Totalklammerung bedeutet nicht, dass der Rezipient alles so lesen muss, dass nicht Reste der sog. Realität da sind oder bleiben. Literarische Texte sind wie alle Texte eingebettet in Kommunikation. Sie sind - wenn man so reden will - Mittel der Kommunikation. Das bedeutet vor allem, dass nicht nur der geniale Schöpfer zu sehen ist, sondern auch der kongeniale Leser. Wenn die Texte in Kommunikation leben, dann kann nicht einer der Partner bestimmen, was ihr Sinn ist. Vor allem wird es Missverständnisse geben, auch Fehlrezeptionen. So scheint es öfter so, dass Rezipienten - vor allem in autobiographischen Werken - die referenziellen Ausdrücke als real referierend verstehen, aber (Goethe „Dichtung und Wahrheit“ lässt grüßen) der literarische Autor ist Herr des Textes. Er erhebt den Anspruch, der Wahrheitsanspruch sei zumindest partiell suspendiert. 13.1 | ficta et facta 187 <?page no="184"?> 184 Jedoch zählt nicht der Text allein. Das Urteil gilt als Lehrbeispiel für Juristen zur freien Meinungsäußerung. Da ist es vielleicht von vornherein falsch plaziert, weil literarische Texte eben keine Meinungsäußerungen sind. Wenn ein Autor einen Text als fiktional intendiert und davon ausgeht, dass die referenziellen Ausdrücke nicht referierend verwendet sind, Leser sie aber referierend verstehen, dann wurde der Autor einfach falsch verstanden. Wer da die Schuld hat, ist kaum zu entscheiden. Nur, wenn es dem Autor nicht gelingt (und welchem gelingt das schon bei jedem), sollte er dann schweigen - oder wie Biller zum Schweigen gebracht werden? Das wollen wir dem Gericht nicht unterstellen. Es ging wohl gar nicht um Fehlverständnis. Man könnte es auch so sehen, dass das Gericht festgestellt hat, dass es sich nicht um einen fiktionalen Text handelt. Dafür gibt es aber kein gültiges Kriterium. Und gerichtlich wird man es auch nicht feststellen dürfen. Die Richter legen - in ihrer Realität? - fest, welche Aussagen wahr sind. Sie beginnen schon mit der parteiischen Verwendung von schildern statt f-schildern. Sie unterscheiden, ganz pikant: zutreffende Aussagen zur Identifizierung der realen Person, zutreffende Aussagen über ihr Liebesleben, unzutreffende Aussagen, die diese Person diskriminieren. Wahrlich eine brillante Logik! Man könnte auch fragen, wie viel von jeder Sorte es gibt und wie die Anteile sein müssen, damit eine Persönlichkeitsverletzung vorliegt. Maxim Billers ehemalige Freundin und deren Mutter hatten gegen Billers Roman „Esra“ geklagt, weil sie sich in den Romanfiguren wiedererkannt hatten und ihre Persönlichkeitsrechte verletzt sahen. Billers Buch schildert die schwierige Beziehung zwischen Adam und Esra. Die männliche Hauptfigur ist Schriftsteller wie Biller selbst (heißt aber sinnigerweise Adam), dessen Freundin Schauspielerin und Bundesfilmpreisträgerin wie Billers Ex-Lebensgefährtin. Das Bundesverfassungsgericht hat im Jahr 2007 das Erscheinen des Romans endgültig untersagt: Das Buch verletze das Persönlichkeitsrecht von Billers Ex-Freundin, weil sie eindeutig als „Esra“ erkennbar sei und der Roman intimste Details der Liebesbeziehung zwischen der Romanfigur und dem Ich-Erzähler Adam schildere. Literarische Texte | 13 188 <?page no="185"?> 185 Schlüsselroman? Zuckmayer vermerkte - wie auch sonst weitgehend üblich - seinerzeit im Vorspann zum „Hauptmann von Köpenick“: Die tatsächlichen Begebenheiten bilden nur den Anlass zu diesem Stück. Stoff und Gestalten sind völlig frei behandelt. Damit würde er wohl vor dem Verfassungsgericht nicht durchkommen. Nichts gegen das Verfassungsgericht. Aber gottseidank war das damals noch nicht so. Etwas als Schlüsselroman zu lesen, in einer Autobiographie alles für bare Münze zu nehmen, in einem Text Verbindungen zur sog. Realität zu sehen, ist eine Rezeptionshaltung, eine Art zu lesen. Der Autor kann darüber nicht verfügen. Der Leser ist selbst verantwortlich. Erfasst und respektiert er das Verständnis des Autors? Einen Standard gibt es hier nicht. Es gibt eben unterschiedliche Rezeptionen. Gutes Beispiel die Bibel, eine verwickelte Sache. Manche lesen sie als fiktiven Text, andere nicht. Manchen ist sie Gottes Wort, andern scheint das eher unmöglich. Die für Realisten sakrosankte Unterscheidung von Facta und Ficta könnte noch weicher werden, wenn man einer Rechtfertigungstheorie der Wahrheit folgt, nach der nur als wahr akzeptiert wird, was gerechtfertigt werden kann und was allgemein geglaubt wird. Dann kann man zusehen, wie Realität entsteht: Sie perkoliert oder sedimentiert aus geäußerten und geglaubten Sätzen: Ihre Nachbarin sagt zu Ihnen: Morgen wird das Wetter besser. Woher weiß sie das? Sie hat wohl etwas weggelassen, nämlich, dass sie es aus dem Wetterbericht vernommen hat. Doch sie behauptet es nun, wenn man überhaupt Künftiges behaupten kann. So ähnlich geht es bei Lexikonwissen, das ja wohl die Realität definieren (oder darstellen? ) soll. Da ist immer ein Operator mitzudenken: Die meisten/ viele glauben, dass ... Allgemein wird angenommen, dass ... Und all jene, die nicht zu den vielen gehören? Leben sie in einer anderen Welt? In einem gewissen Sinn ja, wie etwa die Holocaust-Leugner. Was sie glauben, scheint in einer kleinen Gruppe wahr zu sein. Oder wird nur so getan? Die hohe Kunst wird vielleicht sein, Facta als Ficta zu lesen - zumindest vorläufig. So enden wir bei der Fiktion der Realität. Se non è vero, è ben trovato. 13.1 | ficta et facta <?page no="186"?> 186 Die Textrezeptionen sind eine Frage des gemeinsamen Wissens. Da finden wir auch die Klärung einiger Probleme. Falls literarische Texte Lügen wären, dann wären sie uninteressant. 13.2 Eigenheiten literarischer Texte Wie man für die Textdefinition mit einer hypostasierten Textualität hantierte, so versuchte man, literarischen Texten beizukommen mit einer hypostasierten Poetizität. Man wüsste gern, was es mit der Poetizität auf sich hat. Die Lösung auf einen Streich: Die Poetizität wurde versucht auf die poetische Sprache, einen poetischen Code gar, zu verschieben. Das ist offenkundig falsch, wenngleich wir bestimmte Ausdrücke als eher poetisch klassifizieren. Aber eine ganze Sprache oder Varietät? Bei literarischen Texten geht es eher um Besonderheiten literarischer Kommunikation und dann um den Status dieser Texte. Was Literarhistoriker erarbeitet haben, kann hier weder dargestellt noch verbessert werden. Wir wollen literarische Texte sehen mit den Augen des Linguisten und einführend ihre Eigenheiten vorführen, vor allem, wie ein Text gemacht ist. Alle sprachlichen Auffälligkeiten gilt es zu verstehen und einzuordnen. Dabei wird gewöhnlich nach sprachlichen Ebenen analysiert: Phonematik, Lexikon, Syntax. All dies muss sich aber zu einem Bild zusammenfügen, wenn es gelingt. Literarische Texte | 13 189 Geglückt versteht: Wer die f-Behauptung, dass X, versteht als f-Behauptung, dass X, und unterstellt, dass A glaubt, dass X oder nicht-X. Missglückt versteht: Wer die f-Behauptung, dass X, versteht als Behauptung, dass X, und unterstellt, dass A glaubt, dass X. Als Irrtum, Illusion oder Lüge versteht: Wer die f-Behauptung, dass X, versteht als Behauptung, dass X, und unterstellt, dass A glaubt, dass X, aber selbst glaubt, dass nicht-X. Als Lüge versteht: Wer die f-Behauptung, dass X, versteht als Behauptung, dass X, und unterstellt, dass A glaubt, dass X, aber selbst glaubt, dass nicht-X, und dass A möchte, dass er glaubt, dass X. <?page no="187"?> 187 Literatur als Abweichung? In der frühen linguistischen oder textlinguistischen Betrachtung literarischer Sprache wollte man sie als Abweichung vom normalen Sprachgebrauch erklären. Problematisch ist das aus mehreren Gründen: Es gibt keine abgrenzbare, einheitliche Literatursprache. Literatursprache ist sowieso weitgehend Normalsprache. Literatur kann nur verstanden werden im Rahmen der Normalsprache und, wer die Markiertheit literarischer Texte sieht, sieht sie nur auf der Folie der Normalsprache - was immer das sei. Auf jeden Fall: Erscheinungen literarischer Werke finden sich auch in der Normalsprache: Reime wie klein, aber fein, Alliterationen wie mit Mann und Maus. Wenn mit literarischen Texten kein Wahrheitsanspruch erhoben wird, wozu sollen sie dann gut sein? Besteht ihr Sinn darin, dass Leser sie genießen? Das ist ein altes Prinzip. Und tatsächlich wecken literarische Werke Anteilnahme, Emotionen und Empathie. Aber ebenso alt ist das Prinzip: Die Texte sollen uns etwas lehren. Vielleicht besser: einen Erkenntnisgewinn bringen. Worin bestünde der? Literarische Texte schaffen eigene Ficta und Facta. Sie sind in unserer Welt verankert über Autor und Rezipient. Sie sind mit uns verbunden über unsere gemeinsame Sprache, wenngleich die Sprache im Kunstwerk besonders verwendet sein mag, offener und kreativer. Insofern sind literarische Texte nicht nur suspendiert vom Wahrheitsanspruch, sondern auch von den Normvorstellungen der Sprachgemeinschaft. Diese Art der Sprachverwendung kann man als die zweite fundamentale Eigenheit sehen. Die Sprache wird nicht mehr - wie viele annehmen - als Vehikel der Mitteilung gesehen: Sie ist die Mitteilung. Die Mitteilung zeigt sich in der sprachlichen Form: „Die Sprache feiert“. Darum sind auch Reformulierungen und Übersetzungen literarischer Texte mehr oder weniger fad. Auch Übersetzungen mit Vorsicht lesen! Als Erkenntnis sehen wir auch: Fiktionale Literatur zeigt uns im Besonderen das Allgemeine. Wir gewinnen aus dem Besonderen etwas Allgemeines. Zuerst wieder: Sie sagt es nicht, sie beschreibt es nicht, sondern sie zeigt es. Sie zeigt es durch die Sprache. Das Sprachliche ist nicht Teil des literarischen Werks, es ist das Werk. Man kann nicht das Gleiche wie ein Gedicht auch anders ausdrücken. Darum sind auch Inhaltsangaben unter diesem Gesichtspunkt fad und vielleicht nur für didaktische Zwecke sinnvoll. 13.2 | Eigenheiten literarischer Texte <?page no="188"?> 188 Literarische Kommunikation können wir nach wie vor geprägt sehen durch das alte dictum (in welcher Variante auch immer): delectare et prodesse. Aber nutzen nicht im Sinne der kruden Funktion von Gebrauchstexten. Vielmehr: Nutzen, indem man delektiert. Worin aber besteht das Delektieren? Man delektiert sich und wird delektiert, wenn man einen oft schwierigen Text verstanden hat, wenn man ein Aha-Erlebnis hatte, etwa weil man auf den tieferen Sinn des vordergründig simplen Texts gekommen ist, wenn man den Text spannend und interessant findet, wenn die ungewöhnliche Sprache einen anmacht, wenn der Text einem Rätsel aufgibt usw. Literarische Kommunikation ist weiter geprägt: durch vordergründige Abweichung von Kommunikationsprinzipien, durch Ignorieren sprachlicher Normen. Zum Umgang mit Kommunikationsprinzipien: Im Normalfall spricht man unauffällig, im default. Literarische Texte sind oft sprachlich auffällig und markiert. Das lenkt den Blick auf die Sprache. Eines der Prinzipien der Markierung ist Rekurrenz. Es gibt sie in multipler Ausformung. Ich zeige etwas davon exemplarisch an Exempeln. Rekurrente Satzkonstruktion Phonetische Ebene Lexikalische Ebene Syntax Inhalt Endreim Stabreim Anapher Vokalfolgen (hell - dunkel usw.) Rhythmus (_ _ ´_ _ _ ´_ _ _ ´_) Wortwiederholung Wendungen wiederholt Konstruktionen wiederholt Parallelismus = Satzstruktur analog Motive Topos und Abwandlung Erich Maria Remarque: Im Westen nichts Neues Man kann das nicht niederschreiben. Diese bebende, schluchzende Frau, die mich schüttelt und mich anschreit: „Weshalb lebst du denn, wenn er tot ist! “, die mich mit Tränen überströmt und ruft: „Weshalb seid ihr überhaupt da, Kinder, wie ihr? “, die in einen Stuhl sinkt und weint: „Hast du ihn gesehen? Hast du ihn noch gesehen? Wie starb er? “ Literarische Texte | 13 190 <?page no="189"?> 189 Im linken Gedicht finden wir sich wiederholende Zeilenanfänge, sich wiederholende syntaktische Phrasen, sich wiederholende Konstruktionen und Zeilen gar. Das rechte baut wesentlich auf der lexematischen Wurzel fallin Wortbildungsvarianten und auf dem rekurrenten Wort. Auch Motive können wir als eine Art der Rekurrenz ansehen. Sie definieren sich ja gerade dadurch, dass sie sich im Diskurs wiederholen. Und sie delektieren durch Abwandlung. Eine andere Art der vordergründigen Abweichung vom Prinzip Minimumprinzip ist Variation. Der kommunikative default ist Monotonie. Variatio delectat weist darum auf die Formulierung, fokussiert auf Sprache. Wir sehen das in der Anaphorik. Default ist die pronominale Fortsetzung, die sozusagen nur den Verweis sichert. Rekurrenz des Nomens ist auffällig und gewollt, so im Kafka-Beispiel. Durcheinander Sich lieben in einer Zeit in der Menschen einander töten mit immer besseren Waffen und einander verhungern lassen Und wissen dass man wenig dagegen tun kann und versuchen nicht stumpf zu werden Und doch sich lieben Sich lieben und einander verhungern lassen Sich lieben und wissen dass man wenig dagegen tun kann Sich lieben und versuchen nicht stumpf zu werden Sich lieben und mit der Zeit einander töten Und doch sich lieben mit immer besseren Waffen Erich Fried Fall ins Wort Fall ins Wort das Wort ist brüchig geworden Fall ins Wort der Fall ist fällig geworden Fall ins Wort wo das Wort dir einfällt Fall ein ein naher Feind ein Vogel ins Feld Wo das Wort dir gefällt wo das Wort fehlt wo das Wort einen Fehler hat wo es verdorrt dort fall ins Wort [...] Erich Fried film film film film fi m f im fi m f im f m fl m f im f m flim film flim film f lm f lm fl m f lm fl m f m f lm fl m f m f lm f m fl m f lm fl m fl m fl m fl m fl m fl m flim film flim film flim film flim f m film f m flim film flim film film film film film Ernst Jandl (1964) 13.2 | Eigenheiten literarischer Texte <?page no="190"?> 190 Schließlich noch zu einem dritten Aspekt literarischer Texte: Dispensierung von sprachlichen Normen. Dazu zähle ich: kühne Metaphern („Schwarze Milch der Frühe“), kühne Wortbildungen, semantische Abweichungen, Registervermischung, rudimentäre Syntax, Syntaxverstöße, Sprachauflösung und eine Menge anderer. Vor dem Gesetz steht ein Türhüter. Zu diesem Türhüter kommt ein Mann vom Lande und bittet um Eintritt in das Gesetz. Aber der Türhüter sagt, dass er ihm jetzt den Eintritt nicht gewähren könne. Der Mann überlegt und fragt dann, ob er also später werde eintreten dürfen. "Es ist möglich“, sagt der Türhüter, „jetzt aber nicht.“ Da das Tor zum Gesetz offensteht wie immer und der Türhüter beiseitetritt, bückt sich der Mann, um durch das Tor in das Innere zu sehn. Als der Türhüter das merkt, lacht er und sagt: „Wenn es dich so lockt, versuche es doch, trotz meines Verbotes hineinzugehn. Merke aber: Ich bin mächtig. Und ich bin nur der unterste Türhüter. Von Saal zu Saal stehn aber Türhüter, einer mächtiger als der andere. Schon den Anblick des dritten kann nicht einmal ich mehr ertragen.“ Solche Schwierigkeiten hat der Mann vom Lande nicht erwartet; das Gesetz soll doch jedem und immer zugänglich sein, denkt er ... Franz Kafka, Vor dem Gesetz, 1953 für sorge ich für mich du für dich er für sich wir für uns ihr für euch jeder für sich Burckhard Garbe Rege dich, du Schilfgeflüster! Hauche leise, Rohrgeschwister, Säuselt, leichte Weidensträuche, Lispelt, Pappelzitterzweige, Unterbrochnen Träumen zu! Weckt mich doch ein grauslich Wittern, Heimlich-allbewegend Zittern Aus dem Wallestrom und Ruh. J. W. von Goeth e Literarische Texte | 13 190 194 <?page no="191"?> 191 Josef Reding: denunziation früher oder später verrät der verräter des verräters dem verräter den verräter früher oder später. Register Wolfdietrich Schnurre: Ich bin ein Berliner Papp. Hm. Die Amis - Sag: Amerikaner. - die ham euch gerettet, sagste? In der Berliner Blockade, ja. Is ja ulkig. Wieso ist das ulkig. Na, im Krieg habt ihr von ihnen doch Senge gekriegt. So was muss man vergessen können. Sagste nich immer, da isses um Deutschland gegang? Stimmt. Und worum ging‘s in Berlin? Da stand die Freie Welt auf dem Spiel. Is n die so viel kleiner wie n Land? [...] Kein Strom Keine Arbeit Keine Arbeit Kein Geld Kein Geld Keine Nahrung Keine Nahrung Kein Leben Franz Xaver Kroetz Kurt Schwitters Weißt Du es Anna, weißt Du es schon, Man kann Dich auch von hinten lesen. Und Du, Du Herrlichste von allen, Du bist von hinten und von vorne: A - - - - - - N - - - - - N - - - - - -A. [...] Anna Blume, Du tropfes Tier, Ich - - - - - - liebe - - - - - - - Dir! Hugo Ball brulba dori daula dalla sula lori wauga malla lori damma fusmalu Dasche mame came rilla schursche saga moll vasvilla suri pauge fuzmalu [...] Syntax Klang 13.2 | Eigenheiten literarischer Texte 191 <?page no="192"?> 192 13.3 Interpretieren Vorab: Verstehen, deuten und interpretieren sind dreierlei. Verstehen denkt man sich als Prozess, aber es zählt das Resultat. Deuten ist eher prozessual. Aber wie Verstehen ist es nicht unserem Willen unterworfen. Es geschieht uns. Im Gegensatz dazu ist Interpretieren eine Handlung, eine methodisch geleitete Handlung. Literarische Texte werden öfter als komplex, als tiefsinnig und in ihrer Einmaligkeit gesehen. Das verlangt besondere Verstehensfähigkeiten und höheren Deutungsbedarf, der durch begründetes und methodisches Interpretieren gestillt werden soll. Dazu gibt es Interpretationslehren und für unterschiedliche Bereiche unterschiedliche, doch unter einem gemeinsamen Dach: Verständnis klären, erklären, verbessern. Unter den vielen Methoden unterscheidet man zum Beispiel: die werkimmanente Methode die biografische Methode die literatursoziologische Methode. die psychoanalytische Methode Die werkimmanente Methode soll sich rein auf den Text stützen, nicht über den Text hinausgehen. Textlinguistisch ist sie darum zu bevorzugen. Andere fordern häufig viel literarhistorisches Wissen oder Intuition, manche bleiben eher subjektiv. Wie alles in diesem Kapitel ist das Interpretieren ein weites Feld, auf dem wir unsere kleine Wiese suchen. Das Nomen Interpretation ist aktobjekt-ambig. Wir verwenden es für den Akt des Interpretierens und für das Ergebnis. Das Ergebnis, das Produkt des Interpretierens ist ein Text. Es ist kein Text für einen Text, keine Übersetzung oder Reformulierung, sondern ein Text über einen Text. So etwas hier wird man kaum als Interpretation ansehen, wenngleich es solche Züge hat. Gottfried von Straßburg präsentierte um 1210 im Tristan seinem ritterlichen Zeitalter das Schauspiel der Auflösung der ritterlichen, der höfischen Kultur. [...] das System dieser Werte ist nichtig und streckt sich vergeblich, mit Wächterarmen und Späheraugen derer habhaft zu werden, die in der Entrückung der Minnegrotte das beseligende Martyrium ihres Einsseins leben. Literarische Texte | 13 <?page no="193"?> 193 Interpretation: Beispiel Eine nicht unübliche Vorgehensweise des Interpretierens demonstriere ich am Beispiel. Johann Peter Hebel: Kalendergeschichten - Kannitverstan Der Mensch hat wohl täglich Gelegenheit, in Emmendingen und Gundelfingen so gut als in Amsterdam Betrachtungen über den Unbestand aller irdischen Dinge anzustellen, wenn er will, und zufrieden zu werden mit seinem Schicksal, wenn auch nicht viel gebratene Tauben für ihn in der Luft herumfliegen. Aber auf dem seltsamsten Umweg kam ein deutscher Handwerksbursche in Amsterdam durch den Irrtum zur Wahrheit und zu ihrer Erkenntnis. Denn als er in diese große und reiche Handelsstadt voll prächtiger Häuser, wogender Schiffe und geschäftiger Menschen gekommen war, fiel ihm sogleich ein großes und schönes Haus in die Augen, wie er auf seiner ganzen Wanderschaft von Tuttlingen bis nach Amsterdam noch keines erlebt hatte. Lange betrachtete er mit Verwunderung dies kostbare Gebäude, die sechs Kamine auf dem Dach, die schönen Gesimse und die hohen Fenster, größer als an des Vaters Haus daheim die Tür. Endlich konnte er sich nicht entbrechen, einen Vorübergehenden anzureden. „Guter Freund“, redete er ihn an, „könnt Ihr mir nicht sagen, wie der Herr heißt, dem dieses wunderschöne Haus gehört mit den Fenstern voll Tulipanen, Sternenblumen und Levkojen? “ - Der Mann aber, der vermutlich etwas Wichtigeres zu tun hatte und zum Unglück geradeso viel von der deutschen Sprache verstand als der Fragende von der holländischen, nämlich nichts, sagte kurz und schnauzig: „Kannitverstan“, und schnurrte vorüber. Dies war nur ein holländisches Wort oder drei, wenn man's recht betrachtet, und heißt auf Deutsch so viel als: Ich kann Euch nicht verstehn. Aber der gute Fremdling glaubte, es sei der Name des Mannes, nach dem er gefragt hatte. Das muss ein grundreicher Mann sein, der Herr Kannitverstan, dachte er und ging weiter. Gasse aus Gasse ein kam er endlich an den Meerbusen, der da heißt: Het Ei, oder auf Deutsch: das Ypsilon. Da stand nun Schiff an Schiff und Mastbaum an Mastbaum, und er wusste anfänglich nicht, wie er es mit seinen zwei einzigen Augen durchfechten werde, alle diese Merkwürdigkeiten genug zu sehen und zu betrachten, bis endlich ein großes Schiff seine Aufmerksamkeit an sich zog, das vor kurzem aus Ostindien angelangt war und jetzt eben ausgeladen wurde. Schon standen ganze Reihen von Kisten und Ballen auf- und nebeneinander am Lande. 13.3 | Interpretieren <?page no="194"?> 194 Noch immer wurden mehrere herausgewälzt und Fässer voll Zucker und Kaffee, voll Reis und Pfeffer und salveni Mausdreck darunter. Als er aber lange zugesehen hatte, fragte er endlich einen, der eben eine Kiste auf der Achsel heraustrug, wie der glückliche Mann heiße, dem das Meer alle diese Waren an das Land bringe. „Kannitverstan“, war die Antwort. Da dacht er: Haha, schaut's da heraus? Kein Wunder, wem das Meer solche Reichtümer an das Land schwemmt, der hat gut solche Häuser in die Welt stellen und solcherlei Tulipanen vor die Fenster in vergoldeten Scherben. Jetzt ging er wieder zurück und stellte eine recht traurige Betrachtung bei sich selbst an, was er für ein armer Teufel sei unter so viel reichen Leuten in der Welt. Aber als er eben dachte: Wenn ich's doch nur auch einmal so gut bekäme, wie dieser Herr Kannitverstan es hat, kam er um eine Ecke und erblickte einen großen Leichenzug. Vier schwarz vermummte Pferde zogen einen ebenfalls schwarz überzogenen Leichenwagen langsam und traurig, als ob sie wüssten, dass sie einen Toten in seine Ruhe führten. Ein langer Zug von Freunden und Bekannten des Verstorbenen folgte nach, Paar und Paar, verhüllt in schwarze Mäntel und stumm. In der Ferne läutete ein einsames Glöcklein. Jetzt ergriff unsern Fremdling ein wehmütiges Gefühl, das an keinem guten Menschen vorübergeht, wenn er eine Leiche sieht, und blieb mit dem Hut in den Händen andächtig stehen, bis alles vorüber war. Doch machte er sich an den letzten vom Zug, der eben in der Stille ausrechnete, was er an seiner Baumwolle gewinnen könnte, wenn der Zentner um 10 Gulden aufschlüge, ergriff ihn sachte am Mantel und bat ihn treuherzig um Exküse. „Das muss wohl auch ein guter Freund von Euch gewesen sein“, sagte er, „dem das Glöcklein läutet, dass Ihr so betrübt und nachdenklich mitgeht.“ „Kannitverstan! “ war die Antwort. Da fielen unserm guten Tuttlinger ein paar große Tränen aus den Augen, und es ward ihm auf einmal schwer und wieder leicht ums Herz. „Armer Kannitverstan“, rief er aus, „was hast du nun von allem deinem Reichtum? Was ich einst von meiner Armut auch bekomme: ein Totenkleid und ein Leintuch und von allen deinen schönen Blumen vielleicht einen Rosmarin auf die kalte Brust oder eine Raute.“ Mit diesem Gedanken begleitete er die Leiche, als wenn er dazu gehörte, bis ans Grab, sah den vermeinten Herrn Kannitverstan hinabsenken in seine Ruhestätte und ward von der holländischen Leichenpredigt, von der er kein Wort verstand, mehr gerührt als von mancher deutschen, auf die er nicht achtgab. Endlich ging er leichten Herzens mit den andern wieder fort, verzehrte in einer Herberge, wo man Deutsch verstand, mit gutem Appetit ein Stück Limburger Käse, und wenn es ihm wieder einmal schwer fallen wollte, dass so viele Leute in der Welt so reich seien und er so arm, so dachte er nur an den Herrn Kannitverstan in Amsterdam, an sein großes Haus, an sein reiches Schiff und an sein enges Grab. Literarische Texte | 13 191 <?page no="195"?> 195 Grundschritte Dies ist keine ausgefeilte Methode. Es dient nur der Anregung. Wahrscheinlich werden Sie ganz Anderes entdecken. Die Interpretation als Text steht am Schluss des Interpretierens. Sie kann den Gang des Interpretierens wiedergeben, könnte eine andere Ordnung verfolgen, könnte auch über den Text hinausführen, eine allgemeine Textform der Interpretation gibt es nicht. Der Text ist geprägt durch die Methode und vor allem durch die Gattung des Werks. In unserem Zusammenhang sind nur kurze Texte gezeigt. Aber bei einem Roman oder einem Drama dürfte Anderes ins Spiel kommen. Ein Text hat ein Ende, das Interpretieren nicht. Literarische Vertiefung 13.3 | Interpretieren Erster Schritt: Spontanes Lesen Ersten Eindruck formulieren Zweiter Schritt: Vertieftes Lesen Schwierige Stellen: Welche Wörter sind auffällig? Was bedeuten sie? Was könnten sie in der Zeit bedeuten? sich entbrechen, Tulipane, Het Ei, Ypsilon, Exküse, vergoldete Scherben, Raute und dann das rätselhafte salveni. Schwierige Sätze? Dritter Schritt: Erster Eindruck Es geht um ... Das Missverständnis wird schon zu Beginn angesprochen (Irrtum) und im Text erklärt. Anschluss an eigene Erfahrungen Vierter Schritt: Fazit Was ist die Lehre? Nur was im Text dafür steht? Ein Satz im Text, der die Lehre formuliert? „Reich und arm sind nah beieinander.“ „Reichtum bringt nichts vor dem Tod.“ Die Geschichte hat auch einen interkulturellen Aspekt. Fünfter Schritt: Aufbau Dies betrifft mehr das literarische Wissen. Wie weit es das Verstehen verbessert, bleibt die Frage. Zwei Lehren, am Anfang und am Schluss. Sechster Schritt: Erzähltechnik Wechsel ins Erzähltempus Kein Ich-Erzähler, lässt aber die Figuren sprechen in direkter Rede. Allwissender Erzähler, weiß, was der Letzte im Leichenzug denkt. 198 206 <?page no="196"?> 196 Als Ziel des Interpretierens scheint die Herstellung von Kohärenz anerkannt, weil man erst damit den Text verstanden hat. Doch kann man in extremen Fällen auch scheitern oder Kohärenz erzwingen. Der folgende Text könnte als textlinguistisches Beispiel für Nicht-Texte verwendet werden. Scherner (2005) hat versucht, ihn zu interpretieren, exemplarisch und didaktisch gar. Sein erster Vorschlag ist eine Art Kohärenzjoker: Es könnte sich um einen „stream-of-consciousness“ handeln, eine literarische Technik, in der festgehalten wird, was jemandem so durch den Kopf geht, welche Bilder, Gefühle, Satzfetzen. Welche Verfahren wendet Scherner nun an, um doch Zusammenhänge zu entdecken? Zu konstruieren? Er gruppiert Wörter zu semantischen Ketten. Er expandiert Wortfolgen zu Sätzen und Kurzsätzen. Er fragt: Was hat X mit Y zu tun? Er assoziiert zu ausgesuchten Wörtern. All dies sind mögliche Verfahren, wenn sie auch weitgehend subjektiv bleiben und weitgehend nur den Text selbst expandieren. Zu einem kohärenten Wohmann-Text führen sie nicht. Selbst wenn man berücksichtigt, dass es sich um ein Textstück aus einem tagebuchartigen Familienkalender handelt, gelingt keine brauchbare Interpretation. Bei so etwas scheitert die Interpretation. Muss man dann sagen: Es ist einfach Stuss? Offenbar gibt es Rezipienten, die mehr verstehen. Das Interpretationsproblem kann nicht gelöst werden. Es wird immer konkurrierende Lösungen geben. Das ist normal. 31 Tage lang Montag: Januar. Von Tag zu Tag werden die Tage länger. Es schneit nicht in Hessen. Erzähle doch einem Autofahrer keinen Unsinn über schönen Schnee. Es geht weiter, es geht von vorne los, es ist eine Frau, die den Weltrekord stößt, es ist dauernd Montag. Gute Eltern befreien sich von ihren Kindern und verschicken sie zwecks Abhärtung in schneebedeckte Gebirge, Schnee fällt, damit auf ihm Sport stattfinde. Es wäre wirklich schöner, wenn man sich auf mich verlassen könnte. Lebte meine Tante noch, so ergäbe sich ein weiterer Montag, ihr Geburtstag, aber es liegt kein Schnee auf ihrem Grab, wo es nicht nach Kaffee und Kuchen riecht. Gabriele Wohmann: Gegenangriff. 1972, 109 Literarische Texte | 13 206 <?page no="197"?> 197 Nicht rein linear 14 Lesen und Schreiben Habt ihr je gesehen, wie ein Hund [...] einen Knochen hält, knackt und lutscht? Was treibt ihn? Nichts als das Mark. Tu es Hunden gleich: Beschnüffel fette Bücher, lies sorgfältig, denk nach. So knackst du den Knochen und saugst die Marksubstanz. François Rabelais, Gargantua et Pantagruel. 1532 14.1 Lesen und Lesen Dieses Kapitel ist eine Art Zusammenfassung des Buches. Es bietet Ihnen Nützliches für die eigene Praxis und bleibt nicht rein deskriptiv. Sie können Einiges auch als Empfehlung lesen. Etwas zur Leseforschung allgemein zu Beginn. Verbreitet dürfte die Idee sein, wir läsen linear, hangelten uns von Buchstaben zu Buchstaben. Das mag auf die Früherfahrung im Erstleseunterricht zurückgehen. Aber so lesen wir lange nicht mehr. Beim Lesen - so heißt es - laufen top-down-Prozesse und bottom-up-Prozesse ab. Top down bedeutet, dass der Leser eine Vorerwartung an den Text hat und ihn nach seiner Kenntnis vorstrukturiert. Bottom up konstruiert er aus dem Laufenden höhere Strukturen. Dabei wird das Satzverständnis ebenfalls durch Vorerwartungen gebaut. Bei jedem eingehenden Wort löscht der Leser aus vorgängigen Erwartungen und öffnet neue bezüglich der Fortsetzung in der Satzstruktur oder in gängigen Chunks. Da er immer auf der Höhe des linearen Ablaufs ist, werden die nach generellen syntaktischen Regeln möglichen Fortsetzungen eingeschränkt. Mit dem Satzende kommt dieser Prozess zur Ruhe, falls die Satzstruktur aufgebaut ist (und sich ein garden-path-Satz nicht später als Holzweg entpuppt). Aber es geht natürlich weiter im Text, oft mit getriggerter Fortsetzung und Nutzung von transitions, in denen wir ein Gemisch aus top down und bottom up sehen können. Der Leser ist - wie der Autor - selbst der Herr. Er wählt aus, was er lesen will, er entscheidet, wie er liest. Er kann sogar nebenbei noch andere Handlungen vollziehen: Ein Heine-Gedicht mit Rotwein, etwas Rilke mit Pralinen. Die Voraussetzung des verstehenden Lesens ist die Lesetechnik, erst einmal alles, was zur Wahrnehmung gehört. So gibt es mannigfaltige Arten zu lesen: schnell, langsam, kursorisch, verweilend, oberflächlich, genau, fließend, stockend, vagierend, sprunghaft ... 208 <?page no="198"?> 198 Am Anfang bekommt man einen Überblick: die Textsorte, die Erscheinungsform, das Layout, Absatzlänge, Blocksatz oder Flattersatz, modular, multimodal. Um schnell und flüssig zu lesen sollte man bloß nicht lautierend lesen oder das Gelesene innerlich mitsprechen und schon gar nicht mit dem Finger lesen, wie es für Seh- und Leseschwache nützlich sein könnte. Zum Lesen sind die Augen da. Wer flott lesen will, kann seine Augenspanne trainieren und erweitern. Sie lesen nicht Einzelwörter, sondern größere Cluster. Und immer vorwärts, immer weiter. Vieles klärt sich im Blick nach vorn. Rückschritte sind ja immer möglich. Das hätten Sie im Griff. (Dieses Vor-und-Zurück gilt nur für unsere Alphabetschrift. Über den kulturellen Tellerrand schauen wir hier nicht. Nicht nach anderen Schreibrichtungen - da kann nach vorn für uns zurück sein - und nicht nach Symbolschriften). Lesen ist eine sprachliche Handlung, nicht defizitär, sondern produktiv in allem, was zum Verstehen gehört. Diese Handlung ist nicht veranlagt wie der Spracherwerb. Lesen muss gelernt und dann automatisiert werden. So scheint es immer natürlicher. Es ersetzt nicht das Hören und ist auch keine Übersetzung von Hörsprache, es verselbständigt sich, wird direkte Sinnentnahme (in gängiger Container- Metaphorik), ruht auf sprachlicher Kompetenz. Das Verstehen bleibt sprachlich und dem Hören analog. Es gibt aber wichtige Unterschiede: Mündliche Kommunikation ist ephemer: Gesagt, gehört, vorbei. Der Sprecher bestimmt das Tempo. Schriftliche Kommunikation ist dauerhaft. Der Leser bestimmt das Tempo. Der Leser bestimmt die Art seines Lesens. Zur Vorbereitung des konzentrierten Lesens sollte man einen guten Ort wählen, wo man weiter keine Störungen zu erwarten hat, das Lesen in Etappen unterteilen und Pausen einplanen. Von Anfang an sollte man sich klar machen, um welche Art von Text es sich handelt, was man zu erwarten hat, welches Ziel man mit dem Lesen eines Textes verfolgt. Danach richtet sich die Art des Lesens. Oft behandelt wird die Technik des Überfliegens (auch Skimmen). Das Überfliegen ist meist nur eine Vorbereitung auf ein genaueres Lesen und eine Auswertung des Gelesenen. Schön, wenn man dabei irgendwo hängen bleibt und weiterliest. Mündlich vs. schriftlich Lesen ist produktiv Lesen und Schreiben | 14 210 <?page no="199"?> 199 Genaues oder gründliches Lesen wird als mittlerer Normalfall gesehen. Hier gilt es, langsam und exakt dem Text zu folgen. Im Lesen ergibt sich das Verstehen, nicht irgendwie danach. Wenn man etwas nicht versteht, kann man verharren oder zurückblättern. Meist ist aber Vorwärtsdrängen besser. Als eine Art Verbindung von überfliegendem und genauem Lesen kann man das selektive Lesen sehen, bei dem man zwar genau liest, aber nicht den ganzen Text. Selektives Lesen ist eine hohe Kunst und verlangt viel Selbstvertrauen. Sie lesen ja nur, was Ihnen wichtig, klug, interessant erscheint. Aber woher wissen Sie das? Was wissen Sie über den Rest? Was könnte Ihnen alles entgehen? Ein kleiner Exkurs zum modernen Lesen elektronischer Texte. Eine Art des Lesens elektronischer Texte ist auch von Papiertexten bekannt. Modulare Texte kann man einfach umherspringend lesen. Das gilt schon für Zeitungen, erst recht für Fernsehbildschirme. Hier mit etwa 10 Lesestellen, deren wenigstens zwei ständig upgedated und refreshed werden. Überfliegendes Lesen Inhaltsverzeichnis ansehen Grobe Information und Orientierung gewinnen Sich einen Überblick über den Text verschaffen Kapiteleinleitungen ansehen Titel und Zwischentitel lesen Durchblättern, über den Text hüpfen, Stückchen lesen Einleitungskapitel und Schlusskapitel überfliegen Anfänge der einzelnen Absätze lesen Leitwörter suchen zum Thema Termini Auf Nomen achten Eigennamen (Großschreibung) Überfliegen Sprungtechnik 14.1 | Lesen und Lesen 211 <?page no="200"?> 200 Auf dem Bildschirm haben Sie mit den Bildern noch mehr Kuckstellen, davon wenigstens eine als Laufzeile. Eine typischere Art des Lesens könnte man Browsen nennen, das Verb im alten Sinn und englisch normal verwendet. Man liest im Browser ein einzelnes Dokument. Wenn es nicht auf den Bildschirm passt, wird statt Blättern gescrollt. Hier kann man schon eine gewisse Sprungtechnik pflegen, weil man mit der Scrollbar auch springen kann. Natürlich blieb das Wort nicht hierfür reserviert: Je mehr der Browser zulässt, je mehr Verlinkung es gibt, umso mehr nähert man sich dem Surfen. Man kann nun größere Sprünge machen: Springen in der Wahrnehmung, springen im Verstehen. Kohärenz herzustellen scheint ziemlich schwer beim Surfen und Recherchieren im Netz. Wie gelingt das? Wird einfach nur die Anforderung an Kohärenz heruntergeschraubt? Natürlich: Wer surft, weiß, was er tut, und, wer googelt, genauso. Das Surfen betreffend versteigen sich Einige (ohne jegliche Empirie) zu Folgendem: Die assoziative Struktur eines Hypertextes entspricht dabei besser der Funktionsweise des menschlichen Denkens, als das in rein linearen Texten möglich ist. Unser Denken arbeitet vernetzt, ähnlich wie die Strukturen eines Hypertextes aufgebaut sind. (https: / / de.wikipedia.org/ wiki/ Hypertext) Tatsächlich sind im Hypertext manche Kohärenzmacher suspendiert: Zwischen den Modulen gibt es keine anaphorischen Zusammenhänge. Antezedenzien gibt es nicht. Zwischen den Modulen gibt es keine Konnektoren. Angesprungne Module können nicht sinnvoll mit einem Konnektor beginnen. Kohärenz wird einzig durch den thematischen Zusammenhang hergestellt. Und dieser Zusammenhang wird über Sinnwörter und Suchwörter etabliert. Da Wörter bekanntlich vage sind, kommt es öfter zu Bruchlandungen. Aber Nutzer elektronischer Medien sind darauf eingestellt. Sie adaptieren ihre Ansprüche. Und manchmal kann die Bruchlandung auch den Blick öffnen, wie es schon das Flanieren so an sich hat. Fürs Surfen kann man vielleicht zwei Arten unterscheiden: Eine ist eine Art Schnüffeltour, es ist ungerichtetes Flanieren, die andere wäre zielorientiertes Suchen und Recherchieren, bei dem stark selektiv gelesen wird. Kohärenz? Lesen und Schreiben | 14 <?page no="201"?> 201 Freiheit des Surfens? Lesen im Hypertext - so heißt es - ist die große Freiheit. Der Leser legt seinen Leseweg selbst fest - so glaubt vielleicht manch einer. Tatsächlich sind viele Lesewege von Autorenanbietern bestimmt, selegiert der Leser frei gewählte Verzweigungen, hat der Autor schon eingegriffen, im Extremfall gar durch Manipulation des jeweiligen devices, was nicht jeder Leser stets vor Augen hat. Dieses Lesen wird als selbstbestimmt gepriesen und ist es auch ein bisschen. Man muss aber viel können, um etwas Mitbestimmung zu bekommen. Wie bekomme ich amazon und tripadvisor weg, die bei jeder Suche ganz oben kommen, und sei es als Werbung. Wenn Sie blauäugig mit einem tripel-Ausdruck suchen, wird die Suchmaschine den am häufigsten gesuchten präferieren. Was wurde hier wohl gesucht? Selbst wenn Sie in Anführungszeichen anscheinend exakt das Gesuchte suchen, bekommen Sie Funde, auch wenn das Gesuchte gar nicht gefunden wird. Anbieter bestimmen tatsächlich den Leseweg des Lesers. Angeblich (manchmal wohl auch tatsächlich) geschieht das im Sinn des Nutzers, weil die intelligenten Autoren ja wissen, was ein Nutzer eigentlich sucht (eben was viele suchen oder was der Autor will, dass er sucht). Dies alles taugt nicht, diese Art des Lesens zu verpönen. Es ist eine sensationelle Ressource. Aber Vorsicht ist angebracht. Sorry, das haben Sie bestimmt schon gewusst. Keine Ergebnisse für "kohärenz statt kohäsion" gefunden. Ergebnisse für kohärenz statt kohäsion angezeigt (ohne Anführungszeichen). Kohäsion und Kohärenz - Universität Konstanz - FB ... ling.uni-konstanz.de/ .../ Diskurs/ Material/ 090506_kohaesion.pdf · PDF Datei Kohärenz und Kohäsion. In: Brinker, et al. (Hrsg.) Text- und Gesprächslinguistik Reisen Schnäppchen buchen - Alle Reisen vom Testsieger. Anzeige · www.Ab-in-den-Urlaub.de/ Reisen Reisen - Zitate zum Thema Reise Wenn Gärtner reisen ... www.garten-literatur.de/ Leselaube/ abc/ reise.htm Reisen - Zitate zum Thema Reise Wenn Gärtner reisen - Buchtipps Geschenktipps ... lese-reise.net lese-reise.net Bei www.lese-reise.net finden Sie ausgesuchte Bücher aus allen Themenbereichen. Differenziertes Lesen vom Wort zum Text: Eine … www.amazon.de › Bücher › Lernen & Nachschlagen 14.1 | Lesen und Lesen <?page no="202"?> 202 14.2 Verzögertes und kritisches Lesen Bei Texten mit erhöhtem Verstehensanspruch empfiehlt sich das verzögerte Lesen. Solche Texte sind etwa literarische Texte, aber auch wissenschaftliche. Naheliegend ist, dass wir uns hier mit dem Lesen wissenschaftlicher Texte befassen, und zwar mit linguistischen Texten und natürlich auch damit, wie kritisch mit ihnen umzugehen ist. Hier gelten selbstverständlich die Hinsichten normalen Lesens: Was ist das Thema? Einleitung, Überschrift, Zwischenüberschriften, Schlüsselwörter Textaufbau Gliederung, Inhaltsverzeichnis, Absatzanfänge. Für das verzögerte Lesen kommt aber Einiges hinzu. Beim wissenschaftlichen Lesen lohnt es, ab und zu sich zu vergegenwärtigen, was vorher gesagt wurde. Und es im Zusammenhang zu sehen. Dazu kann man auch den Binnenverweisen folgen, über die man sein Gedächtnis auffrischen kann. Vorwärtsverweise sind nur in bestimmten Fällen brauchbar. Dann kommen die Außenverweise und anspruchsvoller und fruchtbarer die Konkurrenzliteratur zum jeweiligen Problem. Vielleicht hat man sie vorher schon gelesen und vergleicht und wertet noch einmal. Man kann auch pflichtbewusst weiter recherchieren. (Vorsicht aber mit kommerziell und frequentiell basierten Suchmaschinen. Die Perlen finden Sie da oft nicht.) Als Techniken des verzögerten Lesens werden empfohlen: Beim Lesen Wichtige Stellen unterstreichen oder anstreichen Schlüsselwörter bestimmen, Gedanken über ihre Bedeutung Absätze kennzeichnen nach: wichtig, fraglich, unklar Gelesenes im Geiste zusammenfassen Sich über den Stil Klarheit verschaffen (Passagen laut lesen) Über den Text hinaus Unklare Stellen markieren, angemessen? Anspielung? Stelle in Anführungszeichen googeln. Unbekannte Fach- und Fremdwörter nachschlagen. Stichwortliste, was Sie verwenden wollen Andere Texte beiziehen, Verweise verfolgen Notizen anlegen Ihr Verständnis überprüfen: kurze Zusammenfassungen schreiben Wissenschaftliche Texte lesen Lesen und Schreiben | 14 212 <?page no="203"?> 203 Beim kritischen Lesen gibt es sehr, sehr viel zu tun. Kritisches Lesen macht einen Großteil der Wissenschaft aus. Dazu einige ausgesuchte Problemfelder und Beispiele. Die wichtigsten Felder sind Kompetenz und Konsistenz. Wissenschaftliche Kompetenz zeigt sich schon darin, wie weit Autoren in der Szene bewandert sind, ob sie sich auskennen, die Namen von Autoren korrekt zitieren (oder auch nicht). Dem hier kann man nur zustimmen: In wissenschaftlichen Büchern ist diese Bezugnahme auf Vor-Texte geradezu obligat, das zeigt sich u.a. bei Quellenverweisen und im Literaturverzeichnis. (Heinemann/ Heinemann 2002, 109) Wie aber schaut es drinnen aus? Frust bringt der Kurzverweis ins Nirwana, der im Literaturverzeichnis nicht eingelöst wird. So ebenda auf Seiten 45 Hymes, 98 Weinrich, 174 Hajnk. Die folgenden beiden können Sie auf Konsistenz abklopfen. Gelesenes verwenden Exzerpieren Zitate pasten oder herausschreiben (genaue Quellenangabe! ) Überflüssiges streichen Stellen umformulieren Passagen sinngemäß zusammenfassen Die wesentlichen Aussagen des Textes in eigenen Worten schriftlich zusammenfassen Den Gedankengang des Autors darstellen Literarische Texte unterscheiden sich von anderen Texten durch einen anderen Wahrheitswert und eine andere Verbindlichkeit ihrer Aussagen. Während nichtliterarische Texte [...] reale Vorgänge sprachlich darstellen und eine Verbindlichkeit als Sprachhandlungen besitzen, fehlt literarischen Texten eine solche Konsequenz im Sinne von realen Handlungsanweisungen. (Sowinski, 1983, 126) Sie können mal recherchieren, was hier im Inhalstverzeichnis und weiter verschreiben ist. Wer ist wohl gemeint: Seale, Garfinckel und später Seite 8 van Wright? (Heienmann/ Heinamann 2002) Mit der Verwendung des bestimmten Artikels wird signalisiert, dass das vom Artikel begleitete Nomen als eindeutig identifiziert gelten soll [...] Mit dem unbestimmten Artikel - es gibt ihn nur im Singular - wird auf einen einzelnen Menschen, Gegenstand oder Sachverhalt referiert, ohne ihn zu identifizieren. (Hausendorf/ Kesselheim 2008, 77) Kompetent? Konsistent? 14.2 | Verzögertes und kritisches Lesen <?page no="204"?> 204 14.3 Schreiben und Lesen In der und-Koordination des Untertitels finden Sie eine markierte Folge. Gewöhnlich wäre die Lernfolge ikonisch präferiert wie im Titel des Kapitels. Gegen diesen Default formuliere ich, um darauf zu kommen, dass wir schreiben nur können, wenn wir gut lesen können. Um gut zu schreiben ziehen wir die Lehre aus dem Lesen. Unser Ziel ist: den Leser zum Lesen und Verstehen zu bringen. Welche Lehren ziehen wir in etwa? Wir schreiben für Leser. Die Leser modeln wir uns ein bisschen wie uns selbst. Öfter entwickeln wir für uns Schreiber eine Art recipient design. So würden wir vielleicht für Anfänger schreiben: Die Forschung ist hier noch nicht so weit. Das kann man gut erklären. Denn Texte werden immer von Einzelpersonen geschrieben und für einen bestimmten Zweck. Darum kann man so etwas Allgemeines gar nicht festlegen. Und so für Wissenschaftler (jedenfalls tun es manche so): Offenbar gibt es für diese Unzulänglichkeiten der Forschung eine plausible Erklärung: Objektive und generell gültige Festlegungen zu diesen Problemen sind nicht möglich, denn der Text ist eine an subjektive Handlungen gebundene Einheit der Sprache, die per se funktional ist. Da wir aber schwer über unseren Schatten springen können, zeigen wir im Schreiben auch etwas von uns selbst. Auch hier wieder konzentrieren wir uns auf wissenschaftliches Schreiben. Schreibstilistiken empfehlen Ihnen schon mal: „Schreib, wie du sprichst! “ Sie wissen, dass das im wissenschaftlichen Schreiben nicht weit trägt. Es trägt schon im alltäglichen Schreiben nicht so weit, weil es gravierende Unterschiede gibt: Sprache und Sprechen sind sozusagen natürlich, man erwirbt es. Schreiben erlernt man, wird man gelehrt. Ein Sprachsystem ist geworden in kollektiver Genese. Der Wille des Einzelnen zählt nichts. Ein Schriftsystem wird konstruiert von Gruppen Einzelner. Es mag sich im Gebrauch verändern. Die Schrift bildet nicht genau das Gesprochene ab. Besser ist der Slogan: „Schreib, wie du gelesen werden möchtest.“ Sprechen vs. schreiben Lesen und Schreiben | 14 214 <?page no="205"?> 205 Mündlich vs. schriftlich Und daraus resultieren Unterschiede. All diese Unterschiede haben wichtige Konsequenzen, die sich vor allem aus Haltbarkeit und Vielfachadressierung ergeben: Größere Sorgfalt als beim normalen Sprechen Korrekte Rechtschreibung Adäquate äußere Form Schreiben ist ein weites Feld vom alltäglichen Schreiben bis zum kreativen Schreiben oder zum literarischen Schreiben. Für uns ist naheliegend: das wissenschaftliche Schreiben. Auch dabei schränke ich mich ein. In einer Art Experiment nehmen wir mal an: Sie haben eine Zulassungsarbeit fast fertig. Es geht nur noch um das Finish, um die Überarbeitung. Sie blicken kritisch auf Ihren eigenen Text. Er ist für einen Korrektor geschrieben. Sie müssen ihn mit den Augen des Korrektors lesen und nach seinen Kriterien. (In Kap. 12.2 haben Sie dafür schon Anregungen.) Prinzipiell wird es darum gehen: Wie gut ist die Arbeit als Ausweis wissenschaftlicher Fertigkeiten? Sie sind vielleicht in Schreibphasen vorgegangen: planen, umsetzen. Während des Schreibens kamen Ihnen neue Ideen, Sie haben umorganisiert und umformuliert. Generell kennen Sie die wichtigen und übliche Kriterien der Textbewertung und der Korrektor-Beurteilung. Die F2F-Komunikation ist situationsgebunden: Es gibt direkten Feedback. Sprechakte sind adressiert. Das Gesprochene ist flüchtig, ephemer. Das Gesprochene ist online veränderbar, korrigierbar. Mehrere Kanäle sind nutzbar. Das Gesprochene ist linear. Sprechen, hören und verstehen vollziehen sich zur gleichen Zeit. Das Tempo wird von den Beteiligten bestimmt. Im Mündlichen gibt es sog. Ungrammatisches, Ellipsen, Satzabbrüche und dergleichen. Hingegen ist Schriftliches situationsentbunden: Da ist ein einsamer Autor. Schriftliches ist vielfachadressiert. Schriftliches ist haltbar. Schriftliches ist externalisiert, starr. Schriftliches wird visuell rezipiert: Paraspachliches - Intonation und Prosodie - ist zu ersetzen (auch Gestik, Mimik? ). Schriftliches ist zweidimensional. Schreiben und lesen sind zeitversetzt. Der Schreiber bestimmt sein Tempo, der Leser seines. Schriftliches ist stärker normiert (etwa kein Dialekt? ). 14.3 | Schreiben und Lesen 215 explizit und genau übersichtlich vollständig widerspruchsfrei keine Redundanz <?page no="206"?> 206 Einfach scheint es bei Rechtschreibung und Interpunktion. Hier gibt es ja einen Standard, den man einhalten muss. Dass es einen Standard gibt, ist wohlbegründet (welcher ist eine andere Frage). Es ist für flüssiges Lesen unerlässlich. Aber auch hier gibt es eine Kür: die unterschiedliche Verwendung von Komma und Semikolon, die Wahl und den differenzierten Gebrauch von Gedankenstrichen und Klammern. Die diversen Arten von Klammern selbst. Unerlässlich ist für Linguisten der reflektierte Gebrauch von Anführungszeichen, er gehört zur linguistischen Grundausrüstung. Anführungszeichen wie Kursive sollten reserviert bleiben für sprachliche Einheiten, die metasprachlich behandelt werden, vielleicht noch differenziert und Anführungszeichen für Zitate reserviert. Es sollten die Auszeichnungen auch ein-eindeutig verwendet werden. Der wilde Gebrauch von Anführungszeichen führt in die Irre. An diesem hier sollten Sie sich kein Vorbild nehmen. Beginnen wir nun mit dem Eigentlichen. Behalten Sie immer im Auge: Für wen schreibe ich? Wie wird der Adressat meinen Text lesen? Leitfragen für Sie könnten sein: Habe ich einfach und klar geschrieben? Gibt es irgendwo noch Unklarheiten? In einem ersten Schritt betrachten Sie Ihre Gliederung. „Bahnhof“ ist in „Stadt“ enthalten, „Chefarzt“ gehört zu „Krankenhaus“. Ausgehend von diesem alltagssprachlichen Gebrauch des Wortes definieren wir „Thema“ als Kern des Textinhalts [...] Wir gehen davon aus, dass sich der Textinhalt (die „Gesamtinformation“ eines Textes) als Ergebnis eines „Ableitungsprozesses“ auffassen lässt [...] [...] gilt nun jahrzehntelang der „Satz“ als die oberste linguistische Bezugseinheit. Die im Wissen rekonstruierbare „logische“ Struktur entspricht somit nicht der thematischen Struktur des Textes [...] Teilweise finden wir auch in der Benennung der Textsorte bereits den entscheidenden Hinweis auf die Texthandlung, so beim Wetterbericht, bei der Zeitungsmeldung oder bei einem Antrag. Wir sprechen in solchen Fällen von „nichtsatzwertigen Ausdrücken (oder Wortgruppen)“. (Brinker/ Cölfen/ Pappert 2014, 37, 53, 24, 14, 59, 122, 27) Lesen und Schreiben | 14 145 <?page no="207"?> 207 Ordnung Für einen Aspekt betrachten Sie dieses Inhaltsverzeichnis. Es erscheint recht plausibel. Oder würden Sie es verbessern? Sprachlich? Formal? Ein weiterer Aspekt ist der inhaltliche Aufbau der Arbeit. Was halten Sie von dieser kurzen Einleitung? Gliederung Tief genug gegliedert? Zu tief? Gibt es genügend Absätze? Gibt es zu viel Absätze? Sind die Absätze thematisch plausibel? (Zu jedem Absatz könnten Sie im Geist eine Überschrift probieren.) Sind die Absätze gut verknüpft? Stimmen die Proportionen der Kapitel? Inhaltsverzeichnis Einleitung ………………………………………………………………..……….… 1 Das Wesen der Stereotypen ……………….……………….………………… 3 (Mögliche) Definition ………………..…………………………….…………… 3 Entstehung von Stereotypen ………….…………………………………………4 Funktion von Stereotypen ………………………………………..…………….. 5 Folgen der Stereotypen …………………………………………….…………… 5 Stereotypenuntersuchung ………..…………………………..…………… 7 Die Methode der Internetrecherche ….………………………….……………… 7 Auswahl des Suchdienst ……………………………………….….…………… 9 Ergebnisse der Recherche ……………………………………..………………….. 10 Inhaltlicher Aufbau Avisiert die Einleitung den Aufbau? Führt die Einleitung gut ein? Fasst der Schluss gut zusammen? Ergebnis/ Fazit/ Folgerungen/ Ausblick? Check: Passen Einleitung und Schluss zueinander? Eventuell anpassen Im ersten Teil der Arbeit wird die Interferenz im Bereich der Sprachkontaktforschung analysiert.[...] Im zweiten Teil wird auf die Interferenz im Bereich des Fremdsprachenunterrichts eingegangen. [...] Im letzten Teil der Arbeit wird die Interferenz im Rahmen der Neurolinguistik beschrieben. 14.3 | Schreiben und Lesen <?page no="208"?> 208 Finden Sie, dass dieser Schluss ok ist und dass er zur Einleitung passt? Nun gehen Sie in den Text hinein und widmen sich wissenschaftlich wichtigen Aspekten. Den Text zum Witz hier unten können Sie nach den Kriterien analysieren. Was würden Sie als Korrektor sagen? Wie steht es mit den Termini? Sind sie üblich oder müsste ich welche definieren? Sind welche definiert? Wie gut? Verwende ich die Termini einheitlich und konsistent? Verwende ich eine abwegige Terminologie? Haben meine Termini einen Stallgeruch? Welchen? Im Rahmen dieser Arbeit wurden Aspekte des Phänomens Interferenz innerhalb von drei wichtigen Bereichen der Linguistik erläutert. Anfangs wurde [...] Es wurde weiter gezeigt, dass [...] Im zweiten Teil der Arbeit wurde auf die Interferenz im Rahmen des Fremdsprachenunterrichts eingegangen. [...] Im Rahmen einer Untersuchung wurde nachgewiesen, dass [...] Schließlich wurde auf Interferenzerscheinungen innerhalb der Neurolinguistik eingegangen. Hier wurde gezeigt, wie [...] Zusammenfassend kann mit Sicherheit festgestellt werden, dass [...] Wie steht es mit dem Zitieren? Viele Zitate? Zu viele? Korrekt zitiert? (Quelle usw.) Reformulierungen? Viele? Zu viele? Wie werden Zitate genutzt? Affirmativ? Kritisch? Zitateinleitungen: Tendenziös? Was den Witz von anderen literarischen Genres unterscheidet, ist seine Knappheit und Kürze. Ein Witz besteht fast immer aus zwei Teilen, der Witzerzählung und der Pointe. Der erste Teil kann leicht verändert werden, aber die Pointe muss stimmen und ist nur bedingt variierbar. Eine sehr große Gruppe von Witzen ist als Dialog konstruiert, z. B. zwischen Richter und Angeklagtem, Kellner und Gast, Herr und Diener, Kind und Erwachsenem, Arzt und Patient, zwischen einem Lehrer und Schüler, einem Mann und einer Frau, Petrus und einem armen Sünder usw. In den Übertrumpfungswitzen geht es ebenso um zwei Gegner, von denen der eine den anderen durch seine Schlagfertigkeit oder List besiegt. Sehr verbreitet ist die Strukturmodell „Dreizahlgeschichten“, in der der dritte Fall die beiden ersten übertrumpfen kann. Die Dreizahlgeschichten gibt es insbesondere im ethnischen Übertrumpfungswitz sehr häufig. Lesen und Schreiben | 14 217 <?page no="209"?> 209 Wichtig ist immer das Kürzen. Im Grunde gewinnt jeder Text durch Kürzen. In einer wissenschaftlichen Arbeit mag das Überwindung kosten. An fremden Texten geht es oft leichter. Sie könnten hierzu auch einen gutwilligen Leser zu Rate ziehen. Schaffen Sie es, diesen Text um 30 Prozent zu kürzen? Auch hier denken Sie an den Korrektor, der Ihre Arbeit professionell liest. Er wendet eine beschränkte Zeit dafür auf, beherrscht vielleicht die Kunst des Überfliegens. Übersichtlichkeit und Lesbarkeit machen Ihren Text attraktiv. Wissenschaftlichkeit zeigen Sie auch mit differenzierten Aufstellungen in übersichtlicher Form (bullets oder Spiegelstriche), mit Tabellen und Diagrammen, auch Grafiken und Bilder können Eindruck machen. Vor allem, wenn sie gut eingebaut und arrangiert sind. Kürzen Was wäre überflüssig? Was könnte ich weglassen? Was kürzen? Überflüssig ist, was schon einmal gesagt ist, was aus dem Kontext hervorgeht, was der Adressat nicht wissen will. Interessant ist auch die eigene Witztheorie von Hirsch, die mit der freudschen Theorie einige Anhaltspunkte gemein hat (Hirsch 1985: 237). Hirsch rezipiert die freudsche Theorie über Witz und Unbewusstes und beschreibt nach dem Vorbild von Freud, wie der Witz vom Hörer erlebt wird und welche Prozesse das Erzählen des Witzes hervorruft. Die Wirkung des Witzes auf den Hörer unterteilt Hirsch in vier aufeinander folgende Phasen. In der ersten Phase davon wird der Witz teils rational und zum Teil intuitiv verstanden. Im Verstehen wird somit eine angebotene, paradoxe Gedankenverbindung, die vorher nur angedeutet wird, vollendet. Sie erweist sich aber als intellektuell unerwünscht, weil sie nämlich albern und abwegig ist. Deswegen versucht der Verstand, sie auszulöschen. Attraktivmacher zeigen Wissenschaftlichkeit erleichtern dem Korrektor die Arbeit Aufzählungen, Graphiken, Tabellen Fettdruck wichtiger Termini und Stichwörter 14.3 | Schreiben und Lesen 216 <?page no="210"?> 210 Damit Sie Ihren eigenen Stil schreiben können, sollten sie weithin akzeptierte Kriterien für wissenschaftliches Schreiben kennen und die Schreibe Ihres Korrektors. Erst dann sollten Sie Ihren eigenen Stil pflegen. Erst dann wissen Sie, was Sie tun. Derartige Normvorstellungen werden weithin geteilt. „Wem das Schreiben leicht fällt, der hat keine Ahnung vom Schreiben“, soll Peter Handke einmal gesagt haben. Der Schreiber möchte seine Leser zum Mitdenken bringen, zur Mitarbeit vielleicht. Bei manchen klappt das mit kleinen Andeutungen und Spielereien (hier Seiten: 35 Z. 6 v. u., 130 Z. 9 v. u., 175 Z. 7 v. o., 182 Z. 6 v. u., 187 Z. 11 v. u. Dann noch Seite 140 und Seite 76 vor allem.) Andere werden dem vielleicht nicht folgen, es nicht besonders attraktiv finden, es überlesen. Das ist das Wagnis des Schreibers - und letztlich auch des Lesers. Alles kann man auch anders formulieren. Aber dann sagt man auch was Andres. Und Ihr Stil? Erkennen Sie einen einheitlichen Stil? Verwenden Sie auch Alltagsprache? Zeigen Sie sich eher normbewusst? Wie normbewusst wollen Sie sich zeigen? Auf alle Fälle sollte man kennen, was Spezialisten so sagen. So bemüht man sich erzähl-frei, d.h. sachlich und emotionsfrei zu formulieren - das Erzähl- Verbot lässt sich relativ unkompliziert durch eine entsprechende Gedankenführung (Argumentation im Großen wie im Kleinen) einhalten [...] ich-frei, d.h. möglichst objektiv zu formulieren - das Ich-Verbot kann durch die Wahl des Passivs und den Einsatz von Passiversatzformen befolgt werden [...] metaphern-frei, d.h. nüchtern, frei von sprachlichem Schmuck und kreativ-bildhaften Formulierungen zu schreiben - das Metaphern-Verbot betrifft die Formulierung, nicht die Wortwahl, da in den Terminologiesystemen vieler wissenschaftlicher Theorien Metaphern unumgänglich sind [...] (Bünting/ Bitterlich/ Pospiech 2000, 94) Lesen und Schreiben | 14 220 <?page no="211"?> 211 Literatur Adamzik, Kirsten (2004): Textlinguistik. Eine einführende Darstellung. Tübingen Adamzik, Kirsten (2008): Textsorten und ihre Beschreibung. 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(2010): Historische Textgrammatik und Historische Syntax des Deutschen. Traditionen, Innovationen, Perspektiven. Berlin/ New York Literatur <?page no="215"?> 215 Nachweise Bilder stammen aus Wikimedia oder sind eigene Produktionen. Alle Wordles und kookkurrenzbasierten Argumente verwenden Daten aus Belica (http: / / corpora.ids-mannheim.de/ ccdb/ ). Texte von Goethe und Thomas Mann aus den Korpora des IDS oder gutenberg.de. Seite 75: http: / / gutenberg.spiegel.de/ buch/ -5741/ 1 Seite 76: http: / / gutenberg.spiegel.de/ buch/ vor-der-walpurgisnachtaufsatze-1925-1936-5701/ 12 Seite 77: Günter Grass, Die Blechtrommel Seite 83: http: / / gutenberg.spiegel.de/ buch/ eduard-m-5525/ 36 Seite 101: Netzfund als Vorlage-Idee Seite 133: Karl Valentin: Sturzflüge im Zuschauerraum. München 1969 Seite 137: Formeln aus: Lütten-Gödecke, Jutta/ Zillig, Werner: „Mit freundlichen Grüßen“. Münster 1994 Seite 142: Grafik: Berliner Uni Seite 153: http: / / www.verwaltungsservice.bayern.de/ dokumente/ aufgabenbeschreibung/ 18108301606 Seite 153: Arthur Schopenhauer: Die Welt als Wille und Vorstellung. 1892. Band I Kap. 74 Seite 153: Friedrich Wilhelm Nietzsche: Der Wanderer und sein Schatten. 1886. Kap. 24 Seite 154: Troll Rotkäppchen in: Wolfgang Mieder (Hg.): Grimmige Märchen. Frankfurt/ M. 1986 Seite 163: http: / / www.digitale-sammlungen.de/ index.html? c=highlight&projekt=3&l=de Seite 163: http: / / www.blb-karlsruhe.de/ blb/ blbhtml/ nib/ uebersicht.html Seite 164: http: / / gutenberg.spiegel.de/ Seite 165: http: / / www.digitale-sammlungen.de/ index.html? c=highlight&projekt=3&l=de Seite 176: http: / / www.kirche-iserlohn.de/ fileadmin/ user_upload/ ... Seite 181: Sir Sidney Philip: An Apology for Poetry or The Defense of Poesy Seite 181: Frege im Vortrag „Funktion und Begriff“. 1891 Seite 184: http: / / www.spiegel.de/ kultur/ literatur/ biller-buch-verbotenfuer-die-kunstfreiheit-ist-das-eine-dunkle-stunde-a-511018.html Seite 192: Peter Wapnewski: Deutsche Literatur des Mittelalters. Göttingen 1960 Seite 193: http: / / gutenberg.spiegel.de/ buch/ johann-peter-hebelkalendergeschichten-327/ 2 <?page no="216"?> 216 Register Ein Register ist ein Instrument, um den Text thematisch zu erschließen. Im Register finden Sie darum nur Verweise auf Seiten, die Substantielles zum Stichwort bieten. Auf Seiten, auf denen das Stichwort nur vorkommt, wird nicht verwiesen. Keine Suchschikane. Und innerhalb des Registers schon gar nicht! Ein Problem von Registern ist Intertextualität: Themen können abgehandelt werden ohne Termini anderer Theorien. Darum verweise ich manchmal mit fremden Termini, die hier vielleicht mit Fleiß vermieden sind. A Absatz 115 Akzeptabilität 12 Ambiguität 30, 82 Anapher assoziative 40 getriggerte 93 kollektive 40 lokale 44 temporale 45 Anaphernregeln 38 Anaphorik 32, 94 anaphorisches Geflecht 36 anaphorisches Pronomen 33, 35, 44, 93 Anführungszeichen 97, 206 Anspielung 144 Antezedens 33, 40, 44, 94, 119, 158, 200 Antonym 55 Anwendungsbereiche Textanalyse 14 Archetypus 163 Argumentieren 68, 132, 171 Assertiva 67 Assoziation 40, 56 assoziative Anapher 40 assoziative Bedeutung 76 Außendeixis 41 Autosemantika 31 Bedeutung 51 Begründen 68 Bewerten 170, 205 Beziehungen, anaphorische bottom up 86, 197 bridging 40 Brief 117, 127 browsen 200 Chunk 79, 84, 152 common ground 82 definit 33, 77, 84, 94 Deixis 31, 80 Deixis am phantasma 32, 112 Deklarativa 67 Dekodieren 165 Desambiguierung 82 Direktiva 67 Disambiguierung 82 Distribution 56 Effizienz 175 elektronisch 124 enzyklopädisches Wissen 79 Ersterwähnung 99 Existenzpräsupposition 33, 35, 38, 60 explizit 52 Expressiva 67 F2F (face-to-face) 32, 43, 72, 100, 205 Fassung 166 fiktionale Gegenstände 183 Fiktionalität 181 Formular 116 Frame 39, 84 Gliederung 109, 113, 115, 117, 170, 173, 202, 207 Gutachten 171, 174 B C E D F G <?page no="217"?> 217 Register H Handeln 63 Hypertext 122, 124 Hypertextnetz 124 Ikonismus 49, 87 Illokution 66 Illokutionstyp 67 Implikatur 73, 76 implizit 52 indefinit 37, 77 inferieren 54, 73 Informativität 175 Inhaltsverzeichnis 107 Intention 71, 128, 169 Interpretieren 192 interaktiv 126 Intertextualität 139, 143 Ironie 75, 144 Kapitel 115, 199 Karteikarte 34, 37 Katapher 35 Kochrezept 106 Kohärenz 24, 36, 86, 98, 200 Kohäsion 24, 196 Kommissiva 67 Kommunikation 64 Kommunikationsbereich 129 Kommunikationsprinzipien 73, 188 Kompakt 28 Konjunktion 18, 21 Konnektiv 16, 19, 87, 200 Konnektor 16, 70, 87, 200 Konnektorfolgen 22 , 88 Konnexion 17, 21 Kontext 24, 31, 53, 60, 74, 79, 99 Kontextwissen 79 Konvention 52 Kookkurrenz 56, 79, 84, 148, 152 Koreferenz 35, 40 Kritische Edition 162 Kritischer Apparat 164 Langue 51 Laufwissen 82, 88 Layout 120 Lesen 179 selektives 199 kritisches 202 verzögertes 202 lexikalische Bedeutung 54, 87, 134, 188 Linearität 12, 32, 45, 123, 126, 164, 197 Link 123 literarische Kommunikation 188 literarischer Text 181 Literatursprache 187 Lückentext 83 Märchen 113 mentale Muster 52, 84, 85 Metaphorik 32, 49, 76, 190, 210 Modul 117, 122 modular 122, 126 mündlich vs. schriftlich 198 Negation 55, 61 Okkurrenz 139 Organonmodell 130 Origo 31 textuelle 41 Paragraph 115 Parallelismus 188 Parodie 146 Parole 51 Perlokution 70 Personenbeschreibung 112 Phantasma 50 Phorik 31, 80 Plagiat 147 Plot 113 Poetizität 185 Präsupposition 33, 38, 60 L I K N M O P <?page no="218"?> 218 Pronomen 18, 32, 35, 44, 93, 189 Proposition 27, 53, 65, 80 Propositionale Analyse 27 Prototyp 57, 67 Quasi-Akte 182 Quelltext Rahmen (≠frame) 45, 47 Raum-Zeit-Anaphorik 41, 47 Redundanz 177 reformulieren 28 Rekurrenz 39, 77, 111, 188 Relationen, semantische 19, 53 Repetition 39, 77, 111, 188 Rezension 171 Rezeption 186 Sachtext 181 Sachwissen 80 Satzsemantik 28 Satzzeichen 95 schriftlich vs. mündlich 198 scorekeeping 86 Semantik 53 Semantische Analyse 28 Sequenzmuster 67 Sinn 31, 51, 71 Sinnrelationen 19, 53 Situation 75, 79 Skalen 77 skimmen 198 Skript (script) 85 sprachliches Handeln 64 Sprachwissen 80 Sprechakt 63, 66 Sprechaktsequenz 66, 69, 90 Sprechaktstruktur 66, 91 Sprechakttheorie 65 Sprechakttypologie 67, 131 Sprechaktverben 65 Stemma 167 Stilanalyse 153, 157 Stildefinition 152 Subthema 107 suchen 201 Sukzedens 35, 119 surfen 200 synoptische Edition 167 Synsemantika 31 Szene 84, 94 Taxonomie der Textsorten 128 Temporaladverbien 46 Tempus 46 Tempussystem 48 Tempuswechsel 48 Text und Bild 118 Textanalyse 15, 53, 72, 153 Textarten 67, 70, 127 Textaufbau 106 Textbaustein 116 Textbewertung 170 Textdefinition 11 Textfunktion 70, 130 Textgrammatik 16 Textinhalt 31, 53, 71 Textkohärenz 24, 36, 86, 200 Textkohäsion 24, 196 Textsegment 16, 37, 115, 139, 147, 162 Textsorten 67, 70, 127 Textstruktur 109, 113 Texttreue 169 Textualität 13, 186 Textverarbeitung 116 Textwelt 82, 181, 187 Textzeuge 162 Thema 36, 99 Themagewinnung 104 Thema-Rhema-Gliederung 99 Thematische Struktur 106, 111 thematische Entfaltung 37, 100, 105 thematische Progression 99 Themenentfaltung 37, 100, 105 Themenmanagement 111 Titel 26, 102, 108, 118 top down 86, 197 transition 86 P Register Q R S T <?page no="219"?> 219 T transkribieren 165 Transkription 163 trigger 87 Typologie von Textsorten 128, 132 überfliegen 199 Überschrift 101, 102, 117, 202 Unterthema 107, 109 Valenz 40, 84 Variante 145, 166 Variationen 145 verlinkt 123 Verständlichkeit 176, 178 Verständnis 71 Verstehen 56, 71, 81, 88, 98, 119, 144, 175, 192, 198 Verweisen 33 Verweiskette 36 Verweisnetz 36 Verweisregeln 38 virtuell 124 Vokabular stilbezogen 155 themabezogen 134 Vorwissen 84, 175 Wahrheit 53 Wegbeschreibung 112 Weltwissen 80, 99 Wiederaufnahme 36, 41 Wiedergabe 140 Wiedergabe indirekt 140 Wiederholung 39, 77, 111, 188 Wissen 79 aktiviertes 81 gemeinsames 80, 118 zitieren 140, 143, 203 Zusammenhang 12, 30 U V W Z Register <?page no="221"?> Hans Jürgen Heringer Deutsche Grammatik und Wortbildung in 125 Fragen und Antworten UTB 2014, 218 Seiten €[D] 19,99 ISBN 978-3-8252-4227-5 Dieser Band gibt einen vollständigen Überblick über die grammatischen Regeln des Deutschen. Er richtet sich an Studierende und Lernende, bietet auch grammatisches Grundwissen, das außerhalb der Universität benötigt wird. Die Grammatik ist klassisch systematisch aufgebaut. Die Anordnung nach Fragen und Antworten bietet aber zudem die Möglichkeit der Schwerpunktsetzung. Zahlreiche Beispiele veranschaulichen und erläutern die grammatischen Probleme. Aus dem Inhalt: Welche Arten von Verben gibt es? • Gibt es Regeln für das Genus? • Wie ist der Satz gegliedert? • Wie stehen die Wörter im Satz? • Wie kann man Sätze verbinden? • Welche Wortbildungen gibt es? Narr Francke Attempto Verlag GmbH+Co. KG \ Dischingerweg 5 \ 72070 Tübingen \ Germany Tel. +49 (07071) 97 97-0 \ Fax +49 (07071) 97 97-11 \ info@narr.de \ www.narr.de Stand: September 2015 · Änderungen und Irrtümer vorbehalten! JETZT BESTELLEN! <?page no="222"?> Nina Janich (Hg.) Textlinguistik 15 Einführungen narr STUDIENBÜCHER 2008, 383 Seiten €[D] 24,90 ISBN 978-3-8233-6432-0 Das vorliegende Studienbuch vereint die Beiträge verschiedener renommierter Textlinguistinnen und Textlinguisten des deutschsprachigen Raumes und gibt so einen Überblick über Forschungsfragen und Methoden der Textlinguistik von ihren Anfängen bis heute. Dabei werden klassische Ansätze der Textgrammatik, Textsemantik und Textpragmatik ebenso diskutiert wie aktuelle kommunikativ orientierte, kognitions- und diskurslinguistische Perspektiven auf Text; neben Aspekten wie Textsorten/ Texttypologien und Intertextualität sind auch die jüngsten Erweiterungen der Textlinguistik in der Hypertext- und Computerlinguistik berücksichtigt. Mit einem anwendungsorientierten Schwerpunkt auf Fragen der Textproduktion und Textrezeption reicht die Einführung schließlich weit über das übliche Themenspektrum einer Textlinguistik-Einführung hinaus. Narr Francke Attempto Verlag GmbH+Co. KG \ Dischingerweg 5 \ 72070 Tübingen \ Germany Tel. +49 (07071) 97 97-0 \ Fax +49 (07071) 97 97-11 \ info@narr.de \ www.narr.de Stand: Oktober 2015 · Änderungen und Irrtümer vorbehalten! JETZT BESTELLEN! <?page no="223"?> Robert Mroczynski Gesprächslinguistik Eine Einführung narr STUDIENBÜCHER 2014, 272 Seiten €[D] 22,99 ISBN 978-3-8233-6851-9 Die gesprochene Sprache wurde in der Linguistik lange Zeit als chaotisch und deshalb nicht untersuchungswürdig angesehen. Mittlerweile hat sich die Ansicht durchgesetzt, dass sie alles andere als chaotisch ist. Sie folgt ihren eigenen Regeln und weist ihre eigenen Strukturen und Dynamiken auf, die erkannt und beschrieben werden können. Welche Regeln, Strukturen und Dynamiken das sind, soll in dieser Einführung vorgestellt werden. Im Vordergrund stehen zunächst grundlegende Fragen: Was ist gesprochene Sprache? Was sind Untersuchungsgegenstand und Methodik der Gesprächslinguistik? Wie können gesprochene Daten erhoben und transkribiert werden? Im zweiten Schritt wird dann auf die vielfältigen Besonderheiten der gesprochenen Sprache eingegangen. Dazu gehören grammatische, pragmatische, prosodische und auch nonverbale Eigenschaften. Das Buch richtet sich vor allem an Bachelor-Studierende der germanistischen Sprachwissenschaft, kann aber auch den Studierenden der Sozial-, Medien- und Kommunikationswissenschaften interessante Informationen und Ideen liefern. Narr Francke Attempto Verlag GmbH+Co. KG \ Dischingerweg 5 \ 72070 Tübingen \ Germany Tel. +49 (07071) 97 97-0 \ Fax +49 (07071) 97 97-11 \ info@narr.de \ www.narr.de Stand: Oktober 2015 · Änderungen und Irrtümer vorbehalten! JETZT BESTELLEN! <?page no="224"?> Heike Ortner Text und Emotion Theorie, Methode und Anwendungsbeispiele emotionslinguistischer Textanalyse Europäische Studien zur Textlinguistik 15 2014, X, 485 Seiten €[D] 78, - ISBN 978-3-8233-6910-3 Der Zusammenhang zwischen Sprache und Emotion wird in der Linguistik aus vielen verschiedenen Perspektiven untersucht. Dieser Band dient als Zusammenfassung des aktuellen Forschungsstandes zu dem komplexen Thema. Berücksichtigt werden Erkenntnisse aus verschiedenen Teildisziplinen, z.B. Semiotik, Lexikologie, Pragmatik, Kognitive Linguistik und Textlinguistik. Im methodischen Teil wird gezeigt, wie eine emotionslinguistische Analyse emotive Strukturen in Texten offenlegt, wobei die vorgeschlagene Methode leicht an verschiedene Fragestellungen angepasst werden kann. Ihre Anwendung und empirische Überprüfung findet an sehr unterschiedlichen Textkorpora statt: Briefe von Franz Kafka als Beispiel für einen Individualstil sowie Nachrichtenartikel von verschiedenen Online-Plattformen als Beispiel für Medientexte. Forschende, Lehrende und Studierende finden hier sowohl einen umfassenden Überblick über theoretische Grundlagen als auch Anregungen für die Anwendung in der eigenen Forschung und Lehre. Narr Francke Attempto Verlag GmbH+Co. KG \ Dischingerweg 5 \ 72070 Tübingen \ Germany Tel. +49 (07071) 97 97-0 \ Fax +49 (07071) 97 97-11 \ info@narr.de \ www.narr.de Stand: Oktober 2015 · Änderungen und Irrtümer vorbehalten! JETZT BESTELLEN! <?page no="225"?> Dies ist ein utb-Band aus dem A. Francke Verlag. utb ist eine Kooperation von Verlagen mit einem gemeinsamen Ziel: Lehrbücher und Lernmedien für das erfolgreiche Studium zu veröffentlichen. utb-shop.de ,! 7ID8C5-ceehbc! ISBN 978-3-8252-4471-2 Dieses Buch führt systematisch in die Texttheorie ein. Es bietet eine konzise und kritische Darstellung der aktuellen Forschungslage, behandelt textlinguistische Fragestellungen und Methoden. An Beispielen literarischer Texte und an Gebrauchstexten wird vorgeführt, wie diese Methoden auf Texte anzuwenden sind. Die Einführung richtet sich gezielt an Studienanfänger und Studierende der germanistischen Linguistik auf BA-Niveau. Kapitel zu Textkritik und literarischen Texten (Fiktionalität, stilistische Bewertung, Interpretieren etc.) machen die Lektüre auch für Literaturwissenschaftler interessant. Zusätzlich steht ein Online-Buch mit vielen Übungsaufgaben und kritischen Texten zur Vertiefung und Erweiterung einzelner Aspekte auf der UTB-Homepage zur Verfügung. Sprachwissenschaft QR-Code für mehr Infos und Bewertungen zu diesem Titel