Sprachwandel - Bedeutungswandel
Eine Einführung
1024
2016
978-3-8385-4536-3
978-3-8252-4536-8
UTB
Sascha Bechmann
Der Band führt leicht verständlich in einen zentralen Bereich der historischen Sprachwissenschaft ein. In zwei Hauptteilen werden die Grundbegriffe und -prinzipien des Sprach- und Bedeutungswandels erläutert. Im Vordergrund steht dabei vor allem die Frage, wie und warum sich Sprache wandelt. Der Band richtet sich gezielt an Studierende der gestuften Studiengänge und eignet sich durch die Gliederung in 14 Einheiten ideal als Seminargrundlage. Merksätze, Hervorhebungen, Warm-up-Fragen sowie Leitsätze und Übungsaufgaben erleichtern das Verständnis.
<?page no="0"?> ,! 7ID8C5-cefdgi! ISBN 978-3-8252-4536-8 Sascha Bechmann Sprachwandel - Bedeutungswandel Der Band führt leicht verständlich in einen zentralen Bereich der historischen Sprachwissenschaft ein. In zwei Hauptteilen werden die Grundbegriffe und -prinzipien des Sprach- und Bedeutungswandels erläutert. Im Vordergrund steht dabei vor allem die Frage, wie und warum sich Sprache wandelt. Der Band richtet sich gezielt an Studierende der gestuften Studiengänge und eignet sich durch die Gliederung in 14 Einheiten ideal als Seminargrundlage. Merksätze, Hervorhebungen, Warm-up-Fragen sowie Leitsätze und Übungsaufgaben erleichtern das Verständnis. Sprachwissenschaft Sprachwandel - Bedeutungswandel Bechmann Dies ist ein utb-Band aus dem A. Francke Verlag. utb ist eine Kooperation von Verlagen mit einem gemeinsamen Ziel: Lehrbücher und Lernmedien für das erfolgreiche Studium zu veröffentlichen. utb-shop.de QR-Code für mehr Infos und Bewertungen zu diesem Titel 45368 Bechmann_M-4536.indd 1 08.09.16 16: 53 <?page no="1"?> Eine Arbeitsgemeinschaft der Verlage Böhlau Verlag · Wien · Köln · Weimar Verlag Barbara Budrich · Opladen · Toronto facultas · Wien Wilhelm Fink · Paderborn A. Francke Verlag · Tübingen Haupt Verlag · Bern Verlag Julius Klinkhardt · Bad Heilbrunn Mohr Siebeck · Tübingen Nomos Verlagsgesellschaft · Baden-Baden Ernst Reinhardt Verlag · München · Basel Ferdinand Schöningh · Paderborn Eugen Ulmer Verlag · Stuttgart UVK Verlagsgesellschaft · Konstanz, mit UVK / Lucius · München Vandenhoeck & Ruprecht · Göttingen · Bristol Waxmann · Münster · New York utb 0000 UTB (M) Impressum_15.indd 1 08.12.14 10: 56 u t b 4 5 3 6 <?page no="2"?> Dr. Sascha Bechmann lehrt Germanistische Sprachwissenschaft an der Universität Düsseldorf. <?page no="3"?> Sascha Bechmann Sprachwandel - Bedeutungswandel Eine Einführung A. Francke Verlag Tübingen <?page no="4"?> Umschlagabbildung: © Chief Crow Daria/ shutterstock.com Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb.dnb.de abrufbar. © 2016 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72 070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Gedruckt auf säurefreiem und alterungsbeständigem Werkdruckpapier. Internet: www.francke.de E-Mail: info@francke.de Einbandgestaltung: Atelier Reichert, Stuttgart Printed in Germany utb-Nr. 4536 ISBN 978-3-8252-4536-8 <?page no="5"?> Inhalt Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 Hinweise zur Lektüre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13 I Sprachwandel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17 1 Was ist Sprache — und woher kommt sie? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19 1.1 Brauchen wir Sprache und wenn ja, wozu? . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20 1.2 Warum sprechen wir so und nicht anders? -— Eine sprachhistorische Spurensuche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23 1.3 Weiterführende und vertiefende Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 32 2 Was ist das Wesen der Sprache? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 33 2.1 Welche Sprachauffassungen gibt es? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 34 2.2 Welche Sprachauffassung ist die richtige? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 38 2.2.1 Ist Sprache ein Organismus? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 38 2.2.2 Ist Sprache ein Zeichensystem? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 41 2.2.3 Ist Sprache ein Werkzeug? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 49 2.3 Ist Sprache das Ergebnis menschlicher Planung? . . . . . . . . . . . . . 54 2.4 Weiterführende und vertiefende Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 57 3 Was ist Wandel? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 59 3.1 Warum verändern sich die Dinge in der Welt? . . . . . . . . . . . . . . . 60 3.1.1 Wie verändern sich Kulturen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 64 3.2 Was ist Sprachwandel? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 68 3.2.1 Woher und wohin? -— Nächster Halt: Sprachwandel . . . . 72 3.2.2 Welche Sprachen wandeln sich (und welche nicht)? . . . . . 76 3.3 Weiterführende und vertiefende Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 79 4 Was sind die Prinzipien des Sprachwandels? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 81 4.1 Nach welchen Prinzipien wandeln sich Sprachen? . . . . . . . . . . . . 82 4.1.1 Ist Sprachwandel ein (rein) diachrones Phänomen? . . . . . 83 4.1.2 Welchem Prozess folgt der Sprachwandel? . . . . . . . . . . . . . 85 4.2 Gibt es Sprachwandelgesetze? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 92 4.2.1 Lüdtkes universelles Sprachwandelgesetz . . . . . . . . . . . . 93 <?page no="6"?> 6 Inhalt 4.2.2 Köhlers Regelkreis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 98 4.2.3 Das Piotrowski-Gesetz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101 4.3 Weiterführende und vertiefende Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 104 5 Was sind die Ursachen des Sprachwandels? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 105 5.1 Unter welchen Bedingungen wandeln sich Sprachen? . . . . . . . . . 106 5.1.1 Sprachwandel als soziales Phänomen . . . . . . . . . . . . . . . . . 109 5.1.2 Sprachwandel als kognitives Phänomen . . . . . . . . . . . . . . . 117 5.1.3 Sprachwandel als biologisch-physiologisches Phänomen . 119 5.1.4 Sprachwandel als Phänomen menschlicher Kreativität . . . 121 5.2 Weiterführende und vertiefende Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 124 6 Was sind die Folgen des Sprachwandels? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 125 6.1 Zurück in die Zukunft? -— Sprachwandel gestern und heute . . . . 126 6.1.1 Sprachwandel gestern-— und seine Folgen heute . . . . . . . 128 6.1.2 Sprachwandel heute-— und seine (vermuteten) Folgen morgen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 140 6.2 Führt Sprachwandel zum Sprachverfall? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 145 6.3 Kann man Sprachwandel vorhersagen oder aufhalten? . . . . . . . . 149 6.4 Weiterführende und vertiefende Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 151 7 Noch Fragen? — Repetitorium und Übungen zum Sprachwandel . . . . . . . 153 7.1 Repetitorien und Übungsaufgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 154 7.2 Arbeitshilfe für Dozierende I: Fragenpool für Modulprüfungen . 165 7.3 Arbeitshilfe für Dozierende II : Seminararbeitsthemen . . . . . . . . 167 II Bedeutungswandel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 169 8 Was ist die Bedeutung eines Wortes? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 171 8.1 Was ist das Besondere am Bedeutungswandel? . . . . . . . . . . . . . . . 172 8.2 Ist die Bedeutung eines Wortes ein Ding in der Welt? . . . . . . . . . 177 8.3 Ist die Bedeutung eines Wortes eine Vorstellung? . . . . . . . . . . . . . 180 8.4 Ist die Bedeutung eines Wortes eine (Gebrauchs-)Regel? . . . . . . 182 8.5 Weiterführende und vertiefende Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 188 9 Was sind die Prinzipien des Bedeutungswandels? . . . . . . . . . . . . . . . . . . 189 9.1 Was sind Gebrauchsregeln? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 190 <?page no="7"?> 7 Inhalt 9.1.1 Parameter der Gebrauchsregel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 191 9.1.2 Taxonomie der Hauptbedeutungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 194 9.2 Wie verändern sich Gebrauchsregeln? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 195 9.2.1 Warum ist Bedeutungswandel ein Spezialfall des Sprachwandels? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 196 9.2.2 An welche Absichten ist Bedeutungswandel geknüpft? . . 199 9.3 Weiterführende und vertiefende Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 205 10 Was sind die Ursachen und Verfahren des Bedeutungswandels? . . . . . . . 206 10.1 Bedeutungswandel und technischer Fortschritt-— beste Freunde oder nur Bekannte? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 207 10.2 Mega geil oder erschreckend scharf ? -— die Mechanismen des Bedeutungswandels . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 213 10.2.1 Bedeutungswandel durch Sinnübertragung-— zum Verfahren der Metaphorisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 215 10.2.2 Bedeutungswandel durch Sinnverschiebung-— zum Verfahren der Metonymisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 219 10.2.3 Weitere Mechanismen des Bedeutungswandels . . . . . . . . . 223 10.3 Weiterführende und vertiefende Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 229 11 Was sind die Folgen des Bedeutungswandels auf der Wortebene? . . . . . . 231 11.1 Vom hässlichen Entlein zum schönen Schwan-— werden Wörter besser oder schlechter durch Bedeutungswandel? . . . . . . . . . . . . 232 11.1.1 Bedeutungsverschlechterung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 235 11.1.2 Bedeutungsverbesserung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 239 11.2 Von Asterix zu Obelix-— verändert sich der Umfang eines Wortes durch Bedeutungswandel? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 240 11.2.1 Spezialisierung der Wortbedeutung (Bedeutungsverengung) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 243 11.2.2 Generalisierung der Wortbedeutung (Bedeutungserweiterung) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 247 11.3 Ist Abstrahierung ein universeller Effekt des Bedeutungswandels? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 249 11.4 Weiterführende und vertiefende Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 251 12 Was sind die Folgen des Bedeutungswandels auf der Sprachebene? . . . . 253 12.1 Führt Bedeutungswandel zu Mehrdeutigkeit? . . . . . . . . . . . . . . . 253 <?page no="8"?> 8 12.2 Verändert Bedeutungswandel das Spektrum der Handlungsmöglichkeiten? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 259 12.3 Verändert Bedeutungswandel die Grammatik einer Sprache? . . . 263 12.3.1 Grammatische Paradigmatisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . 264 12.3.2 Diathesenwandel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 266 12.4 Weiterführende und vertiefende Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 268 13 Bedeutungswandel 2.0 — wohin geht die Reise? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 269 13.1 Frame-Semantik-— was sind Frames und wie bestimmen sie die Bedeutung eines Wortes? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 270 13.2 Wie verändern sich Frames? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 278 13.3 Lassen sich die Frame-Semantik und die Gebrauchstheorie der Bedeutung miteinander verknüpfen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 283 13.4 Weiterführende und vertiefende Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 286 14 Noch Fragen? — Repetitorium und Übungen zum Bedeutungswandel . . . 287 14.1 Repetitorien und Übungsaufgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 288 14.2 Arbeitshilfe für Dozierende III : Fragenpool für Modulprüfungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 301 14.3 Arbeitshilfe für Dozierende IV : Seminararbeitsthemen . . . . . . . . 302 Abbildungsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 304 Tabellenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 305 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 306 (Grundlagen-)Literatur zur Vertiefung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 312 Glossar . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 316 Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 322 Inhalt <?page no="9"?> 9 Vorwort Vorwort Nichts ist so beständig wie der Wandel. Heraklit von Ephesos (etwa 520-460 v. Chr.) Der gegenwärtige Zustand unserer Sprache gibt Anlass zu vielfältigen Betrachtungen, bisweilen ist er auch Auslöser solcher Ängste und Sorgen, die deutsche Sprache könne an Schönheit und Wohlklang verlieren. Mehr noch: Manche Menschen glauben, die Sprache werde durch uns Sprecher dem Verfall anheimgegeben, weil wir schändlich mit ihr umgingen. Nun, stimmt das? Verfällt unsere Sprache mehr und mehr zu etwas, was Komplexität und Schärfe verloren hat und in Zukunft nur noch basale Bruchstücke von alter sprachlicher Eleganz und Würde aufweist? Sprache ist nicht statisch, sie ist dynamisch-- ohne dass sie selbst aber in irgendeiner Weise lebendig wäre. Hier irren die Sprachpuristen, denn sie gehen von einem organischen Bild der Sprache aus, so wie es im 19. Jahrhundert populär wurde. Begriffe wie „Sprachverfall“ oder auch „Wortschöpfung“ zeugen noch heute davon. „Lebendig“ ist eine Sprache im Grunde nur so lange, wie die Sprecher einer Sprache lebendig sind. Das Leben, also das Werden, Wachsen, Schrumpfen und Vergehen einer Sprache, ist stets gekoppelt an das Sein der Sprecher. So verwundert es kaum, dass auch der Wandel irgendwie an die Sprecher gebunden sein muss. Aber wie? Auf diese Frage sucht und findet diese Einführung Antworten. Wenn Sie wissen wollen, wie das Sein und das Werden der Sprachen funktionieren, dann lesen Sie dieses Buch. Sie werden sehen, dass es eine lohnenswerte Reise ist durch die Welten der Sprachwissenschaft, bei der wir immer auch andere Wissenschaften streifen werden. So ist Sprachwandel durchaus auch ein Phänomen, das z. B. Soziologen ebenso interessiert wie Politologen und Kulturwissenschaftler, denn Sprachwandel findet auf allen Ebenen der Sprache und in allen Wirkungsbereichen statt. Kurzum, sprachliche Veränderungen lassen sich überall finden: im Internet, in sozialen Netzwerken, in der Literatur und in den Fachsprachen. Das Wesen des Wandels ist, dass er stetig und unaufhaltsam ist. Und es ist äußerst spannend, sich diesem Wesen Schritt für Schritt zu nähern. Dieses Buch soll Ihnen in Ihrem Studium Fahrplan und Kompass durch die oft <?page no="10"?> 10 Vorwort undurchsichtigen (und wissenschaftsgeschichtlich alten) Fahrwasser der Sprachwandelforschung und der Historischen Linguistik sein. Dieses Buch betrachtet Sprache als ein veränderliches System und es will zeigen, auf welche Weise Sprachen sich verändern und auf welchen Ebenen Wandel feststellbar ist. Aber: Dieses Buch ist keine Sprachgeschichte (des Deutschen oder einer anderen Sprache), sondern eine thematische Hinführung aus einer handlungstheoretischen Sichtweise. Mit diesem Studienbuch wird eine Lücke geschlossen, die bislang in der Einführungsliteratur zu beklagen ist: Gegenwärtig existiert keine didaktisch auf die Erfordernisse der gestuften Studiengänge ausgerichtete Einführung in dieses klassische Themenfeld. Dies ist umso erstaunlicher, als dass Fragestellungen der historischen Linguistik noch immer zu den grundlegenden Wissensbeständen in den linguistisch ausgerichteten Fächern zählen und in den Curricula fest verankert sind. Diachrone Betrachtungen von Sprache gehören ebenso wie neuere diskursanalytische Fragen auch heute noch zum Kernbestand der linguistischen Schule an allen deutschen Universitäten. Dabei stehen in der modernen Sprachwissenschaft nicht mehr in erster Linie die Prinzipien oder sprachlich universalen Gesetze des Sprachwandels im Fokus, dafür umso mehr Ansätze, die der neueren Pragmalinguistik zugeordnet werden können. Zu den Hauptproblemen der Lehre in diesem Bereich zählt die Tatsache, dass die bislang zu diesem Thema verfügbare Literatur äußerst heterogen- - und in vielen Fällen für das Selbststudium ungeeignet-- ist. So stehen Studierende wie auch Lehrende vor dem Problem, Informationen aus unterschiedlichen Lehr- und Fachbüchern extrahieren und bündeln zu müssen. Die beiden Themengebiete Sprach- und Bedeutungswandel werden in zahlreichen sprachhistorischen Einführungen zwar aufgegriffen, geraten dort aber ins Hintertreffen; die Ausführungen sind oftmals verkürzt, was das Verständnis komplexer Sachverhalte erschwert. Auf der anderen Seite gibt es viele Fachbücher ohne didaktische Ausrichtung, die entweder auf einer hohen theoretischen Abstraktionsebene operieren oder das Thema in einer für Studienanfänger schwer überschaubaren Dichte und Breite behandeln. Sowohl theoretisch abstrakte als auch thematisch dichte Lehrbücher, wie etwa die hervorragende Sprachgeschichte des Deutschen von Wegera und Waldenberger oder diejenige von Nübling et al., sind für das Bachelorstudium nur bedingt geeignet. Dasselbe lässt sich über diejenigen Bücher sagen, die lediglich Teilaspekte thematisieren. Auch sie taugen nur eingeschränkt für die Wissensvermittlung im Grundstudium. <?page no="11"?> 11 Vorwort Aus diesen Gründen ist dieses Studienbuch als leicht lesbare Einführung konzipiert, die sich sowohl für das Selbststudium eignet als auch als Grundlage für ein einsemestriges Grundseminar taugt. Dabei wurde eine inhaltliche Zweiteilung des Buches umgesetzt, die sich bereits im Titel widerspiegelt: Die Bereiche Sprachwandel und Bedeutungswandel werden getrennt betrachtet, auch wenn der Bedeutungswandel als Spezialfall des Sprachwandels zu klassifizieren ist. Zum einen soll damit dem Umstand Rechnung getragen werden, dass in der akademischen Lehre das Thema Bedeutungswandel häufig isoliert betrachtet wird; zahlreiche Seminare befassen sich ausschließlich mit historisch-semantischen Fragestellungen. Zum anderen ist diese Zweiteilung sinnvoll, weil es sehr spezielle Erklärungsmodelle (insbesondere moderne gebrauchstheoretische Ansätze) gibt, die dem Bedeutungswandel einen eigenen Status zuweisen. Zwar kann der Bedeutungswandel im Speziellen nicht isoliert von einer Theorie sprachlichen Wandels im Allgemeinen gedacht werden, so dass die Kenntnis solcher Theorien für das Verständnis des Bedeutungswandels notwendig ist. Aufgrund der Komplexität semantischer Veränderungen und der dahinter stehenden Prozesse ist sie aber allein nicht hinreichend. Zum Schluss erlauben Sie mir ein paar persönliche Worte. Mein großer Dank gilt Anke Peters aus der Germanistischen Mediävistik an der Heinrich-Heine- Universität Düsseldorf, deren geschultes Auge mir geholfen hat, das Manuskript zu diesem Buch möglichst frei von Tippfehlern an den Verlag geben zu können. Manche Sätze in diesem Buch sind erst durch sie in eine lesbare Form geschliffen worden. Zudem war mir ihr sprachhistorisches Wissen an vielen Stellen eine Hilfe. Dieses Buch ist zudem der Ausdruck meiner eigenen wissenschaftlichen Prägung, für die ich meinem Lehrer und Doktorvater Rudi Keller dankbar bin. Er war es, der im Studium mein Interesse für linguistische Fragestellungen geweckt und später stets gefördert hat. Besonders seine Theorie zum allgemeinen Sprachwandel und seine Gedanken zum Bedeutungswandel bei deutschen Adjektiven haben mich früh in ihren Bann gezogen. Wenn man mich heute fragt, wie und warum ich Sprachwissenschaftler geworden bin, dann ist die Antwort leicht: Weil ich mich irgendwann dafür zu interessieren begann, wie das alles funktioniert. Das mit dem Wandel der Sprachen. Heute weiß ich: Sprache ist Gewordenes aus Gewesenem und so wird es auch in Zukunft sein. Als Sprecher befinden wir uns heute auf einer schmalen Entwicklungsstufe unserer Sprache. Wir stehen dabei in einer direkten Traditionslinie mit unseren Vorfahren. Und wir formen die Sprache <?page no="12"?> 12 Vorwort durch unser Handeln zu dem, was sie einmal sein wird. Das finde ich unheimlich spannend. Sie auch? Dann wünsche ich Ihnen viel Spaß bei der Lektüre. Düsseldorf, im August 2016 Sascha Bechmann <?page no="13"?> 13 Hinweise zur Lektüre Hinweise zur Lektüre Bevor wir uns dem eigentlichen Kern des Sprach- und Bedeutungswandels zuwenden können, möchte ich noch einige Informationen zur Lektüre und zum richtigen Umgang mit diesem Buch voranschicken. Dieses Studienbuch versteht sich als Arbeitsbuch und ist in erster Linie für das Selbststudium geschrieben. Ich habe versucht, Komplexes einfach darzustellen. Das bleibt nicht ohne Folgen. Wissenschaftliche Unschärfe hier und da mögen mir meine Fachkolleginnen und -kollegen nachsehen. Denn: Für diese Leserschaft ist dieses Buch nicht geschrieben worden. Der Anspruch an dieses Buch lautet: Es kann weitestgehend ohne Vorwissen gelesen werden. Dass eine diesem Anspruch verpflichtete Einführung nicht möglich ist, ohne das ein oder andere zu verkürzen und zu simplifizieren, ist klar-- und eher eine Stärke als eine Schwäche dieses Buches. Selbstgesteuertes Lernen soll dazu dienen, einen möglichst nachhaltigen Lernerfolg zu erzielen. Die Leser werden dazu befähigt, sich die wesentlichen Inhalte selbstständig anzueignen. Dazu werden die Inhalte anschaulich und unter weitgehendem Verzicht auf (für das Verständnis unnötige) Fachterminologie vermittelt. Die hohe Kunst der fachsprachlichen Reduktion gerät bei basalen Wissensbeständen unseres Faches aber an ihre Grenzen. Ich empfehle daher, vor der Lektüre eine Einführungsveranstaltung in die Sprachwissenschaft zu besuchen. Als begleitendes Nachschlagewerk zu dieser Einführung empfehle ich Ihnen das „Lexikon der Sprachwissenschaft“ von Hadumod Bussmann. Darin lassen sich alle nicht vermeidbaren Fachwörter nachlesen-- es ist zudem ein unabdingbarer Begleiter durch Ihr sprachwissenschaftliches Studium. Dieses Lexikon ist nicht nur deshalb von unschätzbarem Wert, weil darin die wesentlichen Begriffe der Sprachwissenschaft präzise erklärt werden, sondern auch, weil sich eine reichhaltige Fülle an Literaturempfehlungen zu jedem Einzelaspekt finden lässt. Alternativ kann ich Ihnen das hervorragende linguistische Wörterbuch von Theodor Lewandowski aus dem Jahr 1994 ans Herz legen, das aber leider nur noch antiquarisch zu beziehen ist. Wesentliche Begriffe, die heute zum Wissensbestand der Sprachwissenschaft zählen, fehlen zwar darin, dennoch ist es ein wertvolles Hilfsmittel. Die vorliegende Einführung soll Ihnen als Kompass und als Richtschnur dienen, damit Sie erste (eigene) Wege durch das spannende und weite Feld des Sprach- und Bedeutungswandels finden können. Dafür benötigt es eine sinn- <?page no="14"?> 14 Hinweise zur Lektüre volle Struktur. Wie ein roter Faden ziehen sich deshalb einige Aspekte durch dieses Buch, die helfen sollen, sich zurecht zu finden. Dies sind im Wesentlichen folgende Elemente und Strukturen: Wichtige Grundbegriffe sind im Text durch Fettdruck hervorgehoben. Die linguistischen Theorien und Modelle in diesem Buch sind an der konkreten sprachlichen Wirklichkeit ausgerichtet. Anschauliche Beispielsätze und historisches Datenmaterial werden das Verständnis erleichtern. Zudem werden wissenschaftstheoretische Kernthesen in diesem Buch optisch hervorgehoben. An manchen Stellen werden Ihnen zudem bedeutende Vertreter einer Theorie oder eines Faches in einem kurzen Who is who vorgestellt. Kernthesen und präzise Merksätze, die das Verständnis erleichtern, werden durch Textboxen optisch hervorgehoben. Die Boxen sind durch dieses Symbol markiert: . Alle Kapitel beginnen mit dem Abschnitt „Ziele und Warm-up“. Hier finden Sie eine kurze Erläuterung des Gegenstands des jeweiligen Kapitels sowie die avisierten Lernziele. Unter dem Aspekt Warm-up sollen intuitiv zu beantwortende Impulsfragen zum ersten Nachdenken über die dann folgende Thematik anregen. Sie erkennen das Warm-up an diesem Symbol: . Hinweise zu weiterführender Literatur zum Inhalt des vorangestellten Lehrstoffs runden jedes Kapitel ab. Dabei handelt es sich um eine Auswahl, die weder einen Anspruch auf Vollständigkeit noch auf Exklusivität erhebt. In aller Regel werden hier nur diejenigen Werke empfohlen, die in einem unmittelbaren Bezug zu den Inhalten des Kapitels stehen. Erkennbar sind diese Literaturhinweise an diesem Symbol: . Beiden Teilen dieses Buchs ist mit Kapitel 7 und Kapitel 14 jeweils ein eigener Wiederholungs- und Übungsteil gewidmet (Repetitorium). Dort finden Sie kurze und prägnante Zusammenfassungen der Kapitel. Sie können die Repetitorien im Ganzen durcharbeiten-- oder jeweils im Anschluss an die einzelnen Kapitel. Sie selbst bestimmen, wann und wie Sie Ihr Wissen festigen. Übungsaufgaben dienen der Selbstüberprüfung des Wissens und lassen sich ohne weitere Hilfsmittel in angemessener Zeit beantworten. Auf Lösungen kann und soll bewusst verzichtet werden, da Standardlösungen und -antworten nicht gewünscht sind. Vielmehr sollen die Fragen der Beschäftigung mit dem vermittelten Stoff dienen und sind so konzipiert, dass sie eindeutig zu beantworten sind. Sie erkennen die Übungsaufgaben an diesem Symbol: Kapitel 7 und 14 bieten zudem Arbeitshilfen für Dozierende wie mögliche Klausurfragen zur zielgerichteten Überprüfung der Lernziele oder Vorschläge <?page no="15"?> 15 Hinweise zur Lektüre für Hausarbeitsthemen. Hinweise für Dozierende finden sich auch an anderen Stellen des Buchs und sollen Anregungen für die akademische Lehre liefern, sofern diese Einführung in der universitären Lehre verwendet wird. Dem Textteil ist ein ausführliches Literaturverzeichnis angefügt. Es bildet die Beiträge zum Forschungsfeld in weiten Teilen ab, erhebt aber ebenfalls keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Zusätzlich gibt es ein hilfreiches Verzeichnis mit Grundlagenliteratur zum Sprachwandel. Das Studienbuch enthält im Anhang ein Sachwortverzeichnis, das den Zugriff auf wichtige Begriffe vereinfacht. Ein Glossar mit wichtigen linguistischen Grundbegriffen rundet den Band ab. Hinweis für Dozierende: Die Gliederung des Studienbuches in 14 Kapitel ermöglicht es Lehrenden, das Buch zur Grundlage eines einsemestrigen Seminars zu machen. Dabei kann jedes Kapitel Inhalt einer Sitzung sein und z. B. durch historisches Datenmaterial, Übungstexte, Originalarbeiten o. Ä. ergänzt werden. Hier empfehlen sich beispielsweise das umfangreiche Textkorpus zum Frühneuhochdeutschen (Bonner Frühneuhochdeutsch-Korpus; online verfügbar unter www.korpora.org/ fnhd) oder das Korpus zur mittelhochdeutschen Sprach- und Literaturgeschichte der Universität Trier (Digitales mittelhochdeutsches Textarchiv; online verfügbar unter http: / / mhgta.uni-trier.de). Die Inhalte der einzelnen Kapitel können im Hochschulunterricht in teilnehmerorientierten Sozialformen (Einzelarbeit, Gruppenarbeit, Partnerarbeit, offene Moderation) gewinnbringend und aktivierend erarbeitet werden. Da Kapitel 7 und 14 der Wiederholung dienen, wäre es anzudenken, die Sitzungen 7 und 14 für Zwischen- und Abschlussprüfungen zu nutzen. Der besseren Lesbarkeit halber werden Personenbezeichnungen in diesem Buch in der maskulinen Form genannt. Verstehen Sie dies bitte einzig unter dem Aspekt der sprachlichen Ökonomie-- die im Übrigen eine wichtige Bedingung für Sprachwandel ist. Auf einer Waage, die zwischen sprachlicher political correctness einerseits und guter Lesbarkeit von Texten andererseits pendelt, bevorzuge ich stets den Ausschlag zugunsten der Prägnanz. <?page no="17"?> 17 I Sprachwandel Sprachen sind bei Weitem das wichtigste Vehikel kultureller Entfaltung und zugleich das wichtigste Element nationaler, übrigens auch persönlicher, Identität. Helmut Schmidt (1918-2015) <?page no="19"?> 19 1 Was ist Sprache — und woher kommt sie? Wer fremde Sprachen nicht kennt, weiss nichts von seiner eigenen. Johann Wolfgang Goethe (1749-1832) Ziele und Warm-up Der Begriff Sprachwandel begegnet uns nicht nur im wissenschaftlichen Diskurs, sondern auch im Alltag (z. B. in den Medien). Besonders im Zusammenhang mit Stil und „gutem Ausdruck“ wird oft intensiv diskutiert, in welchem Zustand sich unsere Sprache befindet. Sprachwandel wird immer dann zum Thema, wenn Veränderungen auffällig werden. Solche Veränderungen werden gerne als Fehler oder zumindest als Abweichungen von der sprachlichen Norm interpretiert. Vor allem im Vergleich zu früheren Sprachzuständen werden diese Abweichungen als Wandel offensichtlich. Aber was ist das eigentlich, was sich da wandelt? Ebenso, wie man nur verstehen kann, was ein Regenschirm oder eine Taschenuhr ist, wenn man weiß, was Regen, Schirm, Tasche und Uhr sind, kann man nur begreifen, was Sprachwandel bedeutet, wenn man weiß, was Sprache und Wandel eigentlich sind. Deshalb sehen wir uns in einem ersten Schritt den eigentlichen Gegenstand einmal genauer an, mit dem sich dieses Buch beschäftigt. Wir müssen uns zum Einstieg nämlich die Fragen stellen: Was ist Sprache? Und wozu haben wir sie eigentlich? In diesem ersten Kapitel werden wir zunächst gemeinsam überlegen, welcher Gegenstand überhaupt zu betrachten ist, wenn vom Wandel in der Sprache die Rede ist. Diese Überlegungen werden wir dann im zweiten Kapitel mit der Frage verknüpfen, wie Sprache und Wandel miteinander in Beziehung gesetzt werden können. Wir nähern uns also über die nachfolgenden Definitionen der Grundbegriffe dem Phänomen des allgemeinen Sprachwandels, das in diesem ersten Teil der Einführung im Fokus stehen soll. Zudem dienen die Ausführungen dazu, das spezielle Phänomen des Bedeutungswandels im zweiten Teil dieses Buches besser verstehen zu können. Dazu kreisen wir in diesem Kapitel zunächst den Begriff Sprache ein. Beantworten Sie bitte zum Einstieg die folgenden Fragen und machen Sie sich gerne auch stichwortartige Notizen dazu: <?page no="20"?> 20 1 Was ist Sprache — und woher kommt sie? ▶ Was ist eine Sprache? Schlagen Sie die Definition in einem Lexikon nach! ▶ Wie viele Verwendungsweisen des Wortes Sprache fallen Ihnen ein? Gibt es eigentlich so etwas wie die Sprache? ▶ Können Sie denken, ohne zu sprechen? ▶ Sprechen Sie eine Fremdsprache? Was ist ähnlich und was ist völlig anders, als Sie es aus Ihrer Muttersprache kennen? 1.1 Brauchen wir Sprache und wenn ja, wozu? Was Sprache ist, lässt sich eigentlich ganz leicht beantworten: Sprache ist all das, was übrigbleibt, wenn man weiß, was Sprache alles nicht ist. Sprache müssen wir uns also nur einmal wegdenken, dann sehen wir, was noch da ist und dann wissen wir, was Sprache ist. Klingt das plausibel? Nun, dann überlegen Sie doch einmal, was alles keine Sprache ist. Denken Sie sich die Sprache dabei einfach weg aus der Welt. Vielleicht denken Sie jetzt an einen Baum oder an ein Fahrrad oder an viel abstraktere Dinge wie Ihren letzten Urlaub. Sie haben recht: All das ist keine Sprache. Aber Sie haben einen Fehler gemacht: Sie haben sich die Sprache nicht weggedacht, als Sie darüber nachgedacht haben, was alles keine Sprache ist. Aber das ist nicht Ihr Fehler, denn ich habe Sie vor eine unlösbare Aufgabe gestellt. Sprache lässt sich nämlich nicht wegdenken, denn zum Denken selbst brauchen Sie die Sprache. Ohne Sprache wären Sie nämlich gar nicht in der Lage, an einen Baum zu denken. Zumindest wüssten Sie nicht, dass man ihn Baum nennt. Dass man Dinge überhaupt benennt, wüssten Sie nicht. Sie wüssten noch nicht einmal, was Sie überhaupt wüssten. Denn: Sprache und Denken hängen untrennbar miteinander zusammen. Unsere Denkweise prägt die Art und Weise, wie wir sprechen. Komplexe Gedanken erfordern komplexe sprachliche Ausdrucksmittel. Der Einfluss wirkt aber auch in der Gegenrichtung: Bringt man Menschen etwa neue Farbwörter bei, verändert das ihre Fähigkeit, Farben voneinander zu unterscheiden. Lehrt man sie, auf eine neue Weise über Zeit zu sprechen, so beginnen sie, auch anders darüber zu denken. Man kann sich der Frage auch anhand von Menschen nähern, die zwei Sprachen fließend sprechen. Nachweislich ändern bilinguale Personen ihre Weltsicht je nachdem, welche Sprache sie gerade verwenden. Ein anderes Beispiel: Für Europäer, die von links nach rechts zu schreiben gewohnt sind, liegt früher links <?page no="21"?> 21 1.1 Brauchen wir Sprache und wenn ja, wozu? von später; Araber ordnen die Zeit hingegen von rechts nach links; für Aborigines liegt früher im Osten (vgl. Boroditsky 2012). Die Menschen sprechen in den vielen Ländern dieser Welt auf mannigfaltige Weise miteinander, und jede Sprache verlangt von ihren Benutzern ganz unterschiedliche kognitive Anstrengungen. Die kognitive Linguistin Lera Boroditsky beschreibt das so: Angenommen, ich möchte Ihnen mitteilen, dass ich Anton Tschechows Drama „Onkel Wanja“ auf einer Bühne in der 42. Straße New Yorks gesehen habe. Auf Mian, das in Papua-Neuguinea gesprochen wird, würde das Verb aussagen, ob das Stück soeben, gestern oder vor langer Zeit gespielt wurde. Das Indonesische dagegen gibt damit nicht einmal preis, ob die Aufführung bereits stattfand oder noch bevorsteht. Auf Russisch enthüllt das Verb mein Geschlecht. Wenn ich Mandarin verwende, muss ich wissen, ob Onkel Wanja ein Bruder der Mutter oder des Vaters ist und ob er blutsverwandt oder angeheiratet ist, denn für jeden dieser Fälle gibt es einen speziellen Ausdruck. (Boroditsky 2012) Was wir also Denken nennen, ist offenbar in Wirklichkeit eine komplexe Verschaltung linguistischer und nichtlinguistischer Prozesse. Demnach dürfte es wohl kaum Denkprozesse geben, bei denen die Sprache keine Rolle spielt. Ein Grundzug menschlicher Intelligenz ist ihre Anpassungsfähigkeit- - die Gabe, Konzepte über die Welt zu erfinden und so abzuändern, dass sie zu wechselnden Zielen und Umgebungen passen. Sie sehen also: Alles Denken ist Sprache und nichts ist ohne Sprache denkbar. Denn: „Ohne Sprache gibt es kein Denken! “ (D ÖRNER 1998: 41) Und ohne Denken gibt es keine Sprache. Dieser Gedanke ist auch für das Thema unseres Buches interessant. Veränderte Sprachmuster führen demnach auch zu veränderten Denkmustern und umgekehrt. Diesen Umstand bezeichnet man als Linguistischen Determinismus. Etwas salopp formuliert ließe sich sagen: Sprachwandel führt zu Denkwandel und Denkwandel führt zu Sprachwandel. Aber beantwortet das bereits die Frage, was Sprache genau ist? Wenn wir darauf Antworten bekommen wollen, müssen wir uns ansehen, wie die Sprache in den Wissenschaften betrachtet wird. Wir müssen schauen, welche Auffassungen von <?page no="22"?> 22 1 Was ist Sprache — und woher kommt sie? der Struktur und Funktion von Sprache vorherrschen. Und wir müssen überlegen, wie die Verschiedenheit der Sprachen zu erklären ist. Diese letzte Frage können wir am ehesten mit einem Blick in die Sprachgeschichte klären. Exkurs: Die Sapir-Whorf-Hypothese — oder: Wie bestimmt die Sprache unser Denken (und Handeln)? Wenn man davon ausgeht, dass unser Denken über sprachliche Wissensbestände in unserem Gehirn organisiert ist und wenn wir weiterhin davon ausgehen, dass wir uns mit unserem Denken in einem ständigen Austausch mit unserer Umwelt befinden, dann ist es plausibel anzunehmen, dass hier Wechselwirkungen bestehen zwischen dem Denken und der Sprache auf der einen und der Welt um uns herum auf der anderen Seite. Die sogenannte Sapir-Whorf-Hypothese besagt, dass die Art und Weise, wie wir denken, durch die Bedingungen unserer Sprache, also durch die lexikalische und grammatische Struktur unseres Sprachsystems, determiniert wird. Nach dieser Auffassung ist es prinzipiell unmöglich, dass wir uns mit einem Menschen, der eine andere Sprache als wir spricht, so verständigen können, dass wir uns verstehen. Die Hypothese geht davon aus, dass es bestimmte Gedanken einer einzelnen Person in einer Sprache gibt, die von jemandem, der eine andere Sprache spricht, nicht verstanden werden können. Zudem ist es nicht möglich, etwas zu denken, für das wir den Begriff nicht kennen — was wir nicht sprachlich konzeptualisieren können, können wir schlicht und einfach auch nicht denken. So definiert bedingt die Fähigkeit, Sprache benutzen zu können, unsere Fähigkeit, denken und die Welt wahrnehmen zu können. Die Sapir-Whorf-Hypothese geht also davon aus, dass die semantische Struktur einer Sprache die Möglichkeiten der Begriffsbildung von der Welt entweder determiniert oder limitiert. Wenn man diese Hypothese weiterdenkt, bewirken bewusste Eingriffe von außen (z. B. durch das ideologische Besetzen bestimmter Begriffe durch die Politik) eine Veränderung der Denkstrukturen, wodurch Sprachveränderungen (= geplanter Sprachwandel) über Denkveränderungen unmittelbare Auswirkungen auf die außersprachliche Wirklichkeit haben können. Viele Begriffe der Nazi-Ideologiesprache beispielsweise haben dazu geführt, dass Denkmuster durch z. B. Euphemismen so gesteuert wurden, dass das Denken zu konkretem Handeln führen konnte. <?page no="23"?> 23 1.2 Warum sprechen wir so und nicht anders? Benjamin Lee Whorf ( 1879 — 1941 ) war zunächst Chemieingenieur und Experte für Brandschutz, bevor er amerikanische und indianische Linguistik mit dem besonderen Interesse für uto-amerikanische Sprachen bei E DWARD S APIR studierte. W HO RF wurde (posthum) bekannt für seine Arbeiten zur Sprache der Hopi und für das nach ihm und seinem Lehrer S API R benannte linguistische Relativitätsprinzip (Sapir-Whorf-Hypothese). Aus seinen Forschungen zur Hopi-Sprache leitete er ab, dass die Sprache, die ein Mensch spricht, den Weg seines Denkens maßgeblich beeinflusst: Die Struktur der Sprache beeinflusse die Wahrnehmung der Welt (s. Exkurs). Auch wenn nach seinem Tod seine Darstellung der relevanten Aspekte der Hopi-Grammatik und andere Vorstellungen zu semantischen Aspekten der Hopi-Sprache widerlegt worden sind, blieben seine Gedanken zum Verhältnis von Sprache und Denken bis heute einflussreich — und werden in der Gegenwart kontrovers diskutiert. 1.2 Warum sprechen wir so und nicht anders? — Eine sprachhistorische Spurensuche Derzeit werden auf der Welt etwa 6 500 bis 7 000 Sprachen gesprochen, wobei diese Festlegung nur annäherungsweise stimmt (vgl. Schlobinski 2014: 31). Sie ist deswegen vage, weil nicht ganz klar ist, was man eigentlich zu den Sprachen Gelenktes kollektives Sprachhandeln spiegelt sich demnach über den Prozess der Veränderung des Denkens bisweilen auch in konkretem Handeln wider. Diese kontrovers diskutierte Annahme wurde von B ENJAMIN W HO RF aufgestellt, der sich auf den Sprachwissenschaftler E DWARD S API R berief und die Hypothese gemeinsam mit ihm vertrat. Ansätze zu einer Theorie des linguistischen Relativismus finden sich schon weit früher bei W ILHELM VON H UMBOLDT . Die Sapir-Whorf-Hypothese führt neben den genannten Aspekten auch zu der Annahme von der grundsätzlichen Unübersetzbarkeit fremdsprachlicher Texte. <?page no="24"?> 24 1 Was ist Sprache — und woher kommt sie? als eigenständige Form hinzuzählen darf und was nicht. So gibt es beispielsweise sprachliche Varianten wie etwa das Schweizerdeutsch, bei denen man uneins ist, ob es sich nun um eine eigene Sprache handelt oder ob diese Sprachform lediglich als Ableger einer anderen Sprache betrachtet werden darf. Am ehesten ist eine Grenzziehung dann möglich, wenn man den Aspekt der kulturellen oder gesellschaftlichen Identifikation durch Sprache ins Feld führt und diesen von den Ähnlichkeiten zu anderen Sprachen abgrenzt. 1 So ist das Deutsche ebenso wie das Spanische oder das Italienische ein kulturell und gesellschaftlich determinierendes Sprachsystem. Das bedeutet: Alle Sprecher dieser Sprache sind kulturell und gesellschaftlich miteinander verbunden. Insofern kennzeichnet Sprachen immer auch das Prinzip der Ausschließlichkeit. Das kennen Sie sicher auch: Menschen, die eine andere als unsere eigene Sprache sprechen, sind uns oft fremd, wohingegen wir uns häufig im Ausland freuen, auf Menschen zu treffen, die dieselbe Sprache sprechen wie wir. Man kann sagen: Gemeinsame Sprachen verbinden, weil sie auf gemeinsame Normen, Werte und Erfahrungen schließen lassen. Oder anders: Gemeinsame sprachliche Wissensbestände sind kognitiv und emotional verwoben mit gemeinsamen außersprachlichen Wissensbeständen wie gemeinsame Werte, Normen und kollektive Erfahrungswelten. Daher wirken Sprachen identitätsstiftend, gruppenstabilisierend und zugleich ausschließend. Da die Schweizer, um bei unserem Beispiel zu bleiben, eine eigene gesellschaftliche Identität (z. B. durch eigene Gesetze etc.) besitzen, wäre es nicht falsch, das Schweizerdeutsch als eigene Sprache zu bewerten. Nicht falsch, aber eben auch umstritten, weil die sprachsystematischen Eigenschaften des Schweizerdeutschen nahezu identisch sind mit denen des Deutschen. Hier sind es dann die Unterschiede, die dem Schweizerdeutschen einen Status als eigene Sprache zuweisen können. Problematisch wird die Festlegung anhand kultureller und gesellschaftlicher Identifikation auch dann, wenn eine Sprache in zwei oder mehr kulturell völlig verschiedenen Gesellschaften gesprochen wird. Für das Französische ist das etwa der Fall, da es nicht nur in Frankreich, sondern auch in den ehemaligen französi- 1 Identifikation ist neben der Verständigung eine der wesentlichsten Funktionen von Sprachen im Allgemeinen und von sprachlichen Variationen wie den Sondersprachen (z. B. Jugendsprache) im Speziellen. <?page no="25"?> 25 schen Kolonien in Nordafrika, in Westafrika oder auch auf Haiti gesprochen wird. Hier ist die gemeinsame Identifikation über die Sprache auf den ersten Blick kein Kriterium, das definitorisch das Französische als Sprache verorten könnte. Doch der Schein trügt. Für Amtssprachen gilt: Sie sind nicht die Sprachen, die von den Bevölkerungen primär gesprochen werden-- und es gibt häufig Unterschiede in der Sprachverwendung (z. B. phonetische). Zudem kommt es häufig zur Ausbildung eigener Sprachen durch Vermischungen von Muttersprache und Amtssprache, die man als Pidgin-Sprache bezeichnet. Solche Sprachen sind vereinfachte Behelfssprachen zur Verständigung zwischen Menschen, die unterschiedliche Muttersprachen sprechen (sogenannte lingua franca). Eine andere Blickrichtung ergibt sich, wenn man allein die Unterschiede im Sprachsystem als Maßstab nimmt. Andere Sprachen besitzen andere Wortschätze, andere Grammatikregeln und teilweise andere Schriftsysteme. Aber auch hier gibt es oft mehr Gemeinsamkeiten, als man zunächst vermutet-- besonders dann, wenn verschiedene Sprachen sich aus derselben Wurzel entwickelt haben. Das können wir leicht erkennen, wenn wir einen Blick auf das Englische werfen, das dem Deutschen zunächst nicht sehr ähnlich zu sein scheint, aber wie Deutsch, Niederländisch oder Schwedisch zu den germanischen Sprachen gehört. Dass das Englische als westgermanischer Zweig der indogermanischen Sprachen (s. Tabelle 1) dem Deutschen sehr nahe ist, können Sie erkennen, wenn Sie sich das deutsche und das englische Wort ansehen, das wir in beiden Sprachen verwenden, wenn etwas reichlich vorhanden ist. Im Deutschen sagen wir in solchen Fällen gerne, wir hätten genug von etwas. Im Englischen spricht man davon, dass etwas enough ist, beispielsweise enough to eat. Wenn man das englische Wort enough so ausspricht, wie es der deutschen Konvention entspricht und sich damit von der bekannten englischen Aussprachekonvention löst, liest man das Wort wie [əˈnuːk] . Setzt man nun vor das englische Wort ein g-, entsteht morphologisch das Wort genough, das lautlich als [ɡəˈnuːk] realisiert wird. Lautlich, semantisch und auch beinahe orthografisch entspricht dieses Wort unserem deutschen Lexem genug. Sie erkennen daran: Die morphologische, lautliche, grammatische und / oder semantische Ausdifferenzierung von Sprachen ist und war immer das Resultat eines Sprachwandels. Sehen wir uns ein anderes Beispiel für Sprachwandel im Deutschen an, das auf einer Sprachverwandtschaft beruht. Manchmal ist es so, dass Familienmitglieder sich etwas leihen. Wenn Sie Geschwister haben, kennen Sie das. Bei Sprachen ist 1.2 Warum sprechen wir so und nicht anders? <?page no="26"?> 26 1 Was ist Sprache — und woher kommt sie? das oft nicht anders, auch hier werden Elemente verliehen und wie bei Geschwistern oder Freunden leiht man sich etwas, was man selbst gut gebrauchen kann. Das deutsche Wort Keks ist ein gutes Beispiel für eine solche Leihgabe aus dem verwandten Englischen. Wie Sie wissen, gibt es im Englischen das ähnliche Wort cake, das Engländer und Amerikaner dazu verwenden, um auf einen Kuchen zu referieren. Unser deutsches Wort Keks ist etymologisch eine Übernahme des Wortes cake aus dem Englischen, wobei wir den Begriff interessanterweise im Singular in der Pluralform der Muttersprache verwenden. Weil uns das gar nicht bewusst ist- - und weil die Pluralendung -s in unserem grammatischen System seltener vorkommt--, hängen wir an die Pluralendung -s noch unsere verbreitete Pluralendung -e an (ein Keks / zwei Kekse), wenn wir davon sprechen, dass wir mehr als ein Stück Gebäck auf unserem Teller haben. Solche grammatischen Anpassungen von Entlehnungen an unser grammatisches System finden wir beispielsweise auch bei dem aus dem Italienischen kommenden Wort Scampi, die gerne fälschlicherweise als Scampis bezeichnet werden, wenn man nicht weiß, dass der Singular im Italienischen nicht Scampi, sondern Scampo lautet. Sie sehen: Einflüsse aus anderen Sprachen sind etwas völlig Normales und sie lassen sich durch Sprachverwandtschaften historisch oder geografisch fast immer erklären. Grundsätzlich ist davon auszugehen, dass sich die einzelnen Sprachen aus einer Sprachvielheit mit weit zurückliegenden gemeinsamen sprachlichen Wurzeln durch sogenannte kulturell bedingte Konvergenzen zu Einheitssprachen als Standardvarietäten 2 von Sprachengemeinschaften entwickelt haben und nicht etwa umgekehrt. Eine solche konvergente Entwicklung von Sprachen, die sich aufgrund wechselseitiger Beeinflussungen gegenseitig formen, lässt sich für die Gegenwartssprache beispielsweise am Balkansprachbund ablesen. Kennzeichen eines solchen Sprachbundes, der sich in unserem Beispiel aus slawischen und romanischen Sprachen zusammensetzt und zusätzlich noch durch Albanisch sowie Neugriechisch geprägt ist, ist eine wechselseitige Beeinflussung geografisch benachbarter Sprachen durch das Phänomen des Sprachkontakts. 2 Unter einer Standardvarietät versteht man beispielsweise das Standarddeutsch im Gegensatz zu den deutschen Dialekten. Während die Dialekte, aus denen die Standardvarietät entstanden ist, natürliche Gebilde sind, werden Standardvarietäten immer durch äußere Eingriffe geformt. Als Merkmale sind hier zu nennen Kodifizierung (z. B. Orthografie- Normen), Allgemeinverbindlichkeit, Polyvalenz (ausdifferenzierter Wortschatz) und stilistische Differenzierung (verschiedene sprachliche Stile). <?page no="27"?> 27 Für das Deutsche ist eine sehr komplexe und nicht in allen Zügen bekannte historische Klassifikation belegt, die zeigt, dass das heutige Deutsch aus einer Vielzahl von Dialekten entstanden ist, von denen einige, wie das Hessische oder das Pfälzische, heute noch existieren, wohingegen andere, wie das Altniederfränkische etwa, nicht mehr bestehen. In einer solchen historischen Klassifikation ist das Deutsche als eigenständige westgermanische Sprache noch nicht angelegt, sondern ist nur in Form seiner Dialekte integrierbar. Aus dem germanischen Zweig des Indogermanischen sind in der historischen Entwicklung die folgenden 15 Einzelsprachen entstanden, die bis heute mehr oder weniger offensichtlich erkennbar sprachliche Verwandtschaften aufzeigen: Westgermanisch Nordgermanisch Ostgermanisch Deutsch-Niederländisch ▶ Deutsch ▷ Deutsch ▷ Jiddisch ▷ Luxemburgisch ▷ Pennsylvania Dutch Niederdeutsch ▶ Niederdeutsch ▷ Niederdeutsch ▷ Plautdietsch ▶ Niederländisch ▷ Niederländisch ▷ Afrikaans Anglo-Friesisch ▶ Friesisch ▶ Englisch Skandinavisch ▶ Dänisch ▶ Schwedisch ▶ Norwegisch Isländisch-Färöisch ▶ Isländisch ▶ Färöisch Gotisch Vandalisch Burgundisch (keine Sprachen erhalten) Tabelle 1 Klassifikation der heutigen germanischen Sprachen (nach R O BINSON 1992) Dass es heute in vielen Sprachen Verwandtschaften gibt, die durch eine gemeinsame Entwicklung bedingt sind, lässt sich gut durch einen Vergleich der Wortschätze geografisch benachbarter Sprachen erkennen. In der folgenden Übersicht über einige basale Wörter in germanischen Sprachen sind Begriffe aus dem Bereich der Verwandtschaftsbezeichnungen sowie einige Alltagsbegriffe zusammengestellt, die deutlich Gemeinsamkeiten erkennen lassen. Dabei genügt schon ein rascher Blick, um den hohen Grad der Verwandtschaft der germanischen Sprachen insgesamt zu erkennen. Sie werden feststellen, dass es mehr Gemeinsamkeiten als Unterschiede zwischen diesen Grundbegriffen gibt. Die heutigen Unterschiede zwischen den verwandten Sprachen lassen sich dadurch erklären, dass viele Wörter erst nach der sprachhistorischen Ausdifferenzierung zu den 1.2 Warum sprechen wir so und nicht anders? <?page no="28"?> 28 1 Was ist Sprache — und woher kommt sie? heutigen germanischen Sprachen hinzugekommen sind. Diejenigen Begriffe aber, die zu den basalen sprachlichen Wissensbeständen gezählt werden können (wie etwa diejenigen in der nachfolgenden Übersicht), weisen bis heute signifikante Gemeinsamkeiten auf: 3 3 Die indogermanische Ursprache (auch Urindogermanisch) ist nicht erschlossen, weshalb die Begriffe der indogermanischen Ursprache in dieser Übersicht lediglich als Rekonstruktion betrachtet werden dürfen. Deutsch Althochdeutsch Luxemburgisch Niederländisch Afrikaans Altsächsisch Altenglisch Englisch Altnordisch Gotisch Germanisch Indogerm. Grundsprache Vater fater vader vader fadar fæder father faðir fadar fađer p ə tér Mutter muoter moeder moeder modar modor mother móðir mōđer mater Brudert bruoder Brudder broe- (de)r broer brođar brođor brother bróðir broþar brōþer bhrater Schwester swester Schwëster zus(ter) suster swestar sweostor sister systir swistar swester suesor Tochter tohter Duechter dochter dogter dohtar dohtar daughter dóttir dauhtar du χ ter dhug ə ter Sohn sunu zoon seun sunu sunu son sunr sunus sunuz su ə nu essen ezzan iessen, eessen eten eet etan etan eat eta itan etaną ed Hund hunt Hond hond hond hund hund hound hundr hunds χ undaz kuon Wasser wazzar Waasser water water watar wæter water vatn vato watōr wódr ̥ Feuer fiur Feier vuur vuur fiur f ȳ r fire fúrr fōr, fuïr Péh 2 ur eins ein een(t) één een en an one einn ains aina oino zwei zwa / zwo / zwei zwee twee twee twa / two / twe twa / tu two tveir / tvær twai / twos twajina dwou tragen beran droen baren beran beran bear bera bairan beraną bher- Tabelle 2 Germanische Lexeme im synchronen und diachronen Vergleich <?page no="29"?> 29 Neben den Gemeinsamkeiten innerhalb der west- und nordgermanischen Sprachen zeigt diese exemplarische Auflistung auch anschaulich die Ähnlichkeit der westgermanischen und nordgermanischen Sprachen zueinander. Eine Abweichung dieser beiden Sprachfamilien vom Gotischen ist daneben ebenso deutlich sichtbar wie die Beziehung des Germanischen zum Indogermanischen, wobei hier die Abweichungen selbstverständlich insgesamt größer sind, dennoch aber Familienähnlichkeiten erkennbar bleiben. Warum ist das so? Nun, das ist wie in einer großen und sehr alten Familie: Die Ähnlichkeiten zwischen Geschwistern sind oft verblüffend, wohingegen man Verwandtschaften zu längst verstorbenen Urahnen möglicherweise nur noch an wenigen Merkmalen wie etwa an großen Ohren oder einer krummen Nase ablesen kann. Und auch in einer anderen Hinsicht gleicht die sprachhistorische Betrachtung der Ahnenforschung: Von Familienmitgliedern, die heute leben oder die im 20. Jahrhundert gelebt haben, gibt es Fotos, Videos und zahlreiche andere Dokumente. So kann man ein Foto des verstorbenen Großvaters nehmen und daran vergleichen, inwieweit man diesem Ahnen ähnlich sieht. Bei Urahnen, die vor 500 Jahren gelebt haben, ist das schon schwieriger oder-- wenn man keinem Adelsgeschlecht angehört und es keine Portraits der Urahnen gibt-- unmöglich. Bei Sprachen, von denen wir keine Zeugnisse haben, wie es für das Urindogermanische der Fall ist, fällt es der Wissenschaft aus demselben Grund schwer, Vergleiche zu ziehen. Um das Urindogermanische rekonstruieren zu können, muss man bis etwa 3400 v. Chr. und noch weiter zurückgehen, denn etwa zu diesem Zeitpunkt haben sich die germanischen Sprachen getrennt. Die Übersicht in Tabelle 2 zeigt aber nicht nur Gemeinsamkeiten zwischen den germanischen Sprachen, sondern sie kann uns auch ein Beispiel für einen Sprachwandel zeigen, der am heutigen Deutsch ablesbar ist. Wenn Sie sich beispielsweise schon immer gefragt haben, worin der Unterschied zwischen einem Eimer und einem Zuber begründet ist, dann müssen Sie in Tabelle 2 die Wörter für eins und zwei sowie für tragen ansehen und diese neuhochdeutschen Wörter mit der althochdeutschen Entsprechung vergleichen. Fällt Ihnen etwas auf ? Sowohl der Eimer als auch der Zuber sind Behältnisse, die zum Tragen geeignet und gedacht sind, deshalb besitzen sie Henkel oder Tragegriffe. Der Unterschied besteht nun in der Anzahl der Henkel: Ein Eimer (aus ahd. ein und einer Ableitung von ahd. beran zu ahd. eimbar) ist ein Behälter, der nur einen Henkel besitzt; ein Zuber hingegen ist ein Gefäß, das an beiden Seiten Griffe hat (aus ahd. zwo und einer 1.2 Warum sprechen wir so und nicht anders? <?page no="30"?> 30 1 Was ist Sprache — und woher kommt sie? Ableitung von ahd. beran zu ahd. zubar oder zwibar). 4 Sowohl bei nhd. Eimer als auch bei nhd. Zuber hat ein Sprachwandelprozess zu den heutigen Wortbedeutungen geführt: Durch den Vorgang der Assimilation ist aus zwei Wörtern im Laufe der Zeit ein Wort entstanden, dessen Bedeutung man nur noch verstehen kann, wenn man a) weiß, dass es sich um ein zusammengesetztes Wort handelt und b) die Bedeutungen der ursprünglichen Wörter kennt. 5 Wenn man sich die Entwicklungslinie des Deutschen aus dem germanischen Zweig des Urindogermanischen ansieht, dann werden Verwandtschaften zu anderen germanischen Sprachen-- wie wir in Tabelle 2 erkennen konnten-- offenkundig. Nun ist der germanische Zweig nicht der einzige Entwicklungspfad, der sich ausgebildet hat. Das Griechische, das Indo-Iranische, das Romanische, das Balto-Slawische, das Albanische, das Keltische, das Armenische und das Tocharische sind Sprachen, die neben dem Germanischen aus einer indogermanischen Ursprache entstanden sind (vgl. McMahon 1994: 3). Einige dieser Sprachen existieren nicht mehr, wie etwa das Tocharische, das ehemals im Tarimbecken (heutiges China) vom 5. bis ins 12. Jahrhundert gesprochen wurde. Andere Sprachen hingegen, wie die romanischen, werden noch heute gesprochen und es lassen sich Verwandtschaften nicht nur innerhalb der eigenen Sprachfamilie (z. B. zwischen dem Spanischen und dem Italienischen), sondern auch zwischen den Sprachfamilien (z. B. zwischen der germanischen und der romanischen Sprachfamilie) erkennen. Die folgende Übersicht zeigt Ihnen einige intra- und intersprachliche Gemeinsamkeiten (farblich hervorgehoben): Englisch Französisch Deutsch hand main Hand milk lait Milch son fils Sohn book livre Buch colour couleur Farbe flower fleur Blume 4 Ähnlich verhält es sich z. B. auch mit den deutschen Worten Tragbahre und gebären-- beide Begriffe leiten sich wie Eimer und Zuber von dem althochdeutschen Verb beran ab. 5 Sprachhistorische Zusammenhänge auf lexikalischer Ebene lassen sich am besten mithilfe eines etymologischen Wörterbuches erfassen (z. B. Friedrich Kluges Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache). <?page no="31"?> 31 Englisch Französisch Deutsch knife canif Messer river rivière Fluss cat chat Katze mother mère Mutter three trois drei night nuit Nacht horse cheval Pferd Child enfant Kind black noir schwarz cloud nuage Wolke Tabelle 3 Intra- und intersprachliche lexikalische Gemeinsamkeiten und Unterschiede im englischen, französischen und deutschen Grundwortschatz (nach M C M AH ON 1994) Um auf die Eingangsfrage zurückzukommen, welche Sichtweise die richtige sei, wenn man Einzelsprachen voneinander abgrenzen möchte, lässt sich sagen: Die Ausdifferenzierung verwandter Sprachen zu eigenständigen Einzelsprachen und die Veränderungen ihrer Sprachsysteme sind kulturell bestimmte Prozesse. Dabei bleiben Ähnlichkeiten im Sprachsystem erhalten, die man durch eine sprachhistorische Brille erkennen kann — bei gleichzeitiger Entwicklung von sprachsystematischen Unterschieden. Identifikation als gesellschaftliches Phänomen bewirkt eine kulturelle Einheit, die Auswirkungen auf das jeweilige Sprachsystem hat. Kulturelle Identifikation und Sprachsystem sind somit zwei Seiten einer Medaille. Differenzierte Einzelsprachen sind kulturell-gesellschaftliche und sprachsystematische Einheiten, bei denen ausdifferenzierte Wortschätze Resultat von kulturell-gesellschaftlichen Identifikationsprozessen sind. Mit anderen Worten: Das Schweizerdeutsch unterscheidet sich sprachsystematisch nur marginal vom Deutschen, aber die Unterschiede, die es z. B. im Wortschatz gibt, sind das Ergebnis einer kulturellgesellschaftlichen Identifikation über einen Sprachwandelprozess. 1.2 Warum sprechen wir so und nicht anders? <?page no="32"?> 32 1 Was ist Sprache — und woher kommt sie? Halten wir an dieser Stelle fest: Sprachwandel findet nicht nur innerhalb von Einzelsprachen statt (systemimmanenter Sprachwandel); aus einer historischen Perspektive führte er auch unter bestimmten ökologischen Umständen (kulturelle Rahmenbedingungen) zur Entstehung und Entwicklung von Einzelsprachen aus ursprünglich verbundenen Sprachfamilien (systemformender Sprachwandel). 1.3 Weiterführende und vertiefende Literatur Als Einführung in das Forschungsfeld Sprache im Allgemeinen eignen sich M ÜL - LER 2009: 19 ff. sowie 223 ff. und S CHLOBINSKI 2014: 31 ff. Wenn Sie sich intensiver mit der Frage nach dem Gegenstand der Sprachwissenschaft befassen möchten, lesen Sie V AT ER 1999: 11-27 und ebenfalls M ÜLLER 2009: 33 ff. oder S CHLOBINSKI 2014: 15 ff. Für eine sprachhistorische Vertiefung empfehle ich Ihnen den sehr gut verständlichen und hervorragend illustrierten dtv-Atlas Deutsche Sprache (K Ö - NI G 2011). Lesenswert ist zudem die Deutsche Sprachgeschichte von G ERHART W OLFF . Zudem lohnt jederzeit ein Blick in die umfangreiche (3 Bände) Deutsche Sprachgeschichte vom Spätmittelalter bis zur Gegenwart von P E T ER VON P OLENZ . Interaktiv und damit zum Lernen gut gestaltet ist die CD - ROM Interaktive Einführung in die Historische Linguistik von D ONHAUSER 2007. Einen guten Überblick über die germanisch-deutsche Sprachgeschichte bekommt man bei S CHWEIKLE 2002. Wenn Sie sich näher mit der Etymologie von deutschen Wörtern beschäftigen möchten, sollten Sie über die Anschaffung des Etymologischen Wörterbuches der deutschen Sprache von K LU GE nachdenken. Eine sehr detailreiche Überblicksdarstellung über die Entwicklung der deutschen Sprache liegt seit 2014 mit U TZ M A AS ’ Buch Was ist Deutsch? vor. Ein Blick in dieses Buch ist äußerst lohnenswert. <?page no="33"?> 33 1.3 Weiterführende und vertiefende Literatur 2 Was ist das Wesen der Sprache? Dass ich erkenne, was die Welt im Innersten zusammenhält. Schau’ alle Wirkenskraft und Samen, und thu’ nicht mehr in Worten kramen. Johann Wolfgang Goethe (1749-1832) Ziele und Warm-up In diesem Kapitel wollen wir an unsere Überlegungen aus dem Eingangskapitel anknüpfen und uns noch ein wenig intensiver mit dem Wesen von Sprache befassen. Wir müssen zu einem angemessenen Sprachbegriff finden, damit wir verstehen können, auf welche Weise, also durch welche Prozesse und auf der Basis welcher Grundprinzipien, Sprachwandel abläuft. Dazu ist es wichtig, dass wir uns mit Sprachauffassungen vertraut machen, die in der Forschung bekannt und akzeptiert sind. Sie werden sehen: Nicht jede Auffassung davon, was Sprache ist, taugt dazu, sprachliche Veränderungen zu erklären. Sie werden auch feststellen: Eine Sprachauffassung, die den Sprecher und dessen kommunikative Ziele mit in den Blick nimmt, kann auch sprachliche Veränderungen plausibel begründen. Deshalb sind die nachfolgenden Überlegungen nicht rein wissenschaftstheoretischer Natur, sondern sie helfen uns, Sprachwandel im Kern zu verstehen. Denn: Wenn wir wissen, wie etwas beschaffen ist, können wir auch leichter verstehen oder schlussfolgern, wie etwas funktioniert. Wie also ist die Sprache beschaffen und was ist sie? Darum geht es in diesem Kapitel. Um in die Thematik einzusteigen, bitte ich Sie, die folgenden Fragen intuitiv zu beantworten: ▶ Was unterscheidet Ihre Muttersprache von anderen Sprachen, die Sie kennen? ▶ Haben Sie Haustiere? Können Ihre Tiere mit Ihnen sprechen? ▶ Wie unterscheidet sich die Sprache der Menschen von den Lauten der Tiere? ▶ Was ist die Funktion der menschlichen Sprache? Wozu verwenden Sie Ihre Sprache im Alltag? <?page no="34"?> 34 2 Was ist das Wesen der Sprache? ▶ Woher wissen Sie, was sprachlich richtiges Handeln ist? Wer schreibt uns vor, wie wir zu sprechen und zu schreiben haben? ▶ Kann man auch ganz ohne Sprache kommunizieren? Finden Sie Beispiele. 2.1 Welche Sprachauffassungen gibt es? Sprache ist grob gesagt ein „auf kognitiven Prozessen basierendes, gesellschaftlich bedingtes“ (Bussmann 2002: 616) Werkzeug, damit wir uns mit anderen Menschen, die dieselbe Sprache wie wir sprechen, verständigen können. Wie alle Werkzeuge unterliegt auch dieses im Laufe der Zeit historischen Entwicklungen. Es ist nie vollkommen und kann und wird sich im Laufe der Zeit verändern. Man geht davon aus, dass die Fähigkeit, Sprache in diesem Sinne als Werkzeug nutzen zu können, genetisch vorgegeben ist und auf neurophysiologischen Prozessen beruht. Sprache ist aber nicht einfach nur eine biologische Anlage, die wir Menschen haben und nutzen, sie ist zudem eine artspezifische Ausdrucksform, „die sich durch Kreativität, die Fähigkeit zu begrifflicher Abstraktion und die Fähigkeit zu metasprachlicher Reflexion von anderen Kommunikationssystemen unterscheidet“ (Bussmann 2002: 616). Mit anderen Worten: Sprache ermöglicht es uns, unsere Gedanken mit anderen Menschen zu teilen und anderen unsere Perspektive auf die außersprachliche Welt zu vermitteln. Zudem können wir über (die eigene oder fremde) Sprache sprechen, unser eigenes Sprechen kritisch beleuchten und auch das sprachliche Verhalten anderer bewerten (metasprachliche Reflexion). Mit dem eigentlichen Wesen der Sprache ist es aber nun so eine Sache, denn dass sie ein Mitteilungsmittel sei und kulturell determiniert wird, ist keine historische, sondern eine eher moderne Sichtweise. Seit der Antike fragen sich Philosophen, was Sprache eigentlich für ein Ding sei, ob wir sie uns angeeignet hätten oder ob sie uns von Gott gegeben sei, wie Sprache unser Denken beeinflusse und vieles andere mehr. Aus diesen philosophischen Überlegungen haben sich im 19. Jahrhundert die Sprachwissenschaften herausgebildet. Gegenwärtig ist die Sprache ein Gegenstand, der neben Linguisten aber auch Biologen, Neurowissenschaftler, Soziologen und Wissenschaftler noch weiterer Disziplinen umtreibt. Wenn man die auf den ersten Blick so simpel klingenden Fragen formuliert, was Sprache sei und wozu wir sie hätten, dann wird man unterschiedliche Antworten bekommen, je nachdem, wen man fragt. Biologen oder evolutionäre Psychologen würden das Phänomen wohl am ehesten mit den angeborenen und im Zuge der Evolution entwickelten kognitiven und anatomisch-physiologischen Anlagen <?page no="35"?> 35 2.1 Welche Sprachauffassungen gibt es? erklären wollen. Soziologen hingegen würden Sprache im Kontext zu gesellschaftlichen Strukturen und Systemen verorten. Und auch Sprachwissenschaftler sind sich nicht immer einig, was denn der Gegenstand ihres Faches eigentlich ist. Für das 20. Jahrhundert lassen sich etwa 30 Sprachauffassungen finden, die sich mehr oder weniger voneinander unterscheiden (vgl. Eckard 2008). Diese Vielzahl an unterschiedlichen Herangehens- und Betrachtungsweisen liegt darin begründet, dass sie sich selbst durch Anlehnungen an zeitgemäße Theoriekonzepte anderer Disziplinen, wie etwa der Evolutionstheorie, legitimierten. Zeige (2001) weist darauf hin, dass es sich um Versuche handelte, „die nicht gegenständliche und darum schwer zu fassende Natur der Sprache in Anlehnung an andere Wissenschaften durch gegenständliche Analogien darzustellen“ (Zeige 2008: -X). In diesem Zusammenhang sei auf drei Phasen in der Entwicklung der modernen Sprachwissenschaft hingewiesen, die richtungsweisend für heutige moderne Sprachbetrachtungen gewesen sind. Zum einen ist dies die Hinwendung der Geisteswissenschaften im Allgemeinen und der Linguistik im Besonderen zu den Methoden der objektiven und empirisch erfolgreichen Naturwissenschaften. Ebenso wie es in den Naturwissenschaften möglich war, Phänomene exakt zu bestimmen, wollte man nun auch sprachliche Entitäten präzise und mithilfe von realem Datenmaterial analysieren können. Sprache war in der Betrachtung zuvor eher etwas Transzendentes gewesen; es ging weniger um konkrete sprachliche Phänomene als beispielsweise um den Zusammenhang von Sprache und Wirklichkeit. Damit nun exakte Analysen möglich werden konnten, musste man von einer rein epistemischen Sprachbetrachtung zu einer materialistischen Betrachtungsweise übergehen. Diese Entwicklung war Fluch und Segen zugleich. Ihr ist es nämlich zuzuschreiben, dass organistische Metaphern bis heute in der Sprachbetrachtung zu finden sind. So spricht man noch heute vom Sprachwachstum, vom Aussterben bestimmter Dialekte oder vom Verfall einer Sprache. Dass es lebendige und tote Sprachen geben soll, entstammt diesem Denken. Sprache wird in dieser Sichtweise als ein „Ding mit ihm innewohnenden Lebenskräften“ (Keller 2003: 25) eingestuft und dabei sowohl unangemessen verdinglicht als auch irreführend vitalisiert. Dass man zugleich begann, Sprache als System zu verstehen und einer medizinischen Sektion gleich die Einzelelemente genauer zu fokussieren, ist die positive Folge dieses Umdenkens, denn sie begünstigte die Erforschung sprachlicher Einzelphänomene. Die zweite wichtige Zäsur in der Sprachbetrachtung wurde geprägt durch Gustav Bergmann und wurde bekannt durch eine 1967 von Richard Rorty <?page no="36"?> 36 2 Was ist das Wesen der Sprache? herausgegebene gleichnamige Anthologie mit dem Titel linguistic turn. Diese linguistische Wende in der Mitte des 20. Jahrhunderts bezeichnet Anstrengungen in der Philosophie, Literaturwissenschaft und Linguistik, sprachliche Vermittlungsformen genauer zu untersuchen, also nicht mehr allein den Text als sprachliches Gebilde zu analysieren, sondern- - und das ist die große Leistung- - die sprachlichen Bedingungen dahinter zu erforschen. Diese Entwicklung geht also mit einer verstärkten Hinwendung zur Sprache selbst, das bedeutet zu den Bedingungen der Verwendung und Bedeutung sprachlicher Äußerungen, einher. Viele Vertreter des linguistic turn hatten das Ziel, nicht mehr die Dinge an sich zu untersuchen, sondern die Phänomene hinter den Dingen, wie etwa die sozialen und kulturellen Bedingungen, unter denen Sprache entsteht und unter denen sie sich verändert. Auf diese Weise lässt sich auch Sprachwandel nicht mehr als Ding an sich betrachten, sondern Sprachwandel wird durch Prozesse des Sprachhandelns erklärbar. Die sogenannte linguistische Pragmatik als Lehre vom sprachlichen Handeln konnte sich erst im Zuge des linguistic turn entwickeln-- sie kann uns heute wertvolle Hinweise darauf liefern, warum unser Sprachsystem so ist, wie es ist. Diese sprachpragmatische Arbeitsweise übernahmen zahlreiche Vertreter der linguistischen Fachgebiete, die Auswirkungen betrafen aber darüber hinaus auch die meisten anderen Geistes- und Sozialwissenschaften. Die dritte Entwicklung, die für die heutige Sprachauffassung von Bedeutung ist, bezeichnet man häufig als die Etablierung der sogenannten Bindestrich- Linguistiken in der Folge des linguistic turn. Gemeint ist damit die Annäherung der Sprachwissenschaft an angrenzende Disziplinen und die Öffnung für Methoden aus anderen Wissenschaftsbereichen. So gibt es heute eine Vielzahl an sehr spezialisierten Teildisziplinen innerhalb der sprachwissenschaftlichen Forschung, wie etwa die Soziolinguistik, die Psycholinguistik, die Neurolinguistik oder die Textlinguistik. All diese Disziplinen kennzeichnen neue Dimensionen von Sprachbetrachtungsebenen, die konsequent von Theorien und Methoden ausgehen, die außerhalb der Sprachwissenschaft entstanden sind oder deren Techniken und Methoden größtenteils auf Nachbardisziplinen Bezug nehmen (vgl. Wildgen 2010: 160). Diese Bezugnahme auf andere Forschungsfelder und auf deren Methoden ist auch für die Sprachwandelforschung von Bedeutung. So geht Zeige davon aus, dass beispielsweise „die Erkenntnisse der psycholinguistischen Forschung das Verstehen von Verarbeitungsmechanismen und der mental-kognitiven Seiten von Sprache“ (Zeige 2011: XIX ) erweitern können. Auch die Soziolinguistik in der Tradition William Labovs kann Beiträge zu einem besseren Verständnis aus der <?page no="37"?> 37 2.1 Welche Sprachauffassungen gibt es? Perspektive einer sozialen Strukturanalyse leisten, indem durch empirische Sozialforschung heute untersucht wird, wie Sprecher bestimmter sozialer Gruppen zu einer Veränderung des Sprachsystems beitragen. Gegenwärtige Untersuchungen zum sogenannten Kiezdeutsch oder zur Jugendsprache und damit verbunden Analysen zur Verbreitung und zur Wirkung dieser sozialen Varietäten auf das System der Gemeinsprache sind beispielsweise sehr aufschlussreich. Was diese drei Phasen in der jüngeren Geschichte der Sprachwissenschaft so besonders macht, ist eine Hinwendung zur sprachlichen Wirklichkeit und zu den Mechanismen sprachlichen Handelns. Wesentlich für die moderne Linguistik ist, dass der sprechende Mensch und die sprachlichen Funktionen in der Gesellschaft das Wesen der Sprache ausmachen. Seit dem Entstehen der modernen linguistischen Pragmatik wird der Tatsache, dass eine adäquate Sprachtheorie, die weder verkürzt noch hypostasiert, nur als sozialwissenschaftliche Theorie denkbar ist, in der Sprachwissenschaft sowie in den angrenzenden Wissenschaftsdisziplinen verstärkt Rechnung getragen. Wir können also über das Wesen der Sprache im Allgemeinen mit einem ersten Blick auf deren Veränderungen und den damit verbundenen Prinzipien festhalten: Die Bestimmung der sprachlichen Struktur (= Sprache) sowie des sprachlichen Strukturwandels (= Sprachwandel) sind untrennbar verbunden mit den Handlungsmaximen und Handlungsroutinen der Sprecher in einer Sprachgemeinschaft. Diese Handlungsmaximen sind immer zweckgerichtet. Die historische Sprachwissenschaft, die versucht, Sprachwandel zu erklären, ist von der beschriebenen Vielfalt der Betrachtungsmöglichkeiten nicht unbeeinflusst. Wenn man das Wesen des Wandels aus dem Wesen der Sprache ableiten möchte, muss man zunächst festlegen, welche Sprachauffassung man vertritt. Dabei gilt: Je nachdem, welcher sprachwissenschaftlichen Schule man angehört, ist Sprache entweder ein natürliches, ein strukturalistisches, ein technisch-funktionales oder ein handlungstheoretisches Phänomen. Wie jede andere Wissenschaft auch findet die Sprachwissenschaft ihren Gegenstandsbereich nicht einfach vor, sondern sie konstituiert ihn selbst. Diese Konstituierung geschieht aber nicht nach arbiträren, also nach willkürlichen Kriterien, <?page no="38"?> 38 2 Was ist das Wesen der Sprache? sondern nach solchen, die in einer relevanten Hinsicht für Erkenntnisprozesse wesentlich sind. Vornehmlich sind es vier Sprachauffassungen, die Sprache als Gegenstandsbereich für die Wandelforschung konstituieren, wobei 2-4 sich als tauglich für Erklärungen erweisen, während 1 sich als untauglich erweist: 1. Sprache als Organismus 2. Sprache als komplexes Zeichensystem 3. Sprache als Werkzeug und Tätigkeit 4. Sprache als spontane Ordnung Betrachten wir im Folgenden diese wesentlichen Sprachauffassungen einmal etwas genauer- - das Verstehen des Gegenstandsbereichs ist wichtig, um nachvollziehen zu können, warum sich Sprachen wandeln. Denn: Wenn man nicht weiß, was sich wandelt, wird man auch nicht erkennen können, auf welche Weise das geschieht. Wir werden sehen, dass insbesondere die Festlegung von Sprache als spontane Ordnung uns dabei hilft, den Sprachwandel verstehen und erklären zu können. Lassen Sie uns also im Folgenden gemeinsam ein paar Fragen stellen und nach plausiblen Antworten suchen. 2.2 Welche Sprachauffassung ist die richtige? 2.2.1 Ist Sprache ein Organismus? Die Frage danach, ob die Sprache etwas Lebendiges wie ein Organismus sei, enthält eine populäre Metapher. Metaphern sind dazu da, komplexe Sachverhalte bildhaft darzustellen, damit man sie besser verstehen kann. Nur leider sind Metaphern selten präzise, denn sie verdinglichen (hypostasieren) zu sehr. Die Organismus-Metapher im Zusammenhang mit dem Wesen von Sprache ist uns bereits begegnet. Es handelt sich dabei um eine Sprachauffassung, die auf den Prinzipien der Naturwissenschaft beruht. Sie ist entstanden in dem Bemühen, auch abstrakte geisteswissenschaftliche Phänomene exakt beschreiben zu wollen. Bedeutender Vertreter einer solchen Sichtweise ist der Indogermanist August Schleicher. Seine Vorstellung kann man als organizistisch einstufen: Unterstellt wird eine Eigendynamik der Sprache, die durch den Sprachgeist als einer jeder Sprache immanente natürliche Kraft erklärt wird: Die Sprachen sind Naturorganismen, die, ohne vom Willen des Menschen bestimmbar zu sein, entstanden, nach bestimmten Gesetzen wuchsen und sich entwickelten und <?page no="39"?> 39 2.2 Welche Sprachauffassung ist die richtige? wiederum altern und absterben; auch ihnen ist jene Reihe von Erscheinungen eigen, die man unter dem Namen „Leben“ zu verstehen pflegt. Die Glottik, die Wissenschaft der Sprache, ist demnach eine Naturwissenschaft; ihre Methode ist im ganzen und allgemeinen dieselbe wie die der übrigen Naturwissenschaften. (Schleicher 1863: 6 f) Was diese vitalistische Metapher vom lebendigen Organismus auf den ersten Blick zunächst einmal sinnvoll und richtig erscheinen lässt, ist der beobachtbare Umstand, dass sich Sprache ständig wandelt. Aus der Dynamik von Sprachen könnte man schlussfolgern, dass in ihnen eine vitale Kraft steckt, dass Sprachen also leben. Die Entwicklung von Sprachen könnte man dieser Sichtweise folgend als eine Art Evolution bezeichnen, als einen Prozess also, der zu einer steten Weiterentwicklung der Sprache beiträgt. Ein Blick auf die zuvor im ersten Kapitel umrissene historische Entwicklung des Deutschen aus einer indogermanischen Ursprache würde diese These greifbar machen: Wie anhand eines Familienstammbaums lässt sich die Entwicklung der deutschen Sprache zurückverfolgen. Mehr noch: Wir erkennen auch Verwandtschaften und können sogar abstufen, mit welcher Sprache das Deutsche enger und mit welcher es entfernter verwandt ist. Nun hat diese Theorie einen entscheidenden Haken, weshalb eine organizistische Sprachbetrachtung in der Linguistik zwar in den letzten 150 Jahren intensiv diskutiert wurde und bis heute außerhalb der Sprachwissenschaften im Alltagsverständnis vom Werden und Wandel der Sprachen noch weit verbreitet ist, zur Erklärung des Sprachwandels aber nicht taugt. Der Haken liegt darin, dass eine solche Einschätzung dessen, was Sprache ist, den Sprecher mit seinen Handlungsmöglichkeiten außen vor lässt: „Der Wandel wurde [und wird in einer solchen Konzeption] als ein ausschließlich naturgesetzliches Phänomen angesehen“ (Keller / Kirschbaum 2003: 126). Vernachlässigt man nun aber die Sprachbenutzer, müssten Sprachen auch aus sich selbst heraus lebensfähig sein; schließlich ist ein Organismus ein in sich geschlossenes System. Dies trifft auf Sprachen jedoch nicht zu. <?page no="40"?> 40 2 Was ist das Wesen der Sprache? August Schleicher (1821—1868) war ein deutscher Sprachwissenschaftler. Er gilt als Begründer der Stammbaumtheorie in der vergleichenden Sprachforschung und als Mitbegründer der Indogermanistik. S CHLEI CHER ging davon aus, dass sich die Prinzipien der Evolutionsbiologie, die im 19. Jahrhundert populär wurden, auch auf die Entstehung und die Entwicklung von Sprachen übertragen ließen. In Form eines Stammbaums rekonstruierte S CHLEI CHER die Sprachen der indogermanischen Sprachfamilie aus einer indogermanischen Ursprache. Seine Sprachphilosophie gründet auf der Annahme, die Methodik der Sprachwissenschaft müsse derselben Methodik folgen, welche auch die Naturwissenschaften anwenden. Die Stammbaumtheorie gilt als richtungsweisende Leistung S CHLEI CHER s für die Indogermanistik und ist noch heute von sprachhistorischem Wert. Die Vorstellung, dass Sprache ein lebendiger Organismus sei, wurde insbesondere im 19. Jahrhundert von der Mehrzahl der Sprachwissenschaftler vertreten. Erst William Dwight Whitney lehnte ein solches Konzept ab und vertrat die wesentlich plausiblere These, dass Sprache kein Naturphänomen, sondern ein sozial bestimmtes Konstrukt sei. Nicht verborgene vitalistische Konzepte im Sinne naturwissenschaftlicher Festlegungen bestimmen das Wesen der Sprache. Sprachen werden vielmehr geprägt durch die Sprecher, die Sprachen zu ihren Zwecken verwenden. Diese neue und bis heute akzeptierte Sichtweise wirft allerdings dann ein Problem auf, wenn man die Rolle des Sprechers überbewertet. Sie könnte nämlich dazu verleiten, den Sprecher gewissermaßen zum Konstrukteur oder Schöpfer der Sprache und aller sprachlichen Veränderungen zu überhöhen. Dieser Eindruck ist falsch, weil man in einer Dichotomie gefangen ist, die nur Naturphänomene auf der einen und Artefakte auf der anderen Seite kennt: Entweder ist etwas ein natürliches Phänomen oder es ist vom Menschen gemacht. Was ist daran falsch? Nun, Sprache ist vom Menschen ‚gemacht‘, aber auf eine andere Art und Weise als beispielsweise ein Uhrwerk vom Menschen gemacht ist. Während das Uhrwerk das Ergebnis menschlicher Planung ist, ist die Sprache ungeplantes Ergebnis menschlicher Handlungen. Ich komme weiter unten auf diesen zentralen Gedanken noch einmal zurück. <?page no="41"?> 41 2.2 Welche Sprachauffassung ist die richtige? Halten wir zunächst fest: Sprache ist weder ein natürlicher Organismus noch das Resultat menschlicher Planung. Sprache ist das Ergebnis menschlicher Sprachverwendung. Dasselbe gilt auch für den Sprachwandel. Folglich ist eine Sprachauffassung, die den Sprecher nicht berücksichtigt und stattdessen von Naturgesetzen ausgeht, für die Erklärung des Wesens und der Veränderungen von Sprache nicht nützlich. Stattdessen lohnt es sich, einen Blick darauf zu werfen, wie eine Sprache beschaffen ist, damit wir sie für unsere Zwecke nutzen können. Sehen wir uns also im Folgenden an, welche Eigenschaften es sind, die Wörter und Sätze zu geeigneten Mitteilungsmitteln für uns machen. 2.2.2 Ist Sprache ein Zeichensystem? Mit der Frage, aus welchen Elementen Sprachen bestehen, werfen wir einen strukturalistischen Blick auf unseren Gegenstandsbereich. Zugleich ist die Überlegung, wie etwas beschaffen ist, untrennbar verknüpft mit dem Nachdenken darüber, wozu etwas da ist. Wenn wir beispielsweise wissen, wie die Anatomie des Herz-Kreislauf-Systems aussieht, können wir leicht beantworten, wozu wir dieses System haben und was es in unserem Körper macht. Grob gesagt dient uns Sprache dazu, uns in der Gesamtgesellschaft, in der wir leben, untereinander möglichst ohne Missverständnisse verständigen können. Dazu verfügen alle Sprecher in dieser Sprachgemeinschaft über dieselben Wörter und Zeichen, also über dasselbe Lexikon und dieselbe Grammatik. Als Sprachforscher würde man sagen: Alle Sprachbenutzer können auf denselben gemeinsamen Zeichenvorrat zurückgreifen und kennen die Regeln, nach denen diese Zeichen miteinander verbunden werden. Man nennt die gemeinsam gesprochene Sprache einer Sprachgemeinschaft Gemeinsprache und grenzt sie von Sondersprachen ab, die nur von einigen Sprechern gesprochen und verstanden werden (z. B. Fachsprachen). Dass es in Wirklichkeit gar nicht so etwas wie die eine Sprache gibt, die wir alle gemeinsam sprechen, wissen Sie sicher aus Ihrer eigenen Lebenserfahrung. Sie werden mit Ihrem Automechaniker anders sprechen müssen, als Sie das möglicherweise an der Universität mit Professoren für nötig halten: Das Variieren mit den Mitteln aus Ihrem sprachlichen Repertoire dient situationsbezogen der einfacheren und besseren Verständigung oder es dient sozialen Zwecken (z. B. dem <?page no="42"?> 42 2 Was ist das Wesen der Sprache? Imponieren oder dem Vermitteln eines bestimmten Eindrucks von Ihrer Person). Insofern gibt es Schnittmengen, aber es gibt kaum den Fall, dass zwei Sprecher über exakt denselben Zeichenvorrat verfügen. Das gilt auch für die Regeln, nach denen diese Zeichen zusammengesetzt werden. Auch hier sind die Kenntnis und die Beherrschung von grammatischen Regeln ungleich ausgeprägt. Das Sprachvermögen und insbesondere der Wortschatz der Menschen unterscheiden sich dabei je nach sozialer oder regionaler Herkunft und Bildung. Schätzungen zufolge umfasst die deutsche Sprache zwischen 300 000 und 500 000 Wörter-- und sie wandelt sich ständig. Fast täglich gelangen neue Wörter in unsere Sprache und genauso schnell und häufig verschwinden Wörter, weil wir sie nicht mehr verwenden. Modewörter oder moderne Wortneuschöpfungen wie z. B. das im Jahr 2014 gewählte „Unwort“ des Jahres Lügenpresse sind solche transitorischen, also vorübergehenden Erscheinungen. Unmöglich ist es, den gesamten Wortschatz der Gemeinsprache zu beherrschen. Auch wenn Sie noch so gebildet sind, werden Sie vermutlich nicht mehr als 100 000 Wörter kennen, wobei Sie noch lange nicht alle diese Wörter tatsächlich benutzen. Die Sprachwissenschaft geht davon aus, dass ein durchschnittlicher Erwachsener zwischen 8 000 und 16 000 Wörter aktiv gebraucht; die große Mehrheit der Sprachbenutzer kommt wohl mit rund 5 000 Wörtern aus. Menschliche Sprache ist ein komplexes System sprachlicher Zeichen, die zueinander in syntagmatischen und / oder paradigmatischen Beziehungen stehen und durch konventionelle grammatische Regeln syntaktisch miteinander verbunden sind. 6 6 Das Verhältnis von Syntagmen und Paradigmen kann als ein Modell „horizontaler“ Syntagmen (=-zusammenhängende Elemente, z. B. eines Satzes) und „vertikaler“ Paradigmen (=-austauschbare Elemente) gedacht werden. Wörter, die zusammen in einem Syntagma stehen können, stehen in syntagmatischer Beziehung zueinander und bilden einen sinnvollen Satz. Sprachliche Elemente, die an derselben Stelle eines Syntagmas eingesetzt werden könnten, stehen zueinander in einer paradigmatischen Beziehung, sie sind also austauschbar, ohne dass der Satz an Sinn verlieren würde. Beispiel: Ich / Du / Er / Sie (Paradigma der Personalpronomina) spiele / spielst / spielt (Flexionsparadigma) Fußball (Syntagma: Personalpronomen, Verb und Substantiv stehen in einer syntagmatischen Beziehung zueinander, die nicht beliebig geändert werden kann). Die Syntax dieses Satzes ist Teil des Sprachsystems und regelhaft. <?page no="43"?> 43 2.2 Welche Sprachauffassung ist die richtige? Unser Zeichensystem besteht in erster Linie aus Wörtern, die bestimmte Bedeutungen tragen. So hat das Wort Regenschirm in unserem Wortschatz eine Bedeutung, die sich in etwa so ausdrücken lässt: Verwende das Wort „Regenschirm“, wenn Du von einem Gegenstand sprechen willst, den wir in unserem Kulturkreis verwenden, um draußen im Regen nicht nass zu werden. 7 Viele Begriffe haben ähnliche Bedeutungen, doch kann man den Begriff Regenschirm z. B. von den Wörtern Sonnenschirm oder Cocktailschirm abgrenzen. In aller Regel ist das für jeden Sprecher des Deutschen mühelos möglich, weil es sich um konventionelle Begriffe handelt, die jeder kennt. Oder ein wenig technischer ausgedrückt: Jeder Sprachbenutzer kennt die Regeln, die für den Gebrauch des Wortes Regenschirm in unserer Sprachgesellschaft gelten- - und er kennt damit die Bedeutung des Wortes. Menschliche Sprache ist ein Netz aus sich überlagernden Konventionen. Sie ist dadurch dynamisch und trägt auf diese Weise das Potenzial zum Wandel in sich. Wenn wir miteinander sprechen, dann bedienen wir uns einer sehr verzweigten Sprache, die aus einem mehr oder weniger großen Vorrat sprachlicher Zeichen besteht. Ein sprachliches Zeichen besteht- - nach dem Schweizer Linguisten Ferdinand de Saussure- - aus einer Ausdrucks- und einer Inhaltsseite. Bei sprachlichen Zeichen unterscheidet man also, ähnlich wie bei den zwei Seiten einer Medaille oder eines Geldstücks, zwischen zwei Ebenen: Auf der einen Seite steht die Lautäußerung, auf der anderen Seite befindet sich der Inhalt, der kommuniziert werden soll. Sprachliches Zeichen = Wort Ausdruck Inhalt } Lautliche Realisierung; Hervorbringung des Wortes Begriffsinhalt; Bedeutung des Wortes Abb. 1 Das sprachliche Zeichen (nach S AUSSU R E ) 7 Da es sich bei Regenschirm um einen zusammengesetzten Begriff handelt, ist die Kenntnis der Wortbedeutungen von Regen und Schirm zudem notwendig und wird hier vorausgesetzt. <?page no="44"?> 44 2 Was ist das Wesen der Sprache? Dabei liegt die Bedeutung eines Wortes nicht in dem sprachlichen Zeichen selbst, sondern wird ihm durch den Gebrauch zugewiesen-- ähnlich wie der Wert eines Geldscheins nicht im Papier des Scheins steckt, sondern ihm durch eine Konvention zugeschrieben wurde. Der reine Materialwert dürfte bei einem 5-Euro- Schein derselbe sein wie bei einer 500-Euro-Banknote. Der 100-fach höhere Wert wird nicht über den Materialwert bestimmt. So besitzen sprachliche Zeichen aus sich selbst heraus auch keine Bedeutung, sie erlangen sie erst dadurch, dass man sie verwendet. Dieses Prinzip der Zuordnung sprachlicher Zeichen durch den Sprecher bezeichnet man als Arbitrarität. Doch bedeutet das nicht, dass jeder Sprecher jedes Wort willkürlich zur Benennung einer Sache verwenden kann. Das sprachliche Zeichensystem ist ein mehr oder weniger festes Regelwerk, das man beherrschen muss, um sich sprachlich verständigen zu können. Ferdinand de Saussure (1857—1913) war ein schweizerischer Sprachwissenschaftler. S AUSSU R E gilt als der Begründer der modernen Linguistik und des Strukturalismus. Er entwickelte eine allgemeine Theorie der Sprache als Zeichensystem (Zeichentheorie) und zudem die Methode, solche Systeme strukturell analysieren zu können. Dabei ist die ihm zugeschriebene Zeichentheorie, die das sprachliche Zeichen mit seiner Ausdrucks- und Inhaltsseite bestimmt, eine Vorlesungsmitschrift, die seine Schüler C HARLE S B ALLY und A LBERT S ECHEHAY E posthum 1916 unter dem Titel Cours de linguistique générale veröffentlich haben. Zu Lebzeiten war S AUSSURE — wie es der Mode seiner Zeit entsprach — berühmt als Indogermanist. Als Strukturalist galt und gilt S AUSSU RE erst nach seinem Tod. Wie ein Zeichen im Allgemeinen interpretiert wird, hängt entscheidend von der Kultur ab, in der man lebt. Zeichen erlangen ihre Bedeutung nicht aus sich selbst heraus, sondern durch die Verwendungskonventionen, die für sie gelten. Damit Sie ein Verkehrsschild richtig deuten können, müssen Sie irgendwo gelernt haben, was das Zeichen im Straßenverkehr bedeutet. Ikonografische Zeichen, also Zeichen, die aufgrund einer direkten und sofort erkennbaren Abbildfunktion auf etwas verweisen, verstehen wir meist intuitiv. Eine durchgestrichene Zigarette etwa können wir rasch und in jedem Kulturkreis als Zeichen für ein Rauchverbot interpretieren. Dass aber bei uns Verbotszeichen immer rund sind <?page no="45"?> 45 2.2 Welche Sprachauffassung ist die richtige? und ein schwarzes Piktogramm auf weißem Hintergrund aufweisen sowie mit einem dicken roten Rand und einem roten Querbalken von links oben nach rechts unten versehen sind, ist konventionell bestimmt; die Bedeutung von Form und Farbgebung eines Schildes muss man lernen. Ansonsten könnte die durchgestrichene Zigarette beispielsweise auch bedeuten, dass Sie keine Zigaretten kaufen können. Sie benötigen also kulturelles Weltwissen, um Zeichen richtig deuten zu können-- das gilt für außersprachliche Zeichen ebenso wie für Wörter. Und dieses Wissen unterscheidet sich oftmals ganz erheblich je nachdem, wo Sie sich gerade in der Welt befinden- - und auch davon, zu welcher Zeit Sie leben. Sprachwandel betrifft alle Elemente des sprachlichen und außersprachlichen Zeichensystems. Verwendungskonventionen sprachlicher Zeichen sind kulturelle Phänomene und unterliegen dabei immer auch dem Wandel: Was heute als konventionell korrekt gilt, kann morgen bereits falsch sein. So ist in unserer heutigen Gesellschaft eine leichte Bräune ein Zeichen für Wohlstand. Vor 200 Jahren galt Blässe als so schick, dass man sogar mit Puder nachhalf. Sie sehen: Zeichen sind aufgrund ihrer Interpretierbarkeit stets wandelbar. Das gilt für sprachliche und außersprachliche Zeichen gleichermaßen. Wir Menschen haben unsere Sprache, um uns die Erfüllung unserer kommunikativen Ziele zu erleichtern. Dabei ist das Vorhandensein einer Sprache weder notwendig noch hinreichend für unsere menschliche Kommunikation: Wir können auch ohne Sprache kommunizieren und Sprache allein macht auch noch keine Kommunikation aus. Vielmehr ist es umgekehrt: Die Fähigkeit zur Kommunikation ist eine Grundbedingung für den Besitz einer menschlichen Sprache. Oder anders ausgedrückt: Wenn wir Menschen nicht die Fähigkeit und das Bestreben zur absichtsvollen Beeinflussung unserer Mitmenschen besäßen, dann hätten wir auch keine Sprache. Diesen Umstand, der für unsere kommunikativen Handlungsmöglichkeiten sehr zentral ist, möchte ich im Weiteren näher erläutern. Ich stelle dazu zunächst eine Behauptung auf und werde Ihnen dann zeigen, warum diese Sicht der Dinge angemessen ist: <?page no="46"?> 46 2 Was ist das Wesen der Sprache? Sprache ist nicht die Bedingung für Kommunikation, sie ist vielmehr eine evolutionäre Folge unserer kommunikativen Bemühungen. Menschliche Sprache unterscheidet sich von tierischen Lauten dadurch, dass Lautäußerungen bei Tieren eher Ausdruck innerer Ereignisse sind und nicht der Kommunikation in unserem Sinn entsprechen dürften. Während unsere Sprache den Charakter der Zeichenhaftigkeit trägt-- wir also mit sprachlichen Zeichen absichtsvoll kommunizieren, um andere Menschen in der von uns gewünschten Weise zu etwas zu bringen--, sind tierische Laute eher als Symptome zu deuten. Die Bedeutung sprachlicher Zeichen ist im Gegensatz zu Symptomen, die natürlich hervorgebracht werden, konventionell, also durch Übereinkunft definiert. Sprachliche Zeichen müssen daher bewusst oder unbewusst erlernt werden. Auch bei uns Menschen gibt es zahlreiche Symptome, wenn es darum geht, Krankheiten zu identifizieren. Eine laufende Nase etwa ist ein Symptom für einen Schnupfen. Symptome dienen aber nicht der Kommunikation. Sie werden weder absichtsvoll hervorgebracht noch sollen sie der Beeinflussung dienen. „Symptome können ähnliche Effekte hervorrufen wie sprachliche Zeichen“ (Keller 2003: 38), aber sie sind keine sprachlichen Zeichen. Sprache, wie wir sie haben, ist ein System von Zeichen, das uns zur absichtsvollen Kommunikation dient, und es ist sehr plausibel anzunehmen, dass die Fähigkeit zur Kommunikation eine Bedingung dafür war, dass Sprache sich überhaupt entwickeln konnte. Tierischen Lauten hingegen fehlt das Zeichenhafte, das unsere menschliche Sprache ausmacht. Tierische Kommunikation basiert auf Symptomen und selbst Tierbesitzer, die oftmals behaupten, ihr Dackel oder ihre Katze „spreche“ mit ihnen, werden einräumen müssen, dass ein Schwanzwedeln oder ein Fauchen eher ein Symptom für einen inneren Vorgang in ihrem Tier als ein absichtsvoll ausgesendetes Zeichen zum Zweck der Beeinflussung ist. Dass dies dennoch oft anders wahrgenommen wird, liegt daran, dass viele Herrchen menschliche Kommunikation in den symptomischen Handlungen ihres Tieres spiegeln. Der Linguist Heinz Vater schreibt dazu: „[Ein Hund] kann- - nach einem Ausspruch von Bertrand Russel-- nicht mitteilen, dass seine Eltern arm, aber ehrlich waren“ (Vater 1999: 17). Wenn wir also anerkennen, dass unsere menschliche Sprache a) ein komplexes Zeichensystem ist und b) dieses Zeichensystem auf absichtsvollem Gebrauch basiert, dann möchte man herausfinden, wie ein solches System, das zwischen Symptomen und Symbolen unterscheidet, entstanden ist. Wie ist aus einer tierischen Symptomsprache eine menschliche Symbolsprache, also ein komplexes <?page no="47"?> 47 2.2 Welche Sprachauffassung ist die richtige? System sprachlicher Zeichen geworden? Dazu gibt es in der Sprachphilosophie sehr viele kluge Ausführungen, die sich mit der Genese menschlicher Sprache beschäftigen. Viele davon sind lesenswert, aber sie sind oft sehr abstrakt. Die folgende Geschichte ist ein Märchen und soll auch als solches verstanden werden. Aber dieses Märchen enthält wichtige Gedanken darüber, welchen Nutzen die menschliche Sprache hat. Diese Aspekte sind zentral, wenn wir erklären möchten, auf welche Weise Sprachen entstanden sind und wie sie sich verändern können. 8 Dieses kleine Märchen stammt von Rudi Keller und wird hier nur verkürzt wiedergegeben (vgl. Keller 2003: 37 ff.). In gleicher Form ist dieses Märchen abgedruckt in Bechmann 2014. Exkurs: Karlheinz, der Affenmensch — oder: Wie sind wir überhaupt zur Sprache gekommen? 8 Vor rund einer Million Jahren lebte in der Savanne Afrikas eine Horde Affenmenschen, also eine Gattung Lebewesen, die weder Mensch noch Affe war. Was diese Affenmenschen von den Menschen unterschied, war, dass sie keine Sprache hatten. Dennoch konnten sie sich untereinander verständigen, indem sie knurrten oder keiften, wenn sie verärgert waren oder wimmerten, wenn es ihnen schlecht ging. Diese Laute waren Ausdruck ihrer Gefühle. Wenn die Affenmenschen Angst hatten, dann schrien sie laut, auch um die anderen Familienmitglieder zu warnen. In der Horde lebte ein Affenmensch mit Namen Karlheinz. Karlheinz war ein eher schmächtiger Bursche und sein Rang in der Gruppe war gering. Dafür war Karlheinz ziemlich clever — und eigentlich immer hungrig. Jeden Abend, wenn die kleine Gruppe um ihr Feuer saß und die Beute des Tages verspeiste, war es Karlheinz, der stets als Letzter etwas zu fressen bekam. Die Lautesten und Stärksten in der Gruppe sicherten sich die leckersten Happen, so ging es tagein und tagaus. Karlheinz saß jedes Mal ein wenig abseits und wartete traurig darauf, die letzten Reste der Beute abzubekommen. Eines Abends, die Gruppe saß wieder am Futterplatz zusammen und verzehrte ihre Beute, erblickte Karlheinz einen Tiger im Gebüsch unweit des Platzes. Sofort stieß er einen lauten Angstschrei aus, woraufhin die restlichen Affenmenschen sogleich von ihrem Fressen abließen und das Weite suchten. Der Schrei, den Karlheinz aus- <?page no="48"?> 48 2 Was ist das Wesen der Sprache? gestoßen hatte, war ein Symptom der bloßen Angst. Wie versteinert blieb er an seinem Platz sitzen, unfähig, sich zu rühren. Da erschien aus dem Gebüsch nicht etwa ein gefährlicher Tiger, sondern ein harmloses kleines Schweinchen, das mehr Angst vor Karlheinz hatte als er vor ihm. Karlheinz hatte sich geirrt. Als Karlheinz nun sehr erleichtert sah, dass er jetzt der einzige am Futterplatz war, musste er grinsen. Das ganze schöne Fressen hatte er für sich allein, weit und breit war niemand zu sehen, der es ihm streitig machen konnte. Nachdem er sich den Bauch vollgeschlagen hatte, kam ihm eine zündende Idee: Warum sollte er das, was ihm versehentlich passiert war, nicht künftig willentlich tun? Als am nächsten Abend wieder einmal kein Platz für ihn an der Futterstelle frei war, packte ihn der Mut und er imitierte haargenau den Schrei des Vorabends und wieder flüchteten alle anderen Affenmenschen — Karlheinz konnte sich erneut in aller Seelenruhe vollfressen. Karlheinz fand Gefallen an seinem Trick und übertrieb es. Eines Tages wurde einer der anderen Affenmenschen misstrauisch. Statt zu fliehen, blieb er sitzen und als er sah, dass keine Gefahr drohte, hatte er die Täuschung durchschaut. Immer mehr Affenmenschen kamen dem Trick mit dem Schrei auf die Schliche und so verbreitete er sich rasend schnell. Jeder, der ihn kannte, wollte es selbst einmal ausprobieren. Natürlich ging das nicht lange gut. Als die stärkeren Affenmenschen dahinter kamen, war das Spiel vorbei — und Karlheinz musste wieder hungern und um Almosen betteln. Eines Tages geschah etwas, was man als den ersten tatsächlich kommunikativen Akt im menschlichen Sinne bezeichnen kann: Einer der Chefs der Truppe, der es nie nötig gehabt hatte, den Angstschrei zu imitieren, um an Nahrung zu kommen, verwendete den Schrei, als ihm einer der Habenichtse zu nahe kam — nicht aber, um ihn zu täuschen, sondern um ihm ganz direkt zu verstehen zu geben, er solle schleunigst verschwinden. Dabei musste er den Schrei nicht einmal sonderlich gut imitieren. Ganz im Gegenteil: Es sollte erkennbar sein, dass es sich nicht um einen Schrei der Angst handelt, sondern um ein willentlich und absichtsvoll hervorgebrachtes Imitat. Die Bedeutung dieses sehr rudimentären ersten menschlichen Wortes könnte man frei übersetzen mit: Hau bloß ab, sonst gibt es was mit der Keule auf die Mütze! Bei Fußballspielen u. ä. Veranstaltungen lässt sich diese sehr archaische menschliche Kommunikation noch heute bisweilen beobachten. <?page no="49"?> 49 2.2 Welche Sprachauffassung ist die richtige? Auch wenn es sich bei dieser Geschichte nur um ein Märchen handelt, das in einem wissenschaftlichen Sinn keinen Anspruch auf Korrektheit erhebt, können wir doch eines daraus lernen: Menschliche Kommunikation durch Sprache bedeutet, ein System konventioneller sprachlicher Zeichen mit einer bestimmten Syntax zu haben, mit dessen Hilfe man einem anderen Menschen zu erkennen geben kann, wozu man ihn bringen möchte. Ob nun Karlheinz tatsächlich der Erfinder des ersten sprachlichen Zeichens war oder nicht, spielt dabei keine Rolle-- aber es ist eine schöne Vorstellung. Die Tatsache, dass wir auch ohne Sprache kommunikativ handeln können (z. B. durch Gesten oder durch unsere Kleidung), zeigt, dass Sprache nicht die Voraussetzung für menschliche Kommunikation ist, sondern dass menschliche Kommunikationsfähigkeit eine Voraussetzung für menschliche Sprache (als kommunikatives Zeichensystem) darstellt: „Kommunizieren unter Zuhilfenahme konventioneller Mittel, wie z. B. sprachlicher Zeichen, ist ein spezieller Fall von Kommunikation; wenngleich es heutzutage für uns die normale und überwiegend praktizierte Art und Weise zu kommunizieren ist“ (Keller 2003: 77). 2.2.3 Ist Sprache ein Werkzeug? Wir haben bereits erkannt, dass Sprache kein Organismus ist. Dennoch kann man mit gutem Recht behaupten, dass es sich um ein Organon, also um ein Werkzeug handelt. 9 Der wesentlichste Unterschied zwischen den Auffassungen von Sprache als Organismus und von Sprache als Organon besteht darin, dass die Sprache im 9 Órganon bedeutet im Griechischen so viel wie Werkzeug. Unsere menschlichen Organe sind so benannt, weil sie funktionale Teile des menschlichen Körpers sind. Somit sind menschliche Organe Werkzeuge des menschlichen Organismus. Wie Werkzeuge eines Handwerkers sind auch menschliche Organe durch ihre Gestalt und durch ihre Funktion bestimmt. Der Schrei war zu einem sprachlichen Zeichen geworden und die naturhafte Kommunikation hatte ihre Unschuld verloren. Der Schrei war nicht mehr länger Ausdruck, also ein Symptom von Angst, sondern zum Ausdruck eines Willens und damit zum Mittel einer kommunikativen Handlung geworden. Und so war es Karlheinz, der den Menschen über Umwege und aus Hunger die Sprache gebracht hat. <?page no="50"?> 50 2 Was ist das Wesen der Sprache? letzteren Falle nicht als eigenständige Entität, die es auch unabhängig vom Menschen geben könnte, sondern als ein wesentlicher Bestandteil der menschlichen Kultur angesehen wird. Aber auch durch den Organon-Begriff darf man sich nicht in die Irre führen lassen: Sprachen dienen uns zwar zu bestimmten Zwecken, deshalb sind sie keine unabhängigen Organismen. Sie sind Werkzeuge, aber auch nicht im Sinne eines Hammers oder einer Zange, denn solche Werkzeuge sind vom Menschen mit Absicht erschaffen worden. Für Sprachen gilt das nicht. Sprache erhält ihren Charakter als Werkzeug über den Gebrauch, nicht durch Planung. Wie jedes Werkzeug ist auch die Sprache funktional; das bedeutet, dass sie sich zu bestimmten Zwecken nutzen lässt. Der Werkzeugcharakter wird dann deutlich, wenn man hinterfragt, wozu Sprache eigentlich da ist, also welche Funktion Sprache erfüllt. Wenn Menschen miteinander kommunizieren, dann werden nicht nur Informationen übertragen. Ganz im Gegenteil: Wir wollen mit jeder Botschaft viel mehr ausdrücken als das, was wir sagen. Das konnten wir bei Karlheinz, dem Affenmenschen, bereits erkennen, der seine Laute mit einer bestimmten Absicht hervorgebracht hat, wodurch das Symptom vom Symbol erst unterscheidbar gemacht wurde. Ein naiver Sprachbegriff würde davon ausgehen, dass Sprache dazu da ist, die Welt, so wie sie ist, abzubilden. Kommunikation wäre dann der Austausch von Informationen über die Welt. Wenn das so wäre, dann wäre Kommunikation sehr langweilig und es würde weit weniger miteinander gesprochen, als es in der Realität der Fall ist. Überprüfen Sie das einmal an Ihrem eigenen Sprachhandeln: Warum sprechen Sie mit anderen Menschen? Sie werden feststellen, dass Sie, wenn Sie abends mit Freunden zusammensitzen, nicht konsequent über ein oder zwei Themen sprechen. Vielmehr springen Ihre Gespräche immer hin und her-- mit verteilten Gesprächsanteilen. Nach einem solchen Abend nehmen Sie sicher auch einige neue Informationen mit nach Hause. Viel wichtiger aber ist es, dass Sie durch Sprache in einem sozialen Gefüge eingebunden waren. Sie haben sich darstellen können, Sie haben Ihre Meinung positionieren können, Sie haben als Ratgeber fungiert u. v. m. Sie haben durch Ihr Sprachhandeln auf Ihre Umwelt eingewirkt und Ihre Rolle im sozialen Gefüge u. U. gefestigt. Ihr Sprechen hat sicher etwas bewirkt und wenn Sie in diesem Gespräch beispielsweise Ihrem besten Freund versprochen haben, ihm beim Reparieren seines Fahrrades zu <?page no="51"?> 51 2.2 Welche Sprachauffassung ist die richtige? helfen, dann haben Sie sogar aktiv durch Sprechen gehandelt: Jemandem ein Versprechen zu geben, ist eine sprachliche und zugleich eine soziale Handlung. Die Lehre von solchen sprachlichen Handlungen nennt man in der Sprachwissenschaft Pragmatik. Die Pragmatik geht, grob gesagt, von folgender Prämisse aus: Sprachliches Handeln ist immer auch außersprachliches Handeln — und damit ein Werkzeug zur sozialen Interaktion. Jetzt, da wir wissen, dass Sprache eine Handlungsfunktion besitzt und nicht etwa zur Spiegelung der Welt dient, können wir erkennen, dass Sprachwandel nicht dadurch bestimmt ist, dass sich die Welt verändert. Nicht der Wandel der Welt führt zu einem Wandel der Sprache, sondern Veränderungen in den Handlungsmaximen von Sprechern. Diese Handlungsmaximen können durch einen Wandel in der Welt bestimmt sein, dies ist aber weder notwendig noch hinreichend für Sprachwandel. Auch Wilhelm von Humboldt ist dieser Auffassung, wenn er schreibt, „daß die Sprachen nicht eigentlich Mittel sind, die schon erkannte Wahrheit darzustellen, sondern weit mehr, die vorher unerkannte zu entdecken. Ihre Verschiedenheit ist nicht eine von Schällen und Zeichen, sondern eine Verschiedenheit der Weltansichten selbst“ (Humboldt 1820 / 1963: 19 f.). Der Sprachpsychologe Karl Bühler hat ein Organon-Modell entwickelt, das anschaulich zeigen kann, welche Funktion Sprache in der menschlichen Kommunikation erfüllt. In erster Linie ist Bühlers Modell ein linguistisches Modell für Kommunikation, denn die Sprache steht bei diesem Modell im Zentrum der Betrachtung. Die Idee Bühlers war es, das Sprachzeichen und die Sprache an sich in den Zusammenhang mit der konkreten Sprechhandlung zu setzen. Das Besondere daran: Bühler betrachtet Sprache als ein Gebilde der Handlung, erkennt also, dass Sprechen immer auch gleichzeitig Handeln bedeutet. Aus diesem Grund nennt er sein Kommunikationsmodell in Anlehnung an Platons Dialog „Kratylos“ das Organon-Modell. 10 Die Sprache selbst ist für Bühler ein 10 In Platons Dialog bezeichnet Sokrates das Wort als Organon und bestimmt dadurch die Sprache insgesamt als ein Werkzeug, mit dessen Hilfe man sich anderen mitteilen kann. Bühler entwickelt seine Theorie anhand dieses Vergleichs. <?page no="52"?> 52 2 Was ist das Wesen der Sprache? Werkzeug, mit dessen Hilfe man einem anderen Menschen etwas über die Dinge der Welt mitteilen kann. 11 Bühler entwickelt sein Modell anhand des konkreten Schallphänomens, das entsteht, wenn wir sprachliche Zeichen hervorbringen. Das Organon-Modell geht von einer wechselseitigen Beziehung zwischen Sender und Empfänger aus. Hinzukommt, dass es in diesem Modell eine Verbindung zu den materiellen Gegenständen selbst gibt. Es gibt somit eine Relation des Schallphänomens zum Sprecher (Sender), eine Relation des Schallphänomens zum Hörer (Empfänger) und eine Relation des Schallphänomens zu den Dingen oder Sachverhalten der Welt. Mit Sprache lassen sich in diesem Modell also Dinge und Sachverhalte darstellen. Und nun kommt der Clou: Das Schallphänomen ist für den Sprecher Ausdruck seines Erlebens und seiner Empfindungen, für die Gegenstände und Sachverhalte in der Welt eine symbolhafte Darstellung und für den Hörer ein Signal oder ein Appell, sich in einer bestimmten Weise zu verhalten (und wenn es nur das Zuhören ist). Ausdruck, Darstellung und Appell sind somit die drei Funktionen, die sich für Bühler in jedem konkreten Sprechereignis zeigen. Das Modell selbst lässt sich wie folgt schematisch darstellen: Dreieck = Zeichen (Wort, Satz) Kreis = Schallphänomen Gegenstände und Sachverhalte Empfänger Darstellung Appell Ausdruck Zeichen Sender Abb. 2 Das Organon-Modell (nach B ÜHLER ) 11 Vgl. Bühler 1933: 74 f. und 1934: 24. <?page no="53"?> 53 2.2 Welche Sprachauffassung ist die richtige? Die Sprache wird hier als ein Mittel, Werkzeug oder Instrument gesehen, durch das der Mensch mit seinen Mitmenschen kommuniziert, durch das er sie beeinflusst oder manipuliert. Diesen Tätigkeitscharakter finden wir schon bei Humboldt, wenn er feststellt: Sie selbst [die Sprache] ist kein Werk (Ergon), sondern eine Tätigkeit (Energeia).-[…] Sie ist nämlich die sich ewig wiederholende Arbeit des Geistes, den artikulierten Laut zum Ausdruck des Gedankens fähig zu machen. Unmittelbar und streng genommen, ist dies die Definition des jedesmaligen Sprechens; aber im wahren und wesentlichen Sinne kann man auch nur gleichsam die Totalität dieses Sprechens als die Sprache ansehen. (Humboldt 1836 / 1963: 418) Halten wir also für den Augenblick zusammenfassend fest: Sprache ist Mittel der Beeinflussung anderer Menschen mittels sprachlicher Symbole. Sprache ist also geknüpft an strategische Handlungsmaximen, die wiederum soziokulturell determiniert und damit dynamisch sind. Sprachwandel ist somit ein Spezialfall soziokulturellen Wandels. Dass Sprache Handeln ist und dass Handeln wiederum ein sozial bestimmtes Phänomen ist, welches bestimmten Handlungsmaximen verpflichtet und damit zweckgerichtet ist, wird auch anhand der im vorherigen Abschnitt besprochenen Unterscheidung zwischen Symptomen und Symbolen evident: Es ist ein gravierender Unterschied, ob jemand absichtsvoll ein Wort äußert oder ob er durch ein reflektorisches Husten Laute hervorbringt. Das Wort ist ein sprachliches Zeichen, das Husten nicht. Dasselbe gilt auch für nonverbale Zeichen: Wenn jemand zum Ausdruck seiner Verärgerung das Gesicht verzieht, dann kommuniziert er auf diese Weise und gibt seinem Gegenüber zu verstehen, dass er wütend ist (und eine bestimmte Reaktion erwartet). Das Verziehen des Gesichts ist ein kommunikatives, sprachliches Zeichen. Ein vor echtem Schmerz verzerrtes Gesicht hingegen ist ein Symptom, aber kein Zeichen. Wenn jemand den Laut eines Gähnens imitiert, ist das ein absichtsvoll hervorgebrachtes sprachliches Zeichen. Echtes Gähnen hingegen ist ein Symptom für Müdigkeit, das durch Sauerstoffmangel ausgelöst wird. Und ein tropfender Wasserhahn ist Symptom einer defekten Dichtung, aber im Gegensatz zu einer Hupe am Auto kein auditives Zeichen. Das Tropfen des <?page no="54"?> 54 2 Was ist das Wesen der Sprache? Wasserhahns will (sofern es sich um einen Defekt handelt) niemanden zu einer bestimmten Handlung bewegen, das Hupen hingegen schon. Die wesentliche Eigenschaft kommunikativ genutzter Zeichen besteht darin, dass wir sie in der Absicht nutzen, einem anderen Menschen etwas Bestimmtes zu erkennen zu geben. Sie dienen damit der direkten Beeinflussung. Sprache erleichtert uns also das Kommunizieren und für sprachlich kodierte Kommunikation, die mit Absicht hervorgebracht wird, ist Sprache auch zwingend notwendig. Nur durch ein absichtsvoll hervorgebrachtes Augenrollen oder durch Ihre Körpersprache können Sie keine komplexen Sachverhalte ausdrücken. Dafür benötigen Sie Sprache. Diese Erkenntnisse und das Wissen über Sprache als komplexes Zeichensystem lassen Rückschlüsse auf den Prozess des Sprachwandels zu. Sprachwandel ist nämlich auf eine bestimmte Weise an kommunikative Absichten gekoppelt. Denn: Sprachliche Zeichen sind konventionelle Mittel zur Kommunikation. Und Kommunikation ist absichtsvolles Sprachhandeln. So gesehen ist der Sprachwandel eine Folge veränderten Sprachhandelns, was nicht heißen muss, dass diese Folge ebenfalls absichtsvoll entsteht. Das absichtsvolle Sprachhandeln mithilfe komplexer sprachlicher Zeichen führt unter bestimmten Umständen zu einem unabsichtlichen Sprachwandel. Dabei gilt: Sprachwandel ist immer die Folge von Sprachhandlungen, aber Sprachhandlungen haben nicht immer Sprachwandel zur Folge. Wir werden in Kapitel 3 noch näher auf diesen Zusammenhang eingehen. Zunächst möchte ich Ihnen zeigen, auf welche Weise ein so geordnetes und funktionales System wie die Sprache überhaupt entsteht und wie es zusammengehalten wird. Welche Akteure sind es, die Sprache zu dem machen, was sie ist? 2.3 Ist Sprache das Ergebnis menschlicher Planung? Zu diesem Zeitpunkt wissen wir schon sehr viel darüber, was Sprache ist und was sie nicht ist. Wir haben gesehen, wozu wir über Sprache verfügen und haben eine Idee davon, wie wir mit Sprache umgehen-- und dass dieser Umgang unter bestimmten Umständen, die wir in den folgenden Kapiteln noch näher ansehen müssen, zu Veränderungen der Sprache führen kann. Zum Abschluss dieses Ka- <?page no="55"?> 55 2.3 Ist Sprache das Ergebnis menschlicher Planung? pitels über Sprache sollten wir uns nun Gedanken dazu machen, welche Kräfte es sind, die Sprache als System hervorgebracht haben und es stabil halten. Wir müssen zunächst festlegen, wer oder was eigentlich dafür sorgt, dass das komplexe System Sprache, so wie wir es gerade kennengelernt haben, stabil bleibt. Wer oder was formt die Sprache, so dass sie nicht auseinanderfällt? Und wieso ist dieses System dennoch offen für Veränderungen? Eine plausible Sichtweise und Begründung dafür ist die Erklärung über das Konzept der spontanen Ordnung (vgl. Keller 2003: 30 ff.). Dieses Konzept taugt dazu, die Genese und den Wandel von Sprache zu beschreiben, weil es die Frage beantwortet, wie komplexe kulturelle Phänomene und Strukturen, zu denen auch die Sprache zählt, überhaupt entstehen (in Abgrenzung zu der bereits anhand von Karlheinz beantworteten Frage, wie die Elemente dieses Systems, die sprachlichen Zeichen also, in die Welt gekommen sind bzw. sein könnten). Unter einer spontanen Ordnung versteht man das ungeplante Entstehen von Ordnung aus einem chaotischen Grundzustand. Um das verstehen zu können, muss man zunächst wissen, dass Sprache ebenso ein soziales Phänomen ist wie Recht, Geld, Marktwirtschaft oder Religion. All diese sozialen Phänomene entstehen dadurch, dass durch unsichtbare Prozesse aus menschlichen Handlungen sichtbare Strukturen entstehen. Ich möchte Ihnen das anhand der Marktwirtschaft verdeutlichen: Das Prinzip von Angebot und Nachfrage führt dazu, dass Sie mit Geld, das Sie zur Verfügung haben, Dinge kaufen können, die ein anderer in seinem Besitz hat. Nehmen wir an, Sie benötigen dringend eine warme Hose, weil der Winter vor der Tür steht und Sie nur eine kurze Hose besitzen. Sie gehen dann zu einem Freund, von dem Sie wissen, dass er zwei Hosen besitzt-- eine, die er selbst trägt und eine, die er Ihnen verkaufen könnte. Nun ist es so, dass Ihr Freund zwar zwei Hosen hat, dafür aber keine Jacke-- und auch kein Geld, um eine Jacke zu kaufen. Eine zweite Jacke bietet aber ein anderer Bekannter gegen Geld an, der wiederum-… Sie verstehen das Prinzip? Ihr Freund braucht Geld, um sich eine Jacke kaufen zu können-- Geld, das Sie besitzen. Der einfachste Weg wäre nun, dass Sie Ihrem Freund Ihr Geld geben, für das er Ihnen seine zweite Hose überlässt, während er mit dem Geld die Jacke kauft usw. Das ist einfacher Tauschhandel und so etwas wie eine basale marktwirtschaftliche Struktur. Komplexere marktwirtschaftliche Systeme bilden sich, wenn beispielsweise Ihr Freund auf die Idee käme, seine Zweithose zu behalten und stattdessen Hosen als Massenware zu produzieren. So könnte er dann nicht <?page no="56"?> 56 2 Was ist das Wesen der Sprache? nur Ihnen, sondern auch noch vielen anderen Freunden Hosen verkaufen-- und er würde stinkreich. Nun, was soll Ihnen das Beispiel verdeutlichen? Es zeigt, dass sich dann geordnete Systeme bilden, wenn eine Struktur erzeugt wird (Wert einer Hose in Relation zum Wert des Geldes), in der Menschen unabhängig voneinander zu deren Entstehung beitragen, weil sie alle mit dem gleichen Zweck oder mit demselben Ziel rationale Entscheidungen treffen. Kaufen und Verkaufen folgen dieser zweckorientierten Ordnung. Die Struktur, die dabei entsteht, bildet sich spontan-- also ohne, dass Sie, Ihr Freund und alle anderen, die nach den Prinzipien der Marktwirtschaft handeln, diese Struktur hervorbringen oder aufrechterhalten wollen. Und doch bildet sie sich und ist stabiler, als wenn sich jemand diese Struktur ausgedacht hätte. Die Handlungszwecke erzeugen eine stabile Struktur, zumindest eine relativ stabile Ordnung. Wenn nämlich jemand auf die Idee kommt, mehr Hosen zu produzieren als nötig sind, um den Bedarf an Hosen zu decken, werden Hosen billiger und das System verändert sich-- der Wert des Geldes steigt in Relation zum Wert einer Hose. Die Struktur, die ich Ihnen anhand des Beispiels gezeigt habe, zeichnet sich durch Wahlhandlungen aus: 1. Jeder Beteiligte möchte möglichst warm angezogen sein. 2. Jeder Beteiligte gibt das, was er im Überfluss hat, gegen Bezahlung ab. 3. Jeder Beteiligte ist bereit, für Kleidung angemessen viel zu bezahlen. Nun funktioniert diese Struktur nur, wenn alle drei Handlungsziele zugleich verfolgt werden. Würde man sein Handeln lediglich und ausschließlich nach Prämisse 1 ausrichten, müsste nicht zwingend so etwas wie Marktwirtschaft entstehen. Es wäre auch möglich, dass ein asoziales System entstünde, in dem Diebstahl zu Kleidung verhilft. Ein solches System wiederum wäre eher instabil, der Zustand wäre chaotisch und eben nicht geordnet. Für soziale Phänomene wie Märkte oder Sprache gilt: Das „Verständnis der Erzeugungsweise von Strukturen [ist] konstitutiv für das Verständnis der Struktur selbst“ (K ELLER 2003: 33). Inwieweit lässt sich das bisher Gesagte auf Sprache beziehen? Wie alle anderen spontanen Ordnungen ist auch die Sprache durch Komplexität und durch weit verzweigtes Wissen gekennzeichnet und ihr Sein ist ebenso von Einzelhandlungen abhängig wie bei anderen spontanen Ordnungen. Dabei ist die Sprache <?page no="57"?> 57 2.4 Weiterführende und vertiefende Literatur als komplexes System eine unbeabsichtigte Folge sprachlichen Handelns, das aufgrund biologischer Anlagen möglich ist: Das Sprachvermögen ist biologisch determiniert und damit die Voraussetzung für Sprachhandeln. Aber Sprachvermögen allein schafft noch keine komplexe Sprache. Wenn wir auf die Geschichte von Karlheinz zurückblicken, können wir feststellen, dass die (vermutete) Entstehung von Sprache eng zusammenhängt mit menschlichem Handeln und mit der Verfolgung von Einzelzielen-- ebenso wie die Marktwirtschaft eng zusammenhängt mit rationalen Handlungsmaximen. Man könnte für spontane Ordnungen im Allgemeinen und für Sprache im Speziellen sagen: Spontane Ordnungen (und deren Veränderungen) sind zwar das Ergebnis menschlichen Handelns, sie sind aber nicht das Ergebnis einer menschlichen Planung. Behalten Sie diese Überlegungen zu spontanen Ordnungen im Gedächtnis. In Kapitel 3 werden wir uns noch einmal näher damit beschäftigen und die Frage stellen, auf welche Weise Sprache als spontane Ordnung entstehen kann und welchen Stellenwert menschliche Sprachhandlungen dabei einnehmen. Wir werden sehen, dass eben diese Sprachkonzeption der Schlüssel zur Erklärung des Sprachwandels sein kann. Zunächst gilt es aber, den zweiten der beiden Grundbegriffe genauer zu beleuchten: den Begriff des Wandels. 2.4 Weiterführende und vertiefende Literatur Wenn Sie sich intensiver mit der organizistischen Sprachauffassung beschäftigen wollen, dann empfehle ich Ihnen die Lektüre von S CHLEI CHER 1863 oder die Prinzipien der Sprachgeschichte von H ERMANN P AUL von 1920. Beide Werke sind etwas in die Jahre gekommen, dennoch lesenswert und auch für Studienanfänger verständlich. Die Sprachgeschichte von P AUL ist online über das Projekt Gutenberg kostenfrei zugänglich. Zur Vertiefung der Zeichentheorie nach S AUSSU R E sollte die Lektüre seines Hauptwerks Grundfragen der Allgemeinen Sprachwissenschaft selbstverständlich sein. Sie werden im Studium immer wieder damit in Berührung kommen. Das Märchen von Karlheinz, dem Affenmenschen lässt sich nachlesen bei K ELLER 2003: 37 ff. Es wurde hier nur sehr verkürzt dargestellt. Bei K ELLER findet <?page no="58"?> 58 2 Was ist das Wesen der Sprache? sich eine sehr viel detailliertere Herleitung, die sowohl geistreich als auch unterhaltsam geschrieben ist. Sprechen als menschliches Handeln (Sprache als Werkzeug und Tätigkeit) wurde in diesem Kapitel über das Organonmodell K ARL B ÜHLER s beschrieben. Hier lohnt ein Blick in die Originalschrift Sprachtheorie. Die Darstellungsfunktion der Sprache (1934). Um sich weiter mit dem Konzept von Zeichen im Alltag zu beschäftigen, empfiehlt sich die Lektüre von K ELLER 1995a: 9 ff. Bei K ELLER 2003 können Sie sehr ausführlich nachlesen, was spontane Ordnungen sind. Die Herleitungen sind allerdings für Studienanfänger sehr komplex. <?page no="59"?> 59 2.4 Weiterführende und vertiefende Literatur 3 Was ist Wandel? Du steigst nicht zweimal in denselben Fluss. Heraklit von Ephesos (etwa 520-460 v. Chr.) Ziele und Warm-up Sprache ist ein taugliches Mittel zur Verständigung und wir nutzen sie täglich, um unsere kommunikativen Ziele zu erreichen. Damit Sprache auf diese Weise unseren Zwecken dienen kann, muss sie offen für Anpassungen sein. Denn: Unsere Ziele, die wir beim Sprechen verfolgen, ändern sich bisweilen. Dieser Umstand ist kulturell bedingt. Die Welt, in der wir heute leben, ist nicht mehr dieselbe Welt, die sie vor 100 Jahren einmal war. Technische Neuerungen machen Neubenennungen ebenso nötig wie beispielsweise veränderte Höflichkeitsformen oder kulturell bedingte Kommunikationssitten. Das System Sprache, das aus komplexen Zeichen und Zeichenkombinationen besteht, muss diesen Anforderungen genügen. Als spontane Ordnung ist sie ein in sich stabiles Gebilde, sonst könnten wir uns nicht verständigen. Stabil bedeutet aber nicht starr. Im Gegenteil: Sprachen sind wahre Verwandlungskünstler. Über ihren Charakter als Werkzeuge und über ihre Beschaffenheit als spontane Ordnungen sind Sprachen dynamisch; sie wandeln sich mit ihren Sprechern. In diesem Kapitel geht es also um Wandel. Dabei wollen wir zunächst Überlegungen zum Wandel im Allgemeinen anstellen und in einem nächsten Schritt diskutieren, was Sprachwandel ist und warum Sprachwandel im Speziellen stattfindet. In Kapitel 4 werden wir dann Theorien zum Wie des Sprachwandels, also zu möglichen Prinzipien besprechen. Als Einstieg in diese Einheit sollen uns einige intuitiv zu beantwortende Fragen und Aufgaben dienen: ▶ Denken Sie einmal fünf oder zehn Jahre zurück: Was in Ihrem Leben hat sich in dieser Zeit alles verändert? ▶ Spielen Sie das Spiel „Tabu“: Versuchen Sie innerhalb von 15 Sekunden einem Freund in wenigen Sätzen zu erklären, was wir im Deutschen mit dem Begriff <?page no="60"?> 60 3 Was ist Wandel? Wandel meinen! Vermeiden Sie dabei die Begriffe Zeit, früher, heute, anders, Veränderung und Zustand! ▶ Nennen Sie fünf Beispiele aus dem Alltag für Phänomene, die sich gerade wandeln oder gewandelt haben! ▶ Nehmen Sie ein Blatt Papier und einen Stift zur Hand. Versuchen Sie einmal, das Phänomen Wandel mithilfe einer Skizze (Zeichnung etc.) darzustellen. ▶ Haben Sie schon einmal mit jemandem über Sprachwandel diskutiert? Worum ging es dabei und was war Ihre Position? ▶ Was unterscheidet Ihrer Meinung nach den Klimawandel vom Sprachwandel? ▶ Haben Sie ein aktuelles Beispiel für den Wandel in der Sprache? 3.1 Warum verändern sich die Dinge in der Welt? Wenn Sie einmal alte Familienfotos durchstöbern, dann werden Sie feststellen, dass Ihre Eltern oder Großeltern auf diesen Bildern irgendwie seltsam aussehen. Die Kleidung kommt Ihnen wahrscheinlich altmodisch vor, möglicherweise finden Sie die Frisuren komisch und auch die Möbel, Tapeten oder sonstigen Gegenstände sehen befremdlich aus. In den 1980er-Jahren waren Dauerwellen bei Damen und auch bei manchen Herren sehr in Mode, in den 1970er-Jahren trug man weite Schlaghosen und enge T-Shirts. Man flieste in den 1960er-Jahren Badezimmer gerne grün oder altrosa und Tapeten mit schrillen Mustern waren der letzte Schrei. Heute kleiden wir uns nach einer anderen Mode, über die dann in 20 oder 30 Jahren Ihre Kinder und Enkel schmunzeln werden. Für unsere Kleidung gibt es heute eine andere Konvention und unsere Konvention, sich zu kleiden, unterscheidet sich von der in Russland, Japan oder etwa derjenigen in Mali. Wahrnehmbare Veränderungen stellen wir auch bei vielen Alltagsgegenständen fest, besonders bei technischen Geräten wie Handys, Fernsehern oder Computern. Als der Verfasser dieses Buches mit seinem Studium begann, wogen Handys noch so viel wie ein Viertelliter Milch und man konnte mit ihnen nur telefonieren-- und das maximal eine Stunde lang, dann war der Akku leer. Sie sehen an diesen Beispielen: Die Welt um uns herum und auch wir selbst befinden uns in einem steten Wandel. „Zukunft ist nie eine lineare Fortschreibung von Gegenwart, zugleich ist aber Gegenwärtiges immer als Gewordenes aus etwas Gewesenem zu begreifen und ist somit Resultat einer progressiven oder regressiven Entwicklung, also eines Wandels“ (B ECHMANN 2013: 93). <?page no="61"?> 61 3.1 Warum verändern sich die Dinge in der Welt? Wandel, das ist grob gesagt die wahrnehmbare Veränderung einer Sache oder eines Zustandes über eine bestimmte Zeit hinweg, so dass Zeitdifferenz, Vergleich und Identität die entscheidenden Elemente des Wandels kennzeichnen. Dabei ist zum Beginn dieses Prozesses die Sache oder der Zustand oftmals ein anderer als zum Ende dieser Entwicklung. Es kommt also über eine zeitliche Differenz zu einer Identitätsveränderung, die durch den Vergleich zweier Zustände retrospektiv erkennbar wird (vgl. Lüdtke 1980a: 4). Wandel als ein Phänomen, das neben der Sprache alle anderen soziokulturellen Sphären betrifft, lässt sich anhand dreier Parameter beschreiben: 1. Es gibt einen Ausgangszustand A. 2. Es gibt eine zeitliche Dimension Z. 3. Es gibt einen Endzustand E, der sich von A in bestimmten, wahrnehmbaren Punkten unterscheidet. Für den morphologischen Wandel einer Sache, beispielsweise die Umformung eines Granitblocks durch Behauen und Schleifen zu einer steinernen Pyramide, lässt sich dieser Zusammenhang schematisch folgendermaßen skizzieren: Beobachtung: Normalzustand Beobachtung: Veränderung Beobachtung: Wandel Benutzung Benutzung A E 1 E 2 Z 1 Z 2 Z 3 Abb. 3 Wandel durch Gebrauch Nun muss ich gestehen: An dieser Skizze sind zwei Dinge falsch bzw. zu vereinfachend dargestellt, auch wenn die Parameter A, E und Z richtig benannt und für jeglichen Wandel derart miteinander verwoben sind. Zumindest ist die Zeichnung dann falsch, wenn sie auf den soziokulturellen Wandel übertragbar sein soll. Denn: Anders als bei einem Granitblock, den ein Steinmetz in eine bestimmte <?page no="62"?> 62 3 Was ist Wandel? Form bringt, verfolgen Menschen bei kulturellem Wandel in aller Regel keinen Plan. Im Gegenteil: Der Wandel geschieht, ohne dass sie es wollen. Ein schönes Beispiel für den Wandel einer Sache durch Gebrauch ohne Plan finden Sie in nahezu jeder größeren Kirche. Wenn Sie beispielsweise einmal nach Rom in den Petersdom fahren, können Sie einen solchen ungeplanten morphologischen Wandel erkennen. Dort gibt es eine Bronzefigur des heiligen Petrus, von der man sagt, es wäre segensreich, diese Figur zu berühren. Tausende Menschen täglich küssen und streicheln den rechten Fuß der Statue, wodurch über einen langen Zeitraum von fast 700 Jahren Bronze abgetragen wurde. Der ehemals fein ausgearbeitete Fuß dieser Figur ist heute nur noch eine glatte, runde Fläche, die man nur noch als Fuß interpretiert, weil sie sich an der Stelle der Figur befindet, an der für gewöhnlich ein Fuß zu finden ist. Von der Form her gleicht der Bereich eher einer Türklinke. Nicht nur in dieser Hinsicht lässt sich die Skizze nicht auf soziokulturellen Wandel übertragen. Sie gilt nämlich nicht für spontane Ordnungen. Für die meisten kulturellen Wandelphänomene, zu denen beispielsweise Kleider- oder Haarmoden und natürlich auch die Sprache gehören, gibt es streng genommen keinen fixen Endzustand E, weil dieser Endzustand E zugleich der Ausgangszustand A 2 sein wird, den man zu einem späteren Zeitpunkt, den wir dann Endzustand E 2 nennen können, als solchen ansehen wird. Der Endzustand E, E 1 , E 2 usw. ist immer nur eine transitorische Zwischenstufe. Kultureller Wandel hat keinen fixen Anfangs- und Endpunkt, sondern ist ein Kontinuum. Ob man etwas als Wandel interpretiert oder nicht, hängt maßgeblich vom Zeitpunkt der Betrachtung ab. Wandelphänomene sind somit transitorische Phänomene, also Zustände, die vorübergehen. Dabei wird der Wandel in seiner Prozesshaftigkeit oft erst dann wahrgenommen, wenn eine auffällige Veränderung stattgefunden hat, nicht (oder nur selten) aber in der Zeitspanne, in der Wandel tatsächlich passiert. So merken wir oft gar nicht, dass sich Trends verändern, weil wir selbst Teil des Veränderungsprozesses sind. Dass sich die Mode zwischen 1960 und heute verändert hat, erkennt man, wenn man eine Hose von 1960 neben eine Hose von 2016 legt und beide Kleidungsstücke miteinander vergleicht. Farbe, Schnitt und Material werden sich stark unterscheiden, so sehr, dass wir sagen können, die Mode habe sich gewandelt. Um das zu erkennen, benötigen wir aber erst einen ausreichenden zeitlichen Abstand. <?page no="63"?> 63 3.1 Warum verändern sich die Dinge in der Welt? Wandel zeigt sich in vielen Fällen aufgrund seiner Prozesshaftigkeit erst mit einigem zeitlichen Abstand. Nun ist Ihnen sicher aufgefallen, dass ich in meinen Ausführungen zum Wandel bislang sehr vereinfache und Sie dürften bemerkt haben, dass meine Festlegungen sprachlich unpräzise sind. Bei kulturellen Phänomenen, zu denen Kleidermoden, Wirtschaftssysteme und auch die Sprachen gehören, ist es nicht angemessen zu sagen, dass sie es sind, die sich wandeln. Wie sollte das auch gehen? Eine Mode kann sich nicht wandeln. Eine Sprache auch nicht. Wenn Menschen in einer Gesellschaft über Jahrhunderte hinweg dieselben Hosen und Jacken produzieren und anziehen, wandelt sich die Kleidermode kein Stück. Bei Sprachen ist das genauso. Wenn wir über einen Zeitraum Z exakt die gleiche Sprache verwenden, dann ist der Endzustand identisch mit dem Anfangszustand- - es findet kein Wandel statt. Für soziokulturelle Phänomene wie Märkte, Moden oder Sprachen gilt also: Es sind nicht die Entitäten selbst, die sich wandeln, sondern es sind die Menschen, die diesen Wandel durch ihr Tun auslösen. Das gilt insbesondere für spontane Ordnungen, wie wir sie im vorherigen Kapitel kennengelernt haben, denn solche Ordnungen sind ja schon in ihrer Genese an die Einzelhandlungen der Menschen in einer Gemeinschaft gebunden. Daher verwundert es nicht, dass auch die Veränderungen dieser Ordnungen auf menschliche Nutzung zurückzuführen sind. Halten wir fest: Es sind nicht irgendwelche höheren Mächte, die soziokulturellen Wandel auslösen, sondern die Mitglieder einer Gesellschaft, in der diese Phänomene existieren. Und vermerken wir weiterhin: Wandel ist in diesen Fällen an Handlungen geknüpft, die wiederum als Wahlhandlungen bezeichnet werden können. Denn: Eine Hose mit einem anderen Schnitt anzuziehen und damit- - wenn das viele andere Hosenträger auch tun-- zum Wandel der Hosenmode beizutragen, ist eine rationale Entscheidung. Und sie ist zielgerichtet: Wir möchten nicht mit einer aus der Mode gekommenen Hose herumlaufen. Weil wir modern aussehen wollen, kaufen wir uns eine moderne Hose. Wir tun das, weil das alle (oder doch zumindest viele) so machen. Dass wir auf diese Weise dazu beitragen, dass die alte Hose aus der Mode kommt, ist gar nicht unser Ziel. Aber genau das passiert. Auch wenn wir als Tourist oder als Pilger im Petersdom die Figur des heiligen Petrus berühren, wollen wir uns so verhalten, wie es die anderen tun-- <?page no="64"?> 64 3 Was ist Wandel? und erhoffen uns, wenn wir gläubig sind, auch noch Seelenheil von unserem Tun. Der Heiligenfigur den Fuß zu verstümmeln, beabsichtigen wir hingegen nicht. Und wenn wir eine neue Redeweise übernehmen, weil alle anderen auch so sprechen, tragen wir zum Sprachwandel bei. Beabsichtigt haben wir es aber nicht. Und doch geschieht auch das. Warum drückt man sich bei solchen Wandelphänomenen so unpräzise aus, wie ich es eingangs auch getan habe? Warum sagen wir, etwas habe sich gewandelt und nicht, jemand habe etwas gewandelt, obwohl das doch viel treffender wäre? Nun, das liegt daran, dass dieser Jemand nicht bestimmbar ist. Wenn man sagt, dass es schneit, zeigt sich dasselbe Problem-- Es ist eine abstrakte Größe, die nicht greifbar ist. Bei soziokulturellem Wandel kann man nicht mit dem Finger auf einen Einzelnen zeigen und sagen „Der war es, der hat die Sprache gewandelt! “. Es ist nämlich jeder Einzelne an diesem Wandel aktiv beteiligt. Und doch trägt er keine ‚Schuld‘ am Wandel, denn er hat ihn sich nicht ausgedacht und planvoll herbeigeführt. Richtig wäre also, zu sagen: „Die vor uns, unsere Eltern und Großeltern, haben die Mode oder die Sprache gewandelt! “. Aber fragen Sie mal Ihre Großeltern, wie sie das getan haben und warum. Sie werden vermutlich nur ein Kopfschütteln oder Schulterzucken zur Antwort bekommen. Merken Sie sich bitte folgenden Grundsatz, der für alle Wandelphänomene in sozialen Systemen gilt: Kein Wandeln ohne Handeln — nur Handeln führt zum Wandeln! 3.1.1 Wie verändern sich Kulturen? Sozialer Wandel oder Kulturwandel zeigt sich überall dort, wo Menschen in einer Gemeinschaft leben und gemeinschaftlich zu Veränderungen beitragen, von denen sie in aller Regel als Einzelne profitieren. Viele kulturelle Errungenschaften dienen der Gemeinschaft, obwohl sie zunächst geschaffen wurden, um dem Einzelnen zu nützen. Dieses Paradoxon lässt sich beispielsweise am technischen Fortschritt zeigen. Exemplarisch möchte ich das an der Erfindung des Autos erklären; die nachfolgenden Gedanken lassen sich aber sicher auch auf andere kulturelle Phänomene beziehen. Nehmen wir einmal an, alle Erfinder seien faule Menschen. Erfinder seien so faul, dass sie den ganzen Tag überlegten, wie sie sich das Leben einfacher machen könnten. Und nehmen wir weiterhin an, Erfinder säßen die meiste Zeit des Tages herum und beobachteten fleißige Mitmenschen. Irgendwann ist einer <?page no="65"?> 65 3.1 Warum verändern sich die Dinge in der Welt? dieser trägen Erfinder so faul gewesen, dass er nicht einmal mehr laufen wollte. Am liebsten wäre er getragen worden, aber er fand niemanden, der das für ihn getan hätte. Nun wusste dieser faule Erfinder, dass er sich mit einem Pferd und einer Kutsche hätte transportieren lassen können. Aber: Ein Pferd ist sehr langsam und muss regelmäßig gefüttert werden. Das wusste er aus Beobachtungen seiner Mitmenschen, die Pferde und Kutschen besaßen. Was er auch noch wusste: Es gab andere Erfinder, die Maschinen erdacht hatten, die mit Dampf angetrieben wurden. Er kannte das Prinzip von Kolben und Dampf und wusste, dass sich auf diese Weise auch Räder in Bewegung setzen ließen. Also erfand er einen Verbrennungsmotor und baute ihn geschickt in eine Kutsche ein, die jetzt ohne Pferd in der Lage war, den faulen Erfinder zu transportieren-- viel schneller und viel bequemer als zuvor. Die Bequemlichkeit für den Erfinder einer Sache bedeutet immer auch eine höhere Bequemlichkeit für die Gesellschaft, wenn das erfundene Ding für jedermann nutzbar wird. Das gilt für elektrische Schraubenzieher, für Waschmaschinen und beispielsweise für USB -Sticks: „Reichtum und hochentwickelte Technologie sind die Folgen der Faulheit der Menschen“ (Keller 2003: 52). Bernard Mandeville (1670—1733) war ein niederländischer Arzt und Sozialtheoretiker. In seinem Hauptwerk, der Bienenfabel, beschreibt er die Wirtschaft als Kreislaufsystem und stellt die provozierende These auf, dass nicht die Tugend, sondern das Laster die eigentliche Quelle des Gemeinwohls sei. Seine Argumentation folgt dabei folgendem Muster: 1. Kaufleute verfolgen ihre eigenen Interessen. 2. Kaufleute richten ihr Handeln nach dem optimalen Gewinn aus. 3. Der optimale Gewinn führt zu kollektivem Wohlstand in der Gesellschaft. M ANDE VILLE formuliert damit ein Paradoxon, das auf dem menschlichen Wesen (1.), individuellen, kulturell bedingten Handlungsmaximen (2.) und kausalen Folgen von Einzelhandlungen (3.) basiert. Das nach ihm benannte Paradoxon basiert darauf, dass egoistisches Handeln zu positiven Effekten für die Allgemeinheit führt. <?page no="66"?> 66 3 Was ist Wandel? Technischer Fortschritt, die Bildung neuer Jugend-Subkulturen, die Rechtschreibreform, neue Gesetze und Verordnungen und auch Veränderungen der Sprache sind Phänomene des Kulturwandels und sie beruhen auf denselben Prinzipien, die ich gerade skizziert habe, wobei man Faulheit treffender mit Eigeninteressen bezeichnen kann. Kulturwandel basiert auf Eigeninteressen und ist eine (positive oder negative) Folge der kollektiven Verwirklichung solcher Interessen. Das gilt auch für den Sprachwandel. In der modernen Industriegesellschaft ist ein offensichtlich entscheidender Antrieb für Kulturwandel der technologische Fortschritt. Auch auf die Sprache wirkt sich dieser Fortschritt aus, wenn es beispielsweise darum geht, neue Dinge zu benennen. Dennoch ist der technische Fortschritt für Sprachwandel weder hinreichend noch notwendig. Das wesentlichste Handlungsmotiv ist vielmehr das des Verstandenwerdens. Das beschriebene vorrangige Eigeninteresse eines Sprechers in einer Sprachgemeinschaft ist Beeinflussung und Verständigung, wobei-- ähnlich wie beim Erfinder des Autos-- Faulheit eine Rolle spielen kann, aber nicht spielen muss: Sprachwandel entsteht häufig aus sprachökonomischen Gründen, folgt aber in jedem Fall kulturell bedingten Handlungsmaximen und kulturell zulässigen Handlungsmöglichkeiten. Kultureller Wandel, der auf Handlungsmaximen als Begebenheiten innerhalb der Kultur zurückgeht, wird als endogener Kulturwandel bezeichnet. Entsteht hingegen ein Wandlungsprozess durch die Begegnungen mit anderen Kulturen, aus denen Teile übernommen und zu einer neuen Form abgeändert werden, spricht man von induziertem Kulturwandel. Für Veränderungen kultureller und sozialer Entitäten gibt es verschiedene Mechanismen, von denen einige auch auf den Sprachwandel übertragbar sind. Diese Mechanismen basieren auf Einflussfaktoren, die auf den sozialen Wandel einwirken. Im Wesentlichen kann man als Einflussfaktoren auf den Kulturwandel die Prozesse Fortschritt, Adaption (Anpassung an Umwelteinflüsse), Diffusion und Akkulturation (Übernahme und Anpassung aus / an fremde/ n Kulturen) sowie Invention (Erfindung oder Einführung neuer Prinzipien, Werkzeuge oder Bräuche) identifizieren, wobei Fortschritt und Invention als endogene Kultur- <?page no="67"?> 67 3.1 Warum verändern sich die Dinge in der Welt? wandelprozesse den induzierten Formen Adaption, Diffusion und Akkulturation gegenüberstehen (vgl. dtv-Atlas Ethnologie: 87 ff.). Abb. 4 Einflussfaktoren auf den Kulturwandel Nun ist es so, dass kultureller Wandel unterschiedlich rasch vonstattengeht. Es gibt Prozesse, die schneller ablaufen und oft innerhalb einer Generation abgeschlossen sind und solche, die erst über einen langen Zeitraum zu Effekten führen. Im Prinzip kann man zwischen motiviertem und unmotiviertem Kulturwandel unterscheiden, wobei motivierter Kulturwandel zu schnellen Veränderungen führt, die aber weniger stabil sind als unmotivierte Veränderungen, die auf Tradierung beruhen und damit langsam, aber beständig ablaufen. Dieser Zusammenhang gilt auch und insbesondere für den Sprachwandel: <?page no="68"?> 68 3 Was ist Wandel? Geplante Eingriffe in ein Sprachsystem (z. B. durch Orthografieregeln, Wortneuschöpfungen durch Werbung o. Ä.) sind oft nur von kurzer Dauer, wogegen sich langfristige Veränderungen über Tradierungen ergeben. Tradierung führt als Prozess des Kulturwandels zu komplexen strukturellen Veränderungen (Prozess vs. Eingriff). 3.2 Was ist Sprachwandel? Sprache und Sprachwandel hängen untrennbar miteinander zusammen. Ohne das eine ist das andere nicht denkbar. Weder gibt es Sprache ohne Sprachwandel noch gibt es Sprachwandel ohne Sprache. Das klingt banal und doch ist diese Wechselwirkung eine erste und wichtige Erkenntnis dieser Einführung. Man kann sagen: Das eine folgt unmittelbar aus dem anderen. Aber ist es nun die Sprache, die den Wandel bedingt oder ist es der Wandel, der die Sprache formt? Auf den ersten Blick ist das keine schwere Frage. Ohne etwas, das sich verändern könnte, gäbe es keine Veränderung. Es ist also plausibel anzunehmen, dass es zunächst die Sprache selbst ist, die die Bedingungen für ihren Wandel schafft. Und dennoch ist beides richtig: Einerseits haben Sprachen aufgrund ihres Wesens das Potenzial zur Veränderung. Und andererseits führt Sprachwandel-- mit zeitlichem Abstand betrachtet-- zu neuen Sprachen bzw. zu neuen Sprachzuständen. Sprachwandel findet jederzeit und vor allem auf allen Makro- und Mikroebenen der Sprache und dabei auch ebenenübergreifend statt. Solange Sprachen aktiv gesprochen werden, müssen sie sich den kommunikativen Bedürfnissen ihrer Sprecher anpassen können. Aus linguistischer Sicht können wir verschiedene Dimensionen auf Wandelphänomene hin analysieren, wobei die Analyse davon abhängt, welche Sprachauffassung wir als „richtig“ anlegen. Dazu hatten wir in Kapitel 1 bereits hinreichende Gedanken formuliert: Je nach Blickrichtung auf den Gegenstandsbereich Sprache lässt sich unterschiedlich erklären, was Sprachwandel ist und wodurch er entsteht. Um Sprachwandel also adäquat erklären zu können, müssen wir eine sprachhistorische Betrachtung anstellen, die vergleichend Sprachzustände zu unterschiedlichen Zeitpunkten darstellt, und gelangen darüber zu Hypothesen, worin die Unterschiede begründet sein könnten. Die „richtige“ Sprachauffassung hilft uns dabei. Eine systemlinguistische Analyse hilft zudem dabei, Familienähnlichkeiten zwischen Einzelsprachen erfassen zu können, wobei eine solche Betrachtungsweise eher theoretischer als analytischer Natur ist. <?page no="69"?> 69 3.2 Was ist Sprachwandel? Sprachwandel lässt sich nicht nur durch eine Festlegung des Sprachsystems und seiner systemimmanenten Prinzipien fassen. Vielmehr können wir in das System selbst hineinblicken und feststellen, dass auch auf den Mikroebenen der Sprache selbst Veränderungen beschreib- und erklärbar werden. Die nachfolgende Abbildung zeigt, welche Dimensionen insgesamt beim Sprachwandel miteinander verwoben sind, wobei wir in Kapitel 1 bereits die Dimension des Sprachsystems beleuchtet haben und uns in diesem und den beiden folgenden Kapiteln insbesondere sprachpragmatischen Aspekten des Sprachwandels widmen werden. Eine Betrachtung der Dimension Semantik erfolgt aufgrund der Besonderheiten des Bedeutungswandels im zweiten Teil dieser Einführung. Abb. 5 Dimensionen des Sprachwandels <?page no="70"?> 70 3 Was ist Wandel? Sprachwandel als ein Sonderfall des soziokulturellen Wandels folgt denselben Prinzipien, wie wir sie im Abschnitt 2.1.1 kennengelernt haben. Die Einflussfaktoren, die für Kulturwandel im Allgemeinen gelten, bestimmen auch den Wandel von Sprachen. Sprachwandel ist ein prozessuales Phänomen, das seinen Ursprung beim Einzelnen nimmt und durch Verbreitung als Systemwandel mit zeitlichem Abstand beobachtbar und beschreibbar wird. Dabei gibt es für eine Betrachtung grundsätzlich zwei verschiedene Perspektiven: Wir können zum einen den Sprachzustand zu einem Zeitpunkt in der Vergangenheit bestimmen und diesen Zustand mit den Bedingungen vergleichen, die zu unserer Zeit gegeben sind. Eine solche historische Sprachbetrachtung zeigt Sprachwandel aus einer diachronen Perspektive. Die sogenannte Historische Sprachwissenschaft ist auf eine solche diachrone Betrachtung ausgerichtet, indem sie (synchrone) Sprachzustände vergleicht, um über die Unterschiede zu verschiedenen Zeitpunkten Prinzipien der Veränderung zu bestimmen. Die zweite Möglichkeit der Sprachbetrachtung ist die synchrone Betrachtung, die einen Sprachzustand zu einem bestimmten Zeitpunkt ohne Einbeziehung der Vergangenheit analysiert. Synchrone Sprachbetrachtung hilft dabei, Sprache als System in der Gesamtheit zu erfassen. Sie liefert aus Sicht der Sprachwandelforscher hilfreiche Befunde darüber, welche Veränderungen innerhalb der Gesamtsprache zu einem bestimmten Zeitpunkt, beispielsweise im Jahr 2016, stattfinden. So kann man einzelne sprachliche Subsysteme oder Varietäten, wie etwa die Jugendsprache oder die Sprache in der Politik, genauer untersuchen und herausfinden, welche Einflüsse solche Subsprachen auf die Gemeinsprache haben. Gegenwärtig ist beispielsweise in der Jugendsprache festzustellen, dass der Elativ häufig durch das gebundene Morphem megaausgedrückt wird, wie beispielsweise in megalangweilig oder megaschön. Solche gruppenspezifischen Verwendungsweisen sind deswegen möglich, weil Varietäten über eigene sprachliche Konventionen verfügen und damit Alternativen zum etablierten Sprachgebrauch bereithalten. Man nennt die Möglichkeit, über kommunikative Alternativen verfügen zu können, das sprachliche Register, über das Sprecher einer Sprache verfügen. <?page no="71"?> 71 3.2 Was ist Sprachwandel? Sprachwandel wird häufig durch konventionalisierten Gebrauch gruppensprachlicher Register ausgelöst. Eine Verbreitung synchroner Sprachphänomene kann u. U. zu diachronem Sprachwandel führen. Zunächst einmal ist es so, dass abweichender Sprachgebrauch allein noch keinen Sprachwandel bewirkt. Das gilt natürlich insbesondere für den einzelnen Sprecher, der ein Wort oder einen Satz anders verwendet, als es die sprachliche Konvention vorsieht. Der Einzelne kann die Sprache nicht ändern. Sie können das ja einmal selbst testen: Verwenden Sie doch einmal ein Wort zur Benennung einer Sache, das es gar nicht gibt. Nennen Sie beispielsweise einen Stuhl doch künftig Glumpf. Ich wette, dass es Ihnen nicht gelingen wird, dass Sie die Sprache derart wandeln, dass irgendwann alle Sprecher des Deutschen Glumpf statt Stuhl sagen werden. Dazu benötigen Sie noch viele Mitstreiter, damit Ihnen das-- zumindest in einer kleinen Gruppe-- gelingen kann. Langfristigen Erfolg werden Sie mit diesem Unterfangen nicht einfahren können-- es gibt nämlich gar keinen Grund für die Sprecher in der Sprachgemeinschaft, künftig Glumpf statt Stuhl zu sagen. Ganz im Gegenteil: Es wäre zum einen ein unnötiger kognitiver Aufwand notwendig, um die alte zugunsten der neuen Bezeichnung zu vermeiden. Und es wäre zum anderen mit einem hohen Risiko behaftet, diese sprachliche Neuerung konsequent umzusetzen: Es besteht die Gefahr, ständig nicht verstanden zu werden-- und das ist das Letzte, was man sich als Sprecher wünschen wird. Daran zeigt sich ein wesentliches Kriterium, das erfüllt sein muss, damit Sprachwandel ausgelöst und erfolgreich abgeschlossen wird: Sprachwandel findet nur dann statt, wenn eine alternative oder neue Sprachverwendung nicht nur für den Einzelnen, sondern für jeden individuellen Sprachbenutzer von Vorteil ist; singuläre Sprachabweichungen führen nicht zum Sprachwandel, sondern sind sprachliche Fehler. Anders sieht es aus, wenn Sie ein Ding erfinden, das Sie Glumpf nennen. In dem Maße, in dem sich das Ding verbreitet, wird auch der Begriff sich ausbreiten. Sie würden auf diese Weise das lexikalische Inventar durch Neubenennung erweitern. Nach Peter von Polenz gibt es vier Faktoren, die einzeln oder im Zusammenspiel den Sprachwandel bestimmen und über eine Beeinflussung der Handlungsmaximen der Sprachbenutzer Sprachwandel auslösen können: <?page no="72"?> 72 3 Was ist Wandel? Abb. 6 Sprachwandelfaktoren (nach P O LENZ 1991a) Welcher der genannten Faktoren auch maßgeblich den Sprachwandel auslöst, es ist in jedem Fall ein fortschreitender Prozess, der durchlaufen werden muss. Ohne eine bestimmte Abfolge und ohne Menschen, die an diesem Prozess beteiligt sind, finden Innovationen, sprachökonomische Bestrebungen, Variationen und auch Evolutionen keinen Fluchtpunkt. Es stellt sich also die Frage: Welche Phasen werden beim Sprachwandel durchlaufen, damit über eine bestimmte Zeitspanne aus einem Ausgangszustand A ein Endzustand E wird, der durch die diachrone Brille betrachtet als Sprachwandel bezeichnet werden kann, bei dem sich eine ältere Sprachform von einer neuen Sprachform unterscheiden lässt? 3.2.1 Woher und wohin? — Nächster Halt: Sprachwandel Wenn Sie sich auf eine Reise begeben, dann wissen Sie, dass eine Reise immer einen Anfangspunkt und ein Ziel hat, beispielsweise einen Bahnhof, an dem Sie einsteigen und einen anderen, an dem Sie aussteigen müssen. Jede Reise beginnt und endet irgendwo, egal, wie lang sie ist. Und jede Reise führt über verschiedene Orte, an denen man Halt machen und die man besichtigen kann. Wir wollen <?page no="73"?> 73 3.2 Was ist Sprachwandel? einmal eine solche Reise wagen und auf einen Zug aufspringen, den wir für unser Gedankenspiel den Sprachwandel-Express nennen wollen. Wie jeder weiß, der einmal mit einem Zug gefahren ist, kommt man rascher zum Ziel, wenn der Zug ein Schnellzug ist und keine ‚Bimmelbahn‘. Der Sprachwandel-Express ist eher ein gemächlicher Zug. Eine Direktverbindung von A nach B gibt es nicht, sondern unser Zug wird insgesamt vier Mal anhalten. Für unsere Zwecke-- wir möchten ja etwas lernen über den Sprachwandel und sind deswegen unterwegs-- ist das praktisch, denn wir können an den Stationen aussteigen und uns ein wenig umsehen. Der erste Halt ist zugleich der Ort, an dem wir-- die interessierten Beobachter des Sprachwandels-- den Zug besteigen. Diese erste Station unserer Reise nennen wir „Initialbahnhof “. Hier steigt neben uns ein Reisender ein, den wir der Einfachheit halber Herrn A nennen. Das Einsteigen an dieser Station wollen wir als Initialphase oder auch Innovationsphase bezeichnen. Herr A hat nicht viele Freunde und er ist auch noch nie verreist. Herr A hat das Ziel, so lange mit dem Zug zu fahren, bis Herr A jedem anderen Reisenden im Zug bekannt ist. Herr A ist aber kein Mensch, Herr A ist ein neues Wort, das bisher noch niemand kennt. Herr A steigt also in den Zug und dieser setzt sich langsam in Bewegung. Mit uns und Herrn A befinden sich alle anderen Wörter einer Sprache in diesem Zug und Herr A muss nun versuchen, sich bei den anderen Wörtern bekannt zu machen. Dazu geht Herr A von Wagen zu Wagen und stellt sich den Mitreisenden vor. Das ist natürlich ein ganz schön mühsames Bestreben und nach einer Weile ist Herr A froh, dass der Zug ein zweites Mal hält. Die Strecke, die wir bisher zurückgelegt haben, nennen wir Diffusionsphase. Nach einer kurzen Rast, bei der Herr A noch weitere neue Bekannte gewinnen konnte, folgt eine sehr schöne Strecke, die wir als Approbationsphase bezeichnen wollen. Diese Strecke ist deswegen so schön, weil Herr A mittlerweile zunehmend von den anderen Wörtern akzeptiert wird. Sie sind nett und freundlich zu Herrn A, schließlich kennen sie ihn ja inzwischen und glauben, dass Herr A gut in ihre Gemeinschaft passt. Diese Strecke ist reizvoll, aber lang. Den nächsten Bahnhof, den wir erreichen, nutzen wir dazu, Herrn A allein weiterreisen zu lassen. Es ist der Bahnhof „Lexikalisierung“. Herr A hat jetzt eine Strecke vor sich, die wir Normierungsphase nennen wollen und die streng genommen gar keine Strecke, sondern ein Zustand ist. Wenn Herr A es sich nämlich nicht mit seinen Mitreisenden verscherzt, darf er ab dieser Phase als vollwertiges Mitglied der Reisegruppe weiterreisen. Mit einem weißen Taschentuch winken wir also dem Sprachwandel-Express hinterher. Wir konnten auf unserer Reise erleben, wie <?page no="74"?> 74 3 Was ist Wandel? aus einem Neuling ‚ein alter Hase‘ geworden ist. Wir wissen jetzt, wie aus einer sprachlichen Neuerung eine eigenständige sprachliche Variante werden konnte. Die wesentlichen Stufen dieser Entwicklung lassen sich folgendermaßen darstellen (nach Grosse / Neubert 1982: 10 ff.): 1. Initialphase: Eine Neuerung gelangt durch innovative Sprachverwendung in das Sprachsystem, wobei entweder die Neuerung für sich allein auftreten oder neben eine bereits existierende Sprachform treten kann. 2. Diffusions- oder Verbreitungsphase: Die Neuerung wird durch frequente Verwendung im Sprachsystem verbreitet (mit oder ohne Auswirkungen auf eine bestehende Sprachform). 3. Approbationsphase: Die Neuerung setzt sich mehr und mehr durch (und verdrängt ggf. eine bestehende Sprachform). 4. Normierung: Der Sprachwandel ist abgeschlossen, wenn die Neuerung zur Norm geworden ist. Eine bestehende Sprachform ist zu diesem Zeitpunkt entweder verschwunden oder es kommt zu einer Koexistenz. Während die Phasen 1 und 4 den Anfangs- und Endpunkt markieren, kann man die Phasen 2 und 3 zusammenfassend auch als Neuerungsausbreitung (Haas 1998: 844) bezeichnen. In der folgenden Skizze wird dieser Prozess des Sprachwandels vereinfacht dargestellt: Abb. 7 4-Phasenmodell des Sprachwandels <?page no="75"?> 75 3.2 Was ist Sprachwandel? Wenn wir dieses Modell ein wenig spezifizieren und den Aspekt der Frequenz, der für den Sprachwandel von entscheidender Bedeutung ist, mitberücksichtigen, ergibt sich die folgende differenzierte Darstellung: Abb. 8 Erweitertes 4-Phasenmodell des Sprachwandels In Abbildung 8 können wir erkennen, dass der Ausgangspunkt für Sprachwandel in einem abweichenden Wortgebrauch liegt. Nun darf man das nicht so verstehen, dass jeder sprachliche Fehler zum Sprachwandel führen würde. Im Gegenteil: „Die allermeisten Fehler bleiben unbeachtete Eintagsfliegen.“ (K ELLER / K I R SCH - BAUM 2003: 10) Ein zweiter Blick auf Abbildung 8 zeigt, dass Frequenz ein wesentlicher Motor für den Sprachwandel ist. Frequenz bedeutet: Viele Menschen verwenden dieselbe sprachliche Abweichung sehr häufig mit denselben Zielen. Wenn das geschieht, kommt es mit hoher Wahrscheinlichkeit dazu, dass sich die Abweichung etablieren kann. Ein wichtiger Grundsatz lautet daher: <?page no="76"?> 76 3 Was ist Wandel? Die systematischen Fehler von heute sind (bei hoher Ausbreitungsfrequenz) die neuen Sprachverwendungsregeln von morgen. Keller / Kirschbaum (2003: 9) schreiben dazu: „Der neue Sprachgebrauch wird zunächst einmal als fehlerhaft angesehen“. Das ist auch der Grund, warum Sprachkritiker Angst davor haben, dass Veränderungen des Systems zu einem Verfall desselben führen. Denn: Verstöße gegen Normen werden intuitiv als Gefahr eingestuft, was in vielen Fällen gesellschaftlicher Normverletzungen auch berechtigt ist. Wenn Sie sich beispielsweise ab heute entscheiden, an roten Ampeln nicht mehr anzuhalten, ist Ihr Tun nicht nur egoistisch, sondern zugleich gefährlich. Beim Sprachwandel sieht das anders aus, denn sprachliche Fehler- - wenn sie kumulativ auftauchen-- führen zu Normänderungen, die keine Gefahr, sondern in manchen Fällen eine Bereicherung für das System darstellen. Die Sprachkritiker bedenken nicht, dass „systematisch auftretende Fehler mit der Zeit ihren Charakter als Fehler verlieren und zu neuen Regularitäten werden“ (Keller / Kirschbaum 2003: 9). 3.2.2 Welche Sprachen wandeln sich (und welche nicht)? Die Frage danach, welche Sprachen sich wandeln-- oder richtiger: welche Sprachen durch das Handeln der Sprecher gewandelt werden--, hängt eng zusammen mit der Frage, ob es Sprachen gibt, die vom Wandel verschont bleiben. Ein Beispiel für eine Sprache, in der keine Wandelprozesse ablaufen, ist das Ithkuil. Warum diese- - wie viele andere künstliche Sprachen- - vom Sprachwandel verschont bleibt und wieso sich alle natürlichen Sprachen, die aktiv gebraucht werden, zwangsläufig wandeln müssen, möchte ich Ihnen an dieser besonderen Sprache zeigen. Das Ithkuil ist eine konstruierte Sprache, die von niemandem gesprochen wird, die aber von John Quijada in den 1970er-Jahren mit dem Ziel erfunden wurde, alle Prinzipien natürlicher Sprachen zu vereinen. Das Resultat ist mehr ein sprachphilosophisches Spiel als der ernstzunehmende Versuch, eine natürliche Sprache zu erschaffen (was Quijada auch nicht beabsichtigt hatte). Das Ithkuil ist eine künstliche Sprache, die absolut perfekt wäre, wäre sie eine natürliche Sprache. Mit einem Haken: Das Ithkuil ist so perfekt, das es zum Sprechen nicht geeignet ist. <?page no="77"?> 77 3.2 Was ist Sprachwandel? Man kann mit einigem Recht behaupten, dass es sich bei dieser Kunstsprache um die wohl schwierigste Sprache der Welt handelt, weil es zugleich auch die wahrscheinlich komplexeste Sprache ist. Sie ist so komplex, dass es sehr unwahrscheinlich ist, dass man sie überhaupt erlernen kann. Das Deutsche ist-- wie alle natürlichen Sprachen- - ein überaus komplexes Zeichensystem, wie wir in Kapitel 1 erkennen konnten. Aber im Vergleich zum Ithkuil ist es eine eher einfache Sprache. Dabei ist das Deutsche gemessen an seiner grammatischen Komplexität auch insgesamt nicht so schwer zu erlernen wie andere Sprachen. Im Deutschen gibt es bekanntlich vier Kasus (Nominativ, Genitiv, Dativ und Akkusativ)-- nicht viel, wenn man sich die 15 Kasus des Finnischen vor Augen führt. Doch im Vergleich zum Ithkuil ist das Finnische eine Kindersprache. Das Ithkuil verfügt über 81 Kasus, es gibt insgesamt 65 Konsonanten (darunter aspirierte Konsonanten, Ejektive und Knacklaute) sowie 17 Vokale und es besteht lexikalisch aus 16 200 Stämmen, die aus 900 Wurzeln abgeleitet sind. Auch das Schriftsystem ist nicht mit dem der deutschen Sprache vergleichbar: „Im Schriftsystem ist lautliche und morphologische Information kodiert, die Schreibrichtung ist wie bei alten griechischen Inschriften bustrophedonal-[…], d. h. sie geht von links nach rechts und von rechts nach links“ (Schlobinski 2014: 35). Damit Sie sich ein besseres Bild von einer bustrophenodalen Schreibweise machen können, versuchen Sie einmal, den folgenden Text in englischer Sprache zu lesen: THE ITHKUIL SCRIPT IS WRITTEN IN A HORIZONTAL BOUSTROPHEDON TNEUQESBUS YREVE DNA TSRIF EHT HCIHW NI , RENNAM ( GAZ - GIZ ,.E.I) ODD - NUMBERED LINE OF WRITING IS WRITTEN LEFT - TO - RIGHT , WHILE - TIRW FO ENIL DEREBMUN - NEVE TNEUQESBUS YREVE DNA DNOCES EHT ING IS WRITTEN RIGHT - TO - LEFT . Die Schrift des Ithkuil, die man Içtaîl nennt, ist eine morpho-phonemische Schrift, eine Schrift also, die Angaben zur lautlichen Realisierung der Schriftzeichen enthält. Wenn man alle möglichen Kombinationen von Teilsymbolen zusammenrechnet, ergibt sich eine Summe von 3 606 Schriftzeichen in der Ornamentalschrift das Ithkuil. Der folgende Beispielsatz soll Ihnen die Komplexität vor Augen führen (die englische Übersetzung finden Sie unter dem Beispielsatz): 12 12 Das Beispiel entstammt der Seite www.ithkuil.net, die von John Quijada zwischen 2008 und 2011 angelegt wurde. Wenn Sie viel Zeit haben, können Sie sich ja mal daran versuchen, durch die Prinzipien dieser hypothetischen Sprache zu steigen-- viel Erfolg! <?page no="78"?> 78 3 Was ist Wandel? Tram-mļöi hhâsmařpţuktôx. On the contrary, I think it may turn out that this rugged mountain range trails off at some point. Die Idee hinter der Erfindung des Ithkuil war, eine Sprache zu konstruieren, die absolut exakt ist und die all das ausschließt, was in natürlichen Sprachen zu Verständigungsproblemen führen kann. Exaktheit einer Sprache führt aber zwangsläufig dazu, dass sie für Sprecher nicht taugt: Deren Handlungsmaximen beim Kommunizieren sind nämlich nicht auf völlige Vermeidung von Missverständnissen und auf sprachliche Präzision ausgerichtet, sondern auf die Beeinflussung des Gegenübers. Damit das gelingen kann, muss eine Sprache offen sein für Innovationen, was gleichbedeutend ist mit einer Offenheit für sich wandelnde individuelle kommunikative Strategien. Das Ithkuil hingegen ist ein komplexes und in sich geschlossenes System. Diese Sprache ist so perfekt, dass sie sich nicht verändern kann. Es gibt hier weder einen Grund noch eine Möglichkeit zur Veränderung. Wäre dies eine natürliche Sprache, dann würde jeder Sprecher ganz exakt dieselbe Sprache sprechen, Variationen wären völlig ausgeschlossen. Damit wären weder der fehlerhafte Gebrauch von Sprache möglich noch innovative Wortverwendungen abseits der Norm, aus denen sich nicht selten neue sprachliche Konventionen ergeben, die man dann mit zeitlichem Abstand als Sprachwandel bezeichnen kann. Ein solches System wäre völlig unflexibel-- und damit für sprachliches Handeln untauglich. Denn: Sprache haben wir eben nicht, damit wir uns präzise und exakt ausdrücken können. Sie dient uns nicht zur verlustfreien Übermittlung von Botschaften. Im Gegenteil: Sprachliche Kommunikation löst kein Transportproblem. Vielmehr dient sie uns als Mittel, unsere kommunikativen Ziele erreichen zu können. Damit das von Fall zu Fall individuell gelingen kann, muss Sprache offen und dynamisch sein. Eine geschlossene und statische Sprache wie das Ithkuil ist also zwar exakt, aber zum Kommunizieren nicht geeignet-- ganz abgesehen davon, dass es wohl fast unmöglich wäre, eine solche Sprache zu erlernen. Halten wir daher als Grundsatz für die Möglichkeit bzw. hypothetische Unmöglichkeit sprachlichen Wandels in einem Sprachsystem fest: <?page no="79"?> 79 3.3 Weiterführende und vertiefende Literatur Je exakter und formalisierter eine Sprache ist, desto weniger Wandel ist möglich. Und: Je weniger Variationsmöglichkeiten ein sprachliches System bereithält, desto weniger eignet es sich als zweckrationales Mittel sprachlichen Ausdrucks. Sprachen, die sich nicht eignen, werden erfunden, aber nicht gesprochen. Eine Sprache nicht zu sprechen ist die beste Möglichkeit, sie so zu bewahren, wie sie ist: Dadurch, dass niemand diese Sprache verwendet, ist sie statisch- - sie verändert sich nicht. Bei genauerem Hinsehen zeigt sich, dass eine natürliche Sprache nie etwas Stabiles ist. Dies gilt für den individuellen Sprachgebrauch, vielmehr jedoch für die Sprache in ihrer Gesamtheit als System und die auf dieser Basis entstehenden Texte. Für natürliche Sprachen gilt daher: Natürliche Sprachen sind exakt genug, damit Missverständnisse weitgehend ausgeschlossen werden und zugleich offen genug, um das Potenzial der Anpassung an veränderte Nutzungsbedingungen in sich zu tragen. Das bedeutet: Sprachen, die verwendet werden, wandeln sich. Sprachwandel ist dabei ein Resultat der Sprachverwendung. Sprachwandel ist also ein deutliches Zeichen für die kommunikative Tauglichkeit einer Sprache; er ist kein Zeichen für Unvollkommenheit. 3.3 Weiterführende und vertiefende Literatur Beiträge zum Themenfeld Wandel mit dem Schwerpunkt Sprachwandel gibt es zahlreiche. Hier eine Empfehlung auszusprechen ist schwer, denn Wandel als Grundbegriff wird in den einschlägigen Publikationen selten isoliert betrachtet, sondern entweder in seinen Grundzügen als bekannt vorausgesetzt oder nur am Rande thematisiert. Wenn Sie sich für den Wandel in sozialen Systemen interessieren, kann ich Ihnen die Schriften von W ILLIAM F. O GBU RN aus dem Jahr 1965 mit dem Titel Kultur und sozialer Wandel ans Herz legen. Darin enthalten sind viele kluge Gedanken, die sich auch auf den Wandel in der Sprache übertragen lassen. Lesenswert ist der Beitrag von J AN W I R R ER (2009) zum Wandel von Sprache, denn dort werden sowohl die Begriffe Synchronie und Diachronie anschaulich erklärt als auch die Prinzipien des internen und externen Sprachwandels näher <?page no="80"?> 80 3 Was ist Wandel? beleuchtet, die wir in diesem Kapitel unter dem Aspekt des endogenen und des induzierten Kulturwandels nur angerissen haben. Daneben empfehle ich Ihnen für einen raschen Überblick dazu, wie man Wandel in der Sprache definieren kann, die Lektüre von K ELLER / K I R SCHBAUM 2003: 7 ff. sowie K ELLER 2003: 30 ff. und B ECHMANN 2013: 77 ff. Prinzipien des Kulturwandels werden hier anschaulich mit Sprachwandel in Verbindung gebracht. Sollten Sie mehr über künstliche Sprachen wissen wollen, kann ich Ihnen raten, die Internetseite von J OHN Q UIJADA (www.ithkuil.net) aufzusuchen und dort die Prinzipien des Ithkuil näher zu betrachten. Der Unterschied zwischen natürlichen und künstlichen Sprachen wird daran offenkundig. <?page no="81"?> 81 3.3 Weiterführende und vertiefende Literatur 4 Was sind die Prinzipien des Sprachwandels? Die Sprache, in ihrem wirklichen Wesen aufgefasst, ist etwas beständiges und in jedem Augenblicke Vorübergehendes. Wilhelm von Humboldt (1767-1835) Ziele und Warm-up Nachdem wir im vorangegangenen Kapitel bereits erste Einblicke in das Wesen des Sprachwandels gewonnen haben, führt uns dieses Kapitel zu den Prinzipien des Sprachwandels. Nachfolgend werden Erklärungsmodelle diskutiert, die für ein Verständnis des Sprachwandels notwendig sind. Im Mittelpunkt dieser Lektion stehen die Fragen nach der Erklärung für Sprachwandel im Allgemeinen, nach den Regeln und Gesetzmäßigkeiten, denen Wandel in der Sprache folgt und nach den Handlungsmaximen sowie den Rahmenbedingungen, unter denen Sprecher durch ihr Sprachhandeln zum Sprachwandel beitragen. Ziel dieser Einheit ist es, dass Sie wissen, auf welche Weise und durch welche Anlässe Sprachwandel entsteht. Als Lockerungsübung für den Einstieg beantworten Sie bitte die folgenden Fragen auf der Basis Ihres Wissens zu diesem Zeitpunkt: ▶ Warum können Sie als Einzelner keinen Sprachwandel herbeiführen, wenn Sie ein neues Wort erfinden? ▶ Unter welchen Umständen könnte es Ihnen gelingen? Was ist dafür nötig? ▶ Was ist das längste Wort, das Sie kennen? Was ist das kürzeste Wort, das Ihnen einfällt? ▶ Was passiert mit einem Wort, wenn es zu lang oder zu kurz wird? ▶ Stellen Sie sich bitte vor, Sie wollen ab sofort Gewichtheben trainieren. Skizzieren Sie anhand eines mathematischen Graphen (x- und y-Achse), wie sich die Steigerung des Gewichts im Verhältnis zur Zeit vermutlich abbilden lässt! Welche Kurve entsteht dabei? <?page no="82"?> 82 4 Was sind die Prinzipien des Sprachwandels? 4.1 Nach welchen Prinzipien wandeln sich Sprachen? Sprachwandel passiert nicht einfach so. Dass Sprecher daran beteiligt sind, wissen wir bereits. Wir wissen auch, dass Sprachwandel einem Prozess folgt, wie wir ihn in Kapitel 3 anhand des Sprachwandel-Express’ definiert haben. Zur Erinnerung: Am Anfang jedes Sprachwandels steht eine Normabweichung, die durch Übernahme und Verbreitung zu einem späteren Zeitpunkt die Normierung einer neuen sprachlichen Form zur Folge hat. Die unter 3.2.1 beschriebenen Stadien des Sprachwandelprozesses sind dabei als kontinuierliche Verläufe und nicht (wie häufig angenommen) als Fixpunkte zu verstehen. Sprachwandel stellen wir also mit dem Blick in die Vergangenheit fest. Sprachwandelforschung arbeitet somit diagnostisch, nicht aber prognostisch. Dabei ist unsere Betrachtung i. d. R. diachron: Wir untersuchen Sprache nicht in einem eng begrenzten Zeitraum, sondern analysieren einen Sprachaspekt innerhalb mehrerer ausgewählter Zeiträume oder wir vergleichen verschiedene Sprachentwicklungsstufen miteinander, beispielsweise die Entwicklung vom Althochdeutschen über das Mittelhochdeutsche zum Neuhochdeutschen, wie wir es mit einem historischen Blick in Kapitel 1 getan haben. Ist Sprachwandel deshalb aber ein (rein) diachrones Phänomen? Wie hängen Diachronie und Synchronie prinzipiell zusammen? Und: Wie funktioniert der diachrone Sprachwandelprozess? Beginnen wir auf unserer Suche nach Prinzipien des Sprachwandels also mit der Frage nach der Synchronie in der Diachronie. Exkurs: Synchronie und Diachronie — zwei Seiten einer Medaille Die Begriffe Synchronie und Diachronie bezeichnen unterschiedliche Ebenen der Sprachbetrachtung. Zurückzuführen sind die Termini auf F ERDINAND DE S AUSSU R E , der sie zur Untersuchung von Sprachen als geschlossene Zeichensysteme eingeführt hat. Sprachen als Systeme mit ihren beschreibbaren Einzelelementen (Zeichen) lassen sich bestimmen, wenn man die Zeichen des Systems (und die anderen Elemente) in Relation zueinander betrachtet. Eine solche relationale Betrachtung ist synchron, also auf der Achse der Gleichzeitigkeit angesiedelt. Synchronie bezeichnet somit einen fixen Zustand zu einem bestimmten Zeitpunkt, wogegen <?page no="83"?> 83 4.1 Nach welchen Prinzipien wandeln sich Sprachen? 4.1.1 Ist Sprachwandel ein (rein) diachrones Phänomen? Beim Sprachwandel ist es in aller Regel so, dass nicht von heute auf morgen die eine Norm die ältere Norm ablöst. Vielmehr gibt es zu bestimmten Zeiten eine Koexistenz von alter und neuer sprachlicher Form. Insofern ist Sprachwandel ein synchroner Prozess, denn der Wandel findet zu jedem Zeitpunkt zwischen Regelverletzung und Neuverregelung (Normierung) statt. Sprachwandel ist somit ein graduelles Phänomen mit intermediären Sprachstadien. Sehen wir uns dazu ein Beispiel an: Das deutsche Adjektiv geil wird gegenwärtig zum Ausdruck von Emphase verwendet. Wenn wir sagen, dass jemand eine ,geile Karre’ fährt, dann meinen wir damit, dass es sich um ein besonders schönes oder schnelles Auto handelt-- wir drücken durch das Wort geil unsere Begeisterung aus. Das war nicht immer so. Noch vor 50 Jahren hatte geil eine ausschließlich sexuelle Bedeutung, die das Wort auch heute noch trägt. Einen unbelebten Gegenstand als geil zu bezeichnen, wäre damals semantisch falsch gewesen. Weitere 100 Jahre früher hatte geil mit Sex nicht viel zu tun. Man konnte beispielsweise von einem geilen Urwald sprechen und meinte damit völlig wertneutral eine üppige Vegetation. Zwischen diesen drei Verwendungsweisen lassen sich Ähnlichkeiten erkennen-- und doch Diachronie die Veränderung eines Sprachzustandes im Laufe der Zeit bezeichnet. Eine diachrone Betrachtung zielt also auf die Veränderungen im Laufe der Zeit ab (Sprachentwicklung), eine synchrone Betrachtung hingegen kann Zustände und Veränderungen eines Sprachsystems in der Zeit (also zu einer bestimmten Zeit) beschreiben (Sprachstadium). Bei der Verwendung der Begriffe kommt es oft zu Missverständnissen. So ist eine vollständige Beschreibung von Sprachwandelphänomenen nur möglich, wenn man beide Betrachtungen vornimmt. Synchronie und Diachronie sind keine Gegensätze, sondern sie ergänzen sich: Da Sprachwandel zu jeder Zeit stattfindet, ist er prozessual. Sprachwandel ist damit ein synchroner Prozess, denn es gibt bei gesprochenen Sprachen keine statischen Phasen, sondern eine permanente Entwicklung. Sprachwandel als synchroner Prozess ist also immer diachron. Die Begriffe Synchronie und Diachronie sind für Probleme des Sprachwandels nicht geschaffen: „Die Begriffe ,Zustand’ und ,Geschichte’ sind sehr verschieden von den Begriffen ,Stase’ und ,Dynamik’“ (K ELLER 2003: 169). Richtig ist: „Eine Theorie des Wandels ist keine Theorie der Geschichte, sondern eine Theorie der Dynamik eines ,Zustandes’“ (K ELLER 2003: 169). <?page no="84"?> 84 4 Was sind die Prinzipien des Sprachwandels? wurde das Wort verschieden benutzt. Solch ein Wandel verläuft graduell, so dass es zu allen Zeiten Ausgangs- und Zielform des Wandels als Varianten gibt, die man verwenden kann: Bevor die ältere Sprachform verschwindet, existiert sie i. d. R. parallel zur neuen Sprachform weiter. Sie verschwindet erst dann, wenn sie niemand mehr verwendet. Bei unserem Beispiel ist die ursprüngliche Bedeutung geil = üppig verschwunden, wogegen geil = sexuell erregt / erregend und geil = schön gegenwärtig beide noch gebräuchlich sind. Vermutlich handelt es sich dabei um eine transitorische Zwischenstufe und eine der beiden Varianten wird sich in Zukunft durchsetzen. Ein anderes Beispiel betrifft die Orthografie: Gegenwärtig können Sie das Wort Orthografie auch mit -phals Orthographie schreiben. Beide Schreibweisen sind richtig. Es handelt sich also um schriftsprachliche Varianten. Der synchrone Prozess, der möglicherweise zum Wegfall der einen zugunsten der anderen Variante stattfinden wird, könnte zu einem Zeitpunkt in der Zukunft als „optionaler Verzicht auf die griechische Schreibweise“ oder als „optionale Anpassung der Schreibweise an die deutsche Aussprache“ bezeichnet werden. Diese beiden synchronen Prozesse, die gegenwärtig ablaufen, könnten in 20 Jahren dem diachronen (Sprachwandel-)Prozess „Wegfall griechischer Suffixe“ o. Ä. entsprechen. In jedem synchronen Sprachstadium finden Sprachwandelprozesse statt (intermediäre Zwischenstadien mit synchronen Variationen). Eine diachrone Betrachtung muss also immer auch synchrone Wandelprozesse berücksichtigen. D. h.: Synchrone Sprachstufen sind in der diachronen Betrachtung keine statischen Phasen, sondern immer selbst auch Prozesse (und damit per definitionem selbst diachron). Diese Einschätzung geht auf Eugenio Coseriu zurück, der folgerichtig konstatiert: Man darf außerdem hervorheben, daß, weil der Wandel wesentlich zur Seinsweise der Sprache gehört, wir uns in Wirklichkeit jeden Augenblick vor im Vollzug begriffenen Veränderungen befinden. Deswegen müssen sich die Veränderungen auch in den „Sprachzuständen“ widerspiegeln, auch wenn sie vom streng synchronischen Standpunkt aus nicht als solche nachgewiesen werden können. In der Tat manifestieren sich die Veränderungen in der Synchronie, kulturell gesehen, in den „vereinzelten“ Formen, in den sogenannten „geläufigen Verstößen“ gegen die bestehende Norm und in den in einer Mundart feststellbaren heterosystematischen Modi; und funktionell gesehen, in der Gegenwart von fakultativen Varianten und isofunktionellen Verfahren in ein und <?page no="85"?> 85 4.1 Nach welchen Prinzipien wandeln sich Sprachen? demselben Sprechmodus. All das, was diachronisch betrachtet bereits Wandel ist, ist also von einem „Sprachzustand“ aus gesehen als kritischer Punkt des Systems und Auswahlmöglichkeit zwischen gleichwertigen Verfahren Bedingung für einen Wandel. (Coseriu 1974: 99) Sprachwandel ist ein makrostrukturelles Phänomen, das Sprecher einer bestimmten Sprachstufe auslösen. Dabei ist der Wandel stets das Resultat der Bemühungen einer Vielzahl von Sprechern, die Sprache für ihre kommunikativen Zwecke tauglich zu machen. Es ergibt sich: Sprachwandel ist (also) ein beschreibbarer Zustand, der aus einem Prozess resultiert, aber Sprachwandel ist nicht der Prozess selbst. 4.1.2 Welchem Prozess folgt der Sprachwandel? Sprache dient uns zur Erreichung unserer kommunikativen Absichten und ist damit ein Werkzeug, das wir durch unsere Sprachverwendung aktiv nutzen können, das wir aber nicht aktiv erschaffen haben. Sprache als Werkzeug ist etwas anderes als ein Faustkeil der Neandertaler. Mit Werkzeugen ist es von jeher so, dass sie immer so gut sind, wie die Werkstücke, die mit ihnen gefertigt werden müssen, es erfordern. Auch mit der Sprache verhält es sich so: In unserer globalisierten Welt, in der Technik und Fortschritt in jedem Winkel unseres Lebens zu finden sind, ist der Anspruch an eine Sprache, die diesen gegenwärtigen Anforderungen genügen kann, ein anderer als vor 200 Jahren in einem Land, das aus Kleinstaaten bestand und in dem der Sprachkontakt sich in aller Regel auf den Austausch mit dem direkten Nachbarn beschränkte. Sprache ist ein dynamisches System, das regelhaften Veränderungen unterworfen ist. Unsere deutsche Sprache etwa- - das gilt aber auch für alle anderen hochentwickelten Sprachen auf der Welt- - ist heute reichhaltiger und, wenn man in der Werkzeugmetaphorik bleiben möchte, sie ist tauglicher als früher, tauglicher für uns heutige Sprecher mit unserem heutigen Sprachhandeln und unseren heutigen kommunikativen Zielen beim Sprechen und Schreiben. Diese Einschätzung betrachtet die Sprache nicht isoliert von dem kulturellen System, in dem sie vorkommt. Ein solcher Systemgedanke, bei dem die Einzelelemente in einer bestimmten, durch den Nutzen des Systems vorgegebenen Beziehung zueinander stehen, lässt Sprachwandel als Systemwandel erscheinen, der sich quantitativ fassen, aber nicht qualitativ bewerten lässt. Mehr noch: Er <?page no="86"?> 86 4 Was sind die Prinzipien des Sprachwandels? lässt sich erklären, wenn man auf die Anforderungen blickt, die Sprecher an ihre ‚Werkzeuge‘ stellen. Eine Sprachbetrachtung, die Sprachwandel als notwendige Folge sprachlichen Handelns einstuft, ist eine positivistische Sprachbetrachtung, die auf Finalitäten und auf Kausalitäten beruht. Sie geht zudem davon aus, dass Sprache als Instrument dient und ist damit in ihrem Kern instrumentalistisch. Sprache ist nichts, das uns Sprechern von Natur aus als fertiges Ding zum täglichen Gebrauch gegeben wäre, so wie eine Kaffeemaschine oder ein Akkuschrauber. Stattdessen passen wir uns die Sprache so an, wie wir sie benötigen: situativ und historisch. Dabei sind diese Anpassungen stets und einzig kausale Folgen unseres täglichen kommunikativen Handelns, also funktional und zielgerichtet. Das ist uns weder bewusst noch streben wir danach. Und dennoch geschieht es. Der Linguist Rudi Keller hat im Rahmen seiner Sprachwandelforschung eine Theorie vorgelegt, die erklären kann, was Sprache im Allgemeinen ist-- und was sie nicht ist. Dabei greift die Vorstellung von Sprache als spontaner Ordnung, die beschreibt, wie aus chaotischen Zuständen durch menschliche Verhaltensweise geordnete Strukturen entstehen können. Solche geordneten Strukturen kann man als Quasi-Koordinationen begreifen, als Ordnungen also, die niemand beabsichtigt hat: Unkoordiniertes Verhalten führt zu einer koordinierten Struktur. Menschen sind aktiv an der Veränderung von Sprache beteiligt. Es wäre nun aber ein falscher Schluss, diese Beteiligung im Sinne einer absichtsvollen Handlung zu verstehen. Im Gegenteil: Sprache ist kein Artefakt, so dass finale Erklärungen, also solche, die von bewussten Zielen ausgehen, nicht richtig sind. Lange Zeit herrschte die Meinung vor, dass alles, was nicht Artefakt ist, ein Naturphänomen sein muss. Es gab in diesem Denken nur diese beiden Optionen: Entweder haben Menschen die Dinge gemacht oder die Natur ist verantwortlich. Ein solches binäres Denken nennt man Dichotomie. Man findet immer wieder in der Literatur den Hinweis, Sprache müsse in ihrer Existenz und ihrer Entstehung auf zwei unterschiedliche Seinswesen rückgebunden werden, nämlich auf „die Sprache als physikalisch-biologisches bzw. als Naturphänomen und die Sprache als historisch gewordenes kulturelles Artefakt“ (Mattheier 1998: 827). Man kann annehmen, dass es gewisse Bereiche natürlicher Sprachen gibt, die in der Tat rein biologisch determiniert sind. Dazu gehört etwa die Möglichkeit der Lautbildung durch einen spezifischen anatomischen <?page no="87"?> 87 4.1 Nach welchen Prinzipien wandeln sich Sprachen? Bau des menschlichen Kehlkopfes. Und es gibt Bereiche, die kulturell bedingt sind. Diese Bereiche sind, wenn man sie als Artefakte versteht, etwa die Regeln der deutschen Rechtschreibung oder Neologismen. Diese Einschätzung, dass Sprache diesen beiden Bereichen entspringt, ist aber sehr unpräzise, denn man neigt dazu, ein sprachliches Phänomen entweder als Naturphänomen oder als Artefakt zu begreifen. Diese Sichtweise stößt rasch an ihre Grenzen: In Bezug auf Sprachwandel führt eine derartige Dichotomie zu falschen Befunden. Begreift man Sprache als Naturphänomen, dann ist ihr Wandel vom Willen des Einzelnen gänzlich unabhängig; stuft man Sprache als Artefakt ein, dann sind alle sprachlichen Veränderungen Ergebnisse menschlicher Handlung. Rudi Keller konnte jedoch zeigen, dass man von einer Trichotomie ausgehen muss: Weder ist Sprache ein Naturphänomen noch ist sie ein Artefakt wie etwa ein Fahrrad oder ein Verbrennungsmotor. Auch wenn man natürliche Sprachen von künstlichen Sprachen begrifflich differenziert, ist die Vorstellung von Sprache als Naturphänomen falsch. Sie gilt nicht für menschliche Sprache, wohl aber für tierische Sprachen, wie die der Bienen, die über chemische Botenstoffe miteinander kommunizieren. Vielmehr ist menschliche Sprache ein Phänomen der dritten Art. Das bedeutet, dass Sprache ein Phänomen ist, das sich weder in die eine noch in die andere Klasse einordnen lässt: Abb. 9 Phänomene der dritten Art <?page no="88"?> 88 4 Was sind die Prinzipien des Sprachwandels? Neben der Sprache sind alle spontanen Ordnungen solche Phänomene der dritten Art. Phänomene der dritten Art sind durch sechs wesentliche Eigenschaften bestimmt (vgl. Keller / Kirschbaum 2003: 131): 1. Phänomene der dritten Art entstehen als spontane Ordnungen. 2. Phänomene der dritten Art entstehen durch menschliche Handlungen. 3. Phänomene der dritten Art entstehen nicht durch intelligente Planungen. 4. Phänomene der dritten Art sind Nebeneffekte von Handlungen, die das entstehende Phänomen nicht zum Ziel hatten. 5. Phänomene der dritten Art sind Effekte finaler Einzelhandlungen. 6. Phänomene der dritten Art entstehen durch einen Prozess, an dem eine Vielzahl von Menschen unabsichtlich und unbewusst beteiligt sind. Nun, da wir das erkannt haben, fällt es leicht, den Wandel in spontanen Ordnungssystemen zu erklären. Der Wandel in spontanen Ordnungen wird ausgelöst durch individuelle Wahlhandlungen ohne das Ziel, die Ordnungsstruktur dabei zu verändern. Das geschieht immer dann, wenn möglichst viele Menschen dieselben Wahlhandlungen unabhängig voneinander vollziehen. Ein anschauliches Beispiel, das man bei Rudi Keller vielfach finden kann, ist die Entstehung von Trampelpfaden. Trampelpfade entstehen im Gegensatz zu gepflasterten Wegen im wahrsten Sinne des Wortes beiläufig, also ungeplant. Sie resultieren daraus, dass viele Menschen den eigentlichen Weg verlassen, um möglichst schnell von a nach b zu kommen. Liegt zwischen a und b nur eine Wiese (und ist das Betreten möglich und erlaubt), dann werden diejenigen, die in Eile sind (und das sind ja fast alle), den gepflasterten Weg verlassen und quer über besagte Wiese laufen. Was im Laufe der Zeit dabei entsteht, ist ein Trampelpfad, also eine neue intelligente Struktur im Wegesystem. Wie von unsichtbarer Hand ist etwas aus dem Nichts entstanden, von dem keiner derjenigen, die das Phänomen erzeugt haben, sagen würde, dass er es absichtsvoll erschaffen hat. Im Gegenteil: Menschen, die an der Entstehung und Veränderung von spontanen Ordnungen durch individuelle Wahlhandlungen beteiligt sind, wissen bei der Erschaffung nichts von den Folgen ihrer Handlungen. Sie haben die Folgen weder geplant noch gewollt. Rudi Keller schreibt: „Ganz ohne Zweifel hat-[…] die Intelligenz des Trampelpfadnetzes nichts zu tun mit der Intelligenz derer, die es trampelten, sondern eher <?page no="89"?> 89 4.1 Nach welchen Prinzipien wandeln sich Sprachen? mit deren Faulheit“ (Keller / Kirschbaum 2003: 130). Diese pointierte Einschätzung gilt auch für viele Fälle des Sprachwandels. Für den Sprachwandel lässt sich mit einem Blick auf unsere Erkenntnisse zu Sprache als Werkzeug und Tätigkeit sagen: Sprachwandel ist die unabsichtliche Folge eines absichtsvollen, also zweckgerichteten, sprachlichen Handelns. Aus den Einzelhandlungen mehrerer Individuen entstehen ungeplante Strukturen. Der Mensch ändert die Sprache also durch den Gebrauch der Sprache. Damit der Sprachgebrauch zum Sprachwandel führt, sind aber viele Menschen notwendig-- und es müssen unabhängig voneinander dieselben Ziele verfolgt werden. Zudem müssen bestimmte Rahmenbedingungen gegeben sein. Weil der Prozess, der beim Wandel abläuft, wie von unsichtbarer Hand geschieht, nennt man ihn auch invisible-hand-Prozess und das dabei entstehende Phänomen entsprechend ein invisible-hand-Phänomen. Spontane Ordnungen als invisible-hand-Phänomene sind der Effekt des Wirkens der unsichtbaren Hand. Rudi Keller ( * 1942) ist ein deutscher Linguist und Sprachwandelforscher. K ELLER gilt als einer der wichtigsten Vertreter einer handlungstheoretisch orientierten Sprachwandeltheorie, die unter dem Namen invisible-hand-Theorie bekannt ist. K ELLER geht prinzipiell davon aus, dass Veränderungen in unserer Welt weder notwendig noch hinreichend für Veränderungen in unserer Sprache sind. Er lehnt einen rein repräsentationistischen Sprachbegriff zugunsten einer instrumentalistischen Sprachauffassung ab und verortet Sprache als eine spontane Ordnung. Aus dieser Perspektive entwickelt K ELLER eine genauere Differenzierung des Sprachbegriffs und setzt der dichotomen Perspektive (Naturphänomen vs. Artefakt) eine neue Trichotomie entgegen: Phänomene der dritten Art, zu denen K ELLER den Sprachwandel rechnet, sind Ergebnis menschlicher Handlungen (wie Kulturphänomene), nicht aber Ziel menschlicher Intention (wie Naturphänomene). <?page no="90"?> 90 4 Was sind die Prinzipien des Sprachwandels? Damit die unsichtbare Hand greifen kann, muss man zunächst zwei Ebenen voneinander unterscheiden. Zum einen ist dies die Mikroebene des Sprechers und die dort einzuordnenden Handlungsmaximen. Zum anderen ist das die Makroebene der Sprache, also das Sprachsystem. Hier gilt: Das Handeln auf der Mikroebene bewirkt Veränderungen auf der Makroebene. Die Einzelhandlungen der Sprecher auf der Mikroebene folgen bestimmten Kommunikationsmaximen und erzeugen so über einen Kumulationsprozess makrostrukturelle Phänomene auf der Ebene der Sprache. Die invisiblehand-Erklärung Rudi Kellers, die im Kern auf die Moralphilosophie des schottischen Volksökonomen Adam Smith sowie auf die Tradition des methodologischen Individualismus zurückgeht, schließt diese Ebenen und Prozesse zur Erklärung von sprachlichem Wandel ein. 13 Sie umfasst einerseits die Rekonstruktion der Motive der individuellen Handlungsweisen und der (handlungs-)ökologischen Rahmenbedingungen und zeigt andererseits, wie über einen kumulativen Prozess eine veränderte Makrostruktur entsteht. Oder anders ausgedrückt: Das Resultat eines Sprachwandels ist als Makrostruktur eine kausale Konsequenz eines invisible-hand-Prozesses, also das unreflektierte Resultat der finalen Handlungen vieler Einzelpersonen, die im invisible-hand-Prozess kumulieren. Im Gegensatz zu Naturphänomenen und Artefakten, für die entweder eine kausale oder eine finale Erklärung greift, ist für eine spontane Ordnung (oder ein Phänomen der dritten Art) nur eine Erklärung mittels der unsichtbaren Hand angemessen, da diese in der Lage ist, kausale und finale Elemente zu vereinen: „Erklärungen von Kodewandel im allgemeinen und Sprachwandel im besonderen können weder rein kausal noch rein final sein, wenn das Explanandum ein Phänomen der dritten Art ist“ (Keller 1996: 423). Der Ansatz der unsichtbaren Hand liefert deshalb eine tatsächliche Erklärung, weil er zum einen Antezedenzbedingungen berücksichtigt (das sind handlungsökologische Rahmenbedingungen und Kommunikationsmaximen) und weil er zum anderen eine allgemeine Gesetzmäßigkeit einschließt (das ist der 13 „,Methodologischen Individualismus’ nennt man die erkenntnistheoretische Position, welche besagt, daß kollektive Phänomene (wie Recht, Staat, Sprache, Sitte, Geschmack, Mode usw.) in einer Theorie mit explanativem Anspruch nicht als ,gegeben’ hingenommen werden dürfen, sondern zurückzuführen sind auf Entscheidungen und Handlungen der sie erzeugenden Individuen“ (Keller 1996: 423). <?page no="91"?> 91 4.1 Nach welchen Prinzipien wandeln sich Sprachen? kumulative invisible-hand-Prozess), aus der sich Sprachwandel als notwendige Folge (um genauer zu sein als kausaler Effekt) ergibt. Außerdem kann Sprachwandel so auch zwingend auf das funktionale Handeln zurückgeführt werden. Der invisible-hand-Prozess und die Elemente, die daran beteiligt sind, lassen sich wie folgt darstellen: ökologische Bedingungen Mikrostruktur Intentionale Handlungen Invisiblehand- Prozeß Makrostruktur Kausale Kosequenzen Explanandum Abb. 10 Invisible-hand-Prozess (nach K ELLER 1996: 423) Sprachwandel folgt einem evolutionären Prozess: Zunächst treten zufällige Neuerungen auf (Mutation), dann entwickeln sich daraus eigenständige Varianten (Variation), die sich aufgrund von Umweltbedingungen entweder durchsetzen können oder nicht (Selektion). Diese Selektion erfolgt wieder als invisible-hand-Prozess, nämlich durch den unreflektierten, aber finalen Sprachgebrauch der Sprachgemeinschaft. Die Durchsetzung selbst ist der Effekt der Wahlhandlungen der Sprecher und als solcher kausal. <?page no="92"?> 92 4 Was sind die Prinzipien des Sprachwandels? Exkurs: Die Metapher von der unsichtbaren Hand Die Metapher von der unsichtbaren Hand, die Sprachwandel als nicht-intendierte Folge individueller Wahlhandlungen von Sprechern in einem Kumulationsprozess beschreibt, geht zurück auf den schottischen Moralphilosophen und Ökonomen A DAM S MITH (1776: Der Wohlstand der Nationen). S MITH erklärt anhand dieses sprachlichen Bildes, auf welche Weise das eigennützige Streben der Menschen in einer Marktwirtschaft zum Wohl der gesamten Gesellschaft beitragen kann. Demnach wird das allgemeine Glück dadurch maximiert, dass jedes Individuum versucht, sein persönliches Glück zu erhöhen. Durch das Wirken der unsichtbaren Hand wird auf diese Weise auch das allgemeine, gesellschaftliche Glück erhöht. Niemand strebt direkt danach, das Volkseinkommen zu maximieren. Indem aber jeder Einzelne seinen eigenen Güterbedarf decken will, führt der Marktmechanismus (durch den Handel) zum volkswirtschaftlichen Erfolg. Das System (Markt, Sprache etc.) reguliert sich durch diese Kräfte selbst. Die Erklärung des Sprachwandels als invisible-hand-Prozess besteht aus drei Teilschritten: 1. Die individuellen Handlungsweisen (z. B. abweichender Wortgebrauch) und die Rahmenbedingungen (z. B. veränderte Höflichkeitsformen, die eine sprachliche Neuausrichtung nötig machen) auf der Ebene des Sprechers (Mikroebene) werden hypothetisch rekonstruiert. 2. Der Kumulationsprozess wird beschrieben auf der Grundlage gemeinsamer (äquivalenter) Handlungsmaximen (z. B. „drücke dich innovativ aus“). 3. Die strukturelle Veränderung (Wandel) auf der Ebene der Sprache (Makroebene) wird dargestellt. Die strukturelle Veränderung (3) ist dabei eine direkte Folge aus 1 und 2, so dass Sprachwandel ein kausaler Effekt (Makroebene) finaler Handlungen (Mikroebene) ist. 4.2 Gibt es Sprachwandelgesetze? Sprachwandel ist stets an einen Sprachwandelprozess geknüpft. Die Annahme des Wirkens der unsichtbaren Hand kann für zahlreiche Fälle diesen Prozess erklären. Neben dem Prozess selbst gibt es aber noch allgemeine Prinzipien des Sprach- <?page no="93"?> 93 4.2 Gibt es Sprachwandelgesetze? wandels, die man unter dem Aspekt des gesetzmäßigen Wandels beschreiben kann. Solche Sprachwandelgesetze sind keine normativen Festlegungen, sondern beschreiben vielmehr immer wieder beobachtbare Phänomene. Sie sind also nicht zu vergleichen mit Verkehrsregeln. Streng genommen haben Sprachwandelgesetze mit solchen Gesetzen überhaupt nichts gemeinsam. Gesetze, wie wir sie kennen, werden mit Absicht formuliert. Sprachwandelgesetze folgen hingegen einer inneren Prozesshaftigkeit. Es sind Abläufe und Phänomene, die regelmäßig vorkommen, ohne aber, dass die Regel dafür einer äußeren Planung entspringt. Mit ihnen vergleichbar sind etwa die Gesetze der Physik. Sprachwandelgesetze sind empirisch belegte und z. T. mathematisch formulierte, regelhafte (bzw. regelmäßige, weil stets wiederkehrende), tendenzielle und prinzipielle, sprachübergreifende Muster der Veränderung, ohne jedoch eine normative Kraft im Sinne einer Gesetzesnorm zu besitzen. Das verbindende Element zwischen Sprachwandelgesetzen, natürlichen Gesetzmäßigkeiten und beispielsweise Rechtsnormen ist der Aspekt der Generalität, wobei Sprachwandelgesetze generalisierte Tendenzfestlegungen sind. Für Sprachwandelgesetze gilt: Wenn Sprecher bestimmte sprachliche Probleme stets mit denselben Handlungsmaximen und unter denselben Bedingungen lösen, entstehen Phänomene, die als gerichtet und universell bezeichnet werden können. Ein solcher gerichteter Sprachwandel kann als gesetzmäßig bzw. als universell gelten. 4.2.1 L ÜDTKE s universelles Sprachwandelgesetz Wenn Wörter eine gewisse Länge erreicht haben, dann neigen Sprecher dazu, Kurzwortformen zu bilden. Das tun Sie auch. Statt Automobil sagen Sie wahrscheinlich Auto und vielleicht sitzen Sie gerade in diesem Augenblick in der Uni und nicht in der Universität. Im Laufe der Zeit kann es dazu kommen, dass Wörter durch sprachliche ,Faulheit’ morphologisch abgeschliffen werden und an Substanz verlieren. Was in diesen Fällen mit einem solchen Wort passiert, hat Helmut Lüdtke in Form eines universellen Sprachwandelgesetzes formuliert. Er beschreibt darin den lexikalisch-morphologischen Sprachwandel und eine bestimmte Form des Lautwandels als einen zirkulären Kreislauf, der in erster <?page no="94"?> 94 4 Was sind die Prinzipien des Sprachwandels? Linie auf sprachökonomischen Prinzipien beruht (vgl. Lüdtke 1980b: 182 ff. und Keller 2003: 147 ff.). Dieses universelle Sprachwandelgesetz lässt sich folgendermaßen abbilden: Abb. 11 L ÜDT K E s universelles Sprachwandelgesetz Ausgangspunkt sind dabei Regelverletzungen aufgrund ökonomischer, dem Effizienzprinzip folgender Bestrebungen, die über einen gerichteten, dreistufigen Prozess (Lüdtke nennt diesen Ablauf zyklische Drift) zu einer lexikalischen Neubildung führen. Der Prozess der lautlichen Schrumpfung (1.) aufgrund sprachökonomischer Bestrebungen führt dazu, dass sich ein Wort morphologisch ,abschleift’-- ein Prozess, der so lange stattfindet, bis die Verständlichkeit des Wortes gefährdet ist. Denn: Damit Sprache ihre Funktion als taugliches Mitteilungsmittel <?page no="95"?> 95 4.2 Gibt es Sprachwandelgesetze? erfüllen kann, ist ein gewisses Mindestmaß an lautlicher (und morphologischer) Substanz nötig (Signal-Negentropie). Hat sich der Begriff so sehr verkürzt, dass die Verständlichkeit gefährdet ist, wird das Wort wieder lexikalisch angereichert. Diese lexikalische Anreicherung (2.) folgt-- wie Andreas Blank bemerkt-- dem Expressivitätsprinzip und erfüllt den Wunsch des Sprechers, möglichst gut und deutlich verstanden zu werden (vgl. Blank 1997: 362 ff.). Das Prinzip der Verschmelzung (3.) sorgt im nächsten Schritt dafür, dass weiterhin lexikalische Einheiten bestehen bleiben und sich nicht etwa eine große Menge minimaler Lautformen mit geringer morphologischer Substanz bildet. In diesem Schritt folgt der Sprecher ebenfalls dem Effizienzprinzip, ohne dass ihm dieser Umstand bewusst wäre: „Kognitiv und lexikalisch effizient ist es, ein Konzept mit nur einem Wort auszudrücken; - […] morphologisch effizient ist es, über Morpheme zu verfügen, die aus mehr als einem oder zwei Phonemen bestehen-[…]“ (Blank 1997: 364). (Morphologischer) Sprachwandel ist definiert als ein ständiger Wechsel zwischen phonetischer Vereinfachung und lexikalischer Differenzierung. Ursächlich dafür ist das Wechselspiel der Handlungsmaximen von Ökonomiestreben auf der einen und dem Streben nach Verständlichkeit auf der anderen Seite. Lassen Sie uns diesen zirkulären Prozess anhand der Entwicklung des französischen Begriffs für das Wort heute einmal betrachten. 14 Die lautliche Schrumpfung ist dabei in drei Stufen vom Lateinischen zum Altfranzösischen abgebildet: 14 Im Deutschen wurde aus hodie das Wort heute, das gegenwärtig lautlich oft zu [heut] verkürzt wird. <?page no="96"?> 96 4 Was sind die Prinzipien des Sprachwandels? Abb. 12 Beispiel für eine zyklische Drift anhand der Etymologie von franz. aujourd’hui Sprachstufe Bezeichnung Bedeutung Sprachwandelprozess Lateinisch hoc die an diesem Tag Ausgangslage: Segmentierter Begriff Lateinisch hodie heute Verschmelzung und lautliche Schrumpfung Altfranzösisch hui heute (weitere) lautliche Schrumpfung Zwischenstufe au jour d’hui am heutigen Tag lexikalische Anreicherung Neufranzösisch aujourd’hui heute (eigentlich: am heutigen Tag) Verschmelzung Neufranzösisch au jour aujourd’hui am heutigen Tag (eigentlich: am Tag des heutigen Tages) weitere lexikalische Anreicherung → Segmentierung Tabelle 4 Etymologie von franz. aujourd’hui Rudi Keller benutzt für die Herausarbeitung seiner invisible-hand-Erklärung die von Lüdtke entwickelte zyklische Drift und erweitert sie zu einem allgemeingül- <?page no="97"?> 97 4.2 Gibt es Sprachwandelgesetze? tigen Prinzip für Sprachwandel. Dabei formuliert Keller drei Grundprinzipien für Sprachwandel: 1. Ökonomieprinzip 2. Redundanzprinzip 3. Prinzip der Verschmelzung Der Zusammenhang zwischen diesen drei Prinzipien stellt sich folgendermaßen dar: Sprecher neigen dazu, ihren artikulativen Aufwand möglichst gering zu halten (Ökonomieprinzip). Diese Tendenz führt dazu, dass Sprecher sich häufig kurz und knapp ausdrücken, wodurch lautliche Substanz verloren geht. Statt [guten morgen] sagt man häufig so etwas wie [morgen] oder noch kürzer [mo: rn] . Dennoch wollen Sprecher verstanden werden. Hier ergibt sich nach unten hin eine Art natürliche Grenze: Die Lautäußerung [mon] wäre beispielsweise kaum noch als Verkürzung von Guten Morgen zu begreifen; [mo] oder [n] sind definitiv zu kurz, um verstanden zu werden. Daher sprechen wir in der Regel mit einem leichten Überschuss an lautlicher Substanz, den man als Redundanz bezeichnet (Redundanzprinzip). Nach oben hin besteht ebenfalls eine Grenze: Deutlicher als deutlich können wir nicht sprechen. Wollen wir die Redundanz über diese natürliche Grenze hinaus steigern, müssen wir unsere Rede lexikalisch anreichern. Wir könnten sagen: Einen wunderschönen guten Morgen wünsche ich Ihnen. Wird nun ein Wort durch das Ökonomieprinzip zu kurz, wird die lautliche Schrumpfung lexikalisch kompensiert (Prinzip der quantitativen Kompensation). Die kompensatorische Anreicherung geschieht zunächst derart, dass neben die kurze Wortform eine weitere lexikalische Einheit gestellt wird. Im Laufe der Zeit verschmelzen diese Sequenzen zu einer neuen lexikalischen Einheit (Prinzip der Verschmelzung). Lüdtkes Sprachwandelgesetz besteht somit aus drei hintereinander geschalteten invisible-hand-Phänomenen, wobei jeder einzelne Prozess die Bedingung für den nachfolgenden schafft, wie man in Abbildung 11 anhand der Handlungsmaximen ablesen kann (=-ökologische Inputbedingungen als Motoren der Sprachwandelprozesse). <?page no="98"?> 98 4 Was sind die Prinzipien des Sprachwandels? Helmut Lüdtke (1926—2010) war ein deutscher Linguist und Romanist. L ÜDTK E s wissenschaftliches Paradigma war der Strukturalismus, in dessen theoretischem Rahmen er seine ersten Publikationen anlegte, die insbesondere dem Standard-Portugiesischen galten. Neben Sprachgeschichte und Sprachwandel der romanischen Sprachen (vor allem mit Blick auf Mittelalter und Frühe Neuzeit) lehrte und erforschte H ELMU T L ÜDTK E auch deren Phonologie, Lexikologie und Syntax. Zu seinen Forschungsschwerpunkten zählten der grammatische Wandel in den romanischen Sprachen, die Erforschung des gesamtromanischen Wortschatzes sowie die Frage nach dem Ursprung der romanischen Sprachen. 4.2.2 K ÖHLER s Regelkreis Der Prozess von lautlicher Schrumpfung, lexikalischer Anreicherung und Verschmelzung kennzeichnet Sprache als ein selbstorganisierendes System, in dem sich durch ein Wechselspiel aus Notwendigkeit und Zufall spontane Ordnungen bilden. Ein gewisses Gleichgewicht ist für das Funktionieren des Systems notwendig. Sprache ist zwar durch eine hohe Variabilität geprägt, die sich als Sprachwandel auf der Makroebene manifestiert. Sie ist aber zudem durch selbstregulierende Prozesse bestimmt, die das funktionale Gleichgewicht herstellen und sichern. Eine linguistische Forschungsrichtung, die Sprache als dynamisches System betrachtet, ist die synergetische Linguistik. Sie geht davon aus, dass äußere Einflüsse Prozesse auslösen, die zu einer Veränderung des Systems führen können. Solche Einflüsse hatten wir an anderer Stelle als ökologische Rahmenbedingungen bezeichnet. Fremdsprachliche Einflüsse zählen ebenso dazu wie veränderte Sprachhandlungsmaximen (z. B. veränderte Grußformeln) oder technische Neuerungen, die u. U. neue Begriffe erfordern. Die Bedingungen für sprachliche Veränderung sind also in der Umwelt des Sprachsystems zu suchen. Die Umwelt umfasst soziale und kulturelle Systeme- - und damit auch die Sprecher und deren kommunikative Absichten. Sie schließt auch die rein biologisch bedingten Eigenschaften ein, wie etwa den Artikulationsapparat, das Gehör oder das Gehirn als Ort der Sprachverarbeitung. Alle diese Umweltfaktoren sind die <?page no="99"?> 99 4.2 Gibt es Sprachwandelgesetze? Bedingungen, nach denen das System sich verändern kann. Zugleich sind sie die Beschränkungen für die Dynamik des Systems: Da sich unsere Artikulationsorgane nicht oder nur sehr langfristig verändern, spielen solche Umwelteinflüsse für den Sprachwandel keine Rolle. Wichtig für Sprachwandelprozesse sind Systembedürfnisse, die von den Sprechern ausgehen und die Zipf grob in Unifikationskräfte und Diversifikationskräfte einteilt (vgl. Zipf 1949). Unifikationskräfte führen dabei zu einer Reduktion von Komplexität des Systems, wogegen Diversifikationskräfte zur Entstehung komplexer Strukturen beitragen. Dass unsere Sprache nicht so hyperkomplex beschaffen ist wie das in Kapitel 3 vorgestellte Ithkuil, ist eine Folge des Wechselspiels dieser beiden Kräfte. Die Systembedürfnisse kann man grob einteilen in solche, die das System konstituieren und andere, die das System formen. Neben dem Bedürfnis nach Ökonomie ist z. B. auch das Bedürfnis nach Spezifikation entscheidend, etwa dann, wenn Begriffe möglichst präzise definiert werden sollen. Einen knappen Überblick über solche Bedürfnisse, von denen einige den bereits vorgestellten Handlungsmaximen entsprechen, vermittelt Ihnen die nachfolgende Übersicht (nach Hoffmann / Krott 2002: 5). Überprüfen Sie einmal selbst, welche Bedürfnisse sich in Lüdtkes Sprachwandelgesetz als Triebfedern wiederfinden lassen! Sprachkonstituierende Systembedürfnisse Sprachformende Systembedürfnisse Kodierungsbedürfnis Bedürfnis nach Sicherheit der Informationsübertragung Spezifikationsbedürfnis Ökonomiebedürfnisse: ▶ Minimierung des Produktionsaufwandes ▶ Minimierung des Kodierungsaufwandes ▶ Minimierung des Dekodierungsaufwandes ▶ Minimierung des Gedächtnisaufwandes ▶ Minimierung des Inventarumfangs Despezifikationsbedürfnis Anwendungsbedürfnis Tabelle 5 Systembedürfnisse des Sprachsystems Da die Systemumwelt nicht statisch ist, verändern sich die Systembedürfnisse im Lauf der Zeit hinsichtlich der Stärke ihres Einflusses. Deswegen gibt es zu jeder Zeit verschiedene Sprachwandelphänomene. Damit Sprache aber insgesamt eine stabile Ordnung behält, gibt es selbstregulierende Mechanismen. Ein Beispiel für einen solchen Mechanismus ist uns zuvor bei Lüdtke begegnet: Wenn wir ein Wort, das relativ lang ist, häufig verwenden, kürzen wir es (Automobil → Auto). <?page no="100"?> 100 4 Was sind die Prinzipien des Sprachwandels? Damit kurze Wörter aber nicht zu kurz werden, findet lexikalische Anreicherung statt. Beim französischen Wort aujourd’hui haben wir diesen Prozess nachverfolgt. Selbstorganisations- und Regulationsmechanismen ermöglichen die Entstehung von neuen Strukturen im Sprachsystem. Die synergetische Linguistik ermöglicht es, den Einfluss der Bedürfnisse, die Sprecher und Hörer haben, und deren Auswirkung auf die Gestaltung der Sprache zu modellieren. Zur Befriedigung der Bedürfnisse, die in Tabelle 5 zusammengestellt sind, kommen unterschiedliche Verfahren zur Anwendung. So kann das System z. B. auf technische Veränderungen in der Welt vielfältig reagieren: Es können Fremdwörter übernommen, Neologismen erschaffen oder Komposita gebildet werden. Insbesondere in den Fachsprachen kommen solche lexikalischen Wortbildungsprozesse ständig zur Anwendung, um den steigenden Benennungsbedarf zu befriedigen. Dabei fällt auf, dass Sprachen dies etwa im Bereich der technischen Fachsprachen auf verschiedene Weise tun: Im Deutschen beispielsweise sind Entlehnungen häufig (Computer, Screen, File), wogegen es im Französischen eher vorkommt, dass Neologismen gebildet werden (ordinateur, écran, fichier) (vgl. Hoffmann / Krott 2002: 16). Die synergetische Linguistik bezeichnet solche Selbstregulationsprozesse als Regelkreise (in Anlehnung an die Kybernetik). Ein synergetisches Modell bringt dabei sprachliche und außersprachliche Faktoren zusammen. Es basiert auf den beschriebenen Unifikations- und Diversifikationskräften, liefert Erklärungen und trifft Vorhersagen zum Sprachwandel. Der bekannteste dieser Regelkreise geht auf Reinhard Köhler zurück. Er beschreibt als allgemeines Prinzip das Verhältnis von Worthäufigkeit und morphologischer Gestalt von Wörtern in einer Sprache. In diesem Regelkreis gelten folgende Zusammenhänge: 1. Kurze Wörter werden häufiger verwendet als lange Wörter (→ Ökonomiestreben). 2. Je häufiger Wörter verwendet werden, desto kürzer werden sie (→ kurze Wörter werden immer kürzer). 3. Je seltener Wörter verwendet werden, desto länger werden sie. 4. Kurze Wörter tragen häufig mehrere Bedeutungen. 5. Wörter mit vielen Bedeutungen werden häufiger in Texten verwendet. <?page no="101"?> 101 4.2 Gibt es Sprachwandelgesetze? 6. Wörter, die in Texten häufig vorkommen, kommen auch insgesamt in einer Sprache häufig vor. Hier schließt sich dieser Regelkreis (vgl. Köhler / Altmann 1986 und Köhler et al. 2005), der beschreibt, warum kurze und häufig frequentierte Wörter eher einem Sprachwandel unterliegen als längere und seltener verwendete Begriffe. Für die Veränderung der Länge von Wörtern gilt: „Die Veränderungsrate der Länge einer lexikalischen Einheit ist umgekehrt proportional zu ihrer Frequenz.“ (H OFFMANN / K ROT T 2002: 18) Für den Sprachwandel ist der Zusammenhang von hoher Verwendungsfrequenz und Wandel auch in anderer Hinsicht entscheidend: Hochfrequente Wörter sind insgesamt wandelanfälliger. Ein T-Shirt, das man häufig trägt, verändert seine Form und Farbe auch eher als eines, das nur im Schrank herumliegt. 4.2.3 Das P IOTROWSKI -Gesetz Während Lüdtkes Sprachwandelgesetz und Köhlers Regelkreis eher als funktionale Gesetze gelten können, weil sie von Handlungsmaximen und Bedürfnissen ausgehen, ist das sogenannte Piotrowski-Gesetz ein Entwicklungs- oder Verlaufsgesetz, das eine quantitative Bestimmung vornimmt. Diese eher mathematische Festlegung zum Sprachwandel beschreibt die (vorhersagbare) Ausbreitung sprachlicher Neuerungen und kann als allgemeines Ordnungsprinzip für alle Sprachwandelprozesse gelten. Prozesse von Neuerungsausbreitungen (vgl. 3.2.1) lassen sich mathematisch bestimmen. So kann man das Vorkommen einer sprachlichen Neuerung in überlieferten Texten über einen bestimmten Zeitraum hinweg verfolgen. Ausgangspunkt ist dabei die erstmalige Erwähnung einer sprachlichen Neuerung oder Abweichung. In der anschließenden Verbreitungsphase lässt sich beobachten, dass die Neuerung immer häufiger in Texten auftaucht, wobei die ursprüngliche sprachliche Form nicht nur erhalten bleibt, sondern noch zahlenmäßig überwiegt. In der Approbationsphase kommt es dazu, dass das Vorkommen der alten Form abnimmt, während die Neuerung sich immer stärker ausbreitet. <?page no="102"?> 102 4 Was sind die Prinzipien des Sprachwandels? Phasen der Koexistenz zweier sprachlicher Varianten (alt / neu) stuft man synchron als unvollständigen Sprachwandel ein. Zu einem späteren Zeitpunkt kommt es zu einer Ablösung der alten durch die neue Variante, wobei die neue Variante zur Norm geworden ist (Normierungsphase). Zu diesem Zeitpunkt, an dem die ursprüngliche Sprachform durch die ehemals neue Variante vollständig abgelöst wird und damit aus dem Register verschwindet, spricht man von einem vollständigen Sprachwandel. Der Schlusspunkt dieser Entwicklung ist dann erreicht, wenn sich keine Textnachweise der alten Sprachform mehr finden lassen. Exkurs: Sprache und Mathematik — was ist die quantitative Linguistik? Die quantitative Linguistik untersucht Sprachen und deren Einheiten und Strukturen mit den Mitteln der Kombinatorik, Wahrscheinlichkeitstheorie, Differenzen- und Differenzialgleichungen und testet die Ergebnisse mit Hilfe der Statistik. Ihre Aufgabe ist es, Sprachgesetze aufzustellen mit dem Ziel, eine Theorie der Sprache zu entwickeln, die ein System miteinander verbundener Sprachgesetze bildet. Der Erforschung und Formulierung eines solchen Verbundes zusammenwirkender Sprachgesetze hat sich die synergetische Linguistik gewidmet, die wir im Abschnitt zuvor bereits kennengelernt haben. Im Deutschen ist z. B. der Wandel von mhd. was („Ich was“) zu nhd. war („Ich war“) durch Best statistisch belegt (vgl. Best 1983: 109). In einer Tabelle, die das Vorkommen von s-Formen und r-Formen chronologisch auflistet, lässt sich ablesen, wie sich der Prozess des Wandels über bestimmte Zeitintervalle hinweg vollzogen hat. So lässt sich nachweisen, dass war um das Jahr 1460 herum erstmals als Variante von was in frühneuhochdeutschen Texten erwähnt wird (Verhältnis 808: 4). Bis zur Mitte des 16. Jahrhunderts überwiegt was als Variante (Verhältnis um 1530: 986: 522). Die ursprüngliche Wortform wird ab etwa 1540 zugunsten der neuen Variante war weniger häufig verwendet. So finden sich für den Zeitraum zwischen 1580 und 1589 in den historischen Quellen nur noch 290 Belegstellen für was und bereits 1 039 Belege für die neue Variante war. Was ist um 1680 nahezu verschwunden (Verhältnis 6: 1 068), so dass man spätestens ab diesem Zeitpunkt davon sprechen kann, dass ein vollständiger morphologischer Sprachwandel von mhd. was zu nhd. war stattgefunden hat. Die Verbreitungsrate einer sprachlichen Neuerung lässt sich anhand einer Verlaufskurve abbilden, die regelmäßig die Form einer S-Kurve aufweist: <?page no="103"?> 103 4.2 Gibt es Sprachwandelgesetze? Abb. 13 Verlaufskurve für den Sprachwandel nach dem P I OT ROWSK I -Gesetz Diese Darstellung folgt dem Piotrowski-Gesetz, das ein universelles Modell des Sprachwandels darstellt. Rajmund Piotrowski hat bei der Analyse von Verläufen sprachlicher Wandlungsprozesse aus empirischen Beobachtungen eine Theorie abgeleitet, die zum Teil auf dem Sprachwandelgesetz von Lüdtke basiert und die mögliche Sprachwandelentwicklungen vorhersagen kann (im Sinne einer statistischen Wahrscheinlichkeitsaussage, nicht im Sinne einer natürlichen Gesetzmäßigkeit). Dieser Theorie folgend verläuft jeder Sprachwandel auf die gleiche Weise (vgl. Piotrowski et al. 1985 und Best/ Kohlhase 1983): ▶ Zu Beginn eines Sprachwandels gibt es einen dezenten Anstieg in der Verwendungshäufigkeit einer sprachlichen Neuerung. → langsamer Beginn ▶ In einer zweiten Phase kommt es zu einer schnellen und geografisch weiten Ausbreitung bei gleichzeitiger Abnahme der Verwendung anderer (älterer) sprachlicher Formen. → Beschleunigung ▶ Ab einem Wendepunkt wird das Maximum der Ausbreitung sehr langsam erreicht. → Abnehmen der Ausbreitungsgeschwindigkeit ▶ Ist der maximale Wert der Verbreitung erreicht, kann er im Laufe der Zeit wieder abnehmen (oder er bleibt konstant). → Stillstand der Ausbreitung Grundsätzlich unterscheidet man zum einen zwischen vollständigem und unvollständigem und zum anderen zwischen reversiblem und irreversiblem Sprach- <?page no="104"?> 104 4 Was sind die Prinzipien des Sprachwandels? wandel. Ein vollständiger Sprachwandel hat dann stattgefunden, wenn eine alte durch eine neue Form abgelöst worden ist. Im Deutschen hat ein vollständiger Wandel stattgefunden, als das mittelhochdeutsche was vollständig durch war ersetzt wurde. Unvollständiger Sprachwandel ist etwa in der Zunahme des Wortschatzes einer Sprache zu beobachten. Dies gilt auch für Phasen der Koexistenz zweiter Varianten im Zuge eines Sprachwandels, der erst zu einem Zeitpunkt in der Zukunft abgeschlossen sein wird. Aber auch andere Prozesse der Erweiterung des Lexikons einer Sprache gelten als unvollständiger Sprachwandel, wie beispielsweise die Zunahme von Entlehnungen oder Neologismen. Wenn sich ein sprachliches Phänomen zunächst ausbreitet und dann wieder zurückweicht oder sogar verschwindet, spricht man von einem reversiblen Sprachwandel (auch: transitorischer Sprachwandel). Bei kurzfristigen Modewörtern, Kunstwörtern, Begriffen der Werbesprache o. Ä. geht man von einem reversiblen Sprachwandel aus, weil auf eine Phase der raschen Verbreitung keine Normierung, sondern eine ebenso rasche Abnahme der Verwendungshäufigkeit folgt. 4.3 Weiterführende und vertiefende Literatur Die beiden Grundbegriffe der historischen Linguistik Synchronie und Diachronie wurden geprägt von F ERDINAND DE S AUSSU R E . Zum besseren Verständnis ist die Originallektüre (S AUSSU R E 1967) hilfreich. Auch bei E U GENI O C OSER I U (1974) können Sie vertiefend die Zusammenhänge von Synchronie, Diachronie und Geschichte im Hinblick auf das Problem des Sprachwandels nachlesen. Zur weiteren Beschäftigung mit der invisible-hand-Theorie sei Ihnen K ELLER 2003 wärmstens empfohlen. Dort finden Sie auch eine Beschreibung von L ÜDT - K E s Sprachwandelgesetz. Im Original finden Sie Erklärungen in L ÜDTK E 1980a und 1980b. Wenn Sie sich intensiver mit der synergetischen Linguistik oder der quantitativen Linguistik befassen wollen, finden Sie bei K ÖHLER / A LTMANN / P IOT ROWSKI 2005 (umfassendes Handbuch) und bei B E S T 2006 sehr gute Erklärungen. Aber Achtung: Beide Bücher sind für Studienanfänger schwer verständlich, hier empfehle ich die Lektüre erst in einem fortgeschrittenen Stadium (Master). Insbesondere eine Vertiefung der Prinzipien der quantitativen Linguistik erfordert neben fundierten linguistischen Fachkenntnissen auch Kenntnisse über statistische Methoden und — für ein vollständiges Verständnis — ein gutes Mathematikverständnis. <?page no="105"?> 105 4.3 Weiterführende und vertiefende Literatur 5 Was sind die Ursachen des Sprachwandels? In jedem Wort klingt der Ursprung nach, wo es sich herbedingt. Johann Wolfgang Goethe (1749-1832) Ziele und Warm-up Weil man in der einschlägigen Literatur auf der Suche nach Motiven, Bedingungen oder Voraussetzungen unter dem Schlagwort Ursachen des Sprachwandels fündig wird, trägt auch das vorliegende Kapitel diese Überschrift. Aber ist es überhaupt richtig, nach Ursachen zu suchen? Ist die Ursache für Sprachwandel nicht eigentlich immer dieselbe, nämlich der abweichende Sprachgebrauch? Wäre es daher nicht besser, nach den Bedingungen zu suchen, unter denen Sprecher ihr Handeln verändern? Sprachwandel geht vom Sprecher aus. Menschen handeln, wenn sie Sprache benutzen, nach bestimmten Motiven. Selten sind ihnen diese Motive selbst bekannt oder bewusst. Motiviertheit bedeutet nicht, dass Sprachwandel mit Absicht erfolgt. Dass Sprachwandel motiviert ist, heißt vielmehr, dass bestimmte Voraussetzungen oder Bedingungen gegeben sein müssen, damit Menschen ihr Sprechen verändern. Um eben solche Voraussetzungen oder Bedingungen wird es in diesem Kapitel gehen. Beantworten Sie zum Einstieg einmal die folgenden Fragen, die uns dem Kern der Ursachen des Sprachwandels näher bringen werden: ▶ Gibt es einen Unterschied zwischen einem schlechten Zahn als Ursache von Zahnschmerzen und einer technischen Erfindung als Ursache von Sprachwandel? Wenn ja, worin besteht der Unterschied? ▶ Kennen Sie Gründe dafür, warum Menschen gegen Sprachregeln verstoßen? ▶ Warum sagen wir einen Film drehen, obwohl sich in unseren Kameras nichts dreht? Wieso hat der technische Fortschritt kein neues Verb hervorgebracht? ▶ Sehen Sie einen Unterschied zwischen Ursachen und Umständen? Sehen Sie die beiden Begriffe einmal in einem Wörterbuch nach und vergleichen Sie! <?page no="106"?> 106 5 Was sind die Ursachen des Sprachwandels? 5.1 Unter welchen Bedingungen wandeln sich Sprachen? Wie wir wissen, führt Sprachhandeln über einen bestimmten Prozess und unter bestimmten Umständen zum Sprachwandel(n). Die Frage nach dem Warum des Sprachwandels ist nun die Frage nach den Ursachen für unseren abweichenden Sprachgebrauch, also für ein Sprachhandeln, das sich an neuen Handlungsmaximen orientiert. Als Sprecher sind wir weder unbeeinflusst von äußeren Faktoren durch andere Sprachgemeinschaften (etwa durch Sprachkontakt) noch sind wir immun gegen Veränderungen der Welt, in der wir leben. Im Gegenteil: Veränderungen unserer Umwelt (ob von außen oder von innen) formen die ökologischen Rahmenbedingungen neu. Das wiederum führt zu sich ändernden Handlungsmaximen; durch den im vorherigen Kapitel skizzierten Kumulationsprozess entsteht aus revidierten Handlungsmaximen sprachlicher Wandel. Der Prozess des Sprachwandels benötigt einige Zeit, bis er abgeschlossen ist. In dieser Zeit wird Sprachwandel kaum als solcher erkannt. Was wir stattdessen feststellen können, sind Abweichungen von der bis dato gültigen sprachlichen Norm. Jede Abweichung von einer bestehenden sprachlichen Norm wird zunächst als Fehler klassifiziert, was auch erklärt, warum eine Sprachgemeinschaft Innovationen und Neuerungen, die über kurz oder lang als Sprachwandel diagnostiziert und schließlich akzeptiert werden, zunächst skeptisch oder ablehnend gegenübersteht. Das gilt ganz besonders für den Bedeutungswandel und für grammatische Wandelprozesse. Bereits in Kapitel 3 konnten wir feststellen, dass die systematischen Fehler von heute die neuen Regeln von morgen sein werden. Als wesentlich für viele Fälle des Sprachwandels stellt sich die Regelbildung durch Regelverletzung dar. Nun ist es nicht so, dass wir ad hoc und aus einer Laune heraus sprachliche Regeln verletzen, um neue Regeln zu bilden. Ganz im Gegenteil: Jede Regelverletzung birgt zunächst die Gefahr, dass wir kommunikativ scheitern. Daher sind wir im Allgemeinen sensibel und vorsichtig und orientieren unseren Sprachgebrauch daran, dass bzw. ob wir in einem Gespräch verstanden werden oder nicht. Dass man uns versteht, ist so etwas wie die Hypermaxime unseres sprachlichen Handelns. Sie können nicht einfach neue Wörter erfinden oder den Satzbau beliebig umstellen. Regelverletzungen müssen zumindest in denjenigen Gesprächssituationen, in denen wir sie begehen, sozial akzeptiert sein. Ansonsten bewirken wir nicht mehr als Unverständnis und den schlechten Eindruck, dass wir unsere <?page no="107"?> 107 5.1 Unter welchen Bedingungen wandeln sich Sprachen? Sprache nicht beherrschen. Aus diesem Grund betreffen Phänomene des Sprachwandels auch nicht das gesamte Sprachsystem, sondern lediglich einzelne Elemente: Nicht die ganze Syntax einer Sprache ändert sich in 100 Jahren, sondern allenfalls bestimmte syntaktische Relationen in der Wort- oder Satzstellung. Nicht der gesamte Wortschatz einer Sprache wandelt sich, sondern es kommen einige Wörter hinzu und andere verschwinden. Nicht jedes einzelne Wort bekommt eine neue Bedeutung, sondern nur die Bedeutungen bestimmter Wörter in bestimmten Kontexten verändern sich. Halten wir also fest: Sprachwandel bringt lediglich Veränderungen von Einzelelementen des Sprachsystems bei weitgehender Konstanz des Systems insgesamt. Sprachwandel betrifft nie das gesamte System. Wenn die Absicht, verstanden zu werden, als die Hypermaxime unseres Sprechens bezeichnet werden kann, dann lässt dies den Schluss zu, dass es noch weitere (untergeordnete) Maximen gibt, nach denen wir Sprache verwenden. In der nachfolgenden Übersicht sind die wesentlichen Determinanten des Sprachwandels, also Faktoren, die unsere Handlungsmaximen und Handlungsmöglichkeiten bestimmen bzw. begrenzen, dargestellt. Wie Planeten kreisen diese Determinanten um einen Zentralkörper, der in unserem Fall der Hypermaxime des Sprachhandelns, dem Verständnis, entspricht: Abb. 14 Determinanten von Sprachhandlungen als Ursachen für den Sprachwandel <?page no="108"?> 108 5 Was sind die Ursachen des Sprachwandels? Ursachen für Sprachwandel können also entweder in den Bereichen der Kreativität, der Kognition, des Sozialen oder in der menschlichen Biologie gefunden werden. Exkurs: Ursachen oder Bedingungen? — Die terminologische Unterscheidung bei E UGENIO C OSERIU Nach E U GENIO C OSER IU sind Determinanten, wie wir sie zuvor kennengelernt haben, Umstände des Sprechens und keine aus sich selbst heraus bestimmenden Ursachen des Wandels, weil Sprachwandel immer, wie wir bereits wissen, durch Vorgänge und Bedingungen der Sprachverwendung (oder des Hervorbringens von Sprache) bestimmt ist: „Da die Sprache immer geschaffen wird und das, was man ,Wandel’ nennt, eben das Geschaffenwerden der Sprache ist […], besteht nun das allgemeine Problem der Veränderungen darin, die Vorgänge und die Bedingungen dieses Geschaffenwerdens festzustellen“ (C OSER IU 1974: 95). Daher sind die in Abbildung 13 skizzierten Determinanten lediglich passive Bedingungen des Sprechens und keine aktiven Ursachen des Sprachwandels. Sprachwandel findet seine Ursachen ausschließlich in der konkreten Sprechtätigkeit: Bedingungen des Sprechens sind allein Bedingungen des Sprechens und damit zwar Bedingungen für Veränderungen, aber es sind keine Ursachen für Sprachwandel. Erst durch Sprachhandeln werden passive Bedingungen des Sprechens (s. o. Determinanten) in aktive Prozesse des Sprachwandels überführt. → Die Ursache des Sprachwandels ist in jedem Fall das Sprechen selbst. Diese Unterscheidung von Ursachen und Bedingungen ist deshalb von Bedeutung, weil C OSER IU mit ihr korrekt darauf hinweist, dass sich die Bedingungen nie unmittelbar auf die Sprache auswirken können, sondern stets ihren Weg über den Sprachgebrauch als Ursache von Sprachveränderungen in die Sprache hinein finden. Die Umstände des Sprechens sind ebenso wie die historische Bestimmung der Sprachfreiheit und die äußere Gestaltung des Sprachwissens als Bedingungen des Sprechens — und damit zugleich als Bedingungen für abweichendes Sprechen — einzuordnen. Aufgrund dieser Bedingungen sind Sprecher überhaupt erst in der Lage, Sprache zu verwenden. Diese komplexen Zusammenhänge zwischen Bedingungen, Ursachen und Sprachwandel lassen sich leicht anhand eines Beispiels verdeutlichen: Im Deutschen sind gegenwärtig zahlreiche Entlehnungen aus anderen Sprachen verbreitet. Viele davon haben ihren Weg in unsere Sprache durch Sprachkontakt gefunden. Sprachkon- <?page no="109"?> 109 5.1 Unter welchen Bedingungen wandeln sich Sprachen? 5.1.1 Sprachwandel als soziales Phänomen Sprechen ist grundsätzlich und ausschließlich ein soziales Phänomen. Sprachwandel ist, wie wir bereits wissen, als Phänomen klar dem Kulturwandel zuzuschreiben und unterliegt den soziokulturellen Einflussfaktoren, die wir in Kapitel 3 herausgearbeitet haben. Die Sprachverwendung im sozialen Kontext, also das Sprechen mit anderen Menschen in unserer eigenen Gesellschaft und auch mit Menschen aus anderen Kulturkreisen, ist eine der wesentlichen Voraussetzungen für Sprachwandel. Ausgehend von der Hypermaxime der wechselseitigen Verständigung, die jegliches Sprechen bestimmt, verfolgen wir als Sprecher im Austausch mit anderen bestimmte kommunikative Ziele. Das wohl entscheidendste Ziel ist dabei nicht der Austausch von Sachinformationen, sondern die gegenseitige Beeinflussung. Das kennen Sie auch: Die Situationen, in denen wir ausschließlich Sachinformationen austauschen, können wir vernachlässigen zugunsten der weitaus häufigeren Gespräche, die einem sozialen Zweck dienen. Entweder sprechen wir miteinander, um unsere sozialen Beziehungen zu pflegen, damit Freundschaften nicht einrosten beispielsweise. Oder wir reden mit anderen, weil wir uns in einem sozialen Gefüge befinden und Sprechen in diesem Fall zu unseren sozialen Verpflichtungen zählt (z. B. auf dem Campus mit Kommilitonen). Gleichgültig, warum wir mit anderen Menschen reden: Unser Sprechen passen wir stets an soziale Konventionen an, weil wir z. B. in einer bestimmten Situation überzeugen, imponieren oder schlicht einer sozialen Gruppe angehören möchten. Man könnte noch weiter gehen und sagen: Sprechen ohne ein soziales Gefüge ist-- bis auf Selbstgespräche-- gar nicht möglich. Daher ist es auch plausibel, anzunehmen, dass der „Kontakt zwischen einzelnen Sprechern, zwischen verschiedenen Gruppen mit unterschiedlichen Sprachen oder unterschiedlichen Varietäten-[…] takt ist dabei die Bedingung des Sprechens durch die Gestaltung des sprachlichen Wissens. Oder anders: Dadurch, dass wir Sprachkontakt haben, können Wörter aus anderen Sprachen überhaupt erst in unser Sprachwissen gelangen. Dieses Sprachwissen wiederum ist die Bedingung dafür, dass wir Fremdwörter verwenden können. Das häufige Verwenden eines Fremdwortes ist nun die Ursache für Sprachwandel. Verwenden wir das Wort nicht, kommt es — trotz des Sprachkontaktes — nicht zum Sprachwandel. Sprachkontakt ist damit keine Ursache für Sprachwandel, wohl aber eine Bedingung. Bedingung und Ursache sind also beim Sprachwandel zwei Paar Schuhe. <?page no="110"?> 110 5 Was sind die Ursachen des Sprachwandels? immer die Möglichkeit zum Sprachwandel durch Übernahme von sprachlichen Einheiten aus einem System in das andere [enthält]“ (Wegera / Waldenberger 2012: 27). Was Wegera und Waldenberger hier so technisch ausdrücken, bedeutet schlicht und einfach: Miteinander reden verändert Sprache. Sozial determinierter Sprachwandel entsteht also durch sprachliche Interaktion, wobei die Interaktion sowohl die Ursache als auch die Bedingung für den Verbreitungsprozess darstellt. Denn: Ohne Interaktion keine Übernahme und ohne Interaktion auch keine Verbreitung der Übernahme. Soziale Interaktion im Sinne von Sprechen ist also für den Sprachwandel von doppelter Bedeutung: Einmal als Anstoß für Sprachwandel (bezogen auf sozial bestimmte Handlungsmaximen wie beispielsweise eine provokante Ausdrucksweise) und zugleich als Motor des Sprachwandels (bezogen auf den Verbreitungsprozess). Wie wir miteinander reden, können wir im Alltag bestimmen, indem wir unsere Sprache an die Situation und an unseren Gesprächspartner anpassen. So werden Sie sicherlich mit Ihren Freunden anders sprechen als mit Ihren Professoren. Diese Möglichkeit des Sprachwechsels nennt man Code-Switching. Diesem Begriff liegt die Vorstellung zugrunde, dass wir in sprachlichen Codes kommunizieren, also mehr als nur eine Sprache verwenden, auch wenn wir lediglich Deutsch und keine weitere Fremdsprache sprechen. Diese Codes sind angelegt in unserem Sprachwissen als sprachliche Wissensbestände. Wenn wir sozial interagieren, greifen wir auf solche Wissensbestände zurück- - und wir erweitern unsere Wissensbestände durch Sprachkontakte. Auf diese Weise entwickeln sich Gruppensprachen, wie beispielsweise die Jugendsprache, in denen bestimmte sprachliche Elemente von der Alltagssprache abweichen. Wenn sich nun die Sprachen solcher Subsysteme (Varietäten) mit der Gemeinsprache vermischen, verändert sich die Gemeinsprache und es kommt zum Sprachwandel. Solche Übernahmen aus Fach- oder Gruppensprachen in die Gemeinsprache stellen eine Form des sozial determinierten Sprachwandels dar. Ein abweichender oder innovativer Sprachgebrauch ist immer Mittel zum Zweck. Anglizismen im Deutschen beispielsweise sind nicht etwa deswegen so verbreitet, weil es für das zu Bezeichnende einzig und allein einen englischsprachigen Begriff gäbe. Anglizismen findet man deshalb so häufig in der deutschen Sprache, weil die Sprecher durch die Benutzung englischer Wörter an dem Image <?page no="111"?> 111 5.1 Unter welchen Bedingungen wandeln sich Sprachen? dieser Sprache teilhaben wollen: Wer gerne cool sein möchte, kann nicht sagen, er wäre kalt. Solche Phänomene sind sozial bestimmt, denn sie entstammen unserem Wunsch, sprachlich modern und angepasst zu sein. Insofern können wir festhalten: Sowohl (soziale) Abgrenzung als auch Anpassung durch Sprache sind wichtige Triebfedern des Sprachwandels. Zahlreiche Begriffe im Deutschen sind ehemalige Entlehnungen aus einer anderen Sprache, die durch Sprachkontakt in unsere Sprache gelangt sind. Beispiele dafür sind Wörter wie Balkon, Portemonnaie (beide aus dem Französischen) oder Schal (von englisch shawl). Solche Erweiterungen des Lexikons lassen sich ebenfalls durch soziale Faktoren bestimmen, wobei hier-- anders als man denken könnte- - nicht der unmittelbare Sprachkontakt mit Sprechern einer anderen Sprache die Ursache ist. Im Gegenteil: Als im 19. Jahrhundert die Mode aufkam, Wörter aus dem Französischen oder dem Englischen zu verwenden, gab es unter denjenigen, die das taten, nur wenige, die jemals in Frankreich oder England gewesen waren oder die gar mit einem Franzosen oder Engländer gesprochen hätten. Es galt einfach als schick (auch ein Wort aus dem Französischen), solche Lehnwörter zu benutzen. Interessant ist: Diejenigen, die heute den Sprachverfall aufgrund der zahlreichen Anglizismen im Deutschen beklagen, wissen oft gar nicht mehr, dass Wörter wie Keks oder Tank ehemalige Anglizismen sind. Neben Prestige- oder Imagegründen, die zur Übernahme sprachlicher Neuerungen führen können, spielt der Sprachkontakt durch Migration und Kolonisierung beim sozial determinierten Sprachwandel eine entscheidende Rolle. Sprachsystemveränderungen durch die Vermischung von Sprachen lassen sich grundsätzlich auf allen Ebenen der Sprache feststellen, wie Munske bemerkt: „Durch Entlehnungen werden nicht nur neue Lexeme und neue Bedeutungen- […] aufgenommen, sondern mit diesen gelangen zugleich neue Laute und Lautverbindungen, neue Grapheme-[…] und z. T. auch neue Flexions- und Wortbildungsmorpheme [in eine Sprache]“ (Munske 1988: 49). Es gibt soziale Gefüge, in denen die Sprecher keine gemeinsame Sprache haben, sondern in denen Menschen mit unterschiedlichen Muttersprachen miteinander kommunizieren müssen. Solche Gefüge entstanden und entstehen durch Kolonialisierungen oder durch Handelsbeziehungen. Wenn Menschen aufeinander treffen, deren Sprachen sich nicht ähnlich sind und diese Menschen dann gezwungen sind, miteinander zu sprechen, entsteht eine Verkehrssprache (lingua <?page no="112"?> 112 5 Was sind die Ursachen des Sprachwandels? franca) als reduzierte Sprachform: Solche Pidginsprachen sind lexikalisch und grammatisch vereinfachte Mischsprachen. Lexik und Grammatik unterliegen stark dem Einfluss der in Kontakt stehenden Sprachen. Ein Großteil des sehr reduzierten lexikalischen Inventars ist dabei der dominierenden Sprache entlehnt: Die Muttersprache fungiert als Basissprache. Pidginsprachen haben in der Regel einen sehr eingeschränkten Funktionsbereich. Sie dienen lediglich der Verständigung im funktionalen Kontext (Arbeit, Handel) und erfüllen aufgrund ihrer Einfachheit nicht die Anforderungen, die an eine komplexe Sprache gestellt werden. Wörter der Kolonialsprache werden mit der Grammatik der Muttersprache verknüpft; bisweilen werden die Wörter auch ohne jegliche Grammatik zu Sätzen zusammengefügt. Da Pidginsprachen keine Muttersprachen sind, zählen sie auch nicht zu den natürlichen Sprachen. Als Verkehrssprachen werden sie zudem nur mündlich verwendet. In manchen Fällen kann es aber dazu kommen, dass sich Pidginsprachen zu grammatisch voll ausgebildeten Kreolsprachen entwickeln, wenn sie lange genug stabil existieren. Auch wenn die Pidginsprache der ersten Generation nur als Zweitsprache dient, kann es sein, dass das ursprüngliche Pidgin in der zweiten Generation zu einer regulär funktionierenden Muttersprache wird (Prozess der Kreolisierung). Kreolsprachen sind dabei im Kern immer Mischsprachen. Sprachhistorisch sind auch die heutigen komplexen Einzelsprachen in Europa nichts anderes als ehemalige Mischsprachen. Das Englische beispielsweise ist eine Mischsprache aus Angelsächsisch und normannischem Französisch. Das Französische wiederum ist in gewisser Hinsicht eine Mischsprache aus Volkslatein, Gallisch und Fränkisch. Mischsprachen sind also keine Seltenheit. Durch Verbreitungsprozesse über das Wirken der unsichtbaren Hand kommt es immer wieder dazu, dass Pidginsprachen als reduzierte Zweit- und Mischsprachen (z. B. von Migranten) Einfluss auf die Gemeinsprache haben. Das sogenannte Pidgindeutsch etwa kennzeichnet die Zweitsprache erwachsener Migranten in Deutschland. Als Sprachvarietät zeichnet sich das Pidgindeutsch u. a. durch das Fehlen von Flexionsendungen und Artikeln aus. Redewendungen wie Lass ma Kino gehen, die man bei deutschsprachigen Jugendlichen hören kann, zeigen, dass sich die Jugendsprache bei solchen ursprünglichen Zweitsprachen bedient, was zu einer Veränderung des grammatischen Systems der Jugendsprache führt (gruppenspezifischer Sprachwandel). Das Motiv für eine solche Entwicklung, wie man sie beim sogenannten Kiezdeutsch beobachten kann, ist sozial bestimmt: Angehörige einer sozialen Gruppe (hier: Jugendliche) wollen sich abgrenzen und greifen daher in ihrem sprachlichen Register auf lexikalische <?page no="113"?> 113 5.1 Unter welchen Bedingungen wandeln sich Sprachen? oder grammatische Strukturen zurück, die durch Sprachkontakt entstanden sind. Zu einer Veränderung der Gemeinsprache führen solche sozial determinierten Sprachabweichungen allerdings (i. d. R.) nicht: Als temporäre Soziolekte handelt es sich um vorübergehende Erscheinungen. Ebenfalls an soziale Umstände gekoppelt sind Sprachveränderungen, die aufgrund eines gesellschaftlichen oder kulturellen Wandels zustande kommen. Da wir das enge Verhältnis von Kultur- und Sprachwandel in Kapitel 3.1 bereits ausführlich beleuchtet haben, möchte ich mich hier auf das Wesentliche beschränken, das lautet: Sprachwandel ist (in manchen Fällen) ein Spiegel des Kulturwandels. Besonders einschneidende kulturelle, politische und soziale Veränderungen haben häufig (aber nicht immer) Einfluss auf die Sprache. Technische Neuerungen führen beispielsweise oft dazu, dass es einen Benennungsbedarf gibt, der über Wortneuschöpfungen (Neologismen) oder über Entlehnungen (meist aus dem Englischen) gedeckt wird. Allerdings ist das nicht immer der Fall, so dass man vorsichtig sein muss, technische Neuerungen als den Motor für Sprachwandel zu identifizieren. Viele Menschen nehmen an: Verändert sich etwas in der Welt, verändert sich auch die Sprache. Aber so einfach ist das nicht. So hat sich beispielsweise die Technik der Film- und Fotoproduktion in den letzten Jahrzehnten enorm entwickelt und dennoch sprechen wir im Deutschen noch immer davon, dass ein Film geschnitten und gedreht oder dass ein Foto geschossen wird. Kulturwandel kann also Sprachwandel befördern, er muss es aber nicht. Oder anders: Kulturwandel ist keine notwendige und auch keine hinreichende Bedingung für Sprachwandel. Es gibt auch sozial bestimmte Phänomene des Sprachwandels, bei denen man davon ausgehen muss, dass es sich nicht um den Spiegel des Kulturwandels, sondern vielmehr um einen Zerrspiegel des Kulturwandels handelt. Die Abwertung (Pejorisierung) der Frauenbegriffe im Deutschen ist dafür exemplarisch (vgl. Keller 1995b): Da Männer (normalerweise) Frauen gegenüber höflich sind und das gewiss auch schon im Mittelalter waren, griffen sie in der direkten Anrede oder auch dann, wenn sie über eine Frau in deren Abwesenheit sprachen, in ihrer Wortwahl ‚eine Etage höher‘ und <?page no="114"?> 114 5 Was sind die Ursachen des Sprachwandels? verwendeten statt des gewöhnlichen Wortes wīp das höherwertige vrouwe. Insofern war dieses Wort intentional geleitet. Je häufiger sie aber getroffen wurde, umso gewöhnlicher und konventioneller wurde sie. Schon im Laufe des 13. Jh.s war der Höflichkeitseffekt aufgebraucht, und vrouwe / frau war zur normalen Bezeichnung geworden. Zwangsläufig wurde das alte Wort dadurch ‚nach unten abgedrängt‘. (Schmid 2009: 75) Dasselbe lässt sich auch für andere Sprachen nachweisen: Das Anredepronomen des heutigen brasilianischen Portugiesischen ist você . Um die Wende zur Neuzeit ist es durch das Prinzip der lexikalischen Verschmelzung (s. Lüdtkes Sprachwandelgesetz in 4.2.1) aus vossa mercê (euer Gnaden) entstanden. Es dient gegenwärtig der vertrauten Anrede. Dieser Wandel ist nicht das Resultat der Absicht, eine höfliche Anredeform herabzustufen. Im Gegenteil: Aus dem Bestreben, den Gesprächspartner stets so höflich wie möglich anzureden, verwendete man die (zu hoch gegriffene) Form vossa mercê . Resultat ist allerdings eine Pejorisierung der Anredeform im Portugiesischen. An anderer Stelle hatten wir bereits festgestellt, dass Sprecher einer jeden Sprache eher faul sind. Um sich zielführend zu verständigen, ist ein Zuviel an Sprache eher hinderlich. Natürlich gibt es Menschen, die ständig und ohne Punkt und Komma plappern. Dennoch entspricht es den allgemeinen Konversationsmaximen (nach Grice), dass man weder zu viel noch zu wenig an Information vermitteln sollte, wenn man kooperativ kommunizieren will. Sprachliche Ökonomie ist somit sowohl ein universelles sprachliches Phänomen als auch ein wesentlicher Faktor für den Sprachwandel. Da es sich um ein Streben nach Kürze und Prägnanz handelt, das auch den sozial bestimmten Konversationsmaximen folgt (Weitschweifigkeit im Ausdruck wird i. d. R. sanktioniert durch den Entzug von Aufmerksamkeit), könnte man diesen Aspekt den sozialen Bedingungen zurechnen. Möglicherweise wäre aber auch eine Einordnung als biologischphysiologische Determinante denkbar. Das Prinzip des geringsten Aufwandes ist für zahlreiche Wandelprozesse verantwortlich. Das Streben nach Ökonomie hat z. B. dazu geführt, dass wir heute das Dativ-e größtenteils einsparen. Die Monophthongierung der mittelhochdeutschen Diphthonge / ie/ , / uo/ , / ye/ zu / i: / , / u: / und / y: / dürfte ebenfalls als ein Ergebnis des sprachlichen Ökonomiestrebens gewertet werden (wie in mhd. fluot, güete zu nhd. Flut, Güte). <?page no="115"?> 115 5.1 Unter welchen Bedingungen wandeln sich Sprachen? Exkurs: Die G RICE schen Konversationsmaximen als sozial bestimmende Maximen für Sprachhandlungen Wenn wir miteinander sprechen, können wir unserem Gegenüber und uns selbst unterstellen, dass wir miteinander kommunizieren wollen. Wir befolgen im Allgemeinen das sogenannte Kooperationsprinzip. Der Linguist H ERBERT P AUL G R I CE leitet aus dem Kooperationsprinzip mehrere Leitsätze ab und nennt sie Konversationsmaximen. Nach diesen sollte man als Sprecher seinen Gesprächsbeitrag grundsätzlich bilden (vgl. G R I CE 1975: 249 ff. und G R I CE 1967: 26 ff.): Maxime der Quantität: ▶ Mache deinen Beitrag (für den Gesprächszweck) so informativ wie nötig! ▶ Mache deinen Beitrag nicht informativer als nötig! Maxime der Qualität: ▶ Versuche, deinen Beitrag so zu machen, dass er wahr ist! ▶ Sage nichts, das du für falsch hältst! ▶ Sage nichts, wofür dir angemessene Gründe fehlen (was du nicht weißt)! Maxime der Relation: ▶ Sei relevant (= rede nicht um den heißen Brei herum)! Maxime der Modalität: ▶ Sei klar und deutlich! ▶ Vermeide Unverständlichkeit! ▶ Vermeide Mehrdeutigkeiten! ▶ Sei kurz (= vermeide unnötige Weitschweifigkeit)! ▶ Der Reihe nach (= strukturiere deinen Gesprächsbeitrag)! Sprachliches Handeln wird durch diese Maximen als rationales Handeln erklärt. Insofern ist jede Verletzung einer oder mehrerer dieser Maximen ein rationales Vorgehen und wird damit absichtsvoll vollzogen. So ist es möglich, aus dem Gesagten das Gemeinte zu extrahieren, wenn man einen Verstoß feststellt (pragmatisches Schlussverfahren). Für Sprachwandel ist insbesondere die Maxime der Modalität von Bedeutung: In ihr ist das Streben nach sprachlicher Ökonomie als soziale Grundbedingung begründet. <?page no="116"?> 116 5 Was sind die Ursachen des Sprachwandels? Eine Übersicht über sozial bestimmten Sprachwandel, der an gesellschaftlichen oder kulturellen Wandel gebunden ist, finden Sie hier: Soziale Bedingungen des Sprachwandels Soziale Kommunikationsbedürfnisse (z. B. Imponieren, Status / Imagepflege, Gruppenidentifikation / Zugehörigkeit, Beeinflussung, Höflichkeit, Bemühen um Distinktheit, Ökonomie) Sprachkontakt (z. B. Sprachvarietäten durch Vermischung, Pidgin- und Kreolsprachen) Technischer Fortschritt und Innovationen (z. B. neuer Bezeichnungsbedarf, Bezeichnungsübernahmen, Verschwinden von Tätigkeiten und Gegenständen) Politische Veränderungen (z. B. Ideologiesprachen, Fahnen- und Stigmawörter, Besetzen von Begriffen in Wahlkämpfen, kontroverse Begriffe) Religionsgeschichtliche Ereignisse (z. B. Christianisierung, Reformation, Glaubenskriege, Terrorismus) Gesellschaftliche Umbrüche (z. B. Flüchtlingskrise, Finanzkrise, Europäisierung, Urbanisierung etc.) Tabelle 6 Soziale Bedingungen des Sprachwandels Herbert Paul Grice (1913—1988) war ein englischer Philosoph und Linguist, der besondere Würdigung wegen seiner bahnbrechenden sprachphilosophischen Arbeiten erfahren hat. Zusammen mit A US TIN , R YLE und S T R AWSON zählt G R I CE zu den bedeutendsten Vertretern der sogenannten Ordinary Language Philosophy. Diese sprachphilosophische Schule geht davon aus, dass man durch eine genaue Analyse des Gebrauchs der normalen Alltagssprache Erkenntnisse über die tatsächliche Sprechaktivität erlangen kann. Dass man mit Sprache handeln kann, ist eine Erkenntnis, die auf diesen Überlegungen fußt. G R I CE gilt als einer der Begründer der linguistischen Pragmatik. <?page no="117"?> 117 5.1 Unter welchen Bedingungen wandeln sich Sprachen? 5.1.2 Sprachwandel als kognitives Phänomen Wenn wir mit anderen sprechen, dann bilden wir unsere Sprache nach kognitiven Mustern. Sprechen ist-- grob gesagt-- der physische Akt der lautlichen Hervorbringung unserer kognitiven Wissensbestände nach angeborenen und erlernten Sprachbildungsmustern. In unserem Gehirn ist das Sprachsystem gespeichert und dort werden auch Neuerungen gebildet und verarbeitet. Das gespeicherte Sprachwissen ist zum größten Teil unbewusstes Wissen. Der Zugriff auf unser Sprachwissen erfolgt in aller Regel intuitiv, bisweilen aber auch reflektiert. Wenn Sie beispielsweise einen Text schreiben und nach einem Synonym für ein Wort suchen, dann findet reflektierte Sprachbetrachtung statt. Sprachbetrachtung ist im Prinzip der Abgleich einer vorgefundenen oder selbst erzeugten sprachlichen Struktur mit den eigenen sprachlichen Wissensbeständen (unter Rückgriff auf Regelwissen). Sprachwandel basiert in vielen Fällen auf (bewussten oder unbewussten) Regelverletzungen. Zur Wiederholung: Die systematischen und hochfrequenten Fehler von heute sind mit aller Wahrscheinlichkeit die neuen Regeln von morgen. Beim Sprachwandel kommt es also zu einer Regelumbildung und damit zu einer Veränderung der kognitiven Wissensstrukturen. In diesem Zusammenhang hervorzuheben ist die Regelverletzung durch Analogiebildungen (griech. analogia „Gleichartigkeit“), die sich insbesondere in der Grammatik niederschlägt: „Bei der Regelübertragung wird ein gegebenes sprachliches Muster auf formal oder semantisch ähnliche Einheiten übertragen“ (Wegera / Waldenberger 2012: 32). So verwenden zahlreiche Sprecher im Deutschen die grammatische Konstruktion im Herbst diesen Jahres. Damit begehen sie einen sprachlichen Fehler, denn sie verwenden das Demonstrativpronomen dieses wie das Adjektiv letztes in Analogie zu im Herbst letzten Jahres. Die korrekte grammatische Konstruktion heißt im Herbst dieses Jahres, so wie es ja auch im Kofferraum dieses Autos und nicht im Kofferraum diesen Autos heißt. Dass solche Sprachwandelphänomene aufgrund von Analogiebildungen nicht selten sind, soll ein weiteres Beispiel verdeutlichen: Insbesondere in literarischen Texten liest man gerne, jemand habe des Nachts dieses oder jenes getan. Wenn man in den Duden schaut, dann ist diese Bildung korrekt. Streng genommen handelt es sich allerdings um einen konventionalisierten sprachlichen Fehler. Erkennen Sie die Analogiebildung, die dahinter steckt? Oder erkennen Sie den ursprünglichen Fehler schon gar nicht mehr? Nun, falls Sie des Nachts für grammatisch korrekt halten, warum sagen Sie dann nicht auch der Euter des Kuhs? In beiden Fällen <?page no="118"?> 118 5 Was sind die Ursachen des Sprachwandels? wird der feminine Genitiv analog zu semantisch ähnlichen Ausdrücken maskulin gebildet. Die Analogie beruht hier auf den grammatisch korrekt gebildeten und als in ihrer Bedeutung ähnlich oder verwandt wahrgenommenen Ausdrücken des Morgens, des Mittags oder des Abends (alle maskulin). Für beide gerade genannten Beispiele 15 gilt ebenso wie für den sprachgeschichtlich signifikanten Schwund der starken Verben durch regelmäßige Flexion im Deutschen: Ähnlichkeit in der Form oder in der Bedeutung führt häufig zu Gleichheit in der Grammatik (grammatischer Wandel durch systematische Analogie). Eine besondere Form der kognitiv determinierten sprachlichen Regelverletzung, die der Analogie ähnlich ist, bezeichnet man als Kontamination. Möglicherweise kennen Sie solche Phänomene auch, die man umgangssprachlich auch als Versprecher bezeichnen würde. Es handelt sich dabei um die Überlagerung zweier semantisch ähnlicher Wörter, wodurch aus zwei Wörtern eines wird. Wenn jemand beispielsweise sagt Dieses Hemd steht dir aber goll (aus gut und toll), dann entsteht eine solche Wortkreuzung. In den allermeisten Fällen handelt es sich um kognitive Verstöße, die nicht zum Sprachwandel führen, jedoch können Kontaminationen auch systematisch auftreten, allerdings geschieht das eher selten, da solche individuellen Verstöße kaum zu einem Kumulationsprozess führen (vgl. Hock / Joseph 1996: 165 f.). Absichtsvolle Wortkreuzungen (durch den Prozess des sogenannten blendings) sind hingegen nicht ungewöhnlich und sie sind ebenfalls kognitiv determiniert. Zusammenziehungen wie Motel (aus Motor und Hotel) oder Kurlaub (aus Kur und Urlaub) bereichern das Lexikon einer Sprache, so dass blending ein wichtiger Wortbildungsprozess ist. Bei vielen Begriffen wissen wir heute nicht mehr, was sie ursprünglich bedeutet haben. Zahlreiche Wörter sind undurchsichtig; das ist insbesondere bei zusammengesetzten Wörtern der Fall. In solchen Fällen tendieren Sprecher dazu, durch Reanalysen Transparenz herzustellen. Das deutsche Wort Adler ist ein gutes Beispiel für eine lexikalische Reanalyse. Die beiden ursprünglich getrennten Einheiten adel und aar (der edle Aar) wurden zu einem Wort zusammengezogen, weil die mittelhochdeutschen Bedeutungen der Einzelelemente verblasst sind. Noch häufiger sind Volksetymologien, die man- - ihres Wesens wegen- - auch als Fehletymologien bezeichnen kann. Dabei handelt es sich um Reanalysen von intransparenten Wörtern durch Anlehnungen an klangähnliche Begriffe. Eine 15 Die Beispiele stammen von Rudi Keller. <?page no="119"?> 119 5.1 Unter welchen Bedingungen wandeln sich Sprachen? Armbrust etwa hat weder etwas mit einem Arm noch mit der Brust des Schützen zu tun. Der Begriff leitet sich ab von lat. arcuballista „Bogenschleuder“. Eine sehr interessante Entwicklung können wir für das Wort Hängematte feststellen, das wir im Deutschen aus dem Niederländischen (hangmat) übernommen haben. Sowohl das niederländische als auch das deutsche Sprachsystem haben eine Umdeutung für den indianischen Ursprungsbegriff hamáka vorgenommen. Auffällig ist diese Umdeutung deshalb, weil dieser Prozess in anderen europäischen Sprachen nicht stattgefunden hat. So nennt man eine Hängematte im Englischen hammock, im Polnischen hamak, im Französischen hamac und die Spanier bezeichnen diesen Gegenstand als hamaca. Vor allem für den Bedeutungswandel sind als kognitive Prozesse Metapher und Metonymie als assoziative Verfahren der Bedeutungsübertragung und der Sinnverschiebung von entscheidender Wichtigkeit, da es sich im Resultat um lexikalische Umbzw. Neudeutungen handelt. Bedeutungswandel als Spezialfall des Sprachwandels wird uns im zweiten Teil dieser Einführung intensiv beschäftigen, so dass an dieser Stelle auf Zukünftiges verwiesen werden darf. Die folgende Auflistung gibt Ihnen eine Zusammenfassung der kognitiven Bedingungen des Sprachwandels: Kognitive Bedingungen des Sprachwandels Veränderungen der kognitiven Wissensstrukturen durch: ▶ Regelübertragungen und Regelerweiterungen ▷ Analogiebildung ▷ Kontamination ▷ blending ▶ Reanalyse (Umdeutung / Neudeutung) ▷ Volksetymologien ▶ Assoziative Verfahren (Metapher, Metonymie) Tabelle 7 Kognitive Bedingungen des Sprachwandels 5.1.3 Sprachwandel als biologisch-physiologisches Phänomen Aus biologisch-physiologischer Perspektive betrachtet ist zum einen die Beschaffenheit des menschlichen Sprechapparates ein Faktor für den Sprachwandel. Die Physiologie unseres Sprechapparates ist eine wesentliche Bedingung für unsere Fähigkeit zur Hervorbringung von Lauten und zugleich eine Determinante, die evolutionären Prozessen unterliegt. Als Tiere höherer Ordnung sind wir heute anders beschaffen als vor 200 000 Jahren. Solche Prozesse sollen für unsere Be- <?page no="120"?> 120 5 Was sind die Ursachen des Sprachwandels? trachtung aber keine Rolle spielen, weil sie nur sehr langfristig zu insbesondere lautlichen Veränderungen führen. Zum anderen ist im Zusammenhang mit biologisch-physiologischen Bedingungen für Sprachwandel das Ökonomieprinzip zu nennen, das wir mit einem anderen Fokus weiter oben im Kontext der sozialen Bedingungen besprochen haben. Ökonomie ist nicht nur eine Handlungsmaxime, nach der wir beim Sprechen den artikulatorischen Aufwand so niedrig wie möglich halten, sondern sie hängt auch mit unserer biologisch-physiologischen Ausstattung zusammen: „Die Sprecher sind bestrebt, die Laute beizubehalten, zu deren Artikulation relativ wenig Anstrengung erforderlich ist, und die Laute als erste zu verändern oder ganz wegfallen zu lassen, deren Hervorbringung besonders viel Energie erfordert“ (Boretzky 1977: 119). Aus diesem Grund fällt es uns als Europäern relativ leicht, Italienisch zu lernen. Wir hätten sicher größere Mühen, eine afrikanische Sprache zu lernen, die sich phonetisch stark von unserer eigenen unterscheidet. Durch soziale Einflüsse wie Sprachkontakt findet aber auch eine Anpassung unseres eigenen artikulatorischen Systems statt. So sind wir beispielsweise durchaus in der Lage, das englische- -th-, das wir in unserem Lautsystem so nicht kennen, ohne große Mühe auszusprechen, weil bzw. wenn wir ausreichend häufig mit der Aussprachekonvention konfrontiert waren. Insofern ist Sprachwandel als Lautwandel zum einen biologisch begrenzt und zum anderen in gewisser Weise durch soziale Anpassungsprozesse bis zu einem bestimmten Punkt möglich. Ein Phänomen, das mit der nicht zu verändernden Beschaffenheit unserer Artikulationsorgane und mit deren Funktionsprinzip zu tun hat, ist die Assimilation (vgl. Wegera / Waldenberger 2012: 40): „Befinden sich Sprechwerkzeuge einmal in Aktion, so sind sie bestrebt, beim Übergang von der Artikulation eines Lautes zum nächsten-[…] sich möglichst wenig von der einmal eingenommenen Position zu entfernen“ (Boretzky 1977: 120). Das können Sie selbst einmal ausprobieren: Sprechen Sie das Wort eimbar einmal laut und deutlich aus! Haben Sie gemerkt, dass sich- -m- und- -b- direkt hintereinander gesetzt schwer aussprechen lassen? Nun, das ist der Grund, warum wir heute Eimer sagen und nicht mehr-- wie im Althochdeutschen-- eimbar. Dasselbe gilt für das deutsche Wort Zimmer, das zugunsten artikulatorischer Energieersparnis aus dem mittelhochdeutschen Wort zimber hervorgegangen ist. Energieersparnis hat aber auch natürliche Grenzen: Ein Wort muss, um erstens artikulierbar zu bleiben und um zweitens semantischen Gehalt transportieren zu können, eine gewisse Länge haben (vgl. Lüdtkes Modell der zyklischen Drift in 4.2.1). <?page no="121"?> 121 5.1 Unter welchen Bedingungen wandeln sich Sprachen? Halten wir fest: Insbesondere „[d]ie Artikulation von Lauten ist bestimmt (und begrenzt) durch die physiologische Ausstattung des menschlichen Sprechapparates“ (W EGER A / W ALDENBERGER 2012: 40). Diese Begrenztheit wirkt in bestimmten Fällen sprachverändernd. 5.1.4 Sprachwandel als Phänomen menschlicher Kreativität Ein Sprachsystem bewusst und willentlich zu verändern ist kaum möglich. Zumindest nicht, wenn man dieses Vorhaben allein umsetzen möchte. Sie benötigen eine große Plattform, auf der Sie die Ergebnisse Ihrer kreativen Bemühungen präsentieren können. Und Sie müssen Gleichgesinnte finden, die Ihre Sprechweise nicht nur aufnehmen, sondern auch verbreiten. Das setzt zum einen die Akzeptanz Ihrer innovativen Sprachverwendung und zum anderen die Bereitschaft und den Bedarf für eine Übernahme und Verbreitung der Neuerung voraus. Wenn Ihnen das alles gelingt, dann können Sie Sprache wandeln. Zur Etablierung sprachlicher Neuerungen können sprachpflegerische Bemühungen ebenso wie kreative Sprachverwendungen in Literatur, Poesie oder in der Werbung führen. Wesentlicher Motor für die Verbreitung und Übernahme solcher Produkte menschlicher Kreativität sind die zahlreichen Medienkanäle, durch die sprachliche Neuerungen ihren Weg zu den Sprechern finden. Zudem gibt es sprachnormierende Instanzen, die sprachliche Normen (zumeist willkürlich) festlegen und so Veränderungen im Sprachsystem herbeiführen. Ein Beispiel dafür sind die Orthografiereformen in Deutschland, die ebenso zu orthografischem Wandel beitragen wie zur Konventionalisierung von grammatischen und lexikalischen Regelabweichungen. Solche Bemühungen lassen sich unter dem Schlagwort Spracharbeit subsumieren. Der Begriff Spracharbeit geht zurück auf Georg Philipp Harsdörffer, der schon im 17. Jahrhundert für zahlreiche Fremdwörter Eindeutschungen vorgenommen hat, von denen etliche Eingang in die deutsche Sprache gefunden haben (z. B. Zweikampf für Duell oder beobachten für observieren). Unter Spracharbeit fallen jene Phänomene, die Resultate sprachplanerischen Handelns sind. Es sind insofern Vorgänge der Sprachreflexion, „und zwar in all ihren Facetten, von politisch-ideologischer Einflussnahme über wissenschaftliche Beschäftigung und Begleitung, vom spielerisch-kreativem [sic! ] Umgang bis hin zum kreativen Verstoß gegen Normen / Usus“ (Wegera / Waldenberger 2012: 42). Wesentliche soziokulturelle Bedingungen für das Gelingen von Spracharbeit sind aus sprachhistorischer Sicht: <?page no="122"?> 122 5 Was sind die Ursachen des Sprachwandels? ▶ Erfindung und Expansion des Buchdrucks ▶ Popularität und Reputation des Autors ▶ fehlende nationale Einheit ▶ Mangel an brauchbaren Alternativen ▶ Akzeptanz der Neuerung Als Universalie menschlicher Sprachhandlungsaktivität ist die Maxime der Kreativität eines der wesentlichsten Motive für Sprachwandel überhaupt. Dabei gehen das Streben nach Kreativität und Aspekte sozialen Handelns miteinander einher: Spracharbeit als aktive und bewusste Einflussnahme auf die Sprache ist immer auch an den sozialen Kontext mit den jeweiligen sozialen Bedingungen und an Möglichkeiten der kreativen Sprachveränderung gebunden. Um Sprache durch planerisches Handeln verändern zu können, bedarf es einer gewissen Reichweite der Neuerungen. Daher ist es auch nicht erstaunlich, dass die frühesten, für das Deutsche bekannten Regulierungen aus einer Zeit stammen, in der durch die Erfindung des Buchdrucks eine breite Rezeption von Texten möglich wurde. Für heutige sprachplanerische Arbeiten bieten die modernen Massenmedien eine taugliche Plattform zur Verbreitung: Einerseits können sich Neuerungen schneller ausbreiten, andererseits fallen viele Neuerungen gerade dieser Geschwindigkeit der Medien zum Opfer-- häufig sind sie so rasch überholt, wie sie entstanden waren. Medien und Technologien können den Sprachwandel zwar befeuern, es entspricht aber ihrem Wesen, dass das, was heute neu ist, morgen schon veraltet ist. Insofern ist es gegenwärtig schwieriger, sprachplanerische Bemühungen im Sprachbewusstsein der Menschen zu verankern, als es zu früheren Zeiten der Fall war. Wenn dies heute überhaupt gelingt, dann oft nur vorübergehend, was man im Deutschen beispielsweise an den jeweiligen Wörtern des Jahres erkennen kann, die eine sehr geringe Halbwertszeit besitzen. 16 Oder können Sie sich noch daran erinnern, dass die Wörter schottern, Femitainment oder Cyberkrieg im Jahr 2010 durch die Gesellschaft für deutsche Sprache e. V. (GfdS) zu den Wörtern des Jahres gekürt 16 Bei den Wörtern des Jahres handelt es sich um „Wörter und Wendungen, die das politische, wirtschaftliche und gesellschaftliche Leben eines Jahres sprachlich in besonderer Weise bestimmt haben“ (Website der GfdS). Die meisten dieser Wörter sind Resultate kreativer Spracharbeit, also bewusster Einflussnahme auf das Sprachsystem durch die Erfindung und Verbreitung von Wortneuerungen. <?page no="123"?> 123 5.1 Unter welchen Bedingungen wandeln sich Sprachen? worden sind? Stattdessen kennen Sie mit Sicherheit die Wörter Theater, Witterung, Krampfader oder die deutschen Adjektive lichtscheu und aberwitzig. Bei diesen Beispielen handelt es sich allesamt um Lehnübersetzungen lateinischer Wörter, die im Jahr 1536 durch den Lexikographen Petrus Dasypodius in unsere Sprache gelangt sind, also um Ergebnisse langfristig erfolgreichen sprachplanerischen Handelns (vgl. West 1989 und die Übersicht bei Wegera / Waldenberger 2012: 43). Kreative Bedingungen des Sprachwandels Ergebnisse von Spracharbeit durch: ▶ Kreatives Spiel mit der Sprache in ▷ Dichtung ▷ Gruppensprachen ▷ Werbung ▷ Politik ▷ Alltag ▶ Sprachnormierungen ▶ Sprachpflege / Sprachpurismus ▷ Eindeutschungen / Lehnübersetzungen ▶ Euphemismen ▶ Metaphern und Metonymien (analog zu kognitiven Ursachen) Tabelle 8 Kreative Bedingungen des Sprachwandels Exkurs: Interner und externer Sprachwandel Neben der Klassifizierung möglicher Bedingungen anhand von Determinanten menschlicher Sprachhandlungen hat sich auch die Unterscheidung in sprachinterne und sprachexterne Ursachen etabliert, wobei man auch vom internen Sprachwandel im Gegensatz zum externen Sprachwandel spricht. Externer Sprachwandel betrifft die Veränderungen der Sprachumgebung. Als Bedingungen für einen externen Sprachwandel können außersprachliche Faktoren, wie der politische oder der sozial- und kulturgeschichtliche Kontext, in dem der Sprachwandel stattfindet, genannt werden. Externe Faktoren sind sozial bedingt oder sie resultieren aus dem Einfluss anderer Sprachen. Die in diesem Kapitel vorgestellten sozialen Bedingungen (z. B. historisch bedingte Veränderungen der Kommunikationssitten oder soziologischer Wandel) werden dem externen Sprachwandel zugerechnet. Ebenso muss Sprachwandel durch menschliche Kreativität als externer Sprachwandel betrachtet werden. Interner Sprachwandel betrifft dagegen die Veränderungen des Sprachsystems selbst, wie Lautwandel, syntaktische Veränderungen oder Bedeutungswandel <?page no="124"?> 124 5 Was sind die Ursachen des Sprachwandels? Dass kreative Bedingungen bzw. Handlungsmaximen überhaupt zu einer Sprachveränderung führen können, hängt damit zusammen, dass ein Sprachsystem zu keinem Zeitpunkt ein vollendetes oder geschlossenes System ist. Im Gegenteil: Die Unvollkommenheit der natürlichen Sprachen öffnet den kreativen Möglichkeiten menschlicher Sprachhandlung Tür und Tor; sie ist die Voraussetzung für kreatives Sprachhandeln. Dasselbe trifft auch auf die sozialen und kognitiven Bedingungen zu, die wir in diesem Kapitel kennengelernt haben. Prinzipiell gilt es auch für die biologischphysiologischen Phänomene, wenngleich der Wandel hier stärker determiniert ist. 5.2 Weiterführende und vertiefende Literatur Zur Vertiefung der allgemeinen Bedingungen des Wandels empfehle ich den — zwar schon in die Jahre gekommenen, aber noch immer gewinnbringend lesbaren — Beitrag von E U GENIO C OSER IU (1974: 94 ff.). Zu den sozialen Bedingungen im Speziellen lohnt ein Blick in L ABOV 2001, der sich sehr ausführlich mit sozialen Faktoren auseinandersetzt (englisches Original). Zu Sprachwandel durch Sprachkontakt finden Sie Wissenswertes im Handbuch Sprachgeschichte (B E SCH et al. 1998). Wenn Sie sich für sprachplanerische Phänomene im Deutschen interessieren, dann sollten Sie den Beitrag von A L AN K I RKNE SS (1998) lesen. Dort gibt es einen schönen Überblick über die Bemühungen der Sprachpuristen, Lehnwörter einzudeutschen. (innersprachliche Faktoren). Sprachinterne Faktoren sind in der Sprache selbst begründet, wie z. B. das Streben nach sprachlicher Ökonomie oder nach Analogiebildungen. Die interne Triebfeder für den Sprachwandel ist im Wesentlichen die Tendenz zur Vereinfachung des Sprachsystems bzw. des Sprachgebrauchs. Dabei beziehen sich die internen Faktoren entweder auf a) physiologische Bedingungen (z. B. artikulatorische Vereinfachungen) oder auf b) funktionale Aspekte (etwa eine ausgeglichene Verteilung langer und kurzer Wörter in der Sprache). Sprachinterne Bedingungen wirken auf allen Ebenen des sprachlichen Systems. Die weiter oben als kognitive und biologisch-physiologische Bedingungen benannten Phänomene sind als interne Sprachwandelphänomene einzustufen. <?page no="125"?> 125 5.2 Weiterführende und vertiefende Literatur 6 Was sind die Folgen des Sprachwandels? Tradition ist nicht die Anbetung der Asche, sondern die Weitergabe des Feuers. Gustav Mahler (1860-1911) Ziele und Warm-up Sprachwandel bleibt nicht unbemerkt und nicht ohne Folgen für die Sprecher einer Sprache — sowohl während des Prozesses als auch danach. Bevor sich der Wandel im Sprachsystem manifestieren kann, werden Wandelphänomene, die ja prozesshafte Veränderungen sind, als Abweichungen oder Fehler wahrgenommen — und zwangsläufig auch so bewertet. Manche Regelverletzungen sind und bleiben Fehler, andere Abweichungen setzen sich als neue Regeln durch. Aber wovon ist es abhängig, ob sich Neuerungen etablieren oder nicht? Und welchen Einfluss haben Verbreitungskanäle wie Medien oder Werbung? In diesem Kapitel wollen wir auch überlegen, ob Sprachwandel vorhersagbar ist. Wir wollen zudem ergründen, ob Sprachwandel die Sprache belebt oder ob er vielmehr — wie einige Menschen annehmen — zum Verfall der Sprache beiträgt. Wir wollen diskutieren, wie Sprachwandel wahrgenommen wird und ob diese Wahrnehmungen aus einer sprachhistorischen Sicht korrekt sind. Ist Sprachpflege nötig, um die Sprache so zu bewahren, wie sie ist? Sind solche Bemühungen überhaupt fruchtbar und erstrebenswert? Lässt sich Sprachwandel aufhalten oder gar umkehren? Und: Was ist schlimm daran, wenn sich Sprachen verändern? Solche Fragen zu den Folgen von Sprachwandel und den Bewertungen werden uns in dieser Themeneinheit beschäftigen. Der Einstieg soll durch die folgenden Fragen erleichtert werden: ▶ Schreiben Sie SMS, WhatsApp- oder Facebook-Nachrichten anders als eine E-Mail an einen Dozierenden? Worin liegen die Unterschiede? ▶ Wie bewerten Sie Anglizismen wie chatten, chillen oder Meeting? ▶ Verstehen Sie den Satz „Lass ma Kino gehen? “? ▶ Welches Wort gefällt Ihnen besser? Strapse oder Strumpfhalter? <?page no="126"?> 126 6 Was sind die Folgen des Sprachwandels? 6.1 Zurück in die Zukunft? — Sprachwandel gestern und heute Um Sie mit den Folgen des Sprachwandels vertraut zu machen, möchte ich mit zwei Beispielen beginnen. Der erste Fall führt uns nach Großbritannien. Es gibt im Nordwesten Englands, genauer gesagt in der Grafschaft Cumbria, einen kleinen Ort mit dem Namen Torpenhow. Dieser Ort ist ziemlich berühmt, auch wenn dort nur knapp 400 Menschen leben und hier weder bedeutende historische Ereignisse stattgefunden noch bekannte Menschen gelebt haben oder geboren worden sind. Seine Berühmtheit verdankt das Örtchen seinem Namen. Oder besser gesagt: Der Entstehungsgeschichte seines Namens. Torpenhow liegt an einem kleinen Hügel, dem Torpenhow Hill. Die geografische Lage in der Nähe zu diesem Hügel ist das entscheidende Merkmal, das diesen Ort von anderen abgrenzt. Dass man Orten Namen zuweist, die ihre geografische Lage kennzeichnen, ist nicht ungewöhnlich. Düsseldorf oder Frankfurt sind Beispiele dafür. Bei Torpenhow und insbesondere bei Torpenhow Hill ist nun aber etwas Bemerkenswertes geschehen. Um das zu verstehen, muss man den Namen in seine Bestandteile zerlegen: Tor, Pen und How sowie Hill sind allesamt Wörter aus unterschiedlichen Sprachen. Tor stammt vermutlich aus dem Altenglischen, Pen aus dem Walisischen, How ist möglicherweise Altnordisch und Hill ist modernes Englisch. Und sie bedeuten alle dasselbe: Hügel. Übersetzt heißt diese Anhöhe also Hügelhügelhügel Hügel. Über die Ursachen wissen wir nichts, aber man kann vermuten, dass die jeweiligen Ursprungsbedeutungen über die Generationen hinweg in Vergessenheit geraten sind. Oder aber man war bestrebt, dem Ort immer den jeweils sprachlich aktuellsten Namen hinzuzufügen, den Namen des Ortes also modern zu halten. Was auch immer der Auslöser war, das Resultat erscheint uns heute ziemlich skurril und absurd. Es ist die Folge einer sprachhistorischen Entwicklung und ein gutes Beispiel dafür, dass Sprachwandel sich a) nur in der Retrospektive zeigt und b) zu einer stetigen Veränderung des Systems führt (hier lexikalischer Wandel). Die zweite Erkenntnis wollen wir uns merken: Sprachwandel ist nie ein abgeschlossener Prozess, sondern ein stetiges Phänomen in natürlichen (und damit dynamischen) Sprachen. Tautologien oder Pleonasmen sind nicht selten zu finden. Häufig entstehen sie durch Sprachkontakt, etwa dann, wenn die Wortbedeutung in der Ursprungssprache unbekannt ist oder wird. Die La-Ola-Welle ist ein Beispiel dafür, ebenso <?page no="127"?> 127 6.1 Zurück in die Zukunft? — Sprachwandel gestern und heute der Düsenjet, der Worst-Case-Fall oder die Salsa-Sauce (la Ola ist im Spanischen die Welle, im Englischen bedeutet jet bereits so viel wie Düsenjet und der worst case ist schon der schlimmste Fall, salsa bedeutet Sauce auf Spanisch). Das deutsche Wort Diebstahl ist ursprünglich ebenfalls ein Pleonasmus. Bereits im Mittelhochdeutschen gab es das Wort diepstal als Kompositum aus mhd. diep und einer Ableitung des Verbs stel(e)n. Da das Stehlen von Dingen nur durch einen Dieb erfolgen kann, ist der Diebstahl semantisch nichts anderes als das Stehlen durch einen, der stiehlt-- oder kennen Sie noch einen anderen -stahl als den Diebstahl? Möglicherweise wären die Wörter Bediebung oder Bestehlung treffender, wie es der österreichische Schriftsteller Hermann Bloch am 25. Januar 1951 in einem Brief an seinen deutschen Kollegen Erich von Kahler vorschlägt. Für all diese Tautologien gilt: Sie sind das Resultat des Verbreitungsprozesses eines sprachlichen Fehlers. Und sie sind lexikalisiert, also zu Konventionen geworden. Ehemalige sprachliche Fehler sind in der Folge eines Sprachwandels zur neuen sprachlichen Norm geworden (= Konventionalisierung). Konventionalisierung als Verstetigung einer Abweichung oder Neuerung ist eine der wesentlichen Folgen des Sprachwandels. Das zweite Beispiel ist aktueller. Es handelt sich dabei nicht um einen Sprachwandel, wohl aber um einen systematischen Regelverstoß, von dem ich dennoch nicht glaube, dass er sich durchsetzen wird. Trotzdem zeigt dieses Phänomen den sprachverändernden Einfluss, den Medien auf das Sprachsystem haben. Es verdeutlicht zudem, auf welche Weise Verbreitungsprozesse funktionieren. Die Elektrogroßmarktkette Saturn wirbt seit einiger Zeit mit dem Slogan „Bei Technik-Fragen Tech-Nick fragen“. Dieser Tech-Nick ist natürlich als Wortspiel eine Erfindung des Unternehmens, um ihren Produkten ein Gesicht zu verleihen. Gegenwärtig klagen jedoch immer mehr Lehrerinnen und Lehrer darüber, dass ihre Schülerinnen und Schüler das Wort Technik wie Technick schreiben. Da dieses Phänomen gehäuft und systematisch nur bei diesem Wort auftritt, ist anzunehmen, dass dieser orthografische Fehler auf die Schreibung des Namens Tech-Nick in der weit verbreiteten und präsenten Werbung der Firma Saturn zurückzuführen ist. <?page no="128"?> 128 6 Was sind die Folgen des Sprachwandels? Wortspiele (z. B. in der Werbung) führen durch mediale Verbreitung zu signifikant höheren Fehlerquoten durch die visuelle Einprägung sprachlicher Fehler und gelangen als temporäre Sprachwandel-Effekte in das Sprachsystem. Nun hatte ich bereits erwähnt, dass ich dieses zweite Beispiel für nicht durchsetzungsfähig halte. Das liegt insbesondere daran, dass gerade die Rechtschreibung streng normiert ist. Mit anderen Worten: Bei Orthografiefragen gibt es nur richtig oder falsch. Allerdings ist diese Einschätzung eine synchrone. Denn richtig oder falsch- - in diesen Kategorien hat man vor 200 Jahren noch nicht gedacht. Und von einer einheitlichen Sprache mit allgemeingültigen Regeln konnte man erst recht nicht sprechen. 6.1.1 Sprachwandel gestern — und seine Folgen heute Reisen Sie mit mir zusammen einmal in die Vergangenheit. Wie Sie bereits wissen, findet Sprachwandel auf allen Ebenen der Sprache statt. Sprachwandel betrifft dabei immer Einzelelemente, aber: Aus der Veränderung von mikroskopischen Einzelelementen (ein Wort, eine syntaktische Stellung usw.) ergibt sich in der Summe eine Veränderung des gesamten Makrosystems. Um das genau zu erfassen und darüber die Folgen des Sprachwandels für das Gesamtsystem begreifen zu können, möchte ich Sie bitten, den folgenden Text zu lesen und einmal zu überlegen, was Sie davon verstehen können: Ir sult sprechen willekomen: der iu mære bringet, daz bin ich. allez, daz ir habt vernomen, daz ist gar ein wint: ir frâget mich. ich wil aber miete: wirt mîn lôn iht guot, ich gesage iu lîhte, daz iu sanfte tuot. seht, waz man mir êren biete. Wahrscheinlich werden Sie Schwierigkeiten haben, diesen Text richtig und in seiner Gesamtheit nachvollziehen zu können. Das ist nicht schlimm, schließlich scheint er in einer anderen Sprache verfasst zu sein. Hier und da finden Sie <?page no="129"?> 129 6.1 Zurück in die Zukunft? — Sprachwandel gestern und heute aber, wenn Sie genau hinsehen, Wörter, die Sie kennen. Ich, der, ist, gar, aber usw. sind Wörter, die Sie täglich verwenden. Das liegt daran, dass es sich um deutsche Wörter handelt und doch um einen deutschen Text. Verfasst wurde das sogenannte Preislied um 1200 von Walther von der Vogelweide in mittelhochdeutscher Sprache. Zur Zeit Walthers war das allerdings natürlich eine Sprache, die modern und aktuell war-- jeder Deutsche hätte den Text verstehen können. Sowohl das Mittelals auch das Althochdeutsche sind lediglich aus der heutigen Perspektive veraltete Sprachstufen des Deutschen. Unser Neuhochdeutsch, in dem dieses Buch verfasst ist und das Sie sprechen und schreiben, wird in einigen Jahrhunderten ebenfalls veraltet sein. Wie sehr sich Sprachen im Laufe der Zeit wandeln und wie umfassend diese Veränderungen sind, soll Ihnen die neuhochdeutsche Übersetzung des Preisliedes zeigen, die 800 Jahre vom Ursprungstext entfernt ist. Vergleichen Sie einmal die beiden Fassungen miteinander. Was fällt Ihnen auf ? Was hat sich verändert und was ist konstant geblieben? Ihr sollt ‚Willkommen‘ sprechen: Der, der euch Neuigkeiten bringt, das bin ich. Alles, was ihr bisher vernommen habt, ist nichts dagegen. Fragt mich nur! Ich will aber Lohn. Wenn mein Lohn ordentlich ausfällt, sage ich euch vielleicht etwas, das ihr gerne hört. Nun seht zu, dass man mir auch genug Ehre zuteil werden lässt! Noch offenkundiger werden die Veränderungen, wenn wir weiter in die Vergangenheit reisen. Im Folgenden ist das Vaterunser in unterschiedlichen Sprachstufen des Deutschen wiedergegeben. Ergründen Sie beim Lesen einmal, auf welchen Ebenen der Sprache Sie Sprachwandel feststellen können. <?page no="130"?> 130 6 Was sind die Folgen des Sprachwandels? Fater unser, thu thar bist in himile, si giheilagot thin namo, queme thin rihhi, si thin uuillo, so her in himile ist, so si her in erdu, unsar brot taglihhaz gib uns hiutu, inti furlaz uns unsara sculdi, so uuir furlazemes unsaren sculdigon, inti ni gileitest unsih in costunga, uzouh arlosi unsih fön ubile. Althochdeutsch (ca. 830) vater unser der da bist in den himeln. geheiliget wert din name. zuo kom din rieh. din wille gewerde in der erden als in dem himele. unser tegelich brot gip uns hiute. unt vergip uns unser schulde, als wir vergeben unseren schuldigern. unt enleite uns nit in bekorunge, sunder verloese uns von übele. amen. Mittelhochdeutsch (um 1300) Vnser vater ynn dem hymel. Deyn name sey heylig. Deyn reych kome. Deyn wille geschehe auff erden wie ynn dem hymele. Vnser teglich brott gib vnns heutt, vnd vergib vns vnsere schulde, wie wyr vnsemn schuldigern vergeben, vnnd füre vnns nitt ynn Versuchung, sondern erlose vns von dem vbel, denn deyn ist das reych, vnd die krafft, vnnd die herlickeyt in ewickeyt. Amen. * Frühes Neuhochdeutsch *Martin Luther, 1522. <?page no="131"?> 131 6.1 Zurück in die Zukunft? — Sprachwandel gestern und heute Unser Vater in dem Himmel. Dein Name werde geheiliget. Dein Reich komme. Dein Wille geschehe auf Erden wie im Himmel. Unser täglich Brot gib uns heute. Und vergib unsere Schulden, wie wir unseren Schuldigern vergeben. Und führe uns nicht in Versuchung, sondern erlöse uns von dem Übel. Denn dein ist das Reich und die Kraft und die Herrlichkeit in Ewigkeit. Amen. Neuhochdeutsch (um 1900) Wahrscheinlich werden Sie Mühe beim Lesen des althochdeutschen Textes gehabt haben. Religiöse Texte wurden zunächst in den drei heiligen Sprachen Latein, Griechisch und Hebräisch formuliert. Althochdeutsche Texte sind in aller Regel Übersetzungen solcher geistlicher Texte (Bibelübertragungen, Gebete, Taufgelöbnisse etc.), wobei man dabei Wort für Wort vorgegangen ist. Grammatische Komplexität und lexikalischen Reichtum finden wir in Texten aus dieser frühen Zeit der deutschen Sprache daher kaum. Eine deutsche Schriftsprache hat es in dieser Epoche im Grunde nicht gegeben und weltliche Schriften findet man selten in der Überlieferung (eine Ausnahme ist z. B. das Hildebrandslied). Erst in der Entwicklung zum Mittelhochdeutschen hat sich die Schriftsprache als schriftliche Volkssprache ausdifferenziert, so dass in der Folge nicht mehr nur religiöse Texte, sondern auch andere Textsorten Verbreitung fanden (Minnelieder, Heldenepik, höfischer Roman u. a.)- - wenn auch rezipiert von einer (Bildungs-)Elite. Auch das Folgende können Sie anhand des Textbeispiels Vaterunser erkennen: Diese Entwicklung ging einher mit einer Bereicherung des sprachlichen Repertoires auf allen Ebenen des Sprachsystems. Die Erklärung dafür fällt leicht: Je mehr man schreibt und spricht und über je mehr Dinge in der Welt man schreibt und spricht, desto differenzierter und reicher muss die Sprache sein, die man dazu verwendet. <?page no="132"?> 132 6 Was sind die Folgen des Sprachwandels? Diese Entwicklung und die Folgen, die ich gerade für das Deutsche skizziert habe, lassen sich auch auf die Ausdifferenzierung der zahlreichen anderen europäischen Volks- und Schriftsprachen übertragen. Durch die sprachhistorische Brille betrachtet, wird Sprachwandel sowohl auf lexikalischer als auch auf grammatischer, syntaktischer und orthografischer Ebene offensichtlich (die phonetischen Veränderungen können wir an Textzeugnissen nicht ablesen, gleichwohl hat es auch solche gegeben). Die Unterschiede zwischen dem Frühneuhochdeutschen und dem Neuhochdeutschen sind zwar eher gering. Wenn Sie aber das Neuhochdeutsche mit dem Althochdeutschen vergleichen, stellen Sie kaum noch Gemeinsamkeiten fest. Je weiter zwei Sprachstufen zeitlich voneinander entfernt sind, desto deutlicher zeigt sich der Sprachwandel — er wird dann makroskopisch als Gesamtsystemveränderung erkennbar. Auch wenn die deutsche Sprache, ebenso wie beispielsweise das Englische, Spanische oder Französische, in der Folge sprachlicher Entwicklung hin zur einheitlichen Volkssprache insgesamt reicher geworden ist, was man insbesondere mit Blick auf die Lexik erkennen kann, gibt es sprachhistorisch ein Phänomen, das erstaunlich ist: Sprachwandel führt in aller Regel zum Schwund von grammatischer Komplexität und zu einem Verlust von grammatischem Reichtum. Das wird umso klarer, je tiefer wir in die Vergangenheit blicken. So wurden Substantive im Indogermanischen nach acht Fällen (Nominativ, Genitiv, Dativ, Akkusativ, Ablativ, Instrumental, Lokativ, Vokativ) und nach Singular, Plural und Dual dekliniert. Im Deutschen sind gegenwärtig nur noch vier Fälle vorhanden. Im Mittelhochdeutschen etwa gab es noch keine gemischte Deklination und Substantive wurden klein geschrieben, um nur zwei Beispiele zu nennen, in denen sich diese, noch nicht allzu weit entfernte Sprachstufe von unserer heutigen Sprache unterscheidet. Gleichwohl entsteht eine neue grammatische Komplexität durch die Verschmelzung von Phrasen und ähnliche Prozesse (die sogenannte Grammatikalisierung). <?page no="133"?> 133 6.1 Zurück in die Zukunft? — Sprachwandel gestern und heute Aus grammatischer Sicht kann Sprachwandel als eine Art zyklischer Prozess aufgefasst werden, bei dem grammatische Komplexität schwindet und zugleich neu entsteht. Die Erklärung für den Schwund von grammatischer Komplexität (im Deutschen betrifft dies gegenwärtig beispielsweise den Genitiv und die unregelmäßigen Verben) liegt auf der Hand: Sprachwandel ist ein Prozess, der Sprache so verändert, dass sie für die jeweiligen Anforderungen, die Sprachbenutzer unwissentlich an sie stellen, tauglich bleibt oder tauglich wird (= Folgen des Sprachwandels). In der Entwicklung der europäischen Sprachen zu Schriftsprachen und als Folge massenmedialer Kommunikation, wie wir sie heute kennen, ist grammatische Komplexität aus sprachökologischen Gründen eher hinderlich, wogegen ein variantenreicher Ausdruck ein erstrebenswertes Ziel beim täglichen Kommunizieren darstellt. Dazu benötigen wir beispielsweise Synonyme oder Metaphern. Ein Roman, den wir als sprachlich schön empfinden, ist, ebenso wie ein gelungener Brief oder- - in Zeiten der mobilen Kommunikation- - eine anrührende Kurzmitteilung als WhatsApp-Nachricht oder SMS , dadurch gekennzeichnet, dass die ‚richtigen‘ Wörter benutzt werden und dass in unseren Köpfen Bilder erzeugt werden. Was wir dazu benötigen, ist ein reiches Vokabular. Was wir hingegen nicht so sehr brauchen, ist grammatische Komplexität. Die Sprachfunktion und das Sprachsystem sind zwei Paar Schuhe. Denn: Sprache ist nicht allein ein komplexes Zeichensystem, sondern sie ist in allererster Linie Mittel zum Zweck. Und der Zweck der Sprachbenutzung unterliegt ständigen Veränderungen. Das gilt nicht nur für die Grammatik einer Sprache, sondern es gilt für alle Ebenen des Sprachsystems, vor allem auch für die Lexik: Der Wortschatz ist einer steten Veränderung unterworfen, die man nicht nur diachron, sondern auch synchron feststellen kann: Nahezu täglich verändert sich das lexikalische Inventar unserer Sprachen-- bedarfsgerecht und ohne Schwächung des Systems. <?page no="134"?> 134 6 Was sind die Folgen des Sprachwandels? Exkurs: Zeichen- und Symbolsprache — Sprachwandel als Wandel nonverbaler und außersprachlicher Zeichen Sprachwandel betrifft das gesamte Zeichensystem einer Sprache. Sprachliche Zeichen sind in erster Linie Wörter, die über die Grammatik zu sinnstiftenden Sätzen verwoben werden. Sie dienen der Kommunikation, weil wir mit ihnen Aussagen über uns, über andere und über die Dinge in der Welt treffen können — sowohl über die realen Dinge als auch über unsere Vorstellungswelt. Sprachliche Zeichen — im Sinne der S AUSSURE schen Festlegung — sind gebunden an konkrete oder abstrakte Entitäten. Kommunizieren heißt, einem anderen Menschen etwas zu verstehen zu geben. Wörter und Sätze sind dazu ein geeignetes Mittel, aber Sprechen und Schreiben sind nicht die einzigen Möglichkeiten, um dies zu erreichen. Im Gegenteil: Zwischenmenschliche Kommunikation wird weit überwiegend über Zeichen gesteuert, die außersprachlich sind. Man unterscheidet in diesem Zusammenhang die verbale von der nonverbalen Kommunikation, zu der u. a. auch (hinweisende) Gesten gehören. Doch auch darin erschöpft sich unser Zeichensystem nicht. Neben Gesten spielen beim Kommunizieren auch Zeichen eine Rolle, die auf andere Weise Gegenstand der Interpretation sein können. Zwar ist dabei nicht alles, was interpretierbar ist, auch absichtsvoll kommuniziert. Dennoch gibt es bestimmte Zeichen, die wir bewusst aussenden können, um in beabsichtigter Art und Weise von anderen Menschen verstanden zu werden. So wird die Kleidung, die wir tragen, das Auto, das wir fahren, oder der Urlaub, den wir buchen, einer Interpretation durch unsere Umwelt unterzogen. Nicht nur für sprachliche, sondern auch für außersprachliche Zeichen gibt es einen konventionellen Interpretationsrahmen. Kleidung, Autos und Urlaube bieten sich dazu in unserer Gesellschaft wunderbar an: Wofür steht beispielsweise ein Porsche? Ist ein gelber Anzug Ausdruck von Individualität? Und sagen wir mit einem Aktivurlaub nicht etwas anderes über uns aus, als wenn wir unseren Urlaub im Wellnesshotel verbringen? Sowohl Gesten als auch außersprachliche Zeichen wie die gerade genannten Statussymbole kann man zusammen mit den sprachlichen Zeichen dem Gesamtsystem Sprache zurechnen. Damit werden sie gleichermaßen auch Gegenstände der Sprachwandelforschung, auch wenn sich diese bislang mit dem Wandel solcher Zeichen kaum beschäftigt. Dennoch gilt: Da außersprachliche und nonverbale Zeichen ebenso zur Repräsentation kommunikativer Zwecke dienen können wie die sprachlichen Zeichen, gelten für sie dieselben Prinzipien von Genese und Wandel, wie wir sie für Sprache im engeren Sinn feststellen können; Sprachwandel betrifft alle Symbole einer Sprachgemeinschaft und auch symbolisches Handeln verändert <?page no="135"?> 135 6.1 Zurück in die Zukunft? — Sprachwandel gestern und heute sich bisweilen im Laufe der Zeit (vgl. zum Unterschied zwischen Symbolen und Symptomen Kapitel 2.2.2). Ein Beispiel für den Wandel bei Symbolen ist die Schrankwand unserer Großeltern. In den 1960er-Jahren galten ausladende Schrankwände als Statussymbol: Je schwerer und massiver das Möbel war, desto wohlhabender waren dessen Besitzer. Heute gelten Schrankwände mit Schnitzereien als geschmacklos oder zumindest als veraltet. Wenn Sie heute über das Mobiliar Ihrer Wohnung Ihren Reichtum zum Ausdruck bringen wollen, dann kaufen Sie ein individuelles Designerstück oder einen großen Flat-Screen-Fernseher. Der symbolische Zeichengehalt einer Schrankwand hat sich gewandelt. Dasselbe gilt für unsere Hautfarbe: Galt es in der Renaissance als vornehm, möglichst blass zu sein (man half gerne mit reichlich Puder nach), weil man damit zeigen konnte, dass man es nicht nötig hatte, draußen in der Sonne zu arbeiten, so ist eine markige Bräune heute Zeichen von Luxus (und zugleich für Gesundheit), weil man damit symbolisiert, dass man es sich leisten kann, viel Zeit an der frischen Luft zu verbringen. Sowohl die Schrankwand als auch unser Teint sind und waren Gegenstand der Interpretation — und damit konventionell ebenso festgelegt (und wandelbar) wie die Bedeutung eines Wortes. Manches Nonverbale gelangt über denselben (Sprachwandel-)Prozess in unser Zeichensystem wie sprachliche Zeichen im engeren Sinn. So ist beispielsweise der Stinkefinger als beleidigende Geste in Deutschland erst seit den 1960er-Jahren bekannt. Vermutlich handelt es sich um eine Entlehnung aus dem Amerikanischen (also um eine Art nonverbalen Anglizismus) durch mediale Verbreitung über das Fernsehen. In die Vereinigten Staaten dürfte die Geste gegen Ende des 19. Jahrhunderts durch italienische Einwanderer gelangt sein, wobei das Handzeichen selbst deutlich älter ist. Schon im antiken Griechenland und Rom war diese beleidigende Geste bekannt, wo sie als Phallussymbol einen erigierten Penis im Sinne einer sexuell konnotierten Drohung symbolisierte. Dass es sich gegenwärtig um ein konventionalisiertes kommunikatives Zeichen handelt, können Sie z. B. daran erkennen, dass Sie bei dessen Benutzung ebenso strafrechtlich verfolgt werden, als hätten Sie jemanden beispielsweise durch das Wort Arschloch beleidigt. Das deutsche Strafrecht trifft hier keine Unterscheidung zwischen sprachlichen und nicht-sprachlichen Zeichen. Über einen Verbreitungsprozess, dessen Bedingung man als Sprachkontakt bezeichnen kann, ist das deutsche Sprachsystem als Zeichensystem um diese Geste (und zugleich um den zugehörigen Begriff Stinkefinger, der im Duden seit 1990 in der gegenwärtigen Bedeutung aufgeführt ist) infolge des Sprachwandels reicher geworden. <?page no="136"?> 136 6 Was sind die Folgen des Sprachwandels? Die Veränderungen des Sprachsystems mit Blick auf dessen Ebenen (Subsysteme) lassen sich dergestalt klassifizieren: Abb. 15 Ebenen des Sprachwandels Merke: Bereicherungen des lexikalischen, indexikalischen, symbolischen und ikonischen Inventars einer Sprache sind ebenso Folgen des Sprachwandels wie der umgekehrte Prozess. Dabei ist mit der Verbreitung der Geste zugleich ein Bedeutungswandel des Wortes Stinkefinger einhergegangen: So führt F R I EDR I CH S ALOMON K R AUSS im Jahr 1905 die Wendung einen Stinkefinger machen in einer Sammlung von erotischen Wörtern und Kraftausdrücken der Berliner Mundart als „an der weiblichen Scham mit dem Finger spielen“ (K R AUSS 1905: 25) auf. Sie sehen also: Sprachwandel betrifft nicht allein Sprach- und Schreibkonventionen, sondern zudem auch solche Zeichen, die ebenfalls durch gesellschaftliches Übereinkommen dem Sprachsystem als Symbole zugeordnet werden können. <?page no="137"?> 137 6.1 Zurück in die Zukunft? — Sprachwandel gestern und heute In der nachfolgenden Übersicht sind einige Beispiele aus dem Deutschen für Folgen des Sprachwandels auf den verschiedenen Ebenen des Sprachsystems aufgeführt (vgl. auch Nübling et al. 2013: 4). Ebene des Sprachsystems: Folgen des Sprachwandels: Beispiele aus dem Deutschen Phonologischer Wandel Variantenreduzierung, Auslautverhärtung, Monophthongierung / Diphthongierung Morphologischer Wandel Abbau und Umbau der flexivischen Möglichkeiten: z. B. starke Verben → schwache Verben (Flexionsveränderung); Ersatz synthetischer Sprachbaumittel (Flexion) durch analytische Sprachbaumittel (Wortverbindungen): z. B. Schillers Dramen → die Dramen von Schiller; Funktionsverbgefüge Syntaktischer Wandel Wortstellungswandel, erweiterte Nominalgruppen, Hypotaxe → Parataxe, Annäherung der geschriebenen an die gesprochene Sprache, weil mit Verbzweitstellung Graphematischer Wandel Substantivgroßschreibung, Vereinfachung auf Basis der Graphem- Phonem-Korrespondenz (z. B. Photographie → Fotografie) Lexikalischer Wandel Neologismen, Entlehnungen, Tendenz zur substantivischen Verkürzung (Bus, Auto), Kompositabildungen, Popularisierungstendenzen Semantischer Wandel Verlust der sexuellen Konnotation bei geil, Bedeutungswandel von billig ,angemessen’ → ,preiswert’ → ,wertlos’ Pragmatischer Wandel Pragmatisierung von weil und eben als Diskursmarker Textueller Wandel Entstehung und Veränderung von Textsorten und Kommunikationsformen (z. B. Brief → SMS , Chat-Kommunikation) Semiotischer Wandel Entlehnung von Gesten, Entstehung und Wandel von Verkehrszeichen; Wandel von Statussymbolen Tabelle 9 Beispiele für Sprachwandelfolgen in unterschiedlichen sprachlichen Subsystemen <?page no="138"?> 138 6 Was sind die Folgen des Sprachwandels? Hinweis für Studierende und Dozierende: An dieser Stelle bietet sich die Betrachtung der Folgen sprachlichen Wandels anhand von Beispielen aus verschiedenen Einzelsprachen an. Dazu verweise ich auf die einschlägigen Sprachgeschichten (Literaturempfehlungen am Ende des Kapitels). Über den synoptischen Vergleich von Texten unterschiedlicher Sprachstufen lassen sich beispielsweise grammatische oder lexikalische Veränderungen explizit durch die Studierenden vertiefen (z. B. in Gruppenarbeiten). Ein solcher Vergleich ist auch im Selbststudium möglich. Analog zu dieser Kategorisierung lassen sich die Folgen des Sprachwandels auch nach den Kantschen Kategorien Quantität, Qualität und Relation typologisieren (vgl. Wegera / Waldenberger 2012: 46 ff.). Diese Typologisierung basiert nicht auf der traditionellen Einteilung in Sprachsystemebenen oder „Ebenen der Sprachbeschreibung“ (Wegera / Waldenberger 2012: 47), wie in Abbildung 14 dargestellt, sondern stattdessen auf dem Ergebnis sprachlichen Wandels unter den drei Gesichtspunkten a) Veränderung der Anzahl sprachlicher Einheiten (Quantität), b) Veränderung von Form, Funktion oder Bedeutung sprachlicher Einheiten (Qualität) und c) Veränderung der Stellung oder des Verhältnisses von Einheiten zueinander (Relation). Eine solche Typologie lässt die Folgen des Sprachwandels als kombinierte Prozesse erscheinen, d. h., verschiedene Wandeltypen bedingen einander. Diese Typologie lässt sich wie folgt skizzieren: <?page no="139"?> 139 6.1 Zurück in die Zukunft? — Sprachwandel gestern und heute Quantitativer Wandel Zuwachs Schwund Ausdrucksseitiger Wandel Inhaltsseitiger Wandel Paradigmatisch Paradigmatisch Syntagmatisch Wandel der Bedeutung Wandel der Funktion Syntagmatisch Qualitativer Wandel Relationaler Wandel Abb. 16 Typen des Sprachwandels (nach W E G ER A / W ALD ENBER G ER 2012: 55) Sehen wir uns Beispiele an, anhand derer diese Zusammenhänge deutlich werden: Was mit quantitativem Wandel gemeint ist, ist rasch erfasst: Entweder vergrößert sich das sprachliche Inventar oder es verkleinert sich. Alle Neologismen sowie Entlehnungen aus anderen Sprachen führen zu einer (positiven) quantitativen Veränderung. Zum Schwund-- und damit zu einem (negativen) quantitativen Wandel-- kommt es z. B. durch die an anderer Stelle aufgezeigte Tendenz zur lautlichen Schrumpfung, bei der Wörter sprachökonomisch kürzer werden (Lüdtkes Sprachwandelgesetz). Auch der zunehmende Schwund von Genitivformen im Deutschen kann diesem Typ zugerechnet werden. Qualitativer Wandel ist vielgestaltiger. Auf der Ausdrucksseite können sich paradigmatische Veränderungen, also Veränderungen, die Austauschklassen betreffen, beispielsweise in Form von Synkretismen oder lexikalisch als Homonymien (Schloss = Gebäude; Schloss = Mechanismus) zeigen. Syntagmatisch, also auf der sprachlichen Komplexitätsebene, ist qualitativer Wandel auf der Ausdrucksseite beispielsweise auf der Lautebene als Assimilation von- -mb- zu- -m- in mhd. kumber zu nhd. Kummer nachweisbar. Ein weiteres Beispiel ist die sogenannte Klitisierung, also die Verschmelzung z. B. von Verb und Pronomen (hat es → hat’s) oder von Präposition und Artikel (um das → ums). Auf der Inhaltsseite ist zum einen der Bedeutungswandel angesiedelt, wie wir ihn im zweiten Teil dieser Einführung eingehend betrachten werden. Zum anderen lässt sich hier der Funktionswandel verorten. Hierunter fallen z. B. Prozesse, bei denen eine lexikalische Einheit im Laufe der Zeit eine (zusätzliche) grammatische Funktion erhält (Grammatikalisierung). So sind etwa die definiten Artikel in den germanischen und romanischen Sprachen durch Grammatikali- <?page no="140"?> 140 6 Was sind die Folgen des Sprachwandels? sierung distaler Demonstrativa entstanden; der indefinite Artikel wurde aus dem Zahlwort für eins grammatikalisiert (vgl. Lehmann 2013). Der relationale Wandel manifestiert sich- - wie auch der ausdrucksseitige qualitative Wandel- - entweder syntagmatisch oder paradigmatisch. So ist etwa jede Veränderung in der Satzstellung als syntagmatischer Wandel zu bezeichnen, wogegen beispielsweise Vokalismusveränderungen (mhd. sunne → nhd. Sonne) als paradigmatischer Wandel einzustufen sind. Während relationaler syntagmatischer Wandel in erster Linie die Syntax betrifft, findet man Beispiele für relationalen paradigmatischen Wandel in aller Regel im Bereich der Lexik. 6.1.2 Sprachwandel heute — und seine (vermuteten) Folgen morgen Sprachwandel ist in der Retrospektive gut zu erkennen. Die Folgen des Wandels lassen sich rasch erfassen, wenn man Texte unterschiedlicher Sprachstufen synoptisch vergleicht. Aber ist Sprachwandel nur ein historisches Phänomen? Die Antwort lautet: Sprachwandel findet auch heute statt-- in diesem Augenblick, in dem Sie diese Zeile lesen, ist die Sprache im Vergleich zu dem Moment, in dem ich diesen Satz aufschreibe, vermutlich schon um den einen oder anderen Ausdruck reicher oder ärmer geworden (wobei dies eine unangemessene qualitative Diktion ist, die allein metaphorischen Nutzen hat). Zwei Phänomene des Sprachwandels, die heute stark diskutiert werden, möchte ich im Folgenden näher beleuchten, um Ihnen die Synchronität des Sprachwandels in der Diachronie anschaulich nahezubringen und zu zeigen: Die Sprache wandelt sich zu jedem Zeitpunkt — ohne negative Folgen. 6.1.2.1 Zum Einfluss von Anglizismen In der gegenwärtigen Diskussion über den Zustand der Sprache, zumindest in der Debatte um die deutsche Sprache, findet man regelmäßig den Hinweis, dass die Sprache mehr und mehr mit Anglizismen gespickt sei. Vielfach wird die Frage aufgeworfen, ob Englisch gar die Sprache der Zukunft sei, die nach und nach die anderen Einzelsprachen von innen heraus zersetzt und damit langfristig ersetzt. Die Bedeutung des Englischen in unserer heutigen Sprache ist nicht von der Hand zu weisen-- in vielen Bereichen der Wirtschaft, aber auch des sozialen Lebens, ist Englisch eine Art lingua franca geworden. Überlegen Sie selbst einmal, wie häufig <?page no="141"?> 141 6.1 Zurück in die Zukunft? — Sprachwandel gestern und heute Sie in bestimmten Kontexten Anglizismen verwenden! Wenn Sie Begriffe wie chatten, chillen, talken, stylen oder shoppen verwenden, befinden Sie sich (sprachlich) in der Mitte der Gesellschaft, denn solche Ausdrücke gehören mittlerweile zum sprachlichen Wissensbestand des Deutschen-- und sie sind teilweise bereits lexikalisiert. Die Gründe für die gegenwärtig starke (oder als stark empfundene) Verbreitung des Englischen in den Sprachen der Welt sind vielschichtig. Da in allen Lebensbereichen eine Tendenz zur Internationalisierung feststellbar ist, nehmen damit auch die lexikalischen Lehneinflüsse in Form von Angloamerikanismen zu. Zugleich gibt es durch die modernen Massenmedien und die neuen sozialen Interaktionsformen (Chat, soziale Netzwerke) Popularisierungstendenzen, die das Eindringen von Wörtern aus verschiedenen Lebens- und Wissensbereichen befördern (z. B. aus Fachsprachen, Freizeitbereichen, Umgangssprachen). Damit verwoben ist- - zumindest im Deutschen- - eine zunehmende Tendenz zur Verstärkung der umgangssprachlichen Anteile an der Gesamtkommunikation und zur Vermischung von sprachlichen Varietäten (z. B. Gruppen- oder Jugendsprache) mit der Standardsprache, wenigstens in der mündlichen Verwendung. In Deutschland hat insbesondere die sogenannte 1968er-Bewegung entscheidend zu einer Lockerung des Sprachnormenbewusstseins beigetragen. Durch technische und soziokulturelle Neuerungen und Bedingungen, die gegenwärtig in rasantem Tempo durch Globalisierungsprozesse die Gesellschaften weltweit beeinflussen, kommt es in der Folge in den Industrienationen zu einer Vergrößerung des Wortschatzes, wobei neue Wissens- und Lebensbereiche die alten zumindest in bestimmten Bereichen verdrängen. Welche Entwicklung das Englische in Zukunft nehmen wird, lässt sich nicht vorhersagen. Allerdings ist es höchst unwahrscheinlich, dass das Englische die nationalen Einzelsprachen verdrängen wird. Was zudem gegen diese Verdrängungsthese spricht, zeigt ein Blick in das deutsche Lexikon des Jahres 1880 von Konrad Duden: Hunderte Fremdwörter sind dort aufgelistet, die meisten aus dem Französischen, die heute aus unserer Sprache gänzlich verschwunden sind (z. B. abducieren, affrontieren). Wie Rudi Keller schreibt: „Wer die Überfremdung befürchtet, sollte nicht nur die Zugänge in den Blick nehmen, sondern sie mit den Abgängen bilanzieren“ (Keller 2006a: 204). Es gilt vielmehr: „Kulturelle und sprachliche Divergenz stärkt sprachliche Eigenheiten [und stabilisiert damit das Sprachsystem, S. B.].“ (S CHLOBINSKI 2014: 158) <?page no="142"?> 142 6 Was sind die Folgen des Sprachwandels? 6.1.2.2 Chat-Kommunikation und mediale Einflüsse Von besonderer Bedeutung für die gegenwärtige Sprachentwicklung ist die Chat- Kommunikation, welche mittlerweile seit Mitte der 1990er-Jahre linguistisch sehr gut untersucht ist (z. B. Albert 2013, Beisswenger 2001). Allein über den Mitteilungsdienst WhatsApp werden weltweit 41 Millionen Nachrichten verschickt-- und zwar stündlich. Diese Kommunikationsformen stellen neue Anforderungen an unsere sprachlichen Ausdrucksmittel. Sie haben Einfluss darauf, wie wir Sprache verwenden und unser sprachliches Handeln reflektieren. Chat-Kommunikation ermöglicht eine direkte, nahezu synchrone und wechselseitige Kommunikation. Dabei ist sie in ihrer Ausdrucksform verschriftlichte (konzeptuelle) Mündlichkeit mit spezifischen Charakteristika. Häufig entfallen Endungen (is egal jetz), Verb und Personalpronomen verschmelzen (Haste Zeit? ), die Ausdrucksweise ist phonetisch an der Umgangssprache orientiert (wat machste so? ) und zur Visualisierung von Emotionen und Handlungen dienen eigens entwickelte Zeichen wie Emoticons, Akronyme (Lass Mo oder Di mal ins Kino gehen, vllt läuft was gutes! CU ) oder Comic-Sprache (*lach*). Auf syntaktischer Ebene fallen sprachökonomische Bestrebungen auf wie der Verzicht auf Großschreibung, kurze Sätze oder die Vernachlässigung der Interpunktion. Dass es sich um verschriftlichte mündliche Kommunikation handelt, kann man beispielsweise daran erkennen, dass Sprechpausen paralinguistisch häufig durch Verbalisierungen ersetzt werden (hmmm, äähhh), wobei die Reduplikation von Buchstaben auch dazu dienen kann, phonetische Elemente des Gesprächs zu verbalisieren (z. B. Tonhöhen und Akzente: Haaalloo-oo? ). Dass viele Menschen Wir hören voneinander formulieren und eigentlich Wir lesen voneinander meinen, wenn sie ausdrücken wollen, dass sie sich über einen Chat schreiben werden, lässt den Schluss der Konzeptionalisierung von Mündlichkeit in der Schriftlichkeit ebenfalls zu. Wird diese neue Form der Kommunikation unsere Sprache verändern? Handelt es sich bei der Chat-Kommunikation um ein Phänomen, das man dem Sprachwandel zuschreiben kann? Und ist diese Entwicklung gut oder schlecht? Nun, in der linguistischen Forschung gibt es bislang keine einzige Studie, die belegen würde, dass diese Kommunikationsform das Sprachsystem schwächt. Ganz im Gegenteil: Es handelt sich dabei nicht um eine qualitativ schwache oder minderwertige Sprachform, sondern um ein komplexes und situatives sprachliches Konstrukt, durch das die sprachlichen Ausdrucksmöglichkeiten <?page no="143"?> 143 6.1 Zurück in die Zukunft? — Sprachwandel gestern und heute der Sprachbenutzer vergrößert werden. Chat-Kommunikation macht die Sprache reicher. Sie basiert auf den Bedingungen der menschlichen Kreativität, die wir in Kapitel 5 als Motiv für den Sprachwandel identifiziert haben. So ist es sicher falsch, anzunehmen, dass die beschriebenen Merkmale der Chat-Sprache allein auf Platz- oder Zeitmangel bei der Textproduktion zurückzuführen sind. Außerdem ist die Behauptung nicht richtig, Chat-Sprache sei weniger komplex als die normierte Schriftsprache und unterliege auch keinerlei Konventionen. Korrekt ist: Die Chat-Sprache ist ein hochkomplexes Zeichensystem und kann als Subsystem der Standardsprache eingestuft werden. Sie folgt zum einen den kreativen Möglichkeiten und zum anderen den kommunikativen Bedürfnissen der Sprecher in Chat-Situationen, sie ist also a) kontextgebunden, b) konventionalisiert und c) durch die Sprachbenutzer legitimiert. Das Repertoire der freien Nutzung sprachlicher Zeichen in Chats ist begrenzt durch (nicht normierte) sprachliche Regeln. So müssen auch Chats für das Gegenüber verständlich sein. Die Hypermaxime des Kommunizierens gilt auch hier. Dennoch bietet Chat-Sprache eine Vielzahl an Ausdrucksmöglichkeiten, die nicht dem Prinzip der Ökonomie folgen (obwohl dies häufig behauptet wird), sondern dem Streben nach Individualität im Ausdruck und nach Variantenreichtum. Die Nutzung von Emoticons oder Reduplikationen von Buchstaben sowie das Schreiben im Dialekt und häufige soziolektale Ausdrucksformen sprechen dafür, dass der kognitive und ,artikulatorische‘ Aufwand bei Chats vergleichsweise hoch ist. Die Möglichkeit, mit Chat-Sprache zu experimentieren, befriedigt das Streben nach kreativen Ausdrücken-- mit dem Ziel der Beeinflussung des Gegenübers. Somit erfüllt Chat-Kommunikation die wesentliche Funktion von Sprache; als Kommunikationsform wird sie vermutlich das Sprachsystem insgesamt verändern-- mit positiven Folgen für die Sprecher, deren Ausdrucksmöglichkeiten dadurch erweitert werden (im Übrigen auch im mündlichen Sprachgebrauch, da zahlreiche Akronyme aus der Chat-Sprache (z. B. lol) bereits Elemente zumindest der gesprochenen Jugendsprache geworden sind). Ob es sich dabei um vorübergehende Sprachveränderungen handelt, lässt sich nicht absehen. Zumindest aber ist es ein aktuelles Phänomen des durch Kreativität bedingten Sprachwandels, von dem sicher auch in Zukunft einiges bleiben wird. Zudem unterliegt auch die Chat-Sprache selbst dem Sprachwandel. So kann man beispielsweise feststellen, dass seit einiger Zeit die comicsprachlichen Stil- <?page no="144"?> 144 6 Was sind die Folgen des Sprachwandels? mittel (*grins*) abnehmen und dass Akronyme häufiger verwendet werden als noch vor ein paar Jahren. Dies zeigt: Chat-Sprache folgt sich wandelnden sozial bedingten sprachlichen Konventionen und unterliegt damit denselben Prinzipien von Genese und Wandel, die auch für das sprachliche Gesamtsystem gelten. 6.1.2.3 Gegenwärtige Sprachveränderungen im Überblick Der nachfolgenden Tabelle können Sie weitere Hinweise für Sprachveränderungen im gegenwärtigen Deutsch entnehmen, für eine Vertiefung empfehle ich den Blick in eine der zahlreichen sprachgeschichtlichen Einführungen (z. B. Polenz 1991c). Als Beispiele sollen uns einige grammatische und lexikalische Wandelphänomene dienen, die sich in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zugetragen haben oder die noch im Gange sind (basierend auf Lehmann 1991 und Keller 2006a): Ebene des Sprachsystems Ausgewählte Beispiele im Deutschen Morphologie Ausdehnung des s-Allomorphs auf Fremdwörter und Akronyme (z. B. PC s) und Verdrängung des bisherigen Pluralallomorphs (z. B. Lexikons, Kontos); Bildung komplexer Präpositionen (im Anschluss + Akkusativrektum, im Rahmen + Genitivrektum, im Zuge + Genitivrektum) als Neologismen; im Herbst dieses Jahres (Analogiebildung: Flexion des Demonstrativpronomens dieses wie das Adjektiv letztes); Entwicklung eines indefiniten Demonstrativums (hier: unbestimmter Demonstrativartikel) son / sone [das / dieses (Ding) ←→ ’n / son (Ding)] in der gesprochenen Sprache Syntax Bildung eines Verbzweitsatzes nach einigen subordinierenden kausalen Konnektoren wie weil oder zumal, nach einigen adversativen Konnektoren wie während und nach einigen konzessiven Konnektoren wie obwohl oder wobei anstelle eines Verbletztsatzes: z. B. die Verbreitung der epistemischen Konjunktion weil mit Hauptsatzwortstellung (Ich muss gehen, weil die Geschäfte machen gleich zu) statt der kausalen Konjunktion mit Nebensatzwortstellung; von-her-Konstruktion: ursprünglich rein lokale Bedeutung, heute limitative abstrakte Funktion (i. S. v. hinsichtlich) z. B. in von daher gesehen Tabelle 10 Beispiele für lexikalischen und grammatischen Wandel heute <?page no="145"?> 145 6.2 Führt Sprachwandel zum Sprachverfall? 6.2 Führt Sprachwandel zum Sprachverfall? Sprachwandel wird nicht selten als die negative Folge eines unreflektierten Sprachhandelns identifiziert und kritisiert. In der Frage nach dem Sprachverfall schwingt eine Bewertung mit und die Annahme, Sprachwandel sei ein qualitatives Phänomen im Sinne einer Verschlechterung des Systems. Diese Sichtweise impliziert, dass es gutes und schlechtes Sprachhandeln gebe. Sie legt den Schluss nahe, dass man mit Sprache entweder richtig oder falsch umgehen könne. Beide Annahmen sind falsch. Richtig ist: Sprachwandel führt zu einer Veränderung des Sprachsystems, wobei die Folgen weder gut noch schlecht sind. Es sind schlicht und einfach Konsequenzen sprachlicher Benutzung-- sie sind kausal, funktional und ästhetisch bestimmt. Da jede Veränderung zunächst Argwohn auslöst, insbesondere dann, wenn soziokulturelle Strukturen betroffen sind, ist die Sichtweise, Sprache würde sich zu ihren Ungunsten durch Sprachwandel verändern und dabei Schaden nehmen, zunächst psychologisch nachvollziehbar. Dennoch sind die Argumente für diese Sichtweise bei genauerem Hinsehen nicht haltbar. Das oft hervorgebrachte Argument, durch unreflektiertes Sprachhandeln würde die deutsche Sprache Reinheit und Eleganz einbüßen, lässt sich beispielsweise leicht widerlegen. Oft genug wird diese Sprachkritik mit einem Verweis auf die Sprache der Dichter und Denker begründet: Wir würden künftig unsere eigenen deutschen Klassiker nicht mehr lesen können, weil wir schludrig mit unserer Sprache umgingen. Dabei wird kaum ein Sprachkritiker die Klassiker im Original gelesen haben. Im Vergleich zu unserem heutigen Deutsch sind diese nämlich voller ‚Fehler‘, wie Ihnen das folgende Textbeispiel zeigen kann: … am 10. May […] Wenn das liebe Thal um mich dampft […] und näher an der Erde tausend mannigfaltige Gräsgen mir merkwürdig werden. Wenn ich […] die Gestalten all der Würmgen, der Mückgen […] das Wehen der Allliebenden […]. Die Kühle des Orts, das hat so was anzügliches, was schauerliches […]. Ich bin […] in Verzükkung […]. Ich saß ganz in mahlerische Empfindungen vertieft. […] um weis Brod zu holen, und Zukker. […] theils wegen dem Gegensazze. Dieser Textausschnitt, der jeden Rotstift schwingenden Deutschlehrer heute in Aufregung versetzen würde, stammt aus der Feder Johann Wolfgang Goethes (Die Leiden des jungen Werther)- - eines Dichters, der seinen eigenen Namen wahl- <?page no="146"?> 146 6 Was sind die Folgen des Sprachwandels? weise als Goethe, Göte, Göthe oder Goete geschrieben hat! Ist nun in der Folge des Sprachwandels die Sprache Goethes verfallen, weil wir heute anders sprechen und schreiben? Oder wie muss man die Abweichungen bewerten? Zunächst ist eine Festlegung wichtig, wenn es um richtig oder falsch im Kontext des Sprachwandels geht: Die Kategorie ‚sprachlicher Fehler‘ ist eine normative Festlegung und damit zum einen willkürlich und zum anderen historisch determiniert. Absolute Fehler gibt es im Sprachsystem nicht, sondern allenfalls Regelverstöße gegen aktuell geltende sprachliche Konventionen. Diese Konventionen unterliegen dem Wandel, so dass das Festhalten an einem bestimmten Sprachzustand ebenso wie die Kritik an dessen Veränderungen an der sprachlichen Realität vorbeigehen. Eine Sprache kann nur dann frei von Veränderungen sein, wenn man sie nicht verwendet. Konservatismus und dynamischer Sprachgebrauch schließen sich aus. Das gilt auch für die häufig angeführte Fremdwortdebatte, also für den vermuteten negativen Einfluss von Fremdwörtern, der oft wie folgt beklagt wird: Ich würde keinen verurteilen, der Fremdworte dort verwendet, wo es angebracht erscheint. Aber über das ungereimte, unnötige Einflicken ausländischer Wörter oder womöglich noch nicht einmal verstandener Redensarten, durch die Sätze oder Abschnitte förmlich auseinander fallen, die unsäglichen Wortzusammenfügungen ohne Sinn und Verstand, darüber müsste man sich schämen, wenn man darüber ein wenig nachdächte. Dies alles ist es, was nicht nur unsere Sprache verdirbt, sondern mehr und mehr auch unser Gemüt krank machen wird. Mit etwas schärferen Worten könnte dieselbe Kritik auch anders ausgedrückt werden: Ich finde es geradezu für das Zeichen eines schiefen Kopfes, eines Stümpers, zu glauben, dass er sich in einer fremden Sprache besser werde ausdrücken können, als in seiner. Dabei lässt sich auch schnell der Urheber der Sprachverunreinigung identifizieren: die Jugendlichen, die Sprache falsch verwenden und damit den Verfall befördern: Das Schlimmste an der Sache ist, dass allgemach eine junge Generation heranwächst, welche, da sie stets nur das Neueste liest, schon kein anderes Deutsch mehr kennt als diesen verrenkten Jargon des impotenten Zeitalters, welches sich ein Gewerbe daraus macht, die deutsche Sprache zu demolieren. <?page no="147"?> 147 6.2 Führt Sprachwandel zum Sprachverfall? Diese drei Klagen haben eines gemein: Sie alle kritisieren den Fremdworteinfluss und sie alle plädieren dafür, solche Fremdwörter grundsätzlich zu vermeiden. Zugleich kann man eine Sorge um die Reinheit und Klarheit der Sprache herauslesen. Was ich Ihnen anhand dieser drei Zitate zeigen möchte: Die Klage über den Sprachverfall an sich, über die Jugend, die Sprache verkommen lässt und über den schädlichen Fremdworteinfluss ist alles andere als neu. Die erste Einschätzung ist sogar schon mehr als 2 000 Jahre alt, sie wird dem antiken Dichter Vergil (70-19 v. Chr.) zugeschrieben. Das zweite Zitat ist von Gotthold Ephraim Lessing (1729-1781). Der dritte Ausspruch, der insbesondere die Jugend ins Visier nimmt, ist etwas neuer und stammt aus der Feder Arthur Schopenhauers (1788-1860). Nun, wenn auch nur eine der Befürchtungen gerechtfertigt wäre, wie erklärt es sich dann, dass wir zu jeder Zeit von einer gesunden und intakten Sprache ausgehen können und dass der Verfall immer mit Blick auf die Gegenwart und die Zukunft, nie jedoch aus historischer Perspektive beklagt wird? Auffällig ist: „Vom Verfall bedroht ist offenbar immer die jeweils zeitgenössische Version der jeweiligen Sprache. Kein britischer Prinz würde beispielsweise heute darüber klagen, dass das wundervolle Angelsächsisch zu dem völlig gallifizierten Neuenglisch verkommen ist“ (Keller 2006a: 194). Halten wir also fest: Die Klage über den befürchteten Sprachverfall ist so alt wie die Sprache selbst — und sie ist seither trotz unzähliger Wiederholungen nicht richtiger geworden. Denn: Zu keiner Zeit lässt sich eine verfallene Sprache nachweisen. „Das vorherrschende Bild ist folgendes: Der gegenwärtige Zustand meiner Sprache ist der korrekte, gute und schöne, und von nun an geht es rapide bergab“ (Keller 2006a: 194). In diesem Zusammenhang implizieren organizistische Metaphern wie die des Sprachsterbens oder des Sprachtodes, dass Sprachen lebendig sind und sterben können. Richtig ist: Eine Sprache stirbt mit ihren Sprechern aus. Solange eine Sprache gesprochen wird, verändert sie sich mit ihren Sprechern, aber sie bleibt-- um in dieser Bildsprache zu bleiben-- lebendig. Den Zustand einer Sprache zu bewahren, würde also bedeuten, die Sprache von ihren Sprechern zu isolieren; tote Sprachen kann man wie tote Tiere konservieren, lebendige Sprachen jedoch nicht. Es gibt grob gesagt zwei Positionen, wenn es um das Wesen und um die Veränderungen von Sprache und um die damit einhergehenden Bemühungen der <?page no="148"?> 148 6 Was sind die Folgen des Sprachwandels? Sprachpflege geht: Die eine ist der konservatorische Ansatz der Sprachpuristen, die in jeder Veränderung zugleich einen Verlust erkennen wollen. Die andere Position ist diejenige, die man positivistisch nennen kann und die in diesem Buch vertreten wird. Sie lautet: Sprachwandel ist eine notwendige Bedingung, damit Sprecher ihre kommunikativen Ziele erreichen können — er ist damit weder gut noch schlecht, sondern wesentlich für das Funktionieren einer Sprache. Zwar ist es von großem Wert für die Sprachwissenschaft, dass sich die verschiedenen geisteswissenschaftlichen Disziplinen seit Langem mit dem Wesen und dem Zustand der Sprache beschäftigen, jedoch ist Sprache nicht krank und benötigt daher keine Therapie, wie viele besorgt glauben. Im Gegenteil: Es geht den Sprachen auf dieser Welt gut. Und das nicht obwohl, sondern weil sie sich ständig verändern. Oder würden Sie sagen, dass das so wohlklingende Italienisch, aus dessen Sprachmelodie man das dolce vita förmlich heraushören kann, nichts weiter als ein verfallenes Latein darstellt? Und wie hätte dieser Verfall überhaupt passieren können? Wer in einer uralten Familie von Römern, die seit Jahrhunderten am Tiber leben und arbeiten, hat angefangen mit der Umformung des Lateinischen in das heutige Italienisch? Welcher böse Bube hat das Latein verfallen lassen? Ein anderes Beispiel: Sprechen Sie Mittelhochdeutsch? Oder sogar Althochdeutsch? Vermutlich nicht, was im Grunde erstaunlich ist, wenn Ihre persönliche Ahnenlinie bis ins deutsche Mittelalter zurückreicht. Mit Ihrem Urahnen aus dem 12. Jahrhundert könnten Sie sich heute nicht mehr verständigen. Aber jede Generation vor Ihnen hatte keine Probleme, sich ohne Missverständnisse mit den Großeltern zu unterhalten. So wie Sie das auch ohne Mühe können. Und dennoch wandelte und wandelt sich die Sprache mit dem Blick auf die Zeit. Nicht von einem Tag auf den anderen, sondern kontinuierlich. Manchmal merken wir das: Wenn alte Menschen heute davon sprechen, doof zu sein, meinen sie häufig damit, dass sie nicht gut hören. Denn doof bedeutete ehemals taub, was man am englischen deaf noch gut erkennen kann. „Was wir als Sprachverfall wahrnehmen, ist zu einem erheblichen Teil der allgegenwärtige Sprachwandel, aus der historischen Froschperspektive betrachtet.“ (K ELLER 2006a: 195) <?page no="149"?> 149 6.3 Kann man Sprachwandel vorhersagen oder aufhalten? 6.3 Kann man Sprachwandel vorhersagen oder aufhalten? Die Quantitative Linguistik, wie wir sie in Kapitel 4.2.3 kennengelernt haben, stellt Möglichkeiten zur Verfügung, auch im Bereich von Sprachwandelprozessen unter bestimmten Bedingungen statistische Wahrscheinlichkeitsaussagen zu erstellen. Voraussetzung dafür ist, dass sprachliche Veränderungen über einen längeren Zeitraum quantitativ erfasst sind; ein Beispiel für eine zahlenmäßig gut belegte Dokumentation ist die Entlehnungen von Wörtern aus anderen Sprachen ins Deutsche (Lehn- und Fremdwörter). Da bekannt ist, dass diese Prozesse in der Regel gemäß dem sogenannten Piotrowski-Gesetz verlaufen, kann man für die meisten dieser Entwicklungen zumindest für die nähere Zukunft Prognosen wagen, ohne allzu große Risiken einer Fehleinschätzung einzugehen. Eine Fülle von Untersuchungen zum morphologischen und syntaktischen Wandel ebenso wie zu Entlehnungsprozessen und Änderungen orthografischer Gewohnheiten zeigt, dass dieser Ansatz sich eignet, um den Verlauf von Sprachwandelvorgängen zu modellieren. Auch die Entwicklung des Wortschatzes von Sprachen unterliegt diesem Gesetz. Dies gilt sowohl für den lexikalischen Schwund als auch für die Erweiterung des Wortschatzes. Ein Marker für solche Prognosen ist der Sättigungsgrad einer Sprache mit Fremdwörtern. Eine Sprache kann statistisch gesehen nur ein bestimmtes Maß an Entlehnungen tragen, bevor die Kurve der Übernahme und Ausbreitung einen Punkt erreicht, an dem das Sprachsystem als gesättigt gilt. Entscheidenden Einfluss auf die Validität der Aussagen zu künftigem Sprachwandel haben die Rahmenbedingungen, die wir in Kapitel 5 als Bedingungen für die Ursachen des Sprachwandels diskutiert haben. So kann man Zukünftiges auf der Basis sich nicht ändernder Rahmenbedingungen vorhersagen, wobei es sich dabei nicht um eine Vorhersage im klassischen Sinne, sondern vielmehr um die Beschreibung eines Trends handelt. Die Vorhersage ohne echten prognostischen Wert lautet dann wie folgt: Wenn unter denselben Handlungsmaximen dieselben sprachlichen Handlungen erfolgen, wie sie für einen abgeschlossenen (und beobachteten) Sprachwandelprozess feststellbar sind, dann wird mit hoher Wahrscheinlichkeit derselbe Wandel auch für ein ähnliches Phänomen stattfinden. Voraussetzung dafür ist zudem der gleiche oder ein ähnlicher Verbreitungsprozess. <?page no="150"?> 150 6 Was sind die Folgen des Sprachwandels? Sie sehen: Die Prognose für Sprachwandelphänomene ähnelt dem Rechnen mit vielen Unbekannten. Prognosen, die auf einer Erklärung eines Phänomens mittels der unsichtbaren Hand basieren (wie es für Sprachwandel der Fall ist), haben hypothetischen Charakter, denn sie basieren auf einer abstrakten wenn-dann- Relation. So könnte man ,vorhersagen’, dass der Anteil der Anglizismen in den europäischen Sprachen weiter steigen wird, wenn und solange das Englische weiterhin einen wirtschaftlichen und sozialen Einfluss auf die Sprecher hat. Eine solche Festlegung ist aber weniger eine Prognose als vielmehr eine Trendextrapolation auf der Basis beobachteter Bedingungen und Handlungsmaximen. Ob das Englische als lingua franca in 200 Jahren durch das Chinesische verdrängt wird und ob damit der Einfluss chinesischer Lehnwörter steigen wird, lässt sich vermuten, aber nicht vorhersagen. Denn: Nur weil eine Entwicklung einmal in einer bestimmten Weise stattgefunden hat, heißt das noch lange nicht, dass sich diese Entwicklung wiederholen und fortsetzen wird. Was man aber tatsächlich prognostizieren kann, ist Folgendes: Sprecher neigen dazu, sich sprachlich nach der Mode zu richten (Handlungsmaxime als ökologische Rahmenbedingung) und Ausdrücke zu verwenden, die en vogue sind. Modern sind seit Jahrhunderten Entlehnungen aus anderen Sprachen. Es lässt sich also prognostizieren, dass aus diesen Gründen weiterhin Lehnwörter in die deutsche Sprache einwandern werden-- welche jedoch, das ist nicht absehbar: „Invisible-hand-Theorien haben keinen prognostischen Wert in dem Sinne, in dem beispielsweise physikalische Theorien von prognostischem Wert sind. Der Grund liegt in der Nicht-Prognostizierbarkeit der Prämissen“ (Keller 2003: 104). Abgesehen von den statistischen Wahrscheinlichkeiten, die das Piotrowski- Gesetz abbilden kann, sind linguistische Prognosen für den Sprachwandel nicht möglich. Das liegt daran, dass Sprachwandel als ein Phänomen in der Zukunft zurückzuführen sein wird auf unser sprachliches Handeln heute. Unser sprachliches Handeln heute ist damit zwar die Bedingung für Sprachwandel in der Zukunft, aber die Prämissen dafür können wir erst mit zeitlichem Abstand sicher erkennen. So lässt sich zwar verstehen, wie es zu einem Wandel gekommen ist, nicht aber vorhersehen, wie es in der Zukunft weitergehen wird. Individuelles menschliches Verhalten ist prinzipiell schon schwer vorhersagbar und eine Prognose ist dann nahezu unmöglich, wenn es um kollektives Handeln geht. Sprachwandel aufzuhalten, ist-- wie wir weiter oben gesehen haben-- ein Ziel der Sprachpuristen. Dieses Unterfangen scheitert aber an der Prozesshaftigkeit des Sprachwandels: Ist der Verbreitungsprozess einmal in Gang gebracht, können ihn allenfalls sich ändernde Handlungsmaximen stoppen. Regelmäßig passiert dies <?page no="151"?> 151 6.4 Weiterführende und vertiefende Literatur in den Fällen, die man dann retrospektiv als unvollständigen Wandel bezeichnen kann. Wenn beispielsweise ein Wort, das heute noch innovativ ist, morgen von jedem verwendet wird, sinkt dessen Attraktivität und damit die Motivation, das Wort weiterhin zu benutzen. So verschwinden Neologismen oft schneller, als sie entstanden sind. Die Offenheit und Dynamik des Sprachsystems befördern diesen Prozess. Eine Einflussnahme von außen hingegen ist schwer möglich-- und zudem nicht sinnvoll. Sprachwandel funktioniert nach dem Prinzip einer schweren Lokomotive oder einer Lawine: Einmal ins Rollen gebracht kann er nur durch das Kollektiv der Sprecher aufgehalten werden-- nicht jedoch durch den Einzelnen. 6.4 Weiterführende und vertiefende Literatur In diesem Kapitel haben wir uns den Folgen des Sprachwandels zugewendet und insbesondere Veränderungen des Sprachsystems betrachtet und klassifiziert. Im Rahmen dieser Auseinandersetzung war es nicht möglich, auf einzelsprachliche Veränderungen einzugehen. Daher empfehle ich zur Vertiefung einen Blick in die einschlägigen sprachhistorischen Einführungen, von denen der Buchmarkt einige bereithält. Für das Deutsche lohnt sich ein Blick in die sehr umfangreiche und gut strukturierte Einführung in die Historische Sprachwissenschaft des Deutschen von N ÜBLING et al. (2013), die mittlerweile als erweiterte 4. Auflage vorliegt. Dieses Buch ist thematisch äußerst dicht, aber dennoch mit ein wenig Vorwissen gewinnbringend zu lesen. Ebenfalls hervorragend ist Was ist deutsch? von M A AS (2014). Insbesondere Dozierende können aus dieser äußerst detailreichen Sprachgeschichte viele Beispiele für ihren Unterricht ziehen. Das Buch bildet die Entwicklung der deutschen Sprache von der indogermanischen Frühgeschichte bis in die Gegenwart ab. Besonders geschichtsinteressierte Leserinnen und Leser kommen hier auf ihre Kosten. Mit Einschränkungen rate ich zur Lektüre von Deutsch diachron von W EGER A und W ALDENBERGER (2012). Dieses neuere und gut gegliederte Lehrbuch erfordert ein breites Hintergrundwissen, damit man es verstehend lesen kann und ist für Studienanfänger daher nur bedingt geeignet. Dort finden sich auch die Typen des Sprachwandels ausführlich wieder, die wir in diesem Kapitel kennengelernt haben. Für das Englische rate ich zu Language Change von B YBEE (2015). Der Sprachwandel im Englischen wird darin — oft sprachvergleichend — auf allen Ebenen verständlich beschrieben. Dasselbe gilt für Variation and Change in English: An Introduction von S CHR EI ER (2014), das viele Beispiele bereithält. <?page no="152"?> 152 6 Was sind die Folgen des Sprachwandels? Für Romanisten gibt es das äußerst bemerkenswerte dreibändige Handbuch Romanische Sprachgeschichte: ein internationales Handbuch zur Geschichte der romanischen Sprachen, herausgegeben von E RNS T (2008), das keine Fragen offen lässt, aber auch eher dem fortgeschrittenen Leser empfohlen wird. <?page no="153"?> 153 6.4 Weiterführende und vertiefende Literatur 7 Noch Fragen? — Repetitorium und Übungen zum Sprachwandel Unermesslichen Einfluss auf die ganze menschliche Entwicklung eines Volkes hat die Beschaffenheit seiner Sprache, der Sprache, welche den Einzelnen bis in die geheimste Tiefe seines Gemüts bei Denken und Wollen begleitet und beschränkt oder beflügelt. Johann Gottlieb Fichte (1762-1814) Sind Sie fit im Thema Sprachwandel? In diesem ersten Teil der Einführung in die Prinzipien des Sprach- und Bedeutungswandels ging es um den allgemeinen Sprachwandel. Wenn Sie bis hierhin alle Kapitel aufmerksam gelesen haben, sind Sie nun gut gerüstet, auch den Bedeutungswandel im zweiten Teil dieses Buches als Spezialfall des Sprachwandels erfassen zu können. Außerdem verfügen Sie nun über das nötige Grundlagenwissen — und hier und da sogar noch über tiefergehende Kenntnisse —, um zielsicher und kompetent das Wesen der Sprache bestimmen und um sprachliche Phänomene, die Ihnen in Ihrem weiteren Studium noch zahlreich begegnen werden, angemessen einordnen zu können. Die Kenntnis der Prinzipien des Sprachwandels ist die Grundlage zum Verständnis aller dynamischer Sprach- und Kommunikationsprozesse. Dieses Kapitel soll Ihnen nun helfen, Ihr eigenes Wissen auf den Prüfstand zu stellen. Manche der Themen, durch die Sie sich bis hierher erfolgreich gearbeitet haben, sind sehr komplex. Mit den nachfolgenden Übungsaufgaben können Sie Ihr Wissen und Ihr Verständnis des bisher Vermittelten überprüfen. Nehmen Sie sich dazu ausreichend Zeit. Wenn Sie feststellen, dass Sie hier oder da noch Wissenslücken haben, lesen Sie die Passagen einfach noch einmal. Ziehen Sie auch weiterführende Literatur zu Rate — hier helfen Ihnen die Literaturhinweise an den Kapitelenden. <?page no="154"?> 154 7 Repetitorium und Übungen zum Sprachwandel Bevor Sie mithilfe von Übungsfragen und -aufgaben Ihr eigenes Wissen testen sollen, werden die wesentlichen Aussagen der einzelnen Kapitel jeweils noch einmal kurz und knapp zusammengefasst — auch, um Ihrem Gedächtnis noch einmal auf die Sprünge zu helfen. Hinweis für Dozierende: Die nachfolgenden Übungsaufgaben eignen sich sehr gut zur Wissensabfrage im Rahmen von Zwischen- oder Abschlussprüfungen in den Bachelor- und Master-Modulprüfungen (Klausurfragen). Zudem können die prägnanten Sätze, die in diesem Kapitel noch einmal konzise die jeweiligen Kerngedanken der einzelnen Kapitel zusammenfassen, als Thesen für mündliche Prüfungen dienen, anhand derer das jeweilige Themenfeld aufgerollt werden kann. Im Anschluss an die Zusammenfassungen und Übungen für die Studierenden finden Sie eine Auflistung möglicher Themen für studentische Seminararbeiten (Haus- oder Examensarbeiten) oder für Essays, die Sie z. B. als Nachweis für Beteiligungsleistungen erstellen lassen können. 7.1 Repetitorien und Übungsaufgaben Repetitorium zu Kapitel 1: Was ist Sprache — und woher kommt sie? In der Hinführung zum Thema in Kapitel 1 haben wir den Gegenstandsbereich Sprache erstmals eingegrenzt und aus verschiedenen Richtungen beleuchtet. Dies so ausführlich zu tun, war notwendig, weil wir über die zahlreichen Perspektiven interessante Erkenntnisse gewinnen konnten, die uns später geholfen haben, Sprachwandel zu verstehen: Es standen die Fragen im Raum, was Sprache ihrem Wesen nach ist, wie Sprache entsteht und welche Akteure an Sprache beteiligt sind. Unsere Überlegungen aus diesem einführenden Kapitel lassen sich wie folgt zusammenfassen: ▶ Sprache und Denken hängen untrennbar zusammen: Denkwandel führt zu Sprachwandel (und umgekehrt). ▶ Es gibt historisch bedingte Verwandtschaften zwischen heutigen Einzelsprachen wegen der gemeinsamen Wurzeln einer indogermanischen Ursprache. <?page no="155"?> 155 7.1 Repetitorien und Übungsaufgaben ▶ Sprachen werden gemäß ihrer genetischen Verwandtschaft in Sprachfamilien gegliedert. ▶ Verwandte Sprachen weisen lexikalische und grammatische Gemeinsamkeiten auf. ▶ Sprachen verändern sich im Laufe der Zeit durch den Sprachgebrauch. Sprachwandel ist dabei die Folge sprachlichen Handelns. ▶ Die morphologische, lautliche, grammatische und / oder semantische Ausdifferenzierung von Sprachen ist und war immer das Resultat eines Sprachwandels. ▶ Sprachen sind über kollektive Wissensbestände identitätsstiftend, gruppenstabilisierend und zugleich ausschließend. ▶ Sprache ist als Institution des sozialen Lebens ein soziokulturelles Phänomen. Erklärungen des Sprachwandels müssen soziokulturelle Erklärungen sein. ▶ Zur Erklärung des Sprachwandels benötigt man einen hinreichenden Sprachbegriff. Übungsfragen und -aufgaben zu Kapitel 1: Was ist Sprache — und woher kommt sie? 1. Erklären Sie mit eigenen Worten, was unter der Sapir-Whorf-Hypothese zu verstehen ist! Inwiefern kann Sprachwandel das Denken beeinflussen? 2. Sehen Sie in einem englischsprachigen Wörterbuch nach und finden Sie fünf Begriffe, die aus Ihrer Sicht mit dem Deutschen verwandt sind! Worin erkennen Sie die Familienähnlichkeiten? 3. Nehmen Sie ein Blatt Papier, einen Stift und eine Stoppuhr zur Hand: Schreiben Sie innerhalb von zehn Minuten einen kurzen Essay mit der Überschrift „Was ist Sprache? “! 4. Was ist das Wesen der Sprache? Machen Sie Stichpunkte! 5. Was versteht man unter einer Bindestrich-Linguistik? Nennen Sie Beispiele! 6. Warum unterscheiden wir im Deutschen zwischen einem Eimer und einem Zuber? 7. Das deutsche Wort Keks ist eine Leihgabe aus dem Englischen. Kennen Sie ähnliche Wörter aus anderen Sprachen? Welche grammatische Veränderung hat der Sprachwandel bei diesen Wörtern bewirkt? 8. Beschreiben Sie die sprachhistorische Entwicklung der germanischen Sprachen aus dem Indogermanischen! Skizzieren Sie dabei auch die Verwandtschaftsbeziehungen! <?page no="156"?> 156 Repetitorium zu Kapitel 2: Was ist das Wesen der Sprache? Nachdem wir im ersten Kapitel einige sprachhistorische Erkenntnisse über unsere eigene Sprache und die ihr anverwandten Sprachen gewonnen haben und zudem sehen konnten, dass die Fragen nach dem Wesen und insbesondere nach der Funktion von Sprache nur beantwortet werden können, wenn man einen passenden Sprachbegriff wählt, ging es in Kapitel 2 darum, herauszufinden, welche Sprachauffassung (und davon gibt es noch weit mehr als die hier besprochenen) die richtige ist, um damit Sprachwandel erklären zu können. Unsere kognitionslinguistischen, sprachhistorischen und wissenschaftstheoretischen Überlegungen aus diesem Kapitel lassen sich folgendermaßen summieren: ▶ Sprachen sind keine Organismen. Sie leben nicht und sie sterben auch nicht. ▶ Sprache ist als Institution des sozialen Lebens ein soziokulturelles Phänomen. Erklärungen des Sprachwandels müssen soziokulturelle Erklärungen sein. ▶ Sprache dient nicht dem Abbild der Welt: Ein Wandel in der Welt führt nicht zwingend zum Wandel in der Sprache. ▶ Sprache ist ein mögliches Mittel zur Kommunikation, aber nicht das einzige. ▶ Sprachfähigkeit setzt Kommunikationsfähigkeit voraus. ▶ Sprache ist ein komplexes Zeichensystem mit einer eigenen Syntax. ▶ Sprachliche Zeichen besitzen eine lautliche und eine begriffliche Seite. ▶ Mithilfe sprachlicher Zeichen lässt sich kommunizieren. ▶ Durch die absichtsvolle Verwendung unterscheiden sich sprachliche Zeichen von Symptomen, die nicht der Kommunikation zugeschrieben werden können. ▶ Menschliche Sprache ist zeichenhaft, tierische Sprache beruht hingegen auf Symptomen. ▶ Sprachliche Zeichen erlangen ihre Zeichenhaftigkeit durch Konvention. ▶ Menschliche Sprache ist ein Netz aus sich überlagernden Konventionen. Sie ist dadurch dynamisch und trägt auf diese Weise das Potenzial zum Wandel in sich. ▶ Sprache ist ein Werkzeug (Organon) zur wechselseitigen Beeinflussung. ▶ Sprache ist ein sozial determiniertes Phänomen und entsteht als spontane Ordnung aus einem ungeordneten Chaos durch rationale Einzelentscheidungen. 7 Repetitorium und Übungen zum Sprachwandel <?page no="157"?> 157 7.1 Repetitorien und Übungsaufgaben Übungsfragen und -aufgaben zu Kapitel 2: Was ist das Wesen der Sprache? 1. Erklären Sie, was man unter einer organizistischen Sprachauffassung versteht! Begründen Sie, warum Sprache kein Organismus ist! Verwenden Sie dabei die Begriffe Organismus und Organon und grenzen Sie beide voneinander ab! 2. Was sind sprachliche Zeichen und wozu dienen sie uns? Formulieren Sie Ihre Gedanken dazu stichpunktartig innerhalb einer Minute (Stoppuhr)! 3. Was unterscheidet die Sprache des Menschen von tierischen Lauten? Erläutern Sie in diesem Zusammenhang bitte auch die Begriffe Symbol und Symptom! 4. Geben Sie in eigenen Worten das Märchen von Karlheinz, dem Affenmenschen wieder! Erklären Sie daran, welche Funktionen sprachliche Zeichen haben! 5. Was ist das Wesen der Sprache? Machen Sie Stichpunkte! 6. Skizzieren Sie das Organon-Modell nach Bühler! 7. Erläutern Sie das Zusammenwirken von sprachlichen Handlungsmaximen und Sprachwandel! 8. Was versteht man im Allgemeinen unter einer spontanen Ordnung und wie lässt sich dieses Konzept auf Sprache übertragen? Repetitorium zu Kapitel 3: Was ist Wandel? In Kapitel 3 haben wir den zweiten wichtigen Teilbegriff beleuchtet und uns sowohl mit dem Wandel im Allgemeinen als auch mit dem Wandel von soziokulturellen Entitäten, zu denen auch die Sprache gehört, näher beschäftigt. Neben den grundsätzlichen Prinzipien der Veränderung standen die beiden Fragen im Raum, welche Faktoren Sprachwandel auslösen können und welcher Prozess durchlaufen wird, wenn Sprachwandel stattfindet. Wir haben erkannt: Prinzipien der Übernahme neuer sprachlicher Varianten und der Verbreitung durch kollektive Benutzung nach individuellen Handlungszielen spielen beim Sprachwandel eine entscheidende Rolle. Zudem haben wir Überlegungen dazu angestellt, warum Sprachen sich beständig wandeln und warum es unmöglich ist, dass sich eine natürliche Sprache, die gesprochen und geschrieben wird, nicht verändert. Das Ithkuil als komplexe Kunstsprache konnte uns zeigen, dass Präzision und Exaktheit für eine Sprache, die den kommunikativen Anforderungen ihrer Sprachbenutzer genügen will, keine Kriterien für ihre Tauglichkeit sind. Im Gegenteil: Wir konnten feststellen, dass <?page no="158"?> 158 eine Sprache, die aufgrund ihrer Unvollkommenheit offen für Veränderungen ist, kommunikativ tauglicher ist. Wir wissen jetzt: Sprachwandel ist notwendig für das Funktionieren einer Sprache. Wir fassen die Ergebnisse aus diesem Kapitel noch einmal konzise zusammen: ▶ Gegenwärtiges ist immer Gewordenes aus Gewesenem. ▶ Wandel wird bestimmt durch die Parameter Zeitdifferenz, Vergleich und Identität. ▶ Kulturwandel, zu dem auch der Sprachwandel gehört, ist ein kontinuierlicher Prozess ohne fixen Anfangs- und Endpunkt (→ transitorische Phänomene). ▶ Kulturelle Wandelphänomene sind zwar immer Resultat menschlicher Handlung, aber nur selten Ergebnis menschlicher Planung. ▶ Handlungsmaximen und Handlungsmöglichkeiten sind entscheidend für Kulturwandel. ▶ Sprachwandel ist ein soziokulturelles Phänomen und wird entweder durch endogene Faktoren bestimmt oder er findet durch äußere Einflüsse statt (induzierter Wandel). ▶ Fortschritt, Invention, Adaption und Diffusion sind mögliche Einflussfaktoren auf den Kulturwandel. ▶ Sprachwandel kann auf allen Ebenen des Sprachsystems festgestellt werden. ▶ Sprachwandel kann aus einer synchronen und einer diachronen Perspektive betrachtet werden. ▶ Mögliche Faktoren für den Sprachwandel sind Ökonomie, Innovation, Variation oder Evolution. ▶ Sprachwandel folgt einem festgelegten Ablauf: Abweichungen im Sprachhandeln werden übernommen, verbreitet und später konventionalisiert. Abweichung und Konventionalisierung bilden die (transitorischen) Anfangs- und Endpunkte eines Sprachwandelprozesses. ▶ Systematische Fehler werden bei hoher Verbreitungsfrequenz im Laufe der Zeit oftmals zu neuen sprachlichen Regeln. ▶ Sprachen sind offen für Sprachwandel, wenn sie ein hohes Potenzial der Anpassung an sich verändernde kommunikative Nutzungsbedingungen besitzen. Formalisierte, exakte Sprachen wandeln sich entsprechend seltener, sie sind aber auch für menschliche Kommunikation wenig geeignet. 7 Repetitorium und Übungen zum Sprachwandel <?page no="159"?> 159 7.1 Repetitorien und Übungsaufgaben Übungsfragen und -aufgaben zu Kapitel 3: Was ist Wandel? 1. Erklären Sie den Unterschied zwischen dem Wandel einer Mode und dem Wandel der Jahreszeiten! 2. Finden Sie weitere Beispiele für Wandelphänomene, die durch menschliches Tun entstehen, die aber nicht beabsichtigt sind! Überlegen Sie, welche Ziele stattdessen verfolgt werden! 3. Machen Sie eine Liste: Welche Phänomene fallen Ihnen ein, die sich ohne menschliches Zutun wandeln? Finden Sie mindestens fünf Entitäten! 4. Beschreiben Sie mit eigenen Worten, was Sprachwandel ist und welche Prozesse er durchläuft! 5. Was sind mögliche Einflussfaktoren auf den Sprachwandel? Versuchen Sie, konkrete Beispiele für diese Faktoren zu finden! 6. Nehmen Sie eine Tageszeitung zur Hand: Markieren Sie auf einer beliebigen Seite alle Wörter oder Sätze, von denen Sie annehmen, dass hier ein Sprachwandel stattgefunden hat oder von denen Sie denken, dass es sich um einen systematischen Fehler handelt! 7. Versuchen Sie, zu rekonstruieren, wie das französische Wort Portemonnaie in die deutsche Sprache gekommen ist! Denken Sie dabei an die bekannten Sprachwandelfaktoren nach Polenz und skizzieren Sie den (vermuteten) Wandelprozess! 8. Was lernen wir aus dem Ithkuil über den Sprachwandel? Repetitorium zu Kapitel 4: Was sind die Prinzipien des Sprachwandels? In Kapitel 4 ging es um die Fragen nach dem Wie und dem Warum des Sprachwandels, also um die Fragen nach universellen Mechanismen, Prinzipien und Gesetzen. Auch wenn eine Festlegung insgesamt schwierig ist, kann man den Prozess des Sprachwandels zumindest für eine Vielzahl an Phänomenen durch das Wirken der unsichtbaren Hand erklären. Dieser Ansatz ist tauglich, weil er die Prozesse des Wandels vom Sprecher ausgehend an Handlungsmaximen und ökologische Rahmenbedingungen knüpft. Neben der Erklärung des Sprachwandels haben wir in Kapitel 4.2 universelle Prinzipien anhand dreier prominenter Sprach(-wandel-)gesetze kennengelernt, so dass wir jetzt die Fragen nach den Prinzipien anhand der besprochenen Konzepte beantworten können. Als Fazit können wir festhalten: <?page no="160"?> 160 ▶ Sprache ist weder ein Naturphänomen noch ein Artefakt, sondern ein Phänomen der dritten Art. ▶ Phänomene der dritten Art sind die nicht-intendierten Effekte intentionaler Einzelhandlungen. ▶ Phänomene der dritten Art entstehen als spontane Ordnungen. ▶ Spontane Ordnungen sind Quasi-Koordinationen. ▶ Spontane Ordnungen entstehen durch das Wirken der unsichtbaren Hand und sind damit nicht-intendierte Effekte intentionaler Einzelhandlungen von Sprachbenutzern. ▶ In einem invisible-hand-Prozess kumulieren die Einzelhandlungen der Sprecher, was zu makrostrukturellen Veränderungen (Sprachwandel) führt. ▶ Sprecher passen ihre Sprache unbewusst durch den Gebrauch an ihre jeweiligen Bedürfnisse an. Dabei spielen gesellschaftliche, politische, soziale, materielle oder kulturelle Rahmenbedingungen (z. B. Sprachkontakt) eine entscheidende Rolle (→ ökologische Rahmenbedingungen). ▶ Lexikalisch-morphologischer Sprachwandel kann als ein zirkulärer Kreislauf beschrieben werden, der in erster Linie auf sprachökonomischen Prinzipien basiert (Lüdtkes universelles Sprachwandelgesetz). ▶ Kurze Wörter werden häufiger verwendet als lange, wobei hochfrequente Wörter insgesamt wandelanfälliger sind (Köhlers Regelkreis). ▶ Sprachwandel kann vollständig, unvollständig, reversibel oder irreversibel ablaufen. ▶ Das Piotrowski-Gesetz hilft dabei, Sprachwandelvorgänge und -verläufe nach statistischen Wahrscheinlichkeiten zu modellieren (Heuristik). Es macht eine verlässliche Aussage über den quantitativen Verlauf der Ausbreitung sprachlicher Neuerungen. Abweichungen sind selten. Übungsfragen und -aufgaben zu Kapitel 4: Was sind die Prinzipien des Sprachwandels? 1. Erklären Sie mit eigenen Worten, was man unter der Dichotomie Naturphänomen vs. Artefakt versteht und begründen Sie, warum diese Sichtweise für Sprache falsch ist! 2. Sprache ist ein Phänomen der dritten Art. Überlegen Sie sich Beispiele für ähnliche Phänomene und erklären Sie daran, was damit gemeint ist! 7 Repetitorium und Übungen zum Sprachwandel <?page no="161"?> 161 7.1 Repetitorien und Übungsaufgaben 3. Inwiefern kann die invisible-hand-Theorie Sprachwandel erklären? Beschreiben Sie den invisible-hand-Prozess und nennen Sie die Beteiligten sowie die Elemente! 4. Beschreiben Sie anhand von Lüdtkes Sprachwandelgesetz, warum eine Wendung wie son Ding in der deutschen Umgangssprache verbreitet ist! Wird sich son / sone durchsetzen? Begründen Sie Ihre Meinung! 5. Nehmen Sie eine Tageszeitung zur Hand und markieren Sie alle kurzen Substantive, Adjektive und Verben in einem beliebigen Artikel! Was fällt Ihnen auf (z. B. Häufigkeit, Ein- oder Mehrdeutigkeit)? 6. Markieren Sie in demselben Text Wörter, von denen Sie intuitiv glauben, dass es sich um Innovationen oder um abweichenden Wortgebrauch handelt! Sind es eher kurze oder eher lange Wörter? Können Sie Köhlers Regelkreis bestätigen? 7. Sagen Sie es in einem Satz: Was ist das Piotrowski-Gesetz? 8. Nehmen Sie eine Einführung in die Sprachwissenschaft zur Hand! Welche anderen Erklärungsmodelle für Sprachwandel werden dort angeboten? Machen Sie sich ein Bild! Repetitorium zu Kapitel 5: Was sind die Ursachen des Sprachwandels? Wir haben uns in Kapitel 5 mit den Ursachen des Sprachwandels im Allgemeinen beschäftigt, ohne einzelsprachliche Besonderheiten, die es sicher gibt, genauer zu betrachten. Vielmehr ging es um die Bedingungen, unter denen Sprachwandel überhaupt stattfinden kann. Wir haben also nach den Motiven gesucht, wegen derer Sprecher ihr Handeln modifizieren und wir konnten dabei eine Vielzahl von Beweggründen identifizieren. Ursächlich für den Sprachwandel sind diese Motive freilich nicht-- auch das ist eine wesentliche Erkenntnis, die wir gewinnen konnten. Als Ursache des Sprachwandels lässt sich das sozial, kognitiv, biologisch oder durch menschliche Kreativität determinierte Handeln Einzelner in der Verbreitung durch Viele bezeichnen. Wir halten fest: ▶ Systematische Regelverletzungen führen unter bestimmten Umständen zu Regelbildungen und damit zum Sprachwandel als Veränderung der kognitiven Wissensstrukturen der Sprecher. ▶ Sprachwandel zeigt sich in der Veränderung von Einzelelementen bei weitgehender Konstanz des Gesamtsystems. <?page no="162"?> 162 ▶ Die Bedingungen des Sprachwandels dürfen nicht mit den Ursachen gleichgesetzt werden. Bedingungen (oder Motive) sind die ökologischen Rahmenbedingungen für einen invisible-hand-Prozess als Ursache des Sprachwandels. ▶ Sprachbenutzung führt zum Sprachwandel. ▶ Sprachwandel ist ein soziales, kognitives, biologisch-physiologisches und / oder kreatives Phänomen, das sich im Sprachhandeln manifestiert. ▶ Die Bedingungen des Sprachwandels sind allein nicht hinreichend für Sprachwandel, wohl aber notwendig. ▶ Sprachwandel kann Kulturwandel widerspiegeln, Kulturwandel ist aber weder notwendig noch hinreichend für Sprachwandel. ▶ Sprachkontakt ist einer der wesentlichen Faktoren für Sprachwandel. ▶ Die wichtigsten kognitiven Mechanismen für Sprachwandel sind Metapher, Metonymie, Reanalyse und Regelübertragungen / -erweiterungen. ▶ Sprachliche Ökonomie und das Streben danach sind sowohl wichtige soziale als auch entscheidende biologische Bedingungen für Sprachwandel. ▶ Eine bewusste Einflussnahme auf die Sprache durch Spracharbeit ist immer dann nachhaltig mit einem Sprachwandel verbunden, wenn sie eine hohe Akzeptanz bei den Sprechern findet. ▶ Sprachwandel durch menschliche Kreativität ist möglich durch die Unvollkommenheit der Sprache. Diese Unvollkommenheit im Sinne einer Offenheit des Systems ist wiederum die Voraussetzung für kreative Spracharbeit. ▶ Bei den Einflussfaktoren auf den Sprachwandel kann man zwischen internen und externen unterscheiden. Differenziert wird dabei zwischen außersprachlichen Einflüssen auf das Sprachsystem und innersprachlichen Einflüssen durch das Sprachsystem (und die Beteiligten) selbst. Übungsfragen und -aufgaben zu Kapitel 5: Was sind die Ursachen des Sprachwandels? 1. Erklären Sie, warum es streng genommen falsch ist, von Ursachen des Sprachwandels zu sprechen! Welche Begriffe eignen sich besser-- und warum? 2. Was ist eine Pidginsprache? Wie wird daraus eine Kreolsprache? 3. Nehmen Sie ein etymologisches Wörterbuch zur Hand: Durchsuchen Sie das Buch einmal nach erfolgreichen Eindeutschungen! 4. Erläutern Sie anhand von Beispielen den Unterschied zwischen externem und internem Sprachwandel! 7 Repetitorium und Übungen zum Sprachwandel <?page no="163"?> 163 7.1 Repetitorien und Übungsaufgaben 5. Was hat es mit dem Ökonomieprinzip auf sich? Nennen Sie zwei Beispiele, die zeigen, inwiefern Sprachwandel an dieses Prinzip geknüpft ist! 6. Sehen Sie sich Tabelle 7 noch einmal an: Erklären Sie mit eigenen Worten, was sich hinter den genannten kognitiven Bedingungen verbirgt! 7. Finden Sie fünf aktuelle Beispiele aus der Werbung oder Politik für kreative Phänomene des Sprachwandels! Sehen Sie dazu in einer Tageszeitung nach! Repetitorium zu Kapitel 6: Was sind die Folgen des Sprachwandels? Das diesen ersten und allgemeinen Teil der Einführung abschließende sechste Kapitel untersuchte die Folgen des Sprachwandels- - Folgen verstanden als makroskopische Systemveränderungen. Damit verbunden war ein Blick auf bereits abgeschlossene und gegenwärtige Sprachwandelprozesse und die mit ihnen einhergehenden Veränderungen. Wir haben erkennen können: Sprachwandel betrifft das gesamte Sprachsystem, aber auch Subsysteme, die für unser Kommunizieren wichtig sind. Beispielsweise der aufgezeigte Wandel außersprachlicher Zeichen, die ebenfalls der Interpretation unterzogen werden und die damit-- wie Sprache im engeren Sinn auch-- zielgerichtet sind und also sich wandelnden Handlungsmaximen folgen, verdeutlichte diese Zusammenhänge. Einige zentrale Gedanken aus diesem Kapitel werden im Folgenden wiederholt: ▶ Sprachwandel hat weder einen fixen Anfangsnoch einen Endpunkt, sondern ist ein stetig fortschreitender Prozess. ▶ Sprachwandel zeigt sich aus der zeitlichen Ferne, findet aber jederzeit statt. ▶ In der Folge des Sprachwandels verstetigen sich ehemalige sprachliche Fehler und werden zu neuen Konventionen. ▶ Wesentlichen Einfluss auf die Verstetigung und den Prozess der Konventionalisierung haben gegenwärtig die Medien mit ihren Verbreitungsmöglichkeiten. ▶ Gegenwärtig können viele sprachliche Abweichungen (Wortspiele etc.) als temporäre Sprachwandeleffekte klassifiziert werden, deren Konventionalisierung fraglich ist. ▶ Sprachwandel beginnt als Veränderung von Einzelelementen und bringt über einen längeren Zeitraum eine Veränderung des Gesamtsystems. Dies erkennt man in der Synopse unterschiedlicher Sprachstufen, die immer nur Momentaufnahmen einer fortschreitenden Entwicklung sind. <?page no="164"?> 164 ▶ In der Folge des Sprachwandels werden Sprachen eher reicher als ärmer. Lediglich ein Schwund grammatischer Komplexität ist feststellbar, für die es sprachsystemimmanente Ausgleichsmechanismen gibt. ▶ Die Ausdifferenzierung der Sprache durch Sprachwandel ist eine historische Folge steigender Anforderungen an Sprache als Kommunikationsmittel infolge ihrer zunehmenden mündlichen und schriftlichen Verwendung. ▶ Sprachwandel macht bzw. hält Sprachen tauglich für die jeweiligen kommunikativen Anforderungen an sie und ist damit für das Funktionieren von Sprache notwendig. ▶ Sprachwandel ist ein rein funktionaler Prozess-- und damit evaluativ nicht zu fassen. Er ist weder gut noch schlecht. ▶ Fremdworteinflüsse wirken sprachstabilisierend und unterliegen selbstregulativen Prozessen: Fremdwörter kommen und gehen und sie sind kein neues Phänomen. ▶ Chat-Sprache erweitert das sprachliche Repertoire der Benutzer einer Sprache; sie folgt eigenen Konventionen und wirkt sich positiv als Bereicherung auf das Gesamtsystem aus, ohne es zu schwächen. ▶ Sprache wandelt sich, aber sie verfällt nicht. Sprachwandel ist eine notwendige Bedingung für die ‚Lebendigkeit‘ einer Sprache. ▶ Sprachwandel lässt sich nicht im streng wissenschaftlichen Sinn vorhersagen; gewisse Trends sind jedoch plausibel. Übungsfragen und -aufgaben zu Kapitel 6: Was sind die Folgen des Sprachwandels? 1. Suchen Sie in einer Bibliothek oder online einmal nach einer mindestens 100 Jahre alten Ausgabe von Goethes Dichtung und Wahrheit! Kopieren Sie einige Seiten und unterstreichen Sie dann alle Wörter, die Sie nicht kennen und solche, deren Schreibweise sich verändert hat! Markieren Sie auch auffällige syntaktische Besonderheiten! Ordnen Sie dann die Auffälligkeiten den Ebenen aus Tabelle 9 zu! 2. Wiederholen Sie das Experiment aus 1. anhand eines mittelhochdeutschen Textes (z. B. mit Hilfe einer Ausgabe des Nibelungenliedes Mittelhochdeutsch / Neuhochdeutsch)! 3. Achten Sie einmal auf sprachliche Besonderheiten bei Ihrer eigenen Chat- und Online-Kommunikation! Was fällt Ihnen auf ? Halten Sie Ihre Beobachtungen schriftlich fest! 7 Repetitorium und Übungen zum Sprachwandel <?page no="165"?> 165 7.2 Arbeitshilfe für Dozierende I: Fragenpool für Modulprüfungen 4. Sie brauchen für die folgende Übung eine/ n Partner/ in: Diskutieren Sie mit verteilten Rollen die Pro- und Contra-Argumente zum Thema „Sprachwandel oder Sprachverfall? “! 5. Begründungsaufgabe: Sind Anglizismen eine Gefahr für die europäischen Sprachen? Schlagen Sie für Ihre Begründung in einschlägigen Wörterbüchern die Herkunft der Begriffe imponieren, marschieren, pausieren, reparieren, rezitieren und sortieren nach! 6. Suchen Sie in aktuellen Zeitungen nach Phänomenen, von denen Sie a) glauben, dass sie Folgen des Sprachwandels sind und solche, von denen Sie b) vermuten, dass es sich um aktuellen Sprachwandel handelt! Erstellen Sie eine Liste mit jeweils mindestens zehn Entdeckungen für Kategorie a) und Kategorie b)! 7. Geben Sie die Ebenen des Sprachwandels aus Abbildung 14 wieder und versuchen Sie, zu jeder Ebene mindestens ein Beispiel zu finden! Sie werden fündig in den einschlägigen Sprachgeschichten. 8. Kann man Sprachwandel aufhalten? Argumentieren Sie! 7.2 Arbeitshilfe für Dozierende I: Fragenpool für Modulprüfungen Hinweis für Dozierende: Nachfolgend stelle ich Ihnen einen Pool mit Fragen zur Verfügung, der Ihnen Anregungen für Ihre Zwischen- oder Abschlussklausuren gibt. Für eine 90-minütige Klausur empfiehlt es sich, nicht mehr als fünf frei zu beantwortende Fragen zu formulieren. Jede Klausurfrage in diesem Pool wurde im Rahmen von Bachelorseminaren auf Machbarkeit erprobt (z. B. keine Kettenfragen). Tipp: Erstellen Sie eine schriftliche Musterlösung, anhand derer Sie auch Überlegungen zur Punkteverteilung anstellen. Wählen Sie die Fragen so aus, dass sie zu Stoff und Schwerpunktsetzung Ihrer Veranstaltung passen. Die Fragen können einzelsprachlich modifiziert werden. 1. Beschreiben Sie den Einfluss des Sprechers auf den Prozess des Sprachwandels! 2. Welche Ursachen hat der Sprachwandel? 3. Erläutern Sie anhand von Beispielen die Folgen des Sprachwandels! <?page no="166"?> 166 4. Skizzieren Sie die sprachhistorische Entwicklung des Deutschen in der Zeit von-… bis-…! 5. Erklären Sie die beiden Begriffe Synchronie und Diachronie! 6. Was ist das Piotrowski-Gesetz? Erklären Sie dessen Grundprinzip und seinen Nutzen für die Sprachwandelforschung! 7. Skizzieren Sie in Grundzügen die sogenannte invisible-hand-Theorie! 8. Beschreiben Sie Lüdtkes Sprachwandelgesetz! Warum ist es ein universelles Sprachwandelgesetz? 9. Erläutern Sie anhand von Beispielen den Lehnworteinfluss auf das Sprachsystem! 10. Skizzieren Sie anhand von Beispielen den lexikalischen Wandel im Deutschen (Französischen, Englischen etc.)! 11. Skizzieren Sie anhand von Beispielen den grammatischen Wandel im Deutschen (Französischen, Englischen etc.)! 12. Skizzieren Sie anhand von Beispielen den lautlichen Wandel im Deutschen (Französischen, Englischen etc.)! 13. Welchen Einfluss haben Pidgin- und Kreolsprachen auf die Veränderung einer Sprache? 14. Welche Sprachveränderungen ergeben sich durch die Chat-Kommunikation und die Sprache der sozialen Netzwerke? 15. Begründen Sie: Gibt es sprachliche Fehler oder ist alles Sprachwandel? 16. Stellen Sie sprachpflegerische Argumente dar, die gegenwärtig gegen die Verwendung von Anglizismen angeführt werden! Nehmen Sie kritisch Stellung! 17. Erläutern Sie, in welchen gesellschaftlichen Kontexten und aus welchen Gründen sich Sprache in mündlicher und schriftlicher Kommunikation verändert! 18. Skizzieren Sie den Einfluss der Medien auf den Sprachwandel! 19. Welche Faktoren (Einflussfaktoren) bestimmen den Sprachwandel? 20. Benennen Sie die Sprachwandelfaktoren nach Polenz und erklären, Sie was sich dahinter verbirgt! 7 Repetitorium und Übungen zum Sprachwandel <?page no="167"?> 167 7.3 Arbeitshilfe für Dozierende II: Seminararbeitsthemen 7.3 Arbeitshilfe für Dozierende II : Seminararbeitsthemen Hinweis für Dozierende: An dieser Stelle möchte ich Ihnen Seminar- oder Examensarbeitsthemen zur Verfügung stellen, die sich als brauchbar erwiesen haben. Zugleich können die Themen auch Impulse für Referate oder Essays im Rahmen der Seminararbeit setzen. Die Themen können einzelsprachlich angepasst werden. 1. Sprachwandel gestern und heute: Eine sprachhistorische Spurensuche. 2. Ist die Sprache vom Verfall bedroht? Ein Plädoyer für eine wertneutrale Sprachbetrachtung. 3. Der Sprachwandel als Spiegel des Kulturwandels. Eine Untersuchung der Ursachen des allgemeinen Sprachwandels. 4. Rudi Kellers invisible-hand-Theorie: Zum Modell der Erklärung mittels der unsichtbaren Hand in der Sprachwandelforschung. 5. Sprachwandel in den europäischen Sprachen der Gegenwart. Eine kontrastive Betrachtung. 6. Sprachwandel im Gegenwartsdeutschen. Eine korpuslinguistische Analyse ausgewählter Wandelphänomene. 7. Wie und wozu Sprachwandel? Eine Betrachtung der Prinzipien und Folgen des Sprachwandels. 8. Gibt es Regeln für den Sprachwandel? Eine kritische Würdigung der sogenannten Sprachwandelgesetze. 9. Grammatischer (lexikalischer usw.) Wandel im Deutschen. Eine Darstellung historischer Sprachveränderungen am Beispiel des Mittel- und Neuhochdeutschen. 10. Grammatischer Fehler oder abweichender Wortgebrauch. Zum Umgang mit Grammatikfehlern im Schulunterricht. (mit eigener argumentativer Stellungnahme) 11. Wie entstehen und verändern sich Sprachen? Gedanken zum Phänomen des Sprachwandels. 12. Ist Sprachwandel ein historisches Phänomen? Versuch einer Grenzziehung zwischen Synchronie und Diachronie. <?page no="168"?> 168 13. Sprachwandel durch Facebook & Co.? Zum Einfluss neuer Medien auf das Sprachsystem. 14. Sprachbereicherung oder Sprachverfall? Zur historischen Entwicklung der Lehnwörter im deutschen Lexikon. 15. Neuheit, Faulheit oder Kreativität? Zum Einfluss von Handlungsmaximen auf den Sprachwandel. 7 Repetitorium und Übungen zum Sprachwandel <?page no="169"?> 169 II Bedeutungswandel Was ein Wort bedeutet, kann ein Satz nicht sagen. Ludwig Wittgenstein (1889-1951) <?page no="171"?> 171 7.3 Arbeitshilfe für Dozierende II: Seminararbeitsthemen 8 Was ist die Bedeutung eines Wortes? Die Bedeutung eines Wortes ist sein Gebrauch in der Sprache. Ludwig Wittgenstein (1889-1951) Ziele und Warm-up Eine möglichst exakte Bestimmung des Untersuchungsgegenstandes — wie auch im ersten Teil dieser Einführung — wird uns auch hier wieder Antworten und Erklärungen liefern. Was Wandel im Allgemeinen ist, das wissen wir aus Kapitel 2. Was die Bedeutung eines Wortes hingegen ist, das müssen wir im Folgenden erst einmal beleuchten. Sie werden sehen: So einfach, wie die Frage zunächst klingt, ist sie nicht zu beantworten. Die Bedeutung von Bedeutung im Kontext sprachlichen Wandels ist in der Vergangenheit viel diskutiert worden — und es beherrschen noch heute unterschiedliche Positionen die Linguistik. Die einen meinen, Bedeutungen seien an Dinge in der Welt geknüpft. Andere sagen, es handele sich bei Bedeutungen um mentale Konzepte. Wieder andere vertreten die Ansicht, es gäbe so etwas wie semantische Merkmale, anhand derer man die Bedeutung eines Wortes festlegen kann. Manche Linguisten glauben, komplexe Wissensrahmen (sogenannte Frames) könnten Bedeutungen definieren, weil sich Einzelbedeutungen in der Relation zu anderen Bedeutungen als Bedeutungsnetzwerke ausformen. Und Sprachwissenschaftler in der Tradition L UDWIG W ITTGENSTEIN s gehen davon aus, dass Bedeutungen etwas mit dem Wortgebrauch zu tun haben (so auch der Verfasser dieser Einführung). Viele Positionen, insbesondere die Frame-Theorie, sind modern und richtig, andere hingegen gelten als überholt. Manche Theorien gilt es zur Erklärung des Bedeutungswandels sinnvoll zusammenzuführen. Denn: Für sich betrachtet, kann es keine der erwähnten Theorien allein leisten, Bedeutungswandel zu erklären. In diesem Kapitel werden wir also zunächst einen hinreichenden Bedeutungsbegriff herausarbeiten, der uns bei der Erklärung des Bedeutungswandels helfen wird. Zuvor aber: Was denken Sie denn über die Bedeutung von Bedeutung? <?page no="172"?> 172 8 Was ist die Bedeutung eines Wortes? ▶ Was ist die Bedeutung eines Wortes? ▶ Wie erklären Sie jemandem, der unsere Sprache nicht spricht, was das Wort Mehrfachsteckdose bedeutet? ▶ Was bedeutet Bedeutung? ▶ Ist die Bedeutung des Wortes Urlaub ein Ding in der Welt? Welches? Bedeutet Urlaub für Sie dasselbe wie für mich? Falls nicht, warum können wir uns dennoch verstehen? ▶ Welche Bedeutung hat Weihnachten für Sie — und was bedeutet dieses Wort? ▶ Was bedeutet der Satz Ich lese heute nicht? Kennen Sie die Bedeutungen der Wörter in diesem Satz? Wenn ja, warum verstehen Sie den Satz dann nicht? 8.1 Was ist das Besondere am Bedeutungswandel? Diesem ersten Kapitel möchte ich einige Bemerkungen zur Erklärung voranschicken, warum für den Bedeutungswandel ein eigener-- wenn auch kleinerer-- Teil in dieser Einführung in die Grundprinzipien des Sprachwandels reserviert ist. Beim Bedeutungswandel handelt es sich um einen Sonderfall des Sprachwandels, der eigenen Prinzipien und Erklärungsmustern folgt. Zwar gelten die Bedingungen, die zuvor für den allgemeinen Sprachwandel identifiziert werden konnten, auch für den Bedeutungswandel. Jedoch entsteht semantischer Wandel nicht dadurch, dass jemand unabsichtlich einen sprachlichen Fehler macht- - anders als auf syntaktischer, grammatischer, graphematischer und auf morphologischer Ebene, auf denen Sprachwandel durch eine frequente und systematisch falsche Verwendung von Sprache ausgelöst wird. Hier gilt: Nicht Fehler führen zum Bedeutungswandel, sondern regelkonforme Verwendungsweisen. Einen semantischen Fehler zu begehen, also ein Wort in seiner Bedeutung falsch zu verwenden, würde nie zum Sprachwandel, sondern immer zu Missverständnissen führen. Die Hypermaxime sprachlichen Handelns, die wir einige Seiten zuvor im ersten Teil kennengelernt haben, lässt semantische Fehler im Grunde nicht zu. Im Gegenteil: Nicht dadurch, dass viele Menschen ein Wort falsch benutzen, verändert sich dessen Bedeutung, sondern allein dadurch, dass viele Menschen einem Wort eine neue Bedeutung durch Spezialverwendung geben. Das hat etwas mit dem Sinn einer Äußerung zu tun: Zu wissen, was ein Wort bedeutet, heißt zu wissen, wie man es in einer bestimmten Situation sinnvoll ver- <?page no="173"?> 173 8.1 Was ist das Besondere am Bedeutungswandel? wendet. Dazu ein Beispiel: Wenn Sie auf einen Baum zeigen und dazu Hase sagen, wird man Sie nicht verstehen. Zeigt Horst Schlämmer jedoch auf eine hübsche Frau, wird Hase als Ausdruck seiner positiven Bewertung vermutlich verstanden. Warum ist das so? Wie konnte Hase diese Nebenbedeutung annehmen und heute auf hübsche Frauen bezogen werden, nicht jedoch auf Bäume? Wenn Sie von einem geilen Moped sprechen, wird vermutlich niemand geil sexuell interpretieren, obwohl das Wort ursprünglich genau diese Bedeutung trug (und in anderen Kontexten noch immer trägt), sondern lediglich als Ausdruck von Emphase. Kontextabhängige Neben- oder Neubedeutungen entstehen durch Bedeutungswandel. Und wie genau das passiert, wollen wir in den folgenden Kapiteln beleuchten. Ist Bedeutungswandel systematisch zu erklären? Gibt es feste Regeln oder zumindest Tendenzen, nach denen sich Bedeutungen von Wörtern ändern? Falls ja, sind sie als universale Regularitäten zu begreifen oder lassen sie sich nur auf einen eng umgrenzten Wortschatzbereich beziehen? Und welche Motive liegen diesem Wandel von Seiten des Sprachbenutzers zugrunde? Welche Prozesse sind es, die sich auf der Strukturebene der Wortbedeutung abspielen, die zum semantischen Wandel führen? Bis in die 1980er-Jahre hinein und stellenweise noch bis heute werden diese Fragen wie folgt beantwortet: Historisch-semantische Prozesse entzögen sich der systematischen Beschreibbarkeit, sie folgten keinem regelmäßigen Verlauf und sie seien daher nicht erklärbar. Hartnäckig hält sich die Auffassung, Bedeutungswandel entziehe sich der konkreten Systematisierung, da pragmatische und historisch-semantische Prinzipien unvereinbar nebeneinander stünden. Diese Vorstellung beschreibt einen Denkansatz, der aus einer vorstrukturalistischen, diachronen Tradition der historischen Semantik stammt (vgl. dazu u. a. Blank 2001b: 1 324 ff. oder Busse 2001: 1306 ff.). Woher kommt eine solche Vorstellung? Nun, semantische Entwicklungen verlaufen auf den ersten Blick nicht so systematisch oder stringent wie der Wandel in anderen Bereichen (etwa in der Phonologie oder Morphologie). Dennoch finden sich in der Forschung vereinzelt Hinweise darauf, dass auch in der Semantik Regularitäten des Wandels zu entdecken sind. Bis heute ist vielfach dargelegt, dass Sprachwandel nicht nur im Bereich der Morphosyntax und Phonologie, sondern durchaus auch auf der semantischen Ebene systematische Züge aufweist. Allerdings unterscheidet sich semantischer Wandel grundlegend von z. B. phonologischem Wandel darin, „dass er zwar kein unmotivierter, nicht-systematisierbarer Prozess ist, aber auch nicht den Lautwandelgesetzen vergleichbaren strengen Gesetzmäßigkeiten unterliegt“ (Kutscher 2009: 73). Eine Festlegung <?page no="174"?> 174 8 Was ist die Bedeutung eines Wortes? allgemeiner Prinzipien für lautlichen oder morphologischen Wandel findet man in der Forschung entsprechend häufig, wie wir anhand von Lüdtkes Sprachwandelgesetz in Kapitel 4.2.1 bereits feststellen konnten. Die Übertragung solcher Gesetzmäßigkeiten aus anderen Bereichen des Sprachwandels auf den Bedeutungswandel ist in der Tat problematisch und bislang nicht gelungen. Als Sonderfall des Sprachwandels folgt der Bedeutungswandel anderen Mustern, die sich nicht als allgemeines Gesetz, sondern eher als Tendenzen erfassen lassen. Das ist der Grund, warum wir diesem Wandeltypus einen eigenen Teil in dieser Einführung widmen müssen. Der Romanist Andreas Blank fasst die Forschungstradition der historischen Semantik so zusammen: „Das Hauptaugenmerk der Semantik dieser Epoche [des 19. und 20. Jahrhunderts, S. B.] richtete sich auf die Klassifikation der verschiedenen Verfahren des Bedeutungswandels nach rhetorischen und / oder psychologischen Kriterien. Ihren vorläufigen Abschluss fand diese Richtung im Werk Stephen Ullmanns- […]“ (Blank 2001a: 69). Rudi Keller hat 2006 sehr treffend den Nutzen und die Wichtigkeit einer systematischen Betrachtung des Phänomens Bedeutungswandel formuliert: Bedeutungswandel vollzieht sich zwar nicht mit der Konsequenz wie dies beim Lautwandel der Fall war und vielleicht noch ist, aber er vollzieht sich durchaus in ,geordneten’ Bahnen.-[…] Wir können im Einzelfall die Pfade, auf denen sich ein Bedeutungswandel vollzieht, zwar nicht prognostizieren, aber wir sind (bisweilen) durchaus in der Lage, sie im Nachhinein diagnostisch zu rekonstruieren und damit einen Baustein zum Verständnis unserer Sprache sowie der Prinzipien und Prozesse unseres Kommunizierens beizutragen. (Keller 2006b: 356) Auch Dietrich Busse hat recht, wenn er verlangt, dass „[e]ine Integration von pragmatischen und (Saussure-textkritisch reformulierten) zeichentheoretischen Positionen-[…] durchaus als Leitidee am Horizont stehen [sollte]“ (Busse 1986: 51). Trotz dieser eindringlichen Forderung findet man bislang nur wenige Versuche, sich dem Bedeutungswandel auf pragmatisch-systematische Weise zu nähern. Vielmehr beherrschen bis heute Schriften die linguistische Forschung, die auf der von Stephen Ullmann begründeten zeichen- und sprachtheoretischen Erforschung des Phänomenbereichs der 1950er- und 1960er-Jahre basieren und die sich in erster Linie mit den Similaritäts- oder Kontiguitätsassoziationen beim Bedeutungswandel befassen. So findet man-- sowohl in den Einführungswerken als auch in den vertiefenden Arbeiten zum Bedeutungswandel-- in erster Linie <?page no="175"?> 175 8.1 Was ist das Besondere am Bedeutungswandel? Beschreibungen der etablierten traditionellen rhetorischen Verfahren Metapher, Metonymie und Ellipse oder der logisch-quantitativen Verfahren wie Bedeutungsverengung und -erweiterung bzw. der qualitativen Wertungen wie Bedeutungsverbesserung oder -verschlechterung. Darüber hinaus spielen Faktoren der semantischen Relationen in Folge eines Bedeutungswandels eine wesentliche Rolle (Polysemie, Homonymie). Auch in dieser Einführung werden wir uns mit diesen Aspekten beschäftigen, wenn auch stets unter dem Blickwinkel der Handlungsorientierung, wie wir sie für Sprachwandel im Allgemeinen im ersten Teil dieses Buches als wesentlich erkannt haben. Eine moderne Bedeutungswandelforschung muss zwei Dimensionen zwingend miteinander verknüpfen: die Dimension der pragmatischen Strategie mit der Dimension des semantischen Mechanismus. Über diesen verbindenden Ansatz lässt sich semantischer Wandel plausibel und nachvollziehbar erklären, denn jeder Sprecher verfolgt individuelle kommunikative Ziele. Der Wortgebrauch zum Erreichen des kommunikativen Ziels ist dabei das pragmatische Mittel, das der Sprecher intentional (oder später auch usuell) nutzt. Die semantischen Verfahren, die ein Sprecher anwendet (z. B. Metapher), oder die für ihn selbst im Verborgenen ablaufenden Effekte (z. B. Bedeutungsverengung), wenn er ein Wort in abweichender Weise gebraucht, lassen allein keinen Rückschluss auf den Zweck der Neu-Nutzung zu. Sie stellen vielmehr einen semantischen Reflex dar, der lediglich beschreibbar ist. Nun stellt sich die Frage, über welchen Bedeutungsbegriff wir überhaupt diskutieren sollten, um die Prinzipien des Bedeutungswandels durchschauen zu können. Bedeutungswandel ist mit dem Blick auf plausible Erklärungsmuster entscheidend an das ,richtige’, d.- h. einer erklärenden Theorie zuträgliche, Verständnis des Bedeutungsbegriffs gekoppelt. Wir müssen also zunächst einen hinreichenden Bedeutungsbegriff entwickeln, den wir mit der im ersten Teil dieser Einführung skizzierten Theorie zum Sprachwandel im Allgemeinen verknüpfen können, um Bedeutungswandel handlungstheoretisch zu ergründen. Denn: Auch Bedeutungswandel folgt stets einem invisible-hand-Prozess und ist damit ein Phänomen der dritten Art. Wenn man Wörter als komplexe sprachliche Zeichen begreift, gibt es zunächst zwei grundlegend verschiedene Aspekte, die man voneinander unterscheiden <?page no="176"?> 176 8 Was ist die Bedeutung eines Wortes? muss: zum einen den Ausdruck und zum anderen die Bedeutung eines Wortes. Beide Dimensionen spielen für die Herleitung eines adäquaten Bedeutungsbegriffs eine zentrale Rolle. Man kann sich beispielsweise die Frage stellen, warum ein Regenwurm Regenwurm heißt und nicht etwa Elefant. Dass ein Regenwurm etwas kategorial sehr anderes ist als ein Elefant (auch wenn beides Tiere sind), spielt dabei zunächst keine Rolle. Die Frage lautet: Warum ist die Anordnung der Buchstaben in diesem Fall so gewählt und nicht ganz anders? Dasselbe gilt für die artikulatorische Realisierung der Phoneme, die dieses Wort ausbildet. Die Antwort ist: Weil es kraft Konvention von der Sprachgemeinschaft so festgelegt worden ist. Die spezifische Reihenfolge von Buchstaben ergibt auf diesem konventionellen Weg ein sprachliches Zeichen, welches sich als Wort sprachsystematisch realisieren lässt. Die konkrete Abfolge von Buchstaben dient also dazu, einer Entität ein Zeichen zu geben. Über die bestimmte Buchstabenreihung R-e-g-e-n-w-u-r-m erhält der Regenwurm seinen Ausdruck. Die zweite Frage, die man sich stellen kann, ist: Was bedeutet ein komplexes sprachliches Zeichen? Wenn ich als Leser ohne Französischkenntnisse einen französischen Text vorgelegt bekomme, erkenne ich eine Vielzahl von Buchstabenfolgen, die ich als Wörter interpretieren und die ich vielleicht lautlich artikulieren kann, deren Bedeutungen ich aber nicht kenne (beim Chinesischen wäre mir das Erkennen der Wörter aufgrund des unbekannten Schriftsystems hingegen nicht möglich). Wenn ich die Buchstabenfolge eines dieser komplexen, aber unbekannten Zeichen (hier: Wörter) lesen kann, kenne ich zwar den Ausdruck des Wortes, nicht aber dessen Bedeutung. Ich würde mich also fragen, was dieser sprachliche Ausdruck bedeutet und würde damit wissen wollen, wie sich der Ausdruck zur außersprachlichen Wirklichkeit verhält und wie ich ihn interpretieren soll. Wenn man sich nun aber diese Frage nach der Bedeutung eines sprachlichen Zeichens stellt, gerät man sehr schnell an kognitive und sprachsystemimmanente Grenzen, weil z. B. die „Bedeutung des deutschen Wortes Bedeutung- […] nicht so präzise festgelegt [ist], dass es möglich wäre, diese Frage ohne vorherige Präzisierung zu beantworten“ (Keller / Kirschbaum 2003: 3). In der alltagssprachlichen Verwendung ist eine exakte Definition nicht zwingend nötig, dennoch zeigt sich auch hier das Dilemma der Ungenauigkeit des Bedeutungsbegriffs: Die Bedeutung des Wortes stehen etwa kann man leicht mit einem Hinweis auf eine unbewegliche aufrechte Körperhaltung angeben. Aber liefert man damit tatsächlich eine Antwort auf die Frage nach der Bedeutung <?page no="177"?> 177 8.2 Ist die Bedeutung eines Wortes ein Ding in der Welt? des Wortes stehen? Wie verhält es sich mit den Fällen der Benutzung des Wortes stehen z. B. in den Sätzen Ich stehe auf schnelle Autos (eine psychologische Lesart) oder Der Mantel steht Horst aber gut (eine evaluative Lesart)? Genauso wenig ist die oben gegebene Definition für eine alltagssprachliche Äußerung wie Wie geht’s, wie steht’s? hinreichend. Zudem ist im Deutschen die Frage nach der Bedeutung u. U. auch eine sehr emotionale und individuelle: So kann mir etwas sehr viel bedeuten, etwas anderes dagegen rein gar nichts-- würde man dann davon sprechen, dass eine Sache mehr oder weniger bzw. gar keine Bedeutung hat? Kann man beispielsweise mit Recht sagen: Weil mir Weihnachten nichts bedeutet, bedeutet Weihnachten nichts? Auch wenn mir persönlich und subjektiv nichts an Weihnachten liegt, das Fest für mich also keine Bedeutung hat, kenne ich dennoch sowohl die Bedeutung des Wortes Weihnachten als auch die Bedeutung des Festes im gesellschaftlichen Kontext. Ich kann also ohne eine Differenzierung der verschiedenen Bedeutungsebenen nicht davon sprechen, welche Bedeutung Weihnachten für mich hat bzw. nicht sinnvoll behaupten, es habe keine Bedeutung für mich. Die linguistische Forschung liefert hier bisweilen höchst unterschiedliche Antworten und hat eine Vielzahl linguistischer Bedeutungstheorien entwickelt, von denen wir uns im Folgenden die drei wichtigsten näher ansehen werden: die Referenztheorie, die Vorstellungstheorie (beides repräsentationistische Theorien) und die Gebrauchstheorie der Bedeutung (als instrumentalistische Bedeutungstheorie). Die diesen Bedeutungstheorien zugrunde liegende Problematik lässt sich im Prinzip immer auf dieselbe Fragestellung reduzieren: Welche Relationen gibt es zwischen der Bedeutung eines sprachlichen Zeichens und der außersprachlichen Wirklichkeit? 8.2 Ist die Bedeutung eines Wortes ein Ding in der Welt? Eine grundsätzliche Differenzierung von Ausdruck und Inhalt eines sprachlichen Zeichens gehört zum Gemeingut der Linguistik und lässt sich im Kern auf den Schweizer Ferdinand de Saussure zurückführen, der für diese beiden Ebenen die Unterscheidung zwischen Signifiant (=- Ausdruck) und Signifié (=- Inhalt) etabliert hat (vgl. Kapitel 2.2.2). Saussure war der Meinung, dass jedes ikonische Zeichen (und somit auch Wörter als komplexe sprachliche Zeichen) zwei Ebenen besitzt, die man voneinander trennen muss (vgl. Saussure 1967: 67 ff.)- - wie die zwei Seiten einer Medaille: Demnach hat ein Zeichen eine Seite, die allein dem Ausdruck dient <?page no="178"?> 178 8 Was ist die Bedeutung eines Wortes? und eine andere Seite, die den (semantischen) Inhalt des Zeichens repräsentiert. In dieser Dichotomie stellt sich der Ausdruck als lautliche Realisierung eines Wortes dar, wogegen die Inhaltsseite die Bedeutung eines Wortes trägt. Mit dieser Unterscheidung von Ausdrucks- und Inhaltsseite hat Saussure die „erste im eigentlichen Sinne linguistische Theorie des Zeichens“ (Busse 2009: 29) entworfen. Sie wird uns als Grundlage für die Herleitung eines rein repräsentationistischen Bedeutungsbegriffs dienen, eines Bedeutungsbegriffs also, der die Bedeutung eines Wortes dem Wesen nach in der außersprachlichen Welt-- genauer: in der Entsprechung eines Dinges darin-- verortet. Basierend auf diesem Zeichenbegriff können wir semantische Theorien und Modelle im engeren Sinne identifizieren, die sich alle auf den Gedanken stützen, Bedeutung sei im Grunde die Repräsentation eines Begriffs oder einer Vorstellung von einem Begriff. Wenn nämlich die Inhaltsseite eines sprachlichen Zeichens nach Saussure mit dem deutschen Begriff Bezeichnetes übersetzt wird, stellt sich die Frage, was genau dieses Bezeichnete denn eigentlich ist bzw. in welcher Form es sich in der außersprachlichen Welt manifestiert. Eine weit verbreitete Auffassung lautet seit der Antike: Die Bedeutung eines Zeichens ist genau derjenige Gegenstand, für den ein Zeichen steht. Die Bedeutung ist damit die Referenz auf ein Ding in der außersprachlichen Welt. Dies ist Common Sense einer repräsentationistischen Bedeutungsbeschreibung. Schauen wir uns diese Theorie einmal näher an. Die meisten (interdisziplinären) Bedeutungstheorien fußen auf eben dieser Vorstellung, dass die Bedeutung eines Wortes irgendetwas widerspiegelt, das sich in der realen Welt befindet und somit direkt oder indirekt (dann: über ein mentales Konzept) greifbar ist. Das Wort selbst ist dabei Stellvertreter einer außersprachlichen Entität. Da sich in dieser Denkweise also ein referenzieller Bezug zwischen dem sprachlichen Zeichen und der außersprachlichen Welt herstellen lässt, spricht man von der Referenztheorie der Bedeutung. Eine solche Theorie geht davon aus, dass „wir in natürlichen Sprachen mit Zeichen über Dinge reden“ (Heringer 1974: 10). „Das Ding, auf das man sich bezieht, heißt der Referent des sprachlichen <?page no="179"?> 179 8.2 Ist die Bedeutung eines Wortes ein Ding in der Welt? Ausdrucks“ (Heringer 1974: 10) und manifestiert sich physisch als Urbild in der realen Welt. Das sprachliche Zeichen ist demnach ein Abbild dieses Urbildes. Die Übertragung des Zeichens auf das Ding ist dabei nicht willkürlich möglich, sondern konventionell festgelegt, auch wenn die Benennung an sich arbiträr, also willkürlich erfolgt. Das meint, dass ein Ausdruck genau dann eine Bedeutung hat, wenn konventionell festgelegt wurde, dass er für eine bestimmte Entität steht. Dieser Gedanke lässt sich natürlich auch auf komplexe Sätze beziehen. In diesem Fall hat ein Satz genau dann eine Bedeutung, wenn alle Teile des Satzes aufgrund von Konventionen für etwas stehen und natürlich auch nur dann, wenn er als Ganzes für etwas steht. Im Umkehrschluss heißt das auch, dass es für das Verständnis eines komplexen Satzes unerlässlich ist, zu wissen, wofür seine sinnvollen Einzelteile kraft Konvention stehen. Hier greift das sogenannte Frege-Prinzip: „Es gilt das Prinzip der Kompositionalität: Die Bedeutung der Zeichenverbindung ist eine Verbindung der Zeichenbedeutungen“ (Keller 1995a: 226). Die Bedeutung eines komplexen Ausdrucks (Satzes) ergibt sich aus der lexikalischen Bedeutung seiner Komponenten, aus deren grammatischer Rolle und aus seiner syntaktischen Struktur. So betrachtet haben Sätze keine Bedeutung, wenn man ein bedeutungsloses, d.-h. referenzloses Einzelelement einbaut. Bedeutung ist so verstanden also auf der rein ontologischen Ebene angesiedelt. Bedeutung ist also-- dieser Denkrichtung folgend-- die Referenz auf ein Ding in der Welt. Besonders ein Umstand ist für diese Theorie- - und für ihr Scheitern- - von Interesse: Wie unterscheidet man zwischen der Saussureschen Ausdrucksbedeutung, die über die Referenz auf ein Ding in der Welt festgelegt sein soll, und den deutlich vageren Äußerungsbedeutungen in bestimmten Kontexten, aus denen sich der kommunikative Sinn ergibt? So kann man über eine solche Referenztheorie die Ausdrucksbedeutungen der Einzelbestandteile in einem Satz wie Ich lese morgen schon deshalb nicht bestimmen, weil es sich bei lese und morgen um referenzlose Ausdrücke handelt. Die Referenz für morgen ergibt sich jeden Tag neu: Was heute morgen ist, ist morgen heute usw. Für lesen ist es sogar unmöglich, hier ein Referenzobjekt zu identifizieren: Ob jemand liest oder nicht, lässt sich nicht wirklich gut greifen. Und auch das Konzept von lesen unterscheidet sich je nach Kontext: Die Äußerungsbedeutung von lesen ist vielschichtig. So kann man ein Buch lesen, eine Vorlesung halten oder man kann Wein lesen. Hier zeigt sich: Wortbedeutungen sind nicht kontextinvariant. Selbst wenn die Bedeutungen der Einzelausdrücke <?page no="180"?> 180 8 Was ist die Bedeutung eines Wortes? bekannt sind, fehlt der Kontext, um die Äußerung zu verstehen, um also den Sinn der Äußerung zu erfassen. Es gibt nicht die Bedeutung eines Wortes, aber es gibt Bedeutungsvarianten in bestimmten Kontexten. Und diese Varianten sind das Resultat des Bedeutungswandels. 8.3 Ist die Bedeutung eines Wortes eine Vorstellung? Eine weitere repräsentationistische Bedeutungstheorie geht davon aus, dass Bedeutungen zwar keine realen Dinge in der Welt sein müssen, aber es sich zumindest um mehr oder weniger konkrete Vorstellungen von Dingen oder Konzepten handelt. Diese Theorie nennt man deshalb auch Vorstellungs- oder Ideationstheorie. Sie stützt sich nicht auf einen dinglich-präzisen Sachbezug, sondern auf die Vorstellung von Begriffen. Eine solche mentale Bedeutungsauffassung ist im Epistemischen verwurzelt und die wissenschaftsgeschichtlich älteste Auffassung von Bedeutung. Die Bedeutung eines Wortes wäre demnach die mit ihm selbst verbundene (wie auch immer geartete) Vorstellung. Die Idee, die mit einem sprachlichen Ausdruck im Geist des Sprechers verbunden ist, ist der Vorstellungstheorie gemäß die Bedeutung des Ausdrucks. Der Gegenstand in der Welt oder ein mentales Konzept (z. B. Urlaub oder Feierabend) erzeugen in den Köpfen der Sprecher und Hörer Vorstellungen und eben diese sind dann die Bedeutungen des referenziellen Gegenstandes oder des Konzeptes. Der Empirist John Locke hat bereits im Jahr 1689 diesen zentralen Gedanken zur Bedeutung von Wörtern wie folgt ausgedrückt: „The use, then, of words is to be sensible marks of ideas; and the ideas that they stand for are their proper and immediate signification“ (Locke 1975 / 2008: 256). Im Gegensatz zur Referenztheorie gibt es in einer Ideationstheorie keine direkte Verbindung zu den Dingen der außersprachlichen Welt. Man kann sagen, dass das Verhältnis von Wort und Vorstellung als Assoziation gedeutet werden muss, eine Referenzbeziehung im engeren Sinne existiert dabei nicht. Das sprachliche Zeichen ist vielmehr „eine Marke für eine Idee oder eine Vorstellung, die unabhängig von der Sprache existiert“ (Heringer 1974: 13). <?page no="181"?> 181 8.3 Ist die Bedeutung eines Wortes eine Vorstellung? Nun, auch mit dieser Theorie ist ein Haken verbunden, der sie für die Erklärung von Bedeutungswandel unbrauchbar macht, auch wenn sie auf den ersten Blick plausibel zu sein scheint. Zumindest gelingt es mit Hilfe dieser Theorie, Bedeutungen referenzloser Ausdrücke festzulegen, was mit der Referenztheorie nicht möglich ist. Dennoch: Welchen der beiden skizzierten repräsentationistischen Bedeutungsbegriffe man auch anlegt, eines ist beiden gemein: Beide gehen davon aus, dass Wörter für etwas in der Welt stehen und erklären „,Bedeutung’ mit ,Vorstellung’-[…] und ,Vorstellung’ ggf. wiederum mit ,Begriff ’, so dass sich letztlich die terminologische Gleichung (und implizite Identitätshypothese) ,Bedeutung-= Begriff-= Vorstellung’ ergibt“ (Busse 2001: 1 309). Wenn ein Wort immer entweder ein Ding in der Welt oder eine Vorstellung repräsentierte, geriete man rasch an die Grenzen einer solchen Sichtweise. Denn: Eine repräsentationistische Theorie orientiert sich zeichentheoretisch vor allem an der Bedeutung von Autosemantika. Synsemantika wie Konjunktionen sind mit einer solchen Theorie weitaus schwieriger, wenn nicht gar überhaupt nicht beschreibbar. Die Bedeutung referenzloser Ausdrücke lässt sich über einen repräsentationistischen Bedeutungsbegriff nicht eindeutig bestimmen. So ist zwar die Bedeutung des Substantivs Baum über einen Referenzbezug zu einem Baum in meinem Garten herstellbar, wo aber wäre dieser Bezug für Verben wie lästern oder grübeln? Viele Wörter sind über Referenzbeziehungen auch als Autosemantika gar nicht zu beschreiben, da sie viel zu abstrakt und damit randbereichsunscharf sind. Und selbst Substantive sind nicht immer eindeutig beschreibbar. So hat das Wort Feierabend im Deutschen eine klare Bedeutung, aber es drückt weder einen Begriff noch ein Konzept aus. Ferner ist es selbst bei so konkreten Substantiven wie Baum nicht möglich, dass Sprecher und Hörer zwingend dieselbe Referenz anlegen. So kann ich mir unter einem Baum einen Mammutbaum vorstellen, mein Gegenüber dagegen einen Bonsai. Je nach angelegter Theorie wäre die Bedeutung von Baum ein tatsächlich existierender Baum, die Menge aller existierenden Bäume oder die Menge aller mentalen Konzepte von Bäumen, die Sprecher einer Sprachgemeinschaft haben können. In jedem Fall könnte die Bedeutung variieren, je nach dem, wer der Sprecher ist und auf welches Referenzobjekt er sich bezieht. Die Bedeutung wechselt also mit der Verwendung von Ausdrücken: „Ein solcher [repräsentationistischer, S. B.] Bedeutungsbegriff würde dazu führen, daß ein Sprecher nie die Bedeutung eines Ausdrucks wie ich kennen könnte, weil sie sich mit jeder Äußerung von ich [durch einen anderen Sprecher, S.- B.] ändern würde“ (Heringer 1974: 10). Abgesehen <?page no="182"?> 182 8 Was ist die Bedeutung eines Wortes? von der Unmöglichkeit des Kommunizierens, die sich daraus ergeben würde, handelt es sich hierbei auch um einen klaren Verstoß gegen das zuvor genannte Frege-Prinzip: Wenn sich die Bedeutungen der einzelnen Komponenten kontextbzw. äußerungsspezifisch verändern, indem sich z. B. das Referenzobjekt ändert oder indem der Referent in der realen Welt gar nicht zu finden ist, kann die Satzbedeutung nicht mehr konstant bleiben. Dies hätte zur Folge, dass ein Satz wie Rapunzel hat Hunger ohne ein konkretes Referenzobjekt Rapunzel in der realen Welt oder als mentales Konzept keine Bedeutung tragen würde. Ähnlich verhält es sich bei Horst ist nicht nur ein schwarzes, er ist sogar ein blaues Schaf. Da es in der Welt keine blauen Schafe gibt, wird der ganze Satz bedeutungslos. Nun könnten Sie einwenden: Der Satz macht ja auch gar keinen Sinn. Da würde ich Ihnen recht geben, aber dennoch hat er u. U. eine Bedeutung, beispielsweise dann, wenn die Aussage in ironischer oder metaphorischer Weise getätigt worden wäre. Konstruieren wir dazu einen Äußerungskontext: Man könnte diese Formulierung wählen, wenn man auf ironische Weise sagen möchte, dass Horst nicht nur ein schlimmer Mensch ist, sondern auch noch gerne und viel trinkt. In einem solchen Fall tragen sowohl die Einzelelemente als auch der gesamte Satz sehr wohl eine Bedeutung-- in diesem Fall eine ironisch-metaphorische. Gerade die Vorstellungstheorie wird gänzlich unbrauchbar, wenn man sie auf Konjunktionen (und, aber), relationale Ausdrücke (meine Mutter), rein evaluative Ausdrücke (gut oder schön) oder nur strukturell definierbare Ausdrücke (oben, unten, Dienstag) anwenden will oder spätestens dann, wenn man sie für den Ausdruck Bedeutung selbst erprobt. Zudem müsste für die Plausibilität einer Vorstellungstheorie eine wichtige Prämisse erfüllt sein: Vorstellungen müssten rein objektiv sein. Intersubjektive Vorstellungen (wie die von einem Baum) erzeugen unterschiedliche Bedeutungen. Eine Lösung aus diesem Dilemma ließe sich auch durch intersubjektive Allgemeinvorstellungen nicht erwirken, da man ja bekanntlich keinen Zugang zu den subjektiven Vorstellungen anderer Menschen gewinnen kann. Und solche intersubjektiven Allgemeinvorstellungen gibt es nicht. 8.4 Ist die Bedeutung eines Wortes eine (Gebrauchs-)Regel? Da wir erkannt haben, dass die Bedeutung eines Wortes nichts sein kann, das auf der ontologischen (dinglichen) oder epistemischen (konzeptuellen) Ebene verortet werden kann, schließt sich die alles bestimmende Frage an, was denn eine Bedeutung dann sein muss. Die Antwort darauf fällt Ihnen leicht, wenn Sie im <?page no="183"?> 183 8.4 Ist die Bedeutung eines Wortes eine (Gebrauchs-)Regel? ersten Teil der Einführung die Grundprinzipien des Sprachwandels verstanden haben. Dort haben wir nämlich anhand von zahlreichen Beispielen sehen können, dass der Sprachgebrauch untrennbar an das richtige Verständnis von Sprache gekoppelt ist. Ganz genauso verhält es sich mit Wortbedeutungen. Die Bedeutung eines Wortes wird festgelegt — und natürlich auch verändert — über den Wortgebrauch. Eine solche Sichtweise nennt man ihrem Wesen nach instrumentalistisch, denn sie basiert auf der Annahme, dass Sprache im Allgemeinen und Wörter im Speziellen Instrumente des sprachlichen Handelns sind. Man kann verkürzt sagen: Die Bedeutung ist das, was ich als Werkzeug (neben anderen sprachlichen Kompetenzen, biologischen Voraussetzungen und Weltwissen) benötige, um zu verstehen, was ein Sprecher mit einer Äußerung meint. So verstanden ist die Bedeutung eines Wortes ein Mitteilungsmittel und konstituiert sich (wie jedes Werkzeug) durch seinen Gebrauch. Genau hier schließt sich eine wichtige bedeutungstheoretische Fragestellung an: Wie genau leistet es ein sprachliches Zeichen, Dinge oder Vorstellungen zu repräsentieren (wenn es das denn überhaupt vermag)? Und in der Erweiterung dieser Frage: Was macht ein sprachliches Zeichen für mich als Sprecher kommunikativ nutzbar und für den Hörer interpretierbar? Man benötigt für die Beantwortung dieser zweiteiligen Frage eine Theorie, die Bedeutung sprachlicher Zeichen in einen Zusammenhang des gesamten menschlichen Handelns stellt und damit „die Sprache nicht als ein Zeichensystem [ansieht], das unabhängig von Sprechern und sozialen Gruppen existiert“ (Heringer 1974: 19). Mit Hilfe einer solchen Theorie kann man plausibel semantische Veränderungen erfassen und begründen. Die Grundfrage einer solchen instrumentalistischen Bedeutungstheorie lautet in Bezug auf die beiden Seiten eines sprachlichen Zeichens: Wie lassen sich die beiden Grundbegriffe eines sprachlichen Zeichens in Saussurescher Diktion (Ausdruck und Bedeutung) linguistisch einordnen, wenn man sich von der repräsentationistischen Tradition lösen möchte? Man könnte vereinfacht argumentieren, dass der Ausdruck eines sprachlichen Zeichens in einem instrumentalistischen Modell auf der Ebene der Sprache selbst angesiedelt ist, manifestiert er sich doch durch ein abstraktes System von Zeichen und Zeichenbeziehungen. Der Inhalt jedoch, also das, was wir Bedeutung nennen können, ist in einer anderen Dimension verortet: der Dimension des Sprechens, <?page no="184"?> 184 8 Was ist die Bedeutung eines Wortes? also in der konkreten Realisierung des Ausdrucks im Gebrauch. Im Gegensatz zu einem repräsentationistischen Bedeutungsbegriff basiert der Symbolcharakter eines Wortes in einer sogenannten Gebrauchstheorie auf einer konventionellen Regelung: Die Regelhaftigkeit des Gebrauchs in der Sprachgemeinschaft sorgt dafür, dass ein sprachliches Zeichen sowohl kommunikativ verwendbar als auch interpretierbar wird. In diesem Sinne ist Bedeutung eng an den Gebrauch durch den Zeichenbenutzer gekoppelt und schließt als kulturell und intentional fixiertes Modell die beiden Dimensionen Sprecher und Hörer mit ein. Der Bedeutungsbegriff selbst ist somit weder auf der ontologischen noch auf der epistemischen Ebene angesiedelt, er ist vielmehr da verortet, wo er hingehört: auf der linguistischen Ebene. In der Semantik, die sich mit der Bedeutung sprachlicher Ausdrücke beschäftigt, ist eine solche Sichtweise zurückzuführen auf den Philosophen Ludwig Wittgenstein. In seinen Philosophischen Untersuchungen formuliert Wittgenstein in Form von Paragrafen über eine komplexe Herleitung den berühmten Satz (§ 43): Man kann für eine große Klasse von Fällen der Benützung des Wortes ,Bedeutung’-- wenn auch nicht für alle Fälle seiner Benützung-- dieses Wort so erklären: Die Bedeutung eines Wortes ist sein Gebrauch in der Sprache. So präzise dieser Ausspruch auch ist, er hat in der wissenschaftlichen Diskussion zu sehr viel Verwirrung geführt. So wurde die Wittgensteinsche Gleichsetzung von Bedeutung und Gebrauch oftmals so verstanden, als beziehe sich Wittgenstein hier einzig auf die Ebene der Wortbedeutung. Wenn dies der Fäll wäre, würde das heißen, dass es auch Wörter gäbe, deren Bedeutung nicht ihr Gebrauch in der Sprache sei (vgl. Keller 1995a: 63 f.). Diese Interpretation ist aber falsch, denn Wittgenstein bezieht sich mit seinem berühmten Gedanken auf die Benutzung des Wortes Bedeutung selbst und nicht etwa auf Wortbedeutungen im Allgemeinen. Wittgenstein spricht also zunächst über alle Fälle der Verwendung des Wortes Bedeutung und differenziert erst dann diejenigen aus, in denen eine Gleichsetzung von Wortbedeutung und Gebrauch in der Sprache nicht möglich ist. Diese Unterscheidung ist fundamental wichtig, um den Kern des Wittgensteinschen Gedankens richtig erfassen zu können: Wittgenstein verrät in diesem Paragrafen 43 nämlich lediglich, was das Wort Bedeutung selbst bedeutet und wie man dieses Wort verwenden kann-- nämlich höchst unterschiedlich. <?page no="185"?> 185 8.4 Ist die Bedeutung eines Wortes eine (Gebrauchs-)Regel? In der Tat ist es ja so, dass man nicht in allen Fällen der Verwendung des Wortes Bedeutung davon sprechen kann, dass damit der Gebrauch in der Sprache gemeint ist. So gibt es vielfältige Verwendungsweisen des Wortes Bedeutung im Deutschen: Ich kann z. B. davon sprechen, dass mir persönlich dieses oder jenes mehr bedeutet als anderes. Oder ich kann davon reden, dass ich eine Situation nicht richtig deuten kann: Er hat so seltsam geguckt. Ich weiß noch nicht, was das bedeutet. In diesen Fällen wäre eine Interpretation, die Bedeutung mit Gebrauch gleichsetzt, verfehlt. Das ist auch Wittgenstein klar gewesen. So macht er selbst auf diesen Umstand aufmerksam, indem er seine Definition von Bedeutung einschränkt und folgerichtig konstatiert, dass man nicht in allen Fällen der Benützung des Wortes Bedeutung diesen Begriff mit Gebrauch gleichsetzen darf. Diese speziellen Fälle der Benutzung (eine kleine Gruppe jenseits der großen Klasse von Fällen) hatte Wittgenstein aber nicht im Blick, sein Interesse galt vielmehr der Entwicklung eines Bedeutungsbegriffs. Der Kern des Wittgensteinschen Bedeutungsbegriffs jenseits dieser Einschränkung ist somit ein anderer: Wittgenstein verrät uns, was unter dem Begriff Bedeutung zu verstehen ist, wenn wir ihn auf bedeutungstheoretisch relevante Fälle der Benutzung dieses Wortes beziehen und uns damit auf der linguistischen Ebene der Wortbedeutung bewegen. Man kann den Begriff Bedeutung also auf der Ebene des Sprachsystems verorten (das ist die „große Klasse von Fällen der Benützung“, die Wittgenstein im Blick hat) und sich die Frage stellen: Was bedeutet das Wort X in der Sprache Y? Und eben für diese besondere Benutzung des Wortes Bedeutung gilt uneingeschränkt, also für alle Fälle der Verwendung des Wortes Bedeutung: Die Bedeutung eines Wortes ist sein Gebrauch in der Sprache. Nun ist es uns Sprechern nicht völlig frei überlassen, wie wir ein Wort verwenden. Das wäre auch mehr als seltsam, wenn jeder Sprecher es selbst in der Hand hätte, durch den Wortgebrauch die Wortbedeutung zu generieren. Wenn Sie beispielsweise das Wort Korkenzieher plötzlich benutzen, um damit auf einen Blumentopf zu referieren, wird Sie niemand verstehen. Vielmehr ist es so, dass Wortbedeutungen konventionell festgelegt sind; es gibt Regeln für den Wortgebrauch. Präzise müsste man also sagen: Die Bedeutung eines Wortes ist sein regelhafter Gebrauch in der Sprache — also seine Gebrauchsregel. <?page no="186"?> 186 8 Was ist die Bedeutung eines Wortes? Gebrauchsregeln geben also an, wie man ein bestimmtes Wort in einer Sprache verwendet. Das ist eine plausible Annahme, denn genau so lernen wir beispielsweise Fremdsprachen: Wenn wir wissen wollen, was ein Wort in einer anderen Sprache bedeutet, dann müssen wir lernen, zu welchem Zweck man es in der jeweiligen Sprache verwendet. Gebrauchsregeln funktionieren also prinzipiell nach dem Schema: Verwende das Wort X, wenn Du auf einen Sachverhalt / Gegenstand Y verweisen möchtest. Wenn man also weiß, wie man ein Wort verwenden muss, dann kennt man dessen Bedeutung. Und um von einem Blumentopf sprechen zu können, muss man als Sprecher des Deutschen wissen, dass man das Wort Korkenzieher für diesen Gegenstand nicht verwenden kann. Nun ist Sprache ein offenes System, das sich verändern kann. Für Bedeutungen gilt das ganz besonders, denn Regeln sind nie für alle Zeit in Stein gemeißelt. Gebrauchsregeln können sich verändern-- und zwar dann, wenn viele Sprecher ein Wort semantisch anders verwenden. Dazu laden manche Wörter geradezu ein. Das liegt daran, dass es zwischen Dingen in der Welt semantische Relationen gibt. Wenn Sie einen Blumentopf als Korkenzieher bezeichnen, dann handelt es sich um einen semantischen Fehler, denn es gibt zwischen diesen beiden Dingen keine semantische Verbindung. Nennen Sie aber Ihren besten Freund Fritz so, weil er etwa ein großer Rotweinfan ist, dann verwenden Sie das Wort eigentlich noch immer nicht richtig, aber es wird jedem klar sein, warum Sie ihn Korkenzieher und nicht Fritz nennen. Sie übertragen die Eigenschaften des Gerätes auf das Verhalten Ihres Freundes in Partysituationen. Was Ihnen dieses Beispiel zeigen soll, ist Folgendes: Gebrauchsregeln sind unter bestimmten Umständen offen für Veränderungen und Anpassungen. Diese Anpassungen basieren nicht auf sprachlichen Fehlern, sondern auf Regelumdeutungen. Über Veränderungen des Wortgebrauchs, also über Veränderungen der Regel des Wortgebrauchs, lassen sich semantische Veränderungen von Wortbedeutungen (sprich: Bedeutungswandel) erfassen. Im Gegensatz zur repräsentationistischen Bedeutungskonzeption hält eine Gebrauchstheorie der Bedeutung also die Möglichkeit der analytischen Bedeutungsbetrachtung bereit. <?page no="187"?> 187 8.4 Ist die Bedeutung eines Wortes eine (Gebrauchs-)Regel? Ludwig Wittgenstein (1889—1951) war ein österreichisch-britischer Philosoph, der insbesondere mit seinen Schriften zur Sprachphilosophie bis in die Gegenwart einflussreich ist. Neben Überlegungen zur Sprache finden sich in W IT T - GENS T EIN s Werk philosophische Abhandlungen über die Logik sowie über das Bewusstsein. Seine beiden Hauptwerke Logisch-philosophische Abhandlung (Tractatus logico-philosophicus, 1921) und Philosophische Untersuchungen (1953, posthum veröffentlicht) wurden zu wichtigen Bezugspunkten zweier philosophischer Schulen: des Logischen Positivismus und der Analytischen Sprachphilosophie. Das Frühwerk W IT TGENS T EIN s weist Brüche zu seinem Spätwerk auf, was insbesondere den Bedeutungsbegriff betrifft. So vertritt er in seinem Tractatus noch eine repräsentationistische Bedeutungsauffassung, die erst in den Philosophischen Untersuchungen zugunsten der Gebrauchstheorie aufgegeben wird. Man muss allerdings anmerken, dass die Gebrauchstheorie der Bedeutung erst in der Rezeption entwickelt wurde — W IT TGENS T EIN selbst hat eine solche Bedeutungstheorie nicht entworfen, wohl aber die Grundsteine dafür gelegt, die uns heute helfen, Bedeutungswandel über Sprachhandeln zu erklären. Bedeutung ist im Gegensatz zu repräsentationistischen Modellen nichts ‚Geheimnisvolles‘, sondern ein Mitteilungswerkzeug. So wie man den Umgang mit einem Hammer oder einer Säge lernen kann und muss, verhält es sich auch mit Wortbedeutungen: Die Kenntnis der Regel ist für den richtigen Gebrauch unabdingbar. Zudem ist der Gebrauch eines Wortes sozial vermittelt und damit überindividuell. Regeln für den Umgang mit Wörtern lernt man durch Nachmachen und Beobachten. So entwickelt sich Bedeutung im wechselseitigen Einvernehmen, so dass Kommunikation durch die Verwendung und Interpretation sowohl für den Sprecher als auch für den Hörer überhaupt möglich wird. Eine Regel wird dabei immer nur an endlich vielen Beispielen gelernt, soll aber letztlich auf unendlich viele Fälle anwendbar sein. Daraus ergibt sich, dass die Regel das zu lernende Handlungsmuster nicht wirklich festlegt; es gibt immer eine Vielzahl von Mustern, die mit ihr kompatibel sind. Dass es eine Menge von Möglichkeiten gibt, die Regel fortzusetzen, heißt aber nicht, dass man sich bewusst für eine dieser Möglichkeiten entscheidet. Sie drängt sich eher unmittelbar auf. Die Regel des Gebrauchs ist vielmehr rekonstruierbar aus den konkreten Verwendungs- <?page no="188"?> 188 8 Was ist die Bedeutung eines Wortes? weisen. Dabei ist sie jedoch keinesfalls identisch mit den verschiedenen Verwendungsweisen und sie ist auch nicht deren Summe. Vielmehr ist die Regel des Gebrauchs (und damit die Bedeutung) in jedem Fall konstant. Was von Fall zu Fall aber variieren kann, das ist der Sinn einer Äußerung, wie wir am Beispiel des Korkenziehers erkennen konnten. Sowohl die Äußerung auf Seiten des Sprechers als auch das Verstehen der Äußerung auf Seiten des Hörers werden durch die Kenntnis derselben Gebrauchsregeln überhaupt erst ermöglicht. So verstanden wird Sprache in den Zusammenhang des gesamten menschlichen Handelns gestellt und ist eben kein unabhängiges Zeichensystem. Die Regeln des Gebrauchs eines Wortes sind dadurch bestimmt, dass sprachliche Äußerungen im täglichen Miteinander eine bestimmte Funktion übernehmen. 8.5 Weiterführende und vertiefende Literatur Eine vollumfassende Darstellung über die Vielzahl linguistischer Bedeutungstheorien war an dieser Stelle weder beabsichtigt noch in diesem Rahmen zu leisten. Vielmehr dienten die Ausführungen in diesem Kapitel der Herleitung eines Bedeutungsbegriffs, der in Verbindung mit einer adäquaten Theorie sprachlichen Wandels dazu geeignet ist, Bedeutungswandel erklären zu können. Ausführliche Darstellungen über linguistische Bedeutungstheorien findet man z. B. bei L YONS 1991, F R ITZ 1998, B USSE 2001 (sehr lesenswerter Beitrag zu traditionellen Bedeutungskonzepten) oder F R ITZ 2009. Bei K ELLER 1995a findet sich eine sehr umfängliche Darstellung repräsentationistischer und instrumentalistischer Bedeutungskonzeptionen. Dasselbe gilt für B USSE 2009 — eine konzise Einführung in das Themenfeld Semantik, deren Anschaffung ich uneingeschränkt empfehlen kann, da sie speziell für das Bachelorstudium ausgestaltet ist. Einen guten Überblick gibt es auch bei H ER INGER 1974: 9 ff. In jedem Fall lohnenswert ist es, sich mit den beiden Hauptwerken L UDWI G W IT TGENS T EIN s zu beschäftigen. Insbesondere die Lektüre der Philosophischen Untersuchungen ist äußerst gewinnbringend, wenn man Einblicke in seine sehr spezielle, aber auch sehr klare Sprachphilosophie gewinnen möchte. Wenn Sie sich allgemein mit der sogenannten Praktischen Semantik beschäftigen wollen, empfehle ich H ER INGER 1974 und H ER INGER et al. 1977. <?page no="189"?> 189 8.5 Weiterführende und vertiefende Literatur 9 Was sind die Prinzipien des Bedeutungswandels? Es ist nichts beständig als die Unbeständigkeit. Immanuel Kant (1724-1804) Ziele und Warm-up Fasst man die Wortbedeutung gemeinhin als die Regel des Wortgebrauchs in einer Sprache auf, erkennt man schnell, dass Bedeutungswandel dort geschieht, wo sich die spezifischen Gebrauchsregeln der Wörter ändern. Oder präziser: Er geschieht dort, wo ein atypischer Wortgebrauch neu verregelt wird. G ERD F R ITZ schreibt mit klarem Blick auf diese Möglichkeit der Gebrauchsregelausdifferenzierung: „Die Gebrauchsregeln sind in manchen Dimensionen offen. Sie können sich historisch verändern“ (F R ITZ 2006: 101). Worin im Speziellen die Offenheit der Gebrauchsregel eines Wortes liegt und inwiefern dieser Aspekt für die Erklärung semantischen Wandels fruchtbar ist, lässt an dieser Stelle nicht nur F R ITZ offen — eine Antwort findet man in der linguistischen Forschung bis heute kaum (vgl. B ECHMANN 2013: 29 ff.). In diesem Kapitel soll es um die Motive gehen, die Sprecher dazu veranlassen, Wörter anders zu verwenden. Wir wollen zudem herausfinden, was auf der Wortebene beim Bedeutungswandel geschieht und welche Veränderungen der Gebrauchsregeln damit verbunden sind. Zum Einstieg sollen wieder einige Fragen zum Nachdenken anregen: ▶ Was unterscheidet die Wörter gut, geil, mega und krass voneinander? ▶ Lassen sich diese Begriffe beliebig austauschen? ▶ Nach welchen Motiven wählen Sie Wörter aus, wenn Sie sprechen? ▶ Nehmen Sie eine Tageszeitung zur Hand: Markieren Sie alle Begriffe, von denen Sie annehmen, dass es sich um Produkte des Bedeutungswandels handelt! <?page no="190"?> 190 9 Was sind die Prinzipien des Bedeutungswandels? 9.1 Was sind Gebrauchsregeln? Gebrauchsregeln sind offen für Veränderungen. Nun muss man sich fragen: Wie kann ein Wort die sprachlichen Absichten der Sprecher repräsentieren? Eine plausible Antwort auf diese Frage könnte lauten: Indem das Wort absichtsvoll verwendet wird und sich daraus über einen invisible-hand-Prozess konventionelle Regeln für den Wortgebrauch entwickeln, repräsentiert es die Absicht des Sprechers. Nun, ganz so einfach ist es nicht. Diese Erklärung sagt nämlich noch nichts darüber aus, wie die Regel des Gebrauchs überhaupt konstruiert ist bzw. welche kommunikativen Bestandteile die Gebrauchsregel eines Wortes kennzeichnen oder beherrschen. Metaphorisch gefragt: Wie ist die Bedeutung eines Wortes aufgebaut? Was ,steckt’ in einer Gebrauchsregel, damit sie zweckrational den Absichten der Sprecher folgt und sich dazu eignet, über sie intentional kommunizieren zu können? Um das zu beantworten, müssen wir zum linguistischen Messer greifen-- also unseren Verstand bemühen-- und die Regel des Gebrauchs sezieren und uns ihre Struktur genauer ansehen. Dabei werden wir feststellen, dass es deutliche Unterschiede bezüglich der Art einer Gebrauchsregel gibt. So kann eine Gebrauchsregel höchst divergierende Merkmale oder Parameter involvieren. Manche Gebrauchsregeln sind dadurch definiert, dass in ihnen starre Objekteigenschaften vorherrschen. Wenn man nach der Gebrauchsregel des Wortes Baum fragt, spielen solche Objekteigenschaften als semantische Merkmale (lebendig, hölzern, groß, mit Stamm und Krone usw.) eine wichtige Rolle. Für das Wort Feierabend hingegen sind sie nicht bedeutungsbestimmend. Häufiger ist wohl für Gebrauchsregeln daher ein mehr oder weniger an spezifischer Konnotation anzunehmen. Unter Konnotationen versteht man dabei bestimmte Merkmale, die einem Wort eine ganz bestimmte Bedeutung geben. Konnotationen sind funktionale Eigenschaften eines Wortes, die anzeigen, was ein Sprecher mit der Verwendung eines Wortes beabsichtigt. Ob Sie beispielsweise zu einem Glas Wein Getränk oder Gesöff sagen, hat nichts mit den Objekteigenschaften des Weins zu tun. Stattdessen drücken Sie eine Bewertung aus-- und zeigen damit Ihre Haltung. In diesem Beispiel bestimmen also evaluative Parameter die Wortbedeutung. Diese Parameter sind es, die Ihnen helfen, die beiden Begriffe auseinander zu halten. Sie wirken also distinktiv. Und dieser Aspekt spielt auch bei der Formulierung der Gebrauchsregel eine Rolle. <?page no="191"?> 191 9.1 Was sind Gebrauchsregeln? Für das Wort Getränk könnte diese lauten: Verwende das Wort Getränk, wenn du auf eine für Menschen trinkbare Flüssigkeit verweisen willst (wenn eine Kuh säuft, würde man hingegen sicher nicht sagen, sie nehme ein Getränk zu sich). Die Gebrauchsregel enthält Objekteigenschaften und zudem Wahrheitswerte. So kann man objektiv feststellen, ob etwas ein Getränk ist oder nicht. Motoröl beispielsweise ist kein Getränk und damit in seiner Bedeutung nicht über dieselben Wahrheitswerte zu bestimmen, die etwa für Apfelsaft gelten. Mit anderen Worten: Etwas ist entweder ein Getränk (wahr) oder nicht (falsch). Bei Gesöff kommen wir mit dieser Differenzierung nicht weiter. Hier spielen keine objektiven Kriterien eine Rolle. Ob etwas ein Gesöff ist oder nicht, lässt sich nicht so leicht sagen. Was mir schmeckt, kann für Sie ein Gesöff sein-- und umgekehrt. Der Satz Kölsch ist ein Gesöff ist weder wahr noch falsch. Es gibt nichts an Kölsch, das es objektiv zu einem Gesöff machen würde. Und doch kann ich der Meinung sein, es sei eines. Diese Beispiele sollen Ihnen eines zeigen: „Außersprachliche Parameter bestimmen im Wesentlichen die kommunikative Funktion einer Gebrauchsregel und damit die Bedeutung eines Wortes.“ (B ECH - MANN 2013: 96) 9.1.1 Parameter der Gebrauchsregel Die Regel des Gebrauchs eines Wortes ist seine Bedeutung. Zu wissen, wie man ein Wort in welchen Situationen gebrauchen kann, heißt zu wissen, was ein Wort bedeutet. Insofern kann man die Bedeutung eines Wortes nicht verstehen, man kann sie nur kennen- - oder eben nicht: „Eine regel kann man nicht verstehen, (man kann verstehen, was mit den sätzen gemeint ist, durch die diese regel formuliert ist, aber das ist etwas anderes) sondern kennen, d. h. wissen, wie man nach ihr handelt, sie befolgt“ (Keller 1975: 51). Dadurch, dass der Sprecher die Regel des Gebrauchs kennt, kann er das Wort für seine kommunikativen Zwecke nutzen und da der Hörer dieselben Regeln kennt, kann er das Wort in seiner Bedeutung erfassen und über den sprachlichen Kontext und über die Kenntnis der Wortbedeutung den Sinn der komplexen Äußerung verstehen. Dies ist der Tenor einer Gebrauchstheorie der Bedeutung in der pragmatischen Erweiterung um die Dimensionen Sprecher und Hörer. Die Gebrauchsregel gibt also an, wofür man ein Wort verwenden kann und wofür <?page no="192"?> 192 9 Was sind die Prinzipien des Bedeutungswandels? nicht. Gebrauchsregeln haben darüber hinaus den Vorteil, dass sie zu jedem beliebigen Zeitpunkt angeben können, wie ein Wort gebraucht wird, so dass wir über alle zeitlichen Stationen hinweg (also diachron) eine spezifische Wortbedeutung vorfinden. Dies ist für eine Untersuchung des Bedeutungswandels von entscheidender Wichtigkeit. Anhand des Beispiels Gesöff zeigt sich, dass die Gebrauchsregel eines Wortes nicht allein Wahrheitswerte involvieren kann, sondern dass weitere Parameter eingebunden sein müssen, die primär einem kommunikativen Zweck dienen. Dass die Gebrauchsregel eines Wortes bisweilen auch Wahrheitswerte besitzt, ändert dabei nichts an der grundsätzlichen Unzulänglichkeit einer Bedeutungstheorie, die Bedeutung allein über Referenz definiert, wie wir in Kapitel 8 erkannt haben. Die Kenntnis von Wahrheitswerten stellt allenfalls einen Spezialfall von Gebrauchsbedingungen dar. Viel entscheidender sind andere Parameter der Gebrauchsregel. Viele Wörter eignen sich mit Hilfe solcher Parameter dazu, einen Hörer zu beeinflussen. Beeinflussung kann etwa bedeuten, dass mein Gegenüber meine Haltung zu einem Sachverhalt versteht und im besten Fall diese Haltung übernimmt und / oder sein eigenes Verhalten ändert. So kann die Äußerung Sauf doch nicht so viel über die bewusste Verwendung des Verbs saufen zu verstehen geben, dass ich es nicht gut finde, dass mein Gesprächspartner so viel Alkohol trinkt. Ich drücke also über die zweckrationale Wahl des Verbs saufen in diesem Kontext meine eigene Wertung aus und beabsichtige damit, mein Gegenüber dazu zu bringen, dass es weniger trinkt. Dass ich als Sprecher diese Verwendungsmöglichkeit des Verbs saufen habe, liegt daran, dass in die Gebrauchsregel dieses Verbs neben wahrheitsfunktionalen auch sogenannte evaluative Parameter eingebunden sind und natürlich daran, dass sowohl ich als auch mein Gegenüber die Gebrauchsregel des Verbs saufen kennen. Eine mögliche Formulierung der Gebrauchsregel für das Verb saufen kann also lauten: Verwende dieses Verb in Bezug auf Menschen, wenn sie deiner Meinung nach zu viel Alkohol trinken. Solche evaluativen Parameter sind neben den wahrheitsfunktionalen nur eine von vielen Möglichkeiten der Einbindung außersprachlicher Parameter in die Gebrauchsregel eines Verbs. Sehen wir uns daher die möglichen Parameter einer Gebrauchsregel, die wir bislang im Vorübergehen an manchen Stellen als diffusen Begriff bereits gestreift haben, genauer an und überprüfen, welche davon speziell in den Gebrauchsbedingungen von Verben wirksam sein können. Nach Petra Radtke (vgl. Radtke 1998) gibt es fünf verschiedene Parameter der Gebrauchsregel: <?page no="193"?> 193 9.1 Was sind Gebrauchsregeln? i. wahrheitsfunktionale Parameter ii. epistemische Parameter iii. soziale Parameter iv. diskursbezogene Parameter v. innersprachliche Parameter Wahrheitsfunktionale Parameter (i.) sind solche, die in der Gebrauchsregel eines Wortes etwas über die Beschaffenheit der Welt angeben. Diese Parameter geben Auskunft über die Merkmale eines Gegenstandes oder bei Verben etwa über die wahrheitsfunktionalen Merkmale einer Handlung, eines Zustandes oder einer Tätigkeit. Wörter, die wahrheitsfunktionale Parameter involvieren, können nur dann korrekt verwendet und verstanden werden, wenn Sprecher und Hörer ein zumindest grobes (gemeinsames) Wissen über bestimmte, sinnlich erfahrbare Eigenschaften der typischen Referenzobjekte bzw. der typischen Referenztätigkeiten besitzen. Für eine ganze Reihe von Wörtern ist eine wahrheitsfunktionale Beschreibung problemlos möglich, bei anderen wiederum stößt sie an ihre Grenzen (z. B. bei relativen Adjektiven). Als eine von mehreren Möglichkeiten in unterschiedlicher Ausprägung von Parametern einer Gebrauchsregel hat sie aber ihre Berechtigung. Epistemische Parameter (ii.), also solche, mit denen über die lexikalische Wortbedeutung eine indirekte Bewertung zum Ausdruck gebracht wird, werden bei Radtke ausschließlich im Hinblick auf bewertende Ausdrücke expliziert. Soziale Parameter (iii.) sind solche, die einem Wort eine bestimmte soziale Funktion zuschreiben, wie etwa die Anredepronomina Du und Sie. Solche Parameter spielen wortsemantisch eine entscheidende Rolle, denn mit ihnen werden soziale Beziehungen gekennzeichnet. Somit verlassen Ausdrücke, die sozial geprägt sind, vielfach die sprachliche Ebene und konstituieren über ihre Bedeutung hinaus soziale Gefüge und Strukturen bzw. sorgen dafür, dass soziale Strukturen sprachlich realisierbar werden. Diskursbezogene Parameter (iv.) kommen z. B. in Modalpartikeln (wohl, mal, eben) zum Tragen und innersprachliche Parameter (v.) sind solche, die den Gebrauch eines Wortes allein durch die sprachliche Umgebung bestimmen, wie dies bei Verben im Hinblick auf die Valenz etwa der Fall ist, oder die auf andere Art und Weise grammatisch-syntaktisch wirksam sind. Sie spielen für den Bedeutungswandel keine Rolle. <?page no="194"?> 194 9 Was sind die Prinzipien des Bedeutungswandels? 9.1.2 Taxonomie der Hauptbedeutungen Nun bildet die zuvor genannte Kategorisierung noch nicht alle kommunikativen Möglichkeiten ab, die man mit Wortverwendungen sprachlich realisieren kann. Daher sollen diese Parameter noch weiter differenziert werden (vgl. Bechmann 2013: 108 ff.): i. Parameter aus der äußeren Welt ii. Parameter aus der inneren Welt a. Parameter aus der Welt der Haltungen b. Parameter aus der Welt der Gedanken und Kognitionen c. Parameter aus der Welt der Gefühle iii. Parameter aus der Welt des Sozialen iv. Parameter aus der Welt des Diskurses v. (Parameter aus der sprachlichen Welt) Wenn man nun Wörter diesen Kategorien zuordnen möchte, kommt man zu folgender Festlegung, wobei es immer auch Überschneidungen gibt. In jedem Wort sind stets zwei oder mehr Parameter wirksam, wobei die Hauptbedeutung (Bedeutungskern) je nach Kontext definiert ist: Parameter-Typus Beispiel Bedeutungskern des Wortes (= primäre Bedeutung) Parameter der äußeren Welt Haus, Baum, husten deskriptiv Parameter aus der Welt der Haltungen fressen, Gesöff evaluativ Parameter aus der Welt der Gedanken und Kognitionen begreifen, Gedanke, Feierabend kognitiv Parameter aus der Welt der Gefühle lieben, hassen, erschrecken emotiv Parameter aus der Welt des Sozialen abhängen, krass, Besäufnis sozial und / oder expressiv Parameter aus der Welt des Diskurses (sich mit jmd.) auseinandersetzen, streiten diskursiv Tabelle 11 Parameter der Gebrauchsregel Diese Taxonomie macht es möglich, die Haupt- und Nebenbedeutungen von Wörtern zu erfassen und einzuordnen. Sie dient ebenfalls dazu, Bedeutungs- <?page no="195"?> 195 9.2 Wie verändern sich Gebrauchsregeln? wandel zu erklären: nämlich über historisch nachweisbare Verschiebungen der bedeutungsbestimmenden Parameter der Gebrauchsregel. 9.2 Wie verändern sich Gebrauchsregeln? Bedeutungswandel findet immer dann statt, wenn Sprecher einen zunächst okkasionellen Sinn so häufig erzeugen, dass in der Sprachgemeinschaft mit der Zeit ein Umlernen erfolgt. Der Bedeutungswandel funktioniert dann auf der Ebene der Gebrauchsregel durch eine Veränderung der semantischen Struktur- - also durch eine Neuordnung der bedeutungsbestimmenden Parameter, wie wir sie gerade kennengelernt haben. „Verschiebungen der Parameter der Gebrauchsregel sind entscheidend für den Bedeutungswandel eines Wortes verantwortlich.“ (B ECHMANN 2013: 130) Über einen instrumentalistischen, gebrauchstheoretischen Bedeutungsbegriff lässt sich Bedeutungswandel als invisible-hand-Prozess, also als soziokulturelles, intentionales Handeln mit ungeplanten Effekten auf der Ebene der Sprache begreifen. Das intentionale Handeln der Individuen spiegelt sich beim Bedeutungswandel in der Veränderung der Gebrauchsregel wider und zwar sehr deutlich in der Verschiebung, Inkorporierung oder dem Wegfall von Parametern der Gebrauchsregel. Das Resultat semantischen Wandels ist in aller Regel in der Veränderung der Gebrauchsregel in Form einer Neu-Inkorporierung sprachlicher und / oder außersprachlicher Parameter begründet. Dabei handelt es sich um ein Wechselspiel aus Regelverletzung, Sinnerzeugung und Neuverregelung. (Vgl. B ECHMANN 2013: 130 ff.) Die Inkorporierung inner- und vor allem außersprachlicher Parameter in die Gebrauchsregel eines Wortes ist der Motor für den Bedeutungswandel. Somit befeuern Bedeutungsparameter den Bedeutungswandel, indem sie realen kommunikativen Sphären entspringen und ein Wort in neuer Art und Weise semantisch umformen. Man könnte sagen: All das, was ein Sprecher mit einem Wort ausdrücken will, findet sich in semantischen Parametern wieder. Dem Sprecher steht es daher frei, ein Wort in abweichender Weise zu verwenden und damit über diese Neuverwendung den Parametern die Tür zu öffnen, wenn sich die <?page no="196"?> 196 9 Was sind die Prinzipien des Bedeutungswandels? Möglichkeit zum abweichenden Wortgebrauch aufgrund z. B. semantischer Ähnlichkeiten ergibt. So kann man eben problemlos das Verb saufen, das eigentlich zur Beschreibung tierischen Verhaltens gedacht ist, auch in bewertender Weise auf Menschen übertragen. Auf diese Weise ist es durch frequente Spezialverwendung aufgrund einer semantischen Analogie (nicht aber durch einen sprachlichen Fehler) zu einem Bedeutungswandel gekommen: Ein einstmals rein deskriptives Wort hat eine evaluative Hauptbedeutung durch die Übertragung vom Tier auf den Menschen erhalten. Es zeigt sich an diesem Beispiel auch: Alte und neue Wortbedeutung können nebeneinander existieren. Entscheidend für das Verständnis des Sinns einer Äußerung ist dann der Kontext. Der Prozess des Bedeutungswandels ist also recht einfach zu beschreiben: Wenn wir anerkennen, dass Bedeutungsparameter einen ganz entscheidenden Einfluss auf die Ausgestaltung der Wortbedeutung haben, können wir festhalten, dass Änderungen der Parameterstruktur eines Wortes in jedem Fall auch eine Änderung der Wortbedeutung bedingen. Ein frequenter Verwendungssinn wird zu einer neuen Gebrauchsregel. Dabei spielen-- wie für den Sprachwandel insgesamt-- bestimmte Motive eine Rolle. 9.2.1 Warum ist Bedeutungswandel ein Spezialfall des Sprachwandels? Sprachwandel passiert, weil Sprecher bestimmte Absichten beim Kommunizieren verfolgen. In Teil 1 dieser Einführung haben wir diese Absichten als Ursachen des Sprachwandels identifiziert. Wir haben erkannt, dass Menschen ökonomisch handeln und dass sie kreativ mit Sprache umgehen. Und wir haben gesehen, dass manche Phänomene des Sprachwandels kognitive Ursachen haben, weil sie an Wissensbestände geknüpft sind, die sich verändern können. Zudem gibt es Faktoren, die unbeeinflussbar als biologische Determinanten angelegt sind. All diese Ursachen bilden Bedingungen ab, unter denen Menschen Sprache auf eine Weise verwenden, die in der Konsequenz zu Sprachwandel führen kann. Wir sprechen hier von den ökologischen Rahmenbedingungen für den invisible-hand-Prozess, der Sprachwandel zur Folge hat. Aber wie sind nun die Absichten gelagert, die dazu führen, dass sich Wortbedeutungen verändern? Im Grunde gelten die Bedingungen, die wir für den allgemeinen Sprachwandel kennen, auch für den Bedeutungswandel. Allerdings sind bestimmte Bedingungen stärker wirksam, andere hingegen spielen gar keine Rolle. So ist Bedeutungswandel beispielsweise wohl kaum das Ergebnis öko- <?page no="197"?> 197 9.2 Wie verändern sich Gebrauchsregeln? nomischer Bestrebungen, denn abweichender Wortgebrauch löst in aller Regel ein pragmatisches Schlussverfahren (Schluss vom Gesagten auf das Gemeinte) aus und dieses erfordert kognitive Arbeit. Dies ist so lange der Fall, wie die Abweichung noch nicht konventionalisiert ist. Ich zeige Ihnen das an einem Beispiel aus dem Deutschen, bei dem Sie möglicherweise den Bedeutungswandel nicht mehr erkennen. Wenn Sie über jemanden sagen, er sei doof, dann meinen Sie sicher, er sei kognitiv nicht sehr begabt. Vor 50 Jahren hatte doof noch eine weitere Bedeutung, es gab eine weitere Lesart, die sprachhistorisch älter ist. Doof bedeutete damals so viel wie taub. Dass taub und doof (in der heutigen Lesart) miteinander verwandt sind, erkennen Sie beispielsweise an der Wendung taube Nuss oder dem englischen deaf, das morphologisch und phonetisch deutliche Ähnlichkeiten zu doof aufweist. Zu der Zeit also, als doof sowohl taub als auch doof in der heutigen Bedeutung meinen konnte, musste man nachdenken oder sogar nachfragen, was mit dem Gesagten gemeint war. Dieses pragmatische Schlussverfahren ist anstrengend und widerspricht dem Ökonomieprinzip. Hieran zeigt sich: Bedeutungswandel ist in aller Regel das Ergebnis eines kreativen Sprachgebrauchs, denn die Sprachabweichung findet zumeist bewusst statt. Diese bewusste Verwendung eines Wortes in einer anderen Lesart heißt jedoch nicht, dass auch der Bedeutungswandel ein bewusster Prozess ist. Auch der Bedeutungswandel folgt dem invisible-hand-Prozess mit den bekannten Verbreitungsmechanismen. Kreative Sprachverwendung ist stets zielgerichtet. Eine besondere Rolle spielen dabei die assoziativen Verfahren als kognitive Bedingungen des Bedeutungswandels, die wir in Kapitel 10 näher beleuchten werden. Für den Moment möchte ich bei den Zielen bleiben, die Sprecher dazu veranlassen können, Wörter kreativ anders zu verwenden, als es gemeinhin üblich ist. Wenn Sprecher ein Wort so verwenden, dass sie damit einen neuen, noch nicht verregelten Sinn erzeugen, verstoßen sie gegen die Konversationsmaximen von Herbert Paul Grice, die wir in Kapitel 5 kennengelernt haben. Sie missachten dabei zudem die Hypermaxime des Kommunizierens, also das Verständlichkeitsgebot. Die Gefahr, missverstanden zu werden, ist recht groß, wenn zwei oder mehr Bedeutungsvarianten (weiter oben nannte ich sie Lesarten) existieren. Aus diesem Grund verschwinden Wortbedeutungen immer dann, wenn der Verwendungskontext nicht klar genug anzeigt, welche der Varianten gerade gemeint ist. Bis <?page no="198"?> 198 9 Was sind die Prinzipien des Bedeutungswandels? sich aber eine der Varianten durchsetzt, ist das Kommunizieren mit Risiken verbunden. Das bedeutet, dass wir Sprecher gute Gründe haben müssen, uns dieser Gefahr des Missverstehens auszusetzen. Ein Grundbedürfnis eines jeden Sprechers ist es, Bewertungen zum Ausdruck zu bringen. Dieses Bedürfnis hat etwa dazu geführt, dass man heute fressen und saufen bewertend auf Menschen übertragen kann. Betrachten wir ein Beispiel: In einer geselligen Runde sagt mein Freund Hans zu mir: Horst säuft schon den ganzen Abend. Das Schlussverfahren kann man sich dabei ungefähr so vorstellen: ▶ Mein Gegenüber sagt saufen, aber es ist gar keine Kuh in der Nähe. ▶ Wenn er keine Kuh meint, dann verwendet er das Wort falsch. ▶ Ich glaube aber, dass er weiß, wie man das Wort richtig verwendet. ▶ Ich muss annehmen, dass er etwas anderes meint, als er sagt. ▶ Ich kann schlussfolgern, dass er das Verhalten der Kuh auf Horst übertragen möchte. ▶ Ich weiß: Kühe trinken sehr viel und-- da es Tiere sind-- nicht zivilisiert. ▶ Saufen dient meinem Gegenüber wahrscheinlich zur Bewertung des Verhaltens von Horst. ▶ Hans gefällt das Verhalten von Horst nicht. Solche Schlussverfahren laufen immer dann ab, wenn eine Neuverregelung noch nicht stattgefunden hat. Ist der Bedeutungswandel im Wesentlichen abgeschlossen, weil die neue Bedeutung Teil der Gebrauchskonvention geworden ist (wie das für saufen heute der Fall ist), dann erklären rekonstruierte Schlussverfahren retrospektiv, aus welchen Gründen Wortbedeutungen eine neue Gebrauchsregel erhalten haben, denn sie erlauben Rückschlüsse auf die Motive der Sprachabweichung. Zudem können wir darüber auch erklären, warum sich bedeutungsbestimmende Parameter in einem Wort verschoben haben- - und wir können ziemlich genau sagen, in welche Richtung diese Verschiebung erfolgt ist. So liegt es wohl auf der Hand, dass saufen, wenn man es auf ein Tier bezieht, Parameter aus der äußeren Welt involviert und durch diese bestimmt wird. Die Wortverwendung ist in diesem Kontext neutral und deskriptiv. Wenn Hans allerdings Horst damit meint, dann gerät das Deskriptive in den Hintergrund. Natürlich ist die Bedeutung noch immer beschreibend- - aber eben nicht hauptsächlich. In der Hauptsache handelt es sich in dieser Verwendung um einen bewertenden Begriff, so dass plötzlich Parameter aus der Welt der Haltungen die Gebrauchsregel bestimmen. Es liegt also ein Bedeutungswandel von einem ehemals rein deskriptiven zu einem primär evaluativ-expressiven Wort vor. Das rein deskriptive <?page no="199"?> 199 9.2 Wie verändern sich Gebrauchsregeln? Wort existiert nebenher und der Kontext zeigt mir an, welche Bedeutung in der jeweiligen Situation die richtige ist. 9.2.2 An welche Absichten ist Bedeutungswandel geknüpft? Der Zweck heiligt die Mittel. Was als Sprichwort hinlänglich bekannt ist, lässt sich auch auf den Bedeutungswandel übertragen: Sprecher ändern die Bedeutung eines Wortes aus zweckrationalen Erwägungen, indem sie ein Wort in abweichender Weise verwenden. Zum Bedeutungswandel tragen Sprecher insofern bei, als dass eine frequente Verwendung eines neu erzeugten Sinns zur Veränderung der Gebrauchsregel führen kann. Veränderungen der Gebrauchsregel wiederum lassen sich anhand von Parameterstrukturveränderungen ablesen, aufzeichnen und letztlich erklären. Dabei ist das Wort so etwas wie ein Mittel zum Zweck. Und dieser Zweck, also die Absicht, die hinter der Wortverwendung steckt, kann vielfältig sein. Höflichkeit, Rücksichtnahme, aber auch eine euphemistische Sprechweise oder ganz banal die Erregung von Aufmerksamkeit können Sprecher dazu veranlassen, einen neuen Verwendungssinn zu generieren. Wie Sie wissen, ist sprachliche Ökonomie kein Prinzip semantischen Wandels. Dasselbe dürfte wohl auch für kognitive Ökonomie zutreffend sein. Wie wir gesehen haben, ist die Gefahr von Missverständnissen nicht gerade gering, so dass die Prozesse des Bedeutungswandels mit recht hohen motorischen und ganz besonders kognitiven Kosten sowohl für den Sprecher als auch für den Hörer verbunden sind. Der kommunikative Nutzen, den ein Sprecher aus dem abweichenden Wortgebrauch zu ziehen hofft, muss also gegenüber den verursachten Kosten überwiegen. Auch der Hörer wägt im Zuge der Kommunikation Kosten und Nutzen ab. Die Interpretation einer Metapher etwa ist mit einem erhöhten kognitiven Aufwand für den Hörer verbunden. Wie kommt es dann, dass ein Hörer dennoch diesen Aufwand betreibt, wenn er in der Situation gar keinen Nutzen davon hat? Nun, es ist anzunehmen, dass der Hörer dem Sprecher das Bemühen zuspricht, dass der geäußerte Satz oder das geäußerte Wort von Relevanz für die Kommunikationssituation ist. Zwar stimmt es, dass ein Hörer sich wohl nur sehr selten aus eigenem Antrieb (und erst recht nicht unbemerkt) beeinflussen lassen möchte, aber stimmt es denn auch, dass sich ein Hörer in eine Kommunikationssituation <?page no="200"?> 200 9 Was sind die Prinzipien des Bedeutungswandels? begibt, einzig aus dem Bestreben heraus, neue Informationen zu sammeln? Richtig ist: Auch Hörer haben Interesse an belebender und kreativer Sprache. Es ist ein Grundprinzip der Wechselwirkung, das beim Kommunizieren eine Rolle spielt. Sprecher wollen beeinflussen und im besten Sinne des Wortes etwas zum Ausdruck bringen. Hörer wollen mehr als nur nüchterne Informationen aus einem Gespräch mitnehmen. Das kennen Sie auch: Eine Vorlesung in der Uni, in der man Ihnen reines Faktenwissen vermittelt, ist doch längst nicht so spannend wie ein angeregtes Gespräch auf einer Party. Wenn Sie die Vorlesung verlassen, sind Sie im besten Fall informiert. Nach der Party sind Sie vielleicht weniger informiert, aber dafür umso mehr amüsiert, begeistert von anderen Menschen oder einfach nur glücklich, weil Sie über Gott und die Welt reden konnten und damit Teil des sozialen Systems waren. Genau das sind auch die drei wesentlichen Gründe für zwischenmenschliche Kommunikation: 1. Soziale Interaktion, zu der auch die Selbstdarstellung gehört, 2. Persuasion im Sinne einer Überzeugungsarbeit und 3. Repräsentation, also die Darstellung von Sachverhalten. Diese drei Zwecke sind es, nach denen wir Sprache im Allgemeinen und Wörter im Speziellen verwenden (vgl. Bechmann 2013: 323 ff.). Um über etwas zu sprechen, wägen wir genau ab, welche Wörter sich dazu-- je nach Situation-- für uns eignen. Es gibt Wörter, mit denen wir etwas über die Welt aussagen (Repräsentation). Die deutschen Wörter Baum, Fahrrad oder liegen gehören dazu. Viele Begriffe verwenden wir hingegen, um unsere Überzeugung zum Ausdruck zu bringen-- und gerne wollen wir, dass unsere Gesprächspartner diese Ansichten teilen (Persuasion). Die Adjektive schön oder hässlich sind Beispiele dafür. Wenn wir umgangssprachlich zu der gegenwärtig beliebten Anrede Ey Alter greifen, dann werden wir das deshalb tun, weil es für die Kommunikation in der sozialen Gruppe, in der wir uns bewegen, üblich ist (soziale Interaktion). Die expressive Redeweise ist möglicherweise Ausdruck sozialer Interaktion, denn sie sagt etwas über uns selbst aus-- und über unseren Standpunkt in der Gesellschaft. Das Sprachsystem hält im Prinzip für all diese Zwecke Wörter bereit. Manchmal aber gibt es zur Erreichung unserer kommunikativen Ziele kein passendes Wort. In diesen Fällen verwenden wir ein bekanntes Wort und formen es semantisch um-- zunächst okkasionell, später durch einen invisible-hand-Prozess systematisch, wodurch der neue Sinn über kurz oder lang zur neuen Gebrauchsregel wird. Hier kommen die Parameter der Gebrauchsregel ins Spiel. Sie sind es ja, <?page no="201"?> 201 9.2 Wie verändern sich Gebrauchsregeln? die den Kern der Bedeutung ausmachen. Oder anders: Durch sie wird angezeigt, wie man ein Wort benutzen kann-- also zu welchem Zweck es taugt. Verändern wir nun den Zweck der Nutzung, dann verändern wir auch die Struktur der bestimmenden Parameter (natürlich unbewusst, aber folgenreich). Wir fügen durch unsere Neuverwendung eines Wortes Bedeutungsbestandteile hinzu und drängen andere zurück. Erkennen können wir das natürlich nicht, denn diese Parameter sind ja struktureller Bestandteil der Gebrauchsregel. Indem wir die Gebrauchsregel verändern, ändern wir aber immer auch ihre Struktur. Für Bedeutungswandel ist dabei ein Gedanke zentral: „Wenn sich die Bedeutung eines Wortes dadurch verändert, dass die Dominanz von Bedeutungsparametern innerhalb der Gebrauchsregel verschoben wird, dann sind die Bedeutungsparameterveränderungen eine semantische Kopplung zwischen dem kommunikativen Zweck und dem modifizierten sprachlichen Mittel.“ (B ECHMANN 2013: 331) Das klingt komplizierter, als es ist, denn es bedeutet lediglich, dass ein Sprecher mit der Äußerung eines Wortes oder eines Satzes ein kommunikatives Ziel verfolgt, das sich zunächst auf der außersprachlichen Ebene verorten lässt-- nämlich im Kopf des Sprechers. Der Sprecher weiß, was er will: Er kann einen Sachverhalt darstellen (Repräsentation), sein Gegenüber durch die Wahl seiner sprachlichen Mittel beeinflussen (Persuasion) oder eine sozial determinierende Aussage über sich selbst treffen (soziale Interaktion) wollen. Wir bewegen uns mit diesen gerade skizzierten kommunikativen Absichten oberhalb einer gedachten Linie zwischen der außersprachlichen und der innersprachlichen Ebene, die beide gemeinsam die Bedeutung bestimmen. Die außersprachliche Ebene ist die Dimension der Absichten, die innersprachliche Ebene ist diejenige des Sprachsystems mit seinen Wörtern. Unterhalb dieser imaginären Linie findet die sprachliche Realisierung der Absichten des Sprechers statt. Da diese Realisierung auf der Wortebene in denjenigen Fällen, in denen es zum Bedeutungswandel kommt, durch die Veränderung der Parameterzusammensetzung geschieht, finden unterhalb dieser Linie Veränderungen der Wortbedeutung statt, die unmittelbar an die kommunikativen Absichten der Sprecher auf der außersprachlichen Ebene gekoppelt sind. Zwischen der Ebene der Veränderungen der Wortbedeutung durch den Wortgebrauch und der Ebene der Sprecherabsichten besteht also eine direkte Verbindung, die man semantische Kopplung nennen kann (vgl. Bechmann 2013: 322 ff.). Die folgende Abbildung soll Ihnen helfen, dieses Prinzip der Kopplung besser zu verstehen: <?page no="202"?> 202 9 Was sind die Prinzipien des Bedeutungswandels? Wahlhandlungen Nutzen Kommunikativer Zweck Repräsentation (darstellen) Persuasion (überzeugen) Soziale Interaktion (selbst-darstellen) Ästhetik motorisch kognitiv Außersprachliche Ebene (=Zweck) Wortebene/ Bedeutungsebene (=sprachliche Realisierung) Semantische Kopplung Kosten Abb. 17 2-Ebenen-Modell der Bedeutung (nach B E CHMANN 2013: 330) Was uns diese Betrachtung der Motive des Bedeutungswandels zeigen kann, ist Folgendes: Wenn Sprecher einen bestimmten Zweck verfolgen (außersprachliche Ebene) und dazu ein Wort anders als gewohnt verwenden, dann verändert sich in der Folge die Wortbedeutung (Bedeutungsebene). Damit verbunden ist dann stets eine Verschiebung der bedeutungsbestimmenden Parameter auf der Wortebene. Das möchte ich Ihnen an einem Beispiel zeigen. Sehen Sie sich bitte die beiden folgenden Sätze an und vergleichen Sie einmal die Bedeutungen der Verben darin: 1. Heute köpfe ich eine Flasche Wein. 2. Der Henker köpft den Verurteilten. Sie werden feststellen, dass köpfen hier sehr unterschiedlich verwendet wird. Flaschen haben gar keinen Kopf, Menschen hingegen schon-- allerdings haben auch Flaschen einen Hals. Wie konnte sich die neue Bedeutung, die sich auf <?page no="203"?> 203 9.2 Wie verändern sich Gebrauchsregeln? Flaschen bezieht, durchsetzen? Was denken Sie, ist die Absicht, die hinter dem veränderten Wortgebrauch steckt? Für dieses Beispiel lässt sich der Bedeutungswandel folgendermaßen Schritt für Schritt reproduzieren: ▶ Köpfen ist eine menschliche Tätigkeit. ▶ Das Wort köpfen ist ein beschreibendes Wort und wird zum Zweck der Repräsentation verwendet. ▶ Das Wort wird semantisch bestimmt durch Parameter aus der äußeren Welt. ▶ Flaschen kann man auf unterschiedliche Weise öffnen. ▶ Das Köpfen einer Flasche ist eine besonders expressive Art, eine Flasche zu öffnen, z. B. mit einem Schwert. 17 ▶ Diese Art des Öffnens erinnert an den Vorgang des Köpfens von Verurteilten. ▶ Sprecher wollen sich gerne expressiv und innovativ ausdrücken. ▶ Die Übertragung des Wortes von der einen auf die andere Sache ist bildhaft. ▶ Das Bild ist passend. ▶ Der Ausdruck erhält expressive Bedeutungsmerkmale (Parameter aus der inneren Welt der Haltungen) hinzu. ▶ Die neue Lesart von köpfen ist expressiv. ▶ Köpfen in der neuen Lesart ist ein expressives Wort und wird zum Zweck der Persuasion verwendet (hier: bildhafte Verständigung und Beeinflussung durch innovatives Sprechen). ▶ Köpfen ist nicht mehr in erster Linie ein beschreibendes Wort. ▶ Die Gebrauchsregel (also die Bedeutung) hat sich verändert. ▶ Die (veränderten) Absichten auf der Ebene des Sprechers haben durch die Wortverwendung zu einer Veränderung der Gebrauchsregel geführt (semantische Kopplung). Halten wir fest: „Ein Sprecher verwendet [Wörter] mit der Absicht der Repräsentation, der Persuasion oder der sozialen Interaktion und greift dabei zu sprachlichen Mitteln, die über ihre spezielle Parameterstruktur auf Bedeutungsebene dazu geeignet sind, eben diese Absichten zum Ausdruck zu bringen“ (Bechmann 2013: 338 f.). Der Prozess, der beim Bedeutungswandel von Fall zu Fall abläuft, lässt sich nun sehr genau nachzeichnen: Zunächst kommt es zu einer Regelabweichung oder Re- 17 Vgl. auch den Ausdruck Sabrieren als Fachbegriff für das Öffnen von Champagnerflaschen mit einem sog. Champagnersäbel (von frz. sabre = Säbel). <?page no="204"?> 204 9 Was sind die Prinzipien des Bedeutungswandels? gelverletzung. Dabei handelt es sich um ein intentionales Handeln, denn Sprecher weichen von der Norm ab, weil sie es wollen und nicht (wie beim sprachlichen Fehler), weil sie es nicht besser wissen. Der erste Schritt des Bedeutungswandels ist final, also zweckgerichtet und motiviert, denn ihm liegen Absichten zugrunde. Die zweite Stufe des Bedeutungswandels ist noch immer durch intentionales Handeln bestimmt. Hier wird die Regelverletzung zur regelkonformen Spezialverwendung. Das bedeutet, dass die Verwendung des Wortes semantisch nicht eigentlich falsch, aber eben auch noch nicht wirklich richtig ist. Sie ist im Begriff, sich langsam durchzusetzen. Dieser Durchsetzungsprozess folgt dem bekannten invisible-hand-Prozess und er ist verbunden mit einer strukturellen Veränderung der Gebrauchsregel. Bestimmte Parameter gewinnen an Bedeutung, andere verblassen. In dieser Übergangszeit, in der eine neue Gebrauchsregel gerade entsteht, kommt es zumeist zu einem Nebeneinander von alter und neuer Wortbedeutung (Koexistenz). Die letzte Stufe des Bedeutungswandels ist die Neuverregelung als kausale Folge der Stufen 1 und 2. Zur Verdeutlichung des Gesamtablaufs soll Ihnen folgende Abbildung dienen: Abb. 18 Bedeutungswandelprozess <?page no="205"?> 205 9.3 Weiterführende und vertiefende Literatur 9.3 Weiterführende und vertiefende Literatur Die in diesem Kapitel vorgestellte Theorie der Parameter der Gebrauchsregel geht im Kern zurück auf die Arbeiten von R UDI K ELLER und P E T R A R ADTK E . Eine frühe Klassifizierung lässt sich bei R ADTK E 1998 nachlesen. Bei K ELLER 2002 wird diese Klassifizierung erweitert und mit Beispielen unterfüttert. Beide Texte sind für dieses Thema lesenswert. Eine zeitgemäße Erweiterung der Theorie, auf der auch die Ausführungen in diesem Buch basieren, sowie eine ausführliche Herleitung dieser Gedanken finden Sie bei B ECHMANN 2013: 96 ff. Zu den kommunikativen Zielen, die zum Bedeutungswandel führen, sind die Ausführungen bei K ELLER / K I R SCHBAUM 2003: 135 ff. erhellend. Auch die dort präsentierten Sprecherabsichten sind in B ECHMANN 2013 erweitert worden. <?page no="206"?> 206 10 Was sind die Ursachen und Verfahren des Bedeutungswandels? 10 Was sind die Ursachen und Verfahren des Bedeutungswandels? Es ist nicht gesagt, dass es besser wird, wenn es anders wird. Wenn es aber besser werden soll, muss es anders werden. Georg Christoph Lichtenberg (1742-1799) Ziele und Warm-up Bedeutungswandel ist ein prozessuales Phänomen, bei dem Wortebene (Sprachebene) und Sprecherebene verbunden sind (semantische Kopplung). Verschiebungen semantisch bestimmender Parameter auf der Wortebene sind die Folge eines abweichenden Wortgebrauchs. Resultat ist der Bedeutungswandel als Neuverregelung, also als Etablierung einer neuen Gebrauchsregel. In diesem Kapitel wollen wir uns fragen, welche sprachlichen Mittel Sprechern zur Verfügung stehen, um ihre kommunikativen Absichten, die wir im vorherigen Kapitel kennengelernt haben, umzusetzen. Es geht also um die Ursachen (verstanden als kommunikative Handlungen) und um die Verfahren, die den Bedeutungswandel auslösen. Dabei werden uns insbesondere Metaphern und Metonymien beschäftigen, die sich als assoziative Verfahren dazu eignen, einen neuen Sinn zu generieren. Steigen wir ein über folgende Denkaufgaben: ▶ Warum kann man mega gut nicht als Note in ein Zeugnis schreiben? ▶ Was dreht sich, wenn Sie ein Video drehen? ▶ Warum ist ein schöner Freund eigentlich ein schlechter? ▶ Ist Krieg etwas anderes als Militärische Friedenssicherung? ▶ Warum können Menschen zwar fressen, aber Tiere nicht speisen? ▶ Wieso kann uns ein Film ergreifen oder berühren, obwohl er keine Hände hat? <?page no="207"?> 207 10.1 Bedeutungswandel und technischer Fortschritt 10.1 Bedeutungswandel und technischer Fortschritt — beste Freunde oder nur Bekannte? Kulturelle Neuerungen führen in aller Regel dazu, dass sich unser Weltwissen verändert. Neues Weltwissen wird gleichsam überführt in neue sprachliche Wissensbestände, da wir unser Welt- und Sprachwissen nicht voneinander trennen können. Alles, was wir über unsere Welt wissen, ist sprachlich in unseren Köpfen angelegt, denn unser Denken ist untrennbar an Sprache geknüpft (vgl. Kapitel 1 und 2). Daher scheint die Annahme höchst plausibel, dass Innovationen in der Welt, insbesondere technische Veränderungen, sprachliche Innovationen hervorbringen und dass es eine Wechselwirkung zwischen Welt und Sprache gibt, die sich auch semantisch manifestiert. Was ist dran an dieser Vermutung? Betrachten wir zunächst ein Beispiel, das diese These stützen kann: Das deutsche Wort Eisbein, das ein Stück Schweinefleisch am Knochen bezeichnet, hat durch technischen Fortschritt einen Bedeutungswandel erfahren. Das werden Sie wahrscheinlich schon immer vermutet haben, denn was das Eisbein mit Eis zu tun hat, ist wahrlich schleierhaft. Das war aber nicht immer so. Bevor Kufen von Schlittschuhen aus Metall gefertigt wurden, waren es eben diese Knochen, die man dazu verwendet hat. Auch wenn die Funktion des Eisbeins sich durch technischen Fortschritt verändert hat, ist die ursprüngliche Bezeichnung erhalten geblieben. Die Gebrauchsregel aber, also die Bedeutung, hat sich verändert, denn wenn Sie von einem Eisbein sprechen, dann meinen Sie nicht mehr den Knochen, aus dem Schlittschuhkufen gefertigt werden, sondern sie meinen damit eine Schweinshaxe. Die Wortbedeutung involviert so gesehen keine technischen Aspekte mehr, sondern lediglich kulinarische. Das Beispiel scheint die These zu stützen. Sie werden allerdings weiter unten Beispiele finden, bei denen ein mindestens ebenso starker technischer Fortschritt nicht zum Bedeutungswandel geführt hat. Deshalb sollten wir uns bereits an dieser Stelle merken: Technischer Fortschritt kann eine Ursache des Bedeutungswandels sein. Er ist es aber nicht notwendiger Weise und er ist zudem für Bedeutungswandel weniger wichtig, als man denkt. Das gilt für den Kulturwandel insgesamt. Es wird vielfach behauptet, dass Wortbedeutungen geknüpft sind an bestimmte kulturelle Bedingungen. Die These von der Unübersetzbarkeit von Sprache schlägt in diese gedankliche Kerbe, denn sie geht davon aus, dass Begriffe der <?page no="208"?> 208 10 Was sind die Ursachen und Verfahren des Bedeutungswandels? einen nicht verlustfrei in eine andere Sprache übersetzt werden können. Das deutsche Wort Heimat hat keine Entsprechung im Englischen, denn hometown, das diesem Wort am ehesten entspricht, ist etwas anderes. Heißt das nun aber, dass ein Amerikaner kein Heimatgefühl hat, nur weil es den Begriff in seiner Sprache nicht gibt? Lassen sich kulturelle Unterschiede über diesen Umstand ablesen? Ist die Wortbedeutung von Heimat ein Ergebnis kultureller Entwicklung? Und was ist dran an der Behauptung, dass Wortbedeutungen generell kulturell bestimmt sind? Viele Vertreter dieser These von der kulturellen Festlegung von Sprache gehen davon aus, dass es in manchen Sprachen kulturell bedingte Besonderheiten gibt, die das Lexikon einer Sprache bestimmen. Das ist sicher richtig. Eine Kuckucksuhr gibt es im Kongo wahrscheinlich nicht- - und damit auch kein Wort dafür. Würden die Menschen dort anfangen, Kuckucksuhren zu bauen, würde mit dem neuen Ding ein neues Wort nötig werden, denn sie müssten diese Uhr ja irgendwie benennen. Das ist eine plausible Vorstellung: Mit einem neuen Ding kommt ein neues Wort. Und mit dem Verschwinden eines Dings verschwindet auch der Begriff dafür. Oder etwas technischer ausgedrückt: Mit der Veränderung einer Sache verändert sich auch die Bedeutung des Wortes, das die Sache bezeichnet. So weit, so gut. So weit, so richtig? Bevor wir darauf näher eingehen, möchte ich Ihnen zeigen, dass das Verhältnis von Wort zur Welt nicht so eng ist, wie man immer denkt. Und dass zudem Kultur und technischer Fortschritt bei der Genese und beim Wandel von Wortbedeutungen keine große Rolle spielen. Als Paradebeispiel für den soeben skizzierten kulturellen Determinismus von Sprache-- und insbesondere von Wortbedeutungen-- werden häufig die Eskimo genannt. Vielleicht haben Sie auch schon davon gehört: Die Eskimo besitzen zahlreiche (zusammengesetzte) Begriffe für das, was wir (angeblich) einfach nur Schnee nennen. So haben sie dort Wörter, die etwa so viel bedeuten wie driftender Schnee, Schnee am Boden, fallender Schnee usw. Wir hingegen hätten dafür, so behaupten viele, keine lexikalische Entsprechung. Dass wir Schnee weniger differenziert oder anders betrachten (auch lexikalisch), soll daran liegen, dass Schnee für uns nicht so wichtig sei, weil er allenfalls im Hinblick auf Straßenverkehr oder Freizeitgestaltung eine Rolle spiele. Wir müssen weder die Farbe noch die Festigkeit beurteilen, um uns im Alltag-- wenn es in unseren Breiten überhaupt einmal schneit-- zurechtzufinden. Stattdessen differenzieren wir Deutschen zwischen Altbier, Pils, Kölsch, Klosterbier und allerlei weiteren Biersorten, die zu kennen einer Wissenschaft gleicht. Während Sie anderenorts in der Welt ein Bier bekommen, wenn Sie eines bestellen, haben Sie bei uns die Qual der Wahl. Dieses Beispiel zeigt (auf den ersten Blick): Ob wir Wörter für etwas haben oder <?page no="209"?> 209 nicht (und was diese bedeuten), hängt mit unserer Kultur zusammen, also mit der Frage danach, was für uns wichtig ist und was nicht. Das Beispiel der Eskimosprache macht das deutlich. Nun, was ist daran falsch? Falsch ist die Annahme, es gäbe im Deutschen nur ein Wort für Schnee. Wir können ziemlich genau zwischen Neuschnee, Altschnee, Pulverschnee und Schneematsch oder Schneeregen unterscheiden und kennen auch weitere Begriffe wie etwa Schneefall, Schneeverwehung oder Schneesturm. Das Vorkommen von Wörtern hat nichts mit dem kulturellen Wert einer Sache zu tun, für die diese Begriffe stehen, sondern allein etwas mit dem kommunikativen Nutzen, den wir durch diese Begrifflichkeiten haben. Ob wir ein Wort besitzen oder nicht, hängt a) von seinen Nutzungsmöglichkeiten und b) von unseren Sprecherabsichten ab. Und ob sich ein Wort semantisch verändert, ist ebenso von diesen beiden Faktoren abhängig. Bedeutungswandel ist eine Frage der Nützlichkeit und des Zwecks, nicht aber der kulturellen Bedingungen. Bedeutungswandel ist kein Phänomen des Kulturwandels. Was für Sprachwandel im Allgemeinen gültig ist, gilt nicht zwingend für den Bedeutungswandel. Für Sprachwandel hatten wir im ersten Teil dieses Buchs festgestellt, dass Kulturwandel in manchen Fällen (z. B. über Sprachkontakt) zum Sprachwandel führen kann. Beim Bedeutungswandel ist das anders. Ein weiteres Beispiel, das Ihnen zeigen soll, dass Wortbedeutungen und Kulturen nicht so viel miteinander zu tun haben, wie man gemeinhin annimmt, ist das Wort ilunga, das aus der Bantusprache stammt. Dieses Wort trägt eine Bedeutung, für die wir weder im Deutschen noch m. W. in einer anderen europäischen Sprache eine Entsprechung kennen. Bevor ich die Bedeutung auflöse, könnten wir spekulieren: Vermutlich handelt es sich um ein Wort, das etwas beschreibt, was es bei uns nicht gibt oder für uns kulturell nicht wichtig ist. Leider ist diese Vermutung falsch, denn das, was dieses Wort bedeutet, ist uns alles andere als fremd. Es bezeichnet eine Person, die verzeiht, wenn sie das erste Mal verletzt wird, die eine zweite Verletzung erträgt und duldet, die aber schließlich ein drittes Mal eine solche Verletzung weder duldet noch verzeiht. Warum gibt es dieses Wort in unserer Sprache nicht? Die Antwort Weil es bei uns solche Menschen nicht gibt wäre sicher falsch. Ich nehme an, Sie kennen mindestens einen Menschen, der genau nach dieser Maxime handelt. Die Lösung muss daher vielmehr lauten: Wir benötigen kein Wort in unserer Sprache dafür-- 10.1 Bedeutungswandel und technischer Fortschritt <?page no="210"?> 210 10 Was sind die Ursachen und Verfahren des Bedeutungswandels? obwohl es ein soziales Verhalten beschreibt, dass es auch in unserem Kulturkreis (wie in wohl jedem anderen auch) gibt. Ein weiteres Beispiel, bevor wir explizit zum Verhältnis von Kulturwandel und Bedeutungswandel kommen: Lesen Sie gerne? Kaufen Sie gerne Bücher? Gehören Sie vielleicht auch zu denjenigen Leuten, die Bücher kaufen, obwohl sie gar keine Zeit zum Lesen haben? Landen diese Bücher dann ungelesen in Ihrem Bücherregal? Falls ja, wie nennt man diese Eigenschaft? Sie wissen es nicht? Das liegt daran, dass wir im Deutschen kein Wort dafür haben. In Japan nennt man dieses Verhalten tsundoku. Kulturelle Phänomene können lexikalischen Wandel zur Folge haben. Es gibt aber auch kulturelle Phänomene ohne lexikalische Entsprechung. Im Folgenden möchte ich Ihnen noch einige Beispiele aus dem Deutschen präsentieren, die zeigen können, dass Bedeutungswandel nicht an Kulturwandel geknüpft sein muss und dass man vorsichtig sein sollte, Bedeutungswandel als Spiegelung kultureller Entwicklung unangemessen zu generalisieren (vgl. Bechmann 2013: 185 ff.). Betrachten wir dazu die Annahme, dass Bedeutungswandel untrennbar an die vielfältigen Veränderungen der außersprachlichen Wirklichkeit geknüpft sei; ganz besonders der technische Wandel wird oft als zentral hervorgehoben. Auch wenn es unbestritten ist, dass der Kommunikationsbedarf die zweckrationale Wahl sprachlicher Zeichen und damit auch bisweilen den Wandel von Wortbedeutungen bestimmt, muss man aufpassen, dass man diesen Kommunikationsbedarf nicht allein als eine Spiegelung von gesellschaftlicher Modernisierung und kultureller Entwicklung begreift. Davon abgesehen, dass Bedeutungswandel eben nicht als natürliche Folge irgendeiner Entwicklung gewertet werden darf, hat Sprache keine Abbildfunktion und gibt somit auch keine außersprachliche Wirklichkeit wieder. Das Argument, der Wandel bei Wortbedeutungen sei a priori darauf zurückzuführen, dass sich die zugrundeliegende Entität geändert habe, ist falsch. Denn: Weder verschwinden Lexeme notwendigerweise, wenn sich ihre Referenten verändern oder verloren gehen, noch bedingen kulturelle oder technologische Neuerungen in jedem Fall neue Wörter: „Wenn wir genauer hinschauen, so stellen wir schnell fest, daß nicht jeder Veränderung in der Welt eine Veränderung in der Sprache entspricht, noch jeder Veränderung in der Sprache eine Veränderung in der Welt entspricht“ (Keller 1995b: 208). Dazu drei Belege aus dem Deutschen: <?page no="211"?> 211 Wenn Sie heute einen Film produzieren, dann werden Sie aller Wahrscheinlichkeit nach davon sprechen, dass Sie den Film zunächst drehen und dann schneiden. Diese beiden Vorgänge laufen mit ziemlicher Sicherheit digital ab: Sie haben vermutlich eine digitale Kamera und der Schnitt erfolgt an einem Computer. Sie benötigen dazu weder eine Kurbel noch eine Schere. Der massive technische Wandel im Bereich der Filmproduktion hat also nicht dazu geführt, dass sich die Wortbedeutungen verändert haben. Das zweite Beispiel hat etwas mit der Frage zu tun, ob Wörter mit ihren Bedeutungen zwingend verschwinden müssen, wenn der durch sie ausgedrückte Sachverhalt obsolet wird. Sie kennen vielleicht das Verb köhlern, das eine bestimmte Methode der Holzkohlegewinnung bezeichnet. Diese Herstellungsweise ist-- auch wenn der Verfasser dieser Zeilen kein Experte ist-- heute in unserer Gesellschaft nicht mehr üblich. Köhlern bedeutet, auf eine bestimmte Art x mit den Mitteln y in der Zeit z Holzkohle herzustellen. Und zwar auch dann noch, wenn auf diese Weise kein Mensch mehr Holzkohle handwerklich gewinnt. Es wäre falsch, in diesem Fall von Bedeutungswandel zu sprechen, denn die Bedeutung hat sich trotz des kulturgeschichtlich oder technologisch bedingten Wegfalls der Tätigkeit nicht geändert. Wir köhlern nicht mehr, also brauchen wir das Wort nicht mehr-- das wäre das naive Sprachverständnis, welches technischen Wandel mit lexikalischem Wandel gleichsetzt. Das Beispiel soll Ihnen zeigen: Wörter können durch den Kulturwandel ungebräuchlich werden, die Regel für ihren Wortgebrauch hingegen, also die Bedeutung, bleibt aber u. U. konstant. So sind Wörter, die wir heute nicht mehr verwenden, weil sie eine Entität oder Tätigkeit beschreiben, die es nicht mehr (oder nicht mehr in dieser Form) gibt, trotzdem noch immer dazu geeignet, eben diese Entität oder Tätigkeit auszudrücken. Ich kann ein aufgrund kulturellen Wandels ungebräuchliches Wort heute noch uneingeschränkt dazu verwenden und mit seiner Hilfe auf Obsoletes referieren. Das dritte Beispiel kennen Sie schon: Dass wir heute das evaluative Verb fressen auf Menschen beziehen können, ist kein Resultat kulturellen Wandels. Ganz im Gegenteil: Es ist wohl eher anzunehmen, dass die Esskultur in Deutschland gegenwärtig gepflegter ist als zu jeder anderen Zeit der Vergangenheit. Die Hypothese, dass sich aus Veränderungen der Sprache ein Schluss auf Veränderungen der Welt ergibt und vice versa, entspringt einem naiven Sprachrealismus, der die kommunikativen Grundprinzipien außer Acht lässt und Wortbedeutung eng an die Abbildung von Wirklichkeit koppelt. 10.1 Bedeutungswandel und technischer Fortschritt <?page no="212"?> 212 10 Was sind die Ursachen und Verfahren des Bedeutungswandels? Aus diesem Grund können als Ursachen für den Bedeutungswandel die nachfolgenden angenommen werden: ▶ Bedürfnis nach beschönigender Ausdrucksweise (euphemistisches Sprechen), ▶ Bedürfnis nach expressivem Ausdruck, ▶ Streben nach bildhafter Ausdrucksweise (kreatives Sprechen), ▶ Notwendigkeit der Benennung abstrakter Sachverhalte durch konkrete, ▶ Bedürfnis der Benennung neuer Entitäten oder Tätigkeiten durch Umdeutung bekannter Begriffe (Deckung eines aktuellen Bezeichnungsbedarfs), ▶ Verzicht auf ungebräuchlich oder unnötig gewordene Bezeichnungen (Sprachökonomie). Die häufig als primäre Ursachen genannten Faktoren ▶ technische Innovationen oder Veränderungen und ▶ Wegfall einer Sache oder Tätigkeit (beides: Bedeutungswandel durch Sachwandel) können zum Bedeutungswandel führen, müssen es aber nicht. Daher sollten wir vorsichtig sein, diese beiden Ursachen zu stark zu gewichten. Von weitaus größerem Einfluss sind diejenigen Ursachen, die ihre Motivation beim Sprecher finden, denn sie führen uns zu den kommunikativen Handlungsweisen, die man als Verfahren des innovativen Wortgebrauchs bezeichnen kann-- und die wir im Folgenden ergründen wollen. Hinweis für Dozierende: Nachfolgend werden die Verfahren und Mechanismen des Bedeutungswandels anhand von Beispielen aus dem Deutschen vorgestellt. Weitere anschauliche Beispiele aus dem Deutschen sowie aus den romanischen Sprachen finden Sie in den Literaturempfehlungen am Ende des Kapitels. Dozierenden in den romanistischen oder anglistischen Fächern wird geraten, Beispiele aus der jeweiligen Einzelsprache zu verwenden — die Grundprinzipien lassen sich übertragen. Zudem empfehle ich eine Übung, bei der die Studierenden selbstständig die Verfahren und Mechanismen anhand von Beispielen bestimmen sollen. Das hat sich in meinen Seminaren als sehr zielführend erwiesen. <?page no="213"?> 213 10.2 Die Mechanismen des Bedeutungswandels 10.2 Mega geil oder erschreckend scharf? — die Mechanismen des Bedeutungswandels Wenn wir Wörter anders als gewohnt verwenden, dann ist diese Verwendung, wenn wir Sprachkompetenz besitzen, stets motiviert, also gekoppelt an Absichten. Unmotivierte Verwendung eines Ausdrucks fern der Gebrauchsregel ist hingegen einfach fehlerhaftes Sprechen. Wenn Menschen beispielsweise Fachbegriffe oder Fremdwörter falsch verwenden, dann kennen sie meistens deren Verwendungskonventionen nicht. So etwas ist und bleibt ein Fehler. Innovative Sprachverwendung und fehlende Sprachkompetenz sind nicht dasselbe. Das eine kann zum Bedeutungswandel führen, das andere hingegen führt lediglich zu Missverständnissen. Nun lassen sich zwar alle Absichten sprachlich irgendwie realisieren, aber nicht alle Wörter sind geeignet, semantisch umgeformt zu werden. Wenn Sie sich kreativ oder innovativ ausdrücken möchten, dann greifen Sie auf Wörter zurück, die eine semantische Nähe zu demjenigen Sachverhalt besitzen, den Sie benennen wollen. Die ad hoc-Bezeichnung Ihres trinkfesten Freundes als Flaschenöffner erfolgt auf der Basis von Weltwissen-- und sie läuft ab als Analogieschluss: Sie übertragen dabei das Trinkverhalten Ihres Freundes durch die Verwendung eines Begriffs für einen Gegenstand, der mit Alkoholgenuss in Verbindung gebracht wird, über diesen Begriff auf Ihren besten Freund selbst. Wenn Sie sagen Mein Freund Fritz ist ein Flaschenöffner, dann zeigt der Kontext an, dass Sie nicht von einem echten Flaschenöffner sprechen. Die semantische Nähe zwischen zwei Entitäten muss aber gegeben sein, um Begriffe sinnvoll umdeuten und sie also mit neuem Sinn versehen zu können. In aller Regel denken wir assoziativ und figurativ, also in Bildern, die uns eine Vorstellung von dem geben, was in der Welt physisch oder metaphysisch existiert. Assoziative Verfahren, die auf Gleichheit oder Ähnlichkeit basieren, formen Wortbedeutungen um. Oder richtiger: Die assoziative Verwendung bestimmter Wörter führt zum Bedeutungswandel. Gegenwärtig ist im Deutschen die Verwendung des Wortes mega als freies Lexem, häufiger aber als Präfix in Wörtern wie megagut oder megamäßig sehr verbreitet. Die Vorsilbe mega stammt aus dem Griechischen und bedeutet zunächst so viel wie groß. Diese Bedeutung steckt in Wörtern wie Megaphon (es vergrößert die Stimme) und Megalith (ein großer Stein). Die lexikalische Bedeutung der <?page no="214"?> 214 10 Was sind die Ursachen und Verfahren des Bedeutungswandels? Vorsilbe ist in diesen Wörtern mittlerweile verwässert und in die lexikalische Gesamtbedeutung des Wortes inkorporiert. Das erkennt man etwa dann, wenn jemand von einem großen Megalith spricht. Eigenständige lexikalische Bedeutung trägt mega heute als mathematische Größe: Dort kennzeichnet der Vorsatz mega Maßeinheiten mit dem Faktor eine Million (z. B. eine Megatonne-= eine Million Tonnen). Etwas mega zu finden, bedeutet also, etwas ganz groß zu finden. Dabei wird mega aktuell oft adjektivisch verwendet: Ein mega Film ist ein großer, vermutlich sogar ein großartiger Film. Durch diese neue Wortverwendung verändert sich nun plötzlich zum einen die Wortart (Präfix → Adjektiv). Zum anderen erhält das Wort mit seiner neuen Gebrauchsregel eine bewertende Hauptbedeutung (was für Adjektive in aller Regel gilt). Wenn die Vorsilbe mega so viel wie groß bedeutet, dann kann man sie auch dazu verwenden, um eine (emotionale) Bewertung von Sachverhalten, Erlebnissen und Dingen zum Ausdruck zu bringen. Das Gegenteil von mega wäre mikro. Ein besonders schlechter Film müsste dann ein mikro Film sein. Ich kenne niemanden, der das sagt, was den Schluss nahelegt, dass es gegenwärtig keinen Bedarf an innovativen und expressiven Ausdrücken für schlechte, wohl aber für gute Dinge gibt. Dieses Beispiel zeigt uns, dass die Auswahl von Begriffen zum innovativen Wortgebrauch durch zwei Aspekte limitiert ist: Zum einen eignen sich allein Begriffe, die eine semantische Nähe zum ausgedrückten Sachverhalt zeigen. Die wertneutrale Vorsilbe mega kann als bewertendes Adjektiv aufgrund semantischer Äquivalenz anstelle von großartig als eigenständiges Lexem verwendet werden. Denkbar wäre noch die Umformung von giga, aber aus Gründen, die unklar sind, hat sich gerade mega und nicht giga angeboten, von Sprechern in der beschriebenen Weise verwendet zu werden. Semantisch wäre giga ein ebenso guter Kandidat gewesen, nur ist er nicht zum Gegenstand der Umformung geworden, was wohl in erster Linie mit Zufällen erklärbar ist. Zum anderen erfolgt die Umdeutung einzig zur Deckung eines momentanen Bedarfs. Und sie ist nicht systematisch, was sich daran zeigt, dass es keine Entsprechung für minderwertige Dinge durch die analoge Verwendung einer griechischen Vorsilbe gibt. Die semantische Nähe ist also ein wesentlicher Faktor beim Bedeutungswandel. Niemand verwendet mega bewusst adjektivisch, um ein neues, bewertendes Adjektiv zu etablieren, aber aufgrund seiner Bedeutung als Vorsilbe ist es einleuchtend, dass es sich gut dazu eignet. Die Verwendung erfolgt deshalb ganz bewusst. Oder besser: Sprecher wissen zwar, dass die Verwendung als Adjektiv nicht kon- <?page no="215"?> 215 ventionell ist. Aber sie ist innovativ und aufgrund semantischer Nähe möglich. Wer weiß, was die Vorsilbe mega bedeutet, versteht auch, was ein Sprecher meint, wenn er von einem mega Auto spricht. Die Nutzungsmöglichkeit eines Wortes ist limitiert durch das sprachliche Wissen. Bedeutungswandel erweitert die kommunikativen Nutzungsmöglichkeiten der Sprecher durch assoziative Verfahren der Umdeutung auf der Folie sprachlichen Wissens und auf der Basis von Kontextinformationen, also von situativem Weltwissen. Nun interessiert uns, welche speziellen Verfahren (sprachliche Handlungsweisen) dazu geeignet sind, Sprecherabsichten umzusetzen. Es ist zugleich die Frage nach den Verfahren der Regelumdeutungen, die einen Bedeutungswandel zeitigen können. Infrage kommen dabei Bedeutungsübertragungen aufgrund von Assoziationen zwischen der Ausgangs- und der Zielbedeutung: „In erster Linie spielen die drei Assoziationsmuster Similarität, Kontrast und Kontiguität (sowohl der Designate als auch der Zeichenausdrücke) eine entscheidende Rolle für die Ausgestaltung der semantischen Verfahren“ (Bechmann 2013: 230). Im Folgenden werden uns besonders die beiden wesentlichen Hauptverfahren beim Bedeutungswandel, Metaphorisierung und Metonymisierung, näher beschäftigen. Jeglicher Bedeutungswandel basiert auf Assoziationen. Fundamentale Assoziationsprinzipien sind zum einen die Kontiguität (semantische Angrenzung) und zum anderen die Similarität (semantische Ähnlichkeit). 10.2.1 Bedeutungswandel durch Sinnübertragung — zum Verfahren der Metaphorisierung Metaphern basieren auf Similarität, also auf semantischer Ähnlichkeit. Das Verfahren der Metaphorisierung ist der wichtigste Mechanismus beim Bedeutungswandel, denn in Metaphern zu denken (und in Metaphern zu sprechen) ist eines der zentralen Grundprinzipien menschlicher Kognition. Metaphern befriedigen das wohl wichtigste Bedürfnis als Motiv für Bedeutungswandel: das Streben nach innovativer und bildhafter Ausdrucksweise als Mittel der Persuasion. Denn: Wer sich besonders bildhaft ausdrücken kann, wird besser verstanden, gilt als kreativer und sprachgewandter und kann über dieses assoziative Sprachhandeln andere 10.2 Die Mechanismen des Bedeutungswandels <?page no="216"?> 216 10 Was sind die Ursachen und Verfahren des Bedeutungswandels? Menschen beeinflussen. Alle drei wesentlichen Sprecherabsichten, die durch semantische Kopplung zum Bedeutungswandel führen können, lassen sich durch das Verfahren der Metaphorisierung verwirklichen. Bei Hermann Paul können wir bereits 1880 lesen: Die Metapher ist eines der wichtigsten Mittel zur Schöpfung von Benennungen für Vorstellungskomplexe, für die noch keine adäquate Bezeichnungen existieren. Ihre Anwendung beschränkt sich aber nicht auf die Fälle, in denen eine solche äussere Nötigung vorliegt. Auch da, wo eine schon bestehende Benennung zur Verfügung steht, treibt oft ein innerer Drang zur Bevorzugung eines metaphorischen Ausdrucks. (Paul 1880 / 1995: 94 f.) In dieser frühen Festlegung spiegelt sich die später durch Lakoff und Johnson (1980) etablierte kognitive Metapherntheorie wider, die im Kern von einer Universalität kognitiver Metaphern ausgeht. Metaphern sind demnach keine rhetorischen Figuren, sondern alltägliche und fest in unserem Denken verankerte Sprachbilder. Sie sind damit nicht nur bloßes Beiwerk unserer Alltagssprache. Unser gesamtes Denken, Handeln und Sprechen im Alltag wie in der Wissenschaft funktioniert nach metaphorischen Mustern. Daher verwundert es nicht, dass Metaphern für semantische Umformungsprozesse von herausragender Bedeutung sind: „Die Lexikalisierung von metaphorischen Verwendungsweisen ist besonders häufig“ (Fritz 2006: 43). Metaphern funktionieren über das Prinzip der Ähnlichkeit, indem man einen konventionellen Ausdruck zur Bezeichnung einer bestimmten Sache dazu verwenden kann, auf eine andere (neue) Sache zu verweisen, die in irgendeiner Weise mit der Ursprungssache vergleichbar ist. Dabei stammen die Dinge, die zueinander in Beziehung gesetzt werden, aus unterschiedlichen Bereichen. So kann man z. B. über einen feinfühligen, etwas scheuen und vielleicht emotional leicht zu berührenden Menschen sagen, er sei eine Mimose. Die Bedeutungsanteile, die durch diesen Vergleich entstehen, sind nicht durch Verschiebung, sondern durch Übertragung Teil der neuen Gebrauchsregel geworden (hier: evaluative Bedeutungsparameter). Denn: Eine Mimose ist eine zarte und reizempfindliche Pflanze-- und damit kategorial etwas völlig anderes als ein weinerlicher Mensch. Dennoch kann man Ähnlichkeiten feststellen, wenn man sich von der ontologischen Ebene löst. Die Pflanze reagiert sensibel auf Erschütterungen, auf schnelle Abkühlung oder Erwärmung und außerdem auch auf Änderung der Lichtintensität. Das führt dazu, dass man ihr Eigenschaften zuschreibt, die man auch bei manchen Menschen finden kann. Ein schreckhafter Mensch verhält <?page no="217"?> 217 sich so ähnlich wie eine Mimose- - daher kann man ihn im übertragenen Sinn so nennen. Damit Metaphern zunächst verstanden und später konventionalisiert, also (in gebrauchstheoretischer Diktion) als neuer Gebrauchssinn verregelt werden können, ist Weltwissen erforderlich. Wer nicht weiß, was eine Mimose ist, also die Pflanze und deren Eigenschaften nicht kennt, wird den metaphorischen Vergleich nicht verstehen. Dasselbe gilt beispielsweise für das Wort Datenautobahn, das man nur begreifen kann, wenn man die Funktionsweise des Datentransfers kennt und zugleich weiß, was eine Autobahn ist. Nur dann wird die Metapher tatsächlich bildhaft-- und damit nützlich. Die Gefahr von Missverständnissen ist bei der Metaphorisierung zunächst hoch. Dennoch lohnt sich das Risiko. Denn: Konventionalisierte Metaphern tragen eigenständige lexikalische Bedeutung. Wenn eine Metapher bzw. ein ehemals metaphorischer Sinn zur Gebrauchsregel geworden ist, muss man den bildhaften Vergleich nicht mehr nachvollziehen können-- man kennt ja die Bedeutung, also die (neue und ehemals metaphorische) Verwendungskonvention des Wortes. Metaphern sind in einem frühen Stadium zunächst mit kognitiver Interpretationsarbeit verbunden, denn man muss vom Gesagten auf das Gemeinte schließen. Es ist erforderlich, nachzudenken, was jemand meinen könnte, wenn er z. B. einem Menschen den Namen einer Pflanze gibt. Dieser Prozess des Nachdenkens widerspricht zunächst dem Grundprinzip der sprachlichen (als auch kognitiven) Ökonomie. Aber das ist unproblematisch, denn durch den metaphorischen Wortgebrauch erweitert ein Sprecher die kommunikativen Nutzungsmöglichkeiten von Sprache um ein Vielfaches. Das, was semantisch in der Metapher steckt (übrigens ebenfalls eine metaphorische Wendung, denn natürlich steckt nicht wirklich etwas in einer Metapher), ist so vielschichtig und komplex, dass man viele Wörter und Sätze zur Beschreibung verwenden müsste. Auf diese Weise werden sie zu tauglichen Mitteln der sprachlichen Ökonomie. Konventionalisierte Metaphern als Resultat eines Bedeutungswandels erfüllen eine wichtige sprachökonomische Funktion: Sie sind unmittelbar korrekt über den Kontext interpretierbar, semantisch gehaltvoll und entsprechen assoziativen Denkmustern. Zudem erweitern sie die kommunikativen Nutzungsmöglichkeiten der Sprache um sprachkreative Aspekte. 10.2 Die Mechanismen des Bedeutungswandels <?page no="218"?> 218 10 Was sind die Ursachen und Verfahren des Bedeutungswandels? Metaphern wirken also insofern sprachökonomisch, als dass sie zur Vermeidung langatmiger Paraphrasen zur Beschreibung von Sachverhalten dienen. Der bildhafte Vergleich aufgrund von Ähnlichkeitsrelationen kann ohne kognitive Umwege erschlossen werden. Dass ein Muskel in Form und Bewegung einer Maus ähnelt (lat. musculus = Mäuschen), wird über das Metaphernkonzept zur Benennung unmittelbar evident und bedarf keiner weiteren Erklärung. Die Benennung ist über das sprachliche Bild treffend und in aller Regel hinreichend. Das gilt für alle konventionalisierten Metaphern. Dazu einige Beispiele: Wenn Sie heute herzhaft in eine Chilischote beißen, werden Sie den Geschmack wahrscheinlich als scharf bezeichnen. Sie verwenden dann für ein Geschmacksempfinden einen Ausdruck, der ursprünglich allein auf bestimmte Gegenstände bezogen war: „Im 12. Jahrhundert wurde scharf prototypisch auf Schwerter und Messer angewendet. Dabei war es gemeinsames Wissen, daß ein scharfes Schwert wehtun kann“ (Fritz 2006: 43). Die Metaphorik durch die Sinnübertragung vom Schwert auf die Chilischote (oder auf einen kalten Wind) beruht eben darauf, dass Schärfe Schmerz verursacht. Wenn im Spanischen der Ausdruck für Handschellen und Ehefrauen derselbe ist (las esposas), dann ebenfalls aufgrund einer nachvollziehbaren Ähnlichkeit: Eheleute sind (zumeist liebevoll) miteinander verbunden-- wie durch unsichtbare Handschellen. Im Deutschen sprechen wir hier vom Band der Liebe, wodurch die Bedeutung des Wortes Band ebenfalls metaphorisch verwendet wird (vgl. ähnlich Bund der Ehe). Die Beispiele zeigen anschaulich, dass Metaphern oft dort gebildet werden, wo etwas eher Abstraktes mit Hilfe konkreter Begriffe bezeichnet werden soll. Damit man sich etwas besser vorstellen kann, bemüht man ein vergleichendes sprachliches Bild: „Wir nutzen das Anschauliche, um über das Abstrakte per metaphorischer Übertragung zu kommunizieren“ (Keller / Kirschbaum 2003: 36). Dabei gibt es Klasseneffekte: Wer weiß, dass begreifen metaphorisch von der konkreten haptisch-taktilen Sphäre auf kognitive Verstehensprozesse übertragen wird, wer also diese Metapher richtig auflösen kann, der weiß auch, was raffen oder erfassen in dieser kognitiven Lesart bedeuten (vgl. Bechmann 2013: 239). Grundsätzlich ist davon auszugehen, dass alle konventionellen Metaphern das Ergebnis eines Bedeutungswandels sind und es ist sehr wahrscheinlich, dass neue Metaphern durch frequente Verwendung lexikalisiert werden. Im Zuge dessen verlieren Metaphern im Laufe der Zeit an Metaphorizität-- nämlich dann, wenn man das sprachliche Bild nicht mehr auflösen kann. Oder wussten Sie, dass man zu Goethes Zeiten von einem geilen Urwald sprechen konnte und damit etwas <?page no="219"?> 219 ganz anderes meinte, als wenn wir heute von einem geilen Film reden? Ein geiler Urwald war ein üppiger Urwald (rein deskriptiv) und kein besonders toller Urwald (bewertend). Und wussten Sie, dass auch ein toller Film dem Wortsinne nach eigentlich ein ‚geisteskranker‘ Film ist, weil toll einstmals so viel bedeutete wie psychisch krank? Die ehemalige Bedeutung können wir noch in Tollwut oder Tollkirsche finden. Sie sehen: Wir denken und sprechen ständig in Metaphern und manchmal ist es sogar schwer, die Bedeutung einer Metapher zu erklären, ohne eine andere zu benutzen (wie bei geil-- toll). Bei Metaphern handelt es sich um funktionale Bedeutungsübertragungen zum besseren Verständnis. Fritz identifiziert folgende typische Funktionen von Metaphern (Fritz 2006: 43): 1. Metaphern bilden neue, zusammenhängende Sichtweisen für einen Gegenstand oder Sachverhalt (z. B. Wortspiele, Datenautobahn). 2. Metaphern vermitteln den Eindruck von Vertrautheit bei unvertrauten Gegenständen oder Sachverhalten (insbesondere im Bereich der technischen Fachsprache; z. B. elektrischer Strom, ein saufender Motor). 3. Metaphern erlauben assoziative Beschreibungen (z. B. ein frostiger Empfang). 4. Metaphern dienen der auffälligen Rede (z. B. eine appetitliche Theorie). 5. Metaphern helfen über Wortschatzlücken hinweg (z. B. erschrecken i. S. v. aufspringen als Metapher für einen psychischen Vorgang). 10.2.2 Bedeutungswandel durch Sinnverschiebung — zum Verfahren der Metonymisierung Haben Sie in der Schule Goethe gehabt? Oder Platon? Wie ging das, wenn die Männer schon seit Jahrhunderten tot sind? Sind Sie in der Kirche? Wenn ja, wie können Sie bei dem schlechten Licht diese Zeilen lesen? Und wie isst man einen Teller Suppe, ohne sich an den Scherben zu verletzen? All diese- - seltsamen- - Fragen lassen sich über das Konzept der Metonymien beantworten. Im Gegensatz zu Metaphern liegt Metonymien nicht Similarität (Ähnlichkeit), sondern Kontiguität zugrunde. Das bedeutet: Metonymien basieren darauf, dass es einen faktischen, typischerweise physikalischen oder kausalen Zusammenhang zwischen den bezeichneten Dingen gibt (Kontiguität). 10.2 Die Mechanismen des Bedeutungswandels <?page no="220"?> 220 10 Was sind die Ursachen und Verfahren des Bedeutungswandels? Um Metonymien kognitiv auflösen zu können, benötigen wir Weltwissen und Wissen über Sinnzusammenhänge. Metonymien sind keine vergleichenden Bilder, sondern bieten sehr vielfältige Möglichkeiten, Bedeutungen innerhalb eines festen Sinnzusammenhangs (engl. Frame) zu verschieben. Metonymien gehören als Ersatzausdrücke demselben Wissenskomplex oder -rahmen an. Mit anderen Worten: Um Metonymien richtig verstehen zu können, muss man Dingeigenschaften kennen und man muss wissen, auf welche Weise man diese Eigenschaften verschieben kann. Dazu ein Beispiel: Wenn Sie sagen, dass Sie an der Universität sind, dann können Sie damit meinen, dass Sie Teil der Institution sind (abstrakte Bedeutung). Sie können aber auch auf etwas Konkretes referieren, nämlich auf das Gebäude, in dem Sie studieren. Aber die metonymische Bedeutung von Universität geht noch darüber hinaus: Ein Brief von Ihrer Universität wird Ihnen streng genommen nicht von der Universität geschrieben, sondern von Vertretern der Institution. Wenn Sie also formulieren, dass Sie einen Brief von der Universität erhalten haben, dann verwenden Sie das Wort metonymisch, denn Sie meinen ja einen bestimmten Teil des Gesamtsystems Universität und nicht das Ganze- - Sie meinen z. B. die Mitarbeiter der Universitätsverwaltung. Sowohl das Gebäude als auch die Institution und sogar die Vertreter der Institution einschließlich aller Studierenden und Dozierenden können als die Universität bezeichnet werden. Um diese Metonymie verstehen zu können, muss man den Wissensrahmen zum Begriff Universität kennen, denn dann weiß man, dass Universität in vielfältiger Weise als Ersatzwort für Elemente dieses komplexen Frames stehen kann: Kennt man den Wissensrahmen, dann (er)kennt man die Elemente. Fritz schreibt: „Diese Möglichkeit der Nutzung von verbreiteten Wissensbeständen ist ein wichtiges Mittel semantischer Ökonomie: Ein Ausdruck bietet ein ganzes System von Verwendungsweisen“ (Fritz 2006: 45). Das metonymische Verfahren ist, wie die Metaphorik auch, ein wichtiges pragmatisches Ausdrucksmittel. Der Bedeutungswandel beruht in solchen Fällen auf einer Beziehung zwischen einem Teilaspekt und dem Gesamten (pars pro toto). Dabei steht das eine für das andere. So steht das deutsche Verb erschrecken (in der ursprünglichen Bedeutung aufspringen) für ein Gefühl, das sich mit der körperlichen Reaktion verbindet: Die beobachtbare Regung des Körpers, das Aufschrecken, ist dabei zugleich Teil des Gesamtaffekts. Der kurze, aber intensive Moment, in dem ein Mensch erschrickt und in dem allerlei physische Reaktionen ablaufen, wird durch das eine Wort erschrecken zum Ausdruck gebracht. Das Symptom (die spezifische Körperbewegung) steht hier als Teil des Ganzen metonymisch für die <?page no="221"?> 221 gesamte Gefühlslage. Beim Erschrecken wird die körperliche Reaktion, die ein Mensch in einer bestimmten emotionalen Situation erlebt, zum Ausdruck für das Gefühl selbst. Um auf abstrakte und vielschichtige Gefühle verweisen zu können, bieten sich also konkrete Begriffe aus der Welt des Physischen an. Das gilt z. B. auch für die Adjektive gespannt und entspannt (sein). Teil-Ganzes-Relationen sind ziemlich häufig. In der Formulierung Goethe lesen steht der Autor für sein Werk, wenn Sie ein Glas trinken oder einen Teller essen, dann steht das Gefäß für den Inhalt. Ein kluger Kopf bezeichnet einen klugen, eine ehrliche Haut einen ehrlichen Menschen. Die kommunikative Funktion von Metonymien erschöpft sich nicht in der Möglichkeit, semantische Innovationen zu erzeugen. Wie die Metapher auch, dient die Metonymie dazu, spezifische Ausdrucksaufgaben zu erfüllen. Die Metonymie ist ein „grundlegendes kognitives Verfahren“ (Wegera / Waldenberger 2012: 250), was sie über den Status eines rhetorischen Stilmittels hinaushebt. Zudem sind auch Metonymien sprachökonomische Verfahren, da man mit einem einzigen Begriff eine ganze Reihe an Sachverhalten oder Dingen bezeichnen kann. Beispiele für Bedeutungswandel infolge eines metonymischen Verfahrens sind zahlreich nachweisbar. So ist das Wort Brille im Deutschen zurückzuführen auf das Material, aus dem ursprünglich Linsen für Augengläser gefertigt worden sind (Beryll). Hier stand ursprünglich das Material für das Werkstück. Das deutsche Adjektiv überflüssig bedeutete zunächst, etwas im Überfluss zu besitzen. Der Teil des Ganzen, den man mehr hatte, als man brauchte, war also überflüssig. Überflüssige Dinge waren allerdings zunächst nicht unnötig. Der Bedeutungswandel des Wortes von reichlich und mehr als notwendig zu unnötig hat sich als Wenn-dann-Schluss vollzogen: Wenn man etwas im Überfluss hat, dann gehört einem ein Teil des Ganzen, den man nicht benötigt. Daraus folgt dann, dass dieser nicht benötigte Überschuss (also der Überfluss) etwas Unnötiges ist (vgl. Keller / Kirschbaum 2003: 61). Ein weiteres Beispiel für einen Wenn-dann-Schluss als Basis für metonymischen Wandel ist das deutsche Adjektiv dunkel, das man verwenden kann, um zu sagen, dass ein Laden geschlossen ist (Der Laden ist dunkel bedeutet Der Laden ist geschlossen). Hier zeigt sich, wie wichtig bei Metonymien die Kenntnis des Wissensrahmens ist: Zum Wissen über Geschäfte im Allgemeinen gehört es, dass ein unbeleuchtetes Geschäft in aller Regel geschlossen ist. Hier setzt der 10.2 Die Mechanismen des Bedeutungswandels <?page no="222"?> 222 10 Was sind die Ursachen und Verfahren des Bedeutungswandels? Wenn-dann-Schluss ein: Wenn der Laden dunkel ist, dann ist er (vermutlich) auch geschlossen. Die Kontiguitätsbeziehungen sind bei Metonymien vielschichtig. Während Metaphern immer auf einem (einfachen) bildhaften Vergleich basieren, sind die Muster metonymischer Sinnverschiebung sehr komplex. In der nachfolgenden Tabelle können Sie daher mögliche metonymische Beziehungen bzw. Realisierungsmöglichkeiten des metonymischen Verfahrens und damit verbundene Entwicklungslinien des Bedeutungswandels anhand von Beispielen aus dem Deutschen ablesen (nach Fritz 2005: 98 f. und Nübling et al. 2013: 127): Metonymisches Grundmuster (Bedeutungsverschiebung von x nach y) Beispiele Raum → Personen Die Küche bedauert die Verspätung. Institution → Vertreter Die Kirche wendet sich gegen Fremdenhass. Institution → Zeitraum / Zeitdauer Die Schule ist um 13 Uhr aus. Behälter → Inhalt Die Milch ist umgefallen. einen Teller aufessen Behälter → Menge eine Flasche Wein trinken Handlung → Ergebnis der Handlung Die Ernte wurde vernichtet. Die Bundeskanzlerin hatte schlechte Presse. Teil des Ganzen → Ganzes Die Blauhelme kamen im Krisengebiet an. Ganzes → Teil des Ganzen Dirndl (Mädchen → Kleidungsstück) Musikinstrument → Spieler Der Bass ist heute krank. Körperteil → Besitzer Der Blinddarm liegt in Zimmer 4711. Autor → Werk Brecht lesen Material → Produkt Brille Reflex → Empfindung (sich) erschrecken körperliches Anzeichen → Empfindung einen dicken Hals kriegen Wirkung → Ursache Der Laden ist dunkel. Die Banane ist grün. Tabelle 12 Metonymische Grundmuster beim Bedeutungswandel <?page no="223"?> 223 10.2.3 Weitere Mechanismen des Bedeutungswandels Neben den beiden ausführlicher skizzierten Verfahren des Bedeutungswandels gibt es noch Mechanismen, die, anders als Metapher und Metonymie, keine sprachlichen Realisierungen von klassischen psychologischen Assoziationsmustern sind, sondern vielmehr sprachliche Umsetzungen von Intentionen darstellen, die semantische Veränderungen zur Folge haben. Diese Mechanismen sind im Einzelnen Implikaturen, Euphemismen, Ironie und Ellipsen. 10.2.3.1 Implikaturen Implikaturen sind Schlussprozesse, die darauf beruhen, dass man aus einer Äußerung einen Sinn herauslesen kann, der dem Wortsinne nach dort eigentlich nicht vorhanden ist. So besteht ein Sinnzusammenhang zwischen der Äußerung Die Rose ist verblüht und der Implikatur, dass die Rose zuvor geblüht hat. Das Blühen der Rose wurde durch die Äußerung des Satzes implikatiert. Wenn solche nichtwörtlichen Sinnzusammenhänge auf konventionellen Bedeutungen von Wörtern beruhen, spricht man von konventionellen Implikaturen. Bei solchen Implikaturen ist das, was man sich zu der Äußerung hinzudenken muss, Teil der Wortbedeutung. Der Satz Ich habe Fritz’ Geburtstag gestern vergessen löst durch das Prädikat vergessen einen solchen konventionellen Schluss aus. Es implikatiert konventionell: Fritz hatte gestern Geburtstag. In anderen Fällen beruht die Implikatur nicht auf konventionellen Wortbedeutungen, sondern auf pragmatischen Schlussverfahren von etwas Gesagtem auf etwas (anderes) Gemeintes. Der Satz Die Ampel ist grün implikatiert Gib Gas. Solche Implikaturen nennt man konversationelle Implikaturen. Immer dann, wenn Wörter sehr häufig Gegenstand oder Auslöser einer Implikatur werden, wird der nichtwörtliche Sinn, den man eigentlich hinzudenken muss, fester Bestandteil der Gebrauchsregel. Wenn das passiert, spricht man von einem Bedeutungswandel, weil spezifisches Kontextwissen zum regelhaften Gebrauch wird. Die Bedeutung des Wortes wird um die Implikatur semantisch angereichert. Solche Umdeutungen kommen häufig bei Konjunktionen vor und sind für das Deutsche für seit, während, weil und nachdem nachgewiesen (vgl. Nübling et al. 2013: 129 ff.). Für diese ehemals rein temporalen Konjunktionen gilt: Sie alle haben sich ein Stückweit ihres temporalen Gehalts entledigt und können in bestimmten Kontexten (und bei weil ausschließlich) kausal verwendet werden. So bedeutete weil ursprünglich so viel wie während oder solange (Man 10.2 Die Mechanismen des Bedeutungswandels <?page no="224"?> 224 10 Was sind die Ursachen und Verfahren des Bedeutungswandels? muss das Eisen schmieden, weil es noch heiß ist). Den temporalen Bezug finden wir noch in langweilig. Der Bedeutungswandel beruht nun auf folgender Implikatur: Der temporäre Ausdruck weil kann dazu verwendet werden, die Beziehung zwischen Sachverhalten mit auszudrücken: Wenn man das Eisen schmieden muss, solange es heiß ist, da es sonst zu fest wird, dann weiß man nicht nur, wann, sondern auch, warum man es schmieden muss, solange es heiß ist. Der kausale Schluss lautet: Weil das Eisen heiß ist (Ursache), muss man es schmieden (Wirkung). Dabei gilt: Eine Umdeutung von ,temporal’ zu ,kausal’ basiert auf dem Wissen, dass eine Ursache ihrer Wirkung immer zeitlich vorausgeht. Die Implikatur besteht also aus dem Wissen um den kausalen Zusammenhang post hoc ergo propter hoc (danach, also deshalb). Dieselbe Implikatur finden wir z. B. auch bei engl. since: Since I’m not at home, the answering machine will take the calls. Im Englischen trägt since sowohl eine temporale (since yesterday) als auch eine kausale Bedeutung. Für das dt. seit ist dieser Prozess noch nicht abgeschlossen, auch wenn bereits kausale Verwendungsweisen nachgewiesen werden können: Seit Du hier bist, habe ich schlechte Laune i. S. v. Weil Du hier bist, habe ich schlechte Laune. Hier kommt es auf die Intonation an. 10.2.3.2 Euphemismen Bisweilen führt auch das Streben zu beschönigender Rede (Euphemismen) zum Bedeutungswandel. Je nach Sprecherabsicht unterscheidet man hier zwischen Verhüllung und Verschleierung (vgl. Wegera / Waldenberger 2012: 257). Verhüllende Ausdrücke verwendet man aus Gründen der Rücksichtnahme oder der Höflichkeit, wogegen man verschleiernde Formulierungen mit dem Ziel der Täuschung und der Manipulation auswählt. Eine Prostituierte etwa als Dirne zu bezeichnen, beruht auf dem Bestreben nach beschönigender Rede, indem man die neutrale Bezeichnung für eine junge Dienerin (Magd) aus Gründen der Höflichkeit dem Wort Hure vorzog. Im Ergebnis ist es zu einer Abwertung (Pejorisierung) des Wortes Dirne gekommen, die ursprünglich nicht beabsichtigt war. Das gilt für zahlreiche Euphemismen: Mit der Konventionalisierung kommt es in aller Regel zu einer Pejorisierung, weil die neuen, zunächst beschönigenden Wörter rasch die alte Bedeutung annehmen, die es eigentlich zu verschleiern galt (Euphemismus-Tretmühle). Ob jemand im Krieg etwa stirbt oder fällt, ist heute gleichermaßen mit denselben negativen Assoziationen verknüpft. Die beschönigende und verhüllende Funktion von Euphemismen entfällt in dem Moment, in dem das zu Verhüllende lexikalisiert wird und fortan semantisch die neue <?page no="225"?> 225 Gebrauchsregel bestimmt. Ein schwacher Schüler ist heute ein schlechter Schüler. Der Euphemismus durch das Adjektiv schwach ist mittlerweile aufgelöst und so offensichtlich, dass es zu einer De-Euphemisierung gekommen ist. Das gilt für alle politisch korrekten Begriffe, die früher oder später dasselbe Schicksal erleiden: Dass eine Beitragsanpassung eigentlich eine Beitragserhöhung ist, weiß man genauso, wie man rasch erkennt, dass eine friedenssichernde Maßnahme eigentlich ein Krieg ist. Euphemistische Rede unterliegt einem ständigen Verschleiß, so dass der Euphemismus in rascher Folge durch einen neuen ersetzt werden muss. Zurück bleiben in aller Regel Wortbedeutungen mit einem qualitativ schlechteren Bedeutungskern, wenn sich Begriffe erst einmal der Verschleierung einer negativen, tabuisierten oder affektbelasteten Sache verdächtig gemacht haben. Abb. 19 Euphemismus-Tretmühle am Beispiel des Wortes Krüppel 10.2 Die Mechanismen des Bedeutungswandels <?page no="226"?> 226 10 Was sind die Ursachen und Verfahren des Bedeutungswandels? Euphemismen kommen in nahezu allen Themengebieten und Handlungsbereichen zwischenmenschlicher Kommunikation vor. Luchtenberg (1985) identifiziert grob die folgenden Sachgruppen: ▶ Politischer Sprachgebrauch (mit Beispielen aus der Außen- und Innenpolitik sowie dem militärischen Bereich und dem Sprachgebrauch in der Zeit des Nationalsozialismus) ▶ Ökonomischer Sprachgebrauch (mit Beispielen aus der Wirtschaftspolitik, aus Produktion, Verkauf und Beschäftigung sowie von Berufsbezeichnungen und anderem) ▶ Gesellschaftlicher Sprachbereich (mit Beispielen aus unterschiedlichen sozialen Gebieten betreffend gesellschaftliche Normen und soziales Fehlverhalten) ▶ Religion (mit Behandlung von Sprachtabus, Aberglauben und christlicher Religion) ▶ Vergänglichkeit (Sterben, Totsein, Beerdigung und der Tod selbst) ▶ Geistig-psychischer Bereich (Benennungen für persönliche Eigenschaften und Gefühle, Bezeichnungen für „ich“) ▶ Körperlicher Bereich (mit Beispielen für Aspekte der Sexualität, der Schwangerschaft und Geburt, der Krankheit und der Ausscheidung sowie für Körperteile und anderes) ▶ Alkohol (mit Benennungsbeispielen für den Alkohol selbst, den Umgang damit und für das Betrunkensein) In der folgenden Übersicht finden Sie einige Beispiele für Euphemismen aus dem Deutschen, die Ihnen auch zeigen, dass euphemistische Bedeutungen oft nicht isoliert in Wortbedeutungen, sondern teilweise in komplexen Ausdrucksbedeutungen zu finden sind (mehr bei www.euphemismen.de): Ausgangsbedeutung Wörter mit euphemistischer Bedeutung sterben dahinscheiden, von uns gehen, abberufen werden, einschlafen, fallen (Krieg) stinken riechen zur Toilette gehen austreten, mal kurz verschwinden Sex haben Liebe machen hässliche Farbe (etc.) interessante Farbe (etc.) masturbieren abrudern, abreißen <?page no="227"?> 227 Ausgangsbedeutung Wörter mit euphemistischer Bedeutung künstliches Gebiss dritte Zähne Steuererhöhung Steueranpassung Tabelle 13 Euphemismen im Deutschen Ein Sonderfall des Euphemismus ist die soziale Aufwertung durch die Verwendung von Begriffen zur Erhöhung einer Person oder eines Berufsstandes (Bauer → Landwirt, Putzfrau → Raumpflegerin, Hausmeister → Gebäudemanager). In aller Regel eignen sich hierzu Neologismen. In manchen Fällen führt die Tendenz zur sozialen Aufwertung zu einem Bedeutungswandel derjenigen Wörter, die zur Erhöhung verwendet werden. So war das wîp (Weib) im Mittelhochdeutschen die einfache Frau ohne gesellschaftlichen Rang, wogegen die (adelige) frouwe eine hochstehende soziale Position markierte. Die Bezeichnung wîp repräsentierte das neutrale und unmarkierte Basiskonzept. Vermutlich aus Gründen der Galanterie kam es in Mode, Frauen eine Stufe höher anzureden, als es ihnen aufgrund ihres sozialen Status zustand. Dies führte dazu, dass sich das ursprüngliche Basiskonzept verschoben hat: aus wîp wurde Weib und aus frouwe das neue, bis heute gültige Basiskonzept Frau als neutraler und unmarkierter Begriff. Mit der sozialen Aufwertung der Frau durch diese veränderte Begriffsverwendung wurde zum einen das ehemalige Basiskonzept frei zur semantischen Neunutzung und zum anderen ergab sich eine Leerstelle im Paradigma der Frauenbezeichnungen für die hochstehende soziale Form, die heute durch das Wort Dame gefüllt ist. Das Wort Weib wird gegenwärtig expressiv und abwertend verwendet und auch das Wort Frau hat seinen sozial hohen Status eingebüßt (vgl. Keller 1995b und Nübling et al. 2013: 138 ff.). Keller schreibt: „[D]as Motiv der Galanterie auf der Ebene der Individuen führt auf der Ebene der Sprache langfristig wie von unsichtbarer Hand geleitet zur Pejorisierung. Es handelt sich dabei um eine Form der Inflation“ (Keller 2003: 108 f.). 10.2.3.3 Ironie Ironie als rhetorisches Stilmittel führt immer dann zum Bedeutungswandel, wenn „konversationell verfügbares Wissen“ (Fritz 2006: 47) dazu genutzt wird, „spielerisch zu reden oder Distanzierung zu signalisieren“ (Fritz 2006: 47). Kommt es dazu, dass sich ironischer Wortgebrauch in einem invisible-hand-Pro- 10.2 Die Mechanismen des Bedeutungswandels <?page no="228"?> 228 10 Was sind die Ursachen und Verfahren des Bedeutungswandels? zess durchsetzt, wird der ironische Sinn Teil der Gebrauchsregel. Ironie ist Mittel zum kreativen Sprachgebrauch, aber anfällig für Fehlinterpretationen. Dass es sie dennoch gibt, zeigt einmal mehr, dass kognitive Arbeit und sprachliche Ökonomie keine sich ausschließenden Prinzipien sind. Lexikalisierte ironische Wortbedeutungen sind sprachökonomisch, wogegen der Prozess dorthin-- wie beim Bedeutungswandel üblich-- eher aufwendig ist. Ironie kann aufgrund des Schlussverfahrens, das zum Verstehen nötig ist, auch peripher den Euphemismen zugerechnet werden, denn mit einer ironischen Äußerung behauptet der Sprecher etwas, das seiner wahren Einstellung oder Überzeugung nicht entspricht. Das gilt auch dann, wenn Ihr Besuch von Ihrem ‚interessanten‘ Sofa spricht, aber damit meint, dass Ihr Sofa hässlich ist, ohne dies aber sagen zu wollen (Euphemismus). Der Kontext der Äußerungssituation lässt bei der Ironie erkennen, dass etwas anderes gemeint als gesagt wurde- - und dass es sich dabei nicht um eine Lüge handelt: „Die Lüge ist eine Simulation der Wahrheit und die Ironie eine Simulation der Lüge“ (Keller / Kirschbaum 2003: 94). Die deutschen Adjektive schön und sauber können beispielsweise ironisch verwendet werden, wobei die ironische Bedeutung in bestimmten komplexen Äußerungen sogar lexikalisiert ist: Ein schöner Freund oder ein sauberer Freund sind alles andere als schöne oder saubere Freunde, sondern es sind schlechte Freunde (vgl. Fritz 2006: 47). Ähnliches gilt für gehörig, ordentlich und anständig in bestimmten Kontexten (vgl. Keller / Kirschbaum 2003: 93 ff.), wobei die Begriffe paradigmatisch austauschbar sind: Gestern habe ich gehörig / anständig / ordentlich gesoffen. Der Bedeutungswandel beruht hierbei auf der Verwendung von Normbeschreibungen für Handlungen, für die es gar keine Norm gibt (oder kann man auch unordentlich saufen? ). Die Muster der ironischen Wortverwendung und des Bedeutungswandels sind vielfältig. So kann auch übertriebene Freundlichkeit mit der Zeit zum ironischen Ausdruck von Unfreundlichkeit umgedeutet werden: Geh mir gefälligst aus dem Weg ist ein Satz, in dem gefälligst nichts mehr zu tun hat mit der ursprünglichen Bedeutung i. S. v. angenehm. 10.2.3.4 Ellipsen Ellipsen sind als semantische Verkürzungen Mittel der sprachlichen Ökonomie. In vielen Fällen werden sie auch aus Gründen der Euphemisierung gebildet. Bedeutungswandel durch elliptische Verwendung von Ausdrücken geschieht, wenn das verkürzte Wort (oder die verkürzte Äußerung) im Laufe der Zeit die ur- <?page no="229"?> 229 10.3 Weiterführende und vertiefende Literatur sprüngliche Gesamtbedeutung allein trägt. So steckt in der elliptischen Wendung die Pille (nehmen) die Bedeutung eine Antibabypille einnehmen, ohne dass dies wortwörtlich mit ausgedrückt würde. Der Euphemismus ist in diesem Beispiel als Verhüllung repräsentiert. Da die Pille lexikalisiert ist, kann man zurecht davon sprechen, dass das Wort Pille einen Bedeutungswandel durchlaufen hat, der sich in der Erweiterung der Nutzungsmöglichkeiten manifestiert. Allerdings ist der Kontext entscheidend: Er muss nachher noch die Pille nehmen zeigt durch das Personalpronomen an, dass es sich dabei nicht um die Pille, sondern um eine Pille handeln muss. Ebenso müssen Frauen, wenn sie davon reden wollen, dass sie eine und nicht die Pille nehmen müssen, dies explizit sagen-- ein Indiz für die lexikalische (und damit semantische) Unabhängigkeit der Ellipse. Bei Fritz (2005: 109) finden sich folgende Beispiele für elliptische Verwendungen im Deutschen, bei denen die Ellipse zur semantischen Änderung der Bedeutung bestimmter Ausdrücke geführt hat: Wollen Sie (den Mantel) nicht ablegen? Ich muss mal (aufs Klo)! Du kannst mich mal (gern haben)! Ellipsen haben auch zum Bedeutungswandel von aufschneiden (i. S. v. angeben) als Verkürzung von mit dem großen Messer aufschneiden und von kippen (i. S. v. trinken) als Verkürzung von einen Schnaps herunter kippen geführt. Der sprachökonomische Effekt ist einleuchtend: „Das, was typischerweise aufeinanderfolgt, kann auch gekürzt werden“ (Nübling et al. 2013: 133), z. B. mal- - aufs Klo- - müssen. 10.3 Weiterführende und vertiefende Literatur Über die Verfahren des Bedeutungswandels ist traditionell viel geschrieben worden. Zur Vertiefung eignet sich hervorragend B L ANK 2001b. Sehr viel umfänglicher — aber dennoch gut verständlich — sind die Konzepte bei B L ANK 1997 dargelegt, das ich Ihnen als das Standardwerk zum Bedeutungswandel insbesondere für Hausarbeiten o. Ä. empfehlen möchte. Hier finden sich vor allem Beispiele aus den romanischen Sprachen. Lesenswert und ein geeigneter Grundlagentext für die Seminararbeit ist B USSE 2001. Zur Vertiefung der linguistischen Metapherntheorie empfehle ich S K I RL / S CHWARZ -F R I E SEL 2007. <?page no="230"?> 230 10 Was sind die Ursachen und Verfahren des Bedeutungswandels? Zur weiteren Beschäftigung mit wortartspezifischen Phänomenen des Bedeutungswandels im Deutschen verweise ich auf K ELLER / K I R SCHBAUM 2003 (Adjektive) und B ECHMANN 2013 (Verben). Einen guten Gesamtüberblick mit zahlreichen Belegen bekommt man bei F R ITZ 2005: 81 ff. und F R ITZ 2006: 42 ff. Lesenswert ist auch N ÜBLING et al. 2013: 124 ff. Auch dort finden Sie viele sprachhistorische Beispiele. Nachweise für das Englische finden Sie bei B Y BEE 2015. <?page no="231"?> 231 10.3 Weiterführende und vertiefende Literatur 11 Was sind die Folgen des Bedeutungswandels auf der Wortebene? Eine Veränderung bewirkt stets eine weitere Veränderung. Niccoló Machiavelli (1469-1527) Ziele und Warm-up Nachdem wir an dieser Stelle wissen, welche Prinzipien und Mechanismen dem Bedeutungswandel zugrunde liegen und wir auch erkannt haben, auf welche Weise das Handeln der Menschen ihren kommunikativen Absichten folgt, geht es in diesem und dem daran anknüpfenden Kapitel 12 um die Folgen und Effekte des Bedeutungswandels. Dabei müssen wir uns von zwei Seiten nähern. Wir müssen zum einen die Makrostruktur Sprache betrachten und uns fragen: Was passiert mit dem System Sprache durch Bedeutungswandel? Bereichert Bedeutungswandel das System oder schwächt er es? Und wie verändert sich das Lexikon einer Sprache? Solche Fragen werden wir als die makrostrukturellen Folgen des Bedeutungswandels in Kapitel 12 diskutieren (Funktionswandel, inventarieller Wandel). Unser Blick von der anderen Seite aus fällt auf das Wort selbst. Eine Betrachtung der Wortebene hat die mikrostrukturellen Folgen des Bedeutungswandels im Visier. Es geht dabei um die sogenannten Typen des Bedeutungswandels aus quantitativer und qualitativer Sicht. Im Zentrum stehen die klassischen Fragen nach Bedeutungsverbesserung oder -verschlechterung ebenso wie die Frage, ob sich die Bedeutung eines Wortes erweitert oder verengt. Dabei werden wir etablierte Definitionen kennenlernen und gemeinsam überlegen, wie zielführend diese für ein Verständnis des Bedeutungswandels insgesamt sein können. Wie üblich wärmen wir unseren Geist zunächst durch einige Einstiegsfragen auf. Zur Beantwortung benötigen Sie ein etymologisches Wörterbuch: ▶ Was ist ein Marschall heute? Und was war er im Mittelalter? ▶ Woher kommt die Bedeutung des deutschen Wortes Kanzler? ▶ Woraus hat sich nhd. schlecht entwickelt? ▶ Wie hat sich das deutsche Wort Rivale verändert? <?page no="232"?> 232 11 Was sind die Folgen des Bedeutungswandels auf der Wortebene? 11.1 Vom hässlichen Entlein zum schönen Schwan — werden Wörter besser oder schlechter durch Bedeutungswandel? Manche Wörter verbinden wir mit positiven Assoziationen und Konzepten. Das Wort Urlaub ist ein positiv besetzter Begriff. Andere Wörter erzeugen in unseren Köpfen negative Vorstellungen und können schlechte Gefühle auslösen. Die Begriffe Tod oder Krieg sind solche Wörter mit negativer Konnotation. Die emotionale Verknüpfung von Ding und Wort verleitet uns zur Hypostasierung: Erscheint uns das Denotat gut oder schlecht, tendieren wir dazu, auch die Begriffe als gut oder schlecht zu bewerten. Wir neigen dazu, schlechte Wörter zu vermeiden, weil wir die Dinge dahinter nicht aussprechen wollen. Wir sagen Das sagt man nicht und meinen eigentlich Das denkt man nicht. Die Festlegung, was gut oder schlecht ist, treffen wir auf der Basis unseres Sprach- und Weltwissens sowie auf der Folie gesellschaftlicher Normen. Bestimmte Sphären unserer Gesellschaft und des Lebens sind tabuisiert, so dass es sich verbietet, darüber zu sprechen. In unserem Kulturkreis betrifft das im Wesentlichen die Sexualität, das Körperliche (insbesondere in Bezug auf Krankheiten), den Tod- - und zumeist das Geld. Begriffe, die aus einer dieser Sphären kommen, vermeiden wir entweder oder wir tendieren dazu, Euphemismen zu verwenden (s. Kapitel 10). So sagen wir Liebe machen statt ficken, auch wenn wir eigentlich ficken meinen, weil das u. U. mit Liebe nichts zu tun hat. Wir sagen, jemand sei verhaltensoriginell, obwohl wir meinen, dass jemand verhaltensgestört ist. Und wir nennen uns Facility Manager oder Raumpflegerin, weil Hausmeister und Putzfrau so wenig prestigeträchtig klingt. Zunächst ist eine Feststellung wichtig, bevor wir uns mit der Frage befassen, ob- - und wenn ja, wie- - Wörter durch den Bedeutungswandel besser oder schlechter werden können: Es gibt keine schlechten oder bösen Wörter, sondern nur schlechte oder böse Sprecher. Wörter sind ziemlich genügsame und zugleich passive Entitäten. Sie selbst haben keinen Willen und sie haben auch nicht die Kraft, sich aus eigenem Antrieb zu verändern. Wörter machen eigentlich gar nichts. Aber sie dienen uns, weil wir mit ihnen etwas über die Welt und über unsere Einstellung zur Welt aussagen können. Wenn es etwas Positives ist, was wir ausdrücken wollen, werden wir auch das Wort als positiv bewerten, das wir dazu verwenden. Das Schicksal so- <?page no="233"?> 233 11.1 Werden Wörter besser oder schlechter durch Bedeutungswandel? genannter schlechter oder kontroverser Begriffe ist es nun, dass wir sie für unsere Zwecke missbrauchen, um mit ihnen auf Schlechtes zu referieren. Wenn Wörter ihre Bedeutung verändern, dann sind wir Sprecher es, die das bewirken. Und wir sind es auch, die festlegen, welches Konzept hinter einem Begriff steckt und ob wir dieses Konzept als gut oder schlecht einstufen. Es geht also bei den folgenden Überlegungen nicht um das Wesen der Wörter, sondern um die emotionale Einstellung der Sprecher zu bestimmten Begriffen. Diese emotionale Einstellung ist als kulturelle Determinante des Bedeutungswandels durch Kulturwandel bestimmt: Was heute gut ist, kann morgen schon schlecht angesehen sein- - und umgekehrt. Dennoch gibt es in der klassischen Bedeutungswandelforschung die Dichotomie Bedeutungsverschlechterung vs. Bedeutungsverbesserung (nach Jaberg 1901). Gemeint ist damit die Bewertung der Zielbedeutung im Vergleich zur Ausgangsbedeutung. Dabei zeigt sich ein Psychologismus, der aus der älteren Semantikforschung bis heute erhalten geblieben ist: „Das Wort-[…] ist ein Symbol, das psychische Erscheinungen vertritt, die rein psychischen Ursprungs sein können (Gefühle) oder geistige Abbilder verschiedener Deutlichkeit von Gegenständen der äußeren und inneren Welt“ (Kronasser 1952: 23). Dieser Vorstellung nach ist die Bedeutung eines Wortes „ein mehr oder minder komplexes seelisches Phänomen, das an ein sinnlich wahrnehmbares Symbol gebunden ist“ (Kronasser 1952: 56). Dass wir uns in der Tat nicht davon frei machen können, bestimmte Assoziationen auf ein Wort zu projizieren und dass umgekehrt auch bestimmte Gefühle bei uns durch Wörter ausgelöst werden, hängt mit dem Umstand zusammen, dass wir in und mithilfe von Sprache denken-- und eben auch fühlen. Eine Betrachtungsweise, die sich den Folgen des Bedeutungswandels auf diese Weise nähert, stellt die konnotativen Bedeutungsveränderungen in den Vordergrund. Sie ist so verstanden eine rein axiologische Sichtweise, die stets Bewertungen und deren Konsequenzen im Blick hat. Folgende Fragen stehen dabei im Vordergrund: ▶ Verändert sich eine Wortbedeutung und wird sie dabei qualitativ aufgewertet oder abgeschwächt? ▶ Inwiefern haben qualitative Bedeutungselemente eine Veränderung erfahren? ▶ Ist der Bedeutungswandel aus ethisch-moralischer Sicht gut oder schlecht? ▶ Hat sich zugleich ästhetisch ein Wandel vollzogen, also klingt das Wort in der Folge schöner oder weniger schön? <?page no="234"?> 234 11 Was sind die Folgen des Bedeutungswandels auf der Wortebene? Da es sich dabei um Fragen des Stils handelt, können Festlegungen nicht neutral erfolgen. Damit verbunden ist die folgende Erkenntnis: Es gibt keine überindividuellen Bewertungsmaßstäbe zur neutralen Festlegung, ob sich eine Wortbedeutung verbessert oder verschlechtert hat. In der Bedeutungswandelforschung ist eine Bewertung der Folgen anhand quantitativer Veränderungen (s. u.) daher mittlerweile akzeptierter. Dennoch spielt die Frage der semantischen Auf- oder Abwertung z. B. in der Erforschung der Politischen Kommunikation noch immer eine zentrale Rolle, weil u. a. dort durch das Besetzen von Begriffen sogenannte Fahnen- oder Stigmawörter (positiv bzw. negativ besetzte Begriffe) durch intentionales Sprachhandeln entstehen. So ist das Wort Demokratie eines der wichtigsten politischen Fahnenwörter, wogegen Überwachungsstaat ein Stigmawort ist. Aber auch hier gilt: Ob etwas als Stigmawort oder als Fahnenwort aufgefasst wird, hängt ganz von der Einstellung des Sprechers ab: Ein und dasselbe Wort kann für Menschen mit verschiedenen Auffassungen das eine oder aber das andere bedeuten. Die Tendenz, Wortbedeutungen mit der semantischen Brille einer Bewertung nach den Kriterien gutes Wort oder schlechtes Wort zu unterziehen, ist sozial determiniert und möglicherweise eine sprachliche Universalie, denn sie kommt in allen Sprachen vor. Dieses Phänomen ist beschreibbar: Alle Begriffe, die semantisch entweder mit a) sozialen Rollen oder b) sozialen Phänomenen verbunden sind, werden stets einer Bewertung unterzogen. Das gilt insbesondere für Personenbezeichnungen (z. B. Berufsbezeichnungen): Personen nehmen soziale Positionen ein, die per se einer Qualitätsbewertung unterliegen. Dabei kann die Veränderung der Wortbedeutung anhand von Parametern aus der Welt der Haltungen nachvollzogen werden. Wenn beispielsweise das Wort Dirne, das ursprünglich junges Mädchen und später junges, dienendes Mädchen (neutrale Wortbedeutungen) meinte, heute Prostituierte bedeutet, dann involviert das (abwertende) Wort gegenwärtig eben solche Parameter. 18 18 Für das Wort Dirne ist die Bedeutungsentwicklung höchst interessant, weil die ursprüngliche Bedeutung gar nicht ferner der heutigen hätte gewesen sein können: Während wir heute von Dirnen sprechen und damit Prostituierte meinen, bedeutete Dirne im Althochdeutschen (thiorna) so viel wie Jungfrau. Eine deutlichere Bedeutungsverschlechterung, die man geradezu als Bedeutungsumkehr bezeichnen kann, ist wohl kaum denkbar, ist doch die Prostituierte das genaue Gegenteil einer Jungfrau. <?page no="235"?> 235 Bedeutungsverbesserung und -verschlechterung gehen stets einher mit a) dem Hinzukommen oder b) der Veränderung von Parametern aus der Welt der Haltungen (Bewertungen) in der Zielbedeutung. Es handelt sich also um konnotative Bedeutungsveränderungen. Die möglichen Veränderungen auf der Ebene der Gebrauchsregel lassen sich folgendermaßen fassen: a) Neutrale Wortbedeutung wird (positiv oder negativ) bewertend (Hinzukommen von Parametern aus der Welt der Haltungen). b) Bewertende Wortbedeutung wird neutral (Wegfall von Parametern aus der Welt der Haltungen). c) Bewertende Wortbedeutung wird umgewertet (gut zu schlecht-= Bedeutungsverschlechterung; schlecht zu gut- = Bedeutungsverbesserung; Veränderung von Parametern aus der Welt der Haltungen). Wenn ein Ausdruck, der zunächst eine negative Konnotation besitzt, durch semantischen Wandel etwas Neues bezeichnet, das durch die meisten Sprecher als positiv bewertet wird, erhält das Wort eine positive Konnotation. Man spricht in diesem Fall von Bedeutungsverbesserung oder Melioration. Das Umgekehrte ist Bedeutungsverschlechterung oder Pejoration. 11.1.1 Bedeutungsverschlechterung Im vorherigen Kapitel hatten wir bereits Beispiele für Begriffe kennengelernt, bei denen man unter rein qualitativen Gesichtspunkten davon sprechen kann, ihre Bedeutung habe sich verschlechtert (Weib → Frau). In solchen Fällen kommt es nicht dazu, dass Wörter einfach nur Konnotationen hinzugewinnen, sondern dass die negative Bewertung Teil der denotativen Wortbedeutung wird. Mehr noch: In vielen Fällen wird die negative Bewertung zur Hauptbedeutung des Wortes. In diesem Sinne geht Bedeutungsverschlechterung nicht (allein) mit individuellen Assoziationen einher, sondern Bedeutungsverschlechterung manifestiert sich in evaluatorischen Veränderungen der Gebrauchsregel. Bedeutungsverschlechterung wird auf der Wortebene durch Hinzutreten negativ bewertender Parameter der Gebrauchsregel infolge bewussten oder unbewussten Wortgebrauchs ausgelöst. 11.1 Werden Wörter besser oder schlechter durch Bedeutungswandel? <?page no="236"?> 236 11 Was sind die Folgen des Bedeutungswandels auf der Wortebene? Um von einem Begriff sicher sagen zu können, er habe sich qualitativ verschlechtert, muss man die Ausgangsbedeutung mit der Zielbedeutung vergleichen. Zahlreiche Schimpfwörter etwa sind nicht das Resultat eines Bedeutungswandels, sondern bewusste Neuschöpfungen mit dem Ziel der abwertenden Rede. Das Schmähwort Arschloch etwa hat keinen Bedeutungswandel erfahren, sondern trägt seit jeher eine abwertende Bedeutung. Es wurde und wird seit dem Mittelalter zur Beleidigung eines anderen Menschen verwendet, wobei hier das Verfahren der Metapher zum Tragen kommt. Das ebenfalls gebräuchliche Schimpfwort Wichser hingegen ist durch Bedeutungswandel entstanden: Der etymologische Ursprung des Begriffs ist nicht vulgär und kommt von Wachs bzw. wachsen. Das Wort bezeichnete die Handbewegung beim Einwachsen von Schuhen oder anderen Gegenständen (Stiefel wichsen, Wichsmädel für eine Dienstangestellte, die das Bohnern des Bodens übernehmen musste etc.). In der derben Soldatensprache des Ersten Weltkrieges entwickelten sich aus den Verben wichsen und bohnern Euphemismen für die männliche Masturbation. Die semantische Nähe zwischen Masturbation und der Handbewegung beim Stiefelwachsen hat über Metaphorisierung den Bedeutungswandel ausgelöst. In der Folge ist mit dem Begriff etwas passiert, was man als das Wirken der Euphemismen-Tretmühle (s. 10.2.3.2) bezeichnet: Frequent verwendete Euphemismen werden de-euphemisiert und erfahren zugleich eine Pejorisierung. Im Zuge dessen kommt es regelmäßig dazu, dass euphemistische Wortneubildungen im Laufe der Zeit alle negativen Assoziationen jener Wörter aufnehmen, die sie eigentlich ersetzen sollten. Die negativen Assoziationen der Masturbation sind auf die neue Wortbedeutung von wichsen übergegangen. Der Euphemismus hat sich gewissermaßen durch die frequente Verwendung abgeschliffen und in der Folge haben wir es (aus heutiger Perspektive) im Vergleich zur Ursprungsbedeutung mit einem negativ konnotierten Begriff zu tun. Christian Lehmann schreibt dazu: Die Pejoration ist in vielen Fällen (unbeabsichtigte) Konsequenz des Bedürfnisses, einen Referenten aufzuwerten- […]. Auf diese Weise kommen Bezeichnungen für ehemals angesehene Berufe herunter. Z. B. heißt in Lateinamerika nicht nur die Volksschullehrerin, sondern auch die Kindergärtnerin profesora / professora. Derselbe Mechanismus wirkt auch in anderen Bereichen. Klausuren und Studienreisen wurden ehemals im Rahmen eines-- typischerweise universitären-- Studiums durchgeführt. Spätestens <?page no="237"?> 237 seit 1980 jedoch heißt im deutschen Gymnasium Klausur, was zuvor Klassenarbeit hieß, und Studienfahrt, was zuvor Klassenfahrt hieß. (Lehmann 2013) Ein aktuelles Beispiel für ein Wort, das sich in der Euphemismus-Tretmühle befindet, ist der Begriff Migranten im deutschen Sprachgebrauch. Dessen vermutete Zukunft lässt sich aus einer Betrachtung derjenigen Begriffe und ihrer Entwicklungsgeschichte ableiten, die das Wort heute in euphemistischer Absicht ersetzt. Ursprünglich wurde die Bezeichnung Migranten eingeführt, weil die bisherigen Begriffe Ausländer oder Gastarbeiter von der Mehrzahl der Bevölkerung als abwertend empfunden wurden. Bei all diesen Begriffen kommt es in der semantischen Entwicklung zu Überstrahlungseffekten. Die jeweils neue Bezeichnung wird gebildet, um einen Begriff abzulösen, der negativ besetzt ist. Der Effekt besteht nun darin, dass jeder neue Begriff zunächst zur Verschleierung eben dieser negativen Konnotationen gebildet wird, sie aber rasch selbst aufnimmt. Diese Aufnahme wird durch den Verwendungskontext befördert: Der Ausdruck mit Migrationshintergrund erhielt rasch die implizite Nebenbedeutung von in gewisser Weise sozial auffällig, da der Begriff Migrationshintergrund sehr häufig in solch negativem Zusammenhang benutzt wurde. Mittlerweile wird fallweise bereits über Alternativen zum Begriff Migranten diskutiert. Pejoration ist eine häufige und notwendige Folge euphemistischen Wortgebrauchs. Die Verwendung eines sprachlichen Ausdrucks in pejorativem, herabsetzendem Gebrauch als rhetorisches Stilmittel wird dann-- im Gegensatz zum Euphemismus-- als Dysphemismus bezeichnet. Pejoration ist häufig der nicht intendierte Effekt assoziativer Verfahren des Bedeutungswandels. Das lässt sich anhand des Adjektivs billig nachweisen, das heute so viel wie wertlos oder minderwertig bedeutet: Ein billiger Anzug ist ein schlechter Anzug, ein billiges Möbelstück taugt nicht viel. Diese Interpretation war nicht immer so: „Wer im 18. Jahrhundert sagte: Das ist ein billiges Argument, der äußerte sich lobend; wer dies hingegen heute sagt, formuliert-[…] mit hoher Wahrscheinlichkeit einen Tadel“ (Keller / Kirschbaum 2003: 83). Aus der Lesart angemessen wurde über die Zwischenstufe preiswert die heutige Bedeutung minderwertig. Diese Entwicklung beruht auf einem metonymischen Wenn-dann- Schluss: Wenn etwas angemessen viel kostet, dann ist es seinen Preis wert und damit preiswert. Und wenn etwas preiswert ist, dann kostet es nicht (zu) viel. 11.1 Werden Wörter besser oder schlechter durch Bedeutungswandel? <?page no="238"?> 238 11 Was sind die Folgen des Bedeutungswandels auf der Wortebene? Wenn etwas nicht viel kostet, dann taugt es nichts: „Der Preis wird als Symptom für die Qualität der Ware interpretiert. Der Effekt-[…] ist eine Pejorisierung von billig“ (Keller / Kirschbaum 2003: 89). Manche Bedeutungsentwicklungen verlaufen in gewisser Weise zirkulär. Das bedeutet, dass Begriffe zunächst eine positive Bedeutung tragen, dann eine negative Hauptbedeutung annehmen und schließlich wieder einen qualitativen Aufschwung erleben. Ein Beispiel dafür ist das Adjektiv geil, das in seiner Ursprungsverwendung die positive Bedeutung üppig, nahrhaft hatte, sich dann-- aufgrund assoziativer Möglichkeiten-- ausformte und die pejorative Bedeutung wolllüstig, lüstern erlangte und das heute zum Ausdruck von Emphase wieder positiv verwendet wird. Auf der gerade umrissenen Zwischenstufe war geil ein expressiver Ausdruck (Tabuwort mit negativer Konnotation), für dessen Verwendung man noch gegen Ende des 20. Jahrhunderts gesellschaftlich sanktioniert wurde. Heute kann man mit der Verwendung niemandem mehr die Schamesröte ins Gesicht treiben. Diese zirkuläre Bedeutungsentwicklung von einem neutralen Begriff über die Zwischenstufe eines Tabuwortes hin zu einem neutralen Wort ist für expressive Ausdrücke in hochfrequenter Verwendung typisch: Frequenz ist der natürliche Feind der Expressivität. Sie führt in aller Regel zu einer Bedeutungsaufwertung bei ehemaligen Tabuwörtern. Diese Erkenntnis ist für die Erklärung pejorativer Bedeutungsentwicklungen und den Prozess der Bedeutungsverbesserung als deren Umkehrung (s. u.) zentral: Je häufiger ein expressiver Ausdruck verwendet wird und je mehr er darüber Einzug in die Alltagssprache hält, desto stärker nimmt die Expressivität ab. Die zweckrationale Entscheidung eines Sprechers, ein [Wort] mit dem Ziel der ausdrucksvollen Beeinflussung zu verwenden, war Ursache und Antrieb für den Bedeutungswandel, in dessen Prozess die Gebrauchsregel um soziale und / oder evaluative Bedeutungsparameter bereichert wurde, die über das Wirken auf der Gebrauchsregelebene zur Expressivität eines Ausdrucks geführt haben. In dem Moment aber, in dem das Wort seine Nische (z. B. als Kraftausdruck) verlässt und hochfrequent verwendet wird, werden die expressive Bedeutung und damit auch der kommunikative Nutzen obsolet. (Bechmann 2013: 217) Bedeutungsverschlechterung ist in den meisten Fällen nicht beabsichtigt, wenn man die Schimpfwörter einmal außer Acht lässt. So kann man zwar feststellen, dass das Verb fressen ebenso wie das Verb klauen, das ursprünglich sammeln <?page no="239"?> 239 bedeutete, in seiner Bedeutungsgeschichte durch Metaphorisierung eine pejorative Entwicklung verzeichnet. Diese Entwicklung dürfte aber nicht beabsichtigt gewesen sein: Nicht die Verschlechterung der Wortbedeutung stand im Vordergrund, sondern der expressiv-evaluative Ausdruck, aus dem die Pejoration unabsichtlich folgte. 11.1.2 Bedeutungsverbesserung Neben der subjektiv empfundenen Verschlechterung der Konnotationen eines Wortes gibt es auch Fälle, bei denen Wörter semantisch aufgewertet werden. Den Prozess der semantischen Aufwertung oder Bedeutungsverbesserung (Meliorisierung) kann man am häufigsten bei Personenbezeichnungen nachvollziehen: „Wenn ein Ausdruck, der zunächst einen Angehörigen einer niedrigen Position bezeichnet, durch semantischen Wandel einen Angehörigen einer höheren Position bezeichnet, spricht man von Bedeutungsverbesserung oder Melioration“ (Lehmann 2013). Weiter oben haben wir erkannt, dass insbesondere die Frauenbezeichnungen einem steten Verfall unterliegen. Die Tendenz zur Höflichkeit hat eine paradoxe Wirkung: Wenn man Frauenbezeichnungen zur Hervorhebung verwendet und dabei höhere Standesbezeichnungen benutzt, verlieren diese ihre höherwertige Einstufung und es kommt in der Folge zur semantischen Abwertung der Begriffe. Hohe Standesbezeichnungen werden auf diese Weise zum Basiskonzept und die bis dato gültigen Basiskonzepte werden semantisch abgewertet. Nun gilt diese Entwicklung nicht für alle Frauenbezeichnungen, wie ein Beispiel aus dem Englischen zeigt. Das Wort queen, das die höchste soziale Stufe kennzeichnet, auf der eine Frau stehen kann, hat sich semantisch aus dem Basiskonzept entwickelt: Im Altenglischen bedeutete cwên so viel wie Frau. Hier kam es in der semantischen Entwicklung nicht zu einer Abwertung des Begriffs (wie bei Dirne oder Weib), sondern zu einer Aufwertung. Bleiben wir in England. Das Wort knight, das heute mit ritterlichen Tugenden wie Stärke und Mut verbunden ist, bedeutete im Altenglischen so viel wie Pferdeknecht. Hier erkennen Sie einmal mehr die Sprachverwandtschaft zum Deutschen, wenn Sie die beiden Begriffe knight und Knecht einmal rein morphologisch miteinander vergleichen. Im Deutschen hat das Wort im Gegensatz zum Englischen seine ursprüngliche Bedeutung behalten, es kam nicht zu einer Bedeutungsverbesserung. 11.1 Werden Wörter besser oder schlechter durch Bedeutungswandel? <?page no="240"?> 240 11 Was sind die Folgen des Bedeutungswandels auf der Wortebene? Dennoch gibt es auch für das Deutsche eine ähnliche Entwicklung- - sogar aus derselben Begriffssphäre. Das Wort Marschall bezeichnet gegenwärtig einen Menschen von militärisch hohem Rang. Es geht zurück auf das althochdeutsche mar(a)-hsalc, das so viel bedeutet hat wie Pferdeknecht (nhd. Mähre = Pferd). Die Bedeutungsentwicklung der genannten Beispiele verlief, wie bei den meisten semantischen Veränderungen, graduell: Weder Bedeutungsverschlechterung noch Bedeutungsverbesserung sind Effekte, die von einem Tag auf den anderen passieren. Für das Wort Marschall beispielsweise lassen sich Zwischenstufen identifizieren: So war der Marschall zunächst Pferdeknecht, dann Stallmeister, danach Hofbeamter, später der oberste Befehlshaber der Reiterei und seit dem 16. / 17. Jahrhundert ist es der höchste militärische Rang, der durch den Begriff zum Ausdruck gebracht wird. Eine ähnliche graduelle Bedeutungsentwicklung konnten wir für geil oder billig als Beispiele pejorativer Tendenzen nachzeichnen. Bei der Bedeutungsverbesserung nimmt ein Ausdruck eine Bedeutung an, die in der jeweiligen Gesellschaft als wertvoller gilt. Dabei spielen auch Prozesse eine Rolle, die man als gesellschaftliche Akzeptanz von semantisch negativ konnotierten Begriffen bezeichnen kann. Ein anschauliches Beispiel dafür ist die Entwicklungsgeschichte des Adjektivs schwul, das ursprünglich in diffamierender Weise zur Stigmatisierung von Homosexuellen verwendet wurde (vgl. Harm 2015: 126). Die Ursprungsbedeutung ist absichtsvoll mit negativen Konnotationen angelegt worden, so dass wir das Wort als Dysphemismus einstufen können. Da Homosexuelle das Wort in der Folge aber selbst zur Beschreibung ihrer sexuellen Orientierung verwendet haben, ist das Wort pragmatisch umgeformt worden, was semantisch zu einem Verlust der negativen Konnotationen geführt hat. Die Bedeutungsverbesserung durch intentionalen Wortgebrauch ist zwar ein Sonderfall, aber sicherlich auf diese Weise ein genuiner Prozesstyp des Bedeutungswandels. 11.2 Von Asterix zu Obelix — verändert sich der Umfang eines Wortes durch Bedeutungswandel? Im Gegensatz zu den beiden zuvor skizzierten Bedeutungsdefinitionen, die eine Dominanz des Psychologischen aufweisen, handelt es sich bei der eher quantitativ orientierten Betrachtungsweise um eine Form der strukturalistischen Analyse. Sie basiert nicht auf Wertevorstellungen und Bewertungen, sondern auf Veränderungen der Struktur semantischer Merkmale. Zudem ist diese Sichtweise auch deswegen besser geeignet, semantische Veränderungen zu fassen, weil sich nahezu alle Beispiele, die unter Bedeutungsverbesserung oder -verschlechterung <?page no="241"?> 241 11.2 Verändert sich der Umfang eines Wortes durch Bedeutungswandel? subsumiert werden können, auch unter den Gesichtspunkten des Begriffsinhalts und seiner Veränderung einstufen lassen. In der klassischen Bedeutungswandelforschung werden semantische Veränderungen entweder über das Merkmal der Qualität beschrieben (Bedeutungsverbesserung / Bedeutungsverschlechterung) oder über den Aspekt der Bedeutungshierarchie. Es geht dabei um die Frage, wie sich der Begriffsumfang, die sogenannte Extension eines Wortes, in der Folge des Bedeutungswandels verändert hat. Um das verstehen zu können, muss man wissen, dass man Wortbedeutungen darüber definieren kann, wie viele Entitäten in der Welt unter einen Begriff gefasst werden können. So ist es wohl einleuchtend, dass das Wort Vogel eine ganze Reihe von Tieren mit ganz unterschiedlichen Eigenschaften umfasst. So zählen Kolibris ebenso zu den Vögeln wie Seeadler, auch wenn sich diese Tiere deutlich voneinander unterscheiden. Man würde also sagen, dass der Begriffsumfang des Wortes Vogel recht groß ist; er umfasst die Gesamtheit aller Vögel. Auf der Inhaltsseite, die man Intension nennt, finden sich nun semantische Merkmale, die bestimmen, was ein Vogel ist und was nicht. Für das Wort Vogel sind dies eher allgemeine Merkmale, die sich rasch erschöpfen. So ist definitorisch festgelegt, dass ein Vogel ein Wirbeltier ist, das Flügel und Federn besitzt und zudem einen Schnabel hat. Flugfähigkeit beispielsweise ist kein semantisches Merkmal, weil etwa Pinguine zwar Vögel sind, aber nicht fliegen können. Dieses Beispiel zeigt: Allgemeine Begriffe zeichnen sich durch eine große Extension bei kleiner Intension aus. Bleiben wir in der Ornithologie und betrachten wir das Wort Rotkehlchen. Hier verhält es sich so, dass dieser Begriff allein diejenigen Vögel umfasst, die bestimmte semantische Merkmale aufweisen. Ein Rotkehlchen ist klein, zierlich und hat einen roten Brustfleck. Die Steuerfedern sind dunkelbraun mit gelbgrauem Außenfahnensaum. Hand- und Armdecken sind groß mit rostbraunen Spitzen. Die Unterflügeldecken sind gräulichweiß bis hellbraun gefärbt. Diese Aufzählung ließe sich noch erweitern, aber sie zeigt bereits, dass die Menge an semantischen Merkmalen deutlich größer ist, als wir es für den Oberbegriff Vogel feststellen konnten. Zugleich wird auch klar, dass die semantischen Merkmale des Oberbegriffs natürlich auch semantische Merkmale des Unterbegriffs sind. Wir haben es also mit einem speziellen Begriff zu tun, der folgendermaßen gekennzeichnet ist: <?page no="242"?> 242 11 Was sind die Folgen des Bedeutungswandels auf der Wortebene? Spezielle Begriffe zeichnen sich durch eine kleine Extension bei großer Intension aus. Das Verhältnis von Intension und Extension ist reziprok proportional: Je spezieller ein Begriff ist, desto mehr semantische Merkmale gibt es (Intension) und desto weniger Dinge in der Welt gibt es, auf die der Begriff anwendbar ist (Extension). Umgekehrt gilt dann, dass ein Begriff, der auf viele Dinge in der Welt anzuwenden ist, nur wenige semantische Merkmale besitzt. Die folgende Abbildung macht diese Zusammenhänge deutlich: Abb. 20 Bedeutungshierarchie (nach W E G ER A / W ALD ENBER G ER 2012) Semantische Veränderungen zeigen sich demnach in einer Veränderung der Extension, die automatisch mit einer Veränderung der Intension verbunden ist. Wörter können durch Bedeutungswandel entweder eine speziellere Bedeutung annehmen, wodurch sich die Extension verkleinert, also der Begriffsumfang abnimmt. Diesen Prozess bezeichnet man als Bedeutungsverengung oder Spezialisierung der Wortbedeutung. Oder aber Wörter erhalten eine generellere Bedeutung, was sich daran zeigt, dass der Begriffsumfang zunimmt. Wenn dies geschieht, spricht man von einer Bedeutungserweiterung oder von der Generalisierung der Wortbedeutung. Stets verbunden mit der extensionalen Entwicklung ist eine Veränderung der Inhaltsstruktur (Intension) durch ein Mehr oder Weniger an semantischen Merkmalen in der neuen Wortbedeutung: <?page no="243"?> 243 Spezialisierung bewirkt eine intensionale Vergrößerung, wogegen Generalisierung zu einer intensionalen Verkleinerung des Bestandes an semantischen Merkmalen führt. Die meisten der unter 11.1 beschriebenen qualitativen Veränderungen lassen sich über dieses Konzept auch quantitativ als Veränderungen des Bedeutungsfeldes fassen. Das Verhältnis von Intension und Extension bei der Bedeutungsverengung und der Bedeutungserweiterung lässt sich auf diese Weise skizzieren: Abb. 21 Intensionale und extensionale Bedeutungsveränderungen 11.2.1 Spezialisierung der Wortbedeutung (Bedeutungsverengung) Lexikalische Einschränkungen der Nutzungsmöglichkeiten eines Wortes ergeben sich durch verschiedene Verfahren des Bedeutungswandels. Sie lassen sich in der Folge als Spezialisierung der Wortbedeutung nachweisen. Das bedeutet, dass aus Begriffen mit einer eher generellen Bedeutung Wörter werden, deren neue Bedeutung spezieller geworden ist. Bedeutungsverengung meint also, dass der semantische Gehalt des Wortes zunimmt. Was sich verringert, ist die Möglichkeit, das Wort auf eine größere Gruppe von Gegenständen, Sachverhalten oder 11.2 Verändert sich der Umfang eines Wortes durch Bedeutungswandel? <?page no="244"?> 244 11 Was sind die Folgen des Bedeutungswandels auf der Wortebene? Konzepten (Denotate des Wortes) anzuwenden. Sie erkennen wahrscheinlich: Der häufig verwendete Terminus Bedeutungsverengung ist-- ebenso wie sein Pendant Bedeutungserweiterung-- irreführend. Andreas Blank schreibt dazu: Mit ‚Bedeutungserweiterung‘ ist-[…] eine Erweiterung der Extension, des Bezeichnungsvermögens verbunden, während das Semem um mindestens ein distinktives Merkmal reduziert wird, der intensionale Gehalt nimmt ab- […]. Umgekehrt kommt bei der ‚Bedeutungsverengung‘ mindestens ein Merkmal hinzu, dafür wird der Bezeichnungsrahmen reduziert-[…]. Man müßte also logischerweise von ,Bezeichnungserweiterung’ und ,Bezeichnungsverengung’ sprechen oder-- um die Angelegenheit vollends zu verwirren-- ,Bedeutungsverengung’ anstelle von ,Bedeutungserweiterung’ verwenden und umgekehrt! (Blank 1997: 192) Aus diesem Grund ist es treffender, von der Spezialisierung der Wortbedeutung zu sprechen, denn dann betrachten wir das Phänomen nicht rein mit Blick auf die Extension. Stattdessen können wir erkennen, dass und wie die Bedeutung selbst sich verändert hat: Bei der Spezialisierung kommen bestimmte semantische Merkmale als spezifischer Teil der Gebrauchsregel (und damit der Wortbedeutung) hinzu, die ehemals dort nicht zu finden waren. Extensionale Verengung ist verbunden mit dem Hinzukommen von bestimmten semantischen Merkmalen, die künftig der spezifischen Interpretation dienen (→ Spezialisierung der Wortbedeutung). Dass damit einhergehend die Verkleinerung der Menge der Denotate des Wortes verbunden ist, ist kann man als Effekt dieser Spezialisierung einstufen. Mit anderen Worten: Der Bedeutungswandel zeigt sich nicht in einer Bedeutungsverengung, sondern-- streng genommen-- erweitert sich die Bedeutung des Wortes. Was sich (in manchen Fällen) verengt, ist die Extension, also der Begriffsumfang. Begriffsumfang, also die Menge der Denotate, und Wortbedeutung, also semantische Merkmale der Gebrauchsregel, sind nicht dasselbe! Daher muss man vorsichtig sein, wie man die beiden Begriffe verwendet. Der Terminus Bedeutungsverengung, den Sie häufig in der Literatur finden können, erweckt den Eindruck, dass sich auf der semantischen Ebene etwas verengt oder verkleinert. Das Gegenteil ist der Fall. Die Kategorie Verengung stützt sich-- ebenso <?page no="245"?> 245 wie die der Erweiterung-- allein auf den Umfang der Dinge oder Konzepte, für die ein Begriff stehen kann. Es ist eine rein quantitative Messgröße: Der Terminus ‚Bedeutungsverengung‘ ist ebenso wie der Begriff ‚Bedeutungserweiterung‘ eine rein quantitative Messgröße im Hinblick auf Intension und Extension. Für Differenzierung und Generalisierung bietet es sich an, von Typen der Bedeutungsverschiebung zu sprechen, die sich als eine Spezialisierung bzw. als eine Generalisierung der Wortbedeutung manifestieren. (Bechmann 2013: 227) Das heißt, „dass Bedeutungsgeneralisierung dazu führt, dass das Resultat der so verstandenen Bedeutungsverschiebung ein erweiterter Normalfall oder ein Allgemeinfall der ursprünglichen Bedeutung ist [und umgekehrt, S. B.]“ (Bechmann 2013: 228). Wenn man diese Differenzierung vornimmt, kommt man unweigerlich zu dem Schluss, dass es sich bei der Spezialisierung wie auch bei der Generalisierung um qualitative Festlegungen handelt. Dies hat einen entscheidenden Vorteil gegenüber den Messgrößen Bedeutungsverengung und -erweiterung, die lediglich rein quantitative Beurteilungen anhand von Extensionen darstellen. Beim Bedeutungswandel geht es aber nicht um Quantität, sondern um die qualitativen Veränderungen der Wortbedeutung. Die Begriffe Spezialisierung und Generalisierung lassen eine solche qualitative Betrachtung zu, die Termini Bedeutungsverengung und Bedeutungserweiterung hingegen nicht. Warum ist diese Unterscheidung wichtig? Ist es nicht eher eine spitzfindige Differenzierung, die für die Betrachtung des Bedeutungswandels eher hinderlich-- weil verwirrend-- ist? Nun, ich möchte Ihnen ein Beispiel aus dem deutschen Verbwortschatz zeigen, bei dem Bedeutungswandel nicht über extensionale Veränderungen zu fassen ist. Es handelt sich dabei um das Wort begreifen, das wir gegenwärtig nahezu ausschließlich in Verbindung mit geistig-mentalen Handlungen verwenden. In seiner Ursprungsbedeutung war begreifen an eine haptische Tätigkeit gekoppelt: Etwas anzufassen, hieß, es zu begreifen. Der semantische Prozess hinter dem Bedeutungswandel ist eine Metaphorisierung, die sich als Bedeutungsübertragung von der haptischen auf die geistige Sphäre nachweisen lässt. Die semantische Nähe von Ursprungs- und Zielbedeutung können Sie heute noch erkennen, wenn Sie sich mit Lerntypen auseinandersetzen: Der haptisch-taktile Lerntyp lernt (kognitiver Prozess) dadurch, dass er Dinge anfasst; er begreift durch Begreifen. Zudem zeigt sich ein Klasseneffekt: Auch die Verben erfassen oder raffen (umgangssprachlich) 11.2 Verändert sich der Umfang eines Wortes durch Bedeutungswandel? <?page no="246"?> 246 11 Was sind die Folgen des Bedeutungswandels auf der Wortebene? entstammen der haptischen Sphäre und werden heute Synonym zu begreifen zur Beschreibung kognitiver Vorgänge verwendet. Kommen wir zurück zur Frage der extensionale Beschreibbarkeit dieses Bedeutungswandels: Würde [man] allein den Aspekt der Extensionsveränderung ins Feld führen, müsste [man] feststellen, dass sich die Extension des Verbs begreifen im Grunde kaum messbar vergrößert oder verkleinert hätte. Was hingegen feststellbar ist, ist eine deutliche semantische Spezialisierung der Wortbedeutung durch Einbindung kognitiv-mentaler Parameter in die Gebrauchsregel des Wortes. Hat sich in unserem Beispiel die Intension vergrößert, die Extension hingegen verkleinert? Oder ist es eher umgekehrt? Solche Fragen, die sich stellen, wenn man die Extension mit der Bedeutung gleichsetzt (im einen Fall hat sich die Extension und damit auch die Bedeutung verengt, im anderen ist es umgekehrt und die Bedeutung hat sich erweitert), lassen sich für das Beispiel begreifen- […] nicht immer klar beantworten. Was aber sehr wohl erkennbar ist, ist eine ausdifferenzierte Spezialisierung (oder Differenzierung) der Bedeutung (hier: in Richtung geistig-mentaler Vorgänge) als ein semantischer Effekt der Bedeutungsentwicklung. (Bechmann 2013: 229) Spezialisierung lässt sich also (nicht immer) über die Verkleinerung des Begriffsumfangs erklären, denn für begreifen ist der Begriffsumfang unendlich groß-- und er ist dadurch, dass spezifische Merkmale in die Gebrauchsregel integriert worden sind, nicht kleiner geworden. In manchen Fällen stimmt es aber tatsächlich, dass sich der Begriffsumfang mit dem Bedeutungswandel verkleinert hat. So bedeutete das Wort deer im Altenglischen so viel wie Tier, war also ein allgemeiner Begriff. Gegenwärtig wird deer spezialisiert verwendet, denn es bezeichnet nicht mehr alle Tiere, sondern eine bestimmte Tierart: das Rotwild. Dasselbe gilt für das Wort hound, das ebenfalls zunächst Hunde aller Art und heute nur noch spezielle Jagdhunde bezeichnet. Aber auch bei diesen beiden Beispielen gilt: Der Bezeichnungsumfang sagt nichts über die Bedeutung aus. Der Bedeutungswandel vollzog sich dadurch, dass „eine spezifische Hinsicht Teil der Gebrauchsregel geworden ist“ (Keller / Kirschbaum 2003: 17). Dass mit der Spezialisierung der Wortbedeutung die Verkleinerung der Extension einhergeht, ist ein Effekt, der auftreten kann (und häufig nachzuweisen ist), der aber nicht auftreten muss, wie das Beispiel begreifen gezeigt hat. Dasselbe gilt für die folgende Annahme, bei der begreifen ebenfalls die Ausnahme von der Regel bildet: Spezialisierung führt in aller Regel zu konkreteren Wortbedeutungen. <?page no="247"?> 247 Die folgende Übersicht hält einige Beispiele für Spezialisierung für Sie bereit (aus Wanzeck 2010: 72 ff., Nübling et al. 2013: 120 f., Wegera / Waldenberger 2012: 255, Keller / Kirschbaum 2003: 15 ff.): Lexem Basisbedeutung Bedeutungsspezialisierung Favorit(en) begünstigte Person bevorzugte Internetseite Gewehr Waffe Schusswaffe mit langem Lauf Delirium Bewusstseinstrübung Bewusstseinstrübung durch Alkohol, Drogen etc. Gewinde alles, was gewunden ist Schraubengewinde kurios wissenswert merkwürdig merkwürdig merkenswert (weil selten) seltsam Junggeselle jüngster Geselle im Handwerk unverheirateter Mann züchtig gut erzogen sexuell zurückhaltend Ehe Recht, Sitte rechtlich / kirchlich anerkannter Bund zweier Menschen fahren jede Form der Fortbewegung (heute noch in: aus der Haut fahren) Fortbewegung mit einem Fahrzeug fällen etwas zu Fall bringen einen Baum fällen Wirt allg. Gastgeber Gastwirt (als Berufsbezeichnung) rüstig allg. kräftig, vital kräftig für ein hohes Alter brav tapfer, mutig (vgl. engl. brave) gehorsam (v. a. Kinder) witzig geistreich komisch, lustig Tabelle 14 Bedeutungsspezialisierung im Deutschen 11.2.2 Generalisierung der Wortbedeutung (Bedeutungserweiterung) Im Prinzip ist in den Ausführungen zur Spezialisierung schon vieles über den gegenteiligen Prozess der Generalisierung geschrieben worden. Hier kommt es in der Folge des Bedeutungswandels dazu, dass ein spezifischer Sinn, der Teil der Gebrauchsregel eines Wortes war, verloren geht. Die Summe der bedeutungsbestimmenden Merkmale in der Gebrauchsregel nimmt ab, das Wort erhält eine allgemeinere Bedeutung. Diese qualitative Veränderung zeigt sich auch erst im direkten Vergleich: Um bestimmen zu können, ob sich die Wortbedeutung 11.2 Verändert sich der Umfang eines Wortes durch Bedeutungswandel? <?page no="248"?> 248 11 Was sind die Folgen des Bedeutungswandels auf der Wortebene? generalisiert hat, muss man die Ausgangsbedeutung mit der Zielbedeutung vergleichen. In vielen Fällen stellt man dann fest, dass mit der Generalisierung die Nutzungsmöglichkeiten des Wortes gestiegen sind: Das Wort lässt sich in der Folge auf eine größere Menge an Dingen, Tätigkeiten oder Vorstellungen anwenden. Diese quantitative Festlegung sagt nichts über die Veränderung der Bedeutung selbst aus, sie taugt nicht zur Beschreibung dessen, was semantisch in der Gebrauchsregel geschehen ist. Dennoch gilt für die meisten Fälle der Generalisierung: Extensionale Erweiterung ist verbunden mit dem Wegfall von bestimmten semantischen Merkmalen, die ehemals der spezifischen Interpretation dienten (→ Generalisierung der Wortbedeutung). Dazu wieder einige Beispiele: Das neuenglische Wort dog ist der allgemeine Terminus, mit dem man Hunde jeglicher Rasse bezeichnet. Ursprünglich bedeutete es aber so viel wie großer, starker Hund. Diese zusätzlichen Bedeutungsmerkmale finden Sie noch in der deutschen Rassebezeichnung Dogge. Hier ist die spezifische Bedeutung verloren gegangen und die Wortbedeutung ist genereller geworden. Der Unterbegriff wurde zum Oberbegriff. Auf der Ebene der Gebrauchsregel sind Parameter verschwunden, die man den Parametern aus der Welt der Haltungen zurechnen könnte: Ob ein Hund als groß und stark angesehen wird, ist-- neben den wahrheitswerten Eigenschaften-- auch eine Frage der Bewertung. Zudem haben sich Parameter aus der äußeren Welt verändert, denn ein Pekinese ist sicher alles andere als ein großer, starker Hund. Diese Veränderung der Parameter aus der äußeren Welt kann man als Abstrahierung bezeichnen. Wie Sie sicher wissen, gibt es konkrete und abstrakte Wortbedeutungen. Die Vorstellung von einem Pekinesen ist sehr konkret-- wenn Sie wissen, wie dieser Hund aussieht. Die Vorstellung von einem Hund hingegen ist eher abstrakt. Dasselbe gilt für unser Beispiel weiter oben: Ein Vogel ist in Ihrer Vorstellung möglicherweise etwas anderes als in meiner. Vermutlich haben der Vogel, den Sie sich vorstellen, und der Vogel, den ich imaginiere, nur wenig gemein. Sicher aber denken wir beide an Tiere mit Flügeln, einem Schnabel und Federn. Aber haben auch Sie-- wie ich-- an einen Strauß gedacht? Notieren wir also als Befund, der für viele, aber, wie wir weiter unten in Kapitel 11.3 sehen werden, nicht für alle Fälle des Bedeutungswandels vom Speziellen hin zum Generellen gilt: <?page no="249"?> 249 Generalisierung führt in aller Regel zu einer begrifflichen und semantischen Abstrahierung; generelle Begriffe sind eher abstrakt. Für spezielle Begriffe gilt das Gegenteil. Die Abstrahierung ist eine Folge der Entwicklung von speziellen Bedeutungen hin zu generellen Bedeutungen auf der Ebene der Basiskonzepte. So ist das Basiskonzept Lebewesen wesentlich abstrakter bzw. unspezifischer, auch wenn alle darunter fallenden Entitäten konkret bzw. spezifisch sind, als das Konzept Regenwurm. Das gilt z. B. auch für das Adjektiv rau, das sich aus der konkreten Bedeutung in der speziellen Referenz auf Haare (vgl. auch das Substantiv Rauchwaren für Felle und Pelze) zu einem abstrakteren Begriff zur Bezeichnung der Eigenschaft rau entwickelt hat (vgl. Wegera / Waldenberger 2012: 255 f.). So können heute Möbeloberflächen ebenso als rau bezeichnet werden wie Verhaltensweisen (hier herrscht aber ein rauer Umgangston) oder Wetterereignisse (es bläst ein rauer Wind). Nachfolgend einige Beispiele für Bedeutungsgeneralisierung im Deutschen: Lexem Spezielle Basisbedeutung Bedeutungsgeneralisierung Essenz konzentrierte Flüssigkeit (Chemie) das Wesentliche drastisch hoch wirksam (Medizin) direkt Dekan Vorsteher von zehn Mann Vorsteher (einer Fakultät) Kalfakter Heizer in der Schule Hilfsarbeiter Glosse erklärungsbedürftiges Wort Kommentar / Erklärung (Zeitung) Sache, Ding Gerichtsverhandlung (heute noch erkennbar in Widersacher) Gegenstand fertig zur Fahrt bereit (von Fahrt + ig) bereit Tabelle 15 Bedeutungsgeneralisierung im Deutschen 11.3 Ist Abstrahierung ein universeller Effekt des Bedeutungswandels? Vielfach wird behauptet, dass die gerade skizzierte Entwicklung von einer allgemeineren Bedeutung hin zu einer spezielleren Bedeutung so etwas wie ein allgemeingültiges Gesetz des Bedeutungswandels ist. Wie Volker Harm feststellt, gibt es akzeptierte Hypothesen darüber, dass sich Wandelphänomene in einer 11.2 Verändert sich der Umfang eines Wortes durch Bedeutungswandel? <?page no="250"?> 250 11 Was sind die Folgen des Bedeutungswandels auf der Wortebene? stets wiederkehrenden Abfolge der Bedeutungen nachweisen lassen (vgl. Harm 2000: 38). Dabei wird angenommen, dass semantischer Wandel im Allgemeinen gerichtet abläuft, also dass es sich beim Bedeutungswandel um eine Art Einbahnstraße handelt. Zwei grundsätzliche Auffassungen sind hier bestimmend: Zum einen wird behauptet, dass sich Bedeutungswandel in der Richtung vom Konkreten zum Abstrakten abspielt (Abstrahierung). Diese Behauptung ist richtig, denn sie lässt sich an einer Vielzahl von Phänomenen ablesen. Falsch ist hingegen die strikte Formulierung einer Gesetzmäßigkeit, wie wir sie beispielsweise bei Elisabeth Traugott, aber auch in vielen anderen Standardwerken zum Bedeutungswandel, finden können: „One of the most important organizing principles for finding regularity in semantic change is-[…] the principle that more concrete terms will almost always give rise to more abstract ones and not vice versa-[…]“ (Traugott 1985: 159). Auffällig ist hier der prinzipielle Ausschluss einer Gerichtetheit abstrakt > konkret. Wenn Sie gut aufgepasst haben, müssten Sie bei diesem Zitat stutzig werden. Wie wir weiter oben anhand der Beispiele für Bedeutungsspezialisierung erkennen konnten, gibt es nämlich Fälle, bei denen ein Basiskonzept zu einer Spezialverwendung wird. Dabei kommen semantische Merkmale zur Wortbedeutung hinzu. In der Folge haben wir es mit einem Begriff zu tun, der über diese erweiterten semantischen Merkmale dazu geeignet ist, auf eine konkrete Sache in der Welt zu verweisen- - ob nun auf ein Ding in der Welt, eine spezielle Tätigkeit, eine konkrete Vorstellung von etwas oder auf einen Sachverhalt. Wenn aus einer allumfassenden Gesamtbedeutung eine Teilbedeutung wird, gewinnt ein Begriff oft an Kontur. Er wird semantisch geschärft. Bei Harm können wir lesen: „Objekte mit einem engeren, ‚spezielleren‘ Referenzbereich-[…] sind mit gutem Recht auch als ,konkret’ zu bezeichnen, während der ,allgemeine’ Begriff-[…] mit einem weiteren Referenzbereich demgegenüber auch als ,abstrakt’ gelten kann“ (Harm 2000: 39 f.). Spezialisierung führt demnach-- wie wir auch an unseren Beispielen weiter oben erkennen konnten-- in aller Regel zu einer Konkretisierung der Wortbedeutung. Doch es gibt auch Fälle, wie wir anhand von begreifen nachgewiesen haben, bei denen trotz der Bedeutungsspezialisierung ein Begriff aus einer konkreten Sphäre eine abstrakte Bedeutung annimmt. Und es gibt solche Fälle, bei denen man gar nicht feststellen kann, dass sich mit Blick auf die Dichotomie konkret / abstrakt irgendetwas durch Bedeutungswandel verändert hätte. Die Verben fressen und saufen sind gute Beispiele dafür: Die beiden expressiven Verben haben in der <?page no="251"?> 251 11.4 Weiterführende und vertiefende Literatur metaphorischen Übertragung auf den Menschen beide eine Entwicklung vom Allgemeinen (jedes Tier) zum Speziellen (der Mensch) durchlaufen. Mit der Spezialisierung war in diesen Fällen eine Extensionsverkleinerung verbunden. Würden Sie aber sagen, dass die beschriebenen Tätigkeiten im Zuge dieser Entwicklung an Abstraktheit gewonnen und an Konkretheit verloren hätten? Oder umgekehrt? Richtig ist: „Sowohl in der (auf allerlei Getier referierenden) Grundbedeutung als auch in der (auf Menschen projizierten) Zielbedeutung wird eine konkrete Tätigkeit zum Ausdruck gebracht“ (Bechmann 2013: 169). Aus diesen Überlegungen folgt: Weder führt Generalisierung zwingend zu einer Abstrahierung der Bedeutung noch bedingt Spezialisierung in jedem Fall eine konkretere Wortbedeutung. Wir sehen: Extensionserweiterung muss nicht zwingend zu einer allgemeineren Bedeutung und damit einhergehend zu einer Abstrahierung führen, Extensionsverkleinerung auch nicht zur Herausbildung einer speziellen und konkreten Bedeutung. Das wesentliche Verhältnis zwischen den Begriffspaaren konkret / abstrakt und allgemein / speziell ist nicht universell festgelegt; eine Gleichsetzung von konkret = speziell und abstrakt = allgemein ist falsch. Man könnte sagen: Alles kann, nichts muss. Sowohl Abstrahierung als auch Konkretisierung sind Effekte des Bedeutungswandels — aber keine Gesetzmäßigkeiten. Tendenziell gibt es zwar Entwicklungslinien, die häufiger feststellbar sind, aber eine prinzipielle Kopplung gibt es nicht. 11.4 Weiterführende und vertiefende Literatur Als Vertiefung zu den axiologischen Typen (Bedeutungsverbesserung und -verschlechterung) empfehle ich die Lektüre von U LLMANN 1967/ 72. Eine sehr gute Zusammenfassung des Forschungsstandes zu dieser Klassifizierung liefert A N - DR E AS B L ANK in der kritischen Auseinandersetzung mit diesen beiden Typen des Bedeutungswandels bei U LLMANN (B L ANK 1993). Dieser Text eignet sich hervorragend als Seminarlektüre (insbesondere im Master-Studium). Zu den logisch-rhetorischen Kategorien Bedeutungsverengung und Bedeutungserweiterung, die sich aus dem reziproken Verhältnis von Zielzur Aus- <?page no="252"?> 252 11 Was sind die Folgen des Bedeutungswandels auf der Wortebene? gangsbedeutung ergeben, finden Sie ebenfalls bei U LLMANN 1967/ 72 Wissenswertes. Bei B L ANK 1997: 192 ff. gibt es eine differenzierte Betrachtung dieser klassenlogischen Einteilung, auf der auch diese Einführung basiert. <?page no="253"?> 253 12.1 Führt Bedeutungswandel zu Mehrdeutigkeit? 12 Was sind die Folgen des Bedeutungswandels auf der Sprachebene? Cause you know sometimes words have two meanings. Led Zeppelin (engl. Rockband, 1968-1980) Ziele und Warm-up Bedeutungswandel wirkt sich auf das Lexikon einer Sprache aus, also auf das makrostrukturelle Gesamtsystem. Dabei ergeben sich vielfältige neue Beziehungen zwischen Wortbedeutungen, die wir in diesem Kapitel näher unter die linguistische Lupe nehmen wollen. Neben dem Aspekt der Mehrdeutigkeit als mögliche Folge des semantischen Wandels interessiert uns auch die Frage, ob und wie sich die kommunikativen Handlungsmöglichkeiten verändern können. Wir wollen ergründen, ob der Bedeutungswandel dazu führt, dass wir kommunikativ flexibler werden oder ob unsere pragmatischen Ausdrucksmöglichkeiten in der Konsequenz schwinden. Zudem soll es um spezielle Aspekte grammatischer Veränderungen gehen, die wir mit dem Blick auf ausgewählte Beispiele diskutieren werden. Am Ende dieser Einheit werden wir ein umfassendes Verständnis über die möglichen Folgen semantischen Wandels gewonnen haben. Bemühen Sie einmal Ihre Intuition und Ihr Sprachgefühl, um die folgenden Fragen zu beantworten: ▶ Was ist ein Schloss? ▶ Wozu braucht man eine Mutter? ▶ Haben Mäuse Kabel? ▶ Kann man sich erschrecken? Wie geht das? ▶ Ist brauchen ein Modalverb? 12.1 Führt Bedeutungswandel zu Mehrdeutigkeit? Eine sprachsystematische Betrachtung der Folgen des Bedeutungswandels führt uns zu den Veränderungen des lexikalischen Systems. Dabei steht nicht das einzelne Wort im Fokus, sondern es geht um die Frage, welche semantischen Beziehungen (semantische Relationen) zwischen den Elementen des Systems <?page no="254"?> 254 12 Was sind die Folgen des Bedeutungswandels auf der Sprachebene? nachweisbar sind. Diese Frage nach den Relationen ist im Hinblick auf Mehrdeutigkeiten (Ambiguität) wichtig. Deshalb wollen wir uns im Folgenden mit Aspekten des Bedeutungswandels befassen, die sich auf dieser systematischen Ebene verorten lassen: Führen Wörter mit unterschiedlichen Bedeutungen zu Problemen? In welchen Fällen ist Mehrdeutigkeit als Bereicherung des Wortschatzes und damit als eine positive Folge des Bedeutungswandel zu bewerten? Wenn wir den instrumentalistischen Bedeutungsbegriff nun mit einem adäquaten Erklärungsmodell für Sprachwandel, wie es die invisible-hand-Theorie ist, kombinieren, erhalten wir eine Möglichkeit, semantischen Wandel hinreichend erklären zu können. Bedeutungswandel manifestiert sich als Spezialfall des Sprachwandels auf der Wortebene und folgt ganz bestimmten Regeln. Wenn man davon ausgeht, dass die Bedeutung eines Wortes seine Verwendungskonvention ist, dann ist semantischer Wandel in eben dieser Konventionsveränderung als Neuverregelung eines zunächst gelegentlich erzeugten Sinns zu begründen. Der Verlauf des Bedeutungswandels lässt sich grob darstellen als Prozess, der zunächst ein Nebeneinander von alter und neuer Wortbedeutung zulässt und der in der weiteren Folge entweder dazu führt, dass a) beide Bedeutungen friedlich nebeneinander bestehen bleiben (Koexistenz) oder dass b) die alte Bedeutungsvariante durch die neue verdrängt wird. Beim Bedeutungswandel gibt es zunächst eine Eins-zu-eins-Zuordnung zwischen Zeichenkörper und Bedeutung, die sich in der Folge ausdifferenziert. Neben die monosemische Grundbedeutung tritt durch den abweichenden Wortgebrauch eine zweite (Neben-)Bedeutung. Es entsteht also zunächst Polysemie, also Mehrdeutigkeit eines Begriffs aufgrund von semantischer Nähe. Polysemie beschreibt eine systematische Mehrdeutigkeit. Diese Form der Mehrdeutigkeit ist eine Folge des Bedeutungswandels und ist abzugrenzen von der Homonymie, die zufällig dadurch entsteht, dass zwei gleichlautende Begriffe existieren, die miteinander semantisch nichts zu tun haben (griechisch homonymía = Gleichnamigkeit). So ist das Adjektiv scharf polysem, denn es gibt in den Verwendungsvarianten (scharfes Schwert → scharfer Wind) metaphorische Bedeutungsbeziehungen. Sprachhistorisch kann man feststellen, dass die eine Bedeutung aus der anderen hervorgegangen ist. Das Wort Kiefer hingegen weist diese Bedeutungsbeziehungen nicht auf. Es handelt sich bei Kiefer <?page no="255"?> 255 12.1 Führt Bedeutungswandel zu Mehrdeutigkeit? (Baum) und Kiefer (Gesichtsteil) um homonyme, monoseme Wörter, um Begriffe also, die gleichlautend sind, deren Bedeutungen aber semantisch rein gar nichts miteinander zu tun haben und bei denen es auch bedeutungsgeschichtlich keine Entwicklung gab. Kiefer ist also nicht ein Wort mit zwei Bedeutungen, sondern es gibt zwei Wörter, die morphologisch gleich gebildet sind, die aber mit je einer Bedeutung versehen sind. Manchmal lesen Sie, dass das Wort Schloss ebenfalls ein homonymer Begriff ist. Das ist richtig-- und zugleich ist es falsch (vgl. Nübling et al. 2012: 117). Richtig ist, dass wir Schloss in seinen beiden Lesarten (Gebäude vs. Mechanismus) heute nicht mehr als polysemen Begriff erkennen. Der gemeinsame semantische Nenner ist für uns nicht nachvollziehbar, es scheint ihn nicht zu geben. Etymologisch gehen aber beide Varianten auf schließen zurück. Für das Schloss als Mechanismus ist dieser Zusammenhang unmittelbar evident. Für das Gebäude gibt es ihn aber auch: So bildete ein Schloss als Gebäude häufig den (krönenden) Abschluss einer architektonischen Landschaftsgestaltung. Zudem war ein Schloss ein besonders gut verschlossenes Gebäude, in dem sich ja bedeutende Sachwerte befanden. Sie sehen: Die semantische Nähe ist gegeben. Dennoch würde eine heutige semantische Analyse, also eine diachrone Betrachtung, mehr Gegensätze als Gemeinsamkeiten herausstellen, weshalb man feststellen muss, dass Homonymie und Polysemie prototypische Begriffe sind, deren eindeutige Fälle die Pole eines Kontinuums bilden, auf dem es einen Übergangsbereich mit unklaren Grenzfällen gibt. Aus synchroner, also sprachgeschichtlicher Perspektive gilt: Verblasste Polysemie erscheint u. U. irgendwann als Homonymie. Dass im Zuge des Bedeutungswandels die alte und die neue Bedeutung gleichrangig erhalten bleiben, ist durchaus möglich, es müssen aber bestimmte Bedingungen erfüllt sein. Lediglich dann, wenn die neue und die alte Bedeutung ohne große Mühe voneinander unterschieden werden können, bleiben die Bedeutungen erhalten. Bei nhd. Maus ist das beispielsweise der Fall: Der Bedeutungswandel beruht auf einer morphologischen Ähnlichkeit zwischen dem kleinen Tierchen und dem Eingabegerät, das die Firma Apple in den 1980er-Jahren erfunden hat. Über das metaphorische Verfahren ist diese neue Bedeutung neben die alte getreten. Dass im Zuge dieser Entwicklung die ursprüngliche Bedeutung erhalten geblieben ist, hat im Wesentlichen zwei Gründe, die immer dann gelten, wenn alte und neue Bedeutung weiterhin nebeneinander existieren können: <?page no="256"?> 256 12 Was sind die Folgen des Bedeutungswandels auf der Sprachebene? 1. Die Notwendigkeit der Benennung der ursprünglichen Sache ist nicht hinfällig geworden und 2. die Gefahren für Missverständnisse sind aufgrund der deutlich unterschiedlichen Verwendungskontexte minimal. Um bei unserem Beispiel zu bleiben: Mäuse in der zoologischen Lesart gibt es noch immer (Prämisse 1) und dass mit dem Satz Meine Maus ist kaputt, ich kaufe mir heute eine neue nur eine Computermaus gemeint sein kann, steht außer Frage (Prämisse 2). Prämisse 2 wäre denkbar nicht erfüllt in einem Satz wie Meine Maus spinnt, aber Kontext- und Weltwissen würden auch hier die richtige Lesart evozieren. Das gilt beispielsweise auch für das Wort Mutter, das ebenfalls „auf dem Wege der Metaphorisierung zu einer Bezeichnung für das Gegenstück einer Schraube“ (Keller / Kirschbaum 2003: 106) wurde: Die Äußerung Gib mir mal die Mutter wird in einer Autowerkstatt ganz sicher nicht missverstanden. Bei diesem Beispiel kommt noch etwas Interessantes hinzu: Der Plural von Mutter in dieser (technisch-mechanischen) Bedeutungsvariante ist nicht Mütter, sondern Muttern, was den Schluss zulässt, dass die neue (fachsprachliche) Bedeutung zumindest im Plural nicht mehr als metaphorisch erkannt wird. Dies führt vermutlich in der Zukunft dazu, dass das Wort Mutter nicht mehr als polysem, sondern als homonym einzustufen sein wird. Denn: Muttern und Mütter sind schon heute keine polysemen Ausdrücke und sie sind noch nicht einmal homonym; es handelt sich morphologisch und semantisch um verschiedene Lexeme. Bei Maus oder Mutter ist Polysemie kein Problem. Anders ist es in denjenigen Fällen, in denen die Verwendungskontexte nahe beieinander liegen. Im Zuge eines Selektionsprozesses wird oftmals eine der beiden Bedeutungen verschwinden und es wird sich die andere durchsetzen. Diese Entwicklung ist der Maxime der Verständlichkeit geschuldet; wenn zwei polyseme Begriffe existieren, ist die Gefahr hoch, dass man als Sprecher missverstanden wird. Dies ist insbesondere dann ein Risiko, wenn man die Wörter im gleichen Kontext verwenden kann. So ist das deutsche Verb eingreifen in der haptisch-taktilen Lesart (in eine Tasche eingreifen) verschwunden. Man kennt noch den Eingriff bei manchen Herrenunterhosen oder den Eingriffschutz bei Briefkästen. Heute assoziiert man mit einem Eingriff ein soziales Handeln i. S. einer Intervention. Dasselbe gilt für begreifen. Niemand sagt heute Die Ware bitte nicht begreifen, sondern man kann manchmal in Geschäften lesen Die Ware bitte nicht anfassen. Begreifen verwenden wir ausschließlich in der Referenz auf kognitive Prozesse. Der Grund liegt darin, dass eingreifen und begreifen in ihren ursprünglichen Bedeutungen teilweise in <?page no="257"?> 257 12.1 Führt Bedeutungswandel zu Mehrdeutigkeit? denselben Kontexten verwendet werden konnten wie die neuen Lesarten. Zur Vermeidung von Missverständnissen sind die Ursprungsbedeutungen umgangen bzw. durch andere Begriffe ersetzt worden (z. B. greifen, hineingreifen statt eingreifen und anfassen statt begreifen). Bei Keller / Kirschbaum können wir lesen: „Nur dann, wenn beide Verwendungsweisen hinreichend klar unterschiedene Verwendungsbereiche haben, können beide nebeneinander koexistieren, so dass dann Polysemie entsteht“ (Keller / Kirschbaum 2003: 108). Ob ein Begriff in der Folge des Bedeutungswandels ein- oder mehrdeutig wird, hängt also davon ab, ob Konflikte durch Missverständnisse ausgeschlossen sind oder nicht. Kommt es zu Konflikten, verschwindet eine der beiden Bedeutungsvarianten, geschieht das nicht, ist Koexistenz zumindest möglich. Koexistenz von alter und neuer Bedeutung — und damit zumindest eine temporäre Polysemie im Wortschatz der Sprache — ist im Bedeutungswandelprozess immer der Normalfall. So gut wie nie verschwindet mit dem Aufkommen der neuen (z. B. metaphorischen) Variante eines Wortes unverzüglich die alte. Koexistenz ist also während des Bedeutungswandels der Normalfall, in der Folge bei vielen Wortarten (wie den Adjektiven oder den Verben) allerdings eher der Spezialfall: Polysemie im deutschen Adjektiv- und Verbwortschatz ist eher selten (vgl. Keller / Kirschbaum 2003: 106 ff. und Bechmann 2013: 247 ff.). Das hat zwei Gründe: Bei Adjektiven ist der Verwendungsbereich für beide Bedeutungen weitgehend identisch. Polysem sind in aller Regel nur solche Begriffe, bei denen die Sphären der Referenz weit genug auseinander liegen, wie etwa bei schlicht, das man bewertend auf Menschen und neutral auf Gegenstände beziehen kann. Die Formulierung ein schlichtes Sofa kann Ausdruck von Gefallen sein, wohingegen die Bezeichnung ein schlichter Mensch heute negativ bewertend ist: „Wenn ein Ausdruck für einen bestimmten Anwendungsbereich eine bewertende Bedeutungsvariante bekommt, geht für diesen Bereich die alte Bedeutung verloren“ (Keller / Kirschbaum 2003: 107). Da Adjektive in aller Regel durch Bedeutungswandel eine bewertende Funktion erhalten, gilt für sie: „Die Kommunikationsmaxime ,Rede so, dass du nicht missverstanden wirst’ führt gemeinhin dazu, dass die neutrale Bedeutung verloren geht, wenn sich eine evaluative Bedeutung etabliert“ (Keller / Kirschbaum 2003: 108). Polysemie ist bei Adjektiven also eine Folge der klaren Trennung der Verwendungsbereiche. <?page no="258"?> 258 12 Was sind die Folgen des Bedeutungswandels auf der Sprachebene? Für Verben gilt: Sie besitzen als Tätigkeitswörter per se einen breiteren Verwendungsbereich und können daher häufig nicht klar genug zugeordnet bzw. abgegrenzt werden. Daher ist Polysemie bei dieser Wortart eher die Ausnahme als die Regel. Das können wir wieder anhand von begreifen nachweisen: Dasselbe gilt für das Verb begreifen-- auch hier ist die konkrete Ursprungsbedeutung verschwunden, weil sich das Verb vermutlich dazu geeignet hat, sowohl in der konkreten als auch in der abstrakten Lesart im selben Gesprächskontext verwendet zu werden. So konnte man etwa sagen: Ich habe den Korkenzieher nicht begriffen. Ob man damit gemeint hat, dass man die Funktionsweise nicht verstanden oder ob man das Gerät nicht angefasst hat, ist allein aus der Äußerung dieses Satzes so ohne weiteres nicht zu rekonstruieren. Man würde zum sicheren Verständnis dieser Äußerung (wie auch beim lesen) eventuell nachfragen müssen Wie meinst du das? , weil man von dem Gesagten nicht problemlos auf das Gemeinte schließen kann. (Bechmann 2013: 248) Wir können also festhalten, dass Mehrdeutigkeit in erster Linie eine lexikalische Eigenschaft von Wörtern ist, die prinzipiell nur dann problematisch ist, wenn sich Verwendungsbereiche überschneiden. Ambiguität wird im Sprachgebrauch in aller Regel zugunsten der kommunikativ passenderen Bedeutungsalternative aufgelöst. Der Kontext disambiguiert das sprachliche Zeichen und hilft, Missverständnisse zu vermeiden. Der Prozess des Bedeutungswandels selbst und die damit verbundenen Phänomene von Ein- und Mehrdeutigkeit lassen sich wie folgt darstellen: Z B1 Stadium 1 Stadium 2 Stadium 3 Stadium 4 B1 B1 B2 B2 B2 Z Z Z Abb. 22 Phasen des Bedeutungswandels (nach J O B / J O B 1997: 256) Wir können anhand der Darstellung bei Job / Job erkennen, welche Stationen ein Wort in aller Regel durchläuft, bis semantischer Wandel in Gänze vollzogen ist. <?page no="259"?> 259 12.2 Verändert Bedeutungswandel die Handlungsmöglichkeiten? Während es in Stadium 1 eine eindeutige Zuordnung von Zeichen zu Bedeutung B1 gibt, kommt in Stadium 2 die Bedeutung B2 als lexikalische Innovation hinzu: Der nun beginnende Semantisierungsprozess ist in Stadium 3 so weit abgeschlossen, dass das Verhältnis von Zeichen Z zur Bedeutung B2 als verfestigt gilt. Man kann sagen: In diesem Stadium ist die neue Bedeutung nicht nur neben die alte Bedeutung getreten, sondern sie ist im lexikalischen Inventar der Sprache bereits etablierter als die alte. Damit verbunden ist eine zunehmende Desemantisierung als Schwund der Ursprungsbedeutung (möglicherweise aus Gründen der Vermeidung von Missverständnissen). Während in den Stadien 2 und 3 noch Polysemie herrscht, ist in Stadium 4 ein vollständiger Bedeutungswandel vollzogen: Das sprachliche Zeichen hat eine neue Bedeutung B2 angenommen, die nicht neben, sondern an die Stelle der ehemaligen Bedeutung B1 getreten ist. Die Ursprungsbedeutung ist mit der Zeit in Vergessenheit geraten. 12.2 Verändert Bedeutungswandel das Spektrum der Handlungsmöglichkeiten? Die wenig befriedigende Antwort auf die Frage, die diesem Abschnitt seine Überschrift gegeben hat, lautet: ja und nein. Die Frage ist deswegen nicht eindeutig zu beantworten, weil die Resultate des Bedeutungswandels höchst verschieden sein können. Um das zu verstehen, müssen wir uns noch einmal vergegenwärtigen, welche möglichen Ausprägungen und Folgen der Bedeutungswandel haben kann: 1. Erweiterung des Bedeutungsfeldes → Polysemierung durch z. B. Metaphorisierung 2. Reduktion des Bedeutungsfeldes → Monosemierung durch Wegfall einer Bedeutungsvariante 3. Verschiebung des Bedeutungsfeldes → hierarchische Aufbzw. Abstiegsprozesse durch Generalisierung und Spezialisierung 4. Verschiebung des pragmatischen Nutzungsfeldes → Verschiebungen von Bewertungen durch Pejorisierung und Meliorisierung In den Fällen 1 und 3 erweitert sich durch semantischen Wandel das Spektrum der möglichen Verwendungsweisen. Wenn neben eine bestehende Wortbedeutung eine weitere tritt, kommt es zu Polysemie und damit zu einem Nebeneinander zweier, semantisch verwandter Wortbedeutungen (Fall 1). Dieses Nebeneinander führt dazu, dass wir mit einem Begriff nun zwei Sachverhalte ausdrücken können. <?page no="260"?> 260 12 Was sind die Folgen des Bedeutungswandels auf der Sprachebene? Das bedeutet: Polysemie erweitert das Lexikon. Manche Wörter erhalten im Laufe der Zeit sogar mehr als nur eine zusätzliche Bedeutung. Das Adjektiv scharf beispielsweise eignet sich gegenwärtig zur Beschreibung eines Geschmacks (scharfe Sauce), einer kognitiven Leistung (scharfer Verstand), einer Dingeigenschaft (scharfes Messer), einer Bewertung im Hinblick auf Dinge oder Menschen (ein scharfes Auto / eine scharfe Braut), einer Redeweise (jmd. hat eine scharfe Zunge), eines Wetterphänomens (scharfer Wind), einer Verhaltensweise (einen scharfen Schnitt machen) oder auch eines Sachverhalts (ein scharfer Schnitt mit dem Messer). Wahrscheinlich ist diese Auflistung noch nicht vollständig. Sie zeigt, dass Polysemie in der Folge des Bedeutungswandels dazu führt, dass man ein einziges Wort für ganz unterschiedliche Aspekte und Bereiche verwenden kann. Die kommunikativen Nutzungsmöglichkeiten haben sich erweitert. Dasselbe gilt auch für Wortbedeutungen, die in der Folge semantischen Wandels generell verwendet werden. Generalisierung führt zu einer Veränderung der Relationen von Über- und Unterordnung (Fall 3). Diese relationale Veränderung findet im Falle der Generalisierung ihren Fluchtpunkt in einer Hyperonymie (Überordnung). Auf diese Weise entsteht ein Begriff, der eine größere Anzahl anderer Wörter in seiner Bedeutung subsumiert bzw. benennend klassifiziert (Oberbegriff). Oberbegriffe sind per se allgemeiner. Das bedeutet, dass man sie auf eine Vielzahl von Entitäten anwenden kann. Dies ist der Grund dafür, weshalb man bei der Generalisierung auch gerne von einer Bedeutungserweiterung spricht. Dabei erweitert sich, wie wir im vorangegangen Kapitel gesehen haben, nicht im eigentlichen Sinn die Bedeutung, sondern die Extension wird offener. Die Dinge in der Welt, auf die der semantisch ausgeformte Begriff passt, vermehren sich. Bei einem Hyperonym ist der Begriffsumfang größer als bei einem Hyponym (Unterbegriff): So ist jeder Mensch (Hyponym) ein Säugetier (Hyperonym), aber nicht jedes Säugetier ist ein Mensch. Generalisierung führt zu extensionaler Öffnung. Insofern führt Generalisierung zu einer Erweiterung des Verwendungsspektrums. <?page no="261"?> 261 Extensional offene Wörter werden zudem häufiger verwendet. Das kennen Sie selbst auch: Wenn Sie einen schönen Vogel bemerken, dann werden Sie wahrscheinlich sagen Schau mal, der hübsche Vogel dort drüben und nicht Sieh mal, der wunderbare Goldregenpfeifer da vorne (außer, Sie sind ornithologisch gut bewandert). Es ist im Alltag häufig nicht nötig, Dinge exakt zu benennen. Zu einem überwiegend großen Teil verwenden wir Oberbegriffe und können uns damit auch sehr gut verständigen. Das Prinzip, das dahinter verborgen liegt, kennen Sie bereits: Es ist die Sprachökonomie, denn der kognitive Aufwand bei der Interpretation von Oberbegriffen ist geringer als beim Verständnis von Spezialbedeutungen. Zudem ist die Gefahr, nicht verstanden zu werden, bei Spezialbegriffen höher als bei allgemeinen Wörtern. Dass sich durch Generalisierung die Nutzungsmöglichkeiten erweitern, kann Ihnen das Beispiel fertig zeigen: Bedeutete das Wort im Mittelhochdeutschen (fertic) noch so viel wie zur Fahrt bereit, ist die heutige Bedeutung genereller. Gegenwärtig bedeutet fertig allgemein bereit oder abgeschlossen. Der Begriff hat seine spezifische Hinsicht (fertig, um zu fahren) abgelegt. Daher können wir heute wesentlich häufiger davon sprechen, fertig zu sein, wobei sich fertig nicht mehr nur auf uns selbst bezieht, sondern auch verwendet werden kann, um einen Sachstand zu beschreiben (die Hausarbeit / das Essen ist fertig etc.). Wir verwenden den Begriff öfter, denn die Menge der möglichen Denotate ist größer geworden. Aus dem Spezialbegriff ist ein allgemeiner Begriff geworden. Die gegenläufige Entwicklung zur Generalisierung ist die Spezialisierung, bei der die Menge der möglichen Denotate durch Bedeutungswandel verkleinert wird. Aus Basisbegriffen werden Hyponyme, die zwar eine kleinere Extension, aber eine größere Intension aufweisen. Die Bildung von Hyponymen als relationaler Abstiegsprozess eines Wortes führt zu Spezialbedeutungen. Spezialbedeutungen sind nun im täglichen kommunikativen Miteinander nicht gerade leicht zu verstehen und insgesamt nicht so gebräuchlich wie allgemeine Oberbegriffe. Aus pragmatischer Sicht ist die Spezialisierung allerdings dennoch systembereichernd: Spezialisierung führt zu einer Erweiterung der kommunikativen Handlungsweisen bei gleichzeitiger Einschränkung des Verwendungsspektrums des Wortes. Es ist durch spezialisierte Wortbedeutungen nämlich möglich, auf semantisch sehr speziell ausgeformte Entitäten zu verweisen. Wenn Sie einen ganz bestimmten Sachverhalt beschreiben wollen, brauchen Sie einen Spezialbegriff. Besonders 12.2 Verändert Bedeutungswandel die Handlungsmöglichkeiten? <?page no="262"?> 262 12 Was sind die Folgen des Bedeutungswandels auf der Sprachebene? in den Fachsprachen ist dies wichtig, damit eine exakte Kommunikation gewährleistet ist. Spezialisierung führt zu Spezialbegriffen, die man benötigt, um exakte Referenzen herzustellen. Sie schränkt zwar das Spektrum der Verwendungsweisen eines Wortes ein, erhöht aber den kommunikativen Nutzwert eines Wortes. Neben die Möglichkeiten der Erweiterung des Verwendungsspielraums eines Wortes treten Entwicklungen, die diesen Spielraum eher einschränken. So ist im Zuge des Bedeutungswandels häufig feststellbar, dass Bedeutungsvarianten verschwinden, weil ein besonderer Verwendungszweck abhandenkommt (Fall 2). Das Verschwinden von Verwendungsweisen durch Wortgebrauchsveränderungen geschieht in aller Regel über einen längeren Zeitraum. Der Grund für das vollständige Verschwinden ist einfach: Wenn der Verwendungsbedarf einer bestimmten Bedeutungsvariante nachlässt, lässt auch die Verwendungshäufigkeit dieser Variante nach. Verbunden ist dies mit einem Verblassen (bleaching) der Wortbedeutung. In der Folge wird die Bedeutungsvariante ungebräuchlich. Ein ursprünglich polysemes Wort wird dabei entweder monosem oder es bleibt polysem, verliert aber an Bedeutungen (Depolysemierung). Desemantisierung infolge des Verschwindens einer Bedeutungsvariante führt zu einer Reduktion des Verwendungsspektrums eines Wortes. Monoseme Wörter besitzen ein kleineres Nutzungsspektrum als polyseme Begriffe, weil sie nicht so vielfältig verwendet werden können. Das bedeutet jedoch nicht, dass ihr konkretes Vorkommen oder der konkrete Wortgebrauch geringer sein muss. Es gibt viele monoseme Wörter (wie du oder heute), die wir extrem häufig verwenden und es gibt polyseme Begriffe (wie Brücke, das zahlreiche Bedeutungen trägt), die wir nur selten benutzen. Eine intensive Verwendungshäufigkeit ist weder notwendig noch hinreichend, um von einem weiten Verwendungsspektrum zu sprechen. Bei der qualitativen Bedeutungsveränderung (Fall 4) kommt es zu einer Verschiebung des pragmatischen Nutzungsfeldes und damit zu einem Wandel der Verwendungsmöglichkeiten. Für das Verwendungsspektrum heißt das, dass hier in der Regel weder eine Erweiterung noch eine Beschränkung stattfindet. Meliorisierung und Pejorisierung sind Phänomene, die dazu führen, dass ein Wort anders-- nämlich bewertend-- verwendet werden kann. Denken Sie hier wieder an unsere Beispiele: Dass man heute Frau statt Weib sagt, ist ein Phänomen der <?page no="263"?> 263 12.3 Verändert Bedeutungswandel die Grammatik einer Sprache? Herabwürdigung der Frauenbezeichnungen. Dass das Wort Marschall gegenwärtig einen hohen militärischen Rang und nicht mehr den einfachen Stallburschen bezeichnet, ist ein Effekt der Tendenz zu beschönigender Rede und des Strebens nach positiv konnotierten Personenbezeichnungen. Erfährt nun ein Wort eine soziale Auf- oder Abwertung, ändert das zunächst nichts an der prinzipiellen Möglichkeit, es zu verwenden. Sowohl die alte als auch die neue (auf- oder abgewertete) Bedeutung bezieht sich auf eine mehr oder weniger konkrete Entität. Zur Erweiterung des Verwendungsspektrums kommt es allenfalls dadurch, dass für die ehemaligen Denotate neue Begriffe gefunden werden müssen. Der ehemalige Marschall ist auf diese Weise zum Stallburschen geworden, die Frau zur Dame, die Dirne zum Mädchen usw.: Es kommt in der Folge von Pejoration oder Melioration nicht zu einer Erweiterung oder Einschränkung des Verwendungsspektrums des Wortes, sondern zu einer Veränderung des peripheren semantischen Umfelds durch die Neubesetzung der ehemaligen Bedeutungen durch andere Begriffe. Es zeigt sich also: Bedeutungswandel geht in den meisten Fällen einher mit Veränderungen der kommunikativen Handlungsmöglichkeiten, wobei das Verwendungsspektrum erweitert oder eingeschränkt werden kann. In manchen Fällen (Melioration, Pejoration) verändert sich nicht das Spektrum der möglichen Verwendung im Sinne einer größeren oder weniger großen pragmatischen Nutzbarkeit, wohl aber die kommunikative Tauglichkeit eines Wortes in bestimmten Kontexten. 12.3 Verändert Bedeutungswandel die Grammatik einer Sprache? In vielen Fällen bleibt der Bedeutungswandel nicht ohne Folgen für das grammatische System der Sprache. Wenn eine sprachliche Einheit ihre lexikalische Bedeutung allmählich verliert und zunehmend als morphosyntaktischer Marker verwendet wird, spricht man von dem Prozess der Grammatikalisierung. Grammatikalisierung ist also die Überführung eines Zeichens in das grammatische System. Dabei unterwirft sich das Wort den grammatischen Regeln, die in dem jeweiligen Sprachsystem gelten. Dieser Prozess der Grammatikalisierung verläuft typischerweise in vier Phasen (nach Szczepaniak 2011: 11 f.): <?page no="264"?> 264 12 Was sind die Folgen des Bedeutungswandels auf der Sprachebene? 1. Desemantisierung (Verblassen der ursprünglichen Bedeutung bis hin zum vollständigen Verlust der konkreten Bedeutung) 2. Kontextgeneralisierung (Verwendung des Wortes in neutralen Kontexten) 3. Dekategorialisierung (Verlust der syntaktischen Selbstständigkeit) 4. Erosion (Verlust phonetischer Substanz) Ein typisches Beispiel für Grammatikalisierung ist der Übergang von Verben zu Hilfsverben wie beispielsweise beim englischen Verb (to) go. Im Gegensatz zu seiner Verwendung als Vollverb i. S. v. gehen wird das Verb als Hilfsverb in Ausdrücken wie we are going to leave verwendet, um ein kurz bevorstehendes Ereignis auszudrücken. Die Grammatikalisierung von Bewegungsverben zum Ausdruck zukünftiger Ereignisse findet sich in vielen Sprachen der Welt. Im Deutschen sprechen wir z. B. von einer fortschreitenden Erkrankung. Neben dem beschriebenen Wechsel von einem lexikalischen zu einem grammatischen Wort gibt es auch die Möglichkeit, dass ehemalige Lexeme beispielsweise zu Suffixen werden, die für sich genommen bedeutungslos bzw. bedeutungsärmer sind. Das gilt etwa für dt.--lich, das aus dem germanischen lika (Körper, Gestalt) entstanden ist. Im Althochdeutschen gibt es noch das Wort lîh, das so viel bedeutet hat wie Fleisch oder Körper (noch vorhanden in Leichnam). Die semantische Nähe ist noch erkennbar: ein dicklicher Mensch ist ein Mensch, dessen Gestalt dick ist. Ein friedlicher Protest ist ein Protest, dessen Wesen (abstrakte Gestalt) friedvoll ist. Und ein sommerlicher Tag ist durch die Merkmale, also das Wesen des Sommers bestimmt. 12.3.1 Grammatische Paradigmatisierung Grammatikalisierung ist verbunden mit der grammatischen Paradigmatisierung eines Wortes. Wenn ein Zeichen grammatikalisiert wird, wird es Bestandteil des grammatischen Systems und das heißt zugleich, dass es Bestandteil eines grammatischen Paradigmas wird. So ist (to) go in das Paradigma der englischen Hilfsverben hinübergewechselt. Im Deutschen ist eine solche grammatische Paradigmatisierung als direkte Folge einer semantischen Entwicklung für das Modalverb brauchen so gut wie abgeschlossen (vgl. Bechmann 2013: 299 ff.). So findet man immer häufiger folgende Verwendungsweisen des Wortes brauchen in deutschen Sätzen: I Fritz braucht / *brauch ein neues Auto. <?page no="265"?> 265 12.3 Verändert Bedeutungswandel die Grammatik einer Sprache? II Fritz braucht nicht zu kommen. III Fritz *brauch nicht kommen. Mit einem Blick auf die grammatische Struktur von III . fällt auf, dass brauchen hier bereits analog zu den anderen Modalverben gebildet wird. Der Wegfall von zu im abhängigen Infinitiv ist ein deutliches Indiz dafür, dass brauchen grammatisch an das Paradigma der Modalverben angeglichen wird. Das gilt auch für die Konjugationendung: „Setzt man- […] das Vollverb brauchen in das grammatische Paradigma der Modalverben ein, stellt man für die 1. und 3. Person fest, dass manche (aber nicht alle) Sprecher die Flexionsgrammeme (-e und -t) analog zu den echten Modalverben weglassen: *Ich brauchØ das nicht machen / *Er brauchØ nicht anrufen“ (Bechmann 2013: 316). Brauchen ist deswegen in das Paradigma der Modalverben hinübergewechselt, weil es im Deutschen keine negative Form von können gibt. Allein nicht brauchen eignet sich für die Negierung des Modalverbs können. Dazu ein Beispiel: Die Negation eines gebräuchlichen Satzes wie A1: Du kannst mich später anrufen, wenn Du Lust hast. wird man sinnvoll mit B1: Du brauchst mich nicht an(zu)rufen, wenn Du keine Lust hast. umsetzen. Für können ist in diesem Beispiel in der negierten Lesart nicht brauchen eingesetzt worden. Im Gegensatz zu allen anderen Modalverben gibt es in solchen und ähnlichen Kontexten keine Entsprechung innerhalb des Paradigmas für verneintes können: Die Konstruktion nicht können würde in diesem Kontext keinen sinnvollen Satz ergeben. Die Negierung von modalem können mit der Negationspartikel nicht ist in dieser Lesart nicht möglich. Dieser Umstand wird evident, wenn man in B1 statt nicht brauchen die Konstruktion nicht können einfügt. Für die Negation der Aussage A ergibt sich dann die inkorrekte Äußerung: B2: *Du kannst mich nicht anrufen, wenn Du keine Lust hast. Es zeigt sich anhand dieses Beispiels, dass es innerhalb des Paradigmas der Modalverben eine Leerstelle gibt, die durch brauchen in Kombination mit der Negationspartikel nicht besetzt werden kann und zwar ausschließlich durch diese Wortkombination. Durch die Lücke im Paradigma der deutschen Modalverben ist gegenwärtig zugleich eine positive modale Lesart entstanden, die zu einer vollständigen Gram- <?page no="266"?> 266 12 Was sind die Folgen des Bedeutungswandels auf der Sprachebene? matikalisierung (nicht aber zu einem Paradigmenwechsel, denn das Vollverb brauchen existiert ja weiterhin) geführt hat. So ist ein Satz wie A2: Du brauchst mich nur anrufen, dann komme ich rüber. durchaus verbreitet. Dass sich für brauchen mittlerweile auch eine eigene Realisierung als positiv verwendetes Modalverb feststellen lässt, bestätigt die intuitive Annahme, dass der Prozess der grammatischen Paradigmatisierung bereits weit fortgeschritten ist. Brauchen besetzt nicht mehr nur die Leerstelle für verneintes können in der Notwendigkeitslesart, es trägt auch selbst modale Bedeutung, wenn es positiv in Kombination mit nur verwendet wird. Das erweiterte Paradigma der deutschen Modalverben sieht dann wie folgt aus: Verb Positive Form Negation Modalität müssen Er muss sterben Er muss nicht sterben Verpflichtung, Befehl, Notwendigkeit dürfen Er darf gehen Er darf nicht gehen Erlaubnis wollen Er will schlafen Er will nicht schlafen Wunsch, Will bzw. Weigerung sollen Er soll aufhören Er soll nicht aufhören Auftrag, Befehl mögen Er mag das (vielleicht) wissen, aber … Er mag das (vielleicht) nicht wissen, aber … Vermutung können Er kann anrufen (wenn er will) *Er kann nicht anrufen (wenn er nicht will) → keine Realisierung mit kann und nicht im Erlaubnis-Modus möglich! HIER : Er brauch(t) nicht anrufen (wenn er nicht will) Erlaubnis, Verpflichtung, Notwendigkeit brauchen Er braucht nur anrufen, dann eile ich ihm zur Hilfe Er braucht nichts sagen, ich weiß auch so, was er will Notwendigkeit Tabelle 16 Erweitertes Paradigma der deutschen Modalverben (aus B E CHMANN 2013: 310) 12.3.2 Diathesenwandel Ein weiteres Beispiel für eine semantisch motivierte Veränderung des grammatischen Systems ist der Diathesenwandel bei entschuldigen und erschrecken (vgl. Bechmann 2013: 282 ff.). Dabei kommt es zu einem Wandel der Handlungs- <?page no="267"?> 267 12.3 Verändert Bedeutungswandel die Grammatik einer Sprache? richtung (Patiens → Agens): „Beiden Verben ist dabei gemein, dass das ursprüngliche, durch die Valenzeigenschaft des Verbs geforderte Akkusativobjekt letztlich zum (handelnden) Subjekt wird, zugleich aber das Objekt der eigenen Handlung bleibt“ (Bechmann 2013: 282). So spricht man heute sowohl davon, dass man sich entschuldigt, wenn man eigentlich dem Wortsinne nach entschuldigt werden will und dass man sich erschreckt, obwohl man durch einen äußeren Reiz erschreckt wurde. Weder ist es möglich, sich selbst von einer Schuld freizusprechen noch kann man durch aktives Handeln dazu beitragen, sich selbst zu erschrecken (allenfalls durch einen Blick in den Spiegel an manchen Morgen). Für beide Ausdrücke lässt sich sprachhistorisch erkennen, dass ein Wandel der Handlungsrichtung stattgefunden hat. So hieß es noch zu Goethes Zeiten entschuldige mich oder er ist zu entschuldigen und ich erschrak oder mich erschreckte etwas. Sich selbst zu entschuldigen war ebenso unüblich wie sich selbst zu erschrecken. Semantisch eigentlich falsch sind beide Ausdrucksweisen gegenwärtig dennoch grammatisch korrekt. Semantisch ist Folgendes geschehen: Für entschuldigen hat es sich ergeben, dass die Bitte um Entschuldigung verkürzt wurde. Der Prozess basiert auf dem Prinzip der Sprachökonomie und könnte folgendermaßen abgelaufen sein: 19 1. Entschuldigt werden erfordert eine Bitte, die umständlich formuliert werden muss (z. B. Ich bitte um Entschuldigung o. ä.). 2. Das Gegenüber muss, sofern es entschuldigen möchte, dies klar formulieren: Ich entschuldige Dich. 3. Im Rahmen der Sprachökonomie ist es vermutlich zu einer syntaktischen Verkürzung gekommen: Aus Ich bitte um Entschuldigung wurde Entschuldigung. 4. Das Gegenüber kann auf eine Entschuldigung kurz und knapp mit angenommen antworten. 5. Auf der Sprecherseite läuft nun Folgendes ab: Durch die Lautäußerung Entschuldigung erwächst auf der Sprecherseite der Anschein einer aktiven Rolle, die man dann als ich entschuldige mich, indem ich ,Entschuldigung’ sage paraphrasieren kann. 6. Über diese syntaktische und semantische Verkürzung kann man heute auch die paraphrasierte Entschuldigung formulieren, indem man Ich entschuldige mich sagt. 19 Für eine genaue Herleitung der Bedeutungsentwicklung, mit der ein Diathesenwandel verbunden war, s. Bechmann 2013: 282 ff. <?page no="268"?> 268 12 Was sind die Folgen des Bedeutungswandels auf der Sprachebene? Für erschrecken gilt nun Folgendes: „Wenn wie bei erschrecken der Ausdruck einer aktiven Reflexbewegung über einen semantischen Wandel-- in diesem Fall durch das Verfahren der Metonymie-- zum Ausdruck einer passiven Gemütsbewegung wird, liegt es nahe, dass auch der passive Zustand (man wurde erschreckt) so formuliert wird, als habe man aktiv etwas getan (man erschreckt sich statt: man erschrickt)“ (Bechmann 2013: 299). 12.4 Weiterführende und vertiefende Literatur Zu den klassischen semantischen Relationen, zu denen auch die hier besprochene Polysemie zählt, lesen Sie L INK E et al. 2004: 160 ff. Weiteres Wissen zur Mehrdeutigkeit (Ambiguität und Vagheit) erlangen Sie durch die Lektüren von F R I E S 1980. Ebenfalls empfehlenswert für einen kurzen Überblick über das Themenfeld Lexikologie im Allgemeinen und über Bedeutungsbeziehungen im Speziellen ist (aufgrund zahlreicher Beispiele) W ANZECK 2010. Lesenswert ist auch B L ANK 1997: 406 ff., der sich intensiv mit den Folgen des Bedeutungswandels auseinandersetzt. Mit dem Phänomen der Grammatikalisierung befasst sich S ZCZEPANIAK 2011 anhand von Beispielen im Deutschen. Zu den hier umrissenen besonderen grammatischen Folgen des Bedeutungswandels (entschuldigen, erschrecken, brauchen als Modalverb) lesen Sie B ECH - MANN 2013: 271 ff. <?page no="269"?> 269 12.4 Weiterführende und vertiefende Literatur 13 Bedeutungswandel 2.0 — wohin geht die Reise? Zukunft ist ein Kind der Gegenwart. Christoph August Tiedge (1752-1841) Ziele und Warm-up Bedeutung und Bedeutungswandel sind die bestimmenden Themen der klassischen Sprachphilosophie und der aus ihr hervorgegangenen Sprachwissenschaft. Bedeutungskonzepte wurden traditionell außerhalb der Linguistik entwickelt. Psychologen, Mathematiker, Philosophen und Kognitionswissenschaftler haben sich in den letzten Jahrzehnten das Ziel gesetzt, die Frage nach der Bedeutung von sprachlichen Ausdrücken beantworten zu können. Am brauchbarsten für die Erklärung des Bedeutungswandels sind bis heute die sprachphilosophischen Ansätze der praktischen Semantik. Sie leisten eine plausible Verschränkung mit Theorien zum Sprachwandel als übergeordnetem Prinzip, wie wir sie in den ersten sieben Kapiteln dieses Buches kennenlernen konnten. Noch immer aber gibt es viele Fragen zur Bedeutung von Wörtern, die weitgehend offen sind. Die Semantikforschung hat in den letzten Jahren neue und genuin linguistische Wege gefunden, Bedeutungen zu verorten. Dabei stützen sich diese Ansätze auf kognitionslinguistische Überlegungen. Die moderne Semantikforschung fragt danach, auf welche Weise sprachliches Wissen in unseren Köpfen verankert ist. Sie möchte ergründen, welches Sprachwissen um die Begriffe herum angelegt ist und wie dieses Wissen zusammen mit dem Weltwissen, das wir alle in unterschiedlichem Maß besitzen, das Verstehen fördert bzw. bestimmt (verstehensrelevantes Wissen). Wir werden in diesem Kapitel mit der sogenannten Frame-Semantik eine Theorie kennenlernen, die Wortbedeutungen an Elemente bindet, die für das Verständnis von Begriffen und komplexen Äußerungen notwendig sind. Sie zeigt, wie man Wortbedeutungen einbetten kann in ein komplexes Netzwerk von Informationen, die für das Verständnis unabdingbar sind. Zudem werde ich einen Ansatz vorstellen, die bisher besprochenen Erklärungsansätze zum Bedeutungswandel mit dieser modernen Frame-Semantik zu verknüpfen. <?page no="270"?> 270 13 Bedeutungswandel 2.0 — wohin geht die Reise? Es ist auch ein Blick in die Zukunft der Bedeutungswandelforschung — lassen Sie sich überraschen. Lassen Sie uns über folgende Fragen einsteigen: ▶ Woran denken Sie, wenn Sie das Wort Geburtstagsfeier lesen und sich ein solches Fest vorstellen? ▶ Welche Assoziationen werden durch das Wort bei Ihnen ausgelöst? Machen Sie eine kurze Liste mit allem, was Ihnen zu diesem Begriff einfällt (z. B. Geschenke, Gäste)! ▶ Welche Informationen benötigen Sie, um den Satz Ich fahre in Urlaub richtig und umfassend zu verstehen? ▶ Was verstehen Sie an dem Satz Ich fahre in Urlaub auch ohne weitere Informationen? ▶ Worin besteht der Unterschied zwischen kaufen und klauen? Gibt es Gemeinsamkeiten? 13.1 Frame-Semantik — was sind Frames und wie bestimmen sie die Bedeutung eines Wortes? Der Begriff Frame geht zurück auf die Überlegungen des Linguisten Charles J. Fillmore, der die Bedeutungstheorie in den 1960er- und 1970er- Jahren auf einen neuen Boden gesetzt hat, der rein linguistisch ‚gedüngt‘ ist. Die nach seinem Begriff benannte Frame-Semantik geht davon aus, dass es kognitiv abrufbares, stereotypes Wissen gibt, das wir immer dann bemühen, wenn wir einen Begriff entweder verwenden oder verstehen wollen. Dieses Wissen ist in unseren Köpfen wie in einer Struktur organisiert: Jeder Ausdruck löst eine Reihe weiterer Begriffe aus, die wiederum mit anderen Wörtern (und deren Gebrauchskonventionen) verwoben sind. Um einen Ausdruck richtig verstehen zu können, muss man also die gesamte Szenerie beleuchten, die mit dem Wort kognitiv verbunden ist. Auf diese Weise entstehen komplexe netzwerkartige Bedeutungskonstruktionen. Diese Frames, die durch einen Begriff ausgelöst werden, nennt Dietrich Busse treffend Wissensrahmen (Busse 1991). Am ehesten kann man dieses Modell verstehen, wenn man ein Beispiel zu Hilfe nimmt. Stellen Sie sich bitte einmal das folgende Szenario vor: Horst trifft sich mit Freunden zum Skatspielen. Es wird viel gelacht, gespielt, gegessen und getrunken. Nachdem er 20 Euro gewonnen hat, geht er zu später Stunde betrunken, aber glücklich zu seiner Frau nach <?page no="271"?> 271 13.1 Frame-Semantik — was sind Frames? Hause. Die aber ist wütend auf ihn, weil er zu spät heimkehrt. Am nächsten Morgen kauft er ihr von seinem Gewinn ein Geschenk. In dieser Situationsbeschreibung stecken nur wenige Informationen-- und doch können Sie sich ein sehr differenziertes Bild von der Szenerie machen. Ich nehme sogar an, dass dieses Bild in der Vorstellung bei Ihnen und mir sehr ähnlich aussieht. Welche Vermutungen, die sich aus den knappen Informationen ergeben, können wir mit ziemlicher Sicherheit anstellen? Wir können beispielsweise schlussfolgern, dass Horst kein Kind mehr ist (Horst ist eher 40 als 14 Jahre) und wir können Aussagen darüber treffen, a) wie viele Freunde anwesend waren (eher vier als 40), b) wo die Szene stattgefunden hat (eher in einer Kneipe als in einem Möbelhaus), c) dass und um wie viel Geld gespielt wurde (um Euro-Beträge im einstelligen Bereich und nicht um Millionen), d) wie lange das Spiel gedauert hat (eher einige Stunden als einige Tage), e) dass Alkohol getrunken wurde (vermutlich eher Bier als Champagner), f) wann Horst heimgeht (eher spät nachts als spät am Nachmittag), g) welche Rolle seine Frau spielt (vermutlich eine erboste), h) wie teuer das Geschenk sein wird (eher 20 Euro als 2 000 Euro) i) und vieles andere mehr. All diese Informationen gewinnen wir aus unserem Weltwissen über solche und ähnliche Ereignisse, nicht jedoch aus den Angaben, die ich Ihnen zu Beginn präsentiert hatte: Die geringe Datenbasis aus der gegebenen Menge an Informationen war Anstoß genug, um von Ihnen intuitiv und ohne große kognitive Mühe mit weiteren Details angereichert zu werden. Es ergibt sich auf diese Weise ein überaus komplexer Wissensrahmen, der durch meine spärlichen Informationen gewissermaßen in Ihrer Vorstellung ausgelöst wurde: „Ein Frame erklärt, wie es möglich ist, auf der schmalen Basis gegebener (Sinnes-)Daten eine äußerst detailreiche und in sich differenzierte ,Veranschaulichung’ des Gesamtsettings zu haben“ (Ziem 2005: 3). Wenn wir also mit einem Begriff oder mit einer komplexen sprachlichen Äußerung konfrontiert werden, entsteht vor unserem geistigen Auge ein Setting als Strukturzusammenhang in Form von stereotypem Wissen. Zu diesem Wissen gehört beispielsweise, dass eine Skatrunde eben nicht aus 40 Leuten besteht und <?page no="272"?> 272 13 Bedeutungswandel 2.0 — wohin geht die Reise? dass Kinder weder betrunken sein sollten noch Ehefrauen haben. Strukturzusammenhänge dieser Art sind kognitiv abrufbar und stets verfügbar. Frames wie der skizzierte Skatrunden-Frame sind außerordentlich komplex. Der Wissensrahmen besteht aus unzähligen Elementen wie etwa dem Wissen darüber, wer und was zu einer Skatrunde dazugehört (Spielkarten, Tisch, Spieler etc.) oder wie ein solches Ereignis abläuft. Frames kommen dabei nicht isoliert vor, sondern lösen ihrerseits weitere Frames aus. Das entstehende Frame-System oder Frame-Netzwerk setzt sich also zusammen aus zahlreichen Wissenselementen, die viele weitere Frames ausbilden. Die Komplexität eines Frames lässt sich gut an dem Begriff Geschenk ablesen, der isoliert betrachtet an sehr vielfältige Wissensformen geknüpft ist: Es gibt kleine und große Geschenke, Geschenke der Natur oder des Himmels, Freundschaftsgeschenke, Staatsgeschenke und zahlreiche andere Formen von Geschenken. Allein dieser eine Begriff löst ein Netzwerk von weiteren Begriffen aus, das hochkomplex und sehr dicht gewebt ist. Der Ausdruck Freundschaftsgeschenk beispielsweise ist Teil des übergeordneten Frames Freundschaft, der wiederum Teil des übergeordneten Frames soziale Beziehungen ist usw. Die Frame-Semantik basiert auf einem spezifischen Kommunikationsmodell: „Sprachliche Zeichen setzen in Kommunikationszusammenhängen Anhalts- und Markierungspunkte, die es ermöglichen, den Bedeutungsgehalt inferentiell (schlussfolgernd), d. h. im impliziten Rückgriff auf Weltwissen, zu konstruieren“ (Busse 2009: 83). Das Wissen, das von den Frames repräsentiert wird, ist auf eine bestimmte Weise konstruiert. So gibt es in jedem Frame Aspekte, die mehr oder weniger starr verankert (oder konventionalisiert) sind. Solche zentralen Wissenselemente sind unhinterfragbar und sie (be-)deuten aus sich selbst heraus. Man nennt sie Standardwerte (default-Werte). Solche Standardwerte müssen wir nicht erfragen, wir kennen sie durch unser Wissen über die Welt. Sehen wir uns zum besseren Verständnis das Wort Auto an. Dieser Begriff wird semantisch bestimmt durch festgelegte Wissensaspekte. Wir wissen, dass ein Auto nicht aus Holz, sondern aus Metall gefertigt ist, dass es vier Räder und ein Lenkrad besitzt und dass es üblicherweise zwischen zwei und vier Metern lang ist. Diese Werte sind prototypisch erwartbare Standardwerte und wir aktualisieren sie automatisch. Standardwerte sind kollektives Wissen der Sprachbenutzer, weshalb sie nicht expliziert werden müssen. <?page no="273"?> 273 Man gewinnt Standardwerte nicht aus der Datenbasis, sondern sie sind verstehensrelevante Voraussetzungen. In gewisser Weise sind Standardwerte die Gebrauchskonventionen eines Wortes, denn in ihnen ist der kommunikative Sinn verfestigt. Nun kann man den Begriff Auto aber noch weiter spezifizieren. Wir können beispielsweise Fragen stellen nach der Farbe, der Schnelligkeit, dem Modell usw. Solche Wissenselemente sind keine Standardwerte, sondern es gibt im Frame Auto Leerstellen dafür. Wenn wir eine ganz genaue Vorstellung von einem konkreten Auto bekommen wollen, über das ein anderer gerade spricht, müssen wir diese Leerstellen füllen. Das tun wir im Alltag dadurch, dass wir (zielführende und sinnvolle) Fragen stellen, selbst beobachten, hinhören usw. Die Elemente, die wir dadurch gewinnen, bezeichnet man als konkrete Füllelemente. Für das Beispiel Auto sind dies Farbe, Größe, Leistung etc. Konkrete Füllelemente stecken auch in den Daten, die ich Ihnen weiter oben bei der Beschreibung des Szenarios ‚Skatspiel‘ gegeben habe (z. B. Euro als Füllelement für die Leerstelle Gewinn). Sowohl die Standardwerte als auch die konkreten Füllelemente besetzen semantische Leerstellen innerhalb eines Frames und geben ihm seine Gestalt. Sie fungieren als Füllungen (fillers) für die konzeptuellen Leerstellen (slots) eines Wissensrahmens. Dabei ist eine Leerstelle nichts anderes als eine mögliche Andockstation für weitere Frames, also eine spezifische Anschlussposition, und keine Lücke. Jede Füllung ruft selbst wiederum Frames auf, so dass jeder Frame Bestandteil eines konzeptuellen Netzwerkes ist. Wenden wir uns noch einmal unserem Beispiel weiter oben zu, in dem es um Horst und seine Skatrunde ging. Dort finden wir zahlreiche Standardwerte, die wir bereits in unserer Auflistung von a) bis g) wiederfinden. Sie stecken nicht in den Informationen, die ich Ihnen gegeben habe. Und doch sind sie verstehensrelevant. Der Standardwert für den Aspekt Dauer beim Skatspiel-Frame beträgt beispielsweise einige Stunden. Für den Frame Urlaub wäre ein anderer Standardwert einzusetzen: Hier wissen wir, dass die Leerstelle Dauer mit dem Wert einige Tage bis Wochen korrekt besetzt ist. Für Tod würde man dieselbe Leerstelle standardmäßig mit ewig füllen (für Urlaub passt das leider nicht) usw. 13.1 Frame-Semantik — was sind Frames? <?page no="274"?> 274 13 Bedeutungswandel 2.0 — wohin geht die Reise? Charles J. Fillmore (1929—2014) war ein amerikanischer Linguist. Er gilt als Begründer der sogenannten Kasusgrammatik und der hier vorgestellten Frame-Semantik. F ILLMORE s Frame-Semantik gründet auf dem syntaktischen Rahmen, der in der sogenannten Valenzgrammatik angelegt ist. F ILLMO R E ging zunächst von syntaktischen und satzsemantischen Problemen aus. In der Erweiterung der Valenzgrammatik hat F ILLMO R E später erkannt, dass man solche Probleme nur lösen kann, wenn man den Satzrahmen (Prädikationsrahmen) um verstehensrelevante semantische Elemente erweitert. Die notwendigen Ergänzungen des Verbs in einem Satz sind in dieser neuen Sichtweise in einem Bereich des Wissens angesiedelt, der notwendig für das Verständnis ist (z. B. Horst wartet → verstehensrelevantes Wissen: Worauf wartet er? Wie lange wartet er? Wo wartet er? Warum wartet er? usw.). Die linguistische Frame-Theorie basiert also auf einer Verknüpfung von syntaktischem und semantischem Rahmen. Sie etabliert sich zunehmend als kognitionswissenschaftliche Methodik in der Semantikforschung. Für unsere spezifische Frage nach dem Bedeutungswandel und nach dessen Mechanismen ist eine Feststellung wichtig: „Nach Fillmore sind Wissensrahmen teilweise natürlich, teilweise konventionell, und teilweise subjektiv“ (Busse 2009: 84). Das bedeutet auch, dass das Verstehen von Wörtern und Sätzen als eine Form der Konstruktion verstanden werden muss: „Menschen konstruieren im Verstehen eine Interpretation, indem sie die von den Wörtern evozierten Wissensrahmen aktivieren und miteinander-[…] vernetzen“ (Busse 2009: 85). Gemeint ist damit eine Kontextabhängigkeit der Interpretation und über diesen Weg auch eine Kontextabhängigkeit des Frames, in den ein Begriff eingebunden ist. Bedeutungswandel kann auf diese Weise als eine Veränderung des Kontextes verstanden werden, der zur Konstruktion von Bedeutung und zu deren Verständnis notwendig ist. Bedeutungswandel ist somit Frame-Wandel. Bedeutungen von bewertenden Ausdrücken ergeben sich in der Folge eines Bedeutungswandels beispielsweise dadurch, dass Wörter kontextspezifisch verwendet und über diesen spezifischen Kontext in neue Rahmen eingebettet werden. <?page no="275"?> 275 Wir können eine Verkettung zweier Grundannahmen erkennen, die für Bedeutungswandel zentral sind: Wortgebrauch führt einerseits zu Veränderungen der Gebrauchskonventionen. Gebrauchskonventionen bestimmen andererseits als verstehensrelevantes Wissen komplexe Wissensrahmen. Daraus ergibt sich: a) Wörter lösen Frames aus und b) der Wortgebrauch bestimmt (und verändert) die Frame-Struktur. Obwohl der Frame-Ansatz aus der Perspektive des Interpreten einer Äußerung gedacht ist, spielt die Konventionalität von Wissensstrukturen eine wichtige Rolle: Trotz individueller Realisierung bzw. kontextspezifischer Aktualisierung von Frames in den Köpfen der Interpreten gibt es eine konventionelle Festlegung der Strukturen des Wissens innerhalb eines Frames. Wir wissen: Über einen invisible-hand-Prozess ist Konventionalität veränderlich. Somit sind Frames- - und insbesondere die Standardwerte darin- - Phänomene der dritten Art, die denselben Veränderungsprinzipien folgen, wie wir sie im allgemeinen Teil dieser Einführung skizziert haben. Bevor wir uns in einem nächsten Schritt näher ansehen, auf welche Weise man Bedeutungswandel als Frame-Wandel erkennen kann, möchte ich Ihnen zunächst anhand eines Beispiels zeigen, wie man Frames darstellen kann-- und wie komplex die Darstellung eines Wortbedeutungs-Frames aussehen kann. Werfen wir einen Blick auf den Wortbedeutungs-Frame für das Substantiv Maus (aus Busse 2012: 748). In der Abbildung 23 sehen Sie zunächst den übergeordneten Lexem-Frame. Wie Sie ja wissen, gibt es zwei Lesarten, die daran angeschlossen werden können: die Lesart Tier und die Lesart PC -Eingabegerät. Diese beiden Lesarten-Frames sind in den Abbildungen 24 und 25 dargestellt. 13.1 Frame-Semantik — was sind Frames? <?page no="276"?> 276 13 Bedeutungswandel 2.0 — wohin geht die Reise? / maus/ Normen G enus n umerus r eGister / s tilwert F lex .- K lasse l esart 2 l esart 1 Sg. I, Pl. S1/ U * neutral sing. femin. * Angabe der Flexionsklasse hier nach Duden-Grammatik 7 2005 Versuch für einen Lexem-Frame für Maus Abb. 23 Übergeordneter Lexem-Frame für Maus (aus B USSE 2012: 743) Die Darstellungsweise eines Lexem-Frames zeigt-- wie Sie sicher erkannt haben-- nicht (allein) die lexikalischen Bedeutungen: Frame-Darstellungen von Lexemen sind nicht identisch mit Frames für lexikalische Bedeutungen, da sie zusätzliche Aspekte des wortbezogenen Wissens erfassen müssen, wie z. B. Informationen über die Wortart, über weitere morpho-syntaktische Eigenschaften-[…], über stilistisch-register- und / oder varietäten-bezogene Informationen-[…] sowie valenz-bezogene Informationen. (Busse 2012: 744) Die Lesarten-Frames für die Varianten Tier und PC -Eingabegerät sind unvollständig, aber sie bilden die wesentlichen prototypischen Wertebereiche ab, die wir weiter oben als Standardwerte kennengelernt haben. <?page no="277"?> 277 Versuch für einen (nicht vollständigen) Wortbedeutungs-Frame für Maus in der Lesart Tier (einschließlich Vererbungs-Relationen, Affordanzen und assoziierte Konzepte * ) * teilweise untereinander antonymisch P erzePt . S chema F orm G röSSe a uSSen - Seite F ell F arbe K oPF F üSSe G röSSe F orm a u - SSen - Seite glatt schnell wuselig schmal lang S ichtb . t eile i nnere t eile c har . e iGen - SchaFten G e - SchwindiG - Keit a rt Versteckt sich in Löchern frisst gerne Käse hat viele Junge F ort bewe - GunG G ewohn heiten S chwanz Maus Phobie Phobie Katze Mausefalle Versuchstier „pet“ niedlich Schädling w ertebereich : K lein : 7-11 z entimeter P rototyPiSch aSSoziierte benachbarte ( KontiGe ) K onzePte K ulturell aSSoziierte attributive K onzePte * w ertebereich : grau, braun, weiß, ... w ertebereich : lanG : 7-10 z entimeter w ie bei S äuGe tieren ( meiSt irrelevant ) Lebewesen nat. Objekt phys. Objekt Artefakt Säugetier Nagetier Abb. 24 Lesarten-Frame für Maus in der Lesart Tier (aus B USSE 2012: 744) Natürlich lässt sich das semantische Potenzial eines Wortes nie vollständig abbilden. Die Möglichkeiten einer druckbaren Darstellung erschöpfen sich rasch. So ist auch eine Lesart Maus als Kosename möglich, die sich als Metapher an den Lesarten-Frame 1 (Tier) anschließen würde. Und auch die Lesart 2 ( PC -Eingabegerät) ist selbst über das Verfahren der Metaphorisierung aus Lesart 1 hervorgegangen, hat aber so gut wie keine semantischen Überschneidungen zu Lesart 1, was bei der Kosenamen-Lesart anders ist (hier spielt insbesondere das Merkmal niedlich eine Rolle und dass der Begriff auf eine lebende Entität angewendet wird). 13.1 Frame-Semantik — was sind Frames? <?page no="278"?> 278 13 Bedeutungswandel 2.0 — wohin geht die Reise? Abbildung 25 zeigt nun den Lesarten-Frame für die Variante PC -Eingabegerät. Die semantischen Unterschiede werden durch einen Vergleich der Abbildungen 24 und 25 deutlich erkennbar. Versuch für einen (nicht vollständigen) Wortbedeutungs- Frame für Maus in der Lesart PC-Eingabegerät (einschließlich Vererbungs-Relationen und Affordanzen) P erzePt . S chema F orm G röSSe a u ß en - Seite m aterial V er bund . mit b edienunG t iSch - Platte wird beweGt mit der h and e inGabe - Gerät G erät r ichtunG hori zontal F unktion S ichtbare t eile Kabel Tasten Plastik PC Scroll- Rad Bedienung Bedienung drehen drücken i nnere t eile mit den F inGern mit den F inGern b eweG . art b eweG . art w irkunG F arbe PC schnell Maus w ertebereich : h andFlächen - GroSS w ertebereich : irrelevant „ irGendwie elektroniSch “ Veränderungen der Position des Maus-Zeigers auf dem PC-Bildschirm nach der Richtung der Bewegung auf der horizontalen Fläche nat. Objekt phys. Objekt Artefakt Gerät elektronisch Computer Peripherie Bewegung des Maus-Zeigers auf dem PC-Bildschirm Abb. 25 Lesarten-Frame für Maus in der Lesart PC -Eingabegerät (aus B USSE 2012: 745) 13.2 Wie verändern sich Frames? Frame-Darstellungen besitzen ein hohes Veranschaulichungspotenzial, das dazu beitragen kann, Bedeutungswandel Schritt für Schritt nachzuzeichnen. Im direkten Vergleich verschiedener Frames für dasselbe Lexem zu unterschiedlichen Zeiten kann man gut erkennen, welche Veränderungen des verstehensrelevanten Wissens stattgefunden haben. Eine solche Betrachtung, also eine Rekonstruktion von Wissensrahmen zu verschiedenen Zeitpunkten, ist in erster Linie deskriptiv. Dietrich Busse hat den Versuch unternommen, den Bedeutungswandel des Rechtsbegriffs mit Ge- <?page no="279"?> 279 13.2 Wie verändern sich Frames? walt im Nötigungsparagrafen (§ 240) zu skizzieren. Ein Vergleich der entsprechenden Tathandlungs-Frames zeigt, dass sich dieser Begriff generalisiert hat: Während anfangs noch das Merkmal Körperlichkeit bzw. Zwang durch körperliche Kraftanstrengung begriffsbestimmend war, hat eine Entwicklung hin zu anderen Formen von Gewalt (z. B. psychischer Gewalt) stattgefunden. Die beiden nachfolgenden Abbildungen zeigen den Bedeutungswandel der semantischen Struktur dieses Gesetzesbegriffs in der Folge richterlicher Auslegung beginnend 1882 und endend im Prozess der sogenannten ,Vergeistigung des Gewaltbegriffs’ (jegliche, auch eine psychische Zwangshandlung) im Jahr 1982: Erläuterung: Zunächst beschränkt sich die Auslegung des Gewaltbegriffs (durch das RG) ganz auf den Aspekt der Ausübung einer körperlichen Kraft durch den Täter, die auf das Opfer oder eine Sache gerichtet sein muss. Tathandlung (unspezifisch) A usführender / A gens A usführungs - A rt Z iel P Atiens / O Pfer Q uAlität Q uAntität Q uelle A P erheblich körperlich Kraft Abb. 26 Tathandlungs-Frame in der Auslegung von mit Gewalt in der Rechtsprechung 1882 (aus B USSE 2012: 780) <?page no="280"?> 280 13 Bedeutungswandel 2.0 — wohin geht die Reise? Frame 7-77: Konkreter Tathandlungs-Frame (Auslegung von mit Gewalt durch BGH NJW 1982, 189.) Erläuterung: In einem Urteil des BGH aus dem Jahr 1981 zu Vorlesungsstörungen durch Studenten am Germanistischen Seminar einer Universität wurde entschieden, dass das Singen von Liedern oder lautes Sprechen zum Erzwingen von Diskussionen mit dem Lehrenden und den Studierenden, die zum Abbruch der Vorlesung durch den Dozenten geführt haben, einen Fall von „Gewaltanwendung“ im Sinne des § 240 StGB darstellt (BGH NJW 1982, 189). Die „psychische Zwangswirkung“ soll hier darin bestehen, dass der Dozent mit seiner Vorlesung faktisch kein Gehör gefunden hat, wenn gleicheitig laut gesprochen wurde, und er sie deshalb abbrechen musste. A P P Zustand 2 Zustand 1 Verhinderung Zustand 2 A usführender / A gens A usführender / A gens A usführungs - A rt A bsicht u rsAche A bsichten P Atiens / O Pfer f Olge f Olge f Olge f Olgen Handlung Tathandlung Abb. 27 Tathandlungs-Frame in der Auslegung von mit Gewalt in der Rechtsprechung 1982 (aus B USSE 2012: 785) Eine andere Möglichkeit, Bedeutungswandel über Frames abzubilden, ergibt sich über eine Betrachtung semantischer Verfahren des Bedeutungswandels. Insbesondere bei Metaphern lässt sich der Übertragungsprozess von der wörtlichen zur nicht-wörtlichen Bedeutung anschaulich darstellen. Die Darstellungsmöglichkeiten der Frame-Semantik können dabei helfen, solche Prozesse sichtbar zu machen. Die besondere Leistung einer solchen Darstellung besteht nun darin, dass man sehr rasch erkennen kann, welche Frame-Elemente über die Relation der Ähnlichkeit verändert werden. So lässt sich für den bei Busse 2012 skizzierten Wortbedeutungs-Frame für Maus in den beiden Lesarten Tier und PC -Eingabegerät feststellen, dass a) „besonders saliente Teil-Aspekte der Ähnlichkeit feststellbar [sind]“ (Busse 2012: 773), jedoch b) insgesamt „nur sehr wenige der <?page no="281"?> 281 13.2 Wie verändern sich Frames? Frame-Elemente der jeweiligen isolierten Lesarten-Frames von dieser Relation [der Ähnlichkeit, S. B.] überhaupt erfasst sind“ (Busse 2012: 773). Maus Lesart 1 Lesart 2 phys. Objekt nat. Objekt XXX XXX Artefakt W ertebereich : h andflächen gro ß g rösse g rösse f orm f orm Aspekt 1/ 1 Aspekt 2/ 1 Aspekt 1/ 2 Aspekt 2/ 2 Aspekt 1/ 3 Aspekt 2/ 3 P erzePt . s chema 1 P erzePt . s chema 2 W ertebereich : klein : 7-11 z entimeter „ist ähnlich“ „ist irgendwie ähnlich“ ist = gleicher Wertebereich Abb. 28 Frame-Darstellung der Metaphorisierung bei nhd. Maus (aus B USSE 2012: 773) <?page no="282"?> 282 13 Bedeutungswandel 2.0 — wohin geht die Reise? Deutlich wird hier und an anderen Beispielen (s. Busse 2012: 772 ff.), dass man Metaphern zwar im Ganzen interpretiert, dass aber Ähnlichkeitsurteile immer an konkrete Teilaspekte geknüpft sind. Für das Wort Maus in den beiden Lesarten sind insbesondere die Teilaspekte ,Größe’ und ,Form’ entscheidend: „Die holistische Ähnlichkeit ist zumindest teilweise auch abgeleitet aus der Ähnlichkeit besonders salienter Teilaspekte“ (Busse 2012: 773), wobei bestimmte Standardwerte (s. o.) äquivalent sind. Dass eine lebendige Maus ebenso wie eine Computermaus in eine Handfläche passt und mit einer Hand leicht hochzuheben ist, gehört zu jenem (Erfahrungs-)Wissen, das wir ohne kognitive Mühen aktivieren können (default-Wert). Eine andere Möglichkeit, Wortbedeutungen über ein Bedeutungsnetz zu erfassen und über diesen Weg Bedeutungsveränderungen abzubilden, ist der Vergleich von diskursiven Deutungsrahmen. Diskurse sind Texte, die sich mit einem als Forschungsgegenstand gewählten Gegenstand, Thema, Wissenskomplex oder Konzept befassen, untereinander semantische Beziehungen aufweisen und / oder in einem gemeinsamen Aussage-, Kommunikations-, Funktions- oder Zweckzusammenhang stehen (Busse / Teubert 1994: 14). Im Diskurs werden Zusammenhänge bisweilen so modelliert, dass es zu einer Semantisierung kommt. Die Neuordnung semantischen Wissens über Wortverwendungen in Diskursen (z. B. in Zeitungen) ist ein spannendes Phänomen, denn „[h]ier finden- […] Reorganisationen semantischen Wissens statt, die sich frameanalytisch-[…] präziser beschreiben lassen als Verfestigungen neuer Default- Werte“ (Ziem 2005: 7). Realitätskonstruktionen- - und damit semantische Reorganisationen- - entstehen häufig durch mediale Einflüsse. Man kann zur Bestimmung von diskursiven Frames z. B. über die Analyse von Zeitungsartikeln einzelnen Begriffen Deutungsrahmen zuordnen und in einem zweiten Schritt über die Häufigkeit des Vorkommens anderer Lexeme in den Diskursen (Kollokationen) Veränderungen der Frames abbilden. Auf diese Weise erkennt man Interpretationsmuster und Deutungsveränderungen. Ein Frame ist dann ein durch bestimmte Indikatoren hervorgerufenes Interpretationsschema. Viele dieser Veränderungen sind an historische Ereignisse geknüpft. So hat sich beispielsweise in der Auswertung von Artikeln der Wochenzeitung Die Zeit gezeigt, dass der Begriff Nation in der Folge der deutschen Wiedervereinigung (mit einem für Diskurswandel typischen zeitlichen Verzug von ein bis zwei Jahren) einen Frame-Wandel durchlaufen hat (Scharloth et al. 2013): Während <?page no="283"?> 283 der Begriff im Jahr 1991 noch sehr stark mit Konzepten wie Staat, Herrschaft und Politik verknüpft war, wechselten die wichtigen diskursiven Bezugsgrößen zu Kultur, Freiheit und Gerechtigkeit. Es kam also zu einer Veränderung des Deutungsrahmens rund um den Begriff Nation, der sich Frame-analytisch durch die Verfestigung neuer Standardwerte beschreiben lässt. Heftigkeit Herrschen Staat Nation Mode Wille Geschmack, Kunstsinn Kulturelle Entwicklung Pflichtverletzung Freiheit Gesetz Mittelschicht Befreiung Ruhe Absolut Regel Erlaubnis Grundsatz Recht, Gerechtigkeit Wahl Regierung Parlament Geschicklichkeit Politik Partei Pflicht Abb. 29 Frame-Kollokationen der Begriffe Nation und Freiheit im ZEIT -Archiv der Jahre 1991 und 1992 (aus S CHARLOTH et al. 2013) 13.3 Lassen sich die Frame-Semantik und die Gebrauchstheorie der Bedeutung miteinander verknüpfen? Die Verknüpfung der Frame-Semantik mit Erklärungsmodellen der Wittgensteinschen Gebrauchstheorie der Bedeutung kann dazu beitragen, Bedeutungswandel nicht nur besser zu beschreiben, sondern auch deutlicher zu explizieren. Einen ersten vorsichtigen Schritt dorthin möchte ich mit den folgenden kurzen Ausführungen wagen. Sie sollen Ihnen a) zeigen, welches Potenzial perspektivisch in beiden Bedeutungstheorien vorhanden und noch auszuschöpfen ist und b) eine grobe Idee davon vermitteln, wohin die Reise in der Semantikforschung gehen kann. 13.3 Frame-Semantik und Gebrauchstheorie der Bedeutung <?page no="284"?> 284 13 Bedeutungswandel 2.0 — wohin geht die Reise? Die Grundannahme ist folgende: Wenn Frames sich verändern, verändert sich in erster Linie das prototypische Wissen (verstanden als erwartbare Wissenselemente und kollektives Welt-, Erfahrungs- und Sprachhandlungswissen) eines bestimmten Prädikationstyps, das in Form von Standardwerten semantische Leerstellen besetzt. Von besonderer Wichtigkeit ist hierbei das Sprachhandlungswissen, das Frames semantisch mitbestimmt und das eine hohe kognitive Salienz aufweist. So haben wir eine sehr genaue Vorstellung davon, in welchen Situationen wir bestimmte Wörter verwenden können oder vermeiden müssen. Ob jemand schläft oder pennt, ist keine Frage von Standardwerten einer Handlung wie ,Beteiligte’ oder ,Dauer’, sondern es ist eine Frage der Äußerungsabsicht. Ich stelle daher die erste von insgesamt vier aufeinander aufbauenden Thesen auf: 1. In Wortbedeutungs-Frames gibt es neben zahlreichen wortspezifischen Leerstellen auch Leerstellen für Gebrauchsbedingungen und kommunikative Absichten. Standardwerte sind trotz ihrer hohen kognitiven Salienz veränderlich. Das gilt für alle default-Werte in einem Wissensrahmen und auch für den Standardwert ,Gebrauchsbedingungen’, den ich aufgrund seines hohen Zentralitätsgrades und seiner hohen Salienz als entscheidend für Veränderungen der Wortbedeutung-- und damit des gesamten Frames- - ansehe. Ich behaupte: Veränderungen der Füllwerte für diese Leerstelle führen über den bekannten invisible-hand-Prozess zum Bedeutungswandel. Damit komme ich zu meiner zweiten These: 2. Ein hochfrequentes Vorkommen einer neuen Füllung für die Leerstelle ,Gebrauchsbedingungen’ führt zu einer Veränderung des Standardwerts. Wenn ein Wort beispielsweise eine bewertende Komponente durch absichtsvoll abweichenden Wortgebrauch hinzugewinnt, wie es bei fressen der Fall ist, dann verändert dies die Füllung der Leerstelle ,Gebrauchsbedingungen’: Der Standardwert ,neutrale Darstellung / faktische Repräsentation’ wird verändert zu ,bewertende Darstellung / expressiv-evaluative Repräsentation’. Der Wissensrahmen wird auf diese Weise modifiziert. <?page no="285"?> 285 Der neue Wert weist zu Beginn des Bedeutungswandels und zu Anfang des Verbreitungsprozesses (invisible-hand-Prozess) eine geringere Salienz auf als es gegenwärtig der Fall ist. Daraus folgt meine dritte These: 3. Die Verfestigung eines neuen Standardwerts durch frequenten Wortgebrauch als Füllung für die Leerstelle ,Gebrauchsbedingungen’ führt zum Bedeutungswandel und zu einer Veränderung anderer Standardwerte in einem Wissensrahmen. Stellen Sie sich diesen Prozess vor wie das aus der Biologie bekannte Schlüssel- Schloss-Prinzip bei Rezeptoren an einer Zelle: Durch das Hinzukommen einer neuen (zunächst ,einfachen’) Füllung für die Leerstelle ,Gebrauchsbedingungen’ verändert sich die semantische Grundfigur des Frames: Aus neutralen Ausdrücken werden bewertende (z. B. fressen, saufen), aus rein physischen Begriffen werden kognitive (z. B. lesen, begreifen) oder psychische Begriffe (z. B. erschrecken) usw. Es ergibt sich hier die mögliche Verbindung der Frame-Semantik mit der Gebrauchstheorie der Bedeutung, wie sie Gegenstand näherer Betrachtung in Kapitel 9 gewesen ist. Als vorsichtigen Ausblick für weitere Forschungen möchte ich These 4 formulieren: 4. Die Modellierung eines Gegenstandsbereichs als Semantisierungsprozess durch das Hinzukommen von Parametern der Gebrauchsregel in Form von zunächst einfachen Füllungen und später in Form von Standardwerten hat eine lexikalische Neuverregelung zur Folge. Die Reorganisation des semantischen Wissens innerhalb eines Wortbedeutungs- Frames erfolgt also als die Veränderung der Gebrauchsregel eines Wortes durch die Parameterverschiebung (oder besser: Werteverschiebung) des Standardwertes für die Leerstelle ,Gebrauchsbedingungen’. Die Verfestigung neuer Standardwerte (als kollektives Wissen über die Gebrauchsbedingungen eines Wortes) führt zu einer Veränderung des gesamten Konzepts. Durch die semantische Inkorporierung von geistig-mentalen Parametern (Parameter aus der Welt der Gedanken und Kognitionen; vgl. Kapitel 9) hat sich z. B. der Standardwert für das Verb lesen-- und damit das ganze Konzept-- verändert (Referenz auf haptische Tätigkeit → Referenz auf kognitive Tätigkeit). Auf diese Weise können wir die Frame-Semantik um Aspekte der Gebrauchstheorie erweitern und somit Bedeutungswandel besser als bisher beschreiben. 13.3 Frame-Semantik und Gebrauchstheorie der Bedeutung <?page no="286"?> 286 13 Bedeutungswandel 2.0 — wohin geht die Reise? 13.4 Weiterführende und vertiefende Literatur Mit dem nahezu 900 Seiten starken handbuchartigen Kompendium Frame- Semantik von D I E T R I CH B USSE aus dem Jahr 2012 liegt ein Werk vor, das an Komplexität nicht zu übertreffen ist. Wenn Sie sich mit dieser Theorie, ihren Ursprüngen, Ausdifferenzierungen, Methoden und Anwendungsmöglichkeiten näher beschäftigen wollen, kann ich Ihnen raten, zuallererst zu diesem Buch zu greifen. Das Literaturverzeichnis bei B USSE ist außerordentlich umfangreich, so dass ich mir an dieser Stelle weitere Empfehlungen sparen und Ihnen eine gewinnbringende Lektüre wünschen kann. <?page no="287"?> 287 13.4 Weiterführende und vertiefende Literatur 14 Noch Fragen? — Repetitorium und Übungen zum Bedeutungswandel Wer so spricht, dass er verstanden wird, spricht immer gut. Molière (1622-1673) Sind Sie fit im Thema Bedeutungswandel? In diesem zweiten Teil der Einführung in die Prinzipien des Sprach- und Bedeutungswandels ging es um den Bedeutungswandel als Sonderfall des Sprachwandels. Wie schon nach dem ersten Teil soll Ihnen dieses Wiederholungs- und Übungskapitel dabei helfen, Ihr Wissen auf den Prüfstand zu stellen. Hier gilt ebenfalls: Manche der Themen, durch die Sie sich bis hierher erfolgreich gearbeitet haben, sind sehr komplex. Viele Abschnitte in diesem Buch sind wiederum dicht gefüllt mit Informationen. Mit den nachfolgenden Übungsaufgaben können Sie Ihr Wissen und Ihr Verständnis des bisher Gelernten überprüfen. Ich empfehle Ihnen wieder mit Nachdruck: Nehmen Sie sich dazu ausreichend Zeit. Wenn Sie doch die ein oder andere Wissenslücke bei sich entdecken sollten, lesen Sie die Passagen einfach noch einmal. Benutzen Sie auch weiterführende Literatur, die Sie in den Hinweisen an den Kapitelenden als Hilfestellung finden. Bevor Sie mithilfe von Übungsfragen und -aufgaben Ihr eigenes Wissen einem Test unterziehen, werden die wesentlichen Aussagen der jeweiligen Kapitel noch einmal konzise zusammengefasst — was auch Ihrem Gedächtnis auf die Sprünge helfen wird. <?page no="288"?> 288 14 Repetitorium und Übungen zum Bedeutungswandel Hinweis für Dozierende: Die nachfolgenden Übungsaufgaben eignen sich sehr gut zur Wissensabfrage im Rahmen von Zwischen- oder Abschlussprüfungen in den Bachelor- und Master-Modulprüfungen (Klausurfragen). Zudem können die prägnanten Sätze, die in diesem Kapitel noch einmal prägnant die jeweiligen Kerngedanken der einzelnen Kapitel zusammenfassen, als Thesen für mündliche Prüfungen dienen, anhand derer das jeweilige Themenfeld bearbeitet werden kann. Im Anschluss an die Zusammenfassungen und Übungen für die Studierenden finden Sie eine Auflistung möglicher Themen für studentische Seminararbeiten (Haus- oder Examensarbeiten) oder für Essays, die Sie z. B. als Nachweis für Beteiligungsleistungen erstellen lassen können. 14.1 Repetitorien und Übungsaufgaben Repetitorium zu Kapitel 8: Was ist die Bedeutung eines Wortes? Um herauszuarbeiten, auf welche Weise und durch welche Prozesse sich Wortbedeutungen verändern können, war es wichtig, zunächst den passenden Bedeutungsbegriff zu entwickeln, mit dessen Hilfe das möglich ist. Dabei haben wir in Kapitel 8 sogenannte repräsentationistische Bedeutungsauffassungen der Gebrauchstheorie der Bedeutung nach Ludwig Wittgenstein als eine instrumentalistische Bedeutungsauffassung gegenübergestellt. Für das Verständnis der Thematik und die weitere Argumentation ist diese Gegenüberstellung notwendig und fruchtbar. Unsere Befunde aus diesem Grundlagenkapitel lassen sich wie folgt kurz zusammenfassen: ▶ Bedeutungswandel ist ein Spezialfall des Sprachwandels, denn er basiert nicht auf sprachlichen Fehlern. ▶ Bedeutungswandel ist gekennzeichnet durch eine regelkonforme Spezialverwendung. ▶ Wortbedeutungen sind der Referenztheorie der Bedeutung nach als reale Dinge in der Welt bestimmt. Es gibt dabei ein fixes Eins-zu-eins-Abbildungsverhältnis von Urbild und Abbild. <?page no="289"?> 289 14.1 Repetitorien und Übungsaufgaben ▶ Bei referenzlosen Ausdrücken versagt die Referenztheorie, ebenso bei Synsemantika. ▶ In der Vorstellungstheorie werden Wortbedeutungen mit mentalen Konzepten gleichgesetzt. ▶ Es gibt keine intersubjektiven Allgemeinvorstellungen, weshalb die Vorstellungstheorie rasch an ihre Grenzen gerät. ▶ Referenztheorie und Vorstellungstheorie bezeichnet man als repräsentationistische Bedeutungstheorien. ▶ Die Gebrauchstheorie der Bedeutung nach Ludwig Wittgenstein verortet Bedeutungen als Gebrauchsregeln; sie ist damit instrumentalistisch. ▶ Wortbedeutungen als Gebrauchsregeln sind semantisch offen für Neuverregelungen-- und damit für Bedeutungswandel. ▶ Eine instrumentalistische Bedeutungstheorie kann Bedeutungswandel über das zweckrationale Handeln der Sprecher erklären. ▶ Die invisible-hand-Theorie lässt sich mit einem gebrauchstheoretischen Bedeutungskonzept im Sinn der Erklärungsadäquatheit vereinen. Übungsfragen und -aufgaben zu Kapitel 8: Was ist die Bedeutung eines Wortes? 1. Was ist die Referenztheorie der Bedeutung? Schlagen Sie auch in der weiterführenden Literatur nach! 2. Was ist die Vorstellungstheorie? Auch hier: Schlagen Sie in der weiterführenden Literatur nach! 3. Was versteht man unter der Gebrauchstheorie der Bedeutung? 4. Erklären Sie mit Ihren Worten den Unterschied zwischen repräsentationistischen und instrumentalistischen Bedeutungsauffassungen! 5. Finden Sie fünf Beispielwörter aus einer Sprache Ihrer Wahl, die zeigen, warum eine Bedeutungsbestimmung über Referenz nicht möglich ist! 6. Wiederholen Sie Aufgabe 5 mit Begriffen, bei denen die Vorstellungstheorie scheitert! 7. Was ist eine Gebrauchsregel und was gibt sie an? Formulieren Sie die Gebrauchsregel für das Wort Baum! 8. Schlagen Sie in einem Wörterbuch fünf beliebige Begriffe nach! Wie werden die Bedeutungen dort angegeben? <?page no="290"?> 290 Repetitorium zu Kapitel 9: Was sind die Prinzipien des Bedeutungswandels? Bedeutungswandel geschieht wie Sprachwandel allgemein über einen invisiblehand-Prozess. Dabei kommt es auf der Ebene der Wortbedeutung zu Modifikationen der Gebrauchsregel. Diese Veränderungen lassen sich zum einen auf Sprecherabsichten zurückführen und zum anderen strukturell als Verschiebungen von bedeutungsbestimmenden Elementen (Verschiebungen der sogenannten Parameter der Gebrauchsregel) erklären. Wir konnten feststellen, dass in einer handlungstheoretischen Semantik eine Wechselwirkung zwischen der Ebene des Sprechers mit dessen Absichten und der Ebene des Wortes mit dessen strukturellen semantischen Merkmalen besteht. Sprachhandeln und Bedeutungswandel hängen auf eine bestimmte Weise zusammen, die sich in Kapitel 9 als Sonderfall des Sprachwandels gezeigt hat. Aus diesem grundlegenden Kapitel zu den Bedingungen und Prozessen des Bedeutungswandels nehmen wir entsprechend mit: ▶ Wortbedeutungen werden auf der Strukturebene durch bestimmte Parameter geprägt. ▶ Parameter der Gebrauchsregel sind für Wortbedeutungen richtungsweisend. Sie geben an, welche Hauptbedeutung ein Wort trägt. ▶ Parameter der Gebrauchsregel geben an, welche (kommunikative) Funktion ein Wort erfüllt. ▶ Parameter kommen in einer Gebrauchsregel selten isoliert vor. ▶ Die Dominanz von Parametern kann sich in Gebrauchsregeln verschieben. ▶ Verschiebungen der Parameter in einer Gebrauchsregel führen zum Bedeutungswandel, denn: Gebrauchsregeln sind Wortbedeutungen. ▶ Die Bedeutung eines Wortes zu kennen, heißt, zu wissen, wie man ein Wort gebraucht, nicht aber, wie man die Regel des Gebrauchs formuliert (Regelkenntnis ≠ Regelformulierung). ▶ Wortbedeutungen sind an Sprecherabsichten (Repräsentation, Persuasion und soziale Interaktion) geknüpft. ▶ Veränderte Sprecherabsichten führen zum veränderten Wortgebrauch. ▶ Veränderter Wortgebrauch ist regelkonforme Spezialverwendung. ▶ Ein systematischer, abweichender Wortgebrauch führt über den invisiblehand-Prozess zum Bedeutungswandel. 14 Repetitorium und Übungen zum Bedeutungswandel <?page no="291"?> 291 14.1 Repetitorien und Übungsaufgaben ▶ Bedeutungswandel ist die Neuverregelung eines zunächst gelegentlich erzeugten Sinns zu einer neuen Gebrauchsregel mit veränderten / verschobenen Parametern. Übungsfragen und -aufgaben zu Kapitel 9: Was sind die Prinzipien des Bedeutungswandels? 1. Erklären Sie, was man unter den Parametern der Gebrauchsregel versteht! 2. Bestimmen Sie die Parameter der Wortbedeutungen für die folgenden Wörter: - lesen ___________________________________________ - Klobürste ___________________________________________ - erschrecken ___________________________________________ - geil ___________________________________________ - Penner ___________________________________________ - Urlaub ___________________________________________ - Frieden ___________________________________________ 3. Skizzieren Sie Schritt für Schritt (wie in 9.2.2) den Bedeutungswandel des Wortes aufblühen (von der Pflanze auf den Menschen: jemand blüht auf)! 4. Finden Sie je drei Beispielwörter, bei denen die Absichten Repräsentation, Persuasion und soziale Interaktion die Wortbedeutung bestimmen! 5. Erklären Sie, wie die Ebene des Sprechers mit der Ebene des Wortes beim Bedeutungswandel verbunden ist! 6. Erklären Sie an einem beliebigen Beispiel den Prozess des Bedeutungswandels als invisible-hand-Prozess! 7. Was ist ein pragmatisches Schlussverfahren? Welche Rolle spielt es beim Bedeutungswandel? 8. Erklären Sie, warum Bedeutungswandel nicht auf sprachlichen Fehlern beruht! <?page no="292"?> 292 Hinweis für Dozierende: Zur interaktiven Beteiligung der Studierenden bietet es sich zu diesem Zeitpunkt im Seminar an, ein Semantisches Tagebuch führen zu lassen: Bitten Sie Ihre Studierenden, über einige Wochen hinweg aufzuschreiben, welche semantischen Neuerungen in der Sprache ihnen in den Medien und im Alltag auffallen (Lexem, Fundstelle, Verwendungsweise, Verwendungskontext, vermutete Bedeutung, Bewertung der Neuerung etc.). Sie können dafür Tagebuchblätter vorformulieren und an die Studierenden austeilen. Ein Muster finden Sie bei F R ITZ 2005: 57 f. Repetitorium zu Kapitel 10: Was sind die Ursachen und Verfahren des Bedeutungswandels? Kapitel 10 hat uns den kommunikativen Handlungen nähergebracht, die in der Folge einen Bedeutungswandel zeitigen. Auf dem Weg zu den sogenannten Verfahren und den kommunikativen Mechanismen des Bedeutungswandels, die allesamt zweckbestimmte sprachliche Handlungen sind, haben wir kurz die Ursachen des Bedeutungswandels gestreift. Wir konnten insbesondere erkennen, dass technischer Fortschritt für die Erklärung des semantischen Wandels keine hinreichende und auch keine notwendige Bedingung ist. Vielmehr spielen Assoziationen eine wesentliche Rolle, ganz besonders figurative rhetorische Mittel wie Metapher und Metonymie als Sinnassoziationen. Zusammenfassend lernen wir aus diesem Kapitel: ▶ Bedeutungswandel ist eher an kommunikative Bedingungen geknüpft als an Veränderungen der außersprachlichen Welt. ▶ Technischer Fortschritt muss nicht zwingend zum Bedeutungswandel führen. ▶ Bedeutungswandel basiert in erster Linie auf assoziativem Denken. ▶ Figurative Verfahren wie Metapher und Metonymie bestimmen den Bedeutungswandel maßgeblich, wobei die Metaphorisierung das wichtigste Verfahren des Bedeutungswandels insgesamt darstellt. ▶ Konventionalisierte Metaphern tragen eigenständige (nicht-metaphorische) lexikalische Bedeutung. 14 Repetitorium und Übungen zum Bedeutungswandel <?page no="293"?> 293 14.1 Repetitorien und Übungsaufgaben ▶ Sowohl Sprachwissen als auch Weltwissen sind für das Verständnis assoziativer Wortverwendungen notwendig. ▶ Semantische Verfahren sind zunächst mit hohem kognitiven Aufwand und der Gefahr des Missverstehens verbunden, bedingen aber in der Folge Sprachökonomie. ▶ Neben Metaphern und Metonymien sind für den Bedeutungswandel Implikaturen, Euphemismen, Ironie und Ellipsen verantwortlich. ▶ Die semantischen Verfahren ermöglichen eine Erweiterung des Bedeutungsfeldes und damit der kommunikativen Handlungsmöglichkeiten. Übungsfragen und -aufgaben zu Kapitel 10: Was sind die Ursachen und Verfahren des Bedeutungswandels? 1. Erklären Sie den Unterschied zwischen einer Metapher und einer Metonymie! 2. Analysieren Sie die folgenden Beispiele! Handelt es sich um Bedeutungswandel? Sehen Sie in einem etymologischen Wörterbuch nach! Geben Sie dann an, welches semantische Verfahren dem Wandel zugrunde liegt! - Fritz schießt ein Foto. _____________________________ - Das ist eine geile Karre. _____________________________ - Horst köpft eine Flasche Wein. _____________________________ - Diese Aufgabe erschlägt mich. _____________________________ - Gib mir mal dein Handy. _____________________________ - Die Maus ist kaputt. _____________________________ - Mist, der Laden ist schon dunkel. _____________________________ - Das ist überflüssig. _____________________________ - Also, das raffe ich alles nicht. _____________________________ - Das will mir nicht in den Kopf. _____________________________ - Ich warte auf den Bus. _____________________________ 3. Nehmen Sie eine Zeitung: Markieren Sie auf der ersten Seite alle Begriffe, die metaphorisch (rot) und metonymisch (grün) verwendet werden! Erkennen Sie Bedeutungswandel? <?page no="294"?> 294 4. Machen Sie eine Liste: Erarbeiten Sie mithilfe eines der Bücher aus der Literaturempfehlung (s. 10.3) jeweils zehn Beispiele für Metaphorisierung und Metonymisierung! Schreiben Sie daneben, welche Absicht Sie hinter der abweichenden Wortverwendung vermuten! 5. Wiederholen Sie Aufgabe 3 für elliptische Wendungen! 6. Finden Sie zehn Beispiele für Metaphern in einer beliebigen Fachsprache Ihrer Wahl! Schauen Sie dazu in eine Fachzeitschrift! 7. Skizzieren Sie den Zusammenhang von Euphemismen und political correctness in der Sprache! 8. Warum sind Weiber heute Frauen? Zeichnen Sie die (vermutete) semantische Entwicklung und deren Folgen in den Grundzügen nach! Repetitorium zu Kapitel 11: Was sind die Folgen des Bedeutungswandels auf der Wortebene? Die Folgen des Bedeutungswandels lassen sich auf der Mikroebene des Wortes ebenso nachweisen wie auf der Makroebene des Sprachsystems. Kapitel 11 war den Typen des Bedeutungswandels aus der Mikroperspektive gewidmet. Dabei hatten wir zum einen qualitative Veränderungen im Blick, die man traditionell unter den Aspekten der Verbesserung und der Verschlechterung der Wortbedeutung betrachtet. Zum anderen haben wir uns den Folgen aus einer quantitativen Perspektive genähert und uns angeschaut, auf welche Weise sich das Nutzungspotenzial über die Menge der möglichen Denotate verändern kann. In der Bedeutungswandelforschung sind die Begriffe Bedeutungsverengung und Bedeutungserweiterung für diese Sichtweise etabliert. Beide Begriffe haben wir einer kritischen Überprüfung unterzogen. Den Abschluss bildeten Überlegungen zur Richtung des Bedeutungswandels vom Konkreten zum Abstrakten. Die vielfältigen Befunde aus diesem Kapitel lassen sich wie folgt zusammenführen: ▶ Die Frage nach einer Bedeutungsverbesserung (Melioration) oder -verschlechterung (Pejoration) ist eine qualitative Frage, die man nicht neutral beantworten kann. Sie ist gekoppelt an soziale Bewertungskriterien. ▶ Bedeutungsverbesserung und -verschlechterung werden anhand von Veränderungen der Konnotationen nachgewiesen. ▶ Es handelt sich um eine axiologische Sichtweise. 14 Repetitorium und Übungen zum Bedeutungswandel <?page no="295"?> 295 14.1 Repetitorien und Übungsaufgaben ▶ Fahnen- und Stigmawörter erhalten ihre positive bzw. negative Bedeutung durch die bewertende, zweckrationale Besetzung von Begriffen. ▶ Konnotative Bedeutungsveränderungen lassen sich i. d. R. durch Hinzukommen oder Wegfall von Parametern aus der Welt der Haltungen erklären. ▶ Euphemismen erfahren im Laufe der Zeit eine De-Euphemisierung (Euphemismus-Tretmühle). ▶ Bedeutungswandel lässt sich auch über die Veränderung der Extension fassen. ▶ Bedeutungserweiterung geht mit einem Verlust an semantischen Merkmalen einher. Der Nutzungsbereich des Wortes vergrößert sich auf diese Weise durch eine Zunahme an möglichen Denotaten. ▶ Bedeutungsverengung ist verbunden mit dem Hinzukommen von spezifischen Bedeutungsmerkmalen bei gleichzeitiger Reduktion des Begriffsumfangs. Die Nutzungsmöglichkeit verringert sich auf diese Weise. ▶ Extensionale und intensionale Veränderungen verlaufen reziprok. ▶ Bedeutung und Begriffsumfang sind nicht dasselbe: Daher sind die Kriterien Bedeutungserweiterung und -verengung rein quantitative Festlegungen. ▶ Auf der Bedeutungsebene geht Bedeutungsverengung oft einher mit Spezialisierung der Wortbedeutung. ▶ Bedeutungserweiterung ist meistens verbunden mit einer Generalisierung der Wortbedeutung. ▶ Generelle Begriffe sind eher abstrakt, spezielle Bedeutungen sind eher konkret. Übungsfragen und -aufgaben zu Kapitel 11: Was sind die Folgen des Bedeutungswandels auf der Wortebene? 1. Bestimmen Sie (mit Hilfe eines etymologischen Wörterbuchs) bei den folgenden Beispielen, um welchen Typ des Bedeutungswandels es sich handelt (Generalisierung oder Spezialisierung)! - fließen (Strom) ___________________________________ - (soziales) Netzwerk ___________________________________ - (eine Idee) entwickeln ___________________________________ - Wanze (Abhörgerät) ___________________________________ <?page no="296"?> 296 - rüstig ___________________________________ - fahren ___________________________________ - Fass ___________________________________ - (Computer-) Maus ___________________________________ - Hochzeit ___________________________________ - Horn ___________________________________ 2. Erklären Sie mit eigenen Worten, was Konnotationen sind! 3. Nennen Sie drei Beispiele für Bedeutungsverschlechterung! Sehen Sie dazu in einem Wörterbuch nach! 4. Nennen Sie drei Beispiele für Bedeutungsverbesserung! Sehen Sie auch hier in einem Wörterbuch nach! 5. Im Altenglischen bedeutete huswif so viel wie Hausfrau. Das neuenglische Wort hussy bedeutet Schlampe. Was ist hier geschehen? Beschreiben Sie die Bedeutungsveränderung! 6. Nennen Sie den Unterschied zwischen der axiologischen und der logischrhetorischen Sichtweise beim Bedeutungswandel! Welche Betrachtungsweise ist aus Ihrer Sicht besser geeignet? 7. Was ist die Euphemismus-Tretmühle? 8. Ist Abstrahierung ein Grundprinzip des Bedeutungswandels? Begründen Sie Ihre Meinung! Hinweis für Dozierende: An dieser Stelle empfehle ich zur Erarbeitung sowohl der semantischen Verfahren als auch der Effekte (Typen des Bedeutungswandels) die Analyse einer Tageszeitung (Einzelarbeit: 10 Minuten). Dabei können Sie Ihre Studierenden bitten, Begriffe zu markieren, von denen sie glauben, es handele sich um aktuelle Beispiele für Bedeutungswandel. Gemeinsam kann man dann überlegen (ggf. Tabelle anlegen), a) um welchen Typ es sich handelt und b) welches semantische Verfahren zum Wandel geführt hat. 14 Repetitorium und Übungen zum Bedeutungswandel <?page no="297"?> 297 14.1 Repetitorien und Übungsaufgaben Repetitorium zu Kapitel 12: Was sind die Folgen des Bedeutungswandels auf der Sprachebene? Auf der Makroebene des Sprachsystems konnten wir in Kapitel 12 einige Veränderungen nachweisen, die eine Folge des Bedeutungswandels sind. In diesem Kapitel stand das Lexikon der Sprache im Fokus. Wir wollten wissen, ob semantischer Wandel zu Mehrdeutigkeit (Polysemie) führt und uns hat interessiert, ob Bedeutungswandel das Lexikon bereichert oder ärmer macht. Wir haben gefragt, ob und wie sich der Handlungsspielraum in der Folge verändert und haben erkannt, dass sowohl eine Erweiterung als auch eine Beschränkung möglich sein kann. Wir konnten aber auch feststellen, dass Erweiterung und Beschränkung keine qualitativen Kategorien sind. Denn: Bedeutungswandel führt in jedem Fall dazu, dass sich das Lexikon so anpasst, wie es benötigt wird. Bedeutungswandel ist also rückführbar auf ein bestimmtes Nutzungsverhalten. Auch grammatische Veränderungen, die wir exemplarisch betrachtet haben, lassen sich als die Folge von Nutzungsveränderungen identifizieren. Die Befunde aus Kapitel 12 stellen sich folgendermaßen dar: ▶ Koexistenz von alter und neuer Wortbedeutung führt zu Polysemie. ▶ Bei voneinander verschiedenen Verwendungskontexten ist Polysemie kein Problem und ruft keine Missverständnisse hervor. ▶ Kommt es durch sich überschneidende Verwendungskontexte zu Missverständnissen, setzt ein Selektionsprozess ein, in dessen Folge eine der beiden Bedeutungsvarianten verschwindet. ▶ Polysemie ist während des Bedeutungswandelprozesses eher der Normalfall, danach in vielen Fällen eher ein Spezialfall. ▶ Der Kontext disambiguiert Wortbedeutungen und hilft, Missverständnisse zu vermeiden. ▶ Ungebräuchliche Wörter sind unnütze Wörter und verschwinden irgendwann aus dem Lexikon. ▶ Der Wegfall einer Bedeutungsvariante ist kein Verlust für den Sprecher, sondern die Folge eines veränderten Nutzungsverhaltens. ▶ Schwindet die Ursprungsbedeutung im Zuge des Bedeutungswandels, spricht man von einer Desemantisierung (bleaching). ▶ Desemantisierung führt zu einer Verkleinerung des Nutzungsraums eines Wortes. ▶ Polysemie bereichert das Lexikon. <?page no="298"?> 298 ▶ Generalisierung führt zu einer Erweiterung des Verwendungsspektrums eines Wortes. ▶ Spezialisierung vermehrt die Handlungsmöglichkeiten im fachsprachlichen Raum, schränkt das Verwendungsspektrum jedoch insgesamt ein. ▶ Wörter mit lexikalischer Bedeutung können eine grammatische Funktion übernehmen (Grammatikalisierung). ▶ Grammatikalisierung führt zu einer grammatischen Paradigmatisierung. Übungsfragen und -aufgaben zu Kapitel 12: Was sind die Folgen des Bedeutungswandels auf der Sprachebene? 1. Beschreiben Sie den Unterschied zwischen Monosemie und Polysemie! 2. Erklären Sie mithilfe eines beliebigen Beispiels das Verhältnis von Hyperonymen zu Hyponymen! 3. Es gibt noch andere semantische Relationen als die hier besprochenen. Nehmen Sie eine Einführung in die Sprachwissenschaft oder ein Lexikon zur Hand und schlagen Sie folgende Begriffe nach: a. Synonymie b. Antonymie c. Kontradiktion d. Komplementarität e. Konversion 4. Was sind syntagmatische und paradigmatische Beziehungen? Sehen Sie in einem Lexikon nach! 5. Erklären Sie, was man unter Desemantisierung versteht! Finden Sie Beispiele für Wörter, die gegenwärtig ,verblassen’! 6. Ist Mehrdeutigkeit ein kommunikatives Problem? Begründen Sie Ihre Meinung! 7. Denkaufgabe: Worin besteht der semantische Unterschied zwischen (to) apologize und (to) excuse im Englischen? Erklären Sie daran, warum es im Deutschen semantisch falsch ist, sich zu entschuldigen! 8. Welches semantische Verfahren liegt erschrecken zugrunde und wie hat dies zu einem Diathesenwandel geführt? 14 Repetitorium und Übungen zum Bedeutungswandel <?page no="299"?> 299 14.1 Repetitorien und Übungsaufgaben Repetitorium zu Kapitel 13: Bedeutungswandel 2.0 — wohin geht die Reise? Kapitel 13 hat den Blick geweitet für einen eher kognitionslinguistisch geprägten Weg, Bedeutungen als komplexe Wissensrahmen über verstehensrelevantes Wissen zu beschreiben. Hierin fand der spezielle Teil zum Bedeutungswandel in diesem Buch seinen Fluchtpunkt. Zugleich konnten wir das bisher gewonnene Wissen über semantischen Wandel mit dem Konzept der Frame-Semantik, das gegenwärtig akzeptiert ist und in vielfältiger Weise fortentwickelt wird, angemessen verknüpfen. Wir konnten die Perspektive von der Sprecherzur Interpretenseite wechseln und in diesem Kapitel erkennen, auf welche Weise Bedeutungen mit prototypischen Wissenselementen verwoben sind. Im Zentrum stand also der Verstehensprozess, den wir in Abschnitt 13.3 mit den kommunikativen Sprecherabsichten verknüpfen konnten. Ein Ausblick auf weitere verbindende Forschungsmöglichkeiten über einen Schulterschluss von Frame-Semantik und der Gebrauchstheorie der Bedeutung hat das Thema Bedeutungswandel abgerundet, so dass Sie nun über profundes Wissen verfügen und auch einen Einblick gewinnen konnten, welche Aufgaben der Semantikforschung noch bevorstehen. Kapitel 13 hat die folgenden Erkenntnisse gebracht: ▶ Wörter lösen Frames aus. ▶ Ausdrucksbedeutungen sind eingebettet in komplexe Wissensrahmen, zu denen neben sprachlichem Wissen vor allem Welt- und Erfahrungswissen gehört. ▶ Frames bilden verstehensrelevantes Wissen ab und können so dazu beitragen, Bedeutungen als vernetzte semantische Gebilde zu erkennen. ▶ Frames sind Vernetzungen von lexikalischen Einheiten, also eine Kombination einzelner Lexeme, die jeweils einen Teilaspekt des Frames akzentuieren. ▶ Frames kommen nicht isoliert vor, sondern jeder Frame ist mit einer Vielzahl weiterer Frames verknüpft (Frame-Netzwerk). ▶ Polysemie entsteht durch Hinzukommen eines oder mehrerer neuer Lesarten-Frames, die an einen Basis-Frame anschließen. Ursache dafür sind die in Kapitel 10 skizzierten semantischen Verfahren. ▶ Standardwerte (default-Werte) als verstehensrelevante Bedingungen füllen Leerstellen (slots) in Frames. ▶ Standardwerte dienen der Aktualisierung des kommunikativen Sinns einer sprachlichen Äußerung. <?page no="300"?> 300 ▶ Standardwerte gehören als stabile Wissenseinheiten zum kollektiven Wissen einer Sprachgemeinschaft. ▶ Neben Standardwerten wird die Bedeutung eines Ausdrucks durch- - explizierbare-- variable Füllungen (fillers) bestimmt. ▶ Bedeutungswandel stellt sich als die Reorganisation semantischen Wissens durch eine Modellierung von bestimmten (zentralen) Standardwerten dar. ▶ Wissenselemente mit einer ausgeprägten Salienz und einem hohen Zentralisationsgrad bestimmen maßgeblich die Bedeutung eines Ausdrucks. ▶ Im Zuge des Bedeutungswandels kommen für die Leerstelle ,Gebrauchsbedingungen’ neue Wissenselemente als Standardwerte hinzu. Auf diese Weise führt abweichender Wortgebrauch (intentional bestimmt) zu einer Veränderung des gesamten Frames. ▶ Standardwerte für die Leerstelle ,Gebrauchsbedingungen’ können Parameter der Gebrauchsregel sein, wie wir sie in Kapitel 9 identifiziert haben. ▶ Gebrauchstheorie der Bedeutung (als ein an Sprecherabsichten orientierter Ansatz) und Frame-Semantik (als ein verstehensorientierter Ansatz) können sich auf diese Weise ideal ergänzen. Übungsfragen und -aufgaben zu Kapitel 13: Bedeutungswandel 2.0 — wohin geht die Reise? 1. Was ist Frame-Semantik und was sind Frames in diesem Modell? 2. Welche Rolle spielt das verstehensrelevante Wissen in der Frame-Semantik? Warum spricht man bei Frames auch von Wissensrahmen? 3. Skizzieren Sie den Zusammenhang von Leerstellen, Füllungen und Standardwerten! 4. Wie kann die Frame-Semantik Bedeutungswandel erklären? Welche Rolle spielen Standardwerte dabei? 5. Beschreiben Sie den Zusammenhang von Wortgebrauch und Frame-Wandel! 6. Welche Rolle spielen Parameter der Gebrauchsregel in Wortbedeutungs- Frames? 7. Versuchen Sie sich an einer einfachen Frame-Darstellung für das Wort Buch! 8. Welche Standardwerte gibt es in diesem Wortbedeutungs-Frame aus Aufgabe 7? 14 Repetitorium und Übungen zum Bedeutungswandel <?page no="301"?> 301 14.2 Arbeitshilfe für Dozierende III: Fragenpool für Modulprüfungen 14.2 Arbeitshilfe für Dozierende III : Fragenpool für Modulprüfungen Hinweis für Dozierende: Nachfolgend stelle ich Ihnen einen Pool mit Fragen zur Verfügung, der Ihnen Anregungen für Ihre Zwischen- oder Abschlussklausuren gibt. Für eine 90-minütige Klausur empfiehlt es sich, nicht mehr als fünf frei zu beantwortende Fragen zu formulieren. Jede Klausurfrage in diesem Pool wurde im Rahmen von Bachelorseminaren auf Machbarkeit erprobt (z. B. keine Kettenfragen). Tipp: Erstellen Sie eine schriftliche Musterlösung, anhand derer Sie auch Überlegungen zur Punkteverteilung anstellen. Wählen Sie die Fragen so aus, dass sie zu Stoff und Schwerpunktsetzung Ihrer Veranstaltung passen. Die Fragen können einzelsprachlich modifiziert werden. 1. Beschreiben Sie die Grundzüge der Abbildtheorie (Referenztheorie)! 2. Beschreiben Sie die Grundzüge der Vorstellungstheorie! 3. Beschreiben Sie die Grundzüge der Gebrauchstheorie der Bedeutung! 4. Basiert Bedeutungswandel auf sprachlichen Fehlern? 5. Nach welchen Prinzipien verändern sich Wortbedeutungen? 6. Welche Sprecherabsichten führen zum Wortgebrauch? Geben Sie Beispiele! 7. Beschreiben Sie den Prozess des Bedeutungswandels! 8. Was sind Parameter der Gebrauchsregel? Welche Typen gibt es? Nennen Sie Beispiele! 9. Warum ist Bedeutungswandel ein Spezialfall des Sprachwandels? 10. Welche Ursachen für den Bedeutungswandel gibt es? Was löst Bedeutungswandel aus? 11. Skizzieren Sie anhand von Beispielen die Verfahren des Bedeutungswandels! 12. Welche Rolle spielen Metaphern und Metonymien beim Bedeutungswandel? 13. Erläutern Sie die Begriffe Bedeutungsverbesserung und Bedeutungsverschlechterung! 14. Erläutern Sie die Begriffe Bedeutungsverengung und Bedeutungserweiterung! 15. Erklären Sie das Verhältnis von Intension und Extension beim Bedeutungswandel! 16. Was versteht man unter Spezialisierung und Generalisierung? <?page no="302"?> 302 17. Welche Rolle spielen Euphemismen beim Bedeutungswandel? Nennen Sie Beispiele! 18. Benennen Sie die Folgen des Bedeutungswandels auf der Sprachebene! 19. Was ist die Frame-Semantik? 20. Wie hängen Frames und Bedeutungswandel zusammen? 14.3 Arbeitshilfe für Dozierende IV : Seminararbeitsthemen Hinweis für Dozierende: An dieser Stelle möchte ich Ihnen Seminar- oder Examensarbeitsthemen zur Verfügung stellen, die sich als brauchbar erwiesen haben. Zugleich können die Themen auch Impulse für Referate oder Essays im Rahmen der Seminararbeit setzen. Die Themen können einzelsprachlich angepasst werden. 1. Bedeutungswandel als Sonderfall des Sprachwandels. Eine Begriffsbestimmung. 2. Was ist die Bedeutung eines Wortes? Eine kritische Betrachtung unterschiedlicher Bedeutungstheorien. 3. Wandel durch Gebrauch. Zu Wittgensteins Gebrauchstheorie der Bedeutung. 4. Bedeutungswandel und Kulturwandel. Zur Rolle technischen Fortschritts bei der Erklärung semantischen Wandels. 5. Bedeutungswandel als Gebrauchswandel. Zum Stellenwert von Parametern der Gebrauchsregel. 6. Verfahren des Bedeutungswandels. Eine Gegenüberstellung. 7. Metaphern und Metonymien. Eine Betrachtung aus historisch-semantischer Sicht. 8. Begriffe besetzen. Eine historisch-semantische Erklärung für Fahnen- und Stigmawörter in der politischen Sprache. 9. Die Euphemismen-Tretmühle in der Bedeutungswandelforschung. 10. Gute oder schlechte Wörter? Die qualitativen Folgen des Bedeutungswandels. 11. Gibt es ein Mehr oder Weniger an Bedeutung? Eine kritische Betrachtung extensionaler Bedeutungsbeschreibungen beim Bedeutungswandel. 14 Repetitorium und Übungen zum Bedeutungswandel <?page no="303"?> 303 14.3 Arbeitshilfe für Dozierende IV: Seminararbeitsthemen 12. Warum ist ein Schloss kein Schloss? Zu Bedeutungswandel und Mehrdeutigkeit. 13. Bedeutungswandel und grammatische Paradigmatisierung am Beispiel von-… 14. Frame-Semantik und Bedeutungswandel. Eine Erklärung der Prinzipien semantischen Wandels. 15. Verstehensrelevantes Wissen und Gebrauchsregeln. Zum Verhältnis von Frame-Semantik und der Gebrauchstheorie der Bedeutung nach Ludwig Wittgenstein. <?page no="304"?> 304 Abbildungsverzeichnis Abbildungsverzeichnis Abb. 1 Das sprachliche Zeichen 43 Abb. 2 Das Organon-Modell 52 Abb. 3 Wandel durch Gebrauch 61 Abb. 4 Einflussfaktoren auf den Kulturwandel 67 Abb. 5 Dimensionen des Sprachwandels 69 Abb. 6 Sprachwandelfaktoren 72 Abb. 7 4-Phasenmodell des Sprachwandels 74 Abb. 8 Erweitertes 4-Phasenmodell des Sprachwandels 75 Abb. 9 Phänomene der dritten Art 87 Abb. 10 Invisible-hand-Prozess 91 Abb. 11 Lüdtkes universelles Sprachwandelgesetz 94 Abb. 12 Beispiel für eine zyklische Drift anhand der Etymologie von franz. aujourd’hui 96 Abb. 13 Verlaufskurve für den Sprachwandel nach dem Piotrowski-Gesetz 103 Abb. 14 Determinanten von Sprachhandlungen als Ursachen für den Sprachwandel 107 Abb. 15 Ebenen des Sprachwandels 136 Abb. 16 Typen des Sprachwandels 139 Abb. 17 2-Ebenen-Modell der Bedeutung 202 Abb. 18 Bedeutungswandelprozess 204 Abb. 19 Euphemismus-Tretmühle am Beispiel des Wortes Krüppel 225 Abb. 20 Bedeutungshierarchie 242 Abb. 21 Intensionale und extensionale Bedeutungsveränderungen 243 Abb. 22 Phasen des Bedeutungswandels 258 Abb. 23 Übergeordneter Lexem-Frame für Maus 276 Abb. 24 Lesarten-Frame für Maus in der Lesart Tier 277 Abb. 25 Lesarten-Frame für Maus in der Lesart PC -Eingabegerät 278 Abb. 26 Tathandlungs-Frame in der Auslegung von mit Gewalt in der Rechtsprechung 1882 279 Abb. 27 Tathandlungs-Frame in der Auslegung von mit Gewalt in der Rechtsprechung 1982 280 Abb. 28 Frame-Darstellung der Metaphorisierung bei nhd. Maus 281 Abb. 29 Frame-Kollokationen der Begriffe Nation und Freiheit im ZEIT - Archiv der Jahre 1991 und 1992 283 <?page no="305"?> 305 Tabellenverzeichnis Tabellenverzeichnis Tabelle 1 Klassifikation der heutigen germanischen Sprachen 27 Tabelle 2 Germanische Lexeme im synchronen und diachronen Vergleich 28 Tabelle 3 Intra- und intersprachliche lexikalische Gemeinsamkeiten und Unterschiede im englischen, französischen und deutschen Grundwortschatz 31 Tabelle 4 Etymologie von franz. aujourd’hui 96 Tabelle 5 Systembedürfnisse des Sprachsystems 99 Tabelle 6 Soziale Bedingungen des Sprachwandels 116 Tabelle 7 Kognitive Bedingungen des Sprachwandels 119 Tabelle 8 Kreative Bedingungen des Sprachwandels 123 Tabelle 9 Beispiele für Sprachwandelfolgen in unterschiedlichen sprachlichen Subsystemen 137 Tabelle 10 Beispiele für lexikalischen und grammatischen Wandel heute 144 Tabelle 11 Parameter der Gebrauchsregel 194 Tabelle 12 Metonymische Grundmuster beim Bedeutungswandel 222 Tabelle 13 Euphemismen im Deutschen 227 Tabelle 14 Bedeutungsspezialisierung im Deutschen 247 Tabelle 15 Bedeutungsgeneralisierung im Deutschen 249 Tabelle 16 Erweitertes Paradigma der deutschen Modalverben 266 <?page no="306"?> 306 Literaturverzeichnis Literaturverzeichnis Albert, Georg (2013): Innovative Schriftlichkeit in digitalen Texten. 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Wolff, Gerhart (2009): Deutsche Sprachgeschichte von den Anfängen bis zur Gegenwart. 6., überarbeitete und erweiterte Auflage. Tübingen. <?page no="316"?> 316 Glossar Glossar Anglizismus. Unter einem Anglizismus versteht man einen aus der englischen Sprache entnommenen Ausdruck. Neben → Lexemen werden auch syntaktische Konstruktionen (z. B. up to date) als Anglizismen bezeichnet. Arbitrarität. Arbitrarität nennt man die willkürliche Festlegung des Verhältnisses von Ausdruck und Inhalt eines Wortes in der Saussureschen Zeichentheorie. Arbitrarität basiert auf Konvention und Vereinbarung. Autosemantikum. Ein Autosemantikum (auch Inhaltswort) ist im Gegensatz zum → Synsemantikum ein → Lexem mit eigenständiger, kontextunabhängiger Bedeutung (z. B. Baum). Auch bei isolierter Nennung lassen Autosemantika einen Rückschluss auf das Bezeichnete zu. Chat. Chats sind multimediale Kommunikationsformen im Internet und in den sozialen Netzwerken, die sich z. B. durch eine reduzierte Grammatik von alltagssprachlicher Kommunikation unterscheiden. Der Umfang der Äußerungen ist durch das Medium determiniert, so dass Chats in aller Regel kurz sind. Die Kürze der Sequenzen wird durch eine hohe Abfolge von Aktionen und Reaktionen kompensiert. Diachronie. Diachronie beschreibt als Betrachtungsebene der Sprachwandelforschung die Veränderungen eines Sprachsystems über einen bestimmten Zeitverlauf anhand des Vergleichs von Sprachzuständen in bestimmten Zeitintervallen. Siehe dazu auch → Synchronie. Emoticon. Ein Emoticon ist ein ikonisches Zeichen, das in → Chats verwendet wird, um Gefühle oder Stimmungslagen zum Ausdruck zu bringen. Am bekanntesten ist der Smiley zum Ausdruck von Freude. Emoticons kommen nicht nur in der digitalen Kommunikation vor, sondern bisweilen auch in handschriftlichen Texten. Es sind sprachökonomische Kommunikationselemente. Entität. Eine Entität bezeichnet einen konkreten oder abstrakten Gegenstand. Extension. Die Extension beschreibt den Begriffsumfang, der durch ein Wort repräsentiert wird. Sehr spezielle Wörter haben eine große → Intension, sind also durch viele semantische Merkmale bestimmt, umfassen aber nur eine kleine Menge an Entitäten, die diesen Merkmalen entsprechen. Generelle Begriffe (z. B. Oberbegriffe, allgemeine Begriffe) umfassen viele Entitäten, sind aber intensional nur durch wenige Merkmale bestimmbar. Extension und Intension verhalten sich umgekehrt proportional zueinander. <?page no="317"?> 317 Glossar Grammatik. Die Grammatik beschreibt als linguistische Teildisziplin die morphologischen und syntaktischen Regeln eines Sprachsystems. Grammatik ist dabei ein strukturelles Regelsystem, nach dem sich Sprachen bilden. Unter Grammatik versteht man zudem auch das Regelwerk selbst, in dem man diese Regeln nachschlagen kann. Grammatik ist jede Form der systematischen Sprachbeschreibung. Gegenstände der grammatischen Betrachtung sind a) die Gliederung sprachlicher Einheiten, also die Formenlehre von Wörtern (→ Morphologie), b) der Bau von Sätzen (→ Syntax), c) die Lautlehre (→ Phonologie) sowie d) die Bedeutungslehre (→ Semantik), soweit sie sich auf Regeln zum Aufbau von sprachlicher Bedeutung bezieht. Intension. Unter der Intension versteht man den sogenannten Begriffsinhalt. Die Intension ist bestimmt durch die Summe semantischer Merkmale, die zur Bezeichnung einer Entität dienen können. Dabei gilt: Je größer die Intension, desto kleiner die → Extension-- und umgekehrt. Kontext. Unter Kontext versteht man alle realen Elemente (sprachliche und außersprachliche), die in einer Kommunikationssituation systematisch die Produktion und die Rezeption einer Äußerung bestimmen (z. B. Ort, Zeit, Akteure etc.). Zum Kontext gehören auch sprachliche und außersprachliche Wissensbestände / Weltwissen. Kontiguität. Unter Kontiguität versteht man den kausalen (semantischen) Zusammenhang zwischen zwei Entitäten. Kontiguität repräsentiert die Relation von → Lexemen in einem Satz (z. B. wehen und Wind in der Wind weht heute schwach). Lexeme, die in einem Kontiguitätsverhältnis zueinander stehen, gehören semantisch zusammen. Abzugrenzen ist die → Similarität, die auf Ähnlichkeiten beruht. Lexem. Ein Lexem (Wort) ist eine selbständige sprachliche Einheit. In der natürlichen Sprache besitzt es-- im Gegensatz zu einem Laut oder einer Silbe-- eine eigenständige (lexikalische) Bedeutung. Lexeme werden im Lexikon einer Sprache zusammengefasst. Lexik. Die Lexik bezeichnet den Wortschatz (also das Lexikon) einer Sprache. Metapher. Eine Metapher ist ein sprachliches Bild, bei dem die Bedeutung eines Wortes aufgrund von Ähnlichkeiten von einem Sinnbereich auf einen (völlig) anderen übertragen wird (Sinnübertragung). Die metaphorisch verbundenen Ausdrücke gehören im Gegensatz zu den → Metonymien zu verschiedenen Wirklichkeitsbereichen (z. B. wird das Geräusch des Windes, da es der Lautäußerung eines Lebewesens ähnelt, als Flüstern oder Heulen bezeichnet). Abstrakte Sachverhalte können mit Hilfe von Metaphern verdeutlicht werden (z. B. begreifen). Metaphern basieren ebenso wie Metonymien auf Assoziationen. Sie sind entscheidend für kreatives Sprachhandeln. Metonymie. Bei der Metonymie (Sinnverschiebung) wird ein sprachlicher Ausdruck nicht in seiner wörtlichen Bedeutung, sondern in einem nichtwörtlichen, übertragenen Sinn <?page no="318"?> 318 Glossar gebraucht. Anders als bei der → Metapher beruht die Assoziation nicht auf Ähnlichkeit, sondern auf Verwandtschaft bzw. sachlicher → Kontiguität (z. B. Stellvertreterrelationen: Goethe lesen statt ein Buch von Goethe lesen). Der eigentliche Referenzbereich wird, auch wenn er komplex ist, bei der Metonymie im Gegensatz zur → Metapher nicht verlassen. Morphem. Ein Morphem ist die kleinste bedeutungs- oder funktionstragende (grammatische Funktion, z. B. Flexionsmorpheme) sprachliche Einheit einer Sprache. Wörter können aus Morphemen bestehen und ein Morphem kann auch ein Wort (→ Lexem) bilden. Morpheme spielen insofern bei komplexen Wortbildungsprozessen eine Rolle-- und damit auch beim Sprachwandel. Morphologie. Morphologie ist die Lehre von der äußeren Beschaffenheit sprachlicher Elemente. Sie ist damit ein Teilgebiet der → Grammatik. Die Morphologie befasst sich mit der inneren Struktur von Wörtern und widmet sich der Erforschung der kleinsten bedeutungs- und / oder funktionstragenden Elemente einer Sprache, der → Morpheme. Die Morphologie wird auch als Wortgrammatik (in Anlehnung an den Terminus Satzgrammatik für die → Syntax) bezeichnet. Paradigma. Ein Paradigma bezeichnet eine Austauschklasse sprachlicher Elemente (z. B. die austauschbaren Ausdrücke derselben Wortkategorie). So kann man das Verb gehen in Horst geht nach Hause durch fahren, laufen etc. austauschen. Dabei verändert sich der Sinn der Äußerung, nicht aber die grammatische Struktur. Zwischen Elementen des Paradigmas herrschen paradigmatische Beziehungen (der grammatischen oder semantischen Gleichheit oder Ähnlichkeit). Der Gegenbegriff ist das → Syntagma. Phon. Ein Phon ist die kleinste lautliche Einheit ohne bedeutungsbestimmende bzw. bedeutungsunterscheidende Funktion. Siehe dazu auch → Phonem. Phonem. Phonem (Laut) ist die Bezeichnung für die kleinste lautliche Einheit in einem Lautsystem (auch Phonemsystem). Phoneme haben eine bedeutungsunterscheidende Funktion. Zu unterscheiden hiervon sind die → Phone ohne bedeutungsunterscheidende Funktion. Phonetik. Die Phonetik untersucht die physische Hervorbringung von Lauten. Dabei stehen Aspekte der Artikulation im Vordergrund. Als empirische Teildisziplin erfasst sie auch phonetische Veränderungen in Folge des Sprachwandels. Phonologie. Die Phonologie (auch Lautlehre) erforscht in der Linguistik ganz allgemein die → Phoneme mit ihren Eigenschaften, einschließlich synchroner (→ Synchronie) und diachroner (→ Diachronie) Aspekte (Sprachwandel). Sie unterscheidet sich dabei von der → Phonetik, die sich auf Aspekte der reinen Sprachproduktion bezieht. Pragmasemantik. Die Pragmasemantik (oder auch praktische Semantik, pragmatische Semantik) verknüpft die Ausdrucksmit der Äußerungsbedeutung. Dieser Ansatz <?page no="319"?> 319 Glossar wird auch in der vorliegenden Einführung verfolgt. Insbesondere zur Erklärung semantischen Wandels (Bedeutungswandel) ist eine Verknüpfung von → Semantik und → Pragmatik notwendig, da es das eine ohne das andere nicht gibt. Sprache und Sprechen stehen immer in einem Zusammenhang des gesamten menschlichen Handelns, so dass auch Wort- oder Satzbedeutungen an ein solches Handeln gebunden sind. Die Pragmasemantik erweitert die reine Wortsemantik um Aspekte sprachlichen Handelns. Pragmatik. Die Pragmatik befasst sich im Gegensatz zur → Semantik nicht mit den Wort- oder Satzbedeutungen, sondern mit der Wort- oder Satzverwendung, also mit dem Gebrauch sprachlicher Ausdrücke in Äußerungssituationen. Die Pragmatik untersucht also das Verhältnis von sprachlichen Zeichen zu ihren Zeichenbenutzern. Dabei spielen auch soziolinguistische Fragestellungen eine Rolle (→ Soziolinguistik). Die Pragmatik befasst sich mit den Äußerungsbedeutungen und nimmt dabei den Kontext ins Visier, wogegen die Semantik allein die kontextunabhängigen Ausdrucksbedeutungen untersucht. Eine Trennung der beiden Teilbereiche ist schwierig, so dass sich die → Pragmasemantik als verbindende Disziplin durchgesetzt hat. Salienz. Salienz bezeichnet in der Linguistik die Eigenschaft von Merkmalen oder sprachlichen Einheiten, ohne kognitive Mühen verfügbar zu sein. Dass ein Elefant beispielsweise groß und schwer, eine Maus hingegen klein und leicht ist, sind saliente Teilaspekte der Wortbedeutungen für Elefant und Maus. Semantik. Unter Semantik als Teildisziplin der Linguistik versteht man die Lehre von den Wort- und Satzbedeutungen. Nicht das sprachliche Handeln wird in der Semantik betrachtet, sondern allein die Bedeutungsstruktur von Wörtern und Sätzen. Die Semantik beschäftigt sich mit der wörtlichen Bedeutung von (z. T. komplexen) sprachlichen Ausdrücken. Die Aspekte sprachlichen Handelns sind Gegenstand der → Pragmatik. Similarität. Similarität kennzeichnet in der Linguistik das semantische Verhältnis der Ähnlichkeit zwischen zwei Entitäten oder zwischen Referenzobjekt und der Bedeutung eines Wortes. Soziolinguistik. Die Soziolinguistik ist eine Teildisziplin der Sprachwissenschaft, die sich mit Sprache und Sprechen in verschiedenen sozialen Kontexten, Gruppen und Räumen befasst. So werden innerhalb der Soziolinguistik Gruppensprachen (wie die Jugendsprache) ebenso untersucht wie Dialekte oder Fachsprachen. In der Abgrenzung zur Standardsprache liegt das Augenmerk auf sprachlichen → Varietäten. Symbol. Symbole sind (sprachliche) Zeichen mit einer eigenständigen, konventionell festgelegten (und wandelbaren) Bedeutung. Symbole deutet man aufgrund der Kenntnis dessen, was sie symbolisieren. Es sind Zeichen, die mittels regelbasierter Schlüsse interpretiert werden. Im Gegensatz zum → Symptom werden sie willentlich erzeugt. Wörter sind sprachliche Zeichen mit Symbolcharakter. <?page no="320"?> 320 Glossar Symptom. Symptome (auch Indices, Signale, Anzeichen, natürliche Zeichen) sind Zeichen, die mittels kausaler Schlüsse interpretiert werden. Sie werden in aller Regel nicht intentional verwendet und haben weder einen Sender noch einen Empfänger. Rauch ist z. B. ein Symptom für Feuer, aber kein → Symbol. Synchronie. Synchronie betrachtet Sprachwandel im Gegensatz zur → Diachronie auf der Achse der Gleichzeitigkeit. Synchronie bezieht sich auf einen zeitlich fixierten Zustand. Dabei können relationale Vergleiche in einem fixen Gesamtzustand einer Sprache gezogen werden (z. B. dialektale Vergleiche zu einem festen Zeitpunkt). Synchrone Betrachtungen des Sprachsystems sind Momentaufnahmen, wogegen diachrone Betrachtungen Verlaufsbeobachtungen sind. Synsemantikum. Im Gegensatz zum → Autosemantikum handelt es sich beim Synsemantikum (auch Strukturwort) um ein Lexem, das erst im Zusammenspiel mit anderen Wörtern eine (klare) Bedeutung erhält. Bei isoliertem Auftreten trägt es zwar eine Bedeutung, diese wird aber nicht erkennbar. Synsemantika benötigen einen Kontext (z. B. Präpositionen, Konjunktionen, Modalverben). Synsemantika haben im Wesentlichen eine grammatische Funktion, wobei sie auch einen semantischen Gehalt in sich tragen. Syntagma. Das Syntagma bezeichnet in der Sprachwissenschaft eine Gruppe zusammenhängender sprachlicher Elemente in einer konkreten Äußerung (z. B. die Folge von Wörtern in einem Satz). Das Syntagma hat als Gegenbegriff das → Paradigma. Zwischen den Elementen eines Syntagmas herrschen syntagmatische Beziehungen (z. B. Subjekt-- Verb-- Objekt). Syntax. Unter Syntax versteht man die Lehre von den Sätzen und ihren Konstruktionsprinzipien. Die Syntax ist ein Teilbereich der → Grammatik und beschreibt ein System von Regeln, nach denen Sätze als komplexe Verbindungen von Einzelelementen (Morphemen, Wörtern, Satzgliedern) gebildet werden. Varietät. Eine Varietät ist eine Abweichung von der Standardsprache im Hinblick auf a) geografische Bezüge (z. B. Dialekte), b) den kommunikativen Kontext (z. B. Fachsprachen) oder c) die Gesellschaftsschicht (z. B. Jugendsprachen). Varietäten sind Untersuchungsgegenstand der → Soziolinguistik. <?page no="321"?> 321 Sachregister Sachregister AAbstrahierung 248-251, 296 Adaption 66, 158 Akkulturation 66 Allgemeinvorstellungen 182 intersubjektive 182, 289 Ambiguität 254, 258, 268 Anglizismus 110 f., 125, 135, 140, 150, 165 f. Approbationsphase 73 f., 101 Arbitrarität 44 Artefakt 40, 86 f., 89 f., 160 Assimilation 30, 120, 139 Autosemantika 181 BBedeutungs- -erweiterung 242-245, 247, 251, 260, 294 f., 301 -generalisierung 245, 249 -spezialisierung 247, 250 -verbesserung 175, 231, 233, 235, 238-241, 251, 294, 296, 301 -verengung 175, 242-245, 251, 294 f., 301 -verschlechterung 233 ff., 238, 240 f., 296, 301 Bedeutungstheorie 177 f., 180, 183, 187 f., 192, 270, 283, 289, 302 Gebrauchstheorie 177, 184, 186 f., 191, 283, 285, 288 f., 299-303 Referenztheorie 177-181, 288 f., 301 Vorstellungstheorie 177, 180, 182, 289, 301 Bedingungen Rahmen- 32, 81, 89 f., 92, 98, 106, 149 f., 159 f., 162, 196 sprachliche 36 Bedürfnisse kommunikative 68, 143 System- 99 Beeinflussung 26, 45 f., 53 f., 66, 71, 78, 109, 116, 143, 156, 192, 203, 238 Begriff konventionell 43 Ddefault-Wert / Standardwert 272 f., 275 f., 282-285, 299 f. Desemantisierung 259, 262, 264, 297 f. Determinismus 21 kultureller 208 Deutungsrahmen 282 f. diachron 28, 70 ff., 82 ff., 133, 151, 158, 173, 192, 255 Diachronie 79, 82 f., 104, 140, 166 f. Diathesenwandel 266 f., 298 Differenzierung 26, 89, 95, 177, 191, 245 f. Diffusion 66, 158 Diffusionsphase 73 Dimensionen des Sprachwandels 69 Drift zyklische 94, 96, 120 Dysphemismus 237, 240 EEffizienzprinzip 94 f. Ellipse 175, 223, 228 f., 293 Entlehnung 26, 100, 104, 108, 111, 113, 135, 137, 139, 149 f. Euphemismus 22, 123, 223-229, 232, 236 f., 293-296, 302 -Tretmühle 224 f., 237, 295 f. Evolution 34, 39, 158 Extension 241-246, 260 f., 295, 301 F <?page no="322"?> 322 Sachregister Fehler sprachliche 71, 75 f., 117, 127 f., 146, 163, 166, 172, 186, 196, 204, 288, 291, 301 fillers / Füllungen 273, 284 f., 300 Finalität 86 Fortschritt technischer 64, 66, 105, 207 f., 292, 302 Frame 171, 220, 269-286, 299 f., 302 f. -Semantik 269 f., 272, 274, 280, 283, 285 f., 299 f., 302 f. -Wandel 274 f., 282, 300 Frequenz 75, 101, 238 GGebrauchsregel 185 f., 188-193, 195 f., 198-201, 203 f., 206 f., 213 f., 216 f., 223, 225, 228, 235, 238, 244, 246 ff., 285, 289 ff., 303 Parameter der 191 f., 194 f., 200, 205, 235, 285, 290 f., 300 ff. Gefüge soziales 50, 109, 111, 193 Gemeinsprache 37, 41 f., 70, 110, 112 Generalisierung 242 f., 245, 247 ff., 251, 259 ff., 295, 298, 301 Grammatikalisierung 132, 139, 263 ff., 268, 298 HHomonymie 139, 175, 254 f. Hyperonymie 260 IImplikatur 223, 293 konversationelle 223 Initialphase 73 f. Innovation 72, 78, 106, 116, 158, 161, 207, 212, 221, 259 Intension 241 ff., 245 f., 261, 301 Interaktion sprachliche 110 Invention 66, 158 invisible-hand-Phänomen 89, 97 invisible-hand-Prozess 89-92, 160 ff., 175, 190, 195 ff., 200, 204, 227, 275, 284 f., 290 f. Ironie 223, 227 f., 293 Ithkuil 76 ff., 80, 99, 157, 159 KKausalität 86 Kiezdeutsch 37, 112 Kollokationen 282 f. Komplexität 9, 11, 56, 77, 99, 131, 133, 272, 286 grammatische 77, 132 f., 164 Konkretisierung 250 f. Kontamination 118 f. Konvention 25, 43 f., 60, 70 f., 78, 109, 127, 143 f., 146, 156, 163 f., 176, 179 Konventionalisierung 121, 127, 158, 163, 224 Konvergenz 26 Kopplung semantische 201, 203, 206, 216 Kräfte Diversifikations- 99 f. Unifikations- 99 Kreativität 34, 108, 121 ff., 143, 161 f., 168 Kulturwandel endogener 66 induzierter 80 LLinguistik Sozio- 36 synergetische 98, 100, 102, 104 MMakroebene 90, 92, 98, 294, 297 Maxime 107, 115, 122, 209, 256 Handlungs- 37, 51, 53, 57, 65 f., 71, 78, 81, 90, 92 f., 95, 97, 99, 101, 106 f., 110, 120, 124, 149 f., 157 ff., 163, 168 Hyper- 106 f., 109, 143, 172, 197 Konversations- 114 f., 197 <?page no="323"?> 323 Sachregister Mechanismus semantischer 175 Mehrdeutigkeit 115, 161, 253 f., 258, 268, 297 f., 303 Melioration / Meliorisierung 235, 239, 259, 262 f., 294 Merkmale semantische 171, 190, 241-244, 248, 250, 290, 295 Metapher 35, 38 f., 92, 119, 123, 133, 147, 162, 175, 199, 206, 215-219, 221 ff., 236, 277, 280, 282, 292 ff., 301 f. konventionelle 218 Metaphorisierung 215, 217, 236, 239, 245, 256, 259, 277, 281, 292, 294 Metonymie 119, 123, 162, 175, 206, 219-223, 268, 292 f., 301 f. Metonymisierung 215, 219, 294 Mikroebene 68 f., 90, 92, 294 Monosemie 298 NNeuerungsausbreitung 74, 101 Normierungsphase 73, 102 OÖkonomie 15, 99, 114 ff., 120, 124, 143, 158, 162, 199, 217, 220, 228 sprachliche 199, 228 Ordnung spontane 38, 55-59, 62 f., 88 ff., 98, 156 f., 160 Organon 49, 51 f., 156 f. PParadigmatisierung 264, 266, 298, 303 Paradoxon 64 f. Pejoration / Pejorisierung 113 f., 224, 227, 235 ff., 239, 259, 262 f., 294 Phänomene der dritten Art 87 ff., 160, 275 Natur- 40, 86 f., 89 f., 160 transitorische 62, 158 Pidginsprache 112, 162 Piotrowski-Gesetz 101, 103, 149 f., 160 f., 166 Polysemie 175, 254-260, 268, 297 ff. Prinzip allgemeines Ordnungs- 101 der Verschmelzung 95, 97 Ökonomie- 97, 120, 163, 197 Redundanz- 97 Prozess Kumulations- 90, 92, 106, 118 Selektions- 256, 297 RRegelkreis 98, 100 f., 160 f. Register 71, 102 sprachliches 70, 112 Relationen 52, 56, 82, 107, 115, 138, 150, 171, 177, 221, 254, 260, 280 semantische 175, 186, 253, 268, 298 SSignal-Negentropie 95 slots / Leerstellen 227, 265 f., 273, 284 f., 299 f. Sondersprache 24, 41 Spezialisierung 242-247, 250 f., 259, 261 f., 295, 298, 301 Spracharbeit 121 ff., 162 Sprachauffassung 33-38, 41, 68, 89, 156 organizistische 57, 157 Sprachkontakt 26, 85, 106, 108, 110 f., 113, 116, 120, 124, 126, 135, 160, 162, 209 Sprachstadien 83 f. intermediäre 83 Sprachverfall 9, 111, 145, 147 f., 165, 168 Sprachwandel externer 79, 123 -faktoren 72, 159, 166 -gesetz 92 ff., 97, 99, 101, 103 f., 114, 139, 160 f., 166 f., 174 interner 123 f. <?page no="324"?> 324 Sachregister reversibel 104 unvollständiger 102, 104 vollständiger 102, 104 Strategie 78 pragmatische 175 Symbol 14, 46, 50, 53, 134 ff., 157, 233 Symptom 46, 48 ff., 53, 135, 156 f., 220, 238 synchron 28, 70 f., 82 ff., 102, 128, 133, 142, 158, 255 Synchronie 79, 82 ff., 104, 166 f. Synsemantika 181, 289 TTradierung 67 f. Trendextrapolation 150 VVariante 24, 74, 84, 91, 102, 104, 157, 180, 197, 255, 257, 262, 276, 278 Variation 24, 72, 78, 84, 91, 151, 158 Verfahren assoziative 119, 197, 206, 215, 237 metonymisches 220 ff. semantische 175, 215, 293, 296, 298 f. Volksetymologie 118 f. W Wandel qualitativer 139 f. quantitativer 139 Wirklichkeit 21 f., 35, 41, 84, 176 f., 210 f. sprachliche 14, 37 Wissen verstehensrelevantes 269, 274 f., 278, 299 f. Wissensbestände 10, 13, 110, 117, 155, 196, 220 außersprachliche 24 sprachliche 22, 24, 28, 110, 117, 207 Wissensrahmen 171, 220 f., 270-275, 278, 284 f., 299 f. ZZeichen -haftigkeit 46, 156 sprachliches 43 f., 46, 49, 52 f., 55, 134 f., 156 f., 175-178, 180, 183, 258 f. Zwischenstufe 96, 237 f., 240 transitorische 62, 84 <?page no="325"?> ,! 7ID8C5-cefdgi! ISBN 978-3-8252-4536-8 Sascha Bechmann Sprachwandel - Bedeutungswandel Der Band führt leicht verständlich in einen zentralen Bereich der historischen Sprachwissenschaft ein. In zwei Hauptteilen werden die Grundbegriffe und -prinzipien des Sprach- und Bedeutungswandels erläutert. Im Vordergrund steht dabei vor allem die Frage, wie und warum sich Sprache wandelt. Der Band richtet sich gezielt an Studierende der gestuften Studiengänge und eignet sich durch die Gliederung in 14 Einheiten ideal als Seminargrundlage. Merksätze, Hervorhebungen, Warm-up-Fragen sowie Leitsätze und Übungsaufgaben erleichtern das Verständnis. Sprachwissenschaft Sprachwandel - Bedeutungswandel Bechmann Dies ist ein utb-Band aus dem A. Francke Verlag. utb ist eine Kooperation von Verlagen mit einem gemeinsamen Ziel: Lehrbücher und Lernmedien für das erfolgreiche Studium zu veröffentlichen. utb-shop.de QR-Code für mehr Infos und Bewertungen zu diesem Titel 45368 Bechmann_M-4536.indd 1 08.09.16 16: 53
