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Medienwandel

0118
2016
978-3-8385-4540-0
978-3-8252-4540-5
UTB 

Das Buch gibt Instrumente an die Hand, mit denen sich der Wandel der Medien beschreiben und erklären lässt. Der erste theoretische Teil fokussiert die Mediengeschichtsschreibung. Der Autor definiert zentrale Begriffe wie »Medien« und »Wandel« und zeigt, was die Veränderungen vorantreibt. Er entwirft zudem ein Modell des Medienwandels, das erklärt, wie Medien erfunden, etabliert, verbreitet und differenziert werden. Der zweite historische Teil besteht aus zwölf Fallstudien zu den Medien Film und Fernsehen, die unterschiedliche Aspekte des Medienwandels wie die Etablierung neuer Medieninstitutionen und -nutzungsformen, die Rolle der Mediennutzer für die Verbreitung und kulturelle Differenzierung der Medien sowie die Nationalisierung bzw. Globalisierung von Medienkulturen thematisieren. Liest man die Fallstudien chronologisch, setzt sich ein anschauliches Bild vom Wandel der Kino- und Fernsehkultur in Deutschland im 20. Jahrhundert zusammen.

<?page no="1"?> Eine Arbeitsgemeinschaft der Verlage Böhlau Verlag · Wien · Köln · Weimar Verlag Barbara Budrich · Opladen · Toronto facultas · Wien Wilhelm Fink · Paderborn A. Francke Verlag · Tübingen Haupt Verlag · Bern Verlag Julius Klinkhardt · Bad Heilbrunn Mohr Siebeck · Tübingen Nomos Verlagsgesellschaft · Baden-Baden Ernst Reinhardt Verlag · München · Basel Ferdinand Schöningh · Paderborn Eugen Ulmer Verlag · Stuttgart UVK Verlagsgesellschaft · Konstanz, mit UVK / Lucius · München Vandenhoeck & Ruprecht · Göttingen · Bristol Waxmann · Münster · New York utb 4540 <?page no="2"?> Joseph Garncarz Medienwandel UVK Verlagsgesellschaft mbH · Konstanz mit UVK / Lucius · München <?page no="3"?> Priv.-Doz. Dr. Joseph Garncarz lehrt am Institut für Medienkultur und Theater der Universität zu Köln. Er hat mehrere medienhistorische Bücher veröffentlicht und Forschungsprojekte geleitet. Online-Angebote und elektronische Ausgaben sind erhältlich unter www.utb-shop.de. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb.d-nb.de abrufbar. Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. © UVK Verlagsgesellschaft mbH, Konstanz und München 2016 Einbandgestaltung: Atelier Reichert, Stuttgart Titelfoto: Shutterstock.com Lektorat und Satz: Michael Ross, Köln Druck: Pustet, Regensburg UVK Verlagsgesellschaft mbH Schützenstr. 24 · 78462 Konstanz · Deutschland Tel. 07531-9053-0 · Fax 07531-9053-98 www.uvk.de UTB-Band-Nr. 4540 ISBN 978-3-8252-4540-5 (Print) ISBN 978-3-8463-4540-5 (EPUB <?page no="4"?> 5 Inhalt Einleitung........................................................................................................................7 Teil I: Instrumente zur Analyse des Medienwandels .................................. 11 1. Was sind Medien? ................................................................................................ 13 2. Was bedeutet Wandel? ........................................................................................ 33 3. Wie lässt sich Medienwandel beschreiben? ...................................................... 41 4. Was treibt den Medienwandel voran? .............................................................. 53 5. Wie lässt sich Medienwandel modellhaft repräsentieren? .............................. 65 Teil II: Fallstudien zum Wandel der Kino- und Fernsehkultur ................ 75 6. Mobiles Kino (1900er-Jahre) ............................................................................. 77 7. Kinotheater und -dramen (1910er-Jahre)......................................................... 89 8. Der Spielfilm und die Nationalisierung der Filmpräferenzen (1920er- und 1930er-Jahre) .............................................................................. 101 9. Soziale Differenzierung der Filmpräferenzen (1920er- und 1930er-Jahre) 111 10. Zur Übersetzung fremdsprachiger Filme (1930er-Jahre)............................. 121 11. Filmproduzenten von europäischem Ruf (1930er-Jahre) ............................ 131 12. Beginn der modernen Sportberichterstattung (1930er-Jahre) ..................... 139 13. Juden spielen Nazis in Hollywood (1940er-Jahre) ........................................ 149 14. C ASABLANCA im Kalten Krieg (1950er-Jahre) .............................................. 163 15. Der Wandel der T AGESSCHAU (1950er- und 1960er-Jahre) ........................ 175 16. Medien- und Generationswandel (1960erbis 1990er-Jahre)...................... 187 17. Globalisierung der Kinokultur (1970erbis 2000er-Jahre) .......................... 205 Anhang..................................................................................................................... 215 Anmerkungen .......................................................................................................... 217 Literatur ................................................................................................................... 235 Index ........................................................................................................................ 243 <?page no="6"?> 7 Einleitung Was sind Medien? Wie und warum wandeln sich Medien? Wie kann ich das selbst herausfinden? Ziel dieses Buchs ist es, auf diese und ähnliche Fragen plausible Antworten zu geben. Das Wissen um das Vergangene ist ein wichtiges Orientierungsmittel für Menschen. Wenn ein Mensch seine Erinnerung verliert (etwa bei einer Demenz), dann verliert er seine Identität und kommt im Leben nicht mehr zurecht - zumindest nicht ohne die Hilfe anderer. Der Blick zurück in die Geschichte ermöglicht zugleich den klareren Blick in die Zukunft. Um uns optimal orientieren zu können, brauchen wir nicht nur ein verlässliches Wissen über die Vergangenheit, sondern zunächst einmal die methodische Fähigkeit, ein Wissen über unsere Vergangenheit zu bilden. Das Wissen um Mediengeschichte ist auch die Voraussetzung dafür, auf den Prozess des Medienwandels einen wie auch immer gearteten Einfluss nehmen zu können. Keine Person oder Institution - wie stark auch immer ihre Position in Wirtschaft und Gesellschaft sein mag - kann den Prozess der Etablierung und Verbreitung eines neuen Mediums allein kontrollieren und gestalten. Ein solcher Prozess ist immer von einer Vielzahl von Menschen abhängig, die Medienangebote machen und diese wahrnehmen. Je besser man den Medienwandel versteht, desto größer wird die Chance, ihn selbst beeinflussen zu können. Einführende Bücher zur Mediengeschichte konzentrieren sich entweder auf die Geschichte der Theorien oder auf eine Geschichte der Fakten. 1 Das vorliegende Buch möchte hier eine Lücke füllen, indem es den Lesern Instrumente an die Hand gibt, wie sich der Wandel der Medien beschreiben und erklären lässt. Das Buch gliedert sich in zwei Teile, einen theoretisch-systematischen und einen historischen. Im ersten Teil des Buchs wird erklärt, wie wir ein Wissen über den Wandel der Medien bilden können. Hierzu werden die Begriffe Medien und Wandel erläutert sowie methodologische Fragen der Medienhistoriografie diskutiert. Als Medienhistoriografie wird die Erforschung der Mediengeschichte bezeichnet. Es wird ein Modell des Medienwandels entworfen, das begreifen hilft, wie Medien erfunden, etabliert, verbreitet und differenziert werden und warum sich die Entwicklungsdynamik unterschiedlicher Medien in verschiedenen Zeiten und Kulturen unterscheidet. Der zweite Teil des Buchs besteht aus zwölf Fallstudien. Sie thematisieren unterschiedliche Aspekte des Medienwandels wie die Etablierung neuer Mediennutzungsformen und -institutionen, die Rolle der Mediennutzer für die Verbreitung <?page no="7"?> Einleitung 8 und kulturelle Differenzierung der Medien sowie die Nationalisierung bzw. Globalisierung von Medienmärkten und -kulturen. Die Studien sind chronologisch organisiert, sodass das erste Beispiel aus der Zeit um 1900 und das letzte aus der Zeit um 2000 stammt. Da die Fallstudien thematisch ausgerichtet sind, sind zeitliche Überschneidungen zwischen einzelnen Studien nicht immer zu vermeiden. Da die Verwendungsweise über das kulturelle Profil und die Funktion der Medien entscheidet, lassen sich Medien nicht losgelöst von ihrem gesellschaftlichen, kulturellen und historischen Kontext analysieren. Die Fallstudien stellen die Medien in diese Kontexte und nähern sich ihrem Gegenstand daher nicht philosophisch, sondern kultur- und sozialwissenschaftlich. Ich wähle Deutschland im 20. Jahrhundert als Kontext und konzentriere mich aufgrund meines eigenen Forschungsschwerpunkts auf die Medien Film und Fernsehen. Für die Fallbeispiele selbst wurden im Lauf der vergangenen 20 Jahre umfangreiche und grundlegende Recherchen durchgeführt, sodass jede Fallstudie das bisher in dem entsprechenden Bereich verfügbare Wissen erweitert bzw. revidiert. Der systematische Teil beruht nicht nur auf einer Auseinandersetzung mit der Forschungsliteratur, sondern auf jahrzehntelanger, eigener Forschungsarbeit zum Medienwandel. Im systematischen Teil wird immer wieder auf die Fallbeispiele im zweiten Teil des Buchs Bezug genommen (insbesondere in den hervorgehobenen Kästen). Grundsätzlich können Sie dieses Buch linear lesen oder Ihre Lektüre im systematischen Teil unterbrechen, um den jeweiligen Querverweisen zu folgen. Wenn Ihnen das systematische Vorgehen weniger liegt, können Sie auch vorab einige der Fallstudien lesen (beginnen Sie etwa mit Kapitel 15, das zeigt, wie die T AGES- SCHAU als Nachrichtensendung etabliert wurde, um einen Eindruck davon zu gewinnen, was Medienwandel ist und wie man ihn beschreiben und erklären kann). Das Wissen um den Wandel der Medien ist nicht in dem Sinn praxisrelevant, dass man es im Berufsalltag unmittelbar anwenden kann. Das Wissen um den Wandel der Medien ist vielmehr ein Orientierungswissen, das für den Umgang mit Medien von mittelbarer Bedeutung ist. Die mediale Unterhaltung - über Fernsehen, DVD/ Blu-Ray oder das World Wide Web - gehört in den meisten Haushalten zum Alltag. In den meisten Berufen gehört der Umgang insbesondere mit Kommunikations- und Wissensmedien zu den selbstverständlichen Arbeitsmitteln. »Die Beherrschung moderner Informations- und Kommunikationstechnologien wird zu einer basalen Kulturtechnik werden, deren Stellenwert dem Lesen und Schreiben gleichkommt.« 2 Um eine solche Medienkompetenz zu erwerben, braucht man neben einem technischen und sozialen Wissen auch ein Wissen um die Geschichtlichkeit der Medien. <?page no="8"?> Einleitung 9 Zwei Bemerkungen zum Abschluss dieser Einleitung: Dieses Buch verzichtet auf einen ausführlichen Literaturbericht und führt stattdessen problemorientiert in die Mediengeschichte ein. Die Sicht des Autors ist dabei von den Fachgegenständen und -methoden geprägt, die er vertritt. Als Theater-, Film- und Fernsehwissenschaftler stellt er daher Programmmedien in den Vordergrund. Dieses Buch gibt nicht in allen Punkten den Forschungskonsens wieder, sondern folgt den Überzeugungen des Autors. Diese beruhen auf einer Fülle film- und fernsehhistorischer Forschungen, von denen einige in diesem Buch als Fallbeispiele erläutert werden. Für die Fallbeispiele wurden umfangreiche und grundlegende Recherchen durchgeführt, deren Ergebnisse den mit der Sekundärliteratur vertrauten Leser womöglich überraschen werden. Es bleibt dem Leser überlassen, sich selbst eine Meinung darüber zu bilden, ob er sich von den in diesem Buch gemachten Argumenten überzeugen lässt. Die Ursprünge dieses Buchs liegen in einem Studienbrief, den der Autor vor einigen Jahren für den Fernstudiengang »Management von Kultur- und Non-Profit-Organisationen« an der Technischen Universität Kaiserslautern geschrieben hat und der ohne die Anregung und Unterstützung von Gebhard Rusch und Thomas Heinze nie entstanden wäre. Ihnen gilt mein besonderer Dank. Viele haben Anregungen geliefert, darunter Studierende des Studiengangs, mit denen ich im Lauf der Jahre etliche Präsenzveranstaltungen durchführen durfte. Mein Dank gilt zudem Peter Krämer, der meine Arbeit über viele Jahre hin begleitet hat, und Michael Ross für seine Kritik und das sorgfältige Lektorat. Nicht zuletzt danke ich meinem Lektor von der UVK Verlagsgesellschaft, Rüdiger Steiner, dessen kompetenter Rat dem Buch zugute gekommen ist. Irrtümer liegen allein in der Verantwortung des Autors. <?page no="10"?> 11 Teil I Instrumente zur Analyse des Medienwandels Im theoretisch-systematischen Teil des Buchs wird gezeigt, wie sich Mediengeschichte sinnvoll schreiben lässt. Zu diesem Zweck werden zentrale Begriffe wie Medien und Wandel erläutert und gezeigt, was den Medienwandel vorantreibt. Zudem wird ein Modell des Medienwandels entworfen, das begreifen hilft, wie Medien erfunden, etabliert, verbreitet und differenziert werden. <?page no="12"?> 13 1. Was sind Medien? Jede Forschung sollte damit beginnen, dass Fragen gestellt werden. Wer nicht fragt, kann auch nichts herausfinden. Der Autor dieses Buchs ist der Auffassung, dass in der Medien- und Kommunikationswissenschaft viel zu wenig Fragen gestellt werden. Vor allem mangelt es an Kinderfragen, also an Fragen, die auf Grundsätzliches zielen, wie zum Beispiel: Was sind Medien? Was bedeutet Wandel? Wie und warum wandeln sich Medien? Der Medienbegriff hat heute eine große Fülle verschiedener Bedeutungen. Als Medien gelten so unterschiedliche Phänomene wie Geld und Liebe, Menschen mit paranormalen Fähigkeiten wie Geisterseher, Träger physikalischer Vorgänge wie Luft oder Wasser, das Hintergrundrauschen des Weltalls infolge des Urknalls, die Mode oder die Haartracht, Mittel der Kommunikation wie Sprache und Schrift, Technologien der Informationsübermittlung wie Rundfunk, Druck und Fernsehen, Nutzungsformen wie Buch und Zeitung sowie Institutionen wie Kino und Fernsehen. Eine Begriffsdefinition ist umso notwendiger, je mehrdeutiger ein Begriff ist. Definiert man den Begriff Medien nicht hinreichend, wird es zwangsläufig zu Missverständnissen kommen, weil man über ganz unterschiedliche Phänomene spricht, dies aber den Gesprächsteilnehmern nicht hinreichend deutlich ist. Nur wenn man den Begriff hinreichend klar und für den jeweiligen Kontext zweckmäßig definiert, kann man sich über die Sache so auseinandersetzen, dass prinzipiell ein Austausch von Argumenten zu einem Lernprozess führt. Einen Begriff für den jeweiligen Kontext zweckmäßig zu definieren, bedeutet nicht automatisch, ihn so zu fassen, dass er für alle Zeiten und Kulturen gilt. Oft ist es sinnvoll, Begriffe so zu fassen, dass für bestimmte Zeiten und Kulturen primäre (mit anderen Worten: dominante oder typische) Merkmale (z. B. einzelner Medientechnologien wie dem Film) bestimmt werden. Ziel dieses Kapitels ist es, den Medienbegriff so klar zu definieren und die Funktionen von Medien so klar voneinander zu unterscheiden, dass hinreichend deutlich wird, was den Gegenstand der Medienhistoriografie ausmacht. Um die Kommunikation weniger störanfällig zu gestalten, soll hier keine Terminologie für Spezialisten im Elfenbeinturm entwickelt, sondern eine Definition gewählt werden, die sich an der dominanten Verwendungsweise des Begriffs in der Alltagssprache orientiert. <?page no="13"?> Instrumente zur Analyse des Medienwandels 14 Zur Karriere eines Begriffs Der Begriff Medien hat ohne Zweifel Karriere gemacht. Wurde er Anfang des 20. Jahrhunderts noch selten verwendet, so ist er zu Beginn des 21. Jahrhunderts in aller Munde. Der Begriff wird jedoch nicht nur deutlich häufiger verwendet, sondern hat auch einen fundamentalen Bedeutungswandel erfahren. Ein Blick in einschlägige Enzyklopädien gibt einen ersten Eindruck der Begriffsgeschichte: Meyers Großes Konversationslexikon von 1905-1909 definiert den Begriff Medium folgendermaßen: »Med um (lat.), Mitte, Mittel, etwas Vermittelndes; in der griechischen Sprache ein eignes Genus des Verbums (s[iehe] d[ort]); in der spiritistischen Weltanschauung jemand, der den Verkehr mit der Geisterwelt vermittelt ( Spiritismus); flanellartiger Wollenstoff für Frauenjacken u. dgl. mit 18- 22 Fäden auf 1 cm aus Streichgarnen 14,000 m auf 1 kg.« 3 In den älteren indogermanischen Sprachen wurde die Art, in der sich das Subjekt zur Welt verhält, durch eine bestimmte Form des Verbs ausgedrückt. »Es gab dafür zwei Reihen von Formen: für das aktive Verhältnis oder Activum und für das Medium, d. h. für dasjenige Verhältnis, wobei das V[erbum] in der reflexiven oder einer sonstigen besonders nahen Beziehung zum Träger der Aussage steht. Auch das Passivum konnte mit den letztern Formen bezeichnet werden. Auch diese Verhältnisse, das sogen[annte] Genus des Verbums, gelangten an den Endungen zum Ausdruck.« 4 Als Medium galt also die Form des Verbs, die deutlich macht, dass sich die Aussage in einem besonderen Maß auf den Sprecher selbst bezieht. Meyers online definiert den Begriff Medium einhundert Jahre später so: »1. [lateinisch ›Mitte‹] das, Plural Medien, allgemein: Mittel, vermittelndes Element. 2. [lateinisch ›Mitte‹] das, Plural Medien, Kommunikationswissenschaft: jedes Mittel der Publizistik und Kommunikation ( Medien). 3. Physik: Träger physikalischer oder chemischer Vorgänge, insbesondere im Sinne der Vermittlung von Wirkungen (z. B. Luft als Träger von Schallwellen); häufig synonym mit ›Stoff‹, ›Substanz‹ verwendet. Elektromagnetische, Gravitations- und Materiewellen breiten sich ohne Medium aus. 4. Parapsychologie: ein Mensch mit paranormalen Fähigkeiten. ( Okkultismus, Parapsychologie, Spiritismus)« 5 <?page no="14"?> 1. Was sind Medien? 15 Unter »Medien (Publizistik)« heißt es: »Medien [lateinisch], Vermittlungssysteme für Informationen aller Art (Nachrichten, Meinungen, Unterhaltung), die durch die Neuen Medien starke Erweiterung erfahren haben; im engeren Sinn die Massenmedien ( Massenkommunikation).« 6 Die Bedeutung des Begriffs Medium bleibt im 20. Jahrhundert zumindest in zweierlei Hinsicht konstant: Der Begriff wird im Sinn von »vermittelndes Element« unverändert verwendet, und zudem bleibt die parapsychologische Verwendung des Begriffs als konkrete Objektbedeutung bestehen. Zu diesen tradierten Bedeutungen kommen im Verlauf des 20. Jahrhunderts neue Bedeutungen hinzu, die die älteren, wenn nicht verdrängen, so doch im alltäglichen Sprachgebrauch überlagern. Eine hervorragende Quelle für Wortbedeutungen ist über Enzyklopädien hinaus das Digitale Wörterbuch der deutschen Sprache des 20. Jahrhunderts (DWDS), das über rund 80.000 Texte mit 100 Millionen Wörtern verfügt. 7 Die Texte entstammen den Textsorten Belletristik, Gebrauchsliteratur, Zeitung und Wissenschaft. Sie verteilen sich gleichmäßig auf alle Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts. Wertet man dieses Textkorpus aus, kann man grundlegende Aussagen über den Wandel des Medienbegriffs machen. Der Begriff Medium wird erst seit den 1980er-Jahren inflationär verwendet. Taucht er im Textkorpus seit 1900 etwa 100-mal pro Jahrzehnt auf, so steigert sich die Nutzung in den 1990er-Jahren um den Faktor 10. Die häufigere Verwendung des Begriffs in den 1980er- und 1990er-Jahren erfolgt nicht primär in der Belletristik oder in der Gebrauchsliteratur, sondern in journalistischen und wissenschaftlichen Texten. Der Begriff wird - wie auch die zitierten Enzyklopädie-Artikel zeigen - Anfang des 20. Jahrhunderts in aller Regel nur im Singular gebraucht, Ende des 20. Jahrhunderts aber ganz überwiegend im Plural. Der Begriff, der sich Anfang des 20. Jahrhunderts überwiegend auf konkrete Objekte bezog (»ein Genus des Verbums«, »jemand, der den Verkehr mit der Geisterwelt vermittelt«, »flanellartiger Wollenstoff«), wird am Ende des Jahrhunderts in einem stärkeren Maß als ein Begriff auf einem höheren Syntheseniveau verwendet (»jedes Mittel der Publizistik und Kommunikation«, »Träger physikalischer oder chemischer Vorgänge«). Die häufigste Verwendung des Begriffs in den 1990er-Jahren bezieht sich auf die sogenannten Massenmedien Presse, Rundfunk und Fernsehen. Der Begriff zielt dabei in aller Regel nicht auf Unterhaltung, sondern auf aktuelle Berichterstattung und Meinungsbildung (weshalb der Film in einer solchen Aufzählung in aller Regel nicht auftaucht). Da es oft um eine wertende Benennung einer Wirkungsmacht von Presse, Rundfunk und Fernsehen geht, ist in der Regel von »den Medien« (und nicht etwa vom einzelnen Medium) die Rede. <?page no="15"?> Instrumente zur Analyse des Medienwandels 16 Wortverlauf Medien im 20. Jahrhundert nach der Zahl der Nennungen im Kernkorpus des Digitalen Wörterbuchs der deutschen Sprache des 20. Jahrhunderts (www.dwds.de) Basisbegriffe Je mehrdeutiger und abstrakter ein Begriff ist, desto sorgfältiger muss man darauf achten, dass er klar definiert wird. Es gibt nicht die richtige Definition; es gibt nur konkurrierende Definitionen. Allerdings gibt es sinnvollere und weniger sinnvolle Definitionen. Eine Definition ist dann sinnvoll, wenn sie als Basiskonsens einer Gegenstandsbeschreibung zwischen Kommunikationspartnern dient und damit eine Wissensbildung bzw. -vermittlung über den jeweiligen Gegenstand befördert. Dieses Buch folgt nicht dem in Teilen der deutschen Medienwissenschaft anzutreffenden Trend, den Medienbegriff im Sinn der ursprünglichen lateinischen Bedeutung als »Mittel, etwas Vermittelndes« auf einer sehr hohen begrifflichen Syntheseebene zu fassen. Wenn man mit einem derart abstrakten Medienbegriff arbeitet, wird der Gegenstand der Medienwissenschaft unscharf, da Urknall und Mode, Geld und Luft, Rundfunk und Liebe nur so viel miteinander zu tun haben, dass sie »etwas vermitteln«. Je unpräziser der Medienbegriff definiert wird, desto rätselhafter wird, was der Gegenstand der Medienwissenschaften (und damit auch der der Medienhistoriografie) ist. Je unklarer die Konzeptualisierung des Gegenstandsbereichs einer wissenschaftlichen Disziplin jedoch ist, desto weniger relevant dürfte diese Disziplin für die Gesellschaft sein. <?page no="16"?> 1. Was sind Medien? 17 Als Medien werden in diesem Buch technische Verbreitungsmittel von Informationen von Mensch zu Mensch, ihre Nutzungsformen sowie die Institutionen, die sie verwenden bzw. hervorbringen, verstanden. Als technische Mittel gelten hier von Menschen gemachte, aus Werkstoffen bestehende Systeme (wie z. B. Druckerpresse, Filmkamera und -projektor, Fernseher, Smartphone, Computer), die mechanisch, elektrisch oder elektronisch funktionieren. Der Informationsbegriff wird hier semantisch definiert; eine Information ergibt für Produzenten und Rezipienten »Sinn«. Es geht also um die nachrichtentechnische Übertragung von Bits und Bytes nur insofern, als damit eine codierte Bedeutung übertragen wird. Die Information hat für die Produzenten und Rezipienten eine Bedeutung, wobei es nur darum geht, dass der Empfänger die Botschaft versteht, nicht um deren Wert für den Empfänger. Weder muss eine Information den Empfänger interessieren noch muss er mit ihr einverstanden sein. Im Folgenden soll die Definition hinsichtlich ihrer drei Teilaspekte, der Technologie, Nutzungsform und Institution, erläutert werden. Als Medientechnologien werden alle technischen Mittel bezeichnet, die zur Übermittlung von Informationen zwischen Menschen dienen. Im Vergleich zum Begriff Technik wird der Begriff Technologie hier als ein Begriff auf einer höheren Syntheseebene verwendet. Als Technologie (altgr. téchne »Fähigkeit, Kunstfertigkeit, Handwerk« und lógos »Lehre, Vorgehensweise«) wird hier nicht die Lehre der Technik, sondern die Anwendung von komplexen Techniken verstanden, um ein bestimmtes Ziel zu erreichen. So bedient sich etwa die klassische Filmtechnologie physikalischer, chemischer und wahrnehmungspsychologischer Kenntnisse, um mittels diverser Techniken wie des intermittierenden Filmtransports eine Bewegtbildaufnahme bzw. -wiedergabe zu erreichen. Der Begriff Technologie tritt im Deutschen meist in Wortkombinationen auf, etwa bei Gentechnologie, Biotechnologie oder Medientechnologie, und bezeichnet komplexe Techniken, die in diesen besonderen Bereichen zur Anwendung kommen, um bestimmte Probleme zu lösen. Technologien wie der Druck, der Film und der Rundfunk sind in diesem Sinn Medientechnologien, da mit ihnen Informationen verbreitet werden. Als Druck bezeichnet man die Reproduktion von Texten oder Bildern durch Übertragung von Druckfarben mittels einer Druckform auf einen zu bedruckenden Stoff (wie Papier). Als Film werden sequenziell, auf einer mit einer lichtempfindlichen Emulsion beschichteten, transparenten Folie aufgenommene Bilder verstanden, die so wiedergegeben werden, dass eine perfekte Bewegungsillusion entsteht. Unter Rundfunk versteht man die Übertragung von Tönen, unter Fernsehen die Übertragung von Bildern mittels elektromagnetischer Wellen, wobei der Rezipient sie in dem Moment empfängt, in dem sie gesendet werden. Ein Problem solcher Definitionen ist, dass sie sich selbst mit dem Wandel der Medientechnologien verändern können. Filme werden heute überwiegend digital <?page no="17"?> Instrumente zur Analyse des Medienwandels 18 und nicht mehr auf lichtempfindlichen Folien, den Filmstreifen, aufgenommen, und Fernsehbilder werden nicht mehr analog, sondern digital als Nullen und Einsen codiert, gesendet und decodiert. Das Verständnis solcher Definitionen wird zudem dadurch erschwert, dass mit den Begriffen Film, Rundfunk und Fernsehen heute kaum mehr die Medientechnologien, sondern vielmehr die Mediennutzungsformen bzw. -institutionen assoziiert werden. Ist vom Film die Rede, denken wir heute in erster Linie an den abendfüllenden Spielfilm, dessen Entstehung und Etablierung in Kapitel 8 behandelt wird, und kaum mehr an die Medientechnologie, ohne die diese Nutzungsform nicht hätte entstehen können. Harry Pross differenziert Medien danach, ob sich nur der Sender oder auch der Empfänger einer Technologie bedient: »Wir nennen Sekundärmedien solche Kommunikationsmittel, die eine Botschaft zum Empfänger transportieren, ohne dass der ein Gerät benötigt, um die Bedeutung aufnehmen zu können, also Bild, Schrift, Druck, Graphik, Fotographie, auch in ihren Erscheinungen als Brief, Flugschrift, Buch, Zeitschrift, Zeitung - alle jene Medien also, die nach einem Gerät, der Druckerpresse, als Presse im weitesten Sinn bezeichnet werden.« 8 Als tertiäre Medien fasst Pross Telegrafie, Film, Radio und Fernsehen zusammen: »Eine dritte Gruppe, bei deren Gebrauch sowohl Sender wie Empfänger Geräte benötigen, beginnt mit der elektrischen Telegraphie und umfasst die elektronischen Kommunikationsmittel. Sie heißen tertiäre Medien.« 9 Als primäre Medien, bei denen keiner der Kommunikationspartner technische Hilfsmittel benutzt (z. B. ein Gespräch von Angesicht zu Angesicht), bezeichnet Pross alle »Mittel des menschlichen Elementarkontaktes« wie Sprache, Weinen und Lachen. Primäre Medien sind im oben definierten Sinn jedoch keine Medien, da sie keiner Technologie bedürfen. Der Begriff der Medientechnologie kann auch in anderer Hinsicht weiter ausdifferenziert werden: Alle Medientechnologien verbreiten Informationen, nur einige können sie jedoch auch speichern oder verarbeiten. Technische Verbreitungsmittel von Informationen lassen sich hinsichtlich der Frage differenzieren, ob sie nicht nur der Verbreitung von Informationen dienen, sondern darüber hinaus auch ihrer Speicherung bzw. Verarbeitung. Mit dem Computer lassen sich Informationen, die über das Internet übermittelt werden, auch verarbeiten, indem man mit den übermittelten Daten etwa eine Tabellenkalkulation durchführt. Mit Film kann man Bilder speichern, die Übertragungstechnik Fernsehen speichert dagegen keine Bilder - hier sind zusätzliche Technologien zur Aufzeichnung erforderlich wie der Film bzw. der Videorekorder, der erst nach der Etablierung des Fernsehens als Institution entwickelt wurde. Speicherung und Verarbeitung sind <?page no="18"?> 1. Was sind Medien? 19 also keine notwendigen Bedingungen, um eine Technologie als Medium zu bezeichnen. Folgt man der oben gegebenen Definition des Begriffs Medien, sind nicht alle Technologien auch Medientechnologien. Die Brille, das Fernglas, das Nachtsicht- oder Hörgerät zum Beispiel, die in Teilen der Medienwissenschaften als Medien verstanden werden, sind keine Medientechnologien, da mit ihnen keine Informationen zwischen Menschen vermittelt werden. Sie lassen sich besser als technische Hilfsmittel der Wahrnehmung begreifen, die die eigene Sinneswahrnehmung optimieren. Wer kurzsichtig ist, braucht eine Brille, um Dinge, die nicht im unmittelbaren Nahbereich liegen, klar sehen zu können. Wer gut sieht, aber auch nachts im Dunkeln den Überblick bewahren muss (wie zum Beispiel die Polizei oder Naturforscher), bedient sich eines Nachtsichtgeräts, um die visuelle Wahrnehmung zu verbessern. Auch Sprache und Schrift dienen dazu, Informationen zwischen Menschen zu vermitteln. Sie sind jedoch im definierten Sinn deshalb keine Medien, weil sie für die Übermittlung von Informationen nicht auf eine Technologie angewiesen sind. Sprache und Schrift sind symbolische Repräsentationssysteme; 10 Sprache arbeitet mit lautlichen Symbolen, Schrift mit visuellen. Wie Medien sind Sprache und Schrift menschengemacht und zudem gesellschaftlich-kulturell differenziert. Es gibt eine große Sprachenvielfalt und eine deutlich geringere Vielfalt bei den Schriftsymbolen. Auch wenn Sprache und Schrift im hier definierten Sinn keine Medien sind, so ist eine Sprach-, Lese- und Schreibkompetenz oft eine entscheidende Voraussetzung medialer Kommunikation. Man muss lesen können, um ein Buch zu verstehen, und man muss die Sprache verstehen, in der es geschrieben ist, um die Botschaft entschlüsseln zu können. Man muss die Sprache(n), die der Adressat versteht, beherrschen, damit die E-Mail, die man schreibt, auch verstanden wird. Als Medien werden in diesem Buch nicht nur technische Verbreitungsmittel von Informationen von Mensch zu Mensch verstanden, sondern auch deren Nutzungsformen sowie die Institutionen, die sie verwenden bzw. hervorbringen. Mediennutzungsformen sind kulturell klar definierte Verwendungsweisen von Medientechnologien. Nutzungsformen der Medientechnologie Druck sind zum Beispiel die Zeitung und die Zeitschrift, wohingegen der Spielfilm eine Nutzungsform der Medientechnologie Film und die Nachrichtensendung des Hörfunks eine Nutzungsform der Medientechnologie Rundfunk darstellt. Man kann Nutzungsformen unterschiedlicher Ordnung unterscheiden. Das Buch ist eine Nutzungsform der Technologie Druck, Roman und Sachbuch wiederum unterschiedliche Formen des Buchs. Eine Nutzungsform der Technologie Film ist der Spielfilm, bei dem sich wiederum verschiedene Genres wie zum Beispiel Komödien, Thriller oder Kriminalfilme unterscheiden lassen. Diese lassen sich wiederum in verschiedene Subgenres differenzieren, Komödien etwa in Slap- <?page no="19"?> Instrumente zur Analyse des Medienwandels 20 stick, Screwball-Komödien und Verwechslungskomödien. Welche Nutzungsformen sich herausbilden, ist von der Nachfrage der Mediennutzer abhängig und damit kulturell und zeitlich differenziert. So bildet sich das Genre der Screwball- Komödie mit Filmen wie I T H APPENED O NE N IGHT (1934) und A RSENIC AND O LD L ACE (1944) in den Vereinigten Staaten von Mitte der 1930erbis Mitte der 1940er-Jahre aus. Damit eine Medientechnologie unterschiedliche Funktionen wie zum Beispiel Kommunikation oder Unterhaltung übernehmen kann, muss sie institutionalisiert werden. Als Medieninstitutionen werden gesellschaftliche Einrichtungen wie das Kino, das Fernsehen oder das Internet bezeichnet, die Verwendungsweisen der Medientechnologie wie Nutzungs- und Programmformen definieren. Indem die Institutionen die Verwendungsweisen der Medientechnologie definieren, lenken sie das Verhalten der Medienproduzenten und -nutzer. Sie legen ihren Handlungsrahmen fest und damit ihre Möglichkeiten, mit den Medientechnologien bzw. -nutzungsformen umzugehen. Medieninstitutionen bringen Nutzungsformen hervor und verwenden diese aus unterschiedlichen Gründen, also z. B. um Geld zu verdienen, Menschen zu unterhalten und zu informieren oder um ihnen die Möglichkeit zu geben, sich mit anderen auszutauschen. Indem sie Medientechnologien und -nutzungsformen in einer bestimmten Art verwenden, entstehen klar konturierte soziale und kulturelle Profile der Institutionen. Die Zeitung etabliert sich als Nachrichtenmedium, der Film als Unterhaltungsmedium und das World Wide Web als multimedialer Dienst (mit Text-, Bild- und Tondokumenten). Wie man Nutzungsformen unterschiedlicher Ordnung unterscheiden kann, so lassen sich auch Institutionen unterschiedlicher Ordnung differenzieren - wobei man formell geregelte Institutionen auch als Organisationen bezeichnet. Kann man das Fernsehen als Medieninstitution bezeichnen, so lassen sich wiederum private von öffentlich-rechtlichen Organisationen unterscheiden. Zu den öffentlich-rechtlichen Sendern zählen u. a. ARD und ZDF, zu den privaten RTL und Sat1. Ist das World Wide Web eine Institution, so lassen sich Organisationen identifizieren wie Alphabet Inc. oder die Wikimedia Foundation, die das Netz nutzen, um die Suchmaschine Google bzw. die Wikipedia zu betreiben. Was eine Medieninstitution ausmacht, kann definiert werden, wobei hier das Kino als Beispiel dienen mag. Als Kino bezeichnet man die Projektion von Filmen vor einem Publikum, wenn nichts als oder zumindest ganz überwiegend Filme gezeigt werden. Kinos sind durch eine große historische Vielfalt gekennzeichnet: Ob mobil oder ortsfest, ob die Filme unter freiem Himmel oder in einem geschlossenen Raum vorgeführt werden, ob es sich um eine private oder öffentlich zugängliche Vorführung handelt, ob die Öffentlichkeit etwa nach Maßgabe des Jugendschutzes eingeschränkt wird, ob ein Kurzfilmprogramm gezeigt <?page no="20"?> 1. Was sind Medien? 21 wird oder ein abendfüllender Spielfilm, ob Eintrittsgeld erhoben wird, welches Publikum adressiert und angezogen wird - alle diese Aspekte können variieren und damit zur Unterscheidung unterschiedlicher Kinotypen dienen. Der Kinotyp, der sich kommerziell durchgesetzt hat, ist ein geschlossener Raum, in dem sich Menschen zu einer Öffentlichkeit versammeln, die sich in aller Regel nicht kennen und aus dem gemeinsamen Schauen einen Gewinn ziehen. In einem weiteren Sinn macht die Institution Kino nicht nur die Projektion von Filmen vor einem Publikum aus, sondern auch die Art, wie die Filme hergestellt, finanziert, vertrieben und vermarktet werden. Kapitel 6, 7 und 8 zeigen, wie die Institution Kino (im definierten erweiterten Sinn) in Deutschland etabliert wurde. Kapitel 16 stellt dar, wie sie sich nach dem Zweiten Weltkrieg grundlegend verändert hat. Definitionen, wie die oben vom Kino gegebene, sind immer an bestimmte historische Phänomene gebunden und müssen verändert werden, wenn sich das Phänomen selbst verändert. Die Digitalisierung des Kinos, die sich in den vergangenen Jahren durchgesetzt hat, erfordert zunächst nicht, die gegebene Definition neu zu fassen, da sich allein die Projektionstechnik verändert hat. An die Stelle eines analogen Filmprojektors ist ein digitaler getreten. Diese technische Veränderung ermöglicht es jedoch, anstatt Filmen z. B. Live-Events wie Opernaufführungen oder Sportveranstaltungen in die digital ausgestatteten Kinos zu übertragen. Kino ist demnach nicht mehr allein die Projektion von Filmen, sondern ebenso die von Live-Events. Tritt nun an die Stelle der klassischen Leinwand, auf die das Bild projiziert wird, ein Bildschirm - wie das beim Heimkino der Fall ist, in dem große Flachbildschirme zunehmend Beamer ersetzen -, hat auch dies einen unmittelbaren Einfluss auf die gegebene Definition. Kino wäre demnach nicht mehr allein die Projektion von Filmen, sondern die Vorführung bewegter Bilder vor einem Publikum. Medieninstitutionen entstehen also unter analysierbaren kulturellen und historischen Bedingungen. Sie prägen Mediennutzungsformen, die sich etwa hinsichtlich des Aufführungskontextes und des jeweiligen Publikums unterscheiden. Die internationalen Varietés in Deutschland zeigten um 1900 andere Filmprogramme als die lokalen Varietés, da sie sozial gesehen ein anderes Publikum adressierten. War in den internationalen Häusern eine Filmberichterstattung über aktuelle Ereignisse zu sehen, die zeitgenössisch als Optische Berichterstattung bezeichnet wurde, so zeigten lokale Varietés ein buntes Unterhaltungsprogramm. Während sich in den internationalen Häusern Angehörige der oberen sozialen Schichten zu einem Publikum versammelten, rekrutierten die lokalen Varietés ihr Publikum aus den unteren sozialen Schichten. 11 <?page no="21"?> Instrumente zur Analyse des Medienwandels 22 Medientechnologien sind grundsätzlich politisch neutral, Mediennutzungsformen und Medieninstitutionen sind es nicht. Medientechnologien, die zur Übertragung von Bewegtbildern bzw. zur Kommunikation benutzt werden, können zu konträren politischen Zwecken dienen. Bewegtbilder können dazu benutzt werden, Menschen ideologisch zu indoktrinieren - Beispiele dafür sind etwa die im World Wide Web verbreiteten Videoclips des sogenannten Islamischen Staates (IS), mit denen insbesondere junge Männer zum Kampf gegen alle, die sich nicht dem islamischen Fundamentalismus anschließen, geworben werden sollen. Bewegtbilder können andererseits auch zur Aufklärung über solchen Terror produziert werden. Soziale Medien wie Twitter und Facebook können benutzt werden, um - wie der »arabische Frühling« 2010/ 11 gezeigt hat - Diktaturen wie das Regime von Zine el-Abidine Ben Ali in Tuniesien zu stürzen. Sie können aber auch dazu benutzt werden, ein Terrorregime wie den Islamischen Staat zu etablieren, indem sich IS-Kämpfer via Social Media organisieren. Mediennutzungsformen können politisch neutral sein, sind es aber in der Regel nicht. Publizierte wissenschaftliche Studien wie etwa repräsentative Meinungsumfragen des Pew Research Centers in den USA oder des Allensbacher Instituts in Deutschland analysieren die Meinung der Bevölkerung, ohne die Analyse etwa von religiösen Überzeugungen der Forscher beeinträchtigen zu lassen. Unterhaltung ist dagegen in einem hohen Maß kulturell differenziert, da sich die Kulturen der Welt unterscheiden und Vergnügen vor allem bereitet, was den eigenen Anschauungen entspricht (mehr dazu weiter unten). Um Missverständnisse zu vermeiden, sollte man von Medientechnologien, Mediennutzungsformen und Medieninstitutionen sprechen oder nur von Technologien, Nutzungsformen und Institutionen sprechen, wenn kontextuell klar ist, dass von Medien die Rede ist, oder von Medien sprechen, wenn kontextuell hinreichend klar ist, ob die Technologie, die Nutzungsform oder die Institution gemeint ist oder von Medien sprechen, wenn von Technologien, Nutzungsformen und Institutionen zugleich die Rede ist. Grundfunktionen der Medien Technische Mittel zur Verbreitung von Informationen werden von Menschen für unterschiedliche Zwecke benutzt. Menschen nutzen Medien, um mit anderen zu kommunizieren, sich zu orientieren bzw. sich unterhalten zu lassen. Medien erfüllen also Grundbedürfnisse nach Kommunikation, Orientierung und Unterhaltung. Diese Grundbedürfnisse sind in verschiedenen Zeiten und Gesellschaften <?page no="22"?> 1. Was sind Medien? 23 bei jeweils anderen sozialen Schichten und Altersgruppen unterschiedlich ausgeprägt. Sie dürften aber in Gesellschaften jedweder Art, also in Stämmen wie in Staaten, ob sie nun demokratisch oder diktatorisch verfasst sind, vorkommen und damit eine anthropologische Grundlage haben. Sowohl Kommunikation (als Gespräch von Angesicht zu Angesicht), Orientierung via Wissenserwerb (durch mündlichen Unterricht) als auch Unterhaltung (durch Schauspieler auf der Theaterbühne) sind ohne technisch vermittelte Medien (wie Telefon, Buch und Fernsehen) nicht nur möglich, sondern wahrscheinlich. Medien werden zur Erfüllung der Grundbedürfnisse erst unter analysierbaren Bedingungen eingesetzt. So setzen Medien eine vergleichsweise weit entwickelte Gesellschaft voraus. Sind Gesellschaften überschaubar, dann brauchen sie auch kaum technische Mittel zur Informationsübermittlung, Mediennutzungsformen und -institutionen. Je komplexer eine Gesellschaft ist, desto notwendiger wird eine mediale Vermittlung. Was verstehen wir unter Kommunikation, Orientierung und Unterhaltung? Als Kommunikation bezeichnet man den Austausch von Informationen zwischen zwei oder mehr Menschen. Kommunikation erfüllt dabei grundsätzlich einen doppelten Zweck: Über den Austausch von Informationen hinaus befriedigt Kommunikation auch das Grundbedürfnis nach menschlicher Zuwendung. Kommunikation kann immer wieder gestört sein - was man sich anhand des Spiels »Stille Post« verdeutlichen kann. Je komplexer die Information, desto wahrscheinlicher ist, dass sie im Lauf des Kommunikationsprozesses verfälscht wird. Anders als oft behauptet wird, ist Kommunikation jedoch nicht grundsätzlich gestört, sondern ihr Funktionieren der Regelfall. Ohne dass Kommunikation gelingt, ist kein Zusammenleben von Menschen möglich. Wie kommuniziert wird, ist u. a. kulturell und sozial differenziert. Menschen sprechen nicht nur unterschiedliche Sprachen; die Art, wie sie kommunizieren, ist zudem von einer Fülle von Faktoren abhängig. Ein wichtiger Faktor ist die Abhängigkeit der Menschen voneinander. So unterscheidet sich die Kommunikation des Angestellten einer Firma mit seinem Chef von der eines Liebespaares untereinander. Die Kommunikation in einer militärischen Befehlskette ist eine völlig andere als die in einer Veranstaltung an einer Universität. Die Kommunikation unterliegt zudem einem grundlegenden gesellschaftlichen Wandel: Der Wertewandel, der sich infolge des Zweiten Weltkriegs in den westlichen Industriegesellschaften seit den 1960er-Jahren vollzogen hat, hat die Kommunikation in Firmen bzw. Universitäten in gewissem Umfang liberalisiert. Angestellte können heute ungezwungener mit ihren Chefs sprechen als in den 1950er-Jahren, und Studierende kommunizieren heute informeller mit ihren akademischen Lehrern. Mit Medientechnologien wie dem Telefon oder Social Media wie Facebook oder Twitter wird eine Kommunikation über räumliche Distanzen hinweg mög- <?page no="23"?> Instrumente zur Analyse des Medienwandels 24 lich. Menschen tauschen sich über Privates oder Berufliches innerhalb der eigenen Stadt, des eigenen Landes oder über Kontinente hinweg aus. Die Kommunikation findet zeitgleich statt (wie beim Telefon oder Skypen) oder erfolgt nur in einem geringen Maß zeitverzögert (wie bei den Social Media Facebook oder Twitter). Als Orientierung bezeichnet man die Fähigkeit des Menschen, sich zeitlich, räumlich und in Bezug auf sich selbst und seine Mitmenschen zurechtzufinden und die Welt in einem bescheidenen Maß kontrollieren zu können. Ein wichtiges Mittel zur Orientierung ist das Wissen, das symbolisch mittels Sprache und Schrift repräsentiert wird. Mithilfe des Wissens sind Menschen handlungsfähig; sie können sich zwischen Alternativen entscheiden und entsprechend handeln. Das Wissen ist jedoch keineswegs das einzige Orientierungsmittel. Menschen handeln auch, weil sich andere Menschen in einer bestimmten Art verhalten oder weil Menschen, die mit einer bestimmten Autorität ausgestattet sind, es von ihnen verlangen. Menschen orientieren sich oft am Verhalten anderer Menschen und treffen ihre Entscheidungen sogar wider besseres Wissen. Grundsätzlich lassen sich zwei Formen des Wissens unterscheiden: das realitätsgerechte und das nicht-realitätsgerechte Wissen, wobei wir ein Wissen dann als realitätsgerecht bezeichnen, wenn es intersubjektiv einer Überprüfung standhält. Ein Beispiel dafür sind etwa die über GPS vermittelten räumlichen Daten, die es uns ermöglichen, mittels eines Navigationsgeräts oder einer entsprechenden App auf dem Smartphone einen Weg von A nach B zu finden. Ein anderes Beispiel ist etwa das Wissen um die Ansteckungswege bestimmter Krankheiten, das es uns ermöglicht, uns nicht zu infizieren, wenn wir uns entsprechend vorsehen. Zum nicht-realitätsgerechten Wissen gehören Vorurteile, Gerüchte, Klatsch, Legenden und Märchen, aber auch das Religiöse. Viele Menschen glauben an überirdische Kräfte (die sie etwa als Ahnen, Geister oder Götter oder den einen Gott begreifen). Da etwa Christen und Moslems glauben, ihr religiöses Wissen stamme von Gott, fühlen sie sich daran gebunden. Da dieses (wie jedes andere) Wissen der Interpretation bedarf, spalten sich Religionsgemeinschaften oft in unterschiedliche Gruppen auf, wie z. B. Katholiken und Protestanten oder Sunniten und Schiiten. Religion ist immer ein kulturelles bzw. soziales Phänomen: Ein bestimmter Glaube bindet Menschen aneinander, indem er Menschen in Gläubige und Andersbzw. Nichtgläubige differenziert. Da der Glaube nicht intersubjektiv überprüfbar ist, birgt er einen sozialen Sprengstoff, wenn unterschiedliche religiöse Gruppierungen aufeinandertreffen. Dies kann bis zur physischen Vernichtung der Andersbzw. Nichtgläubigen führen. Anders als das Religiöse ist das realitätsgerechte Wissen nicht kulturell oder sozial differenziert. Die Anforderungen an die Statik einer Brücke sind kulturübergreifend, das Wissen um die Übertragungswege von Krankheiten wie Cholera, HIV oder Ebola gilt grundsätzlich in allen Gesellschaften. Die Relevanz des Wis- <?page no="24"?> 1. Was sind Medien? 25 sens ist jedoch sehr wohl kulturell und sozial differenziert: Eine Stammesgesellschaft, die in einer Region lebt, in der es weder Flüsse noch Schluchten gibt, braucht das Wissen über die Statik von Brücken nicht, da sie keine Brücken baut. In Regionen, in denen eine bestimmte Krankheit wie Ebola grassiert, ist das Wissen um die Ansteckungswege dieser Krankheit von größerer praktischer Bedeutung als in Regionen, in denen es keine derartigen Krankheitsfälle gibt. Zur Orientierungsfunktion der Medien gehört neben der Wissensvermittlung auch die Meinungsbildung. Um sich in der Welt orientieren zu können, muss die Relevanz des Wissens fortlaufend bewertet werden. Dies ist für den Mediennutzer allein dadurch möglich, dass Presse und Fernsehen über Ereignisse berichten - auch wenn sie selbst das Berichtete nicht bewerten. So kann sich der Leser bzw. Zuschauer eine Meinung über eine Regierung bilden, über deren Handeln berichtet wird. Darüber hinaus ermöglichen Kommentare zu Ereignissen bzw. Diskussionen in Tageszeitungen, im Rundfunk bzw. Fernsehen den Mediennutzern, ihre eigene Meinung zu bilden, indem sie sich das Urteil anderer zu eigen machen, das eigene gegen das Urteil anderer abgrenzen oder es modifizieren. Unmittelbar mit der Orientierungshängt auch die Kontrollfunktion der Medien zusammen. Wer sich mittels Wissen in der Welt orientiert, indem er das Wissen selbst bewertet, wird handlungsfähig. Dies drückt sich etwa im Wahlverhalten der Menschen in demokratischen Gesellschaften aus. Entsprechend der eigenen Meinung, die auch in der Auseinandersetzung mit medialer Berichterstattung gebildet wird, wählt X etwa die Partei B und Y die Partei A. Investigative Journalisten aus Presse, Rundfunk und Fernsehen berichten über politische Entscheidungsträger und deren Handlungen. Indem sie etwa einen Machtmissbrauch aufdecken und diesen veröffentlichen, haben sie die gleiche Funktion wie Untersuchungsausschüsse von Parlamenten. Sie kontrollieren diejenigen, die Entscheidungsmacht haben, sodass Politiker ggf. zurücktreten müssen oder auch vor Gerichte gestellt werden. Wissenserwerb jedweder Art beruht auf Lernen, das der Anstrengung jedes Einzelnen bedarf. Für die Wissensvermittlung bilden sich eigene Institutionen heraus, insbesondere Schulen und Universitäten, aber auch Medieninstitutionen wie Verlage, Rundfunk und Fernsehen. Wissen kann angehäuft und so von Generation zu Generation weitergegeben werden. Mittel der Wissensspeicherung sind Medientechnologien. Das ständig wachsende Wissen, das Forscher weltweit täglich neu schaffen, wird mithilfe der Schrift festgehalten und via Medien (Zeitschriften, Bücher, World Wide Web) anderen zugänglich gemacht. Um etwas Neues zu erfahren, das bereits anderen, aber einem bestimmten Mediennutzer noch nicht bekannt ist, kann er etwa Zeitung lesen, eine Enzyklopädie zurate ziehen oder wissenschaftliche Literatur lesen. Auch das nicht-wissenschaftliche Wissen wird mittels Medientechnologien ge- <?page no="25"?> Instrumente zur Analyse des Medienwandels 26 speichert und von Generation zu Generation weitergegeben. So ist das Grundwissen von Hochreligionen wie Christentum oder Islam in Form von autoritativen Büchern, der Bibel bzw. dem Koran, symbolisch repräsentiert. Als Unterhaltung bezeichnen wir eine menschliche Beschäftigung, die in erster Linie darauf ausgerichtet ist, Vergnügen - oder anders gesagt: Freude oder Spaß - zu bereiten, und dabei grundsätzlich ohne Konsequenzen für das wirkliche Leben bleibt. Menschen sehen sich Fernsehserien an, weil sie davon ausgehen, dass ihnen das Vergnügen bereitet. Sie gehen auf Pop- oder Rockkonzerte, weil sie sich für die Musik begeistern. Sie versammeln sich in Fußballstadien, um ihre Mannschaften gewinnen zu sehen. Natürlich stellt sich bei Fernsehserien oder Fußballspielen nur dann eine Freude ein, wenn dem Zuschauer die Serie gefällt bzw. die favorisierte Mannschaft gewinnt. Grundsätzlich bleibt das Vergnügen jedoch ohne Konsequenzen: Der Zuschauer wird nicht dafür bestraft, wenn er den Bösewicht eines Films umbringen möchte oder die gegnerische Fußballmannschaft lautstark wüst beschimpft. Unterhaltung kann unterschiedlichen Zwecken dienen. Die wichtigste Funktion von Unterhaltung in Industriegesellschaften ist wahrscheinlich - darin dem Schlaf durchaus ähnlich -, eine Erholung von den Anstrengungen des Lebens zu ermöglichen. Wer sich nicht erholt, ist auf Dauer nicht mehr in der Lage, effektiv zu arbeiten und den eigenen Alltag zu bewältigen. Unterhaltung kann aber auch dem Zweck dienen, Menschen ein gewisses Erregungsniveau zu ermöglichen, das ihnen im Alltag fehlt - wie das etwa bei Bewohnern von Altenheimen oder Häftlingen in Gefängnissen der Fall sein kann. Unterhaltung kann darüber hinaus natürlich auch - darin besteht eine Ähnlichkeit zum Spiel - dem Probehandeln dienen, etwa wenn Zuschauer von Fernsehserien oder -filmen Liebes- und Familienbeziehungen gedanklich und emotional durchspielen oder lernen, mit Emotionen wie Eifersucht und Hass umzugehen. Die Emotionen, die sich beim Zuschauer von fiktionalen Fernsehserien oder Filmen einstellen, sind nicht virtuell, sondern real. Freude, Ekel, Verachtung oder Liebe werden wirklich empfunden. Was Menschen unterhält, ist in einem erheblichen Maß hinsichtlich der Kultur, der sozialen Schicht, der Psyche, des Geschlechts, der Religionszugehörigkeit differenziert, sodass bestimmten Menschen bestimmte Formen an Unterhaltungsangeboten gefallen. Man kann auch sagen, Unterhaltung hängt von Werten ab. Werte sind »innere Führungsgrößen des menschlichen Tuns und Lassens, die überall dort wirksam werden, wo nicht biologische ›Triebe‹, Zwänge oder ›rationale‹ Nutzenerwägungen den Ausschlag geben.« 12 Werte müssen nicht für alle Menschen verbindlich sein. Sie können sich nicht nur hinsichtlich Alter, Geschlecht und Bildung eines Menschen, sondern auch hinsichtlich seiner Zugehörigkeit zu einer Ethnie oder Nation unterscheiden. Die Werte bestimmter sozialer Gruppen verändern sich oft über einen längeren Zeitraum; ändern sie sich, spricht <?page no="26"?> 1. Was sind Medien? 27 man von einem Wertewandel (siehe dazu Kapitel 17). Was von Menschen als unterhaltsam empfunden wird, hängt u. a. von religiösen Werten ab. So ist Bollywood bei Muslimen in Asien und Afrika beliebter als Hollywood, und Hollywoodfilme gelten in einem stärkeren Maß als Gefährdung der eigenen Moral. »While many Muslims [rund 40 % außerhalb Europas] say they personally like Western music, movies and television, most Muslims [67,7 %] also agree that Western popular culture has hurt morality in their countries. On balance, more Muslims say they like Bollywood movies and music than say the same about Western entertainment [etwa im Verhältnis 50 zu 40 %]. Muslims also see Bollywood as less harmful to morality than Western popular culture is [rund 44 gegenüber 66 %].« 13 Dass Zweidrittel der nicht-europäischen Muslime glauben, Popmusik und Hollywood hätten einen negativen Einfluss auf die Moral, ist gut nachvollziehbar. Während 85 % aller Muslime glauben, Frauen müssten ihren Männern immer gehorchen, triumphieren in der angloamerikanischen Popmusik (u. a. Madonna, Lady Gaga) und in US-Fernsehserien (u. a. S EX AND THE C ITY ) Frauen, die ihr Recht auf Selbstbestimmung wahrnehmen - hinsichtlich der eigenen Meinung, der Berufs- und Partnerwahl und nicht zuletzt auch hinsichtlich ihrer Sexualität. Unterhaltung ist in einem erheblichen Maß kulturell und sozial differenziert. So können sich die Filmpräferenzen zwischen den Publika verschiedener Länder ebenso unterscheiden wie die Filmvorlieben verschiedener sozialer Gruppen. Kapitel 8 und 9 zeigen, wie die Filmpräferenzen unterschiedlicher Kinopublika kulturell und sozial differenziert sind. Kapitel 8 handelt von kulturell differenzierten Filmpräferenzen im Europa der 1930er-Jahre. So unterscheiden sich die beim französischen, deutschen, britischen, niederländischen, österreichischen, tschechoslowakischen, polnischen bzw. norwegischen Publikum erfolgreichsten 30 Filme so stark voneinander, dass es so gut wie keine gemeinsamen Top-Filme gab. Die Zuschauer dieser Länder liebten vor allem Filme aus dem jeweils eigenen Land und sahen zudem diejenigen ausländischen Filme gerne, die optimal kulturkompatibel waren. Kapitel 9 widerspricht der weit verbreiteten Auffassung, dass Charles Chaplins Filme bei allen Menschen gleichermaßen populär waren. Die Studie zeigt, dass Chaplins Filme in der Weimarer Zeit nur bei bestimmten Teilen des Publikums erfolgreich waren. So wurden Chaplin-Filme stärker in Großals in Kleinstädten geschätzt. Von der großstädtischen Bevölkerung wiederum gehörten vor allem Intellektuelle und Arbeiter zum Stammpublikum Chaplins. <?page no="27"?> Instrumente zur Analyse des Medienwandels 28 Die Vorlieben der Menschen für die angebotene Unterhaltung sind darüber hinaus auch hinsichtlich ihrer Persönlichkeit differenziert. Sogenannte High Sensation Seeker bevorzugen körperlich fordernde Unterhaltung (Gleitschirmfliegen, Bungeejumping, Achterbahnfahren), während Low Sensation Seeker eher rezeptive Unterhaltungsformen vorziehen (Fernsehen, Musikhören). In Bezug auf die Unterhaltungsformen, bei denen der Nutzer in der Rolle des Zuschauers bzw. -hörers ist, mögen High Sensation Seeker lieber Actionfilme und Rockmusik, während Low Sensation Seeker sich eher an Beziehungsdramen und klassischer Musik erfreuen. 14 Die Grundfunktionen der Medien treten oft in Kombination auf, wobei eine Funktion primär, eine andere sekundär ist. In einem Telefonat mit dem Partner mag es primär um den Austausch von Zärtlichkeiten gehen, was aber nicht ausschließt, dass dabei auch Neuigkeiten über die Erlebnisse des Tages mitgeteilt werden. Eine Unterhaltungssendung wie W ER WIRD M ILLIONÄR ? will primär unterhalten, bildet aber ohne Zweifel auch. Wer hier nichts Neues erfährt, ist ein sicherer Gewinner der Million! Ein wissenschaftliches Buch vermittelt in erster Linie Wissen, kann dies aber in einer Art machen, die dem Lernenden Freude macht. Der Lernerfolg wird sogar umso größer sein, je mehr Vergnügen das Lernen macht. In Bezug auf die gegebene Bestimmung der Grundfunktionen der Medien können zwei Abgrenzungen vorgenommen werden. Die erste bezieht sich auf die Frage, ob Kunst eine eigenständige Grundfunktion der Medien ist, und die zweite grenzt die gegebene von der weit verbreiteten stark politisch motivierten Definition ab. Zu 1.: Mit Kunst kann man ohne Zweifel kommunizieren, aber auch bilden und unterhalten. Werke der Kunst vermitteln mitunter Ideen (wie die der religiösen Toleranz in Gotthold Ephraim Lessings N ATHAN DER W EISE [1783 uraufgeführt]) oder eröffnen neue Sichtweisen (wie Literatur aus anderen Kulturen). Die Übertragung einer Opernaufführung im Fernsehen kann bilden (»eine große Inszenierung«, »ein bedeutendes Werk der Musikgeschichte«), aber auch unterhalten. Man kann den Unterhaltungswert von Kunst als ein distinguiertes Vergnügen von Kunstsinnigen definieren; Kunst lässt sich demnach also als eine Form der Unterhaltung für Gebildete verstehen. Dieses besondere Vergnügen setzt eine Kennerschaft voraus. Kennt man ein Theaterstück wie Lessings N ATHAN DER W EISE oder ein Werk der Chormusik wie Giuseppe Verdis M ESSA DA R EQUIEM (1874 uraufgeführt), so wird man an einer bestimmten Aufführung ein besonderes Vergnügen (oder auch ein besonderes Missvergnügen) haben, das derjenige nicht hat, der mit den Werken nicht vertraut ist. Kunst oder ästhetische Kommunikation ist demnach keine eigenständige Grundfunktion, sondern hinreichend durch die drei genannten Grundfunktionen erfasst. <?page no="28"?> 1. Was sind Medien? 29 Zu 2.: In demokratischen Gesellschaften wird der Medienbegriff oft auf die sogenannten Massenmedien verkürzt und ihre Grundfunktionen dann so definiert, dass sie den Zielen der Demokratie entsprechen. Presse, Radio und Fernsehen sollen sachgerecht informieren, zur Meinungsbildung der Bürger beitragen und durch eine kritische Berichterstattung staatliche Entscheidungsträger kontrollieren. »Die Massenmedien sollen so vollständig, sachlich und verständlich wie möglich informieren, damit ihre Nutzerinnen und Nutzer in der Lage sind, das öffentliche Geschehen zu verfolgen. Mit ihren Informationen sollen sie dafür sorgen, daß die einzelnen Bürgerinnen und Bürger die wirtschaftlichen, sozialen und politischen Zusammenhänge begreifen, die demokratische Verfassungsordnung verstehen, ihre Interessenlage erkennen und über die Absichten und Handlungen aller am politischen Prozeß Beteiligten so unterrichtet sind, daß sie selbst aktiv daran teilnehmen können - als Wählende, als Mitglieder einer Partei oder auch einer Bürgerinitiative. […] Im parlamentarischen Regierungssystem obliegt in erster Linie der Opposition die Aufgabe der Kritik und Kontrolle. Diese wird unterstützt und ergänzt durch die Kritik- und Kontrollfunktion der Medien.« 15 Als Grundfunktionen der Medien gelten in diesem Sinn also Information, Meinungsbildung und Kontrolle. Die Idee dabei ist, Menschen zu mündigen Bürgern zu machen, die bei der Wahl der politischen Vertretungen ihre Stimme entsprechend ihren Überzeugungen abgeben, und die Gewählten zugleich durch eine kritische Beobachtung zu kontrollieren. Dabei werden die Medien als vierte Macht im Staat neben Exekutive, Legislative und Judikative begriffen. Im Unterschied zu dieser politisch motivierten Definition verengt die oben gegebene die Medien nicht auf Presse, Rundfunk und Fernsehen und orientiert sich an den beobachtbaren und nicht an den gewünschten Funktionen der Medien. Wie soll man Medien nennen, die der Kommunikation, der Orientierung bzw. der Unterhaltung dienen? Medien, die der Kommunikation dienen (wie Telefon oder E-Mail), werden als Kommunikationsmedien bezeichnet. Medien, die nicht der persönlichen Kommunikation dienen, werden oft Massenmedien genannt. Der Begriff Massenmedium wird unterschiedlich verwendet: Zum einen gilt als Massenmedium ein Medium, das sich an ein Publikum richtet, dessen Zuhörer bzw. Zuschauer sich nicht kennen, und zwar unabhängig von der Frage, wie groß die Reichweite dieses Mediums ist. Zum anderen wird der Begriff gerade in Bezug auf die Reichweite verwendet, wobei ein Medium erst dann als Massenmedium gilt, wenn es von sehr vielen Menschen (eines Landes, einer bestimmten sozialen Schicht, eines Alters etc.) genutzt wird. Der Begriff ist zudem oft negativ besetzt, insofern der Begriff der Masse mit Anonymität und Unbildung verknüpft wird. <?page no="29"?> Instrumente zur Analyse des Medienwandels 30 Aufgrund der Bedeutungs- und Wertungsambivalenz scheint es sinnvoll zu sein, auf die Verwendung dieses Begriffs zu verzichten und stattdessen Begriffe wie Wissens- und Unterhaltungsmedien zu wählen. Wissensmedien sind Medien, die der Vermittlung von Wissen dienen. Sie sind in aller Regel Speichermedien wie Buch oder Computer. Unterhaltungsmedien sind alle Medien, die primär dazu benutzt werden, Menschen zu unterhalten. Film und Fernsehen sind in diesem Sinn Unterhaltungsmedien - nicht aufgrund der verwendeten Technologien als solcher, sondern aufgrund der dominanten Verwendungsweise dieser Medientechnologien (denn der Film hätte auch primär für Bildungszwecke, das Fernsehen zur Überwachung von Objekten oder Menschen eingesetzt werden können). Was als primär gilt, kann das sein, was objektiv vorherrschend ist, kann aber auch nur das sein, was als vorherrschend wahrgenommen wird - etwa weil sich die Forschung überwiegend auf diesen Aspekt konzentriert hat. Der Begriff Programmmedien ist als eine Spezifizierung des Begriffs Unterhaltungsmedien sinnvoll. Alle Programmmedien sind de facto primär Unterhaltungsmedien, aber nicht alle Unterhaltungsmedien sind auch Programmmedien. Als Programmmedien werden alle Medien verstanden, die ein Programm bieten wie das Kino, das Radio oder das Fernsehen. Programme bestehen grundsätzlich aus mehreren Angebotsteilen, die von den Veranstaltern in einer vorab festgelegten Abfolge dem Publikum dargeboten werden. Medieninstitutionen entwickeln bestimmte Programmschemata, die die Orientierung der Zuschauer bzw. -hörer erleichtern. So zeigte das Kino vor der Etablierung des Fernsehens typischerweise eine Wochenschau, Werbung (für Waren wie für die Filme, die »demnächst in diesem Theater« zu sehen waren), einen Kulturfilm und als eigens beworbene Hauptattraktion einen abendfüllenden Spielfilm. Radio und Fernsehen entwickelten nach Wochentagen differenzierte Programmschemata (freitags läuft seit 1969 um 20: 15 Uhr im ZDF ein Krimi, angefangen mit D ER K OMMISSAR über D ER- RICK , D ER A LTE bis hin zu D ER K RIMINALIST , sonntags ist seit 1970 um 20: 15 Uhr in der ARD unter anderem der T ATORT zu sehen). Video on Demand (VoD), DVD oder Blu-Ray sind Beispiele für Unterhaltungsmedien, die keine Programmmedien im definierten Sinn sind, da mit ihnen kein vom Veranstalter festgelegtes Programm angeboten wird. Der Nutzer wählt mit diesen Speichermedien selbst, was er zu welcher Zeit sehen oder hören möchte. Oft bieten VoD-Anbieter Flatrates an, die es den privaten Mediennutzern erlauben, sich zu einem festen Betrag pro Monat ohne Begrenzung Spielfilme bzw. Serien anzusehen. Statt etwa pro Woche nur eine neue Folge einer Serie sehen zu können, ermöglichen VoD bzw. DVD/ Blu-Ray neue Sehgewohnheiten, wobei die ganze Staffel einer Serie in einer kurzen Zeitspanne konsumiert werden kann. Neben dem Begriff Programmmedien ist der Begriff Leitmedien sinnvoll, da er darauf abzielt, die Dynamik mehrerer Medien in ihrer Interaktion zu beschreiben. <?page no="30"?> 1. Was sind Medien? 31 Als Leitmedien gelten Medien, die Standards setzen, sodass sich andere Medien an ihnen orientieren. Das Deutsche Fernsehen der 1950er-Jahre orientierte sein Programm an dem des Kinos: Das Fernsehprogramm wurde mit der Tagesschau um 20 Uhr eröffnet. Es schloss sich etwa eine Dokumentation wie E IN P LATZ FÜR T IERE an, beendet wurde der Abend mit einer Hauptattraktion wie einer Spielshow. Wenn eine der heutigen führenden Tages- oder Wochenzeitungen wie die Süddeutsche Zeitung oder Die Zeit - um ein weiteres Beispiel zu nennen - ein literarisches Werk rezensieren, ziehen häufig andere Zeitungen nach, die damit diesen Zeitungen eine Meinungsführerschaft und damit eine Funktion als Leitmedium zuerkennen. Mit dem Begriff Leitmedien wird nicht nur derart die Dynamik von Medienfigurationen beschrieben, sondern darüber hinaus auch die Wirkungsmacht von Medien auf die Gesellschaft. Ein Leitmedium ist in dieser Hinsicht etwa eine bestimmte Wochenzeitschrift wie Der Spiegel, weil sie meinungsbildend ist. 16 Kapitel 15 gibt ein anschauliches Beispiel dafür, wie sich die Mediennutzungsform einer neuen Medieninstitution an der erfolgreichen Mediennutzungsform einer bereits etablierten Medieninstitution orientiert. Die T AGESSCHAU des Deutschen Fernsehens fand ihr Vorbild in den 1950er-Jahren zunächst in der Wochenschau der Kinos. Wie diese bot sie eine unterhaltende Bilderschau ohne den Anspruch, Nachrichten zu vermitteln. Als in den 1960er-Jahren der Anspruch erhoben wurde, die T AGESSCHAU solle Nachrichten vermitteln, wurden die Hörfunknachrichten zu einem neuen Modell für diese Sendung. Welche Rolle spielen die Grundfunktionen der Medien heute? Kommunikation und Orientierung via Wissenserwerb sind überlebenswichtige Funktionen von Gesellschaften, Unterhaltung ist dagegen eher ein Luxus. Stellen Sie sich vor, dass in unserer Gesellschaft von einem auf den anderen Tag die mediale Kommunikation jedweder Art unmöglich wird. Handwerk, Einzelhandel, Warenproduktion und -distribution - alles käme zum Erliegen. Und stellen Sie sich vor, dass es keine mediale Wissensaneignung mehr gäbe. Auch hier käme die Gesellschaft zum Erliegen - nicht so schnell wie bei der Unterbindung jedweder Kommunikation, aber doch zumindest in der folgenden Generation, da Wissen immer wieder neu erlernt werden muss. Bei Unterhaltung verhält es sich anders: Die Gesellschaft würde ärmer; Menschen langweilten sich, hätten weniger Freude am Leben, das Klima zwischen ihnen würde vielleicht schroffer und sicherlich bräche die Unterhaltungsindustrie ein und es käme damit zu einer wirtschaftlichen Krise. Die Gesellschaft selbst wäre aber kaum in ihrem Überleben gefährdet. Auch wenn mediale Unterhaltung also ohne Zweifel wichtige Funktionen für eine Gesellschaft erfüllt, so ist sie doch im Unterschied zu medialer Kommunikation und <?page no="31"?> Instrumente zur Analyse des Medienwandels 32 zum medialen Wissenserwerb nicht in vergleichbarem Maß überlebenswichtig. Da sie eher ein Luxus ist, wächst die Unterhaltungsbranche in Gesellschaften umso stärker, je größer ihr Wohlstand ist - je reicher die Bevölkerung ist und je mehr Freizeit sie hat. <?page no="32"?> 33 2. Was bedeutet Wandel? Grundsätzlich lässt sich eine Geschichte der Medien oder eine Geschichte der Diskurse über die Medien schreiben. Eine Geschichte der Medien handelt von der Erfindung, Etablierung, Verbreitung und Differenzierung neuer Medien. Sie stellt die Etablierung von Medieninstitutionen und neuen Nutzungsformen dar, sie analysiert die Rolle von Marketingmaßnahmen bei der Verwertung und erörtert die Rolle des Publikums bei der Durchsetzung des jeweils neuen Mediums. Technische Verbreitungsmittel von Informationen zwischen Menschen wandeln sich ebenso wie ihre Nutzungsformen sowie die Institutionen, die sie verwenden bzw. hervorbringen. So hat sich mit der Verbreitung des Mobiltelefons die Kommunikationstechnologie grundlegend verändert, die Etablierung der Nachrichtensendung im Fernsehen hat zu einer grundlegenden Neuerung der Fernsehformate geführt, und die Etablierung der privaten Fernsehsender hat die Medienlandschaft aufgemischt. Die Geschichte der Medientechnologien, -nutzungsformen und -institutionen ist vielfach miteinander verknüpft. Die Medienhistoriografie interessiert sich jedoch nicht für Medientechnologien an sich, sondern nur, soweit sie für kommunikative, bildende oder unterhaltende Zwecke genutzt werden. Eine Medientechnologie wird also erst dann für die Medienhistoriografie interessant, wenn sie von Institutionen für die Informationsübermittlung genutzt wird und diese zu diesem Zweck bestimmte Nutzungsformen ausbilden. Geht man von den drei genannten Grundfunktionen der Medien aus, dann ist Mediengeschichte Bestandteil einer Kommunikations-, Wissens- und Unterhaltungsgeschichte. Eine Geschichte der Mediendiskurse zeigt dagegen, wie über die neuen Medien gesprochen bzw. geschrieben wurde. Wie werden neue Medien wie der Film in älteren wie der Presse repräsentiert? Und welche Rolle spielten Diskurse für die Etablierung neuer Medien? Welche Rolle spielte etwa der Diskurs der Kinoreformer im deutschsprachigen Bereich, der das Kino um 1910 äußerst kritisch begleitet hat, für die Etablierung des Films als Kino? In der Regel wird die Etablierung neuer Medien von einem kulturkritischen Diskurs begleitet - so war es bei der Durchsetzung des Films in den 1910er-Jahren, der Etablierung des Fernsehens in den 1950er-Jahren oder der Durchsetzung des Internets in den 1990er-Jahren. Alle Fallstudien im zweiten Teil dieses Buchs beziehen sich auf die Medien selbst und beziehen den Diskurs über die Medien, wenn überhaupt, nur mittelbar ein (wie zum Beispiel Kapitel 9 und 14). <?page no="33"?> Instrumente zur Analyse des Medienwandels 34 Der Begriff des Wandels Als Geschichte wird oft bezeichnet, was endgültig vorbei ist (»Der analoge Fernsehempfang wird bald Geschichte sein.«) oder was als bedeutend gilt (»Barack Obama hat als erster schwarzer Präsident der USA Geschichte geschrieben.«). In diesem Buch werden vergangene Zeitverläufe, mit denen wir uns beschäftigen, um uns heute besser orientieren zu können, mit dem Begriff Geschichte bzw. dem des Wandels bezeichnet. Während Historiker den Begriff der Geschichte verwenden, bevorzugen Sozialwissenschaftler den Begriff des Wandels. Mit dem Begriff Geschichte wird stärker die Beschreibung einer Veränderung erfasst, während mit dem Begriff des Wandels in einem größeren Maß die Erklärung in den Blick gerät. Wenn ich den Begriff des Wandels bevorzuge, so gerade deshalb, weil es mir darum geht, eine Veränderung nicht nur zu beschreiben, sondern auch zu erklären. Die Beschäftigung mit historischen Prozessen findet immer von heute aus statt, auch wenn man einen Zeitverlauf in chronologischer Reihenfolge nachvollzieht. Die Historiografie artikuliert dabei ein bestimmtes Interesse an der Vergangenheit und öffnet damit den Blick zurück in einer stark gerichteten Form. Nicht alles, was war, gerät in das Blickfeld, sondern nur das, was heute interessiert. Dies bedeutet nicht, dass Geschichtsschreibung nur Ausdruck unterschiedlicher Interessen ist. Es bedeutet nur, dass die Auswahl des Untersuchungsgegenstands interessengeleitet ist. Die Ergebnisse der Forschung können und sollten frei von Bewertungen der Forscher sein. Historische Veränderungen können sich über ganz unterschiedliche Zeiträume erstrecken. Die Etablierung der Institution Kino hat sich zum Beispiel innerhalb von weniger als 20 Jahren vollzogen, während der Prozess der kulturellen Differenzierung des Mediums Film seit Ende des 19. Jahrhunderts bis heute nicht abgeschlossen ist. Zeitabläufe haben weder einen Anfang noch ein Ende. Für die Erforschung des Wandels ist es allerdings grundsätzlich sinnvoll, Eckdaten zu setzen. Wird die Erfindung des Films auf das Jahr 1895 datiert, so gibt es bisher [2015] kein Enddatum, da es immer noch Filme gibt. Die Festsetzung des Jahres 1895 als »Geburtsjahr« des Films ist jedoch - wie ich in Kapitel 5 zeigen werde - durchaus problematisch und kann mit guten Gründen bezweifelt werden. Auch wenn Ereignisse wie die Erfindung des Films datiert werden können, so sind sie nie voraussetzungslos. Bereits vor 1895 gab es eine Tradition des Bewegtbildes, von utopischen bzw. dystopischen Visionen, die textlich und bildlich fixiert wurden, über mit der Laterna Magica projizierte Bilder bis hin zu den von Thomas Alva Edison Anfang der 1890er-Jahre aufgenommenen Filmen, die in Guckkästen, den Kinetoscopen, vorgeführt wurden. <?page no="34"?> 2. Was bedeutet Wandel? 35 Strukturen und Richtung des Wandels Es ist eine zentrale Aufgabe jeder historisch orientierten Wissenschaft, die Strukturen eines Wandlungsprozesses ebenso zu analysieren wie seine Richtung. 17 Geschichte ist nicht chaotisch. Jeder geschichtliche Prozess weist ein grundlegendes Charakteristikum auf, das man meist als Struktur bezeichnet (aber auch Muster oder Pattern genannt werden kann). Unter Struktur versteht man das Muster, das sich ergibt, wenn mehrere Elemente miteinander interagieren. In der Geschichtsschreibung geht es nicht um die Momentaufnahme einer Struktur, sondern gewissermaßen um Reihenbilder der Strukturen des Wandels. Warum weist das, was wir Geschichte nennen, eine analysierbare Struktur auf? Man kann zu der Auffassung kommen, Geschichte sei das Produkt von höheren Kräften, die - entsprechend dem eigenen Glauben - als Gott, Schicksal, Natur, Kultur oder System bezeichnet werden. Mediengeschichte wie Geschichte überhaupt wird jedoch nicht von überpersönlichen Kräften, sondern von Menschen gemacht - Menschen als sozialen Wesen, charakterisiert über ihre Funktion als Produzenten, Autoren, als Kritiker, als Redakteure und als Konsumenten. Keine Person - wie stark auch immer ihre Position in Wirtschaft und Gesellschaft sein mag - kann den Prozess der Etablierung und Verbreitung eines neuen Mediums allein kontrollieren und gestalten. Medienwandel ist immer von einer Vielzahl von Menschen abhängig, die Medienangebote machen und diese wahrnehmen. Alle diese Menschen denken sich etwas bei ihrem Handeln, alle verfolgen bestimmte Ziele (der eine will Geld verdienen, der andere sich vergnügen), viele treffen dabei konträre Entscheidungen (der eine wechselt von einem Festnetzanschluss zu einem Mobiltelefon, der andere nicht). Auch wenn die Entscheidungen einzelner Mediennutzer oft bewusst und planvoll sind, so wird der Gesamtprozess als solcher von niemand geplant. Die Struktur des Wandels entsteht dadurch, dass viele verschiedene Menschen in unterschiedlichen Funktionen, z. B. Medienproduzenten und Mediennutzer, an einem solchen Prozess teilnehmen. Entscheiden sich Millionen Menschen an der Kinokasse für Filme des eigenen Landes, dann entsteht ein Präferenzmuster, das in Kapitel 8 exemplarisch für das Europa der 1930er-Jahre analysiert wird. Entscheiden sich Milliarden Menschen für ein Smartphone, dann setzt sich diese neue Medientechnologie weltweit am Markt durch. Ungeplante Prozesse sind Ergebnisse von Handlungen, deren Folgen (also die Struktur und Richtung des Prozesses) selbst niemand geplant hat. So entstehen Strukturen des Wandels, die dem Einzelnen leicht als Systeme erscheinen, als von menschlichen Handlungen unabhängig, die jedoch auf nichts anderes als menschliche Handlungen zurückgehen. <?page no="35"?> Instrumente zur Analyse des Medienwandels 36 Stellen Sie sich zur besseren Verständlichkeit ein Spiel vor (etwa Fußball oder Schach): 18 Je ausgewogener die Machtbalance zweier Spielpartner, desto unvorhersehbarer ist der Spielverlauf. Der Spielverlauf wurde in diesem Fall von keinem einzelnen Spieler geplant, bestimmt oder vorhergesehen. Ein Fußballspiel mit zwei gleich starken Mannschaften ist kaum vorhersehbar; ein Spiel der Nationalmannschaft gegen die Mannschaft einer Bezirksliga gewinnt dagegen wahrscheinlich die Nationalmannschaft. Je mehr Gruppen beteiligt sind und je größer die Gruppenstärke wird, desto unkontrollierbarer wird der Prozess für den Einzelnen. Stellen Sie sich vor, eine Fußballmannschaft hätte nicht elf, sondern 33 Spieler, dann hätte der stärkste Spieler nicht mehr die gleiche Kontrolle über den Spielverlauf. Reduzierte man die Gruppenstärke auf drei Spieler, so wäre der stärkste Spieler dagegen mit Sicherheit spielbestimmender als in einem Spiel mit elf Spielern. Je mehr Ebenen ein Spiel hat (die Gruppen spielen nicht mehr direkt gegeneinander), desto weniger können einzelne Gruppen den Spielverlauf kontrollieren. Bei einer Fußball-Europameisterschaft spielen nicht alle Mannschaften gegeneinander; durch Los werden die Mannschaften einer Gruppe bestimmt, die in der Vorrunde gegeneinander antreten. Eine Mannschaft mag noch eine relative Kontrolle über die Spiele der eigenen Gruppe haben, über die Spiele einer anderen Gruppe fehlt dagegen jede Kontrollmöglichkeit. So hat die Mannschaft der Gruppe A keinerlei Einfluss darauf, auf welche Mannschaft der Gruppe B sie stoßen wird, falls sie sich in der Vorrunde behauptet. Um komplexe historische Prozesse verstehen und erklären zu können, muss man analysieren, wie die Handlungen der »Mannschaften« (also etwa der Medienmacher und -nutzer) miteinander verzahnt sind und sich gegenseitig bedingen. Wie erklärt man ein Tor in einem Fußballspiel? Ohne Zweifel kann man als Ursache den Torschützen nennen und sagen, der Spieler Müller habe das Tor geschossen. Das reicht jedoch nicht aus. Man muss zudem den Spielverlauf rekonstruieren und zeigen, wie die Chance Müllers, ein Tor zu schießen, aus der sich wandelnden Spielfiguration entstanden ist. Man muss sich also zumindest die letzten Spielzüge beider gegeneinander spielenden Mannschaften vor dem Torschuss ansehen, um zu verstehen, wie und warum Müller das Tor geschossen hat. In diesem Buch gibt es mehrere Fallstudien, die Strukturen eines ungeplanten Medienwandels herausarbeiten. Kapitel 6 macht deutlich, dass Filme zunächst in transportablen Kinos ausgewertet wurden, die auf Jahrmärkten aufgebaut wurden. Wie in anderen Schaubuden (z. B. mobilen Varietés, Illusionsbuden) wurde das über den Jahrmarkt flanierende Publikum mit Kurzfilmprogrammen angelockt, die den Zuschauer mit besonderen visuellen Reizen in Erstaunen versetzten. Wie Kapitel 7 zeigt, <?page no="36"?> 2. Was bedeutet Wandel? 37 etablierten sich etwa zehn Jahre nach der Einführung der Medientechnologie Film in den Markt ortsfeste Kinos, die zunächst ein vergleichbares Filmprogramm boten, dann jedoch mit erzählenden Filmen, den sogenannten Kinodramen, erfolgreich wurden. Die ortsfesten Kinos, die täglich spielten, verdrängten die Jahrmarktkinos innerhalb eines Jahrzehntes vom Markt. Kapitel 17 zeigt Strukturen des Wandels in Bezug auf die populären Kinofilme. Die beim deutschen Publikum populären Kinofilme lassen sich in drei Phasen einteilen, je nachdem welches Land die meisten Filmerfolge stellt: Zwischen 1925 - dem Beginn der Erhebung über den Filmerfolg - und 1963 waren deutschsprachige Filme unangefochten erfolgreich: Der ganz überwiegende Teil aller erfolgreichen Filme kam in dieser ersten Phase aus deutscher bzw. österreichischer Produktion. In der zweiten Phase, 1964 bis 1979, wurden Filme der westeuropäischen Nachbarländer vom deutschen Kinopublikum favorisiert (weshalb ich sie auch als Europaphase bezeichne). Seit Beginn der 1970er-Jahre gewinnen jedoch US-Filme zunehmend an Popularität. In der dritten Phase, die 1980 beginnt, sind US-Filme beim deutschen Kinopublikum dann so populär wie in der ersten Phase die deutschen. Die genannten Kapitel beschreiben die Strukturen des Wandels nicht nur, sondern erklären, warum sie sich in eine ganz bestimmte Richtung entwickeln. Wandlungsprozesse, die eine klare Struktur aufweisen, entwickeln sich immer in eine bestimmte, analysierbare Richtung. Diese kann in einer zunehmenden Vereinheitlichung oder Differenzierung, in einer zunehmenden Integration oder Desintegration und in einer zunehmenden Konvergenz oder Divergenz bestehen. Solche Prozesse sind also grundsätzlich bipolar. Ich greife als Beispiel einen konvergenten Prozess heraus. Konvergenz bezeichnet in allen Wissenschaften - von der Mathematik über die Physik bis zur Meteorologie - immer einen Prozess, in dessen Verlauf zwei gleiche oder vergleichbare Ereignisse zusammenlaufen - seien es Linien, Lichtstrahlen oder Meeresströmungen. Grundsätzlich lassen sich dabei zwei Formen der Konvergenz unterschieden: eine Angleichung, die von beiden Seiten, und eine, die nur von einer Seite ausgeht (was auch als beiderseitige bzw. einseitige Konvergenz bezeichnet wird). Konvergenz kann es im Medienbereich auf ganz unterschiedlicher Ebene geben. Bekannt und viel diskutiert sind dabei 1. die Konvergenz im medientechnologischen Bereich und 2. die Konvergenz von Fernsehprogrammen. In den letzten Jahren haben technische Endgeräte Karriere gemacht, die Nutzungsmöglichkeiten, die bisher auf verschiedene Geräte verteilt waren, in einem einzigen Gerät integrieren. Das Smartphone, das u. a. als Telefon, Computer und MP3-Player genutzt werden kann, ist dafür ein gutes Beispiel. In Deutschland gibt es zudem <?page no="37"?> Instrumente zur Analyse des Medienwandels 38 einen Prozess der Angleichung der Fernsehprogramme öffentlich-rechtlicher und privater Sender. Betrachtet man die Entwicklung der Programme der öffentlichrechtlichen und der privaten Sender seit Mitte der 1980er-Jahre aus der Distanz, so kann man einen beiderseitigen Konvergenzprozess beobachten. Die öffentlich-rechtlichen Sender haben ihren Schwerpunkt in der vom Gesetzgeber für Vollprogramme vorgeschriebenen Grundversorgung mit Nachrichten, während sich die privaten Fernsehsender stärker um die Unterhaltung ihrer Zuschauer bemühen. Die privaten Sender haben die Nachrichtenformate der öffentlich-rechtlichen übernommen und weiterentwickelt (»Infotainment«). Die öffentlichrechtlichen Sender haben ihrerseits von den privaten Sendern entwickelte Mediennutzungsformen wie die Dokusoap und die Pseudo-Dokusoap adaptiert. Von daher muss man von einem beiderseitigen Konvergenzprozess öffentlich-rechtlicher und privater Fernsehprogramme sprechen, der sich seit Mitte der 1980er- Jahre vollzogen hat. Kapitel 17 zeigt einen Konvergenzprozess, die Angleichung der Filmpräferenzen in Europa. Die Kinopublika von Deutschland, Frankreich und Italien haben in den 1950er-Jahren im Wesentlichen die Filme des eigenen Landes favorisiert. Es gab nur sehr wenige Titel, die in allen drei Ländern in die Top Ten kamen. Seit den 1980er-Jahren vollzog sich ein Angleichungsprozess derart, dass die Zahl der in allen drei Ländern sehr erfolgreichen Filme signifikant größer wurde. Zugleich bietet dieses Kapitel ein Beispiel für einen einseitigen Konvergenzprozess: Die Präferenzen des europäischen Publikums wurden denen des US-amerikanischen ähnlicher, was umgekehrt eben nicht der Fall war. Wandlungsprozesse sind zudem grundsätzlich umkehrbar. Sie müssen also nicht dauerhaft in eine Richtung laufen, sondern können sich durchaus auch wieder in die gegenteilige Richtung entwickeln. So muss sich ein medialer Konvergenzprozess, wie er in Kapitel 17 für Europa beschrieben wird, nicht immer weiter fortsetzen, bis er die ganze Welt umfasst. Zunehmende Gemeinsamkeiten der Filmpräferenzen in verschiedenen europäischen Ländern können durchaus wieder von stärkeren nationalen Vorlieben abgelöst werden. Die Struktur und Richtung eines Wandlungsprozesses vollzieht sich immer in konkreten kulturgeografischen Kontexten. Dies können Regionen, Länder, Kontinente oder auch die Welt insgesamt sein. Nationen waren im 20. Jahrhundert die primären Überlebenseinheiten, in denen sich überwiegend Menschen der gleichen Sprach- und Kulturgemeinschaft organisiert hatten. So bildeten Kinozuschauer eines Landes über Jahrzehnte - ich gehe u. a. in Kapitel 8 darauf ein - starke gemeinsame Präferenzen aus, die sie von Kinozuschauern anderer Länder unterschieden. Da es diese Präferenzunterschiede gab, stehen auf den Listen der erfolg- <?page no="38"?> 2. Was bedeutet Wandel? 39 reichsten Filme verschiedener Länder von den 1920erzu den 1950er-Jahren überwiegend andere Filmtitel. Solche kulturgeografischen Referenzsysteme können sich jedoch verändern, weil sich zum Beispiel die Präferenzen der Kinozuschauer verschiedener Länder wie beschrieben angleichen. Das Referenzsystem sind dann nicht mehr einzelne Länder, sondern supranationale Regionen wie zum Beispiel Europa. <?page no="40"?> 41 3. Wie lässt sich Medienwandel beschreiben? Dieses Kapitel beschäftigt sich mit der Frage der Methodologie der Medienhistoriografie. Wie Mediengeschichte geschrieben wird, ist von Disziplinen abhängig. Disziplinen sind Einzelfächer, die man an Universitäten studieren kann. In Deutschland beschäftigen sich viele Disziplinen mit Medien, allen voran die Medienwissenschaft (auch Medienkulturwissenschaft genannt) und die Kommunikationswissenschaft. Literaturwissenschaftler neigen aufgrund ihrer Ausbildung zum Umgang mit Texten; sie interessieren sich in einem besonderen Maß für Mediengeschichte als Diskursgeschichte. Kommunikationswissenschaftler legen dagegen mehr Wert auf eine Analyse der Medien selbst und interessieren sich für den Diskurs oft nur, insofern dieser einen Einfluss auf die Medienentwicklung hatte. Da die kulturwissenschaftliche Medienwissenschaft in Deutschland von den Literaturwissenschaften dominiert wird, konzentrierte sich zum Beispiel die Analyse des frühen Kinos zunächst in einem erheblichen Maß auf die Diskurse der Kinoreformer bzw. der Schriftsteller, während die Frage, wie das Medium Film als Kino etabliert wurde, weniger Aufmerksamkeit fand. Disziplinen sind nicht neutral, sondern schaffen und verteidigen bestimmte Fragestellungen und Analysemethoden. So ist die Medienwissenschaft, die aus der Literatur- und Theaterwissenschaft entstanden ist, in einem besonderen Maß an den medialen Produkten, den Mediennutzungsformen, interessiert und bedient sich hermeneutischer Methoden. Die Kommunikationswissenschaft stellt dagegen stärker die Frage der Mediennutzung und -wirkung in den Vordergrund und bedient sich vor allem empirischer Methoden. Disziplinen konstruieren ihren Gegenstand auf je besondere Art und Weise und weisen, oft vehement, analytische Instrumente von sich, die ihrer Meinung nach fachfremd sind. Der Autor dieses Buchs ist der Überzeugung, dass sich die Forschung von solchen akademischen Zwängen stärker freischwimmen sollte. Anstatt den Untersuchungsgegenstand auf fachspezifische Weise zu konstruieren, ist es sinnvoller, von Fragen und Problemen auszugehen, die gelöst werden müssen. Wie und warum wandeln sich Medien, sind solche Fragen, die kaum von einer akademischen Disziplin allein beantwortet werden können. Der wissenschaftliche Tunnelblick ist der akademischen Forschung durchaus bewusst. Traditionell wird das Problem dadurch gelöst, dass eine Zusammenarbeit von Forschern unterschiedlicher Disziplinen gefordert wird. Sonderforschungsbereiche, an denen Wissenschaftler mehrerer Disziplinen beteiligt sind, bieten hier eine geeignete Möglichkeit. De facto findet ein solches interdisziplinäres Arbeiten jedoch nicht in einem wünschenswerten Maß statt. Eine Alternative dazu, <?page no="41"?> Instrumente zur Analyse des Medienwandels 42 die der Autor dieses Buchs favorisiert, ist, sich selbst weniger von Disziplinen als von Fragestellungen antreiben zu lassen und sich dabei, was die Beantwortung der Fragen angeht, unterschiedlicher Methoden verschiedener Disziplinen zu bedienen. Dieses transdisziplinäre Verfahren ist wissenschaftlich gesehen von Vorteil, hilft der akademischen Karriere jedoch nicht, da diese von Disziplinen mit ihren Grenzen und Verteidigungslinien bestimmt wird. Kapitel 8 und 9 sind sozialwissenschaftliche Studien, die nach der Kulturbzw. Schichtenspezifik von Filmpräferenzen fragen. Kapitel 10 ist ein Beispiel für eine transdisziplinäre Analyse, die sich kultur-, sozial- und wirtschaftswissenschaftlicher Methoden bedient. Im Folgenden werden zum einen begriffliche Konzepte vorgestellt, die nützlich sind, um den Wandel der Medien zu erforschen, zum anderen wird die Rolle der eigenen Wahrnehmung thematisiert, die unsere Sicht auf den Medienwandel mit bestimmt. Begriffliche Konzepte Aufgabe einer Medienhistoriografie ist nicht allein, ein neues Wissen über den Medienwandel zu schaffen, sondern dabei zugleich das tradierte Wissen zu korrigieren. Ein Medienhistoriker, der dies leistet, ist also immer auch ein Mythenjäger, der Legenden als solche erkennt und durch ein adäquateres Wissen ersetzt. Aber wie ist das möglich? Grob gesprochen gibt es zwei Typen von Medienhistorikern. Die Vertreter der einen Gruppe sind Verfechter von Konzepten, die sie selbst in der Regel als Theorien bezeichnen, während die Vertreter der anderen Gruppe ein theoriegeleitetes Forschen für einen Irrweg halten. Die Vertreter der ersten Gruppe lassen sich zudem danach unterscheiden, welchem Theoriegebäude sie sich verpflichtet fühlen (also etwa der Systemtheorie, den Cultural Studies, der Kritischen Theorie). Die Möglichkeiten, medienhistorisch Innovatives zu leisten, sind bei Vertretern dieser Schule beschränkt, da ihre Sicht auf die Mediengeschichte in einem erheblichen Maß durch das jeweilige Theoriegebäude präjudiziert wird. Interessanterweise arbeiten die Vertreter der zweiten Gruppe, deren Blick auf den Wandel der Medien offener ist, keineswegs ohne begriffliche Konzepte - sie explizieren sie nur nicht. Der Autor dieses Buchs ist der Überzeugung, dass man begriffliche Konzepte, aber keine Ideologien oder Großtheorien braucht, um Mediengeschichte zu schreiben. Ein wissenschaftliches Konzept funktioniert im Grunde wie ein begrifflicher Rahmen, der unseren Blick so auf den Forschungsgegenstand richtet, dass neue <?page no="42"?> 3. Wie lässt sich Medienwandel beschreiben? 43 Erkenntnisse möglich werden. Konzepte sollten alle für die jeweilige Forschung relevanten Faktoren berücksichtigen, jedoch so offen sein, dass sie Forschungsergebnisse nicht vorwegnehmen. In diesem Sinn sind Medienhistoriografie und Konzeptualisierungen interdependente Prozesse. Ohne Reflexion auf die Konzepte bleibt das Verständnis des Medienwandels verschwommen und belastet durch Vorurteile der Forschenden. Die bloße Arbeit an Konzepten, ohne den ständigen Bezug auf den Wandel der Medien, ist dagegen ein intellektuelles Spiel, das wenig Sinn ergibt. Alle Fallstudien dieses Buchs arbeiten mit begrifflichen Konzepten. Die meisten Fallstudien arbeiten mit einem empirisch-vergleichenden Begriff von Popularität. Im kulturwissenschaftlichen Kontext ist es üblich, Popularität als eine Eigenschaft des Produktes zu definieren (populär im Sinn von »bloß unterhaltsam«) und nicht als Resultat der Mediennutzung. Definiert man den Popularitätsbegriff dagegen empirisch-vergleichend, ändert sich die Sicht auf die Mediengeschichte grundlegend, da der Mediennutzer in den Blick gerät. Ein Medienprodukt ist dann populärer als ein anderes, wenn es von mehr Menschen genutzt wird. Um ein neues Wissen über den Medienwandel zu schaffen und dabei zugleich das tradierte Wissen zu korrigieren, muss man nicht nur wissenschaftliche Konzepte reflektieren, sondern auch Primärquellen recherchieren und auswerten. Diese sind für neue Einsichten fast immer unverzichtbar. Oft wird Mediengeschichte ausschließlich auf der Basis von Sekundärliteratur geschrieben. Die Qualität solcher Arbeiten steht und fällt mit der Qualität der Sekundärliteratur selbst. Hält die Sekundärliteratur einer kritischen Prüfung stand, ist gegen dieses Verfahren nichts einzuwenden. Vielfach werden in der Sekundärliteratur jedoch Vorurteile weitergegeben, da sie sich oft nur auf Sekundärliteratur bezieht, ohne dass diese zuvor einer kritischen Überprüfung unterzogen worden wäre. Nur ein systematisches Quellenstudium kann zu einer nachhaltigen Korrektur tradierter Vorurteile führen. Als Quellen werden alle Zeugnisse verstanden, die eine möglichst zeitnahe Auskunft über ein vergangenes Ereignis geben können. Im Unterschied zur Forschungsliteratur liefern Quellen selbst keinen substanziellen Beitrag zur Interpretation der Geschichte. Forschungsliteratur leistet dagegen genau dies; hier werden Ereignisse der Geschichte gedeutet bzw. erklärt. Quellen sind jedoch keineswegs gleichbedeutend mit Fakten - auch Quellen können »lügen«. Jede Quelle bedarf der sorgfältigen Interpretation, wobei zu berücksichtigen ist, wer das Dokument mit welchem Interesse verfasst hat. Ob ein Dokument als Quelle oder als Forschungsliteratur gilt, kann von der Fragestellung des Forschenden abhängen. Ein Text eines Schriftstellers zum Kino- <?page no="43"?> Instrumente zur Analyse des Medienwandels 44 drama der frühen 1910er-Jahre liefert zweifelsohne eine Interpretationsleistung. Fragt man jedoch diskursgeschichtlich nach der Art, wie das Kino dieser Zeit von Schriftstellern wahrgenommen wurde, so hat ein solcher Text in diesem Zusammenhang den Status einer Quelle. Es gibt eine große Bandbreite unterschiedlicher Quellen: Unveröffentlichte Quellen wie z. B. Bauakten zu Kinos, Zensurunterlagen jedweder Art, Protokolle von Entscheidungsgremien der Rundfunkanstalten, Geschäftsunterlagen, Nachlässe von Firmen, Einzelpersonen; veröffentlichte Quellen wie zum Beispiel Branchen- oder Fanzeitschriften, Jahresberichte von Firmen oder Werbematerial. In Deutschland finden sich solche Quellen in einer Vielzahl öffentlicher Archive wie zum Beispiel: Bundesarchiv, Berlin (Akten des Propagandaministeriums, der Ufa u. a.) Deutsches Rundfunkarchiv, Frankfurt am Main (Akten der öffentlichrechtlichen Sender) Hochschule für Bildende Künste, Berlin (eine Vielzahl von Nachlässen einzelner Künstler) Deutsches Filminstitut, Frankfurt am Main, und Filmmuseum Berlin (Branchenzeitschriften, diverse Nachlässe u. a. von Paul Kohner, Artur Brauner) Sie finden viele Quellen - aber längst nicht alle - mittlerweile auch im World Wide Web. Bitte informieren Sie sich über die Präsenz von Quellen etwa auf den Seiten des Deutschen Rundfunkarchivs (www.dra.de) sowie auf den Seiten des Deutschen Filminstituts (www.deutsches-filminstitut.de). Neben nationalen Archiven sind lokale Archive für die Mediengeschichte von großer Bedeutung. In Stadtarchiven befindet sich oft eine Vielzahl interessanter veröffentlichter und unveröffentlichter Quellen zur lokalen Mediengeschichte wie zum Beispiel: Lokale Tageszeitungen mit Anzeigen und Berichten Dokumente zur lokalen Zensurgeschichte Bauakten zu Kinos, Varietés usf. Quellen zur Vergnügungssteuer Kapitel 6 verwendet diverse Quellen aus lokalen Archiven, um das Phänomen des mobilen Kinos der Jahrmärkte in Deutschland um 1900 darzustellen. <?page no="44"?> 3. Wie lässt sich Medienwandel beschreiben? 45 Kapitel 13 wertet die Sammlung Paul Kohner aus dem Filmmuseum Berlin systematisch aus, während Kapitel 15 auf allen für die dort behandelte Thematik relevanten Dokumenten aus dem Deutschen Rundfunkarchiv in Frankfurt am Main basiert. Schreiben von Fritz Keller an Ludwig Stössel vom 4. August 1938 (Stiftung Deutsche Kinemathek, Berlin, Sammlung Paul Kohner) Auszug aus dem Protokoll der Kölner Sitzung der ständigen Programmkonferenz am 13. September 1957 (Deutsches Rundfunkarchiv, Frankfurt am Main, ARD-Reg. 6-58) Für die Frage, in welchem Maß in Deutschland im 20. Jahrhundert Primärquellen zum Film überliefert sind, spielen kulturelle Mentalitäten ebenso eine Rolle wie politische Entwicklungen. Im Unterschied zu den USA, wo große Filmfirmen ihre Aktenbestände Universitäten übergeben haben, gilt in Deutschland die Firmengeschichte als ein zu bewahrendes Geheimnis. Deutsche Filmfirmen haben ihre Akten nach Ablauf der gesetzlichen Aufbewahrungsfrist, die heute zehn Jahre beträgt, daher in aller Regel nicht an öffentliche Archive gegeben. Stattdessen haben die Unternehmen die Akten in der Regel vernichtet, weil sie für die aktuellen Geschäfte keinen Wert mehr hatten und ihre Archivierung daher nur unnötige Kosten verursacht hätte. Die politische Katastrophe des Dritten Reichs stellt sich vor dem Hintergrund dieser Mentalität überlieferungsgeschichtlich als ein »Glücksfall« dar, weil durch die Verstaatlichung von Medienfirmen viele Firmenakten erhalten geblieben sind, die ansonsten - wie viele Akten aus der Nachkriegszeit - mit großer Wahrscheinlichkeit vernichtet worden wären. Die im Besitz des nationalsozialistischen Staates befindlichen Firmenakten gingen nach dem Zweiten Weltkrieg in den Besitz der Bundesrepublik Deutschland bzw. der Deutschen <?page no="45"?> Instrumente zur Analyse des Medienwandels 46 Demokratischen Republik über und sind heute im Wesentlichen über das Bundesarchiv zugänglich. Alle Fallstudien dieses Buchs basieren auf einem umfangreichen Quellenstudium. Kapitel 9, 12 und 17 sind Beispiele dafür, wie ein tradiertes Wissen durch ein systematisches Quellenstudium revidiert werden kann. Kapitel 9 widerlegt die Annahme, Charles Chaplins Filme seien universell populär gewesen. Kapitel 12 widerlegt die Auffassung, Leni Riefenstahl transportiere mit ihrem Film O LYMPIA primär die nationalsozialistische Ideologie. In Kapitel 17 wird das international favorisierte Modell über die Rolle Hollywoods auf den Auslandsmärkten widerlegt, demzufolge der US-Film seit Mitte der 1910er-Jahre weltweit dominant gewesen sei. Alle Fallstudien bringen die Vorurteile nicht nur zu Fall, sondern setzen überzeugendere Aussagen an ihre Stelle. Erforscht man ein Medium im Wandel, ist es erforderlich, es nicht zu isolieren, sondern in seiner Interaktion mit anderen Medien zu sehen. Mediengeschichte wurde über Jahrzehnte als Einzelmediengeschichte geschrieben, also ohne andere Medien systematisch mit in die Analyse eines Mediums einzubeziehen. Heute findet man oft das Gegenteil: Eine Mediengeschichtsschreibung, die von Medien handelt, aber Einzelmedien kaum zur Kenntnis nimmt. Ein Ausweg aus dem Dilemma ist, Mediengeschichte in Bezug auf einzelne Medien wie Film und Fernsehen zu schreiben (denn nur so können Quellen wirklich ausgewertet werden), dabei aber andere Medien mit in die Analyse einzubeziehen, weil diese Funktion und Profil des untersuchenden Mediums mit bestimmen. Kapitel 15 und 16 zeigen, wie Film und Fernsehen von den 1950erzu den 1990er-Jahren miteinander interagieren. Zeigt Kapitel 15, wie sich die Mediennutzungsform T AGESSCHAU des Fernsehens in der Auseinandersetzung mit der Kinowochenschau und der Nachrichtensendung des Hörfunks gewandelt hat, so stellt Kapitel 16 dar, wie sich die Institution Kino (neben anderen Faktoren) unter den Bedingungen des immer erfolgreicher werdenden Fernsehens verändert hat. Darüber hinaus ist es sinnvoll, die kulturellen Referenzsysteme zu reflektieren, indem man eine Medienkultur mit einer anderen vergleicht. Referenzsysteme können unterschiedlicher Art sein: Kultur kann die Kultur einer sozialen Gruppe, einer Generation, einer Stadt, einer Region, eines Landes/ einer Nation oder auch die der Welt insgesamt sein. Oft wählt die Forschung ein Land als Referenzsystem der Kultur, weil dort überwiegend Menschen der gleichen Sprach- und Kulturgemeinschaft leben, die <?page no="46"?> 3. Wie lässt sich Medienwandel beschreiben? 47 ähnliche kulturelle Praktiken teilen. Am Beispiel von Ländern, in denen die Zusammensetzung der Bevölkerung in einem größeren Maß aus Menschen verschiedener Sprach- und Kulturgemeinschaften bestand, lässt sich ablesen, dass es durchaus aber nicht immer Länder sind, die sich durch eine relative kulturelle Homogenität auszeichnen. Das Beispiel der Tschechoslowakei in den 1930er-Jahren zeigt sehr deutlich, dass die Sprach- und Kulturgemeinschaften der Tschechen, Slowaken, Deutschen usf. starke gemeinsame kulturelle Vorlieben hatten, die sich deutlich voneinander unterschieden. Die Filmpräferenzen der deutschsprachigen Bevölkerung in der Tschechoslowakei etwa waren den Vorlieben der Deutschen in Deutschland ähnlicher als denen der Tschechen. 19 Über Jahrzehnte schien das eigene Land als ein selbstverständlicher Bezugspunkt der Medienforschung; Forscher blickten kaum über die jeweiligen nationalen Grenzen hinaus. Heute ist das Pendel beinahe ins andere Extrem ausgeschlagen. Mediengeschichte wird heute oft geschrieben, ohne sie zu lokalisieren; es wird quasi von vornherein unterstellt, dass Medien globale Phänomene seien (was die Fallstudien im zweiten Teil dieses Buchs widerlegen). Man kann diese Fallstricke vermeiden, indem man sich auf ein Land konzentriert (eine Beschränkung des Quellenkontingents ist ein Gebot der Machbarkeit) und dabei die Ergebnisse der Forschung mit der Situation anderer Länder vergleicht (auf der Basis der Forschungsliteratur bzw. einer selektiven Nutzung von Quellen). Auf diese komparatistische Weise lässt sich beurteilen, ob die Medienentwicklung für das eigene Land spezifisch bzw. ob sie in mehreren Ländern ähnlich verlaufen ist. Stellt man kulturelle Varianzen zwischen verschiedenen Ländern fest, so sind diese erklärungsbedürftig. In jüngster Zeit haben sich Medienhistoriker verstärkt mit der Frage des Kulturtransfers beschäftigt. Die Medienlandschaften zweier Länder - ob es sich dabei um Nachbarländer oder um Länder auf verschiedenen Kontinenten handelt - müssen sich nicht unabhängig voneinander entwickelt haben. In Europa etwa war im 20. Jahrhundert ein intensiver Austausch von Medienprodukten üblich. Sicherlich wurden viele Filme nur für die einheimischen Märkte produziert. Andererseits gab es eine gezielte Produktion für den europäischen Markt (siehe Kapitel 11), also einen Austausch von Filmen über Ländergrenzen hinweg. Deutsche Filme wurden in französischen Kinos gezeigt und französische Filme in deutschen Kinos. Historiker fragen oft danach, wie sich das jeweilige Zielland durch den Kulturaustausch verändert hat. Bei Unterhaltungsprodukten kann man jedoch auch fragen, welchen Unterhaltungswert die Filme eines Landes für das Publikum eines anderen Landes hatten. Sind die ausländischen Filme kulturell zu fremd, sind sie beim Publikum oft chancenlos, da ihnen der bewährte Unterhaltungswert fehlt. Das Publikum wirkt in diesem Fall wie ein Filter, der verhindert, dass der Kulturtransfer die Kultur des Ziellandes nachhaltig verändert. <?page no="47"?> Instrumente zur Analyse des Medienwandels 48 Kapitel 10, das sich mit unterschiedlichen Übersetzungsverfahren fremdsprachiger Filme beschäftigt, ist ein Beispiel für ein komparatistisches Vorgehen. Erst im Ländervergleich wird deutlich, dass sich in unterschiedlichen Ländern spezifische Übersetzungsverfahren etabliert haben. So lässt sich zeigen, dass die Synchronisation eines fremdsprachigen Films in der eigenen Sprache nur in Deutschland, Italien und Spanien zur dominanten Übersetzungspraxis wurde. Kapitel 9, 12 und 14 sind Beispiele für Kulturtransfer. In Kapitel 9 wird untersucht, wie erfolgreich Charles Chaplins Filme beim deutschen Publikum der 1920er- und 1930er-Jahre waren. Kapitel 12 analysiert, wie Leni Riefenstahl ihren Film O LYMPIA in der zweiten Hälfte der 1930er-Jahre so gestaltet hat, dass er eine Chance hatte, international erfolgreich zu werden. Kapitel 14 untersucht, warum für das deutsche Publikum der 1950er-Jahre die Nazis aus dem Film C ASABLANCA herausgeschnitten wurden. Da das Angebot an Medientechnologien und -nutzungsformen in aller Regel sehr vielfältig ist und die privaten Mediennutzer daraus eine Auswahl treffen, ist es sinnvoll, die Dynamik von Angebot und Nachfrage zu analysieren. Eine Vielzahl angebotener Filme bilden Angebotsmuster, etwa hinsichtlich ihrer nationalen Herkunft oder ihrer Genres. Filme, die vom Publikum favorisiert werden, bilden miteinander Erfolgsmuster in dem Sinn, dass bestimmte Filmtypen stärker als andere vertreten sind. Um die Filmvorlieben diverser Kinopublika historisch zu untersuchen, gibt es eine Fülle von bisher nicht ausgeschöpften Möglichkeiten. Das wichtigste - aber nicht das einzige - Forschungsinstrument, um Aussagen über die Präferenzen bestimmter Kinopublika machen zu können, ist die Filmerfolgsrangliste - also eine Liste, die die Filme nach ihrem Erfolg bei einem bestimmten Publikum in einem bestimmten Zeitraum (also etwa einer Spielzeit oder einem Kalenderjahr in einem bestimmten Land oder einer Region) hierarchisiert. Die auf dieser Basis beruhenden Erfolgsranglisten zeigen, wie das Publikum die große Zahl der angebotenen Filme tatsächlich genutzt hat. Da Anbieter keineswegs nur das anbieten, was das Publikum favorisiert, unterscheiden sich die Erfolgsvon den Angebotsmustern mitunter erheblich. Die Differenz zwischen beiden Mustern kann für ein Verständnis der Medienkultur sehr aufschlussreich sein. Die Fallstudien dieses Buchs, die mit einem empirisch-vergleichenden Begriff von Popularität arbeiten, nutzen Daten über den Erfolg von Filmen beim Publikum ebenso wie Daten über das Angebot, auf deren Basis sich der Erfolg erst interpretieren lässt. Kapitel 11 zeigt an einem Beispiel aus den 1920er- und 1930-Jahren, wie Filmproduzenten sich auf die Produktion eines bestimmten Filmtyps spezialisiert haben. Kapitel 8 macht deutlich, wie die europäischen <?page no="48"?> 3. Wie lässt sich Medienwandel beschreiben? 49 Kinopublika in den 1930er-Jahren die Fülle der angebotenen Filme hoch selektiv genutzt haben. Die medialen Produkte, die der Mediennutzer selektiert, können sich in unterschiedlicher Art und Weise aufeinander beziehen. Als intermedial bezeichnet man die ästhetische Beziehung zwischen zwei Produkten unterschiedlicher Medien, als intertextuell die Beziehung zwischen zwei Produkten des gleichen Mediums. Fälle von Intermedialität liegen etwa vor, wenn sich frühe Filme der Ästhetik des magischen Illusionstheaters bedienen oder wenn sich die T AGESSCHAU des Deutschen Fernsehens in den 1950er-Jahren am Modell der Kino-Wochenschau orientiert. Wenn sich dagegen z. B. die frühen Filme von Roland Emmerich am US-amerikanischen Science-Fiction-Film orientieren oder wenn mit C ASINO R O- YALE (GB/ USA 1967) eine filmische Parodie auf die James-Bond-Filme realisiert wird, dann sind dies Beispiele für Intertextualität. Beide begrifflichen Konzepte stehen in der Tradition der Literaturwissenschaft, die sich im Wesentlichen für Texte und ihre Beziehung zueinander interessiert. Der Autor dieses Buchs hat für ein erweitertes Konzept der Intermedialität plädiert, das über die Texte hinaus auch die Kontexte einbezieht (wie Aufführungs- und Programmformen, Produktions- und Vertriebsformen). 20 Kapitel 6 und 15 geben Beispiele für eine intermediale Analyse im hier definierten Sinn. Kapitel 6 zeigt u. a., dass sich das Kino der Jahrmärkte sowohl hinsichtlich der Filminhalte als auch hinsichtlich der Programmform an der erfolgreichen Unterhaltungsinstitution des Varietés orientierte. Kapitel 15 macht anschaulich, dass die T AGESSSCHAU des Deutschen Fernsehens ihr Modell in den 1950er- Jahren an der Kino-Wochenschau fand, während sich das Gesamtprogramm des Fernsehens an dem des Kinos orientierte. Sinngemäß lässt sich das Konzept der Intertextualität auch auf Kontexte erweitern - man müsste dann sinnvollerweise einen anderen Begriff prägen, wie zum Beispiel den der Intramedialität (der teilweise auch synonym mit Intertextualität verwendet wird), der nicht nur die Beziehungen auf Text-, sondern auch auf Kontextebene erfasst. Ein Beispiel dafür ist etwa, dass sich die ersten ortsfesten Kinos hinsichtlich ihrer gezeigten Filme an den Programmangeboten der Jahrmarktkinos orientiert haben, worauf Kapitel 7 eingeht. Zur Wahrnehmung des Medienwandels Die Analyse des Medienwandels wird nur dann gelingen, wenn wir in die Analyse nicht nur eine Vielzahl von Fakten einbeziehen, sondern darüber hinaus auch be- <?page no="49"?> Instrumente zur Analyse des Medienwandels 50 denken, dass unsere Wahrnehmung der Fakten die Art und Weise mitbestimmt, wie wir den Medienwandel beschreiben. Dies lässt sich klar daran zeigen, ob wir Mediengeschichte als evolutionären Prozess der kleinen Schritte oder als revolutionären Prozess in der Form von Umbrüchen begreifen. Mit dem Wort Umbruch wird allgemein eine plötzliche, radikale Veränderung eines bis dahin kontinuierlich verlaufenden Prozesses bezeichnet. Als Medienumbruch kann somit eine besondere Form des Medienwandels gelten, nämlich ein Wandel, der sich nicht evolutionär, sondern revolutionär vollzieht. Man kann den Begriff sowohl für die Struktur des Medienwandels als auch für seine Auswirkungen verwenden. Im ersten Fall geht man davon aus, dass sich die Etablierung neuer Medien als radikale Abkehr des Tradierten vollzieht. Verwendet man den Begriff zur Bezeichnung der Folgen des Medienwandels, dann behauptet man, seine kulturellen Auswirkungen seien so tief greifend, dass sich in der Folge der Etablierung neuer Medien die Kultur und die Gesellschaft radikal gewandelt haben. Vier Faktoren spielen dabei eine Rolle, wie Forscher einen Medienwandel wahrnehmen: Ob ein Medienwandel als Medienumbruch wahrgenommen wird, hängt erstens vom kulturgeografischen Bezugsrahmen ab, von dem aus der Medienwandel beurteilt wird. Die Wahrnehmung ändert sich je nachdem, ob die Weltkultur, die Kultur eines Landes oder die einer sozialen Schicht als Bezugsrahmen für die Wahrnehmung des jeweiligen Medienwandels gewählt wird. Man kann zum Beispiel argumentieren, dass das lange Kinodrama (mehr dazu in Kapitel 7) um 1910 keine Innovation darstellt, da es Dramen bereits seit der Antike gibt. Verändert man dagegen den Bezugsrahmen, dann lässt sich die Etablierung des Kinodramas als Umbruch deuten. Zum einen kann man argumentieren, die Einführung langer Dramen sei ein intramedialer Umbruch gewesen, da es zuvor im Kino keine vergleichbaren Dramen gegeben hat. Zum anderen lässt sich argumentieren, dass die Etablierung des Kinodramas deshalb ein Medienumbruch war, weil der größte Teil der Zuschauer, die ins Kino gingen, keine Dramen auf dem Theater gesehen hatte, weil das Theater in Deutschland um 1900 im Unterschied zum Kino im Wesentlichen eine Angelegenheit der oberen sozialen Schichten war. Ob ein Medienwandel als Medienumbruch wahrgenommen wird, hängt zweitens von der zeitlichen Perspektive ab, die der Forscher wählt: Je näher er am Objekt ist, desto wahrscheinlicher erscheint ein Medienwandel als »evolutionär«; je größer die zeitliche Distanz jedoch ist, desto grundlegender oder »revolutionärer« wird ein Medienwandel erscheinen. Verfolgt man in chronologischer Reihenfolge die Etablierung eines neuen Mediums, so erscheint dieser Prozess mit großer Wahrscheinlichkeit als ein Prozess der kleinen Schritte. Macht man jedoch zwei Zeitschnitte - den ersten in dem Moment, in dem ein neues Medium in den Markt <?page no="50"?> 3. Wie lässt sich Medienwandel beschreiben? 51 eingeführt wird, und den zweiten dann, wenn es sich etabliert hat, wird man den Wandel eher als Umbruch wahrnehmen. Vergleicht man zum Beispiel die Zeit um 1895 zur Einführung des Films in den Markt mit dem Jahr 1914, dann erscheint dieser Medienwandel als plötzlicher Bruch einer kontinuierlichen Entwicklung. 1896 war die Reichweite des neuen Mediums Film noch relativ gering: Artisten und Schausteller präsentierten Programme »bewegter Bilder«, die kaum länger als 15 Minuten dauerten, überwiegend in Großstädten. 1914, also weniger als zwei Jahrzehnte später, gab es knapp 2.500 ortsfeste Kinos in deutschen Groß-, Mittel- und Kleinstädten, die abendfüllende Filmprogramme boten und bis zu 250 Millionen Eintrittskarten pro Jahr verkauften. Betrachtet man diesen Medienwandel jedoch, indem man der Chronologie der Ereignisse von 1895 bis 1914 sukzessive folgt, dann zeigt sich die Etablierung des Films als ein komplexer Prozess mit vielen Zwischenstufen. Der Prozess scheint aus dieser Binnenperspektive betrachtet als evolutionär, aus der Außenperspektive dagegen als revolutionär. Ob ein Medienwandel als Medienumbruch wahrgenommen wird, hängt drittens von der Persönlichkeit des Forschers ab: Je aufgeschlossener für Neuerungen jemand ist, desto weniger radikal wird ihm eine Veränderung erscheinen. Je konservativer jemand ist, desto stärker wird er eine Veränderung als Umbruch wahrnehmen. Man kann auch sagen: Je stärker jemand für Veränderungen aufgeschlossen ist, desto weniger abrupt erscheint ihm ein Medienwandel, weil er mehr erwartet hat. Je stärker jemand an der Tradition festhält, desto mehr wird er einen Medienwandel als Medienumbruch wahrnehmen, da er jeglichem Wandel gegenüber skeptisch ist. Viertens hängt die Art, wie ein Medienwandel wahrgenommen wird, von dem Forschungskontext ab, in dem der jeweilige Medienhistoriker steht. An einem Institut, an dem ein chronologisches Vorgehen in kleinen Schritten für verbindlich gehalten wird, werden Mitarbeiter einen Medienwandel kaum als Umbruch wahrnehmen. In einem Sonderforschungsbereich zum Thema Medienumbrüche ist es dagegen außerordentlich schwierig, den Medienwandel nicht als revolutionären Prozess zu interpretieren. Unabhängig von der Art des Wandels selbst hängt die Frage, ob ein Medienwandel als Evolution oder als Revolution wahrgenommen wird, also auch von Faktoren ab, die mit dem Wandel selbst nichts zu tun haben, sondern »im Auge des Betrachters« liegen. Die Analyse des Medienwandels ist also ein relativ komplexer Prozess, da es notwendig ist, eine Fülle von Fakten unter Benutzung klarer begrifflicher Konzepte zur Kenntnis zu nehmen und zugleich das Referenzsystem der eigenen Wahrnehmung zu reflektieren. <?page no="52"?> 53 4. Was treibt den Medienwandel voran? Will man den Medienwandel erklären, muss man sich den Medienproduzenten und den Mediennutzern zuwenden. Medien werden von privaten Nutzern, den Konsumenten, und von professionellen Nutzern wie Wissenschaftlern, Journalisten, Börsenhändlern oder Immobilienmaklern verwendet. Mediennutzer lesen Bücher, Tageszeitungen, telefonieren, schauen fern, gehen ins Kino oder nutzen das Internet. Es gibt natürlich auch Medientechnologien, die ausschließlich von Medienproduzenten genutzt werden, wie zum Beispiel die professionelle Filmkamera oder Scanner zur Digitalisierung und Software zur Restaurierung von analogem Filmmaterial. Auch diese Medientechnologien dienen jedoch in letzter Instanz dem Mediennutzer: Ohne sie könnte er sich im Kino nicht unterhalten lassen und alte Filme nicht in herausragender Qualität genießen. Beide Gruppen sind aufeinander angewiesen: Ohne Medienproduzenten gibt es kein Angebot, das private oder professionelle User nutzen könnten. Und ohne Mediennutzer kann kein Produzent seine Medien »unter die Leute bringen«. Wie unterschiedlich ihre Interessen auch sein mögen, erst das Zusammenspiel beider Gruppen, der Medienmacher und -nutzer, ermöglicht, dass Medien etabliert, verbreitet und differenziert werden. Attraktivität der Medienangebote Medienproduzenten können unterschiedliche Handlungsmotive haben: Sie können von ideellen oder von finanziellen Motiven angetrieben werden. Zu den ideellen Motiven zähle ich zum Beispiel die Schaffung von Webseiten mit hoch spezialisiertem Wissen (wie z. B. zu den deutschen Synchronfassungen von Walt-Disney- Filmen) oder auch Webseiten, die der Selbstdarstellung dienen (wie z. B. Homepages von Privatpersonen). Da Medienproduzenten in der Regel von ihrer Arbeit leben müssen, werden sie meistens versuchen, mit ihrer Arbeit Gewinne zu erzielen. Bei der Suche nach Möglichkeiten der Gewinnmaximierung werden oft neue Medien eingesetzt - Kapitel 6 zeigt dies am Beispiel des Films. Grundsätzlich können Gewinne maximiert werden, indem man Einsparungen vornimmt (z. B. Verringerung des Personalbestands, Einsatz von Maschinen bei der Fertigung von medientechnischen Geräten, Senkung der Vertriebs- und Werbekosten usf.) oder die Einnahmen steigert (u. a. Verteuerung des Medienangebots; Qualitätsverbesserung, um den Absatz zu erhöhen). Will man sehr viele Menschen unterhalten, ist die Medientechnologie Film ein Mittel einer derartigen Kostenreduktion. Die technische Reproduzierbarkeit von Schauspielen macht sie zu deutlich geringeren <?page no="53"?> Instrumente zur Analyse des Medienwandels 54 Kosten einsetzbar. Müssen Schauspieler am Theater für jede Vorstellung bezahlt werden, so müssen Schauspieler beim Film nur einmal entlohnt werden. Medienmacher erreichen eine Steigerung der Nachfrage dadurch, dass sie den Nutzern bieten, was für sie von Vorteil ist. Eine weit verbreitete Überzeugung ist, dass der Medienproduzent den privaten Nutzer durch Werbung manipulieren kann. Der Autor dieses Buchs ist der Auffassung, dass dies nur sehr bedingt möglich ist. Nach allen bekannten Umfragen ist die Mund-zu-Mund-Propaganda für den Erfolg von Filmen wichtiger als die Werbung. Die US-Filmwirtschaft zum Beispiel weiß das und startet neue Blockbuster heute mit einem riesigen Werbeaufwand und einer extrem hohen Kopienzahl, um bereits am ersten Wochenende einen möglichst großen Umsatz zu erzielen. Hat sich erst herumgesprochen, dass ein Film nicht hält, was er verspricht, geht die Nachfrage an der Kinokasse deutlich zurück. Aber auch wenn Sie der Überzeugung sind, dass Konsumenten manipulierbar sind - selbst dann bleibt die Aussage richtig, dass in letzter Instanz immer der Konsument über den Erfolg einer Medientechnologie oder -nutzungsform entscheidet (nur dass in diesem Fall sein Wille nicht »frei« ist). Kapitel 8, 9 und 17 zeigen Fälle, in denen Medienangebote von den Mediennutzern nur bedingt genutzt werden. Auch wenn ein Großteil der US-amerikanischen Filmproduktion - darunter auch die Filme von Charles Chaplin - in deutschen Kinos gezeigt wurden, so wurden sie von den deutschen Zuschauern von den 1920erbis zu den 1960er-Jahren nur selektiv genutzt (von bestimmten Segmenten des Publikums bzw. vom großen Publikum nur bestimmte Filme). Folgende Überlegungen zum Verhalten der Mediennutzer gehen davon aus, dass sie sich in der Regel für ein Medium entscheiden, das für sie von Vorteil ist. Der Verbraucher entscheidet sich möglicherweise für einen bestimmten DVD-Rekorder, weil er preiswerter ist. Ein Journalist benutzt die Suchmaschine von Google, weil sie ein geeignetes Instrument ist, um Informationen für einen Artikel zu finden. Ein Autor schickt seinem Lektor ein Manuskript per E-Mail, weil diese Form der Kommunikation schneller als der traditionelle Postweg ist. Natürlich können sich Mediennutzer auch deshalb für ein Medium entscheiden, weil sich bereits viele andere dafür entschieden haben oder weil Menschen, die mit Autorität ausgestattet sind, dies empfehlen. Ein Kind kann seine Eltern deshalb um ein Smartphone bitten, weil seine Klassenkameraden in der Schule auch eines haben. Der Professor empfiehlt seinen Studenten mit Nachdruck, sich für das Studium einen Computer anzuschaffen. Der Student wird seinen Computer und das Kind sein Smartphone aber auf Dauer nur nutzen, wenn diese Medien für sie einen wie auch immer gearteten Nutzwert haben. <?page no="54"?> 4. Was treibt den Medienwandel voran? 55 Grundsätzlich sind drei Faktoren zu unterscheiden, die Medienangebote für Nutzer attraktiv machen. Alle Faktoren können mit unterschiedlicher Gewichtung für die Wahl, die Mediennutzer treffen, relevant sein; für ihre Wahl kann auch ein einzelner Faktor ausschlaggebend sein. 1. Das Medienangebot als solches kann in mehrfacher (u. a. technischer, kultureller, ethischer, ökologischer) Hinsicht als attraktiver bewertet werden. Mit anderen Worten formuliert: Ein bestimmtes Medienangebot (eine Medientechnologie oder -nutzungsform) kann für den privaten Mediennutzer einen höheren Wert (oft, aber nicht immer, einen größeren Nutzwert) als ein anderes haben. 2. Der Zugang zum Medienangebot kann als attraktiver bewertet werden. Mit anderen Worten: Das Angebot kann verfügbarer oder besser erreichbar sein. 3. Der Preis für das Medienangebot kann als attraktiver gelten. Anders ausgedrückt: Das Medienangebot kann preiswerter (oft sogar kostenlos) oder - in einigen Fällen - auch kostspieliger sein. Zu 1.: Neue Medien können für ihre Nutzer in mehrfacher (u. a. technischer, kultureller, ethischer, ökologischer) Hinsicht als qualitativ attraktiver bewertet werden. Jede Erfindung einer Medientechnologie will das Defizit einer älteren beheben und wird diesbezüglich interpretiert und bewertet. Oft wird eine neue Medientechnologie als Optimierung einer älteren gesehen. Der Film gilt als eine Verbesserung der Fotografie, da er die Darstellung von fotografischen Bewegtbildern erlaubt. Das Fernsehen wird als Optimierung der Filmtechnologie verstanden, da es die Wiedergabe von Bewegtbildern ohne Zeitverzögerung ermöglicht. Das Kopieren von Bildern oder Texten wird digital perfektioniert. Bei jedem analogen Kopiervorgang gibt es einen Qualitätsverlust - häufig kopierte Videobänder oder Filme verlieren zunehmend an Qualität, bis sie nur noch Geisterbilder zeigen; erst die digitale Kopie kann grundsätzlich verlustfrei hergestellt werden. Attraktiv kann ein Medienangebot aber nicht nur in technischer Hinsicht sein: Neue Mediennutzungsformen bieten den Zuschauern ebenso eine neue Qualität. Die Wochenschau der Kinos zeigte ab den 1910er-Jahren erstmals breiten Bevölkerungsschichten regelmäßig wochenaktuelle Bilder, die die Berichterstattung der Tageszeitungen über aktuelle Ereignisse illustrierten. Die T AGESSCHAU des Deutschen Fernsehens war in den 1960er-Jahren ein innovatives Format, das Bilder zu den gesprochenen Nachrichten ergänzte und damit einen klaren Mehrwert gegenüber den Hörfunknachrichten (keine Bilder) und der Kino-Wochenschau (keine Nachrichten) hatte. Ein Medienangebot kann auch deshalb als attraktiver angesehen werden, weil es ethisch oder ökologisch vertretbarer ist. Ein Käufer mag sich gegen ein iPhone <?page no="55"?> Instrumente zur Analyse des Medienwandels 56 entscheiden, weil es unter menschenunwürdigen Bedingungen produziert wurde. 21 Ein anderer Käufer mag sich für ein bestimmtes Fernsehgerät entscheiden, weil es weniger Strom verbraucht als ein anderes oder weil es bestimmte Schadstoffe (wie Cadmium) nicht enthält. Die Frage, was attraktiver ist, entscheidet der Nutzer: Die Präferenzen der Nutzer unterscheiden sich zwischen Ländern, sozialen Schichten, den Generationen, den Geschlechtern, hinsichtlich verschiedener Persönlichkeitsprofile und hinsichtlich des Lebensalters. Die Attraktivität von Medientechnologien kann für Mediennutzer verschiedener Länder unterschiedlich stark sein. Hierfür bietet das hochauflösende Fernsehen (HDTV) ein Beispiel. HDTV wird in zwei verschiedenen Auflösungen produziert, als 720p bzw. als 1080i (1280 × 720 bzw. 1920 × 1080 Bildpunkte, s. Abb.). Während das Standard-Fernsehen in Japan und den USA beim Format 16: 9 mit 853 × 480 Pixeln arbeitet, funktioniert das Standard-Fernsehen in Europa mit 1024 × 576 Pixeln. Im Vergleich zum Standard-Fernsehen (SDTV) ist das hochauflösende Fernsehen für Japaner und US-Amerikaner attraktiver als für Europäer, da die Standardauflösung des in Japan und den USA verbreiteten NTSC geringer und damit der Qualitätssprung zum HDTV offensichtlicher ist. Da zudem Fernsehsender wie ARD und ZDF mit einer Auflösung von 720p statt mit 1080i senden, wird deutlich, um wie viel kleiner der Attraktivitätsgewinn des hochauflösenden Fernsehens für deutsche Fernsehzuschauer ist. Die aktuelle Entwicklung hin zum ultrahochauflösenden Fernsehen (UHDTV) zeigt sich dagegen als deutlicher Qualitätssprung, da die Auflösung von 3840 × 2160 Bildpunkten das Vierfache des Full-HD beträgt - bisher gibt es allerdings kaum ein entsprechendes Angebot an medialen Inhalten. Die Attraktivität eines Medienangebots kann sich auch hinsichtlich des Alters der Mediennutzer unterscheiden. Während Talkshows der öffentlich-rechtlichen Sender wie N ACHTCAFÉ oder M ENSCHEN BEI M AISCHBERGER bevorzugt von älteren Zuschauern gesehen werden, so finden die Dokusoaps bzw. Pseudo-Dokusoaps (Scripted Reality) der privaten Sender - von der Schönheits-OP über die Supernanny zur Schuldnerberatung - eher ein jüngeres Publikum. In der Wahr- Vergleich der Auflösung international gebräuchlicher TV-Normen (Sjr und Andreas Hornig, Wikipedia) <?page no="56"?> 4. Was treibt den Medienwandel voran? 57 nehmung der Wochenzeitung Die Zeit gelten die vorzugsweise nachmittags ausgestrahlten Pseudo-Dokusoaps als negativ besetzte Unterhaltung von Hartz-IV- Empfängern: »Wer gerne die stille Verwahrlosung einsamer, sozial inkompetenter Menschen beobachtet oder gerade andersherum die rasende Verzweiflung verschuldeter Spielsüchtiger oder die gewaltsame Eskalation von Eifersuchtsdramen präferiert, wird hier fündig.« 22 U. a. in den Kapiteln 8, 9 und 14 wird gezeigt, wie Nutzer über die Attraktivität von Medienangeboten entscheiden. Kapitel 8 macht deutlich, dass das deutsche Publikum der 1930er-Jahre US-amerikanische Filme weit weniger unterhaltsam fand als deutsche. Kapitel 9 zeigt, dass Chaplins Filme für die deutsche Mittelschicht keinen Unterhaltungswert hatten, wohl aber für deutsche Intellektuelle und Arbeiter. Kapitel 14 erklärt, warum das deutsche Kinopublikum der 1950er- Jahre keine Nazis in US-Filmen sehen wollte. Zu 2.: Der Zugang zum Medienangebot kann von Nutzern als besser bewertet werden. Verfügbarkeit bezieht sich nicht nur auf die Erreichbarkeit von Technologien (wie Smartphones oder Fernseher), sondern auch auf die Verfügbarkeit von Mediennutzungsformen (wie Fernsehserien oder Filmen) und, noch weiter gefasst, auch auf die Verfügbarkeit von Bildern oder Informationen. Gegenüber gedruckten Enzyklopädien ist das Wissen über Online-Enzyklopädien nicht nur besser verfügbar, sondern darüber hinaus auch aktueller. Die Wikipedia zum Beispiel ist leichter verfügbar als der Brockhaus. In der Regel wird der Nutzer eine öffentliche Bibliothek zu den üblichen Öffnungszeiten aufsuchen müssen, um die 30-bändige Brockhaus-Enzyklopädie nutzen zu können. Die Wikipedia kann zu jeder Zeit von (beinahe) jedem Punkt der Welt aus benutzt werden - vorausgesetzt der Nutzer hat Zugriff auf ein entsprechendes Endgerät mit einem Onlinezugang (wie u. a. einen PC oder ein Smartphone). Während das Wissen einer gedruckten Enzyklopädie nur über die alphabetisch sortierten Artikel zugänglich ist, kann die Online-Enzyklopädie zudem auf Wörter durchsucht werden, zu denen es keinen eigenen Eintrag gibt. Die Informationen, die die Wikipedia enthält, sind zudem aktueller als die der gedruckten Enzyklopädien. In der 21. Auflage der Brockhaus-Enzyklopädie, die in den Jahren 2005 und 2006 erschienen ist, ist der Tod von Udo Jürgens am 21. Dezember 2014 naturgemäß nicht verzeichnet. In der Wikipedia stand das Todesdatum bereits kurz nach dem Bekanntwerden am selben Tag. 23 Ist die schnellere Information gesellschaftlich von Bedeutung, dann sind die Medientechnologien klar im Vorteil, die Informationen so übertragen können, dass sie in dem Moment, in dem sie verbreitet werden, beim Empfänger eintreffen. Im Vergleich zur Tagespresse etwa haben neue Medientechnologien wie der <?page no="57"?> Instrumente zur Analyse des Medienwandels 58 Rundfunk bzw. das Internet den Zugang zu Nachrichten beschleunigt. Im Vergleich zur traditionellen Post hat die E-Mail das Tempo des schriftlichen Austauschs von Informationen in einem erheblichen Maß gesteigert. Medien scheinen immer und allseits verfügbar zu sein. Das ist jedoch eine Illusion: Wir sehen heute von fast allen Ereignissen, über die berichtet wird, bewegte Bilder. So haben wir eine Bewegtbildaufnahme des Meteors, der am 15. Februar 2013 bei Tscheljabinsk im Ural herunterkam, weil er zufällig von einer Autokamera gefilmt wurde. 24 Auch der Absturz eines Passagierflugzeugs am 4. Februar 2015 in einen Fluss in Taiwans Hauptstadt Taipeh wurde zufällig von einer Dashcam erfasst. 25 Vor der Etablierung und Verbreitung von Geräten zur digitalen Aufnahme von Bewegtbildern (wie z. B. Dashcams, Smartphones), waren Bilder nicht vorhersagbarer Ereignisse in aller Regel nicht verfügbar. In den 1950er-Jahren zum Beispiel, als Bewegtbilder noch auf analogem 35-mm- oder 16-mm-Material aufgenommen wurden, gab es selbst von vorhersehbaren Ereignissen oft keine bzw. nur wenige Bilder. Hielt ein Bundespräsident etwa eine wichtige Rede, so nahmen die Kameraleute aus Kostengründen in aller Regel nur wenige Sätze auf. Wurde die Rede vorher nicht als Manuskript vervielfältigt, war es Glücksache, ob es gelang, ein oder zwei Kernsätze der Rede aufzunehmen. Hatte der Kameramann Pech, hatte er nur ein paar belanglose Randbemerkungen »im Kasten«. Denkt man derart über den Wandel der Verfügbarkeit von Bewegtbildern nach, wird deutlich, dass die Kategorie »Verfügbarkeit« für die Analyse des Medienwandels unverzichtbar ist. Kapitel 7 geht davon aus, dass Filme in ortsfesten Kinos besser als in Jahrmarktkinos verfügbar waren. Fanden Jahrmärkte an einem Ort ein- oder zweimal pro Jahr für wenige Tage statt, so spielten ortsfeste Kinos in aller Regel täglich. Fand der Jahrmarkt auf einem bestimmten Platz einer Stadt statt, so breiteten sich ortsfeste Kinos zunehmend von den Innenstädten in die Vorstädte aus. Ortsfeste Kinos konnten nicht nur täglich besucht werden, sie waren - abhängig vom Wohnort des Zuschauers - in aller Regel auch schneller erreichbar. Zu 3.: Ein weiterer Faktor, der eine neue Medientechnologie für Nutzer attraktiv machen kann, ist ihr Preis. Fernsehgeräte wurden von den 1950erzu den 1970er- Jahren immer preiswerter. Kauften in den 1950er-Jahren in Deutschland vor allem Angehörige der gut verdienenden Mittelschicht (wie u. a. Beamte, Selbständige) Fernsehgeräte, so wurden sie in den 1970er-Jahren so preiswert, dass sich Absturz des Transasia-Airways- Flugs 235 im Februar 2015 (Aufnahme einer Dashcam, TVBS - Europe) <?page no="58"?> 4. Was treibt den Medienwandel voran? 59 beinahe alle Bundesdeutschen ein solches Gerät leisten konnten. Kostet die 30bändige 21. Auflage der Brockhaus-Enzyklopädie 2.820 Euro, so ist die Nutzung der sehr viel umfangreicheren deutschen Wikipedia kostenlos. Nicht immer ist der niedrigere Preis jedoch ausschlaggebend. Kinopaläste - luxuriöse, große Bauten, in denen ein besonders langes Filmprogramm zu sehen war - verlangten um 1913 als untere Eintrittspreise nicht mehr als kleine Kinos mit einem bescheideneren Programm, den oberen Eintrittspreisen für Logenplätze waren dagegen kaum Grenzen gesetzt. Wer also viel Geld hatte, konnte dies zeigen, indem er für dasselbe Unterhaltungsprogramm sehr viel mehr ausgab als die meisten Zuschauer. Hersteller bieten - um ein zweites Beispiel zu geben - Computer mit unterschiedlichen Systemen wie Mac OS X oder Microsoft Windows, die Vergleichbares leisten, zu erheblich unterschiedlichen Preisen an. Der Preis, den Apple für seine Produkte ansetzt, liegt deutlich über dem, den die Konkurrenten durchschnittlich verlangen. Der Mediennutzer zahlt für das Image mit, zu dem gehört, dass Macs innovativ und qualitativ hochwertig sind. Die Produkte von Apple erlauben dem Mediennutzer zudem, Teil einer exklusiven sozialen Gruppe zu sein, die sich von den Menschen abgrenzt, die andere Medienprodukte nutzen. Abschließend sollen noch ein paar grundsätzliche Überlegungen zu den diskutierten Faktoren (Nutz)wert, Verfügbarkeit und Preis angeführt werden, die Medienangebote für Mediennutzer attraktiv machen: Konkurrenzangebote nehmen private Mediennutzer nur wahr, wenn es darum geht, das gleiche Grundbedürfnis nach Kommunikation, Orientierung oder Unterhaltung zu befriedigen. Der Fernsehfilm ist ohne Zweifel eine Konkurrenz zum Kinofilm. Die Präsenz von tagesaktuellen Informationen im World Wide Web wird zunehmend zu einer Konkurrenz der Tageszeitungen. Befriedigen Medien jedoch unterschiedliche Grundbedürfnisse, treten sie auch nicht unmittelbar zueinander in Konkurrenz. Wer sich über das Tagesgeschehen informieren möchte, wird eine Tageszeitung lesen, die aktuelle Berichterstattung des Fernsehens oder Webseiten wie Spiegel Online nutzen, aber keinen Spielfilm wählen. Mediennutzungsformen können natürlich indirekt miteinander konkurrieren, wenn sich etwa ein Nutzer durch eine Unterhaltungssendung des Fernsehens von der Wissensaneignung ablenken lässt. Nicht bei allen Medienangeboten spielen alle drei Faktoren die gleiche Rolle. Bei Spielfilmen, die über Jahrzehnte so gut wie ausschließlich in Kinos gezeigt wurden, spielte der Eintrittspreis in der Regel nur eine untergeordnete Rolle. Zwar gab es unterschiedliche Preisniveaus zwischen den Vorstadtkinos und den Kinos, die in den Innenstädten der Großstädte angesiedelt waren. In ein- und demselben Kino war der Eintrittspreis jedoch unabhängig vom angebotenen Film. Hatte ein Zuschauer das Geld für einen Kinobesuch, dann war daher die Frage, ob er sich für einen US-amerikanischen Blockbuster oder für einen billig produzierten hei- <?page no="59"?> Instrumente zur Analyse des Medienwandels 60 mischen Film entschied, keine Frage des Preises. Die Verfügbarkeit aktueller Filme war zwar nicht immer in Kleinstädten mit wenigen Kinos, wohl aber grundsätzlich in Großstädten mit mehreren Dutzend Kinos gewährleistet. Ausschlaggebend für die Wahl eines Zuschauers an der Kinokasse war daher in aller Regel allein seine Erwartung, wie attraktiv der jeweilige angebotene Film für ihn sein mochte. Wird ein Medienangebot nicht nur durch einen, sondern gleich durch mehrere der diskutierten Faktoren für den privaten Nutzer attraktiv, wird es sich besonders schnell und nachhaltig durchsetzen. Das Fernsehen bietet im Vergleich zum Kino ein vielfältigeres Programm. Es ist Zuhause immer verfügbar, und nicht zuletzt sind die laufenden Kosten geringer als die für regelmäßige Kinobesuche. Ist eine gedruckte Enzyklopädie mitunter schwer verfügbar (Bibliotheken), sehr teuer, wenn Sie sie kaufen, und nach kurzer Zeit kaum mehr aktuell, so ist eine Online-Enzyklopädie jederzeit verfügbar, zudem kostenlos nutzbar, immer aktuell und - zumindest was die Kernbereiche des Wissens angeht - ebenso valide wie die gedruckte Enzyklopädie. Wenn man nun noch den Umfang des Wissens berücksichtigt - die letzte Brockhaus-Ausgabe hat 300.000 Artikel, die deutsche Wikipedia 1,8 Millionen -, dann wird deutlich, warum die Wikipedia derart erfolgreich ist, während 2014 der Vertrieb der Brockhaus-Enzyklopädie eingestellt wurde. Kapitel 6 und 7 zeigen, dass sich der Film in einer relativ kurzen Zeitspanne als Unterhaltungsmedium breiter Bevölkerungskreise etabliert hat, weil er in jeder Hinsicht für Medienutzer attraktiv war. Filmunterhaltung war attraktiver, verfügbarer und preiswerter als jede Theaterunterhaltung. Ortsfeste Kinos boten sensationelle Filmdramen, die es aufgrund der Konzessionierungspflicht am Theater so gut wie nicht gab. Sie boten ihre Unterhaltung ganzjährig und beinahe zu jeder Tageszeit an. Schließlich war der Eintritt im Vergleich zu dem anderer Unterhaltungsinstitutionen konkurrenzlos günstig. Wie sehr das Zusammenspiel aller drei Faktoren, die Medienangebote für Mediennutzer attraktiv machen, den Erfolg einer neuen Medientechnologie vorantreiben kann, lässt sich auch am Beispiel der Medientechnologie Smartphone zeigen, die eine beispiellose Karriere hingelegt hat. Das folgende Diagramm zeigt, wie Smartphones in Deutschland im Zeitraum zwischen Januar 2009 und Februar 2015 zunehmend genutzt wurden. Die Zahl der Nutzer von Smartphones hat sich von Anfang 2009 (6,31 Millionen) bis Anfang 2015 (45,6 Millionen) versiebenfacht. <?page no="60"?> 4. Was treibt den Medienwandel voran? 61 Verbreitung von Smartphones in Deutschland in Millionen, 2009-2015 (Datenquelle: comScore) Attraktiv ist das Smartphone vor allem durch seine Multifunktionalität, die eine große Bandbreite an Medien umfasst, darüber hinaus aber auch viele Technologien integriert, die keine Medientechnologien sind (wie etwa Wecker, Taschenlampe und Kompass). Mit zahllosen kostenlosen oder -pflichtigen Applikationen können die Nutzer ihre Grundbedürfnisse nach Unterhaltung, Kommunikation und Orientierung befriedigen. Man kann mit dem Smartphone telefonieren und Textnachrichten (SMS und E-Mails) verschicken bzw. empfangen. Das Smartphone ersetzt die Foto- und Videokamera, da sich mit ihm digitale Fotos und Videos aufnehmen, bearbeiten und verschicken lassen. Es ersetzt den MP3-Spieler, da man Musik aufnehmen und abspielen kann. Es ersetzt den PC zumindest teilweise, da man mit dem Smartphone das World Wide Web nutzen kann, um Musik zu hören, Videoclips zu sehen, die Wikipedia zu nutzen oder Einkäufe zu tätigen. Das Smartphone kann schließlich im Prinzip auch Radio und Fernsehen ersetzen, da der Empfang via World Wide Web möglich ist. Die Attraktivität des Smartphones beruht jedoch nicht nur auf seinem außerordentlich vielfältigen Nutzwert, sondern auch auf seiner allgegenwärtigen Verfügbarkeit. Damit ist nicht nur gemeint, dass es die Endgeräte in Handygeschäften und im World Wide Web praktisch überall zu kaufen gibt; es wurde auch die technische Infrastruktur für ihren sinnvollen Einsatz geschaffen. In Deutschland werden schnelle Datenverbindungen (UMTS, LTE) seit 2003/ 4 kontinuierlich ausgebaut. 2010 waren netzbetreiberübergreifend gut 70 % der Standorte, an <?page no="61"?> Instrumente zur Analyse des Medienwandels 62 denen ein Mobilfunknetz verfügbar ist, mit einem ultraschnellen Netz versorgt. Durch die Kompaktheit, das geringe Gewicht des Geräts und die Stromversorgung mittels Akku ist das Smartphone zudem überall einsetzbar, wo es ein Netz gibt. Hinzu kommt, dass sowohl die Preise für die Geräte selbst als auch die Nutzungsgebühren für den Zugang zum Internet sowie zur Telekommunikation im Lauf weniger Jahre stark gefallen sind. Die Preise für Einsteiger-Endgeräte sind auf deutlich unter 100 Euro gefallen, die Preise für den Mobilfunk (Telekommunikation und Internetzugang) sind durch die zunehmende Konkurrenz ebenso wie durch rechtlich bindende Auflagen (für Auslandsgespräche innerhalb der Europäischen Union) kontinuierlich gesunken. Zudem erleichtern zunehmend Flatrates, die die Ausgaben pro Monat überschaubar machen, die allseitige und umfassende Nutzung der Smartphones. Nicht zuletzt ist ein kaum mehr zu überschauendes Angebot an kostenlosem Content entstanden (z. B. die Apps von Süddeutscher Zeitung und Spiegel), das in Konkurrenz zu kostenpflichtigen analogen Angeboten steht. So ist das Smartphone gewissermaßen die »Eier legende Wollmilchsau« der neuen Medientechnologien, da es sehr viele mediale Funktionen integriert, es überall einsetzbar ist und zudem immer erschwinglicher wird. Die steile Karriere des Smartphones erklärt sich also hinreichend dadurch, dass es nicht nur alle Grundfunktionen der Medien (Kommunikation, Orientierung, Unterhaltung) zu befriedigen weiß, sondern dass es für die Nutzer darüber hinaus in jeder erdenklichen Hinsicht (Verfügbarkeit, Preis, Nutzwert) attraktiv ist. Die in diesem Kapitel diskutierten Faktoren, die Medienangebote für Mediennutzer attraktiv machen, können den Medienwandel erklären, wenn es um das Verhalten von sehr vielen Mediennutzern geht. Wird Nutzern eine Medieninnovation geboten, die existierende Bedürfnisse besser befriedigt oder ändern - etwa aufgrund eines Generationswandels (mehr dazu in Kapitel 16) - große Gruppen von Nutzern ihr Verhalten, dann kann es zu einem Medienwandel kommen. Eine Enzyklopädie wie der Brockhaus mit einer 200-jährigen Tradition wurde eingestellt, weil Millionen von Nutzern die Vorteile einer Online-Enzyklopädie zu schätzen wissen. Ihr Nutzwert ist größer, sie ist besser verfügbar und zudem kostenlos. Entscheidungskontexte Weder Medienproduzenten noch professionelle oder private Mediennutzer handeln »im luftleeren Raum«. Sowohl Macher als auch Nutzer handeln nicht nur in Abhängigkeit voneinander, sondern immer auch in analysierbaren Kontexten unterschiedlicher Art. Hierzu gehören Reglementierungen von Märkten, das geltende Recht, aber auch kulturelle oder religiöse Traditionen. Alle Mediennutzer treffen also ihre Entscheidungen in Märkten, die in wirtschaftlicher, sozialer oder juristischer Hinsicht mehr oder weniger reguliert sind. Märkte unterscheiden sich <?page no="62"?> 4. Was treibt den Medienwandel voran? 63 nicht dadurch, dass sie vollkommen frei oder vollständig reglementiert sind, sondern durch die Art und das Maß ihrer Regulierung. Eine besondere Form der Regulierung ist, wenn sich ein bestimmtes Medienangebot auch dann am Markt halten kann, wenn es nicht von den Nutzern nachgefragt wird bzw. wenn das nachgefragte Produkt vom Markt ferngehalten wird. Unter den totalitären Bedingungen des Dritten Reichs war das Filmangebot ebenso wie der Zugang zu diesem stark reglementiert. Hierzu gehörte die staatliche Kontrolle der hergestellten Filme ebenso wie das Verbot für Juden, an Filmen mitzuwirken bzw. an öffentlichen Kinovorstellungen teilzunehmen. »Volksgenossen« wurden jedoch in aller Regel nicht dazu gezwungen, sich einen bestimmten Film anzusehen, sondern konnten sich auf der Basis der angebotenen Filme selbst entscheiden. Die Wahlmöglichkeiten hingen natürlich von der Zahl der erreichbaren Kinos ab; in Großstädten standen mehr Filme zur Auswahl als in Kleinstädten. So konnte der »Volksgenosse«, der in Hamburg oder Köln lebte, sich zum Beispiel für einen Propagandafilm oder ein US-Musical entscheiden. Zuschauer hatten also grundsätzlich auch in der Diktatur des Dritten Reichs eine Wahl, nur dass diese in einem erheblichen Maß durch das Angebot und durch Maßnahmen, die den Zugang zum Angebot regeln, eingeschränkt war. Ein anderes Beispiel für die Regulierung eines Medienmarktes ist das öffentlich-rechtliche Fernsehen in Deutschland. Die öffentlich-rechtlichen Fernsehsender entscheiden keineswegs allein auf der Basis der Zuschauernachfrage, was sie senden. Sie unterliegen vielmehr staatlichen Regulierungen, die sie zum Beispiel dazu verpflichten, ihre Zuschauer politisch zu informieren. Dies heißt nicht, dass sich ARD und ZDF nicht an den Vorlieben der Zuschauer orientieren, sondern nur, dass ihre Programmgestaltung nicht allein von der Zuschauerpräferenz bestimmt wird. Betrachtet man einzelne Sendungen, so entscheidet natürlich auch hier der Zuschauer, wie erfolgreich die jeweilige Sendung wird. Kapitel 12, 13, 15 und 16 behandeln stark regulierte Medienmärkte. Kapitel 12 und 13 beziehen sich auf das Dritte Reich. Kapitel 13 zeigt, dass jüdische Schauspieler im Dritten Reich ins Exil gezwungen wurden, weil sie zunächst keine Betätigungsmöglichkeit mehr hatten und dann existenziell bedroht waren. In Hollywood hatten sie aber auch keine freie Entscheidung, in welchen Rollen sie in Filmen auftreten konnten. Mit dem Aufkommen der Anti-Nazi-Filme bot sich ihnen die Möglichkeit, Nazis zu spielen. Der Entscheidungsspielraum der exilierten jüdischen Schauspieler war also extrem eingeschränkt. Kapitel 15 und 16 thematisieren das öffentlich-rechtliche Fernsehen. Kapitel 16 analysiert zudem den Neuen deutschen Film der 1970er-Jahre, der unter den Bedingungen kultureller Filmförderung entstand. <?page no="63"?> Instrumente zur Analyse des Medienwandels 64 Mediennutzer sind ebenso wie Medienmacher in ihren Entscheidungen nicht vollkommen frei. Wie erwähnt durften Juden im Dritten Reich seit 1938 keine öffentlichen Kinos mehr besuchen; taten sie es doch, gingen sie ein erhebliches Risiko ein (wie Verhaftung und Deportation). Aber nicht nur Diktaturen regeln den Zugang privater Mediennutzer zum Medienangebot. Beispiele für eine entsprechende Regelung in demokratischen Gesellschaften sind etwa gestaffelte Altersfreigaben für Spielfilme oder das Verbot des Zugangs zu pornografischem Schrift- und Bildmaterial für Minderjährige. Das Zuschauerverhalten wird jedoch nicht nur über Gesetze geregelt, sondern auch über kulturelle und religiöse Traditionen, die für viele Mediennutzer eine bindende Wirkung haben. Christen schauen sich durchaus Filme an, in denen ein Schauspieler Jesus spielt; Moslems werden sich dagegen - so sie überhaupt hergestellt werden - kaum Filme ansehen, in denen Mohammed verkörpert wird. Medienmacher und -nutzer sind also aufeinander angewiesen, werden von unterschiedlichen Motiven getrieben, handeln beide unter (politischen, juristischen, sozialen, wirtschaftlichen, kulturellen) Bedingungen, die ihr Handeln prägen, und entscheiden auf der Basis verschiedener Faktoren (Verfügbarkeit, Preis, Wert oder Nutzwert), ob ein Medienangebot für sie attraktiv ist. <?page no="64"?> 65 5. Wie lässt sich Medienwandel modellhaft repräsentieren? Das folgende Modell bietet eine symbolische Repräsentation des Medienwandels, um die Geschichte der Medien besser verständlich zu machen. Modelle helfen, die Medienentwicklung zu analysieren, indem sie den Blick für mögliche Entwicklungen schärfen, dürfen aber nicht mit der Medienwirklichkeit verwechselt werden. Das Modell folgt der Dreiteilung in Phasen der Erfindung, Etablierung und Verbreitung/ Differenzierung, die in ähnlicher Form bereits in der Forschungsliteratur gegeben wurde. 26 In der Erfindungsphase entsteht ein Prototyp einer Medientechnologie, der später kaum noch verändert wird. Als Etablierung bezeichnet man die innovative Einführungsphase der neuen Medientechnologie in den Markt, in der sich eine Medieninstitution herausbildet, eine bestimmte Nutzungsweise der Medientechnologie und im Fall der Programmmedien eine standardisierte Produkt- und Programmform. In der Verbreitungs- und Differenzierungsphase ändern sich weder die Medieninstitutionen noch die Nutzungs- und Produktformen mehr grundlegend; das Medium wird wirtschaftlich auf breiter Basis ausgewertet. Bei den Wissens- und Unterhaltungsmedien kommt es in dieser Phase in aller Regel jedoch zu einer Differenzierung der Angebote für unterschiedliche Zielpublika. Mit Hilfe der in diesem und in den vorhergehenden Kapiteln vorgestellten Konzepte lässt sich zeigen, wie und vor allem warum Medien erfunden, etabliert, verbreitet und differenziert werden. Sie helfen bei der Beantwortung der Frage, warum sich bestimmte Medien schneller als andere haben etablieren können und warum die Medienetablierung in unterschiedlichen Zeiten und Kulturen je verschiedene Entwicklungsdynamiken aufweisen kann. Medien werden erfunden Der Beginn der Erfindungsphase ist oft nicht zu datieren, weil unklar ist, seit wann an einer Erfindung gearbeitet wurde - auch stellt sich die Frage, von welcher Erfindung die Rede ist. Paul Nipkow hat an seiner Erfindung des elektromechanischen Fernsehens um 1880 gearbeitet; er erhielt 1884 ein entsprechendes Patent. Alan Archibald Campbell-Swinton hat sich mit seinem Konzept eines vollelektronischen Fernsehens bis 1908 beschäftigt. Jede Erfindung ist ortsgebunden. Da viele Erfindungen mehrfach gemacht werden, lassen sich oft mehrere Orte identifizieren. Das Telefon wurde von Phi- <?page no="65"?> Instrumente zur Analyse des Medienwandels 66 lipp Reis und Alexander Graham Bell erfunden, der Film u. a. von Thomas Alva Edison, den Brüdern Lumière und Max Skladanowsky - in Bezug auf die Erfindung des Films lassen sich also folgende Orte identifizieren: West Orange, New Jersey (USA), Lyon (Frankreich) und Berlin (Deutschland). Eine Erfindung wird in einem gesellschaftlich-kulturellen Kontext gemacht, in dem die Erfinder eine wie auch immer vage Idee haben, was sie mit ihrer Erfindung machen können. Ein wichtiges Unternehmensziel Thomas Alva Edisons war es, die Kommunikation in Büros zu verbessern. Da sein Unternehmen in diesem Kontext die Bewegtbildaufnahme und -wiedergabe erfunden hat, blieb einige Zeit unklar, wie man die neue Erfindung verwenden sollte. Die Brüder Skladanowsky dagegen haben den Film erfunden, um ihn zu Unterhaltungszwecken in Varietés einsetzen zu können. Die Brüder Lumière wiederum, die vor allem Fotoplatten herstellten und veräußerten, haben den Cinématographe erfunden, um ihn an Amateure zu verkaufen. Amateure sollten so die Möglichkeit haben, statt Porträtfotos der Familienmitglieder (wozu sie Fotoplatten brauchten) bewegte Bilder zu machen, sogenannte Portraits vivants. Neue Technologien ermöglichen zwar bestimmte Verwendungsweisen, legen sie aber nicht von vornherein fest. Das Telefon ermöglicht eine unmittelbare sprachliche Kommunikation von zwei oder mehr Gesprächsteilnehmern, wurde aber über Jahrzehnte in Deutschland so nicht verwendet (sondern als Verlängerung des Telegrafen). Keine Medientechnologie kann entgegen ihrer »natürlichen« Nutzungsmöglichkeit verwendet werden (auf Stummfilm lässt sich kein Text diktieren, mit dem herkömmlichen Telefon kann man keine Bilder übertragen). Im Rahmen der jeweiligen technologischen Nutzungsmöglichkeiten bestehen jedoch grundsätzlich mehrere Anwendungsmöglichkeiten. Mit dem Film kann man Bewegungsvorgänge reproduzieren - wobei das Medium von unterschiedlichen Nutzergruppen (Amateuren, Produzenten) zu ganz unterschiedlichen Zwecken (wissenschaftlichen, pädagogischen, unterhaltenden) eingesetzt werden kann. Neben gesellschaftlich-kulturellen Kontexten sind die technologischen Kontexte für eine Erfindung von Bedeutung. Die Erfindung einer neuen Medientechnologie setzt nicht nur eine möglicherweise nur vage Idee über ihre Verwendung voraus, sondern auch die Existenz anderer Medientechnologien. Der Film konnte nicht erfunden werden ohne die Fotografie; ohne eine Projektionstechnik wäre der Film auf breiter Basis nicht einsetzbar gewesen. Ohne das Zelluloid hätte es keinen biegsamen Träger für die Bilder gegeben und damit auch keinen Film usf. Zu Neuerungen der Medientechnologien selbst kommt es durch grundlegende Innovationen der Basistechnologien, derer sie sich bedienen (Elektrik statt Mechanik, Elektronik statt Elektrik, digitale statt analoge Elektronik). So ermöglichte die Elektronik eine Innovation des elektromechanischen Fernsehens, die Digitalisierung Innovationen der Medien Fotografie, Film und Fernsehen. <?page no="66"?> 5. Wie lässt sich Medienwandel modellhaft repräsentieren? 67 Die Erfindungsphase endet mit der Bereitstellung der ersten marktfähigen Variante der neuen Medientechnologie, eines Prototyps (altgr. Protos »der Erste« und typos »Urbild, Vorbild«), der hinsichtlich Design und Funktionalität dem Endprodukt bereits weitgehend ähnelt. Beim Film gilt das Jahr 1895 als das Ende der Erfindungsphase. Solche Periodisierungen sind jedoch nicht unproblematisch: Tatsächlich hatte Thomas Alva Edison bereits 1891 eine Filmkamera, den Kinetograph, und einen Apparat zur Betrachtung der Filme, das Kinetoscope, öffentlich vorgeführt. Die Erfindung des Kinematographen wird dennoch den Brüdern Lumière zugeschrieben und auf das Jahr 1895 datiert, weil sie einen Apparat konstruiert hatten, mit dem man die Filme nicht nur individuell betrachten, sondern vor einem Publikum projizieren konnte. Die spätere, für einige Jahrzehnte dominante Verwendung der neuen Medientechnologie Film als Kino-Projektion führt also zur Datierung der Erfindung der Filmtechnologie auf das Jahr 1895. Die nachträgliche Selektion eines bestimmten Prototyps unter mehreren möglichen als die eigentliche Innovation und damit die rückwirkende Datierung der Erfindung dieser Medientechnologie werden also mitunter entscheidend durch die spätere kulturelle Verwendungsweise geprägt. Zur Etablierung der Medien Die Phase der Etablierung beginnt mit der kommerziellen Verwendung eines marktfähigen Prototyps der jeweiligen Medientechnologie, der allmählich in Serie geht. Mit der kommerziellen Verwendung der neuen Medientechnologie entstehen Märkte, die in der Etablierungsphase in der Regel noch relativ begrenzt sind, also zum Beispiel nur einzelne Regionen bzw. Länder umfassen. Wurde ein Medium mehrfach erfunden, so konkurrieren zunächst unterschiedliche Prototypen der jeweiligen Technologie miteinander. In Bezug auf das neue Medium Film war die Technologie der Brüder Skladanowsky kommerziell wenig effizient einsetzbar, da die belichteten Filmstreifen auseinandergeschnitten und die geraden bzw. ungeraden Bildnummern auf zwei Rollen getrennt wieder zusammengefügt werden mussten, bevor der Film projiziert werden konnte. Dagegen war die 35-Millimeter-Filmtechnologie von Edison und Lumière (die sich nur hinsichtlich der Perforation unterscheidet) für einen Einsatz auf breiter kommerzieller Basis sehr viel besser geeignet, da der belichtete Filmstreifen nach dem Entwickeln und Kopieren unmittelbar vorgeführt werden konnte. Wie spielt sich der Prozess ab, in dessen Verlauf eine neue Medientechnologie eine bestimmte Verwendungsweise zugeschrieben bekommt - und im Fall der Programmmedien ein klar konturiertes Programmprofil? Das Medium wird kulturell erprobt; in dieser Phase entscheidet sich, ob und wenn ja wie erfolgreich es wird. <?page no="67"?> Instrumente zur Analyse des Medienwandels 68 63-mm-Film der Brüder Skladanowsky, 1896 (Theaterwissenschaftliche Sammlung der Universität zu Köln, Sammlung Skladanowsky, Inventarnr. 3.056) 35-mm-Film der Firma Pathé, 1907 (Filmarchiv Austria, Wien) An der Medienetablierung sind grundsätzlich zwei Gruppen beteiligt, die Medienmacher und die Mediennutzer. Der Erfinder kann seine Medientechnologie entweder selbst kommerziell nutzen (wie die Brüder Skladanowsky) oder sie an Medienproduzenten vermieten (wie es die Brüder Lumière gemacht haben) oder verkaufen (dies war das Geschäftsmodell des deutschen Filmpioniers Oskar Messter), die diese dann ihrerseits einsetzen. Medienproduzenten werden die Medientechnologie dann entweder an die privaten Nutzer (beim Amateurfilm werden Filmkameras und Projektoren verkauft) oder an andere Medienmacher weiterverkaufen, die ein Publikum unterhalten wollen (Schausteller kauften Filmprojektoren, um ihr Jahrmarktpublikum zu unterhalten). Der private Nutzer kann sich also vom Medienproduzenten unterhalten lassen (etwa im Kino) oder er kann die Technologie selbst erwerben und für sich nutzen (Amateurfilm) bzw. sie sogar weiterentwickeln (so wurden Radiogeräte von Amateuren zu Sendern umgebaut). Dadurch wird der Mediennutzer selbst zum Medienmacher. Indem Medienmacher und -nutzer sich einer neuen Medientechnologie bedienen, entstehen Märkte, die sich kulturell und sozial ausdifferenzieren können. Eine Gesellschaft nutzt das Potenzial einer Medientechnologie für ihre Zwecke und prägt dadurch eine bestimmte Verwendungsweise. Medientechnologien werden dabei oft ganz anders verwendet als von ihren Erfindern geplant. Film ist eine Reproduktionstechnologie; dass der Film als Unterhaltungsmedium institutiona- <?page no="68"?> 5. Wie lässt sich Medienwandel modellhaft repräsentieren? 69 lisiert wurde, ist nicht selbstverständlich, sondern geht auf eine bestimmte gesellschaftliche Konstellation zurück. Berufliche Traditionen der Medienmacher spielen eine wichtige Rolle dabei, welche Nutzungsformen eines neuen Mediums sich herausbilden. Kapitel 6 zeigt, dass Schausteller das neue Medium Film um 1900 auf Jahrmärkten einsetzten und eine perfekt an die Traditionen der Jahrmärkte adaptierte Unterhaltungsform schufen. In Buden zeigten sie dem Laufpublikum ein kurzes Programm mit Filmen, die besondere Schauwerte besaßen, also zum Beispiel sensationell, magisch oder komisch waren. Wie eine neue Medientechnologie kulturell genutzt wird, hängt auch von den Interessen und finanziellen Möglichkeiten der privaten Nutzer ab. Die Etablierung des Films als Unterhaltungsmedium war zu Beginn des 20. Jahrhunderts nur möglich, weil es ein ausreichend großes Publikum gab, das unterhalten werden wollte. Mit der Zunahme der deutschen Bevölkerung vom 18. zum frühen 20. Jahrhundert von gut 20 auf knapp 60 Millionen Einwohner wuchs auch der Markt für kommerzielle Unterhaltungsangebote. Die Verkürzung der Wochenarbeitszeit hatte darüber hinaus ebenso wie der reale Anstieg der Löhne um 1900 unmittelbare Auswirkungen auf das Freizeitverhalten der Arbeiter, die einen Großteil der Bevölkerung ausmachten. Neue Medien werden in Gesellschaften etabliert, in denen es in aller Regel bereits andere Medien gibt. Hebt sich ein Medium gegenüber anderen ab und setzt Standards, dem andere Medien folgen, so übernimmt es für einen bestimmten Zeitraum die Funktion eines Leitmediums, bis es wiederum von einem neuen Medium abgelöst wird. Um 1900 gab es zum Beispiel Zeitschriften wie Die Woche, in denen Bilder aktueller Ereignisse abgebildet wurden. Obwohl solche Fotos nie aus Zeitschriften verschwanden, wurden filmische Berichte über aktuelle Ereignisse zunehmend gefragter und bestimmten zunehmend die Sicht der Bevölkerung auf aktuelle Entwicklungen. Um den Erfolg eines neuen Mediums zu ermöglichen, greifen Medienproduzenten zunächst auf Inhalte und Programmformen der älteren Medien zurück. Da die etablierten Medieninstitutionen bereits über voll ausgebildete Formate und Programmformen verfügen, können sie diese ohne Probleme für die Herausbildung von Formaten und Programmformen des jeweils neuen Mediums nutzen. So adaptierten die ersten Spielshows des Deutschen Fernsehens der 1950er-Jahre Formate aus dem Rundfunk. <?page no="69"?> Instrumente zur Analyse des Medienwandels 70 Kapitel 6 und 15 geben Beispiele, wie neue Medieninstitutionen ihre Mediennutzungsformen an Vorbildern bereits etablierter Medien schulen. Kapitel 6 zeigt, wie sich die Jahrmarktkinos um 1900 hinsichtlich der Filminhalte als auch der Programmform am Vorbild des Varietés orientieren. Kapitel 15 macht anschaulich, wie sich die Mediennutzungsform T AGESSCHAU in den 1950er-Jahren an der Wochenschau der Kinos orientiert. Im Prozess der Adaption bereits etablierter Formate und Programmformen entstehen allmählich eigene, medienspezifische Formate und Programmformen. Der Grund dafür ist, dass sich die neuen Medieninstitutionen - nachdem die Technologie ihren Neuigkeitswert verloren hat - zunehmend profilieren müssen, indem sie einen Mehrwert gegenüber den älteren Angeboten machen. Kapitel 6 und 15 geben auch hierzu anschauliche Beispiele. So wurden mittels des Films Varietéstars auch in der Provinz präsentiert, und Akrobatennummern wurden durch den Einsatz filmischer Techniken sensationeller, da sie in dieser Form auf der Bühne nicht zu realisieren waren. War die T AGESSCHAU der 1950er-Jahre eine unterhaltende Bilderschau, so wurde sie 1960 zu einer Nachrichtensendung, wie wir sie heute noch kennen. Im Prozess der Verwendung eines neuen Mediums durch ältere Medieninstitutionen bildet sich allmählich eine eigene Institution heraus. Der öffentlich-rechtliche Rundfunk in der Bundesrepublik Deutschland erweiterte ab 1952 sein Angebot um das Fernsehen und entwickelte Zug um Zug neue Organisationsstrukturen, Mediennutzungs- und Programmformen. Kapitel 6 zeigt, wie das Kino als neue Medieninstitution in Deutschland entstanden ist. Der Film wurde von Schaustellern auf Jahrmärkten eingesetzt, die mobile Varietés oder Illusionsbuden betrieben hatten. Indem sie ihre Buden für den Filmbetrieb umrüsteten (durch den Einbau einer Leinwand und eines Filmprojektors), entstand eine neue Medieninstitution, das Kino (im in Kapitel 1 definierten Sinn). Kinos etablierten sich zunächst als mobile Bauten (die von Jahrmarkt zu Jahrmarkt bewegt wurden) und ab 1905 als ortsfeste Theater, worauf in Kapitel 7 eingegangen wird. Neue Medientechnologien können auch während der Etablierungsphase des Mediums im Zusammenhang mit einer bestimmten kulturellen Verwendung noch technisch überarbeitet werden. Als der Film anfangs in Kinos eingesetzt wurde, wurde das Flimmern des Bildes als technisches Manko empfunden. Dieser Effekt ergab sich daraus, dass die Zahl der pro Sekunde projizierten Bilder zu gering war. <?page no="70"?> 5. Wie lässt sich Medienwandel modellhaft repräsentieren? 71 Die Erfindung der dreiflügeligen Umlaufblende 1903 reduzierte das Flimmern, indem jedes Filmbild dreimal projiziert wird. Diese Erfindung ist eine Nachbesserung der Basistechnologie im Rahmen der Etablierung des Mediums Film als Unterhaltungsmedium. Weitere Beispiele sind die Einführung des Tonfilms 1929 bzw. die des Farbfernsehens 1967 in Deutschland. In beiden Fällen erfolgte die Weiterentwicklung der Basistechnologie im Zusammenhang mit einer bereits etablierten Verwendungsweise der Technologien als Programmmedien. Der Prozess der Etablierung eines neuen Mediums ist eng mit Prozessen der gesellschaftlichen Regulierung verbunden. Da neue Gesetze grundsätzlich erst als Reaktion auf neue Sachverhalte geschaffen werden, gibt es naturgemäß für neue Medien zunächst keine spezifischen Gesetze. Da neue Medien jedoch immer im Kontext bestehender Gesetze etabliert werden, die für andere Medien geschaffen wurden, beschäftigen sich regelmäßig Gerichte mit der Frage, ob ein bestehendes Gesetz auf ein neues Medium angewendet werden kann. So enthielt das Kinderschutzgesetz von 1903 Regelungen für die Beschäftigung von Kindern als Akteuren auf der Theater- und Varietébühne, aber keine Regelungen für Kinder als Filmschauspieler. Gerichte haben auf der Basis des Kinderschutzgesetzes entschieden, dass das generelle Verbot für die Beschäftigung von Kindern als Akteuren auf der Bühne, das Ausnahmen zuließ, nicht für die Beschäftigung von Kindern bei kinematographischen Aufnahmen galt, da Film eben kein Theater sei. Anders als auf der Bühne durften Kinder also grundsätzlich als Schauspieler in Filmen mitspielen, weil es noch keine anderslautende rechtliche Regelung gab. 27 Da das bestehende, auf das Theater bezogene Recht nicht auf den Film angewendet wurde, kam es in Deutschland um 1910 in einem »rechtsfreien Raum« zu einem immensen Gründungsboom von Kinos. Für den Betrieb eines Sprech- oder Musiktheaters waren Konzessionen erforderlich, die in Deutschland behördlicherseits dazu benutzt wurden, »gutes« Theater zu fördern und »schlechtes« zu unterbinden. Ortsfeste Kinos wurden nicht wie Theater behandelt, weil Gerichte in der Filmprojektion keine Schaustellung von Personen bzw. keine theatralische Vorstellung sahen. Solange Gerichte für ortsfeste Kinos keine Genehmigungspflicht feststellten und solange der Gesetzgeber kein entsprechendes medienspezifisches Gesetz verabschiedete, konnten alle Geschäftsleute, die das Geld dafür aufbringen konnten, ortsfeste Kinos gründen. Sie konnten zudem - worauf Kapitel 7 eingeht - verstärkt Sensationsdramen programmieren, was den Theaterleitern, die auf die Konzessionierung angewiesen waren, mehrheitlich nicht möglich war. Oft durchläuft die Etablierung eines neuen Mediums einen Prozess der Krise. Der Erfolg neuer Medien führt dazu, dass immer mehr Anbieter in den neuen Markt einsteigen. Diese machen sich eine zunehmende Konkurrenz, was zu sinkenden Gewinnen führt und Anbieter aus dem Markt drängt. Die derart hervor- <?page no="71"?> Instrumente zur Analyse des Medienwandels 72 gerufene Krise zwingt zu Innovationen. Um 1907 kam es zu einer explosionsartigen Zunahme von ortsfesten Kinos, was bei einem im Wesentlichen austauschbaren Angebot an Kurzfilmen zu einer verstärkten Konkurrenz über den Eintrittspreis führte. Die Eintrittspreise fielen dadurch so weit, dass die Kinos nicht mehr rentabel wirtschaften konnten. Der Ausweg aus dieser Krise war eine Innovation der Mediennutzungsform. Kapitel 7 zeigt, was die spezifische Qualität dieser neuen Mediennutzungsform war. An die Stelle von Kurzfilmen traten längere erzählende Filme mit reißerischen Inhalten. Medien werden verbreitet und differenziert Die Prozesse der Erfindung und der Etablierung neuer Medien sind zeitlich relativ klar zu definieren, während der Beginn der Verbreitungsphase in Bezug auf einzelne Medien schwerer zu bestimmen ist. Als Beginn der Verbreitungs- und Differenzierungsphase neuer Medien kann im Prinzip der Zeitpunkt bestimmt werden, an dem die Verwendungsweise einer neuen Medientechnologie standardisiert ist und seine Nutzung quantitativ deutlich zunimmt. Demnach müsste man den Beginn der Verbreitungsphase des Films in Deutschland auf die frühen 1920er-Jahre festsetzen. Kapitel 8 zeigt, dass sich zu diesem Zeitpunkt die Praxis durchgesetzt hat, abendfüllende Spielfilme in ortsfesten Kinos vor einem Publikum, das dafür ein Eintrittsgeld bezahlt, zu projizieren. Die Verbreitungs- und Differenzierungsphase des deutschen Fernsehens begänne demnach Anfang der 1970er-Jahre. Der Großteil aller Haushalte hatte zu diesem Zeitpunkt ein Fernsehgerät, und es hatte sich ein tägliches Programm mit einem relativ klaren Sendeschema herausgebildet, in dem die gleiche Sendung (wie T A- GESSCHAU oder T ATORT ) bzw. Sendungen des gleichen Genres (wie zum Beispiel Fernsehkrimi oder politisches Magazin) ihren festen Sendeplatz hatten. An der Verbreitung des Mediums, das in dieser Phase nicht mehr als neu anzusprechen ist, sind wie bei seiner Etablierung Medienproduzenten wie -nutzer beteiligt. Im Unterschied zur Etablierungsphase ist die Frage, ob Medienmacher den Konsumenten primär einen Zugang zur jeweiligen Medientechnologie als Rezipienten verschaffen oder ihnen die Technologie selbst verkaufen, entschieden. Die Medientechnologie Film wird weltweit primär von Medienproduzenten zu Unterhaltungs- und Informationszwecken eingesetzt. Der Verkauf der Filmtechnologie an Filmamateure hat sich in der Verbreitungsphase als sekundärer Wirt- <?page no="72"?> 5. Wie lässt sich Medienwandel modellhaft repräsentieren? 73 schaftszweig herausgebildet. Fernsehgeräte, die in den 1930er-Jahren in kinoähnlichen Fernsehstuben und noch in den 1950er-Jahren vielfach an öffentlichen Orten wie Gaststätten betrieben wurden, wurden seit den 1960er-Jahren zunehmend von den Konsumenten gekauft und Zuhause genutzt. Der Verkauf von Fernsehgeräten an private Nutzer wurde zu einer wesentlichen Voraussetzung für den ständigen Ausbau des Fernsehprogramms, dem man nun unabhängig von Öffnungszeiten von Gaststätten u. dgl. Folgen konnte. In aller Regel geht die große Verbreitung mit einer Verbilligung der Medientechnologie einher (wie bei allen anderen Technologien auch). So wurden Fernsehgeräte, Video-, DVD- und Blu-Ray-Rekorder oder Smartphones mit zunehmend größerem Absatz preiswerter. Mediennutzungsformen, die wie Spielfilme oder Fernsehserien »Unikate« sind, werden dagegen mit zunehmender Zahl nicht grundsätzlich preiswerter. Im Gegenteil stiegen die durchschnittlichen Kosten, die für die Herstellung von Hollywoodfilmen erforderlich sind, seit den 1970er- Jahren signifikant an. Entscheidend für die Amortisation dieser höheren Produktionskosten ist nicht nur die Auswertung der Kinofilme in anderen Medien (u. a. über das Fernsehen bzw. DVD und Blu-Ray), sondern vor allem die Ausweitung des Marktes. Waren Hollywoodfilme der 1950er-Jahre in aller Regel bereits amortisiert, bevor sie in die europäischen Kinos kamen, so können sie seit den 1980er- Jahren ohne die europäischen (und asiatischen) Einspielergebnisse meist nicht mehr refinanziert werden (mehr dazu in Kapitel 17). In der Verbreitungs- und Differenzierungsphase neuer Medien werden die Märkte in der Regel größer; oft wachsen sie über einzelne Regionen und Länder hinaus und umfassen ganze Kontinente oder sogar die Welt insgesamt. Bei der zunehmenden Verbreitung von Medien kommt es zugleich zu kulturellen und sozialen Differenzierungen. Medienprodukte werden für bestimmte Segmente des Publikums (u. a. Kinder, junge Männer) maßgeschneidert. Bei einer ständig wachsenden Marktgröße werden einzelne Segmente des Marktes absolut gesehen so groß, dass für sie kulturell maßgeschneiderte Produkte hergestellt werden können. Ein Beispiel dafür sind Spiel- oder Fernsehfilme, die gezielt für das deutschsprachige Publikum hergestellt werden. Ein anderes Beispiel ist die Entstehung transnationaler Subkulturen, wobei etwa für Menschen mit einer sexuellen Orientierung, die von der der Mehrheit abweicht, ein spezifisches Filmangebot gemacht wird. Mehrere Fallstudien dieses Buchs bieten Beispiele für das Phänomen der kulturellen und sozialen Differenzierung der Medienmärkte. Kapitel 8 und 17 handeln von kulturell differenzierten Filmpräferenzen. Sie zeigen, dass die nationalen Publika in Europa von den 1920erzu den 1960er-Jahren vor allem die Filme aus dem eigenen Land geschätzt haben. Kapitel 11 und 12 demonstrieren, wie Filme so gestaltet wurden, dass sie unter den Bedingungen einer besonderen <?page no="73"?> Instrumente zur Analyse des Medienwandels 74 Vorliebe für die Filme des eigenen Landes auch in anderen Ländern erfolgreich werden konnten. Kapitel 9 thematisiert, wie ausländische Filme auf der Basis gruppenspezifischer Präferenzen des deutschen Publikums selektiert werden. Für die Verbreitungs- und Differenzierungsphase ist nicht zuletzt charakteristisch, dass Gesetze erlassen werden, die das neue Medium selbst berücksichtigen. So wurde zum Beispiel in Deutschland das Kinderschutzgesetz so verändert, dass es sich nun auch auf das Medium Film bezog. Entschieden in der Etablierungsphase des Films zunächst Gerichte auf der Basis des Kinderschutzgesetzes, ob Kinder in Filmen mitspielen durften, so untersagte der deutsche Gesetzgeber in der Verbreitungs- und Differenzierungsphase des Films mit der Novelle des Kinderschutzgesetzes 1925 grundsätzlich die Beschäftigung von Kindern als Filmschauspielern (Ausnahmen wurden zugelassen). 28 Im Unterschied zu den beiden vorangegangenen Phasen hat die Verbreitungs- und Differenzierungsphase nicht immer ein Ende; die Verbreitungsphase eines Mediums endet nur dann, wenn es im bestehenden Medienensemble marginal wird, indem es vom Markt so gut wie verschwindet und dabei ggf. auch seine Funktion ändert. Ein Beispiel hierfür ist die analoge Schallplatte, die ab 1889 in Serie gefertigt wurde, im 20. Jahrhundert zu dem wichtigsten Tonträger für den privaten Musikkonsum aufstieg und seit Mitte der 1980er-Jahre in unmittelbarer Folge des großen Markterfolgs der digitalen CD radikal an Bedeutung verlor, wenn auch nicht vom Markt verschwand. Die Schallplatte »überlebte« in kulturellen Nischenbereichen wie der DJ-Kultur oder als Sammlerstück für Nostalgiker. <?page no="74"?> 75 Teil II Fallstudien zum Wandel der Kino- und Fernsehkultur Die folgenden Fallstudien thematisieren unterschiedliche Aspekte des Medienwandels wie die Etablierung neuer Medieninstitutionen und -nutzungsformen, die Rolle der Mediennutzer für die Verbreitung und kulturelle Differenzierung der Medien sowie die Nationalisierung bzw. Globalisierung von Medienkulturen. Sie können die Fallstudien in beliebiger Reihenfolge lesen. Einzelne Fallstudien thematisieren den Wandel der Medien selbst, andere sind gewissermaßen Zeitschnitte aus einem Wandlungsprozess der Medien, der über mehrere Kapitel hin behandelt wird. Die Fallstudien beziehen sich in erster Linie auf Deutschland. Liest man sie chronologisch, setzt sich ein anschauliches Bild vom Wandel der Kino- und Fernsehkultur in Deutschland im 20. Jahrhundert zusammen. Die Spezifik dieser sich wandelnden Medienkultur tritt dadurch hervor, dass sie immer wieder mit den Medienkulturen anderer europäischer Länder verglichen wird. <?page no="76"?> 77 6. Mobiles Kino (1900er-Jahre) Indem sich Medienmacher und -nutzer einer neuen Medientechnologie bedienen, entstehen neue Märkte. 29 Die neue Medientechnologie Film, die zur Aufnahme und Wiedergabe von Bewegungsabläufen genutzt werden konnte, wurde seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert primär zu Unterhaltungszwecken verwendet. Schausteller, die Unterhaltungsgeschäfte auf Jahrmärkten anboten, bedienten sich der neuen Technologie, um mehr Zuschauer besser zu unterhalten. Durch die Jahrmarktkinos entstand eine neue visuelle Kultur, die zugleich tief in den Traditionen der bestehenden Jahrmarktkultur verankert war. Charakteristika des Jahrmarktkinos Ein Jahrmarktkino bestand aus einem Raum mit Sitzreihen, in dem die kinematographischen Bilder auf eine Leinwand projiziert wurden. Der Projektor stand schon um 1900 - die behördlichen Regelungen lagen in Deutschland in der Kompetenz der Bundesstaaten bzw. Städte 30 - meist in einem separaten, feuersicheren Raum; projiziert wurde durch eine Glasscheibe. An der Frontseite des Jahrmarktkinos fand der Besucher mittig den Eingang und das Kassenhäuschen. Links davon stand die Lokomobile, eine Maschine zur Stromerzeugung. Der Strom war nicht notwendig für den Betrieb des Projektors, sondern für die Beleuchtung des Innenraums und der Fassade. Rechts vom Eingang war in der Regel die Orgel untergebracht, sodass die Musik nicht nur im Kino, sondern werbeträchtig zugleich auch auf dem Platz davor zu hören war. Jahrmarktkinos unterschieden sich durch Größe und Design. Kleinere mobile Kinos - allesamt Holzkonstruktionen - fassten 200, größere 600 bis 700 Personen. Zeltkinematographen konnten deutlich mehr Besuchern einen Platz bieten: So hatte der Circus-Kinematograph der Witwe C. Heitmann 1.500 Plätze, und der Zeltkinematograph The American-European-Bio umfasste 1908 sogar 2.000 Sitzplätze bei einer Bildfläche von 80 Quadratmetern. 31 Im Unterschied zu den kleineren Theatern verfügten die größeren Bauten immer über eine kunstvolle Fassadengestaltung mit aufwendiger Beleuchtung, eine musikalische Ausstattung in Form einer Orgel bzw. eines kleinen Orchesters sowie Sitzplätze, die nach Komfort und Preis in Rängen gestaffelt waren. Das Jahrmarktkino war in Europa insgesamt weit verbreitet. So gab es auch in Österreich-Ungarn, der Schweiz, Italien, Großbritannien, den Niederlanden und Belgien Jahrmarktkinos in der beschriebenen Form. 32 Die nationale Varianz der mobilen Theaterbauten war in Europa sehr gering. Außer dem Namen und der <?page no="77"?> Fallstudien zum Wandel der Kino- und Fernsehkultur 78 künstlerischen Gestaltung der Außenfassade gab es kaum nationale Unterschiede. Daher konnten Jahrmarktkinos auch in anderen Ländern aufgestellt bzw. dort gekauft werden, wenn sie preisgünstiger oder attraktiver waren. Schausteller als Betreiber Jahrmarktkinos wurden von reisenden Schaustellern betrieben, die ihr Unterhaltungsangebot an wechselnden Orten präsentieren. Das Schaustellergewerbe wurde in Deutschland ab den 1870er-Jahren zunehmend institutionalisiert: 1875 wurde es durch die Wandergewerbeordnung gesetzlich geregelt. 1883 wurden die ersten berufsständischen Verbände gegründet: der Zentralverband deutscher Händler, Markt- und Messreisender mit Sitz in Magdeburg sowie der Internationale Verein reisender Schausteller mit Sitz in Hamburg. Im selben Jahr wurde zudem die Zeitschrift Der Komet erstmals verlegt, die zum wichtigsten Kommunikationsorgan der Branche aufstieg. Herausgegeben wurde Der Komet »unter Mitwirkung intelligenter Fachgenossen« 33 in Pirmasens von Wilhelm Neumann und nach dessen Tod ab 1902 von Gustav Leis. Ab 1901 erschien zudem in Hamburg Leilichs Cinematograf auf dem Münchner Oktoberfest 1904 (Stadtarchiv München) <?page no="78"?> 6. Mobiles Kino (1900er-Jahre) 79 die Schaustellerzeitschrift Der Anker, die vom Internationalen Verein Reisender Schausteller und Berufsgenossen herausgegeben wurde. 34 Zudem entstanden eigene Fabrikationsstätten für den Schaustellerbedarf, bei denen Schausteller vom Karussell über den Wohnwagen bis hin zum mobilen Kinobau alles kaufen konnten. Schausteller warteten mit einer breiten Palette unterschiedlicher Attraktionen auf, um das Publikum anzuziehen. Die Besucher der Jahrmärkte suchten Sensationen, den Nervenkitzel der Achterbahnen ebenso wie besondere visuelle Reize, wie sie in Panoptiken oder Jahrmarktkinos angeboten wurden. Die Jahrmarktbesucher konnten die Vielfalt der Angebote selektiv entsprechend den eigenen Vorlieben nutzen. Drei grundsätzlich verschiedene Angebotsformen lassen sich unterscheiden: Die erste Gruppe bilden die Fahr- und Geschicklichkeitsgeschäfte. Fahrgeschäfte sind Anlagen, in denen Personen durch eigene oder fremde Kraft in festgelegten Bahnen bewegt werden. Karussells - vom Karussell mit schwingenden Pferden bis zum Schiffskarussell - sowie Bahnen wie elektrische Stufenbahnen, Berg- und Talbahnen sowie Tunnelbahnen rissen das Publikum in einen Rausch der Bewegung. Geschicklichkeitsgeschäfte wie Wurfbuden oder Schießstände erforderten entsprechende Fertigkeiten. Mit Fahr- und Geschicklichkeitsgeschäften konnte ein Bedürfnis der Bevölkerung nach Unterhaltung gestillt werden, das auf der perfekten Kontrolle über den eigenen Körper beruhte bzw. mit Kontrollverlusten über den eigenen Körper einherging und dabei so gut wie alle Sinne einbezog. Zur zweiten Gruppe der Jahrmarktangebote gehören Verkaufsgeschäfte. Sie boten vor allem eine ausgefallenere Auswahl von Luxusartikeln an, z. B. Zucker- und Konditoreiwaren. Darüber hinaus boten Stände Bedarfsartikel für Raucher wie Zigarren oder Pfeifen an. 35 Die dritte Säule der Jahrmarktunterhaltung waren die Schaugeschäfte, bei denen die Besucher in die Rolle des Zuschauers schlüpften. Wachsfigurenkabinette und Panoptiken sorgten für Anschauungsmaterial vom Kaiser bis zu Sexualkrankheiten. Im anatomischen Museum sah man in der Form von Nachbildungen aus Wachs Cholerawirkungen, Föten, Normal-, Steiß- und Zangengeburten, Kaiserschnitte oder das Hymen. Abnormitäten-Theater zeigten Zwerge und Riesendamen. Affen-, Katzen- und Hundetheater sorgten für ausgefallene Belustigung. Mobile Varietés, die auch Spezialitätentheater genannt wurden, präsentierten ein buntes artistisches Programm. Jahrmarktkinos schließlich waren ab 1896 eine neue Attraktion des Schaugeschäfts. <?page no="79"?> Fallstudien zum Wandel der Kino- und Fernsehkultur 80 Feste, Märkte und Messen Betreiber von Jahrmarktkinos stellten ihr Theater in der Regel nicht allein auf, sondern nutzten die kulturelle Infrastruktur der Feste, Märkte und Messen. Sie präsentierten ihr Kino also im Verbund mit anderen Attraktionen, sodass sich die verschiedenen Angebote ergänzten. Feste gab es deutlich mehr als Märkte und Messen, weshalb sie für das Schaustellergewerbe von größter Bedeutung waren. Sie dauerten in der Regel zwei bis drei Tage, große Feste wie das Münchner Oktoberfest oder der Hamburger Dom zwei bis drei Wochen. Viele Feste entstanden aus den Traditionen der römisch-katholischen Kirche, z. B. das Kirchweihfest, das in Deutschland um 1900 ein Drittel aller Feste ausmachte, auf denen Jahrmarktkinos präsent waren. Als Kirchweihe gilt »in der kath[olischen] Kirche die religiöse Handlung, durch welche eine neuerbaute oder ihrer Bestimmung entfremdete Kirche dem gottesdienstlichen Gebrauche gewidmet wird, [als] Kirchweihfest (Kirchmesse, Kirmeß, Kirmse) das jährliche Fest der Erinnerung an die K[irchweihe], mit Gottesdienst, woran sich weltliche Lustbarkeiten anschließen.« 36 Kulturell wurde die Festkultur nachhaltig von katholischen Traditionen geprägt, zu denen eine besondere Vorliebe für visuelle Opulenz, große Inszenierungen und eine weltliche Lebensfreude gehörten. Katholische Kirchen waren in der Regel opulent mit Kunstwerken ausgestattet, die Messe selbst wurde in ihrer lateinischen Liturgie als großes Ereignis, als Mysterium mit erheblichen Schauwerten inszeniert. 37 In Anlehnung an Max Webers Formulierung der protestantischen Ethik kann man von einer katholischen Ethik sprechen, die nicht die kapitalistische Arbeitsmoral, sondern das Geschäft mit der Unterhaltung gefördert hat, da sie einen Nährboden bot, auf dem sich eine breite Festkultur überhaupt erst entwickeln konnte. Der Protestantismus, der im 16. Jahrhundert seinen Siegeszug in Deutschland begann, legte mit Glaubenssätzen wie der Prädestinationslehre und dem Gebot der Askese die Grundlage für eine den Kapitalismus fördernde Arbeitsmoral, zu der die tradierte Festkultur nicht recht passte. 38 Zu Beginn des 20. Jahrhunderts hatte die protestantische Kirche in Deutschland deutlich mehr Mitglieder als die katholische - nach dem Zensus von 1910 waren es beinahe doppelt so viele Protestanten wie Katholiken. 39 Die protestantische Kirche hat über die Jahrhunderte die Zahl der Feste reduziert, die Festtradition als solche jedoch nicht unterbinden können. Dem religiösen stand ein wirtschaftliches Interesse gegenüber, weil die Festkultur eine wichtige Einnahmequelle der Städte war - von der Vermietung der Standplätze bis zur Erhebung diverser Steuern wie der Stempel- und Vergnügungssteuer. Standen Feste in der Regel in katholischen Traditionen, so waren Märkte und Messen ursprünglich Warenumschlagplätze für den Endverbraucher bzw. für <?page no="80"?> 6. Mobiles Kino (1900er-Jahre) 81 Zwischenhändler. Sie wurden im späten 19. Jahrhundert jedoch auch zunehmend zu Vergnügungsstätten der Bevölkerung. Die Leipziger Messe trennte um 1900 die Handels-, Muster- oder Großmesse von der Kleinmesse, die wiederum in die Detailmesse, auf der kleinere Waren angeboten wurden, und die Schaumesse, die nur dem Vergnügen diente, unterteilt wurde. Je mehr ein Warenangebot bereits vor Ort verfügbar war, desto eher konnten sich die Märkte zu Vergnügungsstätten entwickeln. Die Jahrmärkte, die dem Vergnügen der Bevölkerung dienten, dauerten zunehmend länger, wurden von immer mehr Schaustellern besucht und fanden ein immer größeres Publikum. Dafür ist das Münchner Oktoberfest ein Beispiel, das 1810 aus Anlass der Heirat des bayerischen Kronprinzen Ludwig mit der Prinzessin Therese Charlotte Luise von Sachsen-Hildburghausen (daher der Name des Festplatzes: Theresienwiese) erstmals gefeiert wurde. Das zunächst nur zwei Tage dauernde Fest wurde bis zur Jahrhundertwende auf zwei Wochen verlängert. Zum traditionellen Bierausschank kamen Schaustellungen aller Art hinzu. Zunächst fanden sich nur kleinere Buden auf dem Festplatz, um 1900 bestimmten prachtvolle Bauten das Erscheinungsbild des Oktoberfestes. Seit 1885 war das Fest abends mit Bogenlampen erleuchtet, mit denen die Nacht zum Tag werden konnte - eine Pionierleistung der Elektrotechnischen Fabrik J. Einstein und Co., an der Albert Einsteins Vater Hermann neben dessen Bruder Jakob beteiligt war. Durch den Bau und Ausbau der Eisenbahn - 1849 wurde die Strecke Nürnberg- München in Betrieb genommen - vergrößerte sich das Einzugsgebiet des Oktoberfests, sodass sich die Zahl der Besucher von den 1860erzu den 1880er-Jahren vervielfachte. »Besuchten 1861 während der gesamten Festzeit 80.000 Personen das Fest, wurden 1882 allein am Festsonntag - also an einem einzigen Tag - mehr Besucher gezählt.« 40 Jugendliche - Jungen waren etwas stärker als Mädchen vertreten - dominierten um 1900 das Bild des Publikums auf den Jahrmärkten. Die Entwicklungspsychologie und die Neurowissenschaften bringen neuerdings das typische Verhalten von Jugendlichen insbesondere zwischen 13 und 16 Jahren - unabhängig davon, in welchen Kulturen sie aufwachsen - mit einer grundlegenden Reorganisation des Gehirns in Verbindung. 41 Tieferliegende Gehirnregionen wie das limbische System, das, vereinfachend gesagt, den Emotionen und Trieben zugeordnet wird, sowie das Belohnungssystem entwickeln sich früher zu ihrer abschließenden Reife als der präfrontale Cortex, der für eine situationsangemessene Handlungssteuerung sowie für die Regulierung emotionaler Prozesse zuständig ist. Diese Ungleichzeitigkeit der neurologischen Entwicklung führt dazu, dass Jugendliche in einem besonderen Maß nach starken Emotionen und neuen Reizen suchen und dafür sogar bereit sind, Risiken in Kauf zu nehmen. Der Jahrmarkt bot hierfür bei extrem geringen Risiken alle Möglichkeiten. <?page no="81"?> Fallstudien zum Wandel der Kino- und Fernsehkultur 82 Anders als oft unterstellt wird, war das Publikum der Jahrmärkte mehrheitlich sicherlich nicht proletarisch. Der größte Teil aller Gastspiele deutscher Jahrmarktkinos entfiel mit 85 % in den Jahren 1896 bis 1914 auf Klein- und Mittelstädte, also auf Orte mit weniger als 100.000 Einwohnern, während die Industrie in Großstädten wie Berlin, Chemnitz, Essen oder Duisburg angesiedelt war. Aber selbst in den Großstädten rekrutierte sich ein Teil des Jahrmarktpublikums - wie am Beispiel des Münchner Oktoberfestes gezeigt - aus dem jeweiligen ländlichen Einzugsgebiet. Entstehung der Jahrmarktkinos Jahrmarktkinos entstanden in Deutschland ab 1896 vor allem aus mobilen Varietés, die zur Jahrmarktkultur des ausgehenden 19. Jahrhunderts gehörten. Das Foto gegenüber zeigt das Original-Specialitäten-Theater Rob[ert] Melich während der Essener Kirmes 1889 als eine große Attraktion, die vor allem jüngere Männer anzog. Teilweise wurden auch andere Schaustellungen wie »Illusionsbuden« umgewandelt. 42 Diese Schaustellungen präsentierten Illusionen wie »Dame ohne Unterleib«, die scheinbar schwebende »Neptuna« oder »Enthauptung bzw. Zersägen« von Jungfrauen. 43 Mobile Varietés boten ein Nummernprogramm mit Artisten, Sängern, Tänzern und Komikern an. So bot das Varieté von Forst und Clausen 1903 einen Reckkünstler, »Mr. Walton mit seiner grossartig dressirten Hundemeute«, einen Todessprung, »musikalische Phantasten«, die »Original Transvaal-Buren [, die] besten Kunstschützen der Erde«, Reitkünstler sowie »ausgezeichnete Clowns und Auguste«. 44 Der Besitzer eines solchen mobilen Varietés engagierte Artisten auf Zeit, mit denen er dann zumindest für eine Saison durchs Land zog. Die Truppen waren aus wirtschaftlichen Gründen (Gehälter, Transportkosten usf.) relativ klein, sodass einzelne Artisten mehrere Funktionen übernahmen (also etwa in einer Vorstellung als Kunstschütze und als Reiter auftraten). Die entscheidende Motivation der Schausteller, den Varietébetrieb bereits Ende des 19. Jahrhunderts auf Filmvorführungen umzustellen, war die Erwartung größerer Gewinne. Diese entstand aufgrund der besonderen Attraktivität der Filme als auch aufgrund der deutlich geringeren Kosten. Der für den Betrieb eines Jahrmarktkinos erforderliche finanzielle Aufwand war vor allem deshalb deutlich geringer, weil die Personalkosten für die Artisten vollständig entfielen. 45 Neu hinzu kamen allerdings die Anschaffungskosten für die Filme, die jedoch deshalb überschaubar waren, da nur wenige Filme gebraucht wurden, solange der Jahrmarktkinobesitzer mit dem Jahrmarkt das Publikum wechselte. <?page no="82"?> 6. Mobiles Kino (1900er-Jahre) 83 Von den 14 zwischen Juni 1895 und November 1896 im Komet nachweisbaren Besitzern von mobilen Varietés stellten zehn auf Jahrmarktkino um, sieben von ihnen bereits in den Jahren 1896 bis 1898 (Melich, Fernando, August Schichtl, Schmidt, Carl Wallenda, Hundt, Praiss). Da die Besitzer mobiler Varietés über einen fahrbaren Theaterbau verfügten, war eine Umstellung ihres Betriebs auf Filmvorführungen ohne großen Aufwand durchführbar. Die Umstellung auf kinematographische Darbietungen war technisch unkompliziert, da in die vorhandenen Einrichtungen lediglich Filmprojektor und Leinwand einzupassen waren, wie sie 1896/ 97 etwa die Hersteller Hermann O. Foersterling, Oskar Messter und Georg Bartling im Angebot hatten. Elektrischer Strom war keine Voraussetzung für die Umrüstung der Varietés zu Jahrmarktkinos. Im Unterschied zum Biographen, der in internationalen Varietés Anwendung fand, wurde der Kinematograph mit Handkurbel bedient und konnte mit einer stromunabhängigen Lichtquelle, dem sogenannten Kalklicht, betrieben werden. Zudem waren die Betreiber der mobilen Varietés bereits auf den Unterhaltungstyp des Nummernprogramms spezialisiert, den auch die frühen Filme ermöglichten. Die Schausteller ersetzten das Bühnenprogramm ihrer mobilen Varietés durch ein Programm mit kinemato- Robert Melichs Original-Specialitäten-Theater auf der Essener Kirmes 1889 (Stadtbildstelle Essen) <?page no="83"?> Fallstudien zum Wandel der Kino- und Fernsehkultur 84 graphischen Bildern, blieben ansonsten jedoch ihrer Tradition treu, in einem Theaterbau ein unterhaltendes Nummernprogramm zu zeigen. Filmgenres und Programmtypen Jahrmarktkinos waren nicht nur ein großer wirtschaftlicher Erfolg, weil die Kosten im Vergleich zum mobilen Varieté deutlich geringer waren, sondern vor allem, weil sie ein Filmprogramm zeigten, das bei ihrem Publikum außerordentlich beliebt war. Die Varietés mit ihren Attraktionen boten ebenso wie die Jahrmärkte mit ihrem Rummel und die Kinos, die auf diesen gastierten, ihren Besuchern eine »maßlose Unterhaltung«, also ein ausschweifendes, grenzenloses Vergnügen, indem sie das Erregungsniveau hochhielten. Die Zuschauer sahen in den Jahrmarktkinos Programme mit mehreren kurzen Filmen, die insgesamt kaum mehr als 15 Minuten dauerten, weil Jahrmarktbesucher in aller Regel mehrere Angebote auf einem Jahrmarkt nutzten. Speziell für die Präsentation auf Jahrmärkten entwickelte sich ein Filmtyp, der für diesen kulturellen Kontext besonders geeignet war: das Kino der Attraktionen. Folgt man Tom Gunning, präsentierte das Kino der Attraktionen »visual delights (color, spectacular costumes or set design), surprises (unusual physical feats, or magical trick effects), displays of the exotic, beautiful, or grotesque (views of foreign sites or indigenous peoples, scantily clad women, or physical freaks), or other sorts of sensational thrills (speeding trains, explosions, tricks of fast motion).« 46 André Gaudreault verwendet den Begriff »monstration« (von montrer qc. à qn., jemandem etwas zeigen), um diesen Filmtyp zu charakterisieren: Das Kino der Attraktionen ist wesentlich ein Kino des »Zeigens« und nicht des »Erzählens«. 47 Der Zuschauer wird von frühen Filmen oft direkt angesprochen (der französische Filmpionier Georges Méliès weist in vielen seiner Filme gestikulierend auf das hin, was er dem Zuschauer zeigt) und starken emotionalen Effekten ausgesetzt (z. B. richtet der Bandit seine Waffe am Schluss des Films T HE G REAT T RAIN R OBBERY [1903] auf das Publikum), die Gunning als »series of visual shocks« beschreibt. Gunning konzipiert den Zuschauer als Gaffer, der einen Moment innehält und sich dabei von den bewegten Bildern überraschen und in Erstaunen versetzen lässt. Die Filme boten Attraktionen, wie sie bereits aus vorfilmischen Unterhaltungsformen bekannt waren. Ein Akrobat, der seinen Körper auf eine grandiose Weise beherrscht, indem er schlangenartige Bewegungen vollführt, die menschlich unmöglich erscheinen, war ein Star der großstädtischen internationalen Varietétheater. Als filmische Reproduktion wie in L’H OMME MYSTÉRIEUX (1910) war sein Schaustück auch in Klein- und Mittelstädten zu bewundern. Wurden in den Illusionsbuden magische Illusionen wie die »schwebende Neptuna« oder die »Frau <?page no="84"?> 6. Mobiles Kino (1900er-Jahre) 85 ohne Kopf« erzeugt, so boten viele frühe Filme - das Werk von Méliès ist hier ein gutes Beispiel - ebensolche magische Illusionen auf der Leinwand. 48 Eine Illusion ist dann magisch, wenn das Gezeigte in Wirklichkeit unmöglich ist (Frauen können nicht schweben; Frauen ohne Kopf leben nicht). Die Faszination solcher Illusionen besteht darin, dass der Zuschauer tatsächlich etwas sieht, von dem er weiß, dass es nicht möglich ist. In welchem Maß das Angebot der Jahrmarktkinos attraktiver als das der tradierten Unterhaltungsinstitutionen war, wird noch deutlicher, wenn man sich vergegenwärtigt, dass Filme eine bessere Illusion bieten konnten. Ein Film kann magische Illusionen auf eine perfekte Art erzeugen, da er sich einer Reihe von Tricks bedienen kann, die auf der Bühne nicht möglich sind. So können sich nicht nur Gegenstände wie von Geisterhand bewegen, sondern auch von einer Sekunde auf die andere Frauen zu Männern und Männer zu Frauen verwandeln wie u. a. in I LLUSIONS FUNAMBULESQUES (1903) oder L ES TRANSMUTATIONS IMPERCEPTI - BLES (1904). Oder ein körperloser Kopf, der auf ein Schwert aufgesteckt wird, kann zu seinem »Peiniger« sprechen wie in L E CHEVALIER MYSTÈRE (1899). Im Film L ES K IRIKI , ACROBATES JAPONAIS (1907) scheinen die Künstler die Schwerkraft außer Kraft zu setzen, indem zum Beispiel ein kleines Kind mehrere Erwachsene auf einem Brett trägt, das nicht mittig über seiner Schulter liegt. Tatsächlich entsteht dieser Effekt durch einen filmischen Trick. Die Akrobaten liegen auf dem Boden, während die Kamera an der Decke hängt. Das Jahrmarktkino war gerade deshalb beim Publikum so beliebt, weil Filme oft ein vielfältigeres Programm als andere Jahrmarktattraktionen boten. Statt eine magische Illusion zu sehen, boten Jahrmarktkinoprogramme oft gleich mehrere solcher Illusionen. Statt einzig magische Illusionen zu zeigen, wurden darüber hinaus auch bewegte Bilder von missgestalteten Tieren gezeigt, sodass das Angebot nicht nur im Vergleich zu dem einer traditionellen Illusionsbude größer war, sondern zugleich das Angebot anderer Schaubuden wie Tier-Abnormitäten- Schauen integrierte. Zudem wurde etwa die Kunst eines Méliès, die man vorher nur im Théâtre Robert Houdin in Paris bewundern konnte, nun auch in der Provinz und sogar in anderen Ländern zugänglich. L ES K IRIKI , ACROBATES JAPONAIS , Frankreich 1907 (Lobster Films, Cinémathèque Française) <?page no="85"?> Fallstudien zum Wandel der Kino- und Fernsehkultur 86 Reichweite und Erfolg der Jahrmarktkinos Die Hochburgen des Jahrmarktkinobetriebs waren vor allem die Klein- und Mittelstädte des Deutschen Reichs. Ländliche Regionen waren keine Bastion des Jahrmarktkinogewerbes, weil der Einzugsbereich für die großen Kinos zu klein war, sodass auch bei einer starken Nachfrage nicht mit einer Auslastung des jeweiligen Betriebs zu rechnen war. Großstädte hatten zwar einen optimalen Einzugsbereich, das wirtschaftliche Risiko war für die Kinounternehmer jedoch deutlich höher, da sie mit einem breiten Unterhaltungsangebot vor Ort konkurrieren mussten. Jahrmarktkinos waren zudem stärker in Klein- und Mittelstädten vertreten, die in überwiegend katholischen Regionen lagen. Differenziert man die 19 Bundesstaaten 49 sowie die 14 preußischen Provinzen des Deutschen Reiches hinsichtlich der Religionszugehörigkeit ihrer Bürger, so stehen neun mehrheitlich katholischen Staaten bzw. Provinzen 24 mehrheitlich protestantische Staaten bzw. Provinzen gegenüber. Die Regionen mit einem überwiegend katholischen Bevölkerungsanteil waren Westpreußen, Posen und Schlesien im Osten, Westfalen und das Rheinland im Westen, Elsass-Lothringen und Baden im Südwesten sowie Bayern im Süden. Die Anzahl der Spielorte bzw. Gastspiele sind zwischen 1896 und 1914 hinsichtlich katholischer bzw. protestantischer Regionen zwar annähernd gleich verteilt - 644 bzw. 680 Orte und 2.260 bzw. 2.405 Gastspiele -, da es jedoch beinahe viermal so viele protestantische Provinzen gab, waren die katholischen Regionen die Hochburgen des Jahrmarktkinobetriebs. Die insgesamt gesehen stärkere Präsenz von Jahrmarktkinos in katholischen Provinzen bzw. Staaten des Deutschen Reiches erklärt sich durch die bereits angesprochene, überwiegend aus katholischen Traditionen entstandene Infrastruktur der Feste. Der Erfolg des Jahrmarktkinos zeigt sich u. a. daran, dass die Bauten von Jahr zu Jahr prächtiger und größer wurden. Oft verkauften die Schausteller am Ende der Saison ihr mobiles Kino, um sich für die neue Saison einen neuen Theaterbau zuzulegen, der über mehr Sitzplätze bzw. ein vollständig neues Äußeres verfügte. So bot Theodor Bläser sein Jahrmarktkino »nach Schluß der diesjährigen Saison [1906] jedoch ohne Maschine und ohne Wagen und Orgel« im Komet zum Verkauf an - ein deutliches Zeichen, dass er nicht aus dem Gewerbe aussteigen, sondern durch Innovation die Konkurrenz ausstechen wollte. 50 Am Beispiel des Münchner Oktoberfestes lässt sich zeigen, dass die Größe der Jahrmarktkinos von Jahr zu Jahr zunahm. Die durchschnittliche Quadratmeterzahl der mobilen Kinobauten betrug vor 1900 96, stieg auf 148 im Jahr 1901, auf 193 im Jahr 1905 und auf 332 im Jahr 1910. Innerhalb von 15 Jahren vergrößerte sich der Mittelwert der Grundfläche aller auf dem Oktoberfest tätigen mobilen Kinos demnach um den Faktor 3,5. 1910 boten die fünf zugelassenen Jahrmarktkinos auf der »Wiesn« durchschnittlich 450 Sitzplätze: Theodor Bläser hatte mit <?page no="86"?> 6. Mobiles Kino (1900er-Jahre) 87 650 Plätzen das größte, Heinrich Leilich mit 300 Plätzen das kleinste Unternehmen. Verfügte Theodor Bläser 1901 über ein Kino mit 160 m², so reiste er 1905 mit einem Bau von 192 m² und 1910 mit einem Kino von 480 m² Grundfläche. Die Sitzplatzkapazität seiner mobilen Spielstätten verdreifachte sich innerhalb von 10 Jahren von 215 auf 650 Plätze und übertraf damit selbst große ortsfeste Varietés. Wie viele Zuschauer konnten die Jahrmarktkinos erreichen? Folgende Berechnung beruht auf der Annahme, dass Jahrmarktkinos durchschnittlich 150 Plätze hatten und an 10 Tagen im Monat 10 Vorstellungen pro Tag gaben (die übrige Zeit waren die Unternehmen auf Reise und mit dem Auf- und Abbau der Kinos beschäftigt). In diesem Fall erreichte ein Jahrmarktkino in einem Monat maximal 15.000 Zuschauer. In einer Saison, die 9 Monate dauerte, konnte ein einziges Kino damit auf 135.000 Besuche kommen. Wenn man davon ausgeht, dass sich 500 Unternehmen den deutschen Markt teilten, hatte das Jahrmarktkino um 1905 damit eine maximale Reichweite von 67,5 Millionen Besuchen. Jahrmarktkinos waren ein großer geschäftlicher Erfolg. Dies ist nicht nur daran abzulesen, dass die Theaterbauten immer größer wurden und die Zahl der Zuschauer zunahm, sondern zeigt sich auch daran, dass ihre Betreiber relativ vermögend waren. So ist bekannt, dass der Kinounternehmer Mandt aus Bochum 1909 Jahreseinnahmen von 30.000 Mark erzielte, 51 was beinahe dem Gehalt eines Ministers entsprach, das bei 36.000 Mark lag. 52 Geht man von durchschnittlichen Betriebskosten von 4.500 Mark pro Jahr aus, 53 ergibt sich ein Jahresnettoverdienst vor Steuern von etwa 25.000 Mark. Mandt war ein kleiner Unternehmer, die Großen der Branche dürften ein Vielfaches verdient haben. Ein »rollender Palast« auf dem Oktoberfest hatte 1910 durchschnittlich 450 Plätze. Wenn ein solches Kino an 10 Tagen im Monat 10 Vorstellungen pro Tag gab, so wurden in einem Monat maximal 45.000 Zuschauer erreicht. In einer Saison, die neun Monate dauerte, konnte sein Kino damit auf 405.000 Besuche kommen. Bei einem durchschnittlichen Eintrittspreis von 30 Pfg. konnten so maximal 121.500 Mark eingenommen werden, also das Vierfache dessen, was Mandt an Einnahmen erzielte, und mehr als das Dreifache eines Ministergehaltes. Kapitel 6 hat gezeigt, wie eine neue Medieninstitution (das Jahrmarktkino) und eine neue Mediennutzungsform (das Kino der Attraktionen) entstanden sind, die perfekt an den kulturellen Kontext adaptiert waren, aus dem heraus sie sich entwickelt haben. Aus dem mobilen Varieté der Jahrmärkte entstand die erste Kinoform, ein mobiles Kino, das von Jahrmarkt zu Jahrmarkt transportiert wurde. Die Programmform der Jahrmarktkinos fußte in der Varietékultur und nutzte zugleich die spezifischen Möglichkeiten der neuen Medientechnologie Film, sodass das Kino zu einem außerordentlichen Erfolg beim Publikum wurde. Das kulturelle Profil des neuen Mediums Film entstand also aus den Traditionen der bestehenden Unterhaltungskultur der Jahrmärkte und hat diese erneuert. <?page no="88"?> 89 7. Kinotheater und -dramen (1910er-Jahre) Die Filmwirtschaft ist grundsätzlich auf Innovation angewiesen, weshalb sie nicht nur immer neue Varianten eines Filmtyps anbietet, sondern auch neue Filmtypen schafft und am Markt testet. 54 Mit dem Ortsfestwerden der Kinos entstand in den 1910er-Jahren ein neuer Filmtyp, das Kinodrama. Zugleich begann sich die »Globalität« der Filmkultur der Jahrmärkte allmählich kulturell auszudifferenzieren. Die Gründe für die beginnende kulturelle Ausdifferenzierung liegen bei einem weitgehend stabilen demografischen Profil des Publikums im Wesentlichen im Wandel des angebotenen Filmtyps (Kinodrama) und des Spielstättentyps (ortsfeste Kinos), in dem die neuartigen Filme dem Publikum gezeigt wurden. Warum Kinos ortsfest wurden Ab 1906 setzte sich in Europa eine grundlegende Innovation im Filmbereich durch, die Etablierung des ortsfesten Kinos mit einem gegenüber dem Jahrmarktkino neuen Programm. Um 1910 war das ortsfeste Kino dann so verbreitet, dass das Jahrmarktkino allmählich vom Markt verdrängt wurde. Die ersten ortsfesten Kinos hießen in Deutschland Ladenkinos, da sie in leer stehende Ladenlokale eingebaut wurden. Die Etablierung ortsfester Spielstätten geht zumindest in Berlin auf den Innovationsgeist von Kaufleuten des Einzelhandels zurück, die aufgrund des Warenhausbooms in der Krise steckten. Sie sahen in der Filmauswertung eine Möglichkeit, sich aus dieser Krise zu befreien. Weil die Newcomer keine Erfahrung in der Unterhaltungsbranche hatten, waren sie darauf angewiesen, ein erfolgreiches Modell der Filmauswertung zu adaptieren - sie fanden es im Jahrmarktkino. Jahrmarktkinobesitzer selbst waren am Gründungsboom ortsfester Kinos hingegen nur marginal beteiligt. Zum einen waren die Besitzer der Jahrmarktkinos nicht motiviert, das Filmgeschäft zu diversifizieren, da ihr Geschäft prosperierte. Bis 1906 stieg die Zahl der nachweisbaren Gastspiele der Jahrmarktkinos in Deutschland kontinuierlich an und blieb dann bis 1910 auf einem hohen Niveau. Zum anderen widersprach es der Lebenspraxis der Schausteller, die mit Jahrmarktkinos tourten, ein Geschäft auf Dauer an einem Ort zu betreiben. Um 1905 kam es zu einer wirtschaftlichen Krise des Einzel- und Straßenhandels, da die neu entstandenen Warenhäuser ihre Waren zu günstigeren Preisen anbieten konnten. Warenhäuser boten ein »Gemischtwarensystem« an; die meisten Warenhäuser der 1900er-Jahre sind eher heutigen Discountern (die allerdings ein eingeschränkteres Warenangebot haben) als den Konsumtempeln der 1920er- <?page no="89"?> Fallstudien zum Wandel der Kino- und Fernsehkultur 90 Jahre oder den heutigen großen Kaufhäusern vergleichbar. »In ihrem auf Erzielung von Massenumsätzen gerichteten Streben arbeiteten die Warenhäuser bewußt auf eine Verbilligung ihrer Angebote hin.« 55 Die Verbilligung der Angebote wurde nicht nur durch die große Menge der abgenommenen Waren möglich, sondern auch dadurch, dass die Geschäftsführer der Warenhäuser die Waren direkt bei den Produzenten und nicht mehr bei Zwischenhändlern einkauften. Da die Einzelhändler ihre Waren nicht so günstig anbieten konnten wie die Warenhäuser, hatten sie starke Umsatzrückgänge zu verzeichnen. Die ersten Berliner Warenhäuser entstanden in den 1880er- und frühen 1890er- Jahren - Wertheim 1885, Emden 1892. 56 Um 1908 gab es allein in Alt-Berlin bereits 111 Warenhäuser. 57 Warenhäuser waren auf effektive Verkehrsverbindungen angewiesen, da sie für den »billigen Massenverkauf« 58 ein großes Einzugsgebiet benötigten. Zu den Verkehrsmitteln zählten um 1900 neben den traditionellen Pferdebahnen mit Dampfkraft betriebene Stadtbahnen und die innovativen elektrischen Straßenbahnen. Am 16. Mai 1881 erstmals in Berlin eingesetzt, wurde das Berliner Pferdebahnnetz in den Jahren 1896 bis 1902 vollständig elektrifiziert, sodass die »Elektrische« zum wichtigsten Transportmittel des innerstädtischen Verkehrs wurde. Da viele Warenhäuser an den neuen Verkehrsadern der Stadt lagen, waren sie auch für Kunden, die in anderen Stadtteilen wohnten, leicht zu erreichen. Als sich 1905/ 06 die Krise des Einzelhandels durch die Zunahme an Warenhäusern verschärfte, suchten Kaufleute nach neuen Unternehmensformen, in die sie ihr kaufmännisches Know-how einbringen konnten und fanden sie im Kinobetrieb: »Eine auffällige Erscheinung bei Gründung solcher kinematographischen Geschäfte [der Ladenkinos] trat mir dadurch entgegen, als ich die Beobachtung machen konnte, daß viele unserer [Straßen-]Händler zu diesem Gewerbe in letzter Zeit griffen, da es sich rentabel zeigt und die Händler ja, wie bekannt, gute Kaufleute sind, und im Warenhandel jetzt [1906] nicht viel Geld zu verdienen ist. Viele davon stecken ihre Ersparnisse von einigen tausend Mark in dieses Geschäft hinein und werden ohne Zweifel die Früchte der Ernte genießen.« 59 Mit Filmprogrammen, die denen der Jahrmarktkinos ähnelten, boten die Ladenkinos eine »Ware« an, die nicht zum Angebot der Warenhäuser gehörte. Umgekehrt nutzten sie das Potenzial der Warenhauskunden, um diese bei ihren Einkäufen in die neuen Unterhaltungsstätten zu locken. Zeigten 1905 21 Ladenkinos in Alt-Berlin Filmprogramme, so waren es 1907 bereits 132. 60 Da in kurzer Zeit zu viele Ladenkinos entstanden, kam es zu einem heftigen Konkurrenzkampf über den Eintrittspreis. Die Lösung dieser prekären Lage war <?page no="90"?> 7. Kinotheater und -dramen (1910er-Jahre) 91 die Gründung besser ausgestatteter Kinos, in denen Programme gezeigt wurden, die sich von den Ladenkinos hinreichend unterschieden. Dieser neue Kinotyp wurde zeitgenössisch Kinotheater oder Lichtspieltheater genannt. Oft wurde er auch zeitgenössisch bereits schlicht als Kino bezeichnet; der Großteil aller ortsfesten Kinos, die ab ca. 1910 in Deutschland ihren Betrieb aufnahmen, entsprach diesem Modell. Eine neue Mediennutzungsform Mit der Etablierung der Kinotheater entwickelten Anbieter zunehmend Filme, die Geschichten erzählten, »als Ausdrucksmittel für Leidenschaften und Gefühlsäußerungen, als Darstellungsmittel für Tugend und Laster.« 61 Für den neuen Filmtyp etablierte sich im deutschsprachigen Raum ab 1911 der Begriff Kinodrama, der allein bis 1914 hunderte Mal in Artikeln zum Film verwendet wurde. 62 War auf dem Jahrmarkt das Filmangebot nur ein Unterhaltungsangebot unter vielen anderen, so war der Besuch eines ortsfesten Kinos in der Regel das alleinige Unterhaltungsangebot des Tages. Daher nahm die Länge der Programme von 15 Minuten auf ein bis zwei Stunden ebenso zu wie die durchschnittliche Länge der Filme. Als die ersten Kinodramen angeboten wurden, stieg die Nachfrage nach solchen Filmen schnell an. In der Folge produzierten immer mehr Filmfirmen Kinodramen und differenzierten ihre Filme zunehmend voneinander, indem sie sie exklusiv mit Schauspielerinnen wie Asta Nielsen oder Henny Porten besetzten bzw. sich auf solche Typen der Kinodramen spezialisierten, die in ihren eigenen Ländern besonders gefragt waren. Machten die Filmfirmen immer neue Angebote, um sich am Markt zu halten bzw. ihre Position auszubauen, so entschied das Publikum aufgrund seiner Vorlieben mittelfristig über die Existenz der angebotenen Filmtypen. Kinodramen konstruieren eine Diegese, in der die Schauspieler ihre Rollen so spielen, als seien die Zuschauer bzw. die Kamera gar nicht anwesend. Mittel der unmittelbaren Kommunikation der Schauspieler mit dem Publikum wie etwa der Blick in die Kamera, der im Kino der Attraktionen selbstverständlich war, wurden zunehmend tabuisiert. Die Ereignisse werden kausal so miteinander verknüpft, dass die Geschichte, die erzählt wird, aus sich heraus verständlich ist. Die Kausalkette der Ereignisse selbst wird einer Dramaturgie unterstellt: Eine Geschichte entwickelt sich aus einem Konflikt über eine Reihe von Ereignissen, die durch den Konflikt verursacht werden, bis zu seiner Lösung. Kinodramen arbeiten oft mit einer Folge von aufregenden Szenen, die relativ locker zu einer Geschichte verknüpft werden. Nicht Wahrscheinlichkeit und Logik organisieren die Geschichte, sondern vielmehr Zufall und Schicksal. Die erzählten Geschichten weisen zudem oft nicht nur einen, sondern zwei oder mehr <?page no="91"?> Fallstudien zum Wandel der Kino- und Fernsehkultur 92 Höhepunkte auf. Manchmal arbeiten sie zudem mit mehreren Protagonisten, von denen keiner derart privilegiert ist wie später im klassischen Erzählkino. Diese Erzählweise ist bestens geeignet, um mehrere sensationelle Szenen zu präsentieren - von einem Überfall über halsbrecherische Aktionen bis zu Mord und Totschlag. Solche Szenen wurden zudem oft in der Werbung explizit herausgestellt. 63 So warben beispielsweise die Palast-Lichtspiele in Karlsruhe im Mai 1915 mit folgendem Text für das »große Sensationsdrama in vier Akten« D AS T EUFELS - AUGE ODER R ÄTSEL EINER N ACHT (Deutschland 1914), »dargestellt v[on] d[em] tollkühnen Sensations-Schauspieler Ludw[ig] Trautmann«: »Gewaltige Sensationen wie noch nie im Film gezeigt: Aus dem Inhalt: Vom Telegraphendraht auf den fahrenden Wagen. - Am Lichtmast. - Sturz mit Pferd und Wagen über die Brücke in den reißenden Fluß. - Vom galoppierenden Pferd in das rasende Auto. - Zu Pferde in den Abgrund. - Sturz der verfolgenden Reiter. - Sprung von der Brücke auf das fahrende Schiff. - Neue, noch nicht dagewes[ene] wunderbare Lichteffekte. - In schwindelnder Höhe zwischen Leben und Tod am Förderseile. - Eine Fabrik mit zwei Riesenschornsteinen in die Luft gesprengt.« 64 Es wird also nicht mit der erzählten Geschichte, sondern mit den »Sensationen« geworben, die in den Erzählstrang integriert sind. Der Film erzählt die Geschichte eines Gesandtschaftsattachés (Trautmann), der fälschlich verdächtigt wird, einen wertvollen Diamanten gestohlen zu haben, und daher auf der Flucht ist. 65 Anzeige der Palast-Lichtspiele (Karlsruher Tagblatt Nr. 135, 16. 5. 1915, Stadtarchiv Karlsruhe) <?page no="92"?> 7. Kinotheater und -dramen (1910er-Jahre) 93 Kinodramen wurden im deutschsprachigen Bereich zu Recht sowohl im zeitgenössischen kritischen Diskurs als auch in der Werbung als Sensationsdramen bezeichnet. 66 Tabubrüche wie die Thematisierung weiblicher Sexualität, die Präsentation von Beziehungen zwischen Frauen und Männern unterschiedlicher gesellschaftlicher Stellung, die Darstellung des internationalen Frauenhandels, von Mord usf. wurden so in Szene gesetzt, dass sie die Aufmerksamkeit der Zuschauer erregten. Kinodramen wurden zeitgenössisch oft mit reißerischen Attributen wie »hochsensationell«, »überwältigend«, »tieferschütternd« oder »herzzerreißend« beworben. 67 Sie zielten darauf ab, bei den Zuschauern »Seelenqualen, Gefühlsschwingungen, Herzstocken, fliegenden Atem [und] Tränen« 68 hervorzurufen. Im Unterschied zum Jahrmarktkino dominierte der fiktional-narrative Film das Angebot ortsfester Kinos in Deutschland der 1910er-Jahre, wobei Dramen den größten Anteil aller fiktional-narrativen Filme ausmachten. In den Jahren 1906 bis 1914 wurden in Deutschland immer mehr und immer längere Kinodramen angeboten. Wurden 1906 nur 124 Kinodramen angeboten, so nahm ihre Zahl ab 1908 in einem deutlichen Maß zu (1908: 328, 1909: 721, 1910: 1049, 1911: 1840). Die Länge der Kinodramen entwickelte sich bei einer Vorführgeschwindigkeit von 16 Bildern pro Sekunde annähernd exponentiell von 6 Minuten im Jahr 1906 auf 38 Minuten im Jahr 1914; sie verdoppelte sich beinahe alle zwei Jahre. Ab Ende 1910 kam es zu einer nachhaltigen Innovation: Dramen, die deutlich länger als der Durchschnitt waren. Betrug 1911 die durchschnittliche Länge eines Dramas 304 Meter (was einer Laufzeit von 17 Minuten entspricht), so hatten etwa die Kinodramen A BGRÜNDE und D IE WEISSE S KLAVIN eine Länge von 850 bzw. 650 Metern (knapp 47 bzw. 36 Minuten). Die Herstellerländer der Kinodramen konkurrierten heftig miteinander: Während französische Firmen ab 1905 80 bis 200 Dramen pro Jahr auf den deutschen Markt brachten, begannen alle anderen europäischen Länder erst ab 1909 mit einer nennenswerten Dramenproduktion - wahrscheinlich als Reaktion auf die in vielen Ländern gestiegene Nachfrage der Kinotheater. US-Firmen vergrößerten ihr Angebot an Kinodramen zunehmend: Während die Zahl der in Frankreich hergestellten Filme, die 800 Meter oder länger waren (also 45 Minuten oder mehr liefen), ab 1912 bei etwa 100 Filmen pro Jahr stagnierte, wurden von der US- Filmwirtschaft bis zu zehnmal mehr Filme dieser Länge pro Jahr angeboten. 69 Der deutsche Anteil an den in Deutschland angebotenen Dramen betrug 1907 4 %, stieg 1909 auf 5 % und erreichte 1912 10 %. Allmähliche Differenzierung der Filmpräferenzen Mit der Etablierung des Erzählkinos setzte erstmals eine kulturelle Selektion der Filme durch das Publikum ein, die sukzessive in verschiedenen europäischen Län- <?page no="93"?> Fallstudien zum Wandel der Kino- und Fernsehkultur 94 dern zu unterschiedlichen Präferenzprofilen geführt hat. Selektierten die Kinobetreiber die Filme aus dem Gesamtangebot, die sie für ihr Publikum am geeignetsten hielten, so wählten die Zuschauer aus dieser Vorauswahl wiederum ihre tatsächlichen Favoriten. Da Kinos nicht konzessioniert zu werden brauchten, konnten ihre Betreiber unter rein marktwirtschaftlichen Gesichtspunkten die Filme in ihr Programm aufnehmen, von denen sie sich bei ihrem Publikum den größten Zuspruch versprachen. »Jedes Programm wird bei uns mit Herz und Liebe zusammengestellt, daher kann Erfolg und großer Besuch nicht ausbleiben. […] Unterstützt werden wir [dabei] durch Vertreter maßgebender Filmverleiher und durch langjähriges Studium des Geschmacks der hiesigen Einwohner.« 70 Kinobesitzer werden an einer bestimmten Programmierungspraxis und Werbestrategie auf Dauer nur festhalten, wenn das Publikum ihre Angebote annimmt. Daher lassen sich auf der Basis der Vorstellungen, Tage bzw. Wochen, die Filme programmiert wurden, auch Aussagen über die Herausbildung von Publikumspräferenzen machen. Für die 1910er-Jahre liegen Nachfragedaten für Deutschland und die Niederlande vor, die auf den in Tageszeitungen annoncierten Filmprogrammen diverser Städte beruhen. 71 Auf der Grundlage dieser Daten lässt sich zeigen, dass Kinozuschauer 1. Dramen immer stärker selektiert haben, dass sie 2. Dramen bestimmter Länder denen anderer Länder vorgezogen und dass sie 3. bestimmte Dramentypen bevorzugt haben. Zu 1.: Die Zahl der Programmplätze für Dramen, für die sich die Besitzer der ausgewerteten deutschen Kinos entschieden, stieg schnell an: Der Anteil der Dramen an den programmierten Genres (Dramen, komische Filme, nicht-fiktionale Filme, Tonbilder) stieg von 17 % 1906 über 28 % 1908 auf 33 % 1910 und weiter auf 43 % 1912 und schließlich auf 47 % 1914. Vergleicht man das Angebot mit der Nachfrage, so zeigt sich, dass der relative Anteil der Programmplätze für Dramen größer war als der relative Anteil dieser Filme am Gesamtangebot. Hatten Dramen einen Anteil von 29,9 % an allen in den Jahren 1906 bis 1914 in Deutschland angebotenen rund 23.000 Filmen, so standen sie auf 37 % aller Programmplätze der deutschen Kinos der für die Stichprobe herangezogenen Beispielstädte. Die Übersicht über die Programmhöhepunkte - also die in den Anzeigen der Tageszeitungen besonders beworbenen Filme - zeigt diesen Selektionsmechanismus in erheblich stärkerer Ausprägung: Der Anteil der Programmplätze für Dramen bei den besonders beworbenen Filmen betrug in den Jahren 1906 bis 1914 im Schnitt 72 %. Einen ähnlichen Trend zeigen auch niederländische Nachfragedaten: Erfasst man die beim niederländischen Publikum in den Jahren 1914 bis 1918 jeweils er- <?page no="94"?> 7. Kinotheater und -dramen (1910er-Jahre) 95 folgreichsten 30 Filme, dann zeigt sich, dass der Anteil der Dramen an diesen Filmen über die Jahre deutlich zunimmt. Betrug der Dramenanteil unter den Top 30 in den Niederlanden 1914 gut 60 %, so war dieser Anteil 1918 bereits auf über 90 % gestiegen. Zu 2.: Die Nachfrage zielte jedoch nicht nur auf lange Dramen, sondern insbesondere auf solche aus bestimmten Herstellerländern. Kinodramen waren in kultureller Hinsicht nicht mehr global so selbstverständlich einsetzbar wie das Kino der Attraktionen. Je komplexer die Geschichten werden, desto wahrscheinlicher wird, dass sie vor allem Menschen einer bestimmten Kultur gefallen. Folgende Grafik zeigt die Nutzung von fiktional-narrativen Filmen nach ihrer nationalen Herkunft in Deutschland und den Niederlanden für die Jahre 1910 bis 1914. Ich habe die Nachfrage bzw. das Angebot der Beispielländer bestimmt, indem ich den Anteil eines Anbieterlandes an den erfolgreichsten bzw. an den angebotenen Filmen berechnet habe. Um die Nutzung des Angebots zu bestimmen, wurde der Ausnutzungsindex berechnet. Das Verhältnis von Nachfrage zu Angebot ergibt eine absolute Zahl. Stammen 55,6 % aller nachgefragten Filme, aber nur 38,9 % aller angebotenen Filme aus einem bestimmten Land, so erhält man einen Ausnutzungsindex von 1,4 (55,6 geteilt durch 38,9). Je größer die Zahl ist, desto Nachfrage nach fiktional-narrativen Filmen in Deutschland und den Niederlanden, differenziert nach ihrer nationalen Herkunft in den Jahren 1910 bis 1914 (Ausnutzungsindex) (Datenquelle: Joseph Garncarz: Wechselnde Vorlieben. Frankfurt am Main, Basel: Stroemfeld, 2015, S. 69) <?page no="95"?> Fallstudien zum Wandel der Kino- und Fernsehkultur 96 besser ist die Nutzung des Angebots. Ist die Zahl 1, so sind Angebot und Nachfrage ausgeglichen. Ist die Zahl kleiner als 1, wird das Angebot schlecht genutzt. Ist der Wert 0, so wird das Angebot gar nicht genutzt (was de facto kaum vorkommen dürfte, aber möglich ist, misst man die Nachfrage z. B. an den 30 erfolgreichsten Filmen eines Jahres). Der Vergleich, wie das deutsche bzw. niederländische Publikum Filme unterschiedlicher Herstellerländer genutzt hat, ist zumindest in zweierlei Hinsicht aufschlussreich: Erstens wird deutlich, dass die deutschen und niederländischen Kinopublika eine Auswahl aus dem Angebot getroffen haben. Läge keine Auswahl vor, wäre der Ausnutzungsindex immer gleich 1. Teilweise wurden die Filme eines Landes besonders stark genutzt (wie zum Beispiel die dänischen und die deutschen Filme in Deutschland und den Niederlanden), teilweise wurden sie im Vergleich zum Angebot unterdurchschnittlich genutzt (wie zum Beispiel die britischen Filme in Deutschland oder die niederländischen in den Niederlanden). Zweitens zeigen sich Gemeinsamkeiten und Unterschiede hinsichtlich der Nutzung von Filmen unterschiedlicher Herstellerländer. In Deutschland wurden vor allem dänische, deutsche und französische Filme genutzt, in den Niederlanden neben den dänischen, deutschen und französischen Filmen auch US-amerikanische. Deutlich unterdurchschnittlich wurden in Deutschland US-amerikanische und britische Filme genutzt, in den Niederlanden wurden dagegen die Filme aus eigener Produktion weit unterdurchschnittlich genutzt. Die relative Ablehnung des niederländischen Films geht offenbar nicht auf die Präferenzen des niederländischen Kinopublikums zurück, sondern auf einen Angebotsmangel. Der Misserfolg niederländischer Dramen beim niederländischen Publikum war nämlich nicht von Dauer. Offenbar haben die niederländischen Produzenten sich erfolgreich auf das eigene Publikum einstellen können, denn in den Jahren 1916 und 1918 beträgt der Ausnutzungsindex für niederländische Dramen 3,6 bzw. 2,9 (die Nachfrage wurde anhand der Top-30-Filme bestimmt). Wenn sie »gut gemacht« waren, konnten die Filme des eigenen Landes in Deutschland und in den Niederlanden also ihr Publikum für sich einnehmen. Das deutsche und das niederländische Beispiel zeigen mit großer Klarheit, dass es in den 1910er-Jahren starke Gemeinsamkeiten, aber auch deutliche Unterschiede der Filmpräferenzen gab. Die große Gemeinsamkeit besteht in der Vorliebe für die Filme des eigenen Landes - so es ein qualitativ angemessenes Angebot überhaupt gab - und in der Vorliebe für dänische, deutsche (beim niederländischen Publikum) und französische Filme. Der markanteste Unterschied ist, dass das niederländische Publikum die US-Filme überdurchschnittlich genutzt hat (aber nicht so stark wie die dänischen und die deutschen Filme), während das deutsche Publikum die US-amerikanischen und britischen Filme unterdurchschnittlich nachge- <?page no="96"?> 7. Kinotheater und -dramen (1910er-Jahre) 97 fragt hat - eine Selektion, die in einen direkten Zusammenhang mit dem in den Niederlanden deutlich kleineren Angebot aus Filmen eigener Produktion gebracht werden kann. Zu 3.: Wie gezeigt waren die dänischen und die deutschen Dramen beim deutschen und beim niederländischen Publikum am erfolgreichsten: Beide nationale Filmindustrien boten im Wesentlichen einen Dramentyp an: das soziale Drama, oft in der Variante des Sittendramas. Soziale Dramen stellen ihre Figuren in soziale Kontexte - oft werden die Probleme der niederen sozialen Stände behandelt. »In den verschiedensten Milieus (z. B. Offiziersmilieu, Artistenmilieu, bürgerliche Milieus etc.) bildeten die Probleme in Ehe, Familie, Geschlechterbeziehung, Standesbeziehungen, Standesehre den unerschöpflichen Quell mannigfaltiger dramatischer Verwicklungen.« 72 Das Sittendrama ist eine Variante des sozialen Dramas, das sich insbesondere auf die Geschlechterbeziehung bezieht und oft Tabubrüche von Frauen thematisiert. So macht eine Mutter in D AS GEFÄHRLICHE A LTER (Deutschland 1911 und Dänemark 1911) ihrer Tochter den Verlobten abspenstig, die Frau eines Professors bändelt mit dem jüngeren Freund ihres Ehemannes an wie in R OSENMON- TAG (Dänemark 1912) oder eine mit einem Aristokraten verheiratete einstige Einbrecherin verlässt ihren Ehemann wie in K ETTEN DER V ERGANGENHEIT (Deutschland 1913). Sowohl das deutsche als auch das niederländische Publikum schätzten Sittendramen aus dänischer Produktion stärker als deutsche, weil sie im Unterschied zu den deutschen stärker auf erotische Reize setzen. An zweiter Stelle der Filmvorlieben kamen beim deutschen und niederländischen Publikum die französischen und beim niederländischen Publikum zudem die US-amerikanischen Dramen. Sowohl die französische als auch die US-amerikanische Filmwirtschaft boten im Wesentlichen einen Dramentyp an: das sentimentale Drama. Dieser Filmtyp ist im angloamerikanischen Raum zeitgenössisch als Melodrama bekannt. Ben Singer definiert das Melodrama als »cluster concept« durch Elemente, die in unterschiedlichen Kombinationen vorkommen können. Zum Melodrama gehören ein besonderes Pathos, starke Emotionen, eine moralische Vereinfachung und Polarisierung, ein nicht-klassisches Erzählen sowie eine gehörige Portion Sensationalismus. 73 Willi Warstat beschreibt die »sentimentalen Dramen« aus französischer Produktion zeitgenössisch so: »In der Masse lebt aber auch ein Trieb zum Sentimentalen und Süßlichen. Das französische ›sentimentale Drama‹ der Lichtbildbühne spielt meistens in den malerischen Bauern- und Fischerdörfern der Normandie und Bretagne; namentlich das Leben der seemännischen Bevölkerung gibt reichlich Gelegenheit zu rührenden Trennungs- und noch rührenderen Wiederse- <?page no="97"?> Fallstudien zum Wandel der Kino- und Fernsehkultur 98 hensszenen, eventuell zur Bewährung großen Edelmutes; das Enoch- Arden-Schicksal habe ich schon mehrfach variiert gefunden.« 74 Enoch Arden ist eine Ballade des britischen Dichters Alfred Tennyson, die 1864 erstmals veröffentlicht wurde und in den 1910er-Jahren mehrfach insbesondere im angloamerikanischen Raum verfilmt wurde. Der ehemalige Fischer Enoch Arden verlässt seine Frau und seine drei Kinder, um seine Familie als Seefahrer zu ernähren. Er erleidet Schiffbruch und kommt erst Jahre später wieder nach Hause. Seine Frau, die ihn für tot hielt, hat seinen Freund geheiratet und mit diesem ein gemeinsames Kind. Als er nach Jahren nach Hause zurückkehrt, offenbart er sich selbstlos seiner Frau nicht, um ihr neues Glück nicht zu trüben, und stirbt an Seelenschmerz. In den Niederlanden lagen US-amerikanische Kinodramen in der Gunst des Kinopublikums direkt hinter den französischen. Interessanterweise beschreibt Warstat das US-Drama als eine nationale Variante des französischen »sentimentalen Dramas«: »Man kann das amerikanische ›Drama‹ in der Hauptsache also als eine nationaleigenartige Abart des ›sentimentalen‹ Dramas ansprechen. Aus den französischen Anregungen haben die Amerikaner sich das zum weiteren Ausbau angeeignet, was zu ihrem Charakter, was zu ihrem Volksgeschmack am besten passte.« 75 Für die US-amerikanischen sentimentalen Dramen ist insbesondere die Action charakteristisch - explodierende Boote, Rettungen in letzter Sekunde vor sich nähernden Eisenbahnen, Sprünge aus brennenden Gebäuden oder Fahrzeugen - und darüber hinaus auch ein starkes moralisches Pathos. »Ich habe noch wenige amerikanische Films gesehen, in denen nicht irgendeine Parforceleistung vorgekommen wäre: der rasende Ritt eines Verfolgten oder noch besser einer Verfolgten (alle Achtung vor der reitenden Schauspielerin! ), die Verfolger, Indianer oder Cowboys oder sonst wer, hinterdrein; oder eine Automobilwettfahrt, möglichst mit einem Unglück am Schluss. Charakteristisch für den amerikanischen Geschmack ist ferner die Vorliebe für den grenzenlosen Edelmut, der sich meistens im Verzicht auf das eigene Glück zugunsten anderer äußert. Einem Arzt wird die Verlobte vom Freunde abspenstig gemacht. Er bekommt dann eben den Freund schwer verletzt in seine Klinik und rettet ihm nach schwerem Seelenkampfe das Leben. Jetzt spinnt der Freund aus Dankbarkeit eine Intrige, um dem Arzte seine Braut wiederzuzuführen und seinerseits zu verzichten. Der Arzt entdeckt aber alles und vereinigt edelmütig die Liebenden.« 76 <?page no="98"?> 7. Kinotheater und -dramen (1910er-Jahre) 99 Auch wenn Kinodramen verschiedener Länder das Sensationsbedürfnis diverser nationaler Kinopublika stillen konnten, so war doch die kulturelle Spezifik der Dramen zentral für ihren Erfolg: Das deutsche und das niederländische Publikum zogen Sittendramen, insbesondere solche, die Erotisches präsentieren, den sentimentalen Dramen, die auf Rührung setzen, vor, während wahrscheinlich (mir sind aus den 1910er-Jahren keine Nachfragedaten aus Frankreich und aus den USA bekannt) das französische und US-amerikanische Publikum »sentimentale Dramen« vorgezogen haben, die beim deutschen und niederländischen Publikum in der Beliebtheit an zweiter Stelle kamen. Andererseits ist auffällig, dass es sich bei allen angebotenen Dramen, ob es sich um Sittendramen oder sentimentale Dramen handelt, im Grunde um Varianten eines Filmtyps, des Sensationsdramas, handelt - und dieses bedient die Sensationsgier der Zuschauer mit Sicherheit nicht unabhängig von ihrer kulturellen Verankerung, wohl aber weit über die kulturellen Grenzen eines Landes hinaus. Für sensationelle Kinodramen interessierten sich aber weder alle Deutschen noch alle Niederländer. Der Jesuit und Moraltheologe Peter Browe hat 1914 das zeitgenössische Publikum so beschrieben: »Der größte Teil der 200-300 Millionen [Menschen], die jährlich in die deutschen Kinos gehen, gehört den mittleren und niederen Kreisen des Volkes an, und von diesen wieder ein Großteil den Jugendlichen.« 77 Eine eigene Auswertung der überlieferten Publikumsstudien bestätigt diesen Befund: Das deutsche Kinopublikum der 1910er-Jahre bestand zu einem großen Teil aus jungen Leuten im Alter von 10 bis 20 Jahren, von denen etwa zwei Drittel männlich waren, in größeren Städten lebten und in ihrer Mehrzahl bildungsfernen sozialen Schichten entstammten. Wie in Kapitel 6 gezeigt, suchen Jugendliche in einem besonderen Maß nach starken Reizen und Emotionen, wobei männliche Jugendliche eine besondere Vorliebe für sehr ereignisreiche Handlungen entwickeln. Sensationsdramen konnten in Europa erfolgreich von verschiedenen Herstellerländern angeboten werden, da sie vergleichsweise geringe kulturelle Varianzen aufweisen, die allerdings - wie die Diskussion der unterschiedlichen Dramentypen gezeigt hat - durchaus für die erfolgreiche Vermarktung der Filme relevant waren. Die zu beobachtende kulturelle Differenzierung der Filmpräferenzen - ablesbar an der besonderen Vorliebe des deutschen und niederländischen Publikums für HERSTELLERLÄNDER DOMINANTER DRAMENTYP Dänemark soziales Drama; Sittendrama Deutschland Frankreich sentimentales Drama oder Melodrama USA Dramentypen der 1910er-Jahre nach Herstellerländern <?page no="99"?> Fallstudien zum Wandel der Kino- und Fernsehkultur 100 Sittendramen - erklärt sich aus kulturellen Unterschieden, die sich in dem Moment zeigen, als das Kino beginnt, auf breiter Basis Geschichten zu erzählen. Mit der Etablierung ortsfester Spielstätten für Filme sowie der neuen Mediennutzungsform Kinodrama war die Etablierung des Films als Unterhaltungsmedium jedoch keineswegs bereits abgeschlossen. Spätere Generationen verbinden mit dem Kino nicht nur eine ortsfeste Spielstätte, sondern auch ein klar identifizierbares filmisches Angebot, das - anders als hier bislang beschrieben - im Wesentlichen aus einem abendfüllenden Spielfilm besteht. Jugendliche vor Knopf’s Lichtspielhaus in Hamburg um 1906 (Ullstein) <?page no="100"?> 101 8. Der Spielfilm und die Nationalisierung der Filmpräferenzen (1920er- und 1930er-Jahre) Von den 1910erzu den 1920er-Jahren veränderte sich die Filmlandschaft in Europa grundlegend. 78 Das Programm, das die Kinos zeigten, bestand nun nicht mehr aus mehreren Kurzfilmen mit einem etwa halbstündigen Kinodrama, sondern aus einem abendfüllenden Spielfilm mit einem Beiprogramm. In den Kinoanzeigen der Tageszeitungen wurde nun so gut wie nur noch mit einem einzigen Film geworben, der die Hauptattraktion des Programms bildete. Mit der Etablierung dieser Mediennutzungsform, die bis heute im Zentrum so gut wie jedes Kinoprogramms steht, war die Etablierungsphase der neuen Medientechnologie Film weitgehend abgeschlossen. Anders als bisher immer wieder behauptet wurde, sahen die Europäer von den 1920erbis zu den 1960er-Jahren nicht primär US-Filme, sondern favorisierten durchweg die Filme aus der jeweils heimischen Produktion. Obwohl die Medientechnologie Film international war, ging die Etablierung und Verbreitung von Spielfilmen von Beginn an mit einer nachhaltigen kulturellen Differenzierung einher. Filme sind zwar heute - wie in Kapitel 17 gezeigt wird - weit internationaler als im genannten Zeitraum, die Verbreitung und der Erfolg vieler Filme ist jedoch auch heute noch an die Grenzen von Sprach- und Kulturgemeinschaften gebunden. Etablierung des Spielfilms und Wandel des Publikums Im Kernkorpus des Digitalen Wörterbuchs der deutschen Sprache des 20. Jahrhunderts (DWDS), das bereits im ersten Kapitel benutzt wurde, taucht der Begriff Spielfilm erstmals 1921 auf. 79 Da sich dieser neue Filmtyp in relativ kurzer Zeit durchsetzen konnte, wurde er bereits in den 1920er-Jahren zumeist nur noch als Film bezeichnet und der Begriff Spielfilm nur noch dann verwendet, wenn es um eine Abgrenzung etwa zu Lehr-, Werbe- oder Kulturfilmen ging. 80 Die Attraktivität eines bestimmten Spielfilms wurde für die Zuschauer zum entscheidenden Kriterium, für welches Kino sie sich entschieden. Abendfüllende Spielfilme der 1920er- und 1930er-Jahre haben eine Laufzeit von rund 90 Minuten. Sie entführen die Zuschauer in eine andere Welt und bewegen sie emotional durch die Geschichten, die sie erzählen. Anders als Kinodramen setzen sie jedoch nicht mehr vor allem auf Sensationen, sondern spielen mit einer ganzen Palette unterschiedlicher Emotionen und Gefühlsnuancen. Im Zentrum der neuen Mediennutzungsform stehen »Menschen wie du und ich«, deren <?page no="101"?> Fallstudien zum Wandel der Kino- und Fernsehkultur 102 Charaktere der Dreh- und Angelpunkt der Handlung sind: »Für alle Figuren ist scharfe, eindeutige Charakterzeichnung unbedingtes Erfordernis. Ist eine Figur in ihrer Eigenart und Wesenheit einmal vorgeführt, so muß ihr Tun und Lassen mit dieser Zeichnung während der ganzen Handlung übereinstimmen, sich folgerichtig aus diesen Konturen ergeben.« 81 Spielfilme setzten auf eine Individualisierung und Psychologisierung der handelnden Personen. »Die in den Charakteren der handelnden Personen begründeten Gefühle, innerer Drang, Leidenschaften müssen diese Personen zu Taten hinreißen, die in ihrer Gesamtheit eben die äußere, sichtbare Handlung darstellen. Also nicht eine beliebige Häufung von Ereignissen - mögen sie im einzelnen noch so ›effektvoll‹, noch so atembenehmend sein, mögen sie noch so hohe Anforderungen an die physische Gewandtheit der Darsteller stellen - ergeben die künstlerische Filmhandlung. Wir müssen vielmehr das Empfinden haben, daß es bei den Charakteren der handelnden Personen und unter den obwaltenden Umständen so kommen mußte und nicht anders kommen konnte: die Handlung muß wahrscheinlich, sie muß psychologisch motiviert sein. Das Gefühl der inneren Notwendigkeit muß uns beherrschen.« 82 Mit der Etablierung des abendfüllenden Spielfilms veränderte sich auch die Struktur des Kinopublikums. Das neue Publikum, das die Institution Kino für sich gewann, unterschied sich in demografischer Hinsicht nicht mehr grundlegend von der Gesamtgesellschaft. Die Produktion von Spielfilmen hatte zur Folge, dass nicht mehr männliche Jugendliche aus bildungsfernen Schichten das Kinopublikum dominierten, sondern dass nun Frauen in gleichem Maß wie Männer, Angehörige aller sozialer Schichten und grundsätzlich auch aller Altersklassen ins Kino gingen - wobei jedoch die unter 30-Jährigen stärker als die über 30-Jährigen vertreten waren. Grundmuster selektiver Filmpräferenzen Mit der Etablierung und Durchsetzung der neuen Mediennutzungsform Spielfilm und dem Strukturwandel des Publikums differenzierte sich auch die Art, wie Kinozuschauer unterschiedlicher Sprach- und Kulturgemeinschaften Filme selektieren. In dem Moment, in dem alle Filmländer Menschen »aus Fleisch und Blut« in den Mittelpunkt der Filmhandlungen stellten, wurde ihre kulturelle Herkunft weit wichtiger. Die psychologische Zeichnung von Figuren und die Einbindung der Handlungen in spezifische Kulturen wurden für die Filmselektion der Zuschauer ausschlaggebend - und dies galt umso mehr für den Tonfilm, der sich der gesprochenen Sprache bedient. <?page no="102"?> 8. Die Nationalisierung der Filmpräferenzen (1920er- und 1930er-Jahre) 103 Wir verfügen für die 1930er-Jahre über Nachfragedaten für acht europäische Länder: Deutschland, Österreich, die Niederlande, Großbritannien, Frankreich, die Tschechoslowakei, Polen und Norwegen - die Daten der drei zuletzt genannten Länder beziehen sich allerdings nur auf einzelne Städte (Prag, Krakau bzw. Oslo). Für jedes Land wurden Top-30-Filmerfolgsranglisten gewählt bzw. erstellt, mit denen sich die Nachfrage der Zuschauer dieser Länder messen lässt. Um die Nutzung des Angebots durch die Zuschauer eines Landes präzise zu bestimmen und sie damit auch zwischen den Ländern vergleichbar zu machen, habe ich - wie in Kapitel 7 erklärt - den Ausnutzungsindex errechnet. Ob Filme des eigenen Landes überhaupt Top-30-Filmerfolgsranglisten dominieren konnten, hängt zunächst einmal davon ab, ob in dem jeweiligen Land überhaupt Filme in nennenswerter Zahl hergestellt wurden. Um die Top-30-Listen dominieren zu können, muss ein Land zumindest ebenso viele Filme hergestellt haben, denn es wäre unrealistisch, davon auszugehen, dass alle hergestellten Filme das Publikum überzeugen können. Dieses Kriterium erfüllten von den genannten Beispielländern in den 1930er-Jahren jedoch nur Frankreich (mit einer durchschnittlichen Jahresproduktion von rund 125 Filmen), Deutschland (120 Filme), Großbritannien (gut 70 Filme) und die Tschechoslowakei (rund 35 Filme). Alle anderen Länder stellten in dieser Zeit im Schnitt weniger als 20 Filme pro Jahr her: Polen und Österreich jeweils 19 Filme, die Niederlande 14 und Norwegen nur 4 Filme. Länder mit einer vergleichsweise geringen Bevölkerungszahl wie die Niederlande oder Norwegen konnten nicht mehr Filme pro Jahr herstellen, weil - unter den Bedingungen einer primären Präferenz für die Filme des eigenen Landes - die Zahl der Kinozuschauer nicht dafür ausreichte, die Produktionskosten wieder einzuspielen. In Deutschland zum Beispiel betrugen die durchschnittlichen Produktionskosten eines Films in den Jahren 1926 bis 1929 175.000 Reichsmark. 83 Da der durchschnittliche Eintrittspreis für die Kinos in diesen Jahren 0,77 Reichsmark betrug 84 und 12,5 % der Kinoeinnahmen beim Produzenten ankamen 85 (die restlichen Einnahmen teilten sich die Kinobesitzer und die Verleiher), waren rund 1,8 Millionen Zuschauer erforderlich, um die Herstellungskosten eines durchschnittlich teuren Films zu amortisieren. Um 30 Eintrittskarten für das Union-Theater in Görlitz (Sammlung Garncarz) <?page no="103"?> Fallstudien zum Wandel der Kino- und Fernsehkultur 104 Filme pro Jahr herstellen zu können, musste man also zumindest 54 Millionen Eintrittskarten verkaufen, was bei einer Bevölkerung von knapp sieben Millionen (wie in den Niederlanden und Österreich) oder sogar weniger als drei Millionen (wie in Norwegen) so gut wie unmöglich ist. Nachfrage Angebot Ausnutzungsindex D 86,8 % 55,4 % 1,6 US 7,3 % 27,3 % 0,3 GB 2,7 % 1,6 % 1,7 96,8 % 84,3 % Filmnachfrage in Deutschland 1930/ 31-1931/ 32; Berlin 1938 86 Schauen Sie sich die Nachfrage der Zuschauer zunächst für die großen filmproduzierenden Länder an. Die deutschen Filme waren beim deutschen Publikum absolut wie relativ gesehen außerordentlich erfolgreich (Ausnutzungsindex 1,6). US-Filme waren bei den deutschen Zuschauern dagegen nur wenig gefragt (Ausnutzungsindex 0,3). Nachfrage Angebot Ausnutzungsindex F 90,6 % 28,2 % 3,20 US 9,0 % 50,6 % 0,20 D 0,4 % 11,0 % 0,04 100,0 % 89,8 % Filmnachfrage in Frankreich 1932, 1936-1938 87 In Frankreich ist das Muster der Filmnachfrage beinahe identisch: Das französische Publikum favorisierte die Filme des eigenen Landes (Ausnutzungsindex 3,2). Weit abgeschlagen landeten die US-Filme auch in Frankreich mit einem Ausnutzungsindex von 0,2 auf dem zweiten Rang. Nachfrage Angebot Ausnutzungsindex CSR 42,9 % 10,3 % 4,2 US 31,2 % 39,7 % 0,8 D 14,0 % 29,5 % 0,5 88,1 % 79,5 % Filmnachfrage in Prag 1930-1938 88 Wie in Deutschland und Frankreich war der einheimische Film in der Tschechoslowakei am erfolgreichsten, gefolgt vom US-Film, der auf Rang 2 kam. Je gerin- <?page no="104"?> 8. Die Nationalisierung der Filmpräferenzen (1920er- und 1930er-Jahre) 105 ger der Anteil an Filmen aus heimischer Produktion, desto größer war der Anteil Hollywoods an der Nachfrage (in der Tschechoslowakei war er um das 2,7-fache höher als in Frankreich und um das 3,8-fache höher als in Deutschland). Dies ist ein Indiz dafür, dass der US-Film von den jeweiligen nationalen Kinopublika in erster Linie als Ersatz für die heimische Produktion selektiert wurde. In den produktionsschwachen Ländern konnten die Top-30-Filme zwar nicht von der eigenen Produktion absolut dominiert werden, doch galt auch dort die besondere Vorliebe des Kinopublikums der heimischen Produktion. Der Ausnutzungsindex zeigt deutlich, dass die Zuschauer dieser kleineren Filmländer die heimische Produktion relativ, also im Verhältnis zum Angebot, favorisierten. Nachfrage Angebot Ausnutzungsindex US 47,7 % 61,2 % 0,8 PL 27,1 % 8,3 % 3,3 D 10,9 % 13,1 % 0,8 85,7 % 82,6 % Filmnachfrage in Krakau 1934, 1936, 1938 89 In Polen dominierte der US-Film die Nachfrage absolut, aber relativ gesehen war in Krakau (ablesbar am Ausnutzungsindex) wiederum der nationale (polnische) Film am erfolgreichsten. Nachfrage Angebot Ausnutzungsindex US 41,4 % 53,7 % 0,8 NL 21,2 % 2,7 % 7,9 D 16,9 % 17,6 % 1,0 79,5 % 74,0 % Filmnachfrage in den Niederlanden 1934-1936 90 Wie in Polen nahmen die US-Filme absolut gesehen auch den ersten Rang in der Gunst des niederländischen Publikums ein. Der heimische Film stand auf dem zweiten und der deutsche auf dem dritten Rang der Nachfrage des niederländischen Kinopublikums. Aber im Vergleich zur Zahl der angebotenen Filme waren die niederländischen Filme mit deutlichem Abstand am erfolgreichsten (Ausnutzungsindex 7,9), an zweiter Stelle folgten die deutschen und an dritter die USamerikanischen (Ausnutzungsindex 1,0 bzw. 0,8). Besonders erfolgreich waren also die Filme, die der niederländischen Kultur entstammten bzw. ihr kulturell am nächsten standen. <?page no="105"?> Fallstudien zum Wandel der Kino- und Fernsehkultur 106 Nachfrage Angebot Ausnutzungsindex US 67,9 % 60,0 % 1,1 N 13,2 % 2,5 % 5,3 D 13,4 % 22,9 % 0,6 94,5 % 85,4 % Filmnachfrage in Oslo 1931 91 Der norwegische Fall ist dem niederländischen sehr ähnlich: Wie in den Niederlanden war der Anteil der im Land selbst hergestellten Filme am Gesamtangebot in Norwegen mit 2,5 % gering - 1930 wurden überhaupt nur zwei Spielfilme in Norwegen produziert, K RISTINE V ALDRESDATTER und E SKIMO , 1931 nur ein einziger Film, D EN STORE BARNEDÅPEN . Von daher konnten die eigenen Filme keine Top-Ten-Erfolgsrangliste (die für Oslo vorliegt), geschweige denn eine Top-30-Liste dominieren. Wie in den Niederlanden war der US-Film beim norwegischen Publikum absolut gesehen mit Abstand am erfolgreichsten. Betrachtet man jedoch den relativen Erfolg, so war der norwegische Film unzweifelhaft der größte Publikumsrenner. K RISTINE V ALDRESDATTER war 1931 von rund 270 in den Kinos aufgeführten Filmen der beim norwegischen Publikum erfolgreichste. Der heimische Film hatte also (zumindest relativ) den größten Erfolg und der US- Film wurde in allen analysierten Ländern als bester Ersatz für die heimische Produktion gesehen. Je größer die heimische Produktion, desto geringer war der Anteil der US-Filme in den Erfolgsranglisten, auch wenn sich der US-Anteil am Gesamtangebot zwischen den bevölkerungsstarken und den bevölkerungsschwachen Ländern Europas nicht grundsätzlich unterschied. Zwei Länder des genannten Samples, Großbritannien und Österreich, folgen zwar grundsätzlich dem beschriebenen Selektionsmuster hinsichtlich der primären Präferenz für die Filme des eigenen Landes, weisen jedoch eine gewisse Varianz auf. Nachfrage Angebot Ausnutzungsindex US 73,2 % 68,0 % 1,1 GB 25,6 % 9,0 % 2,8 D 1,2 % 1,7 % 0,7 100,0 % 78,7 % Filmnachfrage in Großbritannien 1932-1937 92 Aufgrund der Sprachengleichheit und der kulturellen Verwandtschaft spielte der US-Film in Großbritannien eine größere Rolle als in allen anderen europäischen Ländern. US-Filme waren beim britischen Publikum absolut gesehen so gefragt <?page no="106"?> 8. Die Nationalisierung der Filmpräferenzen (1920er- und 1930er-Jahre) 107 wie in keinem anderen Beispielland. Folgt man offiziellen Statistiken, war der britische Film beim britischen Kinopublikum in den 1930er-Jahren auf den ersten Blick nicht überragend erfolgreich. Dieser Eindruck täuscht allerdings, denn er entsteht allein dadurch, dass der Anteil der britischen Filme am Angebot auch die sogenannten Quota Quickies umfasst - mit wenig Geld und geringem kreativen Aufwand von US-Firmen in England ausschließlich zu dem Zweck hergestellte Filme, die Quotenregelung für britische Filme zu erfüllen (diese betrug 1935 20 %). Rechnet man die kommerziell beim britischen Publikum sehr wenig erfolgreichen Quota Quickies heraus, dann zeigt sich, dass das britische Publikum (wie alle anderen nationalen Publika auch) nationale (britische) Filme den US-amerikanischen deutlich vorgezogen hat (Ausnutzungsindex 2,8 statt 1,1). Nachfrage Angebot Ausnutzungsindex D 54,6 % 37,2 % 1,5 A 26,7 % 6,2 % 4,3 US 16,7 % 40,5 % 0,4 98,0 % 83,9 % Filmnachfrage in Österreich 1934-1938 93 Ähnlich wie in Großbritannien die US-amerikanischen Filme, so waren in Österreich die deutschen Filme absolut gesehen am erfolgreichsten, gefolgt von den österreichischen und den US-amerikanischen. Berechnet man den Ausnutzungsindex, so war auch in Österreich der nationale (österreichische) Film am erfolgreichsten (Ausnutzungsindex: 4,3), hier gefolgt vom deutschen Film (1,5). Außerordentlich viele österreichische Produktionen waren beim österreichischen Publikum extrem erfolgreich - den ersten Rang hielten in allen Spielzeiten, zu denen Filmerfolgsranglisten vorliegen (1934/ 35 bis 1936/ 37), österreichische Produktionen: M ASKERADE , E PISODE und B URGTHEATER -, aber es gab schlicht nicht genug österreichische Filme, um absolut gesehen erfolgreicher zu werden. Der US-Film kam auf einen Nutzungswert von 0,4, war also beim österreichischen Kinopublikum weit unterdurchschnittlich gefragt. In Großbritannien und in Österreich waren also die Filme der Vereinigten Staaten bzw. Deutschlands absolut gesehen die Kassenhits. Zum einen haben Briten und US-Amerikaner bzw. Österreicher und Deutsche die Sprache (das Englische bzw. Deutsche) gemeinsam, zum anderen nahmen Briten und Österreicher die Filme der großen Partnerländer wahrscheinlich kulturell als weniger fremd wahr als die Filme vieler anderer Länder, weil sie in den gleichen kulturellen Traditionen stehen. In beiden Fällen lässt sich auch eine relativ starke Durchmischung beider verwandter Filmkulturen erkennen, die sich u. a. daran zeigt, dass britische <?page no="107"?> Fallstudien zum Wandel der Kino- und Fernsehkultur 108 Schauspieler in US-Filmen und US-Schauspieler in britischen Filmen ebenso gespielt haben wie österreichische Schauspieler in deutschen und deutsche Schauspieler in österreichischen Filmen. Auch wenn der US-amerikanische Film in Großbritannien und der deutsche in Österreich absolut gesehen die Filmerfolgsranglisten dominierten, waren in beiden Ländern relativ gesehen die Filme des eigenen Landes die eigentlichen Kassenschlager. Die jeweilige Differenz zwischen dem Ausnutzungsindex für die Filme des eigenen Landes und dem des jeweiligen großen »Nachbarlandes« zeigt dies mit großer Klarheit (in Großbritannien 2,8 im Verhältnis zu 1,1 für den US-Film und in Österreich 4,3 im Verhältnis zu 1,5 für den deutschen Film). Wenn die Filme aus dem eigenen Land die Favoriten der jeweiligen nationalen Publika waren, dann ist zu erwarten, dass die Schnittmenge der Top-30-Filme zwischen den verschiedenen europäischen Ländern gering ist. Charakteristisch für die nationalen Erfolgsranglisten im Europa der 1930er-Jahre ist in der Tat, dass sie sich ganz überwiegend aus je verschiedenen Filmen zusammensetzen. Der größte Teil aller in den acht untersuchten europäischen Ländern platzierten Filme - immerhin knapp 85 % - findet sich ausschließlich auf einer der Länderlisten. Erfolgsranglisten aller acht Beispielländer stehen leider für kein einzelnes Jahr zur Verfügung; für 1938 liegen solche Listen immerhin für sieben der acht Länder vor (nicht für Norwegen). Diese Listen umfassen insgesamt rund 210 Plätze (aufgrund gleicher Popularitätswerte gibt es teilweise mehr als 30 Filmtitel pro Jahr). Von den platzierten Filmen kamen 16 europäische Filme auf zwei Listen (8 %), vier auf drei Listen 94 (3 %) und ein Film (0,5 %) auf fünf Listen - der Abenteuerfilm D AS INDISCHE G RABMAL (Deutschland 1938) war in Deutschland, Österreich, Polen, den Niederlanden und der Tschechoslowakei sehr erfolgreich. Von diesen 21 europäischen Filmen stammen drei aus französischer, drei aus österreichischer und 15 aus deutscher Produktion. Mit der Ausnahme von österreichischen Produktionen haben es also keine Filme anderer kleinerer Herstellungsländer auf die Listen geschafft. Die relativ hohe Zahl an deutschen Filmen ergibt sich daraus, dass elf dieser Filme in Österreich besonders erfolgreich waren, und die relative Stärke des österreichischen Films ist entsprechend überwiegend das Resultat des großen deutschen Marktes. Von den US-Filmen schafften es sieben Filme auf zwei Listen des Jahres 1938 (3 %), fünf Filme auf drei Listen 95 (2 %), ein Film auf vier Listen 96 (0,5 %) und ein Film auf fünf Listen (0,5 %) - Walt Disneys S NOW W HITE AND THE S EVEN D WARFS (USA 1937) war in Frankreich, Polen, den Niederlanden, Großbritannien und der Tschechoslowakei sehr erfolgreich. Die Aufführung des Films im Dritten Reich ist an wirtschaftlichen Gründen gescheitert (restriktive Devisenausfuhrbestimmungen). 97 US-Filme, die es auf mehrere europäische Filmerfolgsranglisten geschafft haben, weisen normalerweise genuin europäische Themen auf <?page no="108"?> 8. Die Nationalisierung der Filmpräferenzen (1920er- und 1930er-Jahre) 109 (Schauplätze, Begebenheiten aus der europäischen Geschichte, literarische Stoffe wie das Grimm’sche Märchen, auf dem der Disney-Film beruht, usf.), wobei als Regel immer zumindest zwei europäische Länder involviert waren. Der ganz überwiegende Teil der nur auf einer Liste vertretenen US-Filme hat diesen Bezug zu mehreren europäischen Ländern nicht. Die jeweiligen nationalen Kinopublika in Europa haben nicht nur besonders häufig Filme aus ihren eigenen Ländern sehen wollen, sondern haben auch US- Filme bevorzugt, die an ihre eigenen kulturellen Traditionen anknüpfen. So beruht der beim deutschen Publikum besonders gefragte Film A LL Q UIET ON THE W ESTERN F RONT (USA 1930), den der in Russland geborene Lewis Milestone inszenierte, auf dem Roman Im Westen nichts Neues (1928) des deutschen Schriftstellers Erich Maria Remarque und erzählt von einem deutschen Soldaten im Ersten Weltkrieg. Der in Frankreich sehr beliebte Film C AMILLE (USA 1936) mit der gebürtigen Schwedin Greta Garbo in der Hauptrolle basiert auf dem Roman La dame aux camélias (1848) des französischen Schriftstellers Alexandre Dumas des Jüngeren. Der in Polen sehr beliebte Film C ONQUEST (USA 1937) erzählt von einer polnischen Gräfin, die sich bei Napoleon für die Freiheit Polens einsetzt. Der erfolgreichste Film des Jahres 1933 in Großbritannien, C AVALCADE (USA 1933), spielt in England zu Beginn des 20. Jahrhunderts, beruht auf dem Bühnenstück des britischen Dramatikers Noël Coward und wurde in den Hauptrollen ausschließlich mit britischen Schauspielern besetzt. Die besondere Vorliebe für die Filme des jeweils eigenen Landes und die Rolle des US-Films als bester Ersatz für die heimische Produktion (mit der Ausnahme Österreich) machen in den 1920er- und 1930er-Jahren im Kern das neue Profil der Filmpräferenzen der Europäer aus - ganz im Unterschied zu den 1910er Jahren, als es zwar bereits eine unverkennbare Tendenz zum Film aus eigener Produktion gab, diese aber deutlich schwächer ausgeprägt war und die europäischen Publika im Wesentlichen Filme aus den europäischen Produktionsländern wie Frankreich, Dänemark und Deutschland favorisierten (vgl. Kapitel 7). Kapitel 8 hat gezeigt, dass die Vorliebe der Kinozuschauer in Europa in den 1930er-Jahren unzweifelhaft in erster Linie den Filmen aus der heimischen Filmproduktion galt und US-Filme vor allem dann gerne gesehen wurden, wenn sie an die eigenen kulturellen Traditionen anschlossen. Die in der Forschungsliteratur immer wieder behauptete Präferenz der europäischen Kinopublika für US-Filme ist also eine Legende, die u. a. darauf beruht, dass nicht die Nachfragedaten in ein Verhältnis zum Angebot gesetzt wurden, sondern ausschließlich der relative Anteil Hollywoods an allen angebotenen Filmen gemessen wurde. Berücksichtigt man jedoch die Attraktivität der angebotenen Filme für die Zuschauer der verschiedenen europäischen Länder (siehe Kapitel 4), ändert sich das Bild der Rolle Hollywoods in Europa wie erläutert grundlegend. Reflektiert man die Forschung <?page no="109"?> Fallstudien zum Wandel der Kino- und Fernsehkultur 110 kritisch und erschließt neue, besser geeignete Quellen, ist es also mit relativ einfachen Mitteln möglich, Legenden zu zerstören und durch ein adäquateres Wissen zu ersetzen. <?page no="110"?> 111 9. Soziale Differenzierung der Filmpräferenzen (1920er- und 1930er-Jahre) Der Erfolg von Filmen ist oft nicht nur kulturell, d. h. entlang der Grenzen von Sprach- und Kulturgemeinschaften, sondern auch sozial differenziert. 98 So waren Charles Chaplins Filme, denen immer wieder eine universelle Popularität nachgesagt wird, in den 1920er- und 1930er-Jahren in Deutschland keineswegs beim breiten Publikum besonders beliebt, wohl aber bei Intellektuellen und Arbeitern der Großstädte. Kurze Zeit, nachdem seine Filme in Deutschland erstmals gezeigt wurden, war der Diskurs über die Popularität Chaplins bereits etabliert. Chaplin gilt als Weltbürger, als Star der Menschheit. Eine Publicitybroschüre der Ufa vom April 1923 beginnt mit folgenden Sätzen: »Wenn es die Aufgabe des Films ist, Werke zu schaffen, die auf dem ganzen Erdenball Anklang finden, so hat Charlie Chaplin ohne Zweifel diese Aufgabe restlos gelöst. Es gibt heute kein Land auf Erden, wo nicht Chaplin- Filme in ständiger Wiederkehr über die Leinwand rollen. [...] Chaplin ist für Millionen und Abermillionen ein Grund ins Kino zu gehen.« 99 Wer heute Aussagen über Chaplins Popularität in der Weimarer Zeit macht, bezieht sich vor allem auf Texte. Hierzu gehören Publicitytexte wie der zitierte, Kinoanzeigen (»Unbeschreiblicher Jubel durchbraust täglich unser Theater« 100 ) und Filmkritiken (»Das bedeutende Werk fand mit Recht eine begeisterte Aufnahme« 101 ). Hierzu gehören aber auch Feuilletonartikel von Intellektuellen wie Siegfried Kracauer, Walter Benjamin, Kurt Tucholsky, Béla Balázs und Willy Haas, die Chaplin als ein Genie feierten, das die nationalen Grenzen zu überschreiten und die Menschheit zu einen in der Lage sei. 102 Fotos bei seinem einwöchigen Besuch im März 1931 in Berlin - eine Promotiontour für C ITY L IGHTS (1931, dt.: L ICH- TER DER G ROSSSTADT ) - zeigen Menschenmengen, die die These der außerordentlichen Popularität Chaplins beim deutschen Publikum zu belegen scheinen. 103 Wir alle scheinen zu wissen, dass Chaplin bei allen Menschen gleichermaßen populär war, weil wir uns dies wünschen. Eine verzerrte Erinnerung des maßgeblichen Filmkritikers beim Branchenblatt Film-Kurier, Hans Feld, an die deutsche Premiere von T HE G OLD R USH (1925, dt. Titel: G OLDRAUSCH ) am 23. Februar 1926 im Berliner Capitol, liefert dafür ein anschauliches Beispiel. Feld beschreibt gegenüber dem Chaplin-Biografen David Robinson, dass das Publikum beim Brötchentanz enthusiastisch reagierte: <?page no="111"?> Fallstudien zum Wandel der Kino- und Fernsehkultur 112 »The manager of the theatre, with admirable presence of mind, rushed up to the projection box and instructed the projectionist to roll the film back and play the scene again. The orchestra picked up their cue and the reprise was greeted with even more tumultuous applause.« 104 Tatsächlich war das Dacapo ein Promotiontrick, wie wir der Tagespresse entnehmen können: »›Diese Szene wird Dacapo gezeigt‹, heißt es in der vorbereiteten Zwischenschrift nach den Erfahrungen des Welterfolges [...].« 105 Wenn wir Chaplin und seine Zuschauer in der Weimarer Zeit so sehen wollen, wie sie waren, dann müssen wir uns ein Bild über den Erfolg seiner Filme und seiner Person machen, das auf Wunschdenken verzichtet. Die idealen Quellen dafür sind statistische Erhebungen über den Filmerfolg und über die beliebtesten Filmschauspieler. Über den Filmbzw. Starerfolg in der Weimarer Zeit sind insgesamt vier zeitgenössische Statistiken bekannt, die zu verschiedenen Zwecken erstellt wurden und sich unterschiedlicher Erhebungsmethoden bedienen. Dies sind die nationalen Filmerfolgsranglisten (die bereits in Kapitel 8 verwendet wurden), die nationalen Starerfolgsranglisten sowie Erhebungen für zwei deutsche Großstädte, Berlin und Köln. Die nationalen Filmerfolgsranglisten wurden von der Branchenpresse durch eine Befragung der Kinobesitzer ermittelt, während die nationalen Charts der Stars durch eine Leserbefragung der Fanpresse zustande kamen. Die Kölner Studie ist eine Dissertation, für die die Kinobesitzer befragt wurden, während die Berliner Filmerfolgsranglisten durch die amerikanische Botschaft erstellt wurden, um die US-Filmwirtschaft und -politik über den Erfolg der eigenen Filme zu informieren. Die genannten Erhebungen erfassen unterschiedliche Zeiträume: Die nationalen Filmcharts liegen für die Jahre 1925 bis 1932 vor, die Starerfolgslisten für die Jahre 1923 bis 1926, die Kölner Studie bezieht sich auf das Jahr 1926 und die Berliner Erhebung auf die Jahre 1931 bis 1938. Auch wenn es keine Möglichkeit gibt, einen Beweis zu führen, so sprechen doch zwei Argumente für die Validität der Nachfragedaten. Erstens war die Zahl der Befragten jeweils so groß, dass ihre Validität nach heutigen Standards sehr wahrscheinlich ist. Zweitens ergibt die Interpretation der auf unterschiedliche Weise und aus unterschiedlichen Interessen erhobenen Daten ein einheitliches, logisch konsistentes und, wie ich meine, inhaltlich überzeugendes Bild. Chaplins Erfolg beim deutschen Publikum Die ersten Filme Chaplins, der seit 1914 vor der Kamera stand, liefen in Deutschland erst in den 1920er-Jahren. 106 Aufgrund eines Importverbots, das im Ersten Weltkrieg am 25. Februar 1916 erstmals verhängt wurde und nach dem Krieg zunächst bestehen blieb, kamen US-Filme erst ab 1921 wieder auf den deutschen <?page no="112"?> 9. Soziale Differenzierung der Filmpräferenzen (1920er- und 1930er-Jahre) 113 Markt. 107 So wurden viele Kurzfilme Chaplins in Deutschland erst Jahre später eingesetzt, während seine aktuellen abendfüllenden Filme seit Mitte der 1920er-Jahre bald nach ihrer Uraufführung auf deutschen Kinoleinwänden zu sehen waren. Die Ufa hatte sich zwischen 1921 und 1923 die Rechte an 35 Kurzfilmen Chaplins, 21 Einaktern und 14 Zweiaktern, gesichert, 108 die zu unterschiedlichen Programmen arrangiert wurden. So lief zum Beispiel um 1923 im Berliner Ufa-Palast am Zoo folgendes Programm mit zwei Einaktern und zwei Zweiaktern: T HOSE L OVE P ANGS (1914, dt. Titel: C HAPLIN IM K INO ), T HE M ASQUERADER (1914, dt.: C HAPLIN IM G LASHAUS ), E ASY S TREET (1917, dt.: C HAPLIN ALS S TÜTZE DER ÖFFENTLICHEN O RDNUNG ) und B EHIND THE S CREEN (1916, dt.: C HAPLIN BEI A NNA B OLEYN ). 109 Am 16. November 1923 wurde als erster abendfüllender Chaplin-Film T HE K ID (1921, kein dt. Titel) in Berlin uraufgeführt. Am 23. Februar 1926 hatte dann T HE G OLD R USH im Berliner Capitol seine Deutschlandpremiere, im selben Jahr gefolgt von A W OMAN OF P ARIS (1923, dt.: D IE N ÄCHTE EINER SCHÖNEN F RAU ). Am 7. Februar 1928 wurde T HE C IRCUS (1928, dt.: Z IRKUS ) im Berliner Capitol uraufgeführt. 1929/ 30 waren drei Kurzfilmprogramme mit älteren Chaplin-Filmen zu sehen - 1929 zwei Programme, die um die beiden Filme C HARLIE C HAP- LIN ’ S B URLESQUE ON C ARMEN (1916, kein dt. Titel) und T HE P ILGRIM (1923, dt.: D ER P ILGER ) arrangiert wurden. 110 1930 lief ein Programm mit den Filmen P AY D AY (1922, dt.: L OHNTAG ), S UNNYSIDE (1919, dt.: A UF DEM L ANDE / C HARLIE ALS H IRTENKNABE ) und A D AY ’ S P LEASURE (1919, dt.: V ERGNÜGTE S TUNDEN ). Am 26. März 1931 hatte C ITY L IGHTS im Berliner Ufa-Palast am Zoo seine Deutschlandpremiere - als letzter Chaplin-Film, bevor sich die United Artists 1935 aufgrund der Nazidiktatur vom deutschen Markt zurückzog 111 und die deut- Werbung der Berliner Decla-Lichtspiele für T HE K ID 1923/ 24 (Sammlung Garncarz) <?page no="113"?> Fallstudien zum Wandel der Kino- und Fernsehkultur 114 sche Zensur Chaplin-Filme verbot, weil die Nazis in ihm einen Juden sahen. 112 So wurde T HE G OLD R USH am 3. Januar 1935 verboten. 113 Von den 35 Chaplin-Kurzfilmen, an denen die Ufa die Rechte besaß, wurden zwei Drittel von den deutschen Zensurbehörden für Personen unter 18 Jahren nicht zugelassen (»Jugendverbot«); Kinder unter sechs Jahren durften grundsätzlich nicht ins Kino. 114 Hierzu zählten Titel wie T HE R INK (1917, dt.: C HAPLIN LÄUFT R OLLSCHUH ) und E ASY S TREET . Die abendfüllenden Filme T HE G OLD R USH , T HE C IRCUS und C ITY L IGHTS wurden - zum Teil erst nach einem Widerspruchsverfahren vor den und Schnittauflagen durch die deutschen Zensurstellen - auch für Personen unter 18 Jahren zugelassen. 115 Chaplins Filme konnten in der Weimarer Zeit also nur bedingt ein Kinder- und Jugendpublikum erreichen. Wie erfolgreich waren Chaplins Filme beim deutschen Publikum der Weimarer Zeit tatsächlich? Nationale Filmerfolgsranglisten liegen für die Spielzeiten 1925/ 26 bis 1931/ 32 vor. Kinobesitzer nannten dem Branchenblatt Film-Kurier, das ab 1929 die Interessen der Kinobesitzer vertrat, die sich im Reichsverband Deutscher Lichtspieltheaterbesitzer zusammengeschlossen hatten, die fünf kommerziell erfolgreichsten Filme der laufenden Spielzeit. Jeder Film bekam einen Punkt, die Punktzahlen wurden von der Redaktion addiert und die Filme entsprechend der Anzahl der Nennungen hierarchisiert, wobei wenigstens 14 und höchstens 59 Platzierungen pro Spielzeit veröffentlicht wurden. An der Umfrage haben sich mit den Jahren zunehmend mehr Kinobesitzer beteiligt, und zwar zwischen 160 und 1.400 pro Umfrage, was einem Anteil von 4,3 % bzw. 27,6 % aller Kinos der Weimarer Republik entspricht. 116 T HE C IRCUS kam in der Spielzeit 1927/ 28 auf Rang 7 und in der folgenden Spielzeit 1928/ 29 auf Rang 32 der nationalen Charts und war damit ein großer Erfolg beim deutschen Publikum. Bis auf T HE C IRCUS konnte sich jedoch kein anderer Chaplin-Film in den nationalen Charts platzieren. T HE G OLD R USH kam nicht auf die Liste der 50 erfolgreichsten Filme der Spielzeit 1926/ 27, wobei 1926 insgesamt 487 Filme in die deutschen Kinos kamen. Ebenso wenig konnte sich C ITY L IGHTS in der Spielzeit 1931/ 32 in der nationalen Erfolgsrangliste platzieren - 1931 liefen 278 Filme in deutschen Kinos, von denen die 46 größten Erfolge in Form der nationalen Charts veröffentlicht wurden. Dass Chaplins Filme nicht uneingeschränkt beim deutschen Publikum der Weimarer Zeit populär waren, überrascht nicht. Dies trifft für US-amerikanische Komiker wie für US-Filme generell zu. Harold Lloyd, der gemessen an der Zahl der erfolgreichen Filme in den Jahren 1922 bis 1927 der populärste Komiker in den USA war, 117 ist auf den deutschen Filmerfolgsranglisten mit keinem einzigen Film vertreten. Kamen in den Jahren 1925 bis 1930 40 % aller in Deutschland gezeigten Filme aus den USA, so lag der Anteil US-amerikanischer Produktionen an den 221 erfolgreichsten Filmen dieser Jahre nur bei 19,4 %. 118 Deutsche Filme waren <?page no="114"?> 9. Soziale Differenzierung der Filmpräferenzen (1920er- und 1930er-Jahre) 115 - wie in Kapitel 8 bereits gezeigt - sehr viel beliebter: Bei einem annährend gleich großen Angebot an US-amerikanischen und deutschen Filmen in Deutschland von jeweils gut 40 % waren 67,5 % der erfolgreichsten 221 Filme deutschen Ursprungs. Schauen wir uns den Erfolg der nicht in den nationalen Charts platzierten Chaplin-Filme genauer an: Erkenntnisse erlauben die Erhebungen für Berlin und Köln, wobei die Kölner Studie Aussagen über eine schichtenspezifische Filmpräferenz des großstädtischen deutschen Publikums erlaubt. Theodor Geiger hat die soziale Schichtung des deutschen Volkes auf der Basis der Volkszählung von 1925 analysiert und fünf Schichten unterschieden: die Kapitalisten, den alten Mittelstand (Bauern, Selbständige), den neuen Mittelstand (Beamte, freie Berufe, gehobene Angestellte, Akademiker), das Proletariat (Lohnarbeiter ohne Qualifikation, kleine Büroangestellte) sowie die »Proletaroiden« - eine Schicht, die ökonomisch zum Proletariat, hinsichtlich ihrer Mentalität jedoch zu den Mittelschichten gehörte (kleinere Selbständige, die so wenig verdienen wie Arbeiter, sich selbst aber kulturell zur Mittelschicht zählen). 119 Die Kapitalisten machten weniger als 1 %, der alte und der neue Mittelstand je 18 %, die »Proletaroiden« 13 % und das Proletariat 51 % der Bevölkerung aus. Unter wirtschaftlich-sozialen Gesichtspunkten gehörte demnach etwa ein Drittel der Bevölkerung zur Mittelschicht (alter und neuer Mittelstand), während zwei Drittel der Bevölkerung (Proletariat und »Proletaroide«) zur Arbeiterschicht gehörte. Unter dem Gesichtspunkt der Mentalität bildeten Mittelschicht und Arbeiterklasse jedoch in etwa gleich große Lager, wobei die Trennlinie durchaus durchlässig war. Irmalotte Guttmann hat für ihre wirtschaftswissenschaftliche Dissertation die Filmnachfrage in Köln im Jahr 1926 untersucht - Köln war in dieser Zeit hinter Berlin und Hamburg mit rund 700.000 Einwohnern die drittgrößte deutsche Stadt; in Berlin lebten vier und in Hamburg eine Million Menschen. 120 Die Erhebung beruht auf einer standardisierten, persönlichen Befragung von 27 der 32 Kölner Kinobesitzer, sodass 84 % aller Kölner Kinos erfasst wurden. Guttmann hat u. a. gezielt nach den erfolgreichsten Filmen und Stars gefragt. Sie hat die Kölner Kinos aufgrund ihrer soziogeografischen Lage sowie ihrer Eintrittspreise in drei Märkte zusammengefasst: »1. Die Uraufführungstheater und die ihnen nahestehenden ›wohlrenommierten‹ Kinos, 2. Die Kinos des Mittelstandes, der Beamten und Rentner, 3. Die Theater der Arbeiter jeder politischen Einstellung.« 121 Die Märkte waren annähend gleich groß: Fünf Uraufführungstheater bildeten mit 6.550 Plätzen das größte Marktsegment, die 18 Arbeiterkinos folgten mit 5.805 Plätzen auf Rang 2 und die neun Mittelstandskinos mit 5.570 Plätzen auf Rang 3. <?page no="115"?> Fallstudien zum Wandel der Kino- und Fernsehkultur 116 T HE G OLD R USH war 1926 in Köln bedingt erfolgreich. Außergewöhnlich großen Erfolg hatte er in einem Uraufführungskino der Innenstadt mit 1.800 Plätzen und einem mittleren Eintrittspreis von 1,80 Mark, der 1922 eröffneten Schauburg (Breitestraße 90): »Der Film war der größte finanzielle Erfolg des Jahres. Er lief zwölf [richtig ist: 13 122 ] Tage und war trotz guten Wetters stets ausverkauft.« 123 In vier Vorstadtkinos in Proletariergegenden (mit 200 bis 400 Plätzen und einem mittleren Eintrittspreis von 50 Pfg.) lief T HE G OLD R USH ebenso mit »sehr guten« Ergebnissen. Guttmann fasst zusammen: »In 5 Theatern [dem Uraufführungskino und den vier Proletarierkinos], die zusammen 3.228 Plätze repräsentieren, wurde der Film G OLDRAUSCH als sehr gut genannt.« 124 Damit lief T HE G OLD R USH sehr erfolgreich in einem von fünf Uraufführungskinos sowie in vier von 15 erfassten Proletarierkinos. Die Kinobesitzer der mittelständischen Viertel erwähnen T HE G OLD R USH nicht, was bedeutet, dass er dort entweder nicht oder mit schlechten Ergebnissen gelaufen ist. 125 Die zweite bekannte Erhebung über den Filmerfolg in deutschen Großstädten der Weimarer Zeit bezieht sich auf Berlin. Es handelt sich um Erfolgsranglisten für die Jahre 1931 bis 1938, die auf einer Auswertung der Filmlaufzeiten in Berliner Uraufführungskinos beruhen und erstmals in den German Film Notes des US-Handelsattachés für interne Zwecke zusammengestellt wurden. 126 C ITY L IGHTS kam 1931 auf Rang 10 dieser Charts. Es ist nicht überraschend, dass sich darüber hinaus keine weiteren Chaplin-Filme in den genannten Listen finden, da M ODERN T IMES (1936, dt.: M ODERNE Z EITEN ) erst fertiggestellt war, nachdem die United Artists sich 1935 bereits vom deutschen Markt zurückgezogen und die nationalsozialistische Zensurbehörde Chaplin-Filme verboten hatte. Wie T HE G OLD R USH war also auch C ITY L IGHTS beim Publikum der Uraufführungskinos in deutschen Großstädten sehr beliebt. Zu ihren Besuchern zählten an Filmkunst Interessierte der Mittelschichten - bei der Deutschlandpremiere von T HE C IRCUS am 7. Februar 1928 im Berliner Uraufführungskino Capitol wa- Kinoanzeige zu G OLDRAUSCH (Kölner Stadt-Anzeiger, 6. 3. 1926, Universitäts- und Stadtbibliothek Köln) <?page no="116"?> 9. Soziale Differenzierung der Filmpräferenzen (1920er- und 1930er-Jahre) 117 ren »[n]och oben auf den Rangplätzen Leute von Namen und Rang, Diplomaten, Schriftsteller, Schauspieler, Filmleute.« 127 Die Uraufführungskinos verlangten deutlich höhere Eintrittspreise als andere Kinos: So erhob die Kölner Schauburg für T HE G OLD R USH einen durchschnittlichen Eintrittspreis von 1,80 Mark, bei der Premiere von 2,53 Mark. 128 Damit lag der Eintrittspreis in diesem Kino 1926 um das Dreibis Fünffache und der für die Premiere um das Vierbis Sechsfache über dem durchschnittlichen Eintrittspreis Kölner Arbeiterkinos. Die Publicitykampagne in der Kölner Tagespresse wandte sich explizit an das kunstbegeisterte Publikum: Drei Tage vor dem Start von T HE G OLD R USH begann eine groß angelegte Anzeigenkampagne, die sich über 16 Tage erstreckte und bei der beinahe täglich eine Großanzeige in der Kölner Tagespresse geschaltet wurde. 129 Zunächst erschien eine Anzeige »Was New York, London und Paris über Charlie Chaplin im G OLDRAUSCH sagen«, 130 die 22 begeisterte Aussagen von Filmkritikern aus der internationalen Tagespresse versammelte, und einen Tag später ein faksimiliertes Telegramm von »Europas größtem Theaterregisseur« 131 Max Reinhardt an Chaplin: »Ich stelle Ihre Kunst zur höchsten Kunst überhaupt.« 132 Immer wieder wurde Chaplin als »großer Künstler« 133 und T HE G OLD R USH als sein »Meisterwerk« 134 bezeichnet. In den Fanzeitschriften Neue Illustrierte Filmwoche und Deutsche Filmwoche wurden für die Jahre 1923 bis 1926 Charts der beliebtesten Filmschauspieler veröffentlicht, an denen jeweils 12.000 bis 15.000 Leserinnen und Leser teilnahmen. Gefragt wurde nach dem beliebtesten weiblichen und männlichen Star. Die Antworten der Leserinnen und Leser wurden an die Redaktion geschickt, ausgewertet und in der Form von Erfolgsranglisten veröffentlicht. 135 Die Top Ten der Stars vereinigten über 80 % aller Stimmen auf sich. Als 1926 T HE G OLD R USH in deutschen Kinos lief, hatte Chaplin als Person nur eine geringe Popularität. Er erhielt in der Umfrage vom 7. Mai 1926 etwa 100 von insgesamt 14.590 Stimmen, also weniger als 1 %. 15 männliche Stars sind namentlich mit Punktzahlen ausgewiesen. Rang 1 erreichte Willy Fritsch mit 1.672 Stimmen, Rang 10 Jackie Coogan mit 330 Stimmen. 136 In den Jahren zuvor, als bereits 35 seiner Kurzfilme sowie T HE K ID in Deutschland angeboten wurden, findet sich Chaplin nicht in den Starerfolgsranglisten - wohl aber Jackie Coogan (Rang 11/ 1923; Rang 11/ 1924), dem Kind aus Chaplins T HE K ID , der damit zum erfolgreichsten US-amerikanischen Star dieser Zeit in Deutschland wurde. 137 In Kölner Arbeiterkinos war Chaplin 1926 ein beliebter Star. In der Dissertation von Guttmann gaben zwei Besitzer von Kölner Vorstadtkinos in Arbeitervierteln, die über je 200 Plätze verfügten und durchschnittlich 50 Pfg. Eintritt verlangten, aber keinen Chaplin-Film im Programm hatten, an, Chaplin sei ein bevorzugter Star ihres Publikums. 138 Kein Besitzer eines Kinos, das von Angehö- <?page no="117"?> Fallstudien zum Wandel der Kino- und Fernsehkultur 118 rigen der Mittelschichten besucht wurde, hat dagegen auf die Frage nach den beliebtesten Stars ihres Publikums Chaplin genannt. Chaplins Filme liefen also mit großem Erfolg in den mehr als 1.000 Zuschauer fassenden Uraufführungskinos mit weit überdurchschnittlichen Eintrittspreisen sowie in kleinen und preiswerten Kinos der Arbeiterviertel der Großstädte. Ein Film konnte nur in die nationalen Charts kommen, wenn er von breiten Bevölkerungskreisen getragen wurde bzw. ein überragender Erfolg bei Arbeitern bzw. Angehörigen der Mittelschicht wurde. Wenn der große Zuspruch einer dieser sozialen Schichten grundsätzlich ausreichte, um einen Film in die nationalen Charts zu bringen, Chaplins Filme jedoch nicht auf breiter Basis populär waren, dann müssen die beiden großen Lager gespalten gewesen sein. Die Mittelschichten lehnten Chaplin in ihrer Mehrheit ab, und nur die Filmliebhaber und Intellektuellen bildeten hier eine Ausnahme. Zudem dürften es vor allem die Arbeiter der Großstädte gewesen sein - was für Köln belegt ist -, die Chaplin zum Erfolg verholfen haben, nicht aber die Arbeiter insgesamt. Wahrscheinlich beschränkte sich der Erfolg Chaplins in der Weimarer Zeit auf Großstädte - ein Präferenzmuster, das sich für die Nachkriegszeit belegen lässt: T HE G REAT D ICTATOR (1940, dt.: D ER GROSSE D IKTATOR ) war beim deutschen Publikum in der Spielzeit 1958/ 59 in Großstädten wesentlich beliebter als in Mittel- und Kleinstädten, 139 so wie M ODERN T IMES in der Spielzeit 1972/ 73 ebenfalls in Großstädten deutlich erfolgreicher war als in Mittel- und Kleinstädten. 140 Gründe für die selektive Präferenz Wie ist die schichtenbzw. gruppenspezifische Präferenz von Chaplins Filmen zu erklären, und wie fügt sich der Film T HE C IRCUS in dieses Bild, der beim deutschen Kinopublikum auf breiter Basis erfolgreich war? Die schichtenbzw. gruppenspezifische Filmpräferenz geht darauf zurück, dass Chaplin und seine Filme als klassenspezifisch wahrgenommen und daher von Teilen der Arbeiterklasse favorisiert, von Teilen der Mittelschicht jedoch abgelehnt wurden. Chaplin, der eine klar konturierte Screen Persona entwickelt hatte, war bei Arbeitern der Großstädte beliebt, weil er eine Identifikationsfigur war - ein Außenseiter und Verlierer, der sich nicht unterkriegen lässt, sondern sich gegen Ungerechtigkeit wehrt und dabei das »moralische Recht« auf seiner Seite weiß. Bereits seine viel zu großen Schuhe und die schlabbernde Hose signalisieren seinen niedrigen sozialen Status: Seine feine aber abgetragene Kleidung hat er offenbar von einem korpulenteren Mann »geerbt«. Chaplin ist in seinen abendfüllenden Filmen der 1920er- und 1930er-Jahre der Tramp, ein mittelloser Mann von der Straße, der in aller Regel keinem Beruf nachgeht und um sein Überleben kämpft. In T HE G OLD R USH ist er ein armer, hungernder Goldsucher, der durch das schneebedeckte <?page no="118"?> 9. Soziale Differenzierung der Filmpräferenzen (1920er- und 1930er-Jahre) 119 Alaska irrt, aber kein Gold findet und - in der europäischen Stummfilmfassung - Liebe nur als Täuschung erlebt. 141 In T HE C IRCUS spielt er einen Tramp, der wider Willen zum Artisten wird und traurig auf die Frau seiner Träume verzichtet. In C ITY L IGHTS ist er ein mittelloser Stadtstreicher, der die verehrte Frau, der er erst zum sozialen Aufstieg verhilft, nicht bekommt, weil er ein Unterprivilegierter ist. Chaplin verkörpert das Gegenteil von dem, was für die deutschen Mittelschichten der Weimarer Zeit Bedeutung hatte: Sie sahen sich als den »besseren« Teil der Gesellschaft und leiteten daraus einen Führungsanspruch ab. Dieses Statusdenken fand seinen Ausdruck in Strategien der sozialen Distinktion, wozu neben der Sprache auch ein Verhaltens- und Kleiderkodex gehörte. Für das Selbstbewusstsein der Mittelschichten waren zudem der berufliche Erfolg, Wohnungseigentum und Besitz von Produktionsmitteln wichtig. Auch wenn Charlie aufgrund ihrer Mentalität bei den deutschen Mittelschichten insgesamt nicht beliebt war, gab es Gruppen aus ihren Reihen, die Chaplin verehrten. Dies waren Teile des Bildungsbürgertums sowie die linke Intelligenz, die in ihm ein Idol ihrer politischen Überzeugungen sah. Die Rezeption der Chaplin-Filme als Werke der Filmkunst war vor allem deshalb möglich, weil Chaplin wie bildende Künstler, Musiker oder Schriftsteller die vollkommene Kontrolle über sein Werk hatte, weil er alle wichtigen Funktionen der Filmherstellung wie Drehbuchautor, Regisseur, Schauspieler und Produzent selbst übernahm. Was uns an zeitgenössischen Texten über Chaplin zur Verfügung steht, stammt beinahe ausschließlich aus diesem Personenkreis, sodass es nicht verwunderlich ist, dass wir heute oft den Eindruck einer breiten Chaplin-Begeisterung in der Weimarer Zeit haben. Wenn sich das Chaplin-Publikum in Deutschland im Wesentlichen aus Arbeitern, an Filmkunst Interessierten sowie linken Intellektuellen der Mittelschichten rekrutierte, die alle in Großstädten lebten, wie ist dann der außerordentliche Erfolg des Films T HE C IRCUS zu verstehen? Der große nationale Erfolg von T HE C IRCUS dürfte sich nicht nur wegen, sondern auch trotz Chaplin eingestellt haben. T HE C IRCUS ist wahrscheinlich beim großen deutschen Publikum im Wesentlichen deshalb so erfolgreich gewesen, weil er in das Erfolgsmuster der Zirkusfilme passt, zu dem u. a. Filme wie Z IRKUS P AT UND P ATACHON (Rang 8/ 1925-26; Rang 39/ 1926-27), W AS IST LOS IM Z IRKUS B EELY ? (Rang 14/ 1926-27), D IE Z IR- KUSPRINZESSIN (Rang 42/ 1928-29; Rang 36/ 1929-30) und G ROCK (Rang 38/ 1930-31; Rang 19/ 1931-32) gehören. All diese Filme spielen in der Welt der professionellen Artisten, wobei der Zirkus in der Regel den Hintergrund für eine dramatische Geschichte um Schicksal, Liebe und Leidenschaft abgibt. Dass T HE C IRCUS der erfolgreichste Zirkusfilm der Jahre 1925 bis 1932 wurde, dürfte darauf zurückgehen, dass er über das Chaplin-Publikum hinaus ein breites Interesse gefunden hat. <?page no="119"?> Fallstudien zum Wandel der Kino- und Fernsehkultur 120 Chaplin war also kein Star des gesamten deutschen Publikums, wohl aber ein Star der Filmliebhaber, Intellektuellen und Arbeiter in Großstädten. Die schichtenbzw. gruppenspezifische Präferenz für Chaplin-Filme ist nicht nur für die Weimarer Zeit typisch. Sie setzt sich in Deutschland wie angedeutet bruchlos nach dem Zweiten Weltkrieg fort. Eine solche soziale Differenzierung von Chaplins Erfolg gab es offenbar auch in den Vereinigten Staaten, 142 nicht aber im Geburtsland Chaplins, in Großbritannien, wo er eine breite Zustimmung der Gesamtbevölkerung gehabt zu haben scheint. 143 Kapitel 9 hat deutlich gemacht, dass selbst Filme, die wir heute als kulturelles Erbe der Menschheit sehen, zeitgenössisch durchaus nicht bei allen Menschen gleichermaßen beliebt waren. Die Zugehörigkeit von Zuschauern zu bestimmten sozialen Gruppen kann also wie ein Filter für die Popularität von Filmen wirken. Die Fallstudie zeigt zudem klar, dass und wie eine Legende zerstört und durch ein realitätsgerechteres Wissen ersetzt werden kann. <?page no="120"?> 121 10. Zur Übersetzung fremdsprachiger Filme (1930er-Jahre) Fremdsprachige Filme mussten übersetzt werden, um überhaupt eine Chance zu haben, bei anderssprachigen Publika erfolgreich werden zu können. 144 Stummfilme in eine andere Sprache zu übersetzen, war grundsätzlich unproblematisch, da die jeweiligen Zwischentitel einfach durch solche in der jeweiligen Landessprache ausgewechselt werden konnten. Erst mit dem Tonfilm, der ab 1929 in die europäischen Märkte eingeführt wurde, wurde die Übersetzung zum Problem. Man experimentierte mit unterschiedlichen Übersetzungsverfahren. In Deutschland, Italien und Spanien setzte sich eine andere Form der Filmübersetzung durch als in den anderen europäischen Ländern. So wie die Mediennutzungsform Spielfilm kulturell differenziert ist, so ist es auch die Art der Übersetzung fremdsprachiger Tonfilme. Eine Umfrage im Mai 1930 unter europäischen Verbänden der Kinobesitzer stellte sich dem Problem der Akzeptanz fremdsprachiger Filme. 145 An ihr beteiligten sich die Verbände aus Belgien, Dänemark, Deutschland, Großbritannien, Finnland, Jugoslawien, den Niederlanden, Schweden, der Steiermark (einem Teil Österreichs) und der Tschechoslowakei. Alle Verbände der Kinobesitzer betonten, dass fremdsprachige Filme ohne jede Form der Übersetzung vom großen Publikum abgelehnt werden. Tonfilme in anderen Sprachen wurden nur in solchen Ländern akzeptiert, in denen die jeweiligen Sprachen gesprochen wurden (in der Schweiz liefen Filme in Deutsch, Französisch und Italienisch) bzw. in denen große Teile der Bevölkerung eine besondere Fremdsprachenkompetenz hatten (so verstanden viele Niederländer und Dänen Deutsch). Da fremdsprachige Filme mehrheitlich vom großen Publikum in Europa abgelehnt wurden, mussten sie in die Sprache des Zielpublikums übersetzt werden. Um 1930 konkurrierten mehrere Übersetzungsverfahren fremdsprachiger Filme miteinander. Beim Off-Kommentar zum Beispiel blieb die Tonspur erhalten und wurde erläuternd von einem Erzähler übersprochen. Bei der Verwendung von Zwischentiteln blieb der Originalton zu hören, während das Filmbild zeitweise nicht zu sehen war. Drei weitere Verfahren, die im Folgenden analysiert werden, setzten sich in den 1930er-Jahren durch: die Untertitelung, die Synchronisation und die Sprachversion. Zunächst müssen die Dialoge in die Sprache des jeweiligen Zielpublikums übersetzt werden. Bei der Untertitelung wird diese Übersetzung so in der Form von Texttafeln in das bewegte Bild einkopiert, dass der Zuschauer immer das in <?page no="121"?> Fallstudien zum Wandel der Kino- und Fernsehkultur 122 der eigenen Sprache lesen kann, was in der fremden Sprache gerade gesprochen wird, während das Filmbild sichtbar bleibt. Bei der Synchronisation werden die übersetzten Dialoge in aller Regel mit den Stimmen von Muttersprachlern des jeweiligen Exportlandes neu aufgenommen, sodass in der Synchronfassung nun statt der Stimmen der Schauspieler die Stimmen der Synchronsprecher zu hören sind. Wenn ein Film noch einmal in der Sprache des Exportlandes realisiert wird, so bezeichnet man eine solche Version als Sprachversion. Der betreffende Film wird dafür vollständig neu gedreht, wobei die Schauspieler selbst die jeweilige Sprache des Ziellandes sprechen. Im Unterschied zur Synchronisation hört das Publikum also die Stimme des Schauspielers, den es sprechen sieht. Anders als bei Remakes liegt bei Sprachversionen die Kontrolle über die Produktion in der Hand der Firma, die auch das »Original« realisiert hat - oft in Kooperation mit einem ausländischen Partner. Alle genannten Verfahren sind Übersetzungsverfahren von Tonfilmen. Der Tonfilm setzte sich jedoch 1929 nicht schlagartig, sondern sukzessive durch. Während die Umrüstung der Kinos mit Tonfilmapparaturen in Deutschland und Großbritannien mit großer Geschwindigkeit erfolgte (1935 waren 99,9 % aller deutschen und britischen Kinos Tonfilmkinos), brauchten Länder wie Portugal und Rumänien deutlich mehr Zeit (1935 waren 45,7 % der portugiesischen und 53,7 % der rumänischen Kinos auf Ton umgestellt). 146 Für die noch nicht umgerüsteten Kinos wurden von Tonfilmen oft stumme Fassungen mit Zwischentiteln produziert, die wie gewohnt gegen solche in der jeweiligen Landessprache ausgewechselt werden konnten. Die Untertitelung als Normalverfahren Die Untertitelung wurde ab 1929 in mehr europäischen Ländern angewendet als alle anderen Übersetzungsverfahren. Sie wurde in Europa zum Normalverfahren der Übersetzung fremdsprachiger Filme, während sich Sprachversion und Synchronisation nur zeitweise bzw. nur in einigen wenigen Ländern Europas etablieren konnten. Die Untertitelung konnte sich nur in den Ländern etablieren, in denen die Zuschauer über eine ausreichende Lesekompetenz verfügten. Die Alphabetisierungsrate stand der Durchsetzung der Untertitelung in Europa grundsätzlich nicht im Wege. Um 1930 konnten so gut wie alle Menschen in Nord-, West- und Mitteleuropa lesen, während in Süd- und Osteuropa zwar nicht alle, aber doch die große Mehrheit der Bevölkerung lesen konnte. 147 Entscheidend für die Etablierung der Untertitelung als Normalverfahren war, dass es Menschen anthropologisch relativ leicht fällt, dieses Verfahren zu akzeptieren. Wie Umfragen und Presseartikel aus den frühen 1930er-Jahren zeigen, er- <?page no="122"?> 10. Zur Übersetzung fremdsprachiger Filme (1930er-Jahre) 123 forderte sowohl die Untertitelung als auch die Synchronisation je besondere Lernprozesse auf der Seite des Publikums. Im Fall der Untertitelung ist der Lernprozess jedoch deutlich leichter zu bewältigen als bei der Synchronisation. Das Lesen während des Filmsehens bedarf sicherlich der Gewöhnung: So heißt es etwa in der deutschen und französischen Fachpresse um 1930, das Lesen der Untertitel strenge an und lenke vom Bildersehen ab. 148 Die Gewöhnung an untertitelte Filmfassungen fiel jedoch nicht zuletzt deshalb leicht, weil die Zuschauer bereits durch den Stummfilm gewohnt waren, Zwischentitel zu lesen. Nicht das Lesen im Kino war also neu, sondern das gleichzeitige Lesen und Betrachten der bewegten Bilder. Da die Untertitelung im Vergleich zur Sprachversion und zur Synchronisation preiswert ist, konnte dieses Verfahren auch für vergleichsweise kleine Sprachgemeinschaften wirtschaftlich effizient eingesetzt werden. So wurden fremdsprachige Filme u. a. in Belgien, Finnland, Griechenland, den Niederlanden, Norwegen, Portugal, Schweden, der Schweiz und der Tschechoslowakei untertitelt. Die Sprachversion als Idealverfahren Obwohl mit der Untertitelung ein kulturell akzeptiertes und ökonomisch effizientes Verfahren zur Verfügung stand, hat sich in Frankreich, Deutschland, Italien, Spanien und Großbritannien zunächst die Sprachversion als Verfahren der Filmübersetzung durchsetzen können. Ob Sprachversionen eines Films realisiert wurden, war eine Entscheidung über die Auslandsvermarktung, die im Unterschied zur Untertitelung und Synchronisation in aller Regel bereits in der Planungsphase des jeweiligen Films getroffen wurde. Die Sprachversion war in kultureller Hinsicht ein Idealverfahren der Filmübersetzung: Anders als Untertitelung und Synchronisation erforderte sie von den Zuschauern keinerlei Lernprozess, da sie nicht als Übersetzung wahrgenommen wurde, sondern als ein eigenständiger Film in der eigenen Sprache - vorausgesetzt, eine Sprachversion war mit Muttersprachlern besetzt. Auch wenn das Verfahren der Sprachversion in erster Linie entwickelt wurde, um Filme zu übersetzen, so wurde bald klar, dass es im Unterschied zur Untertitelung und Synchronisation eine unvergleichlich bessere Chance bot, den Film den kulturellen Erwartungen des jeweiligen Zielpublikums anzupassen. Sprachversionen waren daher nicht nur das optimale Verfahren, weil sie keinen Lernprozess auf der Seite der Zuschauer voraussetzen. Sie waren es auch, weil sie zugleich eine neue und vielversprechende Antwort auf die kulturelle Verschiedenartigkeit der europäischen Länder boten. Wie in Kapitel 8 gezeigt, bevorzugten die Publika der acht untersuchten europäischen Länder Filme aus der jeweiligen heimischen Produktion und wählten fremdsprachige Filme nur dann, wenn sie kulturell an die eigenen, bevorzugten Vorstellungen anknüpften. <?page no="123"?> Fallstudien zum Wandel der Kino- und Fernsehkultur 124 Die wichtigste Strategie der kulturellen Adaption, die sich in der Form eines ungeplanten Prozesses herausbildete, war die Besetzung mit Schauspielern des Ziellandes. Dieser Prozess hatte zwei Dimensionen. Zum einen setzte sich die Praxis durch, Sprachversionen grundsätzlich mit Muttersprachlern zu besetzen, da sie so vom Publikum besser akzeptiert wurden. Während dies in Europa von Beginn an praktiziert wurde, experimentierte Hollywood noch mit amerikanischen Schauspielern, die die jeweilige Landessprache nicht wirklich beherrschten, sondern nur phonetisch reproduzierten - Beispiele sind etwa die deutschen Versionen von A L ADY TO L OVE (1930) und K ISMET (1930/ 31). 149 Die im transatlantischen Verhältnis unterschiedliche Besetzungsstrategie ging darauf zurück, dass es sehr aufwendig war, europäische Schauspieler für die Versionenproduktion nach Hollywood zu holen, während es weniger aufwendig war, Schauspieler zwischen den europäischen Metropolen reisen zu lassen. Der Ausweg aus diesem amerikanischen Dilemma bestand darin, die Produktion der Sprachversionen nach Europa zu verlagern, was die Firma Paramount bereits 1929 tat, indem sie ihre Versionen in Joinville bei Paris drehen ließ. 150 Zum anderen wurde den Produzenten bald klar, dass es finanziell grundsätzlich lukrativer war, für die Sprachversionen nicht die zweite, sondern die erste Garde der Schauspieler des jeweiligen Ziellandes zu verpflichten. Einen »Heimvorteil« durch die Besetzung mit den eigenen Filmlieblingen konnten nur Sprachversionen, jedoch weder Untertitelung noch Synchronisation bieten. So wurden französischsprachige Versionen aus deutscher Produktion mit französischen Stars besetzt (wie zum Beispiel L E CHEMIN DU PARADIS [1930] mit Henri Garat) und deutschsprachige Versionen aus tschechischer bzw. US-amerikanischer Produktion mit deutschen Stars (wie zum Beispiel T AUSEND FÜR EINE N ACHT [1932] mit Claire Rommer oder M ENSCHEN HINTER G ITTERN [1930/ 31] mit Heinrich George). Auch wenn die Besetzung ohne Zweifel die wichtigste Strategie der kulturellen Adaption an die Erwartungen des Zielpublikums war, so war sie keineswegs die einzige. Zum Beispiel wurde oft der Handlungsort in das Exportland des Films verlegt (so spielt zum Beispiel die französische Version von I HRE M AJESTÄT DIE L IEBE [1930] im Unterschied zur deutschen nicht in Berlin, sondern in Paris). Darüber hinaus wurde auch auf das kulturelle Wissen des Zielpublikums Rücksicht genommen, indem etwa in der französischen Version von D IE D REI VON DER T ANKSTELLE (1930) die sich anbahnende Liebesbeziehung zwischen Lilian Harvey und Henri Garat deutlich früher als im »Original« eingeführt wird, weil den französischen im Unterschied zu den deutschen Zuschauern nicht durch andere Filme bereits bekannt war, wer das Liebespaar des Films sein wird. 151 Insgesamt blieb die kulturelle Varianz verglichen mit Remakes jedoch klein; der Plot der Version wurde gegenüber dem »Original« in aller Regel nicht verändert. Dies bedingte nicht nur die Effizienz einer parallelen Produktion von Ver- <?page no="124"?> 10. Zur Übersetzung fremdsprachiger Filme (1930er-Jahre) 125 sionen, wie sie für die Ufa typisch war, wo das »Original« und seine Versionen Einstellung für Einstellung konsekutiv gedreht wurden. Die geringe kulturelle Varianz geht grundsätzlich darauf zurück, dass die Produzenten Versionen wie am Fließband herstellten, auch wenn sie sie wie Paramount in einem anderen Land und erst nach der Fertigstellung des »Originals« herstellen ließen. Dieses tayloristische Produktionssystem schränkte zwar die kulturelle Varianz ein, verhinderte jedoch keineswegs die Sorgfalt, mit der Details kulturell variiert wurden. Das Verfahren der Versionenproduktion löste also ohne Zweifel das Übersetzungsproblem von Tonfilmen optimal, weil es keinen Lernprozess der Zuschauer voraussetzt und weil es eine bessere kulturelle Adaption erlaubt als Synchronisation und Untertitelung. Dieses Übersetzungsverfahren konnte sich jedoch nur auf den größten europäischen Filmmärkten durchsetzen, weil sich nur dort die enormen Kosten, die je Version 70 bis 80 % der jeweiligen Originalproduktion betrugen, amortisieren konnten. 152 Eine statistische Auswertung aller gut 500 für die europäischen Märkte realisierten Sprachversionen zeigt, dass 93 % auf nur fünf nationale Märkte entfallen. 153 Dies waren - nach der Zahl der dort gezeigten Versionen in absteigender Reihenfolge - Frankreich (234), Deutschland (140), Großbritannien (48), Spanien (42) und Italien (32). Nur 7 % aller in Europa aufgeführten Sprachversionen entstanden für die große Zahl kleinerer Sprachgemeinschaften. So wurden Sprachversionen auch in Schwedisch (12), Niederländisch (7), Polnisch (4), Tschechisch (4), Portugiesisch (3), Rumänisch (3), Ungarisch (3), Bulgarisch (1) und Dänisch (1) realisiert. Sprachversionen konnten in kleineren Ländern nur dann rentabel sein, wenn sie dort zu außergewöhnlichen Erfolgen wurden. Ab den 1940er-Jahren wurden Sprachversionen für die großen europäischen Filmmärkte nur noch in Einzelfällen hergestellt. Die Gründe für den Rückgang sind ökonomischer Art: Da die Produktion einer Sprachversion fast so teuer wie ein Originalfilm war, barg sie ein beinahe ebenso großes Risiko, dass der jeweilige D IE D REI VON DER T ANKSTELLE (1930, links) und die französische Sprachversion L E CHEMIN DU PARADIS (1930) (DVDbzw. VHS-Prints) <?page no="125"?> Fallstudien zum Wandel der Kino- und Fernsehkultur 126 Film beim Publikum durchfiel. Zudem war es bei der Kulturverschiedenheit der europäischen Publika schwer, Stoffe zu finden, bei denen eine geringe kulturelle Variation ausreichte, um sie zumindest auf zwei Märkten zugleich erfolgreich zu machen. Synchronisation als Alternative Um fremdsprachige Filme verständlich zu machen, setzte sich im Verlauf der 1930er-Jahre in den Ländern, in denen zuvor die Sprachversion das bevorzugte Übersetzungsverfahren war, nicht die Untertitelung, sondern die Synchronisation durch. Eine Studie der US-Filmindustrie aus dem Jahr 1950, die eine große Zahl der europäischen Länder berücksichtigt, kam zu dem Ergebnis, dass fremdsprachige Filme nur in Italien, Spanien und Deutschland ausschließlich in Synchronfassungen akzeptiert wurden. 154 Zudem zog das französische Publikum Synchronfassungen vor, wenngleich es auch untertitelte Fassungen akzeptierte. Allein in Großbritannien stellte sich das Übersetzungsproblem nicht, da der britische Markt wie kein anderer durch die Präsenz Hollywoods sprachlich autark war (vgl. dazu auch Kapitel 8). 155 Dass sich die Synchronisation als Übersetzungsverfahren fremdsprachiger Filme in den genannten Ländern erst im Verlauf der 1930er-Jahre durchgesetzt hat, geht nicht auf technische oder allein ökonomische, sondern auf anthropologische und kulturelle Gründe zurück. Bereits seit 1929 war es technisch möglich, fremdspra- Zahl der Sprachversionen in Europa nach Jahren 1929-1939 (Datenquelle: CineGraph, Hamburg) <?page no="126"?> 10. Zur Übersetzung fremdsprachiger Filme (1930er-Jahre) 127 chige Filme in der gewünschten Landessprache zu synchronisieren. Während die Untertitelung unter Voraussetzung der Lesekompetenz der Zuschauer nirgendwo unüberwindbare Widerstände hervorrief, stieß die Synchronisation fremdsprachiger Filme zunächst überall auf Ablehnung. So kam die bereits genannte Umfrage bei den Verbänden europäischer Kinobesitzer 1930 zu dem einhelligen Ergebnis, dass synchronisierte Filme beim großen Publikum »erfolglos« oder »unmöglich« seien. 156 Die breite Ablehnung der Synchronisation fremdsprachiger Filme geht grundsätzlich nicht auf das Problem der Synchronizität zurück, wie die sogenannten optischen Versionen zeigen. Bei einer optischen Version sprachen die Schauspieler die jeweilige Landessprache selbst, wurden jedoch von Muttersprachlern synchronisiert, sodass eine vollkommene Lippensynchronität erreichbar war. 157 Das Akzeptanzproblem der Synchronisation wurde dadurch aber nicht gelöst. Ob die Synchronisation eines fremdsprachigen Films akzeptiert wird, ist nicht primär ein Problem der Wahrnehmung, sondern eines des Wissens: Die Synchronisation fremdsprachiger Filme wurde abgelehnt, wenn die Zuschauer wussten, dass die Stimme des Synchronsprechers nicht zum Körper des Schauspielers gehörte. Das Wissen, dass eine Stimme mit dem Körperbild eines anderen Menschen verschmolzen wurde, hat um 1930 ein Befremden ausgelöst, das in Deutschland und Frankreich sowohl von Schauspielern als auch von Journalisten beschrieben wurde. 158 Vor diesem Hintergrund wird deutlich, dass die Sprachversion gerade deshalb in kultureller Hinsicht ein Idealverfahren der Filmübersetzung war, weil die Schauspieler ihren Text selbst sprachen. Da die Einheit von Stimme und Körper des Schauspielers gewahrt blieb, konnte es nicht zu vergleichbaren Widerständen gegen dieses Übersetzungsverfahren kommen. Im Vergleich zur Sprachversion war die Synchronisation jedoch das preiswertere Übersetzungsverfahren: Die Kosten für eine optische Version lagen bei 15-20 % der Kosten des »Originals«; die sogenannte akustische Version, also die Synchronisation eines fremdsprachigen Films, wie sie noch heute üblich ist, war preiswerter. 159 Im Vergleich zur Untertitelung war die Synchronisation jedoch deutlich teurer. Die kulturelle Akzeptanz der Synchronisation setzt einen vergleichsweise aufwendigen Lernprozess voraus. Der Zuschauer muss lernen, das Wissen auszublenden, dass ein Schauspieler mit der Stimme eines anderen spricht. Wer dies lernt, wird durch eine Ersparnis an psychischer Energie belohnt, da Zuhören weniger anstrengend als Lesen ist. Dieser Lernprozess vollzog sich in Deutschland und Frankreich um 1933. So berichtete etwa ein US-amerikanischer Journalist, das deutsche Publikum habe sich daran gewöhnt, dass zu Lippenbewegungen von US-Amerikanern Deutsch gesprochen wird. 160 Trotz der Kampagne gegen die Synchronisation, die in der deutschen Presse geführt wurde, als die ersten synchronisierten Filme herauskamen, bestehe nun kein Zweifel mehr daran, dass das <?page no="127"?> Fallstudien zum Wandel der Kino- und Fernsehkultur 128 große Publikum die Synchronisation mittlerweile akzeptiere, ohne sich zu fragen, wem die Stimme gehört, die aus dem Lautsprecher kommt. Dieser Prozess der allmählichen Annahme von Synchronfassungen wurde zeitgenössisch in Deutschland wie in Frankreich auch theoretisch reflektiert: Nachdem zunächst heftig gegen die Möglichkeit polemisiert wurde, sollten nun Bedenken gegen die Synchronisation geschlichtet und ihre Möglichkeit bewiesen werden. 161 Der analysierte Lernprozess konnte jedoch nur stattfinden, wenn die Filmwirtschaft eines Landes das wirtschaftliche Wagnis auf sich nahm, Synchronfassungen trotz großer Akzeptanzprobleme des Publikums in ausreichender Zahl anzubieten. Dieses Risiko ging die Filmwirtschaft jedoch nur ein, da sie unter einem besonderen Druck stand. Dieser Druck entstand nicht primär aufgrund einer mangelnden Lesekompetenz der Bevölkerung, denn um 1930 konnten so gut wie alle Deutschen und Franzosen lesen. Dies traf zwar nur auf rund drei Viertel der Italiener und Spanier zu, 162 doch die Gruppe der Analphabeten bestand im Wesentlichen aus älteren Menschen, die nicht zum primären Adressatenkreis der Filmwirtschaft zählten. Der Druck auf die Filmwirtschaft, fremdsprachige Filme in der eigenen Sprache zu synchronisieren, entstand im Wesentlichen durch den Glauben an die Überlegenheit der eigenen Sprache und Kultur. Es ist kein Zufall, dass die Länder, in denen sich die Synchronisation fremdsprachiger Filme zum alleinigen Übersetzungsverfahren entwickelte, in den 1930er-Jahren die Kernländer des Faschismus waren, die die Überlegenheit der eigenen Sprache und Kultur zum Programm erhoben. Mit der Synchronisation wurde die fremde Sprache durch die eigene ersetzt und der fremdsprachige Film dadurch ein Stück weit der eigenen Kultur einverleibt. Die Synchronisation hat sich in den faschistischen Ländern unterschiedlich schnell durchgesetzt - am schnellsten dort, wo es effektive Gesetze gab. Die Machteliten Italiens und Spaniens erließen Gesetze, die die Synchronisation fremdsprachiger Filme vorschrieben. In Italien trat ein entsprechendes Gesetz 1933 in Kraft, und in Spanien wurde das entsprechende Gesetz von 1934 aus der Zweiten Republik von den Faschisten 1941 so überarbeitet, dass es die Synchronisation fremdsprachiger Filme effektiv erzwang. 163 In Deutschland wurde die Synchronisation fremdsprachiger Filme nicht durch eine gesetzliche Regelung erzwungen. 164 Auch hier setzte sich die Praxis der Synchronisation jedoch durch, wenn auch weniger schnell und weniger konsequent als in Italien und Spanien. So wurden zum Beispiel 1941 27 von 28 fremdsprachigen Filmen in deutscher Sprache synchronisiert. 165 Der einzige nicht-synchronisierte Film dieses Jahres, die ägyptisch-deutsche Koproduktion V ERRÄTER AM N IL (1941), wurde untertitelt, drei weitere Filme wurden auch in untertitelten Fassungen angeboten. Die untertitelten Fassungen liefen in einigen Berliner Ur- <?page no="128"?> 10. Zur Übersetzung fremdsprachiger Filme (1930er-Jahre) 129 aufführungskinos, während andere Berliner Kinos und die Provinz mit Synchronfassungen beliefert wurden. 166 In Europa haben sich in den 1930er-Jahren also verschiedene in kultureller sowie in wirtschaftlicher Hinsicht optimal adaptierte Verfahren durchgesetzt, um fremdsprachige Filme zu übersetzen. Wurde die Untertitelung fremdsprachiger Filme in der Sprache des Zielpublikums in den meisten Ländern zum Normalverfahren der Filmübersetzung, so wurde die Sprachversion in den großen europäischen Filmmärkten zum erfolgreichsten Instrument der Filmübersetzung. In den Kernländern des Faschismus setzte sich schließlich die Synchronisation fremdsprachiger Filme durch, weil dieses Verfahren kulturell genehm und wirtschaftlich weniger risikoreich als die Sprachversion war. <?page no="130"?> 131 11. Filmproduzenten von europäischem Ruf (1930er-Jahre) Haben sich Kapitel 8 und 9 im Wesentlichen mit dem Selektionsverhalten der privaten Mediennutzer befasst, so wenden wir uns in den Kapiteln 11 bis 13 den Medienmachern zu, die Spielfilme geschaffen haben. 167 Hierzu gehören nicht nur Regisseure (Kapitel 12) und Schauspieler (Kapitel 13), sondern auch die Produzenten. Unter marktwirtschaftlichen Bedingungen können sie - wie in Kapitel 8 gezeigt - Filme herstellen, um den Geschmack eines Publikums (u. a. Zuschauer eines Landes, Kinder, männliche Jugendliche) zu bedienen, das absolut groß genug ist, die Kosten des jeweiligen Films tragen zu können. Sie folgen dabei unterschiedlichen Ideen oder Philosophien. Die Philosophie von Filmproduzenten kreist um die Frage, welche Art von Filmen zu welchen Zwecken produziert werden soll. Der in Ungarn geborene Arnold Pressburger (1885-1951) und der aus der Ukraine stammende Gregor Rabinowitsch (1889-1953) arbeiteten in verschiedenen europäischen Ländern und den USA zumeist unabhängig voneinander. Pressburger war von Haus aus Kaufmann, Rabinowitsch Bankkaufmann und Jurist. In den 1920er-Jahren arbeitete Rabinowitsch als Filmproduzent zunächst in Frankreich, Pressburger in Österreich. Rabinowitsch produzierte Filme mit seiner eigenen Firma Ciné-Alliance ab 1927 unter dem Dach der Ufa in Berlin, Pressburger ab 1930 mit seiner Firma Allianz Tonfilm GmbH ebenfalls in Berlin. In den Jahren 1932 bis 1935 kam es zu einer produktiven Zusammenarbeit beider Produzenten im Rahmen ihrer eigenen Berliner Firma Cine-Allianz Tonfilm GmbH; 168 es entstanden 15 abendfüllende Spielfilme. 1935 wurde die Cine-Allianz auf Druck der von den Nationalsozialisten geschaffenen Reichsfilmkammer in eine Liquidationsgesellschaft überführt. Unter Verwendung des Markennamens produzierten die Nazis weiterhin Filme mit der Cine-Allianz Tonfilm-Produktions-GmbH. Pressburger und Rabinowitsch wurden enteignet, weil sie Juden waren, und konnten ihre Karrieren getrennt in England, Italien, Frankreich und den USA fortsetzen. Auf den ersten Blick scheint es problematisch zu sein, die Produktionsphilosophien zweier zumeist unabhängig voneinander arbeitender Produzenten gemeinsam abzuhandeln. Tatsächlich kam es zu einer Zusammenarbeit von Pressburger und Rabinowitsch in den Jahren 1932 bis 1935 in der gemeinsamen Cine-Allianz Tonfilm GmbH gerade deshalb, weil sich die Firmenphilosophien beider Produzenten so ähnlich waren. <?page no="131"?> Fallstudien zum Wandel der Kino- und Fernsehkultur 132 Methodisch lässt sich die Produktionsphilosophie beider Produzenten rekonstruieren, indem man sich - wie im dritten Kapitel gezeigt - schriftlicher Quellen wie Firmenakten oder Branchenzeitschriften bedient. Dieses bewährte quellenkritische Studium kann - wie dort ebenfalls gezeigt - durch ein komparatistisches Verfahren ergänzt werden, bei dem die Filme selbst im Vordergrund stehen und davon ausgehend Rückschlüsse auf die Firmenphilosophie gezogen werden. Ruft man sich die Filme beider Produzenten in Erinnerung, so zeigt sich ein Werk von großer Vielfalt, das jedoch kaum Gemeinsamkeiten im Sinn der Autorentheorie erkennen lässt. Die Autorentheorie postuliert den Regisseur als Urheber eines Werkes, dessen Handschrift anhand der Filme zu analysieren ist. Funktioniert eine solche Analyse bereits bei Regisseuren nur dann, wenn die Produktionsbedingungen die Entstehung eines persönlichen Werkes ermöglichen, so wird sie bei Produzenten besonders problematisch, wenn diese ihre Filme gezielt an der sich fortgesetzt verändernden Nachfrage des Publikums orientiert haben. Daher lässt sich die Produktionsphilosophie von Pressburger und Rabinowitsch nur dann verstehen, wenn man die Filme nicht mehr miteinander vergleicht, sondern auf herrschende Produktionsbzw. Erfolgstrends bezieht (also ein Tertium comparationis sucht). Werden mehrere Filme eines bestimmten Typs in unmittelbarer zeitlicher Nähe herstellt, so spricht man von einem Angebots- oder Produktionstrend. Ich habe den Begriff Erfolgstrend in die Diskussion eingeführt, um deutlich zu machen, dass man Gemeinsamkeiten der Filme nicht nur auf der Basis des Filmangebots, sondern auch auf der Grundlage der mittels Erfolgsranglisten repräsentierten Nachfrage des Publikums erkennen kann. Beide Konzepte hängen - wie in Kapitel 3 argumentiert - eng zusammen, denn ein Erfolgstrend wird erst dann möglich, wenn die Nachfrage des Publikums durch ein entsprchendes Angebot bedient wird. Als empirische Grundlage stehen uns für die Jahre 1925 bis 1932 die Erfolgsranglisten der Filme aus der Branchenzeitschrift Film-Kurier zur Verfügung, die bereits in Kapitel 9 beschrieben wurden. Da jedes Jahr um die 500 Filme aufgeführt wurden, 169 müssen alle rund 50 gelisteten Filme als kommerziell sehr erfolgreich gelten. Darüber hinaus werden die auch bereits in Kapitel 9 verwendeten Top Ten der Filme der Berliner Urbzw. Erstaufführungskinos hinzugezogen, die bis 1938 einschließlich vorliegen. 170 Diese Listen sind kaum für Filmerfolg im gesamten Deutschen Reich repräsentativ, spiegeln jedoch den Erfolg der Filme in den Urbzw. Erstaufführungskinos der deutschen Metropole. Die Produktionsphilosophie Liest man Interviews mit Pressburger bzw. Rabinowitsch, Artikel aus der Branchenpresse und diverse Kritiken ihrer Filme, fällt auf, dass es einen bestimmenden <?page no="132"?> 11. Filmproduzenten von europäischem Ruf (1930er-Jahre) 133 Tenor gibt, über die einzelnen Filme, die Publikationsmedien und die Kritiker hinweg: Ihr Anliegen war, qualitativ hochwertige »Großfilme« herzustellen, die auch auf dem internationalen Markt einsetzbar waren, und die Chance hatten, wirtschaftlich auf breiter Basis erfolgreich zu werden. Im Zentrum ihrer Firmenphilosophie stand der geschäftliche Erfolg, der gewiss nicht berechenbar, aber doch zu beeinflussen war, indem die Produzenten von bestimmten Überzeugungen und Strategien ausgingen. Dazu gehörte, nicht Standard- und Mittelfilme, sondern Großfilme zu drehen. Großfilm ist eine Vertriebskategorie, die besagt, dass solche Filme in den Berliner Uraufführungskinos gestartet wurden; die Cine-Allianz-Filme wurden in der Regel im Gloria-Palast oder im Ufa-Palast am Zoo uraufgeführt. Die Großproduktionen wurden stofflich so angelegt, dass sie auch in anderen europäischen Ländern absetzbar waren. Als bestes Mittel gegen die US-Konkurrenz wurde nicht die staatliche Kontingentierung des US-Films, sondern »ein guter europäischer Film« 171 gesehen. In welchem Maß die Cine-Allianz-Filme auf den europäischen Markt ausgerichtet waren, lässt sich daran ablesen, dass von beinahe allen deutschen Pressburger- und Rabinowitsch-Filmen der 1930er-Jahre französischbzw. englischsprachige Versionen hergestellt wurden. Nach der Umstellung auf den Tonfilm 1929/ 30 war die Sprachversion für einige Jahre das Mittel der Wahl, Filme für anderssprachige Publika verständlich und kulturell akzeptabel zu machen - wie ausführlicher in Kapitel 10 gezeigt. Ein Film wurde zu diesen Zwecken in der Sprache und aufgrund ihrer größeren Beliebtheit in der Regel auch mit den Schauspielern des Exportlandes noch einmal inszeniert. Zur Firmenphilosophie der Cine-Allianz gehörte es, dieses Mittel nicht nur extensiv zu nutzen, sondern durch eine Koproduktion mit Firmen des jeweiligen Exportlandes das finanzielle Risiko der kostenintensiven Sprachversionen besser abzusichern. Im Unterschied zu der heute dominierenden Vorstellung von der Unvereinbarkeit von Kunst und Geschäft stand das Bestreben, »Kunst und Geschäft miteinander in Einklang zu bringen«, 172 im Zentrum der Produktionsphilosophie - eine Auffassung, mit der Pressburger und Rabinowitsch in den 1920er- und 1930er-Jahren nicht allein waren. 173 Kunst ist hier ein Synonym für Qualität, Filmkunst nichts anderes als die auf einem besonderen Können oder Wissen basierende Tätigkeit des Filmemachens. In diesem Sinn ist Kunst in der Firmenphilosophie der Produzenten Pressburger und Rabinowitsch die Bedingung für den geschäftlichen Erfolg: »Ein Qualitätsfilm, mit Mut gedacht und durchgeführt, originell im Thema, nicht landläufig in der Besetzung und anständig im Wollen, geschickt herausgebracht, hat viel mehr Aussicht auf Erfolg als 10 Feld-, Wald- und Wiesenfilme.« 174 <?page no="133"?> Fallstudien zum Wandel der Kino- und Fernsehkultur 134 Alle hergestellten Filme sollten qualitativ hochwertig sein: »Selbst das Genre Unterhaltungs- und Geschäftsfilm soll Niveau haben.« 175 Um ein solches »Niveau« zu erreichen, musste größte Sorgfalt bei der Auswahl der kreativen Kräfte herrschen, denn nur diese garantiert einen hohen handwerklich-technischen Standard der Produktion bzw., was die Besetzung betrifft, eine besondere Attraktivität des jeweiligen Films beim Publikum. Sorgfalt bei der Auswahl der kreativen Kräfte ist jedoch keine hinreichende Bedingung für einen geschäftlichen Erfolg. Daher gehörte zur Firmenphilosophie von Pressburger und Rabinowitsch die Bedienung von Erfolgstrends. Durch eine Marktbeobachtung - etwa durch die Lektüre der Erfolgsranglisten - konnten Erfolgstrends ausgemacht und dann gezielt bedient werden. Mit D REI T AGE M IT- TELARREST (1930) hat Pressburger für die Messtro einen Film geschaffen, der sich an den Erfolgstrend der Militärkomödie anschloss. Militärkomödien wurden in großer Zahl als Standardbzw. Mittelfilme produziert, waren erfolgreich, konnten sich jedoch nur in Ausnahmefällen unter den Top Ten platzieren wie z. B. L IEBE UND T ROMPETENBLASEN (Rang 10/ 1925-26). 176 Wie man den Erfolgsranglisten des Film-Kuriers entnehmen kann, waren Filme mit dem dänischen Komikerduo Pat und Patachon seit 1925 Publikumsrenner, u. a. Z IRKUS P AT UND P ATACHON (Rang 8/ 1925-26), P AT UND P ATACHON , DIE F ILMHELDEN (Rang 10/ 1928-29) und P AT UND P ATACHON UND DIE K ANNIBALEN (Rang 8/ 1929-30). Pressburger und Rabinowitsch stiegen in diesen Trend ein und produzierten 1932 mit L UM- PENKAVALIERE einen Film mit dem Starduo in Deutschland, in dem sie sogar erstmals deutsch sprechen. 177 Mit D ER EWIGE T RAUM hat die Cine-Allianz Tonfilm GmbH 1933/ 34 einen Bergfilm realisiert und damit einen Erfolgstrend bedient, der seit Mitte der 1920er-Jahre von Filmen wie D IE WEISSE H ÖLLE VOM P IZ P ALÜ (Rang 2/ 1929-30) und B ERGE IN F LAMMEN (Rang 5/ 1931-32) bestimmt wurde. Mit den Filmen D IE SINGENDE S TADT (Rang 33/ 1930-31) und D AS L IED EI- NER N ACHT (1932), die vom polnischen Startenor Jan Kiepura getragen werden, ist es Pressburger und Rabinowitsch gelungen, den Erfolgstrend des Sängerfilms, der mit Richard Taubers I CH GLAUB ’ NIE MEHR AN EINE F RAU (uraufgeführt am 3. Februar 1930) eingeleitet wurde, aufzugreifen und nachhaltig zu beeinflussen: »Pressburger und Rabinowitsch schaffen mit Kiepura eine Filmgattung, die eine Visitenkarte deutscher Produktion in der Welt bedeutet.« 178 Selbst in den USA zeitigt der Kiepura-Erfolg Konsequenzen: »Denn dieser reizende Film [D AS LEUCHTENDE Z IEL / O NE N IGHT OF L OVE , USA 1934] ist ja nicht eine direkte Kopie, sondern vielmehr ein gelungenes Potpourri aller Cine-Allianz-Filme der Ufa, die dieses Genre der Musikfilme über die ganze Welt verbreitet haben.« 179 <?page no="134"?> 11. Filmproduzenten von europäischem Ruf (1930er-Jahre) 135 Erfolg der Produktionsphilosophie Um eine solche Produktionsphilosophie erfolgreich zu machen, bedurfte es nicht nur starker Produzentenpersönlichkeiten, sondern auch einer Struktur, bei der die Entscheidungsmacht in allen zentralen Fragen beim Produzenten und nicht beim Regisseur lag. Die Regisseure hatten bei Pressburger und Rabinowitsch einen kreativen Gestaltungsspielraum innerhalb des finanziellen und organisatorischen Rahmens, der ihnen von den Produzenten gesetzt wurde. Von daher wird verständlich, dass nicht Regiestars wie Fritz Lang, Friedrich Wilhelm Murnau oder Georg Wilhelm Pabst für Pressburger und Rabinowitsch gearbeitet haben, sondern Regisseure wie Carl Boese, Camine Gallone und Karl Hartl. Die Produzenten kontrollierten den Produktionsprozess von der Wahl des Stoffes bis zur Arbeit am Set. So entwickelte Rabinowitsch 1929 in einem Interview »Prinzipien, die mich bei der Auswahl des [Film-]Themas leiten.« 180 Während eines Interviews mit einem Journalisten erhielt Pressburger 1931 einen Anruf: »Tempelhof meldet, es warte mit den Nachtaufnahmen auf ihn.« 181 Bei ihrer gemeinsamen Arbeit im Rahmen der Cine-Allianz haben sie für solche Aufgaben am Set einen Produktionsleiter eingestellt; Fritz Klotzsch hat sein fachliches Profil in dieser Position ab 1932 bei der Cine-Allianz erworben. Beinahe schon ein Gemeinplatz in den Aussagen von Fachpublizisten und Kritikern ist, dass die Filme von Pressburger und Rabinowitsch in aller Regel ein großer Erfolg waren - und zwar über Ländergrenzen und politische Systeme hinweg. Die Cine Alliance von Rabinowitsch und Bloch »hat in den letzten Jahren die größten europäischen Filme: D ER K URIER DES Z AREN [1925] und C ASANOVA [1926/ 27] herausgebracht. [...] Alle diese Pläne erwiesen sich nicht nur als große künstlerische Leistungen, sondern waren von einem großen finanziellen Erfolge gekrönt«. 182 Die gemeinsame Arbeit bei der Cine-Allianz Tonfilm GmbH gilt als »hohe Klasse. [...] Cine-Allianz. Ein Name - nennt man die besten Filme dieser Spielzeit [1933/ 34], wird auch der seine genannt.« 183 Die Einschätzung der Fachjournalisten wird durch die Erfolgsranglisten der Filme bestätigt, in denen viele der Pressburgerbzw. Rabinowitsch-Filme vertreten sind: D ER K URIER DES Z AREN (Rabinowitsch, Rang 11/ 1926-27), C ASANOVA (Rabinowitsch, Rang 9/ 1927-28), D ER FRÖHLICHE W EINBERG (Pressburger, Rang 23/ 1927-28), G EHEIMNISSE DES O RIENTS (Rabinowitsch, Rang 13/ 1929- 30), D IE WUNDERBARE L ÜGE DER N INA P ETROWNA (Rabinowitsch, Rang 6/ 1929-30), D ER WEISSE T EUFEL (Rabinowitsch, Rang 15/ 1929-30), D REI T AGE M ITTELARREST (Pressburger, Rang 2/ 1930-31, der höchstplatzierte Film), D IE SINGENDE S TADT (Pressburger, Rang 33/ 1930-31), N IE WIEDER L IEBE (Rabinowitsch und Pressburger, Rang 39/ 1931-32) und I M G EHEIMDIENST (Rabinowitsch, Rang 45/ 1931-32). In Berlin waren Cine-Allianz-Filme überragende Erfolge: D AS <?page no="135"?> Fallstudien zum Wandel der Kino- und Fernsehkultur 136 L IED EINER N ACHT (Kiepura-Film Nr. 2 auf Rang 1/ 1932), E IN L IED FÜR D ICH (Kiepura-Film Nr. 3 auf Rang 1/ 1933), M EIN H ERZ RUFT NACH D IR (Kiepura- Film Nr. 4 auf Rang 5/ 1934) und M AZURKA (Rang 7/ 1935). Verglichen mit anderen Produktionsfirmen bzw. Produzenten war die Arbeit von Pressburger und Rabinowitsch kommerziell außerordentlich erfolgreich. So war die Cine-Allianz Tonfilm GmbH in den Jahren 1932 bis 1935 hinter der Ufa der zweitgrößte Devisenbringer im deutschen Filmgeschäft. Aufgrund dieser wirtschaftlichen Ergebnisse kann kein Zweifel daran bestehen, dass die Firmenphilosophie der Cine- Allianz erfolgreich umgesetzt wurde. Die Cine-Allianz der Nazis Pressburger und Rabinowitsch, die als Juden Mitte der 1930er-Jahre Deutschland wegen der Nazis verlassen mussten, hatten nicht nur eine auf künstlerischen und wirtschaftlichen Erfolg ausgerichtete Firmenphilosophie; ihre eigenen Namen sowie die ihrer Firmen waren Markennamen - weniger allerdings für das Publikum als für die Verleiher und Kinobesitzer. Die Leiter der Cine-Allianz Tonfilm GmbH galten als »Produzenten von europäischem Ruf. [...] Man braucht den beiden Trägern dieser Kombination: Arnold Pressburger und Dr. Gregor Rabinowitsch keine charakterisierenden Worte mitzugeben« 184 - was bedeutet, dass den Zeitgenossen klar war, dass und welche Produktionsphilosophie sich mit dem Firmennamen verband - eben die hier rekonstruierte. Als die Firma von Pressburger und Rabinowitsch auf Druck der Reichsfilmkammer 1935 in eine Liquidationsgesellschaft überführt wurde und zunächst als GmbH und 1941 dann als offene Handelsgesellschaft neu gegründet wurde, wurde der Markenname Cine-Allianz beibehalten. Wird nicht nur der Markenname beibehalten, sondern zudem die Produktionsphilosophie, war unter Umständen eine erfolgreiche Fortführung möglich. Folgt man der Fachpresse, so haben die neuen, von der Reichsfilmkammer eingesetzten »Ariseure« genau diese Geschäftspolitik betrieben. »Was die Filme dieser Firma [...] besonders auszeichnet, sind die unter dem Motto ›Unterhaltung von Qualität‹ ausgewählten Stoffe und die Besetzungen, bei denen auch für jede einzelne Nebenrolle der geeignetste Darsteller sorgsam ausgewählt und verpflichtet wird.« 185 Die Realisierung dieser bewährten Produktionsphilosophie sollte durch Kontinuität in der Personalpolitik garantiert werden. So war einer der beiden neuen Geschäftsführer bei der Cine-Allianz Tonfilm-Produktions-GmbH Fritz Koch, der bei der Cine-Allianz unter Pressburger und Rabinowitsch bereits Buchhalter war. Der andere Geschäftsführer, Felix Pfitzner, der seit Anfang der 1930er-Jahre Produzent bei der Cicero und der T. K. Tonfilm-Produktion GmbH gewesen war, hatte 1934 zusammen mit Pressburger und Rabinowitsch den Film I HR <?page no="136"?> 11. Filmproduzenten von europäischem Ruf (1930er-Jahre) 137 GRÖSSTER E RFOLG produziert. Als Produktionsleiter fungierte zunächst weiterhin Fritz Klotzsch, der sich unter Pressburger und Rabinowitsch einen Namen gemacht hatte, bis er bei der Tobis zum Leiter einer eigenen Herstellungsgruppe aufstieg, wo er u. a. für Propagandafilme wie O HM K RÜGER (1940/ 41) verantwortlich war. Ernst Garden übernahm seine Funktion bei der arisierten Cine-Allianz; er hatte in den 1920er-Jahren eine Karriere als Aufnahmeleiter gemacht, bevor er 1933 Produktionsleiter wurde (u. a. für D ER T UNNEL [1933] und V ARI- ETÉ [1934/ 35]). Der Erfolg der Firmenphilosophie unter der neuen Leitung ist nicht abschließend zu beurteilen, da wir über den Erfolg der Filme im Dritten Reich wenig wissen. Fest steht, dass A LLOTRIA (Rang 4/ 1936) in Berlin ein überragender Erfolg war. 186 Sicher ist zudem, dass W UNSCHKONZERT der erfolgreichste Film des Jahres 1941 war und bis 1942 26 Millionen Zuschauer anzog. 187 Hat Kapitel 8 gezeigt, dass in den 1930er-Jahren Zuschauer vor allem Filme aus dem eigenen Land favorisierten, so hat Kapitel 11 deutlich gemacht, wie Produzenten ihre Filme erfolgreich zu machen versuchten. Die Strategie der Produzenten Arnold Pressburger und Gregor Rabinowitsch beruhte darauf, Filme mit dem ständigen Blick auf die Vorlieben des Publikums mit großem technischen und kreativen Aufwand zu realisieren. Dass die Nationalsozialisten nach der Enteignung beider Produzenten den Markennamen ihrer Firma sowie ihre Produktionsphilosophie beibehalten haben, zeigt zudem, dass sie weiterhin erfolgreich Filme für das breite deutsche Publikum produzieren wollten - eine Strategie, die im folgenden Kapitel noch ausführlicher behandelt wird. <?page no="138"?> 139 12. Beginn der modernen Sportberichterstattung (1930er-Jahre) Als die Nationalsozialisten 1933 in Deutschland an die Macht kamen, nutzten sie das Medium Film zunehmend für ihre politischen Zwecke. 188 Der nationalsozialistische Staat änderte jedoch grundsätzlich nichts daran, dass Kinofilme durch die Kinoeinnahmen finanziert werden mussten. In diesem Kapitel wird untersucht, wie Leni Riefenstahl ihren Dokumentarfilm über die Olympischen Spiele 1936 in Berlin, O LYMPIA , so gestaltet hat, dass er die Chance hatte, auch in nicht-faschistischen Ländern zu einem überragenden kommerziellen Erfolg zu werden. Interessanterweise entwickelte Riefenstahl in dem vom nationalsozialistischen Staat vorgegebenen Rahmen eine Sportberichterstattung, die in vieler Hinsicht Standards weit über das Naziregime hinaus gesetzt hat. Auch heute noch greift die Sportberichterstattung über internationale Ereignisse wie die Olympischen Spiele oder die Fußballweltmeisterschaft auf ästhetische Praktiken zurück, die Riefenstahl erstmals in ihrem Film über die Olympischen Spiele 1936 entwickelt hat. Die Spiele der XI. Olympiade 1936 in Berlin waren ein Medienereignis: Erstmals wurden Olympische Spiele vom Rundfunk weltweit übertragen; 105 Reporter berichteten live. Aber nicht nur der Hörfunk, sondern auch das Fernsehen sendete erstmals live von den Spielen; die Bilder wurden in 28 öffentliche Fernsehstuben in Berlin, Potsdam und Leipzig übertragen, wo sie von 160.000 Zuschauern gesehen wurden. Der Film hatte in dieser Zeit jedoch über die Kinos, von denen es 1936 allein in Europa mehr als 33.000 gab, die mit Abstand größte Reichweite für bewegte Bilder. Der O LYMPIA -Film Wurde vor 1936 filmisch im Wesentlichen in Wochenschauen über Olympische Spiele berichtet, so entstand 1936 ein abendfüllender, zweiteiliger Dokumentarfilm. O LYMPIA war mit 2,8 Millionen Reichsmark elf Mal so teuer wie ein durchschnittlicher deutscher Spielfilm dieser Zeit. Mit einem großen personellen und logistischen Aufwand entstanden überwiegend während der 16 Tage der Spiele etwa 240 Stunden Film, aus denen in anderthalbjähriger Postproduktionszeit ein zweiteiliger Film mit einer Laufzeit von insgesamt 217 Minuten montiert wurde. O LYMPIA wurde von Leni Riefenstahl im Auftrag Adolf Hitlers inszeniert und von der Olympiade-Film GmbH produziert, die 1935 nur zu dem Zweck gegrün- <?page no="139"?> Fallstudien zum Wandel der Kino- und Fernsehkultur 140 det worden war, den nationalsozialistischen Staat als Auftrag- und Finanzgeber dieses Films nicht in Erscheinung treten zu lassen. Hitler ließ Riefenstahl die vollkommene künstlerische und organisatorische Kontrolle über ihren Film, die sie bereits bei den Dreharbeiten während der Spiele auch zur Selbstinszenierung als geniale Künstlerin nutzte. Auf ihren Vorschlag wurde O LYMPIA zu Hitlers Geburtstag im April 1938 in Berlin uraufgeführt; anschließend lief er mit der seinerzeit außergewöhnlich großen Zahl von fast 120 Kopien in ganz Deutschland. Riefenstahl hatte sich bei den Nazis mit drei Filmen über die Parteitage der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei (NSDAP) beliebt gemacht. Insbesondere mit dem Film T RIUMPH DES W ILLENS über den Parteitag der NSDAP 1934 in Nürnberg hatte sie der politischen Führung gezeigt, dass sie ein politisches Großereignis in deren Sinn filmisch effektvoll zu inszenieren wusste. Das International Olympic Committee (IOC) hatte bereits 1931 beschlossen, die Olympischen Spiele 1936 nach Deutschland zu vergeben. Die Nationalsozialisten, die 1933 an die Macht kamen, erließen vor 1936 mehr als 50 Gesetze, die die Juden aus dem öffentlichen Leben Deutschlands verbannten, bevor sie ab 1941 damit begannen, die europäischen Juden systematisch zu ermorden. Hitler erkannte in den Spielen eine einmalige Möglichkeit, »Devisen zu bekommen und unser Auslandsansehen zu erhöhen.« 189 Mit den Olympischen Spielen inszenierte sich das Deutsche Reich als ein weltoffenes und friedliches Land, in dem einige sogenannte halb-jüdische Sportler an den Spielen teilnehmen durften, und in dem für die Zeit der Spiele keine antijüdische Propaganda in der Öffentlichkeit präsent war. Der Romanist Victor Klemperer, der 1935 seinen Lehrstuhl an der Technischen Hochschule Dresden aufgrund seiner jüdischen Herkunft verloren hatte, notierte am 13. August 1936 in sein Tagebuch: »[D]ie silberne Fechtmedaille für Deutschland hat die Jüdin Helene Meyer gewonnen (ich weiß nicht, wo die größere Schamlosigkeit liegt, in ihrem Auftreten als Deutsche des Dritten Reiches oder darin, dass ihre Leistung für das Dritte Reich in Anspruch genommen wird). [...] Die Sprechchöre sind (für die Dauer der [Spiele der] Olympiade) verboten, Judenhetze, kriegerische Töne, alles Anrüchige ist aus den Zeitungen verschwunden, bis zum 16. August, und ebenso lange hängen überall Tag und Nacht die Hakenkreuzfahnen. In Englisch geschriebenen Artikeln werden ›Unsere Gäste‹ immer wieder darauf hingewiesen, wie friedlich und freudig es bei uns zugehe, während in Spanien ›kommunistische Horden‹ Raub und Totschlag begingen.« 190 Für die Nazis waren die Olympischen Spiele 1936 ein politisches Großereignis. Ein Film, der die nationalsozialistische Rassenideologie explizit transportiert, indem er die »arische Rasse« gegenüber anderen glorifiziert, hätte der beschriebenen <?page no="140"?> 12. Beginn der modernen Sportberichterstattung (1930er-Jahre) 141 Intention der Nazis widersprochen. Je mehr der O LYMPIA -Film Sportler aller Länder und Ethnien in einem freien und fairen Wettkampf untereinander zeigte, desto eher erfüllte er seine Propagandafunktion. Und je ästhetisch elaborierter dies gelang, desto eher wurde erreicht, das »neue Deutschland« als zivilisiert darzustellen und ihm kulturelle Anerkennung zu verschaffen. Der O LYMPIA -Film wurde in den USA und Großbritannien aus politischen Gründen boykottiert, nachdem Nazis am 9. November 1938 in der heute sogenannten »Reichspogromnacht« viele deutsche Juden ermordet, Synagogen zerstört und jüdische Geschäfte geplündert hatten. In den Ländern, in denen der Film lief, wurde er jedoch vom Publikum offenbar sehr positiv aufgenommen. In Berlin konnten sich 1938 der erste Teil des Films auf Rang 6 der Filmerfolgsrangliste und der zweite Teil auf Rang 15 platzieren. In Wien errang der erste Teil im selben Jahr Rang 13 und der zweite Rang 30. Der Film findet sich zwar nicht auf der 46 Filme umfassenden nationalen Erfolgsrangliste in Frankreich des Jahres 1938, wird aber von der Redaktion der Branchenzeitschrift La Cinématographie Française eigens als ausländischer Film mit guten Ergebnissen hervorgehoben. 191 In den Niederlanden gehörten beide Teile von O LYMPIA zu den erfolgreichsten 20 % der Filme des Jahres 1938. 192 Der O LYMPIA -Film war in Europa insgesamt kommerziell besonders erfolgreich, denn er spielte 1938 im Ausland mehr Geld ein als alle anderen deutschen Filme zusammengenommen. 193 Ästhetische Innovationen Was erklärt den internationalen Erfolg eines Films, der von den Nazis finanziert wurde und ein Ereignis inszenierte, das für die Nationalsozialisten von so großer politischer Bedeutung war? Hinsichtlich des Grundverständnisses, was als dokumentarisch gilt, unterscheidet sich O LYMPIA nicht von anderen Dokumentarfilmen der 1920er- und 1930er-Jahre. Wie Robert Flaherty mit seinen Filmen N A - NOOK OF THE N ORTH (1922) oder M AN OF A RAN (1934) ging es Riefenstahl nicht um distanzierte Beobachtung, sondern um einen kreativen Umgang mit der Wirklichkeit. Zu den Gestaltungsmitteln gehörten dabei u. a. die Inszenierung der Realität sowie die Nachsynchronisation des Tons. So verwendete Riefenstahl Trainingsaufnahmen für die Darstellung von Wettkämpfen, zu denen etwa Aufnahmen der Ruderer aus der Perspektive des Steuermannes gehören. Mit Ausnahme der Ansprache Hitlers, mit der er die Olympischen Spiele eröffnete, wurde der Film vollständig in den Berliner Tonstudios mit Geräuschen und Stimmen nachsynchronisiert. Zwei der bekanntesten deutschen Radioreporter ihrer Zeit, Paul Laven und Rolf Wernicke, kommentierten die sportlichen Ereignisse. Eine von Herbert Windt komponierte Musik, die sich klangästhetisch zwischen Spätromantik und frühem Expressionismus bewegt, dramatisierte die Ereignisse. <?page no="141"?> Fallstudien zum Wandel der Kino- und Fernsehkultur 142 Der Film ist formal in klar voneinander getrennte Segmente gegliedert. Die meisten Segmente führen Wettbewerbe der verschiedenen olympischen Disziplinen vor. Andere visualisieren Ideen wie die Herkunft der olympischen Idee im Prolog des ersten Teils oder die Schönheit sportlicher Höchstleistungen in der Apotheose des zweiten Teils. Der Film zeigt nicht alle 119 Wettkämpfe der 19 zugelassenen Sportarten, sondern trifft eine Auswahl. Diese beruht nicht darauf, die Länder hinsichtlich ihres Rangs im Medaillenspiegel zu repräsentieren. Deutschland war das erfolgreichste Land vor den USA, Ungarn, Italien, Finnland, Frankreich, Schweden, Japan, den Niederlanden und Großbritannien. Die Auswahl beruht darauf, die »klassischen« Disziplinen der verschiedenen Sportarten, wie den 100-Meter-Lauf der Männer, den Marathonlauf und den Zehnkampf, aber auch die Schönheit und Vollkommenheit trainierter Körper zu zeigen. In der Anordnung der Segmente folgt der Film nicht der Chronologie der Olympischen Spiele, sondern arrangiert die Wettbewerbe nach ästhetischen und dramaturgischen Gesichtspunkten. Die ästhetische Innovation des Films lässt sich erst beurteilen, wenn man sieht, wie vor O LYMPIA filmisch über Olympische Spiele berichtet wurde. Im Kino waren nur einzelne Wettkämpfe in vergleichsweise statischen Einstellungen zu sehen; es gab kein Schnittmaterial, mit dem man die Dramatik der Wettkämpfe visuell hätte veranschaulichen können. Dies hing unmittelbar damit zusammen, dass vor 1936 nur wenige Kameras zu Olympischen Spielen zugelassen wurden, deren Standorte zudem stark reglementiert waren. So waren laut dem offiziellen Bericht zu den Olympischen Spielen 1932 in Los Angeles nur vier Wochenschau- Firmen akkreditiert, die jeweils eine Kamera an einem vorher festgelegten Standort aufstellen durften. »Four News Reel concerns were permitted to have one motion picture camera each on the fields or platforms of the various Stadiums where competitions were being held. Inasmuch as most of the motion picture film was taken in sound, and the necessary equipment could not easily be moved from place to place, these pictures were mainly taken from fixed positions agreed upon in advance of the Games.« 194 Im Unterschied zum O LYMPIA -Film, der erst mehr als anderthalb Jahre nach dem Ende der Olympischen Spiele 1938 in die Kinos kam, informierten Wochenschauen in unmittelbarem zeitlichen Zusammenhang über das Ereignis. Auch 1936 waren Wochenschau-Firmen bei den Olympischen Spielen zugelassen, sodass Bilder der Wettkämpfe aktuell in den Kinos zu sehen waren. Die Wochenschau- Firmen, Ufa, Tobis-Melo und Fox, waren jedoch aufgrund einer Anweisung des Propagandaministeriums Riefenstahl unterstellt, die ihre eigenen Kameraleute beim Kampf um die besten Kamerastandpunkte bevorzugte. Andere Personen <?page no="142"?> 12. Beginn der modernen Sportberichterstattung (1930er-Jahre) 143 oder Firmen durften auf Anordnung des Propagandaministeriums keine Aufnahmen auf 35-mm-Film machen. Riefenstahl setzte alles daran, eine Vielzahl außergewöhnlicher Bilder der sportlichen Ereignisse zu erhalten. Zu diesem Zweck drehte sie fast alle Szenen stumm, verzichtete also auf schwer bewegliche Tonfilmkameras. Zudem ließ sie neue Techniken entwickeln, wie eine auf Schienen laufende Kamera, um die Bewegung der Sportler parallel verfolgen zu können, eine winzige Handkamera, die Aufnahmen aus der Perspektive der Läufer während des Trainings ermöglichte, und ein extremes Teleobjektiv, um Sportler und Zuschauer unbemerkt beobachten zu können. Darüber hinaus wählte sie eine Vielzahl unterschiedlicher Kamerastandorte, die sie sich oft regelrecht gegenüber dem IOC und dem nationalen Organisationskomitee der Olympischen Spiele erstritt. Riefenstahl benutzte Stahltürme, Kräne, Fesselballons, Zeppeline und ließ Gruben ausheben, um aus Oberbzw. Untersicht filmen zu können. Nicht zuletzt arbeitete sie mit außergewöhnlich vielen Kameraleuten. So beschäftigte sie sechs Chefkameraleute und zumindest 38 weitere Kameraleute, die namentlich bekannt sind. Die Chefkameraleute waren Hans Ertl, Walter Frentz, Guzzi Lantschner, Kurt Neubert, Hans Scheib und Willy Zielke. Riefenstahl perfektionierte die Aufnahmetechnik darüber hinaus, indem sie ihren Chefkameraleuten spezialisierte Aufgaben überließ. Ertl war der Spezialist für Unterwasseraufnahmen, Frentz und Lantschner arbeiteten bevorzugt mit der Handkamera (u. a. beim Marathonlauf und beim Ruderwettbewerb), Neubert machte Zeitlupenaufnahmen und Scheib vor allem Teleaufnahmen. Zielke drehte und montierte den Prolog. So gelangen Riefenstahl 1936 nie zuvor gesehene Bilder der olympischen Wettkämpfe - Bilder, deren Art heute in der Fernsehberichterstattung selbstverständlich ist. So sieht man Gesichter der Sportler vor dem Wettkampf, Nahaufnahmen der Wettkämpfe selbst, Kamerafahrten parallel zu den Läufern, Kreisfahrten um Diskuswerfer beim Abwurf ihres Diskus, Unterwasseraufnahmen der ins Wasser eintauchenden Turmspringer, Bilder des begeisterten Publikums und Totalen des Stadions aus großer Höhe. So außergewöhnlich diese Bilder damals auch waren, sie bildeten nur das Material für die eigentliche ästhetische Innovation des O LYMPIA -Films: Riefenstahl ließ die Filmzuschauer an der Dramatik der Wettkämpfe teilnehmen - was vorher nur im Stadion selbst möglich war. War die filmische Berichterstattung über Olympische Spiele bisher im Wesentlichen ergebnisbetont, so war Riefenstahls Dramaturgie prozessorientiert. Auch wenn der Ausgang der Wettkämpfe schon bekannt war, wurde dem Zuschauer so die Chance gegeben, emotional an den Ereignissen teilzunehmen. Zu diesem Zweck übertrug Riefenstahl aus Spielfilmen bekannte narrative Strategien, um Sportler zu individualisieren und eine Spannung aufzubauen, wer gewinnen wird. Der 100-Meter-Lauf ist hierfür ein Beispiel: Es werden <?page no="143"?> Fallstudien zum Wandel der Kino- und Fernsehkultur 144 drei Ausscheidungsläufe sowie der Endlauf gezeigt. Gleich zu Beginn wird die Spannung dadurch aufgebaut, dass der Kommentator darauf hinweist, dass »Amerikas schnellster Läufer Jesse Owens« am Start ist. Die Dramatik der Ereignisse wird darüber vermittelt, dass wir Bilder der nervösen und sich konzentrierenden Läufer vor dem Start sehen, deren Namen und Nationalitäten genannt werden. Wir sehen die Phase des Starts, den Startschussgeber, die einzelnen Läufer am Start, den Lauf selbst, aber auch Misserfolge wie einen Fehlstart oder einen Vorlauf, in dem Jesse Owens einen Weltrekord läuft, der dann aber wegen Rückenwinds nicht anerkannt wurde. Riefenstahl dramatisierte nicht nur die sportlichen Wettkämpfe, sondern idealisierte die Olympischen Spiele zu einem F EST DER V ÖLKER und einem F EST DER S CHÖNHEIT , wie die deutschen Untertitel der beiden Teile des Films bereits ankündigen. Im Unterschied zu Spielfilmen des Dritten Reichs sind in Dokumentarfilmen wie O LYMPIA Hakenkreuzfahnen, die Repräsentanten des Regimes, insbesondere Hitler, zu sehen, und Deutsche, die ihren Arm zum Hitlergruß ausstrecken. Ganz im Unterschied zu Riefenstahls T RIUMPH DES W ILLENS , wo Hitler als diesseitiger Erlöser inszeniert wird, erscheint er in der deutschen Version ihres O LYMPIA -Films überwiegend als Mensch, der seinen Gefühlen freien Lauf lässt. Hitler ist als lockerer, sportbegeisterter Fan zu sehen, der sich über die Erfolge der deutschen Sportler freut und über ihre Misserfolge enttäuscht ist - ein Hitlerbild, das nicht »Übermensch«, sondern »Mitmensch« konnotiert. Die italienische Version, die ausschließlich für das faschistische Italien bestimmt war, inszeniert Hitler dagegen nicht als Sportsfan, sondern als Staatsmann. Einige Sequenzen inszenieren nicht den Wettkampf der Sportler und Nationen, sondern zeigen die Gemeinsamkeiten der Athleten, so zum Beispiel das Morgentraining zu Beginn oder die Apotheose zum Schluss des zweiten Teils. Die Apotheose zeigt das Turmspringen, ohne dass es eine Rolle spielt, wer aus welcher Nation und mit welchem Erfolg gegen wen antritt. Die Turmspringer scheinen jede Erdanziehungskraft zu verlieren, wenn ihre Sprünge zu einem reinen Bewegungsbild im Sinn des abstrakten Films komponiert werden. Solche Bilder zeigen nicht Wettkämpfe, sondern die Eleganz sportlicher Höchstleitungen. Riefenstahls Bilder der athletischen, muskulös-kraftvollen männlichen Körper mögen faschistisch sein, auch wenn sie schon vor dem Dritten Reich und weit darüber hinaus verbreitet waren. Während die beschriebenen Innovationen Riefenstahls, wie die außergewöhnlichen Kameraeinstellungen sowie die der Spielfilmästhetik entliehene Dramaturgie, die filmische Sportberichterstattung international nachhaltig beeinflussten, so galt dies nicht für ihr am abstrakten Film orientiertes Konzept der Körperbilder. <?page no="144"?> 12. Beginn der modernen Sportberichterstattung (1930er-Jahre) 145 Kulturelle Differenzierung durch Versionen Um den Erfolg des Films in möglichst vielen Ländern zu sichern, ließ Riefenstahl mehrere Sprachversionen des O LYMPIA -Films produzieren, mit denen sie die Darstellung der Olympischen Spiele nationalisierte. So entstanden neben der deutschen eine französische, eine angloamerikanische und eine italienische Version, die als Einzige nicht in Berlin, sondern in Cinecittà bei Rom realisiert wurde. Die deutsche Version wurde nicht nur in den deutschsprachigen Ländern eingesetzt, sondern darüber hinaus auch in Drittländer exportiert, in denen keine der Sprachen, in denen der O LYMPIA -Film gedreht wurde, gesprochen wurde. Die Reporter in der deutschen, französischen, italienischen und englischen Version des Films O LYMPIA (v. l. n. r.) (DVD-Prints) Riefenstahl übernahm das Verfahren der Versionenproduktion aus dem Spielfilmbereich, wo es - wie in Kapitel 10 erläutert - nach der Einführung des Tonfilms in den bevölkerungsstarken Ländern eingesetzt wurde, um fremdsprachige Filme zu übersetzen und zugleich kulturell zu adaptieren. Wie in Spielfilmen, die in mehreren Versionen gedreht wurden, in aller Regel die Stars ausgewechselt wurden, so wurden in den Sprachversionen des O LYMPIA -Films die beliebten deutschen Radioreporter durch bekannte Radiogrößen der jeweiligen Zielländer ersetzt. Indem sie als Kommentatoren, die im Berliner Olympiastadion selbst anwesend waren, im Film immer wieder gezeigt werden, authentifizieren sie die jeweilige nationale Berichterstattung. Die Versionen des O LYMPIA -Films verwenden in großen Teilen dasselbe Ausgangsmaterial, ersetzen oder ergänzen dieses jedoch immer wieder durch weitere Bilder. Für Wochenschaubilder der Olympischen Spiele wurde das Filmmaterial zwar immer schon entsprechend den Bedürfnissen der nationalen Publika selektiert: So berichteten französische Wochenschauen stärker über französische und deutsche Wochenschauen mehr über deutsche Sportler. Während jedoch zuvor Produktionsfirmen einzelner Länder entsprechend der Nachfrage ihres Publikums <?page no="145"?> Fallstudien zum Wandel der Kino- und Fernsehkultur 146 über internationale Sportereignisse getrennt voneinander berichtet hatten, lag bei Riefenstahl die Kontrolle über die Produktion aller Versionen in einer Hand. Die Versionen des O LYMPIA -Films zeigen zum Teil andere Sportereignisse oder die gleichen Sportereignisse auf andere Weise. Wettbewerbe, die von den Sportlern eines Landes gewonnen wurden, werden bevorzugt in der jeweiligen Sprachversion präsentiert. So wurde bei der Segelregatta die 8-m-R-Klasse, die das italienische Boot für sich entschied, in der italienischen, nicht aber in der deutschen Version gezeigt. Ebenso sieht man die Endrunde der Florettkämpfe der Männer zwischen dem Italiener Giulio Gaudini und dem Franzosen Edouard Gardère, die der Italiener gewann, in der italienischen, nicht aber in der deutschen Version. Die angloamerikanische Version zeigt das Fechten gar nicht, da in keinem der Wettbewerbe Briten oder Amerikaner eine Medaille gewannen. Sportarten, die in einzelnen Ländern bevorzugt wurden, erschienen nur in der entsprechenden Sprachversion - Ringkämpfe im griechisch-römischen Stil sind in der italienischen Version, nicht aber der deutschen oder angloamerikanischen zu sehen. Sportler des eigenen Landes, die keine Medaille gewonnen haben, wurden oft nur dem jeweiligen nationalen Publikum vorgeführt. Die Nationalisierung der Olympischen Spiele ging jedoch in keiner Version so weit, dass die Internationalität der Spiele in Frage gestellt wurde. Im Gegenteil: Die jeweilige nationale Version stellt zwar die eigenen Sportler stärker heraus als die anderen Versionen - sie alle präsentieren jedoch die beiden US-Amerikaner Jesse Owens und Glenn Morris als die eigentlichen Stars der Spiele, die mehr Medaillen gewannen als alle anderen. Owens und Morris Inszenierung als Stars zeigt sich exemplarisch am 100-Meter-Lauf und am Zehnkampf. In Bezug auf den 100-Meter-Lauf selektierte Riefenstahl aus 19 Läufen vier, darunter alle drei Läufe mit dem Afroamerikaner Owens, der die Goldmedaille gewann. Sie zeigt die Läufe nicht in chronologischer Reihenfolge, sondern so, dass man den Eindruck gewinnt, Owens habe sich von Lauf zu Lauf gesteigert. Owens wird nicht nur gleich zu Beginn verbal als Favorit adressiert, er wird auch während aller Läufe wie kein anderer durch Nahaufnahmen als Star ins Bild gesetzt. Riefenstahl zeigt als einzigen Lauf ohne Owens den vierten Lauf der zweiten Vorlaufserie, in dem sich der Deutsche Erich Borchmeyer qualifiziert hat, der auch im Endlauf antrat und Fünfter wurde (was der Film nicht erwähnt). Der Zehnkampf, den Glenn Morris für sich entschied, wird als ein dramatischer Aufholkampf inszeniert, bei dem sich letztlich Morris gegen seine beiden Landsleute Bob Clark und Jack Parker durchsetzen konnte. Im Unterschied zum Film, der keineswegs von rassistischen Kommentaren frei ist, stilisierte eine deutsche Rundfunkreportage den 100- Meter-Lauf zu einem Kampf der Rassen (Weiße gegen Schwarze) und Welten (Europa gegen USA), den - dies konnotiert die Reportage - »leider« nicht das »weiße Europa«, sondern das »schwarze Amerika« gewonnen hat. 195 <?page no="146"?> 12. Beginn der modernen Sportberichterstattung (1930er-Jahre) 147 Wie erfolgreich die internationale Vermarktungsstrategie der Versionenproduktion bei O LYMPIA war, lässt sich - über die Platzierung des Films auf Erfolgsranglisten verschiedener Länder hinaus - anhand der Reaktion des luxemburgischen Kritikers Evy Friedrich erahnen, der sich zunächst über den zweiten Teil der deutschen Version im Escher Tageblatt am 17. 6. 1938 heftig beklagt: »[V]erschiedene Sportarten fehlen ganz, darunter Radfahren, Ringen und Schwerathletik. Das fällt umso unangenehmer auf, als so Frankreich überhaupt keine Möglichkeit gegeben wird, auf seine olympischen Siege hinzuweisen. Wir müssen daher heute eben das feststellen, was wir vor einer Woche, nach dem ersten Teil, nicht glaubten feststellen zu müssen, nämlich, daß eine Tendenz in den O LYMPIA -Film eingeschmuggelt wurde, eine klar darauf hinzielende Tendenz, Deutschland wieder mal als das beste und stärkste Land wenigstens Europas hinzustellen.« 196 Einen Monat später, am 15. 7. 1938, revidiert Friedrich sein Urteil: »Vor einiger Zeit haben wir hier feststellen können, daß in den beiden O LYMPIA -Filmen alle jene Wettkämpfe fehlten, bei denen Franzosen siegreich waren und olympische Titel erringen konnten. Das war für die deutsche Originalfassung. Nun wurde, zuerst in Brüssel, dann auch in Paris, die französische Fassung, die unter dem Titel L ES DIEUX DU STADE läuft, aufgeführt. Und siehe: in dieser, nicht für Deutschland bestimmten, Fassung sind alle Wettbewerbe enthalten, in denen Franzosen siegten.« 197 Friedrich empfiehlt den luxemburgischen Kinobesitzern daher, den Film nur in der französischen Version zu programmieren. Das 12. Kapitel hat gezeigt, dass Riefenstahls O LYMPIA Propaganda auf eine Weise betrieben hat, deren Intelligenz bisher unterschätzt wurde. So ist die Suche nach der Repräsentation nationalsozialistischer Ideologie im O LYMPIA -Film zwar durchaus legitim, geht jedoch an der eigentlichen Funktion des Films vorbei. Unabhängig davon, wie man Riefenstahls Körperbilder beurteilen mag, die primäre Propagandafunktion des Films bestand darin, »Devisen zu bekommen und unser Auslandsansehen zu erhöhen« (wie Hitler es formulierte). Um das zu erreichen, arbeitete Riefenstahl mit zwei Strategien, die sie dem Spielfilmbereich entliehen hatte. Zum einen entwickelte sie eine gemessen an der bisherigen filmischen Berichterstattung über Olympische Spiele innovative Ästhetik, die den Zuschauer an der Dramatik der Sportwettkämpfe emotional teilnehmen ließ, und zum anderen stellte sie für mehrere Länder kulturell adaptierte Versionen des Films her, die die Darstellung der Olympischen Spiele nationalisierten, ohne jedoch ihren Charakter als fairen Wettkampf der Nationen in Frage zu stellen. Damit ist es Riefen- <?page no="147"?> Fallstudien zum Wandel der Kino- und Fernsehkultur 148 stahl gelungen, Standards der Sportberichterstattung zu schaffen, ohne die heute keine Berichterstattung über internationale Sportereignisse denkbar ist. <?page no="148"?> 149 13. Juden spielen Nazis in Hollywood (1940er-Jahre) Dieses Kapitel handelt von deutschsprachigen Schauspielern, die von den Nationalsozialisten ins Exil gezwungen wurden. 198 Die Nazis brachten die Filmwirtschaft ab 1933 durch eine Reihe von Maßnahmen unter ihre Kontrolle, zu denen die Verstaatlichung der Produktions- und Verleihfirmen ebenso gehörte wie ein Berufsverbot für Juden, bevor sie ab 1941 damit begannen, sie in Konzentrationslagern wie Auschwitz, Sobibor oder Treblinka systematisch zu ermorden. Viele der jüdischen Schauspieler, denen die Flucht vor den Nazis gelungen war, kamen nach Hollywood, wo sie Nazis in Anti-Nazi-Filmen spielten, »als Darsteller der Bestialität, deren Opfer man geworden ist«, 199 wie es der österreichische Schriftsteller Alfred Polgar 1942 formuliert hat. Welche Probleme und Chancen hatten die exilierten deutschsprachigen Schauspieler in Hollywood und was hat es für sie bedeutet, Nazis zu spielen? Die Sammlung Kohner Um diese Fragen zu beantworten, habe ich den Schriftwechsel einer ausgewählten Gruppe von Schauspielern, die in Hollywood Nazis gespielt haben, mit ihrem Agenten Paul Kohner untersucht. 200 Darüber hinaus habe ich auch Interviews verwendet, die Filminteressierte mit diesen Schauspielern nach dem Ende der Nazi-Diktatur geführt haben. Vor allem dort haben sie darüber Auskunft gegeben, was es für sie als Juden bedeutet hat, Nazis zu spielen. Paul Kohner war in den Vereinigten Staaten der 1940er-Jahre der wichtigste Agent für exilierte deutschsprachige Schauspieler. Er wurde 1902 in Österreich- Ungarn geboren und kam bereits 1921 auf Einladung von Carl Laemmle, dem Leiter der Universal, in die Vereinigten Staaten. Kohner wurde dort zunächst Leiter der neu gegründeten Abteilung für Exportmarketing und stieg dann zum Leiter der Deutschen Universal auf, die in den Jahren 1928 bis 1934 in Berlin Filme für die deutschsprachigen Märkte produziert hat. 201 Nach einer zeitweisen Tätigkeit für MGM und Columbia machte sich Kohner schließlich 1938 als Agent selbstständig, der seine Klienten - Schauspieler, Drehbuchautoren, Regisseure - an die großen Filmfirmen Hollywoods vermittelte. In aller Regel bemühten sich Schauspieler darum, bei Kohner unter Vertrag zu stehen; selten ging, wie bei Sig Ruman, die Initiative von Kohner aus. 202 Auf Veranlassung von Gero Gandert hat das Berliner Filmmuseum alle noch vorhandenen Akten der Agentur gekauft, nachdem Kohner 1988 gestorben war. Die sogenannte »Sammlung Paul Kohner« enthält rund 155.000 Seiten mit Kor- <?page no="149"?> Fallstudien zum Wandel der Kino- und Fernsehkultur 150 respondenz, Verträgen u. dgl. 203 Der Schriftverkehr ist zweisprachig: Der größte Teil ist in Englisch verfasst, nicht wenige Briefe sind jedoch deutschsprachig. Nutzt man die Kohner-Akten für die Forschung, muss man berücksichtigen, dass nicht alle Dokumente überliefert sind. Eine Reihe von Schriftstücken wurde durch Wasserschaden zerstört; andere waren bereits verkauft, bevor das Berliner Filmmuseum den verbliebenen Gesamtbestand übernahm. Zudem hat Kohner seine Kommunikation keineswegs nur schriftlich erledigt. Von seinen Telefonaten bzw. seinen persönlichen Gesprächen gibt es jedoch kaum schriftliche Spuren. Bei allen berechtigten Einwänden ist jedoch die »Sammlung Paul Kohner«, die hier erstmals systematisch für eine Forschung zum Filmexil benutzt wird, eine einmalige und valide Quelle, um deutschsprachige Filmschaffende in den Vereinigten Staaten im Exil zu erforschen. Auf der Basis meiner eigenen Filmkenntnisse sowie einer Reihe schriftlicher Quellen 204 habe ich eine Zufallsstichprobe männlicher Schauspieler gezogen, die repräsentativ für deutschsprachige Schauspieler sein dürfte, die Nazis in Anti- Nazi-Filmen gespielt haben. Die Stichprobe umfasst 15 Schauspieler: Rudolph Anders (auch bekannt als Rudolf Amendt, Rudolph Amendt, Rudolf Anders, Robert O. Davies, Robert O. Davis, Robert Davis), Ludwig Donath (auch bekannt als Louis Donath), Carl Esmond (auch bekannt als Willy Eichberger, Charles Esmond), Arno Frey, Frederick Giermann (auch bekannt als Fred Gehrmann, Fred Giermann, Frederick Gierman), Oskar Homolka (auch Oscar Homolka geschrieben), Hans von Morhart, Otto Reichow, Sig Ruman (auch bekannt als Siegfried Rumann, Sig Rumann), Hans Schumm, Reinhold Schünzel, Tonio Selwart, Walter Slezak, Ludwig Stössel (auch Stossel geschrieben) and Wolfgang Zilzer (auch bekannt als John Voight, Paul Andor). Da so gut wie jeder deutschsprachige Schauspieler, der während des Zweiten Weltkriegs in Hollywood gearbeitet hat, auch Nazis gespielt hat, dürfte das Sample sogar für alle deutschsprachigen Schauspieler repräsentativ sein, die in den 1940er-Jahren in Hollywood gearbeitet haben. Die »Sammlung Paul Kohner« enthält zu allen genannten Schauspielern Akten mit der Ausnahme von Anders, Frey, Giermann und Reichow. Nur zwei der verbleibenden elf Schauspieler, Sig Ruman und Walter Slezak, hatten keinen Vertrag mit Kohner. Demnach standen neun von 15 oder 60 % der Schauspieler meines Samples bei Kohner unter Vertrag, was noch einmal die herausragende Stellung Kohners als Arbeitsvermittler deutschsprachiger Filmkünstler unterstreicht. Mein Sample erweist sich keineswegs als in jeder Beziehung einheitlich. Obwohl alle ausgewählten Schauspieler deutschsprachig waren, so waren weder alle Juden noch Exilierte oder Deutsche. Von allen 15 Schauspielern des Samples wurden neun in Deutschland geboren (Anders, Frey, Giermann, von Morhart, Reichow, Ruman, Schumm, Schünzel, Selwart), fünf in Österreich (Donath, Esmond, Homolka, Slezak, Stössel) und einer in den Vereinigten Staaten (Zilzer <?page no="150"?> 13. Juden spielen Nazis in Hollywood (1940er-Jahre) 151 wurde als Kind deutscher Eltern in den USA geboren, wuchs aber in Deutschland auf). Nicht alle Schauspieler meines Samples verließen ihre Heimat erst aufgrund der Nazis. Anders, Esmond, Frey, Ruman, Schumm und Slezak gingen aus beruflichen bzw. wirtschaftlichen Motiven in die Vereinigten Staaten, bevor die Nazis in Deutschland an die Macht kamen. Auf einer Liste Exilierter deutscher Filmschaffender, die Günter Peter Straschek 205 zusammengestellt hat, finden sich neun Schauspieler meines Samples: Donath, Esmond, Giermann, Homolka, Reichow, Schünzel, Selwart, Stössel und Zilzer. Allerdings ist diese Liste nicht in jeder Beziehung zuverlässig. Zum Beispiel hat Esmond selbst gesagt, er habe Österreich 1933 freiwillig verlassen, weil er es vorgezogen habe, in Großbritannien und später in Hollywood zu arbeiten. 206 Der ganz überwiegende Teil aller deutschen und österreichischen Schauspieler, die ins Exil gingen, mussten ihre Länder verlassen, weil sie von den Nazis als Juden verfolgt wurden. Folgt man Strascheks Analyse, so verließen 95 % der Filmschaffenden das Land, weil sie von den Nazis als Juden verfolgt wurden. 207 Die antisemitische Nazipolitik definierte einen Juden - unabhängig vom eigenen Selbstverständnis - in Bezug auf die Abstammung von Eltern bzw. Großeltern. 208 In Selbstzeugnissen versteht sich Slezak selbst nicht als Jude; er wäre aber 1938 nach der Annexion Österreichs von den Nazis als Jude verfolgt worden, wäre er nicht rechtzeitig emigriert, weil seine Mutter Jüdin war. 209 Bezeichne ich in diesem Kapitel einen Schauspieler als »jüdisch«, beziehe ich mich darauf, dass die Nazis ihn im Rahmen ihrer Ideologie als Juden verfolgt haben oder ihn als Juden verfolgt hätten, wenn er noch in Deutschland gelebt hätte. Going to Hollywood Als die Nazis im Januar 1933 die Macht in Deutschland übernahmen, erließen sie innerhalb weniger Wochen Gesetze, die es Juden verboten, in der Filmwirtschaft zu arbeiten. Als Konsequenz flohen mehr als 2.000 Filmschaffende in die Nachbarländer und in die Vereinigten Staaten von Amerika. Die meisten Flüchtlinge suchten zunächst eine Beschäftigung in den Nachbarländern Österreich, den Niederlanden, Ungarn, Frankreich und Großbritannien, bevor sie in die Vereinigten Staaten flohen, um in Hollywood Arbeit zu finden. Dies trifft auf fünf von sieben Schauspielern meines Samples zu: Donath ging zunächst nach Österreich, 1938 dann in die Schweiz, 1939 nach Großbritannien, bevor er 1940 in den Vereinigten Staaten ankam. Homolka ging 1935 zunächst nach Großbritannien, bevor er 1937 in Hollywood eintraf. Reichow reiste 1936 nach Frankreich, bevor er 1937 in die Vereinigten Staaten emigrierte. Stössel ging 1933 zunächst nach Österreich, 1938 dann nach Großbritannien und ein Jahr spä- <?page no="151"?> Fallstudien zum Wandel der Kino- und Fernsehkultur 152 ter in die Vereinigten Staaten. Zilzer setzte sich zunächst 1933 nach Frankreich ab und kehrte 1935 noch einmal nach Deutschland zurück, bevor er 1937 in die Vereinigten Staaten ging. Nur zwei Schauspieler meines Samples reisten direkt in die Vereinigten Staaten, Selwart 1933 und Schünzel 1937. Österreich war für die deutschen Schauspieler nicht nur deshalb ein vorübergehender Aufenthaltsort, weil es 1938 von Deutschland annektiert wurde, sondern auch, weil es vom größeren deutschen Markt abhängig war, die Nazis aber keine Filme mit jüdischen Schauspielern akzeptierten. Frankreich und Großbritannien waren für deutschsprachige Filmschaffende die beiden wichtigsten europäischen Exilländer, weil sie über hinreichend große Märkte verfügten, um ihre Filme amortisieren zu können. 210 Trotzdem waren auch diese Länder für die deutschsprachigen Filmschaffenden in der Regel nur Zwischenstationen, weil sie absolut gesehen nicht groß genug waren, um alle Exilanten aufnehmen zu können und weil der Einfluss der Nazis sich zunehmend auf die Nachbarländer ausdehnte. So besetzte das nationalsozialistische Deutschland 1940 die Niederlande und große Teile Frankreichs. Deutsche Filmschaffende wie Kurt Gerron und Otto Wallburg, die noch 1938 in den Niederlanden Walt Disneys S NOW W HITE AND THE S EVEN D WARFS deutsch synchronisiert hatten, wurden nach der Annexion der Niederlande von den Nazis gefasst und im Konzentrationslager Auschwitz vergast. Die Vereinigten Staaten von Amerika waren aus verschiedenen Gründen der beliebteste Zufluchtsort für deutschsprachige Filmschaffende. Die US-Filmwirtschaft, die maßgeblich von acht großen Filmgesellschaften getragen wurde, war die größte der westlichen Welt und produzierte Hunderte von Filmen pro Jahr - in den 1940er-Jahren allein knapp 5.000 Spielfilme. Um US-Filme für das eigene Publikum, das seine Wurzeln überwiegend in Europa hatte, aber auch in Europa selbst attraktiver zu machen, hat Hollywood immer schon in Europa nach kreativen Talenten gesucht. Paul Kohners Agentur konnte diese Nachfrage nach kreativen Filmkräften aus Europa bedienen. Die Vereinigten Staaten waren für deutschsprachige Filmschaffende in mehrfacher Hinsicht attraktiv. Deutsche und österreichische Exilierte hatten in aller Regel kein Problem, Einreisevisa für die Vereinigten Staaten zu bekommen, wenn sie ein Arbeitsangebot einer US-Filmfirma hatten. In Europa war dagegen eine staatliche Arbeitserlaubnis die Voraussetzung dafür, einen Arbeitsvertrag abschließen zu können. Darüber hinaus waren viele deutsche Filmschaffende mit amerikanischen Produktionsmethoden vertraut, da die größte deutsche Filmfirma, die Ufa, bereits 1927 ähnliche Produktionsmethoden eingeführt hatte. Zudem hatten sie in den Vereinigten Staaten Anlaufstellen, da viele deutschsprachige Kollegen wie zum Beispiel der Agent Paul Kohner, der Regisseur Ernst Lubitsch oder der Firmenchef Carl Laemmle bereits dort erfolgreich arbeiteten. Nicht zuletzt waren <?page no="152"?> 13. Juden spielen Nazis in Hollywood (1940er-Jahre) 153 die Vereinigten Staaten für die deutschsprachigen Filmschaffenden geografisch betrachtet der sicherste Ort der westlichen Welt, um dem Zugriff der Nazis zu entgehen. 211 Produzenten, Regisseure, Kameraleute und Musiker hatten in aller Regel kein Problem, vor ihrer Einreise einen Arbeitsvertrag zu bekommen. Kohner verhandelte jedoch nicht nur für viele Filmschaffende, sondern auch für etliche bekannte deutschsprachige Schriftsteller wie Alfred Döblin, Heinrich Mann und Alfred Polgar Verträge mit Filmfirmen aus, die es ihnen ermöglichten, in die Vereinigten Staaten einzureisen. Seine Initiativen ermöglichten etwa 450 deutschen bzw. österreichischen Filmschaffenden, nach Hollywood zu kommen. Für Schauspieler war es dagegen beinahe unmöglich, vor der Einreise einen Vertrag mit einer US-Filmfirma zu erhalten. Im August 1938 hat Kohners Mitarbeiter Fritz Keller dieses Problem Ludwig Stössel, der sich zu dieser Zeit noch in der Schweiz aufhielt, so beschrieben: »Dr. Otto Preminger forwarded to me your letter of July 23rd, and although I know the situation in Europe very well, and am most anxious to do everything possible for my old friends in Europe, I have to tell you it is utterly impossible to do anything for you here in Hollywood as long as you are not here personally. Please don’t tell me that all the big studios here in Hollywood would be able to judge your capabilities, by screening one of your pictures which you made in Europe. These gentlemen here simply don’t listen. They want to see the person; they want to talk to him and want to have the impression from the living personality. They will not judge from - what they consider beforehand as being - a bad picture and badly directed, because it was made in Europe. You know that I estimate your qualities as a fine actor, very highly, and I would like very much to do something for you, but unfortunately as explained above, I am not in a position to do anything as long as you are not here.« 212 Ohne einen Arbeitsvertrag mussten Flüchtlinge eine eidesstattliche Erklärung vorweisen, mit der der Unterzeichnete für alle Kosten bürgte, sollte der Flüchtling selbst nicht genug verdienen, um seinen Lebensunterhalt zu bestreiten. Kohner gründete daher 1938 den European Film Fund, um Filmschaffenden die Einreise in die Vereinigten Staaten zu ermöglichen und sie vor Ort finanziell zu unterstützen. 213 Beschäftigungsmöglichkeiten für deutschsprachige Filmschaffende Im Unterschied zu deutschsprachigen Schriftstellern, die auch im Exil für deutschsprachige Leser schrieben, auch wenn ihre Bücher nicht mehr in Deutschland bzw. Österreich veröffentlicht wurden, machten exilierte deutschsprachige Film- <?page no="153"?> Fallstudien zum Wandel der Kino- und Fernsehkultur 154 schaffende keine Filme für ein deutschsprachiges Publikum. Sie machten vielmehr Filme für die Zuschauer ihres jeweiligen Gastlandes bzw. für die Zuschauer der Länder, die noch außerhalb des Einflussbereichs der Nazis waren. Für viele exilierte Filmschaffende war die Sprache des jeweiligen Gastlandes ein großes Problem. Lotte Palfi Andor hat dies im Nachhinein so erklärt: »Also auf nach Amerika! Ich hatte die Illusion, daß ich dort wieder Schauspielerin werden könnte. Denn, so sagte ich mir, Amerika ist ein ›Schmelztiegel‹. So viele verschiedene Nationalitäten kommen dort zusammen und sprechen verschiedenes Englisch, daß mein deutscher Akzent kein Hindernis sein wird. Nie habe ich mich ärger getäuscht.« 214 Im Unterschied zu anderen Berufsgruppen wie Produzenten, Regisseuren oder Kameraleuten waren die Anforderungen an die Sprachkompetenz für Schauspieler deutlich höher, da ihre Sprechweise vom Publikum akzeptiert werden musste. Die meisten exilierten deutschsprachigen Schauspieler sprachen Englisch jedoch nur mit einem deutlichen Akzent; andere konnten gar kein Englisch. Albert Bassermann soll sich sogar geweigert haben, überhaupt Englisch zu lernen. Für seinen ersten englischsprachigen Film, D R . E HRLICH ’ S M AGIC B ULLET (1940), musste er seinen Text lernen »by rote, rehearsing phonetically.« 215 Aufgrund ihres Akzents waren deutschsprachige Schauspieler nicht für alle Rollen geeignet. Selbst die erfolgreichsten bzw. anerkanntesten Schauspieler und Schauspielerinnen wie Marlene Dietrich, Luise Rainer und Paul Henreid spielten in der Regel Ausländer - nicht notwendigerweise Deutsche oder Österreicher, sondern alle möglichen Europäer (Henreid etwa in C ASABLANCA [1942] einen Tschechen) oder sogar »exotische« Rollen wie Chinesen. Einen deutschen Akzent zu haben, war daher keineswegs immer ein Handicap, weil er ausländische Rollen in Filmen wie N INOTCHKA (1939) für das US-Publikum erst glaubwürdig machte. Als Zilzer im Nachhinein gefragt wurde, »Wäre es übertrieben zu sagen, daß Sie in diesem Land immer nur Rollen bekamen, die den Akzent rechtfertigten? «, antwortete er: »Ja, im Film fast immer. Und wenn ich ihn nicht mehr genug hatte, kam prompt die Frage: ›What happened to your accent? ‹ Und ich mußte wieder etwas nachhelfen.« 216 Der Akzent der meisten deutschsprachigen Schauspieler war also in bestimmten Fällen ihr größtes »kulturelles Kapital«, in der Regel jedoch das größte Handicap, da er die Bandbreite möglicher Rollen auf »Ausländer« einschränkte. Als die Zahl der deutschsprachigen Schauspieler in Hollywood Ende der 1930er-Jahre deutlich anstieg, reichte die Zahl der Ausländer-Rollen nicht mehr, um ihnen Arbeit zu geben. Für Kohner wurde es daher immer schwieriger, seinen Landsleuten zu helfen. Da es deutlich mehr deutschsprachige Schauspieler gab, als der Markt verkraften konnte, akzeptierten die Filmfirmen in der Regel nur <?page no="154"?> 13. Juden spielen Nazis in Hollywood (1940er-Jahre) 155 Verträge für einzelne Filme (Walter Slezak, der einen langfristigen Vertrag bekam, war hier eine Ausnahme). Für US-Filmfirmen ergab es wirtschaftlich keinen Sinn, Schauspieler zum Beispiel für ein ganzes Jahr zu verpflichten, wie Sidney Buchman von Columbia Pictures Ludwig Donath erklärt hat: »There is a company policy against carrying character people on contract. They feel, with very few exceptions, that they cannot write off such charges in the year easily and that they would prefer paying even more to such a man when they need him.« 217 In Deutschland und Österreich sehr bekannte und hoch angesehene Schauspieler, die das US-Kinopublikum aber nicht kannte, erwarteten in Hollywood tragende Rollen zu bekommen, wurden jedoch in aller Regel enttäuscht. 218 Wie aus Briefen hervorgeht, die an Kohner gerichtet waren, war dies für viele exilierte Schauspieler schwer zu verkraften: »The point I want to make is that I feel the above mentioned assignment must be a first class job with a substantial part and not a ›fill in‹ job such as the one in P ANAMA H ATTIE [1942] which I would accept (providing it is offered to me) because I want to keep going and keep in work as I feel it is better to be working than to be idle.« 219 Kohner konnte die Erwartungen, die in ihn gesetzt wurden, nicht immer erfüllen. Um die Enttäuschung nicht zu groß werden zu lassen, hat er offenbar manchmal zu Notlügen gegriffen, über die seine Klienten empört waren, wenn sie sie als solche durchschauten. So hat sich zum Beispiel Ludwig Donath gegenüber Kohner wie folgt geäußert: »You as my representative should instead fight for what we have to ask for like a lion. A full week I am now waiting for an answer from you. [...] Last week, when I got the call from Paramount about Dr. Wassel, I saw you. You told me that they asked for Bassermann for this part and that you told them, he couldn’t do it, but you have ›another very good actor [...] (me) etc.‹ It will be at least a 2 weeks job. - It is a 3 days bit part and nobody at Paramount had ever the idea to ask for Bassermann. When I asked them about it, I was laughed at and told ›Somebody made a fool of you‹. Why do you do that to me? - If you want me to play a part like that - need money - alright, why don’t you speak plainly. ›I suggest that you play this bit part and I don’t think that it will do you any harm‹ - ? I would believe you and follow your advice.« 220 <?page no="155"?> Fallstudien zum Wandel der Kino- und Fernsehkultur 156 Anti-Nazi-Filme bieten Arbeitsmöglichkeiten Als Hollywood im Zweiten Weltkrieg damit begann, Anti-Nazi-Filme in großer Zahl zu produzieren, fanden mehr als 130 oder rund 65 % der exilierten deutschsprachigen Schauspieler Arbeit. Paul Kohners Biograf und Bruder, Frederick Kohner, hat die Situation so beschrieben: »Paul knew that their time would come. And it did come, sooner than he had anticipated, with the flood of anti-Nazi pictures [...] Suddenly the industry needed Prussian generals, bullnecked SS officers, Fuehrers, Stuka fliers, Austrian zither players, Jewish scientists, U-boat captains, revolutionaries, spies and counterspies. Paul supplied them all. Actor Fritz Kortner went to work, as did Ernst Deutsch, Alexander Granach, Carl Esmond, Felix Bressart, Curt Bois, Sigi Arno, Ludwig Stoessel.« 221 Anti-Nazi-Filme transportierten eine antifaschistische Botschaft über Spionagethriller wie zum Beispiel C ONFESSIONS OF A N AZI S PY (1939) und M AN H UNT (1941), Melodramen wie T HE M ORTAL S TORM (1940) und Komödien wie T O B E OR N OT TO B E (1942). US-Filmfirmen produzierten solche Filme erst relativ spät nach der Machtübernahme der Nazis, da sie gute Geschäfte mit den Nazis machen wollten und sich das eigene Land zudem nach der Überzeugung der US- Amerikaner aus der internationalen Politik heraushalten sollte. Warner Bros. war 1934 die erste Firma, die ihre deutsche Niederlassung schloss, und 1938 die erste große US-Filmfirma, die einen Anti-Nazi-Film produzierte, C ONFESSIONS OF A N AZI S PY . 222 Als in der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938, der sogenannten »Reichspogromnacht«, Juden in Deutschland erniedrigt und umgebracht, Synagogen in Brand gesetzt und jüdische Geschäfte zerstört wurden, änderte sich die öffentliche Meinung in den Vereinigten Staaten und forderte ein Engagement gegen den Nationalsozialismus. Als Konsequenz begannen mehr und mehr US- Filmfirmen damit, Anti-Nazi-Filme herzustellen. Wenn eine US-Firma auch nur einen einzigen Anti-Nazi-Film produzierte, wurde sie von den Nazis gezwungen, ihre deutsche Niederlassung zu schließen - Paramount verließ Deutschland als letzte US-Filmfirma im Oktober 1940. Als die Vereinigten Staaten im Dezember 1941 in den Zweiten Weltkrieg eintraten, wurde die Produktion von Anti-Nazi- Filmen zu einer patriotischen Pflicht, sodass deren Zahl deutlich zunahm. 223 Laut Jan-Christopher Horak haben US-Filmfirmen in den Jahren 1939 bis 1946 rund 180 Anti-Nazi-Filme hergestellt. Deutschsprachige Schauspieler spielten in 90 % dieser Filme mit, deutschsprachige Produzenten, Regisseure und Drehbuchautoren waren an 30 % beteiligt. 224 Anti-Nazi-Filme boten für deutschsprachige Schauspieler beste Chancen, da für die meisten Rollen ein unverkennbar deutscher Akzent Voraussetzung war. Einige Rollen erforderten sogar, dass <?page no="156"?> 13. Juden spielen Nazis in Hollywood (1940er-Jahre) 157 Deutsch gesprochen wurde, wie die des Reinhard Heydrich in H ANGMEN A LSO D IE (1943), die Hans Heinrich von Twardowski übernommen hat. Auch wenn etliche Rollen Nebenrollen waren, so gab es für deutschsprachige Schauspieler doch zunehmend auch Hauptrollen, wie zum Beispiel die des Widerstandskämpfers in C ASABLANCA (1942), der von Paul Henreid verkörpert wird (siehe dazu auch Kapitel 14). Da Anti-Nazi-Filme »Männerfilme« waren, die oft im militärischen Milieu spielten, gab es für deutschsprachige Schauspielerinnen so gut wie keine Rollen. Während Wolfgang Zilzer zum Beispiel oft beschäftigt war, fand seine Frau, Lotte Palfi Andor, nur selten ganz kleine Rollen wie zum Beispiel die der Krankenschwester in C ONFESSIONS OF A N AZI S PY (1939) oder als Frau eines Widerstandskämpfers in U NDERGROUND (1941). Sie war teils Monate, teils sogar Jahre zwischen ihren Filmen nicht beschäftigt. 225 Die Männer spielten manchmal auf der Leinwand Flüchtlinge, wie zum Beispiel Ludwig Stössel Mr. Leuchtag und Wolfgang Zilzer einen Mann mit ungültigen Ausweispapieren (beide ohne namentliche Nennung im Vorspann) in C ASA - BLANCA (1942). Am häufigsten spielten sie jedoch Nazis. Die Nazis in den Anti- Nazi-Filmen sind in aller Regel stereotyp gezeichnet: SS- oder Gestapomänner fügen sich der totalitären Kontrolle des Führers, werden oft als brutal, dumm und lächerlich dargestellt. Schauspieler meines Samples haben in so vielen Anti-Nazi-Filmen mitgespielt, dass man sie nicht alle hier aufführen kann. Eine Rolle je Schauspieler mag als Beispiel genügen: Rudolph Anders spielte (im Vorspann unerwähnt) einen Gestapo-Agenten in T O B E OR N OT TO B E (1942), Ludwig Donath verkörperte Hitler und seinen Doppelgänger in T HE S TRANGE D EATH OF A DOLF H ITLER (1943). Carl Esmond spielte den Nazi-Major Paul Dichter in F IRST C OMES C OURAGE (1943), wobei er die typischen Nazi-Clichés vermied. Arno Frey spielte (unerwähnt) den Kommandanten eines Konzentrationslagers in E SCAPE (1940), Frederick Giermann verkörperte Heinrich Himmler, der im Dritten Reich viele maßgebliche Positionen innehatte und für die Organisation des Holocausts verantwortlich war, in T HE S TRANGE D EATH OF A DOLF H ITLER (1943). Oskar Homolka gab den Opportunisten Lev Pressinger in H OSTAGES (1943), Hans von Morhart und Otto Reichow spielten (beide unerwähnt) Gestapo-Männer in T HE M AN I M ARRIED (1940) bzw. I NVISIBLE A GENT (1942). Sig Ruman war Colonel Erhardt in T O B E OR N OT TO B E , Hans Schumm ein Gestapo-Offizier in E SCAPE . Reinhold Schünzel spielte den Gestapo-Inspektor Ritter in H ANGMEN A LSO D IE und Tonio Selwart den Gestapo-Kommandanten Kurt Haas im selben Film. Walter Slezak verkörperte den U-Boot-Kapitän Willy in L IFEBOAT (1944) und Ludwig Stössel war der opportunistische Stadtkommandant Herman Bauer in H ITLER ’ S M ADMAN (1943). Wolfgang Zilzer schließlich spielte in E NEMY OF W OMEN (1944) Joseph <?page no="157"?> Fallstudien zum Wandel der Kino- und Fernsehkultur 158 Goebbels, den Propagandaminister des Dritten Reichs, der für die Organisation der Filmwirtschaft verantwortlich war. Die Reaktion der Schauspieler auf ihre Nazi-Rollen Exilierte deutschsprachige Schauspieler, die von den Nazis zunächst Berufsverbot erhielten und dann in ihrem Leben bedroht waren, spielten mitunter gerne Nazis in Hollywoodfilmen. In der »Sammlung Paul Kohner« finden sich keinerlei Klagen darüber, dass ihnen Nazi-Rollen angeboten wurden. Reinhold Schünzel, der in Deutschland als Schauspieler beliebt und als Regisseur geschätzt war, hat sich im Gegenteil sogar bei Kohner sehr darum bemüht, die Rolle von Heinrich Himmler in T HE H ITLER G ANG (1944) zu bekommen. 226 Es gab sicherlich von den Nazis vertriebene deutschsprachige Schauspieler, die es als moralischen Triumph empfunden haben, Nazis in Filmen zu spielen, deren Opfer sie im »richtigen« Leben waren. In Bezug auf die Schauspieler meines Samples gibt es jedoch dafür keinerlei Belege. Als Zilzer gefragt wurde, »Hatten Oben: Sig Ruman als »Concentration Camp Erhardt« in T O B E OR N OT TO B E , Tonio Selwart als Chef der Gestapo Kurt Haas in H ANGMEN A LSO D IE . Unten: Reinhold Schünzel als Inspector Ritter in H ANGMEN A LSO D IE , Walter Slezak als U-Boot-Kapitän Willy in L IFEBOAT (Blu-Ray-Prints) <?page no="158"?> 13. Juden spielen Nazis in Hollywood (1940er-Jahre) 159 Sie das Gefühl, mit dieser Rolle [Goebbels in E NEMY OF W OMEN ] kann ich mich bei den Nazis revanchieren? «, antwortete er: »Mich an ihnen rächen? Nein, dieses Gefühl hatte ich nicht. Wenn ich eine Rolle spiele, kann ich nichts anderes tun, als sie glaubhaft zu machen [...].« 227 Schauspieler waren oft über die ihnen angebotenen Rollen verärgert, weil sie ihnen nicht die Möglichkeit boten, ihre Fähigkeiten zu entfalten. Kritisiert wurden Nazi-Rollen nicht als Nazi-Rollen, sondern nur dann, wenn sie zu klein oder zu eindimensional waren. So schrieb Carl Esmond 1939 an Kohner: »Meine gegenwaertige Rolle - die ich nur des Geldes wegen annehmen musste - und die kuenstlerisch und karrieremaessig gleich null ist, hat nur meine frueheren Erfahrungen bestaetigt, naemlich dass man mir nur Rollen anbietet, die als wichtigste Spezialitaet eine Kenntnis der deutschen Sprache erfordern. Ich sehe nicht, wie ich auf diesem Wege zu einer Hauptrolle oder wenigstens zu einer kuenstlerisch wertvollen Rolle kommen soll.« 228 Die Reaktion der exilierten Schauspieler auf Nazi-Rollen hing im Wesentlichen mit ihrem professionellen Selbstverständnis zusammen, das eng mit ihrer Herkunft vom Theater verbunden war. Wertet man das Lexikon des Films aus dem Jahr 1926 aus, das rund 300 biografische Artikel von deutschsprachigen Filmschaffenden enthält, so zeigt sich, dass 77,9 % der Schauspieler angeben, sie hätten eine Ausbildung am Sprechtheater gehabt, während 8,2 % der Schauspieler vom Ballett oder der Oper kamen. 229 Nur 13,9 % haben ihre Karriere nach eigenen Angaben direkt beim Film begonnen. Aufgrund der Etablierung des Tonfilms war es Mitte der 1930er-Jahre noch wichtiger geworden, eine solide Theaterausbildung zu haben. In einer Befragung aus dem Jahr 1936 gaben 87 % der Schauspieler an, vom Theater zu kommen, während nur 5,1 % angaben, ihre Karriere direkt beim Film begonnen zu haben. 230 Das professionelle Selbstverständnis deutschsprachiger Schauspieler war tief in der deutschen Theatertradition mit seinen Konzepten der »guten Rollen« und des »guten Schauspielens« verankert. Im beruflichen Selbstverständnis der exilierten Schauspieler spielte ihr Status als Opfer der Nazipolitik keine Rolle, sondern Porträtfoto von Wolfgang Zilzer (Hermann Treuner [Hg.]: Filmkünstler: Wir über uns selbst. Berlin: Sibyllen-Verlag, 1928, n. p.) <?page no="159"?> Fallstudien zum Wandel der Kino- und Fernsehkultur 160 ausschließlich ihre Tätigkeit als Künstler. Dabei war nicht relevant, ob ein Charakter, den sie verkörperten, moralisch gut oder schlecht war. Carl Esmond hat das so formuliert: »I played a very good part [in F IRST C OMES C OURAGE ] although I was a Nazi.« 231 Wolfgang Zilzer antwortete auf die Frage, ob er gezögert habe, die Rolle von Nazi-Propagandaminister Joseph Goebbels in E NEMY OF W OMEN zu übernehmen so: »Nein, eine gute Rolle spielt man gern. Wer würde denn sonst den Franz Moor [aus Schillers D IE R ÄUBER ] spielen? « 232 Eine Rolle war »gut«, wenn sie nicht nur komplex, sondern auch unverwechselbar und einmalig war. Daher wollten Schauspieler nicht auf eine Rolle festgelegt werden, sondern in verschiedenen Filmen verschiedene Charaktere verkörpern. Entsprechend verärgert waren sie, wenn man von ihnen erwartete, die immer gleiche Rolle zu spielen. Zilzer hat Hans Heinrich von Twardowski erzählt: »Es ging schließlich so weit, daß jedermann wußte, wenn ich in einem Film auftauche, bin ich entweder der Anti-Nazi oder das Gegenteil. [...] Und wenn ich was anderes spielen wollte, war das von vornherein entwertet, weil die Leute dachten, das ist doch der Nazi, beziehungsweise der Anti-Nazi, was will der denn nun, jetzt ist er plötzlich was anderes - das hat man mir nicht abgenommen.« 233 Für die exilierten Schauspieler waren also nicht Nazi-Rollen an sich Stein des Anstoßes, sondern allein die ausschließliche Festlegung auf diese. Als »gutes Schauspiel« galt, wenn es dem Schauspieler gelang, sich derart in eine Rolle hineinzuversetzen und sie glaubwürdig zu gestalten, dass die Zuschauer vergaßen, dass sie einen Schauspieler vor sich hatten, der eine Rolle spielte. Wenn die Illusion nicht perfekt war, galt das Schauspiel als nicht gelungen. So fand Zilzer, dass Ernst Deutsch keine Nazis spielen konnte, weil man ihm angesehen habe, dass er Jude war. »Er hat nie so jüdisch ausgesehen wie in diesem Nazikostüm, es wirkte in hohem Maße peinlich.« 234 Es gab einige wenige exilierte deutschsprachige Schauspieler, die es ablehnten, Nazis im Film zu spielen, auch wenn sie die ihnen angebotenen Rollen für gut hielten und das Geld zum Leben dringend gebraucht hätten. Carl Esmond berichtet zum Beispiel: »There was a wonderful part in a very anti-German film, N URSE E DITH C AVELL (1939), and I turned it down. Then there was an anti-Nazi-picture, E SCAPE , and I said I can’t do it.« 235 Esmond hat diese Rollen abgelehnt, weil er seine Familie schützen wollte, die sich noch im annektierten Österreich aufhielt. Daher war Kohner froh, dass Esmond bereits einen Job hatte, als Warner Bros. ihn für die Nazi-Rolle in A LL T HROUGH T HE N IGHT (1942) engagieren wollte. 236 Andere exilierte deutschsprachige Schauspieler haben Nazi-Rollen akzeptiert und ihre Namen geändert, um ihre Familien zu schützen. Wolfgang Zilzer zum Beispiel trat als John Voight in C ONFESSIONS OF A N AZI S PY auf, um seinen Vater <?page no="160"?> 13. Juden spielen Nazis in Hollywood (1940er-Jahre) 161 in Deutschland nicht zu gefährden. Die Schutzmaßnahme war jedoch vergeblich: Zilzer wurde von den Nazis in seiner Rolle erkannt und sein Vater von der Gestapo umgebracht. Auch wenn ihr Status als Flüchtlinge keinen Einfluss darauf hatte, wie sie die ihnen angebotenen Nazi-Rollen bewertet haben, so haben sie sich als Privatpersonen sehr wohl als Exilierte verstanden, die dankbar waren, den Holocaust in einem freien Land überlebt zu haben. So schrieb Hans von Morhart nach dem Krieg an Paul Kohner: »Wenn ich leider beruflich nicht das erreichte, was ich mir dereinst ersehnte, so habe ich mich doch sehr wohl an neue Situationen angepasst, und war zufrieden, in netter Umgebung meinen Lebensunterhalt, mit wechselndem Erfolg, zu verdienen, fern von dem Nazi-Terror, der mir sicherlich das Leben gekostet haette. Ich habe hier sehr viel gelernt und bin dankbar, in einem demokratischen Lande in Freiheit gelebt zu haben [...].« 237 Kapitel 13 hat gezeigt, in welch erheblichem Maß jüdische Schauspieler in ihren beruflichen Möglichkeiten eingeschränkt waren. In Deutschland durften sie aufgrund der Rassenideologie der Nazis nicht mehr arbeiten, in den Vereinigten Staaten fanden sie aufgrund ihres Akzents zunächst keine Arbeit. Als während des Zweiten Weltkriegs Anti-Nazi-Filme in großer Zahl produziert und immer mehr Rollen geschaffen wurden, für die ein starker deutscher Akzent Voraussetzung war, bekamen die meisten männlichen deutschsprachigen Schauspieler eine Chance. <?page no="162"?> 163 14. C ASABLANCA im Kalten Krieg (1950er-Jahre) Nach dem Zweiten Weltkrieg war der Nazismus in den Köpfen der Deutschen nicht verschwunden. 238 Die Mehrheit der Deutschen erlebte die Befreiung von der nationalsozialistischen Diktatur als Niederlage. Filme, die die deutschen Zuschauer in den 1950er-Jahren empfindlich verstört hätten, wurden entweder gar nicht gezeigt oder sie wurden so verändert, dass ihr Unterhaltungswert nicht geschmälert wurde. Dafür ist die deutsche Bearbeitung des Anti-Nazi-Films C ASA- BLANCA ein anschauliches Beispiel. 239 Nicht jede Veränderung eines Films ist ein Akt der Zensur. Als Zensur bezeichnen wir eine staatliche oder quasi-staatliche Kontrolle, die bezweckt, dass das Kinopublikum Filme nicht bzw. nicht in einer bestimmten Form (u. a. hinsichtlich der Darstellung von Sex und Gewalt) zu sehen bekommt - ganz unabhängig davon, was es sehen möchte. Filmverleiher, die ihr Publikum optimal unterhalten wollen, machen Filme, die dies nach ihrer Einschätzung nicht leisten, oft durch Schnitte, Umstellungen oder neue Dialoge passend. War es in der Bundesrepublik der 1950er-Jahre durchaus nicht ungewöhnlich, fremdsprachige Filme derart zu verändern, so war der Aufwand, der 1952 für C ASABLANCA (1942) betrieben wurde, allerdings außergewöhnlich. Anders als oft üblich, wurde die erzählte Geschichte selbst verändert, sodass erklärt werden muss, wer aus welchen Gründen diesen enormen Aufwand betrieben hat. Die deutsche Fassung von 1952 C ASABLANCA hatte am 26. August 1952 in den bundesdeutschen Kinos Premiere. 240 Die dort gezeigte Synchronfassung hatte laut zeitgenössischer Messung der Freiwilligen Selbstkontrolle der Filmwirtschaft (FSK), die für die Freigabe der Filme zuständig ist, eine Länge von 2236 Metern. 241 Die Laufzeit beträgt demnach statt der Originallaufzeit von 102 Min und 29 Sekunden nur noch 81 Minuten und 44 Sekunden, was einer Kürzung um 568 Meter bzw. 20 Minuten und 45 Sekunden entspricht. Von der 1952er-Fassung ist ein Video erhalten (mit dem Firmenlogo des Verleihers Warner Bros.) sowie eine 35-mm-Kopie (mit dem Firmenlogo des Verleihers Nobis, der den Film 1974 noch einmal in die Kinos gebracht hat). 242 In der Originalfassung fliehen Menschen vor den Nationalsozialisten nach Marokko, das 1942 - anders als Frankreich - noch nicht von den Deutschen besetzt war, jedoch von der Vichy-Regierung, die mit den Nationalsozialisten kooperierte, verwaltet wurde. Die deutsche Fassung von 1952 spielt wie die Originalfassung <?page no="163"?> Fallstudien zum Wandel der Kino- und Fernsehkultur 164 im Zweiten Weltkrieg, eliminiert jedoch den politischen Kontext, den Nationalsozialismus, vollständig. Die auffälligste Veränderung ist, dass die Figur des Nazi- Majors Strasser (gespielt vom deutschen Emigranten Conrad Veidt) aus dem Film herausgeschnitten wurde. In der Originalfassung reist Strasser nach Casablanca, um Victor László (Paul Henreid), den aus einem deutschen Konzentrationslager geflohenen Führer der tschechoslowakischen Widerstandsbewegung gegen die Nationalsozialisten, daran zu hindern, sich in die USA abzusetzen. Strasser ist im Original ein mitleidloser, zielgerichteter, grausamer, aber stets zivilisiert auftretender Nationalsozialist. Da die Figur jedoch als Gegenpart zu Victor László notwendig ist, wird sie in den Dialogen zwischen dem Polizeipräfekten Renault (Claude Rains, deutscher Sprecher: Ernst Fritz Fürbringer), dem korrupten französischen Polizeichef, der in der Originalfassung mit den Nationalsozialisten zusammenarbeitet, und Rick (Humphrey Bogart, Spr.: Paul Klinger), einem desillusionierten Amerikaner, der in Casablanca ein Café unterhält, zu einem »Kommissar Laporte«. Victor László wird zum norwegischen Atomphysiker Professor Viktor Larssen (Spr.: Ernst von Klipstein), der während des Zweiten Weltkriegs sein Labor zerstört, um zu verhindern, dass die von ihm entdeckten, hochenergetischen Deltastrahlen für eine »fürchterliche Vernichtungswaffe« verwendet werden könnten. Larssen bekommt dafür »20 Jahre wegen Sabotage«, kann aber aus dem Gefängnis nach Casablanca fliehen, wo er für sich und seine Frau, Ilsa Larssen (Ingrid Bergman, Spr.: Marianne Kehlau), Ausreisevisa für die Vereinigten Staaten zu erhalten versucht. Zwei Blankovisa, die von zwei ermordeten italienischen Kurieren stammen, sind in Ricks Händen. Rick hatte kurz vor dem Einmarsch der Deutschen in Paris eine Liebesaffäre mit Ilsa, die glaubte, ihr Mann sei bei der Flucht erschossen worden. Renault soll den flüchtigen Larssen im Auftrag des französischen Kommissar Laporte verhaften. Rick täuscht Renault geschickt und verhilft Larssen und seiner Frau Ilsa selbstlos zur Flucht in die Vereinigten Staaten. Während der Nationalsozialismus 1952 aus dem Film herauspräpariert wurde, blieb die Liebesgeschichte zwischen Ilsa, ihrem Mann und Rick unangetastet. Die Veränderung der Geschichte erfolgte durch das Ersetzen von Dialogen und durch Schnitte. Dreizehn Passagen sind geschnitten, acht Passagen inhaltlich neu getextet. Dort, wo nicht in die Geschichte eingegriffen wurde, sind die Dialoge in der 1952 bei der Deutschen Mondial Film GmbH in Berlin hergestellten Synchronfassung oft sorgfältiger übersetzt als bei der 1975 im Auftrag der ARD hergestellten Neusynchronisation, die sich durch Wort-für-Wort-Übersetzungen von Redewendungen auszeichnet. So wird der allseits bekannte Trinkspruch »Here’s looking at you, kid« 1952 korrekt mit »Auf dein Wohl« übersetzt und 1975 mit »Ich seh’ dir in die Augen, Kleines« - ein Ausdruck, der dann als »Ich schau’ dir in die Augen, Kleines« selbst zu einem geflügelten Wort wurde. <?page no="164"?> 14. CASABLANCA im Kalten Krieg (1950er-Jahre) 165 Auch die Musik-Fassung von Max Steiner blieb notgedrungen nicht unverändert. Die französische Nationalhymne erklingt in dieser deutschen Fassung zur Charakterisierung des Ortes Paris (so in der Rückblende), ist aber nicht mehr, wie in der Originalfassung, Trägerin der Grundwerte Liberté, Égalité und Fraternité. Folgerichtig wurde auch die Szene in Ricks Café geschnitten, in der die Deutschen »Die Wacht am Rhein« anstimmen und von französischen Patrioten mit der »Marseillaise« niedergesungen werden. Wenn es keine Verletzung der Menschenrechte durch die Nationalsozialisten mehr gibt, ist auch ein musikalisches Symbol des Widerstands funktionslos. Der Urheber der signifikanten Variation Erst als der Westdeutsche Rundfunk (WDR) im Oktober 1968 eine Originalfassung mit Untertiteln in die dritten Fernsehprogramme brachte, fielen dem Gros der deutschen Filmkritiker die weitreichenden Sinnveränderungen in der Synchronfassung als solche auf. Weil man sie zu diesem Zeitpunkt für skandalös hielt und ein Skandalon gerne der Zensur zugeschrieben wird, glaubte man, die FSK sei die Urheberin dieser Bearbeitung. 243 Anders aber als immer wieder behauptet, war für die Umarbeitung von C ASABLANCA nicht die FSK verantwortlich. Tatsächlich blieb sie den Ausschussmitgliedern sogar verborgen, da ihnen die Originalfassung offenbar unbekannt war. Im Protokoll der Filmprüfung heißt es lediglich: »Nach Vorführung des deutsch synchronisierten Films [am 24. Juni 1952] kam der Ausschuß in interner Beratung zu folgendem Ergebnis: Der Film wird zur öffentlichen Vorführung [ab 16 Jahren] freigegeben.« 244 Verantwortlich für die deutsche C ASABLANCA -Fassung von 1952 ist der deutsche Verleiher Warner Bros. Continental Films Inc., also die in Frankfurt am Main tätige deutsche Niederlassung der US-Firma, die den Film 1942 hergestellt hatte. Der Filmkritiker Kurt Joachim Fischer bemerkte die Veränderung von C ASA - BLANCA vermutlich, weil er den Wiener Illustrierten Film-Kurier mit der vollständigen Inhaltsangabe gelesen hatte, der zur österreichischen Erstaufführung des Films 1948 erschienen war, oder weil er den Film sogar in Österreich gesehen hatte. 245 C ASABLANCA lief 1948 in Österreich in einer ungekürzten, »korrekt [deutsch] untertitelt[en]« 246 Originalfassung. Fischer hat um die Jahreswende 1952/ 53 bei Warner Bros nach den Gründen für die Bearbeitung gefragt. Die Antwort, die er im Januar 1953 veröffentlicht hat, lautet: »Der Film C ASABLANCA wurde im Jahr 1942 gedreht, und da er in seiner Originalfassung nicht mehr zeitgemäß und nicht zur Vorführung in Deutschland geeignet war, haben wir bei der Synchronisation des Filmes verschie- <?page no="165"?> Fallstudien zum Wandel der Kino- und Fernsehkultur 166 dene Schnitte bzw. Änderungen vorgenommen, bevor der Film der Freiwilligen Selbstkontrolle vorgelegt wurde. Da C ASABLANCA zu einem der eindrucksvollsten Bergman-Filme gehört, wollten wir diesen Film dem deutschen Publikum nicht vorenthalten und haben uns deshalb zu dieser deutschen Neufassung entschlossen.« 247 Diese Stellungnahme des Verleihers ist in jeder Beziehung glaubwürdig, da sich alle genannten Fakten (wie die Veränderung vor der FSK-Vorlage, die Art der Veränderung durch Schnitte bzw. inhaltlich neue Dialoge, die Beliebtheit Ingrid Bergmans) durch externe Quellen bzw. eine vergleichende Analyse der Filmfassungen bestätigen lassen. Verleiher, die Filme in den 1950er-Jahren signifikant variiert haben, waren keine Zensoren im definierten Sinn, sondern vielmehr Seismografen der öffentlichen Meinung, die ihr Publikum für sich gewinnen und nicht verschrecken wollten - auch wenn sie Filme teilweise in vorauseilendem Gehorsam gegenüber der FSK verändert haben. Zwar gehen alle sieben von mir im Rahmen meines Buchs Filmfassungen untersuchten Variationen angloamerikanischer Filme der 1950er- und 1960er-Jahre, die »hässliche« Deutsche zeigen, mit Ausnahme von T HE A FRICAN Q UEEN (1951) nicht auf die FSK zurück, doch muss man davon ausgehen, dass sie deren Spruchpraxis entsprachen. 248 Fritz Podehl, der ab 1929 Chefdramaturg bei der Ufa gewesen war und 1949 bis 1954 den Arbeitsausschuss der FSK leitete, betonte in einem Schreiben an Leo J. Horster, der die Interessen von Samuel Goldwyn und Walt Disney gegenüber der FSK vertrat, »daß uns als prüfender Stelle des Öftern Filme vorgeführt werden, die ihrem Inhalt nach durchaus ungeeignet für Deutschland sind, so daß wir in einer solchen Vorlage [der Originalfassung von T HE A FRICAN Q UEEN ] gar nicht etwas außergewöhnliches erblicken.« 249 Die Spruchpraxis der FSK, ein negatives Image der Deutschen in ausländischen Filmen retuschieren zu lassen, war kaum jemals strittig; es gab diesbezüglich keine unterschiedlichen Auffassungen zwischen den verschiedenen Fraktionen der Ausschüsse wie den Vertretern der Filmwirtschaft und der öffentlichen Hand. Offensichtlich fielen die Entscheidungen einstimmig, weil die Empörung über solche Filme durch alle Reihen ging. Jedenfalls gab es keine Rechtsgrundlage für diese Vorgehensweise. Ablehnung des »hässlichen« Deutschen C ASABLANCA war für den Verleiher 1952 »nicht mehr zeitgemäß und nicht zur Vorführung in Deutschland geeignet«, 250 weil er - das legen andere Fälle nahe - wahrscheinlich auf Ablehnung beim Publikum gestoßen wäre. Da Filme mit »hässlichen« Deutschen in den 1950er-Jahren systematisch verändert wurden, gibt <?page no="166"?> 14. CASABLANCA im Kalten Krieg (1950er-Jahre) 167 es nur wenige Beispiele, bei denen die Reaktion eines bundesdeutschen Publikums (Ausschussmitglieder der FSK, Filmkritiker) auf die ursprünglichen Fassungen dokumentiert ist. Alle Ausschussmitglieder der FSK empfanden den Film N OTORIOUS (1945/ 46), in dem die Verbrecher deutsche Nazis sind, bei der Prüfung der Originalfassung am 7. Juni 1950 als »demoralisierend« 251 - ein Eindruck, den sie nicht mehr hatten, als der Film erneut am 16. Oktober 1951 unter dem Titel W EISSES G IFT in einer synchronisierten Fassung vorgelegt wurde, in der aus den Nazis, die sich Uranerz für den Bau einer Atombombe besorgen, Rauschgiftschmuggler aus dem Ostblock geworden waren. 252 Am Beispiel von T HE A FRICAN Q UEEN , der als einziger der von mir untersuchten Filme, die »hässliche« Deutsche zeigen, den Kritikern damals auch in der Originalfassung bekannt war, zeigt sich, dass er wegen einer angeblich »vollkommen unmotivierten Deutschfeindlichkeit« 253 abgelehnt wurde. So schreibt etwa Kurt Joachim Fischer: »Deutsche Kolonialsoldaten und die Offiziere der Marine werden als Brandstifter und Henker dargestellt, und aus dem Munde der beiden großartig spielenden Helden fließen deutschfeindliche Reden. In Locarno, wo dieser Film auf den Filmfestspielen deutschen Besuchern zum ersten Male außerhalb Englands, der USA und Frankreichs zu Gesicht kam, wurden gegen die handfesten Szenen Pfiffe laut [das Publikum setzte sich »übrigens zum großen Teil aus Deutschen« 254 zusammen], und es wurde überdies nach dem Film heftig debattiert, ob dergleichen wohl nötig sei. [...] Es dürfte wohl fehl am Platze sein, einen solchen Film, auch in geschnittener und gewandelter Form, in Deutschland zu zeigen.« 255 Die Arbeitsgemeinschaft deutscher Filmjournalisten legte bei der Festivalleitung in Locarno »berechtigten Protest« 256 ein, der »dem Befremden Ausdruck verlieh, einen Film zu zeigen, in dem deutsche Kolonialsoldaten ›entweder als Brandstifter oder Henker‹ fungieren.« 257 Das Urteil der Filmkritiker lässt durchaus Rückschlüsse auf die potenzielle Reaktion des Publikums zu: In der Branchenzeitschrift Film-Echo wurde mit einer Schulnotenskala erhoben, wie die Kinobesitzer das Film-Urteil der Kritiker und das der Zuschauer bewertet haben. 258 Korreliert man die für die Spielzeit erhobenen Urteile der Kritiker und der Zuschauer über die 92 erfassten Filme, so ergibt sich ein Koeffizient von 0,74 - die Bewertung der Kritiker ist also kaum anders als die der Zuschauer. Im Fall von C ASABLANCA lautete die Note der Kinobesitzer für die Publikumsresonanz 2,8 und für die Reaktion der Presse 2,5. <?page no="167"?> Fallstudien zum Wandel der Kino- und Fernsehkultur 168 Gründe für die signifikante Variation Dass Menschen es nicht gern sehen, wenn ausschließlich Mitglieder ihrer eigenen Gruppe negativ charakterisiert werden, trifft sicherlich auf alle Gesellschaften zu. Dass sie aber - wie beschrieben - mit solcher Vehemenz reagieren, ist sicherlich ein Phänomen, das sich ausschließlich aus einer spezifischen historischen Konstellation adäquat verstehen lässt, denn sonst bliebe es unerklärlich, dass C ASA - BLANCA seit seiner Neusynchronisation im Jahre 1975 in Deutschland keinerlei Protest mehr hervorgerufen hat. Wer waren die Zuschauer von C ASABLANCA 1952/ 53? Zum Publikum einzelner Filme gibt es keine Informationen, wohl aber zur Demografie des deutschen Kinopublikums insgesamt. Beinahe alle Deutschen gingen Anfang der 1950er- Jahre ins Kino. Das Kinopublikum war um 1952/ 53 im Vergleich zur Gesamtgesellschaft etwas jünger (vgl. auch die Analyse des Kinopublikums der 1930er-Jahre in Kapitel 8). 259 Waren 53 % der Deutschen laut dem Zensus von 1950 über 30 Jahre alt, so betrug der Anteil der über 30-jährigen Kinobesucher dagegen nur knapp 40 %. Bei knapp 615 Millionen im Jahr 1952 verkauften Kinokarten entfielen auf die über 30-Jährigen demnach rund 246 Millionen Karten. 260 Der Anteil von Männern und Frauen im Publikum war ausgeglichen. 261 Ehemalige Mitglieder der Wehrmacht machten mit knapp 30 % einen marktwirtschaftlich relevanten Teil des bundesdeutschen Kinopublikums der frühen 1950er-Jahre aus. Als wehrfähig galten im Dritten Reich alle Männer im Alter von 18 bis 45 Jahren; bei Kriegsausbruch 1939 wurden die Jahrgänge 1894 bis 1921 eingezogen. Einschließlich der Jahrgänge, die im Krieg Zug um Zug das wehrfähige Alter erreichten (bis Jg. 1927), haben rund 18,2 Millionen deutsche Männer bei der Wehrmacht gedient, von denen 4,3 Millionen starben (bzw. als vermisst gelten). Demnach haben den Krieg rund 13,9 Millionen deutsche Soldaten überlebt, die 1952 zwischen 25 und 58 Jahren waren und damit zu den potenziellen Kinozuschauern gehörten. Für die heftige Ablehnung von Filmen, die »hässliche« Deutsche zeigen, spielte eine Rolle, dass es sich um Filme der ehemaligen Siegermächte handelt und dass so gut wie alle Deutschen, die im Zentrum dieser angloamerikanischen Filme stehen, negativ gezeichnet sind, wohingegen das Verhältnis negativer und positiver Figuren in Bezug auf andere Nationalitäten ausgeglichener ist. »Hässliche« Deutsche - etwa in D ER 20. J ULI (1955) oder der 08/ 15-Trilogie - wurden in deutschen Filmen akzeptiert, weil hier das Mischungsverhältnis zwischen positiven und negativen Figuren deutscher Nationalität ebenso austariert ist wie das Verhältnis der Figuren amerikanischer bzw. britischer Nationalität in angloamerikanischen Filmen. Da eine spätere Generation Filme mit »hässlichen« Deutschen nicht mehr ablehnt, reichen diese Hinweise als Erklärung allein aber nicht aus. Ein Teil der <?page no="168"?> 14. CASABLANCA im Kalten Krieg (1950er-Jahre) 169 Menschen, die 1952 ins Kino gingen, hatten Hitler 1933 zur Macht verholfen, der Großteil der Deutschen war der Ideologie der Nazis gefolgt - Propagandaschriften waren Bestseller 262 -, 7,5 Millionen Deutsche waren Mitglieder der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei (NSDAP), Millionen hatten dem Regime in allen möglichen Funktionen (als Soldaten, bei der Munitionsherstellung, in Lazaretten usf.) gedient und Tausende hatten enthusiastische Briefe an ihren Führer geschrieben. 263 Mehrheitlich wurde der 8. Mai 1945 nicht als »Tag der Befreiung«, sondern als Niederlage erlebt, als Sinnverlust. 264 Als nach dem Krieg Zug um Zug das ganze Ausmaß der Barbarei - der Holocaust - öffentlich wurde, wollte niemand mehr ein Nazi gewesen sein. Das dominante Muster der »Verdrängung« bestand darin, die Schuld auf andere, insbesondere die kleine Gruppe der politischen Führung um Hitler, zu verschieben und sich selbst von jeder Verantwortung freizusprechen. Deutsche liebten es, sich als Opfer des Nazi-Regimes, des Kriegs und der Vertreibung zu sehen, sowie sich als couragiert und menschlich integer darzustellen. 265 Nicht nur »einfache« Soldaten der Wehrmacht, sondern selbst Franz Paul Stangl (Jg. 1908), der Leiter der Vernichtungslager Sobibor und Treblinka, der 1970 wegen gemeinschaftlichen Mordes an mindestens 400.000 Juden zu lebenslanger Haft verurteilt wurde, stellte sich selbst als moralisch integer und anständig dar. 266 Die Mehrheit der Deutschen - einschließlich der Täter - hielt sich nach dem Zweiten Weltkrieg für »tüchtiger und begabter als die anderen Völker« und war in einem besonderen Maß stolz auf ihr Deutschtum. 267 Obwohl kaum jemand ein Nazi gewesen sein wollte, war 1955 jeder zweite Deutsche der Meinung, dass »Hitler ohne den Krieg einer der größten deutschen Staatsmänner gewesen wäre« 268 - was nichts anderes heißt, als dass die Hälfte der Deutschen glaubte, der Nationalsozialismus sei gar nicht so schlecht gewesen. 1951 waren 42 % der deutschen Bevölkerung davon überzeugt, dass es »in diesem [20.] Jahrhundert […] Deutschland [zwischen 1933 und 1939] am besten gegangen« 269 sei. Vom Publikum wurden nicht allein die Darstellung von Nazis oder die Repräsentation von Nazisymbolen abgelehnt. In T HE A FRICAN Q UEEN sind die »hässlichen« Deutschen Vertreter der Kolonialmacht in Ostafrika während des Ersten Weltkriegs; in C ASABLANCA und N OTORIOUS gibt es zwar Nazis, Nazisymbole aber nur in C ASABLANCA . Die Darstellung der Deutschen als Barbaren - gerade in Uniform wie in C ASABLANCA und T HE A FRICAN Q UEEN - wurde mehrheitlich als sehr ungerecht empfunden, da sie dem positiven Selbstbild widersprach. Die Verletzung der eigenen Gefühle war auch deshalb so stark, weil die Mehrheit der Deutschen gewusst haben dürfte, dass sie nicht derart integer waren, wie sie es selbst glauben wollten - nicht umsonst investierten nach dem Krieg ehemalige »Volksgenossen« viel darin, sich vom Nazi-Regime zu distanzieren und ihr eigenes Verhalten vor sich und der nächsten Generation zu rechtfertigen. <?page no="169"?> Fallstudien zum Wandel der Kino- und Fernsehkultur 170 Kurt Joachim Fischer (Jg. 1911), dem wir die Anfrage bei Warner Bros. im Fall C ASABLANCA verdanken und der sich über T HE A FRICAN Q UEEN empört hat, war einer dieser ehemaligen »Volksgenossen«. Fischer promovierte 1934 in Heidelberg zum Dr. phil. mit einer Arbeit über den Freiwilligen Arbeitsdienst in der Weimarer Republik, 270 arbeitete ab 1935 als Feuilletonist und war von 1939 an Soldat. 271 Ab 1942 war er Kompaniechef der Panzer-Propaganda-Kompanie 697; 272 ihm unterstanden schätzungsweise 400 Soldaten. Propagandakompanien hatten den Auftrag, die eigenen Soldaten propagandistisch zu unterstützen und gegen den Feind zu agitieren. In von ihm als Kompaniechef verfassten Publikationen stellt Fischer deutsche Soldaten der Wehrmacht als besonders geschickt, mutig und fair dar und rechtfertigt das Töten der Feinde durch einen übergeordneten »moralischen« Zweck - eine Überzeugung, die für seine Generation typisch war. So beschreibt er 1943 in den Panzerfaustheften, die er herausgab, den Krieg an der Ostfront, in dem deutsche Soldaten technisch überlegen (geringe Verluste auf eigener Seite, hohe Verluste auf feindlicher Seite) und fair kämpfen (sie sprengen schlafende Feinde nicht in die Luft, sondern nehmen sie fest). 273 Wenn die Soldaten töten müssen, dann tun sie es nicht gerne, sondern nur, weil es »notwendig« ist. »Der ethische Sinn, wie er mir einmal durch [Karl] Jaspers [der von den Nazis 1937/ 38 Berufs- und Publikationsverbot erhielt] in Sommerzeiten in Heidelberg gezeigt wurde, erfüllt sich wohl. Der tatsächliche Sinn könnte, wenn ich diesen Krieg gesund überstehe, Grundlage einer neuen Weltbetrachtung werden.« 274 Fischer sieht sich nach dem Krieg - wie viele andere Zeitgenossen - als moralisch integer: So berichtet er in einem Leserbrief, er habe sich an der Rettung von Juden beteiligt. 275 Fischer sah sich zudem als Opfer des Nazi-Regimes, da er Ende 1944 aus Gründen, die nichts mit der Rettung von Juden zu tun hatten, verhaftet und inhaftiert wurde. 276 Zugleich muss er gewusst haben, dass seine Tätigkeit als NS- Propagandist mit den moralischen Ansprüchen der Nachkriegszeit nicht zu vereinbaren war. Fischer protestierte hörbar bei einem Film wie T HE A FRICAN Q UEEN , in dem die Barbaren ausschließlich Deutsche in Uniform sind, weil er sich selbst und offenbar Deutsche in Uniform so nicht sehen wollte und auch nicht sehen konnte. Gründe, C ASABLANCA überhaupt einzusetzen Da es aufgrund des zeitweisen Boykotts von US-Filmen in der Nazizeit ebenso wie aufgrund der hohen Produktionsziffern in den 1950er-Jahren einen Überschuss an US-Filmen auf dem bundesdeutschen Markt gab, den dieser gar nicht <?page no="170"?> 14. CASABLANCA im Kalten Krieg (1950er-Jahre) 171 verkraften konnte, stellt sich die Frage, warum man nicht darauf verzichtet hat, C ASABLANCA überhaupt in die deutschen Kinos zu bringen. C ASABLANCA wurde in den 1950er- Jahren über seine Stars von anderen Filmen unterschieden, wobei in Deutschland Ingrid Bergman (und nicht Humphrey Bogart) als der Star des Films galt. Bogart war dem deutschen Publikum weitgehend unbekannt; auf den Listen der beliebtesten Schauspieler, die von der Film-Revue veröffentlicht wurden, sucht man ihn vergeblich. So versuchte der WDR 1968, Bogart mit einer eigenen Filmreihe im Dritten Programm als Schauspieler bekannt zu machen. 277 Bergman, mit der 1952 auch allein auf dem Plakat zu C ASABLANCA geworben wurde, war beim deutschen Publikum außerordentlich beliebt. 1952 und 1953 führte sie bei der Bambi-Wahl mit großem Abstand die Liste der erfolgreichen ausländischen weiblichen Stars an. 278 »Da C ASABLANCA zu einem der eindrucksvollsten Bergman-Filme gehört, wollten wir diesen Film dem deutschen Publikum nicht vorenthalten und haben uns deshalb zu dieser deutschen Neufassung entschlossen«, heißt es daher zu Recht im bereits zitierten Schreiben des deutschen Verleihers. 279 Der Gewinn, der mit dem Star Ingrid Bergman erzielt werden konnte, war allerdings für eine US-Firma nur dann lukrativ, wenn er zu einem attraktiven Kurs in Dollar umgetauscht werden konnte. Da das im Nachkriegsdeutschland auf marktwirtschaftlicher Basis nicht möglich war, garantierte die US-Regierung ihrer Filmindustrie, die in der Motion Picture Export Association (MPEA) zusammengeschlossen war, 1948 bis 1955 einen attraktiven Wechselkurs, behielt sich dafür aber das Recht vor, die Filme, die gezeigt wurden, auszuwählen. Qualitativ hochstehende Filme, die den American Way of Life repräsentierten, sollten die Einbindung der Bundesrepublik in das »westliche« Wertesystem fördern. Die Auswahl der Filme nahm die Economic Cooperation Administration (ECA) im Rahmen des Informational Media Guaranty Program (IMG) vor. 280 Auch wenn sich in den National Archives in Washington kein direkter Nachweis finden lässt, darf man vermuten, dass auch C ASABLANCA von der ECA für den bundesdeutschen Markt selektiert wurde, denn ohne deren Zustimmung ergab die Auswertung von US- Filmen in der Nachkriegszeit für US-Verleiher wirtschaftlich wenig Sinn. Plakat zur deutschen Erstaufführung von C ASABLANCA 1952 (Warner Bros.) <?page no="171"?> Fallstudien zum Wandel der Kino- und Fernsehkultur 172 Erfolg der deutschen Fassung Gemessen an dem Ziel, den Film so umzugestalten, dass er trotz der Eliminierung des Naziplots funktioniert, war der aufwendige Eingriff gewiss erfolgreich. Das Gros der deutschen Filmkritiker hat die Veränderung des Films nicht bemerkt. Die Aussage des Verleihers, die Kurt Joachim Fischer veröffentlicht hat, blieb in der deutschen Presse gänzlich ohne Resonanz. 281 Der Film wurde von der Kritik durchaus positiv aufgenommen. C ASABLANCA galt in der deutschen Presse 1952/ 53 als »bessere Hollywood-Konfektion«, 282 die als »Dutzendware« 283 nicht sonderlich geschätzt wurde. »Wenn die Geschichte auch typisches Kino ist, so ist sie doch sehr gekonntes Kino« 284 - eine Aussage, die sich auf die hier analysierte Fassung des Films bezieht, deren Geschichte von den deutschen Bearbeitern erfolgreich umgeschrieben wurde. Der kommerzielle Erfolg des Films in der Spielzeit 1952/ 53 ist schwer zu beurteilen, da weder die Zahl der verkauften Eintrittskarten noch die Einnahmen der Kinos bzw. Verleiher veröffentlicht wurden. Die Indizien sind jedoch hinreichend, um davon auszugehen, dass C ASABLANCA verglichen mit anderen US-Filmen ein relativ großer Erfolg in Deutschland war - deutsche Filme waren seit den 1920er-Jahren bis in die 1960er-Jahre hinein durchweg erfolgreicher als US-amerikanische (siehe Kapitel 8). 285 In den »Filmrennen« der Zeitschrift Filmblätter wurden die Filme für Spielzeiten getrennt nach der Zahl der Spieltage hierarchisch geordnet. Die Erfolgsrangliste der Spielzeit 1952/ 53 weist C ASABLANCA auf Rang 54 als sechstgrößten US-Filmerfolg in bundesdeutschen Großstädten aus. 286 Die Branchenzeitschrift Film-Echo hat dagegen Urteile von Kinobesitzern über den Besuch von Filmen im ganzen Land erhoben, ohne die Filme zu hierarchisieren. C ASABLANCA war nach dieser Erhebung der achterfolgreichste US-Film dieser Spielzeit. 287 Das bedeutet, dass C ASABLANCA beim deutschen Publikum für einen US-Film besonders erfolgreich war, denn in der Spielzeit 1952/ 53 wurden insgesamt 227 US-Filme in der Bundesrepublik verliehen. 288 Ob C ASABLANCA in einer sinngemäßen Übersetzung der vollständigen Originalfassung weniger erfolgreich gewesen wäre, lässt sich nicht nachprüfen, ist aufgrund der vorgetragenen Argumente jedoch wahrscheinlich. Denkt man allein an den lautstarken Protest der Filmkritiker in Locarno gegen T HE A FRICAN Q UEEN , dann muss man tatsächlich davon ausgehen, dass die grundlegende Überarbeitung der Originalfassung von C ASABLANCA kommerziell sinnvoll war. Kapitel 14 hat gezeigt, dass durch eine Anpassung von Filmen mittels signifikanter Variation an die Empfindlichkeiten des bundesdeutschen Publikums die Akzeptanz und der Unterhaltungswert der Filme gesteigert und damit ihr Gewinn erhöht werden sollten. Deutsche, die alles dafür taten, sich selbst einzureden, dass sie im Dritten Reich immer »fair« und »anständig« waren, wurden durch Bilder <?page no="172"?> 14. CASABLANCA im Kalten Krieg (1950er-Jahre) 173 brandschatzender deutscher Militärs oder stereotyper Nazi-Bösewichter in ihrem Selbstwertgefühl verletzt. Das Beispiel der deutschen C ASABLANCA -Bearbeitung der 1950er-Jahre zeigt klar, wie und warum dieser Film für das deutsche Kinopublikum umfassend verändert wurde. <?page no="174"?> 175 15. Der Wandel der T AGESSCHAU (1950er- und 1960er-Jahre) In den 1950er-Jahren entstand in der Bundesrepublik Deutschland mit dem Fernsehen eine neue Medieninstitution, die sich in Auseinandersetzung mit dem Kino profilierte und mit steigender Ausstattung der Haushalte mit Fernsehgeräten zu einer zunehmenden Konkurrenz für das Kino wurde. 289 Die Institution Fernsehen wurde nach britischem Vorbild öffentlich-rechtlich organisiert und vor allem über Gebühren finanziert, die die Fernsehteilnehmer entrichten mussten. Die folgende Fallstudie beschäftigt sich wie Kapitel 12 mit der Berichterstattung über aktuelle Ereignisse. Sie zeichnet die Etablierung der neuen Mediennutzungsform T AGESSCHAU nach, die zu einem Aushängeschild aktueller Berichterstattung wurde. »In den fünfziger Jahren gehörte die T AGESSCHAU rasch zur televisionären ›Grundversorgung‹ und man versteht, dass sie in den Benimmbüchern einen herausragenden Platz fand. Anrufe zwischen 20.00 bis 20.15 Uhr wurden als unschicklich bezeichnet. Besuch durfte sich einfinden, aber zur Begrüßung durch den Gastgeber sollte das Ende der T AGESSCHAU schweigend abgewartet werden.« 290 Die T AGESSCHAU wurde ab dem 26. Dezember 1952 regelmäßig vom bundesdeutschen Fernsehen ausgestrahlt. Nach vorangegangenen Versuchssendungen etablierte sich ein fester Sendeplatz zur Eröffnung des Abendprogramms um 20 Uhr. Entgegen weit verbreiteter Annahmen war sie jedoch zunächst keine Nachrichtensendung, sondern eine Bildercollage im Stil der Kino-Wochenschau. Erst ab 1959 wurden Nachrichten unmittelbar vor der T AGESSCHAU gesendet, und 1960 wurde aus der T AGESSCHAU selbst eine Nachrichtensendung. Im Folgenden geht es darum, diese Entwicklung, die bisher kaum beachtet wurde, zu rekonstruieren und zu erklären. 291 Da nur einzelne Bildberichte, aber keine vollständigen Sendungen erhalten sind, beruht dieses Kapitel überwiegend auf einer Auswertung schriftlicher Quellen, die in der Stiftung Deutsches Rundfunkarchiv in Frankfurt am Main über- Das Logo der T AGESSCHAU 1956-1970 (ARD) <?page no="175"?> Fallstudien zum Wandel der Kino- und Fernsehkultur 176 liefert sind. Die wichtigsten Quellen sind die Sitzungsprotokolle der Entscheidungsgremien der ARD und eine Vielzahl verschiedener Dokumente aus der T A- GESSCHAU -Redaktion. Hinzugezogen wurden auch Artikel aus Fachzeitschriften und demoskopische Untersuchungen sowie Erinnerungen der T AGESSCHAU -Mitarbeiter, wenn sie sich durch zeitgenössische Quellen bestätigen lassen. Die T AGESSCHAU als unterhaltende Bilderschau (1952-1959) In den überlieferten Quellen wird die T AGESSCHAU der 1950er-Jahre nicht als Nachrichtensendung bezeichnet. Für die Entscheidungsträger und die Macher der Sendung stand fest: »Die T AGESSCHAU soll keine Nachrichten enthalten.« 292 Dass die T AGESSCHAU keine Nachrichten enthält, ist für heutige Fernsehzuschauer, die die T AGESSCHAU als die Nachrichtensendung des deutschen Fernsehens schlechthin identifizieren, ein Paradox. Um dieses scheinbare Paradox aufzulösen, muss man sich zunächst vergegenwärtigen, was eine Information zur Nachricht macht, um dann die Mediennutzungsform T AGESSCHAU zu analysieren. Nachrichten sind durch das Wort vermittelte Informationen über Ereignisse, die zwei Kriterien erfüllen: Sie müssen erstens aktuell und zweitens innerhalb einer Kommunikationsgemeinschaft von Machern und Rezipienten als relevant eingestuft werden. Ist eine für die deutsche Bevölkerung relevante Information nicht aktuell (»Das konstruktive Misstrauensvotum gegen Bundeskanzler Willy Brandt ist gescheitert.«), hat sie keinen Nachrichtenwert; ist sie aktuell, aber nicht relevant (»Frau Müller hat heute in ihrem Schrebergarten einen Apfelbaum gepflanzt.«), fehlt ihr ebenso der Nachrichtenwert. In den 1950er-Jahren gab es zwei zentrale Nachrichtenmedien: den Hörfunk und die Tageszeitung. Der Hörfunk war aufgrund der drahtlosen Übertragung das schnellste und daher nachrichtlich bedeutendste Medium der Zeit. 293 Misst man die T AGESSCHAU der 1950er-Jahre an den genannten Kriterien für den Nachrichtenwert einer Information, kommt man zu dem Schluss, dass die T AGESSCHAU in der Tat keine Nachrichtensendung war. Die Macher der T AGES- SCHAU , die vom Nordwestdeutschen Rundfunk (NWDR) produziert wurde, hatten den Anspruch, in ihrer Berichterstattung aktuell zu sein, waren sich aber bewusst, dass sie den Vorsprung der Tageszeitung, geschweige denn den des Rundfunks, nicht einholen konnten. Ein Rückstand in der Berichterstattung von ein bis zwei Tagen gegenüber der Tagespresse galt als besondere Leistung: »Gerade die schnelle Film-Berichterstattung 24 oder 48 Stunden später, wenn man es eben erst in der Zeitung gelesen hat, wird für manchen ein Anreiz sein, sich einen Fernsehempfänger zu kaufen«, formulierte der erste Leiter der T AGESSCHAU , Martin S. Svoboda, 1952. 294 Der Transport der Bilder war langwieriger, weil der Träger (also das Filmmaterial) physisch per Auto, Bahn oder Flugzeug von einem zum <?page no="176"?> 15. Der Wandel der T AGESSCHAU (1950er- und 1960er-Jahre) 177 anderen Ort gebracht werden musste, während die Tageszeitung sich der Telegrafie und der Hörfunk sich des drahtlosen Funks bediente. Aber auch als 1959 die Technik (Richtfunknetz, Ampex-Magnetbandaufzeichnung) so weit entwickelt war, dass tagesaktuell berichtet werden konnte, erreichte die T AGESSCHAU die Aktualität des Hörfunks nicht, weil sie noch nicht täglich, geschweige denn mehrmals täglich wie die Hörfunknachrichten produziert wurde. 295 Aufgrund der bis 1956 technisch unumgänglichen langen Umschaltpausen zwischen den Landesrundfunkanstalten der ARD vermied man, ein Abendprogramm von mehreren Sendern bestreiten zu lassen, sodass die T AGESSCHAU zunächst nur an den Abenden gesendet wurde, die vom NWDR getragen wurden. So wurde die T AGES- SCHAU zunächst nur drei Mal wöchentlich - montags, mittwochs und freitags - und erst ab dem 1. Oktober 1956 an allen Tagen außer sonntags ausgestrahlt. Die Themenauswahl der T AGESSCHAU erfolgte in den 1950er-Jahren nicht in erster Linie nach dem Kriterium der Relevanz der Information, sondern nach Kriterien wie Sensation und Unterhaltung. Svoboda erläuterte dies 1953 so: »[Die T AGESSCHAU ] muss überzuckert sein mit Unterhaltung, Sport. Darum bemüht sich - genau wie das ganze Fernseh-Programm - auch die T A- GESSCHAU . Darum kann sie für den T AGESSCHAU -Kuchen nicht auf die Rosinen und den Zucker verzichten. Sie benötigt die meist aus dem Ausland kommenden Modeschauen, Badeszenen, Pferderennen, usw. genau so bitter notwendig wie eine Wochenschau selbst. Ohne diese leichten und vom Publikum so gern gesehenen Zutaten können wir die Politik und Kultur nicht lange verkaufen. Dann schauen die Leute nämlich weg oder schalten sich erst später ein. Es heißt dann schnell: nicht interessant, langweilig.« 296 Die T AGESSCHAU hatte einen der Wochenschau vergleichbaren Anteil an sogenannten Soft News, den von Svoboda erwähnten »Modeschauen, Badeszenen, »Modeschauen«: Bilder aus den ersten T AGESSCHAU -Sendungen 1952/ 53 (Prints aus dem W OCHENSPIEGEL vom 4. 1. 1953) <?page no="177"?> Fallstudien zum Wandel der Kino- und Fernsehkultur 178 Pferderennen«. Einzelanalysen aus den Jahren 1952 und 1953 verweisen auf einen Soft-News-Anteil der T AGESSCHAU von 40 bis 48 %, während 55 % der Wochenschau-Beiträge dieser Zeit aus vergleichbaren Soft News bestanden. 297 Die T AGES- SCHAU vom 19. Oktober 1953 zum Beispiel präsentierte u. a. folgende Filmbeiträge: »Dänisch-deutsches Pressefest, Kleingärtnerstadt Dortmund erhält goldenen Erntekranz, Gitarrenbau Bologna, Pferdeauktion in Deutschland, Deutsche Fechtmeisterschaften.« 298 Misst man die Relevanz der Berichte innerhalb einer Kommunikationsgemeinschaft am Standard der regionalen und überregionalen Tagespresse, so waren diese Berichte der T AGESSCHAU irrelevant: Von den genannten Soft News der T AGESSCHAU wurde nur eine einzige in der Tagespresse überhaupt erwähnt. 299 Gemessen am Nachrichtenbegriff brachte die T AGESSCHAU der 1950er-Jahre also tatsächlich keine Nachrichten, da ihre Berichte im Vergleich zu denen des Hörfunks und der Tagespresse weder aktuell noch durchweg relevant waren. Auch hinsichtlich der im Hörfunk und in der Tagespresse etablierten Präsentationsform von Nachrichten zeigt sich ein klarer Unterschied zur T AGESSCHAU . Nachrichten im Hörfunk und in den Tageszeitungen wurden so präsentiert, dass die Zuhörer bzw. Leser sich selbst ein Urteil bilden konnten, was voraussetzt, dass Bericht und Meinung getrennt wurden. Die T AGESSCHAU der 1950er-Jahre, die nicht den Anspruch hatte, Nachrichten zu vermitteln, vermischte Bericht und Kommentar. Die Kommentare, die ausschließlich von einem Sprecher im Off (Cay Dietrich Voss) vorgetragen wurden, waren wie die der N EUEN D EUTSCHEN W OCHENSCHAU »pointiert und oft witzig«. 300 Die Sprechweise unterschied sich jedoch zunehmend vom rhetorisch groß angelegten Stil der Wochenschau, da nicht ein Publikum in einem großen Kino, sondern die Familie im eigenen Wohnzimmer angesprochen wurde. Da Unterhaltung ein hoher Wert war, dramatisierte die T AGESSCHAU der 1950er-Jahre zudem Ereignisse durch die Montage der Bilder und eine musikalische Untermalung aller Berichte. Die T AGESSCHAU wurde von den Programmverantwortlichen nicht als Nachrichtensendung konzipiert, weil sie von einer funktionalen Arbeitsteilung der Medien ausgingen. Nachrichten gab es über den Rundfunk und die Tageszeitung; die Bilder dazu wurden in der T AGESSCHAU des Fernsehens gezeigt. Horst Jaedicke, der ab Oktober 1952 Mitarbeiter der T AGESSCHAU war, beschrieb das Phänomen aus der Position der Macher retrospektiv so: »Wir haben morgens eine Zeitung gekauft, ich habe die in der U-Bahn gelesen, und kam dann in die Redaktion und fragte: Was machen wir denn eigentlich? Dann hat man aus diesen Zeitungen heraus seine T AGESSCHAU gestaltet, um sie am Abend in einigermaßen enger Anlehnung zu dem, was die Zuschauer am Tag schon konsumiert haben, loszulassen.« 301 <?page no="178"?> 15. Der Wandel der T AGESSCHAU (1950er- und 1960er-Jahre) 179 Svoboda analysierte als Zeitgenosse dasselbe Phänomen aus der Position der Zuschauer: »Die meisten Zuschauer hörten vor der T AGESSCHAU Rundfunknachrichten, und die T AGESSCHAU ergänzte diese Meldungen. In England sei die neue Form der T AGESSCHAU (mit Kommentar, Nachrichten usw.) erst eingeführt worden, seitdem Hunderttausende von Zuschauern nur noch fernsehen und keinen Rundfunkapparat mehr haben. Die jetzige deutsche T AGESSCHAU müsste als Zugabe zu den Rundfunkmeldungen betrachtet werden.« 302 In der T AGESSCHAU sah man also in Bewegung, was man vorher bereits gelesen oder gehört hatte - es sei denn, die T AGESSCHAU brachte Bilder zu Ereignissen, die für die Nachrichtenmedien überhaupt keinen Wert hatten. Da die T AGESSCHAU als eine visuelle Ergänzung zu den Hörfunknachrichten konzipiert wurde, wurde eine Verdoppelung des Programmangebots vermieden. Für eine solche Konzeption gab es nur ein adäquates Vorbild, die Wochenschau, die über Jahrzehnte die gleiche Aufgabe erfolgreich erfüllt hatte. 303 Die Wochenschau war in der Bundesrepublik der 1950er-Jahre so beliebt, dass 76 % aller Zuschauer es bedauerten, wenn sie sie ganz oder teilweise versäumten. 304 Die Pioniere des deutschen Fernsehens verstanden das neue Medium zudem als ein Bildermedium, für das es nur ein visuelles Modell gab: »Unser einziges Modell für das optische Nachrichtenwesen war die Wochenschau«, formulierte Jaedicke, der selbst vom Hörfunk kam, retrospektiv: »Jedes bewegte Bild war im Grunde die Gestaltungsmöglichkeit der damaligen T AGESSCHAU . [...] Sie werden es heute für merkwürdig empfinden, aber der Vorwurf: Was Ihr macht, ist ja eigentlich Hörfunk, saß so tief in unseren Köpfen, daß wir versucht haben, jedes sprechende Gesicht [...] zu vermeiden.« 305 Die T AGESSCHAU übernahm jedoch nicht nur die Funktion und Struktur der Wochenschau, sondern bezog auch ihr Material von der N EUEN D EUTSCHEN W OCHENSCHAU , ehe sie ab Mitte der 1950er-Jahre zunehmend auf Eigenproduktionen setzte. Bei aller Ähnlichkeit zwischen der T AGESSCHAU und der Wochenschau der 1950er-Jahre gab es doch zwei Unterschiede, die mit den unterschiedlichen Erscheinungsrhythmen zusammenhängen. Die T AGESSCHAU lieferte aktuellere und mehr Filmbilder als die Kino-Wochenschau, da sie anders als die Wochenschau nicht nur einmal, sondern, wie bereits erwähnt, zunächst drei Mal wöchentlich und ab dem 1. Oktober 1956 an allen Werktagen gezeigt wurde. Aufgrund der im Vergleich zur Wochenschau größeren Aktualität wurde die neue Fernsehsendung <?page no="179"?> Fallstudien zum Wandel der Kino- und Fernsehkultur 180 T AGESSCHAU genannt, neun Jahre bevor sie erstmals ab dem 3. September 1961 auch sonntags und damit tatsächlich täglich ausgestrahlt wurde. Jede T AGESSCHAU dauerte zudem 15 bis 25 Minuten, während eine Wochenschau nur etwa zehn Minuten lang war. Zudem mussten nicht wie bei der Wochenschau viele Kopien für den Kinoeinsatz gezogen und verbreitet werden; stattdessen wurde die Arbeitskopie gesendet, was der T AGESSCHAU einen zusätzlichen Aktualitätsvorsprung gegenüber der Wochenschau einbrachte. 306 Nachrichten vor der T AGESSCHAU (1959/ 60) Die T AGESSCHAU mit Bildern zu Ereignissen, die den Zeitungslesern und Rundfunkhörern bereits bekannt waren, war bei den Zuschauern eine der beliebtesten Sendungen des Deutschen Fernsehens der 1950er-Jahre. 307 Nur von einer kleinen Minderheit der Programmverantwortlichen wurde Kritik an diesem Konzept der Sendung laut. Clemens Münster vom Bayerischen Rundfunk kritisierte bereits 1956 intern scharf »das kleine Format [der T AGESSCHAU ] und den kleinen Horizont der Hamburger Redaktion«. 308 Er verlangte Nachrichten und ihre angemessene Präsentation und stellte in einer Sitzung der ständigen Programmkonferenz fest, »daß in der T AGESSCHAU die umfassenden Informationen über das fehlten, was in der Welt geschehen ist. [...] [Er] spricht sich für den Verzicht auf ›auflockernde Stories‹ aus [...] [und] äußert sich sodann kritisch zu den begleitenden Texten. Er lehnt die seiner Meinung nach häufig gebrauchten Kurzkommentare ohne Begründung, die Informationen mit generalisierendem Urteil ab.« 309 Münster forderte, »daß eine Vermengung von Bericht und Stellungnahme vermieden werden sollte«. 310 Nach längerer Diskussion wurde im Dezember 1957 bei den Intendanten Einigkeit darüber erzielt, dass »Nachrichten und T AGESSCHAU untrennbare Bestandteile einer aktuellen Information im Abendprogramm des Deutschen Fernsehens sein müssen«. 311 Dieser Standpunkt war in den Entscheidungsgremien der ARD nicht zuletzt deshalb lange strittig, weil man auf der Basis der Erfahrungen mit der nationalsozialistischen Diktatur »Befürchtungen vor jeder zentralen Nachrichtengebung« 312 hatte. Die Nachrichten des Rundfunks wurden von den verschiedenen Landesrundfunkanstalten eigens produziert, sodass man in den jeweiligen Sendegebieten unterschiedliche Nachrichten hörte. Wegen der Skepsis gegenüber einem zentralen Angebot etablierten sich die ersten Nachrichtensendungen des Deutschen Fernsehens in den vor 20 Uhr gesendeten Regionalprogrammen. Am 2. März 1959 wurde erstmals vom Deutschen Fernsehen eine zentrale Nachrichtensendung ausgestrahlt. Vor der T AGESSCHAU wurden um 20.00 Uhr fünf Minuten Nachrichten verlesen, illustriert mit Standfotos. Dabei war der Nachrichtensprecher im Bild zu sehen; mehrere Sprecher wechselten sich im Wo- <?page no="180"?> 15. Der Wandel der T AGESSCHAU (1950er- und 1960er-Jahre) 181 chenrhythmus ab. Für diese Nachrichtensendung vor der T AGESSCHAU stand als Modell die Nachrichtensendung im Hörfunk zur Verfügung, die in den 1950er- Jahren zu den beliebtesten Radiosendungen zählte. 64 % aller erwachsenen Deutschen gaben 1956 an, »fast täglich bzw. mehrere Male am Tag« Nachrichten im Rundfunk zu hören. 313 Die Hörfunknachrichten berichteten sachlich-distanziert über Ereignisse, die aktuell und gesellschaftlich relevant waren. 314 Dass sich die Nachrichtensendung des Fernsehens an den Nachrichten des Hörfunks orientierte, war naheliegend, weil Radio und Fernsehen von derselben Institution, dem öffentlich-rechtlichen Rundfunk, produziert wurden. Die Nachrichten, die vor der T AGESSCHAU verlesen wurden, stammten daher auch konsequenterweise aus der Hörfunk-Nachrichtenredaktion des Norddeutschen Rundfunks (NDR). 315 Die Gründe, weshalb die traditionelle Bilderschau durch Wortnachrichten im Fernsehen ergänzt wurde, wurden von den Programmverantwortlichen so formuliert: »Der Beirat habe hier den in München bereits gefassten Beschluss erneuert, dass im Interesse des Zuschauers auf die Dauer auf einen Nachrichtendienst zur Eröffnung des Abendprogramms nicht verzichtet werden könne. [...] Der normale Zuschauer würde kaum mehr den Rundfunknachrichtendienst hören, er sei deshalb auf Nachrichten im Fernsehen angewiesen. [...] Die Fernsehzuschauer würden ja keine Nachrichten mehr hören, man müsse aber für die politische Orientierung sorgen.« 316 Der Vorsitzende der ARD, Franz Stadelmayer, hielt in seiner Vorlage für die Entscheidung der Intendanten am 3. Dezember 1958 fest: »Zentrale Nachrichten im Fernsehen, und zwar im Zusammenhang und im Anschluss an die T AGESSCHAU sind notwendig, weil der überwiegende Teil der Fernsehzuschauer keinen Rundfunk mehr hört, infolgedessen ohne Nachrichten bliebe, wenn das Fernsehen ihn nicht mit Nachrichten versorgt.« 317 Der Programmauftrag des öffentlich-rechtlichen Fernsehens, die Mediennutzer zu informieren, schien gefährdet, weil sie, statt Rundfunknachrichten zu hören, nur noch die Bilderschau des Fernsehens sahen. Aus einer Erhebung des Allensbacher Instituts für Demoskopie, die vom Süddeutschen Rundfunk (SDR) in Auftrag gegeben wurde, ist zu ersehen, dass die Hörbeteiligung an den abendlichen Nachrichtensendungen des Rundfunks (um 19.30 Uhr, seit 1963 um 19 Uhr) nach Aufnahme der T AGESSCHAU kontinuierlich sank (von knapp 40 % 1953 auf gut 20 % 1958, auf gut 15 % 1963, unter 10 % 1968, auf unter 5 % 1971). 318 Diesem Rückzug der Hörer stand eine konstante Popularität der T AGESSCHAU gegenüber: <?page no="181"?> Fallstudien zum Wandel der Kino- und Fernsehkultur 182 »Nach der Stichtaguntersuchung der NWDR-Hörerforschung im Winter 1954 sahen etwa zwei Drittel der Zuschauer in den wenigen Fernsehhaushalten der ersten Stunde im NWDR-Gebiet gestern die T AGESSCHAU um 20.00 Uhr. Ähnliche Reichweiten für die inzwischen zahlreicher gewordenen potentiellen Fernsehzuschauer ergaben sich für die ARD-Hauptnachrichten an allen Wochentagen aus der Stichtaguntersuchung des Jahres 1960.« 319 Die Ausstattung der bundesdeutschen Haushalte mit Fernsehgeräten nahm in den 1950er-Jahren stetig zu (4 % 1956, 9 % 1957, 11 % 1958, 16 % 1959, 24 % 1960), wobei die Nutzung u. a. durch Nachbarn und Verwandte größer war, als diese Zahlen erkennen lassen. Daher musste man davon ausgehen, dass immer mehr Menschen die T AGESSCHAU sahen, statt die abendlichen Rundfunknachrichten zu hören. Die Entscheidungsträger reagierten also auf einen signifikanten Wandel im Nutzungsverhalten der Rezipienten in Bezug auf die Medien Rundfunk und Fernsehen, indem sie die Hörfunknachrichten zur Eröffnung des Abendprogramms ins Fernsehen brachten. Die Programmverantwortlichen haben den Mediennutzungswandel - immer mehr Menschen sahen die T AGESSCHAU , während immer weniger die abendlichen Hörfunknachrichten hörten - jedoch missverstanden, indem sie das veränderte Verhalten der Mediennutzer als zunehmendes Desinteresse an politischen Informationen interpretierten. Tatsächlich war das Informationsbedürfnis der Mediennutzer von den 1950erzu den 1960er-Jahren ungebrochen: Zum einen wurden die Hörfunknachrichten zu anderen Zeiten, insbesondere morgens früh (um 7 und um 8 Uhr) regelmäßig gehört, ohne dass sich das Nutzungsverhalten in diesem Zeitraum in dieser Hinsicht gewandelt hätte. 320 Zum anderen hat sich auch das Verhalten, wie die Tageszeitungen genutzt wurden, nicht verändert. 1956 gaben 71 % der erwachsenen Deutschen an, »täglich« oder »beinahe täglich« eine Zeitung zu lesen. 1965 lasen an einem durchschnittlichen Werktag 77 % aller Erwachsenen eine regionale bzw. überregionale Tageszeitung. 321 Da sich die Bevölkerung über die Tageszeitung und zu veränderten Zeiten im Hörfunk über die relevanten politischen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Ereignisse informierte, kann von einem generellen Rückgang des Informationsbedürfnisses nicht die Rede sein. Die Programmverantwortlichen haben ihre Entscheidung, die T A- GESSCHAU durch eine vorhergehende Nachrichtensendung zu ergänzen, also aufgrund einer Missinterpretation des Hörfunknutzerverhaltens getroffen. Entgegen ihrem eigenen Handlungsmotiv, den Fernsehzuschauern zu bringen, wovor diese zu fliehen schienen - nämlich Nachrichten -, lag der Ausbau der T AGESSCHAU zu einer Nachrichtensendung genau auf der Linie der Zuschauernachfrage, wie nun zu zeigen ist. <?page no="182"?> 15. Der Wandel der T AGESSCHAU (1950er- und 1960er-Jahre) 183 Die T AGESSCHAU als Nachrichtensendung (ab 1960) Das Konzept der T AGESSCHAU blieb in der ersten und zweiten Phase im Grundsatz unverändert. Erst in der unmittelbaren Abfolge von Nachrichten und T A- GESSCHAU wurde konsensfähig, dass die T AGESSCHAU nicht einfach eine Schau lebender Bilder zu den Ereignissen des Tages war, sondern hinsichtlich der Themenauswahl nicht dem Rundfunkjournalismus, sondern der Boulevardpresse folgte. Galten die Wortnachrichten als Inbegriff der Seriosität, so erschien die T AGESSCHAU dem Fernsehbeirat im Juni 1959 nun als unseriös: »Erneut wurde das starke thematische Durcheinander der T AGESSCHAU moniert, die vor allen Dingen jetzt zu einem Zeitpunkt, bei dem die vorhergehenden Nachrichten noch nicht in ein organisches Miteinander zur T A- GESSCHAU getreten sind, immer mehr zum Charakter der Bildzeitung zu werden droht, die nach den seriösen Tagesnachrichten zu sehen ist.« 322 Aufgrund dieser Kritik wurde die bloße Aufeinanderfolge von Nachrichten und T AGESSCHAU nach knapp zwei Jahren aufgelöst, um die T AGESSCHAU selbst zu einer Nachrichtensendung zu machen: »Die Nachrichten zu Beginn des Abendprogramms, für die bisher die Nachrichtenredaktion des NDR zuständig war, sollen Bestandteil der gesamten T AGESSCHAU werden, da die jetzige Trennung von Wort- und Bildnachrichten nicht für tragbar gehalten wird; in Zukunft wird der Wert der Nachricht allein über ihren Platz innerhalb der T AGESSCHAU entscheiden.« 323 Am 1. Dezember 1960 wurde nach einigen Versuchssendungen die erste reguläre T AGESSCHAU ausgestrahlt, die den Anspruch hatte, eine Nachrichtensendung zu sein. Die neue Form der T AGESSCHAU basierte auf verbal vermittelten Nachrichten, die von einem im Bild sichtbaren Sprecher, Karl-Heinz Köpcke, vorgetragen wurden. 324 Indem die T AGESSCHAU zu einer Nachrichtensendung umgestaltet wurde, wurden die Hörfunknachrichten zu ihrem Modell. Aktualität und Relevanz der Informationen waren nun die Kriterien für die Selektion der Ereignisse, über die berichtet werden sollte. Die T AGESSCHAU war nun keine visuelle Ergänzung zu den Hörfunknachrichten mehr, sondern eine Alternative. Seit dem 3. Januar 1961 wurde zudem eine Spätausgabe der T AGESSCHAU gesendet, sodass das Abendprogramm nicht nur mit einer Nachrichtensendung begann, sondern auch endete. Die T AGESSCHAU baute eine eigene Nachrichtenredaktion auf, die sich im Wesentlichen aus erfahrenen Mitarbeitern des NDR-Hörfunks rekrutierte. »Meine Absicht läuft darauf hinaus«, schrieb der Intendant des NDR am 17. Februar 1960 an den Vorsitzenden der ARD, »die ganze T AGESSCHAU , also gesprochene Nachrichten und Filmberichte, als eine Nachrichtenschau in Zusammenarbeit mit dem <?page no="183"?> Fallstudien zum Wandel der Kino- und Fernsehkultur 184 Nachrichtenapparat des NDR zu entwickeln und die Verantwortlichkeiten entsprechend zu verteilen.« 325 Hans-Joachim Reiche, seit 1947 beim NWDR-Hörfunk und auf aktuelle Berichterstattung spezialisiert, wurde am 1. September 1960 neuer Leiter der T AGESSCHAU und mit der Ausarbeitung eines Konzepts betraut. Mitarbeiter der Nachrichtenabteilung des NDR und andere Mitarbeiter verstärkten seinen Stab, sodass die vorgesehene Umstellung bewältigt werden konnte. 326 Ziel war die Entwicklung einer fernsehspezifischen Form der Nachrichtenpräsentation. »Nachrichten sollen in wirklich fernsehgerechter Form vermittelt werden«, forderte der Fernsehprogrammbeirat im Oktober 1960, »und zwar soll eine Verflechtung von Film- und Wortberichten erfolgen.« 327 Die von einem Sprecher verlesenen Nachrichten bildeten die Grundstruktur der Sendung, die gegebenenfalls mit Filmberichten und Standfotos angereichert wurde. Da die neuen Redakteure der T AGESSCHAU in der Mehrzahl vom Hörfunk kamen, war der Umgang mit Bildern für sie neu. »Wir mußten Bild dazu lernen«, 328 formulierte Reiche retrospektiv. Obwohl die Nachrichtensendung der BBC, die einige Jahre vorher entwickelt worden war, ein Vorbild hätte abgeben können, beschrieb Reiche die Entwicklung des neuen Sendekonzepts der T AGESSCHAU als ein »learning by doing.« 329 Da primär informiert werden sollte, änderte sich die Präsentationsweise der Nachrichten: Bilder von Ereignissen hatten in der neuen T AGESSCHAU nur noch einen zweitrangigen Status, da sich die Selektion der Nachrichten nach ihrem Nachrichtenwert und nicht mehr nach der Verfügbarkeit der Bilder richtete. Daher berichtete die T AGESSCHAU der 1960er-Jahre auch von Ereignissen, von denen es (noch) keine Bilder gab bzw. für die Bilder keinen besonderen Informationswert hatten. Konsequent sank der Anteil der Filmbeiträge, der in der ersten Phase 100 % betrug, auf 56 % im Jahr 1963. 330 Nachricht und Meinung oder Kommentar wurden streng getrennt, und die Sprechweise war nun sachlich-distanziert. Der Hintergrund, vor dem der Sprecher zu sehen war, wechselte entsprechend der jeweiligen Nachricht, wobei erstmals visuelle Mittel wie Landkarten oder Schautafeln systematisch eingesetzt wurden, um ergänzende Informationen zu geben. Zudem wurde auf eine Dramatisierung der Ereignisse zunehmend verzichtet: Die begleitende Musik wurde zunächst auf sportliche Ereignisse beschränkt, bevor sie völlig wegfiel. Versuchssendung der T AGESSCHAU vom 16. 11. 1960 mit Karl-Heinz Köpcke (YouTube) <?page no="184"?> 15. Der Wandel der T AGESSCHAU (1950er- und 1960er-Jahre) 185 Die T AGESSCHAU als Nachrichtensendung war bei den Programmverantwortlichen kein Streitthema mehr, und die Zuschauer schätzten die neue Sendeform sehr. Gegenüber der älteren T AGESSCHAU wurde die Bewertung durch die Zuschauer deutlich positiver: Sie stieg auf einer Skala von -10 bis +10 von +3,5 für die T AGESSCHAU ohne Nachrichten auf +5,6 für die T AGESSCHAU als Nachrichtensendung. 331 Das Konzept der T AGESSCHAU , bei dem ein im Bild sichtbarer Sprecher Nachrichten verliest, die durch Filmberichte ergänzt werden, wurde vom Grundsatz her seit den 1960er-Jahren nicht mehr geändert, was Neuerungen gewiss nicht ausschloss. Die Aktualität wurde durch technische Neuerungen wie die Satellitenübertragung weiter optimiert, die Internationalität der Berichterstattung im Rahmen der Eurovision ausgeweitet, das Kriterium der Nachrichtenrelevanz in der T AGESSCHAU -Redaktion diskutiert und an der Präsentation der Nachrichten immer wieder gearbeitet. 332 Kapitel 15 hat gezeigt, dass die Mediennutzungsform aktueller TV-Bildberichterstattung Anfang der 1950er-Jahre in Auseinandersetzung mit dem politischen System des Nationalsozialismus (Zentralismus) ebenso wie in der Interaktion mit existierenden Formen der Bildberichterstattung (Wochenschau) und der Nachrichtenvermittlung anderer Medien (Rundfunk) entstanden ist. Deutlich wurde, wie sich die T AGESSCHAU zu einer Nachrichtensendung entwickelt hat. Das Deutsche Fernsehen der ARD-Rundfunkanstalten produzierte Anfang der 1950er- Jahre keine Nachrichtensendung, weil die Bevölkerung bereits aus dem eigenen Haus über den Hörfunk mit Nachrichten versorgt wurde. Um eine Verdoppelung des Programmangebots zu vermeiden, konzipierte man die T AGESSCHAU im Stil der Kino-Wochenschau als eine visuelle Ergänzung zu den Hörfunknachrichten. Erst als die Programmverantwortlichen die rückläufige Einschaltquote der abendlichen Hörfunknachrichten bei steigender Nutzung der T AGESSCHAU als zunehmendes politisches Desinteresse der Bevölkerung interpretierten, brachten die Verantwortlichen Nachrichten ins Fernsehprogramm, weil sie den Programmauftrag hatten, die Zuhörer und Zuschauer zu informieren. Die Entscheidung der Programmverantwortlichen beruhte jedoch auf einer Missinterpretation der Fakten. Tatsächlich schätzten die Zuschauer Nachrichten sehr und bewerteten daher die zur Nachrichtensendung umgebaute T AGESSCHAU positiver als die unterhaltende Bildercollage im Stil der Boulevardzeitungen. <?page no="186"?> 187 16. Medien- und Generationswandel (1960erbis 1990er-Jahre) In den Jahrzehnten nach dem Ende der Naziherrschaft kam es in Deutschland zu einem fundamentalen Umbau der Institution Kino (in dem in Kapitel 1 definierten erweiterten Sinn). 333 Dieser hatte zum einen etwas mit der in Kapitel 15 angesprochenen Etablierung des Fernsehens zu tun. Die treibende Kraft hinter dem Umbau der Institution Kino war aber der Generationswandel, der in Deutschland als unmittelbare Folge der Naziherrschaft und des Zweiten Weltkriegs in den 1960er-Jahren besonders ausgeprägt war. 334 Das bundesdeutsche Kino der 1950er-Jahre erreichte ein breites Publikum mit Unterhaltungsfilmen. Von der Mitte der 1960erbis Anfang der 1980er-Jahre entstand der Neue deutsche Film, ein Kino der Erfahrung und des gesellschaftlichen Protests. Seit Mitte der 1980er-Jahre entwickelt sich wieder ein populäres Unterhaltungskino in Deutschland. Das ist in groben Umrissen bekannt; weniger klar sind jedoch die Dimensionen sowie die Gründe für diesen großen Wandel der Institution Kino in der Bundesrepublik Deutschland. Um den Zusammenhang zwischen dem Wandel der Institution Kino und dem Generationswandel herausarbeiten zu können, muss ein forschungstaugliches Konzept der Generationen formuliert werden. 335 Angehörige einer Alterskohorte (d. s. die in etwa Gleichaltrigen) formieren sich erst dann zu einer Generation, wenn sie (in der Regel durch äußere Lebensumstände bedingt) gemeinsame Wert-, Empfindens- und Verhaltensstandards ausbilden, die sie von der Gruppe der Älteren deutlich unterscheiden. Eine solche Generation besitzt (im Unterschied zur allein durch das gemeinsame Geburtsdatum gekennzeichneten Alterskohorte) eine eigene soziale und kulturelle Identität, ein Bewusstsein ihrer derartigen Zusammengehörigkeit. Entsprechend der gesellschaftlichen, politischen und kulturellen Entwicklung können Generationen einander auf unterschiedliche Art ablösen, je nachdem welches Konfliktpotenzial zwischen ihnen besteht. Das klassische deutsche Kino der 1950er-Jahre Das deutsche Kino der 1950er-Jahre war eine Unterhaltungsinstitution für breite Bevölkerungsschichten. Zeigten 1950 knapp 4.000 Kinos in der Bundesrepublik Filme, so stieg die Zahl der Kinos bis 1959 auf über 7.000. Wurden 1950 knapp 490 Millionen Eintrittskarten verkauft, so waren es 1959 670 Millionen. Abgesehen von Kleinkindern und älteren Menschen gingen alle Bevölkerungskreise ins <?page no="187"?> Fallstudien zum Wandel der Kino- und Fernsehkultur 188 Kino; das Kinopublikum war weder sozialnoch altersbzw. geschlechtsspezifisch differenziert. Der große Teil der Bevölkerung ging regelmäßig ins Kino. 54 % der Deutschen gingen zumindest einmal im Monat ins Kino; 19 % saßen einmal bzw. sogar mehrmals pro Woche im Kino. 336 Das Kino war die Unterhaltungsinstitution der Zeit, zu der es keine Alternative gab: Das Fernsehen wurde zwar in den 1950er-Jahren in Meinungsumfragen ebenso als Unterhaltungsinstitution gesehen, war aber - wie in Kapitel 15 gezeigt - nur begrenzt verbreitet. Man ging ins Kino, um sich »ein paar schöne Stunden« zu machen, wie der Werbeslogan hieß. 337 Filme dienten - wie bereits im ersten Kapitel ausgeführt - dem Auftanken von Energie, nicht dem verzehrenden Energieverbrauch. Menschen versammeln sich zu Kinopublika, weil sie erleben wollen, was ihnen Vergnügen bereitet. Vergnügen bereiten ihnen vor allem Filme, die ihren eigenen Anschauungen entsprechen. Heimatfilme zum Beispiel bestätigen Werte wie Pflichterfüllung, Keuschheit, Naturverbundenheit, Glaube und Tradition. Viele dieser Filme boten über die Geschichte hinaus besondere Schauwerte, indem sie die unversehrte Landschaft und die unbekannte Tierwelt als zu schützendes Biotop präsentierten. Erfolgreiche Filme, die im Zweiten Weltkrieg spielen, wie D IE LETZTE B RÜCKE (1954) oder C ANARIS (1954), erzählten von tapferen Deutschen und verengten die Schuldfrage auf den kleinen Kern der politischen Entscheidungsträger um Hitler - eine Sicht, die das Publikum von einer Mitschuld entlastete (vgl. auch Kapitel 14). Filme hingegen, die das individuelle Leid und die individuelle Verstrickung in das totalitäre Nazi-Regime sinnlich-emotional wieder erfahrbar machten wie D ER V ERLORENE (1951) und K IRMES (1960), die Feigheit und Mitläufertum geißelten, waren kommerziell gesehen Flops. Was an der Kinokasse durchfiel, fand innerhalb eines marktwirtschaftlichen Systems von Angebot und Nachfrage keine Nachfolger. Ein kommuniziertes Werturteil entschied über Erfolg bzw. Misserfolg eines Films: Hat ein Film »gefallen«, fand man ihn »gut«, so empfahl man ihn weiter. 338 So erklärt sich, dass Filme, die mit ganz wenigen Kopien gestartet wurden, in die Jahres-Top-Ten kommen konnten. Im Februar 1955 lief zum Beispiel ein Film an, der zum zweiterfolgreichsten der Spielzeit 1954/ 55 werden sollte, »von dessen Produktion man in der Branche kaum etwas gehört hatte, dessen Darsteller [Rudolf Lenz und Anita Gutwell] kein Aufnahmeleiter in seinem Telefonverzeichnis führte und der ohne großes Reklame-Tamtam [...] gestartet wurde: D ER F ÖRSTER VOM S ILBERWALD . Ein mittlerer Verleih, die Union-Film, hatte ihn herausgebracht, und die Kopieranstalt musste Überstunden machen, um die vielen nachbestellten Kopien termingerecht zu liefern.« 339 Da die Filmwirtschaft der 1950er-Jahre nicht subventioniert war (sieht man von den Bundesbürgschaften der Jahre 1950-1955 ab 340 ), mussten die Filmfirmen ihre Filme verkaufen, wenn sie nicht in Konkurs gehen wollten. Die Zugehörig- <?page no="188"?> 16. Medien- und Generationswandel (1960erbis 1990er-Jahre) 189 keit eines Films zu einem Genre, signalisiert über große, gemalte Plakate, federte das Risiko der Produktion ab, weil beim Publikum Erwartungen geweckt wurden, die an bereits beliebte Filme anknüpften. Heimatfilmen wie W ENN AM S ONNTAGABEND DIE D ORFMUSIK SPIELT (1953) und D ER F ÖRSTER VOM S IL- BERWALD (1955) gingen Initialerfolge wie S CHWARZWALDMÄDEL (1950) und G RÜN IST DIE H EIDE (1951) voran; das Genre des Schlagerfilms mit Titeln wie L IEBE , T ANZ UND TAUSEND S CHLAGER (1955), F REDDY UNTER FREMDEN S TERNEN (1959) und S CHLAGER - R AKETEN (1960) wurde von Filmen wie G ROSSE S TARPARADE (1954) und G ITARREN DER L IEBE (1954) eingeleitet, die die Präsentation beliebter deutscher Schlager im Rahmen einer Geschichte erst gewinnbringend erscheinen ließen. Die Attraktivität der Stars, deren Beliebtheit in Umfragen bei der Fangemeinde immer wieder erhoben wurde, war ein Lockmittel, um die Lust des Zuschauers zu wecken, sich einen neuen Film anzusehen. Man wartete auf »den neuen Heinz Rühmann«, wenn einem der vorherige gut gefallen hatte. Ruth Leuwerik war mit Filmen wie E IN H ERZ SPIELT FALSCH (1953), K ÖNIGLICHE H OHEIT (1953) und D IE T RAPP -F AMILIE (1956) ein Markenzeichen, das für den herausragenden Unterhaltungswert ihrer jeweils neuen Filme sprach. Fand ein bestimmtes Thema, die formale Gestaltung, die Besetzung usf. kein ausreichendes Publikum, war es für die Produzenten auf absehbare Zeit nicht profitabel, einen ähnlichen Film zu produzieren. Filme wurden in den 1950er-Jahren unter arbeitsteiligen Bedingungen realisiert, bei denen eine Vielzahl von Spezialisten wie Produzent, Drehbuchautor, Regisseur, Kameramann, Schauspieler und Verleiher ihre jeweils klar umgrenzten Aufgaben hatten. Der Produzent kümmerte sich um die Entwicklung des Stoffs, die Finanzierung des Films, um die Dreharbeiten, die Postproduktion und den Verleih. Die Zentren der Macht waren - wie bereits in den 1930er-Jahren - die Chefs der Verleihgesellschaften, die über das notwendige Kapital und damit über den maßgeblichen Einfluss verfügten, welche Stoffe wie realisiert wurden. 341 Die Produzenten der kleinen Produktionsfirmen wie Berolina-Film oder Arca, die zu klein waren, um aus eigener finanzieller Kraft einen Film produzieren zu können, boten einzelne Projekte den großen Verleihern Herzog, Schorcht, Gloria oder Constantin an. Der Verleiher machte die Vergabe einer Verleihgarantie - ein Be- Starpostkarte »Ruth Leuwerik« mit Autogramm (Sammlung Garncarz) <?page no="189"?> Fallstudien zum Wandel der Kino- und Fernsehkultur 190 trag wird an den Produzenten gezahlt, um sich die spätere Kinoauswertung des Films zu sichern - davon abhängig, ob der Film so realisiert wurde, wie er die Nachfrage des Publikums einschätzte. Ein Beispiel für den Einfluss des Verleihchefs auf die Gestaltung bietet die Produktionsgeschichte des Films H ALLO F RÄU- LEIN (1949), der von einer jungen Frau, Maria Neuhaus (Margot Hielscher), erzählt, die 1945 in Deutschland eine internationale Jazz-Band gründet. Sie steht zwischen zwei Männern, einem jazzbegeisterten, gut aussehenden Amerikaner (Peter van Eyck) und einem soliden, unattraktiven deutschen Ingenieur (Hans Söhnker). In der ersten Drehbuchfassung entscheidet sich Maria Neuhaus für den Amerikaner, Captain Tom Keller, geht mit ihm in die USA und erlebt dort eine große Enttäuschung. Der Captain ist bereits verheiratet; sie endet in einer Bar, in der sie Gläser spült, und in Tränen ausbricht, als sie im Fernsehen das zerstörte Berlin sieht. Herbert Tischendorf, der Chef des Herzog-Filmverleihs, hat diesen Schluss nicht akzeptiert: »Das können wir dem deutschen Kinopublikum nicht zumuten.« 342 Axel Eggebrecht, der das Drehbuch geschrieben hatte, wurde daraufhin durch Helmut Weiss, den Regisseur der F EUERZANGENBOWLE (1944), ersetzt. Weiss, der im Vorspann schließlich als einziger Drehbuchautor genannt wurde, schrieb das Buch um: Maria Neuhaus entscheidet sich gegen den Amerikaner und für den unattraktiveren deutschen Mann. In dieser Fassung wurde der Film ein überdurchschnittlicher Erfolg; bei insgesamt 564 im Jahr 1949 in Berlin erstaufgeführten Filmen konnte er sich auf Rang 35 der Erfolgsrangliste platzieren. 343 Die 1950er-Jahre waren für die deutsche Filmwirtschaft neben der Kriegszeit das erfolgreichste Jahrzehnt. Der Grad der Zufriedenheit mit dem Filmangebot war hoch. Mehr als die Hälfte der Bevölkerung gab 1956 an, im letzten Jahr einen Film gesehen zu haben, der »wirklich gut« war. 344 Der deutsche Film der 1950er- Jahre war im eigenen Land überaus erfolgreich: Mehr als 50 % des gesamten Verleihumsatzes wurde mit deutschen Filmen erzielt; 63 von 100 Top-Ten-Filmen des Jahrzehnts kamen aus deutscher Produktion. US-Filme hatten in den 1950er- Jahren beim deutschen Publikum (wie bereits in den vorhergehenden Jahrzehnten) einen schweren Stand: 16 der 100 Top-Ten-Filme kamen aus Hollywood. Das deutsche Kino der 1950er-Jahre ist die Leistung einer Generation, für die die Herstellung, der Vertrieb und die Aufführung von Unterhaltungsfilmen selbstverständlich waren. Handwerkliche Solidität der Produktion und konsequente Orientierung der eigenen Arbeit an der Nachfrage des Publikums waren selbstverständliche Handlungsmaximen. Die Regisseure des populären Kinos der 1950er- Jahre gehören den Jahrgängen 1885 bis 1918 an. Sie haben ihre Karrieren zwischen den 1920er- und den 1940er-Jahren begonnen. Die genannten Handlungsmaximen waren für die Regisseure dieser Generation selbstverständlich, weil sie in eine etablierte Institution Kino hineinwuchsen. Weder war das Jahr 1945 ein Nullpunkt der deutschen Filmgeschichte, noch markierte das Ende der 1950er- <?page no="190"?> 16. Medien- und Generationswandel (1960erbis 1990er-Jahre) 191 Jahre bzw. das Oberhausener Manifest 1962, von dem noch die Rede sein wird, ein Ende des populären deutschen Kinos. Greift man drei Regisseure des 1950er- Jahre-Kinos heraus, kann man sehen, dass sie auch in den 1960er-Jahren noch sehr erfolgreich waren. Geza von Cziffra, Harald Reinl und Alfred Vohrer haben in den 1960er-Jahren zusammen 16 Filme unter den Top Ten. Harald Reinl hat besondere Erfolge mit Karl-May-Filmen und der Serie D IE L ÜMMEL VON DER ERSTEN B ANK , Vohrer mit Edgar-Wallace-Filmen. Mit der Spielzeit 1970/ 71 brach die Erfolgssträhne der Generation, zu der von Cziffra, Reinl und Vohrer gehören, aus Gründen ab, die später noch erläutert werden. Die außerordentliche Popularität des deutschen Films der 1950er- und 1960er- Jahre ist nur denkbar, wenn man davon ausgeht, dass die Entscheidungsträger der Filmwirtschaft und das große Publikum eine Interessengemeinschaft bildeten. Diese Interessengemeinschaft wurde von der Generation der Macher des Neuen deutschen Films nicht nur in Frage gestellt, sondern letztlich aufgebrochen - eine grundlegende Veränderung, deren Konsequenzen bis heute zu beobachten sind. 1885 Georg Wilhelm Pabst 1889 Erich Engels 1890 Fritz Lang 1892 Luis Trenker 1897 Géza von Bolváry 1897 Gerhard Lamprecht 1898 E. W. Emo 1899 Gustav Ucicky 1899 Frank Wysbar 1900 Robert Siodmak 1900 Géza von Cziffra 1901 Harald Braun 1902 Josef von Baky 1903 Willi Forst 1903 R. A. Stemmle 1905 Wolfgang Liebeneiner 1905 Arthur Maria Rabenalt 1906 Wolfgang Staudte 1907 Géza von Radványi 1907 Rudolf Jugert 1908 Helmut Käutner 1908 Harald Reinl 1910 Kurt Hoffmann 1910 Axel von Ambesser 1913 Volker von Collande 1914 Alfred Vohrer 1916 Alfred Weidenmann 1918 Rolf Thiele Regisseure des populären deutschen Films der 1950er-Jahre nach Geburtsjahrgängen Protest gegen »Papas Kino«: Bilder einer Generation Die Jahrgänge 1931 bis 1941, die den Krieg als Kinder erlebt haben, wurden von Helmut Schelsky 1957 als »skeptische Generation« beschrieben. 345 In den 1960er- Jahren kam es zu einem offenen Konflikt dieser Generation mit ihrer »Vätergeneration«, der weitreichende Folgen für die Kultur der Bundesrepublik gehabt hat. Der Motor dieses Konflikts war die Kritik an der Rolle, die die Väter im Natio- <?page no="191"?> Fallstudien zum Wandel der Kino- und Fernsehkultur 192 nalsozialismus gespielt haben. Die »skeptische Generation« postulierte die Eigenverantwortung menschlichen Handelns und machte die Pflichterfüllung oder das Mitläufertum der Eltern zu einem moralischen Vorwurf gegen sie. Das Entsetzen über die Rolle, die insbesondere die Väter im Nationalsozialismus spielten, führte zu einer Ablehnung ihrer gesamten Kultur. Verhalf diese Generation zunächst als Kinopublikum kritischeren Filmen der »Vätergeneration« zum Erfolg, so veränderte sie letztlich die gesamte Institution Kino in der Bundesrepublik Deutschland grundlegend. Ende der 1950er-Jahre entstanden einige Filme, die kritischer mit der nationalsozialistischen Vergangenheit umgingen, als es bisher üblich war, und die relativ erfolgreich wurden. Die Filme der Spielzeit 1959/ 60, R OSEN FÜR DEN S TAATS- ANWALT (1959) und D IE B RÜCKE (1959), sind dafür zwei herausragende Beispiele. R OSEN FÜR DEN S TAATSANWALT erzählt mit beißender Schärfe von den Machenschaften eines ehemaligen NS-Richters (Martin Held), der in der Bundesrepublik zum Staatsanwalt wird; der Film war überdurchschnittlich erfolgreich. D IE B RÜCKE schildert den aussichtslosen Kampf einer Gruppe Jugendlicher, die im Zweiten Weltkrieg eine Brücke vor den anrückenden Amerikanern verteidigen; der Film konnte sich auf Rang 3 der Erfolgsrangliste der Spielzeit 1959/ 60 platzieren. Dass gesellschaftskritische Filme seit Ende der 1950er-Jahre kommerziell erfolgreich wurden, geht auf einen Wandel des Kinopublikums zurück. Zwar hat sich die Altersstruktur des Kinopublikums in dieser Zeit noch nicht auffällig verändert, die jüngeren Zuschauer kamen jedoch zunehmend aus den Jahrgängen, die im Dritten Reich noch Kinder waren bzw. erst nach Kriegsende geboren wurden. Beide Filme waren ab 12 Jahren freigegeben, sodass die jüngsten Kinobesucher dieser beiden Filme 1947 auf die Welt gekommen waren. Die 29-jährigen Zuschauer waren Jahrgang 1930. Marktwirtschaftlich rechneten sich kritischere Filme also erst, als die Generation, die keine persönliche Verantwortung für die Barbarei der Nazis mehr trug, in großer Zahl zu regelmäßigen Kinobesuchern wurde. Zwei polemische Bücher der »skeptischen Generation« lieferten 1961 eine Abrechnung mit dem deutschen Kino der »Vätergeneration«, Walther Schmieding (Jg. 1928) mit Kunst oder Kasse: Der Ärger mit dem deutschen Film 346 und Joe Hembus (Jg. 1933) mit Der deutsche Film kann gar nicht besser sein. 347 Erfolgreich vor einem einheimischen Publikum, aber gänzlich ohne jede Reputation im Ausland, wurde der deutsche Film der 1950er-Jahre von Schmieding und Hembus als künstlerisch bedeutungslos und politisch nicht akzeptabel verworfen. »›Der deutsche Film.‹ Jeder bundesrepublikanische Zeitungsleser ist seit Jahren daran gewöhnt, mit diesem Etikett Negatives zu assoziieren, es als ein Synonym für ›provinziell, mittelmäßig, uninteressant‹ aufzufassen.« 348 <?page no="192"?> 16. Medien- und Generationswandel (1960erbis 1990er-Jahre) 193 Der Nationalsozialismus galt als der zentrale Grund für die festgestellte Misere des deutschen Films. Das populäre deutsche Kino der 1950er-Jahre wurde als nicht akzeptabel verworfen, weil es die Arbeitsleistung der Regisseure war, die bereits für das Unterhaltungskino der Nazis verantwortlich waren. Filme wie D IE LETZTE B RÜCKE oder C ANARIS wurden abgelehnt, weil sie die Kriegsteilnehmer im Publikum nicht angriffen, sondern entlasteten und versöhnten. Filminteressierte der »skeptischen Generation« formulierten ein Jahr nach dem Erscheinen der beiden polemischen Bücher über »Papas Kino« das sogenannte Oberhausener Manifest, mit dem sie ihren Anspruch gegenüber der »Vätergeneration« formulierten, »den neuen deutschen Spielfilm zu schaffen. Dieser neue Film braucht neue Freiheiten. Freiheit von den brancheüblichen Konventionen. Freiheit von der Beeinflussung durch kommerzielle Partner. Freiheit von der Bevormundung durch Interessengruppen. [...] Der alte Film ist tot. Wir glauben an den neuen.« 349 Die ersten Macher des Neuen deutschen Films der 1960er-Jahre, der häufig auch als Junger deutscher Film bezeichnet wird, stammten aus der »skeptischen Generation«. Zug um Zug kamen die Jahrgänge bis etwa 1945 hinzu. Bezeichnet Schelsky die Jahrgänge 1931 bis 1941 als »skeptische Generation«, so nenne ich die Jahrgänge bis einschließlich 1945 im Folgenden Protestgeneration. 1929 Peter Lilienthal 1930 Norbert Kückelmann 1932 Alexander Kluge 1932 Edgar Reitz 1933 Franz Josef Spieker 1933 Jean-Marie Straub 1933 Johannes Schaaf 1935 Hans Jürgen Syberberg 1937 Helke Sander 1937 Peter Fleischmann 1938 Ula Stöckl 1938 Herbert Achternbusch 1938 Heidi Genée 1939 Hark Bohm 1939 Rudolf Thome 1939 Reinhard Hauff 1939 Erika Runge 1939 Roland Klick 1939 Ulrich Schamoni 1939 Volker Schlöndorff 1940 Klaus Lemke 1940 Bernhard Sinkel 1940 Helma Sanders-Brahms 1941 Jutta Brückner 1941 May Spils 1941 Hans W. Geißendörfer 1941 Christian Ziewer 1942 Werner Herzog 1942 Ulrike Ottinger 1942 Rosa von Praunheim 1942 Margarethe von Trotta 1943 Claudia von Alemann 1943 Marianne Lüdcke 1945 Werner Schroeter 1945 Rainer Werner Fassbinder 1945 Wim Wenders 1946 Robert van Ackeren Regisseure des Neuen deutschen Films nach dem Geburtsjahr <?page no="193"?> Fallstudien zum Wandel der Kino- und Fernsehkultur 194 Als Angehörige der Protestgeneration begannen, Filme zu machen, wurde die Ablehnung des traditionellen populären deutschen Films zur treibenden Kraft ihres Schaffens. »Aber die totalitäre Herrschaft des Mittelmaßes, in der Kultur ein spezielles Erbe des Dritten Reiches, bestand im deutschen Film ungebrochen weiter. Die Idee vom Autorenkino, praktiziert von den Regisseuren der Nouvelle Vague, gab uns die Hoffnung, dieses Nazierbe abzuschütteln. Endlich konnten wir das Lebensgefühl unserer Generation als Produktivkraft verstehen.« 350 Als Gebetsformeln wurden die Standards der »Vätergeneration« verworfen: »Film ist ein Massenmedium. Film ist Unterhaltung. Guter Film ist gute Unterhaltung. Keine Experimente.« 351 Für die Protestgeneration war nicht mehr Unterhaltung, sondern »legitime Filmkultur in Deutschland« 352 von Bedeutung. Selbstreflexion und Selbsterkenntnis des eignen Lebens wurden zur Aufgabe der Filmemacher. Dies sollte in einer Form geschehen, die den deutschen Film künstlerisch auch international wieder bekannt und anerkannt machte. Die Erfahrungen der Protestgeneration, die in die neuen deutschen Filme eingeschrieben sind, wurden vom Nationalsozialismus geprägt; sie sind von den Verstrickungen der Eltern in das Unrechtsregime und von der eigenen Ohnmacht bestimmt. Die neuen Filmemacher haben sich mit der nationalsozialistischen Vergangenheit auseinandergesetzt, indem sie das eigene Leiden an der Geschichte thematisiert bzw. einen Protest gegen gesellschaftliche Zustände formuliert haben. Die Grundstimmung vieler ihrer Filme ist melancholisch; Angst, Einsamkeit und Versagen sind die bestimmenden Themen. Eine ganze Reihe dieser Filme inszenieren politische Geschichte als Familiendrama: Im Unterschied zum konventionellen, an Genretraditionen orientierten Heimatfilm der 1950er-Jahre, 353 in dem die Mütter als Filmfiguren fehlen, sind in den Filmen der 1970er-Jahre - entsprechend den realen Erfahrungen dieser Generation - die Väter abwesend. Die Mütter sind depressiv und verbittert. Der Film D EUTSCHLAND IM H ERBST (1978), eine Gemeinschaftsarbeit neuer deutscher Filmemacher wie Fassbinder, Kluge, Reitz und Schlöndorff, hat paradigmatischen Charakter. Der Film reflektiert die Rolle der RAF-Terroristen um Ulrike Meinhof (Jg. 1934) und Andreas Baader (Jg. 1944), die seit 1970 für etliche Morde, Banküberfälle und Sprengstoffattentate in der Bundesrepublik verantwortlich waren. Die Terroristen gehörten derselben Generation wie die Filmemacher an - wobei jene mit Gewalt versuchten, ihre gehassten Väter zu beseitigen und diese in Hanns Martin Schleyer, Arbeitgeberpräsident und ehemaliges Mitglied der SS, den sie umbrachten, glaubten gefunden zu haben. Anders als bei den Terroristen (zumindest vor ihren Selbsttötungen 1976/ 77) richtete sich die Aggression der Filmemacher in der überwiegenden Zahl der Neuen deutschen Filme weniger gegen die Väter als gegen sich selbst. Viele der Filme <?page no="194"?> 16. Medien- und Generationswandel (1960erbis 1990er-Jahre) 195 erzählen Geschichten, die von Ausweglosigkeit und Selbstzerstörung geprägt sind; mitunter ist Selbstmord die einzige Handlungsalternative. Das von den Eltern verlassene Kind ist ein zentrales Bild des Neuen deutschen Films, Kaspar Hauser eine seiner Schlüsselfiguren. J EDER FÜR SICH UND G OTT GEGEN ALLE (Herzog, 1974) inszeniert die Phantasie, elternlos außerhalb der Gesellschaft zu stehen und von dieser verstoßen und letztlich getötet zu werden. Andere Filme wenden die leidvollen Erfahrungen in Protest gegen die aktuellen gesellschaftlichen und politischen Verhältnisse um. Im Mittelpunkt dieser Filme stehen oft Außenseiter, die gegen das Establishment vorgehen wie in L INA B RAAKE ODER D IE I NTERESSEN DER B ANK KÖNNEN NICHT DIE I NTERESSEN SEIN , DIE L INA B RAAKE HAT (Sinkel, 1975) oder V ERA R OMEIKE IST NICHT TRAGBAR (Willutzki, 1976). Der Neue deutsche Film wollte jedoch nicht nur eine andere Funktion als das klassische deutsche Kino erfüllen; er wollte dies auch in einer neuen Form tun. Die neuen Filmemacher akzeptierten den filmischen Rekurs auf die NS-Vergangenheit nicht in der Form des US-Fernsehmehrteilers H OLOCAUST - D IE G ESCHICHTE DER F AMILIE W EISS (USA 1978) und auch nicht in der Form der Dokumentation H ITLER - EINE K ARRIERE (1977), die ihr nationalsozialistisches Propagandamaterial selbst zur Schau stellt. Angestrebt wurde eine Form, die mit der Nazi-Ästhetik nichts zu tun hat. Analyse statt Illusion, komplexe ästhetische Erfahrung statt simpler Verständlichkeit - das waren Schlagworte, mit denen für eine neue Filmästhetik plädiert wurde. Stilistisch sind die neuen Filme sehr disparat: Einem radikalen Bruch mit Konventionen des klassischen Erzählkinos bei Alexander Kluge (A BSCHIED VON GESTERN , 1966) oder bei Jean-Marie Straub und Danièle Huillet (N ICHT VERSÖHNT ODER E S HILFT NUR G EWALT , WO G EWALT HERRSCHT , 1965) steht ein traditionelleres Erzählen bei Wim Wenders und im Spätwerk Rainer Werner Fassbinders gegenüber. Wenn es einen charakteristischen Stil des Neuen deutschen Films gibt, so ist es die Mischform. Spielformen werden mit dokumentarischem Material kombiniert, indem fiktive Figuren in realen Ereignissen auftreten; extensiv werden literarische Formen wie der Essay oder theatralische Formen wie die Oper benutzt. Auch wenn die Individualität der einzelnen Filmemacher eine Rolle spielt, so ist die Präferenz für bestimmte Grundformen filmischer Gestaltung doch von den Erfahrungen der Generation insgesamt geprägt. Filmemacher, die als Kinder und Jugendliche den Zweiten Weltkrieg selbst bewusst erfahren haben wie Alexander Kluge, Jean-Marie Straub und Helke Sander scheinen der traditionellen Form des Erzählens wesentlich mehr zu misstrauen als jene, die kaum noch eigene Erinnerungen an den Krieg haben. Die Jahrgänge ab 1941 wie Hans W. Geißendörfer, Werner Herzog, Margarethe von Trotta, Rainer Werner Fassbinder, Wim Wenders, Robert van Ackeren und Erwin Keusch haben mehr Filme geschaffen, die formal dem klassischen Kino nahe stehen, als jene, die das Ober- <?page no="195"?> Fallstudien zum Wandel der Kino- und Fernsehkultur 196 hausener Manifest unterschrieben haben. Die Regisseure des Neuen deutschen Films verstanden sich als eine »vaterlose Generation« (Werner Herzog). Da die Angehörigen der Protestgeneration die Regisseure des populären deutschen Kinos, die ihre »Väter« hätten sein können, maßlos verachteten, haben sie sich von ihnen auch nicht ausbilden lassen. Sie gingen bei ausländischen Kollegen in die Schule wie Volker Schlöndorff bei Louis Malle und Alain Resnais, waren Autodidakten wie Werner Herzog und Rainer Werner Fassbinder oder Absolventen der 1966 bzw. 1967 neu gegründeten Filmhochschulen in Berlin bzw. München. Wim Wenders hat an der Hochschule für Film und Fernsehen (HFF) studiert, Helke Sander an der Deutschen Film- und Fernsehakademie (DFFB). An Vorbildern akzeptierten die Macher des Neuen deutschen Films ihre »Großväter« (der Terminus wurde von den jüngeren Machern der Neuen deutschen Filme verwendet) wie Friedrich Wilhelm Murnau (1888-1931) und Fritz Lang (1890-1976, 1933 emigriert), sofern sie nicht durch den Nationalsozialismus belastet waren. Zudem hatten Neuerungsbewegungen des europäischen Films wie insbesondere die Nouvelle Vague für die neuen deutschen Filmemacher eine Vorbildfunktion. Die Macher des Neuen deutschen Films brachen mit der Produktionsform des klassischen deutschen Kinos. Alexander Kluge hat Fritz Lang im Herbst 1958 bei der Arbeit an seinen Indien-Filmen, D ER T IGER VON E SCHNAPUR und D AS IN- DISCHE G RABMAL , beobachtet: »Hier regierten der Produzent [Artur Brauner] und seine Schwägerin mit massiver, wirklicher Gewalt hinein, gaben direkte Anweisungen an den Oberbeleuchter, an den Bühnenarchitekten, an alle Mitarbeiter, die ja ihre Angestellten waren; jede zweite Idee von Fritz Lang wurde als zu teuer, als zu abwegig unterminiert. [...] Ich habe das damals verfolgen können, und daraus ist für mich das Autorenfilm-Konzept entstanden ...« 354 Die Ablehnung der produzentenbzw. verleiherorientierten Produktionsform des deutschen Unterhaltungskinos führte zu einer Neudefinition der Funktionen der Filmherstellung. Die Macher verstanden sich als Autoren und hatten den Anspruch, die Trennung zwischen Autor, Regisseur und Produzent aufzuheben. A BSCHIED VON GESTERN , Bundesrepublik Deutschland, 1966 (Filmmuseum München) <?page no="196"?> 16. Medien- und Generationswandel (1960erbis 1990er-Jahre) 197 Gab es im klassischen deutschen Kino eine Arbeitsteilung zwischen Drehbuchautor und Regisseur, so war in den 1970er-Jahren der Regisseur oft selbst der Drehbuchautor. Waren die Regisseure im klassischen Produktionssystem Angestellte, so wurden sie im Neuen deutschen Film oft zu ihren eigenen Produzenten (Wenders produzierte seine Filme mit seiner eigenen Firma, der Wim-Wenders- Produktion; Kluge mit seiner Firma Kairos-Film). Da die Funktionen der Filmherstellung nicht mehr wie beim klassischen Kino klar aufgeteilt waren, nannten sich die Macher des Neuen deutschen Films nicht mehr Regisseure, sondern Filmemacher. Mit diesem Begriff wurde ausgedrückt, dass der Regisseur nunmehr den Anspruch auf die Kontrolle über den gesamten Film erhob. Die Autoren selbst wurden zu den Repräsentanten ihrer Filme. Die Funktion, die Schauspielerstars im deutschen Kino für die Kontinuität des Filmbesuchs hatten, übernahmen im Neuen deutschen Film die Regisseure. Das relativ kleine Zielgruppenpublikum des Neuen deutschen Films, von dem noch die Rede sein wird, wartete nicht mehr auf den neuen Film mit Heinz Rühmann oder Ruth Leuwerik, sondern auf den neuen Wenders oder Fassbinder. »Die Regisseure sind auch die Stars ihrer Filme. Indem sie sich selbst der Werbung als Verkaufsargument anbieten, verdrängen sie die Schauspieler aus einer Rolle, die diesen traditionellerweise zugefallen war. Die Regisseure veranstalten Pressekonferenzen, treten im Fernsehen auf, lassen sich auf Festivals feiern. Viele von ihnen haben sich den neuen Anforderungen auch habituell angepasst. Mit nicht geringem Erfolg. Selbst Hanna Schygulla hatte [während der Filmfestspiele in Cannes] auf der [Promenade de la] Croisette die Frage zu fürchten, wer denn die Frau an Fassbinders Seite sei.« 355 Die neuen deutschen Filmemacher (mit ihrem informellen Sprecher, dem Juristen Alexander Kluge) haben sich von der Marktwirtschaft abgekoppelte Produktionsbedingungen erstritten, wobei das Modell des Subventionstheaters mit seinem forcierten Regiekonzept Pate stand. Rentabilität - Basis jeden kommerziellen Filmemachens - galt den neuen Filmemachern als »längst überholter Fetisch«; 356 sie stritten wider »die uralte Gängelung der Kunst durch den Kommerz.« 357 Sie schufen 1965 das Kuratorium Junger Deutscher Film, über das viele der Erstlingswerke wie A BSCHIED VON GESTERN (Kluge, 1966), M AHLZEITEN (Reitz, 1967) und L EBENSZEICHEN (Herzog, 1968) finanziert wurden. 358 Das rein kommerziell orientierte Förderungssystem der späten 1960er-Jahre wurde kulturell so umgebaut, dass der Gestaltungsspielraum der Regisseure vergrößert wurde (u. a. 1974 Projektfilmförderung, erleichterte Referenzfilmförderung; Film-Fernsehabkommen). Darüber hinaus organisierten sie den Vertrieb ihrer Filme selbst, indem sie 1971 den Filmverlag der Autoren gründeten. 359 <?page no="197"?> Fallstudien zum Wandel der Kino- und Fernsehkultur 198 Zwar fand der Neue deutsche Film in der zweiten Hälfte der 1970er-Jahre sein Publikum bei Angehörigen der eigenen Generation vor den Fernsehschirmen und erreichte in den Programmkinos ein jüngeres, politisch sensibles studentisches Publikum, doch die Mehrheit der Kinobesucher erreichte er nicht. Kein Film von Herzog, Kluge, Reitz, Sander, Sanders-Brahms, Schroeter, von Trotta und Wenders konnte sich in den Top Ten platzieren; nur Schlöndorff und Fassbinder haben dies ein einziges Mal geschafft - Schlöndorff mit D IE B LECHTROMMEL (1979) und Fassbinder mit L ILI M ARLEEN (1981), beides Filme, die sich mit der nationalsozialistischen Vergangenheit auseinandersetzen. Der Protestgeneration ist es gelungen, den Generationskonflikt innerhalb weniger Jahre für sich zu entscheiden. Die im Kaiserreich geborenen deutschen Regisseure waren aus Altersgründen Anfang der 1970er-Jahre keine starken Gegner mehr. Regisseure der »Vätergeneration« gingen in den Ruhestand bzw. wechselten mit ihrem Publikum zum Fernsehen. Arthur Maria Rabenalt und Alfred Vohrer arbeiteten in den Sparten, auf die sie in den 1950erbzw. 1960er-Jahren spezialisiert waren, in den 1970er-Jahren beim Fernsehen. 360 Rabenalt realisierte Lustspiele sowie Operetten, und Vohrer inszenierte Kriminalfilme für die TV-Serien D ERRICK und D ER A LTE . Der Neue deutsche Film ersetzte im Lauf der 1970er-Jahre das »gute Unterhaltungskino« der »Vätergeneration« beinahe vollständig: 1975 zählen 33 % der erstaufgeführten deutschen Filme zum Neuen deutschen Film, 1980 waren es bereits 63 %. Die übrige Produktion dieser Jahre sind beinahe ausschließlich Sexfilme wie z. B. V ERBOTENE S PIELE AUF DER S CHULBANK (1980) und D REI L E - DERHOSEN IN S T . T ROPEZ (1980). Es ist die Leistung der Protestgeneration, sich marktunabhängige Produktionsbedingungen geschaffen und die eigenen Erfahrungen mit der nationalsozialistischen Vergangenheit sowie der bundesrepublikanischen Realität in ihren Filmen verdichtet zu haben. Die neue Generation: Renaissance des klassischen deutschen Kinos In den 1960er- und 1970er-Jahren wurde eine kulturelle Umorientierung des deutschen Kinopublikums offenbar: In der Folge der veränderten Lebens- und Freizeitgewohnheiten der Bevölkerung (u. a. Babyboom, Etablierung des Fernsehens) verringerte sich die Zahl der Kinobesucher dramatisch; wurden in Deutschland 1956 und 1957 über 800 Millionen Kinokarten verkauft, so waren es seit 1968 mit absteigender Tendenz weniger als 200 Millionen. Da vor allem die älteren Besucher dem Kino fernblieben, verjüngte sich das deutsche Kinopublikum im Verlauf der 1960er-Jahre signifikant. Eine Filmkultur der Teenies entstand; Pauker- und Lümmelfilme, Karl-May-Filme, Spaghetti-Western, Zeichentrickfilme und Blödelkomödien waren die Top-Schlager dieser Jahre. <?page no="198"?> 16. Medien- und Generationswandel (1960erbis 1990er-Jahre) 199 Die meisten Zuschauer, die in den 1970er-Jahren, als der Neue deutsche Film entstand, im Kino saßen, entstammten nicht mehr den Kriegs-, sondern den Nachkriegsjahrgängen, die die Erfahrungen der neuen Filmemacher nicht mehr teilten. Aufgewachsen in einer funktionierenden parlamentarischen Demokratie, mit dem Fernsehen als Distributionsmedium populärer Fiktion und dem Kino als einer Spielstätte für spektakuläre Filmereignisse, war der neuen Generation das Leiden an der deutschen Geschichte und eine Identifizierung von populärem Erzählkino und NS-Ideologie fremd geworden. Das Publikum der 1970er-Jahre bestand zu gut 80 % aus Sechsbis 29-Jährigen. 1975, zur Hochzeit des Neuen deutschen Films, entstammten die meisten Zuschauer also den Jahrgängen 1946 bis 1969. Diese neue Generation zog den »guten Unterhaltungsfilm« dem problem- und protestorientierten Autorenfilm vor. In den Kinos waren nicht die Bilder der Protestgeneration gefragt, sondern Abenteuerfilme wie P APILLON (USA 1975), Agententhriller wie die Bond-Filme, Komödien wie D IE A BENTEUER DES R ABBI J AKOB (Frankreich 1973) oder Science-Fiction-Filme wie K RIEG DER S TERNE und U NHEIMLICHE B EGEG- NUNG DER DRITTEN A RT (beide USA 1977). Da »gute Unterhaltungsfilme« in Deutschland aber so gut wie nicht mehr hergestellt wurden, setzte sich Zug um Zug der ausländische Film am deutschen Markt durch - worauf Kapitel 17 näher eingeht. Angehörige der Nachkriegsjahrgänge, die in den 1970er-Jahren als Zuschauer das Unterhaltungskino der Nachbarländer bzw. Hollywoods dem Neuen deutschen Film vorgezogen haben, wurden seit den 1980er-Jahren selbst zu Filmemachern. Diese neue Generation, die den Wandel der in Deutschland populären Filme zum spektakulären US-Kino getragen hat, teilt nicht mehr die Ablehnung eines Star- und Genrekinos. Ihr Ziel ist mit dem der verhassten »Vätergeneration« der Macher des Neuen deutschen Films identisch: Die neuen Regisseure erheben wieder den Anspruch, ein kommerziell erfolgreiches Unterhaltungskino zu schaffen. So wie die Protestgeneration Polemiken gegen den alten Film hervorgebracht hat (in Form der Bücher von Schmieding und Hembus), so hat auch die neue Generation ein Pamphlet hervorgebracht. Hans-Joachim Neumann (Jg. 1955) formulierte 1986 seine beißende Kritik am Neuen deutschen Film in seinem Band Der deutsche Film heute: Die Macher, das Geld, die Erfolge, das Publikum. Fanden die späteren Macher des Neuen deutschen Films das Kino der 1950er-Jahre »provin- Kinokarten aus den frühen 1970er-Jahren aus Neuss und Düsseldorf (Sammlung Garncarz) <?page no="199"?> Fallstudien zum Wandel der Kino- und Fernsehkultur 200 ziell, mittelmäßig, uninteressant«, so verwendete Neumann dieselben Worte, um den Neuen deutschen Film zu kritisieren. »Dieses Buch ist ein Buch gegen den deutschen Film; gegen seinen prätentiösen Anspruch, Kunst sein zu wollen; gegen seine förderungssatte Selbstgefälligkeit; gegen jene auch, die als Autoren, Politiker und Publizisten in den vergangenen zehn Jahren wenig dagegen unternommen haben, dass im Namen des Neuen Deutschen Films das bundesrepublikanische Kino einen einmaligen Tiefstand erreicht hat. [...] Wer immer nur auf seinen Bauchnabel starrt, der wird ihn bald für den Mittelpunkt der Welt halten - deutsche Filme sind heute so wenig aufregend, weil sie aus einer geradezu anachronistischen Kulturszene herauswachsen, die mit Eifer in die akademischstaubtrockenen Kunstkategorien des 19. Jahrhunderts zurückstrebt: Die arrogante Unterscheidung zwischen hoher Kunst und trivialer Unterhaltung hat bislang das Entstehen eines umfassenden Kulturmarkts verhindert, auf dem etwa in Frankreich und den USA sämtliche Kulturprodukte ungleich vorurteilsloser bewertet und gehandelt werden. [...] Darum beherrscht die lautstarke Mittelmäßigkeit den deutschen Film, eine Durchschnittlichkeit der Begabung und Kreativität, die ihr Heil in der immer wieder reklamierten Zugehörigkeit zur Kulturkaste der Hochkünstler sieht - und nicht in der Herstellung möglichst weit verbreiteter Filme.« 361 1939 Joseph Vilsmaier 1941 Wolfgang Petersen 1943 Klaus Emmerich 1944 Helmut Dietl 1945 Hajo Gies 1946 Xaver Schwarzenberger 1948 Carl Schenkel 1949 Ilse Hofmann 1950 Peter Timm 1951 Peter Sehr 1952 Dominik Graf 1954 Wolfgang Becker 1955 Doris Dörrie 1955 Roland Emmerich 1956 Jacques Breuer 1957 Dani Levy 1959 Rainer Kaufmann 1959 Nico Hofmann 1959 Sönke Wortmann 1960 Sherry Hormann 1961 Roland Suso Richter 1962 Detlev Buck 1964 Caroline Link 1965 Tom Tykwer 1965 Thomas Jahn 1966 Katja von Garnier Regisseure des deutschen Films der 1980er- und 1990er-Jahre nach Geburtsjahrgängen Im Vergleich zum nahezu unüberbrückbaren Konflikt zwischen der Protestgeneration und ihrer »Vätergeneration«, setzte sich die neue Generation weniger krass <?page no="200"?> 16. Medien- und Generationswandel (1960erbis 1990er-Jahre) 201 von der vorhergehenden Generation ab. Die neue Generation hatte zwar ihre eigene Polemik gegen den Neuen deutschen Film, kennt aber keine explizite Abgrenzung im Sinn eines öffentlich vorgetragenen Manifests. Fassbinder wird von den Regisseuren der neuen Generation nicht beschimpft; man reagiert ihm gegenüber weitgehend gleichgültig. Die populären Filme der neuen Generation sind Genrefilme, die zunehmend von Stars getragen werden. Komödien, insbesondere Comedian Comedies 362 und Beziehungskomödien, dominierten die deutschen Erfolgsranglisten der Filme bis Mitte der 1990er-Jahre. Seit 1983 gab es einen regelrechten Boom von Filmen, in deren Mittelpunkt ein Starkomiker steht. Komiker wie Thomas Gottschalk und Mike Krüger mit D IE S UPERNASEN (1983), Otto Waalkes mit O TTO - D ER F ILM (1985) und seinen Fortsetzungen, Gerhard Polt mit M AN SPRICHT DEUTSH (1988) und Loriot mit P APPA ANTE PORTAS (1991) nutzten ihre außerfilmische Popularität, die sie dem Fernsehen, dem Hörfunk und der Schallplatte verdanken. Die Starkomiker präsentieren sich in ihren Filmen oft, als spielten sie auf der Bühne, indem sie das Publikum selbst adressieren und dadurch das fiktionale Universum der erzählten Geschichte durchbrechen. Beziehungskomödien schaffen dagegen eine Welt für sich, in der es um »Beziehungskisten« geht, um sexuelle Identität und Lifestyle. Der Initialerfolg der Beziehungskomödien, M ÄNNER (1986), erzählt in einem liebevoll-ironischen Grundton von einer Frau zwischen zwei Männern. Der Ehemann (Heiner Lauterbach), ein etablierter, schicker Werbemanager, macht aus seinem Rivalen (Uwe Ochsenknecht), einem flippigen Aussteiger, einen beruflichen Aufsteiger, um ihn für seine Frau unattraktiv zu machen. Erfolgsrezepten nicht abgeneigt, knüpften Regisseure an das Erfolgsmuster von M ÄNNER mit Filmen wie A LLEIN UNTER F RAUEN (Wortmann, 1991), E IN M ANN FÜR JEDE T ONART (Timm, 1992) und D ER BEWEGTE M ANN (Wortmann, 1994) an. Beide Komödientypen gab es in ähnlicher Form bereits in den 1950er-Jahren: Anders als die neuen Beziehungskomödien handelten die Verwechslungslustspiele der 1950er-Jahre wie H EUTE NACHT PASSIERT ’ S (1953) von ehelichen Seitensprüngen, die in aller Regel nie stattgefunden hatten. Der bekannteste Starkomiker der 1950er- und 1960er-Jahre war der wortgewandte Heinz Erhardt mit Filmen wie N ATÜRLICH DIE A UTOFAHRER und D RILLINGE AN B ORD (beide 1959), der in den 1980er-Jahren bei der neuen Generation ein Comeback in Programmkinos erlebte. Die neue Generation steht mit ihrem Anliegen, in Deutschland wieder populäres Erzählkino zu machen, vor Schwierigkeiten, da die Protestgeneration das Filmemachen grundlegend verändert hat. Erstens fehlte die erforderliche personelle und strukturelle Basis für eine kontinuierliche Produktion populärer Unterhaltungsfilme. Es gab kaum noch Spezialisten, die in einer arbeitsteiligen Produk- <?page no="201"?> Fallstudien zum Wandel der Kino- und Fernsehkultur 202 tion unverzichtbar sind; so fehlten, um nur zwei Beispiele zu nennen, qualifizierte Drehbuchautoren und Produzenten. Es fehlten die Produktionsfirmen, die ein Risiko tragen konnten. Es musste erst wieder eine etablierte Verleiherlandschaft aufgebaut werden. Der größte deutsche Verleiher der Nachkriegszeit, die Constantin, war 1977 in Konkurs gegangen, weil er an deutschen Filmen um ihrer selbst willen festhielt; 1978 trat die Neue Constantin an ihre Stelle. Die massiv kulturell ausgerichtete Filmförderung mit ihren Gremien wirkte sich zudem hemmend auf eine Filmproduktion aus, für die Popularität eine Notwendigkeit und kein Tabu ist. Zweitens gab es ein massives Imageproblem des deutschen Films, das erschwerte, das an den US-Film verlorene Publikum für deutsche Filme zurückzugewinnen. Der deutsche Film wurde nicht mehr mit populärem Erzählkino, sondern mit einem ambitionierten Autorenkino assoziiert. Wie die Erfolgsregisseure des 1950er-Jahre-Kinos in den 1970er-Jahren zum Fernsehen wechselten, um Unterhaltungsfilme herstellen zu können, für die es bei einem veränderten Kinopublikum keine Nachfrage mehr gab, so fand die neue Generation ihren Weg zum Fernsehen, weil es angesichts des gravierenden Imageproblems des deutschen Films und der fehlenden strukturellen Produktionsbasis keine Alternative gab. Regisseure, die populäre Filme machen wollten, wie Wolfgang Petersen, Hajo Gies und Ilse Hofmann, fanden nach dem Abschluss an einer der neuen Filmhochschulen einen unmittelbaren Einstieg ins Fernsehen. Auch die Absolventen, die im Lauf der 1970er-Jahre ihren Abschluss machten, wie Dominik Graf und Doris Dörrie, begannen ihre Karriere beim Fernsehen. 363 Anders als die Macher des Neuen deutschen Films, die das Fernsehen als ein notwendiges Übel verstanden, sah die neue, am populären Film interessierte Generation das Fernsehen positiv als Chance, die eigenen Ideen verwirklichen zu können. Diese Neubewertung des Fernsehens hängt damit zusammen, dass die deutschen Filmemacher der 1980er- und 1990er-Jahre zur ersten Generation gehören, die mit dem neuen Medium aufgewachsen ist. Der Kinoerfolg gelang der neuen Generation erst vermittelt über ihre Fernseharbeit. So ist Doris Dörries M ÄNNER eine Auftragsproduktion des Zweiten Deutschen Fernsehens. Der Film wurde vor seiner Ausstrahlung im ZDF mit wenigen Kopien und einem geringen Werbeaufwand in den Kinos gestartet und entwickelte sich durch die Nachfrage des Publikums zum Top-Renner des Jahres 1986. In mehrfacher Hinsicht hat die neue Generation darauf hingewirkt, verbesserte Bedingungen der Filmfinanzierung für am Publikum orientierte Kinofilmproduktionen wiederherzustellen. Dazu gehört, dass die kulturelle Ausrichtung der Filmförderung zu einer marktwirtschaftlich orientierten Förderung umgebaut wurde. Die kulturellen Förderungen der Länder wurden in der ersten Hälfte der 1990er- Jahre durch Wirtschaftsförderungen ergänzt bzw. ersetzt (z. B. durch Gründung der Filmstiftung NRW neben dem Filmbüro NRW). Neben der Förderung spielte <?page no="202"?> 16. Medien- und Generationswandel (1960erbis 1990er-Jahre) 203 das Fernsehen auch für den deutschen Film der 1980er- und 1990er-Jahre als Finanzier eine große Rolle; verschiedene Förderungsinstitutionen haben jedoch Klauseln in ihr Reglement aufgenommen, die bewirkten, dass die Produzenten die Ausstrahlungsrechte nicht generell, sondern nur auf Zeit an den koproduzierenden Fernsehsender abgaben. Auf diese Art vergrößerte sich der finanzielle Spielraum für freie Produzenten. Die Verleihgarantie gewann zudem wieder an Bedeutung. Filmfirmen wie Kinowelt gingen an die Börse; private Investoren, Banken und Versicherungen engagierten sich bei der Filmfinanzierung. Alle diese Maßnahmen dienten dem Zweck, Filme wieder kontinuierlich unter marktwirtschaftlichen Gesichtspunkten produzieren zu können. Für die Produktion populärer Filme ist jedoch nicht nur Geld, sondern auch eine Vielzahl an kreativen und administrativen Funktionen erforderlich: Dem Produzenten eines Films kam seit den 1980er-Jahren zumindest wieder ansatzweise eine eigenständige Funktion innerhalb einer Filmproduktion zu, die der des Regisseurs nicht nachsteht. Er sorgt für die Entwicklung des Stoffs, betreibt die Finanzierung des Films, überwacht die Dreharbeiten, die Postproduktion und die Verwertung. An den Filmhochschulen wurden Produktionsstudiengänge eingerichtet, sodass es im Bereich der Ausbildung zum Produzenten zu einer Professionalisierung kam. Auch im Bereich des Drehbuchschreibens zeichnete sich eine Professionalisierung ab. In den 1990er-Jahren entstanden eigene Schauspieleragenturen, die einen erheblichen Anteil am Wiederaufbau eines Starsystems hatten: Die Agenturen »Players Jarzyk-Holter« und »Carola Studlar, Internationale Agentur« hatten in den 1990er-Jahren namhafte Schauspieler des deutschen Films wie Til Schweiger, Moritz Bleibtreu, Meret Becker, Maria Schrader, Veronica Ferres und Barbara Auer unter Vertrag. Sie berieten sie bei der Projektauswahl und kontrollierten die Publicity (Auswahl der Fotos, Terminabsprache für Interviews, redaktionelle Bearbeitung der Interviews). Auf diese Art schufen und kontrollierten die Agenturen das Image ihrer Vertragsschauspieler, wissend, dass die Kohärenz und Kontinuität eines Images Garanten für den Erfolg ihrer Schauspieler an der Kinokasse sind. Die deutsche Filmwirtschaft hat in den 1990er-Jahren sicherlich nicht wieder den Stand einer funktionierenden, von Förderungsmitteln unabhängigen Institution erreicht, den sie in den 1950er-Jahren innehatte. Angesichts der noch bestehenden Imageprobleme des deutschen Films und der großen Konkurrenz durch die US-amerikanischen Anbieter war auch in den 1990er-Jahren noch eine wirtschaftliche Filmförderung nötig, um wieder Unterhaltungsfilme für ein breites Publikum herstellen zu können. So wurden 1996/ 97 knapp 80 % aller deutschen Kinofilme mit Förderungsgeldern finanziert. Von einem internationalen Erfolg des deutschen Films kann kaum gesprochen werden; die Filme der neuen Generation sind aber national erfolgreicher als der Neue deutsche Film, wenn sie auch <?page no="203"?> Fallstudien zum Wandel der Kino- und Fernsehkultur 204 an den Erfolg des deutschen Films der 1950er-Jahre nicht heranreichen: Der Marktanteil der deutschen Filme lag zwischen 1990 und 1997 im Jahresdurchschnitt bei 11 %; von den 80 Top-Ten-Filmen dieser Jahre kamen zehn aus deutscher Produktion. Die Handschrift einer neuen Generation ist klar zu erkennen, den von der Protestgeneration betriebenen grundlegenden Umbau der Filmherstellung wieder rückgängig zu machen. Bei allen Veränderungen bleibt vielleicht eins bestehen: Die Regisseure sind nicht mehr derart in den Hintergrund getreten, wie das beim klassischen deutschen Film der Fall war. Filme werden zwar primär wieder über ihre Schauspieler voneinander differenziert, doch auch der Regisseur hat zumindest für einen Teil des Publikums einen besonderen Wert. So erwarteten in den 1990er-Jahren viele Zuschauer den neuen Film mit Til Schweiger, Katja Riemann oder Franka Potente, andere aber auch den neuen Film von Sönke Wortmann, Detlev Buck, Katja von Garnier oder Tom Tykwer. Kapitel 16 hat deutlich gemacht, dass der Wandel der Institution Kino nicht für sich allein adäquat analysiert werden kann, weil er in gesellschaftliche und kulturelle Entwicklungen eingebunden ist. Der Generationswandel, der in Deutschland aufgrund des Nationalsozialismus so radikal war wie in keinem anderen europäischen Land, hat zu einer grundlegenden Veränderung der Institution Kino geführt, wozu nicht nur die radikale Ersetzung des unterhaltenden Spielfilms als Standard-Mediennutzungsform gehörte, sondern auch eine Veränderung, wie Filme produziert und finanziert wurden. Der Rückbau dieser Veränderungen erfolgte durch die Nachkriegsgeneration, für die Unterhaltung kein Tabu mehr war - ein Prozess, der nachhaltig von den Kinozuschauern mitgetragen wurde. <?page no="204"?> 205 17. Globalisierung der Kinokultur (1970erbis 2000er-Jahre) Das letzte Kapitel untersucht den Konvergenzprozess der Filmpräferenzen, in dessen Verlauf sich die Vorlieben unterschiedlicher nationaler Publika ähnlicher werden. 364 Seit den 1970er-Jahren können wir einen solchen Prozess in Europa beobachten, der - anders als oft angenommen wird - bis heute aber keine weltumspannende Dimension hat. Versteht man unter »Globalisierung« eine zunehmende internationale Verflechtung, die nicht bereits die ganze Welt umfassen muss, dann kann man diesen Konvergenzprozess durchaus auch als Globalisierungsprozess bezeichnen. In der Vielzahl der beim deutschen Publikum seit Mitte der 1920er-Jahre populären Filme lässt sich ein Muster entdecken, das sich in ähnlicher Art auch in anderen Ländern zeigt. Aus der Distanz sind Zeitverlauf, Struktur und Richtung des Wandels klar zu erkennen. Sieht man sich die nationale Herkunft der Filme in den Top Ten seit den 1920er-Jahren an (Nachfragedaten wurden seit 1925 erhoben, siehe Kapitel 9), zeigt sich ein tief greifender Wandel: Waren bis zu Beginn der 1960er-Jahre deutschsprachige (deutsche und österreichische) Filme mit Abstand am beliebtesten, so wurden US-Filme seit den 1980er-Jahren beim deutschen Publikum zu Spitzenreitern. Die 1960er- und 1970er-Jahre waren in jeder Beziehung eine Phase des Umbruchs, in der sich das Dominanzverhältnis zwischen deutschen und US-Filmen umkehrte und die Filme der europäischen Nachbarländer (französische, italienische, britische und skandinavische) beim deutschen Publikum so erfolgreich wie nie zuvor waren. 365 Der Wandel der populären Filme in Deutschland zwischen 1925 und 1990 lässt sich in drei Phasen einteilen, die sich folgendermaßen näher bestimmen lassen: Die erste Phase erstreckt sich bis 1963. Ihr wichtigstes Charakteristikum ist der außerordentliche Erfolg deutscher Filme. Hinzu kommt in den 1950er-Jahren die Popularität österreichischer Filme, die den deutschen in sprachlicher und kultureller Hinsicht ähnlich sind. US-amerikanische sowie andere europäische Produktionen spielen auf dem deutschen Markt nur eine marginale Rolle. Quantitativ ausgedrückt: In der Weimarer Zeit entfielen 75,4 % des mit den Top Ten erzielten Zuschaueraufkommens auf deutsche Filme, wohingegen mit US-Erfolgsfilmen nur 15,7 % der Eintrittskarten umgesetzt wurden (siehe auch Kapitel 8). In den 1950er-Jahren zeigt sich ein ähnliches Bild: 63,3 % aller Zuschauer der Top-Ten-Filme wurden mit deutschen und nur 14,7 % mit US-Filmen erreicht. Beinahe unverändert gegenüber der Weimarer Zeit ist das Bild, <?page no="205"?> Fallstudien zum Wandel der Kino- und Fernsehkultur 206 wenn man das Zuschaueraufkommen für alle deutschsprachigen Filme berechnet, die österreichischen Filme also mitberücksichtigt. Von der Gesamtzahl der Zuschauer aller Top-Ten-Filme der 1950er-Jahre entfielen demnach 75,4 % auf deutschsprachige und 14,7 % auf US-amerikanische Filme. Erfolg der Kinofilme in Deutschland 1925-1990 nach ihrer nationalen Herkunft in Prozentwerten (Datenquelle: Joseph Garncarz: Hollywood in Deutschland. Frankfurt am Main, Basel: Stroemfeld, 2013, S. 74) 366 Die zweite Phase erstreckt sich von 1964 bis 1979. Sie ist in jeder Beziehung eine Periode des Übergangs: Charakteristisch ist, dass keine Nation mehr mit ihren Fimen unangefochten die Spitzenposition in der Gunst des deutschen Kinopublikums behauptet. Und dennoch ist dieser Umbruch nicht strukturlos: Waren bis 1971 deutsche Filme erfolgreicher als US-amerikanische, so wurden US-Filme seit 1972 deutlich erfolgreicher als deutsche. Kennzeichnend ist aber, dass weder die deutschen Filme bis 1971 noch die US-amerikanischen Filme seit 1972 unangefochten marktführend waren. Erstmals kamen Filme der europäischen Nachbarländer in Spitzenpositionen. Quantitativ ausgedrückt: Hatten die europäischen Filme in der ersten Phase nur einen Anteil am Zuschaueraufkommen von 8,9 % an den Top-Ten-Filmen, so betrug ihr Anteil in der zweiten Phase 41,7 %. In der dritten Phase fiel der Anteil europäischer Filme an den Top-Ten-Filmen auf 14,8 % zurück. Aufgrund der quantitativen Bedeutung europäischer Filme bezeichne ich diese zweite Phase des populären Kinos in Deutschland auch als Europaphase. Die dritte Phase begann 1980. Deutsche und US-amerikanische Filme haben ihre Rollen getauscht: Die US-Filme halten nun unangefochten die Spitzenpositionen, <?page no="206"?> 17. Globalisierung der Kinokultur (1970erbis 2000er-Jahre) 207 während deutsche und andere europäische Filme nur eine marginale Rolle an der Kinokasse spielten. Auch wenn ich im Folgenden nicht systematisch auf die Jahre seit 1991 eingehe, so ist doch wichtig zu wissen, dass die dritte Phase bis heute (2015) keineswegs abgeschlossen ist. In Bezug auf die Popularität US-amerikanischer Filme setzt sich der beobachtete Trend eindeutig bis heute fort. Quantitativ ausgedrückt: In den 1980er-Jahren entfielen von der Gesamtzahl der Zuschauer, die die populärsten zehn Filme eines jeden Jahres gesehen haben, 65 % auf US-amerikanische und nur 20,4 % auf deutsche Filme. In quantitativer Hinsicht ist also die dritte Phase des populären Kinos in Deutschland ein Spiegelbild der ersten. Insgesamt ergibt sich also ein Wandel der populären Filmkultur in Deutschland vom deutschen über den europäischen zum US-amerikanischen Film. Für den gesamten Zeitraum bildeten die deutschen und US-Filme die stärksten Kontrahenten. Waren die deutschen Filme populär, waren die US-amerikanischen weniger gefragt; als die US-amerikanischen Filme erfolgreicher wurden, verloren die deutschen an Anziehungskraft. Aufgrund der quantitativen Auswertung der Erfolgsranglisten nach der nationalen Herkunft der Filme ergibt sich also ein signifikant anderes Bild des populären Kinos in Deutschland als es bisher vermittelt wurde. Statt einer angenommenen fortwährenden Popularität des US-amerikanischen Films seit den 1910er- Jahren zeigt sich ein dynamischer Wandel der Filmpräferenzen beim deutschen Kinopublikum. Die analysierte Veränderung der Filmpräferenzen deutscher Zuschauer bezieht sich nur auf Filme, die in Kinos gezeigt wurden. Ein Blick auf das Fernsehen macht deutlich, dass es dort kaum einen vergleichbaren Präferenzwandel gegeben hat. Die deutschen Fernsehzuschauer der 1980er- und 1990er-Jahre favorisierten in einem erheblichen Maß deutsche Filme der 1950er-Jahre. Sie haben also in erster Linie einen Medienwechsel und keinen Präferenzwandel vollzogen. Populäre Kinofilme in Europa und Nordamerika Der Wandel der populären Kinofilme vom deutschen zum US-amerikanischen Film ist nicht kulturspezifisch. Sieht man nur die deutsche Entwicklung, nimmt man nur einen Ausschnitt aus einem supranationalen Prozess wahr. Vergleichbare Prozesse kann man zumindest auch in Frankreich und - zeitlich modifiziert - in Italien beobachten. Das französische wie das italienische Kinopublikum haben wie die deutschen Zuschauer in den 1950erbzw. 1960er-Jahren einheimische Filme favorisiert. 367 Im Verlauf der 1980er-Jahre wurden dann in allen drei europäischen Ländern die US-Filme erfolgreicher als die jeweiligen nationalen Produktionen. Ich greife als Beispiel den französischen Markt heraus. <?page no="207"?> Fallstudien zum Wandel der Kino- und Fernsehkultur 208 Folgt man den Top-Ten-Filmen, sah das Pariser Kinopublikum bis Mitte der 1970er-Jahre zu rund 75 % französische Filme. 368 In der zweiten Hälfte der 1970er- Jahre sank der Marktanteil der französischen Filme auf 55 %, um dann in den 1980er-Jahren auf rund 35 % zu fallen. Den US-Film schätzte bis Mitte der 1970er- Jahre knapp 15 % des französischen Kinopublikums. In der zweiten Hälfte der 1970er-Jahre erreichte der US-Film dann einen Marktanteil von 45 %, der sich in den 1980er-Jahren auf 55 % erhöhte. Waren also über Jahrzehnte die französischen Filme beim französischen Kinopublikum wesentlich populärer als die US-amerikanischen, so kehrte sich das Verhältnis um 1980 um. In den 1980er-Jahren wurden die US-Filme erfolgreicher als die französischen. Im Vergleich zu den französischen und US-amerikanischen Filmen spielten in Frankreich die Kinofilme der europäischen Nachbarländer (wie z. B. Deutschland) nie eine wichtige Rolle; ihr Marktanteil lag in aller Regel deutlich unter 10 %. Vergleicht man Frankreich mit Deutschland, so fällt die Ähnlichkeit der Prozesse auf. Beide nationalen Publika haben über Jahrzehnte die Filme des eigenen Landes besonders gern gesehen. Beide Publika sahen zudem seit den 1980er-Jahren lieber US-Filme als solche aus heimischer Produktion. Bei allen Gemeinsamkeiten fallen drei Unterschiede in der französischen und deutschen Entwicklung ins Gewicht: 1. In Frankreich vollzog sich der Wandel vom französischen zum US-amerikanischen Film einige Jahre später als in Deutschland. Anders als in der Bundesrepublik lag der Schnittpunkt, an dem der nationale und der US- Film ihre führende Marktposition miteinander tauschten, in Frankreich später (statt 1973 zwischen 1981 und 1987). 2. Zudem durchlief der Wandlungsprozess zum US-Film in Frankreich keine (bzw. keine derart ausgeprägte) Europaphase wie in Deutschland. 3. Nicht zuletzt verlor der französische Film in Frankreich nie so stark an Popularität wie der deutsche beim deutschen Publikum. Der Marktanteil des französischen Films blieb in den 1980er-Jahren in Frankreich höher als der Marktanteil der deutschen Filme in der Bundesrepublik. Integration der populären Kinokultur Beim Wandel der Filmpräferenzen in Deutschland, Frankreich und Italien handelt es sich jedoch um mehr als strukturell vergleichbare, parallele Prozesse. Tatsächlich haben sich die Filmpräferenzen der Kinozuschauer dieser Länder im Lauf der Jahrzehnte unverkennbar aneinander angeglichen. Nie haben mehr Menschen in Europa so oft dieselben Filme gesehen wie seit den 1980er-Jahren. <?page no="208"?> 17. Globalisierung der Kinokultur (1970erbis 2000er-Jahre) 209 Es gibt Indikatoren, die den benannten Konvergenzprozess unmittelbar anzeigen; ein brauchbarer Indikator ist die Zahl der gemeinsamen Erfolgsfilme in den verschiedenen Ländern. 369 Stichproben zeigen, dass die Zahl der gemeinsamen Filmerfolge in Deutschland, Frankreich und Italien seit den 1950er-Jahren deutlich zugenommen hat. War es in den 1950er-Jahren eine große Ausnahme, wenn ein Film in allen drei Ländern unter den Top Ten war (dazu gehört T HE B RIDGE ON THE R IVER K WAI [1958]), so sind in den 1980er-Jahren 30 bis 40 % der Filme in den Jahreserfolgsranglisten dieser Länder identisch (z. B. 1978: N UR S AMSTAG- NACHT , S CHMIERE , U NHEIMLICHE B EGEGNUNG DER DRITTEN A RT ; 1988: F AL- SCHES S PIEL MIT R OGER R ABBIT , D ER P RINZ AUS Z AMUNDA , E INE VERHÄNG - NISVOLLE A FFÄRE , D ER B ÄR ). Das Medium der Integration des populären Kinos in Europa ist - wie an den gegebenen Filmbeispielen abzulesen - so gut wie ausschließlich Hollywood (nur D ER B ÄR ist keine US-Produktion). Der beschriebene Konvergenzprozess der Filmpräferenzen in Europa ist noch nicht in wünschenswerter Klarheit benannt, vergleicht man nur die europäischen Länder miteinander. Erst wenn man die europäischen Länder mit den USA vergleicht, gewinnt man ein hinreichend präzises Bild des beschriebenen Integrationsprozesses, der hier am deutschen Beispiel erläutert wird. Bis 1972 war der Grad der Übereinstimmung unter den Top Ten der Filme eines Jahres zwischen Deutschland und den USA relativ gering: In den 1950er- und 1960er-Jahren war in der Regel nicht mehr als ein Film der US-amerikanischen und der deutschen Top Ten identisch. Seit 1973 wuchs der Grad der Übereinstimmung: Zwischen 1973 und 1981 waren zwei bis drei Filme, die beim US-amerikanischen Publikum sehr erfolgreich waren, auch unter den Top Ten der Filme in Deutschland. Seit 1983 wurden in der Bundesrepublik immer mehr diejenigen US-Filme populär, die auch in den USA erfolgreich waren. Die Zahl der in beiden Ländern zugleich sehr erfolgreichen Filme stieg auf drei bis fünf pro Jahr. Konfrontiert man die 1950ermit den 1980er-Jahren, wird die Veränderung besonders deutlich (vgl. hierzu auch Kapitel 8): Gab es 1955 keinen gemeinsamen Titel in den deutschen und US-amerikanischen Top Ten, so waren 1985 die Filme B EVERLY H ILLS C OP , G HOSTBUSTERS , R AMBO II - D ER A UFTRAG , Z URÜCK IN DIE Z UKUNFT und A UF DER J AGD NACH DEM GRÜNEN D IAMANTEN gleichermaßen in den USA und in Deutschland unter den Top Ten. Waren in den 1950er- Jahren 10 % der Filme der US-Top-Ten auch in Deutschland unter den erfolgreichsten Filmen, so waren es in den 1980er-Jahren schon knapp 40 % der Filme. Zu den Filmen, die in den 1980er-Jahren an der US-amerikanischen wie an der deutschen Kinokasse gleichermaßen erfolgreich waren, gehörten u. a.: E.T. - D ER A USSERIRDISCHE (1983), F LASHDANCE (1983), R AMBO I, II (1983, 1985), G REM- LINS I, II (1984, 1990), P OLICE A CADEMY I, II, III (1984, 1985, 1986), I NDIANA J ONES II, III (1984, 1989), B EVERLY H ILLS C OP I, II (1985, 1987), Z URÜCK IN <?page no="209"?> Fallstudien zum Wandel der Kino- und Fernsehkultur 210 DIE Z UKUNFT I, II (1985, 1990) und C ROCODILE D UNDEE I, II (1987, 1988). Mit der Ausnahme weniger Filme (C ROCODILE D UNDEE ist eine australische Produktion) handelt es sich bei den gemeinsamen Erfolgen um US-Filme. Da die in Deutschland, Frankreich und Italien gleichermaßen besonders erfolgreichen Filme, die oben genannt wurden, alle auch in den USA unter den Top Ten waren (außer N UR S AMSTAG N ACHT und D ER B ÄR ), kann man von einem US-amerikanisch-westeuropäischen Konvergenzprozess der Filmpräferenzen sprechen. Dieser verläuft jedoch nicht beiderseitig, sondern im Wesentlichen in eine Richtung, von Nordamerika nach Westeuropa, aber eben nicht umgekehrt. Dies ist ein gutes Beispiel für einen einseitigen Konvergenzprozess, wie in Kapitel 2 beschrieben. Der Prozess der Homogenisierung der Filmpräferenzen ist jedoch - anders als oft angenommen wird - auch um 2000 weit davon entfernt, die gesamte Welt zu umfassen: Die Einnahmen Hollywoods aus dem Kinoexportgeschäft kamen 1989 im Wesentlichen aus Japan (15 %), Kanada (10 %), Frankreich (10 %), der Bundesrepublik Deutschland (10 %), Großbritannien (9 %), Italien (8 %), Spanien (5 %) und Australien (3 %). 370 Besonders auffällig ist dabei, dass Japan zum wichtigsten Abnehmer von Hollywoodfilmen wurde (1934 betrugen die erwarteten Einnahmen von dort nur 1,8 %). Hatten die großen europäischen Länder Großbritannien, Frankreich, Deutschland und Italien 1934 einen Marktanteil am US- Exportgeschäft von 69,1 %, so sank ihr Anteil 1989 auf 37 % - Europa ist damit aber nach wie vor ein zentraler Absatzmarkt für US-Filme. Die wirtschaftliche Bedeutung der europäischen Länder für Hollywood hat sich zudem europaintern verändert: Frankreich (1934: 15,6 %) und die Bundesrepublik Deutschland (Deutsches Reich 1934: 13,4 %) haben Großbritannien (1934: 30,1 %) hinter sich gelassen. Wie gravierend diese Veränderungen der Rolle Japans und Europas auch immer erscheinen, so machten auch um 1990 die Hauptabnehmerländer von US- Filmen außerhalb der USA weniger als 10 % der Weltbevölkerung aus (eine Erklärung dafür finden Sie in Kapitel 1). 371 Gründe für den Wandel Bei der Diskussion der Gründe für den Wandel der Zusammensetzung der nationalen Herkunft der in Europa populären Kinofilme konzentriere ich mich auf das deutsche Beispiel. Als Gründe kommen infrage, dass sich das Angebot oder die Nachfrage verändert haben. Die Nachfrage des deutschen Kinopublikums hat sich in einer Hinsicht seit Mitte der 1920er-Jahre nicht gewandelt: Die Erfolgsranglisten zeigen eine eindeutige Tendenz hin zu Filmen des klassischen Erzählkinos. In den 1970er-Jahren gab es - wie in Kapitel 16 erläutert - auf der Ebene der produzierten Filme jedoch einen Bruch, da das System des klassischen deut- <?page no="210"?> 17. Globalisierung der Kinokultur (1970erbis 2000er-Jahre) 211 schen Films zusammenbrach. Sieht man von ganz wenigen Ausnahmen wie B IS ZUR BITTEREN N EIGE (1975) und S TEINER - D AS E ISERNE K REUZ (1976) ab, wurden in den 1970er-Jahren in der Bundesrepublik nur noch Neue deutsche Filme und Sexkomödien hergestellt. Die Macher der Neuen deutschen Filme ersetzten das generisch differenzierte, starorientierte Unterhaltungskino durch ein Kino, das stilistisch unkonventionell und thematisch engagiert-kritisch war. Ein Grund für den Erfolg von US-Filmen in Deutschland seit den 1970er- Jahren ist also ohne Zweifel die Tatsache, dass die deutsche Filmproduktion sich von der Nachfrage gelöst und zunehmend Filme für ein Minderheitenpublikum produziert hat. Ausländische Filme wurden also zunächst einmal deshalb vom deutschen Publikum selektiert, weil sie ein Unterhaltungskino boten, das von deutscher Seite nicht mehr angeboten wurde. Die deutsche Filmproduktion entfernte sich in den 1970er-Jahren nicht nur zunehmend vom deutschen Publikum. Das Publikum selbst änderte darüber hinaus seine Präferenzen. Wenn Vergnügen vor allem macht, was die eigenen Werte nicht verletzt (siehe dazu Kapitel 1), dann ändert sich die Wahl der Filme an der Kinokasse, wenn sich die Werte des potenziellen Kinopublikums verändern. In den 1960er- und 1970er-Jahren vollzog sich ein grundlegender Wertewandel bei jüngeren Menschen, die in der Folge der Durchsetzung des Fernsehens den ganz überwiegenden Teil des Kinopublikums stellten. 372 Der Wertewandel führte dazu, dass gerade junge Zuschauer US-Filme bevorzugten, da sie Ausdruck ihrer neuen Wertorientierung waren. Zeitlich vor dem Wandel der beim deutschen Publikum populären Kinofilme setzte ein tief greifender Wertewandel ein, der von der Generation der zur Zeit des Dritten Reichs Geborenen getragen wurde (siehe dazu auch Kapitel 16). Am Wertewandel waren zwei Wertegruppen, Pflicht- und Akzeptanzwerte sowie Selbstentfaltungswerte, beteiligt. Beide Wertegruppen unterscheiden sich darin, in welchem Maß sie den einzelnen Menschen von anderen abhängig sehen. Pflicht- und Akzeptanzwerte sind solche Werte, die die Ansprüche einer Gruppe (Schule, Kirche, Militär, Staat) höher stellen als die Ansprüche des Individuums. Selbstentfaltungswerte sind Werte, bei denen der Anspruch des Individuums mehr gilt als der der Gruppe, zu der der Einzelne gehört. Typische Pflicht- und Akzeptanzwerte sind demnach Disziplin, Gehorsam, Pflichterfüllung, Treue, Unterordnung und Selbstbeherrschung. Typische Selbstentfaltungswerte sind dagegen Emanzipation (von Autoritäten), Autonomie (des Einzelnen), Selbstverwirklichung, Genuss und das Ausleben emotionaler Bedürfnisse. Im Lauf der 1960er- und frühen 1970er-Jahre verloren Pflicht- und Akzeptanzwerte an Bedeutung, während Selbstentfaltungswerte umgekehrt an Gewicht gewannen. Der Trend des Wertewandels verlief von den schrumpfenden Pflicht- und Akzeptanzwerten zu den expandierenden Selbstentfaltungswerten hin. 373 <?page no="211"?> Fallstudien zum Wandel der Kino- und Fernsehkultur 212 US-Filme wurden vom deutschen Publikum seit den 1970er-Jahren deshalb bevorzugt, weil sie insgesamt Ausdruck jener Selbstentfaltungswerte sind, die die neue Generation favorisierte. Typischerweise haben die Hauptfiguren in US-Filmen klare Ziele, die sie im Filmverlauf auch realisieren. 374 Charakteristische Kennzeichen des US-Films sind darüber hinaus die Action, ereignisreiche und spektakuläre Handlungen, sowie das emblematische Happy End (siehe dazu auch Kapitel 7). 375 Der US-amerikanische Topstar John Wayne, der für Werte wie Unabhängigkeit, Selbstbestimmung, Eigenverantwortung steht, war beim deutschen Publikum jahrzehntelang erfolglos. Erst in der Folge des beschriebenen Wertewandels wurde John Wayne auch in Deutschland zu einem Topstar. Das Action-Adventure Movie, das dem US-Film in den 1970er- und frühen 1980er- Jahren in Deutschland zum Durchbruch verhalf, beruht auf spektakulärer, physischer Aktion, die in der Regel von einem männlichen Helden getragen wird, der eine Aufgabe zielbewusst in die Hand nimmt und diese erfolgreich zu Ende bringt. Zudem beruhen die Schauwerte dieses Genres oft auf Spezialeffekten, die von Film zu Film gesteigert wurden. Ältere deutsche Filme, die Ausdruck von Pflicht- und Akzeptanzwerten sind, wurden nun zunehmend abgelehnt. In vielen deutschen Filmen wird die Handlung oft nicht durch den Helden vorangetrieben, sondern der Held wird seinerseits getrieben. 376 Große deutsche Filmerfolge wie z. B. D ER BLAUE E NGEL (Rang 10/ 1930-31) zeigen von Trieben oder sozialen Umständen beeinflusste Antihelden. Solche Schicksalshaftigkeit ist auch Charakteristikum ganzer deutscher Filmgenres wie des Kammerspielfilms, des Trümmerfilms und des Heimatfilms. In einem der erfolgreichsten Filme der 1950er-Jahre, G RÜN IST DIE H EIDE (1951), der eine Vorbildfunktion für den deutschen Nachkriegsfilm hatte, ist der Protagonist ein Getriebener (er wird von Ostnach Westdeutschland vertrieben und steht unter dem Zwang, wildern zu müssen). 377 Auch die Liebesgeschichte, die sowohl deutsche wie US-amerikanische Filme erzählen, ist oft jeweils anders inszeniert. Allein schon die Tatsache, dass der deutsche Film kein dem Happy End vergleichbares emblematisches Ende kennt, ist charakteristisch. Die Liebesgeschichte eines der populärsten Filme der Weimarer Zeit, D ER K ONGRESS TANZT (Rang 1/ 1931-32), findet kein Happy End: Die Liebesromanze mit dem russischen Zaren (Willy Fritsch) ist vorbei; seine Geliebte, die Handschuhmacherin Christl Weinzinger (Lilian Harvey), muss sich den Standesregeln der Gesellschaft unterwerfen und verzichten. Auch wenn einzelne Aspekte des in diesem Kapitel analysierten Medienwandels auf bewusste Willensentscheidungen zurückgehen, so war doch das Resultat, der Wandel der nationalen Herkunft der in deutschen Kinos erfolgreichen Filme, von keiner Gruppe, die an diesem Prozess beteiligt war, geplant. Sicherlich beabsichtigte die US-Filmwirtschaft immer schon, die europäischen Filmmärkte zu er- <?page no="212"?> 17. Globalisierung der Kinokultur (1970erbis 2000er-Jahre) 213 obern. Doch erst als Faktoren ins Spiel kamen, auf die Vertreter der US-Filmwirtschaft keinerlei Einfluss hatten (Zusammenbruch des klassischen deutschen Kinos, Wandel der demografischen Zusammensetzung sowie der Wertpräferenzen des deutschen Publikums), kamen sie ihrem erklärten Ziel näher. Auf dieser Basis lässt sich eine Theorie des Erfolgs ausländischer Filme auf den Exportmärkten formulieren, die von folgenden Voraussetzungen ausgeht: 1. Die Herstellung von Filmen findet ebenso wie die Wahl der Filme an der Kinokasse unter den Bedingungen eines wenig regulierten Marktes statt (mehr dazu in Kapitel 4). 2. Das Publikum wählt nur solche Filme, von denen es sich den größtmöglichen Unterhaltungswert verspricht. 3. Die wirtschaftliche Stärke einer nationalen Filmwirtschaft ist an Kriterien wie der Größe des eigenen Marktes, der Kartellbildung, konsequenter Marktorientierung usf. messbar. Die unterschiedliche wirtschaftliche Macht zweier konkurrierender nationaler Filmindustrien ist für den Erfolg ihrer Filme in einem Land solange sekundär, wie ihre Filme vom Kinopublikum dieses Landes kulturell nicht akzeptiert werden (siehe dazu auch Kapitel 8). Die kulturelle Affinität zwischen dem Produktions- und dem Exportland ist die Voraussetzung dafür, dass die exportierten Filme im anderen Land populär werden können. Wenn die kulturelle Affinität zwischen einem großen Export- und einem kleinen Importland gegeben ist, entsteht ein Wettbewerbsvorteil durch die jeweils unterschiedlich ausgebildeten Marktstrukturen (z. B. konsequente Marktorientierung, Kartellbildung, Unterstützung durch die eigene Regierung) sowie durch die Größe des jeweiligen Marktes, da mehr in einen Film (hinsichtlich der Stars, des kreativen Personals, der Spezialeffekte) investiert werden kann, je größer das Kinopublikum eines Landes ist. Erfolgreicher als andere Anbieter wird dann die nationale Filmwirtschaft, die Filme mit der zu den Exportländern größten kulturellen Affinität produziert und über die rationellste Filmproduktion und den größten nationalen Markt verfügt. Die wirtschaftliche Stärke einer Filmwirtschaft wächst in dem Maß, in dem das Auslandspublikum durch einen kulturellen Integrationsprozess größer wird. Je größer die weltweite kulturelle Akzeptanz von US-Filmen ist, desto höher können die Investitionen in US-Filme sein. Unter der Bedingung eines kulturell an die populäre US- Filmkultur angeglichenen Auslandspublikums ist also die wirtschaftliche Stärke der US-Filmindustrie bereits ein Wettbewerbsvorteil, der durch die Ausdehnung des US-Absatzmarktes über Ländergrenzen derart gesteigert wird, dass der Siegeszug des US-Films an Tempo und an Dauerhaftigkeit gewinnt. <?page no="213"?> Fallstudien zum Wandel der Kino- und Fernsehkultur 214 Dieses Kapitel hat - wie bereits auch Kapitel 8 und 9 - gezeigt, dass Mediennutzungsformen nicht bei allen Menschen gleichermaßen funktionieren, sondern dass ihr Erfolg davon abhängt, welche Haltungen und Präferenzen die Zuschauer haben. Werden Filme nicht für ein bestimmtes Auslandspublikum hergestellt, so hängt ihr Erfolg davon ab, ob dieses Publikum ähnlich wie das heimische Publikum »tickt«. Zur Globalisierung der Medienkultur kam es daher in erster Linie, weil sich die Präferenzen der Zuschauer in den westlichen Ländern - bedingt durch den Generationswandel in Folge des Zweiten Weltkriegs - einander angenähert haben. Millionen von Verbrauchern treffen täglich eine Wahl, ob und wie sie Medientechnologien und -nutzungsformen, die ihnen von Medienproduzenten angeboten werden, nutzen. Aus der zeitlichen Distanz lassen sich in dem scheinbaren Chaos millionenfacher Entscheidungen klare Muster erkennen, die sich in analysierbare Richtungen entwickeln. Da es keine Instanz gibt, die solche Prozesse steuert, ergeben sich das Muster und die Richtung des Medienwandels allein durch das Selektionsverhalten von Millionen Mediennutzern, das alles andere als willkürlich ist. Welche Wahl die Nutzer treffen, hängt von diversen Faktoren ab, die Medienangebote für sie attraktiv machen, vom (Nutz-)Wert, dem Preis und der Verfügbarkeit des jeweiligen Angebots. Das Selektionsverhalten der Mediennutzer ist zudem in vielfacher Hinsicht von Faktoren wie ihrem Alter, Geschlecht und Bildungsstand oder ihrer Zugehörigkeit zu bestimmten Sprach- und Kulturgemeinschaften abhängig. Das Geflecht aus Medienangebot und -nachfrage im Wandel zu analysieren, ist - wie dieses Buch hoffentlich gezeigt hat - nicht nur möglich, sondern auch weniger schwierig, als es vielleicht auf den ersten Blick erscheint. <?page no="214"?> Anhang <?page no="216"?> 217 Anmerkungen 1 Für Ersteres stehen: Andreas Ströhl: Medientheorien kompakt. Konstanz: UVK, 2014; Gebhard Rusch u. a. (Hg.): Theorien der Neuen Medien: Kino, Radio, Fernsehen, Computer. Paderborn: Fink, 2007; für das Zweite: Werner Faulstich: Filmgeschichte. Konstanz: UVK, 2005; Jürgen Wilke: Grundzüge der Medien- und Kommunikationsgeschichte von den Anfängen bis ins 20. Jahrhundert. Köln: Böhlau, 2000. 2 Bildungskommission NRW: Zukunft der Bildung - Schule der Zukunft, o. O., 1995. 3 Meyers Großes Konversations-Lexikon: Art: Medium. DB Sonderband: Legendäre Lexika, S. 455651; vgl. Meyers Großes Konversations-Lexikon 1905-1909, Bd. 13, S. 518. 4 Meyers Großes Konversations-Lexikon: Art: Verbum. DB Sonderband: Legendäre Lexika, S. 532666; vgl. Meyers Großes Konversations-Lexikon 1905-1909, Bd. 20, S. 38 f. 5 lexikon.meyers.de/ meyers/ Medium (zuletzt aufgerufen am 23. 6. 2008). Der Artikel stammt aus Meyers Lexikon in 24 Bänden. Das Online-Angebot bestand nur in den Jahren 2006 bis 2009. 6 lexikon.meyers.de/ meyers/ Medien_ %28Publizistik %29 (zuletzt aufgerufen am 23. 6. 2008). Vgl. Fußnote 5. 7 www.dwds.de 8 Harry Pross: Medienforschung: Film, Funk, Presse, Fernsehen. Berlin, Darmstadt, Wien: Deutsche Buch-Gemeinschaft, 1972, S. 128. 9 Ebd. 10 Norbert Elias: Symboltheorie. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2001. 11 Joseph Garncarz: Maßlose Unterhaltung: Zur Etablierung des Films in Deutschland, 1896- 1914. Frankfurt am Main, Basel: Stroemfeld, 2010, S. 17-68. 12 Helmut Klages: Wertorientierungen im Wandel: Rückblick, Gegenwartsanalyse, Prognosen. Frankfurt am Main, New York: Campus-Verlag, 1984, S. 9 f. 13 Pew Research Center: »The World’s Muslims: Religion, Politics and Society«, 2013, S. 127, www.pewforum.org. 14 Marvin Zuckerman: »Sensation Seeking in Entertainment«, in: Jennings Bryant (Hg.): Psychology of Entertainment. Mahwah, N. J.: Erlbaum, 2006, S. 367-387. 15 Hanni Chill, Hermann Meyn: »Funktionen der Massenmedien in der Demokratie«, in: Informationen zur politischen Bildung, Heft 260, 3/ 1996, S. 2-5. 16 Daniel Müller u. a. (Hg.): Leitmedien: Konzepte - Relevanz - Geschichte. 2 Bde. Bielefeld: transcript, 2009. 17 Dieser Abschnitt ist maßgeblich von den Ideen von Norbert Elias inspiriert. Vgl. seine »Gesammelten Schriften«, die in den Jahren 1997 bis 2010 bei Suhrkamp in Frankfurt am Main erschienen sind. 18 Norbert Elias: Was ist Soziologie? Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2006, Kap. 3. 19 Joseph Garncarz: Wechselnde Vorlieben: Über die Filmpräferenzen der Europäer, 1896-1939. Frankfurt am Main, Basel: Stroemfeld, 2015, Kap. 18. 20 Joseph Garncarz: »Die Entstehung des Kinos aus dem Varieté: Ein Plädoyer für ein erweitertes Konzept der Intermedialität«, in: Jörg Helbig (Hg.): Intermedialität: Theorie und Praxis eines interdisziplinären Forschungsgebiets. Berlin: Erich Schmidt Verlag, 1998, S. 244-256. <?page no="217"?> Anhang 218 21 Ralf Ruckus (Hg.): iSlaves: Ausbeutung und Widerstand in Chinas Foxconn-Fabriken. Wien: Mandelbaum, 2013. 22 Nina Pauer: »Der produzierte Prolet«, in: Die Zeit, Nr. 32/ 2010. 23 de.wikipedia.org/ w/ index.php? title=Udo_J%C3%BCrgens&diff=140394274& oldid=136987525. 24 de.wikipedia.org/ w/ index.php? title=Meteor_von_Tscheljabinsk&oldid=140276591. 25 www.spiegel.de/ video/ taiwan-autofahrer-filmt-flugzeugabsturz-in-fluss-videovideo-1553569.html. 26 Rudolf Stöber: Mediengeschichte: Die Evolution ›neuer‹ Medien von Gutenberg bis Gates. Eine Einführung. 2 Bde. Wiesbaden: Westdeutscher Verlag, 2003; Brian Winston: Media, Technology and Society: A History: From the Telegraph to the Internet. London, New York: Routledge, 1998. 27 Joseph Garncarz: »Warum gab es im Stummfilmkino keine deutschen Kinderstars? «, in: KINtop: Jahrbuch zur Erforschung des frühen Films, Nr. 7 (1998), S. 99-111. 28 Ebd. 29 Dieses Kapitel beruht auf: Joseph Garncarz: Maßlose Unterhaltung: Zur Etablierung des Films in Deutschland, 1896-1914. Frankfurt am Main, Basel: Stroemfeld, 2010, Kap. 3. 30 Vgl. etwa für das Jahr 1907: »Aus dem Gebiete der Kinematographie: Bestimmungen für kinematographische Vorführungen in Sachsen«, in: Der Komet, Nr. 1138, 12. 1. 1907, S. 9, 10; »Aus dem Gebiete der Kinematographie: Vorkehrungen bei kinematographischen Vorführungen«, in: Der Komet, Nr. 1151, 13. 4. 1907, S. 9; »Aus dem Gebiete der Kinematographie: Vorschriften der Kinematographen für die Leipziger Messe«, in: Der Komet, Nr.1172, 7. 9. 1907, S. 10; »Aus dem Gebiete der Kinematographie: Verordnung, Bremen«, in: Der Komet, Nr. 1176, 5. 10. 1907, S. 11. 31 Plakat des »Circus-Kinematograph« der Witwe C. Heitmann anlässlich einer Vorführung in Herford 1907 oder 1908 (Stadtarchiv Hagen); Briefkopf von »The American- European-Bio. First European Tour 1908«, Schreiben an die Stadt Hagen, 25. 1. 1908 (Stadtarchiv Hagen). 32 Ernst Kieninger: Das »Klassische Wanderkino« 1896-1914: Filmkommunikation auf dem Weg zur Institution am Beispiel Niederösterreich und Umland. Diplomarbeit am Institut für Publizistik- und Kommunikationswissenschaft, Universität Wien 1992 (unveröffentlicht); Guido Convents: Van kinetoscoop tot café-ciné: De eerste jaren van de film in België 1894-1908. Leuven: Universitaire Pers Leuven, 2000; Aldo Bernardini: Cinema italiano delle origini: Gli ambulanti. Gemona: La Cineteca del Friuli, 2001; Vanessa Toulmin: »›Within the Reach of All: Travelling Cinematograph Shows on British Fairgrounds 1896-1914«, in: Martin Loiperdinger (Hg.): Travelling Cinema in Europe. Frankfurt am Main, Basel: Stroemfeld, 2008, S. 19-33. 33 Der Komet, Nr. 511, 5. 1. 1895. 34 Der Anker (Hamburg), in öffentlichen Bibliotheken nachgewiesen: Nr. 12/ 1912 - Nr. 33/ 1933. 35 Lisa Kosok, Mathilde Jamin (Hg.): Viel Vergnügen: Öffentliche Lustbarkeiten im Ruhrgebiet der Jahrhundertwende. Essen: Ruhrlandmuseum, 1992. 36 »Kirchweihe«, in: Brockhaus’ Kleines Konversations-Lexikon, S. 38144 (vgl. Brockhaus- KKL5 Bd. 1, S. 969). 37 Alfred Lorenzer: Das Konzil der Buchhalter: Die Zerstörung der Sinnlichkeit. Frankfurt am Main: Europäische Verlagsanstalt, 1981. 38 Max Weber: Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus. München: Beck, 2004. <?page no="218"?> Anmerkungen 219 39 Statistisches Jahrbuch für das Deutsche Reich, 34. Jg., 1913. Berlin 1913, S. 11. 40 Verein Münchner Oktoberfestmuseum (Hg.): Das Oktoberfest: Einhundertfünfundsiebzig Jahre Bayerischer National-Rausch [Ausstellungskonzeption und Katalog: Florian Dering]. München: Bruckmann, 1985, S. 66. 41 Kerstin Konrad u. a.: »Brain development during adolescence: neuroscientific insights into this developmental period«, in: Deutsches Ärzteblatt International, 110 (25), 2013, S. 425-431; B. J. Casey u. a.: »The Adolescent Brain«, in: Annals of the New York Academy of Sciences, 1124 (2008), S. 111-126. 42 Ernst Thost: »Theodor Scherff: Zum 20jährigen Jubiläum der Gründung des ersten Film-Verleihs der Welt«, in: Die Kinotechnik, Heft 22, 9. Jg., 28. 11. 1927, S. 585-588, hier: S. 585. 43 Vgl. Stefan Nagel: Schaubuden: Geschichte und Erscheinungsformen. Münster 2000-2008 (www.schaubuden.de), Kap. 2. 44 Plakat in den Akten der Düsseldorfer Polizei, die Antwort auf Genehmigung eines Platzes datiert vom 23. 11. 1903 (Stadtarchiv Düsseldorf, III 5756). 45 Der Globus, Nr. 26/ 1904, S. 5 ff. 46 Tom Gunning: »Cinema of Attractions«, in: Richard Abel (Hg.): Encyclopedia of Early Cinema. London, New York: Routledge, 2005, S. 124-127, hier: S. 124. 47 André Gaudreault: »From ›Primitive Cinema‹ to ›Kine-Attractography‹«, in: Wanda Strauven (Hg.): The Cinema of Attractions Reloaded. Amsterdam: Amsterdam University Press, 2006, S. 85-104. 48 Matthew Solomon: »Fairground Illusions and the Magic of Méliès«, in: Martin Loiperdinger (Hg.): Travelling Cinema in Europe: Sources and Perspectives. Frankfurt am Main, Basel: Stroemfeld, 2008, S. 35-45. 49 Folgende acht Bundesstaaten wurden als »Thüringische Staaten« gezählt: Großherzogtum Sachsen, Sachsen-Meiningen, Sachsen-Strelitz, Sachsen-Coburg-Gotha, Schwarzburg-Sondershausen, Schwarzburg-Rudolstadt, Reuß älterer Linie, Reuß jüngerer Linie. 50 Der Komet, Nr. 1121, 15. 9. 1906, S. 28. 51 Der Globus, Nr. 16/ 1909, S. 20. 52 Gerd Hohorst u. a.: Sozialgeschichtliches Arbeitsbuch: Materialien zur Statistik des Kaiserreichs 1870-1914. München: C.H. Beck, 1975, S. 109. 53 Der Globus, Nr. 26/ 1904, S. 5 ff. 54 Dieses Kapitel beruht auf: Joseph Garncarz: Maßlose Unterhaltung: Zur Etablierung des Films in Deutschland, 1896-1914. Frankfurt am Main, Basel: Stroemfeld, 2010, Kap. 5 und 6; Joseph Garncarz: Wechselnde Vorlieben: Über die Filmpräferenzen der Europäer, 1896- 1939. Frankfurt am Main, Basel: Stroemfeld, 2015, Kap. 7, 9 und 10. 55 Vgl. Käthe Lux: Studien über die Entwicklung der Warenhäuser in Deutschland. Jena: Gustav Fischer, 1910, S. 189. 56 Johannes Steindamm: Beiträge zur Warenhausfrage. Berlin: E. Ebering, 1904, S. 10-11. 57 Jahrbuch und Welt-Adressbuch für Kauf- und Warenhäuser. Berlin: Verlag der Zeitschrift Deutsche Confection, 1909, S. 340-343. 58 Otto Erich v. Wussow: Geschichte und Entwickelung der Warenhäuser. Berlin: Verlag für Sprach- und Handelswissenschaft, 1906, S. 33. 59 »Kinematographen in Berlin«, in: Der deutsche Händler und Hausierer, Jg. 1906, H. 13, 30. 12. 1906, S. 6. <?page no="219"?> Anhang 220 60 Alexander Jason: Der Film in Ziffern und Zahlen (1895-1925). Berlin: Kommissionsverlag, 1925, S. 31. 61 H. Lehmann: »Kinematographische Tricks«, in: Rheinisch-Westfälische Zeitung, 23. 10. 1911. 62 The German Early Cinema Database: www.earlycinema.uni-koeln.de. 63 Vgl. das deutsche Plakat zum Film L IEUTENANT R OSE AND THE H IDDEN T REASURE (Großbritannien 1912): Joseph Garncarz: Maßlose Unterhaltung: Zur Etablierung des Films in Deutschland, 1896-1914. Frankfurt am Main, Basel: Stroemfeld, 2010, S. 165. 64 Anzeige der Palast-Lichtspiele, in: Karlsruher Tagblatt, Nr. 135, 16. 5. 1915. 65 Matias Bleckman: Harry Piel: Ein Kino-Mythos und seine Zeit. Düsseldorf: Filminstitut der Landeshauptstadt Düsseldorf, 1992, S. 49. 66 The German Early Cinema Database: www.earlycinema.uni-koeln.de. 67 Ebd. 68 Arthur Mellini: »Eine Frühlingsfahrt durchs deutsche Kino-Land«, in: Lichtbildbühne, 3. Jg., H. 93, 7. 5. 1910. 69 Gerben Bakker: Entertainment Industrialised: The Emergence of the International Film Industry, 1890-1940. Cambridge u. a.: Cambridge University Press, 2008, Abb. 6.2, S. 191. 70 Anzeige des Kaiser-Kinos am Durlachertor, Karlsruhe, in: Badische Presse, Nr. 73, 13. 2. 1915, Mittagblatt. 71 The German Early Cinema Database: www.earlycinema.uni-koeln.de; Cinema Context: www.cinemacontext.nl. 72 Helmut H. Diederichs: Frühgeschichte deutscher Filmtheorie: Ihre Entstehung und Entwicklung bis zum Ersten Weltkrieg. Habilitationsschrift 1996. Publikation im Internet (2001): publikationen.ub.uni-frankfurt.de/ frontdoor/ index/ index/ docId/ 4924, S. 140. 73 Ben Singer: Melodrama and Modernity: Early Sensational Cinema and Its Contexts. New York: Columbia University Press, 2001, S. 44-49. 74 Willi Warstat: »Vom ›Geschmack‹ der Völker«, in: Die Grenzboten, 1912, Jg. LXXI, Nr. 6, S. 281-287. 75 Ebd. 76 Ebd. 77 P[eter] Browe: »Lichtspieltheater«, in: Stimmen aus Maria Laach, Bd. 87 (1914), S. 173-187. 78 Dieses Kapitel beruht auf: Joseph Garncarz: Wechselnde Vorlieben: Über die Filmpräferenzen der Europäer, 1896-1939. Frankfurt am Main, Basel: Stroemfeld, 2015, Kap. 12 und 14. 79 www.dwds.de. 80 Ewald André Dupont: Wie ein Film geschrieben wird und wie man ihn verwertet. 2. völlig neu bearbeitete Auflage von F[ritz] Podehl. Berlin: Gustav Kühn, 1926. 81 Felix K. Bernhardt: Wie schreibt und verwertet man einen Film? 20 interessante Kapitel für jedermann. 2. Auflage. Berlin: Bauer-Verlag, o. J. [1926], S. 29. 82 Ebd., S. 11. 83 Alexander Jason: Handbuch der Filmwirtschaft. Bd. I. Berlin: Verlag für Presse, Wirtschaft und Politik, 1930, S. 42. 84 Alexander Jason: Handbuch des Films 1935/ 36. Berlin: Hoppenstedt & Co., 1935, S. 146. 85 Edwin H. Weinwurm: Der Filmverleih in Deutschland. Würzburg: Bavaria, 1931, S. 51. 86 Die Nachfrage wurde auf der Basis der Top-30-Filme berechnet: Film-Kurier, Nr. 128, 31. 5. 1930; Nr. 129, 2. 6. 1930; Nr. 119, 23. 5. 1931, Nr. 118, 21. 5. 1932; unveröffentlichte Erhebung von Christina Muschol für das Jahr 1938 (Berlin). Das Angebot <?page no="220"?> Anmerkungen 221 wurde berechnet auf der Basis der Angaben bei: Spitzenorganisation der Filmwirtschaft (Hg.): Filmstatistisches Jahrbuch 1954/ 55. Wiesbaden-Biebrich: Selbstverl., 1954, S. 85. 87 Die Nachfrage wurde auf der Basis aller Filme berechnet, für die die Stimmenzahl der Kinobesitzer veröffentlicht wurden: La Cinématographie Française, Nr. 760, 27. 5. 1933; Nr. 960, 26. 3. 1937; Nr. 1012, 25. 3. 1938; Nr. 1065, 31. 3. 1939, abgedruckt in: Colin Crisp: Genre, Myth, and Convention in the French Cinema, 1929-1939. Bloomington, IN: Indiana University Press, 2002, S. 300. Das Angebot wurde berechnet auf der Basis der Angaben von: Colin Crisp: The Classic French Cinema, 1930-1960. Bloomington, IN: Indiana University Press, 1997, Tab. 1.4, S. 11. 88 Die Nachfrage wurde auf der Basis der Top-30-Filme berechnet: Ji í Havelka: s. filmové hospodá ství. Bde. I-IV. Praha: Státní pedagogické nakladatelství, 1958-1959. Die Daten zum Filmangebot sind entnommen: Gernot Heiss, Ivan Klimeš (Hg.): Obrazy casu: ceský a rakouský film 30. let = Bilder der Zeit: Tschechischer und österreichischer Film der 30er Jahre. Praha, Brno: Národní Filmový Archiv, 2003, S. 402-403. 89 Die Nachfrage wurde auf der Basis der Top-30-Filme berechnet. Die Erfolgsranglisten wurden auf der Basis der Kinoanzeigen der Tageszeitungen Kurier Powszechny und Czas erstellt. Das Angebot wurde berechnet aufgrund der Angaben von Urszula Biel: l skie kina mi dzy wojnami czyli przyjemno upolityczniona. Katowice: Wydawnictwo Naukowe L SK, 2002, S. 183. Die Daten beziehen sich auf die Jahre 1935 und 1936, da nur für diese beiden Jahre verlässliche Zahlen über lange Spielfilme vorliegen. 90 Top 30 der Filme erstellt auf der Basis der von Clara Pafort-Overduin erhobenen, bisher unveröffentlichten Daten (eigene Berechnung). Das Angebot wurde errechnet auf der Basis der Angaben bei: Jaarverslag der werkzaamheden van den Nederlandschen Bioscoopbond, over het jaar 1934. Amsterdam, 1935, S. 61; Jaarverslag der werkzaamheden van den Nederlandschen Bioscoopbond, over het jaar 1935. Amsterdam, 1936, S. 88-89; Jaarverslag der werkzaamheden van den Nederlandschen Bioscoopbond, over het jaar 1936. Amsterdam, 1937, S. 18-19. 91 Die Nachfrage wurde berechnet auf der Basis der Top-Ten-Liste in Norsk Filmblad, Nr. 1, 1932, S. 9. Das Angebot wurde aufgrund der Angaben in folgendem Artikel berechnet: o. V.: »Filmkontrollen i 1931«, in: Norsk Filmblad, Nr. 1, 1932, S. 8. 92 Die Nachfrage wurde auf der Basis der Top-30-Filme berechnet; die Erfolgsranglisten finden sich bei: John Sedgwick: Popular Filmgoing in 1930s Britain: A Choice of Pleasures. Exeter: University of Exeter Press, 2000, S. 262-276. Angebotsdaten ebd., Tab. 4.4, S. 91-92. 93 Die Nachfrage wurde auf der Basis folgender Filmerfolgsranglisten berechnet: Mein Film: die österreichische Filmillustrierte, Nr. 510, ohne Datum, 1935, S. 9; Nr. 562, 2. 10. 1936, S. 2; Nr. 615, 8. 10. 1937, S. 9; unveröffentlichte Erhebung von Christina Muschol für das Jahr 1938 (Wien). Das Angebot wurde berechnet auf der Basis der Daten bei: Armin Loacker: Anschluss im ¾-Takt: Filmproduktion und Filmpolitik in Österreich 1930-1938. Trier: WVT, 1999, S. 12. 94 Die deutschen Filme F ÜNF M ILLIONEN SUCHEN EINEN E RBEN (1938) und H EIMAT (1938) waren beim deutschen, österreichischen und niederländischen Publikum unter den Top 30. Der deutsche Film D ER T IGER VON E SCHNAPUR war beim deutschen, österreichischen und tschechischen Publikum besonders erfolgreich. Der französische Film L A MORT DU CYGNE (1937) war beim französischen, britischen und niederländischen Publikum unter den Top 30. <?page no="221"?> Anhang 222 95 Folgende US-Filme waren in jeweils drei europäischen Ländern unter den Top 30: O NE H UNDRED M EN AND A G IRL (1937; in Polen, Großbritannien und den Niederlanden), T HE F IREFLY (1937; in Polen, der Tschechoslowakei und in den Niederlanden), T HE H URRICANE (1937; in Polen, Großbritannien und den Niederlanden), C ONQUEST (in Polen, Österreich und den Niederlanden) und T HE A DVENTURES OF R OBIN H OOD (1938; in Polen, Frankreich und den Niederlanden). 96 M AD A BOUT M USIC (1938) war beim britischen, tschechischen, polnischen und niederländischen Publikum sehr erfolgreich. 97 Markus Spieker: Hollywood unterm Hakenkreuz: Der amerikanische Film im Dritten Reich. Trier: WVT, 1999, S. 289-290; Carsten Laqua: Wie Micky unter die Nazis fiel: Walt Disney und Deutschland. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt, 1992, S. 87-99. 98 Dieses Kapitel beruht auf: Joseph Garncarz: »›Films that are applauded all over the world‹: Questioning Chaplin’s Popularity in Weimar Germany«, in: Early Popular and Visual Culture, Vol. 8, No. 3, August 2010, S. 285-296. 99 Paul Reno: »Charlie Chaplin«, in: Ufa-Blätter: Programm-Zeitschrift der Theater des Ufa-Konzerns. Berlin: Ufa, 1923. 100 »Goldrausch«, in: Kölner Stadt-Anzeiger, 10. 3. 1926. 101 Ernst Blass: »Chaplins Goldrausch« [zur Berliner Uraufführung im Capitol, keine Quelle angegeben (Deutsches Filminstitut)]. 102 Sabine Hake: »Chaplin Reception in Weimar Germany«, in: New German Critique, Nr. 51 (1990), S. 87-111; Klaus Kreimeier (Hg.): Zeitgenosse Chaplin. Berlin: Oberbaumverlag, 1978; Thomas J. Saunders: Hollywood in Berlin: American Cinema and Weimar Germany. Berkeley, Los Angeles, London: University of California Press, 1994. 103 Wolfgang Gersch: Chaplin in Berlin: Illustrierte Miniatur nach Berliner Zeitungen von 1931. Berlin: Parthas, 1999. 104 David Robinson: Chaplin: His Life and Art. London: Paladin, 1986, S. 359. 105 goL: »Chaplins Schuh: Goldrausch im Capitol« [keine Quelle angegeben (Deutsches Filminstitut)]. 106 The German Early Cinema Database (www.earlycinema.uni-koeln.de). Nachweise der Chaplin-Filme in Deutschland über: Herbert Holba: Illustrierter Film-Kurier 1919-1944. Neu-Ulm: Verlag des Dokumentationszentrums ACTION, 1977; Jahrbuch der Filmindustrie. Berlin, 1922-1933; Deutscher Reichsanzeiger und Preußischer Staatsanzeiger. Berlin: Kessel, 1871-1945. 107 Wolfgang Mühl-Benninghaus: Vom Augusterlebnis zur Ufa-Gründung: Der deutsche Film im 1. Weltkrieg. Berlin: Avinus, 2004, S. 150-158. 108 Programmheft »Vier Chaplin-Filme«, Ufa-Palast am Zoo (undatiert, Sammlung Garncarz). Vgl. auch: Thomas J. Saunders: »Von der Dafco zu Damra: Spekulation mit amerikanischen Filmen«, in: Hans-Michael Bock, Michael Töteberg (Hg.): Das Ufa- Buch. Frankfurt am Main: Zweitausendeins, 1992, S. 70-71. 109 Programmheft: »Ufa: Das Programm der Ufa-Theater« vom 13. bis 19. 4. 1923 (Deutsches Filminstitut). 110 Aus dem Programmheft des Berliner Kinos Universum (Deutsches Filminstitut) geht hervor, dass T HE P ILGRIM mit T HE I DLE C LASS (1921, dt. Titel: D IE FEINEN L EUTE ) kombiniert wurde. 111 Markus Spieker: Hollywood unterm Hakenkreuz: Der amerikanische Spielfilm im Dritten Reich. Trier: WVT 1999, S. 91. 112 Ebd., S. 164. <?page no="222"?> Anmerkungen 223 113 Schreiben der Filmoberprüfstelle Nr. 7578 vom 7. 1. 1935 (Deutsches Filminstitut). 114 Lichtspielgesetz vom 12. Mai 1920 (Filmzensurgesetz) nebst Ausführungsbestimmungen vom 16. Juni 1920, ausführlich erläutert von Dr. Heinrich Stern. Berlin: Spaeth & Linde, 1920, § 3. 115 Schreiben der Filmoberprüfstelle Nr. 948.25 vom 9. 1. 1926 (Deutsches Filminstitut). 116 Alexander Jason: Handbuch des Films 1935/ 36. Berlin: Hoppenstedt & Co, 1935, S. 134: 1925 gab es in Deutschland 3.734 und 1931 5.071 Kinos. 117 Richard Koszarski: An Evening’s Entertainment: The Age of the Silent Feature Picture, 1915- 1928. Berkeley, Los Angeles, London: University of California Press, 1994, S. 1922-1927. 118 Zahlen zum Filmangebot bei: Alexander Jason: Handbuch des Films 1935/ 36. Berlin: Hoppenstedt & Co, 1935, S. 109-110. Daten zur Filmnachfrage: Film-Kurier, Nr. 129 vom 2. 6. 1930. 119 Theodor Geiger: Die soziale Schichtung des deutschen Volkes. Stuttgart: Enke, 1932. 120 Irmalotte Guttmann: Über die Nachfrage auf dem Filmmarkt in Deutschland. Berlin: Wolffsohn, 1928 (= Köln, Wirtsch.u. sozialwiss. Diss., 1927). 121 Ebd., S. 13. 122 Die Korrektur ergibt sich durch eine Berechnung der Laufzeit auf der Basis der Anzeigen im Kölner Stadt-Anzeiger. 123 Irmalotte Guttmann: Über die Nachfrage auf dem Filmmarkt in Deutschland. Berlin: Wolffsohn, 1928 (= Köln, Wirtsch.u. sozialwiss. Diss., 1927), S. 13. 124 Ebd., S. 33. 125 Ebd., S. 38. 126 Markus Spieker: Hollywood unterm Hakenkreuz: Der amerikanische Spielfilm im Dritten Reich. Trier: WVT, 1999, S. 339-341. Die Quelle ist: National Archives, Record Group 151, Commercial Attaché Reports Relating to Germany. - Fehlende Monate wurden von Markus Spieker aufgrund anderer Quellen ergänzt: Alexander Jason: Handbuch des Films 1935/ 36. Berlin: Hoppenstedt & Co, 1935, S. 309-312 sowie Kinoanzeigen im Berliner Tageblatt und in der Deutschen Allgemeinen Zeitung. 127 Leo Hirsch: »Charlie Chaplins Zirkus«, 8. 2. 1928 [keine Quellenangabe (Deutsches Filminstitut)]. 128 Kölner Stadt-Anzeiger, 25. 2. 1926. 129 Kölner Stadt-Anzeiger, 23. 2. 1926 bis 10. 3. 1926 (täglich außer 28. 2. 1926, 1./ 2. 3. 1926). 130 Kölner Stadt-Anzeiger, 23. 2. 1926. 131 Kölner Stadt-Anzeiger, 24. 2. 1926. 132 Ebd. 133 »Goldrausch«, in: Kölner Stadt-Anzeiger, 5./ 6. 3. 1926. 134 Ebd. 135 Neue Illustrierte Filmwoche, Nr. 23, 1924; Deutsche Filmwoche, Nr. 19, 1925; Nr. 19, 1926; Nr. 11, 1927. Stars, die weniger als 100 Stimmen erhielten, wurden nicht platziert. 136 Deutsche Filmwoche vom 7. 5. 1926. 137 Joseph Garncarz: »Warum gab es im Stummfilmkino keine deutschen Kinderstars? «, in: KINtop 7/ 1998, S. 99-111. 138 Irmalotte Guttmann: Über die Nachfrage auf dem Filmmarkt in Deutschland. Berlin: Wolffsohn, 1928 (= Köln, Wirtsch.u. sozialwiss. Diss., 1927), S. 30. 139 »Echo der Filme im Querschnitt«, in: Film-Echo, Nr. 104, 31. 12. 1959, S. 1749. 140 »Echo der Filme im Querschnitt«, in: Film-Echo, Nr. 72, 22. 12. 1972, S. 30. <?page no="223"?> Anhang 224 141 Joseph Garncarz: Filmfassungen: Eine Theorie signifikanter Filmvariation. Frankfurt am Main, Bern, New York, Paris: Peter Lang, 1992, S. 58-65. 142 T HE G OLD R USH »proved to be a flop in all the small [U.S.] cities.« David Robinson: Chaplin: His Life and Art. London: Paladin, 1986, S. 358. 143 Vgl. die Belege bei Norbert Aping: Charlie Chaplin in Deutschland, 1915-1924: Der Tramp kommt ins Kino. Marburg: Schüren 2014, S. 199 und S. 236. 144 Dieses Kapitel basiert auf: Joseph Garncarz: »Untertitel, Sprachversion, Synchronisation: Die Suche nach dem optimalen Übersetzungsverfahren«, in: Jan Distelmeyer (Hg.): Babylon in FilmEuropa: Mehrsprachen Versionen der 1930er Jahre. München: edition text + kritik, 2006, S. 9-18. 145 »Antworten auf 10 Fragen über die Tonfilmlage Europas«, in: Film-Kurier, 31. 5. 1930. 146 Alexander Jason: Handbuch des Films 1935/ 36. Berlin: Hoppenstedt & Co. 1935, S. 144. 147 Wolfram Fischer (Hg.): Handbuch der europäischen Wirtschafts- und Sozialgeschichte. Bd. 6. Stuttgart: Klett 1987, S. 74-75. 148 Andor Kraszna-Krausz: »Warum synchronisieren«, in: Filmtechnik-Filmkunst, 28. 11. 1931, S. 1; René Lehmann: »A propos du ›dubbing‹«, in: Pour Vous, Nr. 133, 4. 6. 1931. 149 Gustav Fröhlich: Waren das Zeiten: Mein Film-Heldenleben. München, Berlin: Herbig 1983, S. 174-175. 150 Martin Barnier: En route vers le parlant: Histoire d’une évolution technologique et esthétique du cinéma (1926-1934). Liège: Èditions du Céfal, 2002, S. 120-124. 151 Christian Junklewitz: »Die Drei von der Tankstelle«, in: Joseph Garncarz, Annemone Ligensa (Hg.): 24 Frames: The Cinema of Germany. New York: Columbia University Press, 2012, S. 69-76. 152 Ludwig Czerny: »›Jetzt wäre es Zeit‹: Erobert den Auslandsmarkt durch rationelle Versionenherstellung«, in: Film-Kurier, Nr. 304, 27. 12. 1930. 153 Auswertung der Versionen-Datenbank von CineGraph, Hamburg. 154 Victor Volmar: »Foreign Versions«, in: Journal of the Society of Motion Picture and Television Engineers. Bd. 55 (1950), S. 536-546. 155 John Sedgwick: Popular Filmgoing in 1930s Britain. Exeter: University of Exeter Press, 2000. 156 »Antworten auf 10 Fragen über die Tonfilmlage Europas«, in: Film-Kurier, 31. 5. 1930. 157 Ludwig Czerny: »›Jetzt wäre es Zeit‹: Erobert den Auslandsmarkt durch rationelle Versionenherstellung«, in: Film-Kurier, Nr. 304, 27. 12. 1930. 158 Claire Rommer: »Stimmenwanderung«, in: Die Filmwoche, Nr. 48, 30. 11. 1932. 159 Ludwig Czerny: »›Jetzt wäre es Zeit‹: Erobert den Auslandsmarkt durch rationelle Versionenherstellung«, in: Film-Kurier, Nr. 304, 27. 12. 1930. 160 C. Hooper Trask: »On Berlin’s Screens«, in: New York Times, 5. 2. 1933, S. 4, zit. n. Kristin Thompson: Exporting Entertainment: America in the World Market, 1907-1934. London: BFI 1985, S. 163. 161 Andor Kraszna-Krausz: »Warum synchronisieren«, in: Filmtechnik-Filmkunst, 28. 11. 1931, 3; René Lehmann: »A propos du ›dubbing‹«, in: Pour Vous, Nr. 133, 4. 6. 1931. 162 Wolfram Fischer (Hg.): Handbuch der europäischen Wirtschafts- und Sozialgeschichte. Bd. 6. Stuttgart: Klett 1987, S. 74-75. 163 Valentia Ruffin, Patrizia D’Agostino: Dialoghi di regime. Rom: Bulzoni, 1997, S. 45; Antonio Vallés Copeiro del Villar: Historia de la Política de Fomento del Cine Español. Valencia: Filmoteca de la Generalitat Valenciana, 1992, S. 39-46. <?page no="224"?> Anmerkungen 225 164 [Ernst] Seeger (Hg.): Die Gesetze und Verordnungen für das deutsche Filmwesen vom 13. März bis zum 24. August 1933. Berlin: Film-Kurier, 1933. 165 Reichsfilmkammer (Hg.) Filmhandbuch, bearbeitet von Heinz Tackmann. Berlin: Luchterhand 1938 ff., hier: Filmverzeichnis Spielfilme 1941, 12. Ergänzungslieferung vom 30. 6. 1943. 166 »Rund um die Gedächtniskirche«, in: Der deutsche Film, 1. Jg. (Juli 1937), S. 6. 167 Dieses Kapitel basiert auf: Joseph Garncarz: »Produzenten von europäischem Ruf: Zur Produktionsphilosophie von Arnold Pressburger und Gregor Rabinowitsch«, in: Jan Distelmeyer (Hg.): Alliierte für den Film: Arnold Pressburger, Gregor Rabinowitsch und die Cine-Allianz. München: edition text + kritik, 2004, S. 57-64. 168 »Rabinowitsch und Pressburger gründen«, in: Film-Kurier, Nr. 12, 14. 1. 1932. 169 Alexander Jason: Handbuch der Filmwirtschaft, Jg. 1930. Berlin: Verlag für Presse, Wirtschaft und Politik, 1930, S. 51. 170 Markus Spieker: Hollywood unterm Hakenkreuz: Der amerikanische Spielfilm im Dritten Reich. Trier: WVT, 1999, S. 339-341. 171 A. Lapiner: »Ciné Alliance in Berlin«, in: Film-Kurier, Nr. 238, 8. 10. 1927. 172 »Europas Tonfilm-Zukunft liegt in der Gemeinschaftsproduktion: Gespräch mit Gregor Rabinowitsch«, in: Film-Kurier, 21. 12. 1929. 173 Vgl. Joseph Garncarz: »Art & Industry: German cinema of the 1920s«, in: Lee Grieveson, Peter Krämer (Hg.): The Silent Cinema Reader. London, New York: Routledge, 2004, S. 389-400. 174 Arnold Pressburger: »Produktions-Erkenntnis 1932: Und trotzdem - Qualität«, in: Film-Kurier, Nr. 1, 1. 1. 1932. 175 Ebd. 176 Vgl. Knut Hickethier, Marcus Bier: »Militärschwänke im Kino der zwanziger Jahre«, in: Harro Segeberg (Hg.): Die Perfektionierung des Scheins: Das Kino der Weimarer Republik im Kontext der Künste. München: Wilhelm Fink, 1999, 67-93. - Aufgrund seines großen Erfolgs hat dieser Film dem Genre neue Impulse gegeben. 177 Anzeige L UMPENKAVALIERE , in: Lichtbildbühne, Nr. 188, 12. 8. 1932. 178 »Große Namen bei Cine-Allianz«, in: Film-Kurier, Nr. 307, 30. 12. 1932. 179 »Kiepurafilm auch französisch: Umfassende Produktionspläne der Cine-Allianz«, in: Film-Kurier, Nr. 61, 13. 3. 1935. 180 »Europas Tonfilm-Zukunft liegt in der Gemeinschaftsproduktion: Gespräch mit Gregor Rabinowitsch«, in: Film-Kurier, 21. 12. 1929. 181 Ejott: »Wochenschau Nr. 3: En face«, in: Film-Kurier, 17. 1. 1931. 182 A. Lapiner: »Ciné Alliance in Berlin«, in: Film-Kurier, Nr. 238, 8. 10. 1927. 183 »Cine-Allianz«, in: Film-Kurier, Nr. 100, 28. 4. 1934. 184 H. w. g.: »Großes Ereignis im Zeichen der Cine-Allianz«, in: Lichtbildbühne, Nr. 123, 28. 5. 1932. 185 »Der Stand der Cine-Allianz-Produktion«, in: Film-Kurier, Nr. 276, 25. 11. 1938. 186 Vgl. Markus Spieker: Hollywood unterm Hakenkreuz: Der amerikanische Spielfilm im Dritten Reich. Trier: WVT 1999, S. 341. 187 Gerd Albrecht: Die großen Filmerfolge. Ebersberg: Lothar Just 1985, S. 39. 188 Dieses Kapitel basiert auf: Joseph Garncarz: »O LYMPIA - Fest der Völker/ Fest der Schönheit«, in: Joseph Garncarz, Annemone Ligensa (Hg.): 24 Frames: The Cinema of Germany. New York: Columbia University Press, 2012, S. 79-86. <?page no="225"?> Anhang 226 189 Henry Picker: Hitlers Tischgespräche im Führerhautquartier. Frankfurt am Main: Ullstein, 1993, S. 305. 190 Victor Klemperer: Tagebücher 1935-1936. Berlin: Aufbau-Verlag, 1999, S. 122 f. 191 Marcel Colin-Reval: »Les Films Champions et les Vedettes 1938«, in: La Cinématographie Française, Nr. 1065, 31. 3. 1939, S. 60. 192 Cinema Context: www.cinemacontext.nl (eigene Berechnung). 193 Jürgen Trimborn: Riefenstahl: Eine deutsche Karriere. Berlin: Aufbau-Verlag, 2002, S. 268. 194 Xth Olympiad Committee of the Games of Los Angeles (Hg.): The Games of the Xth Olympiad »Los Angeles 1932«: Official Report, 1933, S. 172. 195 Reportage vom 100-m-Lauf der Männer, 3. 8. 1936. www.dhm.de/ lemo/ html/ 1936/ index.html (3. 2. 2006). 196 Paul Lesch: Heim ins Ufa-Reich? NS-Filmpolitik und die Rezeption deutscher Filme in Luxemburg 1933-1944. Trier: WVT, 2002, S. 127. 197 Ebd. 198 Dieses Kapitel basiert auf: Joseph Garncarz: »The Ultimate Irony: Jews Playing Nazis in Hollywood«, in: Alastair Philips, Ginette Vincendeau (Hg.): Journeys of Desire: European Actors in Hollywood: A Critical Companion. London: BFI, 2006, S. 103-113. 199 Alfred Polgar: »Leben am Pazifik«, in: Aufbau, VIII (36), 4. 9. 1942, S. 21, abgedruckt in Marcel Reich-Ranicki (Hg.): Alfred Polgar: Kleine Schriften, Bd. 1. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt, 1982, S. 463-466. 200 Über Kohner: Frederick Kohner: The Magician of Sunset Boulevard: The Improbable Life of Paul Kohner, Hollywood Agent. Palos Verdes, CA: Morgan Press, 1977; Frederick Kohner: Der Zauberer vom Sunset Boulevard: Ein Leben zwischen Film und Wirklichkeit. München: Droemer Knaur, 1974 (in der deutschen Übersetzung von Karl Otto von Czernicki sind Bezüge zu den Nazis gestrichen); Stiftung Deutsche Kinemathek (Hg.). Film Exil, Nr: 1/ 1992. Berlin: Edition Hentrich, 1992. 201 Erika Wottrich (Hg.): Deutsche Universal: Transatlantische Verleih- und Produktionsstrategien eines Hollywood-Studios in den 20er und 30er Jahren. München: edition text + kritik, 2001. 202 Sammlung Paul Kohner, Kohner an Sig Rumann, 9. 10. 1939. 203 Stiftung Deutsche Kinemathek (Hg.): Sammlung Paul Kohner Agency: Inventarverzeichnis. Berlin: Eigendruck, 1994. 204 Jan-Christopher Horak: Anti-Nazi-Filme der deutschsprachigen Emigration von Hollywood 1939-1945. Münster: Maks, 1985; Christian Cargnelli, Michael Omasta (Hg.): Aufbruch ins Ungewisse, Bd. 2. Wien: Wespennest, 1993. 205 Deutsches Filmmuseum (Hg.): Von Babelsberg nach Hollywood: Filmemigranten aus Nazideutschland. Frankfurt am Main: Deutsches Filmmuseum, 1987, S. 7-22. 206 Carl Esmond: »Ich war nicht keen, nach Amerika zu gehen«, in: Christian Cargnelli, Michael Omasta (Hg.): Aufbruch ins Ungewisse, Bd. 1: Österreichische Filmschaffende in der Emigration vor 1945. Wien: Wespennest, 1993. 207 Jan-Christopher Horak: Fluchtpunkt Hollywood: Eine Dokumentation zur Filmemigration nach 1933. Münster: Maks, 1986, S. 38, Fußnote 2. 208 Erste Verordnung zum Reichsbürgergesetz vom 14. 11. 1935. 209 Gerd Albrecht: Nationalsozialistische Filmpolitik: Eine soziologische Untersuchung über die Spielfilme des Dritten Reichs. Stuttgart: Ferdinand Enke, 1969, S. 208. 210 Über deutsches Filmexil in Großbritannien: Günter Berghaus (Hg.): Theatre and Film in Exile: German Artists in Britain, 1933-1945. Oxford, New York, München: Berg, <?page no="226"?> Anmerkungen 227 1989; Kevin Gough-Yates: Somewhere in England: British Cinema and Exile. London: I. B. Tauris, 2001. 211 Jan-Christopher Horak: Fluchtpunkt Hollywood: Eine Dokumentation zur Filmemigration nach 1933. Münster: Maks, 1986, S. 2-37; John Russell Taylor: Strangers in Paradise: The Hollywood Emigres, 1933-1950. London: Faber and Faber, 1983. 212 Sammlung Paul Kohner, Keller an Ludwig Stössel, 4. August 1938. 213 Frederick Kohner: The Magician of Sunset Boulevard: The Improbable Life of Paul Kohner, Hollywood Agent. Palos Verdes, CA: Morgan Press, 1977, S. 109-112. 214 Lotte Palfi Andor: »Memoiren einer unbekannten Schauspielerin«, in: Erich Leyens, Lotte Palfi Andor: Die fremden Jahre: Erinnerungen an Deutschland. Frankfurt am Main: Fischer, 1994, S. 90. 215 Frederick Kohner: The Magician of Sunset Boulevard: The Improbable Life of Paul Kohner, Hollywood Agent. Palos Verdes, CA: Morgan Press, 1977, S. 118. 216 Wolfgang Zilzer: »Ich habe ja meistens die Opfer gespielt«, in: Stiftung Deutsche Kinemathek (Hg.): Wolfgang Zilzer (Paul Andor). Berlin: 33. Internationale Filmfestspiele Berlin, 1983, S. 17. 217 Sammlung Paul Kohner, Sidney Buchman (Columbia Pictures) an Ludwig Donath, 7. 5. 1946. 218 Frederick Kohner: The Magician of Sunset Boulevard: The Improbable Life of Paul Kohner, Hollywood Agent. Palos Verdes, CA: Morgan Press, 1977, S. 117. 219 Sammlung Paul Kohner, Carl Esmond an Kohner, 14. 7. 1941. 220 Sammlung Paul Kohner, Ludwig Donath an Kohner, 6. 8. 1943. 221 Frederick Kohner: The Magician of Sunset Boulevard: The Improbable Life of Paul Kohner, Hollywood Agent. Palos Verdes, CA: Morgan Press, S. 121. 222 Michael E. Birdwell: Celluloid Soldiers - Warner Bros.’s Campaign against Nazism. New York: New York University Press, 1999. 223 Markus Spieker: Hollywood unterm Hakenkreuz: Der amerikanische Spielfilm im Dritten Reich. Trier: WVT, 1999, S. 247-318. 224 Jan-Christopher Horak: Fluchtpunkt Hollywood: Eine Dokumentation zur Filmemigration nach 1933. Münster: Maks, 1986, S. 28. 225 Lotte Palfi Andor, in: Wolfgang Zilzer: »Ich habe ja meistens die Opfer gespielt«, in: Stiftung Deutsche Kinemathek (Hg.): Wolfgang Zilzer (Paul Andor). Berlin: 33. Internationale Filmfestspiele Berlin, 1983, S. 2; Lotte Palfi Andor: »Memoiren einer unbekannten Schauspielerin«, in: Erich Leyens, Lotte Palfi Andor: Die fremden Jahre: Erinnerungen an Deutschland. Frankfurt am Main: Fischer, 1994, S. 102-104. 226 Sammlung Paul Kohner, Reinhold Schünzel an Kohner, 30. 3. 1943. 227 Wolfgang Zilzer: »Ich habe ja meistens die Opfer gespielt«, in: Stiftung Deutsche Kinemathek (Hg.): Wolfgang Zilzer (Paul Andor). Berlin: 33. Internationale Filmfestspiele Berlin, 1983, S. 17. 228 Sammlung Paul Kohner, Carl Esmond an Kohner, 8. 6. 1939. 229 Kurt Mühsam, Egon Jacobson: Lexikon des Films. Berlin: Verlag der Lichtbildbühne, 1926 (eigene Berechnung). 230 Walther Freisburger: Theater im Film: Eine Untersuchung über die Grundzüge und Wandlungen in den Beziehungen zwischen Theater und Film. Emsdetten: Lechte, 1936, S. 69. 231 Carl Esmond: »Ich war nicht keen, nach Amerika zu gehen«, in: Christian Cargnelli, Michael Omasta (Hg.): Aufbruch ins Ungewisse, Bd. 1: Österreichische Filmschaffende in der Emigration vor 1945. Wien: Wespennest, 1993, S. 220. <?page no="227"?> Anhang 228 232 Wolfgang Zilzer: »Ich habe ja meistens die Opfer gespielt«, in: Stiftung Deutsche Kinemathek (Hg.): Wolfgang Zilzer (Paul Andor). Berlin: 33. Internationale Filmfestspiele Berlin, 1983, S. 18. 233 Ebd., S. 19. 234 Ebd., S. 17. 235 Carl Esmond: »Ich war nicht keen, nach Amerika zu gehen«, in: Christian Cargnelli, Michael Omasta (Hg.): Aufbruch ins Ungewisse, Bd. 1: Österreichische Filmschaffende in der Emigration vor 1945. Wien: Wespennest, 1993, S. 219. 236 Sammlung Paul Kohner, Kohner an Carl Esmond, 13. 6. 1941. 237 Sammlung Paul Kohner, Von Morhart an Kohner, 23. 5. 1946. 238 Dieses Kapitel basiert auf: Joseph Garncarz: »›Nicht zur Vorführung in Deutschland geeignet‹: Die deutsche C ASABLANCA -Fassung von 1952«, in: Johannes Roschlau (Hg.): Kunst und Kontrolle: Filmzensur in Europa. München: edition text + kritik, 2014, S. 122-135. 239 Joseph Garncarz: Filmfassungen: Eine Theorie signifikanter Filmvariation. Frankfurt am Main, Bern, New York, Paris: Peter Lang, 1992. Der Artikel von Gero Gandert (»C A- SABLANCA auf Deutsch«, in: Aljean Harmetz: Verhaften Sie die üblichen Verdächtigen: Wie Casablanca gemacht wurde. Berlin: Berlin Verlag, 2001, S. 407-413) basiert auf dem genannten Buch. 240 In der DDR lief der Film erstmals am 6. 9. 1983 im Fernsehen. 241 FSK-Akte 4385. 242 Das Video befindet sich im Besitz des Autors, die 35-mm-Kopie ist im Besitz der Stiftung Deutsche Kinemathek. 243 Z. B. bei Martin Loiperdinger: »Filmzensur und Selbstkontrolle: Politische Reifeprüfung«, in: Wolfgang Jacobsen u. a.: (Hg.): Geschichte des deutschen Films. Stuttgart, Weimar: J. B. Metzler, 1993, S. 479-498, hier: S. 496. 244 FSK-Akte 4385. 245 Illustrierter Film-Kurier, Nr. 425, April 1948. 246 Paimann’s Filmlisten, Nr. 1673, 33. Jg., 3. 5. 1948, S. 35. 247 Dr. Kurt Joachim Fischer: »Conrad Veit wurde herausgeschnitten«, in: Neue Zeitung, 24./ 25. 1. 1953. 248 Joseph Garncarz: Filmfassungen: Eine Theorie signifikanter Filmvariation. Frankfurt am Main, Bern, New York, Paris: Peter Lang, 1992, S. 94-133. 249 Fritz Podehl an Leo J. Horster, 28. 4. 1952 (FSK-Akte 4077 zu T HE A FRICAN Q UEEN ). 250 Dr. Kurt Joachim Fischer: »Conrad Veit wurde herausgeschnitten«, in: Neue Zeitung, 24./ 25. 1. 1953. 251 Protokoll der Sitzung des Arbeitsausschusses vom 7. 6. 1950 (FSK-Akte 1413). 252 Protokoll der Sitzung des Arbeitsausschusses vom 16. 10. 1951 (FSK-Akte 1413). 253 Dr. K. J. Fischer: »Pfiffe gegen T HE A FRICAN Q UEEN : Deutschfeindlicher Film englischer Produktion«, in: Frankfurter Nachtausgabe, 21. 7. 1952. 254 Piron: »Die ›bösen‹ Deutschen«, in: Die Zeit, Nr. 30, 24. 7. 1952. 255 K. J. F[ischer]: »Billige Effekte: Ein englischer Film in Locarno«, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 10. 7. 1952. 256 Piron: »Die ›bösen‹ Deutschen«, in: Die Zeit, Nr. 30, 24. 7. 1952. 257 Ebd. 258 »1100 Filme im FE-Querschnitt: Erfahrungsberichte für die Spielzeiten 1952/ 53 bis 1958/ 59«, in: Horst Axtmann, Georg Herzberg (Hg.): Film-Echo-Verleihkatalog 1960/ 61. Wiesbaden: Verlag Horst Axtmann, 1960, S. 1089-1092. <?page no="228"?> Anmerkungen 229 259 Joseph Garncarz: Hollywood in Deutschland: Zur Internationalisierung der Kinokultur: 1925- 1990. Frankfurt am Main, Basel: Stroemfeld, 2013, S. 145. 260 Spitzenorganisation der Filmwirtschaft (Hg.): Filmstatistisches Taschenbuch 1957. Wiesbaden-Biebrich: Selbstverl., S. 11. 261 Emnid-Informationen: Nr. 15/ 1952, Nr. 47/ 1952, Nr. 16/ 1953. 262 Christian Adam: Lesen unter Hitler: Autoren, Bestseller, Leser im Dritten Reich. Berlin: Galiani, 2010. 263 Henrik Eberle (Hg.): Briefe an Hitler: ein Volk schreibt seinem Führer. Bergisch Gladbach: Lübbe, 2009; Theresa Ebeling u. a.: »Geliebter Führer«: Briefe der Deutschen an Adolf Hitler. Berlin: Vergangenheitsverlag, 2011. 264 Richard von Weizsäcker: Zum 40. Jahrestag der Beendigung des Krieges in Europa und der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft. Ansprache am 8. 5. 1985 in der Gedenkstunde im Plenarsaal des Deutschen Bundestages. Hg. u. a. von der Bundeszentrale für politische Bildung. Bonn: Bonner Universitäts-Buchdruckerei, 1985. 265 Harald Welzer u. a.: »Opa war kein Nazi«: Nationalsozialismus und Holocaust im Familiengedächtnis. Frankfurt am Main: Fischer, 2012, S. 81-104. 266 Harald Welzer: Täter: Wie aus ganz normalen Menschen Massenmörder werden. Frankfurt am Main: Fischer, 2013, S. 24-31. 267 Joseph Garncarz: Filmfassungen: Eine Theorie signifikanter Filmvariation. Frankfurt am Main, Bern, New York, Paris: Peter Lang, 1992, S. 114-116. 268 Elisabeth Noelle-Neumann, Edgar Piel (Hg.): Allensbacher Jahrbuch der Demoskopie 1978-1983. Bd. VIII. München, New York, London, Paris: Verlag für Demoskopie, 1983, S. 191. 269 Ebd., S. 187. 270 Kurt Joachim Fischer: Organisierte Arbeit als Staatsdienst. Heidelberg: Schulze, 1936. 271 Kurt J. Fischer: Der Gefangene von Stalingrad: Bericht eines Heimgekehrten. Heilbronn: Hans A. Rümelin, 2. Aufl., o. J. [um 1947], S. 4. 272 Dr. Kurt J. Fischer: »Heinz Heydrich« [Leserbrief], in: Der Spiegel, Nr. 11, 16. 3. 1950. 273 Joachim Fischer: Die goldene Spange: Kampfberichte eines Sommers. Panzerfausthefte, Nr. 7. Hg. von der Panzer-Propaganda-Kompanie 697, 1943 (ohne Ortsangabe). 274 Ebd., S. 8. 275 Dr. Kurt J. Fischer: »Heinz Heydrich« [Leserbrief], in: Der Spiegel, Nr. 11, 16. 3. 1950. 276 Ebd. 277 Joseph Garncarz: Filmfassungen: Eine Theorie signifikanter Filmvariation. Frankfurt am Main, Bern, New York, Paris: Peter Lang, 1992, S. 132. 278 Film-Revue, Nr. 26, 1950 (Rang 4/ 1950); Nr. 26, 1951 (Rang 2/ 1951); Nr. 25, 1952 (Rang 1/ 1952); Nr. 1, 1954 (Rang 1/ 1953); Nr. 6, 1955 (Rang 2/ 1954); Nr. 7, 1956 (Rang 5/ 1955). 279 Dr. Kurt Joachim Fischer: »Conrad Veit wurde herausgeschnitten«, in: Neue Zeitung, 24./ 25. 1. 1953. 280 Thomas Guback: »Shaping the film business in postwar Germany: the role of the US film industry and the US state«, in: Paul Kerr (Hg.): The Hollywood Film Industry. London, New York: Routledge & Kegan Paul, 1986, S. 245-275; Stefano Cambi: »Hollywood e l’Informational Media Guaranty Program nel contesto della guerra fredda: promuovere per escludere? « In: Eunomia, Nr. 1, 2013, S. 123-162. 281 Auswertung aller im Deutschen Filminstitut, Frankfurt am Main, gesammelten Filmkritiken. <?page no="229"?> Anhang 230 282 »Neu in Deutschland: C ASABLANCA «, in: Der Spiegel, Nr. 39, 24. 9. 1952. 283 Neue Zeitung, 9. 9. 1952. 284 Hannoversche Presse, 29. 11. 1952. 285 Joseph Garncarz: Hollywood in Deutschland: Zur Internationalisierung der Kinokultur: 1925- 1990. Frankfurt am Main, Basel: Stroemfeld, 2013, S. 74, S. 188. 286 Filmblätter, Nr. 52/ 53, 25. 12. 1953. 287 »1100 Filme im FE-Querschnitt: Erfahrungsberichte für die Spielzeiten 1952/ 53 bis 1958/ 59«, in: Horst Axtmann, Georg Herzberg (Hg.): Film-Echo-Verleihkatalog 1960/ 61. Wiesbaden: Verlag Horst Axtmann, 1960, S. 1089-1092. 288 Spitzenorganisation der Filmwirtschaft (Hg.): Filmstatistisches Taschenbuch 1957. Wiesbaden-Biebrich: Selbstverl., S. 11. 289 Dieses Kapitel basiert auf: Joseph Garncarz: »Von der Bilderschau zur Nachrichtensendung: Der Wandel der Tagesschau in den fünfziger Jahren«, in: RuG 28 (2002), S. 109-115. 290 »Tagesschau zum 50.«, Spiegel-Online Kultur, 26. 12. 2002, www.spiegel.de/ kultur/ gesellschaft/ 0,1518,228478,00.html. 291 Die Entwicklung beschreibt Joachim Drengberg: »Die T AGESSCHAU der fünfziger Jahre: Auf dem Weg zu einer täglichen Nachrichtensendung«, in: Mitteilungen StRuG, Jg. 12, H. 2 (1986), S. 128-134. Literatur zur T AGESSCHAU findet sich bei Peter Ludes: »Vom neuen Stichwortgeber zum überforderten Welterklärer und Synchron-Regisseur: Nachrichtensendungen«, in: Peter Ludes u. a. (Hg.): Geschichte des Fernsehens in der Bundesrepublik Deutschland, Bd. 3: Informations- und Dokumentarsendungen, München: Wilhelm Fink, 1994, S. 17-90, siehe dort das Literaturverzeichnis: S. 80-90. 292 Ständige Programmkonferenz (13. 9. 1957); vgl. etwa auch: Ständige Programmkonferenz mit Fernseh-Beirat (10. 1. 1958), Deutsches Rundfunkarchiv Frankfurt am Main (DRA Ffm), ARD-Registratur (ARD-Reg.) 6-58. 293 Vgl. Walter Hagemann: Grundzüge der Publizistik. Münster: Regensberg, 1947. 294 Martin S. Svoboda: »Was kostet die T AGESSCHAU ab Januar 1953? « (16. 9. 1952), DRA Ffm ARD-Reg. 6-541. 295 Vgl. Martin S. Svoboda: »Aktiv-Posten in der Jahresbilanz der T AGESSCHAU «, in: Fernseh-Informationen, Jg. 11, H. 1 (1960), S. 3-4, hier S. 3. 296 Martin S. Svoboda an Intendant Werner Pleister (16. 1. 1953), S. 3. DRA Ffm ARD- Reg. 6-541. 297 Karlheinz Vater: »Der Aufbau der Wochenschau«, in: Walter Hagemann (Hg.): Filmstudien. Beiträge des Filmseminars im Institut für Publizistik an der Universität Münster, Emsdetten: Lechte, 1952, S. 61-68, hier S. 65. 298 Elvira Claßen, Annegret Leistner: »Probleme bei der Inhaltsanalyse von Fernsehnachrichtensendungen aus den 40er bis 60er Jahren: CBS E VENING N EWS und T AGES- SCHAU «, in: Georg Schütte (Hg.): Fernsehnachrichtensendungen der frühen Jahre: Archive, Materialien, Analysen, Probleme, Befunde. Siegen: DFG-Sonderforschungsbereich 240, 1996, S. 70-84, hier S. 82. 299 Da der 19. 10. 1953 ein Montag war und die letzte T AGESSCHAU am Freitag ausgestrahlt wurde, muss man auch die Zeitungen vom Wochenende auswerten. Als Stichproben habe ich den Kölner Stadt-Anzeiger und die Frankfurter Allgemeine gewählt. In den Ausgaben beider Zeitungen vom 19. 10. 1953 wird als einziges der genannten Themen <?page no="230"?> Anmerkungen 231 die Fechtmeisterschaft jeweils auf der Sportseite erwähnt (S. 5 bzw. S. 8). Die Samstagsausgaben (17. 10. 1953) enthalten keine der erwähnten Meldungen. Sonntags erschienen die Zeitungen nicht. 300 Karlheinz Vater: »Der Aufbau der Wochenschau«, in: Walter Hagemann (Hg.): Filmstudien. Beiträge des Filmseminars im Institut für Publizistik an der Universität Münster, Emsdetten: Lechte, 1952, S. 68. 301 »Joachim Drengberg im Gespräch mit Horst Jaedicke«, in: Mitteilungen StRuG, Jg. 12, H. 2 (1986), S. 136-139, hier S. 138. 302 Ständige Fernsehprogrammkonferenz (16. und 17. 2. 1956), DRA Ffm ARD-Reg. 6- 541. 303 Vgl. Walter Hagemann: Filmbesucher und Wochenschau. Emsdetten: Lechte, 1959. Hagemann geht daher davon aus, dass die »meisten Erkenntnisse, die eine solche Wochenschauuntersuchung vermitteln kann, [...] auch für die T AGESSCHAU des Fernsehens« (S. 2) gelten. 304 Vgl. ebd., S. 13. 305 »Drengberg im Gespräch mit Jaedicke«, in: Mitteilungen StRuG, Jg. 12, H. 2 (1986), S. 138. 306 Martin S. Svoboda: »Vom Standfoto zur T AGESSCHAU «, in: Fernseh-Informationen, Jg. 31, H. 3-5 (1980), S. 59-61, S. 86-88, S. 111-113; wiederabgedruckt in: Karl Friederich Reimers u. a. (Hg.): Von der Kino-Wochenschau zum aktuellen Fernsehen. München: Ölschläger,1983, S. 125-140. 307 Hilde Bold: »Daheim sehen ist bequemer: Welche Sendung gefällt dem Fernseher am besten? «, in: Kölner Stadt-Anzeiger (11. 9. 1956), S. 4; Elisabeth Noelle, Erich Peter Neumann (Hg.): Jahrbuch der öffentlichen Meinung 1958-1964. Allensbach/ Bonn: Verlag für Demoskopie, 1965, S. 118. 308 Clemens Münster an Hans-Joachim Lange (6. 2. 1956), DRA Ffm ARD-Reg. 6-541. 309 Ständige Fernsehprogrammkonferenz, 16. und 17. 2. 1956, ebd. 310 Ständige Fernsehprogrammkonferenz, 29. 11. bis 1. 12. 1956, ebd. 311 Protokollnotiz zu einem Gespräch zwischen den Intendanten Eberhard Beckmann, Fritz Eberhard und dem Programmdirektor Hanns Hartmann als Intendantenvertreter am 19. 12. 1957, DRA Ffm ARD-Sitzungsprotokolle. 312 Ständige Programmkonferenz mit Fernseh-Beirat (21. 5. 1958), DRA Ffm ARD-Reg. 6-541. 313 Elisabeth Noelle, Erich Peter Neumann (Hg.): Jahrbuch der öffentlichen Meinung 1957. Allensbach: Verlag für Demoskopie, 1957, S. 79. 314 Stichproben bei Hörfunknachrichten: Weltnachrichten des Hessischen Rundfunks (HR, 25. 7. 1954 um 19.40 Uhr; 7. 1. 1955 um 19.42 Uhr; 6. 1. 1956 um 19.42 Uhr; 10. 11. 1956 um 19.41 Uhr), Hessischer Rundfunk - Historisches Archiv, Film-Nr. 2601, 2610. 315 Vgl. »Der neue Nachrichtendienst des Deutschen Fernsehens«, in: Funk-Korrespondenz, Jg. 7, H. 10 (1959), S. 1-2. 316 Ständige Programmkonferenz mit Fernseh-Beirat (21. 5. 1958), DRA Ffm ARD-Reg. 6-541. 317 Franz Stadelmayer an die Intendanten der ARD, 3. 12. 1958, ebd. 318 Institut für Demoskopie Allensbach (Hg.): Der Süddeutsche Rundfunk und seine Hörer: Stichtagkontrollen und Trends 1968-1971 (unveröffentlicht), S. 61-69, hier: Schaubild 22, S. 62. <?page no="231"?> Anhang 232 319 Hansjörg Bessler, Bernward Frank: »Fernsehnachrichten im Spiegel der kontinuierlichen Zuschauerforschung«, in: Publizistik, Jg. 22, H. 4 (1977), S. 371-383, hier S. 371. 320 Institut für Demoskopie Allensbach (Hg.): Der Süddeutsche Rundfunk und seine Hörer: Stichtagkontrollen und Trends 1968-1971 (unveröffentlicht), S. 62. 321 Elisabeth Noelle, Erich Peter Neumann (Hg.) Jahrbuch der öffentlichen Meinung 1957. Allensbach: Verlag für Demoskopie, S. 50-51; Elisabeth Noelle, Erich Peter Neumann (Hg.): Jahrbuch der öffentlichen Meinung 1965-1967. Allensbach: Verlag für Demoskopie, 1967, S. 105. 322 Fernseh-Beirat, 11. und 12. 6. 1959, DRA Ffm ARD-Reg. 6-541. 323 Ständige Programmkonferenz, 22. bis 24. 4. 1960, ebd. 324 Vgl. »Man wird ihn vermissen: Köpcke und die T AGESSCHAU waren für viele eins«, in: Allensbacher Berichte, H. 22 (1987), S. 2. 325 Walter Hilpert an Friedrich Bischoff, 12. 2. 1960, DRA Ffm ARD-Reg. 6-541. 326 Vgl. Hanns Hartmann und Walter Hilpert an Eberhard Beckmann, 6. 10. 1960, ebd. 327 Fernseh-Beirat, 14. und 15. 10. 1960, ebd. 328 »Entwicklungskontexte bundesdeutscher Fernsehnachrichtensendungen: Ein Interview mit Hans-Joachim Reiche, ehemaliger Leiter der Redaktion T AGESSCHAU und des ZDF-Studios Bonn«, in: Peter Ludes (Hg.): Informationskontexte für Massenmedien: Theorien und Trends. Opladen: Westdeutscher Verlag, 1996, S. 96-105, hier S. 98. 329 Ebd., S. 100. 330 Elvira Claßen, Annegret Leistner: »Probleme bei der Inhaltsanalyse von Fernsehnachrichtensendungen aus den 40er bis 60er Jahren: CBS E VENING N EWS und T AGES- SCHAU «, in: Georg Schütte (Hg.): Fernsehnachrichtensendungen der frühen Jahre: Archive, Materialien, Analysen, Probleme, Befunde. Siegen 1996, S. 56. 331 Durchschnittswerte der T AGESSCHAU laut Infratest, Stichproben 7. 12. 1959 - 31. 1. 1959; 4. 12. 1960 - 7. 1. 1961. 332 Michael Abend: »Die T AGESSCHAU : Zielvorstellungen und Produktionsbedingungen«, in: Rundfunk und Fernsehen, Jg. 22, H. 2 (1974), S. 166-187; Michael Abend: »Ein kleiner Schritt auf einem langen Weg: Was sich ein T AGESSCHAU -Redakteur von der Forschung verspricht«, in: Publizistik, Jg. 22, H. 4 (1977), S. 419-436. 333 Dieses Kapitel beruht auf: Joseph Garncarz: »Drei Generationen: Wandlungen der Institution Kino in der Bundesrepublik Deutschland«, in: Elmar Buck (Hg.): Frauen & Männer: Für Renate Möhrmann. Köln: Theaterwissenschaftliche Sammlung, 1999, S. 138-153. 334 Anton Kaes: »Der Neue Deutsche Film«, in: Geoffrey Nowell-Smith (Hg.): Geschichte des internationalen Films. Stuttgart, Weimar: Metzler, 1998, S. 566-581. 335 Ulrich Herrmann: »Das Konzept der ›Generationen‹: Ein Forschungs- und Erklärungsansatz für die Erziehungs- und Bildungssoziologie und die Historische Sozialisationsforschung«, in: Neue Sammlung, 27. Jg. (1987), S. 364-377. 336 Elisabeth Noelle, Erich Peter Neumann (Hg.): Jahrbuch der öffentlichen Meinung 1957. Allensbach am Bodensee: Verlag für Demoskopie, S. 60. 337 Plakat »Mach dir ein paar schöne Stunden, geh’ ins Kino« (Bernd Reidert, ca. 1958). 338 Vgl. die repräsentativen Meinungsumfragen: Hermann Busch: Der Absatz in der Filmwirtschaft unter dem Einfluß des Fernsehens. Unveröffentl. Diss., Mannheim 1962, S. 32; Elisabeth Noelle-Neumann, Erich Peter Neumann (Hg.): Jahrbuch der öffentlichen Meinung 1958-1964, Allensbach, Bonn: Verlag für Demoskopie, S. 105. <?page no="232"?> Anmerkungen 233 339 Manfred Barthel: Als Opas Kino jung war: Der deutsche Nachkriegsfilm. Frankfurt am Main, Berlin: Ullstein, 1991. 340 Jürgen Berger: »Bürgen heißt zahlen - und manchmal auch zensieren: Die Filmbürgschaften des Bundes 1950-1955«, in: Zwischen Gestern und Morgen: Westdeutscher Nachkriegsfilm 1946-1962. Frankfurt am Main: Deutsches Filmmuseum, 1989, S. 80-109. 341 Manfred Barthel: Als Opas Kino jung war: Der deutsche Nachkriegsfilm. Frankfurt am Main, Berlin: Ullstein, 1991. 342 Persönliche Mitteilung von Margot Hielscher am 6. 9. 1998 in Frankfurt am Main. 343 »Das Film-Rennen«, in: Filmblätter, Nr. 1/ 1950 vom 6. 1. 1950. Die Erhebung bezieht sich auf 168 Kinos in West-Berlin in der Zeit vom 1. 1. 1949 bis zum 31. 10. 1949. 344 Elisabeth Noelle, Erich Peter Neumann (Hg.): Jahrbuch der öffentlichen Meinung 1957. Allensbach am Bodensee: Verlag für Demoskopie, S. 61. 345 Helmut Schelsky: Die skeptische Generation: Eine Soziologie der deutschen Jugend. Düsseldorf, Köln: Eugen Diederichs, 1957 (Neuausgabe 1975). 346 Walther Schmieding: Kunst oder Kasse: Der Ärger mit dem deutschen Film. Hamburg: Rütten & Loening, 1961. 347 Joe Hembus: Der deutsche Film kann gar nicht besser sein. Bremen: Carl Schünemann, 1961. 348 Ebd., S. 16. 349 Hans Helmut Prinzler, Eric Rentschler (Hg.): Augenzeugen: 100 Texte neuer deutscher Filmemacher. Frankfurt am Main: Verlag der Autoren, 1988, S. 29. 350 Edgar Reitz: »Das Kino der Autoren lebt« (1980), in: Edgar Reitz: Liebe zum Kino: Utopien und Gedanken zum Autorenfilm 1962-1983. Köln: KÖLN 78, o. J. [1985], S. 117- 124, hier: S. 117. 351 Edgar Reitz: »Vom Lichtspiel zum Kino« (1963), in: Edgar Reitz: Liebe zum Kino: Utopien und Gedanken zum Autorenfilm 1962-1983. Köln: KÖLN 78, o. J. 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Jg., April 1983, S. 40-41, hier: S. 40. 356 Alfred Andersch: »Räte, Kommissionen und ›Förderungs‹-Anstalten ersticken das Kino«, in: Konkret, August 1977, S. 36. 357 Peter Buchka: »›Wir leben in einem toten Land‹ Haben die deutschen Filmemacher nur noch die Wahl zwischen äußerer und innerer Emigration? «, in: Süddeutsche Zeitung, 31. 8. 1977. 358 Hans-Rolf Strobel, Heinrich Tichawsky: »Wir haben zu arbeiten« (1965), in: Hans Helmut Prinzler, Eric Rentschler (Hg.): Augenzeugen: 100 Texte neuer deutscher Filmemacher. Frankfurt am Main: Verlag der Autoren, 1988, S. 51. 359 Hans Günther Pflaum, Hans Helmut Prinzler: Film in der Bundesrepublik Deutschland: Der neue deutsche Film: Von den Anfängen bis zur Gegenwart. München, Wien 1992, S. 235 f. <?page no="233"?> Anhang 234 360 Siehe die bio- und filmografischen Artikel zu den genannten Regisseuren in Hans- Michael Bock (Hg.): CineGraph: Lexikon zum deutschsprachigen Film. München 1984 ff. [Loseblattsammlung]. 361 Hans-Joachim Neumann: Der deutsche Film heute: Die Macher, das Geld, die Erfolge, das Publikum. Frankfurt am Main, Berlin: Ullstein, 1986, S. 8. 362 Steve Seidman: Comedian Comedy: A Tradition in Hollywood Film. Ann Arbor: UMI Research Press, 1981. 363 Bio- und filmografische Artikel finden sich in: Egon Netenjakob: TV-Filmlexikon. Regisseure, Autoren, Dramaturgen 1952-1992. Frankfurt am Main: Fischer, 1994. 364 Dieses Kapitel beruht auf: Joseph Garncarz: Hollywood in Deutschland: Zur Internationalisierung der Kinokultur: 1925-1990. Frankfurt am Main, Basel: Stroemfeld, 2013, Kap. 4 und 5. 365 Filme aus Ländern, die hier nicht genannt werden, spielten im gesamten Untersuchungszeitraum an deutschen Kinokassen kommerziell keine Rolle. 366 Filmerfolgsranglisten für das Dritte Reich liegen bisher nicht vor. 367 Die Erfolgsranglisten für Frankreich finden sich in der Branchenzeitschrift Le Film Français, die für Italien im Fachblatt Giornale dello Spettacolo. 368 Andere Untersuchungen, die sich nicht nur auf Paris beziehen, kommen zu vergleichbaren Ergebnissen: Colin Crisp: The Classic French Cinema, 1930-1960. Bloomington, Ind.: Indiana University Press, 1993, S. 83. 369 Die Liste der Top-Ten-Filme für die USA findet sich in: Cobbett Steinberg (Hg.): Reel Facts. New York: Facts on File, 1980, S. 17-28; The Velvet Light Trap, Nr. 27, Spring 1991, S. 81-82. 370 Peter Krämer: »Hollywood and its Global Audiences: A Comparative Study of the Biggest Box Office Hits in the United States and Outside the United States Since the 1970s«, in: Richard Maltby, Daniel Biltereyst, Philippe Meers (Hg.): Explorations in New Cinema History: Approaches and Case Studies. Malden, MA: Wiley-Blackwell, 2011, S. 171- 184, hier: 173. Die Prozentwerte stammen aus: »Soaring Overseas Demand Creates Studio Upheaval«, in: Screen Finance, 17. 5. 1989, S. 10. 371 Ebd. 372 Stephanie Henseler: Soziologie des Kinopublikums. Frankfurt am Main, Bern, New York, Paris: Peter Lang, 1987, S. 33-38. 373 Helmut Klages: Wertorientierungen im Wandel: Rückblick, Gegenwartsanalyse, Prognosen. Frankfurt am Main, New York: Campus-Verlag, 1984, S. 17. 374 David Bordwell, Kristin Thompson: Film Art: An Introduction. New York u. a.: Mac- Grawhill, 1993, S. 82. 375 Richard Maltby: Hollywood Cinema: An Introduction. Oxford u. a.: Blackwell, 1996. 376 Vgl. Maria Ratschewa: »Der amerikanische Traum auf der Leinwand: Müde Helden werden wieder munter«, in: Deutsche Zeitung, 11. 11. 1977. 377 »Kritik am deutschen Film: Englische Zeitschrift stellt fatalistische Grundstimmung fest«, in: Der neue Film, Nr. 72, 10. 9. 1956; weitere Beispiele gibt: Walther Schmieding: Kunst und Kasse: Der Ärger mit dem deutschen Film. Hamburg: Rütten & Loening, 1961, S. 79 f. <?page no="234"?> 235 Literatur Im Folgenden wird nur die in diesem Buch angegebene Forschungsliteratur aufgeführt; zitierte Quellen werden ausschließlich in den Endnoten nachgewiesen. Abend, Michael: »Die T AGESSCHAU : Zielvorstellungen und Produktionsbedingungen«, in: Rundfunk und Fernsehen, Jg. 22, H. 2 (1974), S. 166-187. 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Fernsehen 17, 18, 56, 73, 139, 175, 181, 188, 198, 199, 201, 202, 207 Feste, Märkte und Messen 80 Film 17, 18, 66, 67, 68, 70 Filmerfolg 112 Filmerfolgsrangliste 48, 103, 112, 141 Filmkritiker 167, 172 Filmkunst 116, 119 Filmpräferenzen 93, 96, 101, 103, 109, 118, 120, 208 Filmproduktion 211, 213 Filmwirtschaft 54, 188, 190, 203 Frankreich 104, 123, 125, 127, 147, 151, 152, 207 Frauenrollen 157 Fremdsprache 154 Generation 195, 198, 199, 212 Generation, skeptische 191, 192, 193 Generationswandel 187 Genres 19 Geschichte 33, 34, 35, 43 Gesetze 71, 128, 140 Gewinne 82 Globalisierung 205 Großbritannien 106, 122, 123, 125, 126, 141, 151 Grundfunktionen 22, 28, 31 Happy End 212 Hollywood 73, 124, 150, 151, 155, 170, 172, 190, 205, 207 Holocaust 157, 161, 169 Hörfunknachrichten 177, 179, 181, 182, 183, 185 Illusion, magische 85 Information 17 Innovation 89 <?page no="243"?> Anhang 244 Interessengemeinschaft 191 Intermedialität 49 Intertextualität 49 Intramedialität 49 Italien 123, 125, 126, 207 Jahrmarktkino 77, 82, 86 Juden 151, 169, 170 Katholizismus 80, 86 Kino 20, 21, 89, 91, 187 Kino der Attraktionen 84 Kinodrama 89, 91, 93, 94 Kommunikation 22, 23, 24, 59 Kommunikationsmedien 29 Konkurrenz 71 Kontexte 49, 66 Kontrolle 25 Konvergenz 37 Konvergenzprozess 38, 205, 209 Konzepte 42 Kosten 73, 82, 125, 127 Krise 71 Kritische Theorie 42 Kulturtransfer 47 Kunst 28 Leitmedien 30 Lernprozess 123, 125, 127, 128 Machtbalance 36 Medien 13, 14, 15, 17, 18, 19, 22, 29 Medienangebot 55, 60 Mediendiskurse 33 Medienetablierung 68 Mediengeschichte 41, 43, 46, 47 Medienhistoriografie 33, 41, 42, 43, 46 Medieninstitutionen 20, 21, 70 Medienmacher 54 Mediennutzungsformen 19 Medienproduzenten 53, 68, 72 Medientechnologien 17, 18, 19, 23, 25, 70 Medienumbruch 50 Medienwandel 50, 51, 53, 65, 75, 187 Medienwissenschaft 16, 41 Medium 14, 15 Mehrwert 70 Meinungsbildung 25 Meinungsumfragen 188 Melodrama 97 Methodologie 41 Mittelschicht 58, 115, 118 Modell 65 Musik 165 Nachfrage 54 Nachfragedaten 103 Nachrichten 55, 58, 175, 176, 178, 180, 182, 183, 184, 185 Nationalisierung 101, 146 Nationalsozialismus 114, 139, 140, 141, 149, 151, 163, 164, 169, 192 Nazi-Rollen 158, 159, 160 Nazisymbole 169 Neuer deutscher Film 195, 197, 198 Niederlande 95, 98, 105, 151 Norwegen 106 Nutzer, privater 54, 56, 68, 72, 181, 182 Nutzer, professioneller 53 Öffentlichkeit 20 Oktoberfest 86 Olympische Spiele 139, 140, 141, 142, 143, 144, 145, 146, 147 Orientierung 22, 24, 59 Österreich 107, 151, 152 Phasen des Erfolgs, drei 205 Polen 105 Popularität 111, 117, 181, 191, 201, 202, 207, 208 Präferenzen 56, 211 Preis 55, 58, 59 Presse 127 Produktionskosten 103 Programmmedien 30 Propaganda 140, 147, 170 Propagandaschriften 169 Protestantismus 80, 86 Protestgeneration 193, 194, 196, 198, 199, 200, 201, 204 Prototyp 65, 67 <?page no="244"?> Index 245 Publicity 203 Publikum 20, 21, 30, 81, 82, 87, 93, 99, 102, 111, 112, 114, 116, 118, 119, 121, 122, 124, 127, 141, 146, 167, 168, 179, 182, 185, 187, 188, 190, 192, 198, 199, 201, 211, 212, 213 Quelle 43 Regisseur 196, 204 Rollen 159, 160 Rundfunk 17, 139 Schaugeschäfte 79 Schauspieler 124, 127, 149, 150, 151, 153, 156, 203, 204 Schausteller 78, 82 Schrift 19 Selbstbild, positives 169 Sittendrama 97, 99 Spanien 123, 125, 126, 140 Spielfilm 101, 102 Sprach- und Kulturgemeinschaften 102 Sprache 19 Sprachversion 122, 123, 124, 125, 127, 145, 146 Stars 112, 115, 117, 124, 145, 146, 171, 189, 201, 213 Strukturen 35 Synchronisation 122, 126, 127, 128, 164, 168 Systemtheorie 42 Tabubruch 93, 97 Theater 159 Tschechoslowakei 104 Übersetzung 121 Übersetzungsverfahren 121, 122 Unterhaltung 22, 26, 28, 59, 178 Unterhaltungskino 187, 193, 198, 199 Unterhaltungsmedien 30 Unterhaltungswert 47, 213 Untertitelung 121, 122, 127, 129 USA 114, 141, 149, 152, 209 Variation, signifikante 165, 166, 168 Varieté, mobiles 82, 83 Verbreitungs- und Differenzierungsphase 65, 72, 73, 74 Verfügbarkeit 59, 184 Verkaufsgeschäfte 79 Verstaatlichung 149 Wahrnehmung 49 Wandel 33 Wehrmacht 168, 170 Werbung 54 Wertewandel 23, 211 Wissen 16, 24, 25, 31, 42, 43, 124, 127 Wissensmedien 30 Wochenschau 142, 175, 177, 179 Zeitung 176, 182 Zensur 163