Deutschdidaktik
Konzeptionen für die Praxis
1028
2015
978-3-8385-4481-6
978-3-8252-4481-1
UTB
Christiane Hochstadt
Andreas Krafft
Ralph Olsen
Dieser Band liefert eine Übersicht über wesentliche deutschdidaktische Konzeptionen und präsentiert sowohl sprach- und literatur- als auch mediendidaktische Ansätze. Dabei orientiert er sich an den Kompetenzbereichen der KMK-Bildungsstandards. Jede Konzeption wird nach einer überblickshaften Darstellung problematisiert sowie durch Aufgaben und kommentierte Literaturhinweise ergänzt. Das Buch bietet eine unersetzliche Grundlage, um Deutschunterricht fundiert zu planen und zu reflektieren. Für die 2. Auflage wurden alle relevanten deutschdidaktischen Publikationen seit dem Erscheinen der ersten Auflage eingearbeitet.
"Wer eine gut verständliche und fachlich fundierte Einführung in Konzeptionen der Deutschdidaktik sucht, lese den Band von Hochstadt, Krafft und Olsen." (Prof. em. Dr. Dr. h. c. Kaspar H. Spinner, Universität Augsburg)
<?page no="0"?> Christiane Hochstadt Andreas Krafft Ralph Olsen Deutschdidaktik Konzeptionen für die Praxis 2. Auflage <?page no="1"?> Eine Arbeitsgemeinschaft der Verlage Böhlau Verlag · Wien · Köln · Weimar Verlag Barbara Budrich · Opladen · Toronto facultas · Wien Wilhelm Fink · Paderborn A. Francke Verlag · Tübingen Haupt Verlag · Bern Verlag Julius Klinkhardt · Bad Heilbrunn Mohr Siebeck · Tübingen Nomos Verlagsgesellschaft · Baden-Baden Ernst Reinhardt Verlag · München · Basel Ferdinand Schöningh · Paderborn Eugen Ulmer Verlag · Stuttgart UVK Verlagsgesellschaft · Konstanz, mit UVK / Lucius · München Vandenhoeck & Ruprecht · Göttingen · Bristol Waxmann · Münster · New York utb 4023 <?page no="3"?> Deutschdidaktik Konzeptionen für die Praxis 2., überarbeitete und erweiterte Auflage Christiane Hochstadt / Andreas Krafft / Ralph Olsen A. Francke Verlag Tübingen <?page no="4"?> Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über <http: / / dnb.dnb.de> abrufbar. 2., überarbeitete und erweiterte Auflage 2015 1. Auflage 2013 © 2015 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Gedruckt auf chlorfrei gebleichtem und säurefreiem Werkdruckpapier. Internet: www.francke.de E-Mail: info@francke.de Einbandgestaltung: Atelier Reichert, Stuttgart Satz: Informationsdesign D. Fratzke, Kirchentellinsfurt Druck und Bindung: Friedrich Pustet GmbH & Co. KG, Regensburg Printed in Germany UTB-Band-Nr. 4023 ISBN 978-3-8252-4481-1 (UTB Bestellnummer) Die Autoren: Christiane Hochstadt, geb. 1977, Akademische Mitarbeiterin an der Pädagogischen Hochschule Heidelberg; Lehrtätigkeiten in Karlsruhe und Landau; mehrere Jahre Grund- und Hauptschullehrerin. Andreas Krafft, geb. 1975, Akademischer Mitarbeiter an der Pädagogischen Hochschule Karlsruhe; mehrere Jahre Grund- und Hauptschullehrer. Ralph Olsen, geb. 1968, Professor für Literaturwissenschaft und Literaturdidaktik an der Pädagogischen Hochschule Ludwigsburg; Lehrtätigkeiten in Karlsruhe und Heidelberg; mehrere Jahre Grund- und Hauptschullehrer in Lübeck und Studienleiter am IQSH Kiel. <?page no="5"?> Für die (zukünftigen) Lehrerinnen und Lehrer von Johanna, Laurenz und David Jonas, Lea und Joel Keanu Alexander, Marc Christian und Sophia <?page no="6"?> Auf die provokative Frage, was denn an der Fachdidaktik nachfragenswert wäre, wenn sie sich außerhalb der geschützten Mauern des Hochschulbetriebes, innerhalb derer die Rhetorik der Didaktik sich in immer kürzeren Abständen selbst verdoppelt, zur Disposition stellen müßte, kann die Antwort eigentlich nur sein, daß diese in der Explikation des Sinns von Entscheidungen im (sprachlichen) Bildungssektor liegen müßte. Zwar hat Max Scheler einer berühmten Anekdote zufolge davon gesprochen, daß der Wegweiser den Weg, den er weise, selbst nicht gehe. Das ist für den Wegweiser richtig, aber nicht für den, der den Wegweiser aufstellte. In diesem Sinne ist die Didaktik in einem zweifachen Sinne praktisch: indem sie sich des Sinnes von Praxis versichert und ihn rekonstruiert, aber ebenso diesen Sinn in den eigenen Handlungen produziert. Wenn sich letzteres außerhalb der Rhetorik des Faches abspielt, so ist es „das Unaussprechliche“, das sich, wie Wittgenstein im Traktat (6.522) sagt, „zeigt“. Ossner 1998: 16 <?page no="7"?> Inhalt Vorwort zur 2. Auflage. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 Vorwort zur 1. Auflage. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11 1. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13 2. Sprechen und Zuhören . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19 2.1 Themenzentrierte Interaktion. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23 2.2 Kooperatives Lernen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27 2.3 Rhetorik im Deutschunterricht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 30 2.4 Weitere handlungsorientierte Ansätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 34 2.5 Weitere reflexions- und präskriptionsorientierte Konzeptionen und Ansätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 42 3. Schreiben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 46 a. Rechtschreiben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 46 b. Texte verfassen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 49 3.1 Phonographisch orientierter Rechtschreibunterricht . . . . . . . . . . . . . . . . 52 3.2 Wortbild- und grundwortschatzorientierter Rechtschreibunterricht . . . . 58 3.3 Analytisch-synthetische Verfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 63 3.4 Spracherfahrungsansatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 66 3.5 Regelorientierter Rechtschreibunterricht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 70 3.6 Strategieorientierter Rechtschreibunterricht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 74 3.7 Silbenorientierter Rechtschreibunterricht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 79 3.8 Produktorientierter Schreibunterricht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 86 3.9 Leserorientierter Schreibunterricht. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 91 3.10 Prozessorientierter Schreibunterricht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 96 3.11 Schreiberorientierter Schreibunterricht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 106 4. Lesen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 112 4.1 Lautlese-Verfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 121 4.2 Viellese-Verfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 122 4.3 Lesestrategien einüben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 123 4.4 Sachtextlektüre unterstützen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 126 4.5 Leseanimation. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 128 4.6 Literarisches Lesen unterstützen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 129 <?page no="8"?> 8 Inhalt 5. Sich mit Texten und Medien auseinandersetzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 133 5.1 Textanalyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 140 5.2 Handlungs- und produktionsorientierter Literaturunterricht. . . . . . . . . . 152 5.3 Textnahes Lesen (und Schreiben). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 162 5.4 Literarisches Unterrichtsgespräch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 169 5.5 Szenische Interpretation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 177 5.6 Gattungsspezifisches . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 185 5.7 Ansätze im Kontext einer medialen Erweiterung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 190 6. Sprache und Sprachgebrauch untersuchen und reflektieren . . . . . . . . . 208 a. Wortschatzunterricht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 208 b. Grammatikunterricht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 212 6.1 Traditionelle Wortschatzarbeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 215 6.2 Lexikonorientierte Wortschatzarbeit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 218 6.3 Textorientierte Wortschatzarbeit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 222 6.4 Robustes Wortschatztraining. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 226 6.5 Traditioneller Grammatikunterricht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 230 6.6 Operationaler Grammatikunterricht. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 233 6.7 Situationsorientierter Grammatikunterricht. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 238 6.8 Integrierter Grammatikunterricht. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 243 6.9 Funktionaler Grammatikunterricht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 248 6.10 Grammatik-Werkstatt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 256 6.11 Kontrastiver Sprachunterricht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 259 Schluss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 266 7. Anhang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 267 7.1 Fachdidaktische Grundlagenliteratur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 267 7.2 Zitierte Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 268 Register. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 313 <?page no="9"?> Vorwort zur 2. Auflage Mit dieser korrigierten, vollständig überarbeiteten und erweiterten zweiten Auflage möchten wir Lehrerinnen und Lehrern, Studierenden sowie Lehrenden an Universitäten und Pädagogischen Hochschulen weiterhin einen aktuellen und annähernd vollständigen Überblick über die sich in ständiger Weiterentwicklung befindlichen Konzeptionen der Sprach-, Literatur- und Mediendidaktik anbieten. Herzlich danken wir Kolleginnen und Kollegen aus Deutschland, Österreich und der Schweiz, die uns durch positive und auch kritische Rückmeldungen bei der Überarbeitung des Textes unterstützt haben. Viele Anregungen und Ergänzungen konnten wir aufnehmen - einige nicht, da die Ausrichtung des Buches auf fachdidaktische Konzeptionen erhalten bleiben und nicht verwässert werden sollte. Wer beispielsweise tief greifende Ausführungen zu den fachwissenschaftlichen Grundlagen der Lerngegenstände oder zu Erwerbs- und Entwicklungsfragen vermisst, sei daher erneut auf die in den entsprechenden Kapiteln erwähnte Basisliteratur verwiesen. Ein besonderer Dank gilt denjenigen Studierenden, die in den vergangenen Semestern in unseren Lehrveranstaltungen mit und an dem vorliegenden Buch arbeiten konnten und die uns durch ihre Beobachtungen und Rückmeldungen eine Hilfe waren. Insbesondere danken wir Annika Heitz (Pädagogische Hochschule Karlsruhe), die tatkräftig an der Erstellung der Neuauflage mitgewirkt hat. Heidelberg, Karlsruhe und Ludwigsburg im September 2015 Christiane Hochstadt, Andreas Krafft und Ralph Olsen <?page no="11"?> Vorwort zur 1. Auflage Dieses Buch richtet sich an alle, die an Schulen und Hochschulen das Fach Deutsch unterrichten (wollen oder müssen): Studierende, Praktikanten 1 , Referendare, Lehrer sowie Lehrende an Universitäten und Pädagogischen Hochschulen. Wir haben im Rahmen unserer vielfältigen Aufgaben in der Ausbildung von Deutschlehrern durchweg die Erfahrung gemacht, dass die Planung von Deutschunterricht häufig eines tragfähigen Fundaments entbehrt. Die für das Gelingen von Unterricht(splanung) notwendige Reflexion des (Nicht-)Zusammenhangs von fachwissenschaftlichen, fachdidaktischen und methodischen Aspekten wird nur selten in ausreichendem Maße geleistet, sodass der tatsächliche Unterricht häufig große Mängel aufweist. Im Laufe der Zeit wurde uns immer deutlicher, dass es denjenigen, die Deutschunterricht planen, sehr schwer fällt, sich relativ schnell - zum Beispiel im Rahmen eines Fachpraktikums - einen adäquaten Überblick zu sprach-, literatur- und mediendidaktischen Konzeptionen zu verschaffen: Die Fülle an Informationen in der Fachliteratur ist zu weit verstreut und häufig werden bestimmte theoretische Grundlagen eines methodischen Ansatzes beim Leser einfach vorausgesetzt. Mit diesem Büchlein hoffen wir, (angehenden) Lehrern für das Fach Deutsch die von vielen Seiten erhoffte Gesamtübersicht zu wesentlichen deutschdidaktischen Konzeptionen in einer systematischen, leicht verständlichen Form bieten zu können. Erst wer die Vielfalt der didaktisch-methodischen Zugänge kennen gelernt hat und ihnen kritisch gegenüberstehen kann, wird das Rüstzeug dafür besitzen, guten Deutschunterricht planen und durchführen zu können. Darüber hinaus erhebt das Buch den Anspruch, ein umfassendes Bild der heutigen Praxis des Deutschunterrichts - auch vor dem Hintergrund des Mehrsprachigkeitsaspekts - denjenigen vorzustellen, die noch keine Vorstellung vom Lehrerberuf haben. Das Buch ist in enger Auseinandersetzung mit ‚unseren‘ Studierenden entstanden. Wir danken den Unzähligen, die uns ehrlich ihre fachlichen und praktischen Bedürfnisse in Bezug auf zu erteilenden 1 In diesem Buch wird bei generischen Personenbezeichnungen aus Gründen der besseren Lesbarkeit die maskuline Form verwendet; weibliche Personen sind selbstverständlich mitgemeint. <?page no="12"?> 12 Vorwort Deutschunterricht mitgeteilt haben. Darüber hinaus möchten wir namentlich denjenigen Studierenden unseren Dank aussprechen, die sich besonders kritisch mit einzelnen Kapiteln unseres Buches auseinandergesetzt haben: Marlene Halder und Meike Schupp von der Pädagogischen Hochschule Ludwigsburg, Anne Kirschner und Christiane Saknus von der Pädagogischen Hochschule Heidelberg sowie Anna Lüll von der Pädagogischen Hochschule Karlsruhe. Schließlich danken wir Simon Tannebaum für die Hilfe bei der Erstellung der Druckvorlage. Die online-Materialien zum Buch (z. B. Lösungen) finden sich unter: www.utb-shop.de. Marbach am Neckar im August 2013 Christiane Hochstadt, Andreas Krafft und Ralph Olsen <?page no="13"?> 1. Einleitung […] selbstredend ist der Riss zwischen Theorie und Praxis nicht zu beklagen, sondern muss als Bedingung der Möglichkeit von Freiheit auf Seiten des Unterrichtenden angenommen, ja begrüßt werden. Nur weil Theorie und Praxis gespalten sind, können sie von einzelnen, handelnden Subjekten immer neu aufeinander bezogen werden […]. (Baum 2010c: 121) Einführungsbücher sind für jede zu studierende Disziplin ein wichtiges Hilfsmittel, um sich in der Fülle wissenschaftlicher Publikationen ein wenig orientieren zu können. Unser Buch Deutschdidaktik. Konzeptionen für die Praxis versteht sich als Einführungsbuch - und zwar mit einem besonderen Fokus. Um diesen zu verdeutlichen, beginnen wir mit einem Beispiel aus der schulischen Praxis (Hochstadt/ Olsen 2013): Didaktische Analyse aus einem (nicht korrigierten) Unterrichtsentwurf einer Studentin zum Thema verdoppelte Konsonantenbuchstaben (Sommersemester 2008) Grundlage meiner didaktischen Überlegungen war Wolfgang Klafkis Aufsatz „Didaktische Analyse“. Dieser besteht aus fünf Grundfragen, die sich jeder Lehrer bei der Vorbereitung einer Unterrichtsstunde stellen sollte: - Welche Bedeutung hat der betreffende Inhalt bereits im geistigen Leben der Kinder meiner Klasse, welche Bedeutung sollte er - vom pädagogischen Gesichtspunkt aus gesehen - darin haben? - Worin liegt die Bedeutung des Themas für die Zukunft der Kinder? - Welches ist die Struktur des (durch die Fragen 1 und 2 in die spezifisch pädagogisch Sicht gerückten) Inhaltes? → Struktur des Inhaltes - Welchen allgemeinen Sachverhalt, welches allgemeine Problem erschließt der betreffende Inhalt? - Welches sind die besondere Fälle, Phänomene, Situationen, Versuche, in oder an denen die Struktur des jeweiligen Inhaltes den Kindern dieser Bildungsstufe, dieser Klasse interessant, fragwürdig, zugänglich, begreiflich und „anschaulich“ werden kann? (vgl. Jank, Werner/ Meyer, Hilbert 1997: Didaktische Modelle, S. 205) Inwiefern die durch die Fragen dargestellten Forderungen erfüllt sind, wird im Folgenden erläutert. Bei Diktaten und Aufsätzen oder beim Verfassen von Briefe, Geburtstagskarten und Ähnlichem ist die Rechtschreibung von grundlegender Bedeutung. Sie wird in der Schule geübt, damit die <?page no="14"?> 14 Einleitung Schüler sie in ihrer gegenwärtigen Lebenswelt anwenden können (Gegenwartsbezug). In der Zukunft der Lernenden kommen noch weitere Bedeutungen der Rechtschreibung hinzu: Die Schüler sollten in der Lage sein, einen Leserbrief und eine e-Mail in korrekter deutscher Sprache verfassen zu können. Dies ist elementar für das spätere berufliche und soziale Leben (Zukunftsbezug). Hier müssen deutlich Akzente gegen die sich immer weiter verbreitende Kurz- und Stenographieform, wie sie von Jugendlichen in Mitteilungen per SMS oder per E-Mail praktiziert, gesetzt werden. Da der Unterrichtsgegenstand mit Hilfe von Wörtern aus der realen, täglichen Lebenswelt behandelt wird, hat er exemplarischen Charakter. Die Zugänglichkeit zum Thema Doppelkonsonanten ist im Allgemeinen etwas kompliziert und komplex, weil keineimmer anwendbare Regelung vorliegt. Durch die Präsentation von Beispielwörtern mittels eines Textes und einem anschaulichen, differenziertem Arbeitsblatt wird den Schüler die Zugänglichkeit erleichtert. Dies ist ein typisches Beispiel einer didaktischen Analyse - uns liegen unzählige ähnliche aus verschiedenen Bundesländern vor. Die Studentin bezieht sich auf die berühmten ‚5 Fragen‘ von Klafki, versäumt es jedoch, Erkenntnisse der Fachdidaktik heranzuziehen. Auch in der methodischen Analyse lassen sich keine spezifischen Bezugnahmen erkennen: Auszug aus der methodischen Analyse desselben Unterrichtsentwurfs Zu Beginn des Unterrichts schlage ich die Tafel (siehe Anhang 2) auf, in deren Mitte die Schüler einzelne Wörter mit Doppelgraphemen auf Karten gepinnt sehen. Ich frage sie, […]. […] Der Lehrer möchte seine Unterrichtsstunde spielerisch abschließen, da Rechtschreibübungen doch eher trocken sind. Dazu möchte er das Spiel Galgenmännchen verwenden. Wir können die Gründe dafür, dass den meisten Studierenden der ‚Sprung zur Fachdidaktik‘ nicht gelingt, nur erahnen. Unter anderem liegt unseres Erachtens eine problematische ‚Vormachtstellung‘ der Allgemeinen Didaktik/ Schulpädagogik in Bezug auf schulische Lernprozesse/ das Planen von Unterricht vor. Selbst im Rahmen der Lehrerbildung an Universitäten und Pädagogischen Hochschulen spielt die Fachdidaktik häufig nur eine untergeordnete Rolle. Es hätte der (tatsächlich stattgefundenen) Unterrichtsstunde sehr gut getan, wenn die Studentin - neben einer intensiven fachwissenschaftlichen Vorbereitung - sich mit fachdidaktischen Konzeptionen auseinandergesetzt hätte. Sinnvoll wäre es zum Beispiel gewesen, grundlegende <?page no="15"?> Einleitung 15 fachdidaktische Überlegungen zu einer strategiebasierten (→- 3.6) oder regelorientierten (→-3.5) Vorgehensweise heranzuziehen. Wenn das der Fall gewesen wäre, hätte die Studentin sich möglicherweise nicht nur auf strukturloses Üben konzentriert. Vielleicht sollte man den ‚Schwarzen Peter‘ aber auch der Deutschdidaktik selbst zuschieben: Zumeist scharf getrennt in Literaturdidaktik und Sprachdidaktik bietet sie in Einführungsbüchern dem Leser zwar einen differenzierten Einblick in die mannigfaltigen Gebiete der Fachdidaktik und mitunter auch in einzelne Konzeptionen, aber einen Gesamtüberblick zu den wesentlichen aktuellen deutschdidaktischen Konzeptionen suchen Studierende vergeblich. Sie stehen - wenn sie sich fernab der Allgemeinen Didaktik denn überhaupt auf die Suche machen - vor einer Vielzahl fachdidaktisch-methodischer Zugangsweisen, die zumeist weit verstreut sind. Oder (und das ist noch häufiger der Fall): Es wird dem Leser eine Menge methodischer Verfahren genannt, für die weder Hintergrundinformationen noch damit verbundene kritische Aspekte bereitgestellt werden. Hieraus ergibt sich eine weitreichende Problematik: Studierende übernehmen diese ‚methodischen Tipps‘ unkritisch, sodass im konkreten Unterricht häufig schwerwiegende Probleme auftreten, die in aller Regel darauf zurückzuführen sind, dass keine umfangreiche Auseinandersetzung mit fachdidaktischen Konzeptionen stattgefunden hat. Was sind nun aber fachdidaktische Konzeptionen? Dieser Terminus (mitunter wird auch von Konzepten gesprochen) wird in verschiedenen wissenschaftlichen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Bereichen unterschiedlich verwendet, doch letztlich lässt sich ein gemeinsamer Kern ausmachen: Es geht um eine theoretisch fundierte Zusammenstellung sowie den zielgerichteten Aufbau bestimmter Informationen und Begründungsaspekte für ein erfolgversprechendes Planen und Handeln. In der Allgemeinen Didaktik wird eine didaktische Konzeption zumeist als ein System didaktischer Prinzipien verstanden. Seibert formuliert: Unterrichtsprinzipien oder didaktische Prinzipien sind gleichsam das Endstück eines abstrakten und komplexen didaktischen Argumentationsstranges; sie enthalten fast immer konkrete Handlungsanweisungen. […] Die Auswahl und der Einsatz der Unterrichtsprinzipien dürfen jedoch nicht unreflektiert erfolgen, da sie an eine bestimmte Konzeption von Unterricht gebunden sind. Unterrichtskonzeptionen rücken der übergeordneten didaktischen Theorie ein Stück näher und entfernen sich dadurch unweigerlich von der Unterrichtspraxis. Unterrichtskonzeptionen sind wie Unterrichtsprinzipien grundsätzlich normativ und benötigen zu ihrer Realisierung handlungsleitende Entscheidungen: Unterrichtskonzeptionen präferieren je nach didaktischen Theorieelementen bestimmte Unterrichtsprinzipien, schließen aber auch allgemeinere, wie die didaktischen Grundsätze der Motivierung und Aktivierung natürlich nicht aus. Unterrichtskonzeptionen speisen wie- <?page no="16"?> 16 Einleitung derum ihre Vorstellung von Unterricht aus didaktischen Modellen. […] Unterrichtsprinzipien sind didaktische Grundsätze für erfolgversprechenden Unterricht, die in der Fachliteratur zahlreiche Umschreibungen erfahren. Die Reichweite der Begriffe und Umschreibungen zeigt, dass Unterrichtsprinzipien sowohl als Grundsätze, also als fester Bestandteil und somit als Definitionskriterium von Unterricht, als auch als unverbindliche Orientierung angesehen werden können. Die Unverbindlichkeit, die ja bereits im Wort ‚prinzipiell‘ begründet liegt, beschreibt Glöckel, wenn er Prinzipien flexibler als Regeln und weniger zwingend als Gesetze charakterisiert. H. Meyer bezeichnet Prinzipien als zusammenfassende Chiffren für die besondere Akzentsetzung eines bestimmten Unterrichtskonzeptes. (2009: 189 f.) Wenn wir Seibert weiter folgen, dass ‚das Exemplarische‘ nach Klafki also ein didaktisches Prinzip sei (ebd.: 191), wir den Terminus Konzept in die unmittelbare Nähe zu Konzeption setzen und von Prinzip abgrenzen (was häufig unterlassen wird), lässt sich für unseren Zusammenhang festhalten, dass man eine fachdidaktische Konzeption als ein umfassendes, strukturiertes Modell definieren kann, das ein ganz bestimmtes Vorhaben unter bestimmten Zielsetzungen und unter bestimmtem theoretischem Bezug verfolgt und dafür geeignete Methoden beziehungsweise Verfahren aufzeigt. Aus allgemeindidaktischer Sicht würde also ein handlungsorientierter Unterricht als Konzeption aufgefasst. Aus fachdidaktischer jedoch nicht: Für die Fachdidaktik wäre die Handlungsorientierung ein Prinzip, das (unter anderem) der Konzeption handlungs - und produktions orientierter l iteraturunterricht (→-5.2) zu Grunde liegt. Abzugrenzen von fachdidaktischen Konzeptionen sind ferner Bereiche der Wissenschaft, die Grundlagenforschung betreiben (Garbe 2014: 82), wie zum Beispiel derjenige der Literarischen Sozialisation. Diese scheinbar klare Terminologie wird in der Deutschdidaktik jedoch nicht durchgängig so verwendet. Häufig werden Phänomene als Konzeptionen etikettiert, die unserem Verständnis nach eindeutig als Prinzipien beziehungsweise Grundsätze (wie zum Beispiel Genderorientierung, Interkulturalität oder Inklusion) auszuweisen sind; mitunter wird auch der Begriff Methode in Zusammenhängen verwendet, in denen wir eindeutig von Konzeption sprächen (vgl. Jonas 2002). Seit dem Inkrafttreten der UN-Behindertenrechtskonvention 2008 etabliert sich das Konzept Inklusion mehr und mehr als Bildungsprinzip. Inklusion bedeutet die gleichberechtigte Teilhabe aller Menschen an der Gemeinschaft und somit auch am Bildungssystem. Bisher zeigt die Deutschdidaktik nur ansatzweise Bemühungen, einer inklusiven Schule gerecht zu werden. Siehe aber Pompe (2015). <?page no="17"?> Einleitung 17 Deutschdidaktische Konzeptionen … - sind gegenstandsabhängig, - haben ein gegenstandstheoretisches Fundament, - definieren Unterrichtsziele, die mit dem Gegenstand verbunden sind, - entwickeln Methoden, die aus den Inhalten und Zielen ableitbar sind, - sind übergreifend (fokussieren nicht nur auf eine Unterrichtsstunde). Unser Buch widmet sich - dies sollte deutlich geworden sein - lediglich deutschdidaktischen Konzeptionen und blendet damit bewusst andere Bereiche der Deutschdidaktik aus. Wir sind der Auffassung, dass diese Beschränkung einen erheblichen Mehrwert in sich birgt, da dadurch (zukünftig) Lehrende zum ersten Mal einen Überblick über die Konzeptionen des Deutschunterrichts erhalten, die eines der wesentlichen Fundamente didaktisch-methodischer Überlegungen im Rahmen des Planens von Deutschunterricht darstellen. Die hier dargestellten Konzeptionen wurden ursprünglich überwiegend für den muttersprachlichen Deutschunterricht entwickelt; erst in neuerer Zeit rücken auch die Bedürfnisse von Lernenden mit Deutsch als Zweitsprache ins Zentrum konzeptioneller Überlegungen. Außer Betracht bleiben in diesem Buch hingegen Fragen aus dem Bereich Deutsch als Fremdsprache. Dass der oben unternommene Versuch einer Definition des Begriffs Konzeption dessen Unschärfe nicht verdecken kann, wird spätestens dann deutlich, wenn man ihm die auch von uns immer wieder verwendeten Termini Ansatz und Verfahren gegenüberstellt. Die Grenzen hierbei sind nur in wenigen Fällen klar zu ziehen und letztlich liegt es an der Perspektive des Betrachters, wie er eine fachdidaktische Position - womit ein weiterer Terminus ins Spiel gebracht ist - klassifiziert. Ob etwas als (überzeugend ausgearbeitete) Konzeption oder lediglich als Ansatz bezeichnet werden kann, soll eine ‚streit-bare‘ Frage bleiben. Aufgrund der unüberschaubaren Anzahl didaktisch-methodischer Verfahren können wir keinen Anspruch auf Vollständigkeit erheben. Das Buch kann darüber hinaus durch seinen praxisorientierten Fokus die Lektüre anderer Einführungsbücher zur Deutsch-, Sprach- und Literaturdidaktik nicht ersetzen. Und es erspart auch nicht das Studium der fachwissenschaftlichen Grundlagen - eine diesbezügliche intensive Auseinandersetzung ist die erste und wichtigste Voraussetzung für guten Unterricht. Förster merkt - in Bezug auf Literaturunterricht - an: Ob ich etwa meinen Literaturkurs auf der Basis der Werkimmanenz, dem Paradigma der Sozialgeschichte, von rezeptionsästhetischen oder -pragmatischen Positionen oder gar der des Konstruktivismus her modelliere, ist entscheidend dafür, wie Literatur im Unterricht zur Sprache kommt und welche <?page no="18"?> 18 Einleitung besonderen Problemzusammenhänge zum Thema geraten, was entsprechend überhaupt gelernt werden kann. Von daher besteht eine unmittelbare Affinität didaktischer Konzeptualisierungen mit gegenstandstheoretischen Überlegungen. (2002: 233) Die Systematik des Buches orientiert sich an den Lern- und Kompetenzbereichen, die in den Bildungsstandards ausgewiesen werden. Es hätte viele alternative Gliederungsmöglichkeiten gegeben, die genauso berechtigt gewesen wären. Die vorliegende aber erscheint uns als eine pragmatische, um Unterrichtsplanenden ihre konkrete Arbeit zu erleichtern. Die einzelnen Kapitel unterscheiden sich in ihrem Umfang teils erheblich, was unter anderem mit dem sehr unterschiedlichen Stand der Konzeptualisierung und der diesbezüglichen Diskussion zusammenhängt. Sie sind in der Regel so gegliedert, dass auf eine Darstellung eine Problematisierung folgt und am Ende jedes Kapitels Aufgaben und Lektüreempfehlungen zu finden sind. Mitunter wird aus inhaltlichen Gründen von dieser Aufteilung abgewichen. Ein wichtiger Hinweis zum Schluss: Die Einteilung in und die Abtrennung einzelner Konzeptionen voneinander ist ein problematisches Konstrukt mit möglicherweise ‚gefährlichen‘ Folgeerscheinungen: Die Fachdidaktik Deutsch ist keine ‚Methoden-Kommode‘, deren Schubladen man nach Belieben öffnen und wieder schließen kann. Kaum eine Konzeption kann alleine ein Patentrezept für guten Unterricht bieten. Unterrichtsplanung ist gekennzeichnet durch immer neu und im Einzelfall zu lösende Schwierigkeiten. Die Beschäftigung mit den vorliegenden Konzeptionen kann aber Reflexionsprozesse anstoßen, die hoffentlich die Orientierung in diesem weiten Feld erleichtern können. Unterrichtsplanung heißt, sich Fragen zu stellen. Eine Beschäftigung mit den verschiedenen Konzeptionen kann Antworten auf diese Fragen geben - oder kann den Fragenden noch fragender hinterlassen. Auch das ist Teil eines Auseinandersetzungsprozesses mit Unterricht. <?page no="19"?> Lernmedium und Lerngegenstand Besonderheiten der Unterrichtskommunikation 2. Sprechen und Zuhören Bildungsstandards Gespräche führen - zu / vor / mit anderen sprechen - verstehend zuhören - szenisch spielen - über Lernen sprechen Der Kompetenzbereich Sprechen und Zuhören hat im Deutschunterricht schon deshalb einen besonderen Stellenwert, weil gesprochene Sprache hier nicht nur als Lerngegenstand, sondern (wie in allen anderen Fächern auch) als Lernmedium eine Rolle spielt. Auch wenn es Lehrpersonen vielleicht nicht immer bewusst ist: Die Unterrichtskommunikation ist neben der Kommunikation in Familie und Peer-Group ein wesentlicher Inputfaktor für die Sprachentwicklung von Kindern und Jugendlichen. Dies muss bei der Planung des Unterrichts stets berücksichtigt werden. Eine Lehrperson fungiert einerseits unweigerlich als (positives oder negatives) sprachliches Vorbild, nicht zuletzt für Schüler mit Deutsch als Zweitsprache: Die Lehrkraft ist ein wichtiges Sprachvorbild für mehrsprachige Kinder und Jugendliche. Deshalb ist es besonders wichtig, dass sie die Sprache bewusst und kontrolliert einsetzt. Hierzu gehört z. B. langsam, deutlich und grammatikalisch korrekt zu sprechen […] (Jeuk 2013: 119) Besonderen Stellenwert hat diese Funktion der Lehrkraft hinsichtlich des Konstrukts Bildungssprache (Feilke 2012). Ein sicheres Verfügen über die Bildungssprache ist für den Schulerfolg von zentraler Bedeutung. Dies lässt sich jedoch andererseits nicht allein durch ein möglichst vollkommenes sprachliches Vorbild erreichen: Schüler müssen die Möglichkeit haben, ihre eigenen kommunikativen Fähigkeiten im Unterricht zu erproben und weiterzuentwickeln. Allerdings ist dieses Ziel nur schwer vereinbar mit den institutionellen Bedingungen, unter denen Unter- Eine Zweitsprache (L2) wird in zeitlichem Abstand zur Erstsprache (L1) und - im Gegensatz zur Fremdsprache - überwiegend ungesteuert und nicht-institutionell erworben. Bildungssprache ist gekennzeichnet durch syntaktische (hypotaktische Konstruktionen, Nominalisierungen) und lexikalischsemantische (differenzierende Ausdrücke, Komposita, Fachtermini) Merkmale. <?page no="20"?> 20 Sprechen und Zuhören alternative Formen des geplanten Instruierens richtsgespräche stattfinden. Diese Gegebenheiten unterscheiden sich nämlich deutlich von jenen, in denen ‚alltägliche‘ Gespräche stattfinden: - Die Zahl der (potentiellen) Sprecher ist um ein Vielfaches höher. - Es bestehen deutliche hierarchische Unterschiede zwischen Schülern und der Lehrperson. - Alles, was von den Schülern zum Gespräch beigetragen wird, kann als Grundlage einer Bewertung durch die Lehrperson genutzt werden. Diese und weitere Bedingungen haben dazu geführt, dass sich im Unterricht bestimmte Rituale und Handlungsmuster herausgebildet haben, die immer wieder unreflektiert praktiziert werden, in anderen Gesprächssituationen jedoch völlig dysfunktional wären: - Ein Gesprächsteilnehmer (i. d. R. die Lehrperson) hat das Rederecht und vergibt dieses durch Fremdzuweisung. Nach Beendigung eines Beitrags fällt das Rederecht automatisch an den Gesprächsleiter zurück. - Gesprächsbeiträge, die von Schülern geäußert wurden, werden häufig durch die Lehrkraft bestätigt, wiederholt und/ oder kommentiert - das sogenannte ‚Lehrerecho‘. Es entstehen dreischrittige Gesprächssequenzen (Initiierung - Respondierung - Evaluierung). - Da sich die reine Weitergabe von Informationen als wenig effektiv erwiesen hat, werden Aufgaben (‚didaktische Fragen‘) gestellt - zum Beispiel im Rahmen eines „Lehrervortrags mit verteilten Rollen“ (Becker-Mrotzek/ Vogt 2009: 66 ff.) oder eines „fragend-entwickelnden Unterrichts“ (ebd.). Es kommt zu der an sich paradoxen Situation, dass die Lehrperson (die die Antwort kennt) eine Aufgabe stellt und die Schüler (die die Antwort nicht kennen) sie lösen sollen. Eine ausführliche Analyse sowie Kritik dieser nach wie vor umstrittenen, teilweise aber auch befürworteten Praxis findet sich bei Ehlich (1981) sowie zusammenfassend bei Becker-Mrotzek/ Vogt (2009: 77 ff.). Wenn die Deutschdidaktik das Ziel ernst nimmt, mündliche Kompetenzen durch Unterrichtskommunikation weiterzuentwickeln, müssen die klassischen Methoden des Unterrichtsgesprächs daher immer wieder ersetzt beziehungsweise ergänzt werden durch andere Formen (im Folgenden ebd.: 64 ff.): Als Handlungsmuster bezeichnen Ehlich/ Rehbein (1979: 250) Formen von standardisierten Handlungsabläufen, die im konkreten Handeln realisiert werden. Ein traditionelles schulisches Handlungsmuster ist das ‚Aufgabe stellen - Aufgabe lösen‘-Muster. <?page no="21"?> Sprechen und Zuhören 21 gezielte Einübung mündlicher Kommunikationsformen - Durch einen (angemessen kurzen und gut geplanten) Lehrervortrag können Informationen kompakt vermittelt werden. Auch kann die Lehrperson hier in besonderem Maße als sprachliches Vorbild fungieren. - Schülergespräche, das heißt Phasen, in denen der Sprecherwechsel verfahrensgeregelt oder ohne explizite Steuerung stattfindet, tragen dazu bei, dass die Schüler lernen, Verantwortung für Gesprächsverläufe zu übernehmen, sich an Gesprächsregeln zu halten, sich aber auch bei Bedarf gegen Gesprächspartner ‚durchzusetzen‘. - Gruppengespräche, bei denen die Öffentlichkeit der Klasse für einen begrenzten Zeitraum aufgehoben ist, ähneln aufgrund der geringeren Sprecherzahl und der fehlenden Rangunterschiede am ehesten nicht-institutionellen Gesprächen. Hier können auch weniger extrovertierte Schüler Techniken und Strategien erproben, die im Anschluss daran in Schülergesprächen oder anderen Situationen eingesetzt werden können. - Schüler müssen die Möglichkeit bekommen, in geeigneten Kontexten für längere Zeit und ohne Unterbrechung das Rederecht zu behalten. In solchen Präsentationen können neben der Vermittlung inhaltlicher Aspekte auch rhetorische Fähigkeiten geschult werden. So wichtig ein bewusster Umgang mit gesprochener Sprache als Lernmedium sein mag, ist er doch offensichtlich nicht ausreichend für die Förderung kommunikativer Kompetenzen. Mündliche Formen müssen auch als Lerngegenstand gezielt erarbeitet und eingeübt werden- - dieser Herausforderung widmet sich die Gesprächsdidaktik, wobei diese Bezeichnung insofern missverständlich ist, als sie sich im Gegensatz zur exakten Bedeutung des Begriffs ‚Gespräch‘ nicht ausschließlich auf dialogische Formen bezieht. In Anlehnung an Wagner (2013: 292 ff.) lassen sich vier basale Kompetenzbereiche unterscheiden, die sowohl produktiv als auch rezeptiv verstanden werden können: - Grundlagen des Sprechens (z. B. sprachliche Richtigkeit, deutliche Artikulation, bewusster Einsatz paraverbaler und nonverbaler Mittel) - Monologische Formen (z. B. Erzählen, Vertreten und Begründen einer eigenen Meinung, Präsentieren) - Dialogische Formen (sich an Gesprächen beteiligen, Gespräche moderieren, Gesprächspartnern zuhören) - Reproduzierendes Sprechen (z. B. Vorlesen, Vortragen, darstellendes Spiel) <?page no="22"?> 22 Sprechen und Zuhören Grundlagen des Sprechens Zum Sprechenkönnen gehören nicht nur rhetorische und kommunikative Fähigkeiten im weiteren Sinne - auch Atemtechnik, Stimmeinsatz, Aussprache, Mimik und Gestik sind wesentliche Elemente mündlicher Fähigkeiten. Allzu oft wird deren Beherrschung vorausgesetzt und dementsprechend in der Schule nicht oder nur am Rande thematisiert. Sprech- und Stimmbildung (siehe für einen Überblick Pabst-Weinschenk 2004) können somit, obwohl sie eine wesentliche Voraussetzung sind, als Stiefkinder des Kompetenzbereichs Sprechen und Zuhören bezeichnet werden. Diese Vernachlässigung kann sich gerade für Schüler, die dialektal oder mit Deutsch als Zweitsprache aufwachsen, fatal auswirken. Weil die Sprechbildung „einen wesentlichen Beitrag zu den Basisqualifikationen in unserer Informations- und Mediengesellschaft“ (ebd.: 15) leistet, müsste ihr ein zentraler Stellenwert im Unterricht zukommen. Ertmer (2004) weist darauf hin, dass die Sprechbildung und das gestaltende Sprechen hauptsächlich im Rahmen schulischer Theaterarbeit thematisiert würden - jedoch ohne entsprechende lehrerseitige Qualifikationen. Sie fordert deshalb die Möglichkeit der Weiterbildung für Lehrkräfte in diesem Bereich. Es gibt von Seiten der Fachdidaktik attraktive Vorschläge zur Implementierung der Sprechbildung in den Unterricht - exemplarisch sei hier die Sprechwerkstatt von Pabst-Weinschenk (2000) genannt. Eine enge Verbindung hat die Sprechbildung zum sprechkünstlerischen Gestalten beziehungsweise gestaltenden Sprechen literarischer Texte (in Bezug auf dramatische Texte siehe Lösener 2008, auf lyrische Texte Lösener 2007). Diese Form der ästhetischen Kommunikation (Pabst-Weinschenk 2004) ist bereits in der Grundschule relevant, wenn Schüler zum Beispiel Gedichte rezitieren. Auch hierbei gilt, dass für die Ausbildung sprechkünstlerischer Fähigkeiten deren intensive, regelmäßige Förderung die grundlegende Voraussetzung ist. Ungeachtet der Bedeutung der vier oben genannten Bereiche wurde die Mündlichkeit in der Deutschdidaktik jahrzehntelang vernachlässigt, wie folgendes Zitat illustriert: Während die mündliche Kommunikationsfähigkeit schon vorschulisch erworben wird und sich auch ohne schulische Unterweisung in einem bestimmten Maß weiterentwickelt, ist die Einführung in die Schriftkultur vor allem Aufgabe der Schule. (Fritzsche 1994: 58) Inzwischen hat sich aber die Erkenntnis durchgesetzt, dass dieses Vertrauen auf die ungesteuerte Entwicklung ausreichender mündlicher Fähigkeiten nicht gerechtfertigt ist. Es wurde ein eigenständiger Forschungsbereich etabliert, der umfangreiche Erkenntnisse zum Erwerb und zur Förderung unterschiedlicher mündlicher Kommunikationsformen hervorgebracht hat. Jedoch ist es bisher nur ansatzweise gelungen, didaktische Konzeptionen zu entwickeln, die über die Grenzen bestimmter Kommunikationsformen hinaus für den gesamten Gegenstandsbereich Gültigkeit beanspruchen können. Drei solcher Ansätze werden im Folgenden näher erläutert. Es folgen Ausführungen zu weiteren handlungsbeziehungsweise reflexions- und präskriptionsbezogenen Ansätzen, denen teilweise ein konzeptioneller Status zuerkannt <?page no="23"?> Themenzentrierte Interaktion 23 Ich - Wir - Es - Globe werden könnte. Sie sind jedoch auf einzelne mündliche Kommunikationsformen beschränkt und somit nicht darauf angelegt, den gesamten Kompetenzbereich abzudecken. Lektüreempfehlungen B ecker -M rotzek , M./ V ogt , r. (2009) (umfassende Beschreibung der Eigenheiten des Unterrichtsgesprächs, geht auch auf didaktisch-methodische Aspekte - z. B. verschiedene Möglichkeiten geplanten Instruierens, Varianten der Sprecherwechsel- Organisation im Unterrichtsgespräch - ein) B ecker -M rotzek , M. (Hg.) (2012a) (DTP-Band zur mündlichen Kommunikation und Gesprächsdidaktik) 2.1 Themenzentrierte Interaktion Lebendige Lernprozesse benötigen Ordnung und Chaos. Ohne Ordnung entartet Chaos zur Orientierungslosigkeit, ohne Chaos entartet Ordnung zum Zwang. Wer Ordnung zu früh herstellt, verhindert eine lernfreundliche Atmosphäre. Wer Chaos an den Anfang stellt, verhindert angstabbauende Orientierung. (Osswald 1993: 15 f.) Die themenzentrierte i nteraktion (TZI) wurde von der Psychologin Cohn (1912-2010) mit dem Ziel entwickelt, Prinzipien der psychoanalytischen Therapie in (beispielsweise schulischen) Lern- und Arbeitsgruppen zu nutzen. Es handelt sich dabei um eine gruppendynamische Methode, deren besondere Eignung für das Unterrichtsgespräch daraus resultiert, dass neben der Einzelperson (Ich) und der Gruppe (Wir) auch der Gesprächsgegenstand beziehungsweise das Thema (Es) eine zentrale Rolle spielt. Ziel ist eine dynamische Balance dieser drei Faktoren anstelle der für das traditionelle Unterrichtsgespräch typischen Überordnung des Lerngegenstands. Darstellung Die themenzentrierte i nteraktion verortet menschliches (und damit auch unterrichtliches) soziales Handeln in einem Vierfaktorenmodell: das Ich (die einzelnen Personen mit ihren jeweiligen Hintergründen), das Wir (die Gruppe und das in ihr bestehende Beziehungsgefüge) sowie das Es (das Thema bzw. die Aufgabe, die sich der Gruppe stellt). Umschlossen werden diese vom Globe (dem strukturellen, sozialen und kulturellen Umfeld, das die Zusammenarbeit der Gruppe beeinflusst). Im Unterricht bildet die Institution Schule den Globe, der die Entwicklung von Unterrichtsgesprächen, wie oben bereits gezeigt wurde (→-S.-17 f.), maßgeblich mitbestimmt. Von zentraler Bedeutung ist für Cohn (im Gegensatz zur alltäglichen Unterrichtspraxis, die durch <?page no="24"?> 24 Sprechen und Zuhören Postulate und Hilfsregeln eine Überbetonung des Es gekennzeichnet ist) die Balance zwischen den vier Faktoren, die a priori von gleicher Bedeutung und gleichem Gewicht seien: Lebendige Lernprozesse verlangen, daß die beteiligten Menschen […] zwischen den vier Faktoren (ICH, WIR, ES, GLOBE) pendeln, um den Lernprozeß in Gang zu halten. Weil dies die TeilnehmerInnen überfordern kann, sind geschulte LeiterInnen nötig, die u. a. die Kunst des Balancierens gelernt haben. (Osswald 1993: 12) Die TZI basiert zunächst auf drei Axiomen (Cohn 1975: 120): - Autonomie und Allverbundenheit: Der Mensch ist eine psycho-biologische Einheit. Er ist auch Teil des Universums. Er ist darum autonom und interdependent. Autonomie (Eigenständigkeit) wächst mit dem Bewusstsein der Interdependenz (Allverbundenheit). - Wertschätzung: Ehrfurcht gebührt allem Lebendigem und seinem Wachstum. Respekt vor dem Wachstum bedingt bewertende Entscheidungen. Das Humane ist wertvoll, Inhumanes ist wertbedrohend. - Grenzen erweitern: Freie Entscheidung geschieht innerhalb bedingender innerer und äußerer Grenzen. Erweiterung dieser Grenzen ist möglich. Aus diesen Axiomen leitet Cohn drei (ursprünglich zwei) Postulate und neun Hilfsregeln ab, die hier vollständig aufgelistet, aber nur teilweise erläutert werden sollen. Eine etwas ausführlichere Darstellung findet sich bei Schuster (2003: 44 ff.). - Sei deine eigene Chairperson, die Chairperson deiner selbst! Unter einer Chairperson (der ursprüngliche Begriff Chairman wurde im Zusammenhang mit der Genderdebatte ersetzt) versteht Cohn eine leitende, Interessen vertretende Person. Wenn jedes Gruppenmitglied sich als Chairperson begreife, werde es die eigenen Wünsche und Bedürfnisse bewusst wahrnehmen und in den Kommunikationsprozess einbringen, gleichzeitig aber auch die Interessen der anderen vertreten und Verantwortung für den Gesprächsverlauf insgesamt übernehmen. - Störungen haben Vorrang. Das zweite Postulat meint, dass Störungen - wie sie auch im Unterrichtsgespräch alltäglich sind - akzeptiert werden müssen; sie treten auf und ‚fragen nicht nach Erlaubnis‘. Dies „bedeutet, dass wir die Wirklichkeit des Menschen anerkennen; und diese enthält die Tatsache, daß unsere lebendigen, gefühlsbewegten Körper und Seelen Träger unserer Gedanken und Handlungen sind“ (Cohn 1975: 122). <?page no="25"?> Themenzentrierte Interaktion 25 Bedeutung für den Deutschunterricht Für den Unterricht sei daraus abzuleiten, dass eine Lehrperson Verstöße oder Konflikte nicht ignoriere, sondern bearbeite und zu lösen versuche. Zu beachten sei dabei auch, dass die Balance zwischen Ich, Wir und Es nicht auf Dauer gestört werden dürfe und dass bei Gruppenmitgliedern mit „dauernden Störungen“ (ebd.) andere Lösungswege außerhalb des themenzentrierten Gesprächs gefunden werden müssten. - Verantworte dein Tun und Lassen - persönlich und gesellschaftlich! Die folgenden Hilfsregeln (ebd.: 123 ff.) ergeben sich aus den Postulaten und könnten, wenn sie sinnvoll eingesetzt werden, die Kommunikation auch in Schulklassen positiv beeinflussen. 1. Vertritt dich selbst in deinen Aussagen. 2. Wenn du eine Frage stellst, sage, warum du fragst und was deine Frage für dich bedeutet. 3. Sei authentisch und selektiv in deinen Kommunikationen. 4. Halte dich mit Interpretationen von anderen so lange wie möglich zurück. 5. Sei zurückhaltend mit Verallgemeinerungen. 6. Wenn du etwas über das Benehmen oder die Charakteristik eines anderen Teilnehmers aussagst, sage auch, was es dir bedeutet, dass er so ist, wie er ist. 7. Seitengespräche haben Vorrang. 8. Nur einer zur gleichen Zeit. 9. Wenn mehr als einer gleichzeitig sprechen will, verständigt euch in Stichworten, über was ihr zu sprechen beabsichtigt. Diese Hilfsregeln sind sicherlich für die Planung und Durchführung von gruppentherapeutischen Gesprächen geeignet. Teilweise lassen sie sich auch auf alltägliche kommunikative Prozesse übertragen, so etwa auf Gespräche zwischen Partnern oder zwischen Eltern und heranwachsenden Kindern beziehungsweise Jugendlichen. Ihr Stellenwert für den Deutschunterricht, der die themenzentrierte i nteraktion zu einer möglichen didaktischen Konzeption für den Bereich der Mündlichkeit macht, lässt sich in den folgenden beiden Punkten zusammenfassen: Aus den Postulaten und Hilfsregeln lassen sich - im Sinne einer präskriptions- und reflexionsbezogenen Vorgehensweise (→-2.5) - Prinzipien für das Führen von Klassengesprächen ableiten, die gemeinsam mit den Schülern erarbeitet und festgelegt werden können. Die Berechtigung der achten Hilfsregel beispielsweise („Nur einer zur gleichen Zeit“) ist bereits für Kinder im Grundschulalter sehr leicht nachvollziehbar. Mit steigender Komplexität der Gesprächsverläufe und zunehmender Gesprächsfähigkeit der Teilnehmer können auch anspruchsvollere <?page no="26"?> 26 Sprechen und Zuhören literarisches Unterrichtsgespräch Regeln wie die neunte („Wenn mehr als einer gleichzeitig sprechen will, verständigt euch in Stichworten, über was ihr zu sprechen beabsichtigt“) als sinnvoll erkannt und eingeübt werden. Daneben erleichtert die intensive Beschäftigung mit den Postulaten und Hilfsregeln es den Lehrkräften möglicherweise, auf Probleme oder Störungen im Gesprächsverlauf reflektiert zu reagieren und sie konstruktiv zu bearbeiten. Die Thematisierung von Störungen oder Seitengesprächen beispielsweise müsse nicht zwangsläufig vom Thema (Es) wegführen, sondern könne zu einer intensiveren Beschäftigung mit diesem beitragen. Wenn die themenzentrierte i nteraktion im Unterricht eingesetzt wird, so führt dies meist über die Grenzen des Kompetenzbereichs Sprechen und Zuhören (und häufig auch über die Grenzen des Deutschunterrichts) hinaus. Es handelt sich bei den Verfahren der TZI nicht nur um Methoden, mit denen sich mündliche Fähigkeiten der Schüler weiterentwickeln lassen, sondern vor allem um Formen der Gesprächsführung, mit denen in klarer Abgrenzung vom lehrerzentrierten fragendentwickelnden Unterricht gemeinsames Lernen ermöglicht werden soll. Hier ist an erster Stelle die Neuorientierung des l iterarischen u n terrichtsgesprächs (→-5.4) zu nennen, bei der bestimmte Grundsätze der TZI besonders für die Leitung von Unterrichtsgesprächen eine Rolle spielen. Problematisierung Das theoretische Fundament der themenzentrierten i nteraktion weist zahlreiche problematische Stellen auf. Die ausdrückliche Theorieferne mancher Vertreter (begründet durch die Auffassung, man müsse TZI erleben, um sie zu verstehen), mündet teilweise geradezu in einer „Mystifizierung“ (Raguse 1995: 275). Andererseits führt diese Haltung dazu, dass die gängigen Begrifflichkeiten der TZI (wie etwa Störung, Balance) häufig unscharf und mit wechselnden Bedeutungen verwendet werden. Die konkreten Ableitungen aus den Postulaten und Hilfsregeln, die oben skizziert wurden, können hilfreich sein und gehören zum Teil zum allgemeinpädagogischen Repertoire. Jedoch können sich einige dieser Ableitungen, wenn sie absolut verstanden werden, in bestimmten Kommunikationssituationen auch als problematisch erweisen - so wird beispielsweise die konsequente Vermeidung von Wirbeziehungsweise Man-Aussagen, die sich für Cohn aus der ersten Hilfsregel ergibt, in ihrer Rigidität kritisch gesehen (ebd.: 270 f.) Auch ist es mit Sicherheit nicht immer möglich und sinnvoll, Störungen Vorrang zu geben. Auf diese Schwierigkeit weist Cohn selbst ebenfalls hin: <?page no="27"?> Kooperatives Lernen 27 Die Störung des Wir in nichttherapeutischen Gruppen hat manchmal Vorrang vor unlösbaren Problemen des Ich. Dies trifft auch zu, wenn eine Gruppe rasch entscheiden muss: z. B. bei konkreten Gefahren oder Termindruck. Die Maxime ‚Realität hat den Vorrang‘ hilft, Entscheidungen über Vorrangigkeit zu treffen; es braucht Übung, diese ‚Gefahrenregel‘ nicht zu missbrauchen. (1975: 122) Aufgaben 1. Welche Hilfsregel(n) würden Sie für Unterrichtsgespräche in Ihrer eigenen Klasse für sinnvoll halten? 2. Wie ließen sich diese im Gespräch und nach den Prinzipien der TZI erarbeiten, um ein Vorgeben der Regeln zu vermeiden? Lektüreempfehlungen zur Vertiefung c ohn , r. (1975) (die klassische Einführung in die themenzentrierte i nteraktion ) S chuSter , k. (2003) (stellt im Rahmen einer allgemeinen Einführung in die Deutschdidaktik auch die TZI vor und weist auf mögliche didaktisch-methodische Konsequenzen hin) 2.2 Kooperatives Lernen Kooperatives Lernen zeichnet sich dadurch aus, dass der Unterricht durch die fachlich kompetente Vorbereitung der Lehrkraft vorstrukturiert, von überschaubaren Lerngruppen umgesetzt und das Ergebnis im Klassenunterricht vorgestellt wird. (Baurmann 2007: 6) Die Bezeichnung kooperatives l ernen wird für Lernarrangements verwendet, die eine ko-konstruktive Lerneraktivität verlangen und in denen eine wechselseitige Abhängigkeit der verschiedenen Gruppenmitglieder voneinander besteht (Heckt 2012: 264). Dabei wird unterschieden zwischen informellen und kurzfristigen Phasen kooperativen Lernens, wie sie in jeder Unterrichtsstunde möglich sind, sowie längerfristig angelegtem kooperativem Lernen in festen Gruppen, das über mehrere Wochen hinweg durchgeführt werden kann. Das kooperative l ernen ist zunächst ein kompetenzbereichs- und fächerübergreifender Ansatz, der in ähnlicher Weise wie die klassische Gruppenarbeit völlig unabhängig vom Inhalt des Unterrichts eingesetzt werden kann: Er stellt zum Beispiel beim Lese-Förderprogramm TRAIL (→-4.3) die hauptsächliche Vermittlungsform dar. Seine Einordnung als Konzeption innerhalb des Bereichs Sprechen und Zuhören ist dadurch begründet, dass neben inhaltlichen Zielen - ähnlich wie mit den Methoden der themenzentrierten i nteraktion (→- 2.1) - gezielt die Weiterentwicklung mündlicher Fähigkeiten angestrebt wird. <?page no="28"?> 28 Sprechen und Zuhören Dreischritt: Denken Austauschen Vorstellen Förderung mündlicher Fähigkeiten Darstellung Die Lehrperson nimmt im kooperativen l ernen eine neue Rolle als Moderator (und nicht als Experte) ein; Lernende erhalten dementsprechend mehr Verantwortung. Brüning/ Saum (2006: 17 ff.) beschreiben als grundsätzliche Vorgehensweise den Dreischritt Denken (in der Einzelarbeit: Vorwissen verbindet sich mit neuem Wissen) - Austauschen (in der Kleingruppe: einzelne Konstruktionen werden miteinander verglichen) - Vorstellen (im Plenum: erneute Ko-Konstruktion durch die Zuhörer). Wichtig ist bei allen Variationsmöglichkeiten, auf die hier nicht ausführlich eingegangen werden kann, dass individuelle Lernphasen (in Gruppen) durch kollektive Lernphasen (im Plenum) ergänzt werden. In individuellen Lernphasen gilt das WELL-Prinzip (wechselseitiges Lehren und Lernen), was bedeutet, dass „die Lernenden für einen umschriebenen Teil der Inhalte zu Expertinnen und Experten werden und sich diese anschließend wechselseitig vermitteln“ (Konrad/ Traub 2008: 154): Insgesamt wird auf diese Weise die Aktivität beim Lernen kontinuierlich hoch gehalten; und da die äußeren Bedingungen präzise in der Klasse miteinander vereinbart worden sind […], ist das gesamte Verfahren in der Tat aufgaben- und lernzeitorientiert. (Baurmann 2007: 6) Hervorzuheben ist die deutliche Abgrenzung vom traditionellen Gruppenunterricht: „Kooperatives Lernen ist strukturierter und ergebnisorientierter angelegt, hinsichtlich der Prozesse und Ergebnisse überschaubarer“ (ebd.: 7). Bezüglich der für den Kompetenzbereich Sprechen und Zuhören vorgesehenen Bildungsstandards lässt sich festhalten, dass kooperatives l ernen den mündlichen Sprachgebrauch in vielfältiger Weise anregt, strukturiert und weiterentwickelt, indem es zahlreiche unterschiedliche Gesprächsanlässe generiert und dabei auf eine hohe Qualität der sprachlichen Äußerungen hinwirkt (Heckt 2012: 270; Baurmann 2007: -9). Diskussion, Präsentation und Evaluation werden gleichzeitig als Lernmedium und als Lerngegenstand genutzt: „Damit werden fachsprachliche Ausdrucksweisen auch in solchen Lern- und Gesprächssituationen etabliert, die im herkömmlichen Unterricht eher alltagssprachlich und auf der Grundlage des je unterschiedlichen Sprachvermögens der Schüler/ innen erfolgen“ (Heckt 2012: 273). Eine beispielhafte Methode, die fachsprachliche Ausdrucksweisen auch in der Gruppenarbeit nahelegt und einfordert, ist die Konstruktive Kontroverse (ebd.: 273 f.). Sie eignet sich für ein weites Spektrum von Inhalten aus dem Deutschunterricht, beispielsweise für Gespräche über literarische Texte (→- 5.4), oder aus anderen Fächern. Schüler üben sich hier darin, zu einer Streitfrage unabhängig von der persönlichen Meinung nacheinander unterschiedliche Standpunkte einzunehmen. <?page no="29"?> Kooperatives Lernen 29 Zunächst in der vertrauten Sprechsituation der Zweiergruppe, später in Vierergruppen und abschließend im Plenum erhalten die Schüler die Aufgabe, für unterschiedliche Positionen Partei zu ergreifen und diese zu begründen - so lassen sich Gesprächskompetenzen beobachten und gezielt fördern. Verschiedene Entwürfe für den Einsatz des kooperativen l er nens in unterschiedlichen Kompetenzbereichen des Deutschunterrichts (vom 1. bis zum 13. Schuljahr) finden sich beispielsweise in Praxis Deutsch 205 (2007). Problematisierung Das kooperative l ernen ist eine Unterrichtsform, die schon aufgrund des notwendigen Zeitaufwands keinen Ausschließlichkeitsanspruch geltend machen kann. Als Alternative zum traditionellen Gruppenunterricht erscheint sie aber gerade durch das ausgewogene Verhältnis von Strukturiertheit und Offenheit sehr geeignet. In ersten empirischen Untersuchungen konnte es sich im Vergleich zu ‚frontalen Unterrichtsformen‘ nicht nur hinsichtlich der Lernmotivation, sondern auch hinsichtlich des Erwerbs an deklarativem und prozeduralem Wissen als überlegen erweisen (Baurmann 2007: 7 f.). Derartige Untersuchungen zum ‚Erfolg‘ bestimmter Unterrichtsmethoden sind stets mit Vorsicht zu interpretieren, dennoch kann das kooperative l ernen aus gesprächsdidaktischer Perspektive als eine sinnvolle Möglichkeit angesehen werden, die mündlichen Fähigkeiten von Schülern in fach- und bildungssprachlichen Kontexten weiterzuentwickeln. Kritisch anzumerken ist, dass in einschlägigen Unterrichtsvorschlägen häufig attraktive methodische Arrangements im Fokus stehen, die nicht ausreichend theoretisch fundiert erscheinen (Baurmann 2007: 6). Dieser Mangel ist inzwischen beispielsweise durch die Publikation von Brüning/ Saum (2006), die ihren Ansatz in überzeugender Weise lerntheoretisch begründen, weitestgehend behoben. Aufgaben 1. Im kooperativen l ernen wird der Lehrperson überwiegend die Funktion des Moderators (und nicht die des Experten) zugewiesen. Begründen Sie diese ‚Umdeutung‘ der Lehrerrolle und nehmen Sie kritisch dazu Stellung. 2. Wählen Sie ein grammatisches Thema aus und skizzieren Sie unter Berücksichtigung des WELL-Prinzips mögliche Unterrichtsschritte. Mit welcher/ n grammatikdidaktischen Konzeption(en) (→-6.5-6.11) lässt sich das kooperative l ernen Ihrer Meinung nach besonders gut verbinden? <?page no="30"?> 30 Sprechen und Zuhören Lektüreempfehlungen zur Vertiefung B rüning , L./ S auM , t. (2006) (theoretisch fundierte und gleichzeitig praxisnahe Einführung in das kooperative L ernen ) Praxis Deutsch 205 (2007) (enthält neben dem zitierten Basisartikel von Baurmann Unterrichtsvorschläge für verschiedene Klassenstufen und Kompetenzbereiche) 2.3 Rhetorik im Deutschunterricht Jedes Reden ist ein Stück Selbstdarstellung im Sinne der Identitätsbildung. Die Redeerziehung soll deshalb immer darauf angelegt sein, die Lernenden so zu fördern, dass sie sich in ihrem Reden selbst finden. (Spinner 1997: 17) Ein eigenständiger Rhetorikunterricht war in den Latein- und Gelehrtenschulen seit dem 16. Jahrhundert, später auch in den bürgerlichen Gymnasien des 19. Jahrhunderts, selbstverständlicher Bestandteil des Unterrichts, wurde in den Volksschulen nach Einführung der allgemeinen Schulpflicht aber kaum praktiziert. Daran hat sich bis heute nur wenig geändert - aktuell plädiert beispielsweise Berthold in seinen Veröffentlichungen, die sich insbesondere an Lehrer der Sekundarstufe-I und II richten, dafür, gesprächsrhetorische Elemente stärker in den Deutschunterricht zu integrieren. Er begründet seine Forderung unter anderem damit, dass es für Schüler in der heutigen Gesellschaft in sehr viel größerem Maße als früher erwartbar sei, im Laufe ihrer beruflichen und privaten Entwicklung wichtige Gespräche verantwortungsvoll führen zu müssen. Berthold bezieht den Begriff der Rhetorik damit ausdrücklich nicht nur auf die freie Rede, sondern auch auf Gespräche, das heißt mündliche Formen, die in der dynamischen Interaktion von zwei oder mehreren Partnern entstehen und mindestens einen Sprecherwechsel aufweisen (zur Unterscheidung zwischen Gesprächs- und Rederhetorik siehe auch Steinig/ Huneke 2010: 85). Darstellung Das Verhältnis von Schülern und angehenden Lehrkräften zur Rhetorik ist häufig ambivalent: einerseits wird ein eloquentes Auftreten geschätzt und als erstrebenswertes Persönlichkeitsmerkmal angesehen, andererseits werden mit diesem oft auch ‚Schönfärberei‘ oder ein ‚manipulativer Charakter‘ verbunden (Felder 1999: 80). Vor allem angesichts der deutschen Geschichte ist ein distanziertes Verhältnis zur rhetorischen Bildung daher verständlich - im Deutschunterricht, zu dem die Förderung mündlicher Fähigkeiten selbstverständlich gehört, ist dieses allerdings problematisch. Berthold (1997) sieht eine deutliche Diskrepanz zwischen der Bedeutung, die rhetorische Fähigkeiten in <?page no="31"?> Rhetorik im Deutschunterricht 31 Übungen zu Einzelaspekten der Gesprächsführung beruflichen und gesellschaftlichen Kontexten sowie auch in den Bildungsbeziehungsweise Lehrplänen haben, und ihrem Stellenwert in der alltäglichen Unterrichtspraxis. Mit seinem ‚rhetorischen Unterricht‘ verfolgt er das Ziel, die Fähigkeiten der Schüler in monologischen und dialogischen Kommunikationssituationen zu schulen und weiterzuentwickeln. Dabei legt er explizit Wert auf handlungsorientierte Herangehensweisen: Beim Redeunterricht sollte man an sportliches Training denken: Auch dabei sind theoretische Kenntnisse des Trainers wie auch der Trainierten zweifellos wichtig; um Erfolge - zum Beispiel im Laufen oder Fußballspielen - zu erzielen, muss man aber doch den Schwerpunkt auf praktische Übungen und Erfahrungen im Laufen oder Fußballspielen legen. (Ebd.: 7) Diese praktischen Übungen sollen, was Inhalte und kommunikative Formen angeht, in erster Linie an den aktuellen Interessen und kommunikativen Bedürfnissen der Schüler ansetzen. In fortgeschrittenen Klassenstufen könne dann auch weiterführend auf anspruchsvollere Rede- und Gesprächsformen (beispielsweise anhand von Gerichtsverhandlungen oder Werbegesprächen) eingegangen werden. Eine wesentliche Rolle für diese Konzeption spielt das gesprächsrhetorische Rollenspiel. Hier erwerben beziehungsweise vertiefen Schüler die Fähigkeit, sich in „realitätsnahen, aber modellhaft vereinfachten Interaktionssituationen“ (Berthold 2000: 95) zurechtzufinden und ihre Ziele zu verfolgen. Dies setzt eine gewisse Sozialkompetenz voraus; falls diese nicht gegeben ist, müssen zunächst durch ein langsames Heranführen der Klasse an die Methode geeignete Bedingungen geschaffen werden. Wenn das geleistet ist, können die Schüler in vorgegebene Situationen wie die folgende eingeführt werden und darin agieren: Anne hat von Beate ein Buch geliehen bekommen; es ist Beates Lieblingsbuch. Beim Lesen ist Anne ein Honigbrötchen aufs Buch gefallen. Zwei Seiten haben große Flecken. Man kann zwar alles noch einigermaßen lesen, aber die Flecken sind sehr hässlich und nicht mehr herauszubekommen. (Ebd.: 112) Auch zu ganz alltäglichen, im konkreten Fall aber häufig anspruchsvollen Gesprächstechniken ließen sich gezielte Übungen durchführen: Sei es die Fähigkeit, ein Gespräch einseitig gegen den Willen des Partners zu beenden, ohne jedoch unhöflich zu wirken, oder die Fähigkeit, in einer größeren Gruppe mit zahlreichen potentiellen Sprechern zu Wort zu kommen und sich nicht unterbrechen zu lassen. Vor oder nach der Gesprächsdurchführung könnten im Klassengespräch Aspekte der Zweckmäßigkeit von Gesprächselementen oder -techniken reflektiert werden (→-2.5) - zum Beispiel, ob die gewählten <?page no="32"?> 32 Sprechen und Zuhören monologische Formen sprachlichen Mittel als angemessen oder das Vorgehen als psychologisch geschickt empfunden werden. Ethische Gesichtspunkte sollten ebenfalls berücksichtigt werden: Wird das Gegenüber als gleichwertiger Gesprächspartner behandelt? Werden seine Argumente ernst genommen und respektiert? Es empfiehlt sich Berthold zufolge auch, die Gefühle der Protagonisten während unterschiedlicher Gesprächsverläufe zu fokussieren und im Unterrichtsgespräch nachträglich zu thematisieren. Bei den didaktischen Überlegungen zur (monologischen) Rede im Deutschunterricht ist Bertholds Einschätzung der Unterrichtspraxis inzwischen insofern veraltet, als in Bildungsbeziehungsweise Lehrplänen, Lehrwerken und der Lehrerausbildung zumindest der informierenden Kurzrede (Präsentation) (→- 2.4) schon vom Grundschulalter an und über Fachgrenzen hinweg ein hoher Stellenwert eingeräumt wird. Doch gelingt es in der Praxis nicht immer, bei deren Vorbereitung und Reflexion auch rhetorische Aspekte zielgerichtet und wirkungsvoll einzusetzen - deshalb sind diesbezügliche Anregungen, wie sie zum Beispiel von Berthold (1997) zusammengestellt wurden, nach wie vor aktuell. Hierzu gehören Übungen für ‚Anfänger‘ wie beispielsweise Eigen- oder Fremd-Vorstellungsansprachen, Meinungsäußerungen oder kurze Erzählungen, die ihren Platz durchaus bereits in der Grundschule haben. Eher für Jugendliche geeignet sind die darauf aufbauenden Einheiten, in denen rhetorische Fähigkeiten anhand von Argumentationen, spielerischen Reden oder auch Nonsensreden eingeübt werden. Von wesentlicher Bedeutung ist es dabei Spinner zufolge, die Schüler nicht mit der großen Herausforderung, die das Vorbereiten und Halten einer Rede beinhaltet, ‚allein zu lassen‘: „Reden ist so komplex, dass es schwer ist, alle Aspekte immer gleichzeitig im Blick zu haben“ (1997: 22). Deshalb seien Übungen zu einzelnen Bausteinen (z. B. Gliederung, Möglichkeiten des Einstiegs, Einbeziehung paraverbaler und nonverbaler Mittel) sinnvoll, um die Komplexität der Aufgabenstellung zu reduzieren und einzelne Aspekte gezielt optimieren zu können. Auch Krempelmann (siehe im Folgenden 2001: 5 ff.) befasst sich mit der Frage, ob die Schule ein Ort für die Redeschulung sein kann. Im Gegensatz zum nicht-institutionellen privaten Umfeld sieht sie hier die Möglichkeit, rhetorische Techniken in größeren Gruppen einzusetzen. Sie betont die Aufgabe des Deutschunterrichts, die rhetorischen Stärken und Schwächen von Schülern festzustellen und durch gezielte methodische Arrangements daran zu arbeiten (zur Beobachtung und Analyse mündlicher Leistungen in diesem Zusammenhang siehe auch Kirk 2004: 53 f.). Die bisher dargestellten Ansätze fokussieren in erster Linie auf eine produktive Auseinandersetzung mit rhetorischer Praxis. Eine Form, <?page no="33"?> Rhetorik im Deutschunterricht 33 in der auch der rezeptive Umgang mit Rhetorik in den Vordergrund gerät, stellt die sogenannte Medienrhetorik (Dorn 2004) dar (→- 5.7). Darunter wird „das rhetorische Handeln in ‚den Medien‘ und/ oder das rhetorische Handeln mit Hilfe von Medien“ (ebd.: 152) verstanden. Aus rezeptiver Perspektive ist vor allem die Fernsehkommunikation von Interesse: Hier sind im Zeitalter des Social TV noch weitere kritische Impulse zu erhoffen. Auf weitere Möglichkeiten zur Analyse rhetorischer Mittel in mündlichen Kontexten weisen wir im Zusammenhang mit reflexions- und präskriptionsorientierten Zugängen (→-2.5) hin. Problematisierung Die Ausführungen von Berthold zur Bedeutung rhetorischer Fähigkeiten und zur Notwendigkeit einer gezielten Förderung derselben sind nach wie vor überzeugend. Für die Einübung monologischer und dialogischer Formen bieten seine Veröffentlichungen ein reichhaltiges Repertoire an Ideen und Materialien. Allerdings ist es in vielen Fällen notwendig, die konkreten Beispiele an die aktuelle gesellschaftliche Realität anzupassen. In manchen Fällen gestaltet sich dies unproblematisch, da lediglich Äußerlichkeiten korrigiert werden müssen. So ist der Gesprächsanlass zum Thema Dürfen Eltern die Briefe ihrer Kinder lesen (Berthold 2000: 33 ff.) problemlos auf Kontaktformen in sozialen Netzwerken übertragbar und damit aktuell (→-5.7). Bei anderen Beispielen jedoch wirken die vorgegebenen ‚Probleme‘ aus der Sicht heutiger Jugendlicher vermutlich übermäßig konstruiert oder sind die exakten Gesprächsvorgaben von Rollenklischees geprägt, die heute in dieser Form nicht mehr im Deutschunterricht vertreten werden können. Problematisch ist an einigen Stellen auch die Vermischung der Vermittlung rhetorischer Fertigkeiten mit einem deutlich wahrnehmbaren ‚moralpädagogischen Zeigefinger‘, wenn etwa friedfertige Reaktionen auf Beleidigungen in Gesprächen erarbeitet und eingeübt werden sollen. Diese Vermischung hängt teilweise direkt mit dem ausgewählten Gesprächsgegenstand zusammen (z. B. bei den unfreiwillig komisch wirkenden Beispielen für ‚Werbegespräche‘ gegen Alkoholmissbrauch: ebd.: 45 ff.), teilweise auch mit den zu vermittelnden kommunikativen Techniken, deren Einsatz für ethisch bedenkliche Zwecke von vornherein ein Riegel vorgeschoben werden soll. Stärker zielführend wäre unserer Überzeugung nach eine wertungsfreie Arbeit an und mit den rhetorischen Fähigkeiten der Schüler. Über den expliziten Redeunterricht hinaus fordert Spinner (1997: 22) mit Recht, auch fächerübergreifend vielfältige Situationen zu nutzen, in denen Schüler kleinere oder größere Redebeiträge einbringen können. Das Einsetzen und Weiterentwickeln rhetorischer Fähigkeiten <?page no="34"?> 34 Sprechen und Zuhören ist nicht auf den Kompetenzbereich Sprechen und Zuhören beschränkt, sondern kann darüber hinaus als allgemeines Unterrichtsprinzip betrachtet werden. Aufgaben 1. Welche Probleme erschweren die Bewertung der rhetorischen Fähigkeiten von Schülern, zum Beispiel im Anschluss an ein Referat oder eine Präsentation? Halten Sie die Einbeziehung dieser Fähigkeiten in die Bewertung dennoch für notwendig? 2. Sollte die Fähigkeit, Gesprächspartner durch rhetorische Techniken bewusst zu manipulieren, ein Ziel der Gesprächsdidaktik sein? Nehmen Sie zu dieser Frage Stellung und vergleichen Sie Ihre Position mit derjenigen Bertholds (2000: 289 ff.). Lektüreempfehlungen zur Vertiefung B erthoLd , S. (2000) (Unterrichtsanregungen zur Förderung rhetorischer Fähigkeiten; geeignet für den Deutschunterricht ab der 5. Klasse) Praxis Deutsch 144 (1997) (enthält neben dem zitierten Basisartikel von Spinner diverse Unterrichtsvorschläge zur Förderung grundlegender Sprechfähigkeiten und konkreter mündlicher Formen) 2.4 Weitere handlungsorientierte Ansätze Übung macht den Meister - das gilt in der mündlichen Kommunikation nur dann, wenn durch das Üben positive Erfahrungen vermittelt und Monotonie, Verdrossenheit und Lampenfieber vermieden werden. (Wagner 2013: 301) Eine wesentliche, wenngleich nicht überraschende Erkenntnis der (in diesem Kompetenzbereich noch recht dünnen) fachdidaktischen Forschung ist, dass handlungsorientierte Methoden die stärksten und nachhaltigsten Effekte erzielen: „Sprechen lernt man nur durch Sprechen“ (Wagner 2006: 748). Es wurden vielfältige Methoden entwickelt, mit denen Kompetenzen in den vier oben genannten Bereichen (Grundlagen des Sprechens - monologische Formen - dialogische Formen - reproduzierendes Sprechen) durch gezieltes und geplantes Durchspielen von Kommunikationssituationen gefördert werden können. Eine Auswahl davon, die sich auf verschiedene Formen und Aspekte mündlicher Kommunikation bezieht, soll im Folgenden dargestellt werden. 2.4.1 Erzählen Die mündliche Kommunikationsform Erzählen lässt sich wie folgt definieren: „Erzählen ist ein spezifisch strukturierter abgegrenzter Teil des <?page no="35"?> Weitere handlungsorientierte Ansätze 35 Erzählförderung im Erzählkreis? Diskurses oder auch eine kohärente Ereignisfolge mit mindestens einem Element der Diskontinuität oder Ungewöhnlichkeit“ (Becker 2009: 64). Der Begriff „Ungewöhnlichkeit“ weist darauf hin, dass ein Erwartungsbruch vorliegen muss, der ein Ereignis erst ‚erzählwürdig‘ macht. In der Erzählforschung wird häufig unterschieden zwischen einem Erzählen im weiteren Sinne, wie es im Alltag häufig vorkommt, und einem Erzählen im engeren Sinne, das eine größere Nähe zu schriftlichen/ literarischen Formen aufweist und von Becker als „idealtypisch“ (ebd.: 65) bezeichnet wird. Zur Erzählentwicklung im Vorschul- und Grundschulalter wurden schon etliche Studien veröffentlicht - wir orientieren uns im Folgenden an Boueke et al. (1995), die auf der Basis der mündlichen Bearbeitung von Bildergeschichten bei Kindern unterschiedlichen Alters vier Stufen beschreiben: 1. Isolierter Typ: Einzelaspekte werden genannt, inhaltliche Verbindungen zwischen Ereignissen aber nicht verbalisiert. 2. Linearer Typ: Die einzelnen Äußerungen werden durch Konnektoren verbunden, beispielsweise durch das temporale ‚und dann‘. 3. Strukturierter Typ: Zusätzlich werden (z. B. kausale) Bezüge zwischen den Ereignissen hergestellt und verbalisiert, das Kind markiert Anfang und Ende der Erzählung. 4. Narrativer Typ: Zusätzlich wird nun der Zuhörer durch affektive Markierungen oder Stellungnahmen angesprochen und eingebunden. Das mündliche Erzählen ist bereits im Vorschulalter eine grundlegende Form des alltäglichen Sprachgebrauchs, deren frühe Einübung und Förderung sich auch auf die Entwicklung anderer mündlicher Formen positiv auswirken kann. Schon deshalb genießt das Erzählen traditionell einen hohen Stellenwert in der Didaktik der mündlichen Kommunikation, vor allem in der Primarstufe. Übersehen wird dabei in der Praxis häufig, dass die institutionellen Rahmenbedingungen des Unterrichts (→- S.- 19 f.) für das Produzieren von Erzählungen in vielerlei Hinsicht ungeeignet sind. Fienemann/ v. Kügelgen erläutern anhand zahlreicher Beispiele eindrücklich, dass und warum im vertrauten Erzählkreis in aller Regel keine Erzählungen im engeren Sinne entstehen: „Obwohl […] unstrittig Erzählanlässe vorliegen […], kommt es nicht zu den beschriebenen, eine Erzählung konstituierenden Elementen. Wichtiges und Unwichtiges, Interessantes und Banales wird linear hintereinander weg verbalisiert“ (2006: 138). Erzählen im engeren Sinne monologisch - diskursiv isoliert - kohärent - temporal und kausal klar organisiert - Erwartungsbruch - literal markiert Erzählen im weiteren Sinne häufig ko-konstruiert, also dialogisch - in Diskurse eingebettet - weniger klar strukturiert <?page no="36"?> 36 Sprechen und Zuhören methodische Vorschläge Der Erzählerwerb vollzieht sich außerhalb der Schule vor allem in Zweier-Kommunikationssituationen mit gleichberechtigten Partnern - ein Kontext, der im Unterricht nur schwer simuliert werden kann. Der Erzählkreis mag in mancher Hinsicht entlastend wirken und aus pädagogischer Perspektive ein geeigneter Wochenauftakt in der Grundschule sein - die Fähigkeit, Erzählungen im engeren Sinne zu produzieren, wird damit aber offenbar nicht oder kaum gefördert. Konkrete handlungsorientierte Methoden zur Unterstützung des Erzählerwerbs zeichnen sich daher häufig dadurch aus, dass eigene (meist fiktive) Erzählanlässe geschaffen werden, die auch aufgrund der geringeren persönlichen Involviertheit die Kritik und Evaluation der entstehenden Erzählungen erleichtern. Die häufig eingesetzte Bildergeschichte erscheint in diesem Zusammenhang als wenig geeignet, da sie durch die starke visuelle Stimulation zur Produktion wenig kohärenter Einheiten mit zahlreichen deiktischen Elementen führt (siehe für das schriftliche Erzählen Bredel 2001, für das mündliche Erzählen - mit Alternativvorschlägen - Köhler 2014). Bei Nacherzählungen, Erlebnis- und Phantasieerzählungen dagegen sei es Kindern eher möglich, ihre vorhandenen Erzählfähigkeiten zu entfalten und weiterzuentwickeln (Becker 2015: 200 ff.). Claussen/ Merkelbach (1995) präsentieren in ihrer Erzählwerkstatt zahlreiche Anregungen für solche Erzählimpulse, die auch das interaktive Planen und gemeinsame Gestalten von Erzählungen in Kleingruppen ermöglichen. Becker (2009: 75) weist zudem auf die Bedeutung unterschiedlicher Teilkompetenzen hin, die erst in ihrem Zusammenwirken Erzählfähigkeit ausmachten. So lassen sich fruchtbare Anknüpfungspunkte beispielsweise zur textorientierten W ortschatzarbeit (→- 6.3: Erarbeitung eines themenspezifischen Wortschatzes) oder zum funk tionalen g rammatikunterricht (→- 6.9: Erarbeitung und Erprobung der Funktionen verschiedener Tempusformen) herstellen. 2.4.2 Diskutieren und Argumentieren Beim Argumentieren versuchen wir, ungesicherten Thesen durch Begründungen zur Geltung zu verhelfen. Die Notwendigkeit zu argumentieren entsteht durch Einwände eines Gesprächspartners oder durch eigene Zweifel […]. Der typische Ort, wo argumentiert wird, ist die Diskussion als ein thematisch zentriertes Gespräch mit offener bzw. strittiger Fragestellung […]. (Grundler/ Vogt 2012: 487 f.) Auch das Diskutieren genießt in den aktuellen Lehr- und Bildungsplänen einen hohen Stellenwert, wird jedoch im Gegensatz zum Erzählen zumeist erst in der Sekundarstufe berücksichtigt. Nicht nur für die persönliche Entwicklung des Einzelnen, sondern auch für den Fortbestand <?page no="37"?> Weitere handlungsorientierte Ansätze 37 der demokratischen Gesellschaft ist es unerlässlich, die Fähigkeit zum Diskutieren und Argumentieren gezielt zu fördern. Unter Zuhilfenahme des Internets (→-S.-190 ff.) stehen heute sinnvolle entsprechende (auch interkulturelle) Vernetzungen von Schülern beziehungsweise Schülergruppen zur Verfügung (siehe z. B. die Initiative Jugend debattiert: jugend-debattiert.de u. jugend-debattiert.eu). Zur Förderung der Argumentationsfähigkeit empfehlen Grundler/ Vogt (ebd.: 498 ff.) die Durchführung schülerzentrierter Gespräche (d. h. ohne Verteilung des Rederechts durch die Lehrperson) zunächst in Kleingruppen und unter Berücksichtigung bestimmter Verfahren zur Organisation der Sprecherwechsel. Eine Einteilung in Phasen (Eingangsstatement - Diskussion - Abschlussstatement) sowie zeitliche Vorgaben strukturieren das Gespräch und ‚zwingen‘ die Schüler, sich neben inhaltlichen Aspekten auch auf die Form der eigenen sprachlichen Äußerungen zu konzentrieren: Die Debatte selbst ist in drei Phasen aufgeteilt: In der ersten Phase stellen die vier Teilnehmer ihren Standpunkt in einem zweiminütigen Eingangsstatement dar, die in der zweiten Phase diskutiert werden. Abschließend stellen die Teilnehmer in einem Statement von einer Minute ihre Position dar. Die Leistung der Teilnehmer wird mithilfe eines vorgegebenen Kriterienkatalogs durch die Mitschüler beurteilt. (Ebd.: 498) Diskussionen im Plenumsunterricht haben demgegenüber den Nachteil, dass nicht alle Beteiligten zu Wort kommen können. Sie eignen sich aber besonders für den Übergang zu reflexions - oder präskrip tionsbezogenen a nsätzen (→- 2.5), beispielsweise durch das anschließende Führen von Metagesprächen, in denen Gesprächsverläufe und -ergebnisse thematisiert werden. Im Plenum können, wie Wagner (2006: 749) betont, auch ‚Ernstfalldiskussionen‘ durchgeführt werden, wenn in der Klasse strittige Themen (etwa zur Verwendung der finanziellen Mittel aus der Klassenkasse) aufkommen. Den Vorteilen dieser Vorgehensweise (höhere Motivation) sind allerdings auch Nachteile (persönliche Involviertheit und zwischenmenschliche Beziehungen erschweren die Konzentration auf sprachliche Aspekte der Äußerungen) gegenüberzustellen. Ähnlich wie in monologischen Redekontexten (→-2.3) spielen auch beim Argumentieren ganz unterschiedliche sprachliche Ebenen, an denen gezielt gearbeitet werden kann, eine Rolle. Grundler (2009: 85 ff.) erläutert exemplarisch am Beispiel der Lexik, wie ein großer autonomer Wortschatz (→- 6) mit der Komplexität von Argumentationen zusammenhänge, und schließt daraus: „Die Förderung der Argumentationsfähigkeit muss […] immer mit einer Förderung des Wortschatzes der Kinder und Jugendlichen einhergehen“ (ebd.: 94). <?page no="38"?> 38 Sprechen und Zuhören 2.4.3 Präsentieren Präsentationen finden als Buchvorstellungen, Referate und Ähnliches in allen Schulformen und Klassenstufen statt. Berkemeier/ Pfennig betonen die damit verbundenen Chancen: „Präsentieren bietet eine gute Möglichkeit, mündliche Fähigkeiten zu fördern, weil diese Handlungsform ohne weiteres in andere Lernbereiche des Deutschunterrichts integriert und auch fächerübergreifend nutzbar gemacht werden kann“ (2009: 544). Sie verstehen Präsentieren als einen komplexen Prozess, der in drei Phasen unterteilt werden könne, wobei die beiden letzten naturgemäß parallel abliefen (ebd.: 544 f.): - Entwicklungsphase (Informationen werden recherchiert und zusammengestellt; der Vortrag wird geplant, gegliedert und überarbeitet) - Umsetzungsphase (sprachliche, sprecherische, nonverbale und mediale Gestaltung des Vortrags) - Rezeptionsphase (seitens der Zuhörer werden Informationen entnommen und in mentale Repräsentationen umgewandelt) Die in der Grundschule omnipräsenten Buchvorstellungen werden von Berkemeier/ Pfennig kritisch beurteilt: Möglicherweise gelinge es dadurch, Lesemotivation zu wecken - Präsentationskompetenz lasse sich allerdings so wohl nur eingeschränkt fördern, weil die Aufgabe für Kinder im Grundschulalter ungeheuer komplex sei und deshalb häufig durch allzu präzise Vorgaben seitens der Lehrkraft gesteuert werde (ebd.: 545). Sinnvoll scheint es dagegen, die Teilfähigkeiten, die zum Präsentieren gehören, in einzelnen Unterrichtsschritten gezielt zu fördern - so könne etwa das Sammeln von Inhalten, die Auswahl von Anschauungsmaterial für das Publikum, das Erstellen einer Sprechvorlage oder die sprecherische und nonverbale Gestaltung der Präsentation fokussiert werden (siehe auch die Materialien in der ‚Lernbox Präsentieren‘, Pabst-Weinschenk 2011). Berkemeier/ Pfennig (2009: 550 f.) heben auch die Bedeutung der Rezeption und Reflexion von Präsentationen hervor (→- 2.5). Ein Feedbackgespräch sei unverzichtbar, weil darin nicht nur Präsentationsfähigkeiten thematisiert, sondern auch inhaltliche Fragen geklärt würden und so eine Absicherung des schülergeleiteten Lehr-Lern-Prozesses möglich sei. Gätje weist darauf hin, dass der steigende Stellenwert von Präsentationen im Deutschunterricht nicht nur ein Wiederaufleben rhetorischer Elemente Bücher präsentieren Das Vorstellen von literarischen Werken im Deutschunterricht ist im Laufe der Zeit zu einer unhinterfragten Tradition erstarrt, die in erster Linie dazu geeignet ist, Langeweile und Desinteresse bei den Zuhörenden auszulösen. Das Themenheft Bücher vorstellen der Zeitschrift Deutsch 5-10 (2008, H. 14) zum Beispiel bietet eine Fülle an Vorschlägen, um Buchpräsentationen interessant zu gestalten. <?page no="39"?> Weitere handlungsorientierte Ansätze 39 (→- 2.3) impliziere, sondern auch „im Zeichen einer allgegenwärtigen visual culture“ (2014: 83) die Ergänzung oder Ersetzung sprachlicher durch graphische Mittel erfordere. Grundsätzliches und konkrete Anregungen zur multimedialen Unterstützung von Präsentationen finden sich in Praxis Deutsch 244 (2014), beispielsweise in den Beiträgen von Baurmann/ Berkemeier und Berkemeier/ Brauch, sowie - insbesondere für die Sekundarstufe I und II - in Geldmacher 2010. Erarbeitung von sachtextbezogenen Präsentationen Unter dem Titel Präsentieren lehren bietet Berkemeier ausgearbeitete Vorschläge für Unterrichtseinheiten, beispielsweise zu sachtextbezogenen Präsentationen (2009: 95 ff.). Es wird dabei zunächst ein Thema ausgewählt, das an die Interessen der Schüler oder aktuelle Situationen anknüpft. Anschließend wird eine Präsentation, die auf einem ins Thema einführenden Sachtext basiert, im Plenum entwickelt - dabei durchläuft die gesamte Klasse die vollständige Entwicklungsphase. Im Anschluss daran werden weitere Präsentationen zu inhaltlich verwandten Sachtexten, die jeweils unterschiedliche Aspekte des Themas abdecken, arbeitsteilig in Gruppen erarbeitet. Eine Übersicht über die einzelnen Schritte der Entwicklungsphase ist dabei stets zugänglich und soll dazu beitragen, dass die Schüler den Überblick über den Gesamtprozess behalten: 1. Text(e) lesen und verstehen 2. Wichtige Informationen heraussuchen 3. Informationen ordnen und verbinden 4. Präsentation planen 5. Probevortrag (evtl. überarbeiten) 6. Präsentation Zahlreiche Hilfestellungen für den Umgang mit den Grundlagentexten, für die Verbindung verschiedener Aspekte und den Aufbau des Vortrags unterstützen die Unterrichtsplanung und geben den Schülern direkte Hinweise zur Vorbereitung und Umsetzung der Präsentation. 2.4.4 Zuhören Bei aller berechtigten Kritik an der traditionell lehrerzentrierten Gestaltung von Unterrichtsgesprächen (Becker-Mrotzek/ Vogt 2009: 180 ff.) scheint doch das Zuhören eine Tätigkeit zu sein, die die Schüler in ausreichendem Maße praktizieren (sollen). Dennoch ist die Entwicklung der Fähigkeiten, in mündlichen Kommunikationssituationen zuzuhören und zu verstehen, keine Selbstverständlichkeit. Zuhören erfordert ebenso wie das Lesen (→-4) Bottom-up- und Top-down-Prozesse: Keine Instruktionsform kommt ohne akustisch vermittelte Information aus, jede Unterrichtsform, mit oder ohne Unterstützung technischer Medien, setzt die Zuhörfertigkeiten der Lernenden voraus. (Imhof 2003: 216) <?page no="40"?> 40 Sprechen und Zuhören Kognitiv betrachtet ist Zuhören ein Prozess, der aus mehreren Schritten besteht: Wir hören etwas, nehmen das Gehörte in den Aufmerksamkeitsfokus und versuchen einen Sinn zu konstruieren, den wir mit dem bereits Gehörten (Erinnern) und dem, was wir noch hören werden, konsistent zu machen versuchen. (Spiegel 2006: 155) Auf wesentliche Unterschiede zwischen der Verarbeitung gesprochener und geschriebener Sprache weist dagegen Imhof (2003: 21 ff.) hin. Dafür seien unter anderem Spezifika der akustischen Wahrnehmung, des phonologischen Arbeitsgedächtnisses und der weiteren Verarbeitung vor der Aufnahme ins Langzeitgedächtnis erforderlich. Die Besonderheiten der mündlichen Kommunikationsform verlangen eine Selektion des zu Hörenden aus der Fülle der sonstigen akustischen Reize, bevor diese mit Hilfe vorhandener kognitiver Muster strukturiert (Organisation) und in bereits existierende Wissensstrukturen eingebaut (Integration) werden können (Imhof 2010: 18 f.). Einerseits werden beim Zuhören also konkrete, akustisch wahrgenommene Inhalte verallgemeinert und mit bereits vorhandenen Kategorien verknüpft; andererseits beeinflussen eben diese Kategorien - das vorhandene Wissen und die vorhandenen Einstellungen - die Wahrnehmung und Verarbeitung des akustisch Rezipierten. Die Zuhörfähigkeit entwickelt sich ungesteuert nicht automatisch in ausreichendem Maße - dasselbe gilt darüber hinaus auch für das Rückmeldeverhalten, da dieses im traditionellen lehrerzentrierten Unterrichtsgespräch nur eine untergeordnete Rolle spielt. Da erfolgreiches Zuhören und Verstehen wesentliche Bestandteile kommunikativer Kompetenz sind, muss auch im Deutschunterricht hieran gearbeitet werden - eine ‚Zuhördidaktik‘ ist jedoch erst im Entstehen (Behrens 2013: 397, siehe jedoch schon Spinner 1988a u. 1988b, zur Bedeutung des Zuhörens in Verbindung mit dem literarischen Lernen Müller, K. 2012; siehe grundlegend- - aus fachwissenschaftlicher Perspektive - Imhof 2003). Krelle (2010: 51 ff.) präsentiert hierfür eine erste Systematisierung, indem er die Bereiche Hörästhetik und Aufmerksamkeitssteuerung, Zuhören und Hörverstehen sowie interaktives Sprechen und Zuhören unterscheidet). Behrens (2013: 398) fordert in ähnlicher Weise wie bei der Leseförderung (→- 4.3) die Etablierung und gezielte Einübung von Zuhörstrategien, was beispielsweise das vorbereitende Sammeln von Fragen und Erwartungen vor einer längeren Präsentation beinhalten kann. Spiegel (2009: 200 ff.) schlägt verschiedene handlungsorientierte Beobachtungs- und Zuhöraufgaben vor, mit denen es gelingen könne, die Aufmerksamkeit der Schüler auf verschiedene kommunikative und inhaltliche Ebenen zu lenken und sie so für die kommunikative Tätigkeit des Zuhörens zu sensibilisieren. Diese darf nicht als rein rezeptive Tätigkeit missverstanden werden, sondern <?page no="41"?> Weitere handlungsorientierte Ansätze 41 schließt immer das Produzieren von nonverbalen und verbalen Rückmeldungen und Nachfragen ein (Berkemeier/ Spiegel 2014: 124 ff.). Zuhöraufgaben Beobachtungsaufgaben lenken die Aufmerksamkeit der Schüler auf verschiedene Aspekte von Äußerungen (z. B. Körpersprache, parasprachliche Mittel, Inhalt des Gesagten) und sensibilisieren so für unterschiedliche sprachliche Ebenen. Zuhöraufgaben lenken den Fokus dagegen auf die Sachebene - inhaltliche Fragen beispielsweise dienen zur Vorstrukturierung und erleichtern häufig das Verstehen mündlicher Äußerungen. Behrens/ Eriksson betonen dabei die Bedeutung der „Zielklarheit nicht nur aus Sicht der Lehrperson, sondern auch für die Schüler/ innen“ (2009: 218). Aufgaben 1. Das Erzählen wird in erster Linie in nicht-institutionellen Kontexten erworben und eingesetzt. Nennen Sie Gründe dafür, es auch als Unterrichtsgegenstand zu berücksichtigen. Welche mündlichen Kompetenzen, die auch in anderen Zusammenhängen wichtig sind, lassen sich mit Hilfe des Erzählens fördern? 2. Vergleichen Sie die Kommunikationsform ‚mündliches Erklären‘ mit den oben genannten und ziehen Sie Neumeister/ Vogt (2012) zu Rate. Skizzieren Sie handlungsorientierte Methoden, mit denen die Erklärkompetenz von Schülern ab der 4. Klasse gefördert werden kann. Lektüreempfehlungen zur Vertiefung B erkeMeier , a. (2009) (erläutert die Anforderungen, die das Präsentieren an Schüler stellt, und gibt konkrete Unterrichtsvorschläge) c LauSSen , c./ M erkeLBach , V. (1995) (theoretische Grundlagen des mündlichen Erzählens werden vorgestellt; es folgen zahlreiche konkrete Unterrichtsbeispiele und -materialien) k reLLe , M./ S piegeL , c. (Hg.) (2009) (Forschungsergebnisse und Praxisvorschläge zu zahlreichen mündlichen Formen, u. a. auch zum Erzählen, Präsentieren, Argumentieren und Zuhören) Praxis Deutsch 160 (2000) (enthält einen Basisartikel von Ludwig/ Spinner zum mündlichen und schriftlichen Argumentieren sowie Unterrichtsvorschläge, die vor allem für die Sekundarstufe I und II geeignet sind) <?page no="42"?> 42 Sprechen und Zuhören Gesprächsregeln 2.5 Weitere reflexions- und präskriptionsorientierte Konzeptionen und Ansätze Der Grundprozess der metakommunikativen Reflexion ist die unverzichtbare Basis für das Lernen. Er erfasst bewusst gewordene, bewusst gemachte und metakommunikativ thematisierte Prozesse der Produktion und Rezeption mündlichen Sprachgebrauchs vor allem im curricular angelegten Lernbereich Mündliche Kommunikation, aber auch punktuell in der Unterrichtskommunikation anderer Fächer. (Polz 2012: 233) Die Analyse und/ oder das Formulieren von Regeln für kommunikative Handlungen können eine sinnvolle Ergänzung zu den oben dargestellten handlungsorientierten Zugängen (→- 2.4) sein (Wagner 2006: 748; Wildemann/ Vach 2013: 44). Wir stellen im Folgenden verschiedene- - teils traditionelle, teils neue - Vorschläge dar, die auf eine Bewusstmachung und gezielte Steuerung verschiedener Aspekte des Sprechens und Zuhörens in unterschiedlichen mündlichen Kommunikationsformen abzielen. Eine klassische Methode ist das Formulieren von Gesprächsregeln, die in allen Schulformen entweder implizit oder explizit eine Rolle spielen und häufig von Lehrkräften und Schülern (ab einem gewissen Alter) als selbstverständlich angesehen werden. Sie entstammen teilweise einer diffusen ‚pädagogischen Tradition‘, werden aber mitunter auch Konzeptionen wie der themenzentrierten i nteraktion (→- 2.1) entnommen. In den allermeisten Fällen sind sie allerdings auf Unterrichtssituationen ausgerichtet und für diese formuliert, dienen also vor allem dem reibungslosen Ablauf schulischer Gespräche. Positive Auswirkungen im Sinne einer ‚alltagstauglichen‘ Gesprächskompetenz sind daher kaum zu erwarten. Gesprächsregeln Wagner (2006: 754) formuliert die folgenden Gesprächsregeln, in denen auf missverständliche oder allzu absolute Formulierungen (‚Sprich laut! ‘) bewusst verzichtet wird: - Sprich angemessen laut und deutlich. - Sprich nicht zu schnell, gönne dir und uns kleine Pausen. - Hör genau zu, was der andere sagt und was ihn bewegt. - Lass deinen Partner ausreden. Unterbrich andere nur in echten Notfällen. - Fass dich möglichst kurz. - Sprich so ausführlich, dass die anderen verstehen können, was du meinst. <?page no="43"?> Weitere reflexions- und präskriptionsorientierte Konzeptionen und Ansätze 43 Orientierung an literarischen Vorbildern rhetorische Mittel in audiovisuellen Medien Gespräche transkribieren und analysieren Untersuchung natürlicher Gespräche frei verfügbare Transkriptionssoftware Eine ebenso klassische Methode, mit der mündliche und insbesondere rhetorische (→-2.3) Fähigkeiten gefördert werden sollen, ist die Analyse rhetorischer Mittel in literarischen Texten: Hier hat der traditionelle Deutschunterricht seinen Schwerpunkt. Kenntnisreiche Interpretationen z. B. der berühmten Rede des Mark Anton aus Shakespeares ‚Julius Caesar‘ […] können in der Tat das Stilempfinden und auch die strategischen Fähigkeiten der Schüler beeinflussen; die Alltagsrelevanz und die heutige Sprachrealität der Jugendlichen treffen derartige Themen jedoch nicht. (Ebd.: 753) Vorzuziehen sei demgegenüber die Analyse von zeitgemäßen Beispielen. Die Untersuchung von audiovisuellen Medien wie etwa Spielfilmen (→-5.7; ein geeignetes Beispiel auch für den fächerübergreifenden Unterricht in der Sekundarstufe liegt mit The King’s Speech vor) wird der Multimodalität mündlicher Kommunikation gerecht, indem neben sprachlichen auch para- und nonverbale Mittel berücksichtigt werden können. Des Weiteren ist hier im Gegensatz zu realen Gesprächen die Flüchtigkeit gesprochener Sprache aufgehoben, wodurch ein mehrmaliges Rezipieren und Diskutieren ein und derselben Passage möglich wird. Eine weitere Möglichkeit, durch reflektierenden Umgang mit sprachlichem Material mündliche Kompetenzen zu fördern, besteht in der Analyse alltäglicher Gespräche beziehungsweise Gesprächsausschnitte. Die in Lehrmaterialien enthaltenen Beispiele hierfür sind allerdings in der Regel erfunden, vereinfacht und modellhaft schematisiert […]. Handlungsinstruktionen werden normativ-instruktiv gegeben und nicht aus sprachlichem Material induktiv gewonnen. Dieses Konzept der Förderung von Gesprächskompetenz leistet einem schematisch-rezeptgeleiteten sprachlichen Handeln Vorschub. (Brünner/ Weber 2012: 297 f.) Brünner/ Weber schlagen deshalb vor, natürliche Gespräche - im Gegensatz etwa zu Spielfilmen also solche, die nicht zum Zweck der Aufnahme inszeniert wurden - von den Schülern selbst speichern, verschriften und untersuchen zu lassen: „Dahinter steht die Überlegung, dass durch den Erwerb von Fähigkeiten zur genauen Wahrnehmung und Interpretation von kommunikativen Phänomenen sich besonders gut Strukturwissen über alltagsweltliche und institutionelle Gespräche aufbauen lässt“ (ebd.: 298). Dies könne dazu beitragen, dass Schüler das eigene Gesprächsverhalten reflektieren und kontrollieren. Um langfristige Effekte zu erzielen, sei es allerdings unabdingbar, die Reflexion regelmäßig mit handlungsorientierten Methoden (→-2.4) zu verbinden. Die Transkription natürlicher Gespräche ist, auch wenn Hilfsmittel wie eine geeignete Transkriptionssoftware zur Verfügung stehen, eine mühsame und zeitintensive Angelegenheit - allerdings in vielfacher <?page no="44"?> 44 Sprechen und Zuhören Analyse von Unterrichtsgesprächen Hinsicht gewinnbringend, weil man gezwungen wird, den Blick intensiv auf unterschiedlichste Aspekte mündlicher Kommunikation zu richten. Möglich ist neben der sequenziellen Einzelfallanalyse, bei der ein Gespräch (oder Gesprächsausschnitt) unter verschiedenen Fragestellungen betrachtet wird, auch die fragegeleitete Transkriptanalyse, bei der man sich an vorformulierten Fragestellungen orientiert und die Aufmerksamkeit so direkt auf bestimmte Phänomene (z. B. Merkmale von Mündlichkeit, Organisation und Ablauf des Sprecherwechsels, Nachweis und Untersuchung bestimmter sprachlicher Handlungsmuster) richtet (Brünner/ Weber 2012: 306 f.). Die Ideen von Brünner/ Weber können auch verbunden werden mit Wagners (2006: 754) Vorschlag der Analyse realer Unterrichtskommunikation: So biete es sich an, Gespräche in der Klasse in unterschiedlichen Kontexten (lehrerzentriertes Gespräch im Plenum, Gespräche in Kleingruppen, Schülergespräche mit verfahrensgeregelter kommunikativer Ordnung) aufzunehmen, zu transkribieren und - wie oben skizziert - zu analysieren. Aufgaben 1. Reflexion mündlicher Handlungen findet häufig ungesteuert in Feedbackgesprächen statt. Formulieren Sie Beobachtungsaufträge für eine der unter →- 2.4 behandelten mündlichen Formen, die ein solches Nachgespräch strukturieren und damit ergiebiger gestalten können. 2. Welche Schwierigkeiten, die sich aus der institutionellen Kommunikationssituation ergeben, sprechen gegen das Transkribieren und Untersuchen von Unterrichtsgesprächen? Halten Sie diesen Ansatz dennoch für praktikabel und zielführend? Lektüreempfehlungen zur Vertiefung B ecker -M rotzek , M./ V ogt , r. (2009) (unverzichtbare Einführung in die Analyse von Unterrichtskommunikation) W agner , r. (2006) (Leitfaden für die Untersuchung und unterrichtliche Bearbeitung unterschiedlicher Kommunikationsformen) HIAT (Halbinterpretative Arbeitstranskriptionen) ist ein Transkriptionssystem, das von Ehlich und Rehbein entwickelt wurde. Ausführliche Informationen, Beispiele und Tools zum Download stehen unter exmaralda.org zur Verfügung. <?page no="45"?> Weitere reflexions- und präskriptionsorientierte Konzeptionen und Ansätze 45 Tipps für den Unterricht im Kompetenzbereich Sprechen und Zuhören - Machen Sie die Förderung mündlicher Fähigkeiten zum allgemeinen Unterrichtsprinzip, indem Sie lernbereichs- und fächerübergreifend Schülern immer wieder das Erproben und Weiterentwickeln von Gesprächs- und Redekompetenz ermöglichen. - Insbesondere bei Schülern mit Deutsch als Zweitsprache müssen (neben den in den oben dargestellten Konzeptionen besonders fokussierten pragmatisch-kommunikativen Fähigkeiten) auch artikulatorische, morphosyntaktische und lexikalisch-semantische Fähigkeiten kontinuierlich beobachtet und gefördert werden. Standardisierte Instrumente für Lerner mit Deutsch als Erstsprache sind dafür nur sehr eingeschränkt geeignet - ein aktuelles, besonders auf grammatikalische Aspekte zugeschnittenes Verfahren liegt mit LiSe-DaZ (Schulz/ Tracy 2011) vor. - Legen Sie an die mündlichen Produktionen von Schülern nicht Maßstäbe an, die zu schriftlichen Kommunikationsformen gehören (z. B. die häufig gehörte Lehreräußerung „Bitte im ganzen Satz! “, die - dies nur am Rande - kein ‚ganzer Satz‘ ist). - Legen Sie bei der Bewertung mündlicher Schülerleistungen sowohl langfristige Beobachtungen (unterstützt durch regelmäßige Notizen) als auch punktuelle Leistungsüberprüfungen zu bestimmten mündlichen Formen (Diskutieren, Präsentieren, Erklären …) zugrunde. Machen Sie Ihre Bewertungskriterien für die Schüler transparent. <?page no="46"?> Stellenwert der Rechtschreibung Rechtschreibkompetenz 3. Schreiben Der Kompetenzbereich Schreiben umfasst in den Bildungsstandards und aktuellen Lehrbeziehungsweise Bildungsplänen sowohl das Rechtschreiben als auch das Verfassen von Texten. Damit wird der Tatsache Rechnung getragen, dass das Schreiben eigener Texte der ‚Ernstfall‘ ist, in dem sich Rechtschreibfähigkeit immer bewähren muss. Dennoch haben sich aufgrund der Verschiedenheit der beiden Lerngegenstände in der Deutschdidaktik ganz unterschiedliche Konzeptionen für das Rechtschreiben beziehungsweise Texteschreiben herausgebildet, weshalb wir die beiden Bereiche im Folgenden getrennt behandeln werden. Die unter →- 3.1-3.7 dargestellten Konzeptionen beziehen sich dabei auf den Bereich des Rechtschreibens, in →-3.8-3.11 wird das Verfassen von Texten thematisiert. a. Rechtschreiben Bildungsstandards über Schreibfertigkeiten verfügen - richtig schreiben - Schreibstrategien anwenden Die Rechtschreibung genießt in unserer Gesellschaft ebenso wie im Deutschunterricht traditionell einen hohen Stellenwert (SPIEGEL 25/ 2013: Die Recht Schreip-Katerstrofe), erscheint in manchen Fällen sogar geradezu überbewertet, wenn (z. B. in den Medien) sprachliche Fähigkeiten und Rechtschreibfähigkeiten ausdrücklich gleichgesetzt werden (Steinig/ Huneke 2010: 139 ff.). Auch in der emotionalen Debatte um die Rechtschreibreform in den 1990er-Jahren zeigte sich die Schwierigkeit, eine sachliche Diskussion über ein hochsensibles Thema zu führen, zu dem jeder auch ohne profunde Kenntnisse Substantielles beitragen zu können glaubt. Ungeachtet dessen ist es selbstverständlich eine wesentliche Aufgabe des Deutschunterrichts, die Entwicklung orthographischer Kompetenz zu fördern. Hierzu gehören Teilkompetenzen auf ganz unterschiedlichen Ebenen: <?page no="47"?> Rechtschreiben 47 Diagnose orthographischer Kompetenz Systematik der deutschen Orthographie - Schüler müssen über ein gewisses Repertoire an Wörtern verfügen, die automatisiert, also ohne größeren kognitiven Aufwand, korrekt geschrieben werden können. - Sie müssen in der Lage sein, die Schreibung unbekannter Wörter erforderlichenfalls aufgrund allgemeiner Gesetzmäßigkeiten zu erschließen, sofern diese systemgetreu geschrieben werden. - Hilfsmittel wie Wörterbücher oder PC-Rechtschreibprogramme sollen zur Ermittlung und Überprüfung von Wortschreibungen eingesetzt werden können. - Voraussetzung hierfür ist, dass die Schüler über orthographiebezogenes Sprachbewusstsein und eine gewisse Sensibilität für Fehlschreibungen verfügen. Orthographische Kompetenz ist also ein sehr vielschichtiges Phänomen. Dies spiegelt sich auch in den didaktischen Konzeptionen wider, die im Folgenden erläutert werden sollen (→- 3.1-3.7) und die jeweils unterschiedliche Teilkompetenzen fokussieren. Konzeptionsübergreifend besteht Einigkeit darüber, dass Rechtschreibung mit anderen Kompetenzbereichen, insbesondere dem Texteschreiben, zusammenhängt. Vor diesem Hintergrund ist zum Beispiel das Diktat nur sehr bedingt als Instrument zur Leistungsmessung geeignet (zur Diskussion um das Diktat im Rechtschreibunterricht siehe Menzel 1997). Zur Beobachtung des Lernstands von Schülern wurden zahlreiche Verfahren entwickelt, die teils standardisiert mit vorgegebenem Wortmaterial, teils auch an freien Texten eingesetzt werden können (zur nicht-standardisierten qualitativen Fehleranalyse siehe Meyer- Schepers/ Löffler 1994; zu standardisierten Tests siehe die Übersicht in Fay/ Berkling 2013). Die Rechtschreibung wird im deutschen Sprachraum schon seit langer Zeit als ein „Schulmeisterkreuz“ (Ossner 2006a: 357), ein schwieriges Terrain für Lehrer und Schüler, angesehen. Dies mag daran liegen, dass im Deutschen - anders als in einer Reihe anderer Sprachen (etwa im Türkischen) - nicht ausschließlich nach der Graphem-Phonem- Korrespondenz verfahren wird: Wir schreiben nicht einfach, wie wir sprechen. Prinzipien der deutschen Rechtschreibung Eine schlüssige und weit verbreitete Darstellung der Systematik der deutschen Rechtschreibung wird von Eisenberg (2009: 66 ff.) vorgelegt. Die Grundlage seiner Ausführungen bildet das phonographische Prinzip; das bedeutet, dass jedem Phonem ein Graphem regelhaft zugeordnet ist. Dieses Prinzip wird aber in bestimmten - genau festgelegten - Fällen von anderen überlagert: <?page no="48"?> 48 Schreiben Orthographie als Lesehilfe Verbindung von Lese- und Rechtschreibunterricht Aufgrund des silbischen Prinzips werden Einheiten, die in der geschriebenen Silbe eine besondere Rolle spielen, abweichend von der reinen Lautorientierung verschriftet. Dies führt nach Eisenberg beispielsweise zur Einfügung eines silbeninitialen <h> in Wörtern, in denen sonst zwei Vokalgrapheme aufeinander folgen würden (*Müe > Mühe). Das morphologische Prinzip (auch: Prinzip der Schemakonstanz) ist drittens dafür verantwortlich, dass Einheiten mit gleichbleibender Bedeutung (Morpheme) im Deutschen nach Möglichkeit auch gleich geschrieben werden. Dies führt etwa dazu, dass das silbeninitiale <h> in verwandten Wortformen erhalten bleibt, auch wenn es nicht mehr die Funktion hat, den Beginn einer neuen Schreibsilbe zu markieren (*müsam > mühsam). Zusätzlich wird an anderer Stelle (z. B. von Müller, A. 2010: 50 ff.) ein syntaktisches Prinzip aufgenommen, das geeignet ist, bei Eisenberg nur oberflächlich berücksichtigte Phänomene wie Groß- und Kleinschreibung oder Getrennt- und Zusammenschreibung zu erklären. Ein alternatives, ebenfalls in sich stimmiges Modell, das insbesondere der Silbe einen sehr viel geringeren Stellenwert zuerkennt, stammt von Nerius (kompakt und übersichtlich dargestellt von Risel 2011: 8 ff.). Viele andere Darstellungen sind allerdings unübersichtlich oder irreführend, weil sie ganz unterschiedliche Gesichtspunkte vermischen oder Randaspekte (wie ästhetische oder historische Faktoren) in den Rang von Prinzipien erheben. Die Interpunktion wird häufig als undurchschaubares und rein normativ zu behandelndes Randgebiet der Orthographie verstanden - eine Auffassung, die sich auch in der Interpunktionsdidaktik und (davon ausgehend) der Interpunktionskompetenz vieler Schreiber niederschlägt. Einen alternativen, semiotisch orientierten Blick auf das System Interpunktion, im Rahmen dessen jedem Element ein fester Sprachverarbeitungswert zugewiesen wird, bietet Bredel (2011b). Zusammenfassend erklärt Eisenberg die Abweichungen von der Graphem-Phonem-Korrespondenz als Erleichterung des Leseprozesses. Man kann die deutsche Orthographie also insgesamt (im Gegensatz z. B. zur türkischen) als leserfreundlich, aber anspruchsvoll für den Schreiber bezeichnen - trotzdem ist sie in ihren Grundzügen nachvollziehbar und sollte Schülern auch so vermittelt werden. Augst/ Dehn fassen dies folgendermaßen zusammen: „Rechtschreibung heißt: der Schreiber macht den Wortaufbau und den Satzaufbau - und damit die Bedeutung und Funktionsweise des Wortes - für den Leser sichtbar“ (2009: 13). Es ist in den folgenden Abschnitten nicht möglich, vollständig zwischen lese- und schreibdidaktischen Konzeptionen zu trennen, da die auf den Schriftspracherwerb im Anfangsunterricht fokussierten Konzeptionen beide Kompetenzbereiche stets im Zusammenhang sehen. Dadurch sind einzelne Überschneidungen mit Konzeptionen aus dem Kompetenzbereich Lesen (→- 4) unvermeidlich. Konzeptionen, die den integrierten Lese- und Rechtschreiberwerb in den ersten Schuljahren - im sogenannten Anfangsunterricht - betreffen, werden ausschließlich hier behandelt. <?page no="49"?> Texte verfassen 49 Probleme des ‚Aufsatzunterrichts‘ Schreibkompetenz Lektüreempfehlungen a ugSt , g./ d ehn , M. (2009) (umfassende Einführung in die Rechtschreibdidaktik; auch für Studienanfänger geeignet) B redeL , u. (2009) (begründet schlüssig die Notwendigkeit, Orthographie als System anzusehen und es Schülern auch als solches nahezubringen) J euk , S./ S chäfer , J. (2013a) (praxisorientierte und aktuelle Einführung in den Schriftspracherwerb; berücksichtigt auch den Mehrsprachigkeitsaspekt) b. Texte verfassen Bildungsstandards über Schreibfertigkeiten verfügen - einen Schreibprozess eigenverantwortlich gestalten: Texte planen / schreiben / überarbeiten - Schreibstrategien anwenden - in unterschiedlichen Textformen schreiben (informierend / erklärend / argumentierend / gestaltend) Von einer Krise des schulischen Texteschreibens ist schon seit den 1970er Jahren die Rede, nachzulesen zum Beispiel in Form einer ‚Mängelliste‘ bei Sauter/ Pschibul (1975: 17 ff.). Seither hat sich vieles gewandelt - dennoch beklagt aktuell zum Beispiel Schäfer (2013: 327 f.), dass der praktizierte Schreibunterricht nach wie vor kaum an den Ergebnissen der Schreibforschung orientiert sei. Zu beobachten sei eine starre Fixierung auf formale Kriterien, die in ihrer Rigidität zu einer weitverbreiteten Ablehnung bei Schülern führe. Becker-Mrotzek/ Böttcher bemängeln darüber hinaus „das Fehlen eines systematischen Schreibunterrichts“ (2012: 67). Die Ergebnisse neuerer Studien zeigen womöglich die Folgen dieser schreibunterrichtlichen Praxis: Die DESI-Studie etwa offenbart, dass rund ein Drittel der getesteten Neuntklässler „nicht in der Lage ist, einen verständlichen Text zu schreiben“ (ebd.: 65). Das Schreiben von Texten ist eine sehr komplexe Handlung. Erforderlich dafür ist die Fähigkeit, pragmatisches Wissen, inhaltliches (welt- und bereichsspezifisches) Wissen, Textstrukturwissen und Sprachwissen in einem Schreibprozess so anzuwenden, dass das Produkt den Anforderungen einer (selbst- oder fremdbestimmten) Schreibfunktion […] gerecht wird. (Fix 2006: 33) Dem Schreiber werden demzufolge inhaltliche Kompetenz, Zielsetzungskompetenz, Strukturierungskompetenz, Formulierungs- und Revisionskompetenz abverlangt - und dies in teilweise völlig anderer Form als bei der mündlichen Kommunikation, die normalerweise in einer direkten Kommunikationssituation stattfindet. Beim schriftsprachlichen Handeln ist dagegen die räumliche und zeitliche Gemeinsamkeit in der <?page no="50"?> 50 Schreiben integrative Schreibdidaktik Regel nicht mehr gegeben, wodurch beispielsweise verschiedene Kommunikationskanäle (nonverbal/ paraverbal) nicht zur Verfügung stehen, deiktische Einheiten nicht problemlos verwendet werden können oder keine Möglichkeit zur direkten Nachfrage besteht. In Anlehnung an Ehlich (1984) wird deshalb von einer zerdehnten Kommunikationssituation gesprochen; auf diese Besonderheiten müssen Kinder sich im Lauf ihres Schreiberwerbs einstellen. Schreibentwicklungsmodell nach Bereiter/ Scardamalia Ein vielbeachtetes und -diskutiertes Modell wurde von Bereiter (1980; Bereiter/ Scardamalia 1987) vorgestellt. Er geht von der Grundannahme aus, dass kompetente Schreiber je nach Aufgabenstellung drei verschiedene Kontrollebenen (Prozess, Produkt und Leser) berücksichtigten. Diese würden im Lauf der Schreibentwicklung in unterschiedlichem Maße fokussiert - ein Wechsel auf eine neue Kompetenzstufe sei demzufolge dann möglich, wenn eine neue Kontrollebene in den Blick des Schreibers gerate. Auf der Stufe des assoziativ-expressiven Schreibens beanspruche der Prozess des Schreibens die vollständige Aufmerksamkeit des Kindes, deshalb spielten die übrigen Kontrollebenen noch keine Rolle. Anschließend rücke - ausgelöst unter anderem durch die schulische Vermittlung orthographischer und textualer Normen - das Produkt in den Fokus des Schreibers; Ergebnis sei das normorientierte oder performative Schreiben. Durch die Berücksichtigung des Adressaten, dessen Bedürfnisse zunehmend die Textproduktion mitbestimmten, komme es zum leserorientierten Schreiben. Auf der Stufe des kritischen Schreibens liege die Aufmerksamkeit wiederum auf dem Produkt, allerdings auf stärker reflektierte Art und Weise: Die Schreiber entwickelten nun Distanz zum eigenen Text - eine unabdingbare Voraussetzung zum Beispiel für die gezielte Überarbeitung von Texten. Die abschließende fünfte Stufe bezeichnet Bereiter als erkenntnisbildendes Schreiben. Hier stehe noch einmal die Kontrollebene des Prozesses im Vordergrund; das Schreiben werde zur Organisation und Neustrukturierung von Wissen genutzt. Das Dimensionswechselmodell hatte großen Einfluss, wurde in der Folge aber auch stark kritisiert. Tatsächlich widerspricht die Annahme der ausschließlichen Konzentration auf jeweils eine Kontrollebene zahlreichen Erfahrungen. Fix (2008: 53 f.) weist darauf hin, dass das Modell - entgegen Bereiters ursprünglicher Intention - nicht linear gelesen werden sollte: Zu häufig komme es vor, dass zum Beispiel kommunikative Strategien, nicht aber produktorientierte Normen erkennbar seien. Als Darstellung verschiedener zu erwerbender Schreibfunktionen oder -strategien, die von kompetenten Schreibern nach Wahl eingesetzt werden können, sei es jedoch geeignet. Das Dimensionswechselmodell ist in unserem Zusammenhang auch deshalb von Interesse, weil sich den verschiedenen Kontrollebenen (Prozess, Produkt, Leser) schreibdidaktische Konzeptionen zuordnen lassen, die jeweils eine Dimension ganz besonders hervorheben. Aus der Tatsache, dass beim kompetenten Schreiber alle Kontrollebenen je nach Schreibsituation einbezogen werden, lässt sich bereits schließen, dass eine ausschließliche Konzentration auf eine Dimension nicht empfehlenswert und darüber hinaus selbstredend auch gar nicht mög- <?page no="51"?> Texte verfassen 51 lich ist. Vielmehr ist für die Praxis die Entwicklung einer integrativen Schreibdidaktik (ausführlich Fix 2008: 120 ff.) erforderlich, die es dem Schüler ermöglicht, je nach Kommunikationssituation und Aufgabenstellung den Schwerpunkt auf produktbezogene, leserbezogene, prozessbezogene oder andere Aspekte zu richten. Durch ihre klare Schüler- und Kompetenzorientierung haben integrative Konzepte auch eine stark schreiberbezogene Ausrichtung. Dies zeigt sich an einem weiteren als integrativ zu charakterisierenden Ansatz, den Becker-Mrotzek/ Böttcher (2012) mit ihrer kompetenzorientierten Schreibdidaktik für die Sekundarstufen I und II entwickelt haben. Ihrem Ansatz liegt ein handlungsorientiertes, funktionales Modell von schriftsprachlicher Kommunikation (→- S.- 94) zugrunde. Der Ansatz definiert Ziele in den drei Entwicklungszonen Festigung und Ausbau der basalen Schreibfähigkeiten, Erwerb komplexer Textformen und Schreibstrategien und Erwerb einer umfassenden literalen Kompetenz. Eine wesentliche Steuerungsinstanz für den Schreibprozess und die Entwicklung der Schreibkompetenz sehen Becker-Mrotzek/ Boettcher in Schreibaufgaben (ebd.: 83 ff.), die sie in instruierende (= Lernaufgaben), umfassende (=- Übungsaufgaben) und Leistungsaufgaben (= Tests) einteilen. Es ist das Ziel der Autoren, dass „die einzelnen Schreibaufgaben ein strukturiertes Ganzes bilden, das in seiner Gesamtheit zu einem sukzessiven Aufbau der Schreibkompetenz führt“ (ebd.: 77). Integrativ ausgerichtete Ansätze sind vor allem mit Blick auf Lernende mit Deutsch als Zweitsprache von Bedeutung. In den letzten Jahren wächst das fachdidaktische Interesse an der spezifischen Entwicklung von Schreibfähigkeiten dieser Zielgruppe. Wir empfehlen hier das Buch von Schmölzer-Eibinger (2011), in dem die Autorin ein Konzept der Literalen Didaktik vorstellt. Auch Ballis (2010) richtet den Fokus ihrer Studie auf den Mehrsprachigkeitsaspekt. Für die folgenden Darstellungen (→- 3.8-3.11) orientieren wir uns an der Einteilung von Merz-Grötsch (2000: 183 ff.) und Schäfer (2013: 328), indem wir produktorientierte, leserorientierte, prozessorientierte und schreiberbeziehungsweise schülerorientierte Ansätze unterscheiden - im Bewusstsein der Tatsache, dass in den vorgestellten didaktischen Entwürfen auch jeweils andere Aspekte, wenn auch mit geringerem Stellenwert, berücksichtigt werden. Lektüreempfehlungen f ix , M. (2004) (umfassende Einführung in den Arbeitsbereich; liefert neben theoretischen Informationen auch zahlreiche Arbeitsvorschläge und Originaltexte von Schülern) M erz -g rötSch , J. (2010) (Darstellung wesentlicher Erkenntnisse der Schreibforschung und -didaktik, enthält Unterrichtsbeispiele zu verschiedenen Textsorten) <?page no="52"?> 52 Schreiben die synthetische Methode p hiLipp , M. (2014a) (beschreibt auf der Basis zahlreicher Studien und Metaanalysen Merkmale eines guten Schreibunterrichts, den er insbesondere als strategie- und prozessorientiert definiert) S chMöLzer -e iBinger , S. (2011) (gibt einen umfassenden Überblick zum Zusammenhang von Textkompetenz und Lernen in der Zweitsprache und entwickelt darüber hinaus ein Konzept zur Förderung der Textkompetenz) 3.1 Phonographisch orientierter Rechtschreibunterricht Eines der wichtigsten Grundkonzepte, welches unsere Schreibung bestimmt, ist die mehr oder weniger systematische Beziehung zwischen Lauteinheiten und Schriftzeichen […]. Für die Rechtschreibdidaktik folgt daraus, dass die Schreibung von Wörtern bis zu einem gewissen Grad abgehört werden kann. (Lindauer/ Schmellentin 2008: 13) Im phonographisch orientierten r echtschreibunterricht wird besonderer Wert auf das Schreiben nach der Graphem-Phonem- Korrespondenz gelegt, das als grundlegend für erfolgreiches Rechtschreiben angesehen wird. Ursprünglich gehen diese Ansätze zurück auf die heute nicht mehr praktizierten synthetischen l ese - und s chreiblehrverfahren (s. u.). Die Tendenz zur Orientierung an der lautgetreuen Schreibung findet sich jedoch auch in neueren Ansätzen, insbesondere dem von Reichen vertretenen l esen durch s chrei ben , der im Folgenden ausführlich dargestellt wird. Grundlagen Die klassischen synthetischen Verfahren, die von Beginn der Neuzeit an und bis weit ins 20. Jahrhundert hinein an deutschen Schulen praktiziert wurden, setzen die Einführung von Lauten und Buchstaben (Lautgewinnung) an den Beginn des Schriftspracherwerbs; es folgt das Zusammenschleifen derselben (Lautverschmelzung) sowie das Erlesen von (zunächst naturgemäß sehr einfach strukturierten) Silben und Wörtern (zusammenfassendes Lesen). Diese dreischrittige Vorgehensweise wurde unter anderem mit dem Prinzip ‚vom Einfachen zum Schwierigen‘ begründet - tatsächlich jedoch zeigen entsprechende Untersuchungen, dass das vordergründig einfache Wahrnehmen und Zusammenschleifen von Einzellauten die sogenannte phonologische Bewusstheit voraussetzt und nicht einfach von allen Kindern zu Beginn der Schulzeit erwartet werden kann. Die in diesem Zusammenhang notwendige Abstraktionsleistung (ein geschriebenes Wort ist im Deutschen - im Gegensatz zu logographischen Systemen wie z. B. dem Chinesischen - kein Zeichen für einen Begriff, sondern ein Zeichen für eine Lautfolge; diese wiederum fungiert als Zeichen für den Begriff) überfordert viele Schriftanfänger. Hinzu kommt, dass durch das zu Beginn extrem begrenzte Buchstabenangebot fast ausschließlich Kunstwörter und sinnlose Silben erlesen <?page no="53"?> Phonographisch orientierter Rechtschreibunterricht 53 Lesen durch Schreiben Arbeit mit der Buchstabentabelle werden können - die kommunikative Funktion der Schrift erfahren Kinder so erst verhältnismäßig spät. s ynthetische m ethoden waren in der BRD noch bis 1975 führend, wurden dann aber durch analytisch synthetische v erfah ren (→-3.3) verdrängt und spielen in der Unterrichtswirklichkeit heute keine Rolle mehr - im Gegensatz zu der Konzeption l esen durch s chreiben , die ebenfalls den phonographisch orientierten a n sätzen zugeordnet werden kann. Das Verfahren, das von Reichen in den 1970er Jahren entwickelt wurde und auf Grundschulen seither großen Einfluss genommen hat, beruht auf drei Prinzipien (Reichen 2001: 27 ff.): 1. Dem lesedidaktischen Prinzip Lesen durch Schreiben, nach dem die Kinder mit Hilfe der Buchstabentabelle lautgetreu „alle Wörter der Welt“ (ebd.: 28) aufschreiben könnten und in diesem Prozess das Lesen lernten, 2. dem lernpsychologischen Prinzip des selbstgesteuerten Lernens sowie 3. dem schulpädagogischen Prinzip des Werkstattunterrichts. l esen durch s chreiben versteht sich erst in zweiter Linie [als] ein ‚Leselehrgang‘. In erster Linie handelt es sich um den Versuch, dem Kind vom ersten Schultag an einen offenen, kommunikativen und kindgemäßen Unterricht zu ermöglichen, in dem es nicht nur das Lesen, sondern vor allem auch das Lernen und das Denken lernen darf. (Reichen 2008: 9) Darüber hinaus wird l esen durch s chreiben von Reichen als Schreiblehrgang aufgefasst, bei dem gegenüber dem scharf kritisierten traditionellen Fibelunterricht vor allem „der aktive, produktive, selbstbestimmte Umgang mit Schrift“ (2001: 105) im Mittelpunkt stehen soll. Mit anderen Worten: Das Schreiben finde vor dem Lesen statt beziehungsweise sei die Grundlage des Lesenlernens. Der Lehrgang soll Schüler dazu befähigen, „ein beliebiges Wort in seine Lautabfolge zu zerlegen und danach phonetisch vollständig aufzuschreiben“ (1982: 8). Als Grundlage dient eine Buchstabentabelle (häufig auch als Anlauttabelle bezeichnet), in der die benötigten Laute gesucht und dann mit Hilfe des korrespondierenden Buchstabens beziehungsweise Graphems verschriftet werden (s. Abb. 1, S. 54). Nach Reichen habe das Kind dann schreiben gelernt, wenn es „die gesamte Laut-Buchstaben-Zuordnung verinnerlicht hat und beherrscht“ (1982: 19). Er widerspricht deutlich der Annahme, Lesen könne durch systematisches Üben gelernt und gelehrt werden (2001: 83). Dagegen vertritt er die Haltung, dass der Leseerwerb ein natürlicher Prozess und gewissermaßen ein Nebeneffekt des Schreibenlernens sei. <?page no="54"?> 54 Schreiben selbstgesteuertes Lernen Die pädagogische Grundorientierung des Ansatzes räumt motivationalen Aspekten eine zentrale Rolle ein, was sich sowohl im Verständnis des Lesebegriffs als auch in der methodischen Ausrichtung des Lehrganges niederschlägt. Das Konzept l esen durch s chreiben wird von Reichen als Alternative zum traditionellen Fibelunterricht verstanden, den er stark kritisiert als „Frontalunterricht im Klassenverband“ (ebd.: 31); dieser sei geprägt „von Nachahmungslernen durch wiederholtes Üben“ (ebd.). Die Grundhaltung, die hinter seinem Konzept steht, richtet den Fokus vielmehr auf selbstgesteuertes, individualisiertes Lernen, setzt also auf Eigenständigkeit und Produktivität. Jedes Kind müsse in seinem eigenen Lerntempo arbeiten können. Anstelle einer Fibel soll ein struktu- Abb. 1: Original-Buchstabentabelle aus dem Leselehrgang Lara und ihre Freunde von Reichen, © 2003 by Heinevetter Verlag, Hamburg <?page no="55"?> Phonographisch orientierter Rechtschreibunterricht 55 Umgang mit Rechtschreibfehlern Unstimmigkeiten in Buchstabentabellen Lautanalyse und -synthese riertes, frei kombinierbares Materialangebot (Arbeitsblätter, Lesehefte, Spiele) die Schüler in ihren Lernprozessen unterstützen. Als ‚Moderator‘ fungiere dabei die Lehrkraft, „die Lernprozesse nur noch indirekt anregt, indem sie Aufgaben, Anschauungsmaterial, Hilfsmittel für Experimente usw. bereitstellt“ (ebd.: 31). Insofern kann die Konzeption durchaus auch als Sonderform des s pracherfahrungsansatzes (→-3.4; siehe auch Topsch 2005: 68) bezeichnet werden. Den Rahmen für das Konzept l esen durch s chreiben bildet ein Werkstattunterricht, in dem „nicht wie sonst üblich die ganze Klasse gemeinsam für die Dauer einer Lektion in einem bestimmten Fach unterrichtet, sondern […] in längeren Zeitblöcken individualisiert und fächergemischt gearbeitet wird“ (Reichen 2001: 30). Reichen fordert darüber hinaus, sein Konzept in Verbindung mit vielfältigen Schreibanlässen durchzuführen. Teil des Konzepts ist es, orthographische Fehler zu tolerieren, um die Motivation und die Schreibfreude nicht einzuschränken (Reichen 1982: 29) - sofern es sich um Fehler handelt, die auf lautgetreuen Schreibungen beruhen (zum Beispiel <FARAT> für Fahrrad). Fehler, die durch Verstöße gegen das phonographische Prinzip entstanden sind (z. B. Lautauslassungen, -hinzufügungen oder -umstellungen), sollen hingegen angesprochen und korrigiert werden. Problematisierung Die Buchstabentabelle ermöglicht die Unterstützung des freien s chreibens (→-3.11) im Anfangsunterricht und wird inzwischen auch in zahlreichen Fibellehrgängen als Instrument zur Individualisierung und Differenzierung genutzt (siehe für einen Überblick Schründer-Lenzen 2009: 67 ff.). Ihr diesbezüglicher Nutzen wird auch durch sachlogische Probleme, die die widerspruchsfreie Erstellung einer Buchstabentabelle erheblich erschweren, nicht geschmälert. Kritisch sind beispielsweise die Buchstabenverbindungen <ng> und <ch>, die im Deutschen nicht beziehungsweise kaum am Wortanfang vorkommen und deshalb in der aktuellen Version Reichens als Auslaute (Ring bzw. Teppich/ Buch) dargestellt werden. Auch die konsequente Darstellung gespannter und ungespannter Vokale ist durch das Graphem <ie>, das im Deutschen nicht am Wortanfang stehen kann, erschwert. Hierbei handelt es sich aber um Probleme, die durch geeignete Unterstützung seitens der Lehrkraft ‚entschärft‘ werden können, sodass der Einsatz von Buchstabentabellen in Verbindung mit anderen Konzeptionen durchaus erwägenswert ist (Valtin 2006: 767). Berücksichtigt werden müssen dabei allerdings die enormen Anforderungen, die die Arbeit mit der Buchstabentabelle an die Kinder stellt: <?page no="56"?> 56 Schreiben Auswirkungen auf orthographische Fähigkeiten Sie müssen die Vergegenständlichung von Sprache und die Abstraktion vom Bedeutungskontext begreifen, ohne das dafür hilfreiche Schriftbild vor Augen zu haben, und sie müssen zu einer vollständigen Lautanalyse befähigt sein, was - wie das Stufenmodell des Schriftspracherwerbs zeigt - jedoch eine relativ späte Errungenschaft ist. (Ebd.) Schründer-Lenzen weist auf die Problematik hin, die sich daraus insbesondere für Lerner mit Deutsch als Zweitsprache ergibt. Sie konstatiert, dass Anlauttabellen gerade für jene Kinder, „die unter ungünstigen Bedingungen der Lernausgangslage in den Schriftspracherwerbsprozess eintreten, ein inadäquates Lernmittel“ (2009: 72) seien. Schwerer wiegt die grundsätzliche Kritik an Reichens Konzeption. Das Prinzip, dass eine didaktische Steuerung des Schriftspracherwerbsprozesses nicht möglich sei, sondern dass „die kognitiven Selbststeuerungsakte des Schülers völlig unangetastet“ (Reichen 1982: 16) bleiben sollten, kann sich zumindest hinsichtlich der Komponente Rechtschreibung als fatal erweisen. Indem die Konzeption l esen durch s chrei ben das deutsche Schriftsystem gewissermaßen auf das grundlegende phonographische Prinzip reduziert, werden die weiteren (ebenfalls zum System gehörenden) Prinzipien ignoriert. Die Frage, ob diese Ausblendung orthographischer Gesetzmäßigkeiten sich auf die späteren Rechtschreibfähigkeiten der Schüler negativ auswirken kann, wird seit den 1980er Jahren kontrovers diskutiert. Die Forschungsergebnisse sind hier nicht einheitlich - einerseits liegen Untersuchungen von Reichen selbst (1995) vor, denen zufolge nach der Anwendung der Konzeption keine nachteiligen Einflüsse auf die späteren Rechtschreibleistungen festgestellt werden konnten. Andererseits konnte beispielsweise Einsiedler (1997) signifikante Nachteile der nach der Reichen-Methode unterrichteten Kinder zumindest in Diktaten nachweisen. Eine aktuelle metaanalytische Bestandsaufnahme von Funke (2014b) lässt auf den ersten Blick schwächere Rechtschreibleistungen der Lesen durch Schreiben-Schüler im Vergleich zu Kindern, die nach der analytischsynthetischen Methode (→- 3.3) unterrichtet wurden, in den Klassenstufen-2-4 erkennen. Diese seien jedoch zum Teil durch forschungsmethodologische Ungenauigkeiten, beispielsweise durch unterschiedliche kognitive Lernausgangslagen der untersuchten Klassen, zu erklären (ebd.: 35), so dass sich wiederum kein klares Bild ergibt. Dennoch empfiehlt sich aus heutiger Sicht anstelle des ‚Umwegs‘ über die lautgetreue Verschriftung, den l esen durch s chreiben ebenso wie die ältere synthetische m ethode nahelegt, die direkte Hinführung zur orthographischen Struktur unseres Schriftsystems. Dass daraus keine Überforderung der Schüler im Anfangsunterricht resultieren muss, zeigen die etablierten und bewährten silbenorientierten k onzeptionen (→-3.7). <?page no="57"?> Phonographisch orientierter Rechtschreibunterricht 57 phonographische Ansätze in der ‚Alltagsdidaktik‘ Problematisch ist darüber hinaus auch der häufig unhinterfragte Einsatz phonographischer Strategien in der ‚Alltagsdidaktik‘. Die Vorstellung, wir würden schreiben, wie wir sprechen (oder hören), ist nach wie vor weit verbreitet. Sicherlich gibt es die zum Beispiel von Lindauer/ Schmellentin so benannten „Nachsprechwörter“ (2008: 13), und sie machen auch einen nicht geringen Anteil unseres Wortschatzes aus. Allerdings ist es allein schon von Dialekt und Erstsprache abhängig, bei welchen Wörtern die korrekte Schreibung ‚abgehört‘ werden kann. Äußerst bedenklich - aber in der Praxis häufig zu beobachten - ist der Fall, dass Kinder auch bei definitiv nicht lautbezogenen Phänomenen (z. B. Verdopplung von Konsonantengraphemen, silbeninitiales <h>) aufgefordert werden, genau hinzuhören, um daraus die richtige Schreibung abzuleiten. Bredel, Fuhrhop und Noack zeigen anhand von Beispielen eindrücklich die eklatanten Unterschiede zwischen lautgetreuen und systemgetreuen Schreibungen auf und schließen daraus: Die Schrift ist keine Abbildung der Laute, sie ist vielmehr eine Abbildung von Grammatik. Wer die Kinder auffordert, zu schreiben, wie sie sprechen, erschwert oder versperrt ihnen den Weg in diese alles entscheidende Einsicht. (2011: 22) Auch deshalb besteht heute in der rechtschreibdidaktischen Diskussion weitgehend Konsens darin, dass orthographische Zusammenhänge schon in der Grundschule berücksichtigt werden sollten, dass also nicht in einem regelfernen ‚Schonraum‘ zunächst so getan werden sollte, als schrieben wir tatsächlich ausschließlich nach dem phonographischen Prinzip (Bredel 2009). Aufgaben 1. Ein Kind möchte mit Hilfe der Buchstabentabelle folgenden Satz schreiben: Mein lieber Hund sitzt in seiner Hütte. Welche Probleme können sich dabei ergeben? Welche Hilfestellungen lassen sich dem Kind im Rahmen eines offenen ‚Werkstattunterrichts‘ geben? 2. Welche der folgenden Wörter würden Sie als ‚Nachsprechwörter‘ im Sinne von Lindauer/ Schmellentin (2008: 13) bezeichnen? Begründen Sie Ihre Entscheidungen. Eule - Säule - Kette - Kater - Spaten - Schaden Lektüreempfehlungen zur Vertiefung B redeL , u./ f uhrhop , n./ n oack , c. (2011) (setzt sich ausführlich und kritisch mit einem phonographischen Verständnis von Schriftsprache sowie lautbezogenen Vorgehensweisen im Anfangsunterricht auseinander) <?page no="58"?> 58 Schreiben r eichen , J. et aL . (1995) (umfassende Einführung in die Arbeit mit L esen durch s chreiben ; zahlreiche Arbeitsanregungen und Kopiervorlagen) r eichen , J. (2002/ 2003) (Leselehrgang und methodische Empfehlungen) 3.2 Wortbild- und grundwortschatzorientierter Rechtschreibunterricht Kinder lernen am Vorbild orthografisch richtig geschriebener Texte und Wörter. Die effektivsten Übungsformen hierfür sind: Abschreiben von Texten, die nur lernbereichsbezogene Schreibungen enthalten, Übungen mit einem lernbereichsbezogenen, aufbauenden Modellwortschatz oder Modellwörterlisten und Übungen zur Textkorrektur. (Sommer-Stumpenhorst 2005: 18) Die noch aus dem 19. Jahrhundert stammende Wortbildtheorie bildet die Grundlage sowohl der analytischen m ethode im Schriftspracherwerb als auch neuerer Wortspezifischer oder grundWortschatz orientierter v erfahren (s. u.). Sie ist in ihrer ursprünglichen Form widerlegt, dennoch in Variationen weiterhin verbreitet. Die Bandbreite insbesondere der grundwortschatzorientierten Ansätze ist enorm, weshalb hier zwischen problematischen und sinnvollen Herangehensweisen unterschieden werden muss. Gemeinsam ist diesen Ansätzen, dass Rechtschreibkompetenz überwiegend verstanden wird als die Fähigkeit, eine ausreichend große Anzahl von gespeicherten Wortformen ohne aufwändige Reflexion richtig schreiben zu können. Dies wird - insbesondere in der Primarstufe - als effektiver als ein regelgeleitetes Vorgehen angesehen: Wichtig bleibt, daß Wörter nicht zu früh unter rechtschreibsystematischen Aspekten präsentiert werden. Ich selbst habe auch als erwachsene Schreiberin kein primäres Interesse an Rechtschreibphänomenen oder orthographischen Spitzfindigkeiten. Ich verwende Wörter aus inhaltlich-thematischen Gründen und möchte sie dann in meinen Texten richtig schreiben können - automatisch. […] Wieso sollen Grundschulkinder sich eigentlich für Wörterlernen unter rechtschreibsystematischen Aspekten interessieren? (Süselbeck 1995: 9) Darstellung Den Gegenpol zu den traditionellen synthetischen v erfahren (→- 3.1) bildete in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts die ana lytische m ethode , die unter anderem auf die Wortbildtheorie nach Bormann (1840) zurückgeht: Jedes Wort hat in der Schriftsprache seine eigenthümliche Physiognomie und es ist nun die Aufgabe des Rechtschreibunterrichts, dem Kinde dazu <?page no="59"?> Wortbild- und grundwortschatzorientierter Rechtschreibunterricht 59 die analytische Methode Wortbildorientierung zu verhelfen, daß es sich diese Physiognomie der Wörter scharf und sicher einpräge, welches natürlich allein durch Vermittelung des Auges geschehen kann. (Zit. n. Scheerer-Neumann 1995: 171) Ausgehend von der Beobachtung, dass Kinder gesprochene und geschriebene Sprache nicht in ihren Einzelteilen, sondern ganzheitlich wahrnehmen, forderten die Vertreter der analytischen m ethode (z. B. Kern 1930), im Leselehrgang mit Sinneinheiten, also Wörtern oder ganzen Sätzen, zu beginnen. Diese sollten zunächst ganzheitlich erlesen werden; das alphabetische Schriftsystem wird hier also wie ein logographisches System behandelt. Erst in einem zweiten Schritt werden Wörter durchgliedert, einzelne Buchstaben isoliert und dem entsprechenden Lautwert zugeordnet. Dies ermögliche dann drittens das selbständige Erlesen unbekannter Wörter auf der Basis bekannter Buchstaben und unter Nutzung des Sinnzusammenhangs. Die analytische m ethode (oder Ganzheits-Methode) bringt den großen Vorteil mit sich, dass schon zu einem frühen Zeitpunkt des Schriftspracherwerbs sinnvolle Wörter und Sätze erlesen und auch geschrieben werden können. Somit wird die kommunikative Funktion der Schrift früh erfahren, was zur Lese- und Schreibmotivation beitragen kann. Allerdings wird der logische und für Kinder auch durchaus durchschaubare Aufbau des alphabetischen Schriftsystems zu spät genutzt. Dies veranlasst die Kinder zum ‚Erraten‘ von Wortbildern, wobei sie sich häufig an irrelevanten und zufälligen Wortmerkmalen orientieren. Die analytische m ethode in ihren verschiedenen Ausprägungen verbreitete sich in der Nachkriegszeit rasch, wurde in den 1960er- Jahren in der BRD sogar überwiegend eingesetzt, dann aber allmählich wieder von synthetischen (und später von analytisch syntheti schen ) k onzeptionen verdrängt. Sie fand allerdings ihre Fortsetzung in Wortbildorientierten a nsätzen , die nun nicht mehr auf den Anfangsunterricht beschränkt waren. Ihre Grundlage bildete nach wie vor die Wortbildtheorie nach Bormann, die sich in verschiedenen - teilweise nach wie vor in der Alltagsdidaktik verbreiteten - methodischen Implikationen niederschlug: - Die wichtigste Methode des Rechtschreibunterrichts sei das Abschreiben, da sich hierdurch das richtige Wortbild am ehesten festigen lasse. - Wortschreibungen würden über ihre Umrisse, also unter Berücksichtigung von Ober- und Unterlängen, abgespeichert. - Vom Kind geschriebene Texte müssten genauestens kontrolliert und verbessert werden (möglichst durch Unkenntlichmachen der Fehlschreibungen), da sich ansonsten falsche Wortbilder einprägten. <?page no="60"?> 60 Schreiben Kritik an der Wortbildorientierung Orientierung am Grundwortschatz - Eigene Texte dürften erst dann geschrieben werden, wenn der Schüler dazu rechtschreiblich in der Lage sei - ansonsten seien fatale Rechtschreibfehler unvermeidlich. - Grundsätzlich dürften Kinder keine falschen Wortschreibungen zu Gesicht bekommen - auch nicht zum Beispiel zu Demonstrations- oder Analysezwecken an der Tafel. Mit diesen veralteten Auffassungen hat sich die Sprachdidaktik in den letzten Jahrzehnten intensiv auseinandergesetzt, nachzulesen etwa in Scheerer-Neumanns Aufsatz von 1995: Wortspezifisch: Ja - Wortbild: Nein. Ein letztes Lebewohl an die Wortbildtheorie. Sicherlich spielt die wortspezifische Speicherung im Rechtschreiberwerb eine wesentliche Rolle, wie beispielsweise frühe korrekte Verschriftungen hochfrequentierter Wörter wie und neben nicht korrekten wie *runt (für rund) oder *wint (für Wind) zeigen. Daraus kann jedoch nicht auf eine ausschließlich visuelle Speicherung im Sinne eines Wortbildes geschlossen werden - im inneren orthographischen Lexikon sei laut Scheerer-Neumann zu jedem Eintrag eine Vielzahl von Informationen, nicht nur auf der visuellen Ebene, gespeichert. Gegen die Wortbildtheorie spricht vor allem das Input-Argument, also die Tatsache, dass Lerner in ihrer Umwelt fast nur korrekt geschriebene Wortformen vorfinden - trotzdem kommt es zu Fehlschreibungen. Außerdem lassen sich die in der Realität vorkommenden Fehlschreibungen nur selten durch eine visuelle Ähnlichkeit zum korrekten Wortbild erklären - vielmehr führen gerade häufige Fehlertypen (z. B. Kleinstatt Großschreibung, Einfügung von Graphemen wie dem Dehnungs-h) oft zu einer gravierenden Änderung der ‚Wortgestalt‘. Des Weiteren lässt sich anführen, dass Kinder und Erwachsene in sogenannten ‚Kunstwort-Experimenten‘ in der Lage sind, auch unbekannte Wörter, die nicht schematisch abgespeichert sind, plausibel und den orthographischen Prinzipien entsprechend zu verschriften. Aus diesen Gründen spielt der klassische Wortbild-Ansatz in der aktuellen Rechtschreibdidaktik keine Rolle mehr. Die g rundWortschatzorientierung wird dagegen häufig in der Fachdidaktik und (noch häufiger) in Curricula, Sprachbüchern sowie kommerziell vertriebenen Lernhilfen und Lernsoftware empfohlen. Durch wiederholtes und vielfältiges Üben (beispielsweise Abschreiben, buchstabenweises Zerlegen und Zusammensetzen, Sortieren) soll demnach eine bestimmte Menge von Wortformen abgespeichert und damit sicher beherrscht werden. Dahinter steht die Motivation, den gerade für schwächere Lerner unüberschaubar erscheinenden Lerngegenstand Orthographie zu beschränken und ihn damit bewältigbar zu machen: „Mit einer solchen Lernhilfe ist die Zusicherung für den Lernenden <?page no="61"?> Wortbild- und grundwortschatzorientierter Rechtschreibunterricht 61 phänomenorientierte Grundwortschatzarbeit Kriterien für die Auswahl von GWS-Wörtern verbunden, wenn du diese Wörter schreiben kannst, hast du ein wichtiges Ziel erreicht“ (Augst/ Dehn 2009: 221). Die Erarbeitung und Anwendung von Regeln wird dagegen kritisch gesehen, da dies viele Schüler überfordere und wegen der zahlreichen Ausnahmen auch häufig nicht zielführend sei. Das ständige bewusste Reflektieren, so Süselbeck, „behindert oder verlangsamt das Schreiben, bestenfalls ignorieren Kinder die Rechtschreibung, schlimmstenfalls vermeiden sie Schreiben überhaupt“ (1995: 10). Viele Autoren vertreten allerdings weniger strikte Positionen und schlagen eine Verbindung grundwortschatzorientierter Methoden mit phänomenorientierten Herangehensweisen vor (z. B. Merten 2011a: 77 ff.). Dies wird unter anderem mit besonderen rechtschreiblichen Schwierigkeiten begründet: So sind etwa für Kinder in Süddeutschland wegen des dort kaum vorkommenden stimmhaften s-Lautes Wörter mit <ß> nicht regelgeleitet von solchen mit <s> zu unterscheiden (reisen vs. reißen). Hier bietet es sich an, häufig vorkommende Wörter mit <ß> (Straße, fließen, Gruß) in eine Wörterliste aufzunehmen, dabei Analogiebildungen anzubahnen (fließen > schießen, Gruß > Ruß), ansonsten aber auf eine regelgeleitete Erarbeitung der Schreibungen zu verzichten (z. B. Risel 2004: 47 ff.). Geradezu unumgänglich ist diese Vorgehensweise bei den Wörtern, deren Schreibung sich nicht aus den Prinzipien der deutschen Orthographie herleiten lässt, die also als Ausnahmeschreibungen (z. B. aus historischen Gründen) gelten müssen. Dies ist beispielsweise der Fall bei Wörtern mit <ai> (Kaiser, Laib) oder bei Wörtern mit <v> für [v] (Vase, Advent) beziehungsweise <v> für [f] (Vogel, viel) (ebd.: 32 ff.). Bei Wörtern mit den Präfixen <vor> und <ver> ist hier wiederum die Analogiebildung, also eine Verbindung von grundwortschatz- und systemorientiertem Vorgehen, möglich. Als Kriterien für die Zusammenstellung eines Grundwortschatzes werden neben der Auftretenshäufigkeit bei Erwachsenen und bei Kindern (z. B. gucken) auch die Fehlerträchtigkeit (z. B. kam) und die Modellhaftigkeit der Schreibung (z. B. Hand für vergleichbare Wörter mit Auslautverhärtung) genannt. Richter legt in diesem Zusammenhang Wert auf eine Orientierung an den persönlichen Interessen der Schüler und begründet dies mit Erkenntnissen aus der Geschlechterforschung: Es kann vermutet werden, dass die Interessen der Jungen bei einem Unterricht, der sich durchgängig an vorgegebenen Unterrichtsmaterialien orientiert, zu kurz kommen. Wenn aber die subjektive inhaltliche Bedeutsamkeit des Lernmaterials von entscheidender Bedeutung für die Lernergebnisse ist, liegt hier mit großer Wahrscheinlichkeit eine Ursache, warum Jungen im Durchschnitt schlechtere Schulleistungen im Lesen und Schreiben haben. <?page no="62"?> 62 Schreiben individuelle Rechtschreibkartei Grundwortschatz als ‚Trainingsbasis‘ Die Geschlechterdifferenzen wären demnach auszugleichen oder wenigstens zu verringern, wenn die Interessen der Jungen im Lernmaterial stärker berücksichtigt würden. (1998: 14) Diese Forderung lässt sich Richter zufolge verallgemeinernd auf alle Kinder übertragen in dem Sinne, dass sich die Wortauswahl im Rechtschreibunterricht an den persönlichen Interessen orientieren solle. Eine ‚individuelle Rechtschreibkartei‘ könne beispielsweise Fehlerschwerpunkte aus den eigenen Texten der Kinder enthalten, zusätzlich diejenigen Exemplare aus der Liste der 100 häufigsten Wörter, bei denen dem Kind Fehlschreibungen unterlaufen sind. Problematisierung Die Auffassung, der Rechtschreiberwerb bestünde allein oder überwiegend aus dem Einprägen von Wortschemata, ist nach wie vor weit verbreitet. Methodisch vielfältige Übungen zur Sicherung eines Grundwortschatzes wie das Abschreiben, das Sortieren von Wörtern, das Zusammenfügen von ‚Purzelwörtern‘ sowie verschiedene Diktatvarianten (z. B. Dosen- und Laufdiktate) sind deshalb im Rechtschreibunterricht allgegenwärtig. Jedoch ist es „in didaktischer Hinsicht höchst problematisch […], wenn Übungsformen, die für das Einprägen von Ausnahmeschreibungen funktional sind, auch auf Schreibungen des Kernbereichs ausgeweitet werden“ (Budde et al. 2012: 127). Wortschreibungen mit silbenintialem <h>, mit verdoppeltem Konsonantengraphem oder mit <ie> für [i] sind systembasiert und sollten nach Möglichkeit auch so vermittelt werden. Eine systemferne Variante des g rundWortschatzkon zepts , die die Rechtschreibung implizit als chaotisch und undurchschaubar auffasst und die Schüler vor orthographischen Gesetzmäßigkeiten ‚schützen‘ möchte, wird in der Fachdidaktik deshalb überwiegend kritisiert. Grundwortschatzorientierte Vorgehensweisen sind dann berechtigt, wenn der Grundwortschatz gewissermaßen als „Steinbruch und Exerzierfeld“ (Risel 2011: 101) für phänomenorientiertes Arbeiten dient- - zumal in orthographischen Kontexten, die auf der entsprechenden Altersstufe oder ganz allgemein kaum mit Regeln zu bewältigen sind (s. o.). Anzumerken ist in diesem Zusammenhang auch, dass es immer wieder leistungsschwächere Schüler gibt, die mit dem Abspeichern von Schemata ganz grundsätzlich bessere Ergebnisse erzielen. Bei der individuellen Förderung sollten die Vorgehensweisen selbstverständlich den Stärken des Kindes angepasst werden. <?page no="63"?> Analytisch-synthetische Verfahren 63 Aufgaben 1. Welche der folgenden Wortschreibungen lassen sich mit den Prinzipien der deutschen Rechtschreibung nach Eisenberg (→-S.-47 f.) begründen? Bei welchen Wörtern erscheint Ihnen eine Aufnahme in einen Grundwortschatz - eventuell in Verbindung mit phänomenorientierten Herangehensweisen - sinnvoll? Rabe - Sahne - Schwan - Stahl - Saal - Magen wiegen - Biber - ihnen - Sieb - Fibel - Maschine 2. Zeigen Sie an der folgenden Aufgabe (verkürzt aus: Richter 1998: 112) Merkmale des Grundwortschatzkonzepts auf und nehmen Sie kritisch dazu Stellung: Wörter, die mit Dehnungs-h geschrieben werden Das Dehnungs-h zeigt an, dass der davor stehende Vokal lang gesprochen werden soll. […] Du sollst jetzt Wörter suchen, die mit einem langen a gesprochen und mit „ah“ geschrieben werden. Suche aus dem Abc deiner Kartei 8 heraus. 1) Markiere „ah“ mit einem Farbstift. 2) Lies dir dann die Wörter laut vor. Fällt dir etwas auf? 3) Kannst du es als Merksatz aufschreiben? (Vergleiche deine Lösung mit dem Merksatz auf der Rückseite.) (Vorgeschlagene Lösung: „In diesen Wörtern wird das lange a als „ah“ geschrieben.“) Lektüreempfehlungen zur Vertiefung r ichter , S.-(1998) (Anregungen für die Arbeit mit einem an den Interessen der Schüler orientierten Grundwortschatz) M erten , S. (2011a) (kritisiert ein grundwortschatzorientiertes Vorgehen sowohl aus wortschatzals auch aus rechtschreibdidaktischer Sicht) 3.3 Analytisch-synthetische Verfahren Den Begriff ‚Integration‘ beziehe ich auf alle Operationen, die beim Erwerb der Schriftsprache erlernt werden müssen, und damit meine ich, daß diese Operationen nicht im Aufbau des Lehrgangs nacheinander, sondern in jeder Lerneinheit und von Anbeginn an mit einander durchgeführt werden, da sie sich gegenseitig unterstützen und im Lernprozeß auch tatsächlich in engster Beziehung zueinander stehen. (Menzel 1990: 39) Erste Merkmale eines analytisch synthetischen v erfahrens im Erstlese- und Erstschreibunterricht lassen sich bereits in Ickelsamers Eine Teütsche Grammatica (erstmals veröffentlicht Anfang des 16. Jahrhunderts) finden (Topsch 2005: 60). Jedoch sind die heute verbreiteten analytisch synthetischen v erfahren historisch vor allem als Resultat der Kontroverse zwischen den Synthetikern (→- 3.1) und <?page no="64"?> 64 Schreiben Verbindung von Lesetechnik und Sinnentnahme Integration von Analyse und Synthese Lehrgangsorientierung Analytikern (→- 3.2) in den 1960er und 1970er Jahren zu verstehen. Während diese beiden Positionen in ihrer reinen Form als überholt gelten, ist die analytisch synthetische m ethode in ihren verschiedenen Ausprägungen heute das mit Abstand am häufigsten eingesetzte Verfahren im Schriftspracherwerb. Darstellung Die analytisch synthetische m ethode versucht, die schwerwiegenden Probleme der synthetischen beziehungsweise der Ganzheitsmethode zu umgehen, indem von Anfang an sowohl technische als auch kommunikativ-semantische Aspekte des Lesens und Schreibens berücksichtigt werden. Diese Einsicht setzte sich in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts allmählich durch und wurde schließlich auch in Lehrplänen berücksichtigt, wie das folgende Beispiel zeigt: Beim Lehrgang kann schwerpunktmäßig von Satz, Wort oder Laut ausgegangen werden, jedoch sind von Anfang an alle Sprachelemente einzubeziehen. Ausgeschlossen ist somit ein rein synthetisches Verfahren, bei dem die Laute und Lautzeichen ohne Einsicht in ihre Funktion als Sinnträger erlernt werden, wie auch ein extrem ganzheitliches Verfahren, bei dem die Analyse zu lange hinausgezögert wird. (Amtsblatt des bayerischen Staatsministeriums für Unterricht und Kultur 1981: 554) Der logische Aufbau des alphabetischen Schriftsystems, der sich vor allem aus dem phonographischen Prinzip ergibt, wird von Beginn an genutzt, indem Buchstaben beziehungsweise Grapheme als Lautrepräsentanten eingeführt werden. Gleichzeitig arbeitet man von Anfang an mit sinnvollen sprachlichen Einheiten, also Wörtern und Sätzen, die nach Möglichkeit in Kommunikationssituationen eingebettet sind. In der Praxis werden - ähnlich wie in der analytischen m etho de - - schon früh vollständige Wörter eingeführt, die von den Kindern als Einheit erlesen werden können. Jedoch werden diese Schlüsselwörter, die „gezielt im Hinblick auf Lauttreue und Analyseeignung ausgewählt“ (Schenk 2012: 93) sind, zusätzlich sofort durchgliedert, also akustisch, artikulatorisch, visuell und schreibmotorisch in ihre Einzelteile zerlegt. Bei diesen Einzelteilen handelt es sich einerseits um Laute (Phoneme), andererseits um die diesen zugeordneten Buchstaben (Grapheme). Mit den gewonnenen Bestandteilen können - wenn sie eingeführt sind - wiederum neue Wörter aufgebaut und verschriftet werden; gleichzeitig ist es nun möglich, aus den Bestandteilen zusammengesetzte neue Einheiten zu erlesen. Das häufigste Lernmedium in analytisch-synthetischen Lehrgängen ist die Fibel, die eine Lernprogression - beispielsweise durch die Einführung von Schlüsselwörtern und Einzelbuchstaben - vorgibt. Die <?page no="65"?> Analytisch-synthetische Verfahren 65 Fibelkritik Fibel wird aktuell in der Praxis aber meist ergänzt durch zusätzliche Materialien (z. B. Buchstabentabellen →- 3.1; Schreibübungshefte) und gezielte Schreibanlässe, die in stärkerem Maße individuelle Lernwege ermöglichen. Problematisierung Während des sogenannten Methodenstreits Mitte des 20. Jahrhunderts wurde die analytisch synthetische -m ethode , die eine Zwischenlösung anbot, sowohl von Synthetikern als auch von Vertretern der analytischen Methode heftig kritisiert: „Will man auf dem Felde der Lesemethodik wirkliche Fortschritte erzielen, so ist ein solcher Mischversuch verfehlt. […] Wahres und Falsches vermischt [kann] wieder nur Falsches ergeben“ (Schmitt 1966: 93). Inzwischen sind die ursprünglichen Gegenpositionen aus der Diskussion ebenso wie aus der didaktischen Realität verschwunden, und fast alle derzeit eingesetzten Erstlese- und Erstschreiblehrgänge sowie auch offenere Konzepte (z. B. der s pracherfahrungsansatz →- 3.4) basieren letztlich auf dem analytisch synthetischen v erfahren (Topsch 2005: 64). Forschungsergebnissen aus den USA zufolge umfassen besonders erfolgreiche Methodenkombinationen entsprechend den Grundzügen der analytisch synthetischen m ethode systematische Lautierübungen, einen anfänglich in Bezug auf die Laut-Buchstaben-Regelhaftigkeit kontrollierten Wortschatz, die sorgfältige Einführung eines umfassenden Lesewortschatzes und die Einbeziehung des Schreibens. (Valtin 2006: 767) Dennoch lässt sich an deren konkreter Umsetzung - insbesondere in den klassischen geschlossenen Fibellehrgängen - durchaus einiges kritisieren (siehe auch die von Vertretern des s pracherfahrungsan satzes geäußerte Fibelkritik →- 3.4). Das anspruchsvolle Ziel, lautgetreu-alphabetisches Schreiben und Erlesen von Anfang an mit der kommunikativen Funktion der Schrift zu verbinden, wird häufig nicht erreicht - stattdessen beschränken sich Lesetexte angesichts des geringen Buchstabenangebots oft auf kurze und extrem vereinfachte Sätze mit reduziertem Inhalt, was nur unwesentlich über den in synthetischen Lehrgängen üblichen „Fibel-Dadaismus“ (Reichen 2001: 85) hinausgeht. Es ist daher inzwischen allgemein üblich, die analytisch synthetische m ethode im Schriftspracherwerb zum Beispiel mit lautorientierten Elementen (→- 3.1) und Ideen des s pracherfah rungsansatzes zu verbinden. Auf einer anderen Ebene kritisieren unter anderem Bredel und Noack die lautorientierte Vorgehensweise in analytisch-synthetischen <?page no="66"?> 66 Schreiben Lese- und Schreiblehrgängen. Ähnlich wie in aktuellen phonogra phischen a nsätzen (→- 3.1) werde auch hier der Systemcharakter unseres Schriftsystems verkannt und die Kinder zum lautgetreuen Verschriften ‚verführt‘. Obwohl Schüler im Zuge der inneren Regelbildung häufig bereits früh von der alphabetischen Schreibstrategie abwichen (<er> für Reduktionssilben wie in Eimer), würden solche Bemühungen im Unterricht weder aufgegriffen noch unterstützt (Bredel 2012: 11, Noack 2015: 43). Aufgaben 1. Machen Sie sich mit dem „Zwei-Wege-Modell des Worterkennens“ (Scheerer-Neumann 2006: 515) vertraut und erklären Sie, welcher ‚Weg‘ von den analytischen und welcher von den synthetischen Komponenten der analytisch synthetischen m ethode genutzt wird. 2. Überprüfen Sie, ob der folgende Text (aus der Fibel Lesen, Lesen, Lesen 1991: 19) hinsichtlich der Wortauswahl und inhaltlicher Aspekte den Grundsätzen der analytisch synthetischen m ethode entspricht. Am Tor Lulu rast los. Lulu ist am Tor. Was tut Lulu? TOR, TOR, TOR! Uta lacht: Toll, Lulu. Susi sagt: Lulu ist gut! Lektüreempfehlung zur Vertiefung M enzeL , W. (1990) (nach wie vor ein sinnvoller Einstieg in die Beschäftigung mit dem Schriftspracherwerb; zahlreiche Praxisvorschläge: u. a. ein Selbsttest zur Erprobung eines ‚neuen‘ Schriftsystems) 3.4 Spracherfahrungsansatz Die Fähigkeit der Kinder, Sprache selbständig, aktiv experimentierend zu erwerben, macht sich der entdeckende Ansatz beim Lese- und Schreiberstunterricht zunutze. Hier werden die Kinder nicht in die Rolle des passiven, uninformierten, nur zu Schluckbewegungen fähigen Konsumenten gedrängt, um von ‚klugen‘ Erwachsenen die aus der Erwachsenenlogik heraus portionierten, kleinen Wissenshäppchen entgegenzunehmen und zu schlucken. Hier werden die Kinder stattdessen in ihren Entdeckungs- und Gestaltungsbedürfnissen und -fähigkeiten ernstgenommen und herausgefordert. (Spitta 1994: 72) <?page no="67"?> Spracherfahrungsansatz 67 Basis des s pracherfahrungsansatzes (auch: whole language approach) ist die grundsätzliche Annahme, dass der schriftliche ebenso wie der mündliche Spracherwerb ein natürlicher Prozess sei. Es genüge demzufolge, Kindern eine anregungsreiche Umgebung mit vielfältigen schriftsprachlichen Reizen zu geben. Wichtigste Aufgabe des Unterrichts sei es, Schülern individuelle Zugangsmöglichkeiten zur Schriftsprache zur Verfügung zu stellen und sie zur selbständigen Produktion derselben anzuregen. Die Konzeption stammt ursprünglich aus den USA und wird in Deutschland seit den 1980er Jahren unter anderem von Brügelmann und Spitta vertreten. Darstellung Zu den theoretischen Grundlagen des s pracherfahrungsansatzes gehören die Schriftspracherwerbsmodelle, die seit den 1980er Jahren zunehmend Eingang in die fachdidaktische Diskussion fanden. Modelle des Schriftspracherwerbs Eines der ersten Schriftspracherwerbsmodelle stammt von der Entwicklungspsychologin Frith (1985), die sowohl im Leseals auch im Schreiberwerb drei wesentliche Strategien unterscheidet: - die logographische Strategie, bei der visuelle Repräsentationen eines Wortes als Ganzes erfasst und gespeichert werden, - die alphabetische Strategie, bei der auf Basis der Graphem-Phonem-Korrespondenz Wörter zunehmend lautgetreu verschriftet und Buchstabe für Buchstabe erlesen werden, sowie - die orthographische Strategie, bei der Kinder in ihre Verschriftungen Gesetzmäßigkeiten der Rechtschreibung integrieren sowie beim Erlesen von Wörtern Signalgruppen, Morpheme und weitere abgespeicherte Einheiten nutzen. Zusammenfassende Darstellungen des Forschungsstands zum Schriftspracherwerb sowie Weiterentwicklungen des Modells bezüglich der Lese- und Schreibfähigkeiten finden sich beispielsweise bei Scheerer-Neumann (2006) sowie Thomé (2006). Grundsätzliche Kritik am hier dargestellten Verständnis von Schriftspracherwerb üben Bredel, Fuhrhop und Noack. Sie halten „die Modellierung des Schriftspracherwerbs als Stufenabfolge für einen Zirkelschluss, da die Didaktik damit etwas erklärt, was sie methodisch selbst verursacht hat“ (2011: 96), und begründen dies folgendermaßen: Fibelkonzept, Spracherfahrungsansatz oder freies Schreiben folgen dem Grundsatz, dass geschriebene Sprache aus Zeichenketten besteht, deren einzelne Elemente als Abbilder auf Elemente der gesprochenen Sprache bezogen werden können. […] Wenn Unterricht die Schrift also stets in dieser lautlichen Beziehung vermittelt, ist es dann verwunderlich, dass alle Kinder mit der sogenannten alphabetischen Stufe beginnen? (Ebd.: 98) <?page no="68"?> 68 Schreiben individuelle Lernvoraussetzungen Orientierung an eigenen Texten Umgang mit Rechtschreibfehlern Der Anfangsunterricht steht vor der Herausforderung, dass sich Kinder zu Beginn der ersten Klasse auf ganz unterschiedlichen Entwicklungsniveaus befinden. Aufgrund dessen kritisieren Vertreter des s prach erfahrungsansatzes die Vorgehensweise des klassischen analy tisch synthetischen v erfahrens (→-3.3), das durch seinen-- meist durch die Fibel vorgegebenen - Unterricht ‚im Gleichschritt‘ die individuellen Lernvoraussetzungen ignoriere. Dies führe bei einem Großteil der Kinder entweder zu Über- oder Unterforderung - und in beiden Fällen zu Frustration. Entdeckungen der Schüler, die durchaus fähig seien, eigene Vorstellungen und Hypothesen über den Aufbau der Schriftsprache zu bilden, würden nicht berücksichtigt, weil sie nicht in den vorgegebenen Rahmen passten. Auch gelinge es durch die isolierte Vermittlung von Teilkenntnissen und durch die Überbetonung motorisch-technischer Aspekte nicht, den Kindern den eigentlichen kommunikativen Charakter der Schriftsprache von Anfang an zu verdeutlichen (Spitta 1994: 11 ff.). Als Alternative bietet Spitta zahlreiche Ideen zur Erarbeitung und Einübung unterschiedlicher Aspekte von Schrift und Schriftlichkeit in einem offenen Unterricht an. Insbesondere orientiert sie sich dabei an den eigenen schriftlichen Erzeugnissen der Schüler - diese sind neben Lernspielen, Zeitungen, Kinderbüchern und konventionellen Leselehrgängen das Material, mit dem gearbeitet wird (ebd.: 19). Arbeit mit und an eigenen Texten Die Texte kommen beispielsweise im Erzählkreis (→ 2.4) durch Erzählungen der Schüler zustande, die später diktiert, von der Lehrerin an die Tafel geschrieben, gemeinsam gelesen und in unterschiedlicher Weise weiter verarbeitet werden. So werden Erfahrungen und Gefühle nicht aus der Schule ausgeschlossen, sondern ganz gezielt aufgegriffen und als wichtig anerkannt. Die Produkte der Schüler werden nach Möglichkeit nicht nur in einem Heft niedergeschrieben, sondern in kommunikative Prozesse eingegliedert. So führt Spitta mehrere Beispiele für die Erstellung von ‚Büchern‘ an, in denen jeweils eine Seite einem Kind ‚gehört‘ und von diesem gestaltet wird. So könne etwa ein Buch erstellt werden, in dem sich alle Erstklässler mit Bild vorstellen, oder ein ‚Traumbuch‘, in dem sie von ihren Wünschen und Träumen erzählen. Auch durch Briefe an fiktive oder reale Adressaten könne das Schreiben (und Lesen) in einen sinnvollen und motivierenden Kontext eingebettet werden. Spitta verzichtet im Anfangsunterricht gänzlich darauf, in den Texten der Schüler Fehler zu markieren, und schlägt stattdessen vor, den Schülertext in der orthographisch korrekten Fassung danebenzuschreiben- - sowohl als Vergleichsmöglichkeit für das Kind als auch als Hilfe <?page no="69"?> Spracherfahrungsansatz 69 Schriftspracherwerb als natürlicher Prozess? Integration in andere Konzeptionen für Mitschüler oder Erwachsene, die den Text später lesen möchten. Dadurch erhalten die Kinder die Möglichkeit, ihre Version mit derjenigen des Lehrers zu vergleichen und daraus selbständig Hypothesen zur Systematik der Rechtschreibung abzuleiten. Eine integrative Konzeption, die neben dem s pracherfahrungs ansatz auch Elemente anderer Verfahren berücksichtigt, schlagen Brügelmann/ Brinkmann (1998) vor. Sie beruht auf vier Säulen: - Freies Schreiben (→-3.11) eigener Texte (z. B. mit Hilfe einer Anlauttabelle →- 3.1): Entwickeln und Überprüfen eigener orthographischer Hypothesen - Gemeinsames (Vor-)Lesen von Kinderliteratur: Erzeugung von Lesemotivation; Schriftsprache soll als Kommunikationsmedium erlebt werden; Weiterentwicklung sprachlicher und kognitiver Fähigkeiten - Systematische Einführung von Schriftelementen und Leseverfahren (z. B. ‚Buchstabe der Woche‘, Auf- und Abbauübungen) - Aufbau und Sicherung eines Grundwortschatzes: Automatisierung der Schreibweise häufiger Wörter, Nutzung von Modellwörtern für bestimmte orthographische Phänomene Problematisierung Kritisiert werden muss zunächst die Vorstellung eines ‚natürlichen‘ Orthographieerwerbs. Das System Orthographie, wie es beispielsweise Eisenberg beschreibt, ist so komplex, dass für Kritiker des s prach erfahrungsansatzes eine gezielte Steuerung von Lernprozessen (unter Einbeziehung metasprachlicher Beschreibungen oder geeigneter Strategien) unabdingbar erscheint. Der Rechtschreibunterricht solle demzufolge nicht auf eine Anleitung zu lautgetreuem Verschriften sowie die Vermittlung eines Grundwortschatzes beschränkt werden (siehe z. B. Bredel/ Fuhrhop/ Noack 2011: 96). Risel weist darauf hin, dass instruktionsarmes Lernen immer auch in der Gefahr stehe, die Auswirkungen ungleicher Eingangsvoraussetzungen zu verlängern (2011: 143 f.). Zudem überfordere eine konsequente Umsetzung der Konzeption viele Lehrer, die „neben der Sachanalyse auch die didaktische Reduktion und die lernpsychologische Aufarbeitung leisten müssen“ (ebd.). Der s pracherfahrungsansatz in seiner reinen Form ist wenig praktiziert; so spricht Risel von einem „Phänomen der Hochschulen und fachdidaktischer wie pädagogischer Publikationen“ (ebd.: 95). Zahlreiche Ideen und Methoden aus diesem weiten Feld sind jedoch häufig adaptiert und ergänzen inzwischen viele - auch fibelorientierte, z. B. analytisch synthetische - Lese- und Schreiblehrgänge (→-3.3). Die Verbindung selbstgesteuerter und systematischer Elemente zum Beispiel durch eine Einbeziehung eigener Texte, die in realen oder <?page no="70"?> 70 Schreiben fiktiven Kommunikationssituationen entstehen, hat sich vielfach bewährt. Aufgaben 1. David (Kl. 1; aus Spitta 1994: 52 f.) schreibt: Bos Aos HPe ich FesA gK (Bus aus habe ich Fenster geguckt / Im Bus habe ich aus dem Fenster geguckt). Beschreiben Sie seinen Stand in der Entwicklung der Rechtschreibfähigkeiten (z. B. nach Thomé 2006). 2. Wie würden Sie als Lehrkraft auf die Normverstöße in seinem Text reagieren? Lektüreempfehlungen zur Vertiefung B rügeLMann , h./ B rinkMann , e. (1998) (integratives Modell eines Lese- und Schreibunterrichts unter starker Berücksichtigung von Elementen des s pracherfah rungsansatzes ) S pitta , g. (1994) (enthält neben einer Begründung des freien s chreibens im Anfangsunterricht zahlreiche Anregungen für Schreibprojekte) 3.5 Regelorientierter Rechtschreibunterricht Regeln interessieren viele Hochschuldidaktiker vor allem dann, wenn die Lernenden selbst sie generieren, wenn sie also in Gestalt von Eigenregeln auftauchen. Empirisch wenig erforscht ist dagegen Unterricht, der sowohl Eigenregeln und Eigentermini hervorlockt als auch Fremdregeln als Reibungsfläche für Lernzuwachs anbietet. (Risel 2011: 107) Der regelorientierte r echtschreibunterricht setzt sich von den bisher dargestellten Ansätzen insofern ab, als er von der analysierten Struktur der Schriftsprache ausgeht und nicht bei der Lautanalyse oder dem Abspeichern von Wörtern oder Wortbausteinen stehenbleibt-- dies gilt in ähnlicher Form auch für strategieorientierte (→- 3.6) oder silbenbasierte (→- 3.7) k onzeptionen . Es gibt eine Vielzahl ausdrücklich regelorientierter Vorschläge für die Primar- und Sekundarstufe, von denen nun einige exemplarisch vorgestellt werden sollen. Darstellung Den regelorientierten a nsätzen ist gemeinsam, dass von einem bestimmten orthographischen Phänomen, einer Rechtschreibschwierigkeit, ausgegangen wird. Zu diesem wird metasprachlich eine Regel oder Gesetzmäßigkeit formuliert, die es den Schülern anschließend ermöglichen soll, Wörter mit der entsprechenden Rechtschreibschwierigkeit orthographisch zu durchschauen und korrekt zu schreiben. Die Ansätze unterscheiden sich insbesondere in den fokussierten sprachlichen <?page no="71"?> Regelorientierter Rechtschreibunterricht 71 Ebenen (z. B. Morpheme, Silben), im Komplexitätsgrad der verwendeten Regeln und in der Art und Weise, wie diese erarbeitet werden (deduktiv oder induktiv). Verdopplung von Konsonantengraphemen Eine explizite Regel, die sich in dieser oder ähnlicher Form in diversen Lernmaterialien findet, ist beispielsweise: Nach einem kurzen Vokal wird der folgende Konsonant meistens verdoppelt. Eine solche Formulierung ist wenig komplex und damit scheinbar schülergerecht - allerdings (wie das meistens schon zeigt) in vielen Fällen nicht zutreffend und damit inhaltlich problematisch. Eine differenziertere regelorientierte Behandlung des Phänomens doppelte Konsonantenbuchstaben kann folgendermaßen aussehen: Hier haben sich zwei Wörter mit langem Selbstlaut versteckt: Kette - Ast - Wolke - Schlitten - Kessel - Kette - Katze - rasen - Wand - Lust - rennen - retten - wenden - blöd […] 1) Sprich alle Wörter übertrieben lang und übertrieben kurz aus: Keeete oder Ketttte? - kurz, also kommt ein Punkt unter das kurze e. Ein langer Selbstlaut wird durch einen Strich markiert, z. B. a. 2) Färbe die Dopplungswörter an der Dopplungsstelle mit einer Farbe: re nn en. (ck und tz sind auch Doppelungen, sie bekommen nur eine Farbe.) 3) Färbe bei den anderen Wörtern die beiden verschiedenen Buchstaben nach dem Selbstlautbuchstaben mit verschiedenen Farben: A s t. (Risel 2004: 70) Diese Schritt-für-Schritt-Vorgehensweise ist zielführend, allerdings von erheblicher Komplexität - zumal hier Wörter mit zwei Konsonanten nach dem kurzen Vokal, bei denen aufgrund des morphologischen Prinzips dennoch gedoppelt wird (z. B. rannte), noch nicht berücksichtigt sind, was in einem nächsten Schritt geschehen müsste. Deshalb ist es unabhängig von der thematisierten Rechtschreibschwierigkeit üblich und legitim, wie in diesem Beispiel eine didaktische Reduktion vorzunehmen und Regeln mit verringertem Komplexitätsgrad zu formulieren- - allerdings erhöht sich dadurch zwangsläufig die Zahl der Ausnahmen. Regelorientierte Ansätze finden sich besonders häufig in Kontexten, in denen sich morphologische Aspekte auf Wortschreibungen auswirken. Dies ist beispielsweise der Fall bei doppelten Konsonantenbuchstaben in Wörtern vom Typ rannte, bei Wörtern mit phonographisch problematischen Morphemgrenzen (aussehen, Geburtstag) oder bei Wörtern mit Auslautverhärtung beziehungsweise g-Spirantisierung (Berge, In metasprachlichen Äußerungen wird Sprache selbst zum Objekt sprachlicher Äußerungen oder zum Gegenstand spielerischer Manipulationen (Wehr 2001: 29). <?page no="72"?> 72 Schreiben induktive Erarbeitung von Regeln vom Wissen zum Können sonnig) (Risel 2004). Da Schüler Morpheme offenbar noch seltener als Silben intuitiv als Hilfsmittel einsetzen, sind hier Zugänge, die stark auf explizites Lernen und metasprachliche Umschreibungen setzen, theoriebasiert zu rechtfertigen. Zu den Ritualen des regelorientierten r echtschreibunter richts gehören Merksätze. Von zweifelhaftem Nutzen ist es allerdings, diese als Lehrer einfach vorzugeben oder in einem fragend-entwickelnden Unterricht durch geschickt formulierte Impulse aus den Schülern ‚herauszukitzeln‘. Aus lernpsychologischen Gründen ist die induktive Erarbeitung von Gesetzmäßigkeiten vorzuziehen: Hypothesen über orthographische Regularitäten können aus (i. d. R. durch die Lehrkraft vorstrukturiertem) Material gewonnen, formuliert und dann überprüft werden: Eine wichtige Rolle spielen dabei Aufgaben, die die Schüler zum Nachdenken über bestimmte Schreibweisen herausfordern und sie auch dazu anregen, ihr Vorgehen bei der Lösung des orthographischen Problems zu explizieren. (Budde et al. 2012: 128) Wenn die gefundenen Regeln anschließend unter Beteiligung der Schüler und mit ihren eigenen Worten versprachlicht werden, ist die Wahrscheinlichkeit erhöht, dass sie auch verstanden und behalten werden. Allerdings eignet sich für diese induktive Herangehensweise nicht jeder orthographische Gegenstandsbereich: Manche sind zu unsystematisch (nach Meinung vieler Autoren z. B. das Dehnungs-h), andere als Fehlerschwerpunkt eher peripher (z. B. die Getrennt- und Zusammenschreibung). Lindauer/ Schmellentin (2008) schlagen vor, in solchen Kontexten Regeln nur situativ zu thematisieren oder grundsätzlich mit Lernwörtern (→-3.2) zu arbeiten. Problematisierung Risel betont die Wichtigkeit der Wiederholung: Einführungsstunden, auf die sich ein regelorientierter r echtschreibunterricht in Praktika meist beschränkt, reichten nicht aus; es müsse möglich sein, „entlastende rechtschreibliche Routinen“ (2011: 88) auszubilden. Auch Lindauer/ Schmellentin, die ebenfalls für eine regelorientierte Vorgehensweise plädieren, räumen ein: „Es braucht eine gewisse Zeit, bis bewusstes Rechtschreibwissen in unbewusstes übergehen kann“ (2008: 18). Die Annahme, dass hierfür Zeit und mehrfache Wiederholungen ausreichten, muss jedoch bezweifelt werden: Ein Automatismus, durch den explizites Rechtschreibwissen in implizites Rechtschreibkönnen umgewandelt werde, existiert nicht (Funke 2005). Deshalb ist nicht selten zu beobachten, dass Schüler (auch induktiv erarbeitete) Merksätze <?page no="73"?> Regelorientierter Rechtschreibunterricht 73 zwar ‚auf Knopfdruck‘ reproduzieren können, die betroffenen Wörter aber davon unbeeindruckt weiterhin falsch schreiben. Insbesondere beim Schreiben eigener Texte, bei dem erhöhte Aufmerksamkeit auf andere als rechtschreibliche Aspekte verwendet werden muss, fehlt es häufig an Sprachaufmerksamkeit und Fehlersensibilität, um Fehlschreibungen durch Anwendung von Regeln zu vermeiden. Auch für Bredel ist die Vorstellung, Schüler über Merksätze und Regeln zu regelgeleitetem Schreiben anzuleiten, ein Irrweg; sie schlägt mit sogenannten „deiktischen Merkhilfen“ (2011a: 417), worunter sie eine an prozedurales Wissen angebundene handelnde Umsetzung von Strategien (→-3.6) versteht, eine Alternative vor. Ein weiterer Kritikpunkt ist der Vorwurf, der regelorientierte r echtschreibunterricht bevorzuge die ohnehin leistungsstärkeren Schüler. Es besteht insbesondere bei der Erarbeitung und Formulierung von Regeln im Plenum die Gefahr, sich an den ‚schnelleren‘ Schülern mit ausgebildeter Sprachaufmerksamkeit und Fähigkeit zur metasprachlichen Beschreibung zu orientieren - dies ist fatal, da dadurch mit hoher Wahrscheinlichkeit genau die Kinder auf der Strecke bleiben, die rechtschreibliche Unterstützung besonders nötig hätten. Es muss also darauf geachtet werden, bei der induktiven Erarbeitung differenzierte Aufgabenstellungen anzubieten und allen Schülern (z. B. in Einzel- oder Partnerarbeit mit klar definierter Aufgabenverteilung) eigene Entdeckungen zu ermöglichen. Aufgaben 1. Die Groß- und Kleinschreibung ist einer der fehlerträchtigsten Bereiche der deutschen Orthographie. Traditionell wird hier meist mit regelorientierten Zugängen gearbeitet: Nomen, die an verschiedenen Merkmalen (semantische Kriterien, Artikel o. ä.) erkannt werden können, sind großzuschreiben. Erläutern Sie (ggf. unter kritischer Reflexion Ihrer eigenen Rechtschreibpraxis) die Problematik dieser offenbar nicht allzu erfolgreichen Vorgehensweise. 2. Ein häufiges Rechtschreibproblem bilden aufgrund der g-Spirantisierung die Adjektivderivationen mit [lich] und [ig]. Formulieren Sie eine für die Klassenstufe 4 oder 5 angemessene Rechtschreibregel, mit der entschieden werden kann, ob <ch> oder <g> zu schreiben ist. Berücksichtigen Sie dabei auch, dass ein Kind, das nicht weiß, ob <sonnig> oder <sonnich> zu schreiben ist, auch bei der ‚Verlängerungsprobe‘ häufig nicht zwischen <sonnige> und <sonniche> entscheiden kann. <?page no="74"?> 74 Schreiben Operationen statt Regeln Lektüreempfehlungen zur Vertiefung B redeL , u. (2011a) (geht allgemein auf die Rolle von Regeln im Orthographieerwerb ein und setzt sich kritisch mit Merksätzen auseinander) r iSeL , h. (2004) (enthält fachliche und didaktische Informationen sowie methodische Hinweise und Kopiervorlagen zu zahlreichen Rechtschreibthemen) r iSeL , h. (2011) (Überblick über verschiedene Konzeptionen der Rechtschreibdidaktik; plädiert u. a. für eine induktiv-regelorientierte Vorgehensweise) 3.6 Strategieorientierter Rechtschreibunterricht Das Wissen um Regeln […] nützt vielen Schülerinnen und Schülern, die das Schreiben lernen, genauso wenig, wie einem Dreijährigen Grammatikregeln dabei helfen würden, sprechen zu lernen. Gelernt werden müssen vielmehr überall, wo das möglich ist, die Gedankengänge, die nötig sind, um die Schreibweise eines Wortes aus der gesprochenen Sprache zu erschließen. (Mann 2010: 12) Strategieorientierte Ansätze basieren auf der Idee, den Schülern „statt metasprachlich beschreibender Regelformulierungen geeignete mentale Prozeduren als Prüfoperationen anzubieten, die ihnen die Analyse der jeweiligen sprachlichen Struktur ermöglichen“ (Huneke 2013: 320). Mitunter ist die Unterscheidung zwischen strategieorientierten und regelorientierten a nsätzen (→- 3.5) schwierig, da auch die oben genannten mentalen Prozeduren metasprachlich umschrieben werden können. Mann schlägt folgende Abgrenzung vor: Der Unterschied zwischen Regel- und Strategielernen besteht darin, dass man das Regelwissen auf ein Minimum reduziert und versucht, stattdessen die Denkbewegungen einzuüben, die der Anwendung der Regel zugrunde liegen. (2010: 24) Ossner (2013: 98) hingegen fasst den Strategiebegriff enger: Automatisierte Verhaltensweisen gehören für ihn nicht in diese Kategorie, wohl aber „ein planendes (mentales) Vorgehen auf ein angestrebtes Ziel hin“ (ebd.). Strategien sind damit Bestandteil sowohl des Problemlösungswissens als auch des metakognitiven Wissens - beides gilt auch für die im Folgenden dargestellten Rechtschreibstrategien. Es ließe sich zusammenfassend beim strategieorientierten Rechtschreibunterricht auch von einer prozessorientierten Vorgehensweise sprechen, wobei die fokussierten Prozeduren (im Gegensatz zu Regeln) an konkretes sprachliches Material gebunden sind. Darstellung Zahlreiche Strategien zur Lösung von konkreten orthographischen Problemen haben in den letzten Jahrzehnten den Weg in die Alltags- <?page no="75"?> Strategieorientierter Rechtschreibunterricht 75 didaktik gefunden, so beispielsweise das Verlängern bei Wörtern mit Auslautverhärtung oder das Silbieren bei Wörtern mit doppeltem Konsonantenbuchstaben (→- 3.7). Ein inzwischen etabliertes Beispiel für strategie- oder prozessbasiertes Arbeiten im Rechtschreibunterricht ist der syntaxbasierte Zugang zur Groß- und Kleinschreibung. Syntaxbasierte Großschreibung Die satzinterne Großschreibung bereitet vielen Schülern (und auch Studierenden) große Schwierigkeiten - dies bestätigt sich auch beim Betrachten von Fehlerstatistiken. Der traditionelle Zugang, den wir als regelorientiert einordnen, begründet die Hervorhebung bestimmter Einheiten durch große Initialen mit ihrer Wortart: Nomen werden großgeschrieben. Nünke/ Wilhelmus (2002: 211) weisen unter anderem anhand von Kinderzitaten sehr überzeugend die Ineffektivität dieser Vorgehensweise nach und erläutern eine Alternative, die im Folgenden dargestellt wird. Grundsätzlich lassen sich Sätze in einen verbalen Kern und weitere Konstituenten einteilen, von denen die überwiegende Mehrheit aus Nominalphrasen besteht. In diesen wird das jeweils letzte Element großgeschrieben - dies hat den Effekt, dass die syntaktische Struktur des Satzes für den Leser schneller zu durchschauen ist. Es lässt sich also auch die Großschreibung von Wörtern als Ausdruck der Leserorientierung deuten, wenn man davon ausgeht, dass Wörter nicht aufgrund ihrer lexikalischen Eigenschaften großgeschrieben werden, sondern aufgrund der Funktion, die sie innerhalb eines Satzes übernehmen. Bredel fasst zusammen: Nun gilt nicht mehr Substantivität als Auslöser für Großschreibung, sondern die Funktion, die Substantive in Sätzen im prototypischen Fall übernehmen. Erfasst werden nun also auch syntaktische Konversionen (das viele Üben, sein beschädigtes Ich). (2010a: 218) Kennzeichnend für die Kerne von Nominalgruppen ist ihre Attribuierbarkeit, insbesondere (aber nicht ausschließlich) durch Adjektive: „Ein Wort ist [also] dann großzuschreiben, wenn es durch (flektierte) vorgestellte Attribute erweiterbar ist und wenn es das rechte Ende einer Nominalgruppe darstellt“ (Röber-Siekmeyer 1999: 70). ‚Treppengedichte‘ Prägend für den syntaxbasierten Zugang ist vor allem Röber-Siekmeyer (1999) mit ihrem Buch Ein anderer Weg zur Groß- und Kleinschreibung. Sie arbeitet mit sogenannten Treppengedichten, bei denen Schüler durch eigenes Ausprobieren die Erfahrung machen, dass bestimmte Wörter ihre charakteristische Position behalten und dass diese durch einen großen Anfangsbuchstaben gekennzeichnet sind: unter Schnee unter dem Schnee unter dem kalten Schnee unter dem kalten, feuchten Schnee unter dem kalten, feuchten, glitschigen Schnee schläft der grüne Klee (Ebd.: 94) <?page no="76"?> 76 Schreiben Stufenwörter Einfüllwörter Achsenwörter Erklärungen von Schülern weitere strategieorientierte Ansätze Mittels genau erläuterter Methoden werden diese Texte beschrieben, nachgebaut, mit vielfältigen Experimenten variiert und die Beobachtungen metasprachlich formuliert. Die Autorin schlägt hierfür eigene Termini vor; Begriffe wie Nomen sollten nicht benutzt werden, da gerade nicht nur Nomen mit dem syntaxbezogenen Zugang erfasst werden sollen. Die erarbeiteten Regeln könnten von den Kindern folgendermaßen zusammengefasst werden: Vor Stufenwörter [z. B. Schnee] kann man Einfüllwörter [z. B. kalten] setzen. Achsenwörter [z. B. schläft] stehen zwischen den Treppen, und sie bleiben da, auch wenn man die Treppen umdreht. Achsenwörter haben unterschiedliche Endungen. Stufenwörter werden großgeschrieben. Achsenwörter werden kleingeschrieben. (Ebd.: 101) Anschließend wird mit neuen Sätzen gearbeitet, aus denen die Kinder selbst Treppengedichte entwickeln, um die Stufenwörter zu identifizieren. Der entscheidende Schritt ist letztlich die Ermittlung der Kerne von Nominalgruppen mit der Attribuierungsprobe bei selbst formulierten Sätzen. Nünke/ Wilhelmus konnten den Erfolg der Methode mittels eines Kurzdiktats, das auf Basis der traditionellen Methode als sehr anspruchsvoll bezeichnet werden muss, überzeugend belegen: Mogli wandert durch den Wald. Beim Gehen bewundert er das Grün der Bäume. Plötzlich kommt eine Schlange. Von ihrem Zischen bekommt er Angst. (2002: 209) Zitate der Schreiber (es handelt sich um Kinder der 2. Klasse) zeigen, dass die Strategie gerade bei den Nominalisierungen hilfreich sein kann: Bei ‚zischen‘, da habe ich gedacht: ‚ihrem schnellen Zischen‘ und ich hatte es erst klein, aber deswegen habe ich es dann doch großgeschrieben. Am Anfang wird ja jeder Buchstabe großgeschrieben, am Satzanfang. Die Namenwörter werden auch großgeschrieben. Manche Tu- und Wiewörter werden auch großgeschrieben. […] Also hier, z. B. ‚grün‘, da könnte man was dazwischensetzen, das schöne Grün. Dann wird das großgeschrieben, das Wort danach. (Ebd.: 211) Gerade bei Kindern mit Deutsch als Zweitsprache wurden hier überzeugende Ergebnisse erzielt - dies könnte mit ihrer zu Beginn der Grundschulzeit besonders ausgeprägten Aufmerksamkeitskontrolle zusammenhängen, das heißt mit ihrer Fähigkeit, den Fokus direkt auf die geforderten formalen Aspekte sprachlicher Äußerungen zu richten (Krafft 2013). Weitere strategieorientierte a nsätze , die den Schülern ebenfalls Operationen zur Bewältigung orthographischer Probleme zur Ver- <?page no="77"?> Strategieorientierter Rechtschreibunterricht 77 fügung stellen, können hier nicht in derselben Ausführlichkeit besprochen werden. Hingewiesen sei noch auf das strategieorientierte interpunktionsdidaktische Konzept nach Lindauer/ Sutter (2005) und Lindauer/ Schönenberg (2012). Das Komma zwischen Teilsätzen wird hier als Grenzmarkierung zwischen zwei ‚Königreichen‘, die jeweils von einem (finiten) Verb ‚regiert‘ werden, aufgefasst. Auf diese Weise könne ein Aspekt der Zeichensetzung, der auch vielen Lehramtsstudierenden noch große Probleme bereitet, schon gegen Ende der Grundschulzeit erfolgreich vermittelt werden. Die Autoren betonen dabei, dass es im Gegensatz zu regelorientierten Herangehensweisen nicht erforderlich sei, die markierten Sätze oder die Relation zwischen ihnen formal zu bestimmen - die metaphorische Bezeichnung als ‚Königreich‘ sei völlig ausreichend: Wem diese Bildlichkeit zu kindlich ist, der kann ebenso gut von ‚Verb‘ mit ‚Beigemüse‘ sprechen - und dann eventuell eine entsprechende Gartenmetapher verwenden. Auf eine traditionell grammatische Kategorisierung sollte man aber auf jeden Fall verzichten: Das lenkt nur ab. (2005: 31) Mann vertritt ebenfalls einen strategieorientierten a nsatz : „Nicht das Regelwissen ist entscheidend für die Rechtschreibfähigkeit, sondern die Strategie der Regelanwendung“ (2010: 16). Konsequenterweise fordert sie, im Unterricht nicht von den Rechtschreibphänomenen auszugehen, sondern drei Ableitungsstrategien einzuüben, mit denen sich ein Großteil der von der lautgetreuen Schreibung abweichenden Wörter erschließen lasse (ebd.: 27 f.): - Ableitung bei t-Signal - Wörter verlängern - Wörter auseinandernehmen und den ersten Teil verlängern Auch die silbenbasierten k onzeptionen lassen sich in vielerlei Hinsicht als strategieorientiert bezeichnen - diese werden jedoch in einem eigenen Kapitel (→-3.7) behandelt. Problematisierung Generell ist darauf hinzuweisen, dass der Einsatz von Rechtschreibstrategien - ebenso wie der von Rechtschreibregeln (→-3.5) - in der Praxis mitunter daran scheitert, dass die Notwendigkeit einer Herleitung vom Schreiber nicht erkannt wird. Das Einüben von Hilfestellungen ist also „nur dann zielführend, wenn aufseiten des Lerners ein gewisses ‚Rechtschreibgespür‘ hinzukommt“ (Fay 2013: 191) (→-S. 47). Der syntaxbezogene Zugang zur Groß- und Kleinschreibung enthält durchaus auch Anklänge an regelorientierte Konzeptionen, so etwa die <?page no="78"?> 78 Schreiben systeminterne Problem- und Zweifelsfälle metasprachlichen Beschreibungen der untersuchten Phänomene. Der Grundgedanke ist aber die Einübung einer Strategie, der Attribuierungsprobe, die vom Schüler flexibel und ohne Bezug auf metasprachliche Regeln oder Merksätze eingesetzt werden kann. Bei den in Treppengedichte umgewandelten Sätzen, die von Röber- Siekmeyer und anderen Autoren eingesetzt werden, handelt es sich um prototypische Beispiele, die jedoch nicht die gesamte sprachliche Realität abbilden. So sind im Deutschen durchaus Konstituenten möglich, die keinen großzuschreibenden Kern enthalten (z. B. Pronomen, aber auch Adjektiv- und Adverbphrasen). Ebenso lassen sich - etwa mit Präpositional- oder Genitivattributen - Konstituenten bilden, die zwei oder mehr Nomen enthalten. Diese der Methode innewohnenden inhaltlichen Probleme sind jedoch lösbar, weil die anfänglich eingesetzten Treppengedichte lediglich zur Einübung der Strategie dienen. Spätestens in der Sekundarstufe können auf der Grundlage eines stabilen Konzepts von Groß- und Kleinschreibung dann auch Zweifelsfälle bearbeitet werden. Angesichts der überzeugenden Ergebnisse (Nünke/ Wilhelmus 2002) sowie der offensichtlichen Probleme vieler Schüler im Bereich der satzinternen Großschreibung, die die traditionelle wortartbezogene Didaktik nicht beheben kann, sollte der syntaxbezogene Zugang als Alternative unbedingt in Erwägung gezogen werden. Dies gilt trotz der Komplexität der vorzunehmenden sprachlichen Operationen auch für den Anfangsunterricht - ein sicherer Umgang der Lehrkraft mit den fokussierten sprachlichen Kategorien ist dafür allerdings erforderlich. Aufgaben 1. Mann nennt als eine von drei wesentlichen Strategien die „Ableitung bei t-Signal“ (2010: 27). Erläutern Sie anhand der Beispiele erhält und erhellt, wie das Erkennen des Graphems <t> in der Flexionsendung eines Verbs zur richtigen Schreibung führen kann. 2. Erläutern Sie, wie mit Hilfe der ‚Königreichs-Metapher‘ (Lindauer/ Sutter 2005) die - typischen - Interpunktionsfehler in den folgenden drei Sätzen vermieden werden könnten. (a) Fehlendes Komma: Obwohl das alles sehr ärgerlich war entschied man sich gegen eine weitere Bearbeitung des Themas. (b) Falsches Komma: Nach langer und intensiver Auswertung der Ergebnisse, entschied man sich gegen eine weitere Bearbeitung des Themas. (c) Fehlendes Komma: Die Lehrerin, die den Brief eben erst gelesen hatte und die Rektorin einigten sich, das Thema nicht weiter zu verfolgen. <?page no="79"?> Silbenorientierter Rechtschreibunterricht 79 phonologische Bewusstheit Lektüreempfehlungen zur Vertiefung M ann , c. (2010) (Grundlagen des strategiebasierten Rechtschreibunterrichts mit Vorschlägen für die Klassenstufen 1-9) n ünke , e./ W iLheLMuS , c. (2001) (kompakte Einführung in den syntaxbasierten Zugang zur Groß- und Kleinschreibung; mit Arbeitsblättern) L indauer , t./ S utter , e. (2005) (bewährter strategieorientierter Zugang zur Kommasetzung; ab Klasse 4 geeignet) Deutsch 5-10, H. 31 (2012) (enthält neueste Beiträge zum ‚Königreich-Modell‘, eine CD mit Kopiervorlagen und weiteres veranschaulichendes Material) 3.7 Silbenorientierter Rechtschreibunterricht Die silbenanalytische Methode [kann] gerade für die Gruppe der Kinder, die den hohen analytischen Aufwand selbständiger Regelfindung, den die anderen Methoden den Kindern abverlangen, nicht zu leisten in der Lage sind, eine geeignete Hinführung zur Schrift bieten. (Röber 2011: 16) Auf die Tatsache, dass sich wesentliche Bereiche der deutschen Orthographie mit silbischen Strukturen erklären lassen, wurde bereits hingewiesen (siehe auch die umfassende Darstellung unterschiedlicher Positionen hierzu von Berkemeier 2007). Nun ist die Silbe selbstverständlich kein didaktisches, sondern ein linguistisches Phänomen - Silbenorientierung kann also ebenso wie Morphemorientierung ganz unterschiedlich (strategievs. regelorientiert, deduktiv vs. induktiv usw.) praktiziert werden. Da Silben im Gegensatz zu Morphemen zu den intuitiv leichter zugänglichen Einheiten gehören, liegt es nahe, dass sich die meisten silbenorientierten Ansätze eher den strategieals den regelorientierten Konzeptionen zuordnen lassen. Weil allerdings seit den 1990er Jahren umfassende rechtschreibdidaktische Modelle auf der Basis der Silbe formuliert wurden, soll diesen nun ein eigenes Kapitel gewidmet werden. Darstellung Forschungsergebnissen zufolge verfügen Kinder im Schuleingangsalter über phonologische Bewusstheit im weiteren, nicht aber im engeren Sinne. Das bedeutet, dass sie Silben oder Reime wahrnehmen können, bei der Phonemanalyse und -synthese aber häufig scheitern (z. B. Küspert 1998). Insofern bietet es sich an, im Schriftspracherwerb zunächst auf eine Orientierung an Silben zu setzen, bevor Phoneme differenziert werden. Silbische Zugänge werden deshalb besonders häufig - wenn auch nicht ausschließlich - im Anfangsunterricht eingesetzt. <?page no="80"?> 80 Schreiben intuitive Silbenkonzepte rhythmischsilbierendes Mitsprechen Es soll hier in Übereinstimmung mit Berkemeier (2007: 89 ff.) und Risel (2011: 126 ff.) zwischen intuitiven (‚naiven‘) und theoriebezogenen (‚elaborierten‘) Silbenkonzepten unterschieden werden. Zu ersteren gehört ganz maßgeblich die sogenannte Buschmann-Methode,-die in den 1980er-Jahren in der Schulpsychologischen Beratungsstelle Waldshut entwickelt wurde (ausführlich Tacke et al. 1993). Buschmann geht aus von der Annahme, dass Lese-Rechtschreib- Schwierigkeiten auf eine neurologische Verarbeitungsschwäche zurückzuführen seien. Als externe Steuerungshilfe, die die Synchronisierung von Wahrnehmung und Schreibmotorik erleichtern soll, schlägt sie das rhythmisch-silbierende Mitsprechen während des Schreibens vor. Dies wird eingeübt, indem Schüler, „während sie ein Wort sagen, die Silben mit Armschwüngen in Schreibrichtungen begleiten“ (ebd.: 139). Zunächst bewegen sich die Kinder synchron dazu schrittweise seitwärts in Schreibrichtung, später schwingt die Schreibhand kleinere Girlandenbögen von links nach rechts auf der Tischplatte. Vertreter der Methode stützen sich dabei auf die Annahme, dass ein großer Teil des deutschen Wortschatzes lautgetreu geschrieben werde, sodass synchrones, rhythmisch-silbierendes Mitsprechen zur richtigen Schreibung führe. Die übrigen Wörter werden in drei Gruppen aufgeteilt und unterschiedlich behandelt: - Wörter, die rhythmisch verlängert werden müssen, da sie am Wortende nicht lautgetreu geschrieben werden (z. B. Berg > Ber.ge) - Wörter, deren Schreibungen von Mitgliedern der Wortfamilie abgeleitet werden müssen (z. B. Häuser > Haus) - Merkwörter, die weder durch rhythmisches Sprechschreiben noch durch Strategien korrekt zu schreiben sind und daher abgespeichert werden müssen (z. B. Stadt, Vogel, ihm) Voraussetzung für die Methode ist grundsätzlich, dass Schüler dazu fähig sind, Silbengrenzen wahrzunehmen und insbesondere Wörter mit Silbengelenk entsprechend zu segmentieren (Löf.fel). Dies ist aber fraglich: Während beispielsweise Huneke (2002: 97 ff.) beobachtet, dass Grundschulkinder mehrheitlich einen intuitiven Zugang zum Silbengelenk hätten und es in zwei Komponenten aufspalteten, stellt Risel (1999) fest, dass in diesen Fällen ganz unterschiedliche Segmentierungsstrategien eingesetzt würden und die Silbengrenze insbesondere häufig nach dem Kurzvokal der betonten Silbe angesetzt werde (Lö.ffel). Dennoch werden mit der Methode teilweise überzeugende Ergebnisse bei der Förderung von Schülern mit Lese-Rechtschreibschwierigkeiten erzielt. Tacke et al. wiesen signifikante Verbesserungen insbesondere bei Diktaten nach, was sie darauf zurückführen, dass hier das <?page no="81"?> Silbenorientierter Rechtschreibunterricht 81 theoriebezogene Silbenkonzepte Häusermodell nach Röber rhythmisch-silbierende Mitsprechen besonders hilfreich wirke (1993: 144 ff.). Allerdings weist die Untersuchung methodische Schwächen auf und legt teilweise nahe, dass die Fördereffekte unspezifisch sind und nicht direkt mit der Methode zusammenhängen müssen - darauf deuten zum Beispiel die Verbesserungen der geförderten Kinder im Bereich der Groß- und Kleinschreibung hin, die mit Sicherheit nicht auf das ‚Silbenschwingen‘ zurückgeführt werden können. Die Buschmann-Methode wird insbesondere in Fördergruppen und Beratungsstellen eingesetzt, sie prägt auch stark das verbreitete Förderprogramm FRESCH (Freiburger Rechtschreibschule). Einen ähnlichen Ansatz, der allerdings ansatzweise auch sprachanalytische Prozeduren einschließt und damit zu den elaborierten Silbenkonzepten überleitet, legt Hinney (2004) vor. Intuitive Silbenzugänge finden sich darüber hinaus auch immer wieder ‚versteckt‘ in Sprachbüchern und anderen Lernmitteln, wenn beispielsweise Verdopplungen von Konsonantengraphemen ‚herausgehört‘ werden sollen. Die theoriebezogenen oder elaborierten Silbenkonzepte basieren grundlegend auf den orthographietheoretischen Arbeiten von Maas (1992) und Eisenberg (2009), deren schriftlinguistische Erkenntnisse auf den Schriftspracherwerb übertragen werden. Die Autoren gehen von trochäischen Zweisilbern aus, deren Struktur erschlossen und auch als Grundlage für anders silbierte Formen genutzt werden könne. Röber unterscheidet dabei zwischen vier verschiedenen Wortgestalten: - offene Vollsilbe, langer Vokal (Typ Hüte) - offene Vollsilbe, kurzer Vokal (Typ Hütte) - geschlossene Vollsilbe, langer Vokal (Typ Hühnchen) - geschlossene Vollsilbe, kurzer Vokal (Typ Hüfte) Diese viergeteilte Systematik umfasst alle Regularitäten für das Lesen, damit auch für das Schreiben deutscher Trochäen nach ihrem lautunabhängigen ‚Klang‘ und ermöglicht die Formulierung eines orthographischen Regelsystems für Trochäen mit Reduktionssilben. Sie machen die überwiegende Mehrzahl der deutschen Wörter aus. (Röber 2011: 46) Mit Hilfe von Symbolen werden Wortstrukturen visualisiert und dabei systematisches Wissen über die Strukturen gesprochener und geschriebener Wörter erworben. Es steht jeweils ein Haus für die betonte Vollsilbe und die dazugehörige ‚Garage‘ für die unbetonte Reduktionssilbe (siehe im Folgenden ebd.: 157 ff.). Röber schlägt vor, im Unterricht zunächst auf Basis der vorhandenen phonologischen Bewusstheit Wörter mit verschiedenen Akzentmustern (z. B. Löwe, Tomate, Elefant) zu vergleichen und symbolisch darzustellen- - dabei können beispielsweise große Steine für betonte, kleine für unbetonte Silben genutzt werden. Anschließend wird das Häuser- <?page no="82"?> 82 Schreiben Erweiterung des ‚Häusermodells‘ durch Bredel modell für trochäische Zweisilber anhand von Wörtern des Typs Hüte eingeführt. Daraufhin wird durch Gegenüberstellungen wie gebe und gelbe der zweite Haustyp eingeführt: Nun können Wörter des Typs Hüfte geschrieben und gelesen werden. Es folgt die Erarbeitung von Schärfungswörtern des Typs Hütte: Hier wird die Garage ‚ins Haus geschoben‘; der Konsonant, der sowohl für den Endrand der ersten als auch für den Anfangsrand der zweiten Silbe zuständig ist, wird verdoppelt. Ein Kind versprachlichte dies folgendermaßen: „Wenn bei ‚Betten‘ die Garage ins Haus gebaut ist, kann das Garagen-t auch das ‚e‘ davor quetschen. Weil es zwei Sachen machen muss, schreibe ich es zweimal“ (ebd.: 163). Bei Wörtern des Typs Hühnchen ist zu beachten, dass das zweite Zimmer im Haus durch den Vokalbuchstaben vollständig ausgefüllt ist. Für den Konsonanten, der auf den langen Vokal folgt, muss daher eine ‚Besenkammer‘, ein ‚Balkon‘ oder Ähnliches eingerichtet werden. Abschließend nennt Röber (ebd.: 168 ff.) weitere Möglichkeiten, auch Wörter mit abweichenden Akzentstrukturen mit dem Häusermodell zu verbinden - ausführlich wird beispielsweise die Visualisierung von Komposita wie Filzstifte mit betonter Vollsilbe (Filz > Haus mit großem Dach), unbetonter Vollsilbe (stif > Haus mit normalem Dach) und Reduktionssilbe (te > Garage) erklärt. Die silbenanalytische Methode nach Röber bietet auch Hilfen für die Analyse von Schülerschreibungen. Die Fragen, welche Worttypen besonders von Fehlschreibungen betroffen sind und an welchen Stellen in den Voll- oder Reduktionssilben Verstöße auftauchen, können durchaus Aufschluss über den Leistungsstand und die dominierenden Strategien von Schülern geben. Bredel (2010b) bezieht sich in ihren Überlegungen ausdrücklich auf Röber: Sie sieht ebenfalls den Trochäus als Grundmuster des Deutschen an und greift die Visualisierung mittels Haus (betonte Silbe) und Garage (unbetonte Silbe) auf. Sie beschränkt ihre Vorschläge jedoch nicht auf den Schriftspracherwerb im engeren Sinne, sondern empfiehlt die Arbeit mit dem Häusermodell bis in die Sekundarstufe hinein. Ihr Anspruch ist, dass nicht nur prosodische Muster zum Erschließen von Schreibungen genutzt, sondern auch weitere grammatische Markierungen in der Schriftsprache nachvollzogen werden sollen. Im Gegensatz zu Röber verwendet sie nur einen einzigen Haustyp, der für alle morphologisch einfachen trochäischen Zweisilber geeignet sei (Abb.- 2): Haus und Garage bestehen aus jeweils drei Zimmern (Anfangsrand, Kern und Endrand); zwischen Kern und Endrand ist ein Durchgang angedeutet, der auf die Zusammengehörigkeit des Silbenreims hinweist. <?page no="83"?> Silbenorientierter Rechtschreibunterricht 83 orthographische Markierungen im Haus-Garagen- Modell Abb. 2: ‚Häusermodell‘ (nach Bredel 2010b: 15) Bei der Arbeit mit dem Modell zeigen sich schnell Möglichkeiten zu orthographischen Generalisierungen, die teilweise über die Inhalte des Anfangsunterrichts hinausgehen: - Die Mittelzimmer sind immer von Vokalen besetzt. - Das Mittelzimmer der Garage enthält unabhängig von der Lautqualität immer ein <e>. - Das erste Zimmer der Garage ist immer besetzt - wenn kein Konsonant hörbar ist, wird hier ein <h> (silbeninitiales h) eingefügt (gehen). - Es besteht ein Zusammenhang zwischen der Lautqualität des Vokals und der Besetzung des dritten Zimmers im Haus. Deshalb muss in bestimmten Fällen das Konsonantengraphem verdoppelt werden (zerren). Auch sind Längenmarkierungen im dritten Zimmer des Hauses (Dehnungs-h, wohnen) möglich. - Der Wortstamm besteht nicht nur aus dem Haus, sondern zusätzlich aus dem ersten Zimmer der Garage. Dies lässt sich durch ein farbiges Absetzen der ersten vier oder ein Abknicken der letzten beiden Zimmer („Der Trick mit dem Knick“, ebd.: 17) visualisieren, wodurch für Schüler nachvollziehbar wird, dass die im Stamm enthaltenen orthographischen Markierungen auch in verwandten Formen (zerrt, gehst, Wohnung) erhalten bleiben. Da diese Regeln ausschließlich für morphologisch nicht komplexe Zweisilber (v. a. nicht flektierte Nomen und Verben im Infinitiv) gelten, können Wörter wie rufst, wohnte oder Filzstift nicht eingetragen werden. Sie müssen stattdessen auf die trochäischen Basisformen (rufen, wohnen, filzen, Stifte) zurückgeführt werden. Problematisierung Zu den intuitiven Silbenkonzepten ist zunächst kritisch anzumerken, dass es zahlreiche empirische Belege gibt für die Schwierigkeiten, die Kinder noch im Schulalter beim Segmentieren von Silben haben. Das <?page no="84"?> 84 Schreiben einfache Silbenschwingen und -klatschen kann daher nicht bei allen Kindern automatisch zu korrekten Schreibungen führen. Es kann vielmehr auch gerade zu methodengenerierten Fehlern führen: Kindern wird so „fälschlich vermittelt, Wortschreibungen seien grundsätzlich lautlich motiviert; die grammatische Ebene der Schriftsprache bleibt dadurch kognitiv unterentwickelt“ (Bredel 2011a: 109). Hinney (2014: 167) betont die Bedeutung der Wortauswahl für den silbenorientierten Schriftspracherwerb, die gerade bei intuitiv-silbenorientierten Lehrwerken häufig nicht an einer sinnvollen Progression der Silbentypen ausgerichtet sei. Grundsätzlich lassen sich durch schriftlinguistisch motivierte Einwände die Erfolge, die besonders bei lese-rechtschreibschwachen Schülern vielfach mit dem rhythmisch-silbierenden Mitsprechen erzielt wurden, nicht wegdiskutieren. Möglicherweise - und dafür gibt es einige Hinweise - handelt es sich dabei jedoch zu einem großen Teil um unspezifische Effekte, die nicht direkt von der eingesetzten Methode, sondern von anderen Faktoren abhängen. Die elaborierten Silbenkonzepte zeichnen sich hingegen dadurch aus, dass der Unterricht an der Systematik des Lerngegenstandes (des Schriftsystems) orientiert ist - daraus ergibt sich eine klare Strukturierung des Unterrichts. Den Kindern werden so nicht nur Einzelwörter, sondern gezielt ausgewählte Repräsentanten von orthographischen Mustern präsentiert, die sie zu Verallgemeinerungen und eigenen Entdeckungen herausfordern (Bredel/ Röber 2015: 7). Die Häusermodelle erscheinen als sinnvolle Veranschaulichungen, die zahlreiche Variationen und motivierende Arbeitsformen ermöglichen. Empirische Untersuchungen zeigen, dass sie insbesondere zum sicheren Verschriften und Erlesen der (im Deutschen häufig nicht lautgetreuen) Reduktionssilben beitragen. Zudem deuten erste Studien darauf hin, dass sich diese Vorgehensweise insbesondere für Schüler mit Deutsch als Zweitsprache, die ein wenig ausgebautes mentales Lexikon (→-S.-209) und wenig (Schrift-) Spracherfahrung mitbringen, positiv auswirken kann (Wildemann 2010: 84; siehe auch Pracht 2010 zum Schriftspracherwerb bei erwachsenen Migrantinnen). Auch in inklusiven Kontexten wurden elaborierte Silbenkonzepte bereits erfolgreich erprobt (Moths 2014). Dennoch bleibt die Evaluierung der dargestellten Modelle und die Implementierung entsprechender Inhalte in der Lehrerbildung eine dringende Aufgabe der Sprachdidaktik (Bredel 2015: 277). Beim Vergleich der Visualisierungen wirkt das Modell von Röber aufgrund der zahlreichen verschiedenen Häusermodelle (vier Grundtypen, die bei Komposita noch variiert und kombiniert werden) an einigen Stellen überfrachtet (Pracht 2010: 105). Teilweise erscheint die Darstellung mit dem Häusermodell auch unnötig kompliziert - es stellt sich die <?page no="85"?> Silbenorientierter Rechtschreibunterricht 85 Frage, ob ein Kind, das Filzstifte schreiben möchte, tatsächlich von einer derartigen Darstellung (Haus mit großem Dach - Haus mit normalem Dach - Garage) profitiert. Demgegenüber kommt der Ansatz von Bredel mit einem einzigen Haustyp aus und wirkt dadurch bestechend einfach und überzeugend. Allerdings ist es deshalb sehr viel häufiger notwendig, zur Erschließung von Wortschreibungen zunächst die passende trochäische Basisform zu finden, was bei schwächeren Schülern wiederum zu Schwierigkeiten führen kann und gezielt eingeübt werden muss. Das freie Schreiben im Anfangsunterricht, das häufig durch Anlautbeziehungsweise Buchstabentabellen unterstützt wird (→- 3.1), ist mit diesem systematischen, auf bestimmte prototypische Wortformen konzentrierten Zugang naturgemäß nur schwer vereinbar. Riegler (2012) schlägt mit ihrer silbenbezogenen Lauttabelle, die sich in ihrer Anordnung am Auftreten der Phoneme in der Silbe orientiert, eine Möglichkeit zur Ergänzung silbenorientierter Ansätze im Schriftspracherwerb vor. Mit dieser könnten Kinder „schon früh die kommunikative und expressive Kraft von Schrift erfahren - und damit liegt ihr Schwerpunkt genau dort, wo umgekehrt die systematische Arbeit an grundlegenden Baumustern der Wortschreibung an Grenzen gerät“ (ebd.: 11). Ansonsten bleibt es Aufgabe der Rechtschreibdidaktik, kognitiv orientierte Herangehensweisen zu entwickeln, die Einblicke in den Aufbau des deutschen Schriftsystems erlauben und sich mit Verfahren des f reien s chreibens verbinden lassen (Fay 2015). Aufgaben 1. Das Dehnungs-h wird bei FRESCH im Rahmen der Merkwörter aufgeführt (z. B. fehlen, bohren). Erklären Sie, wie es bei Bredel mit Bezug auf das Häusermodell erklärt werden kann. 2. Begründen Sie die Schreibung der folgenden Wörter durch Visualisierung im Häusermodell nach Bredel: Miete - Mitte - Mietwagen - Mittwoch Lektüreempfehlungen zur Vertiefung B redeL , u./ f uhrhop , n./ n oack , c. (2011) (Grundsätzliches zu Schriftsystem und Schrifterwerb; geht auch auf Möglichkeiten der qualitativen Fehleranalyse ein und thematisiert die Bedürfnisse mehrsprachiger Lerner) M icheL , h.-J. (2008) (Freiburger Rechtschreibschule: Unterrichtsmaterial für den Förderunterricht, basiert v. a. auf einem intuitiven Silbenkonzept) r öBer , c. (2011) (stellt die bewährte silbenanalytische Methode zusammenfassend dar) t acke , g. et aL . (1993) (stellt die Methode des rhythmisch-silbierenden Mitsprechens nach Buschmann vor und untersucht mögliche Fördereffekte) <?page no="86"?> 86 Schreiben Hintergründe sechs Aufsatzformen nach Marthaler 3.8 Produktorientierter Schreibunterricht Da jeder Inhalt die ihm gemäße Form der Darstellung verlangt, gibt es keinen allgemein festgelegten Stil, der für jeden Stoff passend ist, sondern jeweils nur den einen, der dem bestimmten Stoff entspricht […]. Darin ist also der sprachschaffende oder sprachgestaltende Aufsatz ein gebundener Aufsatz: gebunden an das Stilgesetz des gewählten Stoffes. (Fahnemann 1947: 67) Im klassischen ‚Aufsatzunterricht‘, wie er in öffentlichen Schulen nach wie vor häufig praktiziert wird (Schäfer 2013: 328), orientieren sich Schüler beim Verfassen ihrer Texte an scheinbar objektiven Kriterien, die durch die Textsorte vorgegeben werden: Eine Erzählung sei im Präteritum zu schreiben, ein Bericht enthalte keine subjektiven Elemente wie etwa wertende Adjektive und eine dialektische Erörterung zeichne sich durch einen ganz bestimmten Aufbau aus. Ziel dieses Schreibunterrichts, der sich stark an der Kontrollebene (→-S.-50) Produkt orientiert, ist die Fähigkeit, verschiedene Textsorten unter Berücksichtigung der jeweiligen Kriterien erzeugen zu können. Darstellung Produktorientiertes Schreiben wurde im deutschen Sprachraum bereits in den Volksschulen des 19. Jahrhunderts praktiziert. Im Zusammenhang mit der zunehmenden Literalisierung der Gesellschaft wurde es zur Aufgabe der Bildungsinstitutionen, die Schüler zur Produktion einfacher Texte in der Standardsprache und damit zur Teilnahme am gesellschaftlichen Leben zu befähigen. Es entwickelte sich ein „Aufsatzunterricht, der sich weitgehend auf die Reproduktion vorgegebener Muster beschränkte“ (Ludwig 2006: 173) - teilweise wurden gar ganze Texte schlicht von der Tafel abgeschrieben. Der nach wie vor praktizierte produktorientierte a ufsatzun terricht lässt sich auf den gebundenen oder sprachgestaltenden Aufsatzunterricht der Nachkriegszeit zurückführen, in der die heute noch gebräuchlichen Textsorten systematisiert und mit festen Merkmalen versehen wurden. Starken Einfluss hatte beispielsweise die Einteilung von Marthaler (1962), der zwei Darstellungsweisen (sachlich-objektiv, persönlich-subjektiv) und drei Darstellungsgegenstände (zeitliches Nacheinander, räumliches Nebeneinander, gedankliche Durchdringung) unterscheidet und damit zu sechs Aufsatzformen kommt: ‚Literalisierung‘ bezeichnet den Prozess der zunehmend schriftlichen Organisation des gesellschaftlichen Lebens, wie er in weiten Teilen Europas im 19. Jahrhundert stattfand. Ohne schriftsprachliche Fähigkeiten ist soziale Teilhabe kaum möglich. <?page no="87"?> Produktorientierter Schreibunterricht 87 deklaratives vs. prozedurales Textsortenwissen persönlich-subjektiv sachlich-objektiv zeitliches Nacheinander Erzählung (wie ein Spielfilm) Bsp.: Mein schönstes Ferienerlebnis Bericht (wie ein Dokumentarfilm) Bsp.: Zeugenaussage zu einem Unfall räumliches Nebeneinander Schilderung (wie ein Gemälde) Bsp.: Auf dem Jahrmarkt Beschreibung (wie eine Photographie) Bsp.: Infotext über eine Ferienwohnung gedankliche Durchdringung Betrachtung (Besinnungsaufsatz) (wie eine Mikroskopaufnahme) Bsp.: In den Urlaub per Anhalter - ja oder nein? Abhandlung (Erörterung) (wie ein Röntgenbild) Bsp.: Vor- und Nachteile einer Schuluniform Abb. 3: Aufsatzarten (Marthaler 1962: 53 ff.) In der Praxis werden nach wie vor die Merkmale dieser Textsorten meist deduktiv (als deklaratives Wissen) vermittelt, anschließend versuchen die Schüler bei der Textproduktion, sich an diesen zu orientieren, was wiederum von den Lehrkräften zum Zweck der Bewertung überprüft wird. In der aktuellen produktorientierten s chreibdidaktik , die in enger Verbindung mit der prozessorientierten s chreibdidaktik (→-3.10) steht, wird demgegenüber insbesondere die handlungsentlastende Funktion von Textsortenwissen betont: Das Wissen über Textmuster sollte […] nicht deklarativ sein, sondern vielmehr durch praktische Erfahrungen zu einem Handlungswissen („knowing how“) werden, das entweder bewusst zur Bewältigung der Problemsituation eingesetzt wird (Problemlösewissen) oder bereits automatisiert ist (prozedurales Wissen). (Fix 2008: 93) In Abgrenzung zu den traditionellen Aufsatzformen sprechen beispielsweise Böttcher/ Becker-Mrotzek von Textarten und verstehen darunter „diejenigen sprachlichen Formen, die in der gesellschaftlichen Wirklichkeit verwendet werden“ (2003: 23) - im Gegensatz zu künstlichen Konstrukten wie der Erörterung oder Schilderung. Textarten - wie etwa Rezept, Beileidsschreiben oder Einladung - seien in Kommunikationssituationen eingebettet und erfüllten darin bestimmte Aufgaben. Aus diesem Handlungskontext ergäben sich auch Kriterien für einen <?page no="88"?> 88 Schreiben Beurteilung von Schülertexten gelungenen Text. Insofern ist eine Verbindung zur leserorientier ten s chreibdidaktik (→- 3.9) deutlich erkennbar - allerdings liegt hier der Fokus weniger auf dem konkreten ‚kommunikativen Ernstfall‘ als vielmehr auf der Erarbeitung von Textmusterwissen, das gewissermaßen als „Lösungspotenzial für Schreibaufgaben“ (ebd.: 24) fungiere. In den letzten Jahren wurden - auch im Rahmen von Überlegungen zur Schreibförderung von Schülern mit Deutsch als Zweitsprache - weitere wertvolle Vorschläge zu einer sinnvollen Nutzung von Textmuster- und Textsortenwissen erarbeitet (z. B. Dehn 2005; Wilczek 2008; Ballis 2010). Dass musterorientiertes Schreiben eine stark prozessuale Komponente aufweisen und darüber hinaus auch eng verbunden sein kann mit kreativem Handeln, zeigt Stemmer-Rathenberg (2011) mit ihrem Ansatz des imitativen s chreibens . Ein Basiskatalog zur Beurteilung von Schülertexten, dessen Unterpunkte sich aus den dargestellten Überlegungen ergeben und der anschließend für verschiedene Textarten (unter anderem einfache Geschichten, lyrische Texte - Schneeballgedicht oder Rezept) ausdifferenziert wird, legen Böttcher/ Becker-Mrotzek (2003: 56 ff.) vor. Schreibatelier Schneuwly (1995: 119) schlägt im Rahmen von Schreibateliers, die auch deutliche Anklänge an eine prozessorientierte s chreibdidaktik (→ 3.10) aufweisen, eine Abfolge von Unterrichtsschritten vor, die für ganz verschiedene Textarten geeignet sei: - Den Schülern wird eine sprachliche Aufgabe gestellt. - Die Lehrkraft erzeugt Lernsituationen, in denen sich die Schüler die für die Schreibaufgabe notwendigen sprachlichen (z. B. lexikalischen oder grammatischen) Mittel aneignen können. - Die ausgewählte Textart wird im Wechsel gelesen und produziert. - Gemeinsam mit der Klasse werden Kriterien erarbeitet, die eine Hilfestellung für eine gelungene Umsetzung der Textart und gleichzeitig Grundlage für die Bewertung der Schülertexte sind. Aus dem „gemeinsame[n] Entwickeln und Offenlegen der Schreibkriterien, gebündelt in Kriterienkatalogen“ (Becker-Mrotzek/ Böttcher 2012: 48), ergibt sich eine „hohe Zieltransparenz“ (ebd.). - Die selbst verfassten Texte werden von Mitschülern wechselseitig gelesen und kritisiert. Eine aktuelle produktorientierte Perspektive auf Form- und Funktionsaspekte diverser schulisch relevanter Textsorten bieten Feilke/ Pohl (Hg.) (2014): zum Beispiel zum Erzählen (Ohlhus), Berichten (Feilke), Beschreiben (Ossner), Instruieren (Bachmann), Argumentieren (Pohl) und Referieren (Steinhoff). <?page no="89"?> Produktorientierter Schreibunterricht 89 Ein Beitrag von Feilke (2006) zur klassischen Aufsatzform Bericht ist ein gelungenes Beispiel für einen reflektierten Umgang mit textualen Normen. Er relativiert zunächst die künstliche Unterscheidung von objektiven und persönlichen Textsorten und kritisiert in diesem Zusammenhang, dass das Berichten häufig als ein mit Verboten belegtes Erzählen, in Form einer „Anti-Erzähldidaktik“ (ebd.: 15), vermittelt werde. Anschließend begründet er die Merkmale der Textsorte (relevant, aktuell, exklusiv, authentisch) funktional-kommunikativ; die verschiedenen Kriterien (zum Beispiel zum Tempusgebrauch oder zur Einbeziehung subjektiver Elemente) werden nicht schematisch vorgegeben, sondern ergeben sich aus der konkreten Kommunikationssituation unter Berücksichtigung der Erwartungen des Lesers. Feilke sieht die Textsorte Bericht (im Gegensatz zum klassischen Aufsatzunterricht) auch nicht als einheitlich an, sondern unterscheidet drei Berichtstypen mit je unterschiedlichen Themen und kommunikativen Einbettungen: Erfahrungsberichte (können subjektive Elemente enthalten und weisen die stärksten Bezüge zum Erzählen auf), Ereignisberichte (informieren über ein vergangenes singuläres Ereignis und entsprechen am ehesten der schulischen ‚Berichtstradition‘) und Untersuchungsberichte (stellen Informationen und Hintergründe über ein Thema zusammen), deren didaktisches Potenzial besonders hervorgehoben wird: Für die Didaktik des Berichtens stehen mit den Untersuchungsberichten Möglichkeiten bereit, die mit dem Erzählen gar nicht erst in Konflikt geraten und stärker auf die funktionale und strukturelle Selbstständigkeit des Berichtens setzen. Der Untersuchungsbericht hat den großen Vorteil, dass er Aktualität und Exklusivität als zentrale Berichtsmotive mitliefert, und zwar ohne dass dafür wie beim Ereignisbericht immer etwas ‚passiert‘ sein muss. (Ebd.: 13 ff.) Problematisierung Die traditionelle produktfokussierte Aufsatzdidaktik in der Tradition Marthalers wird in der Fachdidaktik seit Jahrzehnten heftig kritisiert. Schon die grundlegende Unterscheidung von subjektivem und objektivem Sprachgebrauch, die Humboldt zugeschrieben wird, beruhe auf „erheblichen Missverständnissen“ (Haueis 2006: 228) und sei in der außerschulischen Sprachverwendung so nicht verankert. Die darauf basierenden Textsortenmerkmale (so etwa die ‚Ausschmückung‘ der Erzählung durch Adjektive und direkte Rede) hätten ebenso wenig mit der sprachlichen Realität zu tun: Diese Annahmen beruhen weniger auf Einsichten in die sprachliche Beschaffenheit von beschreibenden, erzählenden oder berichtenden Texten, die außerhalb der Schule verfasst und gelesen werden, als auf Festlegungen für den Schulgebrauch. (Ebd.) <?page no="90"?> 90 Schreiben So komme es im Schreibunterricht häufig „zu einem stereotypen Drill, bei dem auch gute Schüler im gewohnten institutionellen Rahmen die ausgetretenen Pfade lieber nicht verlassen“ (Fix 2008: 92). Auch Böttcher/ Becker-Mrotzek weisen darauf hin, dass die traditionellen Aufsatzarten nicht mit der Schreibwirklichkeit außerhalb der Schule übereinstimmen: Die ursprünglich als Stilübungen gedachten Formen sind im Laufe der Zeit zu normierten Aufsatzarten erstarrt. […] Wir empfehlen daher, auf diese Formen zu verzichten und stattdessen auf Textarten zurückzugreifen, wie sie in der Lebenswirklichkeit zu finden sind. (2003: 23) Zuletzt ist, wie Gätje (2013: 235) betont, auch die inzwischen zur didaktischen Tradition gewordene Abfolge der Aufsatzarten (von der Erlebnis- oder Phantasieerzählung über Berichte und Beschreibungen bis zur Erörterung mit ihrer angenommenen Abstimmung auf die sprachlichen und kognitiven Fähigkeiten der Schüler zumindest fragwürdig. Die Kritik an dieser Ausprägung der p roduktorientierung führte auch dazu, dass der eng damit verbundene Begriff des Aufsatzes aus der fachdidaktischen Diskussion (nicht aus der schulischen Praxis! ) inzwischen nahezu verschwunden ist. In neueren Publikationen ist grundsätzlich nicht von ‚Aufsatzdidaktik‘, sondern von ‚Schreibdidaktik‘, dem ‚Texteschreiben‘ oder von ‚Schreibprozessen‘ die Rede. Dies führt aber, wie oben dargelegt wurde, nicht zu einer grundsätzlichen Ablehnung produktfokussierter Vorgehensweisen. Vielmehr hat sich die Erkenntnis durchgesetzt, dass ein (primär prozedurales und nicht deklaratives) Wissen über Textmuster eine wichtige Hilfestellung für Schreiber sein kann und gleichzeitig eine unabdingbare Voraussetzung für eine objektive und nachvollziehbare Bewertung von Schülertexten darstellt. Die Produktfokussierung muss aber, wie in den folgenden Kapiteln (→-3.9-3.11) deutlich wird, unbedingt ergänzt werden durch eine Berücksichtigung anderer Dimensionen des Schreibens. Aufgaben 1. Formulieren Sie Kriterien, die Sie zum Zweck der Bewertung an eine Erzählung mit dem Titel Mein schönstes Ferienerlebnis anlegen würden, und reflektieren Sie diese Schreibaufgabe kritisch. 2. Analysieren Sie eine produktfokussierte Aufgabenstellung aus einem Sprachbuch: Handelt es sich bei den vorgegebenen Kriterien um deduktiv vermitteltes, rein deklaratives Wissen, oder sind sie aus einer (realen oder fiktiven) Kommunikationssituation heraus begründet und prozedural angelegt? <?page no="91"?> Leserorientierter Schreibunterricht 91 Kritik an der produktorientierten Aufsatzdidaktik Lektüreempfehlungen zur Vertiefung B aLLiS , a. (2010) (beschäftigt sich umfassend mit Textmustererwerb in der Zweitsprache Deutsch) Deutschunterricht 3/ 2008 (enthält praxisnahe Beiträge zum Thema ‚Textmuster in Aufsätzen‘) Praxis Deutsch 161 (2000) (enthält neben einem Basisartikel von Feilke schreibdidaktische Beiträge für alle Klassenstufen) 3.9 Leserorientierter Schreibunterricht Schreiben kann nur eingesetzt und geübt werden, wo konkrete, interessebesetzte Intentionen vorhanden sind und Wirkungen erzielt werden sollen, wo konkrete Partner vorhanden sind, nach denen sich die Wahl des jeweiligen Soziolekts und der Schreibform richten muss. (Boettcher et al. 1973: 44) Ähnlich wie der situationsorientierte g rammatikunterricht (→- 6.7) lässt sich auch die leserorientierte s chreibdidaktik auf eine Diskussion in den 1970er Jahren zurückführen, die in engem Zusammenhang mit der pragmatischen Wende in der Linguistik steht. Eine starke Wirkung erzielten dabei insbesondere Boettcher, Firges, Sitta und Tymister (die sogenannte ‚Aachener Gruppe‘) mit ihrem 1973 erschienenen Buch: Schulaufsätze - Texte für Leser, in dem sie den schulischen Schreibunterricht grundsätzlich emanzipatorisch begründen: Sein Ziel sei die Erarbeitung und Einübung von ‚Zweckformen‘, deren Notwendigkeit für die Schüler plausibel ist und die in der realen Lebenswelt eine Rolle spielen. Darstellung Die Autoren üben dabei zunächst Kritik an der traditionellen produkt orientierten a ufsatzdidaktik (→-3.8), die sie als ‚scheinkommunikativ‘ charakterisieren: Einziger Adressat sei die Lehrkraft, einzige Intention die gute Note. Sie weisen auch auf die Bewertungsproblematik hin, die mit dem Mangel an klaren Kriterien für die üblichen schulischen Textsorten zusammenhänge: Anfertigungsvorschriften […] lassen sich dort nicht aufstellen, wo die Definitionen der einzelnen Gattungen nur in der Vagheit gegeben werden können, die die gängigen Aufsatzdidaktiken durchweg bestimmt. Diese wiederum können von ihrem Ansatz her nicht präziser sein, weil die in der Schule geforderten Schreibgattungen nicht eingebunden sind in eine kommunikative Situation, die bestimmt ist durch eine Reihe konstitutiver Faktoren wie Schreiberintention, Adressatenbezug, Lesererwartung u. a., von denen her die Weise des Schreibens sich zuallererst bestimmen lassen kann. (Ebd.: 9) <?page no="92"?> 92 Schreiben ‚Ernstfalldidaktik‘ mögliche ‚adressatenorientierte‘ Schreibanlässe Als Konsequenz daraus fordern sie, schulische Schreibaufgaben in reale Kommunikationssituationen einzubetten, sodass sich aus den Rahmenbedingungen eindeutige Kriterien für einen gelungenen Text ergeben sollen. Ein ‚guter‘ Text zeichne sich somit nicht dadurch aus, dass er bestimmte der Textsorte inhärente Merkmale aufweise, sondern dadurch, dass er in der konkreten Situation seinen Zweck erfülle. Andere Arbeitsbereiche des Deutschunterrichts, insbesondere die Wortschatz- und Grammatikarbeit (→- 6), erhalten in diesem Zusammenhang dienende Funktion: Sprachliche Mittel sollten nicht isoliert vom Kontext, sondern immer in Verbindung mit Äußerungssituationen und -absichten behandelt werden. Textsortenmuster könnten beim leserorientierten Schreiben unterstützend wirken, sollten aber kritisch-reflektiert verwendet werden: Es ist […] wichtiges Lernziel für die Schule, die in der Gesellschaft relevanten Textsorten nicht lediglich zu beherrschen und erfüllen zu können, sondern kritisch entscheiden zu können, wo um der Bewältigung einer Situation willen die übliche Textsorte durchbrochen werden muss. (Ebd.: 44) Reale Schreibsituationen sollten im Schreibunterricht nicht nur simuliert, sondern tatsächlich erzeugt beziehungsweise bereitgestellt werden: Die ‚Aachener Gruppe‘ fordert, nicht von fiktiven, erfundenen Situationen auszugehen, sondern ausschließlich Schreibsituationen zu wählen, die zwar z. T. vom Lehrer oder den Schülern geplant sein können, in denen es die Schreiber aber immer mit tatsächlichen Lesern zu tun haben […]. (Ebd.: 57) Wir wollen einen Robinson-Spielplatz Eine dritte Klasse (siehe im Folgenden ebd.: 91 ff.) trifft bei einem Ausflug auf einen ‚Robinson-Spielplatz‘ und beklagt sich in der Folgezeit über die unzureichenden Freizeitangebote im eigenen Stadtviertel. Die Lehrkraft informiert die Kinder über politische Zuständigkeiten und Einflussmöglichkeiten, worauf diese beschließen, eine Bürgerinitiative für die Einrichtung eines ‚Robinson-Spielplatzes‘ zu starten. Nach einer Sammlung wesentlicher inhaltlicher Aspekte formuliert jeder Schüler eine eigene Eingabe; die entstandenen Texte werden in der Klasse vorgelesen und besprochen. Auf Basis der Verbesserungsvorschläge überarbeiten die Schüler ihre Texte und schicken sie persönlich an jeweils ein Stadtratsmitglied. Als arbeitsbereichsbezogenes Lernziel formulieren Boettcher et al.: „Die Schüler sollen eine ‚Eingabe‘ erarbeiten und ihre Einsatzmöglichkeit erproben“ (ebd.: 91). Boettcher et al. stellen eine Liste von über 30 möglichen Schreibanlässen in der Schule zusammen, von denen viele inzwischen etabliert sind-- hier einige Beispiele: <?page no="93"?> Leserorientierter Schreibunterricht 93 Schreibunterricht als Beitrag zur politischen Bildung Leserorientierung in der aktuellen Schreibdidaktik - Zusammenstellung und Veröffentlichung einer Schülerzeitung - Schriftverkehr mit Autoren von Kinder- und Jugendliteratur - Schriftverkehr zur Vorbereitung von Klassenausflügen, Schullandheimen und größeren Unterrichtsprojekten - Einladungen zu Festen und Feierlichkeiten - Verfassen und Zusammenstellen von klasseneigenen Erzählbänden Deutlich wird, dass der Ansatz weit über die damals schon übliche Praxis, Schreibanlässe aus der Lebenswelt der Schüler heranzuziehen, hinausgeht. Intrinsische Schreibmotivation soll nicht durch das Thema entstehen, sondern durch die reale Notwendigkeit des Schreibens - den ‚Ernstfall‘. Ein weiterer Schwerpunkt der leserorientierten s chreibdi daktik lag bereits in den 1960er Jahren auf der politischen Bedeutung einer kompetenten und bewussten Verwendung geschriebener Sprache in Produktion und Rezeption: Worauf es uns ankommen muss, ist letztlich dies: den künftigen Staatsbürger durch ein festes Sprachwissen vor demagogischem Missbrauch zu schützen und ihn andererseits durch ein geläufiges Sprachkönnen zum Gebrauch seiner demokratischen Rechte fähig zu machen. (Herrlitz 1966: 310) Für Herrlitz ist politische ohne sprachliche Bildung nicht möglich. Deshalb sei auch die Beschränkung auf eine unpolitische oder künstlerische Sprachgestaltung in der Schule ein Irrweg - daneben müsse immer die handelnde Sprachverwendung stehen: In rhetorischen Gestaltungsübungen kann der Schüler ein sprachliches Können erlernen, das unmittelbar in die Ernstsituation sprachlicher Beziehungen (und politischer Konflikte) einführt. Er muss erfahren, dass es neben der „erkennenden“ und der „künstlerischen“ eine „handelnde“ Weise der Sprachgestaltung gibt, der er einmal ausgesetzt sein wird und der er dann gewachsen sein muss. (Ebd.) Herrlitz‘ Ideen weisen einige Bezüge zur r hetorik im d eutschun terricht (→- 2.3) auf; es muss in diesem Zusammenhang allerdings zwischen mündlichen und schriftlichen Kontexten, die verschiedene Aufgaben an den Sprecher/ Schreiber stellen, präzise unterschieden werden. Vielversprechend und häufig erprobt ist im Rahmen der Schriftlichkeit unter anderem sein Vorschlag der Arbeit mit Werbetexten, deren Machart analysiert und anschließend auf neue Gegenstände übertragen werden kann; als weitere Beispiele werden die Laudatio oder die Verteidigungsschrift genannt. Wie sich die Leserorientierung in eine aktuelle Auffassung von Schreiben integrieren lässt, zeigen Becker-Mrotzek/ Boettcher (2012) mit ihrem Modell schriftlicher Kommunikationssituationen, das auch als funktionales Modell ‚gelesen‘ werden kann: <?page no="94"?> 94 Schreiben Leserorientierung und Symmedien Abb. 4: Schreiben als schriftsprachliches Handeln (nach Becker-Mrotzek/ Böttcher 2012: 21) Das Modell berücksichtigt „systematisch, dass Schreiben Teil einer kommunikativen Handlung ist“ (ebd.: 20). Das Wissen, die Erwartungen/ Interessen und Befugnisse des Lesers können demnach bereits auf die ersten Handlungsschritte, also die Planungsphase des Schreibers entscheidenden Einfluss haben. In der modernen Schreibdidaktik gibt es - meist in Verbindung mit einer prozessorientierten (→-3.10) und integrativen (→-S.-50 f.) Ausrichtung - zahlreiche konkrete Unterrichtsvorschläge zum leserorientierten Schreiben: Mail- oder Brieffreundschaften zwischen Klassen, Klassenzeitungen, Projekte wie zum Beispiel populärwissenschaftliches Schreiben-- ein Zeitungsprojekt (z. B. Becker-Mrotzek/ Böttcher 2012: 208 ff.) oder das Verfassen von Theaterkritiken (→-S.-187). Die Leserorientierung rückt ebenfalls in Verbindung mit einzelnen Textformen wieder stärker in den Vordergrund. Ein Beispiel hierfür ist das schriftliche Argumentieren (z. B. Schneider/ Tetling 2012), das einen besonderen Adressatenbezug erfordert und zumindest im Primarstufenbereich ein weithin vernachlässigter Handlungsbereich ist, sowie für die Sekundarstufe das Verfassen von Bewerbungsschreiben (Droll/ Betzel 2014). Auch in medialen Zusammenhängen (→- 5.7) wird der Aspekt der Leserorientierung neu beleuchtet: Eine Möglichkeit, das adressaten- <?page no="95"?> Leserorientierter Schreibunterricht 95 Bereitstellung authentischer Schreibsituationen orientierte Verfassen von Hypertexten kennenzulernen und einzuüben, bietet das WebQuest-Konzept (Moser 2008). Obgleich einige der praxisorientierten Vorschläge von Boettcher et al. bisweilen umgesetzt werden, wird in der aktuellen Unterrichtspraxis sowie in neueren Lehrwerken die l eserorientierung zumeist in abgeschwächter Form vertreten: Zwar ist in Aufgabenstellungen bei geeigneten Textsorten (z. B. Vorgangsbeschreibung, Wegbeschreibung, Bericht) häufig ein expliziter Adressatenbezug erkennbar, jedoch handelt es sich in der Regel um simulierte ‚Ernstfälle‘: Weder liegt eine für den Schüler nachvollziehbare Notwendigkeit vor, diesen Text zu verfassen, noch existiert ein Leser, der am Text interessiert ist und von dem eine Reaktion zu erwarten wäre. Problematisierung Die konsequente Beschränkung auf reale Kommunikationssituationen ist ein ganz wesentliches, gleichzeitig aber auch problematisches Merkmal der leserorientierten s chreibdidaktik nach Boettcher et al. Die Autoren weisen selbst auf die Schwierigkeit hin, authentische Schreibsituationen in ausreichender Anzahl zu finden - halten dies jedoch bei entsprechender Sensibilisierung der Lehrkräfte für machbar. Schwerer wiegt der Einwand, dass bei einer völligen Konzentration auf adressatenbezogene Schreibformen wichtige andere Aspekte des Lernbereichs unberücksichtigt blieben. Im Falle einer naheliegenden Reduktion auf informierende und appellierende Textsorten dient der Schreibunterricht dann zwar der sozialen, aber nicht der ästhetischen und persönlichen Bildung - Schreiben als Möglichkeit der Erkenntnisbildung und Welterschließung findet nicht statt. Trotz dieser Kritikpunkte muss neben anderen Dimensionen auch die l eserorientierung im Rahmen einer integrativen Schreibdidaktik (s. o.) eine wesentliche Rolle spielen. Die Fähigkeit, sich auf einen Adressaten einzustellen, dessen Erwartungen und Bedürfnisse zu antizipieren und mit schriftlichen Äußerungen kommunikative Ziele zu erreichen, ist ein ganz wesentlicher Bestandteil von Schreibkompetenz und muss im Deutschunterricht - möglichst unter Verwendung realer Schreibanlässe - gefördert werden. Gerade die mitunter auch heute noch sogenannten ‚neuen Medien‘ (→- 5.7) bieten vielfältige Möglichkeiten, adressatenorientierte (Hyper-)Texte in unterschiedlichen Kontexten zu verfassen und im Netz gezielt bestimmten Rezipienten oder einer breiten Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Hypertexte, wie sie im Internet üblich sind, stellen aufgrund Ihrer Eigenheiten (z. B. Nicht-Linearität, multimodale Kodiertheit, Interaktivität) besondere Herausforderungen an Rezipienten und Produzenten (siehe z. B. Storrer 2008). <?page no="96"?> 96 Schreiben Aufgaben 1. Skizzieren Sie einen Unterrichtsvorschlag, in dem die Textsorte Vorgangsbeschreibung adressatenorientiert und möglichst im Rahmen eines ‚kommunikativen Ernstfalls‘ erarbeitet und eingeübt wird. 2. Textsorten, die bei einer Fokussierung auf leserorientiertes s chreiben häufig ‚unter den Tisch fallen‘, sind unter anderem die Erzählung, die Erörterung oder auch lyrische Texte. Sehen Sie Möglichkeiten, entsprechende Unterrichtseinheiten auch unter Berücksichtigung konkreter Adressaten zu planen? Lektüreempfehlungen zur Vertiefung B oettcher , W. et aL . (1973) (grundlegendes Werk der leserorientierten Schreibdidaktik; kritisiert den traditionellen Aufsatzunterricht und begründet den damals neuen Ansatz kommunikationstheoretisch) M oSer , h. (2008) (Vorstellung des WebQuest-Konzepts, siehe auch: http: / / www.webquest-forum.de/ index.html) 3.10 Prozessorientierter Schreibunterricht Von prozessorientiertem Schreibunterricht wird […] dann gesprochen, wenn der komplexe Vorgang der Textproduktion tatsächlich als Prozess begriffen wird, in dem alle Teilprozesse des Schreibens umfassend Berücksichtigung finden. (Merz-Grötsch 2010: 69) Die aus der US-amerikanischen Schreibforschung übernommene Vorstellung von der Segmentierung des Schreibens in Subprozesse führte in der Fachdidaktik zu einer Abkehr von der traditionellen, am Produkt orientierten Aufsatzdidaktik (Schäfer 2013: 332). Grundgedanke der neuen prozessorientierten s chreibdidaktik ist, dass diese Teilprozesse schreibenden Schülern bewusst gemacht und gezielt eingeübt werden können. Darstellung Prozessorientierte Ansätze dominieren derzeit die fachdidaktische Diskussion, sind in den Schulen jedoch nur ansatzweise angekommen. Nach wie vor herrscht in der Unterrichtspraxis das Ideal vom ‚Schreiben in einem Zug‘ vor, nach wie vor wird das Schreiben von Aufsätzen von vielen Schülern als nicht lernbar beziehungsweise nicht vorbereitbar erlebt - nicht zuletzt deshalb, weil ihnen diese falsche Sichtweise auch von Lehrkräften vermittelt wird. Es lassen sich in der Praxis drei verschiedene, letztlich nicht oder nur eingeschränkt haltbare Vorstellungen von Schreibkompetenz beobachten (Baurmann 2002: 8): das Genie-Konzept (Schreiben kann man, oder man kann es eben nicht), das <?page no="97"?> Prozessorientierter Schreibunterricht 97 Dornröschen-Modell (Schreibkompetenz entfaltet sich durch Reifung, die insbesondere durch Leseerfahrungen unterstützt werden kann) und das Nachahmungsmodell (Schreibkompetenz entwickelt sich über das imitierende Reproduzieren vorgegebener Schreibmuster). Demgegenüber sehen Vertreter der p rozessorientierung das Schreiben als anspruchsvolle, aber lernbare Handlung an und fordern insbesondere die Vermittlung methodisch-strategischer Kompetenzen. Schreibprozessmodelle Kognitive Modelle des Schreibprozesses (Hayes/ Flower 1980) verstehen Schreiben grundsätzlich als Problemlösen. Die wesentlichen Komponenten (Planen, Formulieren und Überarbeiten - jeweils überwacht durch eine Kontroll- und Steuerungsinstanz), die nicht als linear ablaufend verstanden werden dürfen, sondern während des Schreibprozesses ineinandergreifen und parallel stattfinden, werden dabei in einen komplexen Kontext, bestehend aus dem Langzeitgedächtnis des Autors und dem Aufgabenumfeld, eingebettet. Abb. 5: Schreibprozessmodell nach Hayes/ Flower 1980 (Übers.: C. H/ A. K./ R. O.) Kritisiert wurde an diesem und ähnlichen kognitiven Schreibprozessmodellen unter anderem, dass sie auf Schreibexperten ausgerichtet seien und ein idealisiertes Bild von Schreibprozessen widerspiegelten. Eine ausführliche Darstellung und Diskussion dieses und weiterer Schreibprozessmodelle findet sich beispielsweise bei Sieber (2006). Grießhaber (2010) legt das Schreibprozessmodell von Hayes/ Flower in modifizierter Form für Lernende mit Deutsch als Zweitsprache vor. Ein alternatives Modell, das auch die Besonderheiten der zerdehnten Kommunikationssituation berücksichtigt, stammt von Becker-Mrotzek/ Böttcher (2012: 21) ( → 3.9). <?page no="98"?> 98 Schreiben Planen Formulieren Die Schreibprozessforschung findet ihren Niederschlag in der prozess orientierten s chreibdidaktik unter anderem in Form konkreter Hilfestellungen für das Planen und Formulieren von Texten (Merz- Grötsch 2010: 239 ff.). Im Teilprozess des Planens, der unter anderem umfassen kann, Schreibziele zu reflektieren (An welche Leser schreibe ich? Was will ich erreichen - oder will ich überhaupt etwas erreichen? ), das Schreiben durch eine ‚Ideensammlung‘ vorzubereiten und diese Ideen und Gedanken zu strukturieren, können Schreiber durch verschiedene Fragen und Impulse unterstützt werden. Dazu erläutert Merz-Grötsch (ebd.: 75 ff.) unterschiedliche Methoden, die vornehmlich aus dem angloamerikanischen Raum stammen und sowohl in der Einzelarbeit als auch im Klassenverband eingesetzt werden können: das Brainstorming, das Assoziogramm, das Mindmapping und das Clustering (Rico 1984). Für den Teilprozess des Formulierens nimmt der Bereich Sprache und Sprachgebrauch untersuchen und reflektieren (→- 6) eine zentrale Stellung ein. Sowohl grammatisch-syntaktische Fähigkeiten als auch ein umfassender Wortschatz sind für den Formulierungsprozess entscheidend. Je nach Textsorte spielt auch die Vertrautheit mit Routineformeln eine mehr oder weniger zentrale Rolle. Fix erläutert die Methode des Lehrerkommentars „als ‚Geburtshilfe‘ für angemessene Formulierungen“ (2008: 172) im Zusammenhang mit der „UWE-Technik“ (2005: 10 ff.): Angeregt durch lehrerseitige Hinweise und Verbesserungsvorschläge sollen die Schüler durch verschiedene Proben (Klangprobe, U = Umstellen, W = Weglassen, E = Erweitern), die ursprünglich dem operationalen g rammatikunterricht (→-6.6) entstammen, Formulierungsvarianten erproben und ihren Text sprachlich überarbeiten. Klotz beschreibt das Konzept eines auf die Förderung von Schreibkompetenz fokussierten „Sprachangebotsunterrichts (2014: 387), der im Wesentlichen auf zwei Ebenen funktioniere: Zum einen wird ein bestehendes Sprachkönnen über grammatische und textuelle Aspekte - nach dem mäeutischen Prinzip also - bewusst gemacht und nach Notwendigkeit behutsam in Begrifflichkeit [...] gefasst. Zum anderen werden im Unterricht sprachliche Alternativen zur bestehenden Kompetenz bekannt gemacht und in funktionalen Verwendungszusammenhängen eingeübt. (Ebd.: 388) Auch Pohl (2014b: 242 ff.) plädiert für eine intensivere und selbstverständlichere Verbindung des Grammatikunterrichts mit dem Schreibunterricht. Eine nachhaltige Förderung impliziter sprachlicher Fähigkeiten durch den Erwerb expliziten metasprachlichen Wissens sei allerdings nur möglich, wenn Letzteres am Erwerbsstand der Schüler orientiert <?page no="99"?> Prozessorientierter Schreibunterricht 99 sei, wenn also explizit nur vermittelt werde, was implizit bereits genutzt werde. Außerdem dürfe die der Grad an Explizitheit metasprachlicher Beschreibungen, die zurück zur sprachlichen Handlungskompetenz führen sollen, nicht zu hoch sein - Umschreibungen, Faustregeln oder lerngruppenspezifische Termini seien also zu tolerieren und die „terminologische Sachangemessenheit und Präzision […] Restriktionen der metakommunikativen und -textuellen Verständnisleistung konsequent unterzuordnen“ (ebd.: 251 f.). Pohl führt seine Überlegungen an drei aus der traditionellen Schreibdidaktik bekannten Lerngegenständen aus, indem er gängige Herangehensweisen kritisiert und eigene konzeptuelle Überlegungen anstellt (ebd.: 254 ff.). Fallbeispiele eines sprachreflexiven Schreibunterrichts nach Pohl ‚Variation des Satzanfangs‘ - temporale Situierung beim Erzählen Die in der Primarstufe allgegenwärtige ‚Bekämpfung‘ der und-dann-Konstruktionen verkennt deren altersentsprechende Leistung bei der kohäsiven Verknüpfung von Texten in Überwindung des assoziativ-expressiven Schreibens ( → S. 50). Ein am impliziten Erwerb orientierter Schreibunterricht, der die nächste Entwicklungsphase anbahnt, darf nicht auf einen simplen Ersatz durch weitere Konnektoren (danach, plötzlich) beschränkt sein, sondern muss vor allem Wortgruppen (im selben Moment) und Gliedsätze (als ich die Treppe hinunter rannte) fokussieren und in ihren Effekten für die Textqualität beobachten lassen. Das ‚schmückende Adjektiv‘ - emotionale Involvierung beim Erzählen Der Einsatz von Adjektiven zur Intensivierung von Anschaulichkeit, Spannung, Dramatisierung oder emotionaler Involvierung wird, wie die Analyse von Unterrichtsmaterialien zeigt, häufig am Ende der Grundschulzeit angestrebt - in einem Zeitraum, der durch eine starke ‚Versachlichung‘ der Kindertexte gekennzeichnet ist, was eine Übernahme der intendierten Strategien in die implizite Schreibpraxis der Schüler erschwert. Zudem ist zu kritisieren, dass die Auswahl stilistischer Mittel durch die Konzentration auf eine einzige Wortklasse stark begrenzt wird - zielführender erscheint ein offenerer Zugang über das Entdecken geeigneter Sprachmittel (z. B. in literarischen Texten) und das gezielte Einüben derselben (Menzel 2014). ‚Logischer‘ Einsatz von Konjunktionen - Kausalbeziehungen und Begründungszusammenhänge beim Argumentieren Der Einsatz von Konjunktionen und Subjunktionen, der oft auch erwachsenen Schreibern noch misslingt, unterliegt einer ‚umgekehrten U-Kurve‘: Nach einem deutlichen Anstieg ab dem Ende der Grundschulzeit werden diese Elemente von Schreibern ab der Mitte der Sekundarstufe wieder seltener eingesetzt, was auf den vermehrten Gebrauch funktional ähnlicher Mittel (Nominalphrasen, Partizipgruppen) zurückzuführen ist. Hier (und nicht schon früher) besteht nun die Möglichkeit, in einem sprachreflexiven Schreibunterricht unterschiedliche Mittel (Nomen/ Nominalgruppen, Adverbien, Präpositionalgruppen, Konjunktionen und Subjunktionen) einander gegenüberzustellen und z. B. für die Textüberarbeitung gezielte Substitutionstests einzuüben. Eine ebenso konkret auf die Gestaltung der Textoberfläche bezogene Unterstützung bieten nach Feilke „Textprozeduren als sprachliche Werkzeuge des Schreibens“ (2014: 14), die „in hohem Maß kontext- und text- <?page no="100"?> 100 Schreiben sortengebunden“ (ebd.) seien und somit „eine Mittlerstellung zwischen dem Prozess- und dem Produktaspekt des Schreibens“ (ebd.: 11) einnehmen. Einem Texthandlungstyp (z. B. Argumentieren) lassen sich dabei verschiedene Handlungsschemata (z. B. Positionieren, Konzedieren) und entsprechende Prozedurausdrücke (z. B. Ich finde, dass; meines Erachtens; zwar ..., aber; wenn auch ..., so doch) zuordnen (ebd.: 26 f.), die bewusst gemacht und anschließend von den Schülern gezielt eingesetzt werden können. Wertvolle Praxisvorschläge hierzu liefern unter anderem Bachmann 2014a, Anskeit/ Steinhoff 2014 sowie (zur Anbahnung wissenschaftlicher Schreibkompetenz in der Oberstufe) Schüler/ Lehnen 2014. Eine zunehmend zentrale Rolle bei der Förderung von Schreibkompetenz nehmen sogenannte Schreibstrategien ein. Hierzu liegen verschiedene Definitionen und didaktisch-methodische Ausarbeitungen vor. Ein umfassendes Modell stammt von Ortner, der Schreibstrategien als „Formen des Sprachverhaltens“ (2000: 346) definiert und zehn Schreibstrategien und - damit verbunden - verschiedene Schreibertypen unterscheidet (ebd.: 346 ff.). Drei dieser Strategien seien hier exemplarisch dargestellt. Sie sollen verdeutlichen, dass Schreibprozessmodelle nicht als Folie für einen scheinbaren Prototypen eines Schreibprozesses verstanden werden können, sondern dass je nach Schreibertyp, Motivation, Schreibanlass oder Kommunikationssituation ganz verschiedene Strategien zum Tragen kommen können. Schreibstrategien nach Ortner Schreibstrategie 1: (Scheinbar) nicht-zerlegendes Schreiben. Schreiben in einem Zug, Schreiben im Stil der pensée parlée, écriture automatique. Typ des Aus-dem-Bauch-heraus-(= Flow-) Schreibers Schreiben wird als „Expedition ohne Kompaß […], ohne leitende Idee, ohne Arbeitstitel oder Gliederung […]“ (ebd.: 362) beschrieben. Das Motto ist: „Es soll kein Pingpong geben, nur ein Vorwärtsschreiben ohne Unterbrechung“ (ebd.). Schreiben in einem Zug kann in unterschiedlichen Ausprägungen stattfinden: zu Beginn des Erwerbs von Textkompetenz als Form des assoziativen Schreibens, in einer Klassenarbeit eines Zehntklässlers oder im Stil eines professionellen literarischen Schreibens. Planende und überarbeitende Tätigkeiten rücken in den Hintergrund. Schreibstrategie 5: Planendes Schreiben (Plan = eine Version in Kurzschrift). Typ des Planers Planendes Schreiben kann als kontrollierter Prozess verstanden werden. Eingeübt wird diese Schreibstrategie in der Schule besonders im Rahmen argumentativer und erörternder Schreibhandlungen. Schreibstrategie 10: Schreiben nach dem Puzzle-Prinzip. Extrem produktzerlegend. Typ des Produkt-Zusammensetzers Die einzelnen Puzzle-Teile spiegeln singuläre schreiberische Handlungen wider, die im Cluster- Prinzip entstehen. Anfang und Ende eines Textes sind nicht erkennbar und nicht geplant. In der Schule wird das Puzzeln zumeist negativ bewertet, obwohl es gerade aus literaturdidaktischer Sicht auch großes Potential birgt und eine Form des erkenntnisgewinnenden Schreibens sein kann. <?page no="101"?> Prozessorientierter Schreibunterricht 101 Überarbeiten Schreibkonferenzen Ein auf Schreibstrategien fokussierender methodischer Vorschlag zur Förderung von Textproduktion und -überarbeitung ist der Stationenbetrieb (Becker-Mrotzek/ Böttcher 2012: 40). Den Schülern soll hierbei die Möglichkeit gegeben werden, an verschiedenen Stationen, die jeweils eine Schreibstrategie thematisieren, entweder allein oder kooperativ, also mit einem Partner, verschiedene Strategien einzuüben und produktiv zu erproben. Auf dem Prinzip des kooperativen l ernens (→-2.3) basiert auch die kooperative Textproduktion, die Becker-Mrotzek/ Böttcher in gemeinsames und schrittweises kooperatives Schreiben (ebd.: 32 ff.; Lehnen 2014: 418 ff.) aufteilen. Besonders häufig hervorgehoben wird im Rahmen der prozess orientierten s chreibdidaktik der im traditionellen Aufsatzunterricht oft vernachlässigte Schritt des Überarbeitens. Das Korrigieren und Revidieren von Texten fällt vielen Schülern erfahrungsgemäß schwer (siehe hierzu auch das Modell von Überarbeitungskompetenz in Jantzen 2003: 114 ff.)- - Untersuchungen zeigen jedoch, dass es durch geeignete Methoden gefördert werden kann und dass dies zur Weiterentwicklung der Schreibkompetenz beiträgt (Schäfer 2013: 332 f.). Ein für diesen Zweck offenbar geeignetes Verfahren, das seit den 1980er Jahren zunehmend Verbreitung insbesondere in der Primarstufe findet, ist die Schreibkonferenz, die von Spitta aus dem US-amerikanischen Kontext übernommen und in die deutschdidaktische Diskussion eingeführt wurde: Schreibkonferenzen stellen […] ein Verfahren dar, einen selbst verfaßten Text einer kleinen kritischen Öffentlichkeit zur Diskussion zu präsentieren, um aus den Reaktionen der Teilnehmer Hinweise für eine eventuelle Überarbeitung des Textes zu erhalten. (1992: 13) Ablauf einer Schreibkonferenz nach Spitta Eine Schreibkonferenz besteht aus vier Phasen (Spitta 1992: 42 ff.): 1. Individuelle Themenfindung und Erstellen eines Entwurfs in fest eingeplanten Schreibzeiten, z. B. im Rahmen des Wochenplans. 2. Schreibkonferenz im engeren Sinne, ebenfalls während der Freiarbeitsphasen: Das ‚Autorenkind‘ und zwei ‚Mitarbeiterkinder‘ arbeiten am Entwurf und führen dabei vier verbindliche Arbeitsschritte durch: - Vorlesen - Spontanreaktionen zum Inhalt - satzweises Durchgehen unter sprachlichen und inhaltlichen Gesichtspunkten - satzweise Rechtschreibkontrolle - Weiterarbeit am Entwurf durch das Autorenkind 3. Endredaktion mit der Lehrkraft; anschließend wird die endgültige Fassung auf einem eigenen Blatt verschriftet. <?page no="102"?> 102 Schreiben weitere methodische Vorschläge 4. Veröffentlichung beispielsweise im Rahmen einer regelmäßig stattfindenden ‚Dichterlesung‘: Die entstandenen Texte werden vorgelesen und besprochen, anschließend können sie auch ausgestellt oder als Buchprojekt veröffentlicht werden. Schreibkonferenzen eignen sich Spitta zufolge vor allem zur gezielten Unterstützung des schülerorientierten freien s chreibens (→- 3.11). Darüber hinaus könnten sie dabei helfen, Schülern die Dynamik von Schreibprozessen zu verdeutlichen und Überarbeitungsstrategien zu verinnerlichen. Das kritische Lesen und Reflektieren eines ‚fremden‘ Textes helfe Kindern, auch eigene Texte distanziert zu betrachten und zu revidieren. Auch lasse sich durch das bewusste Schreiben für ein ‚Publikum‘ bereits im Grundschulalter ein vertiefter Adressatenbezug erreichen: Schreiberinnen und Schreiber werden […] beim komplexen Prozess des Schreibens und Überarbeitens entlastet und auf anschauliche Weise mit der Leserperspektive vertraut gemacht. Da Kinder und Jugendliche erst noch lernen, die Sichtweise anderer zu übernehmen und schließlich zu verinnerlichen, kann der Wert von Schreibkonferenzen nicht hoch genug eingeschätzt werden. (Baurmann 2002: 108) Deshalb befürwortet Baurmann in Erweiterung von Spittas Vorschlägen den Einsatz von Schreibkonferenzen auch in der Sekundarstufe und mit gebundenen Schreibaufgaben, also nicht ausschließlich im Rahmen des freien s chreibens , weil nur so eine nachhaltige Weiterentwicklung der Schreibkompetenz möglich sei. Eine erweiterte Form der Methode präsentieren Anderer/ Baark (2012) mit der in den Klassenstufen 2-5 erprobten Lektorenrunde. Auf den besonderen Wert der Gesprächssituation, auch bei der Überarbeitung von Fremdtexten, weist Hüttis-Graff hin: Ist die Einschätzung des Überarbeitungsbedarfs und das Finden einer Textalternative in normalen Schreibsituationen eine Anforderung an den Schreiber selbst, schafft im Vergleich dazu die Überarbeitung im Team erleichternde Möglichkeiten der Abstimmung, des Abwägens und der Vergewisserung aufgrund der stattfindenden ‚Textgespräche‘ und des gemeinsamen Modellierens […]. (2012: 73) Eine moderne Form des Verfahrens sind virtuelle Schreibkonferenzen (Becker-Mrotzek 2012b), bei denen zwei Schüler zusammen am PC einen Text schreiben, der beispielsweise von Studierenden korrigiert und kommentiert an die Schüler zurückgeschickt wird. Dieser Austausch kann sich beliebig oft wiederholen. Weitere Möglichkeiten, im Deutschunterricht das Überarbeiten von Texten anzuleiten, sind zum Beispiel die Textlupe (ein Beurteilungsbo- <?page no="103"?> Prozessorientierter Schreibunterricht 103 gen mit Kriterien für einen gelungenen Text), die Fragelawine (Leser schreiben reihum Fragen zum Text auf, die an den Autor weitergegeben werden) (Baurmann 2002: 108 ff.) und das Chatten auf dem Papier (Fix 2008: 177 f.). Es hat sich grundsätzlich bewährt, beim Einüben von Überarbeitungsstrategien zunächst mit fremden Texten zu beginnen, da so die für das Revidieren notwendige Distanz zum Produkt leichter zu erreichen ist. Diese und weitere prozessorientierte Vorgehensweisen werden, wie oben schon angedeutet, durch den Einsatz von Symmedien (→- 5.7) im Deutschunterricht erheblich erleichtert: „Computer lassen Schreiben eher als zielorientiertes Problemlösen erfahren denn als Imitieren oder Herstellen eines mehr oder weniger auf Anhieb fertigen Resultats“ (Schmitz 2003: 256). Fix (2005; 2008: 178 ff.) schlägt als Orientierungshilfe für das Überarbeiten Checklisten vor, die an das Prinzip von Kriterienkatalogen (→-3.8) angelehnt sind, aber auf den Schreibprozess fokussieren und an den Schüler Fragen stellen, die ihn beim Revidieren anleiten - was gerade für revisionsungeübte Schüler wichtig ist. Wegbeschreibung - prozessorientiert Als Beispiel für eine umfangreiche Schreibaufgabe, in der der Schreibprozess als Ganzes im Mittelpunkt steht, sei hier ein Unterrichtsvorschlag von Popp (2007: 38 ff.) skizziert. Ziel ist das Verfassen einer Wegbeschreibung: „Um den Schülerinnen und Schülern gezielt Teilkompetenzen des Schreibprozesses wie auch Kenntnisse über den Schreibprozess zu vermitteln, wird die Schreibaufgabe schrittweise gelöst“ (ebd.: 41 f.). Die Hinführung beginnt mit einer Lehrererzählung, in deren Verlauf eine Flaschenpost und deren Inhalt (die Karte einer unbewohnten Insel und Hinweise auf einen dort versteckten Schatz) präsentiert werden. Die Schüler begegnen der Textsorte Wegbeschreibung somit zunächst als Leser. Gegenstand der Erarbeitung ist die sprachliche Aufarbeitung des Themas: So werden beispielsweise der notwendige textsortenspezifische Wortschatz aufgebaut und ein objektives Koordinatensystem eingeführt. In der Schreibphase verfassen die Schüler erste Wegbeschreibungen zu einem eigenen Schatzversteck; als Leser sind dabei die Mitschüler vorgesehen. Neben dem motivierenden Charakter der Schreibaufgabe ist somit auch ein klarer Adressatenbezug gegeben ( → 3.9). In der abschließenden Präsentation werden die Funktionalität und Angemessenheit der Texte durch Mitschüler, die dem beschriebenen Weg auf der Karte folgen, überprüft. Wie im obigen Beispiel bereits angedeutet wurde, lässt sich in einem prozessorientierten s chreibunterricht die Produktion von Sachtexten mit dem Lesen derselben (→- 4.4) verknüpfen - einen ausführlichen Vorschlag hierzu präsentieren Fix/ Schmid-Barkow (2010). <?page no="104"?> 104 Schreiben prozessorientiertes Bewerten von Schülertexten Eine wesentliche Weiterentwicklung hat die prozessorientierte Schreibdidaktik in Bezug auf das Bewerten, Beurteilen und Benoten von Schreibleistungen angestoßen. Es wird immer wieder zu Recht darauf hingewiesen, dass in einem modernen prozessorientierten s chreibunterricht eine Orientierung ausschließlich am Endprodukt nicht vertretbar sei. Vielmehr müsse auch der Prozess des Schreibens in die Beurteilung einbezogen werden. In Anlehnung an Merkelbach (1982: 148 ff.) könnte dies folgendermaßen gestaltet werden: Fünf-Phasen-Modell zur Bewertung von Schülertexten Zunächst erstellt der Schüler einen ersten Entwurf seines Textes, möglichst mit doppeltem Zeilenabstand oder breiter Randspalte, um die Überarbeitung zu erleichtern. Mit einem gewissen zeitlichen Abstand (mindestens ein Tag) erhält er die Möglichkeit zur Überarbeitung. Es folgt die Korrektur und Bewertung durch die Lehrkraft, verbunden mit Hinweisen zur weiteren Überarbeitung. Anschließend erstellt der Schüler die Reinschrift, die erneut vom Lehrer korrigiert und bewertet wird. Die zweite Version hat dabei geringeres Gewicht, geht aber mit immerhin einem Drittel in die Gesamtnote ein. Des Weiteren liegen mit sogenannten Kriterienkatalogen (Böttcher/ Becker-Mrotzek 2003) Bewertungsmaßstäbe vor (→-3.8), die nicht nur für die Lehrperson, sondern auch für Schüler und Eltern transparent sein sollen. Problematisierung Dass die p rozessorientierung im Rahmen einer integrativen Schreibdidaktik eine wesentliche Rolle spielen muss, wird in der Deutschdidaktik nicht in Frage gestellt. Kritische Anmerkungen beziehen sich zumeist auf einzelne methodische Vorschläge, beispielsweise auf die oben erwähnte Schreibkonferenz. In den Untersuchungen von Becker-Mrotzek (2000) und Fix (2004) zeigte sich unter anderem, dass die Schüler in ihren Arbeitsgruppen überwiegend sprachliche Einzelstrukturen revidierten und sich dabei stark an orthographischen und textsortenbezogenen Normen orientierten - tiefergehende Eingriffe (auch wenn sie nötig gewesen wären) gelangen jedoch nur selten. Den ‚Mitarbeiterkindern‘ fehlte teilweise die Fähigkeit, diffus empfundene Mängel metasprachlich zu artikulieren. Fix fasst zusammen: Schreibkonferenzen scheinen also die Sensibilisierung für Textgestaltungsprobleme zu fördern, helfen Schülern aber für sich allein zunächst relativ wenig bei der Wahl von Revisionsstrategien und der Realisierung in konkrete Revisionshandlungen. Insofern muss die positive fachdidaktische Beur- <?page no="105"?> Prozessorientierter Schreibunterricht 105 teilung von Schreibkonferenzen eingeschränkt werden: Die Methode sollte vor allem bei Anfängern hinsichtlich der unmittelbaren Wirkung auf eine tiefergehende Textüberarbeitung nicht überschätzt werden, ihre schreibdidaktische Funktion liegt eher im Bereich der Problemdiagnose. (Ebd.: 317 f.) Schäfer/ Sevegnani heben in diesem Zusammenhang die Bedeutung der Lehrperson hervor, die durch gezielte Hinweise den anspruchsvollen Überarbeitungsprozess unterstützen sollte (2013: 86). Becker-Mrotzek (2000: 53) weist zudem auf das Problem hin, dass ‚Mitarbeiterkinder‘ sich teilweise auch bei geäußerten Verständnisschwierigkeiten mit mündlichen ‚Reparaturen‘ zufriedengaben und eine Änderung des Textes völlig ausblieb. Auch wenn die Schreibkonferenzen von den Schülern selbst meist als positiv erlebt wurden, können die Ergebnisse deshalb nicht durchweg als überzeugend bezeichnet werden. Insgesamt sehen wir es als wichtig an, Methoden der prozess orientierten s chreibdidaktik kontinuierlich und nicht nur punktuell einzusetzen. Aufgaben 1. Formulieren Sie mögliche positive Effekte einer Schreibkonferenz mit Bezug auf das Schreibentwicklungsmodell nach Bereiter: Welche Kontrollebene(n) lässt/ lassen sich durch die Methode fokussieren, welche Schreibhaltungen können eventuell angebahnt werden? 2. Beobachten und reflektieren Sie Ihren eigenen Schreibprozess bei der Produktion einer Hausarbeit, eines Facebook-Eintrags oder einer Mail an eine Dozentin (und beziehen Sie sich dabei evtl. auch auf die oben dargestellten Schreibstrategien nach Ortner). Welchen Stellenwert haben die verschiedenen Schritte des Schreibprozesses für Sie? Welche Folgerungen ziehen Sie daraus für die Unterrichtspraxis? Lektüreempfehlungen zur Vertiefung B aurMann , J. (2002) (umfassende Einführung in die Schreibdidaktik; er vertritt eine explizit prozessorientierte Position) B ecker -M rotzek , M./ B öttcher , i. (2012) (gibt einen aktuellen und sehr praxisnahen Einblick in die Schreibdidaktik) Philipp, M. (2014b) (plädiert für eine prozess- und strategieorientierte Schreibdidaktik; listet zahlreiche ‚Bündel‘ von Planungs-, Formulierungs- und Überarbeitungsstrategien auf und diskutiert diese auch auf der Basis empirischer Untersuchungen) S pitta , g. (1992) (Begründung und konkrete Hinweise zum Einsatz von Schreibkonferenzen in der Grundschule) <?page no="106"?> 106 Schreiben der ‚freie Aufsatz‘ 3.11 Schreiberorientierter Schreibunterricht Der Mensch soll sich schreibend über Situationen äußern, weil sie ihm und anderen wegen der Notwendigkeit der Versprachlichung aller Situationskomponenten bewusster werden können, und weil er durch das Medium Schrift Öffentlichkeit herstellen kann, was den Zielen der sozialen Emanzipation förderlich ist. (Ingendahl 1972: 75) Schreibdidaktischen Ansätzen, die sich durch eine Orientierung am Schreiber auszeichnen, ist eine „subjektive Herangehensweise an die Textproduktion“ (Schäfer 2013: 331) gemeinsam. Es lassen sich hier mit dem freien s chreiben , dem personalen s chreiben und dem kreati ven s chreiben Ansätze zusammenfassen, die methodisch sehr unterschiedlich vorgehen, häufig aber auch miteinander verknüpft werden. Ein einigendes Band besteht in der Zielsetzung: „Ein schülerorientierter Schreibunterricht versucht, die Vorteile der intrinsischen Motivation dadurch nutzbar zu machen, dass persönliche Schreibbedürfnisse und Schreibabsichten im Vordergrund stehen und das Schreiben überwiegend vom Schüler selbst ausgeht“ (Merz-Grötsch 2010: 61). Darstellung Eine wesentliche Wurzel aktueller Praktiken im schreiberorientierten Unterricht ist im sogenannten freien Aufsatz zu sehen, der zu Beginn des 20.- Jahrhunderts im Rahmen der Reformpädagogik propagiert wurde. Schreiben wurde hier als Mittel der Persönlichkeitsbildung angesehen- - eine Reproduktion vorgegebener Muster erschien hierfür nicht hilfreich: „Frei sollten die Kinder werden, und frei sollten deshalb ihre Aufsätze sein“ (Ludwig 2006: 174). Es wurden also weder das Thema noch die sprachliche Form, weder zeitliche noch räumliche Rahmenbedingungen vorgegeben - im Idealfall entschieden auch die Schüler selbst, ob überhaupt geschrieben wurde. In den 1980er Jahren erlebte das freie s chreiben insbesondere in Grundschulen eine Renaissance, initiiert beispielsweise durch eine Veröffentlichung von Sennlaub mit dem provozierenden Titel: Spaß am Schreiben oder Aufsatzunterricht? Hervorgehoben wird hier und andernorts vor allem die hohe Schreibmotivation, die sich durch die Methode erreichen lasse: Schreiben muss Freude machen. Könnten Kinder Schreiben so zwanglosfreudig lernen, wie sie Sprechen lernten, würde es diese Unlust und Angst, diesen Widerwillen und diese Gleichgültigkeit gegen Schreiben und Geschriebenes nicht geben. (1998: 15) Auch Spitta fordert im Rahmen ihrer prozessorientierten Position (→- 3.10) eine konsequente Beschränkung auf das freie s chreiben , <?page no="107"?> Schreiberorientierter Schreibunterricht 107 personales/ emanzipatorisches Schreiben kreatives Schreiben das zur Identitätsfindung und zur Entwicklung von Empathiefähigkeit beitragen könne (1992: 28 ff.). Fähigkeiten, die sich beim freien s chreiben gleichsam von selbst entwickelten, könnten später dann auch auf vorgegebene Textsorten und Themenstellungen übertragen werden. Eine zweite Tendenz innerhalb des schreiberorientierten Schreibunterrichts lässt sich unter der Prämisse Aufsatzerziehung als Hilfe zur Emanzipation (Ingendahl 1972) zusammenfassen. Hier wird ebenfalls der Wert des Schreibens als Hilfsmittel zur Generierung von Wissen und zur Identitätsfindung betont: Schreiben wird begriffen als eine Möglichkeit des Erkennens, des Sichselbsterkennens, der Selbsterfahrung im Umgang mit dem eigenen Ich und infolgedessen als eine Möglichkeit der Ausbildung eines eigenen, eines persönlichen Stils. (Ludwig 2006: 175) Sprache als emanzipatorische Kraft ermögliche die Befreiung aus historisch bedingten Abhängigkeiten - deshalb spiele die sprachliche Form der Schülertexte eine entscheidende Rolle. Insbesondere Schüler aus sozial unterprivilegierten Schichten oder mit Deutsch als Zweitsprache sind in diesem Zusammenhang möglicherweise benachteiligt, weil ihnen oft nur eine reduzierte Form der Sprachverwendung als Input zur Verfügung steht. Ingendahl und weitere Vertreter des personalen s chrei bens fordern deshalb eine kompensatorische Spracherziehung auch im Schreibunterricht. Hier könnten unter anderem die Proben der operationalen Grammatik (→- 6.6) gewinnbringend eingesetzt werden, um sprachliche Nuancen bewusst zu machen und Formulierungsalternativen zu erproben. Die in der Praxis aktuell am stärksten vertretene Ausprägung schreiberorientierter Konzeptionen stellt das kreative s chreiben dar. Hierbei ist mit dem Begriff kreativ nicht in erster Linie ‚schöpferisch‘ im Sinne der ursprünglichen Bedeutung gemeint, sondern je nach Ausprägung entweder die Abweichung von Normen und Konventionen oder die Betonung persönlicher und subjektiver Ausdrucksformen. In den USA, wo das Schreiben traditionell sehr viel stärker als lernbare Technik angesehen wird, sind Kurse zum creative writing ein fester Bestandteil vieler Studiengänge. Im deutschsprachigen Raum wurde die Konzeption in den 1980er Jahren zunächst in schulischen Kontexten, später auch im Rahmen der Erwachsenenbildung etabliert (Bothe 1998: 137; Abraham 2014b: 364 f.). Als kompensatorische Spracherziehung wird der Versuch bezeichnet, die Probleme von Schülern aus sozial benachteiligten Familien und/ oder mit quantitativ und qualitativ nicht ausreichendem sprachlichen Input zu beheben. Insbesondere im Zuge der PISA-Debatte spielt kompensatorische Sprachförderung in der Deutschdidaktik eine zunehmende Rolle. <?page no="108"?> 108 Schreiben Das kreative wird häufig mit dem freien s chreiben in einem Atemzug genannt, ähnelt diesem auch durchaus bezüglich der Zielsetzungen. Hinsichtlich der konkreten Vorgehensweise zeichnet es sich aber durch eine sehr viel stärkere methodische Lenkung aus: Es werden präzise und häufig bis ins Detail ausgefeilte Aufgabenstellungen formuliert, die sich jedoch von denen der traditionellen produktorientier ten a ufsatzdidaktik (→-3.8) trotzdem noch deutlich unterscheiden. Methoden des kreativen S chreibenS Böttcher (1999: 22) unterscheidet sechs verschiedene Methodengruppen: - Assoziative Verfahren (dienen insbesondere der Ideenfindung und dem Einstieg in den Schreibprozess; z. B. Clustering) - Schreibspiele (mehrere Personen arbeiten gemeinsam an einem Text, kooperatives Schreiben; z. B. Reihum-Geschichten) - Schreiben nach Vorgaben, Regeln und Mustern (inhaltliche, formale oder strukturelle Merkmale werden vorgegeben; z. B. Elfchen, Akrostichon) - Schreiben zu und nach literarischen Texten (durch Imitieren und Experimentieren werden eigene Gestaltungsmöglichkeiten entdeckt; z. B. Fortsetzen literarischer Texte, perspektivisches Schreiben, Parodie) - Schreiben zu Stimuli (bildliche Darstellungen, Musik, Geräusche oder Ähnliches werden als Reiz genutzt und regen kreative Prozesse an; z. B. Schreiben zu einem Kunstwerk oder zu einer Phantasiereise) - Weiterschreiben an kreativen Texten (hierbei werden kreative oder kriterienorientierte Überarbeitungstechniken eingesetzt; z. B. Textlupe) Insbesondere beim Schreiben zu und nach literarischen Texten wird die Verbindung zur Literaturdidaktik deutlich: Einige Verfahren des hand lungs - und produktionsorientierten l iteraturunterrichts (→-5.2) lassen sich auch in das kreative s chreiben verorten, so beispielsweise das häufig praktizierte Fortsetzen eines literarischen Textes oder das Umformulieren aus der Perspektive einer bestimmten Figur. Allerdings ist hier auf unterschiedliche Schwerpunkte in der Zielsetzung hinzuweisen: Während es bei produktiven Verfahren im Literaturunterricht primär darum geht, sich dem Deutungsangebot eines literarischen Textes schreibend zu nähern, steht im Schreibunterricht die Förderung von Textproduktionskompetenz im Vordergrund- - selbstverständlich spricht nichts dagegen, die beiden Arbeitsbereiche in einem integrativen Deutschunterricht (→- S.- 244) miteinander zu verknüpfen. Zahlreiche Vorschläge dazu finden sich in der einschlägigen Literatur, beispielsweise zum Verfassen verschiedener Gedichtformen (Elfchen, Schneeballgedicht, Rondell) bei Böttcher (1999). Eine Übersicht und kritische Analyse kostenloser Lehrmaterialien aus dem Internet zum kreativen Schreiben bietet Neumann (2014). <?page no="109"?> Schreiberorientierter Schreibunterricht 109 Prinzipien des kreativen Schreibens: Irritation, Expression, Imagination Gemeinsam sind den genannten Aufgabentypen drei grundlegende Prinzipien (Spinner 1996: 82): - Irritation: Angestrebt wird eine Abweichung von gewohnten Denk- und Vorstellungsmustern. Besonders deutlich zeigt sich dies beim Schreiben nach Regeln und Vorgaben an den Unterschieden zu geläufigen Aufgabenstellungen aus der traditionellen Aufsatzdidaktik - so wird beispielsweise bewusst mit Reizwortzusammenstellungen gearbeitet, die auf den ersten Blick nicht zusammenpassen. Durch diese ‚Hindernisse‘, die den Schreibprozess zunächst verlangsamen, soll die Imaginationskraft des Schreibers aktiviert werden. - Expression: Die Schreiber erhalten die Möglichkeit, sich subjektiv und individuell auszudrücken und sich somit selbst zu entfalten. - Imagination: Durch die Begegnung mit Neuem oder durch einen veränderten Blick auf scheinbar bekannte Sachverhalte und das Einnehmen neuer Perspektiven soll die Einbildungskraft eingesetzt und gefördert werden. Problematisierung Das freie s chreiben lässt aufgrund des Verzichts auf Vorgaben keine klaren schreibdidaktischen Lernziele zu, auch die Formulierung konkreter Kompetenzen gestaltet sich schwierig. Hingegen liegen zahlreiche Bestätigungen aus der Praxis vor, die auf eine erstaunliche Entwicklung von Schreibmotivation schließen lassen. Gerade in der Grundschule sind deshalb einzelne Anregungen aus dem Konzept hilfreich - „nicht jedoch die grundsätzliche, letztlich einseitige Entscheidung zugunsten des freien Schreibens“ (Baurmann 2002: 62), die ignoriert, dass die Entwicklung von Schreibfähigkeiten auch auf Anstöße von außen angewiesen ist. Ansätze des personalen und kreativen s chreibens tragen dieser Erkenntnis Rechnung. Durch präzise, teilweise irritierende und zu subjektiven Lösungen herausfordernde Aufgabenstellungen können sie reflektierte Schreibprozesse auslösen. Die heuristische (epistemische) Funktion des Schreibens wird dadurch unterstützt, was insbesondere einen Einsatz bei fortgeschrittenen Schreibern gegen Ende der Sekundarstufe I oder in der Sekundarstufe II nahelegt. Viele Verfahren des kreativen s chreibens wurden jedoch auch erfolgreich mit jüngeren Schülern durchgeführt. Durch ein spielerisches Einüben und bewusstes Anwenden von Techniken werden verschiedene Aspekte des Schreibprozesses (besonders Planung und Überarbeitung) sowie die Orientierung am Leser (→-3.9) bereits im Grundschulalter gefördert; positive Effekte ließen sich bereits ansatzweise empirisch nachweisen (Böttcher/ Becker-Mrotzek 2003: 32). Andererseits erinnert Schäfer <?page no="110"?> 110 Schreiben an Untersuchungen, die darauf hindeuten, dass traditionelle Schreibaufgaben gerade im Bereich der Kreativitätsentwicklung den Verfahren des kreativen s chreibens erstaunlicherweise sogar überlegen seien (2013: 332). Hervorzuheben ist, dass Kinder und Jugendliche auch beim kreativen s chreiben nicht nur auf geeignete Aufgabenstellungen, sondern auch auf eine fundierte Rückmeldung zu ihren Texten angewiesen sind. Abraham (2014b: 373 ff.) plädiert im selben Zusammenhang für eine Verbindung produkt- und schreiberorientierter Vorgehensweisen. So kann der Gefahr entgegengewirkt werden, „dass die Authentizität der Texte überhöht werde, ohne an ihrer Qualität zu arbeiten. Eine Weiterentwicklung der Schreibfähigkeiten können die Schülerinnen und Schüler nicht aus sich selbst heraus schöpfen“ (Schäfer 2013: 332). Aufgaben 1. Ist eine Bewertung kreativer Texte Ihrer Ansicht nach möglich/ sinnvoll/ erforderlich? 2. Machen Sie sich mit der vor allem in der Grundschule häufig eingesetzten Form des Elfchens (siehe z. B. Böttcher 1999: 57 ff.) vertraut. Formulieren Sie eine didaktische Begründung für den Einsatz dieser lyrischen Form und reflektieren Sie diese kritisch. Lektüreempfehlungen zur Vertiefung B öttcher , i. (1999) (theoretische Begründung und Darstellung unterschiedlicher Richtungen des kreativen s chreibens ) i ngendahL , W. (1972) (begründet das personaLe s chreiben mit emanzipatorischer Zielsetzung und grenzt sich von der traditionellen Aufsatzdidaktik ab) Praxis Deutsch 119 (1996) (enthält neben dem zitierten Basisartikel von Spinner zahlreiche Unterrichtsvorschläge für das kreative s chreiben ) S ennLauB , g. (1998) (Plädoyer für das freie s chreiben anstelle des traditionellen produktorientierten Aufsatzunterrichts) Tipps für den Unterricht im Kompetenzbereich Schreiben Rechtschreiben - Planen Sie Ihren Rechtschreibunterricht - auch wenn er integrativ angelegt ist - nicht von inhaltlichen Aspekten, sondern von orthographischen Phänomenen ausgehend. - Überlegen Sie sich genau, welche (evtl. verschiedenen) Möglichkeiten zur Erklärung des zu behandelnden Phänomens es gibt, und entscheiden Sie sich erst dann für eine rechtschreibdidaktische Konzeption. - Neben der Anwendung von Strategien und der Automatisierung von Schreibungen sollte auch der Einsatz von Hilfsmitteln (z. B. Wörterbücher, Rechtschreibtools in Textverarbeitungsprogrammen) in Ihrem Unterricht thematisiert werden. <?page no="111"?> Schreiberorientierter Schreibunterricht 111 - Häufig sehen Außenstehende den Sinn von Rechtschreibunterricht in der Vorbereitung auf Diktate oder ähnliche Formen der Leistungsmessung. Zielpunkt Ihres Rechtschreibunterrichts sollte hingegen die Anwendung orthographischer Fähigkeiten bei der Produktion eigener Texte sein - vertreten Sie das auch Schülern und Eltern gegenüber. - Überprüfen Sie die Rechtschreibleistungen Ihrer Schüler nicht (ausschließlich) durch Diktate. Setzen Sie alternative Methoden der Leistungsmessung ein, bei denen die im Unterricht erworbenen Fertigkeiten möglichst direkt angewandt werden können. Texte schreiben - Auch wenn Sie je nach Schreibaufgabe unterschiedliche Akzente setzen, sollten alle oben behandelten Konzeptionen in Ihrem integrativen Schreibunterricht eine Rolle spielen. - Nutzen Sie Möglichkeiten, Schreibaufgaben mit Themen aus anderen Lernbereichen (auch dem Literaturunterricht) und anderen Fächern zu verbinden. - Zur Förderung schriftsprachlicher Fähigkeiten von Schülern mit Deutsch als Zweitsprache ist es wichtig, dass Sie Schriftlichkeit generell einen hohen Stellenwert in Ihrem Unterricht einräumen. Legen Sie dabei besonderes Augenmerk auf lexikalisch und grammatikalisch bildungssprachliche Elemente. - Berücksichtigen Sie bei der Bewertung von Schülertexten produktorientierte Aspekte, indem Sie beispielsweise Kriterienkataloge zugrundelegen, die (möglichst) gemeinsam mit den Schülern erarbeitet wurden. Beziehen Sie aber je nach Schreibaufgabe auch leserorientierte (z. B.: Wird der Text seiner kommunikativen Funktion gerecht? ), prozessorientierte (z. B.: Sind Planungs- und Überarbeitungsprozesse zu erkennen? ) und schreiberorientierte (z. B.: Ist ein Erkenntnisgewinn festzustellen? ) Gesichtspunkte ein. <?page no="112"?> 4. Lesen Kaum ein Bildungssystem einer vergleichbaren Industrienation produziert so viele schwache und sehr schwache Leser wie Deutschland, und kaum irgendwo ist der Zusammenhang zwischen Leseleistung, Schichtzugehörigkeit und formaler Schullaufbahn so eng wie hier. (Rosebrock 2008: 175) Bildungsstandards über Lesefähigkeiten verfügen - über Leseerfahrungen verfügen - Texte erschließen - verschiedene Lesetechniken beherrschen - Strategien zum Leseverstehen kennen und anwenden In diesem Buch wird dem Bereich Lesen - im Folgenden stets verstanden als textverstehendes Lesen (Schmid-Barkow 2013) - ein eigenes größeres Kapitel gewidmet. Damit reagieren wir auf neuere bildungspolitische und fachdidaktische Entwicklungen, die im Folgenden kurz dargestellt werden. Lesen gilt - neben Rechnen und Schreiben - als eine der wichtigsten Kulturtechniken, die auch in der modernen ‚Mediengesellschaft‘ nicht an Bedeutung verloren hat. Vorlesen Für den „normalen Deutschunterricht“ scheint (unausgesprochen) zu gelten: Vorlesen ist zu langsam, hält nur ab von der Informationsentnahme und der Analyse von Texten, ist im besten Fall ästhetische Zutat. Girlande. Verzichtbar. (Beisbart 1993: 169) Den Exkurs Vorlesen verorten wir in den Bereich Lesen - ebenso ließe er sich aber auch in den Kompetenzbereich Sich mit Texten und Medien auseinandersetzen einordnen. Die Handlung des Vorlesens kann dementsprechend mit unterschiedlichen Zielsetzungen verbunden sein (siehe zur Förderung der Lesemotivation durch Vorlesen Belgrad/ Schünemann 2011; eine interessante Beschreibung ihres Projektes zur Leseförderung mit Bilderbüchern zwischen Viertklässlern und Vorschulkindern liefert Stenzel 2013). Das laute Lesen von Texten war bis ins 18. Jahrhundert „nicht eine besondere, einen Anlass erfordernde Tätigkeit, sondern die Form der Textrezeption schlechthin“ (Abraham 2002: 116). Erst danach wurde es immer stärker üblich, still zu lesen. Heute wird das Vorlesen (mit Textvorlage) beziehungsweise Vortragen (zumeist ohne Textvorlage) in der Regel (Ausnahme: das Vorlesen für Kleinkinder) nur noch mit besonderen Anlässen verbunden. Das Vorlesen ist eine Tätigkeit, die in so gut wie allen Lern- und Kompetenzbereichen eine Rolle spielen kann und somit einen Großteil der deutschdidaktischen Konzeptionen berührt (siehe für einen praxisnahen und umfassenden Überblick Baurmann/ Menzel 2006). <?page no="113"?> Lesen 113 Als kommunikative Handlung, die entweder ‚zum Selbstzweck‘ - aus Genussbeziehungsweise ästhetischen Gründen - oder verbunden mit anderen Zielsetzungen durchgeführt werden kann, sollte sie einen hohen Stellenwert in allen Klassenstufen einnehmen. Nach der Grundschulzeit verliert sie jedoch zumeist an Bedeutung. Für Ockel stellt die Handlung des Vorlesens „eine bewußte/ gewollte, die sich in einem kommunikativen Rahmen abspielt“ (2000: 2), dar. Dieser Rahmen ist durch zwei Pole gekennzeichnet: Auf der einen Seite der Vorlesende, auf der anderen der Zuhörende beziehungsweise die Zuhörenden. Dass dabei noch weitere Komponenten eine Rolle spielen, zeigt Birkle (2011: 21 ff.). Neben die beiden oben genannten Pole treten noch der Text, das Hörverstehen selbst, situative Aspekte (z. B. Raumbedingungen) und die Vorlesekommunikation - womit die das Vorlesen begleitende Kommunikation bezeichnet wird. Aus der Perspektive der literarischen Sozialisation kommt das Kind idealerweise schon im frühkindlichen Alter mit Vorlesesituationen in Kontakt. Dass familiäre Leseprozesse basal für die Entwicklung der Kinder sind, ist in der Forschung inzwischen vielfach belegt worden (Wieler 1997). Durch das Vorlesen bekommen Kinder früh rezeptiven Kontakt mit Schriftsprachlichkeit, sie nehmen an der literalen Kultur teil und entwickeln ihre sprachliche Fähigkeiten weiter (Elley 1989). Dabei ist die Vorlesekommunikation ein entscheidender Faktor. In der Schule findet Vorlesen unter institutionellen Bedingungen statt - als Ergänzung zum eigenen, stillen Lesen. Dabei können sowohl der Lehrer als auch die Schüler selbst vorlesen. Populär geworden sind auch sogenannte ‚Vorlesepaten‘, die von außen in die Schule kommen: das können Eltern genauso sein wie Autoren oder Schauspieler. Ziele sind zum Beispiel, den Schülern eine Kultur des Zuhörens zu vermitteln, die Vorlesefähigkeiten der Schüler selbst zu schulen oder ihnen implizites literarisches Lernen zu ermöglichen. Dass auch der Erwerb von Textmusterkenntnis durch das Vorlesen unterstützt wird, bestätigt die Studie von Birkle (2011). Zu all dem kommt die Ermöglichung ästhetischer Erfahrungen durch das Vorlesen: Sinnliche Wahrnehmung ist die Grundlage ästhetischer Erfahrung; das entspricht auch der Etymologie des Begriffs (von gr. aisthesis: Wahrnehmung). Mit unseren Ohren hören wir Musik, mit unseren Augen schauen wir ein Gemälde oder einen Film an und die Kochkunst verwöhnt unseren Gaumen. Bezogen auf Literatur setzen ästhetische Hör-Erfahrungen früh ein, z. B. mit dem Klang und dem Rhythmus von Kinderversen oder der Stimme der vorlesenden Mutter bei der Gutenachtgeschichte. […] Durch Vorlesesituationen können auch in der Schule solche sinnlichen Spracherfahrungen lebendig werden. (Spinner 2008a: 83 f.) Mit einer ästhetischen Sicht auf das Vorlesen hängen auch das sprechkünstlerische Vortragen (siehe zum szenischen Vortragen Spinner 2000c und - unter anderem mit einem Hinweis für einen mehrsprachigkeitsorientierten Deutschunterricht - 2014b) - und die Ausbildung stimmlicher und sprecherischer Fähigkeiten (→ S. 20) zusammen. Ockel rechnet das Vorlesen zu den „Grundfähigkeiten der Textdeutung“ (2000: IX); seine Monographie bietet neben einer Darstellung der historischen Entwicklung und Gegenstandsbestimmung des Vorlesens mannigfaltige Anregungen für den Unterricht (siehe auch die Praxisvorschläge von Menzel 1990; Beisbart 1993; in Bezug auf das Vortragen lyrischer Texte Schmidt 2006). Während das Vorlesen sowohl bei Ockel als auch bei Menzel einen eigenen Stellenwert aufweist, verknüpft Spinner (2014c) es mit dem literarischen U nterrichtsgespräch (→ 5.4), indem er vorschlägt, das Vorlesen explizit durch Gesprächseinlagen zu ‚zerlegen‘. Spinner etabliert damit in der Institution Schule eine Vorlesekommunikation, die ihren Platz zuvörderst in der Familie hat beziehungsweise hatte (aufgrund der sich verändernden sozialen Strukturen in Deutschland) - und der nunmehr eine kompensatorische Funktion zukommt. <?page no="114"?> 114 Lesen Tipps für das Vorlesen in der Grundschule (siehe zur Erläuterung Wildemann 2012b) 1. Wahl der Lektüre 2. das Vorlesen strukturieren 3. die Stimme beim Vorlesen 4. gestaltendes Vorlesen 5. das Vorlesen üben 6. Gesprächsanlässe schaffen 7. Vorleseräume schaffen 8. Vorlesegenuss ermöglichen Um der zentralen Bedeutung des Vorlesens gerecht zu werden, bedarf es aber zunächst einer intensiven sprecherzieherischen Förderung angehender Lehrer, die an Hochschulen immer noch weitgehend ein Schattendasein führt. Vorlesen und Betrachten von Bilderbüchern Die Bilderbuchforschung kann aufzeigen, dass das Vorlesen - in Verbindung mit dem gemeinsamen Betrachten - von Bilderbüchern (→ 194 ff.) einige Lernmöglichkeiten bietet. Becker (2014) stellt die Forschungsergebnisse der letzten Jahrzehnte zusammen und bezieht sie auf das literarische (→ 137 ff.) und sprachliche Lernen; für folgende Bereiche lasse sich lernförderliches Potenzial nachweisen beziehungsweise vermuten: - sprachliche Ebene (phonologisch, morphologisch, syntaktisch, lexikalisch, diskursiv) - literale Ebene (graphisch, graphemisch-funktional, allgemein kognitiv, literale Praktik) - literarische Ebene (poetisch, Textmuster- und Textstrukturen, literarische und textuelle Vorstellungswelt) - psycho-soziale Ebene (Aufmerksamkeits-Triangulation, soziales Verhalten). Die Interaktionsformen bei der Rezeption von Bilderbüchern können sehr unterschiedlich sein, Becker beschreibt auf der Grundlage der Variationsmöglichkeiten ein prototypisches Format (siehe vertiefend ebd.: 165). Trotz der oben erwähnten Forschungsergebnisse wird das Bilderbuch von Lehrern immer noch häufig lediglich als ‚Unterhaltungsmedium‘ denn als ernsthafter Lern- und Bildungsgegenstand wahrgenommen (ebd.: 172; siehe auch Stenzel 2013). Kruse (2014) konnte nachweisen, dass das Vorlesehandeln von Lehrern „dringend verbesserungsbedürftig“ (ebd.: 116) sei. Die in ihrer Studie untersuchten Lehrer vernachlässigten zum Beispiel die Einrichtung eines günstigen Vorlesesettings, ‚zerpflückten‘ die Bilderbücher kleinschrittig und drängten spontane Rezeptionsreaktionen der Grundschulkinder zurück, so dass hier in Bezug auf angestrebte Lernprozesse große Versäumnisse festzustellen seien. Vor diesem Hintergrund fordert Kruse die Literaturdidaktik dazu auf, geeignete Modelle für das Bilderbuchvorlesen zu entwickeln (ebd.: 118; siehe auch Kruse 2013b). In diesem Zusammenhang plädieren wir für eine verstärkte Berücksichtigung digitaler Bilderbücher, da diese „Chancen der Qualitätsverbesserung“ (Muratovic´ 2014: 158) des Vorlesens beinhalten. Die gezielte Förderung unterschiedlicher Dimensionen des Lesens über den Anfangsunterricht hinaus war bis vor kurzem erstaunlicherweise - die einzige Ausnahme bildete die Förderung der ‚Leselust‘ - ein Stiefkind sowohl der Didaktik als auch der schulischen Praxis. Man ging mehr <?page no="115"?> Lesen 115 PISA = Programme for International Student Assessment OECD = Organisation for Economic Co-operation and Development oder weniger stillschweigend von der Annahme aus, dass die vornehmlich kognitiv orientierten Grundoperationen des Lesens (also z. B. die Automatisierung der Leseflüssigkeit oder das Anwenden von Lesestrategien) entweder mit Abschluss der Primarstufe vollständig entwickelt seien oder sich nebenbei, beim zunehmenden Umgang mit literarischen Texten in höheren Jahrgangsstufen, ausbildeten. Zu einem allmählichen Umdenken führte erst der ‚PISA-Schock‘ im Jahre 2001, als die OECD ihre weltweite Studie (Vergleichstest der Leistungen 15-jähriger Schüler) vorstellte: Beinahe jeder vierte getestete deutsche Schüler hatte enorme Schwierigkeiten beim Lesen (und somit beim Textverstehen), sodass Deutschland im Ranking lediglich Platz-22 (von 23! ) einnehmen konnte. Damit wurde offensichtlich, dass die Fachdidaktik und die Schulen in einem katastrophalen Ausmaß einen der wichtigsten Lernbereiche vernachlässigt hatten. Den PISA-Studien liegt folgende Modellierung von Lesekompetenz zu Grunde: Abb. 6: Theoretische Struktur der Lesekompetenz in PISA (nach: Deutsches PISA- Konsortium 2000: 34) Lesekompetenz in diesem Sinne - also vornehmlich orientiert an der sogenannten Reading Literacy - „heißt geschriebene Texte zu verstehen, zu nutzen und über sie zu reflektieren, um eigene Ziele zu erreichen, das eigene Wissen und Potenzial weiterzuentwickeln und am gesellschaftlichen Neben dem Lesekompetenzmodell von PISA gibt es noch weitere psychometrisch orientierte, die für die Deutschdidaktik von Interesse sind: das IGLU- (Internationale Grundschul-Lese-Untersuchung) und das DESI-Modell (Deutsch-Englisch-Schülerleistungen-International). <?page no="116"?> 116 Lesen Leben teilzunehmen“ (Deutsches PISA- Konsortium 2000: 24). Den PISA-Studien liegen auf Grund der Zusammenfassung der fünf Dimensionen (s. o.) schließlich nur noch drei Dimensionen (Informationen ermitteln - textbezogenes Interpretieren - Reflektieren und Bewerten) zu Grunde; jeder einzelnen lassen sich die nebenstehenden Kompetenzstufen zuordnen. Obwohl es kein mit der PISA-Konzeption verbundenes Ziel ist, alle weiteren möglichen - ebenso wichtigen - Dimensionen des Lesens einer Testung zu unterziehen und folglich in erster Linie auf Sachtexte (→-39, →-103, →-125, →-126 f., →- 128, →- 129, →- 131, →- 134 f., →- 143, →- 149 f., →- 161, →- 178, →- 181, →- 246) rekurriert wurde (von den 129- PISA- Aufgaben waren lediglich 17 literarischen Texten gewidmet), reagieren einige Fachdidaktiker mit Recht bis heute äußerst kritisch auf die damit verbundene, häufig unreflektierte Ausweitung der Kompetenzorientierung. Dieser kritische Blick ist überaus wichtig für das Lernen im Deutschunterricht, denn nicht alle Fähigkeiten und Haltungen, die insbesondere im textorientierten Unterricht (Sich mit Texten und Medien auseinandersetzen →- 5) ausgebildet werden (und selbstverständlich auch mit dem Lesen zu tun haben), lassen sich kompetenzorientiert erfassen (→- S.- 133 f.). Darauf muss immer wieder hingewiesen werden, denn vor allem die neuesten schulischen Entwicklungen neigen zur Vernachlässigung dieser Problematik: Das Arbeiten mit sogenannten ‚Kompetenzrastern‘ leistet dieser anscheinend nicht aufzuhaltenden Entwicklung Vorschub. Diese Raster werden zunehmend als ein besonders geeignetes Mittel zur Umsetzung und Operationalisierung der Bildungsstandards angesehen. Hier ist nun kein Raum, um eine Kompetenz(raster)- Debatte weiter (kritisch) zu verfolgen. Für ganz bestimmte Bereiche des Deutschunterrichts erscheinen eine kompetenzorien- Das Institut Beatenberg (institut-beatenberg.ch) hat sich im Jahre 1999 erstmalig mit der Erstellung von Kompetenzrastern (zur grundsätzlichen Kritik siehe zum Beispiel Jeuk/ Schäfer 2013b) beschäftigt. Seitdem haben diese Raster einen ‚Siegeszug‘ durch die Bundesrepublik angetreten. Reading Literacy bezeichnet im angelsächsischen Raum die Fähigkeit, Lesen in unterschiedlichen, für die Lebensbewältigung praktisch bedeutsamen Kontexten einsetzen zu können. Der Bereich der literarischen Bildung wird hiervon nicht erfasst. Stufen der Lesekompetenz I: Oberflächliches Verständnis einfacher Texte II: Herstellen einfacher Verknüpfungen III: Integration von Textelementen und Schlussfolgerungen IV: Detailliertes Verständnis komplexer Texte V: Flexible Nutzung unvertrauter, komplexer Texte (Artelt/ Schneider/ Schiefele 2002: 60 f.) Wenngleich die deutschen Schüler ein wenig aufholen konnten: Bis zur letzten ausgewerteten Erhebung (2009) hat Deutschland keinen signifikanten Unterschied zum OECD-Durchschnitt erreichen können. <?page no="117"?> Lesen 117 tierte Operationalisierung und damit auch der Einsatz von Kompetenzrastern insbesondere vor dem Hintergrund einer individualisierenden Förderung von Schülern jedoch möglich und sinnvoll. Dies gilt in besonderem Maße für einige Teildimensionen des Lesens. Die Fachdidaktik hat auf das oben vorgestellte PISA-Lesekompetenz- Konstrukt reagiert und eigene Modellierungen entwickelt, um das von PISA bewusst Ausgeblendete adäquat auszufüllen (siehe z. B. das sozialisationsspezifische Modell von Hurrelmann 2002). Unter anderem darauf aufbauend haben zuletzt Rosebrock/ Nix (2012) ein didaktisch orientiertes Mehrebenenmodell des Lesens vorgestellt, auf das wir in diesem Kapitel dezidiert eingehen werden. Wir verstehen die Arbeit dieser Autoren als den bisher überzeugendsten Versuch, den Bereich der Leseförderung für die Arbeit an Schulen praxisnah und leicht verständlich zu konzeptionalisieren. Von daher lehnen wir uns auch in systematischer Hinsicht an diese Monographie an. Diese Einleitung beschließend kommen wir auf die von uns vorgenommene Trennung der beiden Lernbeziehungsweise Kompetenzbereiche Lesen und Sich mit Texten und Medien auseinandersetzen zurück. Im Jahre 2003 wurden die ersten Bildungsstandards im Fach Deutsch für den Mittleren Schulabschluss vorgestellt. Im darauffolgenden Jahr erschienen die Bildungsstandards im Fach Deutsch für den Primarbereich und die Bildungsstandards im Fach Deutsch für den Hauptschulabschluss. In diesen älteren Bildungsstandards wurden die beiden oben genannten Bereiche zusammengefasst. Eine möglicherweise pragmatische Entscheidung, die sich jedoch auch inhaltlich begründen lässt, da der Bereich Sich mit Texten und Medien auseinandersetzen naturgemäß stets auch mit Lesen zu tun hat - eine Tatsache, die immer wieder zu größeren Problemen in der Deutschdidaktik führen kann. Bis heute ist eine „Antinomie zwei[er] Kulturen in der Deutschdidaktik: die einer primären Leseförderung und die eines Literaturunterrichts, in dem es vor allem um die analytische Auseinandersetzung mit kanonischen Texten gehen soll“ (Fehr 2007: 45 f.), spürbar. Erst im Jahre 2012, als die Bildungsstandards im Fach Deutsch für die Allgemeine Hochschulreife fertig gestellt waren, erfolgte eine Trennung, womit erstmalig ein prozessbezogener (Lesen) von einem domänenspezifischen Bereich (Sich mit Texten und Medien auseinandersetzen) unterschieden wurde. An diese mitunter künstlich wirkende und dennoch gerade für die unterrichtliche Praxis äußerst sinnvolle Unterscheidung lehnen wir uns an. Der Terminus l eseförderung umfasst alle Maßnahmen, die vornehmlich schwächere Leser auf „den eigentlichen Sach- und Literaturunterricht“ (Rosebrock/ Nix 2012: 48) vorbereiten. In Schulklassen, in Die Bildungsstandards können unter http: / / www.kmk.org/ bildung-schule/ qualitaetssicherung-in-schulen/ bildungsstandards/ dokumente.html heruntergeladen werden. <?page no="118"?> 118 Lesen denen es solche Schüler gibt - dies sind so gut wie alle Klassen an öffentlichen Schulen- - sollten lesefördernde Verfahren anderen konzeptionellen Ansätzen der Deutschdidaktik zumeist vorauslaufen oder begleitend zu ihnen eingesetzt werden. Die unterschiedlichen Ansätze und Programme lassen sich (im Hinblick auf hierarchiehöhere Prozesse, s. u.) zwei unterschiedlichen Ansätzen zuordnen: Zum einen wird auf der Grundlage kognitionspsychologischer Modelle des Textverstehens die Vermittlung und Einübung von Lesestrategien sowie von Strategien der kognitiven und motivationalen Selbstregulation propagiert […]. Zum anderen wird auf der Basis eines sozialisationstheoretisch und lesedidaktisch orientierten Erwerbsmodells von Lesekompetenz allein oder zusätzlich auf Maßnahmen der Leseanimation und zur Förderung des Leseinteresses gesetzt. (Gold 2007: 107) Daneben werden drittens seit einiger Zeit auch - als unmittelbare Folge der ‚Entdeckung‘ der US-amerikanischen Leseförderung - hierarchieniedrige Prozesse (s. u.) gezielt in den Blick genommen und gefördert. Darstellung Bei der l eseförderung handelt es sich nicht um eine engere fachdidaktische Konzeption wie die s zenische i nterpretation (→- 5.5), sondern um eine Vielzahl sehr unterschiedlicher methodischer Vorschläge zur Steigerung der Lesekompetenz, die systematisch von Rosebrock/ Nix aufgearbeitet wurden. Mit ihrem Band ist die Voraussetzung dafür geschaffen, dass der Terminus l eseförderung von Lehrenden nicht mehr vorrangig beziehungsweise ausschließlich als Leseanimation wahrgenommen wird. Rosebrock/ Nix haben in ihrer Darstellung unter anderem auf ein US-amerikanisches Lehrerfortbildungskonzept (Schoenbach et al. 2006) - Reading Apprenticeship - zurückgegriffen, das Gaile ‚entdeckt‘ und in Deutschland bekannt gemacht hat (ebd.). Wir stützen uns bei unserer Übersicht auf Rosebrock/ Nix (siehe allgemein zum Lesen von Texten auch das grundlegende Lehrbuch von Garbe/ Holle/ Jesch 2010). Aufgrund des erstmaligen Systematisierungsversuchs - Leseschwache Schüler Eine besondere Herausforderung für Lehrkräfte stellt die Leseförderung für leseschwache Schüler dar. Zur ersten Orientierung bieten sich drei miteinander verbundene Beiträge von Philipp (2011a, 2011b, 2011c) an, in denen er allgemeine Prinzipien und ‚Gebote‘ der Lese- und Schreibförderung vorstellt und Tipps zur Implementierung von Lesestrategien → S. 123 ff.) gibt. Einen etwas umfangreicheren, ebenso praxisorientierten Überblick zur Gesamtproblematik der Förderung leseschwacher Schüler (mit und ohne Migrationshintergrund) bietet Sigel (2010); in dem Online-Dokument werden neben sinnvollen Hinweisen zur Unterrichts- und Organisationsentwicklung auch zwei lesediagnostische Beobachtungsbögen (Münchner Lese-Beobachtungsbögen) vorgestellt (allgemein zur Diagnostik von Leseleistungen siehe Wildemann 2012a, die auch einige Prüfverfahren für Grundschüler vorstellt, sowie Gailberger/ Nix 2013, die einen umfangreicheren Überblick zur systematischen Leseförderung - in Verbindung mit einer diagnostischen Perspektive - bieten). <?page no="119"?> Lesen 119 verbunden mit einer engen Anknüpfung an ein eigenes Lesemodell (s. u.) - verstehen wir die Arbeit von Rosebrock/ Nix als ein grundlegendes ‚Dach‘ der Leseförderung, der folglich ein übergeordneter konzeptioneller Charakter zuerkannt werden sollte. Die theoretische Grundlage von Rosebrock/ Nix bildet ein Konstrukt von Lesekompetenz, das über den Lesekompetenzbegriff nach PISA hinausgeht. Während PISA sich in erster Linie auf den Prozess der Informationsentnahme und -verarbeitung konzentrierte, hat die Deutschdidaktik in kritischer Abgrenzung davon weit darüber hinausreichende Aspekte mit berücksichtigt (grundlegend Groeben/ Hurrelmann 2002), die beim Lesen eine mindestens ebenso bedeutsame Rolle spielen: soziale und subjektive Dimensionen. Rosebrock/ Nix haben vor diesem Hintergrund ein sogenanntes Mehrebenenmodell des Lesens vorgestellt. Abb. 7: Das Mehrebenenmodell des Lesens (aus Rosebrock/ Nix 2012: 11) Im Zentrum der Kreise (Prozessebene) stehen kognitive Aktivitäten des Lesevorgangs, die in fünf Dimensionen unterschieden werden können (ausführlich Rosebrock/ Nix 2012: 12 ff.). Diese theoretisch voneinander Tipp Sehr gut veranschaulichend erläutert wird das Modell unter http: / / www.leseforum. ch/ sysModules / obxLeseforum/ Artikel/ 480/ 2012_3_Rosebrock.pdf. <?page no="120"?> 120 Lesen abgrenzbaren Aktivitäten laufen nicht nacheinander ab, sondern vollziehen sich gleichzeitig während des Leseprozesses. Kognitionspsychologische Grundlagen der Textverarbeitung Bei der Bedeutungskonstitution von Texten (im Mehrebenenmodell von Rosebrock/ Nix unter ‚Prozessebene‘ gefasst) spielen bestimmte basale kognitive Prozesse eine Rolle (im Folgenden beziehen wir uns auf Christmann/ Schreier 2003): 1. Wortebene Die Verarbeitung von Texten beginnt auf der Wortebene. Es wird heute davon ausgegangen, dass sowohl Buchstaben als auch Wörter im Gehirn gespeichert werden. Beim Lesen wird dann entweder auf den gespeicherten Buchstaben oder auf das Wort zurückgegriffen. Wörter werden allerdings nicht in isolierter Form, sondern innerhalb eines sprachlichen Kontextes ‚abgelegt‘ - dies erleichtert dem Leser anschließend den kognitiven Zugriff. 2. Satzebene Um im Verstehen eines Textes voranzuschreiten, müssen die Wortfolgen aufeinander bezogen und strukturiert werden. Nach herrschender Meinung kann man davon ausgehen, dass der hauptsächliche Zugriff auf der Grundlage semantischer (Semantik = Lehre von der Bedeutung der Zeichen) Relationen zu Stande kommt. Mitunter muss die semantische Analyse durch den Leser allerdings durch eine syntaktische (Syntax = Satzlehre) ergänzt werden: Der Leser kann mit Hilfe seines syntaktischen Wissens bestimmte Vorhersagen treffen beziehungsweise Zuordnungen vornehmen (z. B., dass das Subjekt zumeist am Anfang, das Prädikat in der Mitte und das Objekt am Ende eines Satzes stehen). Dies kann ihm dabei helfen, rasch Bedeutungen zu konstituieren. 3. Textebene Schließlich muss der Leser Verknüpfungen zwischen den Sätzen herstellen. An der Bildung dieser lokalen Kohärenz sind sowohl Hinweise (zum Beispiel durch Wortwiederholungen oder durch die Verwendung von Pronomina) aus dem Text als auch das Vor- und Weltwissen des Lesers beteiligt. Bei längeren und komplexeren Texten bildet sich während des Leseaktes nach und nach eine Makrostruktur (= Verdichtung von Mikropropositionen) aus. An der aktiven Bedeutungskonstitution sind darüber hinaus noch weitere, sehr komplexe - insbesondere schlussfolgernde (= elaborative Inferenzen) - Prozesse beteiligt (zur Vertiefung siehe ebd.: 255 ff.). Auf der Subjektebene spielen neben dem Aspekt des Antriebs/ der Motivation folgende Komponenten eine bedeutsame Rolle: Weltwissen, Reflexion und innere Beteiligung. Das lesebezogene Selbstkonzept ist für didaktische Überlegungen der möglicherweise problematischste Ansatzpunkt: Es ist häufig so verfestigt, dass es mit den Mitteln, die der heutigen Schule zur Verfügung stehen, nicht immer aufgebrochen wer- <?page no="121"?> Lautlese-Verfahren 121 den kann, sodass folglich trotz aller Bemühungen lesefördernde Maßnahmen in der Schule ins Leere laufen können. Der Austausch über Gelesenes umfasst die soziale Ebene. Rosebrock/ Nix stellen fest: „Man könnte die gesamte Schule mit ihrem Fächerkanon als eine Institution beschreiben, die gesellschaftlich eingerichtet wurde, um kompetente Anschlusskommunikationen an Texte sicherzustellen“ (ebd.: 19). Vor diesem Hintergrund ließe sich zum Beispiel die literaturdidaktische Konzeption Das Heidelberger Modell (→-5.4) auch unter das große ‚Dach‘ l eseförderung subsumieren. Obwohl gute Gründe dafür sprechen, plädieren wir für eine Sonderstellung, da Das Heidelberger Modell eindeutig auch andere und weitergehende Ansprüche aufweist, die über eine Lesedidaktik im engeren Sinne hinausgehen. Ähnlich verhält es sich auch mit dem handlungs - und produktionsorientierten l iteratu runterricht (→- 5.2), der mitunter als lesefördernde Konzeption angesehen wird (Lührs 2007). Das Mehrebenenmodell des Lesens bildet den Ausgangs- und Zielpunkt- der lesedidaktischen Verfahren, die im Folgenden aufgeführt werden. 4.1 Lautlese-Verfahren Diese Verfahren streben an, die Leseflüssigkeit von Schülern zu verbessern. Reading fluency wird in der angelsächsischen Leseforschung als eigenständige Komponente von Lesekompetenz beschrieben. Sie lässt sich in vier Dimensionen differenzieren: das genaue Dekodieren von Wörtern, die Automatisierung der Dekodierprozesse, eine angemessene Lesegeschwindigkeit und die Fähigkeit zur sinngemäßen Betonung beim Vorlesen. Diese Verfahren sind in erster Linie für diejenigen Schüler geeignet, „die auf der hierarchieniedrigen Prozessebene Probleme mit dem Lesen haben und deren Leseflüssigkeit nur mangelhaft ausgebildet ist“ (Rosebrock/ Nix 2012: 29). Problematisch ist, dass diese Verfahren, deren variantenreiche Vielfalt nicht mehr zu überblicken ist (ebd.: - 37, mit weiteren Literaturhinweisen), in deutschen Schulen noch sehr wenig bekannt Zur Effektivität des Leseunterrichts Philipp (2013) hat untersucht, welche Förderansätze (auch für den Schreibunterricht) sich in Einzelstudien als effektiv erwiesen haben. Folgende Trends kann er aufzeigen (siehe ebd.: 157 ff.; im Folgenden nur exemplarisch): Besonders effektiv sei: - die Vermittlung von Lesestrategien - kooperative Lernformen (→ S. 27 ff.) - der Einsatz des Computers - die Auswahl motivierender Texte - die Partnerarbeit und die Arbeit in Kleingruppen - eine ‚explizite Vermittlung‘ (z. B. das Aufzeigen des Stundenziels oder das Erteilen systematischer Rückmeldungen). Varianten der Wiederholung - aus einem Lieblingsbuch vorlesen - Gestaltung einer ‚Radiosendung‘ - Erstellung eines Hörbuchs - jüngeren Schülern einen Text vorlesen - ein Lesetheater aufführen <?page no="122"?> 122 Lesen sind - sie dürfen nicht in Zusammenhang gebracht werden mit dem hierzulande immer noch weit verbreiteten ‚Reihumlesen‘, bei dem schlecht lesende Schüler ihren Mitschülern einen zumeist unbekannten Text vorlesen. Die Verfahren sind gekennzeichnet durch zwei Grundformen. Erstens gibt es das wiederholte Lautlesen, das schon in den 1970er Jahren entwickelt wurde. Zumeist müssen die Schüler hierbei einem Tutor einen kürzeren Text so oft vorlesen, bis sie einen bestimmten Wert an gelesenen Wörtern (pro Minute) erreicht haben. Die zweite Grundform ist das begleitende Lautlesen, bei dem es weniger auf das Moment der Wiederholung ankommt, sondern stärker von der positiven Auswirkung eines Lesemodells ausgegangen wird. Zuletzt hat Gailberger (2013) nachweisen können, dass das ‚Hörbuchlesen‘ anderen Leseförderverfahren insbesondere in Bezug auf Lesegeschwindigkeit, Lesefreude und Lesegenuss überlegen ist. 4.2 Viellese-Verfahren Bei diesen Verfahren geht es darum, dass Schülern entweder in der Schule freie Lesezeiten zuerkannt werden oder sie ein bestimmtes Pensum an Lesestoff in der Freizeit ‚abarbeiten‘ müssen. Es wird davon ausgegangen, dass durch die Lesemenge quasi beiläufig auch die Lesekompetenz gesteigert wird. Weil die empirische Forschungslage hierzu widersprüchlich ist und der Einsatz dieser Verfahren bei schwachen Lesern sogar keinerlei Kompetenzsteigerung bewirkt, sollte man Viellese-Verfahren nur äußerst kritisch-reflektiert und gezielt in den regulären Deutschunterricht integrieren. Der mit Eigenständigkeit und Eigenverantwortlichkeit verbundene Zugriff auf hierarchiehöhere (kognitive) Leseleistungen kann ungewollt die schwächeren Schüler aus dem Blickfeld verlieren; erwiesen ist lediglich, dass diese Verfahren die sowieso schon guten Leser noch weiter fördern. Viellese-Verfahren Sustained Silent Reading Dreibis viermal pro Woche erhalten die Schüler freie Lesezeiten (etwa 20 Minuten), in denen sie ihre Lektüre (Sach- und literarische Texte) frei wählen können; es gibt bewusst keine Aufgaben zu den Texten. Varianten der Begleitung - Lesepaare/ Partnerlesen (Texte werden von einem guten und einem schlechten Leser gemeinsam chorisch halblaut gelesen) - Hören eines Hörbuches und dazu begleitendes Lesen des Textes - Lautlese-Tandems (eine Weiterentwicklung des Verfahrens ‚Lesepaare‘: Einbindung in eine Rahmenhandlung mit sportlichem Charakter; Verknüpfung mit dem wiederholten Lautlesen; siehe hierzu vertiefend die praxisorientierten Beiträge von Nix 2012 und Zimmermann 2014) <?page no="123"?> Lesestrategien einüben 123 Leseolympiade Das schulische Lesen soll folgende Aspekte aufweisen: zum Lesen verlocken - zum Lesen veranlassen - an das Lesen gewöhnen (Bamberger 2000: 294 f.). Der Schwerpunkt liegt auf der Gewöhnung an das Lesen: Die Schüler erhalten einen Leserpass (Kopiervorlage in Bamberger 2000: 447 f.) und tragen darin die Bücher ein, die sie gelesen haben; die Lehrkraft überprüft in regelmäßigen Abständen das Leseverstehen und die -geschwindigkeit (Kopiervorlage in Bamberger 2000: 446). Kilometer-Lesen Hierbei handelt es sich um eine Verknüpfung der beiden genannten Verfahren (Rosebrock/ Nix 2012: 57). Meine LeseZeit Dube (2014) hat mit Meine LeseZeit ein Viellese-Projekt vorgestellt, das aus folgenden Bausteinen besteht: - individuelle habitualisierte Leseerfahrungen (die Schüler können aus einem großen Angebot von Texten selbständig auswählen; ein Training kognitiver Teilfähigkeiten ist beinhaltet) - kulturelle Kontextualisierung (außerschulische Lernorte werden stark einbezogen) - soziokulturelle Interaktionen (Einbindung unterschiedlicher Anschlusskommunikationen) Die ‚Neuerung‘ soll nicht in den einzelnen Bausteinen selbst - diese finden sich in vielen anderen Lesefördermaßnahmen -, sondern in der Verknüpfung derselben bestehen. Unseres Erachtens zeichnet sich jeder ‚gute‘ Deutschunterricht durch eine Berücksichtigung (und Verknüpfung) derartiger Bausteine aus, so dass dieses Projekt insgesamt - und die von Dube selbst durchgeführte Projektevaluation bestätigt dies - keine in didaktischer Hinsicht innovative Kraft entfalten kann. Dennoch ist es insbesondere für Berufsanfänger sinnvoll, sich zum Beispiel anhand der Monographie von Dube verschiedene Möglichkeiten der Verknüpfung von Lesefördermaßnahmen zu vergegenwärtigen, um letztlich eigene projektorientierte Anstrengungen ausgestalten zu können. 4.3 Lesestrategien einüben Die Ergebnisse der PISA- und der DESI-Studien zeigen deutlich, dass ein Großteil der Schüler in Deutschland in technischer Hinsicht zwar anscheinend gut lesen kann, aber ausgeprägte Schwierigkeiten beim Verstehen von Texten hat. Untersuchungen mit kompetenten Lesern haben ergeben, dass diese sich aktiv vor, während und nach der Lektüre mit einem Text auseinandersetzen und dabei (unbewusst) bestimmte Lesestrategien anwenden (siehe hierzu auch den immer noch für die unterrichtliche Praxis wertvollen Artikel von Willenberg 2004). Diese lassen sich wie folgt unterscheiden: <?page no="124"?> 124 Lesen SQ3R/ PQ4R reziprokes Lehren TRAIL - vor der Lektüre Gute Leser aktivieren schon vor dem Lesen ihr Vorwissen und können in Folge zum Beispiel eine bestimmte Erwartungshaltung aufbauen („Was weiß ich schon zu diesem Thema? “). - während und/ oder nach der Lektüre Die hier auftretenden Lesestrategien lassen sich in ordnende (z. B.: wichtige Textstellen unterstreichen), elaborierende (z. B.: Absätze in eigenen Worten wiedergeben) und wiederholende (z. B.: bestimmte Textstellen laut vorlesen) Strategien aufgliedern. Derzeit gibt es mehrere Lesestrategieprogramme, die sich im Kern jedoch sehr ähneln (siehe auch die differenzierteren Übersichten von Lenhard 2009 und Philipp 2012b): Die schon ältere, recht bekannte SQ3R-Methode (Robinson 1948/ 1970) weist fünf Techniken auf: Survey (Text überfliegen), Question (Fragen an den Text stellen), Read (lesen), Recite (Wiedergabe des Inhalts) und Review (Wiederholung der ersten vier Schritte). Später wurde die Methode modifiziert (PQ4R: Thomas/ Robinson 1972): Preview (Text überfliegen), Question (Fragen zu jedem Abschnitt vorher formulieren), Read (lesen und Fragen beantworten), Reflect (nachdenken; Beispiele finden; Bezug zur eigenen Lebenswelt), Recite (s. o.), Review (s. o.). Palincsar/ Brown (1984) konzipierten in Amerika eine spezielle Interventionsmethode (Reciprocal teaching), um das Leseverstehen in speziellen Fördergruppen zu trainieren. In diesem Programm geht es um vier Lesestrategien: Zusammenfassen eines Textabschnitts - Fragen zum Abschnitt stellen - Klären von Wortbedeutungen/ Textstellen - Vorhersagen treffen (in Bezug auf den nächsten Abschnitt). Bedeutsam ist, dass das Arbeiten mit diesem Programm immer stärker in die Verantwortung der Schüler (Kleingruppen) selbst gelegt wird: Jeder Schüler schlüpft auch immer wieder in die Rolle eines Moderators, der das ‚Textverstehensteam‘ anleitet - daher rührt die Bezeichnung ‚reziprok‘. Die Einführung dieses Programms ist sehr zeitaufwändig und es sollten unbedingt bestimmte methodische Aspekte beachtet werden (ausführlich Rosebrock/ Nix 2012: 67 f.). Einen hervorragenden Einblick (nebst direkt einsetzbaren Unterrichtsmaterialien) in dieses bisher am stärksten evaluierte und nachweislich erfolgreiche Programm bietet Pangh (2009). Dem reziproken Lehren ähnlich ist das Förderprogramm TRAIL (Training Reading And Improving Literacy = „Das Lesen trainieren und sich Strategien sequenzieren, entschleunigen und entlasten damit den Lese- und Schreibprozess. (Philipp 2013: 40) Philipp (2012b: 53 ff.) plädiert auf der Basis von Metaanalysen zu zahlreichen Interventionsstudien nachdrücklich dafür, Lesestrategien in der Primar- und Sekundarstufe verstärkt beobachten, diskutieren, lernen und anwenden zu lassen. <?page no="125"?> Lesestrategien einüben 125 darin verbessern“) von Philipp et al. (2014). Neben der Fokussierung auf Lesestrategien berücksichtigt das Programm auch die Lesemotivation und basale Leseprozesse (hier: Leseflüssigkeit). Die Schüler durchlaufen drei ‚Aktivitäten‘, die auch in anderen Ansätzen immer wieder eine Rolle spielen - 1. Lautlesen (→- S.- 121 f.) und Nacherzählen, 2. Absätze zusammenfassen, 3. Inhalte vorhersagen--; sie finden sich in Tandems (→-S.-122) zusammen, bei denen der ‚bessere‘ Partner als ‚Vorkletterer‘ und der ‚schwächere‘ als ‚Nachkletterer‘ bezeichnet wird. Daneben gibt es noch den ‚Sicherer‘, der die Durchführung der Arbeit als ausgelagerte Kontrollinstanz überwacht (diese Rolle übernehmen die ‚Kletterer‘ im Wechsel). Obwohl auch dieses vier- (Implementierungsphase) beziehungsweise zwölfwöchige (Durchführungsphase) Programm recht komplex ist, bietet es eine Vielzahl sofort einsetzbarer, praxistauglicher Materialien. Daneben existieren noch viele weitere Varianten: zum Beispiel Textdetektive (Gold 2007) oder das Lesetraining (Bertschi-Kaufmann et al. 2007). Während die bisher genannten Ansätze und Programme sich in erster Linie auf Sachtexte beziehen (lassen) - und unseres Erachtens auch vornehmlich für diese Art von Texten geeignet sind -, stellen Lesestrategien, die explizit für literarische Texte entwickelt worden sind, noch eine Ausnahme dar. Leubner/ Saupe (2014) sind der Frage nachgegangen, „welche ‚Werkzeuge‘ für die Bildung von Deutungshypothesen und für die Erschließung von Handlungen geeignet sind“ (ebd.: Klappentext) und haben diese im Rahmen einer größeren empirischen Studie diskutiert (siehe mit ähnlicher Intention auch schon Schöffl 2005). Für die unterrichtliche Praxis bieten sie folgende Schritte der Texterschließung an (siehe in zusammengefasster Form Leubner 2013): Strategiesets Leubner/ Saupe schlagen für die Erschließung literarischer Texte (Prosa) folgende Bausteine (und Strategiesets) vor (siehe ebd.: 313 ff.): Baustein 1: Strategieset für die Hypothesenbildung 1. Wie gefällt dir die Erzählung? Warum gefällt sie dir/ gefällt sie dir nicht? 2. Worum (= um welches Thema) geht es in der Erzählung? Formuliere das Thema nach Möglichkeit in einem Satz. Alternativ: Um welches Problem geht es in der Erzählung vor allem? Formuliere das Problem in knapper Form. 3. Was könnte uns die Erzählung sagen (z. B. über Menschen und ihr Verhalten)? Lesestrategien werden vor allem für das Verstehen von Sachtexten vermittelt; sie stellen aber auch eine Grundlage für den Umgang mit literarischen Texten dar. (Spinner 2007: 19) <?page no="126"?> 126 Lesen Baustein 2: Untersuchung von Handlungen (die beiden folgenden Sets werden hier zum Teil nur stark verkürzt oder sinngemäß wiedergegeben) Strategieset ‚Komplikation und Auflösung‘ 1. Welche der Figuren in der Erzählung ist in einer besonders schwierigen Lage? 2. Benenne diese schwierige Lage. 3. Welche Gründe sind dafür entscheidend, dass die schwierige Lage für die Figur entstehen konnte? 4. Entscheide, wie die schwierige Lage aufgelöst wird. 5. Aus welchen Gründen kommt die Auflösung der schwierigen Lage zustande? 6. Überlege und schreibe auf, was uns die Erzählung sagen könnte. Strategieset ‚Textnahes Lesen‘ ( → S. 162 ff. ) 1. Lies die Erzählung langsam und gründlich. Achte auf Aspekte der Handlung, die dir besonders wichtig/ interessant erscheinen. Markiere die entsprechenden Textstellen oder mache dir Notizen zum Text. 2. Ergänze die markierten Textstellen/ Notizen durch Fragen oder Vermutungen zur Handlung. 3. Bringe die markierten Textstellen etc. in eine sinnvolle Ordnung. 4. Betrachte deine Lösungen. Überlege, was uns die Erzählung sagen könnte. 4.4 Sachtextlektüre unterstützen Sowohl in der Fachwissenschaft als auch in der Fachdidaktik trifft man häufig auf eine klare Unterscheidung zwischen ‚Sachtexten‘ auf der einen und ‚literarischen Texten‘ auf der anderen Seite. Obwohl diese scheinbare Trennbarkeit immer stärker in Zweifel gezogen wird (→- S.- 134), lässt sich bei vielen Texten zumindest eine deutliche Tendenz erkennen: Wenn die Texte den Leser in erster Linie zum Beispiel informieren (oder instruieren), werden sie zu einem Großteil als ‚pragmatisch‘ gelten können. In aller Regel werden sie dann auch nicht mehrdeutig beziehungsweise mehrfachkodiert sein. So würde man etwa bei einer naturwissenschaftlich orientierten Beschreibung einer Geburt nicht von einem literarischen Text sprechen. Diese Zuordnungsversuche sind höchst problematisch und es wird in Einzelfällen immer auch ‚Mischtypen‘ geben. Im Folgenden gehen wir jedoch der Einfachheit halber vom Einsatz ‚reiner‘ Sachtexte im Deutschunterricht - oder auch in anderen ‚Sachfächern‘ - aus. Für eine dringend erforderliche sachtextspezifische Lesedidaktik sind die jeweiligen Fachlehrer „nicht […] ausgebildet und erachten das häufig auch nicht als ihre Aufgabe“ (Rosebrock/ Nix 2012: 76). Um derartige Texte verstehen zu können, ist zum einen das Anknüpfen an <?page no="127"?> Sachtextlektüre unterstützen 127 Vorwissen erforderlich, zum anderen benötigt der (schwächere) Schüler Unterstützung bei der Verarbeitung von Textstrukturen. Dies gilt insbesondere für Schüler mit Deutsch als Zweitsprache: „Typischerweise liest der zweitsprachige Leser langsamer. Seine Leseflüssigkeit ist gegenüber dem L1-Lesen verringert und seine Lesezeitspanne ist kürzer. Ursache dafür sind eingeschränkte Wortschatzkenntnisse und/ oder mangelnde Automatisierung von Grundfertigkeiten“ (Ehlers 2010: 220). Kuchenreuther/ Michalak (2008) zufolge wirken sich diese Verständnisbarrieren beim Lesen von Sachtexten in besonderer Weise aus, unter anderem weil diese auf der Wort-, Satz- und Textebene Elemente der Bildungssprache enthalten, die spezielle Anforderungen an die Lesekompetenz des Schülers stellen. Die oben aufgezeigten Strategietrainings können methodisch eingesetzt werden, wenn die Lehrkraft genau darauf achtet, ob das jeweilige Verfahren wirklich sinnvoll (also passend zum Text) ist. Sehr häufig lässt sich nämlich beobachten, dass Schüler zunächst ‚die wichtigsten Textstellen unterstreichen‘ sollen - dieses Verfahren muss bei unbekannten, fachlich hochkomplexen Texten jedoch scheitern, da die meisten Schüler auf Grund des mangelnden Vorwissens einfach nicht in der Lage sind, Wichtiges von (scheinbar) Unwichtigem zu unterscheiden. Auch die oben knapp angerissenen Lautlese-Verfahren können hilfreich sein, das Lesen von Sachtexten zu unterstützen. Besonders sinnvoll und erfolgreich sollen jedoch Verfahren sein, die zielgenau die Strukturen von Texten veranschaulichen. Rosebrock/ Nix verweisen insbesondere auf das CORE-Modell des Amerikaners Dymock (Rosebrock/ Nix 2012: 86), der den Verstehensvorgang der Schüler in Bezug auf das Nachvollziehen von Textstrukturen mit Hilfe einfacher Grafiken, die zum Beispiel gemeinsam mit den Schülern an der Tafel erarbeitet werden, unterstützt. Weitere sinnvolle Vorschläge für die Praxis finden sich bei Baurmann (2009) und bei Hiller (2010), der Effekte seiner werkstattorientierten Vorgehensweise empirisch untersucht hat: Unter anderem „die Auseinandersetzung mit den wichtigen Begriffen eines Texts in den Gruppendiskussionen […] und […] die Arbeit mit dem Werkstattheft“ (ebd.: 325) führten zu einer Steigerung der Lesekompetenz bei Achtklässlern (Hauptschule, Realschule und Gymnasium). Ähnlich wie Dymock verweist auch Philipp (2012b) auf den Einsatz von Schaubildern. Er hat ein (nachweislich wirksames) ‚Strategiebündel‘ - Lese- und Schreibstrategiefördermaßnahmen - vorgestellt, das insbesondere für die Risikogruppe ‚schriftschwache Heranwachsende‘ ein geeignetes Instrumentarium für den Umgang mit Sachtexten im Fachunterricht sein soll; die Maßnahmen lauten Textinhalte generieren und strukturieren, Texte überprüfen lassen, Textinhalte grafisch organisieren, Texte zusammenfassen. <?page no="128"?> 128 Lesen kulturelle Teilhabe 4.5 Leseanimation Verfahren der Leseanimation werden auch heute noch häufig - fälschlicherweise - mit dem Terminus l eseförderung gleichgesetzt (Rosebrock/ Nix 2012: 92). Es handelt sich bei diesen Verfahren um alle Bestrebungen, die Kinder und Jugendliche zum Lesen ‚verlocken‘ sollen, um ihnen eine kulturelle Teilhabe zu ermöglichen (grundlegend Hurrelmann 1994; Hurrelmann/ Elias 2005). Derzeit wird davon ausgegangen, dass diese Verfahren in erster Linie für diejenigen Leser geeignet sind, die zwar in ‚technischer‘ Hinsicht - also auf der Prozessebene - keine Probleme mehr aufweisen, jedoch wenig lesemotiviert sind, sodass sich noch keine gefestigte Lesepraxis etablieren konnte. Leseschwache Schüler sind in der Regel durch diese Verfahren überfordert, können jedoch vermutlich indirekt davon profitieren (Rosebrock/ Nix 2012: 99). Erst allmählich kristallisiert sich heraus, dass peers offenbar - seit langem vermutet - äußerst bedeutsam für die Lesemotivation sein können. Auf den Ergebnissen von Philipp (2008) aufbauend hat Kleer (2014) ein vielversprechendes lesedidaktisches Konzept entwickelt und positiv evaluiert: Lesefriends Dieser Ansatz zeichnet sich dadurch aus, dass die Schüler sich zu selbstgewählten Teams zusammenfinden. Diese treffen sich im Rahmen des Deutschunterrichts wöchentlich zu festgelegten Zeiten, lesen gemeinsam selbstgewählte Bücher und sprechen anschließend darüber ( → S. 169 ff. ): Die regelmäßig praktizierte, schulische literarische Geselligkeit soll einerseits die Lesegewohnheiten begeisterter Vielleser stabilisieren bzw. durch den innovativen Teamkontext bereichern, andererseits aber auch die bereits im Alter von zehn Jahren schwindende Lesepraxis bzw. ablehnende Lesehaltung durchaus auch im gymnasialen Bereich vorhandener Wenigleser konterkarieren. (Kleer 2014: 111) Während Kinder- und Jugendliteratur durchweg als leseanimierend betrachtet wird, stellt der entsprechende Einsatz von Sachtexten eine Seltenheit dar. Da Leseförderung jedoch immer auch unter gendersensitiven Gesichtspunkten betrachtet werden muss, ist es unabdingbar, einen Teil (nicht nur) der Jungen auch durch das Heranziehen geeigneter Sachtexte zum Lesen zu motivieren (Baurmann/ Müller 2005). Orte der Leseanimation Deutschunterricht (z. B.: Einrichtung einer Klassenbibliothek; Erstellung eines Lesetagebuchs, Bertschi-Kaufmann 2010; computervermittelt: losleser.de u. antolin.de; in Verbindung mit Aspekten des literarischen Lernens - → S. 137 ff. -- Kruse 2013a) Schulöffentlichkeit (z. B.: Gründung eines Leseclubs, Projekttage zum Lesen) außerschulisch (z. B.: Zusammenarbeit mit Bibliotheken, Besichtigung von Buchmessen) <?page no="129"?> Literarisches Lesen unterstützen 129 Ebenso noch zu wenig berücksichtigt wird in der Schule das Heranziehen von Bilderbüchern (→- S. 112, →- S. 114, →- S. 194 ff.). Eine sehr interessante Möglichkeit für Schüler am Ende der Grundschulzeit stellt Stenzel (2013) dar: Zweit-, Dritt- und Viertklässler lesen sowohl Vorschulkindern als auch sich selbst gegenseitig Bilderbücher vor. 4.6 Literarisches Lesen unterstützen Der Bereich der Förderung des literarischen Lesens ist ein sehr spezieller, da hier die oben angesprochene Unterschiedlichkeit zwischen literarischen und Sachtexten eine wichtige Rolle spielt und somit das mitunter als heikel betrachtete Verhältnis zwischen Lese- und Literaturdidaktik berührt wird. Literarische Texte sind mehrdeutig, sodass sich insbesondere ihre Verstehensanforderungen auf der hierarchiehöchsten Ebene des Leseprozesses (Darstellungsstrategien identifizieren) eklatant von denjenigen, die sich auf Sachtexte beziehen, unterscheiden. Die Reflexion über die unterschiedlichen Deutungsversuche der Schüler übersteigt die Zuständigkeit der Lesedidaktik, sodass hierfür auf andere Konzeptionen (→- 5) zurückgegriffen werden muss. Deutlich wird dies zum Beispiel beim sogenannten Hattinger Modell (Wrobel 2008) - ein individualisierender Leseförderansatz speziell für heterogene Lerngruppen in der nicht-gymnasialen Sekundarstufe I -, bei dem mehrere deutschdidaktische Konzeptionen (und Kompetenzbereiche) berücksichtigt werden. Problematisch ist jedoch, dass viele Lehrkräfte hierarchieniedrigen Teilprozessen des Lesens wenig bis keine Aufmerksamkeit schenken. Der Unterricht sollte „mit solchen Aufgaben zum Textverstehen beginnen, die dazu führen, dass alle Schüler(innen) zunächst die globalen Textzusammenhänge eigenständig möglichst umfassend konstruiert haben, zum Ausdruck bringen und ggf. weiter differenzieren“ (Rosebrock/ Nix 2012: 124). Hierfür könne durchaus auch auf die oben angeführten l esestrategien zurückgegriffen werden (ebd.: 122); die Autoren weisen jedoch explizit darauf hin, dass auch die Verfahren des handlungs - und Systemisches Lesen Einige Literaturdidaktiker tun sich - zu Recht - schwer mit Modellierungen des Lesens, die in erster Linie einen dekodierenden Charakter aufweisen. Lösener (2006) zum Beispiel plädiert vehement immer wieder für die Berücksichtigung und Förderung von Leseprozessen, die sich davon abgrenzen lassen. In einer seiner Monographien (ebd.) skizziert und modelliert er das von ihm sogenannte systemische Lesen. Hierbei handele es sich um ein „Lesen als Fortsetzung des Hörens“ (ebd.: 17), das „auf die Bewegung des Sprechens im Geschriebenen hört“ (ebd.) - ein anspruchsvoller, leider bisher noch kaum von der Didaktik berücksichtigter Ansatz, der es verdient, in der unterrichtlichen Praxis endlich seinen Niederschlag zu finden. In einem Beitrag aus dem Jahre 2009 schlägt Lösener sogar vor, das ‚hörende Lesen‘ als Alternative zur traditionellen Form-Inhalt-Interpretation von Gedichten (→ S. 185 ff.) zu etablieren. Eine interessante Spielart eines Lesens, das sich zwischen ‚laut‘ und ‚leise‘ bewegt, ist das sogenannte ‚Flüsterlesen‘ (Lösener/ Rathmer 2012), das ein genaueres Verstehen schwieriger Texte ermöglichen soll. <?page no="130"?> 130 Lesen produktionsorientierten l iteraturunterrichts dafür geeignet sein können. Indem die Schüler beispielsweise ein Gespräch mit einer der literarischen Figuren imaginieren oder eine Fortsetzung einer Geschichte produzieren, verbleiben sie gewissermaßen auf derjenigen Verstehensebene, die den Lesevorgang selbst dominiert hat, nämlich auf der des mentalen Sich-Bewegens innerhalb der Ereignisse und Horizonte des Textes. (Ebd.: 124; siehe hierzu auch Beisbart/ Bismarck 2013: 357) Schließlich sei noch darauf hingewiesen, dass der Literaturunterricht schon immer etwa durch die Herausarbeitung von textsortenspezifischen Merkmalen (in der Grundschule sehr verbreitet beim Thema Märchen, siehe hierzu vertiefend Rosebrock/ Wirthwein 2014: 49 ff.; zu einem konkreten Aufgabenbeispiel zum Umgang mit Märchen - in 8.-10.- Klassen - Rosebrock 2014a; siehe auch Wuwer 2012, der die Möglichkeit aufzeigt, eine strukturalistische Märchenanalyse - →- Kap.- 5.1- - an einem Computerspiel - →- S.- 203 f. - vorzunehmen) aus lesedidaktischer Perspektive die Einsicht in Superstrukturen unterstützt hat (Rosebrock/ Nix 2012: 122). Problematisierung Insgesamt betrachtet sollte es vor dem Hintergrund der katastrophalen PISA-Ergebnisse heute keine grundsätzlichen Einwände mehr gegen lesefördernde Maßnahmen geben (siehe auch Kruse 2008: 184). Die bis vor einigen Jahren zu vernehmende allgemeine Kritik bezog sich vornehmlich auf den Bereich der - mitunter von Schulen recht unreflektiert ausgeübten - Leseanimation, da andere Verfahren in Deutschland nahezu unbekannt waren und erst seit PISA vor allem die ‚Strategieorientierung‘ an Bedeutung gewonnen hat. Eine Ausnahme bildete das eher in den Bereich des Umgang mit literarischen Texten zu verortende t extnahe l esen ( und s chreiben ) (→- 5.3), das auf Grund seiner (vermeintlich) ‚strengen‘ Ausrichtung im Verdacht stand, lediglich gymnasial orientiert und ‚lustfeindlich‘ zu sein. Pangh weist (im Zusammenhang mit dem Reciprocal teaching) richtigerweise darauf hin, dass gerade in Deutschland sozialisierte Lehrkräfte Probleme mit einer frontalen, ‚strenger‘ geführten Ausrichtung ihres Unterrichts aufwiesen, da sie in ihrer Ausbildung gelernt hätten, genau dies zu vermeiden (2009: 17). Die noch bis zum Jahre 2007 vorherrschenden Projekte, die sich in ihrer engen Ausrichtung auf Lesemotivation und -kultur als leseförderlich verstanden, wurden in einer spezifischen Expertise stark kritisiert: unter anderem sei bis dato viel zu wenig das Erlernen von l esestra tegien beachtet worden (Bundesministerium für Bildung und For- <?page no="131"?> Literarisches Lesen unterstützen 131 schung 2007). Die von den PISA-Forschern angemahnte Neuausrichtung der Leseförderung hat sowohl in der Deutschdidaktik als auch in den Schulen selbst zu einem Umdenken geführt. Als negativ zu bewerten ist jedoch, dass insbesondere der gesellschaftliche Druck auf Schulen derart angestiegen ist, dass ein Großteil der Lehrer nunmehr seinen Hauptaugenmerk auf die ‚neuen‘ Formen der Leseförderung legt, nicht selten in Folge literarische Texte wie Sachtexte bearbeiten lässt und damit viele andere ebenso wichtige Bereiche und Zielsetzungen des Deutschunterrichts letztlich ‚unter den Tisch fallen‘. Ganz besonders gilt dies unserer Beobachtung nach für den Bereich der sinnlichen Erfahrungen beim Umgang mit literarischen Texten. Spinner hat diesbezüglich für den Bereich des Lesens noch einmal deutlich auf bestimmte Erfordernisse hingewiesen: Wenn man vom Lesen als ästhetischer Bildung spricht, dann ordnet man das Lesen in einen umfassenderen Zusammenhang ein. Es geht nicht nur um Leseerziehung und literarisches Lernen [→- S.- 137 ff.], sondern es geht auch um die Entwicklung einer ästhetischen Sensibilität, die sich vielfältig im Alltag auswirken kann. [...] Ein Zusammenspiel von rezeptivem und produktivem Umgang und eine Verbindung verschiedener Künste [...] kann den Schülerinnen und Schülern den ästhetischen Zugang zur Welt und zum eigenen Ich als unverzichtbaren Teil ihres Menschseins wichtig werden lassen. (2008b: 92) Auch wenn die unterschiedlichen Verfahren der Leseförderung insgesamt als eine positive, in Deutschland längst überfällige Entwicklung zu betrachten sind, offenbaren sie bei einer genaueren Einzelbetrachtung ihre jeweiligen Schwächen. Wir können hier einzelne Verfahren nicht genauer unter die Lupe nehmen - die spezifische Mahnung von Rosebrock/ Nix lässt sich jedoch generalisieren: Kritisch sollte im Blick bleiben, dass Lesestrategietrainings grundsätzlich nichts anderes als Methodentrainings sind, die - genauso wie beispielsweise die ausufernden methodischen Vorschläge von Klippert (2004) - da, wo sie sich verselbstständigen, das verlieren, worum es eigentlich geht: den Textgegenstand. (2012: 73) Tipps für den Unterricht - Überprüfen Sie regelmäßig die individuellen Lesefähigkeiten Ihrer Schüler auf der Prozessebene. Nutzen Sie hierfür einschlägige Testverfahren (z. B. ELFE 1-6). - Setzen Sie stets differenzierendes Material ein, wenn Sie leseschwache Schüler in Ihrer Klasse haben - und probieren Sie auch neuere Verfahren (wie z. B. das Lesetandem) aus. - Denken Sie immer daran, dass ein negatives Selbstkonzept von Schülern die schwierigste Klippe darstellt. Wägen Sie vor jedem Einsatz einer <?page no="132"?> 132 Lesen Methode kritisch ab, ob sie auch dafür geeignet sein könnte, das Selbstkonzept ein Stück weit aufzubrechen. - Planen Sie - zum Beispiel unterrichtsbegleitend - für die leseschwächeren Schüler die Teilnahme an speziellen (internetbasierten) Lesetrainings ein. - Untersuchen und bewerten Sie jeden einzelnen Text sehr genau vor dem Einsatz in den Unterricht: Welches lesefördernde Verfahren könnte passen? Probieren Sie das ausgewählte Verfahren vorher selbst aus. - Verknüpfen Sie lesefördernde Maßnahmen so oft wie möglich mit anderen Konzeptionen aus dem Bereich Sich mit Texten und Medien auseinandersetzen. Aufgaben 1. Erläutern Sie das Mehrebenenmodell des Lesens nach Rosebrock/ Nix. Berücksichtigen Sie dabei andere, vorgängige Lesekompetenzmodelle. 2. Nennen und erläutern Sie einige lesefördernde Verfahren und versuchen Sie, diese in das Mehrebenenmodell des Lesens (Rosebrock/ Nix) zu verorten. Lektüreempfehlungen zur Vertiefung r oSeBrock , c. (2013) (bietet einen guten, knappen Überblick zur aktuellen lesedidaktischen Diskussion; fasst die wesentlichen Aspekte des Buches von Rosebrock/ Nix, 2012, zusammen) r oSeBrock , c./ n ix , d. (2012) (das derzeitige Standardwerk für einen fundierten, systematisierten Überblick zur Leseförderung; die Lektüre ist unabdingbar für jeden Lehrenden, in dessen Unterricht Texte gelesen werden) <?page no="133"?> fünf Hauptkonzeptionen 5. Sich mit Texten und Medien auseinandersetzen Literatur soll gelehrt werden, weil sie nicht lehrbar ist. (Baum 2010: 119) Bildungsstandards Texte erschließen - sich mit literarischen Texten auseinandersetzen - sich mit Sach- und Gebrauchstexten auseinandersetzen - sich mit Texten unterschiedlicher medialer Form und Theaterinszenierungen auseinandersetzen - Texte präsentieren - in unterschiedlichen Textformen schreiben - Gespräche führen - zu / vor / mit anderen sprechen - verstehend zuhören - szenisch spielen Wie oben dargestellt (→- 4), haben wir uns in diesem Buch aus unterschiedlichen Gründen dafür entschieden, zwei Lernbereiche (Lesen und Sich mit Texten und Medien auseinandersetzen), die in den älteren Bildungsstandards noch zusammengefasst wurden, getrennt auszuweisen. Die methodischen Grundausrichtungen des Bereichs Sich mit Texten und Medien auseinandersetzen werden häufig (lediglich) drei Hauptgebieten zugeordnet (Leubner et al. 2012: 153): t extanalyse (→-5.1), hand lungs - und produktionsorientierter l iteraturunterricht (→-5.2) und literarisches u nterrichtsgespräch (→-5.4). Da wir jedoch das szenische i nterpretieren (→- 5.5) und das textnahe l esen ( und s chreiben ) (→-5.3) gesondert ausweisen (die Begründung erfolgt in den entsprechenden Kapiteln), werden im Folgenden fünf übergeordnete Konzeptionen sichtbar. Anschließend gibt es Hinweise zu gattungsspezifischen Ausprägungen und zur medialen Erweiterung des traditionellen Textangebots. In allen Bereichen spielen nicht nur eine Vielzahl von Textbeziehungsweise Mediensorten (→-5.8), sondern auch sehr unterschiedliche Teilkompetenzen - und folglich unzählige methodische Zugänge - eine Rolle. In diesem Zusammenhang sei an die (nicht abgeschlossene) Kompetenzdebatte erinnert (vgl. hierzu Frederking 2010): Gerade im Bereich Sich mit Texten und Medien auseinandersetzen können (neben der Ausbildung von literarischer Rezeptionskompetenz, Lesekompetenz und Medienkompetenz) durch den Deutschunterricht Fähigkeiten und Haltungen angestoßen und ausdifferenziert werden, die sich nicht in Kompetenzmodellierungen erfassen lassen (siehe aber z. B. den Versuch von Scherf 2014, ‚Moralverstehen‘ kompetenzorientiert zu erfassen). <?page no="134"?> 134 Sich mit Texten und Medien auseinandersetzen Textverstehen Texte = Medien Medien = Texte Sachtexte - literarische Texte Zum sogenannten Textverstehen, um das es immer wieder in den folgenden Kapiteln gehen wird, äußert Baum sich trefflich: Weder die älteren literaturdidaktischen Phasenmodelle noch aktuelle Kompetenz-Raster werden der Komplexität (literarischen) Verstehens gerecht. Zwar ist es nur zu verständlich, wenn gerade aufgrund der Vielschichtigkeit des Problems die Lösungen idealtypisch ausfallen (Stufen, Kompetenzen), der Nachteil ist jedoch, dass Faktoren, die aus der Literatur nicht wegzudenken sind, wie Paradoxien, komische oder groteske Verzerrungen, komplexe Bildhaftigkeit, rhythmische Bewegung etc. ebenso aus dem Blick geraten wie leserseitig der dialogische, offene, reversible, durch Fragen und Hypothesen geleitet[e] Prozess der Lektüre. (2013a: 104 f.) Damit ist implizit eine Problematik berührt, die zwar bei jeglicher Auseinandersetzung mit deutschdidaktischen Konzeptionen zum Tragen kommt, im Bereich Sich mit Texten und Medien auseinandersetzen für Studierende und Referendare aber offensichtlich wesentlich schwerer zu bewältigen ist: Die Notwendigkeit, die den Konzeptionen zu Grunde liegenden - nicht selten konkurrierenden - Theorien und Methoden der Fachwissenschaft verstehen und einordnen zu können. Ohne ein profundes Wissen über zum Beispiel die Rezeptionsästhetik oder die Dekonstruktion (→- S.- 135) ist es nicht möglich, die vorgeschlagenen Verfahren der Didaktiker adäquat einzuordnen. Besonders augenfällig wird das Erfordernis, wenn man erkennt, dass unterschiedliche Vertreter einer Konzeption sich - wie etwa beim handlungs - und produk tionsorientierten l iteraturunterricht - auf konkurrierende Literaturtheorien beziehen, um mitunter doch zu sehr ähnlichen methodischen Zugriffsweisen zu gelangen. Zum anderen sollte nie vergessen werden, dass Schüler sehr oft mit künstlerischen Texten - vor dem Hintergrund eines erweiterten Textbegriffs fallen alle auch künstlerischen ‚Medien‘ unter die Kategorie Text - ‚umgehen‘ sollen. Dies erfordert von der Lehrkraft eine entsprechende Sensibilität und Aufmerksamkeit nicht nur den Lernenden, sondern auch den Bildungsgegenständen gegenüber. Allzu häufig wird der ästhetische Eigenwert von Texten in unterrichtlichen Zusammenhängen ‚unter den Teppich gekehrt‘, werden die Kunstwerke instrumentalisiert oder als ‚Abhubbasis‘ für mitunter äußerst textferne unterrichtliche Aktivitäten genutzt. Erschwerend kommt hinzu, dass die häufig noch anzutreffende (scheinbar) klare Unterscheidung in fiktionale Texte auf der einen und pragmatische (oder Sachbzw. Gebrauchstexte) auf der anderen Seite heute nicht mehr vertreten werden kann, da die Grenzen allzu häufig fließend sind (siehe grundlegend hierzu Nickel-Bacon 2003); diese traditionelle Verfestigung sollte immer wieder kritisch hinterfragt werden (Groeben 2002: 12; Jost 2013: 22) (→- 4.4). Erst dadurch wird zum <?page no="135"?> Sich mit Texten und Medien auseinandersetzen 135 Verstehen - Nichtverstehen Beispiel - auch schon bei Schülern - der Blick frei für das Bildhafte in nicht-fiktionalen Texten (Olsen 2007). Zu Gute kommt dieser Entwicklung, dass neben der Sprachdidaktik nunmehr auch die Literaturdidaktik in letzter Zeit ein stärkeres Interesse an ‚Sachtexten‘ hat (Fix/ Jost 2013; siehe auch schon die Forderung von Eichler 2003). Schließlich - und dies bereitet den meisten Studierenden erfahrungsgemäß große Probleme - kommt dem Terminus Verstehen im Literaturbeziehungsweise Medienunterricht eine besondere Bedeutung zu. Baum macht (zunächst) in Bezug auf einige Phasenmodelle, für die in dieser Hinsicht Analoges gilt, auf Folgendes aufmerksam: Literaturdidaktische Modelle sind in der Regel Konzeptionen gelingenden Unterrichts. Dies trifft z. B. auf die sehr bekannten Phasenmodelle […] zu, die der Lehrerin oder dem Lehrer einen Weg weisen, wie vom anfänglichen Nichtverstehen schrittweise zum Verstehen vorangegangen werden kann. Nichtverstehen ist dabei nur am Anfang vorgesehen und verschwindet anschließend aus dem Raum des sich idealtypisch Schritt für Schritt vollziehenden Verstehens […]. […] Literaturdidaktische Phasenmodelle helfen bei der Bewältigung von Unterrichtskomplexität, sind jedoch-- systemtheoretisch gesprochen - auf der Ebene der Beobachtung erster Ordnung angesiedelt. Sie zeigen, inwiefern Verstehen möglich ist, nicht inwiefern Verstehen nicht möglich ist. Das sollte in der Unterrichtsplanung bedacht werden. (2013a: 118) Anschließend verdeutlicht er beispielhaft, wie sich diese Problematik konkret bei einem Verfahren des handlungs - und produktions orientierten l iteraturunterrichts niederschlagen kann (ebd.). Lehrkräfte für das Fach Deutsch müssen letztlich eine Haltung einnehmen können, die auch das Nichtverstehen als ebenbürtige Qualität einer literarischen beziehungsweise medialen Kommunikation selbstverständlich einschließt (Härle/ Steinbrenner 2003). Sie müssen sich offen zeigen für eine ‚echte‘ offene doppelte Lektüre. Doppelte Lektüre Der Begriff doppelte Lektüre geht auf die Dekonstruktion zurück. Er ist ein literaturdidaktischer Versuch, eine „Gleichzeitigkeit von Kontingenz und Kohärenz bearbeitbar“ (Baum 2010: 107) zu machen, der Paradoxie von Verstehen und Nicht-Verstehen gerecht zu werden und Lektüre zu ermöglichen, „ohne dass am Ende eine Sinneinheit oder auch nur geordnete Sinnvielfalt behauptet würde“ (ebd.). Baum weist zu Recht darauf hin, dass die doppelte Lektüre in der Literaturdidaktik nicht selten missverstanden und „zur Auflösung der pädagogischen Paradoxie […] als Form der Texterschließung und als Rekonstruktion Phasenmodelle für den Literaturunterricht - Kreft (1982) - Fritzsche (1994) - Einecke (1994) - Waldmann (2007) - Engler/ Möbius (2006) - Leubner/ Saupe (2012) <?page no="136"?> 136 Sich mit Texten und Medien auseinandersetzen Kompetenzorientierung der Autorintention“ (ebd.) aufgefasst werde. Bei der doppelten Lektüre sollte es darum gehen, Paradoxien jeder Art auszuhalten. Aus dieser Perspektive heraus bezeichnet Baum den Terminus ‚literarisches Lernen‘ (s. u.) als „Formel der Entparadoxierung“ (ebd.: 119). Lehrkräfte müssten dementsprechend die Gegensätze verschiedener Sinnzuschreibungen, „zwischen der Vieldeutigkeit des Textes und dem Ordnungscharakter der Zielbeschreibungen“ (ebd.) als Chance begreifen. Sie sollten sich in ihrer Textauswahl lösen vom unterfordernden Angebot der Lehrwerke - auch und gerade im Primarbereich. Sie müssten Literatur begreifen als etwas, das nicht schnell oder gar nicht verstanden werden kann/ soll (Andresen 2004). Es liegt auf der Hand - auch das eine auszuhaltende Paradoxie -, dass diese Forderung dem Großteil bildungspolitischer und schulischer Bemühungen zuwiderläuft. So sind die Überlegungen etwa von Baum nur schwerlich in Einklang zu bringen mit deutschdidaktischen Bemühungen etwa zum sogenannten ‚Vorwissen‘. Freudenberg (2012) bemerkt zu diesem Wissensbestand: Die flexible Applikation von Vorwissen auf einen literarischen Text erweist sich darin, dass der Leser seine Vorurteile sowie sein erstes Verständnis immer wieder an den Text zurückbindet, sich seiner stets aufs Neue versichert, seine Annahmen an ihm überprüft. Der kompetente Leser von Literatur nutzt sein Wissen, um auf den individuellen Stil des Textes als originären Ausdruck eines Sprechers aufmerksam zu werden, und nicht, um sich sein Wissen durch den Text bestätigen zu lassen, den Text also den eigenen Erwartungen anzupassen. (Ebd.: 16) Im Vergleich wird deutlich, dass in der Deutschdidaktik ganz unterschiedliche Vorstellungen zu ‚Verstehen‘ vorliegen (zumeist wird Nicht- Verstehen als ein Mangel aufgefasst), die untrennbar mit der ‚Kompetenzorientierung‘, die im nächsten Textabschnitt eine Rolle spielen wird, gekoppelt sind. Freudenberg hat (unter anderem) 50 Abiturklausuren hat daraufhin untersucht, „welche Rolle leserseitiges domänenspezifisches Vorwissen für die Erschließung literarischer Texte spielt“ (ebd.: 17). Die Ergebnisse sind ernüchternd: Freudenberg muss konstatieren, dass alle Probanden „das erworbene Vorwissen nicht in wünschenswerter Weise haben nutzen können“ (ebd.: 402); „das Vorwissen bleibt träge; wo es aktiviert wird, wird es zumeist ohne Bezug abgeladen“ (ebd.: 401). Leider - und dies ist bei gymnasial orientierten Studien nicht unüblich - diskutiert Freudenberg bei ihrem abschließenden Blick auf die unterrichtliche Praxis nicht den Stellenwert literaturdidaktischer Konzeptionen. Die bisher angerissenen Aspekte können hier nur einen Minimalbereich des weiten Feldes, den der Lernbereich Sich mit Texten und Medien auseinandersetzen ausmacht, abstecken. Gerade die zunehmende Etablierung der Kompetenzorientierung birgt „die Gefahr, dass Lehrperso- <?page no="137"?> Sich mit Texten und Medien auseinandersetzen 137 literarisches Lernen nen […] in eine ähnliche kleinschrittige Vorgehensweise zurückfallen, wie sie zur Zeit der Lernzielorientierung üblich war“ (Schubert-Felmy 2008: 106). Auch wenn die Zeit der (unsäglichen) Operationalisierung von Unterrichtszielen vorbei ist: Bei der Vorbereitung von Unterricht sollen sich die gesteckten Ziele möglichst in entsprechenden Kompetenzen wiederfinden. Die oben aufgeführten Bildungsstandards stellen zentrale, sehr allgemeine Zielsetzungen des Lernbereichs Sich mit Texten und Medien auseinandersetzen dar. In den Ausführungen für die unterschiedlichen Schularten werden diese in spezifische Teilkompetenzen ausdifferenziert. Jedoch - und damit kommen wir auch auf Baum zurück-- erscheint es auch über den Aspekt des Textverstehens hinaus nicht möglich, alle Zielsetzungen in abprüfbare Kompetenzen zu transformieren (Kepser 2012a). Die Literaturdidaktik bemüht sich schon seit langem um die Formulierung von Zielsetzungen und/ oder Kompetenzen - nicht erst seit PISA. Der größte Teil der Vorschläge bezieht sich - obwohl Schüler selbstverständlich auch produktiv tätig sein sollen - auf die Rezeption von Texten (eine ‚wirkliche‘ produktive Tätigkeit im Sinne des Hervorbringens eigener Werke stellt eher eine Randerscheinung im Deutschunterricht dar). Trotz einiger interessanter Vorschläge, die vor dem Hintergrund von Bestimmungsversuchen der textseitigen Anforderungen literarischer Texte (Eggert 2002) gesehen werden sollten, gibt es keinen Konsens in Bezug auf einen ‚Kanon‘ von Kompetenzen. Intensiv diskutiert wird auch heute noch der Vorschlag von Spinner (2006), den Kammler trotz einer „Reihe ungelöster Probleme“ (Kammler 2012: 16) als den „bislang überzeugendsten Versuch einer Systematisierung nicht nur des literarischen Lernens, sondern auch der entsprechenden Lern- und Kompetenzbereiche“ (ebd.) bezeichnet: Aspekte des literarischen Lernens (nach Spinner; siehe zur Terminologie auch Frederking 2010: 351 f.) 1. Vorstellungsbildung 2. Subjektive Involviertheit 3. Wahrnehmung der sprachlichen Gestaltung 4. Perspektivübernahme (siehe hierzu das Aufgabenbeispiel von Starz 2014; didaktisch vertiefend Olsen 2011a; eine empirische Annäherung zum Zusammenhang von Perspektivenübernahme und Textverstehen findet sich bei Buhl 2014) 5. Verstehen narrativer bzw. dramaturgischer Handlungslogik 6. bewusster Umgang mit Fiktionalität (siehe hierzu das Aufgabenbeispiel von Rosebrock 2014b) 7. Verstehen von Metaphorik bzw. Symbolik (siehe hierzu das Aufgabenbeispiel von Rank 2014) <?page no="138"?> 138 Sich mit Texten und Medien auseinandersetzen 8. sich auf die Unabschließbarkeit des Sinnbildungsprozesses einlassen 9. mit dem literarischen Gespräch vertraut werden 10. Entwicklung von prototypischen Vorstellungen von Gattungen und Genres 11. Ausbildung von literaturhistorischem Bewusstsein Trotz der nachvollziehbaren Kritik an dieser Aufstellung (siehe z. B. Abraham/ Kepser 2009: 73 f.) plädieren wir für eine verstärkte Beachtung dieser - auch, weil sich die Aspekte problemlos auf andere mediale Ausprägungen (→- 5.7) übertragen lassen (Spinner 2010a). Einen weiteren Versuch, literarisches Lernen kompetenzorientiert zu modellieren, haben Schilcher/ Pissarek in Zusammenarbeit mit anderen Fachwissenschaftlern und Fachdidaktikern (2013) unternommen. Sie grenzen sich zu Spinners Modell insofern ab, als sie lediglich diejenigen Aspekte des Umgangs mit literarischen Texten in ihr Modell aufnehmen, die sich auch im Literaturunterricht prozessorientiert entwickeln ließen. Die von ihnen vorgestellten Subkompetenzen untergliedern sie in unterschiedliche Niveaustufen; sie orientieren sich dabei an „vermuteten Entwicklungslinien“ (ebd.: 25): 1. explizite und implizite Textbedeutung verstehen 2. grundlegende semantische Ordnungen erkennen 3. Überstrukturierung poetischer Texte: Metrik, Rhetorik, Mythologie 4. Merkmale der Figur erkennen und interpretieren 5. zeitliche Gestaltung rekonstruieren und beschreiben 6. Handlungsverläufe beschreiben und interpretieren 7. die Vermittlungsebene von Texten analysieren 8. mit fiktionalen Weltmodellen bewusst umgehen 9. kultureller Kontext - kulturelle Situierung Zur gleichen Zeit haben Boelmann/ Klossek (2013) ihr Bochumer Modell literarischen Verstehens veröffentlicht. Ihr Anspruch ist es, „sowohl den Forderungen der Klieme-Expertise nach einer empirischen Messbarkeit von Kompetenzen sowie einer Orientierung an schulischen Realitäten“ (ebd.: 43) nachzukommen. Durch diese Zielsetzung - und in deutlicher Abgrenzung von unter anderem Spinners Modellierung - blenden die Autoren bei der Benennung literarischer Kompetenzen bewusst alle diejenigen Aspekte des literarischen Lernens beziehungsweise der literarischen Bildung aus, die ihrer Ansicht nach nicht messbar, operationalisierbar und auf unterschiedliche Gegenstände übertragbar seien, aus. Sie weisen aber explizit mehrfach darauf hin, dass ein Aspekt wie Der kompetente Leser sollte nicht nur die Fähigkeit besitzen, in einer Geschichte imaginativ zu versinken, sondern auch die Fertigkeit, ein mieses Buch wütend in die Ecke zu feuern. (Abraham/ Kepser 2009: 73) <?page no="139"?> Sich mit Texten und Medien auseinandersetzen 139 zum Beispiel Genussfähigkeit, der wohl nur schwerlich messbar sein könne, auf gar keinen Fall als weniger bedeutsam angesehen werden dürfe. Alle spezifischen Wissensbestände sowie affektive, kognitive und metakognitive Aspekte, die nicht zur literarischen Kompetenz zählten, fassen die Autoren in einer Systematisierung literarischer Bildung zusammen. Diese Zusammenstellung lässt sich in Verbindung mit dem Kompetenz-Modell zur Benennung von Lernzielen des Literaturunterrichts nutzen. Das Kompetenz-Modell von Boelmann/ Klossek stellt sich in groben Zügen wie folgt dar. Die grundlegenden vier Teilkompetenzen beziehen sich auf die Erzählung des Textes (Ebene 1): Handlungsebene 1. narrative und dramaturgische Handlungslogik verstehen 2. Perspektiven, Handlungsmotivationen und erlebte Grunderfahrungen literarischer Figuren verstehen Metaebene 3. sprachliche Mittel verstehen 4. symbolische und metaphorische Ausdrucksweise verstehen Diese Teilkompetenzen wirkten sich in Folge auf das Verstehen der Erzählinstanz (Ebene- 2) sowie der Intentionsbestimmung (Ebene- 3) aus. Das Bochumer Modell versteht die Kompetenzen der ersten beiden Ebenen als Analyse-Kompetenzen (Boelmann 2015: 86): Einzelne Merkmale werden untersucht, zerlegt und durch mögliche Bedeutungsdimensionen angereichert. Die Intentionsbestimmung (Ebene- 3) hingegen verstehen die Autoren nicht als Analyseleistung, sondern als Zusammenführung der einzelnen Analysen in eine kohärente Sinndeutung des Textes. Sowohl das Modell von Schilcher/ Pissarek als auch das von Boelmann/ Klossek sind unseres Erachtens in besonderem Maße als Fundament für die schulische Textanalyse geeignet (→- 5.1); an genannter Stelle werden die Modelle deshalb auch noch einmal ausführlicher vorgestellt. In Bezug auf das literarische Lernen selbst jedoch liefern auch diese Modelle noch keine befriedigenden Antworten. Lösener (2014) fordert deshalb: Das literarische Lernen muss auch in Zukunft über messbare Standards hinausgedacht und es müssen dafür Konzepte entwickelt werden, die langfristige Lern- und Entwicklungsprozesse im Umgang mit Literatur miteinander in Beziehung setzen. [...] Die Literaturdidaktik sollte weiter an Kompetenz- Auf europäischer Ebene wurde ein Referenzrahmen Literatur erarbeitet, der Niveaus der literarischen Entwicklung beschreibt. Neben Kompetenzniveauübersichten, ‚Büchereigenschaften‘, Buchempfehlungslisten und didaktischen Hilfestellungen bietet die Website (de.literaryframework.eu) auch didaktische Analysen an. Für nähere Informationen siehe Pieper 2014. <?page no="140"?> 140 Sich mit Texten und Medien auseinandersetzen modellen für das literarische Lernen arbeiten, die sich nicht unter das instrumentalistische Bildungskonzept der BS [gemeint sind die Bildungsstandards, C. H., A. K., R. O.] subsumieren lassen, die aber dem Anspruch gerecht werden, grundlegende personale, sprachliche und methodische Fähigkeiten, die beim literarischen Lernen erworben werden können, präzise zu beschreiben. (Ebd.: 19) Was immer wieder schon in den vorherigen Kapiteln thematisiert wurde, kommt in den folgenden ganz besonders zum Tragen: Die einzelnen Konzeptionen werden nur im Ausnahmefall alleine zur Anwendung gelangen. Matthiessen merkt hierzu an: Verschiedene erfolgversprechende didaktische sowie methodische Wege sind denkbar; so kann gleichermaßen mit dem Rezeptionsdiskurs als Problemstellung begonnen werden wie mit einer handlungsorientierten Inszenierung, die dann textimmanent hermeneutisch und strukturell analysierend weitergeführt wird und in einer Schreibaufgabe endet. (2008: 136) 5.1 Textanalyse Eine Analyse von Erzähltexten erlaubt die deutliche Erkenntnis von Strukturen, die zum einen die (auch) subjektive Interpretation anregt und zum anderen ihre Spielräume begrenzt, sodass die Gefahr vermieden werden kann, eine Erzählung als bloßen Anknüpfungspunkt für subjektive Assoziationen oder konventionelle Deutungen von Wirklichkeit zu nutzen […]. (Leubner/ Saupe 2012: 18) Seitdem in Schulen Texte gelesen werden, wird von Schülern in ganz unterschiedlicher Weise verlangt, dass sie diese auch analysieren und/ oder interpretieren. Diese beiden Termini wurden und werden in der Fachwissenschaft (und in der Fachdidaktik) immer wieder diskutiert und es wird bis heute versucht, ihr Verhältnis zueinander zu bestimmen. In den Bildungsstandards und in den einzelnen Bildungs- oder Lehrplänen der Bundesländer tauchen im Zusammenhang mit dem Lernbereich Sich mit Texten und Medien auseinandersetzen immer wieder folgende Begriffe auf: ‚Verstehen‘, ‚Analysieren‘ und ‚Interpretieren‘. Mal hat man den Eindruck, dass sie untereinander austauschbar - also synonym - seien; mal glaubt man, dass es wohl doch irgendeine Form der Überbeziehungsweise Unterordnung geben müsse. Diese Unsicherheit scheint sich jedoch in Prüfungsaufgaben erledigt zu haben: In Abituraufgaben heißt es häufig: „Analysieren Sie den folgenden Text von XY und interpretieren …“. Die scheinbare Klarheit der Abfolge setzt sich dann bis zu den Ersten Lehramtsprüfungen fort (obige schriftliche Arbeitsanweisung findet sich in diesen Prüfungen wortgleich wieder). <?page no="141"?> Textanalyse 141 Begriffsgeschichtliches Um die Gesamtproblematik zumindest ein wenig einschätzen zu können, muss ein minimaler Blick auf die Geschichte des Begriffs Verstehen geworfen werden. Er ist einer der Schlüsselbegriffe sowohl der Literaturwissenschaft als auch der Philosophie. Während Anfang des 20. Jahrhunderts versucht wurde, sich mit ihm gegenüber den Methoden der Naturwissenschaft abzugrenzen, gab es in der Begriffsgeschichte unzählige Versuche von Wissenschaftlern, ihn immer wieder neu zu bestimmen. Definitionsversuche reichen vom ‚Sich-Hineinversetzen‘ (Humboldt) über ein ‚Wiedererkennen im Fremden‘ (Gadamer) bis zur Anerkennung seines ‚hypothetischen Charakters‘ (Frank). Als ab den 1960er Jahren verschiedene strukturalistische Strömungen der Literaturwissenschaft auftraten und diese - vereinfacht ausgedrückt- - den Begriff Verstehen ablehnten, um nunmehr ausschließlich einen ‚analytischen Blick‘ auf Texte zu richten, wurde ihnen vorgeworfen, dass auch ihr Vorgehen eine Art des Verstehens beinhalte. Wenn man nun noch den Begriff Interpretieren (lat. = Auslegung, Übersetzung, Erklärung) in die unmittelbare Nähe zu Verstehen setzt - und dies ist unproblematisch möglich -, wird sehr deutlich, dass die Unschärfen der Begrifflichkeiten in der Natur der Sache selbst liegen. Auch wenn es umstritten ist: Analyse und Interpretation sollten getrennt voneinander betrachtet werden. Interpretation - oder auch Verstehen - lässt sich dem Begriff Analyse überordnen, denn „verstehen kann man auch ohne explizite Analyse“ (ebd.). Das Wort Analyse entstammt dem Altgriechischen und bedeutet ‚Auflösung‘: Ein Ganzes wird in seine Teile zerlegt und die Teile werden in ihrem Verhältnis zum Ganzen untersucht. Das Problematische daran ist, dass genau so auch das Verstehen im Sinne der hermeneutischen Spirale funktionieren soll. Trotz dieses vielfältig verwobenen und teilweise auch paradox anmutenden Hintergrunds kann man in Bezug auf einen schulischen Umgang mit Texten davon ausgehen, dass eine t extanalyse sich sehr viel stärker auf textinterne Faktoren konzentriert - im Gegensatz zu einer wie auch immer gearteten Interpretation, die stets auch textexterne Aspekte einbezieht. Von einem derartigen Verständnis von t extana lyse sind die oben genannten strukturalistischen Strömungen geprägt, die sich unter anderem auf die Methoden des Linguisten de Saussure berufen. Überblickt man die einschlägigen deutschdidaktischen Einführungen, fällt auf, dass die t extanalyse überhaupt nicht explizit als Kon- Der Strukturalismus ist eine Methode der Literaturwissenschaft, die linguistische Wurzeln aufweist. Strukturalisten sind kaum an den Inhalten eines Textes interessiert; mit Hilfe von Strukturanalysen sollen die formalen Organisationsprinzipien eines Textes aufgedeckt und die einzelnen Einheiten benannt werden können. <?page no="142"?> 142 Sich mit Texten und Medien auseinandersetzen zeption auftaucht und häufig nur als - mitunter mahnende - Abgrenzungsfolie zum handlungs - und produktionsorientierten l iteraturunterricht gestreift wird. Der Ratsuchende findet zwar hin und wieder komplizierte Einblicke in Spezialdiskurse, aber wie methodisch vorgegangen werden könnte, mutet beinahe wie ein Geheimnis an - oder es wird einfach stillschweigend davon ausgegangen, dass Lehrende dies ohne weitere Hinweise einfach leisten könnten. Dies ist sehr verwunderlich, denn (schriftliches! ) Analysieren und Interpretieren spielen - wie oben schon erwähnt - letztlich die Hauptrolle vor allem im gymnasialen Deutschunterricht: Bis in die Abiturprüfungen hinein sind diese beiden Tätigkeiten die (anscheinend) wichtigsten Arbeitsfelder des Literaturunterrichts. Auf Grund der großen literaturwissenschaftlichen Methodenvielfalt und insbesondere aus der aus poststrukturalistischer Perspektive sich ergebenden Ablehnung der älteren schulischen Praxis dürfte es heute im Prinzip keine anerkannte konzeptionelle Grundlage zur traditionellen t extanalyse geben. Es gibt jedoch einige bewährte schulische Zugriffe, die seit einiger Zeit von Leubner und Saupe neu konzipiert werden. Die Tätigkeit des Interpretierens - häufig nach einer Textanalyse - wird in der Didaktik zumeist in den Verantwortungsbereich anderer Konzeptionen übertragen. Dem Deutungsangebot eines literarischen Textes können Schüler mit großer Sicherheit angemessener in einem literarischen u nterrichtsgespräch näher kommen als durch das Verfassen eines traditionellen ‚Interpretationsaufsatzes‘. Diese Textsorte ist in der Didaktik schon seit langer Zeit stark umstritten; in Schulen (und auch Hochschulen! ) spielt sie jedoch immer noch vor allem als Klausurform eine herausragende Rolle. Fritzsche spricht diesbezüglich von einem „unseligen Zirkel“ (1994: 248): „Die I. [gemeint ist der ‚Interpretationsaufsatz‘, C. H./ A. K./ R. O.] wird nur geübt, weil sie in der Klausur gekonnt werden soll, und geprüft wird sie, weil sie als Lerngegenstand behandelt worden ist“ (ebd.). Insbesondere auch vor dem Hintergrund neuerer Literaturtheorien ist ihre Anwendung nur noch schwerlich zu vertreten. Wir werden dem klassischen ‚Interpretationsaufsatz‘ deshalb in diesem Buch keinen größeren Platz einräumen, sondern verweisen erstens auf die hilfreichen Ausführungen von Pieper (2008), Abraham/ Kepser (2009: 236 ff.), den noch stärker praxisorientierten Beitrag von Baurmann/ Kammler (2012) sowie auf das gesamte Praxis Deutsch-Heft 234, das (im Wissen um die Poststrukturalisten sind der Auffassung, dass Textmerkmale sich nicht ‚feststellen‘ oder ‚festschreiben‘ ließen, sondern dass diese sich durch beständige Diskontinuitäten und Bedeutungsverschiebungen auszeichneten. Sie fragen „nach den Ursprüngen und Bedingungen für ihr Entstehen, nach den normativen Kontexten, die sie hervorbringen“ (Wrobel 2010: 207). Viele Vertreter rücken intertextuelle Bezüge in den Vordergrund des Erkenntnisinteresses. <?page no="143"?> Textanalyse 143 theoretischer Hintergrund große Problematik) Wege eröffnen möchte, „die sowohl dem Gegenstand als auch den Beteiligten gerecht werden“ (ebd.: 4). Am Ende dieses Kapitels wird ein gesonderter (kurzer) Abschnitt zum Bereich Sachtexte stehen, denn diese können natürlich ebenfalls analysiert werden - dieser Aspekt wird mitunter nicht deutlich genug gesehen. Dies mag daran liegen, dass die moderne Lesedidaktik (→- 4) sich vorrangig um die Erschließung von Texten bemüht, denen Informationen ‚entnommen‘ werden können; damit verbundene Tätigkeiten (die Anwendung von Lesestrategien, →- 4.3, etwa) sind aber implizit als kognitiv-analytisch zu bewerten. Darstellung Dieser Abschnitt befasst sich zunächst mit literarischen, und zwar ausschließlich erzählenden, Texten. Diese Gattung ist die in Schulen am häufigsten verwendete (zu anderen klassischen Gattungen →-5.6). Literarische Texte Verfahren der schulischen t extanalyse (und der Interpretation) lassen sich immer nur vor dem Hintergrund einer Anlehnung an literaturwissenschaftliche Verfahren verstehen, von denen Wrobel (2010) die wichtigsten skizziert: - werkimmanentes Verfahren Ausgehend von der Vorstellung, dass literarische Texte autonom seien, wird bei diesem Verfahren davon ausgegangen, dass in einem Text alles enthalten sei, was für das Verständnis erforderlich ist. - biographisches Verfahren Hierbei werden Verbindungslinien zwischen dem Text und dem Urheber konstruiert. Obwohl dieses Verfahren spätestens seit der wichtigen Schrift Der Tod des Autors (1968) von Roland Barthes heftig kritisiert wird, zählt es nicht nur an Schulen, sondern in besonderem Maße auch an Hochschulen immer noch zu den wohl häufigsten. - strukturalistische Verfahren - poststrukturalistische Verfahren Eine noch stärkere Ausdifferenzierung in unterschiedliche, sich teilweise auch vehement widersprechende Ansätze lässt sich beim Poststrukturalismus be- Ein werkimmanentes Verfahren ist eine literaturwissenschaftliche Methode. Die Vertreter stellen den Text in den Vordergrund und untersuchen in der Detailanalyse sprachlich-ästhetische Besonderheiten (zum Beispiel: Satzbau, Erzähltechniken und Stilfiguren). Die positivistische Literaturwissenschaft widmet sich in erster Linie der Biographie des Autors. Daneben werden noch andere Quellen (zum Beispiel Tagebücher und Briefe) herangezogen. Die Herangehensweise beschränkt sich jedoch nicht - dies wird oft falsch dargestellt - auf inhaltliche Aspekte des literarischen Textes, sondern untersucht auch sprachliche Auffälligkeiten. <?page no="144"?> 144 Sich mit Texten und Medien auseinandersetzen Ziele Leubner/ Saupe obachten. Die Vertreter (vor allem Foucault, Derrida und Lacan) lehnen strukturalistische Tätigkeiten ab. - literatursoziologische Verfahren Die Literatursoziologie umfasst mehrere Strömungen, wie zum Beispiel Gender Studies oder interkulturell orientierte Ansätze. Weit über die Biografie des Autors hinausreichend werden bei diesen Verfahren Produktion (Spannungsverhältnis zwischen der Gesellschaft und dem Text), Distribution (z. B. Vertriebsbedingungen) und Rezeption (der Leser in seinem sozialen Kontext) berücksichtigt. Ein zentrales Ziel beim schulischen Umgang mit erzählenden Texten ist die sogenannte (rezeptive! ) Narrationskompetenz. Diese „soll als Kompetenz des Rezipienten gelten, sich die von einer Erzählung nahe gelegten neuen beziehungsweise differenzierteren Sichtweisen der Beziehung von Subjekt und Außenwelt anzueignen und für die eigene Lebenswirklichkeit zu nutzen“ (Leubner/ Saupe 2012: 15). Sie kann in weitere Bereiche untergliedert werden (ebd.: 17). Derzeit kann man davon ausgehen, dass eine textanalytische Herangehensweise die Ausbildung der Texterschließungskompetenz (mit) begünstigen kann. Ein gut geeignetes Buch für die konkrete Anwendung in der Praxis ist die Monographie Erzählungen in Literatur und Medien und ihre Didaktik von Leubner/ Saupe (2012), das strukturalistischen Prinzipien folgt. Es liefert klare, verständliche und umsetzbare Hinweise und Aufgabenbeispiele für einen textanalytisch-systematisch orientierten Literaturunterricht. Nachdrücklich betont werden muss schon hier, dass auch Leubner/ Saupe die analysierende Tätigkeit des Schülers stets in einem Zusammenhang mit anderen konzeptionellen Ausrichtungen sehen. An anderer Stelle (Textverstehen im Literaturunterricht und Aufgaben, 2008) verdeutlichen sie diese Einbettung, indem sie in überzeugenden Unterrichtsmodellen insbesondere das literarische u nterrichts gespräch und den handlungs - und produktionsorientierten l iteraturunterricht der t extanalyse gleichberechtigt zur Seite stellen, da sie der Auffassung sind, dass erst mit Hilfe dieser Konzeptionen die interpretierende Tätigkeit des Schülers angestoßen werden könne. Von dem Ziel ausgehend, in systematischer Weise die Texterschließungskompetenz von Schülern fördern zu wollen, bestimmen sie den Gegenstandsbereich neu und verzichten deshalb auch auf einige Kategorien, die sich in der Schule traditionell verfestigt haben. In sehr schülerorientierter Weise haben sie zwei Fragenkataloge entwickelt, die im Folgenden stark verkürzt wiedergegeben werden (Leubner/ Saupe 2012: 81 f. u. 164 f.). Diese Kataloge sind nur als Grundgerüste zu verstehen, die je nach Leistungsstand der Klasse reduziert oder erweitert werden müssen. <?page no="145"?> Textanalyse 145 Fragenkataloge Analyse der Handlung und der Figuren 1. Überlege, welche Figur du als Hauptfigur der Geschichte betrachten möchtest. Überlege, ob die Hauptfigur einen Gegenspieler hat. 2. Überlege, welche Eigenschaften die Hauptfigur (und ihr Gegenspieler) haben. 3. Stelle fest, ob sich die Hauptfigur traurig, wütend … fühlt. Überlege, warum sie sich so fühlt. 4. Versuche zu erklären, warum die Hauptfigur das für sie Wichtige nicht so einfach bekommen/ behalten kann. 5. Überlege, ob die Hauptfigur das für sie Wichtige schließlich doch bekommen/ behalten kann oder nicht. 6. Versuche zu erklären, warum die Hauptfigur das für sie Wichtige schließlich doch bekommen/ behalten kann oder nicht. 7. Stelle fest, wo und wann die Geschichte stattfindet. Analyse der Darstellung 1. Erzählperspektive(n): Teilt der Erzähler uns nur das mit, was die Hauptfigur erlebt? Teilt der Erzähler uns auch etwas mit, was die Hauptfigur nicht erlebt? 2. Sichtweise(n): Teilt der Erzähler uns nur ‚von außen‘ mit, was die Figuren tun und sagen (und wie Figuren und Räume aussehen)? Teilt der Erzähler uns auch mit, wie es im Inneren der Figuren aussieht? 3. Erzählerkommentar(e): Gibt es in der Geschichte Erklärungen, Meinungen, Wertungen …, die nicht von einer Figur gesagt oder gedacht, sondern vom Erzähler in die Handlung eingefügt werden? 4. Form des Erzählens: Wird in Ich- oder in Er-Form erzählt? 5. Rückwendungen/ Vorausdeutungen: Gibt es Abschnitte, die aus einer Zeit vor der eigentlichen Handlung erzählen? Gibt es Abschnitte, die in der Handlung noch gar nicht eingetroffene Geschehnisse voraussagen? 6. Zeit I: Wie lange dauert die Zeit, in der sich die Handlung abspielt? 7. Zeit II: Gibt es Abschnitte, in denen Teile der Handlung besonders kurz zusammengefasst oder sogar ausgelassen werden oder in denen die Handlung besonders ausführlich wiedergegeben wird? Einen anderen - semiotischen - Zugang zur literarischen Textanalyse haben Schilcher/ Pissarek (2013; →-S.-138) gewählt. Sie (und ihre Mitautoren des Kooperationsprojekts, die im Folgenden nicht einzeln ausgewiesen werden) grenzen sich aus unterschiedlichen Gründen explizit vom Vorgehen von Leubner/ Saupe ab, weil die Schüler hier strategieorientiert (vgl. →- 4.3) arbeiten und „prozessuale, transferierbare Fähigkeiten, die dazu dienen, Verstehensprozesse zu vertiefen“ (ebd.: 30) erwerben sollen. Darüber hinaus beschränkt sich das Modell nicht nur auf erzählende Texte. Der folgende Kasten greift die oben erwähnten Dimensionen der literarischen Kompetenz noch einmal auf - erweitert um eine detaillierte Kompetenzmodellierung (also mit Niveaustufen für <?page no="146"?> 146 Sich mit Texten und Medien auseinandersetzen die Grundschule sowie die 5.-7., 8.-10. und 11.-12. Jahrgangsstufe ; im folgenden Kasten = N1-N4), aus der sich Aufgaben für den konkreten Literaturunterricht ableiten lassen. Auf dem Weg zur literarischen Kompetenz 1. explizite und implizite Textbedeutung verstehen N1: Explizite und implizite Textbedeutungen am Text belegen und einfache Präsuppositionen offenlegen. N2: Implizite Bedeutungen und die logisch-semantische Tiefenstruktur aus der lexikalischen Oberfläche folgern. N3: Die implizite Bedeutung von abweichendem und uneigentlichem Sprachgebrauch (beispielsweise in Form von Metaphern und Ironie) verstehen. N4: Einen kulturellen Referenzrahmen für die Rekonstruktion impliziter Bedeutungen heranziehen. 2. grundlegende semantische Ordnungen erkennen N1: Einfache Oppositionen und ihre expliziten semantischen Äquivalente erkennen. N2: Oppositionen und ihre (impliziten) semantischen Äquivalente rekonstruieren, auch unter Einbeziehung von Kontextwissen. N3: Verschiedene Positionen auf einer Skala und ihre Bezüge zur Handlung erkennen (immanent und unter Einbeziehung von Kontextwissen). N4: Komplexe Oppositionen und ihre semantischen Äquivalente textimmanent und unter Einbeziehung philosophisch-kulturellen Wissens rekonstruieren. 3. Überstrukturierung poetischer Texte: Metrik, Rhetorik, Mythologie N1: Rekurrenz auf phonetischer Ebene erkennen und beschreiben können (Alliteration, Wortwiederholung, Reim, Metrik). N2: Regelmäßigkeit und Abweichung erkennen und interpretieren können. N3: Überstrukturierung auf Ebene der Tropen erkennen und interpretieren können. N4: Unterschiedliche Sekundärcodes in ihrer Leistung beschreiben können (Phonetik, Syntax, Rhetorik); Mythologie als Sekundärcode interpretieren können. 4. Merkmale der Figur erkennen und interpretieren N1: Merkmale und Funktionen von Figuren erkennen - Charakterisierung über explizite Zuschreibungen und Figurenverhalten unterscheiden können. N2: Statische und dynamische Figurenkonzeption erkennen und interpretieren können - Fremd- und Eigencharakterisierung unterscheiden und adäquat interpretieren. N3: Relationen von Figuren zueinander erkennen und systematisieren können. Kontrast- und Korrespondenzrelationen in der Figurenkonstellation beschreiben und interpretieren können. <?page no="147"?> Textanalyse 147 N4: Figuren als Konstrukt und Repräsentanten erfassen können - Modelle der Person und ihrer Psyche erkennen und interpretieren können. 5. zeitliche Gestaltung rekonstruieren und beschreiben N1: Die zeitliche Gesamtstruktur rekonstruieren: Dauer des dargestellten Zeitraums, Chronologie der dargestellten Situationen und Ereignisse, temporale Nullpositionen, Gleichzeitigkeit von Geschehnissen an verschiedenen Orten der dargestellten Welt. N2: Komplexe temporale Ordnungen rekonstruieren: Vorgeschichten vor dem dargestellten Zeitraum, Vor- und Rückgriffe. Temporale Nullpositionen durch andere Daten der Äußerung auffüllen. N3: Funktionen der temporalen Situierung und Strukturierung rekonstruieren, indem z. B. Abweichungen von der chronologischen Darstellung und Nullpositionen interpretiert werden (zum Teil auch unter Verwendung von kulturell-historischem Wissen). N4: Epochentypische Formen der Darstellung und des Umgangs mit Temporalität kennen lernen und komplexe temporale Strukturen und deren Funktionen im epochalen Kontext interpretieren. 6. Handlungsverläufe beschreiben und interpretieren N1: In einfach strukturierten Weltmodellen relevante Ordnungen und eine zentrale Grenzüberschreitung identifizieren können. N2: In komplexeren Texten aus Grenzüberschreitungen zwischen topographischen Räumen (Textoberfläche) auf die Semantik des Textes (Tiefenstruktur) schließen. N3: Unterschiedliche Ordnungsmerkmale in einem Text identifizieren und Ereignisfolgen aus unterschiedlichen Perspektiven erkennen. N4: Ausdifferenzierte semantische Räume erschließen und Ereignisse hierarchisieren; Grenzüberschreitungen in verschiedene Richtungen und verschiedener Figuren miteinander in Beziehung setzen. 7. die Vermittlungsebene von Texten analysieren N1: Einen heterodiegetischen Erzähler als Erzählinstanz identifizieren können und an Textstellen seine Funktion (Kommentare, Beschreibung des Settings) belegen. N2: Homodiegetische Erzähler erkennen, die Perspektivträger sind. Durchschauen, dass deren Sichtweise die Vermittlung der dargestellten Welt prägt und sich von dieser Sichtweise distanzieren können. / / Die Konstruktion des Ich-Sprechers und dessen Perspektive auf den Gegenstand in lyrischen Texten durchschauen. N3: Unzuverlässige Erzähl- oder Sprechinstanzen als solche erkennen und die Funktion dieses Vermittlungskonzepts interpretieren können. N4: Erkennen, dass es epochenspezifische textinterne Pragmatiken gibt und diese zur Interpretation heranziehen. 8. mit fiktionalen Weltmodellen bewusst umgehen N1: Einfache Textsorten- und Genrekompetenz erwerben und explizite Signale innerhalb des Textes erkennen. N2: Semantische Ordnungen bewusst als textuelles Weltmodell erkennen und diese Semantiken rekonstruieren können. <?page no="148"?> 148 Sich mit Texten und Medien auseinandersetzen N3: Die Grenze(n) zwischen Fiktion und Wirklichkeit erfassen und implizite Setzungen des Textes erkennen und hinterfragen können. N4: Komplexe Referenzformen erkennen und Thematisierungen der Grenze von Fiktion und Wirklichkeit reflektieren und diskutieren können. 9. kultureller Kontext - kulturelle Situierung N1: Erkennen einfacher Gattungsregularitäten und ihrer Relation zu unserem Wissen über die Realität. N2: Kulturelles Wissen als Voraussetzung zum Verständnis der dargestellten Welt identifizieren. N3: Relevante kulturelle Wissensmengen und deren Beitrag zur Textbedeutung erkennen. N4: Texte im literatur- und denkgeschichtlichen Kontext interpretieren und situieren. Wie oben (→- S. 138 f.) schon erwähnt, haben Boelmann/ Klossek zur selben Zeit ihr Kompetenzmodell veröffentlicht: Das Bochumer Modell des literarischen Verstehens Ebene 1: Erzählung Handlungsebene 1. Narrative und dramaturgische Handlungslogik im thematischen Zusammenhang verstehen 1.1 Identifizieren der Handlung 1.2 Analysieren der Handlungslogik/ der Handlungsstruktur 1.3 Abstrahieren und reflektieren der Handlungszusammenhänge sowie des Handlungsaufbaus 2. Perspektiven, Handlungsmotivationen und erlebte Grunderfahrungen literarischer Figuren verstehen 2.1 Identifizieren von Figuren und Figurenkonstellationen 2.2 Analysieren von Charaktermerkmalen und -verhalten, Handlungsabsichten und -motivationen 2.3 Abstrahieren und reflektieren von Charaktermerkmalen und -verhalten, Figuren und Figurenkonstellationen. Metaebene 3. Symbole und Metaphern verstehen 3.1 Identifizieren von Symbolen und Metaphern, konventionalisierte Interpretation des Einzelmerkmals 3.2 Interpretation des Einzelmerkmals im Textkontext sowie Reflexion von Deutungsspielräumen 4. Sprachliche Mittel verstehen 4.1 Identifizieren von spezifischen Formen (zum Beispiel Stilmittel, Sprachstil, ...), konventionalisierte Interpretation des Einzelmerkmals 4.2 Interpretation des Einzelmerkmals im Textkontext sowie Reflexion von Deutungsspielräumen <?page no="149"?> Textanalyse 149 Ebene 2: Erzählinstanz 5. Erzählinstanz verstehen 5.1 Identifizieren von Erzählinstanz, -perspektive und erzählerischen Mitteln 5.2 Deuten und reflektieren in Bezug auf die Funktion und Wirkung für die Geschichte Ebene 3: Intentionsbestimmung 6. Intention des Textes bestimmen 6.1 Synthese: Themen des Textes benennen und aus Einzelanalysen textübergreifende Strukturen herausarbeiten 6.2 Hypothese: Superstrukturen benennen und Sinnangebote und Wirkungsabsichten des Textes begründet darlegen Sachtexte Wie oben angekündigt, soll es in diesem Abschnitt um die sogenannten Sachtexte gehen. In diesem Buch taucht an verschiedenen Stellen die Problematik einer etwaigen (Un-)Unterscheidbarkeit zwischen literarischen Texten und Gebrauchstexten auf. Allein schon die mittlerweile etablierte Wendung ‚literarische Gebrauchstexte‘ (z. B. die Autobiografie oder der Reisebericht) verdeutlicht die Schwierigkeit der Abgrenzung. Leubner weist darauf hin, dass jeder Definitionsversuch zum Terminus ‚Gebrauchstext‘ zum Scheitern verurteilt sein müsse (2012: 320; zur Einbeziehung der Rezipientenperspektive Rupp/ Gosewehr 2012). Dennoch - und damit gehen wir konform - hält er die Definition Schwitallas für noch am besten geeignet: „Texte, die in den Funktiolekten der beiden finiten Sinnprovinzen ‚Alltag‘ und ‚Institutionen‘ produziert und rezipiert werden“ (2007: 664). Die Analyse dieser Texte fällt auch in den Bereich der Textlinguistik. Kategorien der t extanalySe Heute wird die unermessliche Anzahl verschiedener Gebrauchstexte nach ihren Funktionen klassifiziert; Brinker schlägt für das Basiskriterium ‚Textfunktion‘ folgende Unterteilung vor (2005: 145): - Informationstexte (z. B. ein Bericht) - Appelltexte (z. B. ein Gesetz) - Obligationstexte (z. B. ein Vertrag) - Kontakttexte (z. B. ein Kondolenzschreiben) - Deklarationstexte (z. B. eine Ernennungsurkunde) Des Weiteren bezieht eine Textanalyse sich (nach dem derzeitigen Erkenntnisstand) erstens auf kontextuelle Kriterien (siehe im Folgenden ebd.: 146 ff.): - Kommunikationsform (das direkte Gespräch - das Telefongespräch - Rundfunksendung - Fernsehsendung - Brief - Zeitungsartikel/ Buch) - Handlungsbereich (privat - offiziell - öffentlich) Gebrauchstexte = Sachtexte = pragmatische Texte = expositorische Texte <?page no="150"?> 150 Sich mit Texten und Medien auseinandersetzen Zweitens werden strukturelle Kriterien veranschlagt: - Textthema (temporale Orientierung - lokale Orientierung) - Thematische Entfaltung (deskriptiv - narrativ - explikativ - argumentativ) - sprachliche/ nichtsprachliche Mittel Im Deutschunterricht fällt der Umgang mit Sachtexten in erster Linie in den Lern- und Kompetenzbereich Lesen (→-4.4). Hierfür wurden von der Lesedidaktik vielfältige Herangehensweisen zur Erschließung dieser Texte entwickelt, sodass wir zur Vertiefung auf das entsprechende Kapitel verweisen. Problematisierung Spätestens seit den 1980er Jahren gibt es eine starke Kritik am Einsatz von textanalytischen Verfahren. Ihnen wird vorgeworfen, den Schülern systematisch die Freude an (literarischen) Texten zu verderben: „Lesebiographische Untersuchungen zeigen, dass viele Befragte den Literaturunterricht im Rückblick wenig förderlich für den Zugang zur Literatur erfuhren, weil die Texte zu sehr zerpflückt wurden“ (Spinner 2012: 757). Genau vor diesem Hintergrund konnten andere literaturdidaktische Konzeptionen (in erster Linie der handlungs - und produktionsorientierte l iteraturunterricht ) gedeihen. Auch Abraham/ Kepser stehen der t extanalyse äußerst skeptisch gegenüber, versäumen jedoch nicht, auch ihre grundsätzliche Leistung zu betonen: Wenig spricht dafür, dass sich „Formbewusstsein“ und „sprach-ästhetische“ Sensibilität sozusagen additiv aus Einzelantworten auf viele Einzelfragen von selbst ergeben. Wichtig ist aber, mit vielleicht auch nur wenigen in diese Richtung zielenden Fragen, „den Blickwechsel zu üben“, also die Aufmerksamkeit der Lernenden immer wieder vom Inhaltlichen abzuziehen und auf Sprachliches und vor allem Stilistisches hin zu lenken. (2009: 222) Da es zweifelhaft bleibt, ob andere Konzeptionen ein vergleichbares ‚analytisches Potenzial‘ aufweisen - Gierlich (2013: 40) zum Beispiel behauptet das für die Verfahren des handlungs - und produktions orientierten l iteraturunterrichts -, kann und sollte auf die t extanalyse nicht verzichtet werden. Gerade in den letzten Jahren scheint es ein Umdenken in der Didaktik zu geben: Die klare Förderung der Analysefähigkeit ist nicht mehr verpönt und beginnt schon ganz selbstverständlich in der Grundschule, wenn zum Beispiel die Merkmale von Märchen kennengelernt werden. Die Kenntnis von Textstrukturen ist darüber hinaus auch unabdingbar für einen Unterricht, der dekonstruktiv ausgerichtet ist. Schon in der Primarstufe muss aber <?page no="151"?> Textanalyse 151 darauf geachtet werden, dass textanalytische Handlungen nicht unkritisch - als Pseudo-Rechtfertigung für ein starres merkmalorientiertes Schreiben - unter dem Deckmantel einer normativen Festlegung unhinterfragter, ‚richtiger‘ Textmerkmale stattfinden. In den letzten Jahren gibt es von Seiten der Literaturdidaktik vielfältige Bemühungen, Dimensionen literarischen Verstehens kompetenzorientiert zu fassen (siehe oben); sie eignen sich dazu, einen textanalytischen Umgang auf ein seriöses Fundament zu stellen - allerdings stellt ihre Komplexität Lehrende im unterrichtlichen Alltag vor große Herausforderungen. Sowohl für den Bereich der Gebrauchstexte als auch für die anderen literarischen Gattungen (→- 5.6) gibt es noch nicht so weit reichende didaktisch-methodische Modellierungsversuche, sodass hier die Umsetzung in der Schule in erster Linie noch in der Verantwortung des Planenden verbleiben muss. Es gibt zwar eine ganze Reihe (bisweilen auch empfehlenswerter) methodischer Handreichungen aus dem Bereich der Schulbuchverlage, doch hier müssen die Auswahl und der Einsatz stets sehr kritisch erfolgen. Nachdenklich stimmt in diesem Zusammenhang die Behauptung von Kiefer, dass Studierende in der Regel keine analytischen Verfahren kennten (2011: 22). Tipps für den Unterricht - Besprechen Sie mit Ihren Schülern ganz allgemein die Sinnhaftigkeit analytischer Tätigkeiten. - Überlegen Sie, bevor Sie die Schüler einen Text analysieren lassen, worin der Sinn dieser Tätigkeit besteht. Haben Sie dabei stets sowohl die Textals auch die Schülerseite im Blick. - Loten Sie aus, ob sich zumindest Teilbereiche der gewünschten Analyseergebnisse auch unter Zuhilfenahme anderer Konzeptionen der Deutschdidaktik erschließen lassen. Aufgaben 1. Nehmen Sie einen kürzeren epischen Text (z. B. eine Kurzgeschichte) Ihrer Wahl zur Hand und versuchen Sie, eine Erzähltextanalyse nach Leubner/ Saupe beziehungsweise eine auf der Grundlage der Modellierungen von Schilcher/ Pissarek oder Boelmann/ Klossek durchzuführen (ziehen Sie hierfür die entsprechenden Fachbücher im Original heran! ). 2. Überlegen Sie nach der Analyse, worin nunmehr der Mehrwert dieser Tätigkeit besteht. Erweitern Sie Ihre Überlegungen um einen didaktischen Blick auf Ihre (zukünftige) Zielgruppe. <?page no="152"?> 152 Sich mit Texten und Medien auseinandersetzen Subjektorientierung Reformpädagogik Lektüreempfehlungen zur Vertiefung B oeLMann , J. M./ k LoSSek , J. (2013) und Schilcher, A./ Pissarek, M. (Hg.) (2013): (Versuche, literarisches Lernen kompetenzorientiert zu fassen; die Modellierungen eignen sich auch als Grundlage für einen textanalytisch orientierten Unterricht) L euBner , M./ S aupe , a. (2008): (ein unverzichtbares Buch: es beleuchtet eingehend Form und Funktion von Aufgaben im Deutschunterricht) L euBner , M./ S aupe , a. ( 3 2012): (ein grundlegendes Buch für die Erzähltextanalyse in der Schule; besonders bedeutsam ist, dass neben dem literarischen auch filmisches und interaktives Erzählen gleichermaßen berücksichtigt werden) 5.2 Handlungs- und produktionsorientierter Literaturunterricht […] die absolute Dominanz des kognitiven Vorgehens, die weitgehende Vernachlässigung der sinnlichen Seite von Literatur, vor allem aber die fraglose Priorität des literarischen Objekts gegenüber dem Subjekt des Lektüreprozesses. Der handlungs- und produktionsorientierte Literaturunterricht versteht sich als Korrektur dieser traditionellen Vorgaben. (Haas 2013: Klappentext) Die Konzeption des handlungs - und produktionsorientierten l iteraturunterrichts entwickelte sich vor dem Hintergrund einer zunehmenden Unzufriedenheit mit dem traditionellen Literaturunterricht, insbesondere der t extanalyse (→-5.1) und dem fragend-entwickelnden Unterricht: Einige Literaturdidaktiker vertraten die Ansicht, dass der bisherige Unterricht lediglich kognitive Fähigkeiten berücksichtige und die sinnliche Dimension bei der Beschäftigung mit literarischen Texten - etwa ein ästhetisches Vergnügen - vernachlässige. Weniger eloquente, stillere, langsamere und vor allem literaturferne Schüler und ihre Bedürfnisse würden übergangen. Darstellung In einem handlungs - und produktionsorientierten l itera turunterricht sollte nunmehr nicht allein das literarische Objekt (der Text), sondern das Subjekt mit all seinen Sinnen, Gefühlen und Phantasien im Mittelpunkt des unterrichtlichen Geschehens stehen. Die grundlegenden Ideen eines subjektorientierten, ganzheitlichen Unterrichts wurden in den 1970er Jahren wiederentdeckt: Neben Rousseau und Pestalozzi hatte sich schon der reformpädagogische Wegbereiter Comenius damit auseinandergesetzt. Wiederentdeckt wurden auch Überlegungen Lessings, der schon sehr viel früher dafür eintrat, dass Schüler beispielsweise Fabeln selbst erfinden und schreiben sollten. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts lieferten neben Karstädt - im Zuge des Aufkommens der Reformpädagogik - die Pädagogen Freinet, Peter- <?page no="153"?> Handlungs- und produktionsorientierter Literaturunterricht 153 Merkmale Handlungsorientierung Produktionsorientierung sen, Gaudig, Montessori und Dewey die letzten wichtigen Anstöße zur Entwicklung eines (allgemeinen) handlungs- und produktionsorientierten Unterrichts. Für sie stand die aktive, eigentätige, mehrere Sinne einbeziehende Auseinandersetzung mit dem Lerngegenstand im Mittelpunkt. Dieses allgemeinpädagogische und -didaktische Gedankengut wurde zunächst von Ulshöfer aufgegriffen und führte schließlich in den 1980er Jahren auch in der Literaturdidaktik zu einem paradigmatischen Umdenken, das sich zunächst auf die Hauptschule beschränkte (einen kritischen Blick auf den Einsatz dieser Konzeption im gymnasialen Literaturunterricht bietet Pohl 2015). Ein handlungs - und produktionsorientierter l iteratur unterricht ist gekennzeichnet durch erhöhte selbständige Schüleraktivität, Ganzheitlichkeit, Produktions-, Lern- und Prozessorientierung. Weitere Charakteristika sind Individualisierung, eine Einbindung ästhetisch-künstlerischer Tätigkeiten sowie die Berücksichtigung unterschiedlicher Deutungsangebote zu literarischen Texten. Teilweise eng verwandt mit dieser Konzeption sind szenisches i nterpretieren (→-5.5), kreatives s chreiben (→-3.11), Projektarbeit, Freiarbeit und offener Unterricht. Nicht unproblematisch ist der zumeist verwendete Doppelbegriff Handlungs- und Produktionsorientierung. Mitunter wird die gesamte Konzeption auch nur mit handelnder Umgang mit Texten oder mit der Wendung produktiver Umgang mit Texten etikettiert. Unter Handlungsorientierung wird in diesem Zusammenhang das praktische und selbsttätige Handeln mit einem Text verstanden. Handlungsorientierung hat den Anspruch, ganzheitlich zu sein, das heißt, bei der Textarbeit sollen kognitive und affektive Zugänge zum Text miteinander verknüpft werden: Schüler sollen „nicht nur mit dem Kopf, sondern auch mit Händen und Füßen, mit dem Herzen und allen Sinnen lernen“ (Jank/ Meyer 2011: 315). Eine weitere Besonderheit sind die von Lehrern und Schülern gemeinsam festgelegten Aufgaben. In methodischer Hinsicht bieten sich bildlich-illustrative, musikalische, darstellende und spielende Zugänge an (Haas/ Menzel/ Spinner 1994: 18). Zur Kritik an dem Terminus ‚Handeln‘ - beziehungsweise zu seiner Verwendung in der Deutschdidaktik - siehe Fingerhut (1987) und Vorst (2007: 84 ff.). Bei der Produktionsorientierung handelt es sich um das eigene Verfassen von Texten, Textteilen oder Textvarianten, das selbst „(quasi-)literarischen Charakter“ (Leubner et al. 2012: 160) für sich beansprucht. Im Der Pädagoge Johann Heinrich Pestalozzi (1746-1827) war ein Vorläufer der Reformpädagogik. Sein ganzheitlicher Ansatz, der die kindliche Entwicklung durch die gleichwertige Berücksichtigung von Kopf, Herz und Hand unterstützen soll, hat bis heute nicht an Bedeutung verloren. <?page no="154"?> 154 Sich mit Texten und Medien auseinandersetzen theoretischer Hintergrund Vergleich zur Handlungsorientierung komme es dabei stärker auf das kognitive Vermögen des Schülers an (Haas/ Menzel/ Spinner 1994: 18). Haas, einer der wichtigsten frühen Vertreter dieser literaturdidaktischen Konzeption, fasst beide Grundausrichtungen folgendermaßen zusammen: […] die allgemeinste und grundlegendste Bestimmung für den Begriff ‚handelnder Umgang mit Texten‘ […]: Texte in andere Medien, Aussageformen und Situationen hinein übersetzen; sie variieren, modifizieren, ergänzen, verändern; ihnen widersprechen, sie spielen, aktualisieren, verfremden - alles in allem: sie ohne falsche Ehrfurcht, aber mit wachsender Sensibilität als etwas Gemachtes und damit auch - zumindest versuchs- und probeweise - Veränderbares verstehen, produktiv und aktiv mit ihnen umgehen, ihnen nicht nur mit Gedanken, sondern auch mit Gefühlen begegnen, auf sie in jeder findbaren Form reagieren. (1984: 7) Haas war es auch, der die Doppelbegrifflichkeit Handlungs- und Produktionsorientierung prägte. Beide methodische Ausrichtungen eint die didaktische Zielsetzung, den Leser aus seiner passiven Haltung heraus in Eigenaktivität und Selbsttätigkeit zu versetzen. Doch auf Grund der Unterschiedlichkeit des methodischen Zugriffs positionieren sich die meisten Deutschdidaktiker entsprechend - Waldmann zum Beispiel (s. u.) tritt in erster Linie für einen produktiven Umgang ein. Der handlungs - und produktionsorientierte l iteraturun terricht stützt sich auf mehrere Begründungszusammenhänge aus ganz unterschiedlichen Disziplinen. Die meisten Vertreter gehen bewusst eklektizistisch vor. Aus der Lern- und Kognitionspsychologie ist bekannt, dass Lernen und die damit verbundene Schaffung kognitiver Strukturen und Netzwerke in eigenaktiven, selbstgesteuerten Prozessen stattfindet. Die Forderung nach sinnlichen Erfahrungen und konkreten Handlungen im Unterricht lässt sich außerdem entwicklungspsychologisch damit erklären, dass für die Herausbildung des Bewusstseins die aktive, praktische Tätigkeit von großer Bedeutung ist. Neben Bezugnahmen auf den Russischen Formalismus und den Prager Strukturalismus stützen sich (nicht nur) die frühen Vertreter des handlungs - und produktionsorientierten l iteraturunter richts insbesondere auf die Erkenntnisse der Rezeptionsästhetik. Gerade die handlungs- und produktionsorientierten Verfahren sollen die (in diesem Sinne verstandene) aktive Sinnbildung durch Anregung eigener Textvorstellung fördern können. Darüber hinaus beruft man sich auf den Konstruktivismus und auch zunehmend auf die Dekonstruktion. Einige Vertreter des handlungs - und produktionsorientierten l iteraturunterrichts wenden eine dekonstruktive Haltung in eine Begründbarkeit für ihr Anliegen um: „Mit handlungs- und produkti- <?page no="155"?> Handlungs- und produktionsorientierter Literaturunterricht 155 Vertreter Gerhard Haas Wolfgang Menzel Harro Müller- Michaels und Gerhard Rupp onsorientierten Verfahren greift man in Texte ein, bricht ihre formale und inhaltliche Geschlossenheit auf“ (Spinner 2002: 252; siehe z. B. auch seine Begründung für den Einsatz operationaler Verfahren in 2000b: 235 - für ihn eine „Vorschule der Dekonstruktion“). Obwohl die meisten derjenigen Deutschdidaktiker, die den hand lungs - und produktionsorientierten l iteraturunterricht entwickelt und vorangetrieben haben, in wesentlichen Aspekten übereinstimmen, ist es auf Grund unterschiedlicher Gewichtungen dennoch notwendig und sinnvoll, die einzelnen Ansätze voneinander zu unterscheiden (Spinner 2008a). Berücksichtigt werden muss in diesem Zusammenhang auch, dass die einzelnen Literaturdidaktiker zumeist sehr unterschiedliche Auffassungen vom Verhältnis der t extanalyse zu handlungs- und produktionsorientierten Verfahren haben. Das Hauptanliegen von Haas, der mit seinem Werk (1984; 2013) Pionierarbeit geleistet hat, ist es, allen Schülern einen Zugang zu literarischen Texten zu gewährleisten (2013: 197). Er ist davon überzeugt, dass deshalb das praktische Handeln und ein aktiver Gebrauch der Sinne im Vordergrund stehen müssten. Schüler sollten musizierend, darstellend, bildnerisch und spielerisch auf literarische Texte reagieren: Sein Ansatz ist der am stärksten pädagogisch ausgerichtete und richtet sich gegen den damals wie heute vorherrschenden fragend-entwickelnden Unterricht. Vergessen wird häufig, dass Haas jedoch auch - ähnlich wie Waldmann später - schon sehr früh das produktive Schreiben betont (ebd.: 199 f.). Menzel (2000b) setzt einen ganz anderen Schwerpunkt. Für ihn sind das Erkennen und Erlernen inhaltlicher und formaler Aspekte durch den produktiven Umgang mit Textelementen entscheidend. Er präferiert spielerische, kreative Zugänge, die eine gewisse ‚Handwerklichkeit‘ auszeichnet. Müller-Michaels hat schon sehr früh (1978) Überlegungen angestellt, warum und wie Schüler die Rezeption literarischer Werke verarbeiten sollen. Er hat dabei Tätigkeiten im Blick, die für das spätere, außerschulische Leben von besonderer Bedeutung sein sollen: zum Beispiel das Rezensieren, das Redigieren oder auch das Kommentieren. Müller-Michaels wendet sich nicht gegen das klassisch-philologische Interpretieren, sondern will dieses durch die produktiven Rezeptionshandlungen ergänzt wissen: Lehrer sollten sehr genau überlegen, ob und wann sie produktive Zugänge einsetzen. Rupp (1987) bezieht sich explizit auf Müller-Michaels und hat dessen Ansatz weiterentwickelt. Er stellt dabei das eigene kulturelle Handeln der Schüler in den Vordergrund und vertritt die Auffassung, dass die Schülerproduktionen auf gleicher Stufe stehen sollen wie die der Schriftsteller. Die von ihm avisierten produktiven Antworten der Schüler auf Literatur (zum Beispiel Texte ergänzen oder verfremden) sollen stets dem <?page no="156"?> 156 Sich mit Texten und Medien auseinandersetzen Karlheinz Fingerhut Kaspar H. Spinner und Christine Köppert Originaltext gegenübergestellt werden. Er erhofft sich von seinem Ansatz eine Veränderung der Alltagskultur der Kinder und Jugendlichen. Fingerhut wird mitunter ‚vergessen‘, wenn es um die Vertreter des handlungs - und produktionsorientierten l iteraturunter richts geht. Der Grund hierfür liegt möglicherweise darin, dass Fingerhut sowohl als scharfer Kritiker (1987) als auch als Vertreter (1982; 1993) dieser Konzeption aufgetreten ist. Er fordert eine stetige enge Anbindung produktiver Methoden an die Verfahren der t extanalyse und legt seinen Schwerpunkt auf die Sekundarstufe II. Insbesondere das Umerzählen ist von ihm nachhaltig geprägt worden. Zum Verhältnis von analytischen zu produktiven Zugängen konstatiert er: Produktive Formen des Textumgangs sollen analytische Arbeitsschritte entlasten, indem sie neben den ‚werkgerechten‘ Verstehensleistungen andere denkbare Beobachtungen und Reflexionen setzen. Sie bedeuten jedoch keinesfalls die große kreative ‚Freiheit‘ im Deutschunterricht, sie erfordern- - ganz im Gegenteil zu häufig geäußerten Meinungen - strenge und disziplinierte Auseinandersetzungen mit dem Ausgangstext. (1982: 6) Auch der weithin bekannte Literaturdidaktiker Spinner ist ein Befürworter des handlungs - und produktionsorientierten l itera turunterrichts (Haas/ Menzel/ Spinner 1994; Spinner 2001). Für ihn stehen im Rahmen einer umfassenden Persönlichkeitsentwicklung in Verbindung mit literarischem Verstehen folgende Aspekte im Vordergrund: Förderung kreativer Fähigkeiten, das Entwickeln von Empathiefähigkeit (Olsen 2011a) und die Entfaltung der inneren Imaginationskraft. Er ist davon überzeugt, dass der handlungs - und produktionsorientierte l iteraturunterricht „einen Beitrag zur Textanalysekompetenz leisten“ (2002: 253) könne. In eine ähnliche Richtung gehen die Überlegungen von Köppert: Die philologische Analyse und Erörterung als (wichtiger) Bestandteil der literarischen Interpretation erhält nach meiner Ansicht inhaltliche und strukturelle Anknüpfungspunkte und gewinnt an Qualität, wenn sie durch imaginationsorientierte Verfahren eröffnet wird und in ihrem weiteren Verlauf mit diesen ein Wechselverhältnis eingeht. (1997: 119) Vom Fragment zum Text Das im Unterricht beliebte Tilgen von Textstellen, sodass Lücken entstehen, die von den Schülern ausgefüllt werden sollen, kann - wie das folgende Beispiel (nach Haas/ Menzel/ Spinner 1994: 20) zeigt - sinnvoll für das Erschließen der Textstruktur sein: In einer Stadt (Imants Ziedonis) In einer ______________, ________________ Stadt war eine _____________, ________________ Straße. <?page no="157"?> Handlungs- und produktionsorientierter Literaturunterricht 157 Günter Waldmann Auf dieser ____________, _______________ Straße stand ein _____________, ________________ Haus. In diesem ____________, _________________ Haus war ein _____________, __________________ Zimmer. In diesem ___________, __________________ Zimmer stand ein ____________, __________________ Stuhl. Auf diesem ___________, _________________ Stuhl saß ein ______________, __________________ Mensch. Er streckte eine ____________, ____________ Hand aus und __________________________________________. In der Regel fallen die Schülerprodukte sehr unterschiedlich aus und die Konfrontation mit dem originalen Text überrascht: Im Original beinhaltet jeder Vers die zweimalige Wiederholung des Wortes grau; der letzte Vers endet mit schaltete den Farbfernseher an. Den umfassendsten und auch von anderen Literaturdidaktikern weitgehend akzeptierten Ansatz hat Waldmann vorgelegt (grundlegend 2007). Sein Hauptfokus liegt auf der schülerseitigen Erschließung literarischer Strukturen durch Eigenproduktion. Die hermeneutische Ausrichtung ist dahingehend aufzufassen, dass das „Verstehen literarischer Texte strukturell durch produktive Momente bestimmt“ (ebd.: 28) sei. Damit sei nicht nur eine enge Anbindung von produktiven an analytische Zugänge gewährleistet, sondern Waldmann ist darüber hinaus der Auffassung, dass das Produzieren der Schüler selbst erkenntnisgewinnend sei. Seine oben genannte Monographie hat eine beispiellose Verbreitung erfahren; er hat seine methodischen Überlegungen zugleich mit einem Phasenmodell des literarischen Verstehens (→-S.-135) verbunden. Bedeutsam ist darüber hinaus, dass er für alle (traditionellen) literarischen Gattungen systematische Lehrgänge konzipiert hat (→-5.7). Das Waldmann’sche Phasenmodell literarischen Verstehens Dieses ideale Modell umfasst vier beziehungsweise - bei Mitberücksichtigung der sogenannten Vorphase - fünf Phasen. Waldmann selbst weist darauf hin, dass in der Praxis Verschiebungen, Überschneidungen und Akzentuierungen nicht ausgeschlossen werden sollten. Den einzelnen Phasen hat er katalogartig eine Vielzahl an produktiven Verfahren zugeordnet: (Vorphase: spielhafte Einstimmung, z. B.: Metaphernspiel) 1. Phase: lesen und aufnehmen (z. B.: Verzögerung des Lesevorgangs) 2. Phase: konkretisierende subjektive Aneignung (z. B.: visualisierende Darstellung) 3. Phase: textuelles Erarbeiten (z. B.: Wahl einer anderen sprachlichen Form) 4. Phase: textüberschreitende Auseinandersetzung (z. B.: Verfassen einer Parodie) Waldmann ist ein verkappter Strukturalist. (Kiefer 2011: 22) <?page no="158"?> 158 Sich mit Texten und Medien auseinandersetzen Die Verfahren des handlungs - und produktionsorientierten l iteraturverzeichnis sind äußerst vielfältig. Die folgende Auflistung (stark verkürzt nach Haas/ Menzel/ Spinner 1994: 24) bietet einen grob-systematisierenden Überblick: 1. textproduktive Verfahren 1.1 restaurieren und antizipieren (z. B.: Texte entflechten; einen eigenen Text zu einem Titel verfassen) 1.2 transformieren (z. B.: einen Text in einem anderen Stil nacherzählen; einen Text aus veränderter Perspektive umschreiben) 2. szenische Gestaltungen (z. B.: eine Textstelle pantomimisch darstellen; abstrakte Begriffe ‚sprechen‘ lassen) 3. visuelle Gestaltungen (z. B.: zu einem Text ein Bild malen; eine Literaturzeitung herstellen) 4. akustische Gestaltungen (z. B.: einen Text vertonen; für das Vorlesen eines Textes Hintergrundmusik heraussuchen) Im handlungs - und produktionsorientierten l iteraturun terricht spielt das Schreiben von Texten (→-3.8-3.11) eine große Rolle. Dieses Schreiben hat jedoch in der Regel andere Zielsetzungen und Bedingungen als die Tätigkeiten in dem eben genannten allgemeinen Lernbereich - auch wenn ein Teilbereich derartiger literarischer Produktionsmöglichkeiten zum kreativen s chreiben (→- 3.11) etwa eine ausgesprochen enge Beziehung aufweist (Haas/ Menzel/ Spinner 1994: 17; Waldmann/ Bothe 2000). Eine Form des Schreibens, dessen zentrales Merkmal die Vorlagen- und damit die Musterorientierung ist, stellt das imitative s chreiben dar, das entweder kreativ-imitativ oder analytisch-imitativ angelegt sein kann (Stemmer-Rathenberg 2011). Ebenso spielt das Schreiben im Rahmen des textnahen l esens (→-5.3) eine herausragende Rolle. Problematisierung Der handlungs - und produktionsorientierte l iteraturunter richt wurde zu Beginn seiner Etablierung als paradigmatischer Wechsel begriffen und von vielen Seiten begrüßt. Sehr schnell mehrten sich jedoch auch die kritischen Stimmen, die bis heute anhalten. Zum einen ist die Bezugnahme auf ganz unterschiedliche Literaturtheorien Gegenstand heftiger Kritik. Baum spricht (allgemein) von einer Überlastung des literaturdidaktischen Diskurses, der zum einen an neueren Theorieentwicklungen teilhaben will und zugleich seine leitenden Axiome (Lehrbarkeit, normative Bildungsziele, gesellschaftliche Verantwortung) nicht aufgeben kann; daher auch die merkwürdigen Verkürzungen, Marginalisierungen und Verzerrungen von Kulturtheorie in literaturdidaktischen Texten. (2010: 116) <?page no="159"?> Handlungs- und produktionsorientierter Literaturunterricht 159 Zum anderen ist ein großes Problemfeld - dies lässt sich jedoch der Konzeption selbst nur schwerlich vorhalten - aufgrund der Vielzahl von Zielsetzungen vorhanden. Es ist zum Beispiel ein großer Unterschied, ob Rupp das kulturelle Handeln der Schüler in den Mittelpunkt stellt oder ob Spinner das literarische Verstehen durch Anregung des Vorstellungsvermögens fördern möchte. In der Praxis lässt sich leider nur zu oft beobachten, dass Lehrende sich kaum tiefer mit den konzeptionellen Grundlagen auseinandersetzen: Dadurch entsteht häufig ein zielloser Aktionismus, der dazu führen kann, dass der Schüler nur noch mit dem Text ‚spielt‘ und seiner selektiven Textwahrnehmung Vorschub geleistet wird. Der wohl schärfste frühe Kritiker an diesen Verfahren ist Kügler. Er sieht durch handlungs- und produktionsorientierte Verfahren das literarische Kunstwerk in seiner autonomen Würde verletzt (1988 u. 1996; auch Paefgen 2006: 51 f.). Laut Kügler werde durch einen handlungs- und produktionsorientierten Umgang die innere Bebilderung, die durch das Lesen eines literarischen Textes hervorgerufen werde, in einzelne Teilhandlungen zerlegt, was sich gegen das zentrale Moment des Lesens wende, nämlich die Auslösung und Aufrechterhaltung des Lesebedürfnisses (1996: 19). Ein weiterer wichtiger Kritikpunkt am handlungs - und produktionsorientierten l iteraturunter richt ist die oft fehlende Berücksichtigung kontextueller Einbettung: Bogdal hat gezeigt, dass produktive Verfahren vor dem Hintergrund fehlenden historischen Wissens zu einem Missverstehen führen können (siehe - mit Bezug zu Fingerhut - 2000: 42). Viele weitere Kritikpunkte wurden in den letzten Jahrzehnten immer wieder (neu) formuliert. Saupe verweist auf die frühe Kritik von Fingerhut und prophezeit, dass der handlungs - und produktionsorientierte l itera turunterricht immer stärker an Bedeutung verlieren werde (2012: 269). Obwohl ihre Äußerung derzeitig wieder stärker zu verzeichnende Vorbehalte von Seiten der Didaktik gegenüber den handlungs- und produktionsorientierten Verfahren widerspiegelt, kann davon ausgegangen werden, dass diese Konzeption auch langfristig nicht mehr aus dem schulischen Alltag wegzudenken sein wird. Es kann nämlich- - auch trotz gegenteiliger empirischer Erkenntnisse (s. u.)-- weiterhin angenommen werden, dass handlungs- Sind die handlungs- und produktionsorientierten Verfahren nicht längst Ersatzformen, Prothesen für ausbleibendes Textverstehen geworden? (Kügler 1996: 20) In der Zeitschrift Praxis Deutsch lässt sich eine interessante Debatte um diese Konzeption nachlesen (siehe die H. 90-94 u. 98 o. das Sonderheft Handlungsorientierter Literaturunterricht, 2000: 22-42). <?page no="160"?> 160 Sich mit Texten und Medien auseinandersetzen und produktionsorientierte Verfahren dafür geeignet sein können, das Interesse an- literarischen Texten zu wecken und aufrechtzuerhalten. Darüber-hinaus sind diese Verfahren auch für das Erkennen von Textelementen und -strukturen einsetzbar - die Annahme einer generellen ‚Überlegenheit‘ gegenüber anderen methodischen Zugängen wird heute allerdings nicht mehr vertreten. Insbesondere die Tätigkeit des Interpretierens wird in den meisten Fällen zusätzlich mit Hilfe anderer Zugänge zu unterstützen sein. Cromme skizziert in einem knappen Erfahrungsbericht das Auslösen problematischer Verstehensprozesse bei einer unzulänglichen Text-Methode-Passung (2000; auch Paefgen 2006: 141 f.); Fritzsche et al. (2006) konnten zeigen, dass analytische Zugänge zu einer besseren Textverstehensleistung führen und dass ‚schwächere‘ Schüler in dieser Hinsicht vom handlungs - und produktions orientierten l iteraturunterricht gerade nicht profitieren. Hierbei muss jedoch bedacht werden, dass Fritzsche und sein Team erstens nicht alle denkbaren handlungs- und produktionsorientierten Verfahren haben untersuchen können und zweitens sich auf in der Regel kurze epische Texte beschränkt haben, sodass sie es schließlich offen lassen mussten, ob im Hinblick auf andere Zielsetzungen des Literaturunterrichts der handlungs- und produktionsorientierte Zugang nicht vielleicht doch ‚überlegen‘ sein könnte (ebd.: 46; zur Kritik an der Studie auch Wieser 2008: 254). Nachdenkenswert ist jedoch in jedem Fall das Ergebnis, dass handlungs- und produktionsorientierte Verfahren nicht grundsätzlich stärker als andere die Freude/ Lust an literarischen Texten stärkten. Schließlich muss immer im Blick bleiben, dass einige Fachvertreter produktionsorientierte Verfahren als eine (ebenbürtige) analytische Herangehensweise bewerten (z. B. Gierlich 2013: 40). h andlungs - und produktionsorientierter l iteraturun terricht ist in den Lehr- und Bildungsplänen sowie in Lehrwerken und methodischen Handreichungen (Vorst 2007; Reddig-Korn 2009) fest verankert. Diese Quasi-Legitimation birgt große Gefahren (s. o.). Jeder Unterrichtende sollte den Einsatz einzelner Verfahren besonders sorgfältig reflektieren, den hergestellten Bezug zwischen Text und Methode äußerst kritisch hinterfragen und stets eine Verknüpfung mit Methoden anderer literaturdidaktischer Konzeptionen anstreben (zur besonderen Problematik der Auswertungsphase siehe Neumann 1994). Gerade die - vor allem von Fingerhut geforderte - enge Anbindung an textanalytische Verfahren scheint mit großer Sicherheit spezifische Kompetenzzuwächse bei Schülern zu bewirken. Da gerade der Umgang mit literarischen Texten beziehungsweise die damit verbundenen Zielsetzungen sich jedoch nur zu einem Teil in Kompetenzmodellierungen fassen lassen, sollte bei aller Skepsis gegenüber dem <?page no="161"?> Handlungs- und produktionsorientierter Literaturunterricht 161 handlungs - und produktionsorientierten l iteraturunter richt Folgendes nicht in Vergessenheit geraten: Handlungs- und produktionsorientiertes Arbeiten und Umgehen mit Texten stellt nicht die Lösung aller didaktischen und pädagogischen Probleme dar. Als Verfahren jedoch, das die emotiven und kognitiven Fähigkeiten der Schüler gleichermaßen beansprucht und speziell das Bedürfnis nach einer ganzheitlich-allseitigen, d. h. auch sinnlichen Annäherung an Texte zu stillen vermag; als Verfahren, das den Langsameren, Stilleren, Nichteloquenten und eventuell intellektuell weniger Ausgestatteten eine volle Chance gibt, sich einzubringen; und schließlich als ein Weg, der durch den geringeren Steilheitsgrad sowie durch seine spielerischen Ausschwünge, Nebenpfade und Rastplätze Mut macht, ihn zu begehen und so letztlich auch an sein kognitives Ziel zu kommen - als all das ist diese didaktisch-methodische Form durch nichts anderes zu ersetzen. (Haas 1984: 17) Schließlich: Es wird viel zu häufig übersehen, dass auch mit Sachtexten handlungs- und produktionsorientiert umgegangen werden kann (Gierlich 2013: 39 f.). Tipps für den Unterricht - Setzen Sie sich vor jedem Einsatz eines handlungs- oder produktionsorientierten Verfahrens äußerst kritisch mit der Frage auseinander, warum Sie überhaupt zu dieser Herangehensweise tendieren. - Welche Zielsetzungen verfolgen Sie mit dem Einsatz des von Ihnen ausgewählten Textes? Lassen diese sich voraussichtlich mit einem bestimmten Verfahren des handlUngs - Und prodUktionsorientierten l itera tUrUnterrichts erreichen? - Prüfen Sie andere Konzeptionen: Wäre es auch möglich, ein Verfahren einer anderen Konzeption einzusetzen? Oder wäre es nicht sogar sinnvoller, eine Verknüpfung verschiedener Konzeptionen anzustreben? - Verfolgen Sie aufmerksam und kritisch Ihren Unterricht: ‚Vergessen‘ die Schüler während ihres Tätigseins mehr und mehr den Text? Falls ja: Führen Sie die Schüler immer wieder zum Text zurück - brechen Sie das Handeln oder Produzieren Ihrer Schüler notfalls ab. Erklären Sie Ihren Schülern die Gründe dafür. Aufgaben 1. Diskutieren Sie, inwieweit handlungs- und produktionsorientierte Verfahren mit den Bewertungs- und Benotungsaufgaben eines Lehrers vereinbar sind. Ziehen Sie hierzu unter anderem die Beiträge von Spinner (2008a) und Müller-Michaels (1993) heran. <?page no="162"?> 162 Sich mit Texten und Medien auseinandersetzen Schwerpunkt: Schreiben 2. Erläutern Sie Unterschiede und Gemeinsamkeiten zwischen dem kreativen s chreiben und ähnlichen Verfahren des handlungs - und produktionsorientierten l iteraturunterrichts . Ziehen Sie hierzu einen Beitrag von Spinner (2008a) sowie die S.-115- 119 aus dem Buch Texte schreiben von Fix (2008) heran. Lektüreempfehlungen zur Vertiefung h aaS , g. ( 10 2013) (mit diesem Buch erlangte der Ansatz seinen konzeptionellen Stellenwert; es ist ein Standardwerk für den handLungs - und produktionsorien tierten L iteraturunterricht ) h aaS , g./ M enzeL , W./ S pinner , k. (1994) (dieser Artikel gilt auch heute noch als einer der wichtigsten Basistexte zur Einführung in die Konzeption; leicht verständlich und praxisorientiert) S pinner , k. h. (2008a) (bietet einen knappen, jedoch hervorragenden Überblick über die Konzeption; berücksichtigt auch wichtiges Hintergrundwissen) S pinner , k. h. (2010b) (bietet einen guten, leicht verständlichen Überblick; besonders wertvoll ist dieser Beitrag auf Grund seiner Gegenüberstellung von Zielsetzungen und Lernbereichen des Literaturunterrichts zu einzelnen methodischen Zugängen) W aLdMann , g. ( 7 2007) (das Grundlagenwerk von Waldmann, auf dem seine gattungsspezifisch orientierten Bücher aufbauen) 5.3 Textnahes Lesen (und Schreiben) ‚Lesen nach PISA‘ ist in neuer Form textnah geworden, auch wenn die neuen didaktischen Zuschreibungen eher von Lese strategien , Lese training oder Lese detektiven sprechen. (Paefgen 2008a: 213) Bis heute spielen im Literaturunterricht schriftliche Nacherzählungen, Inhaltsangaben und unterschiedliche Formen der schriftlichen t ext analyse (→- 5.1) eine große Rolle. Daneben etablierten sich - insbesondere auch vor dem Hintergrund der Kritik an diesen Formen-- durch das Aufkommen des handlungs - und produktionsorientierten l iteraturunterrichts (→- 5.2) seit den 1980er Jahren andere Formen der produktiven Auseinandersetzung: zum Beispiel das Verfassen einer möglichen Fortsetzung einer Geschichte oder das Schreiben eines inneren Monologs zu einer literarischen Figur (vertiefend Haas 1993). Eine der wichtigsten Leistungen des handlungs - und pro duktionsorientierten l iteraturunterrichts sei das integrative Moment durch die Verknüpfung von Lesen und Schreiben, durch das „einer Zersplitterung des Faches Deutsch entgegengewirkt und eine gegenseitige Befruchtung der beiden Arbeitsbereiche erreicht werden“ (Spinner 1993: 27) könne. Diese enge Verbindung der beiden Lernbereiche Lesen und Schreiben nimmt in den Ansätzen, die im Folgenden vorgestellt werden, eine zwar <?page no="163"?> Textnahes Lesen (und Schreiben) 163 textnahes Lesen Ziel: Textnähe durchaus ähnliche, jedoch letztlich gesteigerte Form an: Das Schreiben (→-3) dient einem stark kognitiv ausgerichteten Erkenntnisgewinn. Obwohl beim textnahen l esen schon durch die Bezeichnung die Nähe zum Lesen (→- 4) deutlich wird und auch das vorangestellte Zitat den engen Bezug zu l esestrategien (→-4.3) betont, muss diese Konzeption unzweifelhaft in den Bereich Sich mit Texten und Medien auseinandersetzen eingeordnet werden, weil beim textnahen l esen nicht die Förderung des Lesens im Vordergrund steht, sondern eine (damals neue) Form der Interpretationspraxis etabliert werden sollte - den Mittelpunkt der didaktischen Überlegungen bilden hier nicht die Wahrnehmungen und Verstehensprobleme von Schülern, sondern der literarische Text (Paefgen 2008a: 199). Darstellung In den 1990er Jahren formierte sich eine Gruppe Literaturdidaktiker, die unter der Wendung textnahes l esen einen neuartigen, stärker textorientierten Umgang mit literarischen Texten propagierte (Paefgen 2008a: 199) und im Anschluss an ein Symposion ihre Überlegungen in einem Sammelband veröffentlichte (Belgrad/ Fingerhut 1998; Kämpervan den Boogart 2010). Die Einzelansätze sind mitunter sehr unterschiedlich und es sollte auch beachtet werden, dass sich bis heute immer wieder vor dem Hintergrund divergierender literaturtheoretischer Annahmen weitere Ansätze herauskristallisieren, die sich unter text nahes l esen subsumieren lassen - auch wenn sie sich selbst nicht derartig etikettieren. Zuletzt tauchte bei der Konzeption von Leubner/ Saupe (2014) - ein Lesestrategieansatz für den Umgang mit literarischen Texten (→-S.-125 f.) - die Wendung ‚textnahes Lesen‘ explizit als sogenanntes ‚Strategieset‘ auf. Gemeinsam ist allen, dass sie die Rückkehr zu einer Textnähe propagieren (ausführlich Kämper-van den Boogart 2013: 279) und sich damit mitunter deutlich vom handlungs - und produktionsori entierten l iteraturunterricht distanzieren. Im Vordergrund soll die Sprachästhetik literarischer Texte stehen, nicht der inhaltliche Unterhaltungswert (Paefgen 2008a: 200). Bis heute am stärksten rezipiert werden die allgemein gehaltenen Sechs Thesen von Paefgen (1998: 14 f.): Paefgens Thesen These 1: genaues, langsames, gründliches Lesen Textnahes Lesen soll […] verstanden werden als genaues, langsames, gründliches Studieren eines literarischen Textes; als ein Lesen mit Stiften, mit Papier, mit Zeit und Geduld für den Satz, den Absatz, die Seite; als ein statarisches Lesen, das häufiges Zurückblättern ebenso wenig scheut wie wiederholtes Lesen ein- und derselben Passage, ein- und desselben Textes. <?page no="164"?> 164 Sich mit Texten und Medien auseinandersetzen Textauswahl theoretischer Hintergrund These 2: textnahes Lesen muss gelehrt und gelernt werden Textnahes Lesen ist eine didaktische Herausforderung. Freiwillig lesen Schüler, lesen Lernende nur selten ‚textnah‘. Textnahes Lesen gehört zu den Leseformen, die gelehrt und gelernt werden müssen; in der Schule, aber nicht nur dort. These 3: Textmenge klein halten Eine solche Leseform wird durch vielerlei erschwert: Die leichte Zugänglichkeit von Lesestoff steht dem ebenso entgegen wie die Fülle des Gedruckten, die lesend zur Kenntnis genommen werden soll. Textnahes Lesen ist nach dem Verlust des Kanons, der einen selbstverständlichen Textkorpus des immer wieder neu Gelesenen voraussetzte, fast eine antiquierte Angelegenheit geworden. These 4: mehrmaliges Lesen des Textes Je fremder der Text dem Leser gegenübersteht, um so stärker muß dieser versuchen, ihn textnah zu lesen. Das Übersetzen fremdsprachlicher Texte erzwingt auf ‚natürlichste‘ Art textnahes Lesen. These 5: lyrische Texte sind am geeignetsten Textnahes Lesen steht in Abhängigkeit von den Gattungen: Lyrik wird am textnächsten gelesen, - dramatische Texte stehen an zweiter Stelle. Am schwersten haben es die epischen Texte, die - wie auch immer - eine Geschichte erzählen. These 6: wenig lesen - viel denken Methodische Verfahren, die zu textnahem Lesen auffordern, sind: Reduktion der zu lesenden Textmenge, Diktieren, Abschreiben; überhaupt: Lesen mit Schreiben verbinden. Theoretische Bezüge können sein: Dekonstruktion, Nachvollzug in Formulierungsentscheidungen, tiefenhermeneutische Spurensuche, Intertextualität etc. An diesen Thesen ist deutlich erkennbar, wie nah das textnahe l esen hinsichtlich der methodischen Konsequenzen den oben skizzierten Verfahren der Lesedidaktik (→ 4) steht. Wichtig ist den Vertretern des textnahen l esens jedoch unter anderem, dass im Unterricht auf Texte zurückgegriffen werden soll, die von Schülern nicht in der Freizeit gelesen werden, da damit die Hoffnung verbunden ist, dass sich diesbezüglich noch keine verfestigten Lesemodi herausgebildet haben. Neben lyrischen und dramatischen Texten seien auch Kurz- und Kürzestgeschichten geeignet. Der größte Unterschied zur Lesedidaktik besteht jedoch - neben einer grundsätzlichen Orientierung am Strukturalismus - in weiteren literaturwissenschaftlichen Bezugnahmen. Die folgenden Ausrichtungsmöglichkeiten können nur einen Einblick in die Vielfalt bieten: - intertextuelle Orientierung Der Terminus Intertextualität spielt in der Literaturdidaktik eine sehr wichtige, jedoch nicht unproblematische Rolle Im engeren Sinne umfasst der Terminus Intertextualität eine prinzipielle Eigenschaft aller Texte: die Bezugnahme von einem Text auf einen anderen. Nach Genette ist Intertextualität eine Ausprägung der übergeordneten Transtextualität. <?page no="165"?> Textnahes Lesen (und Schreiben) 165 Bedeutung des Schreibens (Härle 2006). Hinrichs (1998) und Klein (1998) beziehen sich ausdrücklich auf ihn und stellen Möglichkeiten einer textnahen intertextuellen Lektüre vor. In diesem Zusammenhang ist vor allem die Arbeit von Buß (2006) hervorzuheben: Auch dort wird ausdrücklich von der Nähe der intertextuellen Lektüre zum textnahen l esen gesprochen. - produktionsorientierte Ausprägung Eine auf den ersten Blick unerwartete Verbindung besteht auch zwischen dem handlungs - und produktionsorientierten l ite raturunterricht und dem textnahen l esen . So lasse sich zum Beispiel das bekannte Ausfüllen von im Originaltext getilgten Wörtern/ Textstellen als ausgesprochen ‚textnah‘ bewerten; aber auch das Parodieren und Travestieren von literarischen Texten veranschauliche die Nähe dieser beiden zumeist als gegensätzlich aufgefassten Konzeptionen (Burdorf 1998). - dekonstruktive Ausprägung Ein Literaturunterricht, der sich an die Dekonstruktion anlehnt, fragt nicht danach, was der Text bedeutet, sondern wie er konstruiert ist, um unterschiedliche Bedeutungszuschreibungen zu ermöglichen - aber auch wieder zu zerstören. Damit einher geht eine Verschiebung des Selbstverständnisses als Rezipient: Förster spricht davon, dass die „Teilnehmerrolle […] tendenziell[e] vollständig in die des Beobachters“ (Förster 1998: 63) übergehe. Insbesondere die sogenannte doppelte Lektüre (Förster 1998; Fingerhut 1995 u. 1998) hat in der fachdidaktischen Diskussion Bedeutung erlangt (zur Kritik an der Auslegung des Begriffs in der Fachdidaktik →-S.-135 f.). Es mag paradox klingen: Die methodischen Verfahren des textnahen l esens sind in erster Linie schreiborientiert. Durch den Vorgang des Schreibens sollen Schüler zu einem textnahen Lesen „verführt“ (Paefgen 2008a: 204) werden. Dabei steht nicht das Inhaltliche des Textes, sondern die „Vermittlung von sprachästhetischer Kunst“ (ebd.: 200) im Vordergrund. Eine interessante und leicht umsetzbare Möglichkeit stellt Paefgen dar (ebd.: 201 f.): Doppeltes Schreiben Ohne jegliche Vorbereitung wird den Schülern der Anfang (drei Sätze) eines literarischen Textes diktiert. Nach jedem Satz sollen die Schüler zusätzlich ihre eigenen Kommentare, Fragen und Überlegungen notieren. Dieses ‚doppelte Schreiben‘ soll dazu führen, dass die Schüler aufmerksamer die sprachliche Ästhetik des Textes wahrnehmen. <?page no="166"?> 166 Sich mit Texten und Medien auseinandersetzen Schreiben und Lesen L-E-S-E-N Kurz vor dem oben genannten Symposion veröffentlichte Paefgen ihre Monographie Schreiben und Lesen. Ästhetisches Arbeiten und literarisches Lernen (1996), in der sie ihren (ursprünglichen) didaktischen Ansatz ausführlich beschreibt „und die Frage verfolgt, wie das Lesen ästhetischer Texte in ein ästhetisches Schreiben überführt werden und ob diese schreibende Fortsetzung eine begründete Funktion innerhalb des Literaturunterrichts gewinnen kann“ (ebd.: 10). In methodischer Hinsicht lässt sich grob umreißen: Die schreibende und lesende Arbeit mit literarischer Sprache steht im Vordergrund eines Unterrichts, dem es darauf ankommt, die nur und ausschließlich durch literarische Sprache erreichbaren Dimensionen aufzuzeigen, zu erkennen und zu erproben. Eine unmittelbare Konfrontation mit einem literarischen Text, der eines systematisierenden Umfeldes beraubt den Schülern ohne ‚Schutzvorrichtungen‘ und ‚Sicherheitsvorkehrungen‘ präsentiert wird, scheint ein sinnvoller methodischer Weg: Der ‚nackte‘ Text, (zunächst) ohne Autorzuschreibung, ohne (auffangende) historische Einordnung, ohne (schutzbietende) Gattungszuordnungen fokussiert die Aufmerksamkeit auf die Sprache, ‚aus der dieser Text gemacht ist‘. Die Künstlichkeit dieses Verfahrens wird aus diesem Grund gerne in Kauf genommen, zumal diese nicht höher bewertet werden darf als in didaktischen Verhältnissen unweigerlich üblich. In der Didaktik gibt es keine ‚Natürlichkeit‘. (Ebd.: 199) Ihr - an den Arbeiten von Roland Barthes orientierter - Ansatz, den sie als s chreibenund l esen bezeichnet, konnte im textnahen l esen teilweise verwirklicht werden. Auch heute noch gewinnbringend für die unterrichtliche Praxis sind die von ihr vollständig abgedruckten Aufgabenstellungen, die sie in Unterrichtsversuchen eingesetzt hat (ebd.: 201 ff.). Abraham/ Kepser machen auf weitere textnahe Schreibvarianten aufmerksam: unter anderem auf das Schreiben eines Précis und auf die Literarische Charakteristik (2009: 222). Dem textnahen l esen - und mit Einschränkungen auch dem hand lungs - und produktionsorientierten l iteraturunterricht - ähnlich ist ein Ansatz von Fingerhut, der unter der Formel L-E-S-E-N bekannt ist. Die Buchstaben stehen für folgende unterrichtliche Tätigkeiten (1997: 117): L = „Textlektüre“ E = „erste freie und ungeordnete Aussprache“ (‚Erörtern 1‘) S = „aufgabengeleitete Schreibaktion“ E = „Texterörterung unter Einschluß der in der Lerngruppe entstandenen Eigentexte“ N = „Nacharbeiten“ Ein Précis ist eine um ein Drittel der Wortanzahl gekürzte Zusammenfassung des Ursprungstextes. Weder der Informationsgehalt noch der Schreibstil werden verändert. <?page no="167"?> Textnahes Lesen (und Schreiben) 167 Talking to the text mediennahes Lesen/ Hören Fingerhut bezeichnet seinen Ansatz (in Anlehnung an Fritzsche) als heuristisches Schreiben, eine „Form des funktional für Verstehensvorgänge eingesetzten schreibenden Umgangs mit Gelesenem“ (ebd.). Den zentralen Aspekt bildet das zweite E, das ‚Interpretationsgespräche‘ umfasst. L-E-S-E-N hat somit in konzeptioneller Hinsicht drei Berührungspunkte: das textnahe l esen , den handlungs - und produk tionsorientierten l iteraturunterricht und das literarische u nterrichtsgespräch (→-5.4). Es lässt sich jedoch auf Grund seiner Gesamtausrichtung am ehesten dem textnahen l esen zuordnen. Deutlich wird dies aus Folgendem: Der aus der Lektüre eines literarischen Werkes hervorgegangene eigene Text wird […] als ein Fall komplexer Literaturverarbeitung angesehen. In ihn gehen ein: was der Schreibende vom Autor, seiner Epoche, der Textsorte weiß; das, was ihn selbst am Thema des Textes interessiert, bestätigt oder aufgeregt hat; das, was er schon an Sekundärliteratur gelesen und verstanden hat; das, was er an allgemeinen Werturteilen über Literatur im Kopf hat. (Ebd.: 122) Einige Aspekte des textnahen l esens und des Ansatzes L-E-S-E-N von Fingerhut finden sich auch in dem aus der amerikanischen Leseforschung stammenden Verfahren t alking to the text wieder. Ganz offensichtlich könnte dieses Verfahren auch unter den Lernbereich Lesen subsumiert werden; auf Grund der starken Orientierung am schreibenden Subjekt halten wir es jedoch für sinnvoller, es hier einzureihen. Masanek (2008) hat auf dieses Verfahren aufmerksam gemacht. Der didaktische Schwerpunkt liegt auf dem sogenannten ‚konservierend-heuristischen Schreiben‘: Das Schreiben wird nicht nur als Mittel zur Erkenntnisgewinnung genutzt, sondern soll zugleich das Gedächtnis des Schülers entlasten. Folgende Arbeitsschritte kommen im Unterricht zum Einsatz: 1. oberflächlicher Erstkontakt zum literarischen Text (z. B. kurzes Überfliegen des Textes oder das Anschauen von Illustrationen) 2. Hauptphase: detailliertes Lesen und gleichzeitiges Verschriften der Gedanken (z. B. Fragen oder erste Deutungsansätze) 3. Besprechung der Schülertexte im Plenum Besonders interessant an diesem Verfahren ist, dass die Schüler sich zunächst am ‚Experten‘ - hier am Lehrer - orientieren, indem dieser die Herangehensweise demonstriert. Ranjakasoa (2014) ‚rettet‘ das textnahe Lesen in das digitale Zeitalter hinüber, indem sie in bewusster, analogisierender Absicht (unter Rückgriff auf Überlegungen von Zabka) ein so genanntes mediennahes Lesen/ Hören vorschlägt. Dieses stellt sie exemplarisch an Gedichtvertonungen vor. Hingewiesen werden muss im Zusammenhang mit diesem Verfahren schließlich auch auf Zabka (2012), der auf schlüssige Weise zeigt, „wie <?page no="168"?> 168 Sich mit Texten und Medien auseinandersetzen textnahes Lesen nach PISA aussehen kann“ (Paefgen 2008a: 214), und auf Leubner/ Saupe (2014; s. o.). Eine noch zu geringe Berücksichtigung im Literatur- und Medienunterricht erfahren bisher integrative und prozessorientierte Schreibformen (→- 3.10), die insbesondere durch die Zusammenstellung von Portfolios (z. B. durch Vorstufen eigener Texte) gewährleistet werden können (Abraham/ Kepser 2009: 139 mit weiteren Beispielen und Literaturhinweisen). Möglicherweise würden dadurch die unterschiedlichen Lernbereiche Schreiben, Sich mit Texten und Medien auseinandersetzen und Sprache und Sprachgebrauch untersuchen und reflektieren noch nachhaltiger miteinander verknüpft werden. Ebenso kaum etabliert sind- - trotz der Nähe zum kreativen s chreiben (→- 3.11) - Schreibwerkstätten, in denen Schüler nicht mehr (nur) eigene Texte zu literarischen Texten schreiben, sondern auch mehr oder weniger unabhängig davon selbst literarisch tätig werden (Perschke-Leis 1993; Wörner/ Rau/ Noir 2012). Es ist noch nicht intensiv diskutiert worden, ob beziehungsweise in welchem Umfang ein derartiges Schreiben Gegenstand des Deutschunterrichts sein kann und soll. Problematisierung Obwohl zum Beispiel Abraham/ Kepser dem textnahen l esen durchaus skeptisch gegenüberstehen (2009: 222), betonen sie die Notwendigkeit, „die Aufmerksamkeit der Lernenden immer wieder vom Inhaltlichen abzuziehen und auf Sprachliches und vor allem Stilistisches hin zu lenken“ (ebd.). Die Hauptkritik am textnahen l esen zielt immer wieder auf den explizit ‚lustfeindlichen‘, ausnahmslos kognitiv orientierten Umgang mit literarischen Texten ab. Damit einher geht die Einschätzung, dass dieser Ansatz lediglich für das Gymnasium geeignet sei. Unserer Erfahrung nach ist ein phasenweise eingesetztes textnahes l esen - und zwar durchaus auch schon in der Grundschule- - jedoch ein gewinnbringender Umgang mit literarischen Texten. Eine ‚Überdosierung‘ beinhaltet allerdings die Gefahr, Schülern die Freude am Kunstwerk zu nehmen. Tipps für den Unterricht - Wählen Sie für Ihren Unterricht Texte aus, die eine rasche Texterschließung nicht zulassen. - Verknüpfen Sie ausgewählte methodische Bausteine stets mit anderen Ansätzen aus der Deutschdidaktik. - Platzieren Sie die von Ihnen ausgewählten Verfahren eher an den Anfang einer Unterrichtseinheit. <?page no="169"?> Literarisches Unterrichtsgespräch 169 - Geben Sie mehrsprachigen Schülern die Möglichkeit, ihre Kommentare und Fragen zum Text in ihrer Muttersprache niederzuschreiben. - Behalten Sie Ihre Schüler stets im Auge: Fördern Sie diejenigen, die an Literatur besonders interessiert sind, durch zusätzliche Aufgaben im Sinne des literarischen Schreibens nach Paefgen (s. o.). Aufgaben 1. Stellen Sie die Ideen der Konzeption textnahes l esen auf der Grundlage der Paefgen’schen Thesen dar. Überprüfen Sie, inwieweit diese Ideen Aspekten moderner l esestrategien (→-4.3) ähneln. 2. Probieren Sie (zum Beispiel innerhalb Ihrer Lerngruppe) das Verfahren t alking to the text zu folgendem Gedicht (= sein eigener Grabspruch) von Rainer Maria Rilke aus: Rose, oh reiner Widerspruch, Lust, Niemandes Schlaf zu sein unter soviel Lidern. Lektüreempfehlungen zur Vertiefung p aefgen , e. k. (1996) (eine anspruchsvolle, interessante Darstellung der Konzeption; sehr hilfreiche konkrete Aufgaben für den Unterricht) k äMper - Van den B oogart , M. (2013) (kritische, kenntnisreiche Anmerkungen zum textnahen L esen ; sehr gut geeignet für eine erste vertiefende Auseinandersetzung; umfangreiches Literaturverzeichnis) 5.4 Literarisches Unterrichtsgespräch Wer meint, den Sinn zu haben , hat ihn schon verloren. (Härle 2014c: 42) Jeglicher Unterricht ist undenkbar ohne das (gemeinsame) Sprechen über bestimmte Phänomene. Es liegt auf der Hand, dass dem Deutschunterricht dabei allgemein eine besondere Rolle zukommt (→- 2); aber auch und insbesondere im Literatur- und Medienunterricht hat das Gespräch eine große Bedeutung. Der Literaturunterricht war bis zum Ende des 20. Jahrhunderts dominiert von einer überaus problematischen Gesprächsform: dem fragend-entwickelnden Unterrichtsgespräch (Spinner 1992b; Fritzsche 1994: 176 ff.). Diese lange Zeit unhinterfragte Praxis lässt sich auf die Lehrdialoge des Sokrates zurückführen und ist - trotz gegenteiliger Entwicklungen in der Didaktik - bis heute die in der schulischen Praxis am häufigsten zu beobachtende. Becker-Mrotzek/ Vogt umreißen das methodische Vorgehen wie folgt: <?page no="170"?> 170 Sich mit Texten und Medien auseinandersetzen Vorläufer Die Kunst des Lehrenden besteht darin, dem Lernenden durch Fragen zunächst sein Nichtwissen vor Augen zu führen, um ihm anschließend durch weitere Fragen zur selbstständigen Erkenntnis zu verhelfen. Das setzt voraus, dass das erforderliche Wissen bereits vorhanden ist und durch richtiges Fragen lediglich ins Bewusstsein gebracht werden muss, es muss gleichsam entbunden werden. (2009: 77 f.) Diese Haltung des Lehrenden sowie das damit verbundene Verständnis von Lernen wurden im Kontext der Literaturdidaktik immer wieder stark kritisiert. Einerseits folgte daraus die Etablierung des hand lungs - und produktionsorientierten l iteraturunterrichts (→-5.2), zum anderen gab es unterschiedliche didaktische Bemühungen um eine Neubestimmung des Gesprächs im Literaturunterricht, die im sogenannten Heidelberger Modell gipfelten. Dieses Modell ist derzeit das am überzeugendsten theoretisch fundierte und das am meisten beachtete. Bisher sind zwei Sammelbände zu dem Modell erschienen (Härle/ Steinbrenner 2014; Steinbrenner/ Mayer/ Rank 2014); darüber hinaus gibt es neben ein paar verstreuten Aufsätzen den für die Praxis sehr empfehlenswerten Beitrag von Steinbrenner/ Wiprächtiger (2010). Die zunehmende Bedeutung des Heidelberger Modells lässt sich unter anderem daran ablesen, dass es mittlerweile an einigen Hochschulen schon „Bestandteil des Pflichtcurriculums“ (Garbe 2014: 68) ist. Darstellung Im Folgenden werden zunächst Vorläufer des Heidelberger Modells aufgezeigt (dazu ausführlich Härle/ Steinbrenner 2014: 6 ff.). Wieler setzte mit ihrer Arbeit (1989) den entscheidenden Wendepunkt in der didaktischen Neuorientierung des literarischen u n terrichtsgesprächs . Ihre empirischen Ergebnisse offenbaren deutlich die Problematik der gängigen Praxis, die vornehmlich nach dem ‚Aufgabe-Lösungs-Muster‘ verlief (bzw. verläuft). Wieler fordert einen eigenen diesbezüglichen Lernbereich (Verständigung über literarisches Verstehen) und macht Vorschläge zur Veränderung der schulischen Praxis (u. a. die Ausgestaltung der Lehrerrolle als ausschließlich organisierend-moderierende). Die Arbeit von Werner (1996) offenbart ähnliche Erwägungen: Der Lehrer soll als Moderator fungieren und sich selbst inhaltlich nicht am Gespräch beteiligen. Wichtig ist ihm die explizit demokratische Ausrichtung des unterrichtlichen Geschehens. Vogt (2002) unterscheidet zwischen lehrer- und schülerzentrierten Gesprächen über Literatur; beide Ausprägungen hätten Vor- und Nachteile. Er plädiert unter anderem grundsätzlich für eine stärkere Einbeziehung von Schülern in die Unterrichtsplanung. Merkelbach und sein Forscherteam <?page no="171"?> Literarisches Unterrichtsgespräch 171 theoretische Grundlagen Literaturtheorie Spracherwerbstheorie Gesprächstheorie (Christ et al. 1995) arbeiteten im Sinne der Handlungsforschung eng mit Lehrern zusammen, um herauszubekommen, wie bestmöglich über literarische Texte gesprochen werden könne. Erstmalig wurde formuliert, dass der Lehrer nicht nur moderierend, sondern prinzipiell als gleichberechtigter Gesprächspartner am unterrichtlichen Geschehen teilnehmen solle. In dem mittlerweile sehr bekannten Buch Versteh mich nicht so schnell (2004) bietet Andresen einen interessanten Einblick in ihre Tätigkeit als Lehrerin. Dem Leser wird deutlich, wie bedeutsam eine persönliche, empathische Beziehung zu Schülern und die Textauswahl gerade für das literarische u nterrichtsgespräch sind. Spinner hat mehrere Aufsätze zum literarischen u nterrichtsgespräch verfasst (1987; 1992b; 2014c). Neben praxisorientierten Vorschlägen für sinnvolle Gesprächsimpulse liegt sein Augenmerk besonders auf der Verknüpfung von literarischen Gesprächen mit dem handlungs - und produktionsorientierten l iteraturunterricht sowie auf einer Anregung zu ‚Gesprächseinlagen‘ beim Vorlesen (→- S.- 112 ff.) literarischer Texte. Unter Berücksichtigung bestimmter hermeneutischer Positionen untersucht Hurrelmann (1987) literarische Gespräche und kommt zu dem Ergebnis, dass ein Gelingen gewährleistet sei, wenn die Gespräche zwischen den Polen ‚Elaborieren‘ und ‚Strukturieren‘ hin- und herpendelten. Dieses Moment solle in der Didaktisierung des literarischen u nterrichtsgesprächs berücksichtigt werden. Das Heidelberger Modell bezieht sich auf sehr unterschiedliche theoretische Grundlagen (siehe hierzu ausführlich Härle/ Steinbrenner 2003; in Kurzform Steinbrenner/ Wiprächtiger 2010: 2 ff.). In der Einleitung zu diesem Lernbereich wurde schon die Problematik des Begriffs ‚Verstehen‘ angerissen. Hier setzt das Forscherteam um Härle an und beruft sich ebenso wie Hurrelmann (s. o.) auf die Hermeneutik Schleiermachers. Diese verbindet sie jedoch mit Aspekten der Dekonstruktion, um zu begründen, dass literarische Gespräche keine ‚geschlossenen‘ Interpretationen als Ziel haben dürften. Die ‚Heidelberger‘ beziehen sich in ihrer Begründung für die Form literarischer Gespräche auf Erkenntnisse der literarischen Sozialisation (siehe zu Vorlesegesprächen Wieler 1997). Daneben wird auf die Spracherwerbstheorie von Bruner (2002) rekurriert, der Erzähl- und Vorlesegespräche als Formate beschreibt, „die wesentliche literarische Erfahrungen ermöglichen und die Basis literarischer Kompetenz bilden“ (Steinbrenner/ Wiprächtiger 2010: 2). Schließlich übernimmt das Forscherteam (in modifizierter Form) bestimmte Bausteine aus dem Modell der themenzentrierten i n teraktion (→-2.1). <?page no="172"?> 172 Sich mit Texten und Medien auseinandersetzen Zielsetzungen praktische Umsetzung Gesprächsverlauf Es wird davon ausgegangen, dass Schüler insbesondere - und teilweise sogar ausschließlich - im literarischen u nterrichtsgespräch folgende grundlegende literarische (und sprachliche! ) Kompetenzen erwerben können (ebd.: 4 ff.): 1. Sich in einem Wechselspiel auf den Text und auf persönliche Erfahrungen beziehen 2. Leseerfahrungen und Verstehensansätze in der eigenen Sprache formulieren 3. Den literarischen Text und seine Sprache mimetisch nachvollziehen 4. Die eigene Sprache an der Sprache des literarischen Textes erweitern und bilden 5. Sprache im Gespräch über einen literarischen Text thematisieren und reflektieren 6. Sich über unterschiedliche Lesarten verständigen 7. Irritation und Nicht-Verstehen artikulieren und aushalten 8. Gesprächskompetenzen entwickeln 9. An kultureller Praxis teilhaben Zum konkreten Einsatz in der Schule haben die ‚Heidelberger‘ sich recht lange sehr zurückhaltend geäußert. Dies liegt im eigenen Verständnis der Modellierung begründet: Das Heidelberger Modell des literarischen Unterrichtsgesprächs ist weniger eine spezifische Technik, die zu erlernen erfolgreiche Gespräche garantiert, sondern steht vielmehr für eine bestimmte Haltung gegenüber den Schülerinnen und Schülern, dem Text und dem Gespräch, die sich in den einzelnen methodischen Formen ausdrücken kann. (Steinbrenner/ Wiprächtiger 2010: -6) Mittlerweile liegen jedoch klarere Vorstellungen vor. Neben der Textauswahl (Gedichte und kurze epische Texte), dem Gesprächsrahmen (Sitzkreis; Dauer des Gesprächs: etwa 30-Minuten) und der Leitung (partizipierend) gibt es einen Vorschlag zum Gesprächsverlauf (Steinbrenner/ Wiprächtiger 2010: 7 ff.). Das Heidelberger Modell zielt nicht auf eine (plausible) Interpretation des Textes ab. Im Vordergrund steht die Verständigung über unterschiedliche Deutungsangebote. Entscheidend hierbei ist, dass die Schüler sich über das Vorhandensein mehrerer Bedeutungsmöglichkeiten bewusst werden und den Nutzen eines diesbezüglichen gemeinsamen Bemühens um den Text erkennen. In diesem Zusammenhang muss hervorgehoben werden, dass das Literarische u nterrichtSgeSpräch Auch Schweigen ist in einem literarischen Unterrichtsgespräch erlaubt. (Steinbrenner/ Wiprächtiger 2010: 7) <?page no="173"?> Literarisches Unterrichtsgespräch 173 sich auf Grund seines Formats in besonderem Maße auch für den Literaturunterricht an Förderschulen (siehe hierzu die empirische Studie von Wiprächtiger-Geppert 2009) beziehungsweise für einen inklusiven Literaturunterricht eignet. 1. Einstieg • Gesprächsatmosphäre herstellen • Rahmen und Regeln deutlich machen 2. Textbegegnung • Text einmal oder mehrmals vorlesen 3. erste Runde • allen (Schülerinnen, Schülern und mir) Gelegenheit geben, sich zu äußern 4. offenes Gespräch • den Schülerinnen und Schülern (und mir selbst) Raum geben, sich mit eigenen Themen zum Text zu äußern • Zeit lassen zum Nachdenken • Impulse für die Schülerinnen und Schüler oder Hilfen zur Gesprächsführung einbringen, wenn dies erforderlich ist 5. Schlussrunde • allen (Schülerinnen, Schülern und mir) Gelegenheit geben, sich zu äußern 6. Abschluss • in Ruhe beenden, Rahmen deutlich machen • Schlusspunkt setzen Abb. 8: Struktur eines literarischen U nterrichtsgesprächs (nach Steinbrenner/ Wiprächtiger 2010: 11) Problematisierung Garbe stellt die Neuorientierung des literarischen u nterrichts gesprächs auf Grund seiner theoretischen Bezugspunkte und Zielsetzungen als eine der wichtigsten Konzeptionen der letzten Jahre heraus (2014: 80). Darüber hinaus bemerkt sie: „Die Heidelberger Forschungsgruppe zum Literarischen Unterrichtsgespräch ist vielleicht der literaturdidaktische Arbeitszusammenhang des vergangenen Jahrzehnts, der sich am konsequentesten dem […] bildungspolitischen Mainstream verweigert hat“ (ebd.: 90). Diese unzweifelhaft besonders auffällige Haltung der ‚Heidelberger‘ kann jedoch bestimmte problematische Aspekte nicht verdecken. Erstens haben unserer Erfahrung nach Studierende erhebliche Schwierigkeiten, sich auf das ‚Wagnis‘ einzulassen, ein derart offenes Gespräch mit Schülern auszuprobieren beziehungsweise anzubahnen. Ihre eigenen Erfahrungen mit schulischem Literaturunterricht, in dem es in erster Linie um das möglichst restlose Tilgen von Unverständnis <?page no="174"?> 174 Sich mit Texten und Medien auseinandersetzen Stolpersteine ging, stehen einer diesbezüglichen Offenheit stark entgegen. Zudem ist es nur sehr schwer möglich, sich beispielsweise in Praktika den Schülern so zu nähern, dass ein literarisches u nterrichtsgespräch überhaupt sinnvoll erscheint - dies ist jedoch letztlich ein Organisationsproblem von Hochschulen. Dennoch ist damit ein zweiter Problemkreis berührt: Auf Grund ihrer bisherigen Erfahrungen mit Schule bringt der Großteil der Schüler die schlechtesten Voraussetzungen für das Gelingen eines literarischen u nterrichtsgesprächs mit: Vor allem zwei Stolpersteine scheinen den Einsatz literarischer Gespräche in der Schulpraxis zu erschweren: die mangelnden Gesprächskompetenzen der Schülerinnen und Schüler und die Offenheit des Gesprächs, die in Spannung steht zum institutionellen Rahmen beziehungsweise zu den Normen der Sozialisationsinstanz Schule. (Ohlsen 2014: 338) Die Ansicht, dass die Implementierung des Heidelberger Modells in öffentlichen Schulen nur schwerlich oder sogar überhaupt nicht möglich sei, wird von einigen Didaktikern mehr oder weniger explizit vertreten. Spinner zum Beispiel steht dem Modell in seiner ‚Reinform‘ vor dem Hintergrund des Einsatzes in Großgruppen skeptisch gegenüber und plädiert dafür, sowohl die wichtigen ‚Vorläufer‘ (s. o.) als auch das ewig kritisierte fragend-entwickelnde Gespräch nicht vollständig zu ‚vergessen‘: Statt einen Gesprächstypus mit Hochwertwörtern [gemeint sind Begriffe wie z. B. ‚authentisch‘, C. H./ A. K./ R. O.] zu belegen, erscheint es mir sinnvoll, die Möglichkeiten und Grenzen der unterschiedlichen Gesprächsformen differenziert wahrzunehmen und diese im Unterricht flexibel einzusetzen (also beispielsweise fragend-entwickelnde Gespräche, moderierte Gespräche im Sinne der Frankfurter Gruppe und geleitete literarische Gespräche im Sinne des Heidelberger Projektes). (2010c: 294) Schließlich birgt der mit dem Terminus ‚partizipierende Leitung‘ (Härle 2014a; kritisch: Rubner/ Rubner 2014 und Kleer 2014, die explizit auf die Problematik hinweist, dass die von ‚den Heidelbergern‘ kritisierte Lehrerdominanz letztlich auch in dieser Konzeption nicht überwunden wird) verbundene Anspruch gerade in Gesprächen mit (jüngeren) Schülern weitere Problematiken. So wird zum Beispiel in diesem Zusammenhang auch eine ‚Partnerschaftlichkeit‘ zwischen Schülern und Lehrern postuliert, die wir - trotz oder vielmehr wegen unserer langjährigen Erfahrungen an Schulen - nicht nachvollziehen können und möchten (siehe vertiefend hierzu die Kritik von Olsen 2011b sowie die Replik von Härle 2014b). Ohlsen hat vor diesem Hintergrund schulische Untersuchungen durchgeführt und schlägt entsprechend folgende Modifikationen des Heidelberger Modells vor (2014: 339 ff.): <?page no="175"?> Literarisches Unterrichtsgespräch 175 Modifikationen - Durchführung eines gezielten Gesprächstrainings für Schüler (Schwerpunkte: aktives Zuhören und aufeinander Eingehen) - Begrenzungen der Offenheit literarischer Gespräche (Transparenz der Methode, Textauswahl, Einführung eines Gesprächsprotokolls, Arbeit in Kleingruppen, Einsatz eines Lerntagebuchs) Weitere überaus interessante Modifikationen, die Berührungspunkte vor allem zum Schreiben (→- 3), aber auch zum Lesen (→- 4) aufweisen, hat Bräuer (2014) vorgeschlagen (siehe auch die methodischen Ideen-- ‚Textlupe‘ und ‚Detektivausweis‘ - von Heizmann 2014). Spinner überschreitet unter anderem bewusst die Grenzen zu anderen literaturdidaktischen Konzeptionen und unterbreitet für das literarische Unterrichtsgespräch folgende methodische Möglichkeiten: Methodische Anregungen zu Literarischen Gesprächen in der Sekundarstufe (Spinner 2014a: 126 ff.) 0. Vorbereitung ‚lautes Denken‘ (Text liegt den Schülern vor, die halblaut dazu assoziieren); Schreibgespräch (Text liegt auf einem großen Papierbogen in der Mitte; die Schüler schreiben ihre Assoziationen und Fragen zum Text auf das Papier) 1. Textwahl Bezüge zu eigenen Lebenserfahrungen; deutliches Irritationspotential 2. räumliches Arrangement Sitzkreis; bei Klassen mit über 15 Schülern Bildung eines Innen- und Außenkreises (= ‚beobachtend‘); mögliche Wechsel der Sitzpositionen berücksichtigen 3. Einstieg verschiedene Möglichkeiten, die auch kombiniert werden können: Lehrkraft liest den Text vor/ anschließend lesen die Schüler selbst; Schüler lesen selbst/ anschließend liest jeder eine gewählte Textstelle vor oder weist auf eine irritierende Formulierung hin; ‚Blitzlicht‘ (jeder gibt ein kurzes Statement zum Text ab oder sagt, was der Text in ihm [nicht] ausgelöst hat); Lehrkraft gibt einen Impuls („Für mich gibt es einen Satz im Text …“) Alternative: Vorschaltung einer Produktionsaufgabe (zum Beispiel das Ausdenken eines Titels oder die Auswahl aus unterschiedlichen [von der Lehrkraft ausgedachten] Schlusssätzen) 4. Moderation Die Lehrkraft als Moderator kann Fragen stellen oder Impulse geben. Wichtig ist, dass hierbei Offenheit gewährleistet ist (also nicht: „Was bedeutet diese Metapher? “, sondern: „Ich überlege, was diese Formulierung bedeuten kann. Wie versteht ihr sie? “). Bei Bedarf soll sie Hintergrundwissen zum Text liefern können, zum Beispiel zum Entstehungshintergrund. Äußerungen von Schülern sollen immer wieder miteinander verknüpft werden („Stefan hat vorhin gesagt …“). Eine besondere Aufgabe besteht im Aufrechterhalten der Balance zwischen Textbezug und subjektivem Eindruck. Stille Schüler sollten vorsichtig in das Gespräch einbezogen werden - allerdings nicht durch ein bloßes Aufrufen. 5. Abschluss und Nachbereitung Durchführung einer Endrunde (jeder äußert sich zusammenfassend zum Text); Teilnehmer des Außenkreises tauschen ihre Eindrücke aus; Text noch einmal ‚abrundend‘ vorlesen (lassen). <?page no="176"?> 176 Sich mit Texten und Medien auseinandersetzen Wir gehen davon aus, dass durch derartige - und möglicherweise noch weitere zielgruppenspezifische - Veränderungen der Einsatz des Heidelberger Modells in Regelschulen gewinnbringend unterstützt wird: Es versteht sich, dass sich das literarische Gespräch wesentlich weniger gut in die Institution Schule einpasst als das strategieorientierte Lernen. Die große Schülerzahl in den Klassen macht es kaum möglich, dass sich alle an einem solchen Gespräch intensiv beteiligen. Dass kein eindeutiges Ergebnis anvisiert wird, kollidiert mit der Leistungsorientierung und -feststellung in der Schule. Aber dieses Spannungsverhältnis betrifft grundsätzlich die Literatur und die damit verbundene ästhetische Erfahrung, die ja einen Gegenpol zur Zweckrationalität darstellt. Durch das literarische Gespräch kann Schülerinnen und Schülern bewusst werden, dass zur Bildung nicht nur Wissenserwerb und Aneignung von Fähigkeiten zur Problemlösung gehören, sondern auch die Entfaltung einer Bereitschaft, sich der Welt des Imaginären, dem intuitiven Angesprochensein und der Irritation zu öffnen und sich darüber ohne bestimmte Zweckorientierung auszutauschen. (Spinner 2007: 25) Zuletzt hat Kleer (2014) mit einer außerordentlich starken Modifikation auf sich aufmerksam gemacht. Im Rahmen ihres lesedidaktischen Konzepts Lesefriends (→- S.- 128) konzipiert sie ein Format der literarischen Anschlusskommunikation, das gänzlich auf die Lehrkraft verzichtet: Das Gespräch „wird in freundschaftlich verbundene, selbstgewählte Kleingruppen verlagert“ (ebd.: 53). Ob diese in der Didaktik noch nicht diskutierte Möglichkeit sich auch im Literaturunterricht etablieren wird, bleibt abzuwarten. Wenn Lehrende sich diesen Herausforderungen stellen, wird sich mit großer Sicherheit zeigen, dass das (post)moderne literarische u nterrichtsgespräch für alle Medien, die einen bestimmten ästhetischen Wert aufweisen, geeignet sein wird (siehe hierzu auch die Hinweise von Abraham - 2008: 120 - hinsichtlich der Eignung verschiedener ‚Nichtprintmedien‘ als Gegenstände literarischer Gespräche). Voraussetzung hierfür ist allerdings das Einnehmen einer bestimmten Haltung sowohl den Schülern als auch dem Text gegenüber - unserer Erfahrung nach hängen diesbezügliche Probleme jedoch mit dem Selbstkonzept von Studierenden zusammen. Eine Veränderung kann in diesem Zusammenhang nur langfristig erfolgen. Tipps für den Unterricht - Bereiten Sie literarische U nterrichtsgespräche langfristig vor, indem Sie mit Ihren Schülern allgemeine Gesprächskompetenzen (Sprechen und Zuhören, → 2) einüben. - Fügen Sie nach und nach einzelne Gesprächsphasen im Sinne des Heidelberger Modells in Ihren Unterricht ein - planen Sie zum Beispiel beim Vorlesen ‚Gesprächseinlagen‘ (siehe hierzu Spinner 2014c) ein. <?page no="177"?> Szenische Interpretation 177 - Wählen Sie ausschließlich kurze Texte aus, die sich nur schwerlich (oder auch gar nicht) ‚verstehen‘ lassen. - Verbinden Sie das literarische U nterrichtsgespräch je nach Zielsetzung Ihres Unterrichts auch mit anderen deutschdidaktischen Konzeptionen. Bedenken Sie jedoch, dass es auch hervorragend dafür geeignet ist, ‚alleine‘ im Mittelpunkt Ihrer didaktisch-methodischen Überlegungen zu stehen - probieren Sie auch diese Möglichkeit aus. Aufgaben 1. Ziehen Sie die ‚Hilfsregeln‘ von Cohn heran (→-2.1) und begründen Sie, welche für das literarische u nterrichtsgespräch (im Sinne des Heidelberger Modells) besonders wichtig sind. 2. Stellen Sie sich eine Klasse vor, die Sie bereits unterrichtet haben, oder versuchen Sie, sich an Ihren eigenen Literaturunterricht zu erinnern. Welche Modifikationen des Heidelberger Modells wären aus Ihrer Sicht notwendig (und auch umsetzbar)? Lektüreempfehlungen zur Vertiefung h ärLe , g./ S teinBrenner , M. (Hg.) ( 3 2014): (der erste Sammelband, mit dem der Beginn einer Konzeptionalisierung begründet wurde) S teinBrenner , M./ M ayer , J./ r ank , B. (Hg.) ( 2 2014) (der zweite Sammelband, der den Status als anerkannte Konzeption dokumentiert) S teinBrenner , M./ W iprächtiger , M. (2010): (ein praxisorientierter Beitrag, der den Einstieg in die unterrichtliche Umsetzung erleichtert) 5.5 Szenische Interpretation Szenisches Interpretieren ist Tätigsein mit Literatur. (Schau 1996: 18) Das szenische i nterpretieren von Texten nimmt im Bereich literaturdidaktischer Konzeptionen eine Sonderstellung ein, da es häufig nicht als eigenständige Konzeption, sondern unter den handlungs - und produktionsorientierten l iteraturunterricht (→- 5.2) subsumiert wird (Spinner 2002: 255 u. 2008a: 190) - wenn es denn überhaupt in literaturdidaktischen Veröffentlichungen erwähnt wird. Auf Grund der Eigenarten der szenischen i nterpretation im methodischen Bereich und hinsichtlich der intendierten Zielsetzungen sollte ihr jedoch innerhalb der Literaturdidaktik der Status einer eigenständigen Konzeption zugesprochen werden. Erst dadurch wird ihr besonderer Charakter erkennbar, der sich zumindest in der moderneren Ausprägung deutlich vom demjenigen des handlungs - und produktionsorientierten l iteraturunterrichts unterscheidet. <?page no="178"?> 178 Sich mit Texten und Medien auseinandersetzen Vertreter Darstellung Die szenische i nterpretation ist eine handlungs- und insbesondere erfahrungsbezogene Modellierung, die eine Erschließung von Texten auf mehreren Bewusstseinsebenen anstrebt und sich durchgängig explizit als „Ergänzung“ (Schau 1996: 23) zu anderen Konzeptionen versteht. Mitunter gerät in Vergessenheit, dass diese Konzeption durchaus auch beim Umgang mit Sachtexten Anwendung finden kann (ebd.: 75 ff.). Die begriffliche Wendung szenisches i nterpretieren wurde 1980 von Klinge eingeführt; die Weiterentwicklung zu fundierten Modellierungen mit unterschiedlichen Strategien und Techniken leisteten Schau und schließlich Scheller, dessen Name heute untrennbar mit der Konzeption verbunden ist. Eine Übertragung auf die Grundschule wurde von Grenz vorgenommen. Ein weiterer prominenter Vertreter ist Kunz, dessen für den Einsatz in der gymnasialen Oberstufe empfehlenswertes Buch Spieltext und Textspiel (1997) den Überlegungen der bisher genannten Vertreter nahe kommt. Seine im Jahre 2010 erschienene Monographie offenbart jedoch eine didaktische Richtungsänderung: Kunz ist mittlerweile der Auffassung, dass die Schüler nicht ‚nur‘ (szenisch) interpretieren, sondern auch und vor allem gestalten - also inszenieren-- sollten (2010: 2). Durch diesen deutlichen ‚Sprung‘ zum Schultheater und zum Darstellenden Spiel, das in einigen Bundesländern als eigenständiges Unterrichtsfach der öffentlichen Schule etabliert Theatrale Lyrikuntersuchung (TLU) Bahn (2014) entwickelt aus theatraler Perspektive eine neue Form der Lyrikuntersuchung: Diese beziehe ihre Wurzeln „aus der noch relativ jungen Tradition der szenischen Interpretation“ (ebd.: 14). Damit erweitert Bahn das Textspektrum der szenischen i nterpretation um diejenige Gattung, die bis dahin von dieser Konzeption zumeist ausgespart wurde. Das Ziel der TLU „ist die Entwicklung einer eigenständigen Position der Deuter zum Text, indem diese ein am Text belegbares Verständnis des selbigen erarbeiten“ (ebd.: 31). In methodischer Hinsicht basiert die TLU auf folgendem Phasenmodell (ebd.: 82; → S. 135): 0. Einstimmung - Aufgabe und Erwartungshaltung 1. Leseprozesse - Inhaltserfassung und Bruchstellenmarkierung 2. Theatralisierung des Gedichts - Visualisierung, Segmentierung, Konkretisierung 3. Rückblick auf die Oberfläche - Strukturerfassung 4. Spielentwicklung - Verknüpfung zweier Disziplinen aus der Distanz 5. Theaterspiel - Lyrik erleben, Theater machen Um die Annäherung an den literarischen Text zu unterstützen, werden drei sogenannte ‚Hillfsmittel‘ zur Verfügung gestelllt (siehe ebd.: 83 ff.): Verständnistagebuch, Fragenkatalog und Darstellungsplan. Die TLU stellt unserer Einschätzung nach eine interessante Möglichkeit dar, Schülern einen nachhaltigen, handlungsorientierten Zugang zu Lyrik zu verschaffen. Eine didaktische Diskussion dieses Ansatzes steht allerdings noch aus. <?page no="179"?> Szenische Interpretation 179 Zielsetzungen theoretische Bezüge ist, wird trotz der naturgemäßen Nähe zum Deutschunterricht dessen Kernbereich doch derart stark überschritten, dass wir die Modifikation seines Ansatzes im Folgenden außer Acht lassen. Die Zielsetzungen der szenischen i nterpretation sind äußerst vielfältig. Während Scheller beabsichtigt, literarische Texte nicht als lebensweltferne Lerngegenstände zu vermitteln, sondern sie eng an die eigenen Lebenserfahrungen binden möchte (2010: 48), will Schau sowohl ein genussvoll-sinnliches Literaturerleben als auch ein erleichtertes kognitives Erschließen von Texten ermöglichen, das in der Regel fächerübergreifend orientiert sein soll (1996: 7 u. 22). Heute wird generell von einem sehr weiten inhärenten Lernpotenzial für die Bereiche Lesemotivation, Lesekompetenz und das literarische Lernen ausgegangen (Grenz 2010, 2012). Neben die eng an literarische Bildungsgegenstände gekoppelten Zielsetzungen soll das szenische i nterpretieren viele weitere Lernprozesse anstoßen und vertiefen (siehe umfassend Scheller 2010: 75 ff.): unter anderem haltungsbezogenes (die Schüler sollen sich Haltungen und Verhaltensweisen bewusst machen und dadurch neue Perspektiven entwickeln), historisches (die Schüler sollen sich ihrer eigenen Historizität bewusst werden) und interkulturelles Lernen (die Schüler sollen sich in Menschen mit einem anderen kulturellen Hintergrund einfühlen; siehe hierzu auch Olsen 2011a). Terminologische Abgrenzungen Szenisches Spiel: eine Methode der szenischen i nterpretation ; eine besondere Form des Rollenspiels; es wird auch ganz unabhängig von literarischen Texten in anderen Unterrichtsfächern eingesetzt (→ 2.4) Darstellendes Spiel: die Wendung wird ausschließlich in schulischen Zusammenhängen verwendet; im weiteren Sinne umfasst sie alle Formen des In-Szene-Setzens wie zum Beispiel auch das szenische i nterpretieren und das szenische Spiel; im engeren Sinne ist damit das Schultheater oder das (in einigen Bundesländern etablierte) Schulfach gemeint Theatrales Rollenspiel: eng auf das Phänomen Theater bezogen; zumeist nehmen die Spielenden typische Rollen an (zum Beispiel den ‚jugendlichen Liebhaber‘) (Soziales) Rollenspiel: es gibt spontane und reglementierte (zum Beispiel die weit verbreiteten Fantasy-) Rollenspiele; in der Regel kein Bezug zu literarischen Texten; der Schwerpunkt liegt nicht im Geschehen, sondern in der Rollenpersönlichkeit (Psychodrama) oder in der Erprobung kommunikativer Muster (→ 2.4) Den theoretischen Hintergrund für die vielfältigen methodischen Verfahren bietet in erster Linie die Rezeptionsästhetik, auf die sich schon Klinge bezogen hat. Davon grenzt sich Schau, der im szenischen i n terpretieren mehr als ein methodisches Verfahren sieht, (scheinbar) ab: Er verortet seinen Ansatz in der psychologischen „Tätigkeitstheorie“ (1996: 15) - der wohl bedeutendste Vertreter ist Wygotski--, die unter anderem die gegenständliche Tätigkeit zu einem obersten Prinzip erhebt. <?page no="180"?> 180 Sich mit Texten und Medien auseinandersetzen Verlaufsmodell nach Scheller Auffällig ist, dass Schau letztlich doch immer wieder das szenische i nterpretieren auch rezeptionsästhetisch legitimiert (1996: 20 f.). Scheller hingegen bezieht sich auf allgemeine theater- und schauspielpädagogische sowie sozio- und psychodramatische Ansätze wie zum Beispiel diejenigen von Stanislawski, Artaud, Fo und Boal (2010: 16). Darüber hinaus zieht er auch die epische Spielweise von Brecht und die theoretischen Überlegungen von Turner zum ‚sozialen Drama‘ (ebd.: 23 f.) heran. Sein Hauptanliegen besteht darin, mit Mitteln des szenischen Spiels einen Prozeß in Gang zu bringen und zu intensivieren, in dem Schüler und Schülerinnen bei der Auseinandersetzung mit den im Text gestalteten fremden Lebensentwürfen, Handlungsmustern und Szenen eigene Erlebnisse, Empfindungen und Verhaltensmuster entdecken können. (1996: 22) Scheller, dessen Überlegungen in der Praxis am häufigsten herangezogen werden, liefert klare methodische Hinweise für den Verlauf einer szenischen i nterpretation (vgl. 2010: 49 ff.). Zuerst sollten mit Bildern/ Projektionen unterschiedliche Zugänge und Deutungsmöglichkeiten zum literarischen (hier beispielhaft: dramatischen) Text offengelegt werden, um ein Vorverständnis für die Situation zu schaffen. Daraufhin werden die Schüler durch den Einsatz verschiedener Techniken dazu angeregt, sich in die Szenen und die Figuren einzufühlen, um deren Lebenszusammenhänge, Verhaltensweisen und Haltungen nachempfinden zu können. Anschließend wird in einzelnen Stationen szenisch reflektiert, wobei die Beobachter und die Spieler aus ihrer eigenen Sicht sowie diese auch aus der Sicht der von ihnen dargestellten Figuren äußern, was sie wahrgenommen und empfunden haben. Zum Schluss wird die gesamte szenische i nterpretation ausgewertet, indem sie durch Standbilder und ähnliche Techniken rekonstruiert, reflektiert und gedeutet wird (siehe hierzu das ausführliche Unterrichtsbeispiel in Steiner 2013: 197 ff.); hierbei findet auch die Auseinandersetzung mit der Form und spezifischen Stilelementen statt. Um das szenische i n terpretieren nicht durch die Kenntnis vom Ausgang der Handlung zu beeinflussen, empfiehlt Scheller, den literarischen Text jeweils nur abschnittsweise lesen zu lassen. Kaum noch berücksichtigt werden die Hinweise zum Ablauf einer szenischen i nterpretation von Schau (1996: 26 ff.) - obwohl sie nicht weniger interessant sind. Szenisch interpretieren lassen sich nicht nur dramatische, sondern im Prinzip alle Texte. Vorschläge für den Einsatz literarischer Texte fin- Konstantin S. Stanislawski (1863-1938) war ein russischer Schauspieler, Regisseur, Theaterreformer und -theoretiker. Er vertrat die Ansicht, dass ein Schauspieler seine eigenen Erfahrungen und Gefühle in eine Rolle einbringen solle. <?page no="181"?> Szenische Interpretation 181 Lernkontrollen den sich in großer Zahl in den Publikationen von Scheller und Schau. Um sich einen Einblick in die Vielfalt der methodischen Möglichkeiten innerhalb einer Unterrichtseinheit zu verschaffen, sind die Beiträge von Dieterle/ Iaconis (2010a u. 2010b) und Grenz (2010) sehr hilfreich. Darüber hinaus ist diese Konzeption - wie oben schon erwähnt - auch für die Erschließung von Sachtexten geeignet. Techniken der SzeniSchen i nterpretation Eine Gegenüberstellung der methodischen Zugriffe von Scheller und Schau verdeutlicht das unterschiedliche Verständnis der szenischen i nterpretation : Scheller: - Fantasiereisen (z. B. zur Einfühlung in örtliche Begebenheiten) - Rollentexte (z. B. zur Aneignung der Lebenssituation) - Selbstdarstellungen (Rollenbiographien) - Habitus- und Körperhaltungsübungen - szenisches Lesen (Erarbeitung von Sprechhaltungen) - Raumbeschreibungen - Rollengespräche (Aneignung der Kommunikationsweisen der Figuren) - szenische Improvisation (Entwicklung von Deutungsvarianten) - Standbilder (Reflexion von Beziehungskonstellationen und Situationen) - Stimmenskulpturen (Beleuchtung ambivalenter Gefühle/ Gedanken einer Figur) (ausführlich 2010: 60 ff.) Schau: - Klangrealisation (vom Blatt ablesen - rezitieren) - musikalische Gestaltung (Instrumentaluntermalung - rhythmische Begleitung - singen - Vertonungen) - bildnerische Gestaltung (illustrieren - Bildtranskription des Textes) - mimisch-gestische Gestaltung (textbegleitende Mimik und Gestik - Pantomime) - kognitive Analyseverfahren (Einbeziehung von Diskurs und produktiven Schreibverfahren) (vgl. 1996: 22) Kunz unterbreitet sehr ähnliche Arbeitsvorschläge, die er in Annäherung an Text und Figur, Arbeit mit dem Text und Szenische Improvisation unterteilt (1997: 80). Wie auch bei einigen Verfahren des handlungs - und produktions orientierten l iteraturunterrichts birgt die Natur der meisten Techniken des szenischen i nterpretierens eine Problematik, die schwer mit den Aufgaben öffentlicher Schulen zu vereinbaren ist. Gemeint ist die Flüchtigkeit, die es dem Lehrer erschwert, sowohl den Lernprozess als auch ein etwaiges Produkt adäquat in den Blick zu nehmen. Schau schlägt vor diesem Hintergrund vor, ein Regiebuch führen zu lassen, das als „Kontrollmethode“ (1996: 91) alle Aspekte beherbergen soll, die im Zusammenhang mit dem szenischen i nterpretie ren stehen: zum Beispiel spontane Einfälle, Spielideen, Hinweise für <?page no="182"?> 182 Sich mit Texten und Medien auseinandersetzen Vorzüge Kulissen, Deutungsansätze, Zeichnungen für die Ausführung bestimmter Zeichnungen usw. (ebd.: 91 f.). Heute könnte man auch von der Anfertigung eines lernbegleitenden Portfolios sprechen. Der szenischen i nterpretation wird innerhalb der Literaturdidaktik eine Reihe von Vorzügen zugesprochen (siehe im Folgenden Abraham/ Kepser 2009: 234 f.). Ihre starke Text- und Erfahrungsbezogenheit zeige sich darin, dass die Schüler sich intensiv mit dem Lerngegenstand auseinandersetzen und dabei auf ihre eigenen Erfahrungen zurückgreifen müssten. Die Handlungsorientierung verwirkliche sich über das Darstellen und Verfremden von Bildern, Beziehungen und Szenen. Die dafür nötige intensive Einbeziehung des Körpers solle eine motivierende Abwechslung zur rein kognitiven Erarbeitung von literarischen Texten gewährleisten. Insbesondere die Momente der Erfahrung und der Handlung sollten das Interesse von Schülern an literarischen Texten verstärken können. Schließlich sei das szenische i nterpretieren sowohl subjektals auch gruppenbezogen, weil der einzelne Schüler stets in einem engen Bezug zur gesamten Lerngruppe agiere. Auch in Bezug auf die Lehrperson stelle sich eine Veränderung des Rollenverständnisses ein: Sie diene dem Schüler als Arrangeur, Moderator und als Mitspieler auf dem Weg seiner eigenen Erarbeitung des Textes (Goldberg 2003: 8). Problematisierung Interessanterweise ruft das szenische i nterpretieren kaum direkte Kritik ‚von außen‘ hervor. Dies scheint darin begründet zu sein, dass es - wie oben angemerkt - entweder überhaupt nicht als literaturdidaktische Konzeption wahrbeziehungsweise ernstgenommen und/ oder dem handlungs - und produktionsorientierten l iteratur unterricht zugerechnet wird. Trifft Letzteres zu, gelten für das sze nische i nterpretieren häufig die gleichen Kritikpunkte. Auffällig ist jedoch, dass die Vertreter selbst sich gegenseitig zum Teil stark kritisieren - Schau beispielsweise ist davon überzeugt, dass der literarische Text bei Scheller „zum Spielanlaß verkommt“ (Schau 1996: 15). Vorgeworfen werden kann den Vertretern sicherlich, dass das zu Grunde gelegte theoretische Fundament zwar eine große Vielfalt aufweist, sie es jedoch (bisher) in nicht überzeugender Weise entsprechend entfaltet haben; einzig der Bezug zur Rezeptionsästhetik erscheint schlüssig. Weitere kritische Aspekte liegen darüber hinaus in der Konzeption selbst begründet und werden auch von ihren Vertretern thematisiert. Szenische Interpretation und literarische Kompetenzen Kumschlies (2007) hat in ihrer Arbeit zwei Teilkompetenzen herausgearbeitet, die ihres Erachtens zentral und insbesondere durch das s zenische i nterpretieren angestoßen und vertieft werden könnten: Imaginationsfähigkeit und Perspektivenübernahme. <?page no="183"?> Szenische Interpretation 183 Kernproblem: Erfahrungsorientierung Zuallererst ist der hohe Vorbereitungs- und Zeitaufwand hervorzuheben, der es erst gewährleisten kann, dass die Lehrperson auf alle möglichen Interpretationsansätze der Schüler adäquat reagieren und dementsprechende anregende Impulse setzen kann (Scheller 2010: 252 u. 256 ff.). Hinzu kommt, dass das szenische i nterpretieren stets auf „vorbereitende Fertigkeiten und Tätigkeiten“ (Schau 1996: 95) angewiesen ist - beispielsweise Aufwärmübungen, Sprech- und Rezitationstechniken. Schau spricht gar von einer ‚Propädeutik‘ und liefert in seiner Monographie vielfältige Hinweise zur praktischen Einführung in diese Konzeption (ebd.: 95 ff.). Auf eine Hauptproblematik bei der Anwendung von Techniken der szenischen i nterpretation weist Scheller selbst hin: „Das Bauen von Standbildern ist einfach, verführt aber zur Oberflächlichkeit. Wenn nicht präzise gearbeitet wird, bleiben die Bilder beliebig, es wird nicht erfahrbar, was das Verfahren leisten kann“ (1998: 63; siehe auch Roth- Lange 2010 u. 2011, der die szenischen Verfahren unter theaterdidaktischer Perspektive weiterentwickelt; →-5.7). Durch den intensiven Rückgriff auf die eigene Lebenswelt der Schüler kann zwar eine schülerseitige Versprachlichung erleichtert werden, doch dieser Brückenschlag birgt auch das Risiko, dass die Schüler nicht lernen, abstrakte Zugänge zur Literatur zu finden und diese unter Rückgriff auf entsprechende Fachtermini zu analysieren. Besonders problematisch sind die möglichen negativen Auswirkungen des szenischen i nterpretierens auf die psychische Struktur der Schüler: Durch das intensive Erspüren und Nachempfinden der Gefühle und Gedanken der literarischen Figuren - in Verbindung mit eigenen Erfahrungen (s. o.)- - können bei den Schülern sehr persönliche, möglicherweise nicht verarbeitete Probleme aufgedeckt werden. Da Lehrer jedoch weder einen therapeutischen Auftrag noch eine diesbezügliche Ausbildung haben, kann es im Unterrichtsprozess zu belastenden, kaum lösbaren Konfliktmomenten kommen (Steitz-Kallenbach 1995). Es liegt auf der Hand, dass das szenische i nterpretieren nicht für alle Schüler geeignet ist, da gerade im jugendlichen Alter das Reden und Spielen vor einem Publikum häufig mit Ängsten und Hemmungen einhergehen kann; damit muss die Lehrperson besonders sensibel umgehen (Scheller 2010: 260 f.). Je nach Zusammensetzung der Lerngruppe muss auch darauf geachtet werden, dass in Folge des Einfühlens in literarische Figuren keine Ressentiments gegen einzelne Schüler entstehen, wenn den Mitschülern die Trennung zwischen der dargestellten Figur und dem Darsteller nicht gelingen sollte. Die starke Erfahrungsorientierung dieser Konzeption - das möglicherweise wichtigste Alleinstellungsmerkmal - ist damit sowohl ihre Stärke als auch gleichzeitig die größte Schwachstelle. Sie erfordert eine <?page no="184"?> 184 Sich mit Texten und Medien auseinandersetzen genaue Einschätzung der Lerngruppe, eine sehr bewusste Textauswahl und ein sensibles sowie weitsichtiges Abschätzen der möglicherweise entstehenden Probleme. Sind Lehrer entsprechend ausgebildet worden und verfügen sie über ein hohes Maß an Sensibilität (und literarischer Bildung! ), kann das szenische i nterpretieren ein breites Spektrum zur handlungs- und erfahrungsbetonten Erschließung von Texten bieten, das neben der Freude und Motivation der Schüler auch kritischwertende Aspekte gleichermaßen zu gewährleisten im Stande ist. Bedacht werden muss dabei stets, dass der literarische Text nicht - wie oben schon in einem anderen Zusammenhang zitiert - „zum Spielanlaß verkommt“ (Schau 1996: 15). Tipps für den Unterricht - Wecken Sie die Spielbereitschaft Ihrer Schüler und das Vertrauen in das eigene Spielen durch vorbereitende Übungen. - Verlieren Sie die hauptsächliche Zielsetzung - Annäherung an das Deutungsangebot des Textes - nicht aus den Augen. - Planen Sie immer mindestens eine Doppelstunde ein. - Gestehen Sie allen Schülern das Recht zu, sich dem Spielen zu verweigern. - Verknüpfen Sie diese Konzeption stets mit gesprächsorientierten, textanalytischen und textproduktiven Methoden (z. B. mit dem Verfassen eines inneren Monologs). - Üben Sie mit Ihren Schülern in diesem Zusammenhang auch das Vortragen von Texten (→ S. 112 ff.) (Spinner 2000b). Aufgaben 1. Diskutieren Sie Vor- und Nachteile des szenischen i nterpretie rens gegenüber dem literarischen u nterrichtsgespräch (→-5.4) und überlegen Sie, ob und gegebenenfalls wie beide Konzeptionen produktiv miteinander verbunden werden können. Berücksichtigen Sie dabei das folgende Zitat: „Die Szenische Interpretation braucht […] Gespräche“ (Scheller 2010: 20). 2. Reflektieren Sie kritisch, ob Sie sich selbst dazu in der Lage fühlen, eine szenische i nterpretation mit Schülern durchzuführen. Welches Wissen und welches Können fehlt Ihnen möglicherweise - und welche konkreten Schritte wären denkbar, um diesbezüglich eine Kompensation zu erreichen? Lektüreempfehlungen zur Vertiefung S chau , a. (1991) (ein Werkstatt-Heft, das sich direkt an Schüler richtet; im ersten Teil werden Inszenierungsvorschläge unterbreitet; der zweite Teil enthält eine Textsammlung) <?page no="185"?> Gattungsspezifisches 185 S chau , a. (1996) (das Grundlagenwerk zu seinem Ansatz; beinhaltet hoch interessante theoretische Überlegungen und Praxisvorschläge, die etwas in Vergessenheit geraten sind) S cheLLer , i. (1996) (ein umfassender, leicht verständlicher Basisartikel) S cheLLer , i. (2010) (eine umfassende Darstellung der Konzeption - wenngleich das theoretische Fundament äußerst stiefmütterlich behandelt wird; viele Vorschläge für die Praxis) S teitz -k aLLenBach , J. (1995) (ein hervorragender Beitrag, der anschaulich problematische Interaktionsebenen, die während des szenischen i nterpretierens berührt werden können, thematisiert und geeignete Hilfestellungen anbietet) 5.6 Gattungsspezifisches Im Prinzip gelten die oben skizzierten Konzeptionen (→- 5.1-5.5) für den Umgang mit allen unterschiedlichen Erscheinungsformen literarischer Texte - also nicht nur (wie man bisweilen annehmen könnte) für epische Texte. Beispielsweise können sowohl ein Gedicht als auch eine Kurzgeschichte mit Hilfe handlungs- und produktionsorientierter Verfahren bearbeitet werden. Etwas genauer betrachtet werden müssen jedoch dramatische Texte, da sie sich in grundlegenden Aspekten von lyrischen und epischen Texten unterscheiden. Im Folgenden werden lyrische und dramatische Texte insofern in den Blick genommen, als es für sie spezifische konzeptionenbezogene Hinweise gibt. Dabei können etwaige didaktisch-methodische Überlegungen zu bestimmten Untergattungen - beispielsweise zum Sonett - nicht berücksichtigt werden. Lyrische Texte Vom lustbetonten Vorlesen und Anhören von Gedichttexten bis zur literatursoziologischen Analyse, vom Textvergleich bis zur Eigenproduktion, von der Versanalyse bis zur Problemdiskussion reichen die Möglichkeiten, die einzuschränken nur die Wirkungsmöglichkeiten von Lyrik beschneiden würde. (Spinner 2010b: 30) Wie oben schon erwähnt und hier noch einmal von Spinner nachhaltig unterstrichen: Lyrische Texte fallen in den Zuständigkeitsbereich aller literaturdidaktischen Konzeptionen (grundlegend für den Unterricht auch Kammler 2009). In textanalytischer Hinsicht (→- 5.1) wird gemeinhin auf die Kategorien nach Burdorf (1997) zurückgegriffen. Leubner et al. (2012) kritisieren in nachvollziehbarer Weise diese und auch Vorschläge anderer Autoren und schlagen folgende Kategorisierung vor (ebd.: 116): Tipp Vor kurzem wurde von Heinz-Jürgen Kliewer die Website kinderlyrik.com ins Leben gerufen. Dort gibt es ein vielfältiges Angebot rund um lyrische Texte, die als für Kinder und Jugendliche geeignet angesehen werden. Kliewer ruft auch dazu auf, entsprechende Unterrichtsmodelle auf die Website zu stellen. <?page no="186"?> 186 Sich mit Texten und Medien auseinandersetzen - Titel, Thema, Inhalt - Kommunikationssituation (monologische/ dialogische Sprechsituation, lyrisches Ich) - poetische Form (Rhythmus, Reim, Klang, Versbau) - Sprache (Wortgebrauch und Satzgestalt, v. a. rhetorische Figuren u. Besonderheiten im Wortschatz) - historischer und biographischer Hintergrund In Handreichungen (z. B. die nicht mehr neu aufgelegten Bücher von Busse 1985 und Herrmann 1983) gibt es vielfältige Hinweise für einen textanalytischen Umgang, die zum größten Teil trotz ihres nicht unproblematischen Trainingscharakters oder auch ihres extrem sachlichnüchternen Zugangs überzeugend und ähnlichen Neuerscheinungen zumeist vorzuziehen sind. Überwiegend wird in der Didaktik jedoch in auffälliger Weise eine starke Berücksichtigung handlungs- und produktionsorientierter Verfahren (→-5.2) gefordert (siehe zum Beispiel in Bezug auf Mundartgedichte Wildfeuer 2006). Schon Ulshöfer schlug vor, dass Schüler sich mit Hilfe eigener Versuche die formalen Elemente von Gedichten vergegenwärtigen sollten (1965: 71). Über dreißig Jahre später wird diese Auffassung zum Beispiel von Neurohr bestätigt (2000). In eben diese Richtung lassen sich auch die Bemühungen von Spinner (2010b) und Waldmann einordnen, der seine allgemeine Konzeption eines handlungs - und produktionsorientierten l iteratur unterrichts (→- 5.2) auch lyrikspezifisch ausgearbeitet hat (2013). Gien spricht sogar davon, dass sich alle lyrikdidaktischen Ansätze „dem handlungs- und produktionsorientierten Literaturunterricht zuordnen“ (2012: 284) ließen. Eine derartig verkürzende Einengung unterschlägt jedoch zum Beispiel das literarische u nterrichtsgespräch (→-5.4) sowie das textnahe l esen ( und s chreiben ) (→-5.3), die gerade im Hinblick auf lyrische Texte besonders gewinnbringend erscheinen. Und sie übersieht auch Waldmanns eigenen Standpunkt: Wenn ich mich […] darum bemühe, den produktiven Umgang mit Lyrik als ein ganz wesentliches Verfahren der Hinführung zur Lyrik plausibel und überzeugend darzustellen, dann ist damit nicht gemeint, Lyrikunterricht solle nun ausschließlich produktionsorientiert sein. Im Gegenteil dürfte den Schülern ein Unterricht über Lyrik, in dem sie unaufhörlich produzieren müssen, sehr schnell und gründlich verleidet sein. (2013: 275) Auch Schuster relativiert das in der Praxis häufig anzutreffende Schwergewicht der Handlungs- und Produktionsorientierung und plädiert für eine Kombination von „diskursiv-analytischen und produktionsorien- Zur eigenen fachwissenschaftlichen Vorbereitung kann das Arbeitsbuch Lyrikanalyse von Ludwig (2005) empfohlen werden. <?page no="187"?> Gattungsspezifisches 187 tierten Verfahren“ (1993: 184). Ranjakasoa (2014) erweitert diese Möglichkeiten noch um reproduzierende - hält handlungs- und produktionsorientierte Verfahren insgesamt jedoch für am sinnvollsten. Schließlich eignen sich lyrische Texte beziehungsweise Gedichtsequenzen hervorragend für Zielsetzungen, die auf dem Phänomen der Intertextualität (→- S.- 164) gründen (Fingerhut 1993). Anders (2013) knüpft mit ihrem praxisorientierten Buch an all diese Aspekte an und erweitert den Umgang mit Lyrik um die multimediale Dimension (→- 5.7) sowie um einen mehrsprachigkeitsorientierten Fokus. Zum Lesen/ Vorlesen und Vortragen von Gedichten siehe auch den Kasten auf S.-112 ff. Obwohl auch im Rahmen des handlungs - und produktions orientierten l iteraturunterrichts von Schülern eigene Texte verfasst werden, hat sich ein darüber hinausreichendes ‚echtes eigenes‘ Schreiben (siehe z. B. den interessanten, mehrsprachigkeits- und produktionsorientierten Ansatz von Oliver 2013), das zumeist nur außerhalb des eigentlichen Unterrichts etwa in Lyrik-AG’s oder Lyrikwerkstätten umgesetzt werden kann, bisher nur sehr vereinzelt etablieren können. Dramatische Texte Sind Dramentexte überhaupt als Lesetexte geeignet? Brauchen sie nicht die Inszenierung auf der Bühne? Kann die Inszenierung die Lektüre ersetzen oder die Lektüre die Inszenierung? (Lösener 2012: 297) In Bezug auf dramatische Texte müssen die methodischen Herangehensweisen differenziert betrachtet werden. Sie unterscheiden sich nämlich von lyrischen und epischen (unter anderem) dadurch, dass durchaus fraglich ist, ob sie sich überhaupt als Lesetexte eignen. Ihr Partiturcharakter, dem eine Inszenierung inhärent ist, steht einem unreflektierten Leseverständnis vehement entgegen. Dennoch wurden und werden Dramen in der Schule zum größten Teil wie die anderen traditionellen Gattungen auch behandelt - unter gröbster Vernachlässigung ihres besonderen Charakters (zur Geschichte der Dramendidaktik siehe Paule 2009: 65 ff.). Insbesondere (ältere) strukturorientierte Ansätze haben eine große, bis heute anhaltende Auswirkung auf die schulische Arbeit. Gleichwohl darf ein textanalytisches Vorgehen (→- 5.1) nicht grundsätzlich ausgeschlossen werden. Bis auf minimale Einschränkungen eignet sich zumindest für die Handlungs- und Figurenanalyse das von Poetry Slam (= Dichterwettstreit, Dichterschlacht) Poetry Slams sind kulturelle Veranstaltungen, bei denen Menschen jeglichen Alters selbst geschriebene lyrische Texte vortragen. Sie haben dafür in der Regel fünf Minuten Zeit. Das Publikum oder eine Jury wählt den jeweiligen Gewinner. Anders hat mit ihren Arbeiten (2010; 2011; 2013), die viele praxisorientierte Materialien beinhalten, dieses Format auch für den Deutschunterricht fruchtbar gemacht. <?page no="188"?> 188 Sich mit Texten und Medien auseinandersetzen Leubner/ Saupe vorgestellte Schema (→- S.- 145). Daneben sollte auf das bekannte Gustaf-Freytag-Schema, das in jeglicher entsprechenden Fachliteratur vorzufinden ist, sowie auf die idealtypische Gegenüberstellung von offenem und geschlossenem Drama (Klotz 1980) zurückgegriffen werden (siehe grundlegend auch die Erweiterungen von Denk/ Möbius 2010). Eine Vielzahl aktueller methodischer Handreichungen (sogenannte Interpretations- und Lektürehilfen) zeugt von dieser Tradierung, die insbesondere aus dem gymnasialen Bereich nicht wegzudenken ist, da beispielsweise Abituraufgaben sich immer noch genau auf diese Ausrichtung stützen. An dieser Problematik setzt Lösener an, grenzt sich von einem stark textanalytisch orientierten Vorgehen ab und plädiert für eine stärkere Beachtung derjenigen Konzeptionen, „die in den letzten Jahrzehnten entstanden sind und andere Wege des Umgangs mit Dramentexten eröffnen, indem sie den Dramenunterricht von der Beziehung zwischen Lektüre und Inszenierung her konzipieren“ (2012: 305). Im Folgenden orientieren wir uns an seinem Systematisierungsversuch (ebd.: 305 ff.), der drei Konzeptionen voneinander unterscheidet: - spielorientiert Damit ist die szenische i nterpretation (→-5.5) gemeint. - produktionsorientiert Hier greift die allgemeine Konzeption des handlungs - und pro duktionsorientierten l iteraturunterrichts ; wiederum ist es Waldmann, der - vergleichbar mit seinem spezifischen Lyrik-Band (s. o.) - auch in Bezug auf dramatische Texte eine umfangreiche Monographie vorgelegt hat (2010). Obwohl in seinem Ansatz der Schwerpunkt auf der Schreiborientierung liegt, verknüpft er diese häufig (neben einer Berücksichtigung textanalytischer Anteile) mit sich anschließenden spielerischen Elementen, die jedoch nicht mit der Ausrichtung der szenischen i nterpretation verwechselt werden sollten. Produktive Erarbeitung von Grundstrukturen des Dramas als Spieltext Waldmann geht davon aus, dass Schüler sich dramatische Strukturen durch Schreiben - und anschließendes Erspielen - erschließen könnten. Das folgende Beispiel entstammt seiner sogenannten ‚dramatischen Vorschule‘ (ebd.: 5): Zur eigenen fachwissenschaftlichen Vorbereitung können (immer noch) Das Drama von Pfister (2001) und Einführung in die Dramenanalyse von Asmuth (2009) empfohlen werden. <?page no="189"?> Gattungsspezifisches 189 Friedrich Karl Waechter: Ich Das Telefon klingelt. Ein Mann hebt ab. MANN Wie bitte? - Ich bin draußen? - Im Wald? - Ich kann mich da finden? - Wer ist denn da am Apparat? - Wie bitte? - Ich? Schreiben Sie […] einen Dramenanfang und eine Fortführung, sodass sich eine kleine Gesamthandlung ergibt, in der die Telefon-Szene, die dialogisch aufgefüllt werden sollte und gegebenenfalls ergänzt werden muss, den Mittelpunkt bildet. Spielen Sie Ihre Szenen und vergleichen Sie sie miteinander. - textorientiert Lösener bezieht sich in erster Linie auf die Arbeit von Frommer (1995). Dessen Konzeption gründet auf einem besonderen rezeptionsästhetischen Verständnis des dramatischen Leseakts, in dem der Vorgang des Lesens selbst als eine Tätigkeit des Inszenierens (implizite Inszenierung bzw. simulierte Inszenierung) verstanden wird: „Die simulierte Inszenierung ist […] ein Sonderfall des produktiven Lesens“ (ebd.: 30). Damit führt Frommer entsprechende ältere dramendidaktische Erwägungen (insbesondere von Geißler, Göbel, Haas und Willenberg) weiter. In methodischer Hinsicht lehnt Frommer sich jedoch eng an die Produktionsorientierung im Sinne Waldmanns sowie an das szenische i nterpretieren an, sodass sein Ansatz letztlich nicht so stark textorientiert ist, wie Lösener behauptet. Einzig einige interessante Vorschläge Frommers zur ‚simulierten Inszenierung‘ und diejenigen zur Arbeit mit sogenannten ‚Untertexten‘ (ebd.: 77 ff.; dem Verfassen innerer Monologe ähnlich) sind derart einzuordnen. Es ist Lösener selbst, der einige Jahre später (2008) einen bedeutsamen Aufsatz veröffentlicht - Die intermediale Lektüre. Wege zur Inszenierung im Text -, mit dem er genau die hier von uns als ‚lückenhaft‘ kritisierte Kategorie zu einem beträchtlichen Teil auffüllt. Er geht von einem ‚metasemiotischen Textmodell‘ aus, „das der Performativität des Textes Rechnung trägt und so ein Kontinuum zwischen Text und Aufführung zu beschreiben vermag“ (ebd.: 68). Auch Lösener spricht von einer ‚impliziten Inszenierung‘. Diese fordert das, was ich eine intermediale Lektüre nenne, also ein Lesen, das das Gelesene zugleich hört und sieht, körperlich nacherlebt und mental inszeniert und dadurch die Brücke zu anderen medialen Realisierungen schlägt. (Ebd.: 70) Methodisch schlägt er die Arbeit mit Sprechgestaltungen vor: Die Schüler sollen plausible Sprechcharakterisierun- Lösener schlägt folgende Sprechgestaltungen vor: Sprechformen (z. B. laut oder leise) Sprechstimmungen (z. B. ärgerlich) Sprechhaltungen (z. B. sich rechtfertigen) <?page no="190"?> 190 Sich mit Texten und Medien auseinandersetzen gen zu Dramenausschnitten ‚finden‘ - ein bemerkenswerter, noch viel zu wenig beachteter dramendidaktischer Ansatz. Obwohl die aufgeführten dramendidaktischen Ansätze auch schon - in sehr unterschiedlicher Weise - das Phänomen Inszenierungsbezogenheit berücksichtigen, gerät das Theater selbst (hier verstanden als in erster Linie professionelle Aufführung bzw. Inszenierung) in der Regel nicht in den Blick. Einen verbindenden Übergang zur Theaterdidaktik markiert das Buch Dramen- und Theaterdidaktik von Denk/ Möbius (2010), das wertvolle Hinweise liefert. Wenn das Theater als Phänomen selbst und seine Rezeption in den Fokus unterrichtlichen Bemühens geraten, greifen theaterdidaktische Überlegungen (→-5.7). Zum szenischen Schreiben, das weit über den Unterricht hinausgeht (Richhardt 2011), gelten die gleichen Vorbehalte wie zum lyrischen Schreiben (s. o.). Aufgaben 1. Lyrische Texte werden im Unterricht überwiegend mit handlungs- und produktionsorientierten Verfahren in Verbindung gebracht. Nehmen Sie eine Gegenposition ein: Versuchen Sie, den Einsatz anderer Konzeptionen zu rechtfertigen. 2. Reflektieren Sie Ihren eigenen Literaturunterricht hinsichtlich des Umgangs mit dramatischen Texten. An welche (allgemeinen und/ oder spezifischen) Konzeptionen können Sie sich erinnern? Welche davon würden Sie in Ihren eigenen (zukünftigen) Unterricht implementieren? Begründen Sie Ihre (Nicht-)Auswahl. Lektüreempfehlung zur Vertiefung L euBner , M./ S aupe , a./ r ichter , M. (2012) (auf den S.- 105 ff. befinden sich praxisorientierte, leicht verständliche Ausführungen zum Umgang mit lyrischen und dramatischen Texten im Deutschunterricht) 5.7 Ansätze im Kontext einer medialen Erweiterung Sprache oder Literatur stehen nicht dichotomisch zu den Medien, sie besitzen vielmehr selbst eine spezifische Medialität. (Staiger 2007: 263) Die Deutschdidaktik hat schon früh den Einbezug weiterer Medien neben den traditionellen Gattungen Epik, Lyrik und Dramatik thematisiert. Im Jahre 1958 sprach Ulshöfer von Filmerziehung und Hörspielarbeit und seitdem wird kontrovers über den Stellenwert von (jeweils ‚neuen‘) Medien diskutiert (siehe die aufschlussreiche Tabelle von Stai- <?page no="191"?> Ansätze im Kontext einer medialen Erweiterung 191 Medienkulturdidaktik Beziehung zwischen deutschdidaktischen Konzeptionen und Medien ger 2007: 134 f.). Einen wichtigen Höhepunkt dieser Entwicklung bildete das Symposion Deutschdidaktik, das 2002 in Jena stattfand (Deutschunterricht und medialer Wandel). Paefgen und Abraham diskutierten bei der Auftaktveranstaltung kontrovers: Während Paefgen den Deutschunterricht vor jeglichem Einbezug von so genannten ‚neuen‘ Medien ‚schützen‘ wollte, plädierte Abraham für eine kompromisslose Berücksichtigung derselben. Heute wird der Einbezug der ‚neuen‘ Medien in den Deutschunterricht kaum noch in Frage gestellt. Es gibt hierzu bisher mehrere thematisch übergeordnete Monographien (Gölitzer 2003; Vach 2005). Seit längerer Zeit wird auch immer wieder darüber nachgedacht, die Deutschdidaktik prinzipiell neu auszurichten - zum Beispiel als ‚Medienkulturdidaktik‘ (Staiger 2007). In Bezug auf den konkreten Deutschunterricht sollten grundsätzlich folgende Fragen die Unterrichtsplanung begleiten: Welche Gründe lassen sich für den Einsatz der neuen Medien beim Lesen- und Schreibenlernen, beim Lesen und Schreiben von Texten sowie bei der Reflexion über Sprache finden? Oder: In welchen Bereichen sind die neuen Medien den traditionelleren überlegen, bieten zumindest ein gleichwertiges Pendant, bei dem Aufwand und Nutzen in einem vernünftigen Verhältnis stehen, oder müssen im Sinne einer Medienerziehung unbedingt betrachtet werden? (Kurzrock 2012: 189) Der ‚rote Faden‘ in diesem Kapitel ist die Frage nach der Beziehung der bisher vorgestellten deutschdidaktischen Konzeptionen zu den im Folgenden aufgeführten Medien. Damit verbunden ist das Aufspüren ‚eigener‘ konzeptioneller Ansätze derselben. Da das traditionelle Buch ein Medium - ein Printmedium - ist, liegt es nahe, dass letztlich auch alle anderen Medien ähnlich im Unterricht ‚behandelt‘ werden können. Für einen Großteil der Medien kann dies auch bejaht werden (grundlegend zu dieser Problematik Jonas 2002). Für viele Didaktiker nimmt die h andlungs - und p roduktions orientierung (→-5.2) einen besonderen Stellenwert im medienorientierten Deutschunterricht ein: In dreifacher Hinsicht sind die handlungs- und produktionsorientierten Verfahren auch für die Medienerziehung hilfreich. Zum einen können audiovisuelle und auditive Medien für die produktive Arbeit mit Texten eingesetzt werden, z. B. indem zu einem Erzähltext eine Videoszene gedreht oder ein Hörspiel gestaltet und aufgenommen wird. Zum anderen bietet der PC Möglichkeiten des produktiven Umgangs mit Texten, da er in vielfältiger Weise Prozesse des Veränderns, Erweiterns, typografischen Gestaltens von Texten erlaubt; Hypertexte als typische Form von Internet- und CD-ROM-Literatur zeichnen sich an sich schon durch eine Nähe zu produktionsorientierten Vorstellungen von Literaturunterricht aus. Schließlich <?page no="192"?> 192 Sich mit Texten und Medien auseinandersetzen medienintegrativ computerunterstützt intermedial symmedial eignen sich produktive Verfahren für die Filminterpretation; Schreiben von Fortsetzungen zu einem teilweise gezeigten Film, Verfassen eines inneren Monologes ausgehend von der Mimik einer Figur, Erfinden eines Dialoges zu einer tonlos gezeigten Szene sind solche Möglichkeiten. Produktive Verfahren bewirken hier ein verlangsamtes Sehen und damit eine Verstärkung der Imagination und der reflexiven Verarbeitung. (Spinner 2002: 257) Bis heute haben sich hinsichtlich der Frage des Einbezugs von nicht-traditionellen Medien in den Deutschunterricht vier sich teilweise ähnelnde Ausrichtungen herauskristallisiert (siehe im Folgenden Frederking et al. 2012: 93 ff.; zur Genese der Einbettung mediendidaktischer Konzeptionen in den Deutschunterricht siehe auch Albrecht 2014): Der medienintegrative Deutschunterricht ist untrennbar mit Wermke verbunden, die mit ihrer Monographie (1997) wichtige Pionierarbeit geleistet hat. Sie macht darauf aufmerksam, dass auf Grund der Veränderungen der sogenannten ‚Mediengesellschaft‘ das Buch nicht mehr als Leitmedium angesehen werden dürfe. Der Deutschunterricht müsse seinen Gegenstandsbereich durch andere Medienformate und -ästhetiken erweitern (siehe hierzu auch Vach 2005). Jonas/ Rose (2002) haben einen Band vorgelegt, der computergestützte Lehr-Lern-Prozesse im Deutschunterricht didaktisch-methodisch situiert (siehe auch Kepser 1999). Vor dem Hintergrund einer aus ihrer Sicht notwendigen Berücksichtigung sowohl instruktionistischer (eng geführter) als auch konstruktivistischer (selbstgesteuerter)- Lernprinzipien plädieren sie für ein ausgewogenes Verhältnis derselben. Eine intermedial-didaktische Ausrichtung gründet auf dem Phänomen der Intertextualität und spielt im Prinzip schon bei Wermke eine Rolle (s. o.). Durch Bönnighausen und Rösch hat diese Ausrichtung verstärkt Eingang in die deutschdidaktische Diskussion erhalten. Inhaltlich geht es um die wechselseitige, grenzüberschreitende Bezugnahme (mindestens) zweier Medien, wie sie zum Beispiel bei einer Literaturverfilmung vorliegt. Bedeutsam ist, dass ein entsprechender Deutschunterricht die jeweiligen medialen Grundlagen der verschiedenen Künste erkennen und für (ästhetische) Lern- und Bildungsprozesse aufschließen sollte: „Es geht um Grenzüberschreitungen im Medien- Wechsel, um das ‚Dazwischen‘ zwischen den Künsten, das mit dem zunehmenden Einsatz technischer Medien auch zu einem ‚Dazwischen‘ zwischen Mensch und Maschine wird“ (Bönnighausen/ Rösch 2004: 2). Den Terminus Symmedialität hat Frederking geprägt. Der Deutschdidaktiker kritisiert die oben genannten Ausrichtungen, indem er darlegt, dass sie zum einen die ‚alten‘ Medien (wie zum Beispiel das Buch) nicht berücksichtigten und zum anderen die „Vereinigung medialer Formen“ (Frederking et al. 2012: 97) nicht ausreichend reflektierten. Insbeson- <?page no="193"?> Ansätze im Kontext einer medialen Erweiterung 193 dere der Computer sei ein hervorragendes Beispiel für Symmedialität, da er alle medialen Möglichkeiten in sich vereine. Dass ein symmedial orientierter Deutschunterricht auch schon in der Grundschule für das Gelingen sprachlicher und literarischer Lernprozesse möglich und nötig ist, haben Frederking/ Römhild (2014) in überzeugender Weise praxisnah aufgezeigt. Im Folgenden sollen die einzelnen Medien vor dem Hintergrund bisher diskutierter methodischer Zugänge vorgestellt werden; wir halten uns bei der Systematisierung der Medien eng an das oben genannte Grundlagenwerk von Frederking et al. und ergänzen um neuere didaktisch-methodische Hinweise. Akustisch-auditive Medien Hierzu zählen alle Medien, die Töne oder Schallwellen technisch erzeugen beziehungsweise speichern, sodass auch ein zeitlich versetztes Hören möglich ist. Das Hörbuch (audiobook) ist das zentrale akustische Speichermedium. Es lässt sich folgendermaßen differenzieren: Lesung (prosaisch; der Schwerpunkt liegt auf der Stimme des Sprechers) und Hörspiel (dramatisch; Klänge und Geräusche spielen eine wichtige Rolle). Daneben werden gelegentlich noch andere Formen einbezogen, die man allgemein als Hörtexte bezeichnet (zum Beispiel Archivaufnahmen, Multimediaprodukte, Soundtracks). Hörbücher lassen sich zum einen als geeignete und noch viel zu wenig genutzte Gegenstände in den Rahmen der l eseförderung (→-4) verorten, sodass methodisch zum größten Teil auf die oben dargestellten Verfahren zurückgegriffen werden kann (siehe hierzu Gailberger 2012). Zum anderen sollte jedoch auch ihr Eigenwert nicht unberücksichtigt bleiben, dem man in besonderem Maße durch intermediale (Vergleich von Vorlage und Hörtext) und ästhetische (Fokus: non-verbale Elemente) Analysen (Müller 2004) Rechnung tragen kann. Wermke hat auch in diesem Sinne maßgeblich zu einer Etablierung hördidaktischer Überlegungen beigetragen (zuletzt 2007 u. 2013; in Bezug auf Kinder- und Jugendliteratur Müller, K. 2013; siehe auch die immer noch hilfreiche Bibliographie von Börder/ Ehrnsberger 2002 sowie den aktuellen, umfassenden Überblick von Müller, K. 2014). Obgleich in analytischer Absicht im Hinblick auf das Verbale und das Narrative auf Ansätze der Literaturdidaktik beziehungsweise -wissenschaft zurückgegriffen werden kann, liegt bei weitergehenden Analysen, die zum Beispiel auch die musikalische Ebene in den Blick nehmen Wermke (1995a) unterscheidet folgende Wahrnehmungsformen einer Hörerziehung: Hören (unspezifisch) Horchen (konzentriert) Lauschen (genussorientiert) <?page no="194"?> 194 Sich mit Texten und Medien auseinandersetzen (müssen), eine nicht unproblematische - weil disziplinüberschreitende-- Hürde vor. Ohne fundierte musikwissenschaftliche Kenntnisse etwa stößt man an nur schwer zu überwindende Grenzen (siehe z. B. zum bekannten, umstrittenen Rilke-Projekt Olsen/ Stoller 2009). Am stärksten wird beim unterrichtlichen Umgang mit auditivakustischen Medien auf die produktive Tätigkeit des Schülers Bezug genommen, sodass in dieser Hinsicht die unterschiedlichen Verfahren des handlungs - und produktionsorientierten l iteratur unterrichts herangezogen werden können. Kaum Berücksichtigung hat dagegen bisher eine gesprächsorientierte Ausprägung erfahren - grundsätzlich sollte davon ausgegangen werden, dass das literari sche u nterrichtsgespräch (→-5.4) auch für diese Medien geeignet ist. Einen interessanten didaktischen Ansatz verfolgt Ranjakasoa (2014) in Bezug auf Gedichtvertonungen: Beim mediennahen Hören (eine didaktische Analogie zum → textnahen l esen ), bei dem „die Höreindrücke und die Textdeutung durch Schreibwie auch Sprechübungen versprachlicht bzw. verbalisiert werden“ (ebd.: 494) sollen, präferiert auch sie handlungs- und produktionsorientierte Verfahren, betont gleichzeitig aber auch die Bedeutsamkeit diskursiv-analytischer und reproduzierender Zugänge (ebd.: 498 f.). Einen hilfreichen Überblick zum Einsatz auditiver Medien im Deutschunterricht (nebst exemplarischer Unterrichtsthemen) - unter Fokussierung aller Kompetenzbereiche, die sich aus den Bildungsstandards ergeben - bietet K. Müller (2014). Visuelle Medien Für den Deutschunterricht ist es sinnvoll, sich bei dem großen Spektrum an visuellen Medien auf folgenden Bereich zu beschränken: „Texte, die entweder rein aus unbewegten Bildern bestehen oder in denen unbewegte Bilder einen konstitutiven Zeichenstrang darstellen“ (Frederking et al. 2012: 128). Neben reinen Bildmedien (wie zum Beispiel Fotografien oder Gemälden) spielen vor allem Bildgeschichten (Bilderbücher →-S.-114; Comics, siehe hierzu Maiwald/ Josting 2009 u. Jost/ Krommer 2011) in der Praxis schon - mehr oder weniger lange - eine große Rolle. Der Einsatz im Unterricht ist äußerst vielfältig und es dominiert eine Funktionalisierung vor dem Hintergrund bestimmter Zielsetzungen, sodass in der Vergangenheit nicht selten Phänographie der Bilder Der Terminus ‚Bild‘ ist mehrdeutig. Ehlich (2005) unterscheidet in seinem auch didaktisch relevanten Beitrag folgende Formen perspektivierter Bilder: 1. das demonstrative Bild 2. das narrative Bild 3. das illustrative Bild 4. das repräsentative Bild Beim Betrachten eines Bildes durch den Schüler müsse beachtet werden, dass jede Bildform andere mentale Aktivitäten erfordere (zur Vertiefung siehe ebd.: 54 ff.). <?page no="195"?> Ansätze im Kontext einer medialen Erweiterung 195 der ästhetische Eigenwert der einzelnen Medien in den Hintergrund geraten ist (grundlegend auch Baum, der in Bezug auf die Berücksichtigung von Comics für den Einsatz produktionsorientierter Zugänge plädiert: 2013b: 214). Mittlerweile hat ein Umdenken stattgefunden (Abraham/ Knopf 2014; zur ‚ästhetischen Alphabetisierung‘ Duncker/ Lieber 2013): In letzter Zeit sind einige empfehlenswerte Publikationen entstanden, die sich vor dem Hintergrund aktueller Forschungsansätze und -ergebnisse (unter anderem) mit der Rolle des Bilderbuchs im Deutschunterricht auseinandersetzen (Kruse/ Sabisch 2013; Jantzen/ Klenz 2013; Knopf/ Abraham 2014a u. 2014b; Scherer et al. 2014; Kümmerling-Meibauer 2014; zum Vorlesen mit digitalen Bilderbüchern siehe Muratovic´ 2014 →-S.-112 ff.) und diese neu konstituieren. Besonders hervorzuheben ist die Monographie von Ritter (2014), die neben einem empirischen Teil auch einen guten historisch orientierten und didaktischen Ein- und Überblick zum Unterrichtsgegenstand Bilderbuch liefert; einen Forschungsbericht zu empirischen Studien der (interdisziplinären) Bilderbuchforschung liefert Vorst 2014. Ein analytisch orientierter Deutschunterricht mit visuellen Medien steht vor einem ähnlichen Problem wie der oben angerissene, entsprechende Umgang mit auditiv-akustischen Medien. Während für die Analyse der verbalen Anteile - sofern denn welche vorhanden sind - auf Ansätze der Sprachbeziehungsweise Literaturdidaktik (bzw. der jeweiligen Fachwissenschaften) zurückgegriffen werden kann, muss für die Analyse der bildlichen Anteile (auch) die Kunstwissenschaft befragt werden (Frederking et al. 2012: 136). Damit geht einher, dass (auch) von der Schülerseite aus Folgendes bedacht werden muss: Für das Lernen mit Texten und Bildern lässt sich daraus folgern, dass die sprachliche Kompetenz des Betrachters die Differenziertheit der Bildwahrnehmung steuert […]; die Auseinandersetzung mit Bildern ist immer zugleich Spracharbeit. (Baum 2013b: 207 f.) Reine Bildmedien und Bildgeschichten dienen im Deutschunterricht häufig als Anlässe zum Sprechen/ Zuhören (→- 2) und Texteschreiben (→- 3; zum Schreiben zu Bilderbüchern Spinner 1992a; Ballis/ Burkard Comics etwa in der Hoffnung auf lesefördernde Effekte einzusetzen, ist ein zumindest spekulatives Unterfangen. (Baum 2013b: 214; siehe aber für das literarische Lernen - → S. 137 ff. - Preußer 2013) Tipp Unter onilo.de - eine Initiative, die im Jahre 2014 mit dem Bildungsmedienpreis ausgezeichnet wurde - finden sich zumeist bekannte, digital aufbereitete Bilderbücher (sogenannte Boardstories, die mit Hilfe von Whiteboards oder Beamern eingesetzt werden). Bemerkenswert ist, dass Onilo bei dieser Form der digitalen Literaturvermittlung besonders das ästhetische Lernen herausstreicht (https: / / www.onilo. de/ imunterricht/ kompetenzen-foerdern/ aesthetisches-lernen-in-der-grundschulemit-digitalen-bilderbuechern/ ). <?page no="196"?> 196 Sich mit Texten und Medien auseinandersetzen 2014). Neben der klassischen - stark umstrittenen - Bildbeschreibung, die zuletzt von Wermke überaus fruchtbar didaktisiert wurde (1989), werden beide mediale Formen auch im Rahmen des kreativen s chreibens (→-3.11; Spinner 1999) eingesetzt. Eng damit verbunden ist auch der Einsatz handlungs - und produktionsorientierter v erfahren (→- 5.2); besonders gewinnbringend erscheinen in dieser Hinsicht Verfahren der Verzögerung, Verfremdungen und Ergänzungen (Baum 2010b: 209; siehe auch den ästhetisch-medial orientierten Praxisvorschlag von Börder 2002). Hinsichtlich einer gesprächsorientierten Herangehensweise gelten dieselben Bedingungen und Aussichten wie bei den auditiv-akustischen Medien. Bilderbuchanalyse Staiger (2014a) betont noch einmal die interdisziplinäre Herausforderung, die eine Kombination aus Bildern und Schrifttext mit sich bringt, und stellt auf der Grundlage bisheriger Ansätze ein fünfdimensionales Modell für die Bilderbuchanalyse zusammen. Die fünf Dimensionen beinhalten folgende Analysekategorien: 1. narrative Dimension a. Geschichte (Was wird erzählt? ): Thematik, Handlung, Figuren, Raum, Zeit b. Diskurs (Wie wird erzählt? ): Erzählperspektive, Erzählmodus, Zeitdarstellung, Ort des Erzählens, weitere Aspekte (zum Beispiel Metafiktion oder intertextuelle Verweise) 2. verbale Dimension Wortwahl, Satzbau, Textgestaltung, Stil, Tempus 3. bildliche Dimension Linie, Farbe, Raum, Fläche, bildnerische Technik, bildnerischer Stil, Textur, Komposition, Bildfolgen, Seitenlayout, Typografie 4. intermodale Dimension (Verhältnis von Bild und Schrifttext) Symmetrie, Komplementarität, Anreicherung, Kontrapunkt, Widerspruch 5. paratextuelle und materielle Dimension unter anderem: Buchformat, Seitenform, Titelseite, Papiersorte Dieses Modell dürfe jedoch nicht als Checkliste, sondern vielmehr als „Werkzeugkasten“ (ebd.: 21) verstanden werden: „Je nach Erkenntnisinteresse treten bestimmte Aspekte stärker in den Fokus als andere und es kommen Kategorien aus weiteren Kontexten hinzu“ (ebd.). Es ist nicht nur unerlässlich im Rahmen der Vorbereitung von Deutschunterricht, der Bilderbücher integriert, sondern eignet sich unseres Erachtens in abgewandelter Form auch für die Hand des Schülers. Audiovisuelle Medien Frederking et al. beziehen sich in ihrem Buch ausschließlich auf „technisch erzeugte Verbindungen von (in der Regel) bewegten Bildern und Tönen“ (2012: 145), sodass zum Beispiel das ‚alte‘ sogenannte Menschmedium Theater herausfällt - obwohl es sich dabei unstrittig auch um ein audiovisuelles Medium handelt. Darüber hinaus erfassen sie explizit nicht diejenigen Bereiche, bei denen die Erstellung eines audiovisuellen <?page no="197"?> Ansätze im Kontext einer medialen Erweiterung 197 Mediums im Vordergrund steht (siehe das nachfolgende Unterkapitel). Hinsichtlich der zweiten Einschränkung folgen wir den Autoren; in Bezug auf das Theater vertreten wir jedoch die Ansicht, dass durch einen entsprechenden Ausschluss das Bildungsgut Theater (noch weiter) an den Rand gedrängt werden könnte. Dies ist heute nicht mehr zu vertreten, zumal in den Bildungsstandards im Fach Deutsch für die Allgemeine Hochschulreife (2012) nunmehr folgender Aspekt unter dem Bereich Sich mit Texten und Medien auseinandersetzen auftaucht: sich mit Texten unterschiedlicher medialer Form und Theaterinszenierungen auseinandersetzen. Theateraufführungen und -inszenierungen im Deutschunterricht Das Phänomen Theater hat seit jeher einen festen Platz in den Bereichen Bildung und Erziehung (siehe im Folgenden Olsen 2010): Vor allem die Theaterpädagogik hat außerschulisch einen hohen Stellenwert erlangt. Im Vordergrund steht dort der aktive, spielende (junge) Mensch, der ganzheitlich gebildet werden soll. Ähnlich verhält es sich mit dem in einigen Bundesländern etablierten Schulfach Darstellendes Spiel. Stark vernachlässigt wird jedoch die Rezeption des Theaters durch Kinder und Jugendliche. Obwohl im Rahmen dramendidaktischer Überlegungen immer wieder Berührungspunkte zu (professionellen) Theateraufführungen beziehungsweise -inszenierungen zu finden sind (→ 5.6), haben sie noch keinen festen Platz im Deutschunterricht gefunden. Paule hat mit ihrer Monographie Kultur des Zuschauens (2009; siehe für einen Überblick zur Thematik Paule 2013) einen markanten Grundstein für die Etablierung einer Theaterdidaktik gelegt: Es wird also nicht um die Lektüre dramatischer Texte gehen, auch nicht um szenisches Spiel der Schülerinnen und Schüler oder um eine Auseinandersetzung mit Inszenierungen, wie sie in schulischen ‚Nischen‘ - etwa der Schultheaterarbeit - möglich ist, sondern um eine Integration des Theaters und insbesondere der Aufführungsrezeption in den regulären Deutschunterricht. (2009: 4) Es ist davon auszugehen, dass die (noch junge) Theaterdidaktik (siehe auch Denk/ Möbius 2010) sich in ihrer konzeptionellen Ausrichtung auch am szenischen i nterpretieren (→ 5.5) und am handlUngs - Und prodUktionsorientierten l iteratUrUnterricht orientieren wird. Ebenso erscheinen die Grundgedanken und -methoden einer gesprächsorientierten Herangehensweise übertragbar zu sein (Olsen 2011b). Interessant ist, dass gerade der Bereich des nicht-literarischen Schreibens eine größere Rolle einzunehmen scheint (vgl. zum Anfertigen von Erinnerungsprotokollen Roselt 2004; siehe auch Olsen 2012). In Bezug auf die analytischen Anteile eines ‚Theaterunterrichts‘ stehen Unterrichtende vor einem ähnlichen Problem wie etwa bei der Analyse von Bilderbüchern. Paule deutet in ihrer Arbeit allgemein einige methodische Möglichkeiten (z. B. Inszenierungsvergleiche, das Schreiben einer Theaterkritik) an - eine ausreichende didaktische Modellierung der schülerseitigen Analyse von Theateraufführungen und -inszenierungen steht zwar noch aus, aber mittlerweile gibt es vielfältige Vorschläge für die Integration des Theaters in den Deutschunterricht (siehe z. B. Olsen/ Paule 2015). Das im Deutschunterricht vorherrschende audiovisuelle Medium ist derzeit der (Spiel-)Film (eine überzeugende didaktische ‚Legitimation‘ für den Einbezug dieses Mediums in den Literaturunterricht bie- <?page no="198"?> 198 Sich mit Texten und Medien auseinandersetzen tet Maiwald 2013b). Mittlerweile gibt es zu diesem eine unüberschaubare Fülle an fachdidaktischen Veröffentlichungen; auf entsprechende Bibliographien kann zurückgegriffen werden (Albrecht 2005; Villard et al. 2008). Während Kern vor über zehn Jahren bedauerte, dass es keine Filmdidaktik gäbe (2002: 217), muss dies heute relativiert werden. Neben einer steigenden Zahl entsprechender Themenhefte (Der Deutschunterricht 3/ 08: Filmdidaktik; Deutschunterricht extra 2010: Filme im Unterricht) sowie ersten bedeutsamen filmdidaktischen Überlegungen (Möbius 2005a; Leubner/ Saupe 2005) erschien im Jahre 2009 das Buch Filme im Deutschunterricht von Abraham. Er legt damit eine praxisorientierte Filmdidaktik vor, die jedoch ausschließlich rezeptionsorientiert ist: „Produktionsorientierte Zugänge sind denkbar und sehr begrüßenswert; eine entsprechende Didaktik wäre aber nur fächerübergreifend zu schreiben“ (2009: 8)- - damit grenzt er sich stark von vielen anderen Deutschdidaktikern ab. Bedeutsam ist, dass Abraham explizit darauf hinweist, dass alle Lern- und Kompetenzbereiche des Deutschunterrichts „von Filmen profitieren“ (ebd.: 59; siehe hierzu auch Staiger 2014b; vertiefend zu didaktisch relevanten Berührungspunkten von literarischem Text und Film siehe Schönleber 2012, der neben einem theoretischen Entwurf für einen filmintegrativen Deutschunterricht auch konkrete Unterrichtsmodelle vorlegt). Hinsichtlich der methodischen Zugänge lassen sich den Überlegungen Abrahams folgende (von uns erweiterte) Tendenzen entnehmen: - Eine analytische Herangehensweise solle nicht im Zentrum des Unterrichts stehen, da es nicht die Aufgabe des Deutschunterrichts sei, „Schüler zu Medienwissenschaftlern zu erziehen“ (ebd.: 57). Anderer Ansicht ist zum Beispiel Schönleber: „Die analytischen Methoden der Filmhermeneutik und der Filmnarratologie sind als Bezugstheorien besonders geeignet, Film und Literatur eng aufeinander zu beziehen“ (2012: 176); hervorgehoben werden muss in diesem Zusammenhang, dass Schönleber interessanterweise eine didaktische Zielrichtung zu etablieren versucht, die „jenseits der Verfilmungen einer literarischen Vorlage“ (ebd.: 178) verortet sein soll. - Der Einsatz szenischer Verfahren solle „rezeptionsbegleitend und zur Interpretation eingesetzt werden“ (ebd.: 61; siehe auch 84 f.; vertiefend Abraham 2005; ähnlich Maiwald 2013a: 235; Krämer 2006). Maiwald (2013a: 231 ff.) weist zwei übergreifende Ziele der Filmdidaktik aus: Filmlesefähigkeit kulturelle Handlungsfähigkeit Aus Sprache ist er [gemeint ist der Film, C. H., A. K., R. O.] gemacht, zu Sprache wird er wieder werden. Das ist der Hauptgrund dafür, warum Filme in den Deutschunterricht gehören. (Abraham 2014c: 205) <?page no="199"?> Ansätze im Kontext einer medialen Erweiterung 199 Mehrsprachigkeit - Gespräche über Filme seien unabdingbar - und zwar auch vor dem Hintergrund der Zielsetzungen des Sprachunterrichts. Abraham weist auf das literarische Sehgespräch nach Möbius (2008) hin; Schmidt/ Winkler (2015) haben nachweisen können, dass Filmgespräche ein geeignetes Setting für die Förderung des Filmverstehens darstellen. - Das Schreiben zu Filmen lasse sich in vier Teilbereiche aufgliedern: expressives, klärendes, rhetorisches und poetisches Schreiben (Abraham 2009: 82). - Filme (insbesondere Literaturverfilmungen; zum didaktischen Mehrwert von Bilderbuchverfilmungen - auch unter intertextuellen beziehungsweise intermedialen Gesichtspunkten - siehe Kudlowski 2013) eigneten sich zur l eseförderung (→-4). Noch kaum beachtet werden Lyrikverfilmungen: Littschwager (2010) zeigt in ihrer Monografie unter anderem die zentrale Strategie von Lyrikverfilmungen - „das Verhältnis von visueller und auditiver Sprachebene als synästhetischer Mehrwert“ (ebd.: 94) - auf. Wir gehen davon aus, dass diese besondere Art von Verfilmung sich nicht nur leseanimierend auswirken könnte, sondern auch dazu geeignet ist, gemeinsam mit den Schülern interessante text- und filmanalytische Wege zu beschreiten. Winkler (2010) hat (erneut) darauf hingewiesen, dass Musikvideoclips selbstverständlich auch eine besondere Form von Lyrikverfilmungen - und damit auch ein Gegenstand des Deutschunterrichts - sein können. Das Buch bietet viele interessante und weiterführende theoretische Aspekte, so zum Beispiel auch zur heute dringend gebotenen Berücksichtigung der Mehrsprachigkeit im Deutschunterricht (ebd.: 98 ff.). Die zweite Hälfte der Monographie ist konkreten Praxisbeispielen gewidmet: fünfzehn Filme werden didaktisch-methodisch untersucht (ebd.: 103 ff.). Wie oben schon erwähnt, vernachlässigt Abraham jedoch bewusst die produktive Seite der Filmdidaktik. Zu kurz gerät bei Abraham auch der Bereich der Filmanalyse - obwohl er in der Didaktik schon lange einen ausgesprochen hohen Stellenwert aufweist (siehe Hickethier 1981 u. 1983; Gast 1996; für die Primarstufe Möbius 2013). In Bezug auf die Filmsprache gibt es eine stark ausdifferenzierte Fachterminologie, über die in der Filmwissenschaft immer noch kein Konsens besteht (eine praxisorientierte, systematische Ordnung filmanalytischer Grundbegriffe liefert Tasaki 2014). Daneben haben filmische Texte jedoch auch einen narrativen Charakter, der demjenigen von literarischen Texten ähnelt. Leubner/ Saupe haben einen Didaktisierungsvorschlag unterbreitet, indem sie diese beiden Aspekte erstmalig zusammengefasst haben (2012: 177 ff.). Schließlich haben sie - wie Filmanalyse ersetzt Textanalyse. (Paefgen 2008b: 155) <?page no="200"?> 200 Sich mit Texten und Medien auseinandersetzen schon hinsichtlich der Analyse epischer Texte (→- 5.1) - einen Katalog erstellt, der für die unterrichtliche Arbeit von unschätzbarem Wert ist (ebd.: 217 ff.). Selbstverständlich können nicht alle Kategorien für jeden filmischen Text herangezogen werden; im Folgenden geben wir diesen Katalog sehr stark verkürzt wieder. Darstellungsanalyse filmischer Erzählungen 1. Narrationsspezifische Verfahren 1.1 Zeitgestaltung: Diese Kategorie kann bei Filmen nur sehr selten herangezogen werden, da die zeitliche Gestaltung nur in Ausnahmefällen so komplex ist wie bei epischen Texten. 1.2 Perspektivierung 1.2.1 Quantitativer Point of View: Der Schüler soll untersuchen, ob der Rezipient mehr, weniger oder genauso viel weiß wie die (Haupt-)Figur(en). 1.2.2 Qualitativer Point of View: Hier wird danach gefragt, ob der Rezipient objektive und/ oder subjektive Einblicke erhält. 1.3 Eigenschaften des Erzählers: Sofern es in einem Film einen Erzähler gibt, kann diese Kategorie zum Einsatz kommen. 2. Filmsprachliche Verfahren 2.1 Einstellungsgröße: Panoramaaufnahme - Totale - Halbtotale - Halbnahe - Amerikanische - Nahe - Großaufnahme - Detail 2.2 Kameraperspektive: Normalsicht - Untersicht - Aufsicht 2.3 Kamerabewegung: Hierbei geht es um die Frage, ob die Kamera fixiert ist oder ob sie selbst Bewegungen im Raum vornimmt. 2.4 Kameraobjektiv: Normalobjektiv - Weitwinkelobjektiv - Teleobjektiv - Zoomobjektiv 2.5 Mise en Scène: Es wird danach gefragt, wodurch die Rauminszenierung bestimmt ist (Auswahl von Objekten und Figuren, räumliche Positionierung, Licht- und Beleuchtung). 2.6 Beziehung von Bild und Ton: Hier wird untersucht, ob und wie die Bilder in ein bestimmtes Verhältnis zu Sprache, Geräuschen und Musik gesetzt werden. 2.7 Montage: Hinsichtlich der Schnitttechnik wird danach gefragt, ob die einzelnen Schnitte weich/ hart sowie schnell/ langsam erstellt wurden. Sehr zu empfehlen ist auch das durchgängig mit konkreten Beispielen versehene Buch Filmanalyse im Deutschunterricht: Spielfilmklassiker von Jost/ Kammerer (2012). Wenngleich sie - ähnlich wie Leubner/ Saupe-- die Notwendigkeit der Analyse interner Faktoren der Textgestaltung (=- Filmgestaltung) herausstreichen, weisen sie immer wieder darauf hin, dabei die Bedeutsamkeit externer Faktoren (wie z. B. das Phänomen der Intertextualität →-S.-147) nicht zu vernachlässigen. Viele Verfahren (vor allem entsprechende Schreibaufgaben) des handlungs - und produktionsorientierten l iteraturunter - <?page no="201"?> Ansätze im Kontext einer medialen Erweiterung 201 richts können auch für den Umgang mit Filmen herangezogen werden: „Im Gegensatz zu einer nur auf Strukturanalyse oder auf kritische Beurteilung zielenden Filmdidaktik nimmt der produktionsorientierte Ansatz die audiovisuellen Medien als ästhetische Produkte ernst, die einer Wahrnehmungsschulung bedürfen“ (Spinner 2002: 257). Symmedien: Computer und Internet Bei all den […] Nutzungsoptionen bzw. Konzepten zum Einsatz der neuen Digitalmedien Computer und Internet ist einerseits evident, dass sie einander nicht ausschließen, sondern ergänzen bzw. miteinander verbunden werden können. Andererseits sollte stets die Frage leitend sein, worin der medienspezifische Mehrwert eines Einsatzes im Deutschunterricht liegt […]. Nur wenn dieser Mehrwert deutlich bestimmbar ist, ist der fachspezifische Einsatz von Computer und Internet wirklich sinnvoll. (Frederking et al. 2012: 259) In Anlehnung an Frederking plädieren wir dafür, in Bezug auf Computer und Internet zukünftig nicht mehr von ‚neuen Medien‘ - die irgendwann ja nicht mehr ‚neu‘ sind -, sondern von Symmedien (zu diesem Teminus ausführlich Frederking 2005) zu sprechen. Dieser Begriff berücksichtigt in besonderem Maße, dass Computer und Internet nicht nur Simulations-, sondern auch Integrationsmedien sind, die Text, Bild, Ton und Film in sich vereinen (können). Es zeigen sich vielfältige Erscheinungsweisen und Nutzungsmöglichkeiten sowohl auf der sprachlichen wie auf der literarischen Ebene: Dabei erlauben diese beiden neuen Digitalmedien Arbeitsprozesse einer neuen Art, die auch und gerade im Deutschunterricht fruchtbar zu machen sind, weil sie mit Ton, Text und bewegtem Tonbild die medialen Kernformen des oralen, des literalen und des audiovisuellen Paradigmas in sich vereinen und gleichzeitig weiterentwickeln. Besonders Lese- und Schreibprozesse erfahren durch Computer und Internet medienspezifische Veränderungen. Sie werden interaktiv und synästhetisch. (Frederking et al. 2012: 206; zum Stellenwert synästhetischer Bildung in einem symmedialen Deutschunterricht siehe vertiefend Frederking 2014) Diese Veränderungen schlagen sich auch im methodischen Umgang nieder. Obwohl auch in diesem Sektor in den meisten Fällen auf die allgemeinen Konzeptionen, die in diesem Band genannt wurden, zurückgegriffen wird, wird es zukünftig auf Grund bestimmter technischer Besonderheiten mannigfaltige neue didaktische Ansätze geben (müssen). Das Online-Portal Neue Medien im Deutschunterricht (medid.de) bietet interessante Möglichkeiten für die Nutzung von Computer und Internet. Faktuale Filme Der Einsatz faktualer Filme (Dokumentarfilme und andere dokumentarische Formate; der Grad des Fiktionalen kann sehr unterschiedlich sein) im Deutschunterricht ist immer noch eine Seltenheit. Der Sammelband von Kammerer/ Kepser (2014) bietet erstmalig eine Einführung in die Theorie, Praxis und Didaktik dieser Formate. <?page no="202"?> 202 Sich mit Texten und Medien auseinandersetzen Lernmedium Krommer/ Dreier (2013) zum Beispiel zeigen anschaulich auf, wie das Medium Chat zu einem sinnvollen Bildungsgut im Deutschunterricht werden kann - und welche vielfältigen methodischen Möglichkeiten damit verbunden sein können. Frederking et al. (2012: 250 ff.) weisen sechs didaktisch-methodische Fokussierungen aus, die derzeit in den Blick genommen werden. Dabei könnten die Symmedien entweder integriert oder an Stelle traditioneller Lernmedien treten (ebd.: 258 f.). Mit dem Blick auf das Internet konstatiert Wieland: Virtuelle Lernumgebungen zum Unterrichtsgegenstand zu machen kann nur dann eine Aufgabe sein, wenn das sprachliche und literarische Lernen im Deutschunterricht selbst reflektiert werden soll. (2005: 42) Für diese beiden Lernbereiche gibt es sowohl internetbasierte als auch internetunabhängige spezifische Lernbeziehungsweise Übungssoftware. Für den Bereich Sprache sind in erster Linie vielfältige Rechtschreib- und Grammatikprogramme zu nennen. Viele davon (zumeist kommerzielle) entsprechen jedoch in methodischer Hinsicht älteren didaktischen Vorstellungen (z. B. eine starke Regel- oder Grundwortschatzorientierung, →-3.2; →-3.5). Dass digitale Rechtschreibhilfen aber auch „ein enormes Potenzial zu sprachdidaktisch gewinnbringender Verwendung bergen“ (Berndt/ Thelen 2011: 469) können, betonen die beiden Autoren, die eine kritische Sicht auf Rechtschreib-Lern- und Rechtschreib-Prüfprogramme werfen. Sie weisen darauf hin, dass „ein intensiverer Dialog zwischen Didaktikern und Softwareentwicklern notwendig“ (ebd.) sei. Für den Literaturunterricht beziehungsweise für das literarische Lernen gibt es bisher erst wenig sinnvolle Lernarrangements - die gymnasial orientierte Lernsoftware Texte, Themen und Strukturen - interaktiv zum Beispiel bietet interessante Zugänge für die Lernenden (wobei der konzeptionelle Schwerpunkt textanalytisch ist). An dieser Stelle muss zunächst einmal unterschieden werden, ob durch eine 'neue Medialität' überhaupt etwas ‚Neues‘ entsteht. Leubner (2014) unterscheidet in Bezug auf literarische Texte digital publizierte Texte von digitaler Literatur: Während erstere zum Beispiel in Bezug auf E-Books nur unterschiedliche Realisierungsformen seien, habe der zweitgenannte Typus „medienspezifische Merkmale“ (ebd.: 187) und sei „als multimediales ‚Gesamtkunstwerk‘ der Medienkunst zugehörig“ (ebd.: 197)- - wichtigstes Unterscheidungskriterium sei, dass die Entstehung und Rezeption dieser Texte an den Computer gebunden ist. Auf dem Vormarsch sei beispielsweise eine digitale Buchform, die bestimmte multimediale Möglichkeiten vereine und damit „den Bereich der digitalen Literatur [und der digital publizierten Literatur, C. H., A. K, R. O.] in Richtung <?page no="203"?> Ansätze im Kontext einer medialen Erweiterung 203 auf polybzw. symmediale Verbünde und symmediale Leseprozesse“ (Leubner 2014: 206) überschreite: die Kinderbuch-App. C. Müller (2014) hat am Beispiel der App Alice im Wunderland Möglichkeiten des literarischen Lernens im Rahmen eines handlungs- und produktionsorientierten Literaturunterrichts aufgezeigt. Erst am Anfang der fachdidaktischen Diskussion steht die Frage, ob auch Computerspiele für den Erwerb literarischer Kompetenzen sinnvoll sein können (Boelmann 2011; vertiefend - und die oben aufgeworfene Frage grundsätzlich auf Grund einer empirischen Studie bejahend - Boelmann 2015, mit Bezug zum Bochumer Modell →-S.-148 f.; in Bezug auf literarisch-theatrale Lernprozesse Olsen 2015). Hofer/ Bauer (2014) bieten umfangreiche didaktische und methodische Erwägungen zum Einsatz von Computerspielen im Deutschunterricht - ein immer noch „didaktisches Neuland“ (ebd.: 443). In ihrem Beitrag stellen sie neun ‚Prinzipien‘ (eine leider sehr vage Bezeichnung, da sie diese auch als ‚Stufen‘, ‚Ziele‘ und ‚Etappen‘ etikettieren) beim Umgang mit Computerspielen im Unterricht vor: 1. sensibilisieren 2. problematisieren 3. vergleichen 4. klassifizieren 5. testen 6. beurteilen 7. erforschen 8. entwerfen 9. entwickeln Kepser (2013) hat kurz vorher ein kompetenzorientiertes Konzept vorgelegt, in dem sich diese Prinzipien wiederfinden. Er unterteilt den Umgang mit Computerspielen im Deutschunterricht wie folgt (siehe ebd.: 30 ff.): 1. Computerspielanalyse (Teilbereiche: Computerspielgestaltung, Computerspielgeschichte, Genre und Genretheorie, Game Studies und Game Theory) 2. Computerspielnutzung (etwa die Wirkung von Spielen beschreiben können) 3. computerspielbezogene Produktion und Präsentation (z. B. das Entwerfen eigener Schauplätze und Figuren) 4. Computerspiel in der Mediengesellschaft (z. B. Referenzen zu anderen Künsten/ Medien erkennen können) Empirisch erwiesen ist noch nicht, ob die Nutzung des Internets (und des Computers) einen positiven oder einen negativen Einfluss auf den <?page no="204"?> 204 Sich mit Texten und Medien auseinandersetzen Schreibmedium Informationsmedium Leseprozess hat: Bisherige Studien können „wenn überhaupt nur kaum signifikante Verbesserungen der Lernleistungen bestätigen“ (Möbius 2014). Kuzminykh diskutiert potentielle Vor- und Nachteile und liefert einige interessante methodische Vorschläge unter lesefördernden Gesichtspunkten (2009: 148 ff.; siehe in Bezug auf Computerspiele auch Bruelhart 2011). Das Symmedium Computer hat als Schreibmedium schon lange - im Offline-Modus - Einzug in die Schulen gefunden. Durch Textverarbeitungsprogramme kann es im gesamten Deutschunterricht musterorientierte als auch kreative/ produktive Schreibprozesse (→- 3.9; →- 3.10) äußerst gewinnbringend unterstützen (vgl. hierzu auch die empirischen Ergebnisse von Schieder-Niewierra 2011 mit dem Nachweis der positiven Auswirkung auf die Schreibmotivation), da insbesondere das Überarbeiten von Texten in einer komfortablen Weise vorgenommen werden kann. Im Online-Modus, der diesbezüglich in die Bereiche Schreiben im Netz und vernetztes Schreiben aufgeteilt werden kann (Heibach 2002), bietet der Computer (beziehungsweise auch das Computerspiel) noch ungeahnte schreiborientierte Einsatzmöglichkeiten, die erst im Ansatz deutschdidaktisch erschlossen wurden, siehe - allgemein Kuzminykh 2009: 157 ff., - zum Schreiben von Hyperfictions Leubner 2001, - zum kooperativen Schreiben Borrmann 2003, - zu virtuellen Schreibkonferenzen Becker-Mrotzek 2012b, - zum Argumentieren im DaZ-Bereich Grundler 2010, - zum Bloggen auf der Schreibplattform myMoment.de Furger 2011, - zum Wiki-Einsatz Anskeit 2011, - zum Schreiben von Literaturkritiken auf hierschreibenwir.de Mikota 2012, - zum Umwandeln von längeren Texten in Tweets Philipp 2012a, - zum Erstellen eigener Websites Vach 2013 und Probst/ Schlumpf 2014, - zum Schreiben zu Adventures Hoffmann/ Lüth 2008 und Hoffmann 2012. Möbius macht vor dem Hintergrund einer interessanten Studie mit Studierenden explizit darauf aufmerksam, dass das textnahe l esen (→- 5.3) beispielsweise „mit der Kommentarfunktion von Textverarbeitungsprogrammen“ (2005b: 32) oder „mit Hilfe der Kommunikationstools der Lernplattform [gemeint ist stud.ip, C. H./ A. K./ R. O.]“ (ebd.) zu realisieren sei (zur Vertiefung Möbius 2005c: 98 f.) - diese Ideen lassen sich leicht auf die Schule übertragen. Als Informationsmedien gehen Computer und Internet immer stärker eine untrennbare Verbindung ein: (nicht nur) Schüler ‚goo- <?page no="205"?> Ansätze im Kontext einer medialen Erweiterung 205 Kommunikationsmedium Kooperationsmedium geln‘ heute ganz selbstverständlich, um schnell- - punktuell lesend - an Informationen (siehe zum Interneteinsatz im Lyrikunterricht Hochholzer 2006) oder literarische Texte (siehe zur ‚Internetliteratur‘ Kepser 2000) heranzukommen. Diese werden dann nicht selten gespeichert, um auf sie auch im Offline-Modus zurückgreifen zu können. Falls diese Texte auch hypertextuell strukturiert sind, benötigen Schüler neben den allgemeinen, oben dargestellten (→- 4.3), „spezifische Lesestrategien“ (Frederking et al. 2012: 254), deren Bedingungen bisher erst im Ansatz empirisch erfasst wurden (Blatt/ Voss/ Goy 2005; Voss 2006; Coiro/ Dobler 2007). Für den konkreten Deutschunterricht „ergeben sich […] fast unbegrenzte Möglichkeiten“ (Frederking et al. 2012: 254). Der Einbezug computervermittelter Kommunikation (E-Mails und Chat) in den Deutschunterricht lässt sich mittlerweile als etabliert bezeichnen (z. B. zu E-Mails: internet-abc.de u. ein entsprechendes Themenheft der Zeitschrift Deutschunterricht aus dem Jahr 2001; zum Chatten - im Zusammenhang mit dem szenischen i nterpretie ren - - Breilmann/ Schopen 1999 u. aus interkultureller Perspektive Bozay 2008; beide Bereiche verbindend: Frederking/ Steinig 2000). Unter Heranziehung verschiedener oben skizzierter Konzeptionen lassen sich mehrere Kompetenzbereiche des Deutschunterrichts avisieren. Hinsichtlich des Texteschreibens kann neben der p rozessorientie rung (→- 3.10) in diesem Zusammenhang insbesondere das leser orientierte s chreiben (→-3.9) genannt werden. Der Computer und das Internet können genutzt werden, um virtuelle Kooperationen zwischen räumlich getrennten Personen oder Gruppen durchzuführen - als Arbeitsplattformen bieten sich http: / / bscw.gmd. de und lo-net.de (Möbius et al. 2005) an. Deutschdidaktisch sinnvolle Einsatzmöglichkeiten ergeben sich beispielsweise, wenn ein gemeinsames Thema - z. B. ein literarischer Text wie Goethes Faust oder ein Kinder- und Jugendbuch - innerhalb von zwei Lerngruppen ganz oder in Teilen im Horizont unterschiedlicher Schwerpunktsetzungen und auf der Grundlage unterschiedlicher literaturwissenschaftlicher oder literaturdidaktischer Konzeptionen (z. B. motivgeschichtlich versus psychologisch bzw. analytisch versus handelnd-produktiv) behandelt wird. (Frederking et al. 2012: 256) Elektronisches Unterrichtsmaterial für den Literaturunterricht (in der Sekundarstufe II) In der Schweiz wurde elektronisches Unterrichtsmaterial entwickelt, das unter stadtliteratur.ch abrufbar ist. Es handelt sich hierbei um literarische Texte, Filmausschnitte, Radiosendungen, Weblinks etc., auf die der Benutzer nach dem Anklicken eines ‚urbanen Topois‘ - darauf rekurriert der Name ‚Stadtliteratur‘ - zugreifen kann, um sich zu informieren (Seele/ Grossen 2014). Wir sind der Auffassung, dass diese äußerst interessante Sammlung und Zusammenstellung nicht nur der Sekundarstufe II vorbehalten sein sollte. <?page no="206"?> 206 Sich mit Texten und Medien auseinandersetzen synästhetisches Handlungsmedium Noch ist keine hinreichende didaktisch-methodische Annäherung an die ‚Lese- und Schreibräume‘ Literaturplattformen festzustellen, auf denen kooperationsähnliche - feedbackorientierte - Aktionen möglich sind (siehe hierzu die aufschlussreiche fachwissenschaftliche Monographie von Boesken 2010). Der Zusatz ‚Handlung‘ legt es nahe: Im Vordergrund dieser Fokussierung stehen handlungs- und produktionsorientierte Verfahren, wenn die oben genannten medialen Formen im Verbund zum Einsatz kommen. Aber auch rezeptive, analytische Annäherungen können „vertiefte Verstehensprozesse eröffnen“ (Frederking et al. 2012: 257). Tablets und Smartphones als Symmedien Wie eine literarische Epoche mit dem Tablet oder Smartphone und einer entsprechenden App erlernt werden kann, zeigt C. Müller (2015) in einem Lernarrangement, bei dem Tablets oder Smartphones zur Erlangung von Wissen und Kontextwissen über eine Epoche fungieren und dieses in einem handlungs- und produktionsorientierten Verfahren mit einer Foto- App in einer inhaltlich und ästhetisch individuellen Bild-Text-Collage visualisiert wird. Im Laufe dieses Kapitels sollte deutlich geworden sein, dass lediglich in Bezug auf wenige (nicht-traditionelle) Medien - wie zum Beispiel den Film - Konturen spezifischer Konzeptionen zu verzeichnen sind, sodass zukünftig auf entsprechende mediendidaktische Ausarbeitungen zu hoffen ist. Fragen vor dem und Tipps für den Unterricht Stellen Sie sich vor Beginn Ihres Unterrichts, der im Kontext einer medialen Erweiterung stehen soll, folgende Fragen: - Welche allgemeinen Zielsetzungen des sprachlichen und/ oder literarischen Lernens möchten Sie mit Ihrer Unterrichtsstunde/ Unterrichtseinheit verfolgen? Ist das von Ihnen ausgewählte Medium ‚unersetzbar‘ und funktional dafür? - Setzen Sie das von Ihnen ausgewählte Unterrichtsmedium in einen Zusammenhang zu den allgemeinen Konzeptionen der Deutschdidaktik: In welchem Verhältnis sollen zum Beispiel analytische, handlungs- und produktionsorientierte und/ oder gesprächsförmige Ansätze zueinander stehen - und warum? Recherchieren Sie: Gibt es spezifische methodische Zugänge? <?page no="207"?> Ansätze im Kontext einer medialen Erweiterung 207 Aufgaben 1. Reflektieren Sie etwaige Vor- und Nachteile internetbasierter Kommunikation für den Schreibunterricht. Beziehen Sie sich dabei auf Partnerschaften zwischen Schulen, bei denen die Schüler sich entweder mit Hilfe von E-Mails oder über ‚normale‘ (handgeschriebene) Briefe austauschen. 2. Erinnern Sie sich an Ihren letzten Theaterbesuch, bei dem Sie sich eine postdramatische Inszenierung angesehen haben. Gab es Anknüpfungspunkte zu anderen (‚neueren‘) Medien? Wie könnten Sie diese in Ihren deutschdidaktisch orientierten Medienunterricht integrieren? Lektüreempfehlung zur Vertiefung f rederking , V./ k roMMer , a./ M aiWaLd , k. (2012) (das Standardwerk für den deutschdidaktischen Medienunterricht; es bietet einen kompletten, gut verständlichen Überblick) f rederking , V. (2014) (in diesem neueren Beitrag hat Frederking die Aufteilung in sechs didaktisch-methodische ‚Fokussierungen‘ - siehe oben - einer Revision unterzogen; nunmehr spricht er von sieben ‚Optionen‘ für den Deutschunterricht; auf einige der Optionen gehen folgende Autoren dezidiert ein: Abraham, 2014a, setzt sich mit Schreib-, Präsentations- und Publikationsmedien auseinander, Krommer, 2014, beleuchtet Informations-, Kommunikations- und Kooperationsmedien und Boelmann, 2014, widmet sich den Interaktions- und Handlungsmedien) <?page no="208"?> 6. Sprache und Sprachgebrauch untersuchen und reflektieren Zum Kompetenzbereich Sprache und Sprachgebrauch untersuchen und reflektieren gehören in den Bildungsstandards und aktuellen Lehrbeziehungsweise Bildungsplänen zwei Teilbereiche: das grammatische Lernen und die Wortschatzarbeit. Dementsprechend behandeln wir hier die Konzeptionen der beiden fachdidaktischen Teildisziplinen Wortschatzdidaktik (→- 6.1-6.4) und Grammatikdidaktik (→-6.5-6.11) getrennt. a. Wortschatzunterricht In den Bildungsstandards fällt der Bereich Wortschatzdidaktik unter den Bereich Sprache und Sprachgebrauch untersuchen. Ein Großteil der Standards hängt mit dem Bereich Wortschatz mehr oder weniger indirekt zusammen, deshalb werden hier nur einige exemplarisch aufgeführt: Bildungsstandards an Wörtern, Sätzen, Texten arbeiten (Wörter strukturieren und Möglichkeiten der Wortbildung kennen; Wörter sammeln und ordnen) Gemeinsamkeiten und Unterschiede von Sprachen entdecken (Deutsch - Fremdsprache, Dialekt - Standardsprache; Deutsch - Muttersprachen der Kinder mit Migrationshintergrund; Deutsch - Nachbarsprachen; gebräuchliche Fremdwörter untersuchen) Äußerungen/ Texte in Verwendungszusammenhängen reflektieren und bewusst gestalten (beim Sprachhandeln einen differenzierten Wortschatz gebrauchen einschließlich umgangssprachlicher und idiomatischer Wendungen in Kenntnis des jeweiligen Zusammenhangs; Sprechweisen unterscheiden und beachten: z. B. gehoben, derb; abwertend, ironisch; ausgewählte Erscheinungen des Sprachwandels kennen und bewerten: z. B. Bedeutungswandel, fremdsprachliche Einflüsse) Textbeschaffenheit analysieren und reflektieren (sprachliche Mittel zur Sicherung des Textzusammenhangs (Textkohärenz) kennen und anwenden: […] - Bedeutungsebene (semantische Mittel): z. B. Synonyme, Antonyme; Schlüsselwörter; Oberbegriff/ Unterbegriff; ausgewählte rhetorische Mittel) Das Thema Wortschatzdidaktik gehört zu den fachdidaktisch randständigen (Kilian 2011b) und gewinnt erst wieder im Zuge zunehmender Beschäftigung mit DaZ-Fragestellungen an Bedeutung (zur Geschichte <?page no="209"?> Wortschatzunterricht 209 der Wortschatzarbeit in der Schule siehe Ulrich 2011a). Lange Zeit war die Problematik eines defizitären Wortschatzes nicht präsent beziehungsweise es wurde (und wird in der Praxis immer noch! ) davon ausgegangen, dass Wörter nebenbei miterworben würden (ebd.: 39). Dementsprechend wird der Zugriff auf ein differenziertes mentales Lexikon - wie man das begriffliche Netz ‚im Kopf‘ nennt - auch in der Schule vorausgesetzt. Bedeutung im Kopf Das mentale Lexikon ist vielschichtig modelliert. Wortschatzelemente sind auf unterschiedlichen Ebenen gespeichert und miteinander verbunden: syntagmatisch und paradigmatisch, formal und funktional, auf der phonologischen, der syntaktischen, der morphologischen und der semantischen Ebene (Ulrich 2010: 22; Bachmann-Stein/ Stein 2011; Alber 2014). Vernetzungsrelevant sind zudem sogenannte Ablaufschemata (scripts) und deren Rahmen (frames) (→ S. 222). Zu einem Fußballstadion zum Beispiel gehören unter anderem eine Tribüne, Flutlichter, Kabinen, Tore; im Stadion gibt es feste Abläufe: Man nimmt seinen Platz ein, empfängt die Spieler, es ertönt der Anpfiff. Bedeutung ist darüber hinaus individuell konnotativ und assoziativ beeinflusst (wer in einem Stadion nur Niederlagen erlebt hat, wird es negativer assoziieren als jemand, der einen Aufstieg seiner Mannschaft mitfeiern konnte). Didaktisch geht es darum, einerseits die Aneignung neuen lexikalischen Materials (mitsamt seinen syntaktischen Eigenschaften) und andererseits dessen Vernetzung auf den unterschiedlichen Ebenen zu fördern. Dementsprechend unterscheiden Merten/ Kuhs (2012: 10) die Wortschatzerweiterung von der -vertiefung (siehe auch Ulrich 2010: 30). Sowohl bei Mutterals auch bei Zweitsprachlern machen sich rezeptiv und produktiv Wortschatzlücken zum Großteil im schriftsprachlichen Register bemerkbar, was die folgende Abbildung zeigt, die erschreckende Ergebnisse des DESI-Wortschatztests in der Klassenstufe-9 offenbart (s.-Abb.-9, S.-210). Ein mangelhafter Wortschatz schränkt Schüler nicht nur beim Lese- und Hörverstehen, sondern auch beim Schreiben und Sprechen ein und kann darüber hinaus auch für große schulische Schwierigkeiten in anderen Fächern verantwortlich sein. Die traditionelle W ortschatzarbeit (→-6.1) leistet dies- Unter Wortschatzerweiterung wird die Schaffung eines neuen Wortfeldes, unter Wortschatzvertiefung „dessen Pflege und Ausbau“ (Merten/ Kuhs 2012: 10) verstanden. Ein für schulische Kontexte interessantes Hilfsmittel für die Wortschatzarbeit stellen Online-Wörterbücher dar, etwa www. elexiko.de. In Bezug auf die Inklusion wird es eine Aufgabe der Deutschdidaktik sein, sich in Bezug auf eine Leichte Sprache, also eine für alle verständliche Sprache, zu positionieren. <?page no="210"?> 210 Sprache und Sprachgebrauch untersuchen und reflektieren zwei Hauptrichtungen bezüglich zu wenig Abhilfe. Studien belegen, dass Zweitsprachlerner häufig über einen geringeren Wortschatz als Muttersprachler verfügen. Für sie sind die Zielsetzungen, die mit Wortschatzarbeit verbunden sind, deshalb von besonderer Bedeutung. Abb. 9: Ergebnisse des DESI-Wortschatztests (nach Willenberg 2007: 151) Grob unterschieden werden kann zwischen incidential learning- und intentional vocabulary instruction-Konzeptionen (Merten/ Kuhs 2012: 15). Erstere umfassen solche Ansätze, die einen beiläufigen lexikalischen Erwerb beim Lesen und Hören fokussieren. Wichtigste unterrichtliche Prozesse sind die Unterrichtskommunikation, Lese- und Schreibhandlungen sowie das Vorlesen (→- S.- 112 ff.). Beiläufig erworben werden neue Ausdrücke und semantische Vernetzungen natürlich auch außerhalb der Schule. Ein wichtiges Prinzip des beiläufigen Lernens ist das Prinzip der Wiederholung: Bei wiederholtem Vorlesen eines Textes können Schüler bis zu 15% der Wörter in ihr mentales Lexikon aufnehmen, bei Kombination mit Erklärungshandlungen sogar 30% (Apeltauer 2010: 248). Dagegen setzen intentional vocabulary instruction-Ansätze auf „intentionale, bewusste und geplante Wortschatzvermittlung“ (ebd.: 16). Ihrer Bedeutung für eine systematische Wortschatzarbeit wird in der Praxis noch viel zu wenig Rechnung getragen. Eine Arbeit, die sich explizit dem Wortschatzerwerb von Kindern mit Deutsch als Zweitsprache widmet und auf dem Konzept des funktionalen Wortschatzes basiert, legt Ekinci-Kocks (2011) vor. Sie enthält ein Stufenmodell und umfangreiche Wortschatzlisten. <?page no="211"?> Wortschatzunterricht 211 neuere Ansätze Konzeptionelle Unterschiede wortschatzdidaktischer Ansätze sind insbesondere in Bezug auf die Lernergruppen, auf den Gegenstandsbereich, auf die didaktische und die methodische Ausrichtung festzustellen: - Lernergruppen: Es muss unterschieden werden zwischen Vorschlägen, die auf L1-Lerner fokussieren, solchen, die speziell für L2-Lerner (interkulturelle Wortschatzarbeit, →- S.- 260 f.) konzipiert wurden, und lernergruppenübergreifenden Konzeptionen. - Gegenstandsbereich: Hier kann man einzelwort-/ merkmalsorientierte (beispielsweise auch morphologisch orientierte) Ansätze von solchen unterscheiden, die Wörter in ihrer syntaktischen und (kon)textuellen Eingebundenheit fokussieren. - didaktisch-methodische Ausrichtung: Hier geht es vor allem um die Frage nach dem Verhältnis von systematischer Wortschatzarbeit, die gegebenenfalls auch an einen curricular festgelegten Wortschatz (Merten/ Kuhs 2012: 14) gebunden sein könnte, und situativer Wortschatzarbeit. Ebenfalls aus didaktisch-methodischer Perspektive von Bedeutung ist die Frage, ob Lernprozesse vorrangig rezeptiv oder produktiv (z. B. Königs 2000) ausgerichtet sein sollen, damit sie den Wortschatzerwerb optimal fördern können. In neueren Ansätzen lösen sich die oben dargestellten gegensätzlichen Vorstellungen zum Teil auf. Beispielsweise schließt eine rezeptive Begegnung mit Wörtern ein produktives Handeln mit diesen nicht aus. Vielmehr bedingen sich die beiden Formen und ergänzen sich optimalerweise, wie etwa Kühn (2000) oder Kurtz (2012) betonen. Methodische Vorschläge zu einer transkonzeptionellen Integration macht Selimi (2014: 51 ff.). Er bietet eine Auflistung an methodischen Möglichkeiten der unterrichtlichen Wortschatzarbeit und greift dabei auf die verschiedenen konzeptionellen Richtungen zurück: 1. Wortbedeutungen im Kontext vernetzen 2. Begriffe aus dem Kontext erschließen und ordnen 3. Arbeit mit Ober- und Unterbegriffen 4. Den Wortschatz über den Rhythmus üben und festigen 5. Den Wortschatz mit semantischen Wortlisten erweitern 6. Den Wortschatz durch Textpräsentationen festigen 7. Den Wortschatz mit Wortfamilien und Wortfeldern systematisch festigen 8. Mit Antonymen und Synonymen bewusst umgehen 9. Texte mit Schlüsselwörtern entschlüsseln 10. Zusammensetzungen und Ableitungen entschlüsseln 11. Umgang mit Fachwortschatz und Fachtexten <?page no="212"?> 212 Sprache und Sprachgebrauch untersuchen und reflektieren Definition 12. Den Wortschatz mit Mindmap und Cluster strukturieren und erweitern 13. Wortbeziehungen mit Begriffsnetz und Advance Organizer visualisieren 14. Wortzusammenhänge mit der Strukturlegetechnik erklären 15. Feine Unterschiede der Vieldeutigkeit von Wörtern erkennen 16. Redewendungen bewusst aufnehmen 17. Metaphern bewusst anwenden Viele dieser Möglichkeiten finden sich in den in den Folgekapiteln dargestellten Konzeptionen wieder. Lektüreempfehlungen M erten , S./ k uhS , k. (2012) (empirisch ausgerichteter Überblick über den aktuellen Stand der Wortschatzdidaktik und der Verankerung von Wortschatzarbeit in der Unterrichtspraxis) n euMann , a. (2013) (enthält verschiedene Beiträge zum Zusammenhang von Wortschatzarbeit und mehrsprachigkeitsbedingter Heterogenität) p ohL , i./ u Lrich , W. (2011) (Überblickswerk; enthält zahlreiche Publikationen zu theoretischen, didaktischen und empirischen Fragen) S eLiMi , n. (2014) (sehr praxisnahes Werk mit zahlreichen Unterrichtsideen) b. Grammatikunterricht Bildungsstandards sprachliche Verständigung untersuchen - an Wörtern, Sätzen, Texten arbeiten - Gemeinsamkeiten und Unterschiede von Sprachen entdecken - grundlegende sprachliche Strukturen und Begriffe kennen und verwenden - Äußerungen/ Texte in Verwendungszusammenhängen reflektieren und bewusst gestalten - Textbeschaffenheit analysieren und reflektieren - Leistungen von Sätzen und Wortarten kennen und für Sprechen, Schreiben und Textuntersuchung nutzen - Laut-Buchstaben-Beziehungen kennen und reflektieren Der Sinn von Grammatikunterricht wird in der Deutschdidaktik seit jeher kontrovers diskutiert (zur Geschichte der Grammatikdidaktik siehe Ossner 2014b). Der Terminus steht nach Funke für Versuche, „durch Kommunikation über syntaktische Strukturen und Merkmale im Unterricht sowie durch Vorgabe metasprachlicher Aufgabenstellungen Anstöße zur Ausbildung grammatischen Wissens bei Schülerinnen und Schülern zu geben“ (2001: 380). Die Assoziationen, die viele Menschen zum Grammatikunterricht haben, sind sehr negativ - dies gilt auch für angehende Deutschlehrer (Bremerich-Vos 1999). Auch die Untersuchung von Ivo/ Neuland bestätigt die Ambivalenz, mit der der Sinn von Grammatikunterricht beurteilt wird: Obwohl die Befragten wenig von der Grammatik wüssten und keine guten Erinnerungen an ihren Gramma- <?page no="213"?> Grammatikunterricht 213 Stellenwert tikunterricht hätten, hielten sie „daran fest, daß Grammatikunterricht sein muß“ (1991: 437). Der Grammatikunterricht hat also keinen leichten Stand. Seine Realität sieht laut Hoffmann so aus, dass er an einer veralteten Terminologie leide und letztlich nur dem Rechtschreibunterricht diene (2005: 24). Dabei könnte die Bedeutung von Grammatikunterricht viel weiter gefasst sein, als ausschließlich als ‚Ort‘ orthographischen Lernens zu fungieren: Die (selbständige) Verbesserung der eigenen mündlichen und schriftlichen Ausdrucks- und Interpretationsfähigkeit unter Nutzung aufgebauten grammatischen Wissens, das sich an der sprachlichen Wirklichkeit orientiert, und anhand grammatischer Verfahrensweisen, die in verschiedenen Kontexten anwendbar sind, ist schließlich nicht nur für den Deutschunterricht und alle anderen Unterrichtsfächer, sondern auch für private und berufliche Zusammenhänge von hoher Bedeutung. (Berkemeier/ Hoppe 2001: 8) Dadurch werden folgende Fragen relevant: Was ist grammatisches Wissen? Haben Grammatikunterricht und das darin ausgebildete Wissen einen eigenen Bildungswert (siehe hierzu Peyer 2012: 87)? Hilft er beim Erlernen von Fremdsprachen? Sollte ein gut (aus)gebildeter Mensch seinen Sprachgebrauch metasprachlich erklären und Alternativen kommunizieren können? Kann Grammatikunterricht den Schülern dabei helfen, besser lesen und schreiben - und auch sprechen und zuhören-- zu lernen? Auf manche dieser Fragen geben die im Folgenden dargestellten Konzeptionen (kontroverse) Antworten, andere sind aufgrund einer unzureichenden empirischen Basis (bisher) nicht klar zu beantworten. Können und Wissen Die Frage nach dem Verhältnis von Können und Wissen ist eine der Grundfragen der Grammatikdidaktik. Funke (2005) stellt fest, dass explizites sich nicht einfach in implizites Wissen ‚umwandeln‘ lasse (siehe zum Thema auch Bredel/ Schmellentin 2014). Vielmehr müsse auf zwei grammatischen Lernebenen gleichermaßen gearbeitet werden: auf der Ebene expliziter grammatischer Beschreibung, auf welcher eine gedankliche Bewegung von Einzelfällen zur begrifflichen Generalisierung stattfindet, sowie auf der Ebene impliziten grammatischen Wissens, auf welcher sich aus instabilen und flüchtigen sprachlichen Intuitionen ein zunehmend zuverlässiges Vertrautsein mit syntaktischer Information, ihr Wiedererkennen, entwickeln kann. (2001: 383) Der klassische Lernweg, von dem in der Schule häufig ausgegangen wird (explizite Vermittlung - reflexive Durchdringung - Übung - sprachliches Können), ist mit dieser Auffassung nicht vereinbar. Deshalb müssen Lernwege konzipiert werden, die von Grund auf könnensorientiert sind (Hochstadt 2015). Noch fehlt der Grammatikdidaktik aber die notwendige empirische Basis, um gesicherte Aussagen zum Verhältnis grammatischen Wissens und sprachlichen Könnens treffen zu können und didaktisch umzusetzen. Einen Einblick in die aktuelle Forschung zu diesem Thema geben Bredel/ Schmellentin (2014) und zahlreiche Beiträge in Gornik (2014a). <?page no="214"?> 214 Sprache und Sprachgebrauch untersuchen und reflektieren formal und funktional zukünftige Aufgaben Innerhalb der Grammatikdidaktik hat sich seit den 1950er Jahren viel getan. Es wird immer wieder betont, wie sinnvoll eine Verknüpfung von formaler und funktionaler Perspektive auf sprachliche Elemente ist (etwa Granzow-Emden 2014; Köller 2014; Rothstein 2014). Darüber hinaus ist die Polarisierung von systematischen und situativen Ansätzen durch einen integrativ ausgerichteten Weg relativiert (Wieland 2013). Dass Grammatikunterricht systematisch aufgebaut sein und gleichzeitig Raum für situationsgebundene Arbeit geben soll, wird nicht mehr ernsthaft bestritten. Die verschiedenen Konzeptionen unterscheiden sich zum Teil nicht nur in ihrem grundlegenden Verständnis von Grammatik, sondern vor allem auch im Hinblick auf die unterrichtlichen Ziele, die Prinzipien, an die sie grammatisches Lernen knüpfen, und die methodische Ausrichtung. Fast alle können als klassisch muttersprachlich orientiert charakterisiert werden. Erst in den letzten Jahren werden sie erweitert durch Ansätze, die auch die Perspektive der Mehrsprachigkeit berücksichtigen. Zukünftig wird die Grammatikdidaktik eine Reihe von Aufgaben zu bewältigen haben (siehe auch Gornik 2014b: 54). Dazu gehört, - sich im Spannungsfeld zwischen DaM- und DaZ-Didaktik neu zu definieren, entsprechende Aufgaben zu erkennen und anzugehen und entsprechende konzeptionelle Ausrichtungen weiterzuentwickeln, - die empirische Basis für die konzeptionellen Ausrichtungen auszuweiten, - sich im Rahmen der Kompetenzorientierung zu positionieren, - das Verhältnis zu anderen deutschdidaktischen Teilbereichen verschärft zu reflektieren, - ein konzeptionell sinnvoll begründetes, umfassendes Curriculum zu entwickeln (vgl. Ossner 2006b). Lektüreempfehlungen B redeL , u. (2007) (umfassendes Grundlagenbuch der Grammatikdidaktik; stellt fachdidaktische Zusammenhänge auf hohem Niveau studierendenorientiert dar) g ranzoW -e Mden , M. (2014a) (bietet einen Einblick in ein fortschrittliches, modernes Verständnis von Grammatikunterricht) Ein Ansatz, der in den 1970er Jahren populär war, wird häufig als systematischer Grammatikunterricht (Gornik 2006: 818 f.) bezeichnet. In jüngster Zeit werden vermehrt didaktische Vorschläge ausgearbeitet, die formal und systematisch orientiert sind und das Ziel verfolgen, den Schülern funktional nutzbare strukturelle Einsichten und ein grammatisches Wissen in Funktion (Funke 2005) zu ermöglichen. Unter anderem die Arbeiten von Bredel (u. a. 2013; 2014), Funke (u. a. 2005), Granzow-Emden (u. a. 2014a; 2014b) begründen eine neue konzeptionelle Richtung in der Grammatikdidaktik, die weiterhin didaktisch und methodisch ausgearbeitet werden muss. <?page no="215"?> Traditionelle Wortschatzarbeit 215 theoretischer Hintergrund g ornik , h. (2006) (systematisch aufgebauter und verständlich geschriebener Überblick über grammatikdidaktische Konzeptionen) W ieLand , r. (2013) (interessanter und kritischer Überblick über grammatikdidaktische Fragestellungen, Zielsetzungen und Konzeptionen) g ornik , h. (2014a) (neuester Überblick über die aktuelle Forschung mit hervorragenden Beiträgen zu den verschiedensten grammatikdidaktischen Fragestellungen) 6.1 Traditionelle Wortschatzarbeit Wenn du beschreiben möchtest, wie dein Freund isst, stehen dir viele Wörter aus dem Wortfeld essen zur Verfügung […]. Wählt nun sechs eurer Wörter aus und bildet mit ihnen jeweils einen Satz. (Baumbusch/ Laub 2002: 6) Der traditionellen W ortschatzarbeit kommt, wie die folgende Darstellung zeigt, hauptsächlich eine ‚dienende‘ Funktion für andere Lernbereiche des Deutschunterrichts zu. Sie setzt sich zusammen aus Einzelverfahren, die sich in der schulischen Praxis konsequent halten, obwohl sie in der ausgeführten Form auf keinem konzeptionellen Fundament basieren. Darstellung Wortschatzarbeit in der Schule wird traditionell nicht systematisch, sondern eher punktuell durchgeführt. Diese punktuelle, kontextisolierte Beschäftigung mit dem Wortschatz erschöpft sich nach Kühn in „wort- oder satzbezogene[n] Einsetz- oder Ergänzungsübungen […] ohne Berücksichtigung lernpsychologischer Aspekte“ (2000: 12). Obwohl er seine Kritik vorrangig auf den Bereich DaF bezieht, so kann man sie doch weitgehend auf die regelunterrichtliche Praxis übertragen. Im muttersprachlich orientierten Regelunterricht lassen sich für die traditionelle W ortschatzarbeit folgende Bereiche unterscheiden: - die Beschäftigung mit Wortfeldern (z. B. sagen, gehen), die meist im Zusammenhang mit stilistischen Aufsatzübungen stattfindet Ziel solcher Übungen ist es, dass Schüler lexikalisches Material an die Hand bekommen, mit dem sie sich in ihren Texten differenzierter ausdrücken können. Gerade im Zusammenhang mit sogenannten Sprechhandlungsverben (sagen, rufen, bitten) wird diesen Übungen in der Praxis eine besondere Bedeutung beigemessen. - Wortfamilienarbeit, die im Zusammenhang mit Rechtschreibübungen eine Rolle spielt Wortfamilienarbeit wird vorrangig dann mit den Schülern durchgeführt, wenn es um die Erschließung von Schreibungen geht, die auf das morphologische Prinzip zurückzuführen sind (fahren - Fährte- - <?page no="216"?> 216 Sprache und Sprachgebrauch untersuchen und reflektieren Fuhrwerk - abgefahren). Eine differenzierte Beschäftigung mit dem lexikalischen Material ist dabei jedoch häufig zweitrangig. - singuläre Wortbedeutungsklärungen im Zusammenhang mit Leseprozessen in der Unterrichtspraxis, die an die berühmte Frage anschließen: „Gibt es Wörter, die ihr nicht verstanden habt? “ Dass das Wörterbuch ein sinnvolles Instrument darstellt, um die Bedeutung und syntaktischen Eigenschaften von Wörtern zu untersuchen, wird in der traditionellen W ortschatzarbeit meist verkannt. Die Arbeit mit einem Wörterbuch wird dort oft ausschließlich rechtschreibdidaktisch begründet. Ihr Ziel beschränkt sich dann darauf, dass die Schüler eine bestimmte Anzahl an Wörtern kennen und richtig schreiben können sollen (→-3.2). Problematisierung Alle Aktivitäten der traditionellen W ortschatzarbeit können situationsgebunden wichtig sein. Eine Beschränkung der Wortschatzarbeit auf traditionelle Methoden jedoch lässt die Arbeit am mentalen Lexikon letztlich unsystematisch und zufällig bleiben und erschöpft die Notwendigkeit und das Potential einer Wortschatzförderung gerade für Schüler mit defizitärem Lexikon (bei denen es sich häufig, aber nicht ausschließlich um Schüler mit Deutsch als Zweitsprache handelt) bei weitem nicht. Die Beschränkung auf wenige Wörter und Wortfelder wird dem Erfordernis, dass Wortschatzarbeit - wie auch andere Lernbereiche des Deutschunterrichts - eine kontinuierliche, differenziert didaktisierte Beschäftigung erfordert, nicht gerecht. Dass singuläre Wortbedeutungserklärungen im Rahmen von Textarbeit (s. o.) nicht nachhaltig sind und dazu oft noch über die Köpfe der Schüler hinweg abgegeben werden, zeigt folgender Auszug aus einem Unterrichtstranskript: 22: 00-22: 04 L1 Sind schwierige Wörter in dem Text drin, die ihr nicht verstanden habt? 22: 04-22: 08 L1 …alles verstanden? 22: 08-22: 09 S Ja. 22: 09-22: 10 L1 Dann hör‘ ich da mal genauer nach. 22: 10-22: 12 L1 Was ist denn höhnisch, höhnisch lachen? 22: 12-22: 16 L1(S2) Wenn man höhnisch lacht, Joshua? 22: 16-22: 18 S2 Das ist wie (? ). 22: 18-22: 20 L1(S2) Mhm (nein)…nicht ganz. 22: 20-22: 25 L1 Er lacht höhnisch, haha ihr Bienen, jetzt kriegt ihr meinen Nektar nicht mehr. <?page no="217"?> Traditionelle Wortschatzarbeit 217 22: 25-22: 26 L1(S20) Sabine 22: 26-22: 37 S20 Mhm (über) (? )…mit dem lachen halt…lachen das die anderen nichts mehr kriegen 22: 37-22: 39 L1(S20) Ja, mit böser Absicht so. 22: 39-22: 40 L1(S13) Ja. 22: 40-22: 41 S13 Schadenfroh. 22: 41-22: 42 L1(S13) Schadenfroh wär ein anderes Wort dafür, mhm (ja). 22: 42-22: 44 L1 Was ist denn Gesindel? 22: 44-22: 46 L1 Diebe, Gesindel! 22: 46-22: 50 L1(13) Pauline. 22: 50-22: 58 S13 Das ist, das war früher ein Wort für die wo (? ) 22: 58-22: 59 L1(S13) Richtig, ne. 22: 59-23: 04 L1 Leute, die so rumgestreunt sind, Sachen angestellt haben, ne, sagt man Gesindel dazu, mhm. 23: 04-23: 05 L1 Genau. Abb. 10: Auszug aus einem Unterrichtstranskript (nach Merten 2012: 65) Merten fasst die Problematik, die sich in diesem Beispiel widerspiegelt und Alltag an deutschen Schulen ist, zusammen: Es wirkt eher wie eine Alibiveranstaltung, wenn die Lehrerinnen nach der Bedeutung unbekannter Wörter fragen, sie dann aber dem Ergebnis wenig Relevanz beimessen. An keiner Stelle in unseren Beispielen überprüfen sie, ob die Kinder das Wort tatsächlich verstanden haben. (2012: 66) Als Fazit lässt sich festhalten, dass eine isolierte Wortschatzvermittlung eine Wortschatzautonomie suggeriert (Kühn 2010b: 1252), die nicht gegeben ist. Ein gutes Beispiel, um zu verstehen, was damit gemeint ist, ist die Behandlung alternativer Satzanfänge in Texten von Grundschülern: Häufig erhalten die Schüler einen lexikalischen Korpus (z. B. in Form von Wörtersammlungskarten), dem sie Wörter/ Wendungen (danach, auf einmal, plötzlich) entnehmen und diese beliebig an entsprechenden Stellen in Texten einsetzen sollen. Hilfestellungen zur sinnvollen kontextbezogenen Einbindung und zur Bedeutung dieser Ausdrücke bleiben dabei weitgehend unberücksichtigt. Dass die Beschäftigung mit isolierten Wörtern auch verbunden werden kann mit ihrer Kontextgebundenheit, zeigt Stahl, der beides in der Aufstellung dreier Prinzipien (1986: 663 ff.) für die Wortschatzarbeit vereint: <?page no="218"?> 218 Sprache und Sprachgebrauch untersuchen und reflektieren - Give both context and definitions (sowohl Kontext als auch Definition einbinden; Übers. hier und im Folgenden: C. H., A. K., R. O.) - Encourage „deep“ processing (tiefe Verarbeitung fördern) (three different levels of processing: association, comprehension, generation) (drei unterschiedliche Verarbeitungsstufen: Assoziation, Verständnis, Erzeugung) - Give multiple exposures (vielfältige Beleuchtungen geben) Er führt dazu aus, dass eine tiefe, intensive Auseinandersetzung mit einem Wort wesentlich lernförderlicher sei als eine oberflächliche assoziative Auseinandersetzung. Den geringsten Effekt habe ein rein definitorisches Lernen (ebd.: 665). Die in den Folgekapiteln vorgestellten Konzeptionen versuchen zu berücksichtigen, dass diese Effektivität von Wortschatzarbeit eine kontextuelle Einbindung genauso wie eine intensive Beschäftigung mit dem lexikalischen Material auf verschiedenen Ebenen voraussetzt. Aufgaben 1. Machen Sie sich Gedanken über den Terminus Wortschatz. Was drückt er für Sie aus? 2. Haben Sie Ideen, wie der Lehrer im oben transkribierten Unterrichtsausschnitt ein „deep processing“ mit den Wörtern höhnisch und Gesindel hätte fördern können? Ziehen Sie für Ihre Überlegungen andere wortschatzdidaktische Konzeptionen heran. Lektüreempfehlungen zur Vertiefung u Lrich , W. (2011c) (anschauliche, kritische Auseinandersetzung mit der tradierten Wortschatzarbeit; Beispiele) M erten , S.- (2012) (enthält weitere Transkriptauszüge aus Unterrichtsstunden, die verdeutlichen, wie Wortschatzarbeit traditionell peripher ‚abgearbeitet‘ wird) 6.2 Lexikonorientierte Wortschatzarbeit Die Anreicherung und Erweiterung des impliziten Bedeutungswissens erfolgt nicht allein durch Folgebegegnungen mit einem neuen Lexem in anderen Kontexten und Verwendungssituationen, sondern eben auch durch Untersuchung der semantisch-lexikalischen Vernetzung, also durch den Erwerb expliziten Bedeutungswissens. (Ulrich 2010: 34) Die lexikonorientierte W ortschatzarbeit , die auch als semantisch-lexikalischer Ansatz bezeichnet wird, zielt auf eine systematische Wortschatzarbeit ab, bei der Lexeme grundsätzlich in Beziehung zu anderen Lexemen und zu Kontexten gestellt werden. Übergeordnet geht es um die Ausbildung mündlich- und schriftsprachlich kommunikativer Kompetenzen. <?page no="219"?> Lexikonorientierte Wortschatzarbeit 219 Komplexe der Wortschatzarbeit Ziele Darstellung Innerhalb der Deutschdidaktik wird eine lexikonorientierte W ortschatzar beit hauptsächlich von Ulrich vertreten. Zu Beginn seines Buches Wörter, Wörter, Wörter - Wortschatzarbeit im muttersprachlichen Deutschunterricht (2010) umreißt er die linguistischen Bezugstheorien der Wortschatzdidaktik allgemein. Später bezieht er sich explizit auf die Merkmalssemantik - in diesem Zusammenhang gewinnt auch die Wortfeldtheorie wieder an zentraler Bedeutung - und auf die Prototypentheorie (2010: 38). Den Schülern sollen, indem sie Lexembedeutungen untersuchen, semantische Beziehungen im mentalen Lexikon bewusst werden. Ulrich spricht von einem „‚Nachzeichnen‘ verbundener lexikalischer Strukturen“ (ebd.: 34). Dieses solle zu einer sprachrezeptiv wie -produktiv bedeutsamen „Sensibilisierung für feinere Bedeutungsunterschiede“ (ebd.) führen. Er betont die Notwendigkeit, Wortschatzarbeit an einen Kontext zu binden, bemerkt aber gleichzeitig, dass eine nachhaltige und differenzierte Aneignung nur durch die explizite Beschäftigung mit dekontextualisierten Lexemen und deren syntagmatischen und paradigmatischen Beziehungen zu anderen Lexemen möglich sei. Dementsprechend unterscheidet er zwei Komplexe der Wortschatzarbeit: Während beim ersten durch die Herauslösung lexikalischer Einheiten aus ihren Verwendungszusammenhängen lexikalische Strukturen untersucht werden sollen (2010: 37), führe der zweite, textorientierte an „die Förderung des produktiven Wortschatzes heran und damit an eine Verbesserung der sprachlichen Ausdrucksfähigkeit“ (ebd.). Die Ziele seiner lexikonorientierten W ortschatzarbeit fasst Ulrich folgendermaßen zusammen: - einen möglichst umfangreichen rezeptiven und produktiven Wortschatz zu speichern, Die Merkmalssemantik versteht Bedeutung als Kombination von Semen, von einzelnen semantischen Merkmalen. Dem Ausdruck Mädchen können demnach die Merkmale +Mensch, -erwachsen, +weiblich zugeschrieben werden. Als Wortfeld bezeichnet man eine Menge von Wörtern, die partiell bedeutungsgleich sind, also mindestens ein semantisches Merkmal teilen (Stuhl - Tisch - Bett - Schrank). Die Prototypentheorie geht bei der Beschreibung von Bedeutungen von Prototypen aus und berücksichtigt auch periphere Bereiche (während die Amsel ein prototypischer Vogel ist, ist der Pinguin im Randbereich anzusiedeln). Syntagmatische Beziehungen bestehen zwischen Ausdrücken, die nebeneinander stehen (Der Hund bellt.). Innerhalb eines Syntagmas miteinander austauschbare Ausdrücke stehen in einer paradigmatischen Beziehung zueinander (bellt/ jault/ winselt). <?page no="220"?> 220 Sprache und Sprachgebrauch untersuchen und reflektieren Unterrichtsmaterialien - das Bedeutungsprofil […] eines Lexems mit seinen Haupt- und Nebenbedeutungen sowie den jeweiligen semantischen Merkmalen zu kennen, - die Prozesse der Bedeutungserweiterung und der Bildung von Metaphern/ Metonymien zu durchschauen, - eine möglichst umfassende analytische und produktive Wortbildungskompetenz zu erwerben, - das semantische Beziehungsnetz eines Lexems im Lexikon zu durchschauen, - bei Bedarf den der jeweiligen Situation angemessensten Ausdruck aus dem mentalen Lexikon abzurufen, - die Sprechhandlungen/ Sprechakte und die Handlungssequenzen/ Skripts zu beherrschen, in denen ein Lexem gewöhnlich verwendet wird, - die Gebrauchsbedingungen eines Lexems mit Blick auf seine Konnotationen (z. B. mundartliche oder gruppensprachliche Verwendung oder Zugehörigkeit zu Fachsprachen, Gebundenheit an Mündlichkeit/ Schriftlichkeit, Stil) zu beachten, - die Bereitschaft und Fähigkeit zu entwickeln, semantische Unklarheiten durch Nutzung von Hilfsmitteln (Nachschlagewerken) zu beseitigen. (2011b: 43) Die zahlreichen Unterrichtsmaterialien, die Ulrich entworfen hat, beinhalten unter anderem folgende Aspekte: Gegensätze - themenbezogene Wortschatzarbeit (z. B. einkaufen) - Wörter, die nicht zusammenpassen - Oberbegriffe und Unterbegriffe - Wortfamilien - zusammengesetzte Wörter. Darüber hinaus unterbreitet er praxisorientierte Vorschläge - zum Beispiel die Orientierung an Sprachspielen (An der Brechstange halten sich Seekranke auf einem Schiff fest), Verfremdung zur Bewusstmachung als Voraussetzung der unterrichtlichen Gestaltung der Wortschatzarbeit (Ladendiebstahl als ‚Diebstahl eines Ladens‘) oder den Einsatz von Wörternetzen; zudem formuliert er 18 Grundsätze einer modernen Wortschatzarbeit (2011c: 540 ff.). An anderer Stelle skizziert er einen Vorschlag für eine Unterrichtseinheit: Bausteine einer lexikonorientierten Unterrichtseinheit 1. Motivierender Einstiegstext (Text als Sprache in Funktion; Beitrag der Wörter als Textelemente, mit ihrer jeweils aktuellen Bedeutung, zur Funktion des ganzen Textes, der Textsorte bestimmen: Was leistet der Text? Welchen Anteil haben daran die untersuchten Wörter? ) 2. Ausfiltern der zu untersuchenden Lexeme und Analyse ihrer Besonderheiten <?page no="221"?> Lexikonorientierte Wortschatzarbeit 221 3. Sammeln weiteren Sprachmaterials (Benutzung von Wörterbüchern) in Wörterlisten oder Clustern und dessen semantische Bestimmung durch Kontextproben (implizit durch ‚innere‘ Satzbildung oder explizit durch Einsetzungs- oder Ergänzungsproben) 4. systematisches Ordnen der Lexeme (Nachzeichnen der semantischen Strukturen des mentalen Lexikons) 5. graphische Veranschaulichung des geordneten Materials 6. Einbettung der Lexeme in vorgegebene Texte (Lückentexte, Textfragmente) und/ oder selbstständige Textproduktion mit Anwendung der erworbenen Kenntnisse (2011d: 553 f.) Die Grundlagen der lexikonorientierten W ortschatzdidaktik werden von Merten/ Kuhs (2012) und von Merten (2011b) in Bezug auf eine reflexionsorientierte Wortschatzarbeit in mehrsprachigen Klassen aufgenommen. Bei Merten finden sich entsprechende Vorschläge für Übungsformen, die die Arbeit mit Wortfeldern in den Mittelpunkt stellen und unter anderem die Bedeutung von Wörterbüchern für das lexikalische Arbeiten deutlich machen. Ebenfalls reflexionsorientiert ist die Ausrichtung einer kritischen Wortschatzarbeit (Kilian 2011b; Kilian 2014), die noch immer fachdidaktisch randständig ist (zu einer Begründung und Vorschlägen für eine allgemeine Sprachkritik in der Schule siehe Osterroth 2014). Hier geht es um die „Befähigung zur Kritik der Sprachnormen zum Zweck eines bewussten, gar mündigen produktiven und rezeptiven kritischen Umgangs mit lexikalisch-semantischen Einheiten“ (ebd.: 332). Kilian (ebd.) gibt dafür wertvolle theoretische, didaktische und methodische Hinweise. Problematisierung Die lexikonorientierte W ortschatzarbeit ist der Versuch, eine umfassende, theorieübergreifende und gleichzeitig stark praxisorientierte Konzeption vorzulegen, die die jahrzehntelange Stiefkindposition des Wortschatzunterrichts überwinden soll. Sie ruft die Bedeutung der Wortschatzarbeit zurück ins fachdidaktische Gedächtnis und argumentiert schlüssig gegen die gewöhnlich angebrachten Bedenken, die der Wortschatzarbeit gegenüber geäußert werden (z. B.: zu viele Wörter, nimmt zu viel Zeit in Anspruch). Der Rückgriff auf verschiedene semantische Theorien verleiht der lexikonorientierten W ortschatzar beit eine vielfältige Ausrichtung, die unterschiedliche Möglichkeiten des mentalen Lexikonausbaus in sich vereint. Problematisch ist die fehlende empirische Basis. Im deutschsprachigen Raum gibt es keine entsprechende Forschung, die die Wirksamkeit der lexikonorien tierten W ortschatzarbeit auf produktive und rezeptive Sprachhandlungsprozesse differenziert darlegt. Eine weitere Schwierigkeit ist <?page no="222"?> 222 Sprache und Sprachgebrauch untersuchen und reflektieren nach wie vor die überwiegende Ausrichtung auf erstsprachliche Lerner. Hier liegen mit Merten (2011) wichtige Vorschläge im Rahmen einer Mehrsprachigkeitsdidaktik vor. Die Vorstöße von Ulrich, Merten, Kilian und anderen sind ein bedeutender Schritt in Richtung einer Neuaufwertung von Wortschatzarbeit im Unterricht. Aufgaben 1. Wählen Sie einen Text und planen Sie eine Unterrichtseinheit nach dem Vorschlag von Ulrich. Bestimmen Sie, welche Lexeme/ Lexemverbände aus dem Text besonders im Vordergrund stehen sollten. 2. Googeln Sie die ‚Unwörter‘ der letzten drei Jahre. Überlegen Sie, welche unterrichtlichen Zielsetzungen - auch im Hinblick auf eine kritische Wortschatzarbeit - Sie mit der Behandlung dieser ‚Unwörter‘ verbänden. Lektüreempfehlungen zur Vertiefung u Lrich , W. (2010) (gibt eine kurze und verständliche theoretische Einführung, der eine umfassende Sammlung an Arbeitsblättern/ Kopiervorlagen folgt) k iLian , J. (2011a) (führt alle wesentlichen Hintergründe zu einer kritisch ausgerichteten Wortschatzarbeit auf und gibt darüber hinaus unterrichtspraktische Vorschläge) k iLian , J. (2014) (begründet eine sprachkritische Ausrichtung sprachlichen, also auch grammatischen Lernens) M erten , S./ k uhS , k. (2012) (empirisch ausgerichteter Überblick über den aktuellen Stand der Wortschatzdidaktik und der Verankerung von Wortschatzarbeit in der Unterrichtspraxis) 6.3 Textorientierte Wortschatzarbeit Wortschatzarbeit ist Textarbeit - alles andere bleibt Konstrukt. (Kühn 2007: 162) Die textorientierte W ortschatzarbeit (z. B. Neuner 1990; Hausmann 1993; Kühn 2010a; Hoffmann 2011; Steinhoff 2011) teilt mit der lexikonorientierten W ortschatzarbeit (→- 6.2) einige Grundsätze und Verfahren, legt ihren Schwerpunkt aber deutlich stärker auf die Arbeit an und mit Texten. Sie orientiert sich am Konstruktivismus und an der kognitiven Linguistik (speziell: der frame-and-script-Theorie) und begreift den Wortschatzerwerb und den Aufbau lexikalischer Netzwerke als vielschichtigen, aktiven und kreativen Konstruktionsprozess (Kühn 2010a: 67). Wörter würden in einem Kontext gelernt und müssten dementsprechend auch so Die frame-and-script-Theorie geht davon aus, dass Bedeutungen in frames (statisch organisierten Wissensbeständen) und scripts (prozessual organisierten Wissensbeständen, Handlungsabläufen) organisiert sind. <?page no="223"?> Textorientierte Wortschatzarbeit 223 Dreischritt: Semantisierung Vernetzung Reaktivierung rezeptive und produktive Wortschatzarbeit vermittelt werden - ihre konkrete Bedeutung sei kontextisoliert, ohne Einbettung in Gebrauchssituationen, gar nicht bestimmbar: Die Sprache ist nur in den Texten Sprache. Der Rest ist Konstrukt. Der Sprachschatz ist also kein Wortschatz, sondern ein Formulierungsschatz; aber er ist auch kein Formulierungsschatz, denn auch auf die Formulierungen gehen von den Texten weitere Zwänge aus. Also wäre die Sprache ein Textschatz? In gewisser Hinsicht ja, weil wir alle über die Begegnung mit Texten zur Sprachkompetenz gelangt sind. (Hausmann 1993: 479) Darstellung Die textorientierte W ortschatzarbeit versucht, sich in ihrer Ausrichtung an unser mentales Lexikon mit seinen mehrdimensionalen Begriffs- und Bedeutungsnetzen anzupassen. Eine Grundlage der textorientierten W ortschatzarbeit ist der von Kühn (2000: 12) postulierte wortschatzdidaktische Dreischritt: Der erste Schritt - die Semantisierung - sei rezeptiv zu gehen („Semantisierung der Wörter aus dem sprachlichen und nichtsprachlichen Kontext“), der zweite - die Vernetzung - betreffe reflexive Aufgaben („Sammeln und Ordnen der Wörter in Netzwerkmodellen“) und der dritte - die Reaktivierung - beziehe sich auf produktives Handeln („adressatenorientierter, intentionsadäquater und situationsspezifischer Gebrauch der Wörter in mündlichen wie schriftlichen Texten“). Durch diese drei Schritte ist das Prinzip der Textorientierung sowohl auf rezeptive als auch auf produktive Wortschatzarbeit bezogen. Dabei spielen Leseprozesse eine ebenso wichtige Rolle wie Schreibprozesse. Kühn führt dazu aus: In einer solchen text(sorten)orientierten Wortschatzdidaktik korreliert die Semantisierung des Wortschatzes mit der Lesedidaktik (rezeptive Wortschatzarbeit), das Sammeln und Ordnen des Wortschatzes in Wörternetzen dient der Wortschatzfestigung und -erweiterung (systematische Wortschatzarbeit), während die produktive Wortschatzarbeit auf das Sprechen und Schreiben funktionalisiert ist (produktive Wortschatzarbeit […]). (2007: 163) Produktionsorientierte Ansätze liegen unter anderen mit Honnef-Becker (2000) und Steinhoff (2011; 2013) vor. Steinhoff orientiert sich am Dreischritt von Kühn und spezifiziert für die Semantisierungsphase (Wörter aus einem Text isolieren) die Möglichkeiten rezeptiver Wortschatzarbeit (z. B. vergleichende, kommentierende, eigenaktive Textrezeption, Einsatz des Wörterbuchs, Erstellen von Wortlisten), die für Lernende möglich sind. Für das Vernetzen schlägt er Techniken wie Cluster, Wörternetze oder Textschaubilder vor. Abschließend sollen die Schüler die in den ersten beiden Phasen gewonnenen Einblicke in eigenen Schreibprozessen umsetzen. <?page no="224"?> 224 Sprache und Sprachgebrauch untersuchen und reflektieren Textvergleich In einem Beispiel für eine textorientierte W ortschatzarbeit , das Hoffmann (2011) konzipiert hat, sollen zwei unterschiedliche Texte zum selben Sportereignis von den Schülern unter lexikalischen Gesichtspunkten miteinander verglichen werden: Text 1 IN SCHANGHAI DEUTSCHLAND - BRASILIEN ……….. 2: 0 (0: 0) Deutschland: Angerer - Stegemann, Hingst, Krahn, Bresonik - Garefrekes, Laudehr, Lingor, Behringer (74. Müller) - Smisek (80. Bajramaj), Prinz. Brasilien: Andreia - Elaine, Aline (88. Katia), Renata Costa, Tania (81. Pretinha) - Formiga, Ester (65. Rosana), Maycon - Marta - Daniela, Cristiane. Schiedsrichterin: Tammy Ogston (Australien). Zuschauer: 31000. Tore: 1: 0 Prinz (52.), 2: 0 Laudehr (86.). Besondere Vorkommnis: Angerer (Deutschland) hält Foulelfmeter von Marta (64.). SPIEL UM PLATZ DREI Norwegen - USA 1: 4 (0: 1). (p otSdaMer n eueSte n achrichten , 1. 10. 2007) Text 2 Die Inszenierung war perfekt. Mehr als 22 Länder waren zugeschaltet, als sich Deutschland und Brasilien gestern in Schanghai ein packendes WM- Finale lieferten. Es war ein bisweilen hochklassiges Frauenfußballspiel: Brasilien gegen Deutschland, das könnte künftig nicht nur mit den Kloses und Ronaldinhos, sondern auch mit den Martas und Lingors ein Klassiker werden. Ein Gänsehaut-Gefühl stellte sich auch ein, weil die Hauptdarsteller stimmten. Zum einen Birgit Prinz, Deutschlands bekannteste Fußballerin. Die Frau, der wegen ihrer Torgefährlichkeit und Ballbeherrschung auch diejenigen Respekt zollen, für die Frau und Fußball ein unvereinbarer Gegensatz sind, zumal dann, wenn das Wesen am Ball keinem Model-Katalog entstiegen ist. Gestern trug die Symbolfigur weiter zur Legendenbildung bei, als sie das 1: 0 schoss. Wer auch sonst. Die zweite Hauptfigur kam aus dem Nichts und schenkt diesem WM-Titel etwas Märchenhaftes: Nadine Angerer aus Potsdam hat vor der WM 2007 schon sechs große Turniere bestritten, war Welt- und Europameisterin - hatte aber nie auch nur eine Sekunde gespielt. In China machte die Torhüterin die Spiele ihres Lebens. Und im Finale hielt sie den Elfmeter von Brasiliens Superstar Marta - der tragischen dritten Hauptfigur. Im gesamten Turnier steckte Angerer kein Gegentor ein und übertraf sogar den Rekord des Italieners Walter Zenga bei der WM 1990. (Ebd., Auszug) Abb. 11: Texte zu einem Sportereignis (nach Hoffmann 2011: 566 f.) <?page no="225"?> Textorientierte Wortschatzarbeit 225 beiläufiger Wortschatzerwerb Beim Vergleich dieser beiden Texte (siehe im Folgenden ebd.) könnte ein lexikalisches Augenmerk für Text 1 auf Städte-, Länder- und Personennamen (Schanghai, Deutschland, Cristiane), Zahlwörter (74.) und Zahlwortpaare (2: 0) gelegt werden. Dem gegenüber steht Text 2 mit seinen Bewertungswörtern und bewertenden Wortgruppen (hochklassig, die Spiele ihres Lebens machen) sowie Metaphern (Hauptdarsteller). Die Analyse des textsortentypischen Wortschatzes wird dabei an funktionale Fragen gebunden, zum Beispiel zu den kommunikativen Erwartungen, die man als Leser an Sportjournalisten stellt (ebd.: 568). Nach einer Phase der intensiven Beschäftigung mit dem lexikalischen Material und dessen Funktion soll das sprachdidaktische Prinzip Vom Text zum Text durch sprachproduktive Prozesse realisiert werden. Ebenfalls unter die textorientierte W ortschatzarbeit ist ein Ansatz zu subsumieren, der nicht auf explizites, sondern auf implizites Lernen und damit auf eine Form des incidental learning zielt. Nation konstatiert: „Incidental learning via guessing from context is the most important of all sources of vocabulary learning“ (2001: 232). Neue Wörter sollen beim impliziten Lernen zum Beispiel in Leseprozessen beiläufig erworben beziehungsweise vertieft werden. Möglich ist eine Verbindung mit lesedidaktischen Zielsetzungen: Im Rahmen von Lesefördermaßnahmen im Sinne des Partnerlesens (→- S.- 122) wird eine wiederholte Begegnung mit lexikalischem Material auch als Grundlage für lexikalisches Lernen verstanden: „Durch die fortlaufende Wiederholung signifikanter Buchstabenkombinationen, phonologisch korrekter Lautstrukturen und oft vorkommender Basiswörter in sinnerschließenden Kontexten wird das mentale Lexikon der Schüler/ innen beiläufig erweitert“ (Nix 2007: 158). Nix weist auch auf die Notwendigkeit der kontextuellen Eingebundenheit der Wörter hin, deren Bedeutung bei Bedarf in den Leseteams zunächst geklärt werde. Den Zusammenhang von Lesen und beiläufiger Wortschatzerweiterung und -vertiefung stellt Polz (2011) dar. Sie unterstreicht die Bedeutung dieser Verbindung auch für andere Fächer - Wortschatzarbeit wird dementsprechend mitunter auch als allgemeines Unterrichtsprinzip verstanden - und erläutert sie auf der Grundlage des Kühn’schen Dreischritts. Problematisierung Die Notwendigkeit der kontextuellen Einbindung lexikalischen Materials wird in der textorientierten W ortschatzarbeit deutlich herausgestellt. Durch die Analyse- und Vernetzungshandlungen der Schüler, die mit den Wörtern in einem zweiten Schritt dekontextualisiert arbeiten, wird versucht, eine Form der intensiven Auseinandersetzung zu schaffen, die der Komplexität des mentalen Lexikons gerecht <?page no="226"?> 226 Sprache und Sprachgebrauch untersuchen und reflektieren werden soll. Zudem liegen überzeugende Unterrichtsvorschläge vor, es wird ein Zusammenhang mit anderen Lernbereichen (Lesen →- 4; Schreiben →- 3) hergestellt und die unterrichtliche Umsetzung scheint sehr praktikabel und gut integrierbar. Für Lehrende, die textorientiert arbeiten, ist es eine wichtige Aufgabe, die einzelnen Schritte sinnvoll aufeinander abzustimmen, sodass das Verhältnis zwischen Textarbeit und dekontextualisierter Arbeit am Wortschatz angemessen ist und Texte nicht nur instrumentalisiert werden, um anschließend doch traditionelle W ortschatzarbeit (→- 6.1) durchzuführen. Wenn die Vernetzungsphase zu kurz kommt oder zu oberflächlich stattfindet, wenn ein Text nur Impuls ist und nicht intensiv und wiederholt rezipiert werden kann, besteht die Gefahr, dass sowohl rezeptive als auch produktive Wortschatzarbeit zu einer Überforderung für die Schüler werden können - gerade für diejenigen, die sowieso nicht über einen differenzierten Wortschatz verfügen. Zudem sollte die Auswahl der Texte sorgfältig getroffen werden - Lehrwerke sind in dieser Hinsicht stets kritisch zu sichten (Polz 2011: 109). Auch für die textorientierte W ortschatzdidaktik stellt es eine zukünftige Aufgabe dar, empirisch zu überprüfen, wie wirksam die einzelnen Phasen und ihr Zusammenspiel in der Praxis sind. Aufgaben 1. Planen Sie eine Unterrichtseinheit im Sinne von Hoffmann (2011b). Suchen Sie dafür zwei geeignete Texte zum selben Thema. Welche Zielsetzungen würden Sie in den Vordergrund rücken? 2. Vergleichen Sie die Ausführungen zur lexikonorientierten W ortschatzarbeit (→- 6.2) mit denen zur textorientierten . Können Sie konzeptionelle Überschneidungen feststellen? Lektüreempfehlungen zur Vertiefung k ühn , p. (2010a) (praxisorientiertes Buch mit Kopiervorlagen) h offMann , M. (2011a) (stellt den Zusammenhang zwischen Text- und Wortschatzkompetenz anhand vieler Beispiele dar) h offMann , M. (2011b) (Beispiel für eine textsortenorientierte Unterrichtseinheit zur Wortschatzarbeit) 6.4 Robustes Wortschatztraining Ziel ist der Aufbau eines quantitativ und qualitativ tragfähigen bildungssprachlichen Wortschatzes. (Kurtz 2012: 77) Das robuste W ortschatztraining (RoW) ist im Rahmen des fachunabhängigen, integrierten Förderprogramms „Sprachintensiver <?page no="227"?> Robustes Wortschatztraining 227 Ziele Zielwörter Unterricht“ (Kurtz et al. 2014) entstanden, das „den weit verzweigten Förderbedarfen in verschiedenen Sprachbereichen mit einem umfassenden Ansatz präventiv begegnet und […] solchen Schülern Zugang zu anspruchsvollen Texten und Aufgaben ermöglicht […], denen sonst […] wesentliche Bildungsbereiche versperrt blieben“ (ebd.: 1). Ziel ist die Förderung des Erwerbs der sogenannten Bildungssprache, gestützt etwa durch einen hohen schülerseitigen Sprachgebrauch. Prinzipien des sprachintensiven Unterrichts sind z. B. Kontextbasierung, Textsortenbezug oder fächerübergreifende Themenarbeit und längeres „Verweilen bei einem Themengebiet“ (ebd.) (siehe ausführlicher im Folgenden). Als Teilansatz des sprachintensiven Unterrichts versteht sich das RoW als Konzeption expliziter, systematischer und kontinuierlicher Wortschatzarbeit, die sich an Lerner mit Deutsch als Erst- und Zweitsprache gleichermaßen richtet. RoW weist Übereinstimmungen mit der textorientierten W ortschatzarbeit (→- 6.3) auf, zeichnet sich darüber hinaus aber unter anderem durch seine Prinzipien und seinen spezifischen Übungscharakter aus, weshalb wir es hier als eigene Konzeption aufführen. Darstellung Das robuste W ortschatztraining orientiert sich an dem in den USA entstandenen Konzept Robust Vocabulary Instruction (Beck et al. 2002; 2008). Beim RoW wird davon ausgegangen, dass der Wortschatz, der für den Schulerfolg in allen Fächern notwendig ist, nicht einfach beiläufig erworben wird, sondern vielmehr der regelmäßigen, systematischen und strukturierten unterrichtlichen Unterstützung bedarf. Übergeordnetes Ziel ist der Aufbau eines „gut vernetzten, tief verstandenen Wortschatzes“ (Kurtz 2012: 73): Die Schüler sollen an gehobener Sprache partizipieren und einen Bildungswortschatz aufbauen können (ebd.: 75). Zielwörter sind Wörter und Wortgruppen der so bezeichneten tier- 2-Gruppe. Ein tier-2-Wort ist ein Wort, das (a) nicht die einfachste Art ist, etwas auszudrücken, (b) in schriftnahen Kontexten (hoch)frequent, aber im Alltag selten ist, (c) in verschiedenen thematischen Kontexten auftaucht, also nicht domänenspezifisch ist, (d) konzeptuell reich ist, also abstrakte Konzepte birgt oder in übertragenen Bedeutungen verwendet wird. (Ebd.: 73) Beispiele für tier-2-Wörter beziehungsweise -Mehrworteinheiten sind arrogant, in Streit geraten oder zunehmend. Auch Funktionswörter (insbesondere, außerdem), Idiome (weg vom Fenster sein), Metaphern (am Fuß des Berges) und Mehrworteinheiten, die für die „allgemeine, grammatik- <?page no="228"?> 228 Sprache und Sprachgebrauch untersuchen und reflektieren Prinzipien Zielgruppe und textbezogene Spracharbeit zentral“ (ebd.: 79) sind (bei Gelegenheit, in Bezug auf, sowohl … als auch), stehen im Zentrum von RoW. Dagegen werden im Alltag hochfrequente Wörter (tier-1-Wörter), die beiläufig erworben werden können (z. B. kommen, Nachmittag, jetzt), und sehr niederfrequente oder domänenspezifische tier-3-Wörter (z. B. Gevatter, Embolie, substituieren) nicht im RoW bearbeitet. Das Konzept basiert auf dem Prinzip der Wiederholung, das sich in der häufigen und vielfältigen Zielwortbegegnung (ebd.: 73) niederschlägt. Dazu kommt ein hohes Maß an Ritualisierung durch routinisierte Abläufe „in nahezu täglichem Rhythmus“ (ebd.: 75). Weitere wesentliche Prinzipien sind die thematische Einbindung (auch fächerübergreifend) und die schülerorientierte Ausrichtung durch die zahlreichen Aktivitäten und unterschiedlichen Aufgaben. Auch die Berücksichtigung eines ästhetischen Zugangs zur Sprache (Wörter rufen, Verbindung mit literarischer Arbeit) wird erkennbar. Die Zielgruppe sind Schüler, „die nur beschränkt Zugang zur Standard- und Bildungssprache Deutsch haben“ (ebd.: 75). Darüber hinaus sei die Konzeption unter anderem wegen des hohen Aktivitätsgrades der Übungen und des routinisierten Ablaufs auf disziplinschwierige Klassen ausgerichtet (ebd.). Vorbereitung und Ablauf Eine RoW-Einheit wird auf zwei bis fünf Wochen angesetzt. Sie bezieht sich auf nur wenige Wörter beziehungsweise Wortgruppen und umfasst verschiedene Aufgabentypen (siehe im Folgenden - auch für die Beispielkästen - Kurtz 2012: 82 ff.): - dem Zielwort/ Ausdruck (hier das Beispiel Abstand) im Zusammenhang begegnen (das Wort wird in einem Text gelesen, seine Bedeutung wird dabei höchstens beiläufig und kurz erklärt) - das Zielwort aussprechen und verankern: ‚Reinrufübungen‘ (im Mittelpunkt steht die phonetisch-phonologische Repräsentation) Übung: L: „Ich sage euch einen Satz und ihr ruft Abstand, wenn in der Situation ein Abstand gehalten wird, aber ihr schweigt, wenn es nicht so ist.“: - „Ben läuft 50m hinter Anna her.“ S: rufen im Chor „Abstand! “ - „Ben rennt sehr schnell.“ S: schweigen - mit dem Zielwort spielen, arbeiten, reflektieren (auffinden; sammeln/ ordnen/ sortieren; Beispiele finden; über Fragen nachdenken) - Zeichnet eine Situation, in der jemand von etwas Abstand hält. - Wann ist es wichtig, dass jemand Abstand zu dir hält? - Findet Beispiele, wo ein großer Abstand gut ist. <?page no="229"?> Robustes Wortschatztraining 229 - Abstraktion, Ausweitung, kontextfernes Abrufen: Mischübungen (z. B. Assoziationsübungen, Definitionen, Weiterführen von Satzanfängen: Ich hatte so einen großen Abstand von den anderen, dass ___________________________ ) - testartige Aufgaben (z. B. Lückentexte, Zielwörter in einen eigenen Text einbauen) Ein Ablaufplan, der konkrete Hinweise - auch zeitliche - zur Durchführung gibt, findet sich in Kurtz (2012: 89). Problematisierung RoW ermöglicht eine kontinuierliche Sprachförderung und regelmäßige Wortschatzarbeit und setzt zudem an der sprachlichen Realität an. Es zeichnet sich durch verschiedene ‚Alleinstellungsmerkmale‘ aus, unter anderem durch die explizite Berücksichtigung von Fügungen und Funktionswörtern sowie durch die Fokussierung sozial benachteiligter Schüler und disziplinschwieriger Klassen. Empirische Untersuchungen, die den Erfolg von RoW bestätigen, liegen aus den USA vor und werden auch im deutschsprachigen Raum, beispielweise im Rahmen der Integrierten Sprachförderung an der Universität Heidelberg (http: / / www. idf.uni-heidelberg.de/ forschung/ projekte/ for-sprachfoerderung-schulalter.html), durchgeführt. Eine Schwierigkeit, das haben Gespräche in Hochschulseminaren gezeigt, sehen Studierende in der quantitativen Beschränkung von RoW. Dem kann entgegengehalten werden, dass eine intensive Auseinandersetzung mit wenigen Wörtern nachhaltiger ist als eine oberflächliche Beschäftigung mit einer großen Anzahl von Ausdrücken. Zudem ist RoW kombinierbar mit anderen Arten der Wortschatzarbeit. Aufgaben 1. Suchen Sie aus dem Ausschnitt der Zeitungsmeldung drei Wörter heraus, die Ihres Erachtens tier-2-Wörter beziehungsweise -Wortgruppen sind: Feuer wütet auf Mallorca Ein großer Waldbrand hat auf Mallorca Menschen in Panik versetzt und mehr als tausend Hektar Kiefernwald vernichtet. Das Feuer wütete in der Nähe der Gemeinde Andratx im Westen der spanischen Ferieninsel. Es war gestern noch rund 24 Stunden nach Ausbruch außer Kontrolle, berichteten spanische Medien. […] aus: der Sonntag vom 28. 7. 2013 <?page no="230"?> 230 Sprache und Sprachgebrauch untersuchen und reflektieren Ursprünge Urheber 2. Formulieren Sie Aufgaben zum Wort auftreten, in denen mit dem/ über das Zielwort gespielt, gearbeitet oder reflektiert wird. Lektüreempfehlung zur Vertiefung k urtz , G. (2012) (erläutert verständlich die theoretischen Hintergründe von RoW und bietet eine ausführliche Darstellung von Aufgabentypen zu einem Beispielwort) 6.5 Traditioneller Grammatikunterricht Wir sind der Meinung, […] und ein Vergleich der Unterrichtskonzepte über 150 Jahre würde das zeigen, daß sich über diesen langen Zeitraum im Grammatikunterricht prinzipiell nichts geändert hat. (Erlinger/ Feilke 1983: 65) Das Zitat, dem auch dreißig Jahre später zuzustimmen ist, zeigt: Der traditionelle g rammatikunterricht hält sich seit nunmehr fast 200 Jahren. Er wird in weiten Teilen dominiert von einer immer gleichen Struktur, die schülerseitigen Widerwillen, bisweilen gar Angst hervorruft (Klotz/ Peyer 1999). Darstellung Seine (auch sprachtheoretischen) Ursprünge sind im Kontext historisch-politischer Entwicklungen des 19. Jahrhunderts und vor dem Hintergrund damaliger pädagogischer und philosophischer Veränderungen zu sehen (siehe ausführlich dazu Erlinger/ Feilke 1983). Als Folge einer verbreiteten Fehlrezeption der Pestalozzi‘schen Anschauungspädagogik wurden dessen Bemühungen Grundlage eines Sprachunterrichts, der seinen Intentionen zuwiderlief. Resultat war die „Entfernung vom Primat der sinnlichen Anschauungen“ (Erlinger/ Feilke 1983: 70). Die Grundlage für den traditionellen g rammatikunter richt , der auch als formal systematischer g rammatikunter richt bezeichnet wird, stellt die Sprachtheorie von Becker dar. Dieser betrachtet sprachliche Strukturen als Ausdruck des Denkens; ihm geht es, wie Günther es formuliert, darum, dass die Schüler „durch die Analyse der Redeformen die Verhältnisse der Begriffe und damit die Prinzipien des Denkens erlernen“ (2010: 89). Beckers Sprachdenklehre wurde von Wurst didaktisiert beziehungsweise methodisiert - mit dem Ziel der formalen Geistesbildung (Wurst 1841: XVI). Seine Methoden können als kleinschrittig, frontal und deduktiv charakterisiert werden. In einer Kombination aus lehrerzentriertem Frageunterricht und Formanalyse werden Wortarten- und Satzgliedlehre zum Zentrum eines am Lateinischen orientierten Muttersprachenunterrichts. Die Unterschei- <?page no="231"?> Traditioneller Grammatikunterricht 231 dung in Dinge, Tätigkeiten und Eigenschaften beeinflusst bis heute nicht nur den Grammatik-, sondern ebenso den Rechtschreibunterricht (→-3.1-3.7) und zeigt sich noch immer auch curricular präsent. Aus einer Unterrichtsstunde, die im Jahre 2010 im Rahmen eines Praktikums durchgeführt wurde: Der Student hatte die Aufgabe, in einer dritten Klasse die Einheit Subjekt einzuführen. Zu Beginn schrieb er drei Beispielsätze an die Tafel und kreiste jeweils das Subjekt ein. In einem zähen Frage-Antwort-Spiel - das sich in unzähligen Unterrichtsstunden erleben lässt und häufig eingeleitet wird mit der bekannten Frage: Was fällt euch auf? - provozierte er das (letztlich von ihm selbst vorgetragene) Fazit, dass man die Einheiten, die er eingekreist habe, mit wer oder was erfragen könne (zur Frageproblematik im Grammatikunterricht siehe Granzow-Emden 2006; Funke 2001). In einem nächsten Schritt schrieb der Student auf die rechte Tafelseite - mit der Aufforderung an die Schüler, den Tafelaufschrieb parallel ins Heft zu übertragen - folgenden Merksatz: Das Satzglied eines Satzes, das angibt, wer oder was etwas tut, nennen wir Subjekt. Das Subjekt steht häufig am Satzanfang. Daraufhin folgte ein Aufgabenblatt mit Unterstreichungsaufgaben, die nach der schülerseitigen Bearbeitung mündlich besprochen wurden. Welche Intentionen lassen sich an diesem häufig zu beobachtenden Stundenverlauf erkennen? Am Anfang steht die Konfrontation mit dem Unterrichtsgegenstand, die nicht verfremdend ( fUnktionaler g ram matikUnterricht , → 6.9) oder problemorientiert (Funke 2001: 386 ff.) stattfindet. Der Präsentation folgt eine lehrerseitige Analyse, die für den dritten Unterrichtsschritt, die Übungsphase, notwendige ‚Erkenntnisse‘ beziehungsweise notwendiges ‚Wissen‘ sichern soll. Durch die Wiederholung, so legt die Übungsphase nahe, soll dieses Wissen vertieft beziehungsweise gefestigt werden. Das Stundenziel beschränkt sich auf die Vermittlung eines für die Schüler abstrakt bleibenden terminologischen Wissens. Obwohl es noch keine umfassende empirische Forschung zur Realität von Grammatikunterricht an deutschen Schulen gibt (Bredel 2007: 261), lassen einzelne Studien (z. B. Granzow-Emden 2002; Kleinbub 2012) vermuten, dass das oben skizzierte Beispiel stellvertretend für die Praxis des Grammatikunterrichts in vielen Klassenzimmern ist. Problematisierung Der traditionelle g rammatikunterricht wird schon seit seinen Anfängen vehement kritisiert. Engelien weist bereits im 19. Jahrhundert auf die Ausschließlichkeit formalsyntaktischer Zergliederungshandlungen im Unterricht hin und schlussfolgert: „Wenn nur das neue Moment […] nicht als das allein selig machende angesehen worden wäre“ (o. J.: 381, zit. n. Erlinger/ Feilke 1983: 81). Engeliens Kritik, die <?page no="232"?> 232 Sprache und Sprachgebrauch untersuchen und reflektieren Erlinger/ Feilke in fünf Punkten zusammenfassen (das Ziel des vollkommenen Verstehens der Sprache nach Becker, die Trivialität des Sprachstoffs, die Betonung der formellen Bildung, die Vergeudung von Zeit durch permanente Satzgliedzerlegung, das In-eins-Setzen von Sprachunterricht und Satzzergliederungsunterricht), sei, so Erlinger/ Feilke, „auch gegenüber heutigem Muttersprachenunterricht noch artikulierbar“ (1983: 81). Im traditi onellen g rammatikunterricht wird deduktiv, terminologie- und merksatzfixiert vorgegangen. Die Sicht auf den Unterrichtsgegenstand ist normativ. Eine „solch kleinschrittige und die Schüler in jedem Augenblick an der Leine eines bornierten Überwissens führende Methode“ (ebd.: 75) drücke eine „Geringschätzung der Alltagserfahrungen der Schüler“ (ebd.) aus und führe zu dem Ruf, der dem Grammatikunterricht und seinem Gegenstand bis heute anhafte. Stark in Frage gestellt wird das im traditionellen g rammatikunterricht vermittelte deklarative Wissen, die terminologische Kenntnis, hinter der keine begriffliche oder strukturelle Durchdringung steht (siehe hierzu auch Funke 2005). Dieses terminologische Lernen hat für produktive und rezeptive Sprachverarbeitungsprozesse - besonders für das Lesen und Schreiben - keine Bedeutung. Dass es zudem nicht nachhaltig ist, zeigt sich regelmäßig in der Arbeit mit Studierenden des Faches Deutsch. Giese resümiert: „Vielfach blieb solcher Unterricht lediglich auf einer terminologischen Ebene: unverstandene Begriffe wurden memoriert; dazu gehörende Definitionen wurden eingeprägt […]. Der Grammatikunterricht gab sich damit zufrieden, Definitionen vorzugeben, ohne mit den Schülern wirklich zu erkunden, wo denn in der Sprache die angeblich definierten Einheiten tatsächlich zu finden seien. Behauptungen über grammatische Strukturen, durch einige Beispielsätze erläutert, führen bestenfalls zu abfragbarem Prüfungswissen, zu einer Bewusstheit eigenen Sprechens aber nicht“ (Giese 1998: 68). Warum hält sich der traditionelle g rammatikunterricht bis heute? Die Gründe dafür sind vielfältig. Wesentlich ist wohl, dass der terminologische Apparat, hinter dem vermeintlich klare begriffliche Inhalte stehen, schulisch praktikabel scheint und den Lehrern ein Gefühl der Sicherheit vermittelt. Glinz schreibt, dass die Becker’sche Lehre „dem Lehrer eine deutsche Grammatik [biete], welche die notwendigen Formen des Gedankens und des sprachlichen Ausdrucks in einem geschlossenen System lehr- und lernbar darstellt“ (1947: 55). Die grammatikdidaktischen Impulse, die seit dem operationalen g ramma tikunterricht (→- 6.6) gegeben werden, erweitern die Sicht auf die Qualität des Wissens, das in Grammatikstunden angestrebt werden soll. Explizit als Gegenmodell zum traditionellen g rammatikunter richt verstehen Boettcher/ Sitta (1978) ihre Konzeption eines situa tionsorientierten g rammatikunterrichts (→-6.7). <?page no="233"?> Operationaler Grammatikunterricht 233 Aufgaben 1. Erinnern Sie sich zurück an Ihre Schulzeit. Welche Erfahrungen mit Grammatikunterricht haben Sie gemacht? Befragen Sie auch Angehörige anderer Generationen und vergleichen Sie die Aussagen. 2. Beantworten Sie folgende Fragen: Was ist ein Subjekt? Warum sollten Grundschüler wissen, was ein Subjekt ist - oder sollten sie es überhaupt? Lektüreempfehlungen zur Vertiefung e rLinger , h. d./ f eiLke , h. (1983) (die Publikation legt die historischen Zusammenhänge offen, bietet viele Originalzitate und ist verständlich geschrieben) g ünther , h. (2010) (enthält eine kritische Darstellung zur Becker’schen Schulgrammatik) W urSt , r. J. (1841) (das methodische Ausgangswerk für den traditioneLLen g ram matikunterricht ) 6.6 Operationaler Grammatikunterricht Hauptaufgabe der Schule ist es, auf Grund des schon vorhandenen Verstehens und Sprechens in den Umgang mit geschriebener Sprache, das heißt in das Lesen und Schreiben einzuführen, und erst als letztes tritt zum Hören-Verstehen, zum Sprechen, zum Lesen und zum Schreiben die Grammatik, die Lehre vom Bau der Sprache, die Einsicht in den Bau der Sprache. Der Grammatikunterricht, das Hinführen zu bewusster Einsicht in den Bau der Sprache, darf denn auch nie isoliert betrieben werden, sondern er ruht auf dem schon lange gewohnten sprachlichen Handeln, ergibt sich unmittelbar aus solchem Handeln und stützt seinerseits wieder das zukünftige sprachliche Handeln. (Glinz 1993: 277) Dem traditionellen g rammatikunterricht (→- 6.5), dessen formalistische, deduktive, terminologiefixierte und zudem am Lateinischen orientierte Ausrichtung sich im schulischen Unterricht festgesetzt hatte, wird in den 50er Jahren eine Konzeption gegenübergestellt, die neue Schwerpunkte setzt: der sogenannte operationale g ramma tikunterricht . Grundlagen Der operationale g rammatikunterricht hat heute noch wesentlichen Einfluss auf die schulische Praxis des Grammatikunterrichts. Mit dieser Konzeption ist der Name Glinz untrennbar verbunden. Der Schweizer Linguist (1913-2008) entwickelte seine sprachwissenschaftlichen und -didaktischen Überlegungen parallel zu den Forschungsmethoden des amerikanischen Strukturalismus, ohne - wie er im Vorwort der vierten Auflage seiner Grammatik Die innere Form des Deutschen <?page no="234"?> 234 Sprache und Sprachgebrauch untersuchen und reflektieren (1952/ 1965) angibt - Kontakt zur amerikanischen Forschung gehabt zu haben. Während der traditionelle g rammatikunterricht rein formalistisch geprägt ist, richtet Glinz seine Aufmerksamkeit neben formalen Aspekten auch auf sprachliche Inhalte. Er positioniert sich entsprechend zwischen zwei konkurrierenden Forschungsrichtungen: dem Strukturalismus und der inhaltsbezogenen Grammatik. Das Ziel der Glinz’schen Grammatik ist es, „die Struktur unseres Deutsch so objektiv wie möglich zu erkennen und zu beschreiben“ (ebd.: 13). Dabei will er „den alten und wohlbekannten Stoff nach neuen Kategorien“ (ebd.: 12) ordnen und „die sprachlichen Grundeinheiten, Wort, Satzglied und Satz, sowie ihre verschiedenen Arten, Formen und Verbindungen neu“ (ebd.) bestimmen. Es geht ihm um eine „Systemerprobung der heutigen Sprache, unserer Sprache, an Hand eines Textes“ (ebd.: 54). Glinz‘ Grammatik setzt in vielerlei Hinsicht neue Akzente. Auch terminologisch weicht sie stark von einer traditionellen Grammatik ab. Zu den bekanntesten Neuerungen gehört Glinz‘ als Fünf-Wortarten-Lehre bekannt gewordene Theorie, mit der er eine neue Wortartenunterscheidung vorlegt: die von formalen Merkmalen abhängige Einteilung in Nomen, Verben, Adjektive, Pronomen und Partikeln. Als methodische Verfahren der Systemerprobung schlägt Glinz Operationen vor, die als Glinz’sche Proben bekannt geworden sind und einen zentralen Bestandteil schulischen Grammatikunterrichts darstellen. Sein methodisches Vorgehen führt er folgendermaßen aus: Wir legen […] einen bestimmten Text zugrunde und betrachten ihn in Stücken verschiedensten Umfangs, von der kleinsten klanglichen Einheit und ihren Teilen bis zu zusammenhängender Rede mehrerer Seiten. Aber wir nehmen diese Stücke nicht nur passiv auf, sondern versuchen sie zu manipulieren. Wir lassen sie von verschiedenen vorlesen, sprechen sie selbst in verschiedener Art und prüfen, inwiefern der Klang [Klangprobe; hier und im Folgenden C. H., A. K., R. O.] dabei gleich bleibt und inwiefern er sich verändern kann. Wir lassen einzelne Stücke weg [Weglassprobe] und fügen andere hinzu [Ersatzprobe], stellen Einzelzeichen innerhalb eines Komplexes um [Umstellprobe] und erproben dabei immer an uns selbst und andern, ob die Ergebnisse der Änderungen wieder richtiges Deutsch sind, welche Inhaltsänderungen allgemein festgestellt werden, wieweit Umstellung oder Ersatz einzelner Teile gehen kann. (Ebd.: 53) Zur ‚Natürlichkeit‘ der Proben merkt er an: Das Experiment [Klangprobe, Ersatzprobe, Verschiebeprobe; C. H., A. K., R. O.] ist nämlich gar nichts Künstliches, nur in der Linguistik vorkommendes, sondern es ist nur eine zu Erkenntniszwecken bewußt geleitete Form des ohnehin vorhandenen lebendigen Umgangs mit der Sprache, des sprachlichen Handelns, wie es jeden Tag vorkommt, vom großen Dichter, der an <?page no="235"?> Operationaler Grammatikunterricht 235 Klangprobe Verschiebebzw. Umstellprobe Ersatzprobe seinem Werk arbeitet […], bis zum kleinen Kind, das ausruft: ‚Jetzt will ich heim! - Ich will jetzt heim! - Heimgehn will ich jetzt! ‘, und das damit dem Wissenschaftler völlig unbeabsichtigt eine vollständige Verschiebeprobe und ein Stück Ersatzprobe vorführt. (Ebd.: 5 f.) Am Anfang sprachanalytischer Prozesse steht für Glinz die Klangprobe: Wir lesen den Text laut oder lassen ihn von verschiedenen Informanten laut lesen und stellen fest, wo ohne Sinnstörung Abschlüsse gesetzt, d. h. die Stimme bis zur Ruhelage gesenkt und ohne Störung eine längere Pause gemacht werden kann. (Glinz 1971: 16; siehe auch Haueis 1981: 36) Durch die Klangprobe kann ein Text lautlich in Einheiten gegliedert, können seine Satzgrenzen festgestellt werden. Der Duden betont zudem die kommunikative Bedeutung der Klangprobe: Durch Betonung kann ein Sprecher zeigen, wie der Hörer einen Text verstehen soll. Durch die Verschiebeprobe wird bestimmt, welche Teile eines Satzes Satzgliedstatus haben. Dazu werden Wörter beziehungsweise Wortgruppen vor das finite Verb, das an zweiter Stelle stehen bleibt, geschoben. Dabei darf der Satz nicht ungrammatisch werden und sich inhaltlich nicht verändern. Nach der Schule spielt der kleine Junge immer mit seinem Hund. Der kleine Junge spielt nach der Schule immer mit seinem Hund. Mit seinem Hund spielt der kleine Junge nach der Schule immer. Jedoch nicht: *Nach der Schule spielt der immer kleine Junge mit seinem Hund. Für Schüler schwerer nachvollziehbar ist der Unterschied zu folgender umgestellter Variante: Immer nach der Schule spielt der kleine Junge mit seinem Hund. An dieser Stelle könnte in der Schule angesetzt werden: Passt dieser Satz in die oben erhaltene Reihe oder nicht? Die Umstellprobe kann auch für stilistische Analysen und Abwägungen herangezogen werden. Die Ersatzprobe bezieht sich darauf, dass in einem Satz ein Wort oder eine Wortgruppe ersetzt werden. Durch diese Ersetzung können Wörter beziehungsweise Wortgruppen paradigmatisch nach bestimmten grammatischen Merkmalen geordnet werden. Nach der Schule spielt der kleine Junge immer mit seinem Hund. Vor dem Essen spielt der kleine Junge immer mit seinem Hund. Davor spielt er immer damit. Beim Vorlesen lacht die alte Frau oft mit ihrer Enkelin. <?page no="236"?> 236 Sprache und Sprachgebrauch untersuchen und reflektieren Streich-/ Weglassprobe Die Weglassprobe dient der Unterscheidung von fakultativen und obligatorischen Satzteilen. Ebenso verdeutlicht sie, dass beim Weglassen des jeweils ersten Satzgliedes ein anderes an dessen Stelle treten muss, wenn sich der Satzmodus nicht ändern soll. Nach der Schule spielt der kleine Junge immer mit seinem Hund. Nach der Schule spielt der kleine Junge mit seinem Hund. Der Junge spielt. Im Grammatik-Duden (2009: 142) sind neben den oben dargestellten fünf weitere Proben aufgeführt, darunter die Einsetzprobe - zum Beispiel zur Bestimmung von Adjektiven beim Einsetzen in Nominalgruppen (der ständige Flops, *der immer Flops) -, die Flexionsprobe zur Bestimmung der Wortart (ich renn-e, du renn-st, sie renn-t) und die Erweiterungsprobe, bei der durch Erweiterungen beziehungsweise Kombinierungen grammatische Eigenschaften eines Wortes bestimmt werden: Adrian hasst warten/ Warten. Adrian hasst das Warten. Die Proben werden von Glinz zunächst sprachwissenschaftlich begründet - als Methode einer objektiven Sprachanalyse. In einem zweiten Schritt stellt Glinz sprachdidaktische Prinzipien auf, die sich in allen nachfolgenden Konzeptionen mehr oder weniger stark wiederfinden und hier zusammengefasst werden sollen: Ein operational ausgerichteter Grammatikunterricht - setzt bei den Intuitionen der Schüler an, - ist gebrauchs- und inhaltsorientiert, - hat eine deskriptive Sicht von Grammatik, - schließt interpretative Prozesse ein, - fördert einen handelnden, operationalen Umgang mit Sprache und sieht ihn als Voraussetzung für Erkenntnisgewinn und Kategorisierung, - bindet grammatische Untersuchung an Texte (Glinz 1993: 282) an - wenn Glinz auch Wort und Satz als „die beiden grundlegenden Einheiten der Sprache“ (ebd.: 283) bezeichnet, - geht experimentierend vor. Problematisierung Ein operationaler Zugang durch die Methode des Erprobens wird in der Sprachdidaktik ambivalent betrachtet: Einerseits wird betont, dass die Proben, die ebenfalls sowohl im funktionalen g rammatikunter richt (→-6.9) als auch in der g rammatik -W erkstatt (→-6.10) eine zentrale Rolle spielen, „eine Öffnung nicht nur für eine Linguistisierung bewirkt, sondern auch für eine Anerkennung des Schulkindes als kompetentem Sprecher bzw. Sprachteilhaber gesorgt“ (Klotz 1996: 18) <?page no="237"?> Operationaler Grammatikunterricht 237 Hauptkritik haben. Was für einen operational verfahrenden Grammatikunterricht spricht, sind zum Beispiel der induktive Unterrichtscharakter, die Möglichkeit des entdeckenden Lernens und die Handhabbarkeit der Proben. Dementsprechend urteilt Funke, dass es die „Gleichzeitigkeit von operationaler Strenge und interpretativer Differenziertheit [sei], welche das Anregungspotential der glinzschen Arbeiten ausmacht“ (2001: 308). Dagegen wird an vielen Stellen kritisiert, dass die Anwendung der Proben grammatisches Wissen bereits voraussetze. Im Rahmen der Forderung, bei der Beschäftigung mit Satzgliedern nicht mit der abstrakten Kategorie Subjekt zu beginnen, sondern mit Adverbialen, schreibt Menzel: Wir nehmen ja gutgläubig an, wer nur die Frage richtig stelle, der komme damit zu der richtigen Antwort. Der Prozess des Denkens dürfte aber andersherum laufen: Wer das Subjekt schon kennt, kann auch die Frage richtig stellen. (1999: 47) Damit formuliert Menzel die Hauptkritik, der die Arbeit mit den Glinz’schen Proben ausgesetzt ist. Switalla betont die Komplexität der Arbeit mit grammatischen Operationen aus einer anderen Perspektive: Auch die in den Schulgrammatiken eingeführten operationalen Verfahren, zum Beispiel zur Bestimmung von Satzgliedern, die man gelegentlich für den Inbegriff einer strukturalen Grammatik hält, sind übrigens nichts anderes als (höherstufige) intentionale Interpretationen sprachlicher Äußerungen und sprachlicher Ausdrücke. Ihre technisch-operationale Präsentation verdeckt nurmehr die Komplexität der sprachreflexiven und sprachanalytischen Überlegungen, zu denen eine Person imstande sein muß, wenn sie deren Sinn verstehen und begreifen können soll. Die sogenannten Proben sind ja nichts anderes als schematisierte Kurzformen von Argumentationen über grammatische Sachverhalte. (1993: 55) Kritik an den Proben wird auch in Bezug auf ihre Kontextabhängigkeit (Gornik 2006: 818) geübt. Weitere Kritikpunkte betreffen aber auch Schwierigkeiten, die sich in erster Linie nicht aus der Glinz’schen Theorie, sondern aus deren verkürzter Rezeption und einer Schematisierung in der Anwendung ergeben und - entgegen der Glinz’schen Intention - zu einem grammatischen Schubladendenken ohne begriffliches Verstehen führen können. Hoffmann warnt deshalb: Die strukturalistischen Proben lassen sich sinnvoll nur in einem sprachtheoretischen Rahmen einsetzen, der Sprachwissen, Systemzugang, Funktionalität der differenten Strukturelemente vorab vermittelt und Intuitionen ausbildet, die eine kritische Nutzung der Operationen gestatten. Mechanische Durchführung führt zu undifferenzierter Bewusstheit sprachlicher Vielfalt, stellt vor das Problem, zwischen variablen Strukturen zu unterscheiden und dazu grammatische Kriterien einsetzen zu müssen, die man nicht hat. (2005: 11) <?page no="238"?> 238 Sprache und Sprachgebrauch untersuchen und reflektieren Trotz aller Kritik, die der Glinz’schen Grammatik und damit auch seinen Proben in der deutschdidaktischen Diskussion widerfahren sind, bleibt zu resümieren: Der operationale g rammatikunterricht hat eine moderne Sprachdidaktik begründet. Aufgaben 1. Zur Unterscheidung von Präpositionalobjekt und adverbialer Bestimmung wird häufig die Weglassprobe empfohlen: streichbar seien nur adverbiale Bestimmungen. Testen Sie das an den folgenden Beispielen (Hinze/ Köpcke 2011: 64): Die Spieler warten auf dem Fußballplatz. Die Spieler warten auf dem Fußballplatz auf den Anpfiff. Welche Schwierigkeiten ergeben sich? Einen ausführlichen Lösungsvorschlag geben Hinze/ Köpcke (ebd.). 2. Sein Blick ist vom Vorübergehn der Stäbe so müd geworden, daß er nichts mehr hält. Ihm ist, als ob es tausend Stäbe gäbe und hinter tausend Stäben keine Welt. Führen Sie an den ersten Versen des Gedichts Der Panther von Rainer Maria Rilke die Glinz’schen Proben durch. Welche Ergebnisse/ Erkenntnisse gewinnen Sie? Lektüreempfehlungen zur Vertiefung d udenredaktion (2009) (erweitert die Glinz’schen Proben um weitere Proben; knappe und übersichtliche Darstellung und Erläuterung) g Linz , h. (1952/ 1965) (gibt einen umfassenden Einblick in die Glinz’sche Theorie) h inze , c./ k öpcke , k.-M. (2011) (ein hervorragendes, phänomenorientiertes Beispiel für eine sinnvolle, kritische Einbindung operationaler Verfahren und deren Verknüpfung mit anderen theoretischen und methodischen Zugängen) 6.7 Situationsorientierter Grammatikunterricht Der Grundgedanke situationsorientierten Deutschunterrichts läßt sich dahingehend zusammenfassen, daß hier die ‚jetzigen‘ innerschulisch zugänglichen Lebenssituationen und -erfahrungen der Schüler als paradigmatische, modellhafte Lernsituationen aufgegriffen werden; sie werden gemeinschaftlich in der Klassengruppe in Reflexions- und Aktionsprozessen bearbeitet. (Boettcher/ Sitta 1978: 125) Der situationsorientierte g rammatikunterricht , der auch situativer g rammatikunterricht genannt wird, lässt sich einordnen in eine Reihe kommunikationsorientierter Ansätze, die auch und vor allem in der Schreibdidaktik (→- 3.9) ihre Wirkung zeigten. <?page no="239"?> Situationsorientierter Grammatikunterricht 239 Zielsetzung Orientierung am Sprachgebrauch der Schüler Grammatikdidaktisch von Bedeutung sind vor allem die Arbeiten von Boettcher/ Sitta (1978; 1979; 1980; 1983), deren Kernausführungen im Folgenden dargestellt werden. Darstellung 1978 erschien - im Zuge und als Folge der sogenannten pragmatischen Wende in der Sprachwissenschaft - Boettchers und Sittas Publikation Der andere Grammatikunterricht. Mit ihrer Konzeption distanzieren sich die Autoren vom traditionellen g rammatikunterricht (→-6.5) und stellen diesem einen sprachgebrauchsorientierten, integrativ und induktiv ausgerichteten Unterricht gegenüber. Nicht systematisch aufgebautes Wissen über Sprache, sondern Sprachreflexion und die Förderung der schülerseitigen kommunikativen Kompetenz bilden den programmatischen Kern. Die Autoren halten fest: Während klassischer Grammatikunterricht unter der Zielsetzung ‚Einsicht in den Bau der Sprache‘ den Schülern Kenntnisse über grammatische Regularitäten im Bereich Wort und Satz vermitteln wollte, will situations- (und kommunikations-)orientierter Grammatikunterricht unter der Zielsetzung ‚Verstehenshilfe‘ Schülern (analytische) Verfahren und (metakommunikative) Argumentationsfähigkeiten gegenüber (problematischen) Äußerungs-/ Textzusammenhängen vermitteln, bzw. […] unter der Zielsetzung ‚Verständigungskritik‘ (analytische) Verfahren und (metakommunikative) Argumentationsfähigkeiten gegenüber (problematischen) Äußerungs-/ Textzusammenhängen und deren (problematischen) gesellschaftlichen Bedingungszusammenhängen. (Ebd.: 201 f.) Damit rückt ein Prinzip in den Vordergrund, das den Grammatikunterricht um ein wichtiges Element ergänzt: das Prinzip der Orientierung am tatsächlichen (auch mündlichen) Sprachgebrauch und an für Schüler relevanten Sprechhandlungssituationen. Boettcher/ Sitta, beide Vertreter der Aachener Gruppe, fragen in ihrem Buch „nach Begründungen, Prinzipien und Realisierungsmöglichkeiten von Grammatikunterricht im Rahmen des Lernfeldes ‚Reflexion über (sprachliche) Kommunikation‘ im Kontext eines insgesamt schüler- und situationsbezogenen Deutschunterrichts“ (1978: 5). Sie wollen damit an die Spracherfahrungen der Schüler anknüpfen und propagieren einen Grammatikunterricht, der sich am Sprachgebrauch - und nicht an einem abstrakten System oder an abstrakten Sprachnormen - orientiert. Boettcher/ Sitta stellen den „Standardbegründungen für Grammatikunterricht“ (ebd.: 140) ei- Als Aachener Gruppe bezeichnet man eine Gruppe von Deutschdidaktikern (u. a. Boettcher, Firges, Sitta u. Tymister), die im Zusammenhang mit der pragmatischen Wende in den 1970er Jahren eine Kommunikationsorientierung im Deutschunterricht etablierten. <?page no="240"?> 240 Sprache und Sprachgebrauch untersuchen und reflektieren integrierte Sprachreflexion gene Rechtfertigungsaspekte gegenüber, die sich an der Steuerung des eigenen sprachlichen Handelns und an metasprachlichen und metakommunikativen Situationen orientieren. Ein kommunikationsintensiver Unterricht soll den Schülern ermöglichen, über Sprachverwendung nachdenken und sprechen zu können. Die Schüler sollen ihre Spracherfahrungen stets in den Unterricht einbringen können, um situationsgebundenes sprachliches Verhalten besser verstehen zu lernen (ebd.: 25). Grammatische Sprachreflexion wird als Chance zur Sprach- und Normkritik verstanden. Boettcher/ Sitta sprechen dem Grammatikunterricht einen eigenen autonomen Gegenstandsbereich ab und sehen seine Gegenstände vielmehr als „Aspekte von Äußerungs- und Textzusammenhängen, die erst im Kontext komplexer Sprachverwendungsprozesse ihre Bedeutung erhalten“ (ebd.: 181). Sie plädieren für eine „massive Reduktion systematischen Grammatikunterrichts“ (ebd.: 182) und halten fest, „daß wir unter ‚Grammatikunterricht‘ nicht primär an ganze Grammatikstunden denken, sondern an Reflexionsmomente oder Reflexionsphasen innerhalb komplexer Unterrichtszusammenhänge“ (ebd.: 240). Reale Situationen sollen den Ausgangspunkt grammatischer Reflexion bieten (wobei Boettcher/ Sitta betonen - das wird zu Unrecht häufig gegenteilig dargestellt -, dass auch der Lehrer Situationen gezielt erzeugen kann). Grammatikunterricht könne demnach auch zum Beispiel innerhalb einer Sportstunde stattfinden, wenn etwa die Äußerungsstruktur und kommunikative Rolle von Zurufen („Zu mir! “, „Flanke! “) oder sprachliche Aspekte von Anfeuerungsrufen thematisiert werden. Das Sprachbuch fungiert in dieser Form von Unterricht höchstens als Nachschlagewerk oder begleitende beziehungsweise nachträgliche Strukturierungsmöglichkeit. Eine gewisse Systematisierungsnotwendigkeit wird trotz der Situationsorientierung nicht ausgeschlossen. Ebenso sehen Boettcher/ Sitta die Vermittlung von Fachtermini und -begriffen als notwendig an. Alles soll aber stets von den kommunikativen Bedürfnissen der Schüler ausgehen und unterrichtliche Ziele erschöpften sich nicht in der Erfüllung curricularer Vorgaben, sondern seien stets in übergeordneten, sprechhandlungsbezogenen Intentionen zu finden. Chumm! (siehe im Folgenden Boettcher/ Sitta 1978: 207 ff.) Ein Lehramtskandidat bekommt vom Klassenlehrer den Auftrag, während seines Praktikums in einer 6. Klasse einer Züricher Primarschule das Erkennen der Satzarten, Befehlsformen und die damit verbundene Zeichensetzung zu wiederholen. Auf dem Pausenhof beobachtet der Lehramtskandi- <?page no="241"?> Situationsorientierter Grammatikunterricht 241 dat eine Szene zwischen einem neuen Schüler, der sich noch in einer Außenseiterrolle befindet, und dem ‚Klassenchef‘, dessen Mannschaft zuvor in der Turnstunde gegen die Mannschaft des ‚Neuen‘ verloren hat. In der Pause spielen die Jungen wieder Fußball, nur der Neue steht abseits. Der ‚Klassenchef‘ ruft ihm plötzlich zu: chumm, chasch cho, chunsch [Komm, du kannst kommen, kommst du]. Als der Neue freudig das Feld betritt, wird er vom ‚Klassenchef‘ geohrfeigt. Anhand dieses Beispiels bespricht der Lehramtskandidat nun in der Folgestunde, was mit der Aussage des ‚Klassenchefs‘ gemeint gewesen sein könnte (eine Drohung, eine Aufforderung, eine Frage) und wie sie vom neuen Schüler verstanden worden war (als Einladung, Aufforderung). Die Probleme zweier Ebenen, der Zeichensetzung und der Sprechakte, werden thematisiert und die situative Einbettung und kontextuelle Abhängigkeit von Sprache demonstriert. Eine Reihe weiterer konkreter situativer Beispiele, zu denen jeweils eine Reflexionsrichtung angegeben wird, findet sich in Boettcher/ Sitta (1978: 241 ff.). Problematisierung Das Konzept des situationsorientierten g rammatikunter richts wurde stark kritisiert und erweist sich ‚in Reinform‘ als ungeeignet für die Praxis. Den Autoren muss man allerdings zugestehen, dass ihre Konzeption oftmals vereinfacht und demzufolge auch falsch dargestellt wird. Dazu kommt, dass sie den Absolutheitsbeziehungsweise Ausschließlichkeitsanspruch, der dem situationsorientier ten g rammatikunterricht häufig unterstellt wird, immer wieder relativieren. Kritikpunkte, die häufig genannt werden, sind die fehlende Systematik und damit die fehlende Struktur grammatischen Wissens, ein zu kurz greifendes sprachtheoretisches Fundament und die Tatsache, dass an die Lehrkraft kaum zu erfüllende Erwartungen gestellt würden: Diese müsse die sich aktuell bietende Chance zur Sprachreflexion erkennen, über die jeweils notwendigen fachlichen Grundlagen verfügen und schließlich auch fähig sein, ‚aus dem Stegreif‘ und ohne Unterstützung durch Sprachbücher oder andere Medien eine induktive Erarbeitung durch die Schüler zu ermöglichen. Dementsprechend verteidigt Menzel seine systematische Konzeption einer g rammatik - W erkstatt (→- 6.10) „gegen die Unverbindlichkeiten und Verlegenheiten eines situationsorientierten Grammatikunterrichts, der halbherzig und en passant Grammatik lehrt und den Lernenden keinen Begriff von Grammatik vermittelt“ (2000a: 246). Er fährt fort: <?page no="242"?> 242 Sprache und Sprachgebrauch untersuchen und reflektieren Doch so, wie sich Boettcher/ Sitta ihr Konzept vorgestellt hatten, oder besser: wie es dann von Lehrplänen (miss-? )verstanden worden ist, hatte es in der Schule keine Chance. Das lag an der immensen Kompetenz in grammatischen Dingen, die es bei den Lehrenden voraussetzte, und an der niemals erreichten und wohl auch nicht zu erreichenden Koordination von Grammatik und Pragmatik. (Ebd.: 247) Ein Curriculum, das auf Systemfragen der Grammatik aufbaue und in verschiedene sprachliche Situationen hineinführe, sei dagegen einfacher zu bewerkstelligen. Die Urheber haben selbst auf die Gefahr hingewiesen, dass ihre Konzeption als „systematikfeindlich mißverstanden“ (Boettcher/ Sitta 1978: 298) werden könnte und betonen gleichzeitig, dass situationsorientiertes Arbeiten Erfahrungen ermögliche, „auf deren Grundlage eine begriffliche Systematisierung erst fruchtbar werden kann“ (ebd.: 299). Auch das Prinzip der Schülerorientierung wird bezweifelt. So weist Haueis auf die fehlende Berücksichtigung tatsächlicher Lernvoraussetzungen wie Alter und Erfahrungen hin (1981: 13). Allgemeindidaktisch kritisch zu bewertende Aspekte wie zum Beispiel die Voraussetzung eines partnerschaftlichen Verhältnisses zwischen Schülern und Lehrern spielen in diesem Zusammenhang ebenfalls eine Rolle. Ein weiterer Kritikpunkt bezieht sich auf die Art des grammatischen Wissens, das fokussiert wird. Die Bindung von Sprachreflexion an Situationen reduziere grammatisches Wissen auf sprachpraktische Fähigkeiten im Sinne von sprachlicher Kompetenz oder auf bloße Automatismen: Ein Registrieren syntaktischer Strukturen als Begleitphänomen, als zusätzliche Dimension einer die Sprechsituation anreichernden Kognition werde nicht ins Auge gefasst (Funke 2001: 313). Funke zieht schließlich das Fazit, „dass das Vorhaben, einen Sinn grammatischen Wissens zu finden, indem man nach dessen Rolle in kommunikativen Situationen fragt, dem Versuch gleichkommt, Wasser mit einem Sieb zu schöpfen“ (ebd.: 313). Weitere Kritikpunkte finden sich bei Gornik (2006: 821); zu den Voraussetzungen für den situationsorientierten g rammatikunter richt - jedoch nur in Bezug auf die Lehrperson - siehe Peyer (2012: 78). In Bezug auf die Schüler merkt Funke an: „Weder Boettcher/ Sitta noch Augst und Nündel thematisieren die Schwierigkeiten, die mit grammatischem Lernen erfahrungsgemäß verbunden sind, zumindest für Schülerinnen und Schüler der Grund-, Haupt- und Realschule“ (2001: 312). Die extreme Position Boettchers und Sittas, die dem Image des situ ationsorientierten g rammatikunterrichts letztlich eher geschadet hat, muss im Zusammenhang ihrer Zeit gesehen werden. Dass das Prinzip der Situationsorientierung innerhalb eines systematischen <?page no="243"?> Integrierter Grammatikunterricht 243 Rahmens durchaus sehr gewinnbringend ist, zeigt seine Adaption in anderen Konzeptionen, zum Beispiel im kontrastiven g ramma tikunterricht (→- 6.11). Es sollte darüber hinaus selbstverständlich sein, dass Lehrkräfte prinzipiell situativ angemessen reagieren und sprachunterrichtlich relevante Situationen aufgreifen können. Die Ausführungen von Boettcher/ Sitta (1978) - mit einem Kapitel zu konkreten methodischen Problemen und zu Kontext- und Hintergrundwissen für den Lehrer zum Bereich Grammatikunterricht - können eine Orientierung dafür bieten, wie ein derartiges Vorgehen möglich ist. Aufgaben 1. Diskutieren Sie, inwieweit grammatikunterrichtliche Sequenzen, die situativ stattfinden, mit der Benotungspflicht des Lehrers vereinbar sind. 2. Vergleichen Sie den situationsorientierten mit dem integra tiven g rammatikunterricht (→- 6.8) und stellen Sie Gemeinsamkeiten und Unterschiede fest. Lektüreempfehlungen zur Vertiefung B oettcher , W./ S itta , h. (1978) (das Standardwerk des situationsorientierten g rammatikunterrichts ; einer sprachtheoretischen Begründung der konzeptionellen Ideen folgen die Aufreihung von Prinzipien eines situationsorientierten Deutschunterrichts und einer Vielzahl an kommunikativ ausgerichteten Schülerqualifikationen, zu deren Erwerb diese Konzeption beitragen soll) B oettcher , W./ S itta , h. (1979) (der Basisartikel ist eine Zusammenfassung der ein Jahr zuvor erschienenen Publikation) 6.8 Integrierter Grammatikunterricht Textanalyse, Sprach- und Grammatikreflexion, mündliche und schriftliche Sprachproduktion sind nicht total verschiedene Disziplinen, sie bilden eher verschiedene Phasen oder alternative Möglichkeiten innerhalb einer einzigen Auseinandersetzung mit einem Thema oder Problem. (Wunderlich/ Conrady 1978: 298) Der Forderung nach einem integrativen Vorgehen im Deutschunterricht- - wie sie auch in den deutschen Lehr- und Bildungsplänen verankert ist - versucht eine Vielzahl deutschdidaktischer Ansätze nachzukommen, die sich selbst als integrativ bezeichnen. Der Bedeutungsrahmen des teilweise inflationär gebrauchten Begriffs, der oftmals gleichbedeutend mit einem schülerorientierten, lebensweltnahen unterrichtlichen Vorgehen verwendet wird (Klotz 2008: 50; Belke 2012: 111), ist dementsprechend groß und erfordert verschiedene Begriffsdimensionen. <?page no="244"?> 244 Sprache und Sprachgebrauch untersuchen und reflektieren Integrativer Deutschunterricht Die Idee für einen integrativ angelegten Deutschunterricht ist nach Klotz mit dem Wunsch nach der Verbindung von Grammatik und Pragmatik in den 1970er Jahren geboren. Klotz unterscheidet zwischen binnenfachlicher und fächerübergreifender Integration. Erstere definiert er als die „bewusste Vernetzung zweier oder dreier Bereiche des Deutschunterrichts“ (2008: 62). Traditionell betrifft diese Verbindung die Bereiche Grammatik und Schreiben. Auch die Integration von Sprach- und Literaturunterricht fällt unter die binnenfachliche Integration. Der integrierte g rammatikUnterricht ist somit Teil einer „Verbindung und wechselseitigen Funktionalisierung von Sprach- und Literaturunterricht“ (ebd.: 60). Hierbei geht es Klotz um eine frag-würdige (2003: 51) Integration, bei der sich die beiden Disziplinen gegenseitig befruchten mit dem Ziel, spezifische, auch ästhetische (Sprach-)Erfahrung zu ermöglichen und sprachliche Sensibilität zu fördern (2008: 64). Für die Verbindung von Sprach- und Literaturunterricht gibt es zahlreiche Hinweise aus der Fachdidaktik. Wir möchten hier insbesondere auf Abraham (2001) und Scherner (2007; 2011) hinweisen. Scherner zeigt unter anderem am Beispiel der Konjunktionen, wie er sich einen integrierten g ram matikUnterricht vorstellt (siehe im Folgenden 2007: 74 f.): Konjunktionen würden traditionell als Bindewörter gelehrt - mit der Funktion, Sätze miteinander zu verbinden. Diese Definition weist Scherner als zu monodimensional aus. Vielmehr müsse gezeigt werden, wie Konjunktionen „auf das Zusammenspiel von Vorwissen und Fokuslenkung im Verstehensprozess bezogen“ (ebd.) seien. Er verdeutlicht seine Ausführungen am Beispiel eines Auszugs aus Thomas Manns Tonio Kröger. Nachdem Tonio seiner Freundin Lisaweta eine Reise in den Norden angekündigt hatte, beginnt das Folgekapitel der Erzählung folgendermaßen: Und Tonio Kröger fuhr gen Norden. In der Schule könne man nun thematisieren, dass die Konjunktion keine primär satzverknüpfende Funktion habe, sondern „auf den im voraufgehenden Kontext aufgebauten propositionalen Gehalt, der dem Leser in seinem Horizont als mitlaufender textueller Wissensraum im Rahmen der ‚Textwelt‘ zur Verfügung steht“ (ebd.: 75), verweise. Von dieser erweiterten Perspektive auf sprachliche Phänomene profitiere nicht nur der Sprach-, sondern auch der Literaturunterricht. Unter fächerübergreifender Integration versteht Klotz die „natürliche Zusammenführung der fachlichen Kenntnisse und Fähigkeiten - freilich oft mit Barrieren, die überwindbar sind und deren Überwindung selbst routiniert werden kann, nämlich durch Integration“ (2008: 67). Das Fach Deutsch ist in anderen Schulfächern immer dort relevant, wo Lernen - und das ist es zum Großteil - sprachgebunden ist. Die Beispiele, die Klotz unter anderem für die Verbindung von Deutsch und Physik sowie Deutsch und Geographie anbringt, versuchen, dem Rechnung zu tragen. Teil eines integrativen Deutschunterrichts, den Klotz als „höchst virulente Konzeption“ (ebd.: 59) bezeichnet, ist der integrierte g ramma tikunterricht , der auf der Annahme basiert, „dass sprachlich-grammatisches Wissen immer nur im Verbund mit anderen Wissensdomänen unserer Kognition funktioniert“ (Scherner 2011: 378). Wieland plädiert schlüssig für die Bezeichnung integrierter g rammatikunterricht (2013: 351). Dem folgen wir, weisen aber darauf hin, dass es ebenso berechtigt ist, vom integrativen g rammatikunterricht zu sprechen, wenn man dessen integrierende Funktion - die, wie Belke 2012 (→-S.-246; →-S. 263) zeigt, vielschichtig sein kann - betonen möchte. <?page no="245"?> Integrierter Grammatikunterricht 245 Ziel Darstellung Als Grundanliegen des integrierten g rammatikunterrichts wird in der Fachdidaktik (Gornik 2003; Wieland 2013) besonders die Verbindung eines systematischen mit einem situationsorientierten Vorgehen betont. Dementsprechend definiert Knapp diejenigen Ansätze als integrativ, die das Ziel verfolgen, „die Situations-, Kommunikations- und Handlungsorientierung in Einklang mit systematischem (Grammatik-)Unterricht und sprachlichem Regelwissen zu bringen und insofern die Unzulänglichkeiten der einseitigen Ansätze zu überwinden“ (2010: 138 f.). Im Gegensatz zum situationsorientierten (→-6.7), in dem in erster Linie reale Situationen aufgegriffen werden, sollen im inte grierten g rammatikunterricht auch fiktive Kommunikationsanlässe geschaffen werden, also „geplante, konstruierte, künstlich arrangierte Situationen, die sowohl ein methodisch genau geplantes Handeln ermöglichen als auch die Einbindung der verschiedenen Aufgaben des Deutschunterrichts gewährleisten“ (Boueke 1993: 78). Teilaspekte eines integrierten g rammatikunterrichts finden sich, wenn auch nicht terminologisch so bezeichnet, bereits bei Glinz (→-6.6). Auch Köller (→-6.9) formuliert als eines seiner Prinzipien das integrative Prinzip. Einen entscheidenden Beitrag zur Popularität des integrierten g rammatikunterrichts leistet schließlich Einecke, dessen Ausgestaltung - auch wegen seiner Online-Präsenz (fachdidaktik-einecke.de) - wohl die bekannteste unter Studierenden ist. Didaktische Grundlage von Einecke ist eine funktionale Grammatik, die unter anderem nach der Funktion grammatischer Elemente in einem Text fragen und die Wirkungsperspektive einbeziehen müsse (1994: 12). Als methodische Aspekte eines integrierten g rammatikunterrichts nennt er induktiv einführen, an andere Stoffe anbinden, situativ aufgreifen, wiederverwenden und im Exkurs ergänzen (ebd.: 11). Auch die Glinz’schen Proben (→-6.6) spielen immer wieder eine wichtige Rolle. Einecke stellt den Versuch an, Sprach- und Literaturunterricht miteinander zu verbinden. Im Literaturunterricht gehe es „um den längerfristigen Aufbau des literarischen Lernens und des Leseverstehens der Schüler über die Vermittlung von Teilkompetenzen“ (ebd.: 43), im Bereich Reflexion über Sprache „um die Behandlung grammatischer Phänomene in ihren Verwendungszusammenhängen sowie um den Aufbau der sprachlichen Reflexionsfähigkeit der Schüler“ (ebd.). Er weist darauf hin, dass in einem integrativen Deutschunterricht einzelne Teilbereiche „wechselnd die Stimmführung übernehmen“ (ebd.) könnten. Einecke bietet Unterrichtssequenzen mit didaktischen und methodischen Kommentaren und zahlreiche Kopiervorlagen an. Darüber hinaus gibt er den Lehrenden Bewertungshinweise (ebd.: 63 ff.) und - als Alternative zum ‚klas- <?page no="246"?> 246 Sprache und Sprachgebrauch untersuchen und reflektieren Dimensionen von Integration sischen‘ Grammatiktest - Beispiele für integrierte Grammatikarbeiten. Zentral ist, dass er von einer „weiträumigen Unterrichtsplanung“ (ebd.: 43) ausgeht - er plädiert explizit dafür, weg „von Einzelstunden“ (ebd.) zu kommen: Auf den Wolf gekommen In einer Unterrichtssequenz zum Thema Auf den Wolf gekommen (siehe im Folgenden ebd.: 101 ff.) für die Jahrgangsstufen 5/ 6 geht es um die Komplexität von Sätzen. Die Schüler lernen einfache und komplexe Sätze, Satzreihen und -gefüge kennen, indem sie sich mit unterschiedlichen Texten zum Thema Wölfe beschäftigen, das eine gute „Verbindung fiktionaler und nicht fiktionaler Texte in altersgemäßer Form“ (ebd.: 106) ermögliche. Dabei kommen Redensarten, Erzählungen, Fabeln, Gedichte, Zeitungsmeldungen, einfache und später auch komplexere Sachtexte zum Einsatz. Neben zahlreichen literaturdidaktischen Zielsetzungen werden folgende sprachliche aufgeführt: Die Schüler unterscheiden in der Sequenz einfache Sätze und Satzgefüge und reflektieren die Rolle von Gliedsätzen, untersuchen die Satzverknüpfung in einer Fabel, wenden syntaktische Mittel selbst an oder erkennen im Rahmen eines Vergleichs von einem Filmbuch und einem Roman die „unterschiedliche Textkomplexität als Ursachen für Lesefluß und -widerstand“ (ebd.: 102). Neben Einecke betonen auch andere Didaktiker die Nähe des inte grierten zum funktionalen g rammatikunterricht (→- 6.9). Klotz geht es um „die Vorstellung von funktionalen Affinitäten“ (2008: 60), Berkemeier (2011: 57 f.) schlägt einen integrierten g ramma tikunterricht auf der Grundlage einer funktional-pragmatischen Grammatik vor. Somit könne Integration als Prinzip eines funktiona len g rammatikunterrichts charakterisiert werden. Ein explizit Lerner mit Deutsch als Zweitsprache berücksichtigender integrativer Ansatz stammt von Belke. Sie nimmt eine differenzierte Skizzierung des Begriffs Integration vor (2012: 111 ff.) und führt folgende Begriffsaspekte auf: - Integration der verschiedenen sprachlichen Ebenen - Integration sprachlicher Phänomene in Kontexte und Handlungszusammenhänge - Integration der verschiedenen Bereiche des Deutschunterrichts - Integration der Kinder mit DaZ in einem gemeinsamen Deutschunterricht - Integration der Herkunftssprachen - Integration von Spracherwerb und Sprachvermittlung - projektorientierte Einbindung des Sprachunterrichts <?page no="247"?> Integrierter Grammatikunterricht 247 Ebenfalls eine mehrsprachigkeitsorientierte Auslegung des Begriffs Integration liegt dem sprachintegrativen Ansatz von Rothstein zugrunde ( kontrastiver g rammatikunterricht , →-6.11). Problematisierung Dass das Prinzip der Integration eines der wesentlichen Prinzipien für den Deutschunterricht ist, wird heute in der Fachdidaktik weitgehend anerkannt, wenn auch auf der Basis unterschiedlicher Begriffsauslegungen. Dennoch ist der integrierte g rammatikunterricht umstritten. Bredel konstatiert, dass sich „der sog. integrative Grammatikunterricht […] häufig als rein methodisches Konzept ohne eigenständige theoretische Grundlage erweist“ (2007: 226). Seine Vorbereitung und Durchführung erforderten hohe fachliche Kompetenzen, eine sorgfältige Planung und eine kritische Haltung der Lehrenden, um nicht unreflektiert „alles mit allem als integrierbar“ (Klotz 2008: 60) anzusehen. Klotz macht deutlich, dass nur das integriert werden könne, „was eigenständig und begrifflich gefasst ist und was unter einer erst festzustellenden bzw. zu definierenden Ganzheitsvorstellung zusammengeordnet werden soll oder zu einem offensichtlich Ganzen gehört“ (ebd.: 59). Dies wird häufig zu wenig berücksichtigt, sodass dann „nur zum Schein anhand eines Themas geschrieben oder gelesen, die Grammatikarbeit aber lediglich angehängt wird, ohne für das Schreiben oder Lesen wirklich von Nutzen zu sein“ (Gornik 2006: 823). Wieland formuliert die Kritik an der Umsetzung des integrativen Prinzips folgendermaßen: Wenngleich das Anliegen integrativer Ansätze grundsätzlich positiv zu bewerten ist, müssen konkrete Unterrichtsmaterialien doch kritisch geprüft werden. Integration bedeutet immer auch, den Besonderheiten der einzelnen Lernbereiche gerecht zu werden. Nicht immer aber ist die Verbindung unterschiedlicher Aspekte sprachlichen Lernens sachgerecht, und nicht selten wird eine Sachfrage nur als motivierender Einstieg in ein grammatisches Thema benutzt. Wie viele Schülerinnen und Schüler mögen schon von einem ganz besonderen Erlebnis erzählt haben, nur um im Anschluss zu erfahren, dass sie für ihre mündliche Erzählung die Formen des Perfekts benötigen? (2013: 351) Dazu kommt, dass in der Schule häufig immer noch an einer formalen, präskriptiven, satzbezogenen Grammatik (siehe dazu die Forderung Scherners 2011 nach einer Öffnung zur Textorientierung hin) festgehalten wird, die den Ansprüchen eines integrierten g rammatik unterrichts nur bedingt gerecht werden kann. i ntegrierter g rammatikunterricht - dies soll hier zum Abschluss noch einmal betont werden - muss reflektiert vorbereitet und durchgeführt sein, damit er ein sinnvoller und gewinnbringender „Brückenschlag zwischen sprachwissenschaftlicher und literaturwis- <?page no="248"?> 248 Sprache und Sprachgebrauch untersuchen und reflektieren senschaftlicher, zwischen sprachdidaktischer und literaturdidaktischer Analytik und damit auch zwischen Sprachunterricht und Literaturunterricht“ (Scherner 2011: 379) sein kann. Aufgaben 1. Eine Studentin plant eine Unterrichtsstunde zum Thema Subjekt. Als Einstieg liest sie einen Auszug aus Lindgrens Pippi Langstrumpf vor. Sie führt anschließend die Einheit Subjekt ein. Nach dieser Einführungsphase sollen die Schüler im Textauszug alle Subjekte einkreisen. Zum Schluss werden die Ergebnisse mit Hilfe des Overheadprojektors besprochen. Setzen Sie die Stunde in Verbindung zu den Prinzipien des in tegrierten beziehungsweise integrativen g rammatik - und d eutschunterrichts . Beurteilen Sie die Stundenplanung vor diesem Hintergrund. 2. Überlegen Sie sich ein Beispiel für einen sinnvollen integrierten g rammatikunterricht zum Thema Präteritum. Denken Sie daran, dass Sie sich nicht auf eine Einzelstunde beschränken. Lektüreempfehlungen zur Vertiefung e inecke , g. (1994) (sehr praxisnahes Grundlagenwerk zum integrierten g ramma tikunterricht ) B eLke , g. (2012) (erweitert die Konzeption unter anderem um wichtige DaZ-Aspekte) k Lotz , p. (2003) (gibt einen interessanten Überblick über den integrativen d eutschunterricht ) 6.9 Funktionaler Grammatikunterricht Die funktionale Perspektive zeigt den Schülerinnen und Schülern, wozu wir Sprache haben und was wir damit tun und erreichen können, wie wir uns verständigen und woran wir scheitern können, welche Formulierung unser Handeln gelingen lässt und was in der Schrift - im Gegensatz zum Gespräch - erwartet wird. Der Blick richtet sich nicht auf tote Formen, sondern auf die Sprachwirklichkeit. Das führt zu einer neuen Motivation für die Grammatik. Sie ist nicht ein Lerngegenstand wie andere, sondern das Mittel, Sprache zu verstehen und zu erklären, besser sprechen und schreiben zu können. (Hoffmann 2006: 21) Der Begriff funktional erweist sich als außerordentlich vielfältig. Dementsprechend werden unterschiedliche grammatikdidaktische Vorstellungen unter die Bezeichnung funktionaler g rammatikunter richt subsumiert. Seit 1997 liegt ihnen mit der Grammatik der deutschen Sprache (Zifonun et al.) eine entsprechend funktional orientierte <?page no="249"?> Funktionaler Grammatikunterricht 249 Wilhelm Köller Zielsetzungen Prinzipien Grammatik zugrunde, seit 2013 wird diese durch Hoffmanns unter anderem für die Lehrer(aus)bildung konzipierte Deutsche Grammatik ergänzt. In funktional ausgerichteten Ansätzen des Grammatikunterrichts sollen grammatische Formen in Abhängigkeit von ihrem kontextuellen Auftreten hinsichtlich ihrer Funktion analysiert werden. Vor allem die konzeptionellen Vorschläge von Köller (1983/ 1997), Klotz (1996) und Hoffmann (z. B. 2006) haben sich im fachdidaktischen Diskurs etabliert. Grundlagen Mit seinem 1983 erstmals erschienenen Band Funktionaler Grammatikunterricht. Tempus, Genus, Modus: Wozu wurde das erfunden? legte Köller den Grundstein für einen Grammatikunterricht, als dessen Basis er nicht die grammatische Regel, sondern das grammatische, „organisierende“ (1997: 12) Zeichen versteht. Köller fokussiert auf die Funktionen grammatischer Zeichen. Er expliziert seine Ausführungen an den verbalen Kategorien Tempus, Genus und Modus. Köller nennt vier Zielsetzungen des Grammatikunterrichts (ebd.: 32 f.): - Identifizierung grammatischer Formen und Zuordnung zu einer grammatischen Kategorie, um Strukturmuster wiederzuerkennen, - Perspektivierung sprachlicher Formen als Interpretation der Wirklichkeit, - Funktionalität grammatischer Formen für bestimmte Äußerungssituationen und Textsorten und - Sprachkritik auf der Grundlage der Missbrauchsgefahr grammatischer Formen. Als Basis für die oben dargestellten Zielsetzungen formuliert Köller fünf Prinzipien, die bei der Konkretisierung methodischer Verfahren zu berücksichtigen seien (ebd.: 29 ff.): Prinzip der Verfremdung Unter Verfremdung versteht Köller, „dem praktisch Bekannten durch Isolation, durch überraschende Kontexte, durch ungewöhnliche Gebrauchsweisen oder durch Aufforderungen zur begrifflichen Erfassung seine Selbstverständlichkeit zu nehmen“ (ebd.: 29). Ziel dabei ist es, vorbewusstes Wissen bewusst und damit didaktisch nutzbar zu machen. <?page no="250"?> 250 Sprache und Sprachgebrauch untersuchen und reflektieren Prinzip der operativen Produktivität Mit diesem Prinzip bezieht sich Köller auf die Glinz’schen Operationen (→- 6.6), die produktives Denken anregen und die kognitive Bewältigung der Ergebnisse schülerseitiger Operationen sichern sollen. Präpositionalobjekt vs. Präpositionaladverbiale Für die Unterscheidung von Präpositionalobjekten und Präpositionaladverbialen sollen die Schüler überprüfen, ob eine Wortgruppe weggelassen werden kann. Die mögliche Fakultativität der Wortgruppe soll Aufschluss geben über den Satzgliedstatus: - Ich treffe mich [mit meiner Freundin]. Das Präpositionalobjekt kann nicht weggelassen werden, ohne dass die Satzbedeutung sich grundlegend ändert. - Dieses Kleid habe ich [in der Fußgängerzone] gekauft. Die adverbiale Bestimmung kann weggelassen werden. Das genetische Prinzip Diesem auf Wagenschein zurückgehenden Prinzip liegt die Überzeugung zugrunde, dass es - im Gegensatz zu einer schlichten Übernahme einer vorgegebenen Ordnung - „lernpsychologisch fruchtbarer sei, die Ordnungsstruktur eines Sachverhalts sukzessiv zu entwickeln“ (ebd.: 30). Das Prinzip richtet sich also gegen einen Grammatikunterricht, der terminologisch festgelegte Kategorien deduktiv vorgibt. Stattdessen sollten die Schüler Strukturordnungen selbst ausarbeiten und lernen, wie eine Wissenschaft zu ihren Antworten gelangt ist, um somit die Genese grammatischer Begriffe nachvollziehen zu können. Das funktionale Prinzip Der Köller’sche Begriff der Funktion manifestiert sich auf zwei Ebenen. Zum einen bezieht er sich auf die instruktiven und kognitiven Funktionen grammatischer Formen. Zum anderen wird er eingebettet in unterrichtliche Kontexte: Grammatische Phänomene seien „nicht im Rahmen isolierter Beispielsätze […], sondern im Rahmen von Äußerungssituationen oder Situationszusammenhängen, die für die Schüler überschaubar sind“ (ebd.: 31), zu untersuchen. Schüler sollten die Funktionalität grammatischer Phänomene am besten an eigenen Texten verstehen lernen. Damit greift Köller Elemente des situativen g rammatikunterrichts (→- 6.7) auf, deutet sie um und integriert sie in seine systematisch angelegte Konzeption. Das integrative Prinzip Hiermit formuliert Köller die Notwendigkeit, grammatische Phänomene in umfassendere Fragestellungen zu integrieren. Grammatisches Wissen versteht er als „Arbeitswissen und als Bildungswissen“ (ebd.). <?page no="251"?> Funktionaler Grammatikunterricht 251 Peter Klotz Ludger Hoffmann Köllers Ansatz ist ein systematisch orientierter (Gornik 2006: 824). Wenngleich er auch die Funktion sprachlicher Zeichen in den Vordergrund rückt, geht er primär von deren Form aus (Wieland 2013: 343). Klotz vertritt eine andere Ausrichtung des funktionalen g ram matikunterrichts . Er versucht, grammatische Arbeit für den Schreibunterricht nutzbar zu machen und mit dieser Funktionalisierung eine Begründung einer Grammatikdidaktik vorzulegen, die sich in der Förderung der Textproduktionsfähigkeiten von Schülern konkretisiert. Damit schlägt er eine Brücke zwischen Schreib- und Grammatikunterricht und etabliert den Text als Kerngröße grammatikdidaktischer Überlegungen, um einer „Einzelsatz-Schulgrammatik“ (1991: 506) entgegenzuwirken. Klotz unterscheidet drei Arten von Handlungskompetenzen: - eine allgemeine Handlungskompetenz, die mit einer vorbewussten Kompetenzstufe verbunden ist, auf der „noch kaum Merkmale distinkt gewußt werden“ (1996: 92), - eine spezifizierte Handlungskompetenz und - eine wissenschaftliche Handlungskompetenz. Seine Untersuchung, die eine der wenigen empirischen Studien zum grammatischen Lernen ist, geht der Frage nach, „was denn Grammatikunterricht unmittelbar für den Sprachgebrauch leistet“ (ebd.: IX). Als Resultat formuliert er das Ergebnis, „daß die effektivste Form des Unterrichts die ist, die in der Anfangsphase Grammatikunterricht integriert und damit funktional bewußt macht, die aber dann neu mit einer Kognitivierungsphase einsetzt und später nicht integrierte Sprachleistungen einfordert“ (ebd.: X). Eine dritte Ausrichtung des funktionalen g rammatikunter richts stammt von Hoffmann. Er strebt einen Grammatikunterricht an, der im Dienste des Lesen- und Schreibenlernens und der Hinführung zum kompetenten Sprachgebrauch steht. Ausgehend von der Annahme, dass „Grammatik […] nützlich für das Schreiben und Formulieren, für die Textarbeit, die Behandlung mündlicher Kommunikation und erste Einsichten in den Bau von Sprachen“ (2006: 44) sei, formuliert er folgende Zielsetzung: „Sprachunterricht zielt auf Handlung und Erkenntnis im Anschluss an das Wissen der Sprechteilhaber und im Blick auf ihre künftige Praxis (Formulieren, Darstellen, Probleme bearbeiten, Schreiben)“ (2005: 24). Nicht künstliche Sprachbeispiele, sondern die ‚wirkliche‘ Sprache soll Gegenstand seines Ansatzes sein. In den Mittelpunkt stellt er - als Gegensatz zu isolierten Wörtern-- die Einheit Wortgruppe als das, „was eine Handlungsfunktion hat“ (ebd.: 12). <?page no="252"?> 252 Sprache und Sprachgebrauch untersuchen und reflektieren Theoretische Grundlage für Hoffmanns konzeptionelle Ausführungen sind Prozeduren (kleinste Funktionseinheiten zweckhaften Handelns), die in Feldern (Zeigfeld, Symbol-/ Nennfeld, Operationsfeld, Lenkfeld, Malfeld) organisiert sind - Einheiten, die in der traditionellen Schulgrammatik bisher keine Rolle spielten. Im Gegensatz zu Köller und Klotz berücksichtigt Hoffmann immer wieder auch den Aspekt der Mehrsprachigkeit: „Das Kriterium der Funktion ermöglicht auch einen sprachenvergleichenden Zweitsprachunterricht, den wir heute so dringend brauchen“ (2006: 44). Für die unterrichtliche Umsetzung funktionaler Überlegungen schlägt er sogenannte didaktische Pfade vor, die die Lehrperson mit den Schülern ‚beschreiten‘ kann. Diese Pfade sollen eine für die Lerner sinnvolle Auswahl sprachlicher Mittel bieten. Von einer bestimmten kommunikativen Einheit ausgehend, die dem Schüler zum Beispiel im Text oder Gespräch begegnet, wird der Weg zu anderen sprachlichen Mitteln beschritten, deren Funktionen analysiert werden (s. Abb. 12, S. 253). Dieser didaktische Pfad führt „ausgehend von den Eigennamen über Nominalgruppen und die sog. Pronomen (Zeigwörter, Fortführer) als Funktionsträger hin zu einzelnen Wortarten“ (http: / / home.edo.unidortmund.de/ ~hoffmann/ FunkGramm.html). Mit steigender Klassenstufe ist dementsprechend eine Abstrahierung des Lerngegenstandes verbunden. Wortarten werden nicht isoliert und unabhängig von ihrer Funktion behandelt, sondern in Wortgruppen und in Bezug auf ihre Funktion (Schüler lernen: Mit einer Wortgruppe aus Artikel und Nomen kann ich mich auf einen Gegenstand beziehen, wobei der bestimmte Artikel dem Hörer zeigt, dass ihm der Gegenstand im Wissen zugänglich ist). Wertvolle Hinweise und Beispiele für den Einsatz solcher Pfade finden sich in Hoffmann (2006). Artikel, Nomen und Adjektiv Eine Klasse beschäftigt sich mit der Einheit der Trainer (Pfeil 3). Ausgekoppelt wird nun der bestimmte Artikel (Pfeil 4), um dessen Funktion zu untersuchen. Nach Pfeil 7 zum Beispiel folgt eine Steigerung des vorangegangenen: Das Adjektiv stößt hinzu, dessen Funktion in Bezug auf das Nomen untersucht wird (Pfeil 8). Wenn ein Sprecher Schau, dort steht Martin äußert, vollzieht er mit dem Ausdruck dort eine deiktische Prozedur - er ‚zeigt‘, um den Hörer zu orientieren. Mit dem Ausdruck Martin vollzieht er eine nennende Prozedur. <?page no="253"?> Funktionaler Grammatikunterricht 253 Abb. 12: Beispiel für einen didaktischen Pfad (aus: http: / / home.edo.uni-dortmund.de/ ~hoffmann/ FunkGramm.html) <?page no="254"?> 254 Sprache und Sprachgebrauch untersuchen und reflektieren Das Grundprinzip seines Ansatzes erläutert Hoffmann folgendermaßen: Prinzip ist immer, von funktional eigenständigen Formen auszugehen und ihre Funktionsweise zu erklären. Erklärungen sollten weitgehend auf eigenen Entdeckungen, auf Experimenten, auf Spielen, auf Textarbeit und nicht zuletzt Gesprächsanalyse beruhen. Dann folgt das Ausgliedern der für den Aufbau der Einheit wichtigen Formen (z. B. wird aus der einfachen Nominalgruppe der Artikel ausgekoppelt und genauer in seiner Funktion betrachtet). Die Form wird dann genauer betrachtet, ihre Funktion in anderen Zusammenhängen aufgezeigt und durch Übungen gefestigt - insbesondere unter zweitsprachlichem Aspekt. (2006: 38) Zur Fokussierung auf die Funktion sprachlicher Zeichen führt er weiter aus: Das Prinzip ist also immer der Ansatz bei Funktionseinheiten, ein Lernen über die Funktion, dem die Formbetrachtung folgt. Sind Einheiten komplex, werden - nachdem die Funktionsweise verdeutlicht ist - die Elemente (Wortarten, funktionale Basiseinheiten) ausgekoppelt und für sich untersucht. (Ebd.) Hoffmann unterscheidet Lernprozesse auf drei Ebenen: mediales, kognitives und reflexives Lernen (2005: 2 ff.). Mediales Lernen - der Ausdruck medial bezieht sich hier auf die Sprache selbst -, finde durch sprachspielerisches Handeln in der Primarstufe statt - in Liedern, Reimen, rhythmischen Sprachspielen (Hoffmann 2006: 21). Kognitives Lernen, das metasprachlichen und metakognitiven Charakter aufweist, also auch begriffliches Lernen einschließt, verortet Hoffmann in die Sekundarstufe. Die letzte Ebene betrifft das reflexive Lernen, das als erkenntniserweiterndes Lernen definiert wird. Problematisierung Es dürfte unbestritten sein, dass die Einbettung einer funktionalen Sicht auf grammatische Phänomene in den Unterricht eine Voraussetzung dafür ist, kompetente Sprecher und Schreiber (resp. Hörer und Leser) auszubilden, die am Ende der Schulzeit Sprache willkürlich gebrauchen (Ossner 2006b: 18) und differenziert rezipieren können. Trotzdem stößt ein funktionaler g rammatikunterricht in der Praxis an seine Grenzen. Köller verweist selbst auf die Problematik seiner Konzeption. Nicht jedes grammatische Phänomen eigne sich für eine funktional orientierte Didaktisierung: „Unbestritten bleibt, daß nicht alle grammatischen Formen auf diese Weise im Unterricht behandelt werden können und daß viele über schlichte Einübungsformen gefestigt werden müssen“ (1997: 33). Ein weiterer Kritikpunkt ist, dass ein funktionaler g rammatikunterricht zu sehr an Einzelkontexten verhaftet und deshalb letztlich - entgegen seiner eigentlichen Intention-- zu unsystematisch bleibe (Bredel 2007: 237). Dazu kommt die starke Reflexions- <?page no="255"?> Funktionaler Grammatikunterricht 255 orientierung des Ansatzes, die die Gefahr mit sich bringt, an einem Großteil der Schüler ‚vorbeizugehen‘ und die Distanz zu grammatischen Phänomenen gar zu verstärken. Zur Köller’schen Konzeption stellen sich einige Fragen: Inwiefern hilft ein funktional ausgerichteter Grammatikunterricht Schülern, denen sprachliche (und nicht metasprachliche) Fähigkeiten fehlen, die also grundlegende grammatische Formen wie zum Beispiel die Präteritalformen nicht richtig bilden können? Wenn Köller schreibt, dass Schüler „ein vorbewußtes Wissen von den grammatischen Ordnungsformen ihrer Muttersprache haben“ (1997: 29) - beschränkt sich der funktionale g rammatikunterricht dann auf Muttersprachler? Falls ja: Was ist dann mit den Muttersprachlern, die dieses vorbewusste Wissen nicht haben? Antworten versuchen Klotz und Hoffmann zu geben, indem Klotz unter anderem das Konzept des Trainierens grammatischer Formen vorschlägt (es aber problematischerweise mit der behavioristischen Spracherwerbstheorie verknüpft) und Hoffmann durch die Berücksichtigung von L1- und L2- Schülern den rein muttersprachlichen Ansatz verlässt. Eine Konzeption, die Sprache als Material (wieder) stärker ins Zentrum unterrichtlicher Überlegungen rückt, folgt dem funktionalen g rammatikunterricht gut zwölf Jahre nach Köller mit der g ram matik -W erkstatt (→-6.10). Aufgaben 1. Konzipieren Sie einen das Verfremdungsprinzip berücksichtigenden Einstieg in eine Unterrichtseinheit zum Futur I. 2. Sehen Sie sich die Thematisierung von Adjektiven in zwei verschiedenen Lehr-Lern-Werken unter der Fragestellung an, ob und wie die Prinzipien des funktionalen g rammatikunterrichts berücksichtigt werden. Lektüreempfehlungen zur Vertiefung h offMann , L. (2006) (empfehlenswerter Übersichtsbeitrag; Hoffmann versucht an vielen grammatischen Beispielen - z. B. Wortgruppen - zu zeigen, wie funktionaLer g rammatikunterricht aussehen kann, und stellt seine didaktischen Pfade vor) h offMann , L. (2013) (eine umfassende funktionale Grammatik des Deutschen) g ornik , h. (2014a) (enthält neueste Beiträge von Hoffmann, Klotz und Köller über Vorstellungen eines funktional ausgerichteten Grammatikunterrichts) k Lotz , p. (1996) (Klotz untersucht in einer Studie, wie Grammatikunterricht nutzbar gemacht werden kann für die Förderung textproduktiver Kompetenzen von Schülern) k öLLer , W. (1983/ 1997) (das Ausgangswerk des funktionaLen g rammatikunter richts , in dem Köllers Prinzipien verständlich und ausführlich dargelegt werden) <?page no="256"?> 256 Sprache und Sprachgebrauch untersuchen und reflektieren Prinzipien Ziele 6.10 Grammatik-Werkstatt Einblick in den Bau der Sprache ist unser vorrangiges Ziel. (Menzel 1999: 16) Mit der g rammatik -W erkstatt liegt eine didaktische Konzeption von Grammatikunterricht vor, die 1995 von Eisenberg und Menzel begründet und unter anderem von Menzel (z. B. 1999) anhand von Unterrichtsbeispielen konkretisiert wurde. Im Zentrum steht die Idee des experimentierenden, eigenständig grammatische Kategorien aufstellenden Schülers, dessen „Material die Sprache“ (Eisenberg/ Menzel 1995: 14) ist. Das Eingangszitat zeigt: Die Form rückt dabei (wieder) in den Mittelpunkt grammatikdidaktischer Überlegungen. Darstellung Die g rammatik -W erkstatt wendet sich gegen bestehende Konzepte der Schulgrammatik, die als mangelhaft kritisiert werden: Unterricht geschehe deduktiv, beachte nicht hinreichend schülerseitige Sprachprobleme als didaktische Chance, vermittle Grammatik als etwas mit der Sprache Gegebenes anstatt von Menschen Gemachtes. Zudem werde grammatisches Wissen zu früh vermittelt und spiele dagegen in höheren Schulstufen keine Rolle mehr (Menzel 1999: 10). Die g rammatik -W erkstatt ist nach vier Aspekten ausgerichtet, die eine Schulgrammatik laut Eisenberg/ Menzel berücksichtigen muss: - systematisch: „Sie muss den Lernenden Einsichten in den Bau der Sprache vermitteln“ (Menzel 1999: 9). - induktiv: Mit Hilfe geeigneter Methoden wird für die Schüler erfahrbar, wie man zu grammatischen Kategorien gelangt (ebd.). - funktional: Die „semantischen, textuellen und kommunikativen Funktionen“ (ebd.) der zu ermittelnden Kategorien müssen einsichtig werden. - integrativ: Sie funktioniert „im ständigen Wechselspiel von Arbeit an Strukturen und an Inhalten oder Sprachsituationen“ (ebd.). Teil des konzeptionellen Fundaments ist das genetische Prinzip, das bereits in Köllers funktionalem grammatikunter richt (→- 6.9) eine tragende Rolle spielt und durch dessen Verwirklichung die Lernenden an der Aufstellung grammatischer Kategorien beteiligt werden sollen. Ziele sind, dass die Schüler mit den Methoden von Sprachwissenschaftlern arbeiten und dabei erfahren, wie man zu einer Grammatik Ein sinnvolles Instrument zur Analyse syntaktischer Strukturen, das die formale Arbeit mit funktionalen Aspekten verbindet, ist das topologische Satzmodell, nach dem Sätze des Deutschen in Felder eingeteilt werden. Für einen Über- und Einblick siehe Wöllstein (2015). <?page no="257"?> Grammatik-Werkstatt 257 methodische Orientierung kommt und dass es nicht nur eine gibt, sondern Kategorisierungen von der jeweiligen Perspektive abhängig sind. Begründet wird das induktive Vorgehen lernpsychologisch, pädagogisch und erkenntnistheoretisch (Eisenberg/ Menzel 1995: 17): Was eigeninitiativ ermittelt werde, bleibe eher im Gedächtnis haften als Vermitteltes. Das Gelernte solle selbständig überprüft werden und der Weg des Lernens dem entsprechen, wie Menschen zu diesem Wissen gelangt seien. Kategorien wie zum Beispiel Wortarten und Satzglieder, Begriffe wie Subjekt oder Objekt sollten demzufolge nicht lehrerseitig vorgesetzt, sondern von den Schülern eigenständig aufgestellt werden. Durch dieses prozessorientierte Vorgehen sollen die Schüler Einsichten in den Aufbau und die Funktion von Sprache erhalten. Somit wird Grammatikunterricht weniger als bei funktional orientierten Konzeptionen in den Dienst übergeordneter Kompetenzen gestellt, sondern ihm wird ein eigener Bildungswert zugesprochen. Methodisch orientieren sich die Autoren an grammatischen Operationen „als Verfahren zur systematischen Veränderung von sprachlichen Einheiten“ (ebd.: 18), zu denen auch die Glinz’schen Proben (→- 6.6) gehören, mit deren Hilfe die Schüler systematisch kleine Einheiten entdecken und reflektieren sollen. Damit arbeiten sie wie Sprachwissenschaftler: „Beobachten, Beschreiben, Vergleichen, Zusammenfassen, Kategorisieren“ (Menzel 1999: 14). Adjektive: mögliche Kriterien Am Beispiel der Kategorie Adjektiv zeigen die Autoren, wie unterschiedlich das „Ergebnis von Systematisierungsbemühungen“ (ebd.: 13) je nach „Experimentierregeln“ (ebd.) ausfallen kann: „Bei den einen passen Wörter wie quitt und futsch hinein, bei den anderen nicht“ (ebd.). Kategorisiert man Adjektive nach attributivem Gebrauch, so passen sie nicht hinein ( * der futsche Ball). Prädikativ jedoch lassen sie sich verwenden: Der Ball ist futsch. Hierdurch rücken die Beispiele in einen peripheren Bereich, der Anlass dafür geben kann, Kategorisierungen zu problematisieren. Weitere praktische Beispiele von Menzel (1999) reichen von einfachen Vokalveränderungsaufgaben in Sprachspielen für die Grundschule, durch die die Schüler erfahren sollen, dass sich durch Lautänderungen auch die Bedeutung ändert (aus Hosen wird Hasen, aus Popo wird Papa), bis hin zu komplexen Aufgaben für die Sekundarstufe II. Die Autoren weisen darauf hin, dass die g rammatik -W erkstatt nicht der Einübung, sondern der Aufstellung grammatischer Kategorien diene, und steuern damit gleichsam einer methodischen Fehlinterpretation des Konzepts gegen, die die g rammatik -W erkstatt gleichsetzt mit handlungsorientierter Stationenarbeit, wie das in der Praxis häufig zu erleben ist. <?page no="258"?> 258 Sprache und Sprachgebrauch untersuchen und reflektieren Problematisierung Die Kritik an der g rammatik -W erkstatt reicht vom Vorwurf der „Hemdsärmeligkeit“ (Ossner 2000: 233) bis hin zu komplexen sprachwissenschaftlichen und -philosophischen Ausführungen (z. B. Switalla 2000). Eine kritische Debatte, die auch eine Stellungnahme von Menzel selbst einschließt, lässt sich nachlesen in Balhorn et al. (2000). Vor allem die methodische Ausrichtung, die Grenzen operationalen Vorgehens und die Zielsetzungen stehen im Mittelpunkt kritischer Anmerkungen. Die schärfste Kritik an der g rammatik -W erkstatt wurde von Ingendahl geübt. Als „Realsatire“ (1999: 8) bezeichnet er die Ausführungen Eisenbergs und Menzels und formuliert neben anderen auch den folgenden Kritikpunkt: „Alle grammatischen Methoden setzen die Kenntnis des Zu-Findenden bereits voraus“ (ebd.) - sollten die Schüler also zum Beispiel Adjektive mit Hilfe grammatischer Methoden operational untersuchen und kategorisieren, so impliziere das bereits das Bestehen der Kategorie Adjektiv. Das prädikative, attributive und adverbiale „Vorkommen des Adjektivs“ (ebd.: 7) werde dabei vorgegeben. Menzel selbst relativiert die Methode des Entdeckens dahingehend, dass die Leistung der Schüler „natürlich immer ein Entdecken mit Hilfen“ (2000: 245) sei. Ein Punkt, der von Eisenberg/ Menzel ebenfalls diskutiert wird, ist das Verhältnis grammatischen Könnens und Wissens (→- S.- 213). Wissen, so die Autoren, gewinne erst in metasprachlichen Kontexten an Bedeutung. Ossner kritisiert in diesem Zusammenhang, dass die g rammatik -W erkstatt „nicht Sprachmeister […], sondern bestenfalls Schüler, die klug über sprachliche Verfahren reden können“ (2000: 233), hervorbringe. Voraussetzung für den Einsatz der g rammatik - W erkstatt sei also die Kenntnis „der Grammatik, die wir immer schon anwenden“ (Eisenberg/ Menzel 1995: 17). Die operationalen Verfahren forcieren die Problematik, dass der kompetente Sprachteilnehmer vorausgesetzt und Lernbedingungen vor allem von Schülern mit Deutsch als Zweitsprache nicht berücksichtigt werden. Wenn sprachpraktische Fähigkeiten von Anfang an erforderlich sind, so stellt sich die (von Eisenberg und Menzel nicht beantwortete) Frage, was und vor allem wie Grammatikunterricht sein kann und muss, wenn diese Fähigkeiten nicht vorhanden sind. Aufgaben 1. Inwieweit erkennen Sie im folgenden Zitat von Menzel die Prinzipien der g rammatik -W erkstatt wieder? All die tausend Wörter in eine Schublade mit nur einer Aufschrift zu bringen ist oftmals schwierig, denn die Wörter richten sich nicht nach Schubladenaufschriften. Da kann es schon einmal passieren, dass ein neues Wort oder <?page no="259"?> Kontrastiver Sprachunterricht 259 Vielsprachigkeitsdidaktik ein Fremdwort oder auch ein ganz gebräuchliches oder eines, das vorkommt [wie die zune Tür], das aber eigentlich [noch] nicht erlaubt ist, nicht so recht hier oder da hineinpassen will oder sich zwischen den Fächern zweier Schubladen verklemmt. (1999: 13) 2. Welche Prinzipien eines funktional ausgerichteten g ramma tikunterrichts (→- 6.9) finden Sie in der g rammatik -W erk statt wieder? Worin unterscheiden sich die beiden Konzeptionen grundlegend? Lektüreempfehlungen zur Vertiefung B aLhorn , h. et aL . (Hg.) (2000) (enthält die wohl interessanteste Debatte zur g ram matik -W erkstatt mit Beiträgen von Menzel, Switalla, Ossner und Klotz) B reMerich -V oS , a. (2003) (kritischer und praxisnaher Artikel) e iSenBerg , p./ M enzeL , W. (1995) (leicht verständlicher, einführender Basisartikel) i ngendahL , W. (1999) (ein polemischer Rundumschlag gegen die g rammatik -W erk statt , stellt dieser ein reflexionsorientiertes Vorgehen gegenüber) M enzeL , W. (1999) (viele praktische Beispiele für die Primar- und Sekundarstufe; enthält die Ausführungen des Artikels von 1995 in leicht modifizierter Form) 6.11 Kontrastiver Sprachunterricht Nach einer Phase der Sensibilisierung für andere Sprachen wird es möglich, gemeinsam die Sprachen der Welt zu erkunden und daran viel über die Sprachlichkeit der Menschen und die Vielfalt der Möglichkeiten sprachlicher Zeichen und ihres Gebrauchs zu lernen. Sprachliche Systeme, Routinen, Rituale und Textformen sind Teil der Kultur. Andere Sichtweisen zu berücksichtigen und sich auf sie einzulassen macht das Lernen interkulturell, für Schülerinnen und Schüler, Lehrerinnen und Lehrer. (Oomen-Welke 2002: 1) Der kontrastive s prachunterricht geht von dem Gedanken aus, dass durch strukturelle Einblicke in eine Sprache Strukturanalyseprozesse in Bezug auf andere Sprachen erleichtert werden können - indem Schüler Sprachen miteinander vergleichen. Darstellung Eine kontrastive Sprachdidaktik versteht sich ausdrücklich als Vielsprachigkeitsdidaktik, die sich „an alle Lernenden wendet“ (Oomen-Welke 2010: 480) und nicht auf DaZ-spezifische Zielsetzungen begrenzt werden kann. Das Hauptanliegen ist, gerade eine derartige Beschränkung aufzuheben, Grenzen zu überwinden und jedem einzelnen Lernenden in seiner Individualität und seiner eigenen Mehrsprachigkeit gerecht zu werden. Die basale Idee Für einen didaktisch orientierten Überblick zum Thema Deutsch als Zweit- und Fremdsprache empfehlen wir Jeuk (2013) und Rösch (2011). <?page no="260"?> 260 Sprache und Sprachgebrauch untersuchen und reflektieren Sprachbewusstheit des ‚mehrsprachigen Klassenzimmers‘ besteht darin, dass die Mehrsprachigkeit nicht als Defizit wahrgenommen, sondern als didaktische Chance genutzt wird. Es geht um die „Vermittlung von Mehrperspektivität und [die] Anleitung zum Perspektivenwechsel“ (Luchtenberg 2000: 245). Die Methode des kontrastiven Arbeitens wird als Mittel zur sprachlichen Bewusstmachung und als Motor für metasprachliche Reflexionsprozesse verstanden. Sie bezieht sich in erster Linie auf den Vergleich zwischen der zu erlernenden Zielsprache und der Muttersprache, jedoch können immer auch alle weiteren Sprachen - und auch Varietäten wie Dialekt, Jugendsprache etc., die den Schüler/ innen bekannt sind - einbezogen werden (ebd.: 112). Die Konzeption reicht weit über einen eng gefassten Bereich Grammatik hinaus und umfasst „die Berücksichtigung von Sprache und sprachlicher Vielfalt in allen Fächern und im Schulalltag“ (ebd.: 110). Teil des kontrastiven s prachunterrichts ist auch die Wortschatzarbeit. Hierfür liegt das Konzept der interkulturellen Wortschatzarbeit vor, das vor allem im DaF-Bereich bedeutend ist und von Luchtenberg charakterisiert wird „als Wortschatzarbeit im fremdsprachlichen Unterricht, die fremdkulturelle Erfahrungen ermöglich will, indem die kulturspezifische Bedeutung von Wörtern in der Zielsprachengesellschaft vermittelt wird“ (ebd.: 226). Ziel der interkulturellen Wortschatzarbeit ist das „Aufdecken sprachkultureller Inhalte und Verschiedenheiten, was vor allem durch Bewusstmachungsprozesse geschieht“ (ebd.: 227). Methoden sind der Vergleich verschiedener Sprachen oder Varietäten und der Perspektivenwechsel als Teil einer Language-Awareness-Mehrperspektivität (ebd.: 242 ff.). Einen wesentlichen Raum nimmt die moderne Landeskunde ein. Beispielsweise könnten Lerner den Unterschied des deutschen Ausdrucks Küche zum italienischen cucina verstehen, indem sie eine Vorstellung der jeweiligen Lebenswelten aufbauten (ebd.: 227). Der kontrastive s prachunterricht hängt eng zusammen mit dem Begriff der Sprachbewusstheit, die Andresen/ Funke als „Bereitschaft und Fähigkeit […], sich aus der mit dem Sprachgebrauch in der Regel verbundenen inhaltlichen Sichtweise zu lösen und die Aufmerksamkeit auf sprachliche Erscheinungen als solche zu richten“ (2006: 439), definieren. Die Fähigkeit zur bewussten Wahrnehmung sprachlicher Strukturen wiederum ist ein zentraler Teil des sogenannten Language-Awareness-Konzepts (LA), in das sprachdidaktische Ansätze eingeordnet werden können, die kontrastiv arbeiten. LA wird von Donmall als „a person’s sensitivity to and conscious awareness of the nature of language and its role in human life“ (1985: 7) definiert. Sowohl Argumentationslinien als auch konkrete Arbeitsmaterialien zeigen wiederum die Nähe des LA-Konzepts zu einem umfassenden <?page no="261"?> Kontrastiver Sprachunterricht 261 Ansatz des interkulturellen Lernens (siehe auch Luchtenberg 2010). Man erhofft sich vom LA-Konzept positive Effekte nicht nur in kognitiver, sondern auch in affektiver und sozialer Hinsicht (James/ Garrett 1992): Metasprachliche Kommunikation meint hier nicht [nur] die Beherrschung von grammatischer Terminologie oder Sprechen über Grammatik, sondern die sehr viel breiter verstandene Fähigkeit zum Sprechen über sprachliche Phänomene mit holistischem Verständnis durch kognitive, emotionale und soziale Zielsetzungen. (Luchtenberg 2010: 110) Weiter führt Luchtenberg aus: „Nachdenken über Grammatik ist also im Allgemeinen in LA-Konzeptionen Teil weitreichender Sprachreflexion, vor allem in Bereichen wie Wortschatz, Kommunikation, Medien und Texte“ (ebd.: 112). Die Zentralisierung sprachreflexiver (und zum Teil auch sprachkritischer) Prozesse teilt der kontrastive s prachunterricht mit dem situationsorientierten g rammatikunterricht (→-6.7). Es geht darüber hinaus aber auch um die Ermöglichung von „Einsichten in den Sprachbau und seine Möglichkeiten“ (Oomen-Welke et al. 1998: 157) und um eine dementsprechend förderliche Bereitstellung systematischen und strukturorientierten Lernmaterials. Eng verbunden mit dem Stichwort Sprachenvergleich ist das der Sprachenvielfalt, das zum Beispiel von Schader (2000) und Peyer/ Schader (2006) mit konkreten methodischen Vorschlägen zur Umsetzung behandelt wird. Oomen-Welke betont für die Einbeziehung der Sprachenvielfalt soziologische Argumente: In den Klassen finden sich Kinder mit vielerlei Herkunft und Sprachen […]; konstruktivistische Argumente: Die Lernenden sind different und konstruieren ihre Weltwahrnehmung verschieden; motivationale Argumente: Das Eingehen auf die Präkonzepte der Lernenden bewirkt, dass diese sich als Adressaten des Unterrichts fühlen und er für sie bedeutsam ist, und, wie gezeigt wird, methodische Argumente, weil sich künstliche Methodensettings weitgehend erübrigen. (2010: 481) Unter Rückgriff auf Haueis‘ einschlägiges Werk Grammatik entdecken (1981) entwirft Oomen-Welke Vorschläge für einen vielsprachigkeitsdidaktischen kontrastiven Ansatz, der eine entdeckende Auseinandersetzung mit Sprache in den Mittelpunkt stellt und sich gleichermaßen als kommunikativ, systematisch und operational ausgerichtet versteht. Die Schüler sollen durch Sprachvergleiche Reflexionsprozesse erfahren und sich in ihren „unterschiedlichen Sichten auf Sprache und Welt“ (2010: 480) ernst genommen fühlen können. Differenz werde zur „Grundbedingung (sprachlichen) Lernens“ (ebd.: 481). <?page no="262"?> 262 Sprache und Sprachgebrauch untersuchen und reflektieren Das Konzept basiert auf folgenden Teilschritten: - andere Sprachen zulassen - Sprachaufmerksamkeit erkennen - Vorschläge der Kinder aufgreifen - andere Sprachen herbeiholen - Texte im Vergleich - Sprachsysteme im Vergleich - Alltagsroutinen im Vergleich - Philosophisches von und mit Kindern Oomen-Welke bezieht sich hauptsächlich auf eine Kompetenzebene, auf der nicht nur nach den Sprachmitteln als solchen in ihrer Systematik gefragt wird, sondern nach der Entstehung, Geschichte und Verschiedenheit von Sprachen bzw. von Literatur, nach dem Vergleich zwischen Sprachen und den damit einhergehenden Wertvorstellungen und Normen sowie nach der Sprachlichkeit des Menschen im Allgemeinen. (2010: 480) Lernende werden als Sprachexperten angesehen, womit Oomen-Welke auf einer weiteren Ebene explizit eine Brücke zum situations orientierten g rammatikunterricht (→- 6.7) und zum entdeckenden Lernen (Oomen-Welke 2006: 458) schlägt. Das Lernmaterial solle „problemorientiert und offen für die Beiträge der Lernenden für ihre Sprachen“ (Oomen-Welke 2010: 487) sein und bei allen Schülern zum Erwerb von Sprachwissen und Sprachbewusstheit (ebd.: 488) führen. Eine spezielle Form des kontrastiven s prachunterrichts ist ein sprachintegrativer Ansatz (Gnutzmann/ Köpcke 1988; Rothstein 2010), „der den muttersprachlichen mit dem fremdsprachlichen Grammatikunterricht verknüpft“ (Rothstein 2013a: 14). Lernziele in Bezug auf beide Sprachen seien dabei (siehe im Folgenden ebd.: 16): - Einsichten in den Bau und die Funktion der Sprachen zu erhalten, - die Verbesserung der Sprachhandlungsfähigkeiten durch Reflexion, - das Erkennen von Gemeinsamkeiten und Unterschieden der Sprachen, - explizites grammatisches Wissen von einer auf die andere Sprache übertragen zu können und - über Sprachen und sprachliche Phänomene besser sprechen zu können (metasprachliche Kommentierungskompetenz). Entscheidend für sprachintegrative Handlungsprozesse sei, dass einzelsprachliche Inhalte behandelt würden, zwischen denen eine ersichtliche Verbindung bestehe. Dabei nehme das Zusammenspiel aus Form <?page no="263"?> Kontrastiver Sprachunterricht 263 Bezug zur Herkunftssprache und Funktion eine zentrale Position ein. Rothstein unterscheidet vier Möglichkeiten (ebd.): - ähnliche Formen der beiden Sprachen bei identischen Funktionen (z. B.: im Begriff sein etwas zu tun vs. être sur le point de faire qc) - relativ ähnliche Formen, aber grundverschiedene Funktionen (z. B.: englisches present perfect vs. deutsches Perfekt) - identische Funktion, aber verschiedene Form (z. B.: conditionnel vs. Konjunktiv II) - Form und Funktion verschieden Es ist von Rothstein intendiert, den sprachintegrativen Grammatikunterricht in das klassische kontrastive Vorgehen einzubinden, indem nach dem Vergleich von deutschen und fremdsprachlichen Phänomenen ein Bezug zur Herkunftssprache hergestellt wird (ebd.: 24). Auch Belke schlägt im Rahmen ihres integrativen Sprachunterrichts (→-6.8) die Integration der Herkunftssprachen in den Sprachunterricht vor. Problematisierung Im kontrastiven s prachunterricht werden Prinzipien, die sich in den oben dargestellten muttersprachlichen Konzeptionen zum Teil konkurrierend gegenüberstanden, vereint: ein systematisches und situatives Vorgehen sowie eine gleichzeitig formale und funktionale Perspektivierung von Sprache. Diese Verbindungen bergen neben allen Vorteilen aber auch die Gefahr, dass einzelne Fragestellungen und Fokussierungen zu kurz kommen. Um seine Bedeutung zu untermauern, fehlt dem kontrastiven s prachunterricht - wie den meisten deutschdidaktischen Konzeptionen - auch noch eine umfassende empirische Grundlage (Krafft 2014: 194). Durch seine Einbindung in eine interkulturelle sprachdidaktische Ausrichtung läuft er Gefahr, grammatisches Arbeiten im engeren, morphologisch-syntaktischen Sinne zu vernachlässigen (ebd.: 192). Er ist zum Teil stark reflexiv und sprachphilosophisch angelegt und kann dadurch für manche Schüler eine Überforderung darstellen. Das ausgeprägte Sprachbewusstsein mehrsprachiger Lerner, das von manchen Vertretern der Konzeption explizit hervorgehoben wird (z. B. Jeuk 2007: 64), kann nicht in dieser Selbstverständlichkeit vorausgesetzt werden: Die Entwicklung von Sprachbewusstsein scheint neben externen Faktoren (z. B. einem mehrfachen Spracherwerb) auch ganz wesentlich von der Entwicklung sprachlicher Fähigkeiten abhängig zu sein (Krafft 2013). Deren Förderung wird allerdings ebenso wie das implizite Arbeiten an sprachlichen Strukturen in den einzelnen Ausrichtungen zum Teil vernachlässigt. <?page no="264"?> 264 Sprache und Sprachgebrauch untersuchen und reflektieren Zudem stellt der kontrastive s prachunterricht eine große Herausforderung für Lehrende dar, die sich schnell überfordert fühlen können, die kontrastive Arbeit fachlich, didaktisch und methodisch sinnvoll umzusetzen, ohne Sprachenvielfalt zu einem unsystematischen ‚Durcheinander‘ und damit zu einer schülerseitigen Überforderung werden zu lassen. Hinweise zu den Besonderheiten verschiedener ‚Migrantensprachen‘, die allerdings noch didaktisch aufbereitet werden müssen, finden sich in übersichtlicher Form in Colombo-Scheffold et al. (2010). Es wird zukünftig darum gehen müssen, die Bedeutung kontrastiven Vorgehens im Unterricht theoretisch, empirisch, aber auch methodisch zu unterstreichen beziehungsweise zu konkretisieren. In unserer pluralistischen Gesellschaft, in der die EU für die Zukunft die Beherrschung mindestens dreier Sprachen fordert (Oomen-Welke 2010: 479), darf didaktisch begleitete Mehrsprachigkeit aus den Klassenzimmern nicht mehr ‚weggedacht‘ werden. Zudem muss das Phänomen Sprachenvielfalt auch in Bezug auf das Konzept Inklusion didaktisch erarbeitet werden. Eine inklusiv orientierte Didaktik umfasst Mehrsprachigkeit sowohl in Bezug auf verschiedene Zeichensysteme (beispielsweise Gebärdensprache) als auch in Bezug auf die Sprache eines jeden Individuums (Hochstadt i. V.). Aufgaben 1. Sehen Sie in dem für Ihr Bundesland gültigen Lehrbeziehungsweise Bildungsplan der Primarstufe nach: Welche Hinweise finden Sie auf kontrastives Arbeiten? 2. Vergleichen Sie die Personalformen eines Verbs (im Präsens) im Deutschen und Italienischen (oder Türkischen). Welche Gemeinsamkeiten und Unterschiede stellen Sie fest? Wie ließe sich das Beobachtete für die Erarbeitung der Wortart Verb in der Grundschule nutzbar machen? Berücksichtigen Sie dabei die Bedürfnisse ein- und mehrsprachiger Lerner. Lektüreempfehlungen zur Vertiefung L uchtenBerg , S.-(2010) (das Konzept Language Awareness wird verständlich erläutert) o oMen -W eLke , i. (2010) (gibt einen übersichtlichen, kompakten und aktuellen Einblick in die Konzeption der Vielsprachigkeitsdidaktik) r othStein , B. (2013a) (enthält eine Zusammenfassung der wichtigsten Ausführungen zum sprachintegrativen Grammatikunterricht) r othStein , B. (2013b) (der Sammelband bietet verschiedene und sehr interessante Beiträge zu Theorie und Praxis eines sprachvergleichenden Unterrichts) <?page no="265"?> Kontrastiver Sprachunterricht 265 Tipps für den Unterricht im Kompetenzbereich Sprache und Sprachgebrauch untersuchen und reflektieren Wortschatzarbeit - Führen Sie Wortschatzarbeit kontinuierlich durch und gestalten Sie die Begegnung mit Wörtern kontextualisiert. Bieten Sie Ihren Schülern Möglichkeiten, ‚neue‘ Wörter durch syntagmatische (z. B. Flanke - präzise) und paradigmatische (z. B. Flanke - Schuss) Beziehungen zu vernetzen. - Stellen Sie - auch aus literarästhetischen Gründen - keine unhinterfragten lexikalischen ‚Regeln‘ für gute Texte auf. Ein Schülertext gewinnt nicht an Qualität, wenn ein Kind an der Textoberfläche einzelne Ausdrücke ersetzt, ohne kontextuelles Wissen darüber zu haben. - Achten Sie - gerade im Hinblick auf Lerner mit Deutsch als Zweitsprache - darauf, dass ihre Wortschatzarbeit auf dem Prinzip der Wiederholung aufbaut. - Fokussieren Sie auf bildungssprachliche Ausdrücke und auf Wörter und Wendungen, die nicht klassischerweise als ‚korpustypisch‘ eingeordnet würden. Grammatikdidaktik - Planen Sie Ihren Grammatikunterricht langfristig und führen Sie ihn systematisch durch. - Wenn Sie eine grammatikalische Unterrichtseinheit planen, fragen Sie sich, was genau Sie mit der Behandlung eines grammatischen Phänomens beabsichtigen. - Lösen Sie sich von der lateinischen Schulgrammatik und wagen Sie einen ‚modernen‘ Blick auf sprachliche Phänomene. - Begreifen Sie formale und funktionale Aspekte als sich ergänzend und zusammenhängend. - Beachten Sie, dass explizit Gelerntes nicht unmittelbar mit impliziten Fähigkeiten zusammenhängt. - Verfremden Sie Sprache, stiften Sie Zweifel und finden Sie Wege der Bewusstmachung und Irritation. <?page no="266"?> Schluss Vielleicht mag sich der Leser nun fragen, wie ihn die Beschäftigung mit den einzelnen Herangehensweisen, deren Anordnung - darauf möchten wir noch einmal hinweisen - keine ‚naturgegebene‘, sondern eine von uns interpretativ vorgenommene ist, in der Auseinandersetzung mit grundsätzlichen deutschdidaktischen Fragen und in der konkreten Unterrichtsplanung unterstützen kann. Die Antwort auf diese Frage müssen wir letztlich offen halten: Es kann für Lernprozesse kein Patentrezept geliefert werden. Das Hauptziel eines jeden Lehrenden sollte sein, eine theoretisch fundierte, reflektierte Haltung gegenüber Unterricht, Unterrichtszielen und -gegenständen zu entwickeln, die schließlich auch in seiner konkreten Unterrichtsumsetzung sichtbar wird. Die einzelnen Konzeptionen/ Ansätze/ Verfahren - ineinander spielend, sich ergänzend und sich widersprechend - sollen didaktische Bezugspunkte bieten, um diese Haltung zu fundieren und um ihr stets selbst auch kritisch gegenüberstehen zu können. Wir erfahren immer wieder, dass Lehrende so unterrichten, wie sie es selbst - als Schüler, Praktikanten oder Referendare - erlebt und/ oder beobachtet haben, ohne die initiierten Unterrichtsprozesse zu hinterfragen. Die Beschäftigung mit verschiedenen konzeptionellen Richtungen soll einen Reflexionsanstoß für dieses Hinterfragen bieten. Wir schließen mit einem Auszug aus einem Interview, das die österreichische Journalistin Krista Fleischmann 1986 mit dem Schriftsteller Thomas Bernhard geführt hat: Fleischmann Sie haben einmal geschrieben: „Jeder Satz, den man denkt, den man spricht oder den man aufschreibt, ist zur gleichen Zeit wahr, aber auch nicht wahr.“ Bernhard Das ist ja bei allen, das ist alles die Kehrseite. Da haben Sie ein schönes Gemälde, dann drehen Sie es um, ist hinten ein Fliegenschiß drauf, oder es hat jemand eine Banknote versteckt - oder ganz was anderes.“ <?page no="267"?> 7. Anhang 7.1 Fachdidaktische Grundlagenliteratur Die folgende Zusammenstellung grundlegender fachdidaktischer Literatur empfehlen wir als notwendige Grundlage für die Auseinandersetzung mit fachdidaktischen und methodischen Fragen. a BrahaM , u./ B eiSBart , o./ k oSS , g./ M arenBach , d. ( 6 2009): Praxis des Deutschunterrichts. Arbeitsfelder - Tätigkeiten - Methoden. Donauwörth. a BrahaM , u./ k epSer , M. ( 3 2009): Literaturdidaktik Deutsch. Eine Einführung. Berlin. a BrahaM , u./ k nopf , J. (Hg.) (2013): Deutsch. Didaktik für die Grundschule. Berlin. B eSte , g. (Hg.) ( 4 2011) : Deutsch-Methodik. Handbuch für die Sekundarstufe I und II. Berlin. B eiSBart , o./ M arenBach , d. ( 4 2010): Bausteine der Deutschdidaktik. Ein Studienbuch. Donauwörth. B ogdaL , k.-M./ k orte , h. (Hg.) (2002): Grundzüge der Literaturdidaktik. München. B redeL , u./ g ünther , h./ k Lotz , p./ o SSner , J./ S ieBert -o tt , g. (Hg.) (2003): Didaktik der deutschen Sprache. Ein Handbuch. 2 Bände. Paderborn. B udde , M./ r iegLer , S./ W iprächtiger -g eppert , M. ( 2 2012): Sprachdidaktik. Berlin. f rederking , V./ h uneke , h.-W./ k roMMer , a./ M eier , c. (Hg.) ( 2 2013): Taschenbuch des Deutschunterrichts. Band 1: Sprach- und Mediendidaktik. Band 2: Literatur- und Mediendidaktik. Band 3: Aktuelle Fragen der Deutschdidaktik. Baltmannsweiler. f rederking , V./ k roMMer , a./ M aiWaLd , k. ( 2 2012): Mediendidaktik Deutsch. Eine Einführung. Berlin. g aiLBerger , S./ W ietzke , f. (Hg.) (2013): Handbuch kompetenzorientierter Deutschunterricht. Weinheim. g oer , c./ k öLLer , k. (Hg.) (2014): Fachdidaktik Deutsch. Grundzüge der Sprach- und Literaturdidaktik. Paderborn. k äMper - Van den B oogaart , M. (Hg.) ( 2 2005): Deutsch-Didaktik. Leitfaden für die Sekundarstufe I und II. Berlin. k LieWer , h.-J./ p ohL , i. (Hg.) ( 2 2012): Lexikon Deutschdidaktik. 2 Bände. Baltmannsweiler. k öhnen , r. (Hg.) (2011): Einführung in die Deutschdidaktik. Stuttgart. L ange , g./ W einhoLd , S. (Hg.) ( 5 2012): Grundlagen der Deutschdidaktik. Sprachdidaktik - Mediendidaktik - Literaturdidaktik. Baltmannsweiler. L euBner , M./ S aupe , a./ r ichter , M. ( 2 2012): Literaturdidaktik. Berlin. M üLLer -M ichaeLS , h. (2009): Grundkurs Lehramt Deutsch. Stuttgart. <?page no="268"?> 268 Anhang n euLand , e./ p eScheL , c. (2013): Einführung in die Sprachdidaktik. Stuttgart. o SSner , J. ( 2 2008): Sprachdidaktik Deutsch. Eine Einführung. Paderborn. p aefgen , e. k. ( 2 2008): Einführung in die Literaturdidaktik. Stuttgart. S teinig , W./ h uneke , h.-W. ( 4 2011): Sprachdidaktik Deutsch. Eine Einführung. Berlin. u Lrich , W. (Hg.): Deutschunterricht in Theorie und Praxis (DTP). Handbuch zur Didaktik der deutschen Sprache und Literatur in elf Bänden. - Band 1: Deutsche Sprache in Kindergarten und Vorschule. Hg. v. Günther, H./ Bindel, R. (2012). - Band 2: Schriftsprach- und Orthographieerwerb: Erstlesen, Erstschreiben. Hg. v. Röber, C./ Olfert, H. (2015). - Band 3: Mündliche Kommunikation und Gesprächsdidaktik. Hg. v. Becker- Mrotzek, M. ( 2 2012). - Band 4: Schriftlicher Sprachgebrauch/ Texte verfassen. Hg. v. Feilke, H./ Pohl, T. (2014). - Band 5: Weiterführender Orthographieerwerb. Hg. v. Bredel, U./ Reißig, T. (2011). - Band 6: Sprachreflexion und Grammatikunterricht. Hg. v. Gornik, H. (2014). - Band 7: Wortschatzarbeit. Hg. v. Pohl, I./ Ulrich, W. (2011). - Band 8: Digitale Medien im Deutschunterricht. Hg. v. Frederking, V./ Möbius, T./ Krommer, A. (2014). - Band 9: Deutsch als Zweitsprache. Hg. v. Ahrenholz, B./ Oomen-Welke, I. (2010). - Band 10: Deutsch als Fremdsprache. Hg. v. Ahrenholz, B./ Oomen-Welke, I. (2013). - Band 11: Lese- und Literaturunterricht, Bände 1-3. Hg. v. Spinner, K. H./ Kämper-van den Boogaart, M. (2010). W iLdeMann , a./ V ach , k. (2013): Deutsch unterrichten in der Grundschule. Kompetenzen fördern, Lernumgebungen gestalten. Velber. 7.2 Zitierte Literatur a BrahaM , u. (2002): Lesen - Schreiben - Vorlesen/ Vortragen. In: Bogdal, K.-M./ Korte, H. (Hg.). 105-119. a BrahaM , u. (2005): Mehr als nur „Theater mit Videos“. Theatralität in einem medienintegrativen Deutschunterricht und szenische Verfahren im Umgang mit Film und Fernsehen. In: Frederking, V. (Hg.): Filmdidaktik und Filmästhetik. Jahrbuch Medien im Deutschunterricht. München. 130-144. a BrahaM , u. (2008): Sprechen als reflexive Praxis. Mündlicher Sprachgebrauch in einem kompetenzorientierten Deutschunterricht. Freiburg im Breisgau. <?page no="269"?> Zitierte Literatur 269 a BrahaM , u. (2009): Filme im Deutschunterricht. Seelze. a BrahaM , u. (2014a): Digitale Schreib-, Präsentations- und Publikationsmedien. In: Frederking et al. (Hg.). 269-289. a BrahaM , u. (2014b): „Kreatives“ und „poetisches“ Schreiben. In: Feilke, H./ Pohl, T. (Hg.). 364-381. a BrahaM , u. (2014c): Vom Film zur Sprache - von der Sprache zum Film. In: Kammerer, I./ Kepser, M. (Hg.). 193-211. a BrahaM , u./ k epSer , M. ( 3 2009): Literaturdidaktik Deutsch. Eine Einführung. Berlin. a BrahaM , u./ B eiSBart , o./ k oSS , g./ M arenBach , d. ( 7 2012): Praxis des Deutschunterrichts. Arbeitsfelder - Tätigkeiten - Methoden. Donauwörth. a BrahaM , u./ k nopf , J. (Hg.) (2013): Deutsch. Didaktik für die Grundschule. Berlin. a BrahaM , u./ k nopf , J. (2014): BilderBücher in den Bildungsstandards und im Deutschunterricht. In: Knopf, J./ Abraham, U. (Hg.) (2014b): 3-10. a hrenhoLz , B./ o oMen -W eLke , i. (Hg.) ( 2 2010): Deutsch als Zweitsprache. DTP (Deutschunterricht in Theorie und Praxis). Band 9. Hg. v. Ulrich, W. Baltmannsweiler. a LBer , k. (2014): Strategiebasierte Wortschatzaneignung. Praxis Sprache. H. 59, 1. 27-32. a LBrecht , c. (2005): Film- und Fernsehdidaktik. Eine Bibliographie. In: Frederking, V. (Hg.). 302-328. a LBrecht , c. (2014): Fachspezifische mediendidaktische Konzeptionen. In: Frederking et al. (Hg.). 134-149. a MtSBLatt deS B ayeriSchen S taatSMiniSteriuMS für u nterricht und k uLtur (Hg.) (1981): Lehrplan für die bayerischen Grundschulen. Sondernummer 20. München. a nderer , c./ B aark , c. (2012): Herausforderung Lektorenrunde: Was Schüler zu Schülertexten sagen. In: Hüttis-Graff, P./ Jantzen, C. (Hg.). 81-110. a nderS , p. (2010): Poetry Slam im Deutschunterricht. Aus einer für Jugendliche bedeutsamen kulturellen Praxis Inszenierungsmuster gewinnen, um das Schreiben, Sprechen und Zuhören zu fördern. Baltmannsweiler. a nderS , p. (2011): Poetry Slam. Unterricht, Workshops, Texte und Medien. Baltmannsweiler. a nderS , p. (2013): Lyrische Texte im Deutschunterricht. Grundlagen, Methoden, multimediale Praxisvorschläge. Seelze. a ndreSen , u. ( 2 2004): Versteh mich nicht so schnell. Gedichte lesen mit Kindern. Weinheim, Basel. a ndreSen , h./ f unke , r. ( 2 2006): Entwicklung sprachlichen Wissens und sprachlicher Bewusstheit. In: Bredel, U. et al. (Hg.). Band 1. 438-451. <?page no="270"?> 270 Anhang a nSkeit , n. (2011): Schreibkonferenzen mit Profil. Textformen entdecken mit der Wiki-Schülerzeitung. Grundschulunterricht Deutsch. H. 3. 30-34. a nSkeit , n./ S teinhoff , t. (2014): Schreibarrangements für die Primarstufe. Konzeption eines Promotionsprojekts und erste Ergebnisse zum Gebrauch von Schlüsselprozeduren. In: Bachmann, T./ Feilke, H. (Hg.). 129-155. a peLtauer , e. ( 2 2010): Wortschatzentwicklung und Wortschatzarbeit. In: Ahrenholz, B./ Oomen-Welke, I. (Hg.): 239-252. a rteLt , c./ S chneider , W./ S chiefeLe , u. (2002): Ländervergleich zur Lesekompetenz. In: Baumert, J. et al. (Hg.). 55-94. a SMuth , B. ( 7 2009): Einführung in die Dramenanalyse. Stuttgart. a ugSt , g./ d ehn , M. ( 5 2009): Rechtschreibung und Rechtschreibunterricht. Stuttgart. B achMann , t. (2014a): Texte produzieren: Schreiben als soziale Praxis. In: Ders./ Feilke, H. (Hg.). 35-61. B achMann , t. (2014b): Schriftliches Instruieren. In: Feilke, H./ Pohl, T. (Hg.). 270-286. B achMann , t./ f eiLke , h. (Hg.) (2014): Werkzeuge des Schreibens. Beiträge zu einer Didaktik der Textprozeduren. Stuttgart. B achMann -S tein , a./ S tein , S. (2011): Theoretische Grundlagen: Wortschatz und mentales Lexikon. In: Pohl, I./ Ulrich, W. (Hg.). 46-53. B ahn , M. (2014): Die Theatrale Lyrikuntersuchung. Eine Projektmethode zur Transformation lyrischer Strukturen in theatrales Spiel. Norderstedt. B aLhorn , h./ o SBurg , c./ g ieSe , h. (Hg.) 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Bildungssprache 19, 111, 127, 228, 265 Bildungsstandards 18, 28, 46, 116, 117, 133, 137, 140, 197, 208 Bildungswortschatz 227 Buchstabentabelle 53 ff., 65 C Chat 202, 205 Computer 103, 193, 201, 204 f. Computerspiele 203 f. curricular/ Curriculum 42, 60, 170, 211, 214, 231, 242 D Darstellendes Spiel 178 f., 197 deklaratives Wissen 232 Dekonstruktion 134 f., 150, 154, 164 f., 171 Dekontextualisierung 219, 225 f. DESI-Studie 49, 123, 209 f. DESI-Wortschatztest 209 f. Deutsch als Zweitsprache 17, 19, 22, 45, 51, 56, 76, 84, 88, 97, 107, 111, 127, 187, 199, 210 f., 214, 216, 246, 252, 255, 258 f., 264 f. didaktischer Pfad 90, 252 f., 255 Diktat 47, 111 Diskutieren/ Diskussion 28, 36, 43, 45, 101 doppelte Lektüre 135, 165 E Elfchen 108 ff. E-Mail 205 ff. Erörtern/ Erörterung 86 f., 90, 96, 100, 156, 166 Erzählen/ Erzählung 21, 34 ff., 41, 86 ff., 96, 140, 144 f., 152, 247 Erzählkreis 35 f., 68 <?page no="314"?> 314 Register F fächerübergreifend/ fächerübergreifendes Lernen 27, 33, 38, 45, 179, 198, 228, 244 Fibel 54, 63, 64 ff., 68 Film 113, 192, 197, 199 ff., 206 Filmanalyse 199 f. Filmdidaktik 198 ff. frame-and-script-Theorie 222 frames 209, 222 freies Schreiben 69, 106 ff. G Gebrauchstext 134, 149 ff. Gespräch 19 ff., 25, 27 ff., 30 f., 36 f., 42 ff., 130, 169 ff., 184, 199, 252 grammatisches Können 258 grammatisches Wissen 212 f., 237, 241 f., 244, 256, 262 Groß- und Kleinschreibung 48, 60, 73, 75 ff., 81 H Häusermodell 81 ff. Hermeneutik 140, 157, 171 Hörbuch 193 Hördidaktik 193 Hörspiel 191 ff. Hörtext 193 Hypertext 95, 191 I implizites Wissen 213 induktiv 43, 71 ff., 79, 237, 239, 241, 245, 250, 256 ff. Inklusion/ inklusiv 16, 84, 173, 209, 264 Instruieren 20 f., 39, 51, 88, 126 interkulturell 37, 144, 211, 259 ff., 263 Intermedialität 192 Internet 95, 132, 191, 201 f., 204 f. Interpretationsaufsatz 142 Interpunktion 48, 77 ff. Intertextualität 164 f., 187, 192, 200 K Kognitionspsychologie/ kognitionspsychologisch 118, 120, 154 Kompetenzraster 116 f. Konstruktivismus 17, 154, 192, 222 Kreatives Schreiben 107 ff., 153, 158, 168, 196 L Leistungsmessung 47, 111 Lernplattform 204 Leseanimation 118, 128, 130 Lesedidaktik 121, 126, 129, 143, 150, 164, 223 Leseflüssigkeit 115, 121, 127 Leseförderung 117 f., 121, 128, 130 ff., 193, 195, 199 Lesekompetenz 115 ff., 121 f., 127, 133, 179 Lesemotivation 38, 69, 112, 130, 179 Lesestrategie/ Lesestrategien 115, 118, 123 ff., 129 ff., 143, 162 f., 169, 205 Literacy 115 f., 124 literarisches Lernen 113, 136 ff., 166, 179, 202, 206, 245 literarische Sozialisation 113, 171 Literaturplattform 206 M Medien, audiovisuelle 179, 190, 196 f. Medienintegration 192 <?page no="315"?> Register 315 Medienkompetenz 133 Medien, visuelle 68, 97, 158, 183, 194 f., 200 f. Mehrsprachigkeit 85, 169, 199, 214, 221 f., 247, 252, 259, 263 f. Mehrsprachigkeitsdidaktik 222 mentales Lexikon 84, 209 f., 216, 219, 220 f., 223, 225 Merkmalssemantik 219 Merksatz 63, 72 f., 78, 231 f. Metasprache 70, 74, 76, 104, 213 Morphem 48, 67, 71 f., 82 f., 211, 263 Mündlichkeit 19 ff., 25, 44, 218, 220, 231 Muttersprache/ muttersprachlich 17, 169, 208, 210, 214 f., 219, 255, 260, 262 f. Muttersprachenunterricht 230, 232 N Narrationskompetenz 144 Nichtverstehen 135, 172 P Phasenmodelle 134 f., 157 PISA 107, 115 ff., 119, 123, 130 f., 137, 162, 168 Positivismus/ positivistisch 143 Poststrukturalismus/ poststrukturalistisch 142 f. Präsentation 21, 28, 32, 34, 36, 38 f., 101, 103, 133, 231 Proben, grammatische 98, 107, 234 ff., 245, 257 Prototypentheorie 219 Prozedur 74, 81, 252 R Reading Literacy 115 f. Referieren 88 Reflexion 32, 38, 42 ff., 58, 120, 129, 148, 181, 191, 213, 221, 223, 238 ff., 245, 254, 262 Reflexionsfähigkeit 245 reflexionsorientiert 221 reflexives Lernen 254 Rezeptionsästhetik 134, 154, 179, 182 Rhetorik 30, 93 Rollenspiel 31, 179 S Sachtext 39, 103, 116, 125 ff., 131, 134 f., 143, 149 f., 161, 178, 181, 246 Schreiben, heuristisch 167 Schreiben, kreativ 107 ff., 153, 158, 168, 196 Schreiben, literarisch 100, 169, 197 Schreiben, lyrisch 190 Schreiben, szenisch 190 Schreibkonferenz 101 f., 104 f., 204 Schriftspracherwerb 48, 52, 56, 58 f., 64 ff., 69, 79, 81 f., 84 Schriftspracherwerbsmodelle 67 Schultheater 178 f. scripts 209, 222 Silbe 48, 52, 71 f., 79 ff. Sprachaufmerksamkeit 73, 262 Sprachbewusstheit 260, 262 Sprachbewusstsein 47, 263 Sprachenvergleich 252, 261 Sprachförderung 107, 229 Sprachkritik 249, 261 sprachliches Können 93, 213 Sprachproduktion 54, 150, 201, 225, 243, 250 Sprachspiel 220, 254, 257 Sprachwissen 49, 93, 237, 262 Standbild 180 f. <?page no="316"?> 316 Register Strukturalismus/ strukturalistisch 130, 141, 143 f., 154, 164, 201, 233 f., 237 Symmedialität 192 Symmedien 94, 103, 192, 201 f. systematischer Grammatikunterricht 214, 230, 240, 245 systematische Wortschatzarbeit 210 f., 218, 223 Szenisches Spiel 179 T Textanalyse 133, 140 ff., 149 f., 152, 156 f., 160, 162, 184 ff., 199, 202, 243 Textarten 87 f., 90 Texte, dramatisch 22, 164, 180, 185, 187 ff., 193, 197 Texte, epische 151, 160, 164, 172, 180, 185, 187, 200 Texte, lyrische 22, 88, 96, 110, 164, 185 ff., 190 Texterschließungskompetenz 144 Textkohärenz 208 Textmuster 87 f., 90 f. Textsorte/ n 51, 86 f., 89, 91 f., 95 f., 98, 103, 107, 142, 167, 220, 226 f., 249 Textvergleich 185, 224 Theater 179, 190, 196 f. Theaterdidaktik 190, 197 Theaterpädagogik 197 Transkription 43 f. Tweets 204 U Überarbeiten 39, 49 f., 92, 97 ff., 108 f., 111, 204 Unterrichtsgespräch 20, 23 f., 26 f., 32, 40, 113, 133, 142, 144, 167, 169, 171 ff., 184, 186, 194 Unterrichtsgespräch, fragendentwickelnd 20, 26, 72, 152, 155, 169, 174 Unterrichtskommunikation 19 f., 42, 44, 210 UWE-Technik 98 V Verfremdung 182, 220, 231, 249, 255, 265 Vielsprachigkeitsdidaktik 259, 261, 264 vorbewusstes Wissen 249, 255 Vorlesen 21, 101, 112 ff., 121 f., 124, 158, 171, 176, 184 f., 210, 234 f. W Wegbeschreibung 95, 103 Werkimmanenz 143 Wörterbuch 47, 110, 216, 221, 223 Wortfamilie 80, 211, 215, 220 Wortfeld 209, 211, 215 f., 219, 221 Wortgruppe 225, 227 ff., 235, 250 f., 255 Wortschatzerweiterung 209, 225 Wortschatzvertiefung 209 Z Zuhören 19, 22, 28, 39 ff., 45, 113, 175 f., 195 <?page no="317"?> Matthias Granzow-Emden Deutsche Grammatik verstehen und unterrichten bachelor-wissen 2., überarbeitete Auflage 2014 X, 310 Seiten €[D] 17,99 ISBN 978-3-8233-6883-0 Diese neuartige Einführung in die deutsche Grammatik verbindet schulgrammatisches Wissen und neuere Grammatikmodelle in anschaulicher und verständlicher Weise miteinander. Insbesondere Lehramtsstudierende können sich damit die Kenntnisse und Kompetenzen aneignen, die sie für ihr Studium und ihren künftigen Beruf brauchen; erfahrene Lehrkräfte bekommen wichtige Impulse für neue Wege im Deutschunterricht. Die funktional orientierten Erklärungen und die zahlreichen systematisch gestalteten Tabellen im Bereich der Verben, Nomen/ Nominalgruppen, Präpositionen und Pronomen eignen sich darüber hinaus für DaF-/ DaZ-Kurse sowie für die autodidaktische Aneignung des Deutschen als Fremd- oder Zweitsprache. Narr Francke Attempto Verlag GmbH+Co. KG \ Dischingerweg 5 \ 72070 Tübingen \ Germany Tel. +49 (07071) 97 97-0 \ Fax +49 (07071) 97 97-11 \ info@narr.de \ www.narr.de Stand: September 2015 · Änderungen und Irrtümer vorbehalten! JETZT BESTELLEN! <?page no="318"?> Maik Philipp Schreibkompetenz Komponenten, Sozialisation und Förderung utb 4457 M 2015, VIII, 266 Seiten € [D] 24,99 ISBN 978-3-8252-4457-6 Schreibkompetenz ist vielschichtig und umfasst verschiedene Teilfähigkeiten. Dieser Band klärt in einem ersten Teil, was Schreibkompetenz beinhaltet. Dafür wird ein Mehrebenen-Modell herbeigezogen, das die beim Schreiben beteiligten Komponenten systematisiert. Anhand dieses Modells werden die Hauptprozesse des Schreibens - Planen, Verschriften und Revidieren - erläutert. In einem zweiten Teil werden die Schreibentwicklung und Schreibsozialisation geklärt. Den umfangreichsten dritten Teil macht die Präsentation von mehr als 20 effektiven Schreibfördermaßnahmen aus. Zusätzlich verdeutlichen authentische Beispiele für Fördermaßnahmen die Prinzipien und Elemente der Förderansätze. Diese Beispiele stehen als Zusatzmaterial auf der Homepage des Buches zum Download bereit. Der Band richtet sich an Studierende und Lehrende in der Schreibdidaktik - nicht nur im Fach Deutsch. Er bietet Material zum Selbststudium und für Lehrveranstaltungen zum Thema Schreibkompetenz und Schreibdidaktik. Narr Francke Attempto Verlag GmbH+Co. KG \ Dischingerweg 5 \ 72070 Tübingen \ Germany Tel. +49 (07071) 97 97-0 \ Fax +49 (07071) 97 97-11 \ info@narr.de \ www.narr.de Stand: September 2015 · Änderungen und Irrtümer vorbehalten! JETZT BESTELLEN! <?page no="319"?> Hans Jürgen Heringer Deutsche Grammatik und Wortbildung in 125 Fragen und Antworten UTB 2014, 218 Seiten €[D] 19,99 ISBN 978-3-8252-4227-5 Dieser Band gibt einen vollständigen Überblick über die grammatischen Regeln des Deutschen. Er richtet sich an Studierende und Lernende, bietet auch grammatisches Grundwissen, das außerhalb der Universität benötigt wird. Die Grammatik ist klassisch systematisch aufgebaut. Die Anordnung nach Fragen und Antworten bietet aber zudem die Möglichkeit der Schwerpunktsetzung. Zahlreiche Beispiele veranschaulichen und erläutern die grammatischen Probleme. Aus dem Inhalt: Welche Arten von Verben gibt es? • Gibt es Regeln für das Genus? • Wie ist der Satz gegliedert? • Wie stehen die Wörter im Satz? • Wie kann man Sätze verbinden? • Welche Wortbildungen gibt es? Narr Francke Attempto Verlag GmbH+Co. KG \ Dischingerweg 5 \ 72070 Tübingen \ Germany Tel. +49 (07071) 97 97-0 \ Fax +49 (07071) 97 97-11 \ info@narr.de \ www.narr.de Stand: September 2015 · Änderungen und Irrtümer vorbehalten! JETZT BESTELLEN! <?page no="320"?> Stefan Neuhaus Grundriss der Literaturwissenschaft Phantastische Literatur im Zeichen medialer Selbstreflexion bei Jorge Luis Borges und Julio Cortázar utb 4., überarbeitete und erweiterte Auflage 2014 XIV, 322 Seiten €[D] 19,99 ISBN 978-3-8252-4192-6 Der Band, der sich durch seine Gliederung besonders als Grundlage für ein Basismodul Literaturwissenschaft eignet, durchmisst im Unterschied zu herkömmlichen Einführungsbüchern das gesamte literaturwissenschaftliche Arbeitsfeld und wird durch ein ausführliches Kapitel zur Praxis des Studierens ergänzt. Am Schluss des Bandes steht eine Probeklausur, mit der die Leser ihren Lernerfolg selbst kontrollieren können. Leicht verständlich und zugleich anregend werden komplexe Sachverhalte erklärt und mit zahlreichen Beispielen illustriert, die den Studienerfolg sichern und noch etwas befördern sollen, das dabei nicht zu kurz kommen darf: die Freude an der Literatur. Die Neuauflage gibt zusätzliche Tipps zum Studium und zur weiterführenden Literatur und stellt umfangreiche Online- Materialien für Dozenten bereit. „Eine sympathische, hilfreiche, für Studienanfänger vorrangig zu empfehlende Einführung.“ EKZ-INFORMATIONSDIENST Narr Francke Attempto Verlag GmbH+Co. KG \ Dischingerweg 5 \ 72070 Tübingen \ Germany Tel. +49 (07071) 97 97-0 \ Fax +49 (07071) 97 97-11 \ info@narr.de \ www.narr.de Stand: September 2015 · Änderungen und Irrtümer vorbehalten! JETZT BESTELLEN! <?page no="321"?> ,! 7ID8C5-ceeibb! ISBN 978-3-8252-4481-1 Dieser Band liefert eine Übersicht über wesentliche deutschdidaktische Konzeptionen und präsentiert sowohl sprach- und literaturals auch mediendidaktische Ansätze. Dabei orientiert er sich an den Kompetenzbereichen der KMK-Bildungsstandards. Jede Konzeption wird nach einer überblickshaften Darstellung problematisiert sowie durch Aufgaben und kommentierte Literaturhinweise ergänzt. Das Buch bietet eine unersetzliche Grundlage, um Deutschunterricht fundiert zu planen und zu reflektieren. Für die 2. Auflage wurden alle relevanten deutschdidaktischen Publikationen seit dem Erscheinen der ersten Auflage eingearbeitet. „Wer eine gut verständliche und fachlich fundierte Einführung in Konzeptionen der Deutschdidaktik sucht, lese den Band von Hochstadt, Krafft und Olsen.“ Prof. em. Dr. Dr. h. c. Kaspar H. Spinner, Universität Augsburg Deutschdidaktik Dies ist ein utb-Band aus dem A. Francke Verlag. utb ist eine Kooperation von Verlagen mit einem gemeinsamen Ziel: Lehrbücher und Lernmedien für das erfolgreiche Studium zu veröffentlichen. utb-shop.de QR-Code für mehr Infos und Bewertungen zu diesem Titel