Sozialpolitik im internationalen Vergleich
0307
2016
978-3-8385-4564-6
978-3-8252-4564-1
UTB
Sozialstaaten kommen dem Sicherheitsbedarf der Bürger bei Krankheit, Alter, Arbeitslosigkeit entgegen und korrigieren eine an Märkten erzeugte ungleiche Ressourcenverteilung. Sie bremsen seit Jahren den Anstieg der Einkommensungleichheit, wenn auch nur partiell und für Kritiker unzureichend. Sie sind ein Produkt der Demokratie, ein Korrekturmechanismus der Marktergebnisse durch Bürger und Wähler -, allerdings mit Abstrichen, wie mit einem >>realistischen Blick<< festzustellen ist.
Sozialstaat und Ungleichheit im internationalen Vergleich - Studierende der Soziologie und der Politikwissenschaften erhalten mit diesem Buch einen kompakten Überblick über die Sozialpolitikanalyse. Prof. Dr. Ursula Dallinger zeigt institutionelle Variationen, die sich in modernen Industriegesellschaften für ähnliche Probleme entwickelten: Welche unterschiedlichen Modelle der Alterssicherung existieren etwa und wie kann man deren Vor- und Nachteile beurteilen? Der deutsche Sozialstaat steht dabei im Mittelpunkt und wird in den internationalen Kontext eingeordnet. Leserinnen und Leser erhalten Kenntnisse zu neueren Problemdiagnosen und Reformen der letzten Dekaden. Es werden hierfür sowohl Konzepte und Theorien als auch empirische Indikatoren und Ergebnisse dargelegt. Außerdem erklärt die Autorin detailliert die Funktionsweise der wichtigsten Politikfelder (Arbeitsmarktpolitik, Alterssicherung, Pflegepolitik, Familienpolitik, Armut sowie Einkommensungleichheit und Umverteilung).
<?page no="1"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Dallinger__Sozialpolitik____[Druck-PDF]/ 04.02.2016/ Seite 2 Dr. Ursula Dallinger ist Professorin für Soziologie und Sozialpolitik in der Abteilung Soziologie an der Universität Trier. Sie lehrt in den Bereichen komparative Wohlfahrtsstaatanalyse, Ungleichheit und soziale Strukturen im internationalen Vergleich. <?page no="2"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Dallinger__Sozialpolitik____[Druck-PDF]/ 04.02.2016/ Seite 2 www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Dallinger__Sozialpolitik____[Druck-PDF]/ 04.02.2016/ Seite 3 Ursula Dallinger Sozialpolitik im internationalen Vergleich UVK Verlagsgesellschaft mbH · Konstanz mit UVK/ Lucius · München <?page no="3"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Dallinger__Sozialpolitik____[Druck-PDF]/ 04.02.2016/ Seite 4 Online-Angebote oder elektronische Ausgaben sind erhältlich unter www.utb-shop.de. Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über <http: / / dnb. ddb.de> abrufbar. Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und- Verarbeitung in elektronischen Systemen. © UVK Verlagsgesellschaft mbH, Konstanz und München 2016 Einbandgestaltung: Atelier Reichert, Stuttgart Einbandmotiv: © Fotolia.com-- N.Delmas Satz: Claudia Wild, Konstanz Druck und Bindung: Pustet, Regensburg UVK Verlagsgesellschaft mbH Schützenstr. 24 · D-78462 Konstanz Tel.: 07531-9053-0 · Fax 07531-9053-98 www.uvk.de UTB-Band Nr. 4564 ISBN 978-3-8252-4564-1(Print) ISBN 978-3-8463-4564-1(EPUB) <?page no="4"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Dallinger__Sozialpolitik____[Druck-PDF]/ 04.02.2016/ Seite 4 www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Dallinger__Sozialpolitik____[Druck-PDF]/ 04.02.2016/ Seite 5 5 Inhaltsverzeichnis Einleitung 9 1. Was ist ein Wohlfahrtsstaat? 13 1.1 Historische Formen der Sozialstaatlichkeit 15 1.2 Sicherheit und Gleichheit 16 1.3 Indikatoren der Sozialstaatlichkeit 19 2. Theorien des Sozialstaats 25 2.1 Modernisierungstheorien 25 2.2 Der Machtressourcen-Ansatz: Macht der Arbeiter-- oder-von-wem sonst? 30 2.2.1 Exkurs: Soziale Bürgerrechte 36 2.3 Der Regime-Ansatz: De-Kommodifizierung und Stratifizierung 37 2.4 Sozialpolitik und Wirtschaft: Varieties of Capitalism 42 3. Einkommensverteilung, Armut und Sozialstaat 45 3.1 Einkommensverteilung und -umverteilung 46 3.1.1 Die funktionale Verteilung 47 3.1.2 Personelle Einkommensverteilung und der Einfluss des Sozialstaats 48 3.1.3 Der Sozialstaat-- ein moderner Robin Hood? 57 3.2 Armut und Armutsvermeidung 61 3.2.1 Kinderarmut und ihre Ursachen 64 3.2.2 Armutsreduktion durch den Sozialstaat 69 3.3 Fazit 70 4. Arbeitsmarktpolitik 71 4.1 Erwerbsbeteiligung und Arbeitslosigkeit 72 4.2 Arbeitsmarkt und Institutionen 79 4.2.1 Arbeitslosigkeit in der liberalen Theorie 79 4.2.2 Arbeitslosigkeit verursacht durch Institutionen des Arbeitsmarktes? 82 4.2.3 Eurosklerose und »Welfare without work« 84 4.3 Arbeitsmarktpolitik und ihre Neuausrichtung 87 4.3.1 Formen der Arbeitsmarktpolitik 87 4.3.2 Die neue Arbeitsmarktpolitik: Aktivieren, Fördern und Fordern 89 4.3.3 Folgen der Arbeitsmarkt-Reformen 91 4.4 Fazit 99 <?page no="5"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Dallinger__Sozialpolitik____[Druck-PDF]/ 04.02.2016/ Seite 6 www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Dallinger__Sozialpolitik____[Druck-PDF]/ 04.02.2016/ Seite 7 6 Inhaltsverzeichnis 5. Alterssicherung 101 5.1 Aufbau der Alterssicherung und Einkommenspakete 102 5.2 Die institutionelle Logik der gesetzlichen Rentenversicherung Deutschlands 105 5.3 Institutionen der Alterssicherung im internationalen Vergleich 108 5.3.1 Bismarck und Beveridge 108 5.3.2 Wie gut wird Altersarmut vermieden? 113 5.4 Demografischer Wandel und Rentenfinanzierung 115 5.5 Rentenreformen der letzten Dekade 118 5.5.1 Die Folgen von Finanzmarktkrisen für private Renten 122 5.5.2 Leistungen für Kindererziehung 123 5.5.3 Folgen der Reformen für künftige Rentner 124 5.6 Fazit 124 6. Pflegepolitik 127 6.1 Demografie und Versorgung 127 6.2 Care 132 6.3 Die Reform der Pflegepolitik 134 6.4 Effekte der neuen Pflegepolitik 138 6.4.1 Care goes public 138 6.4.2 Graue Pflegemärkte 140 6.4.3 Die Entwicklung der Altenpflege und des Pflegearbeitsmarktes 141 6.5 Fazit: Ein neuer Public-Privat-Mix? 144 7. Familienpolitik 147 7.1 Familienpolitik und Unterstützung der Familie 148 7.2 »Welten des Familialismus« 151 7.3 Staatliche Leistungen für Familien 154 7.4 Familienpolitik-- Achillesferse des Sozialstaats 159 7.5 Was steigert die Geburtenrate? 160 7.6 Zusammenfassung 162 8. Gesundheitspolitik 165 8.1 Die Entwicklung der Gesundheitskosten 166 8.2 Unterschiedliche Gesundheitssysteme 168 8.3 Zentrale Probleme der Gesundheitssysteme und-Reformfähigkeit 170 8.4 Reformen im deutschen Gesundheitswesen 171 <?page no="6"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Dallinger__Sozialpolitik____[Druck-PDF]/ 04.02.2016/ Seite 6 www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Dallinger__Sozialpolitik____[Druck-PDF]/ 04.02.2016/ Seite 7 Inhaltsverzeichnis 7 9. Der Wandel des Wohlfahrtsstaats: Kürzungspolitik, Globalisierung und Pfadabhängigkeit 175 9.1 Retrenchment 176 9.1.1 Grundlagen 176 9.1.2 Kritik: Politikfeldspezifische Kürzungspolitik statt Resilienz 178 9.2 Institutionentheorien und Wandel sozialstaatlicher Institutionen 182 9.2.1 Pfadabhängigkeit 183 9.3 Globalisierung 186 9.4 Interne Gründe: De-Industrialisierung und neue-soziale-Probleme 194 9.5 Fazit 195 Abbildungsverzeichnis 197 Tabellenverzeichnis 199 Literatur 201 Glossar 211 Register 215 <?page no="7"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Dallinger__Sozialpolitik____[Druck-PDF]/ 04.02.2016/ Seite 8 <?page no="8"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Dallinger__Sozialpolitik____[Druck-PDF]/ 04.02.2016/ Seite 8 www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Dallinger__Sozialpolitik____[Druck-PDF]/ 04.02.2016/ Seite 9 9 Einleitung Wohlfahrtsstaaten sind aus modernen Gesellschaften kaum mehr wegzudenken. Ja, diese werden als »Wohlfahrtskapitalismus« verstanden, da es zu den Merkmalen der modernen, demokratisch verfassten Gesellschaften gehört, dass soziale Risiken und Nachteile, die eine privatgewerblich verfasste Ökonomie für deren Bürger erzeugt, eingebettet werden durch diverse staatliche Sozialprogramme. Diese federn nicht nur die Risiken im Lebenslauf der Einzelnen und ihrer Familien ab. Auch gesellschaftlich erweist sich der Sozialstaat als ein Instrument, das die sozialen Folgen von ökonomischen oder politischen Krisen wie etwa der Wiedervereinigung Deutschlands oder der Finanzmarktkrise abfängt und so insgesamt verkraftbar macht. Die Folgen der Finanzmarktkrise für die Bürger wären ohne soziale Programme vom Kurzarbeitergeld, das Arbeitslosigkeit begrenzte, bis zu den Transferleistungen für Arbeitslose, die Armut verminderten, wesentlich gravierender ausgefallen. Sicher muss auch die Kehrseite erwähnt werden: Sozialleistungen werden im Zuge der Staatsschuldenkrise zurückgenommen, das soziale Netz wird ausgedünnt und breite Sozialleistungen gelten als einer der Verursacher der Staatsschuldenkrise. Dennoch: zahlreiche Facetten des Lebens der Einzelnen wie auch der Gesellschaft sind heute durch Sozialstaatlichkeit geprägt: Der Sozialstaat steckt Lebensphasen ab; das Gesundheitswesen ist ein großer Wirtschaftszweig, der zahlreiche Arbeitsplätze bietet; die soziale Lage Einzelner oder ganzer sozialer Gruppen ist geprägt durch die Leistungen, die der Sozial- und Steuerstaat eingeführt hat- - oder eben nicht. Die Strukturen der Ungleichheit sind in hohem Masse sozialstaatlich überformt. Daher thematisiert diese Einführung Ungleichheit als einen zentralen Aspekt, auf den sozialpolitisches Handeln zielt. Die jeweils in bestimmten Ländern und zeitlichen Phasen praktizierte Sozialpolitik reagiert auf die Ungleichheiten, die kapitalistische Märkte erzeugen, kann aber selbst wiederum neue Ungleichheiten erzeugen. Wohlfahrtsstaaten sind »Orte«, an denen die sozialen Belange von Bürgern durch kollektive Regelwerke reguliert werden. Die sozialstaatlichen Programme, aber ebenso Tarifverträge und Arbeitsrecht haben gleichermaßen den Zweck, die Märkte einzubetten, indem sie soziale Ansprüche und Bedürfnisse der Bürger gegenüber den privatwirtschaftlich organisierten Märkten zur Geltung bringen (Castel 2005; Beckert 2007). Bürger schaffen sich mit den sozialstaatlichen Institutionen ein Kollektivgut, poolen also Ressourcen in Form von Steuern oder Sozialversicherungen, die dann im Bedarfsfall wie Arbeitslosigkeit, Krankheit oder Alter einspringen und so die u. U. begrenzten Ressourcen der einzelnen Haushalte kompensieren (näher Kap. 1.2). Dies sagt nicht, dass diese sozialstaatlichen Institutionen bereits ausreichend oder gerecht wären oder dort, wo es am nötigsten wäre, entstehen. Die diversen sozialen Sicherungssysteme wie auch Pflege- oder Familienpolitik sind das Ergebnis politischer Auseinandersetzungen und des Ringens um Kompromisse zwischen (mehr oder weniger gut) organisierten <?page no="9"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Dallinger__Sozialpolitik____[Druck-PDF]/ 04.02.2016/ Seite 10 www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Dallinger__Sozialpolitik____[Druck-PDF]/ 04.02.2016/ Seite 11 10 Einleitung Interessengruppen und Ansprüchen, denen es gelingt, sich als berechtigt oder gerecht darzustellen. Sozialer Wandel tut ein Übriges und lässt staatliche Verantwortung als unabdingbar erscheinen, wo demografischer Wandel unabweisbare Probleme erzeugt (Pflege) oder durch veränderte Geschlechterrollen die informelle Sorgearbeit der Frau in der Familie abnimmt. Das vorliegende Lehrbuch führt in die wichtigen Grundbegriffe und theoretischen Ansätze zu Wesen und Dynamik des Wohlfahrtsstaats ein und bietet einen Überblick zu einzelnen Politikfeldern wie der Arbeitsmarktpolitik, der Alterssicherungs- oder Pflegepolitik. Die Darstellungen der Politikfelder liefern zum Verständnis wichtige Basisinformationen und stellen darüber hinaus aktuelle Fachdebatten aus der Sozialpolitikforschung wie auch der Politik um Probleme der Finanzierbarkeit, Zielerreichung oder Akzeptanz in der Bevölkerung dar. Das Buch verbindet somit Grundlagen dazu, was Wohlfahrtsstaaten heute bedeuten, mit weiterführenden Konzepten und mit den aktuellen Diskursen um Reformen in diversen sozialpolitischen Feldern. Dadurch können sowohl Studierende auf Bachelorals auch Master-Niveau von dem Buch profitieren. Es ist international vergleichend angelegt, da die in Deutschland etablierten Sicherungssysteme vor dem Hintergrund von alternativen Formen der Organisation von Sozialstaatlichkeit besser verständlich werden. Durch die vergleichende Perspektive wird das deutsche Wohlfahrtsstaatsmodell mitsamt seinen Folgeprobleme wie auch positiven Leistungen vor dem Hintergrund anderer Typen des Sozialstaats vergleichbar. Das erlaubt zu sehen, welchen spezifischen Ordnungsvorstellungen in Bezug auf Finanzierungsverantwortung, Gerechtigkeit oder die Frauenrolle das deutsche Modell folgt. Es wird erkennbar, welche institutionellen Alternativen es etwa für Arbeitsmarktpolitik oder Alterssicherung in anderen Ländern gibt. Der Leser bzw. die Leserin erhält somit Einblick in die in der ländervergleichenden Sozialpolitikforschung verwendeten Konzepte wie auch in hier gängige Indikatoren des Vergleichs je länderspezifischer Organisationsformen des Sozialstaats und dessen Ergebnisse. Diese Indikatoren sollen das empirisch aufschlüsseln, was in der »sozialen Realität« vor sich geht; sie weisen darauf hin, wie man das in den Konzepten Gesagte empirisch erschließen kann. Dieses Buch führt also in eine indikatorengestützte Sozialpolitikforschung ein. Betont sei vorab, dass Daten kein Selbstzweck sind, sondern stets zusammen mit theoretischen Konzepte oder Aussagen zu den »großen Trends« zu interpretieren sind. Denn nur wenn man beides-- also theoretische Konzepte und empirische Daten-- verbindet, werden einerseits »große« Theorien prüfbar und bleiben andererseits Daten kein Wust an unverbundenen Fakten. Zudem soll die breite Verwendung von Daten zu eigenen Analysen anregen. Da die meisten verwendeten Daten öffentlich zugänglich sind, können sie für eigene Sekundäranalysen verwendet werden. Das Buch ist wie folgt aufgebaut: Kapitel 1 nähert sich zunächst dem Phänomen »Sozialstaat« allgemein und skizziert ein Konzept, das ihn als eine marktkorrigierende Institution versteht, die sich Gruppen als ein Kollektivgut durch rationale Kooperawww.claudia-wild.de: <?page no="10"?> [UTB-M]__Dallinger__Sozialpolitik____[Druck-PDF]/ 04.02.2016/ Seite 10 www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Dallinger__Sozialpolitik____[Druck-PDF]/ 04.02.2016/ Seite 11 Einleitung 11 tion schaffen. Kapitel 2 führt in die zentralen Erklärungsansätze ein, angefangen bei der Modernisierungstheorie, über den Machtressourcenansatz und die verwandte Regimetheorie bis hin zu institutionentheoretischen Ansätzen (einschließlich Varieties of Capitalism). Das dritte Kapitel thematisiert ein weiteres Politikfelder übergreifendes Thema: Wie wirkt sich der Sozialstaat insgesamt auf die Verteilung der Einkommen und die Verbreitung von Armut in einer Gesellschaft aus? Dann folgen Einführungen in die verschiedenen Politikfelder und die kritische Darstellung der in den vergangenen Jahren etablierten Reformen, meist mit einer Einschätzung zu deren Folgen für Ungleichheit. Kapitel 4 diskutiert die Arbeitsmarktpolitik und deren Neuausrichtung auf eine Aktivierungsstrategie. Es leuchtet zudem die neuen Formen der Arbeit aus und untersucht die neuen Risiken der flexibilisierten Arbeitsmarktpolitik. Kapitel 5 stellt die Alterssicherungspolitik dar, geht dabei auf verschiedene Modelle in Europa ein und welche Reformen wegen des demografischen Wandels eingeleitet wurden; besonderes Augenmerk liegt dabei auf Fragen der gesteigerten Abhängigkeit von Finanzmarktentwicklungen und künftiger Ungleichheit im Alter. Kapitel 6 greift das feministische Konzept der diversen Care-Regime auf wie auch die Reformen der Altenpflegepolitik. Dabei wird betrachtet, inwiefern man von Care goes Public und von einer Vermarktlichung der Pflege sprechen kann. Kapitel 7 widmet sich der Familienpolitik und ihrem Umbau zu einer modernen Vereinbarkeitspolitik, seit dieses Politikfeld als »Achillesferse des Sozialstaats« erkannt wurde. In Kapitel 8 wird die Gesundheitspolitik mitsamt den in den vergangenen Jahren erfolgten Struktur-Reformen besprochen. Das neunte Kapitel widmet sich Konzepten zum Wandel des Sozialstaats im Rahmen von Globalisierung, Umbau zur Dienstleistungsgesellschaft und der Kürzungspolitik (Retrenchment). <?page no="11"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Dallinger__Sozialpolitik____[Druck-PDF]/ 04.02.2016/ Seite 12 <?page no="12"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Dallinger__Sozialpolitik____[Druck-PDF]/ 04.02.2016/ Seite 12 www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Dallinger__Sozialpolitik____[Druck-PDF]/ 04.02.2016/ Seite 13 13 1. Was ist ein Wohlfahrtsstaat? Zu Beginn soll eine grobe Vorstellung von Entwicklung und Begriff des Sozialstaats gegeben werden. Man kann allgemein Sozialpolitik als das Eingreifen des Staates in die sozialen Verhältnisse, in die Bedingungen, unter denen Menschen leben, beschreiben (Kaufmann 1982). Diese Definition ist aber sehr unpräzise, lässt viele Lücken und wirkt beliebig. Daher schlage ich vor, am Spannungsverhältnis von Markt und Sozialstaat anzusetzen. Der heute in der Literatur gängige Begriff des Wohlfahrtskapitalismus nimmt diese Verbindung einer kapitalistischen Wirtschaft mit sozialen Aspekten bereits auf. »Sozialpolitik lässt sich bestimmen als die Gesamtheit politischer Programme und Regelungen, die durch Marktprozesse ausgelöste soziale Risiken durch staatliche Politik ausgleicht« (Nullmeier 2001). Sozialpolitik »bearbeitet Folgeprobleme der Ausdifferenzierung der kapitalistischen Wirtschaft, primär die Probleme der Sicherung abhängig Beschäftigter gegen Standardrisiken der Erwerbstätigkeit.« (Ganßmann 2010: 16) Zudem ist Sozialpolitik aus soziologischer Sicht das Ergebnis der Ausdifferenzierung von Funktionssystemen, in deren Verlauf der Markt sich stärker um seine eigenen Belange kümmern kann, während der Sozialstaat Belange der gesellschaftlichen Gemeinschaft aufnimmt. Diese »gesellschaftliche Gemeinschaft« (Parsons) ist die spezifische Sphäre, in der Staatsbürgerrechte definiert werden. Somit ist der Sozialstaat einmal das Produkt der modernen Wirtschaft, aber zugleich ihr Korrektiv. Eine eher politikwissenschaftliche Perspektive steuert bei, dass die Durchsetzung allgemeiner politischer Partizipation und Demokratie (Ende 19. bis Mitte des 20.-Jahrhundert) eine weitere Voraussetzung für die Sozialstaatsgenese war. Nun kann sich die Mehrheit der Nicht-Privilegierten aufgrund der nun möglichen demokratische Partizipation eine Einbettung der negativen Folgen einer dynamischen Marktwirtschaft durch soziale Sicherung und Regulierung der Arbeit erwählen (Ganßmann 2010: 12 f.; Briggs 1961: 228). Auch die Unternehmen waren an der Expansion der Sozialstaatlichkeit beteiligt. Sie gelten aber weniger als die Protagonisten der Entwicklung, sondern als Akteure, die versuchten die sozialen Programme so zu gestalten, dass die Ökonomie »damit leben kann«. (Zur Debatte um die Interessen von Firmen an sozialer Sicherung siehe Kap. 2.3 zum »Varieties of Capitalism«-Ansatz.) Mit einiger Berechtigung kann man davon ausgehen, dass Gesellschaften über ein gewisses Interesse daran verfügen, dass nicht alle Sektoren nach Marktprinzipien gestaltet sind, etwa der Zugang zu Schulbildung oder medizinischer Behandlung. Demnach lässt sich Sozialpolitik als jene Eingriffe in die Marktprozesse bezeichnen, mit denen gewollt eine andere Verteilung als die vom Markt produzierte geschaffen wird (Goodin 1988). Dieser Wille ergibt sich aus den sozialpolitischen Präferenzen der Bürger, die uneinheitlich sind und erst gefiltert durch demokratische Konflikte und Prozesse in einen Sozialstaat münden. <?page no="13"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Dallinger__Sozialpolitik____[Druck-PDF]/ 04.02.2016/ Seite 14 14 1. Was ist ein Wohlfahrtsstaat? Definitionen des Sozialstaats-- Klassikerzitate Eine Marktwirtschaft geht notwendig einher mit einem Sozialstaat, um »jene Risiken aushaltbar zu machen, die aus der technischen und ökonomischen Umwälzung der Lebensverhältnisse resultieren. Das geht nicht ohne staatlich garantierten Schutz im weitesten Sinne: Arbeitsschutz, betriebliche Mitbestimmung, gewerkschaftliche Interessenvertretung mit Tarifautonomie, Sicherung eines hohen Beschäftigungsstandes durch Wirtschafts- und Beschäftigungspolitik, Schutz gegen die typischen Arbeitnehmerrisiken wie Arbeitslosigkeit, Krankheit, Alter durch Sozialversicherungssysteme« (Offe 2002, 42). Die Ausbreitung des Sozialstaats stützt sich auf »political power to supersede, supplement or modify operations of the economic system in order to achieve results which the economy system would not achieve on its own.« (Marshall 1975: 15). Die letzte Definition verweist auf ein beträchtliches Spannungsverhältnis zwischen Sozialstaat und Ökonomie. Dieses Spannungsverhältnis besteht erstens darin, dass der Staat eine dynamische Wirtschaft braucht, die Arbeitsplätze bereithält, auf denen Menschen Arbeitseinkommen erzielen können. Die Besteuerung von Unternehmen, von Arbeitseinkommen und die Abgaben aus sozialversicherungspflichtiger Beschäftigung sind die Basis, um via Steuern und Sozialabgaben Sozialpolitik insgesamt finanzieren zu können. Zweitens sind die Prinzipien, nach denen in den Bereichen Markt und Sozialstaat Einkommen erzielt werden, spannungsreich: Während für die Entlohnung die individuelle Leistung oder der Beitrag zur Produktivität der Firma ausschlaggebend sind, gelten für Sozialeinkommen der Staatsbürgerstatus und die durch sie definierten sozialen Anrechte (siehe Kap. 2.2) oder der Bedarf (Lenhardt/ Offe 1977). Das ökonomische System wird weniger »modifiziert«, wie das letzte Zitat oben sagt, sondern es entsteht an seiner Seite ein nach eigenen, anderen Kriterien operierendes. Wie »teuer« Arbeit sein darf und wie sehr dies ökonomisch nachteilig ist, ist hoch umstritten. Viele Beobachter führten das anhaltende Steigen der Arbeitslosigkeit in den 1990er-Jahren auf die in Deutschland im internationalen Vergleich besonders hohe Belastung der Betriebe mit Sozialabgaben zurück. 1 Besonders gering qualifizierte und wenig produktive Arbeit werde dadurch zu teuer und folglich solche Arbeitsplätze gar nicht geschaffen. Deutschlands Arbeitsmarkt kranke an der durch hohe Regulierung zu geringen Nachfrage nach Dienstleistungen (Heinze 2007). Dagegen wird eingewandt, dass gerade wegen »teurer« Arbeit sich Betriebe um deren möglichst nutzbringenden Einsatz bemühen und Produktionsformen entwickeln, die aufgrund von 1 Dass Sozialversicherungsbeiträge die Beschäftigungsdynamik hemmen, wird mit deren Anstieg und Höhe im internationalen Vergleich belegt: noch in den 1950er- und 1960er- Jahren lagen die Lohnnebenkosten bei 20-25 %, wuchsen Mitte der 1970er-Jahre auf 30 %, und stiegen ab Mitte der 1990er-Jahre auf über 40 % (Streeck/ Trampusch 2005). <?page no="14"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Dallinger__Sozialpolitik____[Druck-PDF]/ 04.02.2016/ Seite 14 www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Dallinger__Sozialpolitik____[Druck-PDF]/ 04.02.2016/ Seite 15 1.1 Historische Formen der Sozialstaatlichkeit 15 Rationalisierungsvorsprüngen, hochqualifizierten Arbeitskräften und technisch fortgeschrittenen Produkten konkurrenzfähig sind. 1.1 Historische Formen der Sozialstaatlichkeit Auch ein Blick in die Geschichte bietet eine Annäherung: Bereits früh existierten Formen der sozialen Unterstützung im »Ganzen Haus«, durch Gilden oder Zünfte, durch Verpflichtungen der Feudalherren oder durch Kirchengemeinden. Diese Hilfen waren rudimentär und sind sicher nicht mit heutigen verrechtlichten sozialen Unterstützungssystemen zu vergleichen. Ein bürokratischer moderner Staat existierte noch nicht. Der eigentliche Ursprung des Sozialstaats geht mit der Entstehung der Industriegesellschaft einher. Lohnarbeit verbreitete sich und alternative Quellen der Existenzsicherung wurden allmählich verdrängt. Wenn abhängige Beschäftigung der Standard wird, bedeutet das aber automatisch, dass Einkommen immer dann fehlt, wenn die eigene Arbeitskraft wegen Alter oder fehlendem Arbeitsplatz, Krankheit oder Unfall gar nicht eingesetzt werden kann. In der Frühphase des Kapitalismus im 19.-Jahrhundert führte dies noch zu weit verbreiteter Armut (Pauperismus) unter den Arbeitern. Als erste Versuche, die materiellen Risiken von Krankheit, Alter und Arbeitslosigkeit zu bewältigen, werden die »friendly societies« verstanden. Es handelte sich um zunächst in Großbritannien entstehende Selbsthilfe-Vereine, in die eingezahlt wurde, und die bei Bedarf Leistungen auszahlten, allerdings in bescheidenem Umfang. Diese Vereine waren wegen ihres nur kleinen Risikopools (also der vergleichsweise kleinen Mitgliederzahl) rasch mit den Zahlungen an Kranke oder Arbeitslose überfordert, wenn etwa eine ganze Region oder ein ganzer Industriezweig in eine wirtschaftliche Krise geriet und so viele Arbeiter auf einmal ihre Ansprüche einlösen mussten. Die Bismarcksche Sozialgesetzgebung Ende des 19.-Jahrhunderts gilt als die Geburtsstunde der staatlichen sozialen Sicherung (siehe Tab. 1.1). Dabei stehen weniger Person und Name im Vordergrund, sondern vielmehr die Tatsache, dass eine Verantwortung des Staates für die Einkommensrisiken der Beschäftigten gesetzlich verankert wurde, wenn auch zunächst nur für Lohnarbeiter. Bismarck wollte mit diesem Schritt Forderungen der erstarkenden sozialistischen Arbeiterbewegung nach Sozialschutz entgegentreten und die Gefahren einer anderen Regierungsform- - konkret war das die Ablösung des Kaiserreiches-- abwehren. Wesentlich ist an seinem Schritt, dass im Kern eine lohnarbeitsbezogene soziale Sicherungspolitik, die Standardrisiken im Lebenslauf von abhängig Beschäftigten abzufedern versucht, geschaffen war. Der andere Prototyp der Sozialstaatlichkeit, das Beveridgesystem mit auf Armutsvermeidung zielenden sozialen Programmen, entwickelt sich etwas später in Großbritannien ab den 1940er- Jahren. Der Namensgeber ist Lord Beveridge, Wirtschaftswissenschaftler und Politiker, dessen Beveridgereport zu »Social Insurance and Allied Services« den Kern eines Sozialstaatsmodells legte, das steuerfinanzierte, einheitliche Basisleistungen vorsieht. <?page no="15"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Dallinger__Sozialpolitik____[Druck-PDF]/ 04.02.2016/ Seite 16 16 1. Was ist ein Wohlfahrtsstaat? Die Sozialgesetzgebung Bismarcks Jahr Gesetz 1883 Gesetz betreffend die Krankenversicherung der Arbeiter 1884 Unfallversicherungsgesetz 1889 Gesetz betreffend die Invaliditäts- und Altersversicherung 1.2 Sicherheit und Gleichheit Die Literatur unterscheidet Sicherheit und Gleichheit als die beiden allgemeinen Ziele des Wohlfahrtsstaats (Flora et.al. 1981). Sie sollen zum einen Sicherheit gegen die Standardrisiken des individuellen Lebensverlaufs (Verlust oder Einschränkung des Einkommens bei Alter, Krankheit, Arbeitslosigkeit) bieten, zum anderen sollen sie die Lebensverhältnisse der Bürger angleichen und Armut vermeiden (Kenworthy 2010). Reale soziale Programme kombinieren in der Regel beide Zielsetzungen. Dennoch ist die Unterscheidung zwischen Sicherheit und Gleichheit sinnvoll. Denn sie ebnet das Verständnis nicht nur für verschiedene sozialstaatliche Funktionen, sondern zudem für spezifische Akzeptanzprobleme. Sofern es um die individuelle Sicherheit durch schwer kalkulierbare und u. U. hohe finanzielle Belastungen durch Krankheitskosten oder Arbeitslosigkeit, hohes Alter und Pflege geht, funktioniert der Sozialstaat eher als »Sparschwein« (Barr 2001). Da individuelle Risiken im Lebenslauf abgefedert werden, sind Akzeptanzprobleme eher gering, es sei denn, das Sicherheitsversprechen steht in Frage (wie bei der Alterssicherung; siehe Kap. 5). Geht es aber um die Aspekte sozialpolitischer Programme, die egalisieren und umverteilend wirken sollen, ist die politische Durchsetzbarkeit voraussetzungsvoller. Denn dann existieren zum einen Finanzierer, die über die eigenen Risiken hinausgehende Belastungen durch Einzahlungen in Risikopools akzeptieren müssen, und zum anderen Benefiziare bzw. Gruppen, die durch umverteilende Leistungen besser gestellt werden. Das Interesse an Sicherheit ist leicht nachvollziehbar: Es basiert auf der Risikoaversion der Menschen. Indem Gruppen einen Teil individueller Ressourcen zusammenlegen, steht ein Pool zur Verfügung, aus dem bei Eintritt des Risikos Leistungen gewährt werden. Die individuelle finanzielle Belastung durch Krankheitskosten, Alter oder Pflege ist entschärft. Sozialversicherungen verteilen individuelle Einkommen gleichmäßiger über den Lebenslauf. In Zeiten mit Einkommen wird »angespart« und Anrechte auf spätere Leistungen im Risikobzw. Bedarfsfall ohne Einkommen oder mit hohen Kosten (etwa bei Krankheit) erworben. Die nach diesem Prinzip funktionierenden Sozialversicherungen sind somit zunächst nicht auf Egalität gerichtet. Es besteht ein individuelles Interesse, das zu <?page no="16"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Dallinger__Sozialpolitik____[Druck-PDF]/ 04.02.2016/ Seite 16 www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Dallinger__Sozialpolitik____[Druck-PDF]/ 04.02.2016/ Seite 17 1.2 Sicherheit und Gleichheit 17 kollektivem Handeln führt, eben der Organisation einer Versicherung. Eine soziale Gruppe-- in Gegenwartsgesellschaften sind es die versicherungspflichtig Beschäftigten oder die Steuerzahler eines Landes-- organisiert sich so, dass das Kollektivgut »Versicherung« zustande kommen kann. Dazu gehört, dass die Gruppe Regeln etabliert und durchsetzt, die verhindern, dass das Kollektivgut durch free riding (Nutzung des Finanzpools ohne Vorleistung) erodiert. Ein Versicherungs- und Beitragszwang, dessen Einhaltung der Staat überwacht, ist eine Voraussetzung dafür, dass die Erzeugung von Kollektivgütern gelingt. Ohne die Gewissheit, dass alle Leistungsempfänger einen Beitrag geleistet haben, wäre dieses Zusammenlegen der individuellen Mittel in einen Finanzpool nicht möglich. Kollektivgüter zu erzeugen, haben Menschen im Laufe der gesellschaftlichen Entwicklung gelernt. Der niederländische Soziologe DeSwaan spricht in seinem Klassiker »In Care of the State« (1988) von einer »Erfindung« des kollektiven Handelns, durch das sich Menschen mit diversen Kollektivgütern versorgen wie Abwassersysteme, Bildungswesen oder eben soziale Sicherung gegen immer weitere soziale Risiken. »Risikopools« durch Sozialversicherungen bauen aber egalisierende Elemente ein. Das folgende Zitat verdeutlicht dies. »Applying the instruments of social insurance on behalf of increasing numbers of citizens to ever greater varieties of risk and ill fortune, the modern welfare state decisively advanced society’s ability to treat its members equally. It did so, however, less by redistributing wealth than by reapportioning the costs of risks and mischance.«(Baldwin 1990: 1). Die Gleichheit der Sozialversicherung erstreckt sich zum einen aber nur auf die »zahlenden Mitglieder« des Risikopools. Zum anderen handelt es sich eher um eine schwache Norm der Gleichbehandlung derer, die gleich viel einzahlen. Das Prinzip, dass die Einzahlung die Auszahlung bestimmt, ist fest verankert in den Sozialversicherungen. So richtet sich etwa die Höhe des Arbeitslosengeldes nach den zuvor vom Erwerbseinkommen eingezogenen Sozialbeiträgen. Gleichwohl ist das Verhältnis zwischen Ein- und Auszahlungen nicht rechnerisch bzw. versicherungsstatistisch bestimmt, wie es privatgewerbliche Versicherungen praktizieren. Vielmehr existieren bei sozialen Sicherungssystemen Spielräume, in die mehr oder weniger umfassend soziale Kriterien einfließen können. Wieviel Spielraum die »Mitglieder« zulassen, wie sehr sie von individuellen finanziellen Vorleistungen absehen, variiert. So gilt in der Krankenversicherung umfassender als in jedem anderen Sozialprogramm das Bedarfsprinzip, wonach sich die medizinische Behandlung an der Schwere der Krankheit orientieren muss-- der Risikopool trägt dann solidarisch die teils erhebliche Kosten. In anderen Feldern wie der Alterssicherung gilt hingegen ein enger abgestecktes Äquivalenz-Verhältnis zwischen individueller Vorleistung und Auszahlung. <?page no="17"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Dallinger__Sozialpolitik____[Druck-PDF]/ 04.02.2016/ Seite 18 18 1. Was ist ein Wohlfahrtsstaat? Sozialversicherungen basieren also zunächst auf Eigennutzenüberlegungen, und stützen sich auf die Unsicherheit der Einzelnen, den eigenen finanziellen Bedarf bei künftigen Notlagen durch Krankheit, Arbeitslosigkeit oder im Alter sicher abschätzen zu können. Schwer kalkulierbare eigene Risiken erzeugen eine gewisse »Großzügigkeit« der Einzelnen und ein Interesse an Kollektivgütern wie sie die sozialpolitischen Programme insgesamt darstellen (Rawls 1975). Diese Risiken zwingen kollektiv zu handeln, was wiederum nur mit für »alle« zustimmungsfähigen Regeln für die Beiträge und für die Auszahlungen möglich ist. Soziale Gruppen bzw. Bürger eines Landes, die zugunsten von Kollektivgütern rational kooperieren (Beiträge in einen Finanzpool zusammenlegen) können sich aber darüber einigen, andere Zugangswege als die Einzahlung an im Kern rationale Kooperation anzulagern (so gilt Kinder-Haben als Vorleistung in der Rentenversicherung). Der Sozialstaat lässt sich als eine kooperative soziale Institution verstehen, in deren Rahmen auch Solidarität Eingang finden kann (Hechter 1990). Umverteilende, auf Egalität gerichtete Politik muss auf den handfesten Rückhalt des Eigeninteresses und der Vorleistungen verzichten. Ein Mehr an Gleichheit anzustreben, bedeutet eine interpersonell umverteilende Politik, nicht nur eine Einkommensglättung über den Lebenslauf Einzelner. Redistribution wird praktiziert durch progressive Besteuerung ebenso wie durch die Anerkennung beitragsloser Zeiten in der Rentenversicherung (bei Kindererziehung oder Arbeitslosigkeit oder eine steuerfinanzierte Grundsicherung. Die Unterscheidung zwischen Versicherung und Umverteilung ist idealtypisch. Sozialstaatliche Organe praktizieren in der Regel beide Ziele gleichzeitig. Sicherheitsmotive und Umverteilung sind zwei Seiten einer Medaille (Iversen 2005). »From an allocative point of view, the main advantage of the welfare state is the insurance or risk reducing function of redistributive taxation.- … Governments take more taxes from the rich than from the poor, thus reducing the variance in real lifetime incomes. Redistributive taxation and insurance are two sides of the same coin.« (Sinn 1995: 495 f.) In den letzten Jahren wird eine Rückverlagerung von Risiken, die einst durch kollektive Institutionen entschärft waren, beobachtet. Die Unternehmen verlagern ihre Risiken auf Märkten hinsichtlich des Absatzes oder erzielbarer Preise zurück an die Beschäftigten. Arbeitsplätze wie auch Entlohnung werden flexibler (Breen 1997; Castel 2009). Der Staat zieht sich als Garant sozialer Sicherheit zurück und erwartet zunehmend von den Bürgern, sich auf Versicherungs-, Kapital- oder Gesundheitsmärkten zu bewegen. Sozialversicherungen, aber auch Tarifverträge und Arbeitsrecht sind kollektive Regelwerke, die einen kollektiven Status bieten und die Unsicherheit des Individuums reduzieren (Castel 2005: 52). Allerdings steigt mit der Offenheit der Märkte der Wunsch der Bürger nach einer staatlichen sozialen Sicherheit, die ökonowww.claudia-wild.de: <?page no="18"?> [UTB-M]__Dallinger__Sozialpolitik____[Druck-PDF]/ 04.02.2016/ Seite 18 www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Dallinger__Sozialpolitik____[Druck-PDF]/ 04.02.2016/ Seite 19 1.3 Indikatoren der Sozialstaatlichkeit 19 mische Risiken wie den Jobverlust, aber ebenso den Wertverlust der eigenen Alterssicherungsanlagen auf Finanzmärkten abfängt (Rieger/ Leibfried 1998). 1.3 Indikatoren der Sozialstaatlichkeit Die in modernen Wohlfahrtsstaaten etablierten Programme zur Umsetzung der beiden Ziele soziale Sicherheit der Beschäftigten und Einkommensangleichung schlagen sich in den Sozialausgaben eines Landes nieder. 2 Sie werden als ein Indikator für den Ausbau der »Sozialstaatlichkeit« eines Landes verwendet. In der Regel drückt man diese als den prozentualen Anteil der Sozialausgaben am Bruttoinlandsprodukt eines Landes (BIP) aus. Dies ist die Sozialleistungsquote, mit der man den Umfang der Ausgaben für soziale Ziele erfassen und über verschiedene Länder vergleichen kann. In der Sozialpolitikforschung wird dafür der Ausdruck welfare effort verwendet. In der Presse taucht die Sozialleistungsquote oft als Warnung vor einem »ausufernden« Sozialstaat auf. Jenseits solcher Kritik sind aber Vergleiche der Sozialleistungsquote zwischen verschiedenen Ländern und die Betrachtung ihrer Entwicklung über die Zeit ein gängiges Instrument zur Beschreibung von Sozialstaatstypen (siehe Kap. 2.3) oder von Prozessen der Angleichung oder der Kürzung von welfare effort. Abbildung 1.1 vergleicht die Sozialausgaben in ausgewählten Ländern und ihre Entwicklung zwischen 1980 und 2014. Schweden ist bis zum Jahr 2000 der Spitzenreiter, die USA stets das »Schlusslicht« in Bezug auf die Aufwendungen für den Sozialstaat. Deutschland liegt an dritter Stelle mit Sozialausgaben in Höhe von 25,8 % des BIP im Jahr 2014. Betrachtet man die langfristige Entwicklung der Sozialausgaben, dann fällt auf, dass sich ab etwa 1995 in den meisten Ländern die Steigung der Linien abflacht und der Anteil der Sozialausgaben entweder nicht weiter expandiert (wie in Deutschland) oder in einigen Ländern sogar zurückgeht (wie in Schweden, Norwegen oder Großbritannien. Allerdings setzt in Frankreich, Spanien und Großbritannien ab 2000 erneut ein Anstieg ein. In allen Ländern liegen aber die Sozialausgaben 2014 höher als zu Beginn der 1980er Jahre, obwohl seither die Notwendigkeit diskutiert wird, die Sozialausgaben zu kürzen. Die Ursachen für die Stabilität der »Sozialstaatlichkeit« werden in Kapitel 9 des Buches gesondert analysiert. Einzelne Länder wie Spanien oder die USA weisen jedoch ab 2005 keine Konstanz auf. Dies dürfte das Resultat der krisenbedingten stärkeren Beanspruchung bestehender Programme sein (automatischen Expansion). 2 Sozialausgaben setzen sich zusammen aus monetären Transferzahlungen (Rente, Arbeitslosengeld, Lohnfortzahlung im Krankheitsfall), wie auch aus Kosten für Personal im Gesundheitswesen, in den Einrichtungen der Altenpflege, der Kinderbetreuung oder vielen anderen lokalen Organen (z. B. Erziehungsberatung). <?page no="19"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Dallinger__Sozialpolitik____[Druck-PDF]/ 04.02.2016/ Seite 20 20 1. Was ist ein Wohlfahrtsstaat? Im Vergleich zu der Entwicklung ab 1980 zeigt der Blick auf einen früheren Zeitraum (Tab. 1.1), wie stark die Sozialstaaten langfristig in den sogenannten »Goldenen Jahren« der 1960erbis Mitte der 1970er-Jahre mit Wirtschaftswachstum und geringer Arbeitslosigkeit expandierten. Nach der Ölpreiskrise Mitte der 1970er-Jahre begann dann die Rezension. In der Nachkriegsphase weitete sich die Leistungstiefe und Reichweite der Sozialpolitik beispiellos aus. Die aggregierten Sozialausgaben in % des BIP wurden immer wieder als ein ungenauer Indikator der Sozialstaatlichkeit kritisiert. Denn erstens reagiert der Anteilswert sensibel auf die Ausweitung des »Bedarfes«. Steigt die Arbeitslosigkeit oder der Altenanteil und damit die Zahl der Empfänger von Sozialleistungen, wächst bei konstantem BIP der prozentuale Anteil der Sozialleistungen. Obwohl keine Leistungsausweitung für die Einzelnen stattfindet, scheint Sozialstaatlichkeit zu expandieren. Zweitens schwankt die Sozialleistungsquote abhängig von der Größe im Nenner, dem Bruttoinlandsprodukt. Schrumpft dieses, so steigt bei gleichbleibenden Sozialausgaben deren prozentualer Anteil. Die wohlfahrtsstaatlichen Aufwendungen scheinen dann zu wachsen, obwohl alles gleich bleibt. Der Indikator Sozialausgaben als Anteil des BIP ist also mit Vorsicht zu behandeln. Allerdings kann man den Bedarfsdruck einkalkulieren, indem der Anteil Älterer oder die Arbeitslosenquote berücksichtigt wird. Die üblichen Quellen (wie die OECD Social Expenditure Database) enthalten aber keine Abb. 1.1: Entwicklung der Sozialausgaben in ausgewählten Ländern, 1980-2014 Quelle: Eigene Darstellung nach Daten aus: OECDstats, http: / / stats.oecd.org/ # (Abruf: 30.12.2015). Länderabkürzungen: DE-Deutschland; FR-Frankreich; GB-Großbritannien; NO-Norwegen; SE-Schweden; ES-Spanien; US-Vereinigte Staaten von Amerika. 10 12,5 15 17,5 20 22,5 25 27,5 30 32,5 1980 1985 1990 1995 2000 2005 2010 2014 DE FR SE NO GB US ES <?page no="20"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Dallinger__Sozialpolitik____[Druck-PDF]/ 04.02.2016/ Seite 20 www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Dallinger__Sozialpolitik____[Druck-PDF]/ 04.02.2016/ Seite 21 1.3 Indikatoren der Sozialstaatlichkeit 21 derart mit der Arbeitslosen und der Seniorenquote standardisierte Daten zum Anteil der Sozialausgaben (siehe jedoch Siegel 2002: 147). Drittens müsste die in verschiedenen Ländern unterschiedlich hohe Besteuerung von Sozialleistungen berücksichtigt werden. Denn Steuern lassen sowohl den Wert von Sozialleistungen für Einzelne und Privathaushalte schrumpfen wie auch insgesamt der Anteil von Sozialausgaben eigentlich fällt, wenn der Staat sich durch Steuern einen Teil zurückholt. Daher sind Netto-Sozialausgaben aussagekräftiger und besser zwischen den Ländern vergleichbar. Tabelle 1.2 führt sowohl Bruttoals auch Netto- Sozialausgaben auf, und berücksichtigt zudem neben den staatlichen auch private Sozialausgaben. Dadurch verringert sich die Distanz zwischen zuvor weit auseinander liegenden Ländern, etwa zwischen Schweden und den USA, was jedoch realistischer ist. Größter Sozialstaat ist auf der Basis von Netto-Sozialausgabe nun Deutschland, das Schweden seinen ersten Platz abläuft, da Schweden Sozialleistungen besteuert. Bei anderen Ländern verringert sich lediglich das Sozialausgabeniveau und ihr Rangplatz verschiebt sich wenig. Die klassische Kritik am Indikator Sozialausgaben lautet, dass er nicht erfasst, welche Art der Programme die Ausgaben genau finanzieren. Sie sagen wenig über das distributive Profil aus (Huber/ Stephens 2001). Wieviel erreicht der »teuerste« Sozialstaat, Deutschland, bei der Reduktion von Armut? Es kommt darauf an, welche Programme finanziert werden. Der bekannte Satz von Esping-Andersen, dass »it is difficult to imagine that anyone struggled for spending per se.« (Esping-Andersen 1990: 21) wird immer wieder zitiert und damit Sozialausgaben als Konstrukt ohne Substanz kritisiert. Dennoch ist die Höhe der Sozialausgaben durchaus verbunden mit dem, was Sozialstaaten ausmacht. So gehen hohe Ausgaben mit höherer Umverteilung einher. Aus Tabelle 1.3 wird ersichtlich, dass bei höheren Sozialausgaben für die Erwerbsbevölkerung die Armut in der Bevölkerung insgesamt wie auch die Kinderarmut sinkt (da der Tab. 1.1: Sozialstaatsexpansion zwischen 1950 und 1975 in ausgewählten Ländern Länder 1950 1975 Deutschland 17,6 22,6 Schweden 9,9 24,4 Niederlande 7,9 24,7 Großbritannien 10,5 16 Vereinigte Staaten 4,9 11,2 Eigene Darstellung nach: Siegel 2000, S 134 nach Sozialleistungsquote ILO, The Cost of Social Security; OECD 1985. <?page no="21"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Dallinger__Sozialpolitik____[Druck-PDF]/ 04.02.2016/ Seite 22 22 1. Was ist ein Wohlfahrtsstaat? Zahlenwert ein negatives Vorzeichen hat und als signifikant gekennzeichnet ist). Hohe Rentenausgaben hingegen haben keine Folgen für Armut, mindern nicht einmal Altersarmut. Diese Aussage unterstreicht, dass Renten durch ihre beitragsäquivalente Gestaltung wenig zum Ziel der Egalität beitragen, dafür aber zur sozialen Sicherheit (siehe Kap. 1.2 zum Unterschied zwischen Sicherheit und Gleichheit). Insgesamt aber lässt sich folgern, dass bei spezifischen Fragestellungen der Anteil der Sozialausgaben durchaus ein nützliches Analyseinstrument ist. Bereichs- oder funktionsspezifischen Ausgaben bieten Einblicke in das Profil der Ausgaben. Abbildung 1.2 stellt die Ausgaben für Alterssicherung und Hinterbliebene, Arbeitslosigkeit, Krankheit, Familie und sonstige als prozentualen Anteil an allen Sozialausgaben des Landes im internationalen Vergleich dar. In allen Ländern machen die Ausgaben für Alter und Krankheit den größten Anteil des Sozialbudgets aus. Ausgaben für Familie und Arbeitslose fallen vergleichsweise schmal aus. Im Einzelnen weisen die Länder gewisse Divergenzen auf: So etwa ist der Anteil der Alterssicherungsausgaben in Südeuropa vergleichsweise hoch, was auf einen umfassenderen Schutz für ältere Menschen im Vergleich zu anderen Gruppen in diesen Ländern hindeutet. Tab. 1.2: Staatliche (und staatlich angeordnete) Sozialausgaben in % des Bruttoinlandsproduktes-- Vergleich der Brutto- und Nettoausgaben, 2003 Bruttosozialausgaben Nettosozialausgaben Schweden 31,3 24,6 Frankreich 28,7 25,8 Deutschland 27,3 26,4 Norwegen 25,1 21,2 Italien 24,2 21,2 Großbritannien 20,6 19,9 Spanien 20,3 17,6 Kanada 17,3 17,2 Vereinigte Staaten 16,2 17,6 Eigene Darstellung nach: McCarty/ Pontusson 2009: 667; Adema/ Ladaique 2005, Net social expenditure, OECD. <?page no="22"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Dallinger__Sozialpolitik____[Druck-PDF]/ 04.02.2016/ Seite 22 www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Dallinger__Sozialpolitik____[Druck-PDF]/ 04.02.2016/ Seite 23 1.3 Indikatoren der Sozialstaatlichkeit 23 Tab. 1.3: Was erreicht der Sozialstaat in Deutschland? Gini-Index 50 %-Median Bevölkerungsarmut 50 %-Median Kinderarmut 50 %-Median Altersarmut Rentenausgaben 0,094 0,010 0,020 -0,051 Ausgaben für die-Erwerbsbevölkerung -0,865** -0,811** -0,831** -0,442 Gesundheits- Ausgaben -0,012 -0,166 -0,049 -0,364 Quelle: Castles 2009: 235. Dargestellt wird Pearsons R. Signifikante Ergebnisse gekennzeichnet mit *<-.05, **<-.01 ***<-.001. Negative Vorzeichen bedeuten einen negativen Zusammenhang. Abb. 1.2: Sozialausgaben nach Funktionen im Ländervergleich 2012 (in % aller Sozialausgaben) Gezeigt werden die Anteile der wichtigsten Ausgabebereiche in % aller Sozialausgaben. Quelle: Eigene Darstellung nach: Eurostat, Statistik kurz gefasst 2011, Sozialschutz in Europa. Link: ec.europa.eu/ eurostat/ web/ social-protection/ data/ main-tables abgerufen am 3.1.2016. 0 10 20 30 40 50 60 70 80 90 100 DE AT FR BE DK SE NO IT ES GB PL Alter/ Hinterbliebene Krankheit/ Invalidität Arbeitslosigkeit Familie sonstige <?page no="23"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Dallinger__Sozialpolitik____[Druck-PDF]/ 04.02.2016/ Seite 24 <?page no="24"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Dallinger__Sozialpolitik____[Druck-PDF]/ 04.02.2016/ Seite 24 www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Dallinger__Sozialpolitik____[Druck-PDF]/ 04.02.2016/ Seite 25 25 2. Theorien des Sozialstaats Der Sozialstaat ist in der Öffentlichkeit permanent präsent, sei es weil soziapolitische Programme als unzureichend kritisiert werden (z. B. Kinderarmut), sei es weil man ungewollte Effekte und »Fehlanreizen« bemängelt (wie etwa langer Verbleib in Arbeitslosigkeit; verstärkter Fachkräftemangel durch Rente mit 63 Jahren). Der Wohlfahrtsstaat umfasst aber weitaus mehr als einzelne sozialpolitische Programme für Ältere, Arbeitslose, Kranke, etc., deren Funktionsweise und Mängel. Er ist Teil von Modernisierungsprozessen und der Demokratisierung, die Bürger und Staat in ein neues Verhältnis brachte. Die Figur des mit sozialen Rechten ausgestatteten »Staatsbürgers« entsteht überhaupt erst durch den Sozialstaat. Es geht also um eine spezifische Relation zwischen der Wirtschaft, dem Staat und den Bürgern. Dem Sozialstaat fällt die Aufgabe zu, negative Marktergebnisse zu korrigieren. Er nimmt die sozialen Anliegen der Bürger wahr und spezialisiert sich auf das »Soziale«, das aus der Marktwirtschaft ausdifferenziert wurde. In der aktuellen Literatur verwendete Begriffe wie Wohlfahrtskapitalismus oder sozialstaatliche Vergesellschaftung deuten die enge Verwobenheit des Sozialstaats mit fundamentalen Dynamiken der Gegenwartsgesellschaft an. Am Anfang dieser Einführung in die Sozialpolitik stehen daher Erklärungen für die Entstehung und Fortentwicklung von Sozialstaaten, bevor einzelne sozialstaatliche Programme dargestellt werden. Was sorgt dafür, dass sich in modernen kapitalistischen Gesellschaften auch Sozialstaaten entwickeln? Antworten finden sich bei Ansätzen, die sich auf Modernisierungstheorien stützen (Kap. 2.1), aus der politischen Ökonomie kommen (Kap. 2.2 und 2.3) oder die im Neo-Institutionalismus (2.4) verankert sind. 2.1 Modernisierungstheorien Im Kern von Modernisierungstheorien steht die Annahme, dass das Aufkommen der modernen Industriegesellschaft funktionale Erfordernisse schuf, die eine staatliche Alters-, Kranken- und Arbeitslosenversicherung notwendig machte. Mit der Industrialisierung veränderten sich die Arbeits- und Lebensformen. Menschen wanderten in urbane Zentren und wurden Lohnarbeiter ohne andere Möglichkeiten der Existenzsicherung. Frühere Handwerker, Bauern, Knechte, Mägde oder Tagelöhner wurden zu abhängig Beschäftigten. Die Industrialisierung erzeugte verallgemeinerte Risikolagen für die abhängig Beschäftigten. Das gilt bis heute: Da nun allein das Erwerbseinkommen die Haushalte mit Ressourcen bzw. Einkommen versorgt, bedeuten Krankheit, Arbeitslosigkeit, Alter oder Arbeitsunfall zunächst einmal eine Existenzbedrohung. Die Soziale Sicherung springt in diese Lücke ein und kompensiert-- oft nur partiell-- fehlendes Erwerbseinkommen. <?page no="25"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Dallinger__Sozialpolitik____[Druck-PDF]/ 04.02.2016/ Seite 26 26 2. Theorien des Sozialstaats Der Sozialstaat ist somit komplementär zu einer modernen kapitalistischen Marktwirtschaft. Der Sozialstaat macht die neuen Lebens- und Erwerbsarbeitsformen des Industriezeitalters erst möglich. Arbeits- und Wohnstätte differenzieren sich, Produzenten und Produktionsmittel treten auseinander, die Verstädterung kappt verwandtschaftliche Hilfenetze. Soziale Risiken durch fehlendes Erwerbseinkommen oder Misserfolg auf dem Arbeitsmarkt werden an den Sozialstaat auslagert. Im Laufe der Modernisierung verwandeln sich die sozialen Strukturen und verändern fortwährend die funktionalen Erfordernisse, auf die soziale Programme (und ihre Reformen) wiederum reagieren: So gibt es infolge steigender Lebenserwartung immer mehr Ältere, deren Bedarf an Alterssicherung oder Pflege die Sozialausgaben expandieren lässt, denn- - so die funktionalistische Sicht- - neue Bedarfe erzeugen quasi automatisch staatliche Reaktionen. Diese Sichtweise lässt außer Acht, dass oft lange Kontroversen ausgetragen wurden und politische Macht mobilisiert werden musste, bevor Politik einen Bedarf als solchen anerkannte und mit Sozialgesetzgebung reagierte. Für die Modernisierungstheorie generiert sozialer Wandel neue Probleme, auf die alle Teilbereiche der Gesellschaft entsprechend reagieren. Jens Alber, einer der Vertreter des funktionalistischen Ansatzes, umschreibt die Idee kovariierender Prozesse wie folgt: »Als Kern des Modernisierungskonzeptes kann die Vorstellung gelten, sozialer Wandel sei ein gerichteter Prozess hin zu Wachstum und Steigerung gesellschaftlicher Kapazitäten, mit einem Bündel oder Syndrom von kovariierenden Veränderungsprozessen in den Dimensionen des wirtschaftlichen, politischen und soziokulturellen Wandels.« (Alber 2002: 5) 3 Modernisierungstheorien schließen an die in den 1950er- und 1960er-Jahren in den Sozialwissenschaften verbreitete Strömung an, die ökonomisches Wachstums, gesteigerte Problemlösungskapazitäten von Wissenschaft und Verwaltung sowie neue Lebensformen zusammendenken. Wirtschaftliche Rationalisierung erzeuge die Effizienzgewinne, die dann in Sozialpolitikprogramme einfließen können. Ein weiterer modernisierungstheoretischer Kerngedanke ist die Konvergenz, also die Entwicklung ähnlicher sozialer Sicherungssysteme in allen modernisierten Ländern. Das folgende Zitat illustriert was Konvergenz meint: 3 Um »kovariierende Veränderungsprozesse« an einem Beispiel zu erläutern: So etwa bietet die Dienstleistungsgesellschaft mehr »Frauenarbeitsplätze«, so dass mehr Frauen v. a. mit Kindern am Arbeitsmarkt partizipieren. Die Sozialpolitik baut die Kinderbetreuung aus, Familienmodelle ändern sich und statt des männlichen Hauptverdiener wird der »Doppelverdienerhaushalt« normal. Auch kulturelle Muster passen sich an: Müttererwerbstätigkeit gilt nicht mehr als Nachteil für Kleinkinder. <?page no="26"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Dallinger__Sozialpolitik____[Druck-PDF]/ 04.02.2016/ Seite 26 www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Dallinger__Sozialpolitik____[Druck-PDF]/ 04.02.2016/ Seite 27 2.1 Modernisierungstheorien 27 »Economic growth and its demografic and bureaucratic outcomes are the root cause of the general emergence of the welfare state-- the establishment of similar programs of social security, the increasing fraction devoted to such programs, the trend towards comprehensive coverage and similar methods of financing.« (Wilensky 1975: xiii) Nach dem Konvergenzgedanken treten im Laufe des Modernisierungsprozesses ähnliche Probleme auf (Alterung, Absicherung bei Arbeitslosigkeit und Krankheit) und die verschiedenen Länder entwickeln automatisch ähnliche sozialpolitische Instrumente zu deren Lösung. So würden überall gleiche Finanzierungsverfahren eingeführt, immer weitere Bevölkerungsteile unter den Schirm der sozialen Sicherung gebracht. Folglich stiegen in allen sich modernisierenden Ländern die Sozialausgaben an. Prozesse der politischen Transformation »sozialer Probleme« nach der Logik des jeweiligen politischen Systems und der jeweiligen sozialen und ideologischen Traditionen der verschiedenen Länder gibt es nach diesem Verständnis nicht. Dass Rentner in England aufgrund einer liberaler ausgerichteten Alterssicherung überdurchschnittlich oft arm sind, in Deutschland durch ein Rentensystem mit einer korporatistischen Ausrichtung hingegen Ältere unterdurchschnittlich durch Armut betroffen sind, übersieht das Konvergenzargument jedoch. Die Konvergenzthese ist dennoch in der Debatte um die Folgen der Globalisierung oder auch der Finanzkrise für den Sozialstaat aktuell. Erneut wird angenommen, dass angesichts des überall ähnlichen Effizienzdrucks auf Unternehmen auch die Sozialstaaten ähnlich lean werden, also auf Grundsicherungsniveau mit ergänzender privater Absicherung zurückgefahren werden. Allerdings sind die Forschungsergebnisse nicht eindeutig. Teils wurde gezeigt, dass es keine Anzeichen einer Konvergenz gebe, da diverse sozialstaatliche Modelle auf den Globalisierungsdruck ganz unterschiedlich reagieren. Teils aber spricht die abnehmende Variationsbreite der Sozialausgaben innerhalb der OECD-Länder für Konvergenz (Castles 2006; Obinger/ Starke 2014). Zur Modernisierungstheorie gehört weiter der Gedanke der doppelten Inklusion: Der Sozialstaat erfasste im Laufe der Zeit immer weitere Risiken und immer weitere Personengruppen (Flora/ Alber 1981). In der Tat blieb es nicht bei den anfänglich abgesicherten Risiken (Arbeitsunfall, Alter, Krankheit), sondern weitere Leistungen für Familien, Rehabilitation, Behinderte oder Pflegebedürftigkeit wurden geschaffen. Neue Personengruppen über die ursprüngliche Zielgruppe der Arbeiter hinaus fanden sozialen Schutz. So wurde die 1889 im deutschen Kaiserreich durch Bismarck eingeführte Rentenversicherung für Arbeiter auch auf die Angestellten (unter einer Einkommensgrenze) ausgedehnt, 1899 auf Landarbeiter, 1911 auf Hinterbliebene; 1938 kamen selbständige Handwerker und 1957 Landwirte zum Kreis der Versicherten hinzu. Dahinter steht aus der Sicht der Modernisierungstheorie eine »endogene« Inklusionsdynamik: Einmal bestehende Sicherungssysteme expandieren, auch ohne dass politische Entscheidungen getroffen werden. So etwa wächst das Gesundheitswewww.claudia-wild.de: <?page no="27"?> [UTB-M]__Dallinger__Sozialpolitik____[Druck-PDF]/ 04.02.2016/ Seite 28 28 2. Theorien des Sozialstaats sen einfach weil das Spektrum an Krankheiten vielfältiger wird und die medizinischen Behandlungsmöglichkeiten umfassender werden. Es wurde versucht empirisch zu prüfen, ob der Grad an »Modernisierung« einzelner Länder und der Umfang sozialer Sicherung tatsächlich zusammenhängen. Eine frühe Studie zur historischen Genese von Sozialstaaten betrachtete etwa den Anteil der in der Industrie Beschäftigten als Indikator der Modernisierung (Übergang von der Agrarzur Industriegesellschaft) und den Zeitpunkt der Einführung einzelner sozialer Sicherungssysteme. Sie fand aber keinen Zusammenhang zwischen beiden Ereignissen (Flora/ Alber 1981). Der Anteil der in der Industrie Beschäftigten schwankte zwischen 20 % und 40 % in verschiedenen Ländern als man soziale Sicherungssysteme einführte. Die Spannbreite spricht dagegen, dass ein bestimmtes Modernisierungs-Niveau erreicht sein muss. Weiterhin gilt Skandinavien als ein Gegenbeispiel. Hier waren bei der Einführung der ersten sozialstaatlichen Programme noch vergleichsweise viele Personen im Agrarsektor tätig. Allerdings findet man durchaus auch Bestätigung für die Modernisierungstheorie: So steigen mit dem Anteil älterer Menschen an der Bevölkerung (auch dieser ist Teil der Modernisierung) die Sozialausgaben. Oft wird das Bruttoinlandsprodukt (BIP) als Indikator für Modernisierung 4 verwendet und analysiert, ob dessen Höhe und die Sozialausgaben zusammenhängen. Solche Zusammenhänge zwischen zwei Ländermerkmalen lassen sich mit Grafiken (Scatterplots) veranschaulichen, wie sie Abbildung 2.1 zeigt. Gäbe es einen Zusammenhang zwischen Brutto-Inlandsprodukt und Sozialausgaben, müssten die Länderpunkte nahe um die eingezogene Linie 5 gruppiert sein und in etwa eine Diagonale bilden. Da die Punkte aber stark streuen, ist zu folgern, dass der Grad der wirtschaftlichen Entwicklung die Sozialausgaben wenig beeinflusst bzw. nicht als einziger Faktor wirkt. Jedoch sollte man nicht allein anhand einer bivariaten Analyse, die sich auf zwei Merkmale stützt, die Modernisierungstheorie verwerfen. Erst wenn man weitere Faktoren, die ebenfalls die Höhe der Sozialausgaben bestimmen, einbezieht, erhält man mehr Sicherheit (sogenannte Drittvariablenkontrolle). Auch kann man hinterfragen, ob die verwendeten Maßzahlen geeignet sind. So wurde häufig die Höhe der Sozialausgaben als Prozentsatz des BIPs als eine ungeeignete Maßzahl kritisiert, da sie wenig zur Qualität der Leistungen sage und durch Entwicklungen schwanke, die nichts mit Sozialpolitik zu tun haben. Auch wird skeptisch betrachtet, ob das BIP tatsächlich 4 Komplexe sozialwissenschaftliche Konstrukte wie Modernisierung lassen sich nicht direkt erfassen. Dann sind die Sozialwissenschaften auf Merkmale angewiesen, die das Konstrukt annähernd abbilden, auf Indikatoren. Es wird also versucht, mithilfe empirischer Merkmale einen Blick auf ein Phänomen zu gewinnen. Wie gut das BIP als Indikatoren für Modernisierung ist, darf zu Recht kritisiert werden. Er ist aber gängig, so dass ich hier auch so verfahre. 5 Die Linie bezeichnet man als Regressionslinie; sie zeigt die zentrale Tendenz aller Datenpunkte. <?page no="28"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Dallinger__Sozialpolitik____[Druck-PDF]/ 04.02.2016/ Seite 28 www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Dallinger__Sozialpolitik____[Druck-PDF]/ 04.02.2016/ Seite 29 2.1 Modernisierungstheorien 29 Modernisierung erfasst. Studien, die Sozialausgaben differenzierter (v. a. auch deren Besteuerung) erfassen, weisen allerdings durchaus einen Einfluss des BIP auf die Sozialausgaben nach (Castles/ Obinger 2007). Gegen das Modernisierungskonzept werden auch andere Einwände vorgetragen. Der soziale Wandel in den letzten Dekaden habe die Grundlagen, für die diese Theorie einst gemacht wurde, verändert (Alber 2002): Die De-Industrialisierung mit neuen Arbeitsmarktrisiken ebenso wie die veränderten Familienformen mit einer wachsenden Zahl Alleinerziehender und zunehmender Frauenerwerbstätigkeit generiere »neue soziale Fragen« jenseits der Probleme von Industriearbeitern, deren Risiken der Ausgangspunkt der Modernisierungstheorie waren. Die neuere Sozialstaatsentwicklung lasse sich mit dem Modernisierungskonzept nicht angemessen analysieren. Denn zur Erklärung des aktuell zu beobachtenden Rückbaus benötige man ganz andere Konzepte als zur einstigen Expansion des Sozialstaats (Pierson 1996). Die Modernisierungstheorie lässt Fragen offen. Denn einerseits sieht sie »Fortschritte« in kovariierenden Bereichen als Basis des Sozialstaats (siehe Flora/ Alber 1981: 38). Andererseits wird die Entwicklung der Wirtschaft als Antriebskraft der Modernisierung in den Vordergrund gestellt, obwohl doch das Bruttoinlandsprodukt bloß der Indikator für das umfassendere Konzept der Modernisierung sein soll. So droht Abb. 2.1: Modernisierungsgrad (Bruttoinlandsprodukt pro Kopf ) und Höhe der Sozialausgaben (in-% des BIP) DE70 DE75 DE80 DE85 DE90 DE95 DE00 DE05 DE10 DE13 F75 F80 F85 F90 F95 F00 F05 F10F13 NL80 NL85 NL90 NL95 NL00 NL05 NL10 NL13 UK70 UK75 UK80 UK85 UK90 UK95 UK00 UK05 UK10 UK13 US70 US75 US80 US85 US90 US95 US00 US05 US10 US13 S70 S80 S85 S90 S95 S00 S05 S10 S13 15 20 25 30 35 0 10 20 30 40 50 Bruttoinlandsprodukt pro Kopf in 1000$ Sozialausgaben Regressionslinie S75 Quelle: Eigene Darstellung nach Daten aus: OECD (1985): Social Expenditure 1960-1990 - Problems of growth and control, Paris. http: / / oecd.org (Abruf 14.11.2014). Korrelationskoe zient .215*, signi kant auf 10 %-Niveau. <?page no="29"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Dallinger__Sozialpolitik____[Druck-PDF]/ 04.02.2016/ Seite 30 30 2. Theorien des Sozialstaats aus der Modernisierungstheorie ein ökonomischer Automatismus zu werden. Die treibende Kraft können auch Anpassungserfordernisse durch Wandel in anderen Bereichen sein. So diskutieren Modernisierungstheorien ebenso die Rolle der Demokratisierung für die Sozialstaatsgenese. Das allgemeine Stimmrecht führe dazu, dass nun Mehrheiten sich soziale Rechte »erwählen« können (mehr zu Wahlrecht und soziale Bürgerrechte siehe Exkurs Kap. 2.2.1). Neben dem objektiven Problemdruck durch funktionale Notwendigkeiten-- wie dem Alterungsprozess-- sehen auch Modernisierungstheoretiker, dass der Problemdruck abhängt von den jeweils über Einfluss verfügenden politischen Organisationen oder auch von der Religion, die bestimmte Ideen und Deutungsmuster fördert, aber ebenso ein handfester Machtfaktor ist (Flora/ Alber 1981: 41 und 43). Funktionale Probleme werden in unterschiedlichen nationalen Kontexten und dortigen Machtverhältnissen unterschiedlich gelöst. Dies leitet über zum nächsten theoretischen Ansatz, der politische Akteure, ihre Interessen und unterschiedlichen Durchsetzungschancen ins Zentrum stellt. Was sind kovariierende Prozesse? • Die Entwicklung der Sozialstatistik (Rowntree und Booth) machte überhaupt erst nachweisbar, dass Armut, Arbeitslosigkeit und industrielle Zyklen zusammenhängen und an Armut nicht die individuelle Unzulänglichkeit Schuld ist. • Sozialstaatsentstehung benötigt eine Bürokratie, die in der Lage ist, via Steuern oder Beiträge eingezogene Gelder zu verwalten und systematisch wieder auszuzahlen. • Ein bestimmtes Verständnis von Sicherheit ist wichtig. In Phasen, in denen Menschen ihr Leben durch Gott und Schicksal bestimmt sahen, gab es den Anspruch der Sicherheit kaum. Erst die Industrialisierung und Säkularisierung machten Sicherheit wertvoll und erreichbar. 2.2 Der Machtressourcen-Ansatz: Macht der Arbeiter-- oder-von-wem sonst? Für den Machtressourcen-Ansatz ist der Sozialstaat das Resultat von Verteilungskonflikten, die auf der politischen Ebene ausgetragen werden, er ist in dieser Sicht also kein funktionales Erfordernis der Industriegesellschaft und ihrer neuen Risiken. Funktionale Erfordernisse, so wie die »Logik des Industrialismus« sie sieht, existieren nicht per se; vielmehr wird in politischen Konflikten erst verhandelt, was überhaupt ein dringliches soziales Problem ist, auf das der Staat reagieren müsse. In Verteilungskonflikten komme es auf die Machtressourcen an, die Gruppen mit bestimmten Interessen mobilisieren können. Parallel zur Industrialisierung setzte sich die Demokratisierung westlicher Länder durch, die die politische Macht der Arbeiter (bzw. der materiell schlechter Gestellten) <?page no="30"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Dallinger__Sozialpolitik____[Druck-PDF]/ 04.02.2016/ Seite 30 www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Dallinger__Sozialpolitik____[Druck-PDF]/ 04.02.2016/ Seite 31 2.2 Der Machtressourcen-Ansatz: Macht der Arbeiter-- oder-von-wem sonst? 31 stärkte. Dadurch trat neben die Sphäre der ökonomischen Macht eine Sphäre der politischen Macht. Da hier anders als bei der Verteilung materieller Ressourcen die Währung »one man- - one vote« gilt, konnte nun die Arbeiterschicht die formale politische Macht nutzen und sich im Rahmen eines »demokratisch gezähmten Klassenkampfes« (Korpi 1983) im Parlament für ihre Anliegen einsetzen. 6 Im Originalton liest sich das wie folgt: »We argue that where the working class has been strongly mobilized and has achieved a stable control over the government, a decrease in the difference between the power resources of the main classes has occurred. (…) A control over the government makes it possible for the working class to use public policy to intervene in the distributional processes-…« (Korpi 1980: 309) Aus dem Zitat geht hervor, weshalb dieser Ansatz auch als labourist approach bezeichnet wird. Denn die Arbeiterklasse werde die main class (dominierende Schicht), wenn sie politisch aktiv wird und qua Mehrheit Kontrolle über die Regierung bekommt. Dann kann sie Verteilungsprozesse wie die am Arbeitsmarkt bei der Entlohnung, aber auch bei verteilungsrelevanten Aspekten der Sozial- und Steuerpolitik beeinflussen. Diese politischen Handlungsfelder wiederum modifizieren ihre schwache Marktmacht. (Erläuternd sei hinzugefügt, dass Unternehmen bzw. Firmenbesitzer aus dieser Sicht umfassende ökonomische Marktmacht haben). Sozialpolitik bedeutet politics against markets oder marktkorrigierende Politik. Abhängig Beschäftigte setzten Maßnahmen durch, die zum einen die Arbeitsverhältnisse regulieren (Entlohnung, Arbeitsbedingungen, Kündigungsschutz) und zum anderen einen social wage (also im übertragenen Sinne einen Soziallohn) bieten und den Wegfall des Arbeitseinkommens bei Alter, Krankheit, Arbeitslosigkeit kompensieren. Diesen Maßnahmen ist gemeinsam, dass sie die umfassende Verfügungsmacht des Arbeitgebers über die Arbeitnehmer einschränken. Marktkorrigierende Politik im Interesse der abhängig Beschäftigten wird in demokratischen Ländern vor allem von linken, sozialdemokratischen Parteien als Interessenvertreter der Arbeiter gemacht. Sie gelten als diejenigen, die Verhältnisse zugunsten der Arbeitnehmer gestalten und für deren Rechte kämpfen (Korpi 1983). 6 Das Ideal demokratischer Gleichheit war damals noch auf ein Geschlecht beschränkt. Frauen hatten in Deutschland bis 1918 kein Wahlrecht, in der Schweiz bis 1971 nicht. Politischer Einfluss entsteht auch via Lobbyarbeit. Die Wahlbeteiligung ist gerade bei Unterprivilegierten geringer, wodurch sich deren potentieller Einfluss verringert. Forschung zur Qualität der Repräsentation zeigt, dass es Brüche gibt in Bezug darauf, wie umfassend Stimmen wirklich politischen Einfluss in Regierungen erhalten (Bartels 2006, Gilens 2005). <?page no="31"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Dallinger__Sozialpolitik____[Druck-PDF]/ 04.02.2016/ Seite 32 32 2. Theorien des Sozialstaats »The power resources approach to social policy development starts in the observation that in the welfare state politics is deliberately used to modify the play of market forces-… Markets and politics are seen as institutionalized, partly alternative, partly overlapping strategies or arenas for the mobilization of resources, the distribution of rewards, and the steering of society.« (Korpi 1989: 312). Parteien greifen die Interessen diverser sozialer Klassen auf und können diese bei Wahlerfolg auch in entsprechenden Gesetzen politisch umsetzen. »… in capitalist democracies these conflicting interests are channeled-… through electoral outcomes and partisan control over government.« (Korpi 1989: 312) Der Verteilungskonflikt zwischen Kapital und Arbeit lebt in parlamentarischen Auseinandersetzung etwa um die »legitime« Reichweite des Sozialstaats oder die »richtige« Höhe von Leistungen für Arbeitslose fort. Entscheidend ist, wer die Regierung stellt, weil nur von hier aus eine Politik zugunsten einer angeglichenen Verteilung bei der Entlohnung oder auch in anderen Feldern (z. B. Zugang zu Bildung) betrieben werden kann (Esping-Andersen 1985). So sieht jedenfalls das Idealmodell aus, die Realität ist aber weitaus komplizierter. Zunächst ist das Ideal, dass Demokratie mehr »Arbeitermacht« bedeutet, zurechtzurücken. Arbeiter waren nicht in jedem Land die Mehrheit, weil manche Länder keine bedeutende Industrialisierung durchliefen. In post-industriellen Ländern sind sie es ebenso wenig. Idealisierend ist auch, die »Arbeiterklasse« als einzigen für die Sozialstaatsentstehung relevanten politischen Akteur zu betrachten. Erst Koalitionen mit der gesellschaftlichen Mitte oder anderen gesellschaftlichen Großgruppen ergeben die nötige politische Durchschlagskraft. Das erkannte auch der Machtressourcenansatz bereits in den 1980er-Jahren. Für diese Theorie ist relevant, unter welchen Bedingungen welche klassenübergreifenden Koalitionen entstehen. Das ist von zentraler Bedeutung, denn die einzelnen Koalitionen prägten und prägen weiterhin die diversen Varianten des sozialstaatlich eingebetteten Kapitalismus- - eben die Varieties of Welfare Capitalism (Esping-Andersen 1990). Seither ist der Machtressourcenansatz insbesondere an den Koalitionen zwischen der Mittel- und der Arbeiterschicht interessiert und an den Bedingungen, unter denen solche Koalitionen zustande kommen (Korpi/ Palme 1998). Zur Erklärung von Koalitionen wurden institutionentheoretische Argumente fruchtbar gemacht. Demnach erzeugen spezifische sozialstaatliche Institutionen »feed-back«- Effekte, die wiederum gemeinsame Interesselagen unter den Bürgern stärken. Historische Analysen zeigten die oft ungewöhnlichen Koalitionen, die sich bei der Entstehung sozialer Sicherungssysteme zusammenschlossen: Die Grundrente in Dänemark etwa wurde durch eine klassenübergreifende Interessen-Koalition aus Landarbeitern und Großgrundbesitzern-- beide vertreten durch die liberale Partei, und durch politische »Tauschgeschäfte« mit den politischen Repräsentanten der städtischen Bevölkerung, die gegen eine Grundrente war-- durchsetzbar. Hier rangen nicht Arbeit und Kapital um soziale Kompromisse, sondern ländliche und städtische Bevölkerung. <?page no="32"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Dallinger__Sozialpolitik____[Druck-PDF]/ 04.02.2016/ Seite 32 www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Dallinger__Sozialpolitik____[Druck-PDF]/ 04.02.2016/ Seite 33 2.2 Der Machtressourcen-Ansatz: Macht der Arbeiter-- oder-von-wem sonst? 33 Die Konfliktlinien verlaufen also auch zwischen anderen gesellschaftlichen Gruppen. Somit »[variierte] die Klassenidentität der Akteure, die Risikoumverteilung durch Sozialpolitik am meisten benötigten, beträchtlich je nach historischen Bedingungen.« (Baldwin 1990: 10). Zudem implementierten nicht nur linke politische Kräfte, sondern auch christdemokratische Parteien breite sozialstaatliche Programme. 7 Diese setzen nicht auf Klassenkampf, sondern auf Konsens und Kompromiss zwischen »oben und unten«. Die für die Christdemokratie leitende katholische Soziallehre gab dem Sozialstaat allerdings eine konservative Prägung (siehe Kap. 2.3). Inzwischen wird die für den Machtressourcen-Ansatz zentrale Annahme, dass die Ausgestaltung und Reichweite des Sozialstaats vor allem davon bestimmt ist, welche Partei in der Regierung ist, von der Parteienindifferenzthese infrage gestellt. Demnach werden politische Ideologien, wie sie Parteien in die Regierung transportieren, unwichtig, weil die Globalisierung den politischen Handlungsspielraum jeder Regierung vereitelt (Huber/ Stevens 2001: 221). Der Druck, den Sozialstaat mit dem internationalen Wettbewerb kompatibel zu machen, zwinge jede Regierung zu Einsparungen. Konservative, liberale oder sozialdemokratische Ideologien, die die basale Frage »Wer soll was und warum bekommen? « unterschiedlich beantworten, werden dadurch hinfällig. Auch aktuelle Studien zum Rückbau (Retrenchment) des Sozialstaats beziehen sich auf den Machtressourcen-Ansatz, allerdings eher um ihn zurückzuweisen, da sein Erklärungsprogramm für die Gegenwart unpassend sei. Kürzungspolitik verlaufe nach neuen Regeln, die mit linken oder rechten Machtressourcen gar nicht erfasst sind. (Genaueres zu Kürzungspolitik siehe Kap. 9.) Allerdings sind die empirischen Ergebnisse zum Einfluss der Parteipolitik (und damit zur politischen Macht unterschiedlicher ideologischer Weltbilder) auf den Um- und Rückbau des Sozialstaats uneinheitlich. Das vorliegende Einführungsbuch kann nicht die umfassende Literatur zum Umfang wie zu den parteipolitischen Ursachen von Kürzungen sozialstaatlicher Programme aufnehmen. Aber zwei Aspekte sollen zur besseren Einschätzung der Rolle von politischen Machtressourcen eingeführt werden: Erstens die oft gebrauchte Unterscheidung zwischen einer Phase sozialstaatlicher Expansion (Golden Age etwa 1945- 1980), in der die jeweilige politische Ideologie der regierenden Parteien durchaus den entstehenden Nachkriegswohlfahrtsstaat prägten, und einer Phase des Retrenchment (etwa 1980 bis heute), in der Parteien keine Rolle mehr spielen und alle gezwungen sind, zwischen notwendiger Kosteneinsparung und dem Druck zu Ausgabenexpansion durch Alterung zu lavieren. Zweitens soll ein Beispiel aus der empirischen Forschung einen Eindruck vom pragmatischen Umgang mit der Frage, welchen Einfluss politische Machtressourcen noch haben, vermitteln. Vergleichende Studien zu Kürzungspolitik wählen Indikatoren wie den Anteil der Sozialausgaben am BIP oder die Qualität der Lohnersatzleistungen, 7 Siehe Flora/ Alber/ Heidenheimer (1981) und Alber (1982). <?page no="33"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Dallinger__Sozialpolitik____[Druck-PDF]/ 04.02.2016/ Seite 34 34 2. Theorien des Sozialstaats deren Entwicklung dann mit diversen Faktoren erklärt wird. 8 Die variierenden politischen Machtverhältnisse sind schlicht eine Ursache neben anderen Erklärungsmöglichkeiten. So wird die Entscheidung über die Rolle politischer Machtressourcen gewissermaßen den Daten überlassen. Politische Macht lässt sich messen mit dem Anteil der sozialdemokratischen oder konservativen Parteien an den gesamten Sitzen des Parlaments oder des Kabinetts, oder mit der links-rechts Position der Regierung. Die Ergebnisse solch multivariater (mehrere Ursachen gleichzeitig erfassender) Analysen geben dann Aufschluss darüber, ob »linke« oder »rechte« Machtressourcen tatsächlich die Entwicklung sozialer Programme beeinflussen. Dabei werden außerdem weitere Faktoren wie die Öffnung der Finanzmärkte, die Arbeitslosenquote, Veto-Punkte 9 etc. kontrolliert. Eine solch pragmatische Herangehensweise zeigt Tabelle 2.1, die aus einer Studie von James P. Allan und Lylle Scruggs (2004) stammt. Sie analysierten, welche verschiedenen Faktoren die Lohnersatzrate der Leistungen bei Arbeitslosigkeit prägt. Wie oben angesprochen, werden zwei Phasen getrennt und die Machtressourcen als Anteil der Sitz von Parteien in der Regierung gemessen. Für die erste Phase bestätigen die Daten den Machtressourcen-Ansatz: Je größer der Sitzanteil sozialdemokratischer Parteien in der Regierung und damit deren Einfluss, desto höher ist die Lohnersatzrate. Ein signifikanter positiver Regressions-Koeffizient spricht dafür, dass vor 1980 in der Tat Arbeitslose unter links dominierten Regierungen eine umfassendere finanzielle Sicherung durchsetzen konnten. In der zweiten Phase nach 1980 wird die politische Macht linker Parteien jedoch irrelevant. Allerdings trifft das nicht für konservative Parteien in der Regierung zu: Je größer deren Regierungseinfluss ist, desto mehr sinkt die Lohnersatzrate für Arbeitslose. Das gilt sowohl in der ersten als auch in der zweiten Phase. 10 Da Variablen, die die Einbindung in globale Märkte messen und in die Analyse einbringen, insignifikant bleiben, ist der vermeintliche Druck international geöffneter Märkte für die Leistungen Arbeitsloser nicht ausschlaggeben (siehe Kap. 9). Sonst ist lediglich die Variable Korporatismus einflussreich. D. h. die Macht von Organisationen steigert die Lohnersatzrate. Also bestimmen politische Kräfte im Sinne der Machtressourcentheorie 8 Man kann ebenso die Länderunterschiede der sozialstaatlichen Leistungen im Querschnitt erklären. 9 Der Begriff Vetopunkte meint, dass mehrere politische Akteure Einspruch gegen politische Entscheidungen erheben können. Je mehr Organe Einspruchsmöglichkeiten haben, desto schwerer hat es die Regiereng etwa Kürzungen durchzusetzen. Vetomacht ist durch eine föderale Struktur gegeben, also durch die Mitsprache des Bundesrates bei der Gesetzgebung, aber ebenso durch Interessenorganisationen wie Gewerkschaften oder Arbeitgeberverbände. 10 Auch eine Studie von Korpi und Palme (2003) selbst mit den Social Citizenship Rights Indicators (SCIP) ergab: Je kleiner die Regierungsbeteiligung Linker, desto eher werden Leistungen für Arbeitslose gekürzt. <?page no="34"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Dallinger__Sozialpolitik____[Druck-PDF]/ 04.02.2016/ Seite 34 www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Dallinger__Sozialpolitik____[Druck-PDF]/ 04.02.2016/ Seite 35 2.2 Der Machtressourcen-Ansatz: Macht der Arbeiter-- oder-von-wem sonst? 35 Tab. 2.1: Machtressourcen-- was bestimmt die Leistungshöhe bei Arbeitslosigkeit? Unabhängige Var. Modell linke Regierung Modell rechte Regierung vor 1980 nach 1980 vor 1980 nach 1980 Lohnersatzrate t-1 -.17** (.04) -.17** (.04) -.23** (.04) Rechte Regierung - - .19 (.84) -1.51** (.53) Linke Regierung 2.95** (.83) .84 (.64) - - Offenheit Handel -.77 (4.74) -5.23 + (2.77) .74 (4.9) -4.6 + (2.7) Öffnung Finanzmarkt -.32 (.25) .02 (.19) -.41 (.26) -.11 (.19) Veto-Punkte .74 (.73) .12 (.66) .47 (.71) -.09 (.63) Korporatismus 1.98 (1.29) 3.63** (1.05) 2.53* (1.26) 3.60* (1.10) Arbeitslosenquote -.27 (.23) .03 (.12) -.26 (.23) .04 (.12) Wirtschaftswachstum .09 (.11) -.03 (.10) -.06 (.11) -.02 (.10) Defizite -.16 t (.09) .08 -.10 (.09) R-squared .21 .20 N 450 450 Quelle: Allan/ Scruggs 2004: 506. Anmerkungen: Regression mit gepoolten Daten und Standardfehlerberechnung, die die Panelstruktur der Daten berücksichtigen. Gezeigt werden Regressionskoeffizienten. Country fixed-effects (ohne Konstante. Ergebnisse der Länder- Dummy-Variablen nicht aufgelistet). + p <.10, *p <-.05, **p <-.01 (zweiseitig). Die Variable Lohnersatzrate t-1 bedeutet: der zeitlich vor der zu erklärenden Größe liegende Wert für die-Generosität der Lohnersatzleistungen ist ebenfalls berücksichtigt als Determinante der-Leistungsentwicklung. <?page no="35"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Dallinger__Sozialpolitik____[Druck-PDF]/ 04.02.2016/ Seite 36 36 2. Theorien des Sozialstaats jedenfalls teilweise nach wie vor, wie weit soziale Sicherung reicht. Durch den pragmatischen Ansatz wird die Reichweite politischer Macht zeitlich eingegrenzt und es lassen sich neben diesem Erklärungsansatz ebenfalls andere Ursachen prüfen. Der Machtressourcen-Ansatz wurde zum Regime-Ansatz ausgebaut, der dann jahrelang die Sozialpolitikforschung prägte. Die drei Idealtypen des Wohlfahrtskapitalismus, die sich unter dem Einfluss der dominierenden politischen Parteien ausbilden, legt Kapitel 2.3 dar. Da der Regime-Ansatz wichtige Grundlagen des britischen Soziologen T. H. Marshall (1950) einbezieht und dessen Konzept Sozialer Bürgerrechte zu den Klassikern der Sozialpolitikforschung gehört, wird der Begriff der social citizenship rights zuvor in einem Exkurs gewürdigt. 2.2.1 Exkurs: Soziale Bürgerrechte Thomas H. Marshall und sein Konzept der Citizenship rights (1992; Original 1950) hatte mit politischen Machtressourcen spezifischer sozialer Gruppen oder Parteien noch nichts im Sinn. Das Konzept ähnelt vielmehr der Modernisierungstheorie, wenn Marshall nachzeichnet, dass sich aus der naturrechtlichen Gleichheitsidee historisch allmählich drei Formen der Staatsbürgerrechte entwickeln: Ausgehend von zunächst nur bürgerlichen Rechten entstehen später auch politische und schließlich soziale Citizenship rights. In langen Prozessen wurde die »grundlegende menschliche Gleichheit der Mitgliedschaft mit neuen Inhalten angereichert und mit einer stattlichen Anzahl von Rechten ausgestattet.« (Marshall 1992: 39) Es zeige sich der »Drang, auf vorgezeichneten Pfaden vorwärtszukommen«, ein »allmählicher Fortschritt, bis zuletzt jeder ein Gentleman ist.« (ders. 50). Jeder soll, so Marshall, »wie ein Gentleman« leben können oder-- moderner ausgedrückt-- teilhaben an der Wohlstandsentwicklung. Zunächst setzten sich im 18.-Jahrhundert der Anspruch auf Gleichbehandlung vor dem Gesetz und das Eigentumsrecht durch. Die Rechtsprechung sollte nicht mehr willkürlich, sondern nach bestimmten Standards geschehen. Das Bürgertum und kleiner Adel schützten sich so gegenüber einem übermächtigen höheren Adel. Auch das Eigentumsrecht schützte vor willkürlichem Zugriff der Krone gegenüber dem Besitzbürgertum. Auf einer nächsten Stufe kam im 19.- Jahrhundert das Bürgerrecht der politischen Gleichheit in Form des passiven und aktiven Wahlrechts dazu. Zunächst war es nur auf bestimmte Gruppen im Bürgertum eingeschränkt, wurde aber allmählich auf breitere Kreise der Bevölkerung ausgedehnt. Dann breitete sich im 20.-Jahrhundert der Gedanke aus, dass die Gleichheit der Staatsbürgerschaft auch auf soziale Anrechte, auf materiale Teilhabe und auf die Angleichung der Lebensverhältnisse auszudehnen sei. Marshall bietet außerdem eine kluge Analyse der neuartigen Ungleichheitsverhältnisse. Er skizziert, dass das Wachstum der Idee menschlicher Gleichheit in Form des Staatsbürgerstatus »fällt offensichtlich [….] mit dem Aufstieg des Kapitalismus <?page no="36"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Dallinger__Sozialpolitik____[Druck-PDF]/ 04.02.2016/ Seite 36 www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Dallinger__Sozialpolitik____[Druck-PDF]/ 04.02.2016/ Seite 37 2.3 Der Regime-Ansatz: De-Kommodifizierung und Stratifizierung 37 zusammen, der kein System ist, das auf Gleichheit, sondern auf Ungleichheit basiert.« (Marshall 1992: 53) »Mit anderen Worten: die Ungleichheit eines Systems sozialer Ungleichheit kann unter der Voraussetzung akzeptiert werden, dass die Gleichheit des Staatsbürgerstatus anerkannt ist.« (ders.: 38) Hier sind bereits die zwei Arenen der Ressourcenverteilung skizziert, die auch die Sozialforschung heute noch trennt: Kapitalistische Märkte einerseits, Staatsbürgerschaft und soziale Rechte andererseits (Rieger 1992). Soziale Staatsbürgerrechte bieten somit einen alternativen Status jenseits des Klassen- und des Arbeitsmarktstatus. Sie lockern die Beziehung zwischen dem individuellen Erwerbsstatus und den Lebenschancen. Diesen, den Citizenship Rights inhärenten Gedanken entwickelten Korpi und Esping-Andersen (1990) weiter zum Begriff der De-Kommodifizierung. Demnach ist der Wohlfahrtsstaat ein Instrument, das die Abhängigkeit der Beschäftigten vom Erwerbseinkommen verringert. De-Kommodifizierung wurde zu einem Grundbegriff der vergleichenden Sozialpolitikanalyse, auf dem auch die Unterscheidung zwischen sozialpolitischen Regimen basiert. 2.3 Der Regime-Ansatz: De-Kommodifizierung und Stratifizierung Soziale Bürgerrechte variieren von Land zu Land. Diese Variation ist nicht zufällig, sondern ist bestimmt durch die unterschiedliche »institutionelle Logik« des Wohlfahrtsstaats in den jeweiligen Ländern. Diese Logik wird geprägt vom Grad der De- Kommodifizierung, der Stratifizierung und der Aufgabenteilung zwischen Familie, Staat und Markt. Der Grundbegriff De-Kommodifizierung leitet sich aus »commodity«, Ware, ab. Soziale Sicherungssysteme mildern den Warencharakter von Arbeit. Arbeitskräfte müssen nicht zu jeder Bedingung eine Erwerbsarbeit annehmen, sondern aufgrund des alternativen Einkommens (social wage) wird die individuelle Verhandlungsmacht Beschäftigungssuchender gestärkt. Längere Suchphasen steigern die Chance, einen der Qualifikation und Erfahrung gemäßen Job zu finden. Der Zwang zu räumlicher Mobilität dorthin, wo Arbeit angeboten wird, ist gebremst. Auch die kollektive Verhandlungsmacht wird durch Sozialleistungen gestärkt, da eine geringer als die Sozialleistung entlohnte Arbeit von den Arbeitssuchenden in der Regel nicht akzeptiert wird. Somit wirken Sozialleistungen wie eine Lohnuntergrenze, die Arbeitgeber nicht unterschreiten können (der sog. Reservationslohn; Kap. 4 zu Arbeitsmarktpolitik geht genauer auf positive und negative Effekte unterschiedlicher Lohnersatzleistungen ein). Weiter unterscheiden sich Länder nach dem Grad der Stratifizierung. Dieser Begriff zielt darauf, dass die wohlfahrtsstaatlichen Programme Konsequenzen für die Strukturen sozialer Ungleichheit haben (Scruggs 2008). Dies bedeutet nicht, dass Stratifizierung die Gerechtigkeit oder Gleichheit in einer Gesellschaft fördere, sondern meint generell die Einflussnahme des Sozialstaats auf die Wohlfahrtsposition <?page no="37"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Dallinger__Sozialpolitik____[Druck-PDF]/ 04.02.2016/ Seite 38 38 2. Theorien des Sozialstaats bestimmter Gruppen der Bevölkerung. In manchen Ländern sind es Ältere, in anderen die Lohnabhängigen, auf die Sicherungssysteme primär zielen; andere Regime sorgen für Ersatz informeller familialer Arbeit der Frau und egalisieren so die Chancen zwischen den Geschlechtern, sich an Erwerbsarbeit zu beteiligen. Der Begriff der Stratifizierung ist wertfrei und erkennt auch die Einseitigkeit sozialstaatlicher Einflussnahme: Manche Länder verhindern Altersarmut recht erfolgreich, aber nicht die Armut Alleinerziehender. Bei der Aufgabenteilung zwischen Familie, Markt und Staat geht es um die diversen Akteure, die mit unterschiedlichen Anteilen zur Wohlfahrt des Einzelnen beitragen. Der Gedanke eines »Wohlfahrtsmixes« wurde besonders in Bezug auf die informelle Altenpflege und Kinderbetreuung, die Frauen in der Familie leisten, betont (Evers/ Olk 1996). Diese »typisch weiblichen Tätigkeiten« hatte das Konzept der De-Kommodifizierung ausgeblendet. Dass die spezifische Form des Sozialstaats auch durch die typische Art und Weise der Organisation von Care 11 geprägt wird, zeigt die feministische Sozialstaatsforschung. Care, oft übersetzt als Fürsorgearbeit, wurde bisher als informelle Arbeit von Frauen erbracht, ihre Kommodifizierung ist erst im Gang: Daher heißt es »Care goes public« (Ungerson 1997): Pflege- und Versorgung von Kindern, Kranken und Älteren in der Familie wird zunehmend an öffentliche Dienstleistungen oder an privatwirtschaftliche Akteure (private Kindergärten oder Altenpflege) delegiert, was auch die für Regime charakteristische Aufgabenteilung verändert (Kap. 6 zu Pflegepolitik geht darauf genauer ein). Anhand der drei Dimensionen lassen sich liberale, konservative und sozialdemokratische »Welten des Wohlfahrtskapitalismus« unterscheiden. Die Namensgebung verweist darauf, welche politische Kraft jeweils das Regime prägte. Denn politische Lager setzten zusammen mit ihrem Einfluss auf die Regierung auch ihre Ideen in Hinblick darauf durch, wie Sozialstaatlichkeit- - also Altenpflege, Absicherung bei Arbeitslosigkeit und Krankheit etc.- - zu gestalten sei. Die Art und Weise der Gestaltung des Sozialstaats, wie DeKommodifizierung konkret aussieht, ist letztlich ein politisches Produkt. Hier kommt politics against markets aus dem oben skizzierten Machtressourcenansatz wieder ins Spiel. Nur ist es nicht lediglich linke bzw. sozialdemokratische Macht, sondern: »The history of political class coalitions (is) the most decisive cause of welfare state variations (Esping Andersen 1990: 1).« Das bedeutet erstens, dass linke Macht Koalitionen zu schließen hatte mit den mittleren Schichten, und zweitens, dass auch andere Koalitionen möglich sind. So entstanden unterschiedliche Regime, die bestimmten cleavages-- soziale Großgruppen mit politischer Interessenorganisation-- zuzuschreiben sind. 11 Der englische Begriff care ist so eingespielt in Debatten um wohlfahrtsstaatliche Typen, dass ich ihn einfach übernehme. Eine Übersetzung mit »Pflege« wäre unzureichend, da Care mehr transportiert. <?page no="38"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Dallinger__Sozialpolitik____[Druck-PDF]/ 04.02.2016/ Seite 38 www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Dallinger__Sozialpolitik____[Druck-PDF]/ 04.02.2016/ Seite 39 2.3 Der Regime-Ansatz: De-Kommodifizierung und Stratifizierung 39 Wohlfahrtsstaatliche Regime-- Worlds of welfare capitalism • Liberale Regime verfügen über flexible Arbeitsmärkte, die Bürgern primär Marktchancen bieten. Sozialpolitik ist als bedarfsgeprüfte Mindestsicherung für die Bedürftigsten gestaltet. Die Arbeitsmarktbeteiligung wird gefordert. Familienersetzende Dienstleistungen sind privat organisiert. Es entwickeln sich hohe Einkommensdisparitäten. • Konservative Regime konzentrieren sich auf die soziale Sicherung Erwerbstätiger gegen die Standardrisiken Alter, Krankheit, Arbeitslosigkeit und auf die Sicherung des im Erwerbsleben erworbenen Status. Sie werden als erwerbszentriert bezeichnet, da ein Großteil der Leistungen als Sozialversicherung organisiert ist, die auf Beitragszahlungen abhängig Erwerbstätiger basieren. Lohnarbeitszentrierte Sozialpolitik stabilisiert die bereits im Erwerbsleben angelegte Ungleichheit und betont Leistungsgerechtigkeit. In konservativen Regimen werden Konflikte zwischen den Arbeitsmarktparteien (Interessenorganisationen der Arbeitgeber und der Arbeitnehmer) verhandelt und für beide Parteien konsensfähige Lösungen angestrebt. Daher wird auch vom korporatistischen Regime gesprochen. Sie sind in der katholischen Soziallehre verankert, was lange für den zögerlichen Ausbau der Leistungen für Pflegebedürftige und Kinderbetreuung sorgte. • In sozialdemokratischen Regimen ist die soziale Sicherung weniger stark an der Erwerbstätigkeit ausgerichtet und enthält mehr Elemente einer universellen Grundsicherung, die qua Bürgerstatus erworben ist. Daher sind Leistungen stärker steuerfinanziert und nicht durch Sozialbeiträge, die sich am Erwerbseinkommen bemessen. Der Staat übernimmt in hohem Umfang die einst familialen Sorgearbeiten als Dienstleistungen und schafft zugleich regulär bezahlte Frauenarbeitsplätze im öffentlichen Sektor. Dies vermeidet »odd jobs« in den einfachen haushaltsnahen Dienstleistungsberufen. Ein oft separat behandelter Bestandteil der Regime ist die Regulierung der Arbeit und die industriellen Beziehungen. Hier findet man ebenso Formen der regimespezifischen sozialen Einbettung des Arbeitsmarktes und der Privatwirtschaft, auch wenn es sich nicht unbedingt um Felder staatlicher Politik handelt (Beramendi/ Andersen 2008). Der Grad der Zentralisierung der Lohnverhandlungen oder der Anteil der Beschäftigten, die in Gewerkschaften organisiert sind, haben sich als wichtige Einflussfaktoren der Lohnungleichheit erwiesen. Zudem verlaufen die Regulierung der Arbeit und die sozialstaatliche Einbettung im engeren Sinne parallel: Länder mit umfassend regulierter Arbeit verfügen meist auch über eine stärker ausgebaute Soziale Sicherung. Die Unterschiede zwischen den Regimen lassen sich in vielfältiger Weise belegen. Man betrachtet dazu die politischen Instrumente wie die Lohnersatzrate oder den Anteil der bedarfsgeprüfter Leistungen an den gesamten Sozialausgaben oder die von Sozialpolitik erzielten Ergebnisse wie die Armutsrate. Es wurden auch spezifische Indizes zur Qualität sozialer Rechte entwickelt. Diese Indikatoren gehen auf Esping Andersen zurück (1990), der versuchte, Citizenship <?page no="39"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Dallinger__Sozialpolitik____[Druck-PDF]/ 04.02.2016/ Seite 40 40 2. Theorien des Sozialstaats rights und deren de-kommodifizierenden Effekt zu erfassen. Denn die Höhe der Sozialausgaben sei lediglich »epiphenomenal to the theoretical substance of the welfare states« (Esping-Andersen 1990: 19) und daher ein Instrument, das wenig von der inneren Logik und Funktionsweise verschiedener Regime wiedergibt. Diese spezifische Logik der Regime beobachtete er stattdessen mit Indikatoren zur Qualität der Absicherung (generosity). In sie geht ein, ob und wie lange Vorleistungen nötig sind, um zum Bezug von Sozialleistungen berechtigt zu sein, wie hoch die Lohnersatzrate der einzelnen Leistungen ausfällt, oder wie lange die Absicherung gewährt wird. Esping-Andersens Daten decken die 1980er-Jahre ab. Solche Maßzahlen, die mehrere Eigenschaften einzelner sozialer Programme anhand des Sozialrechts im jeweiligen Land zu einem gebündelten Wert summieren, wurden aktualisiert. Sie finden breite Anwendung, um die Qualität sozialer Absicherung-- oder anders gesagt-- den unterschiedlichen Grad an De-Kommodifizierung in verschiedenen Feldern zu beobachten. Oft verwenden Forscher lediglich einzelne Bestandteile des Summenindex, etwa die Lohnersatzrate. Hier sollen das Social Citizenship Right Indicator-Project (SCIP, später umbenannt in SPIN) und der Comparative Welfare Entitlement Dataset (CWEDII) vorgestellt werden. Beide ermitteln Indikatoren zur Qualität der sozialen Sicherung angelehnt an Esping-Andersen sowohl für einzelne Politikfelder wie Alterssicherung, Arbeitslosigkeit oder Krankheit als auch einen diese Felder bündelnden Index. 12 Abbildung 2.2 zeigt den Generosity-Index, der analog zum De-Kommodifizierungs-Index von Esping- Andersen konstruiert ist. Er beansprucht, besser als die Sozialausgaben Auskunft über die Absicherungsleistung der verschiedenen Sozialstaatstypen zu geben. 13 Da Informationen zu verschiedenen Aspekten einfließen, kann man die Index-Werte lediglich nach ihrer Größe interpretieren, also als eine mehr oder weniger umfassende soziale Absicherung. Die erwarteten Unterschiede im Grad der De-Kommodifizierung zwischen Regimen werden teilweise sichtbar. Die dem liberalen Regime angehörenden Länder (in Abb. 2.2 Vereinigte Staaten, Großbritannien) weisen die geringsten Werte bei der Generosität auf, konservativ-korporatistische Länder (Deutschland, Frankreich, Österreich, Belgien) liegen im mittleren Bereich und sozialdemokratische Länder (Norwegen, Schweden) an der Spitze. Im Spitzenreiterland Schweden fand ab den 1990er-Jahren eine deutliche Kürzung sozialer Rechte statt. In den anderen sozialdemokratischen und konservativen Ländern erkennt man den Zuwachs an Generosität lediglich in den 1970er-Jahren, ab den 1980er-Jahren findet man Konstanz oder aber Rückbau, auch in Deutschland. Dies deckt sich gut mit den in Abschnitt 2.2 bereits erläuterten Phasen der wohlfahrtsstaatlichen Entwicklung. 12 Links zu den Datensätzen: SPIN (Social Policy Indicators) siehe www.sofi.su.se/ spin/ ; CWED siehe http: / / cwed2.org/ 13 Genaues zum Verfahren siehe Allan/ Scruggs 2004. <?page no="40"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Dallinger__Sozialpolitik____[Druck-PDF]/ 04.02.2016/ Seite 40 www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Dallinger__Sozialpolitik____[Druck-PDF]/ 04.02.2016/ Seite 41 2.3 Der Regime-Ansatz: De-Kommodifizierung und Stratifizierung 41 Man mag den summarischen Charakter der Zahlen nachteilig finden, da es in einzelnen Politikfeldern unterschiedliche Entwicklungen geben dürfte. Auch dass die Zahlenwerte keine konkrete inhaltliche Aussage zulassen, ist ungünstig. Andere, spezifischere Maßzahlen für eher praxisbezogene Analysen werden in den Folgekapiteln noch vorgestellt. Dieses Theoriekapitel will lediglich zeigen, wie Erklärungsansätze empirisch greifbar gemacht werden. Abschließend einige kritische Anmerkungen zur Theorie der Wohlfahrtsregime insgesamt: Die Sicht des Regimeansatzes, dass der Sozialstaat die »ungezügelten« Märkte korrigiere und diesen gegenüber den Willen und die sozialen Bedürfnisse der Bürger zur Geltung bringe, ist im Kontext der Kritik an zunehmenden Disparitäten bei der Verteilung der Marktergebnisse attraktiv und wurde daher oft aufgegriffen. Dieser soziale Ausgleich der v. a. durch Arbeitsmärkte und Löhne entstehenden ungleichen Verteilung von Einkommen durch sozialpolitische Institutionen funktioniert mehr oder minder. Der Zugang zu Behandlung bei Krankheit, Altersrenten, Bildung etc. wird in der Tendenz unabhängiger vom eigenen Einkommen der Haushalte. Sozialstaatliche Institutionen bedeuten somit in der Tat eine Einbettung der Märkte (Beckert 2007). Je nach Regime und nach den Rückbaumaßnahmen der vergangenen Dekaden kann aber die De-Kommodifizierung auch mager ausfallen, wie in Ländern des liberalen Regimes. Die folgenden Kapitel zu einzelnen Politikbereichen greifen auf, inwiefern Reformen verstärkt wieder an den Markt und seine Risiken zurück verweisen. Auch die Ausgangsidee der De-Kommodifizierung bzw. Entkoppelung zwischen Abb. 2.2: Soziale Rechte nach dem Generosity-Index, 1975-2010 Quelle: Eigene Darstellung nach Daten aus CWEDII. Abruf 10.11.2014. 15 20 25 30 35 40 45 1971 1975 1980 1985 1990 1995 2000 2005 2010 DE FR AT SE NO BE USA GB <?page no="41"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Dallinger__Sozialpolitik____[Druck-PDF]/ 04.02.2016/ Seite 42 42 2. Theorien des Sozialstaats Klassen- und Bürgerstatus ist recht optimistisch. Die sozialen Staatsbürgerrechte brechen nicht in jedem Politikfeld mit dem Status auf dem Arbeitsmarkt. Bei Leistungsanrechten, die nicht vom (früheren) Erwerbseinkommen abhängig sind wie Behandlung bei Krankheit oder die Leistungen der Pflegeversicherung ist das zwar der Fall, nicht bei der Höhe der Rente oder des Arbeitslosengeldes. Hier wiederholt sich die Stellung am Arbeitsmarkt im Umfang der sozialen Absicherung. 14 Als letzter Kritikpunkt ist zu nennen, dass sozialpolitische Reformen eindeutige Regimezuordnungen schwierig machen. In sozialdemokratischen Ländern etwa, die als universelle Regime mit einer guten Grundsicherung für »alle« gelten, dominieren inzwischen einkommensbezogene Sozialversicherungen so stark, dass die ursprüngliche Charakterisierung fraglich ist. 2.4 Sozialpolitik und Wirtschaft: Varieties of Capitalism »Politics against markets« fand einen Gegenspieler im Modell der »welfare states with markets«. Hier werden die sozialstaatlichen Programme als komplementäre Institutionen betrachtet, die mit den wirtschaftlichen und politischen Institutionen eines Landes zusammen das jeweilige »welfare production Regime« ausmachen. Aus der Sicht dieses »varieties of capitalism«-Ansatzes (VoC) entwickeln sich soziale, ökonomische und politische Institutionen in wechselseitiger Abhängigkeit und sorgen gerade deshalb für eine erhöhte Effizienz der gesamten politischen Ökonomie (Hall/ Soskice 2001). Die Regulation des Kapitalismus entspricht hier einer win-win-Konstellation, die vorteilhaft für alle ist, und gleicht keinem Verteilungskonflikt wie im Machtressourcenansatz. Nur wegen der wechselseitig positiven Effekte sei überhaupt plausibel, dass Unternehmen in Länder investieren, die über eigentlich »belastende« soziale Sicherungssysteme mit de-kommodifizierender Wirkung verfügen. Die Kooperation zwischen »Kapital« und »Arbeit« fördere gerade die Leistungsfähigkeit der kapitalistischen Wirtschaft. Dieses gegenseitige Steigerungsverhältnis dokumentiere sich in der Tatsache, dass Länder neben hohen Sozialausgaben auch eine hohe Investitionsrate und ein hohes Bruttoinlandsprodukt aufweisen. Politische Macht wirke nicht gegen den Kapitalismus, sondern beide koexistierten (Iversen/ Soskice 2009). Umverteilung und soziale Sicherung sind der Preis, den Unternehmen zugunsten einer hochproduktiven, funktionierenden Wirtschaft zu zahlen bereit sind, die Planungssicherheit und qualifizierte Arbeitskräfte mit langfristiger Betriebsbindung bietet. Industrialisierung und Demo- 14 Die doppelten Standards bei der sozialen Sicherheit je nach Art des Arbeitsplatzes wurden im Zuge der in den letzten Jahren sichtbaren De-Standardisierung der Arbeit wieder aktuell. Die Dualisierungsthese stützt sich darauf (siehe Kap. zu Arbeitsmarktpolitik, Abschnitt 4.3). <?page no="42"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Dallinger__Sozialpolitik____[Druck-PDF]/ 04.02.2016/ Seite 42 www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Dallinger__Sozialpolitik____[Druck-PDF]/ 04.02.2016/ Seite 43 2.4 Sozialpolitik und Wirtschaft: Varieties of Capitalism 43 kratisierung sind Teile einer institutionellen Koevolution, in der sich die Rahmenbedingungen der modernen Wirtschaft ausbildeten. Soziale Programme verbesserten die Funktionsfähigkeit von Märkten und sorgen für Wettbewerbsvorteile gerade in offenen, globalisierten Ländern (»comparative advantage«). Diese Koevolution habe in der Nachkriegszeit zu unterschiedlichen Kapitalismusvarianten (welfare production regimes) geführt (Iversen 2005): Den koordinierten (CME, coordinated market economies) und den liberalen Marktökonomien (LME, liberal market economies). Zu den Ersten zählen Länder mit gehobenem Lohnniveau und Konzentration auf technologisch anspruchsvolle Produkte. Arbeits- und Sozialschutz für qualifizierte Arbeitnehmer sind gut ausgebaut. Denn Ökonomien, die auf technisch komplexen, wissensbasierten Produkten beruhen, benötigen die Bereitschaft der Facharbeiter, in spezifische Ausbildungen und Fertigkeiten zu investieren. Berufsspezifische Ausbildung ist riskant, da sie den Wechsel in andere Firmen erschwert. Erwerbstätige investieren aber dennoch in Fachausbildung, wenn technologie-, sektoren- oder firmenspezifische Fähigkeiten belohnt werden und bei krisenhafter Umstrukturierung der Wirtschaft, in der Arbeitslosigkeit droht, das »asset« der Ausbildung dennoch gesichert wird. Die Arbeitnehmer haben ein Interesse an einem Sicherungsniveau für Arbeitslose, das nicht zum Wechsel auf Stellen mit geringerer Qualifikation zwingt und eine gewisse Sucharbeitslosigkeit nach einer Stelle mit adäquater Qualifikation und Bezahlung erlaubt. Die Interessen der Arbeitgeber gehen in die gleiche Richtung, da sie qualifizierte Fachkräfte benötigen. Liberale Marktwirtschaften verfügen über eine auf Massengüter ausgerichtete Wirtschaft, die auf flexible Arbeitskräfte abzielt, die portable Basisqualifikationen haben und »training on the job« erhalten. Anders als bei Fachkräften ist das Interesse an sozialer Sicherung geringer, da wegen des wenig regulierten Arbeitsmarktes leichter erneut ein Job zu finden ist. »Politics with markets« erklärt auch, dass die Sozialausgaben trotz wachsender Globalisierung steigen. Denn sektorale Umschichtungen zwischen dem schrumpfenden industriellen und einem expandierenden Dienstleistungssektor lässt Beschäftigte »mehr Staat« präferieren, nicht weniger. Ein Bedarf an sozialer Sicherheit hätten gerade jene, die Investitionen in »skills« verlieren können und den drohenden Einkommens- und Statusverlust beim Wechsel in einen tertiären Job fürchten (Iversen/ Soskice 2001). Der Ausbau des Sozialstaats ist die Antwort auf den volatilen Arbeitsmarkt, gerade in CME-Ländern (Iversen 2005: 14). Die positive Rolle der Unternehmen für die Genese sozialer Sicherungssysteme ist allerdings strittig (Korpi 2006). Wirkliche Protagonisten sozialer Sicherheit seien nicht Unternehmen, sondern stets die organisierten Arbeiterinteressen gewesen. Firmen hätten sich in ihr Schicksal gefügt und versucht, aus Unternehmersicht dennoch günstige Lösungen zu fördern. Zudem waren sie eher dann Antagonisten, wenn es darum ging, den Ausbau der Sozialgesetzgebung zu verhindern. Grundsätzlich muss man aber den Versuch des VoC-Ansatzes, die Formen des Sozialstaats allein vom Sicherheitsbedarf <?page no="43"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Dallinger__Sozialpolitik____[Druck-PDF]/ 04.02.2016/ Seite 44 44 2. Theorien des Sozialstaats der qualifizierten Beschäftigten abzuleiten, als eine eher enge Konzeption bezeichnen. Das folgende Zitat führt diese Kritik aus: »The PRA 15 and VoC approaches differ instead in their conceptions of risk and risk pools. Whereas VoC focuses on risks associated with investments in skills, the PRA, as discussed above, takes account of a much broader spectrum of life-course risks, some of which are associated with investments in skills. The class concept is used to call attention to interactions in patterns of risk and resource distributions among socioeconomic categories of citizens.« (Korpi 2006: 178 f.) Wie hier ein Vertreter des Machtressourcenansatzes- - Walter Korpi- - anmerkt, beschäftigt sich Sozialpolitik mit sozialen Risiken, die entlang des gesamten Lebenslaufes auftreten; beschäftigungsbezogene Risiken sind nur ein Teil davon. Zudem gelte es nach wie vor zu sehen, wie Risiken mit der sozialen Lage verbunden sind. 15 PRA =-power ressources approach. <?page no="44"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Dallinger__Sozialpolitik____[Druck-PDF]/ 04.02.2016/ Seite 44 www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Dallinger__Sozialpolitik____[Druck-PDF]/ 04.02.2016/ Seite 45 45 3. Einkommensverteilung, Armut und Sozialstaat Schere zwischen Arm und Reich klafft weiter auseinander Von Günther Voss, dpa, 18.09.2012 Alle vier Jahre legt die Bundesregierung einen Armuts- und Reichtumsbericht vor. Fazit des aktuellen Entwurfs: Die Spaltung der Gesellschaft hat sich vertieft. Berlin (dpa)-- Fast 500 Seiten ist der neue Bericht über die »Lebenslagen in-Deutschland« stark. Vorgelegt hat ihn das Bundesarbeitsministerium. Es ist die vierte Studie, und sie birgt reichlich sozialpolitischen Sprengstoff. Fragen und Antworten zum brisanten Thema von Arm und Reich: Ist Deutschland ein Land der Armen? Nein. Der Reichtum ist nur sehr unterschiedlich verteilt. Dem Bericht zufolge vereinen die vermögensstärksten zehn Prozent der Haushalte 53 Prozent (Stand: 2008) des gesamten Nettovermögens auf sich. Diese Quote lag 1998 noch bei 45 Prozent. Die untere Hälfte der Haushalte besaß zuletzt lediglich gut ein Prozent des Nettovermögens. […] Wer gilt als arm? Die »Armutsgefährdungsschwelle« liegt nach letzten verfügbaren Zahlen des Statistischen Bundesamtes für 2009 bei 940 Euro im Monat. Wer darunter liegt, ist armutsgefährdet. Je nach Datengrundlage gilt dies für 14 bis 16-Prozent der Bevölkerung. Hauptgrund für Armut ist Arbeitslosigkeit. […] Die in den letzten Dekaden in den meisten OECD-Ländern zunehmend ungleiche Verteilung der Einkommen erhielt großes öffentliches Interesse. Die bei den unteren Einkommensschichten stagnierenden Löhne ebenso wie davon galoppierende Managergehälter oder Boni von Bankern werden kritisiert. Die Presse berichtet, immer mehr Menschen fühlten sich von der Wohlstandsentwicklung abgehängt oder empfänden die Verteilung als ungerecht. Fragen der Einkommensverteilung sind zentral für eine Gesellschaft, da sich hier entscheidet, welchen Platz Menschen oder Haushalte im sozialen Gefüge einnehmen und welchen Zugang sie zu wichtigen, knappen finanziellen Ressourcen haben. Liegen diese Ressourcen unter einer gewissen Schwelle, spricht man von Armut. Das Einkommen ist besonders wichtig, da es andere begehrte Güter verfügbar macht (begehrte Wohnlage, hochwertigere Konsumgüter, Nachhilfeunterricht, etc.). Daher ist die Einkommensverteilung ein Indikator für die soziale Stratifizierung in einem Land. Eng mit der Einkommensverteilung und ihrer Beurteilung als »zu« ungleich oder ungerecht ist das sozialstaatliche Handeln verbunden. Denn es zielt- - neben sozialer <?page no="45"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Dallinger__Sozialpolitik____[Druck-PDF]/ 04.02.2016/ Seite 46 46 3. Einkommensverteilung, Armut und Sozialstaat Sicherheit im individuellen Lebenslauf-- auf die Angleichung der Lebensverhältnisse der verschiedenen sozialen Gruppen. Der Sozialstaat verteilt also um. Umverteilung ist ein Sammelbegriff für die Effekte der Steuerpolitik und aller sozialpolitischen Programme, beispielsweise der Transferzahlungen der Sozialversicherungen (z. B. Rente, Arbeitslosengeld), der Mindestsicherung sowie familienpolitischer Transfers (Kindergeld) auf die Einkommensverteilung. Egalisierend wirkt aber ebenfalls der einkommensunabhängige Zugang zu Bildung oder zu öffentlichen Dienstleistungen wie Kindertagesstätten. »Neusten Daten zufolge verringerte das deutsche Steuer- und Transfersystem die Ungleichheit innerhalb der Bevölkerung im Erwerbsalter um fast 30 %.« Dieser im OECD Wirtschaftsbericht für Deutschland (2014: 96) berichtete egalisierende Einfluss sozialstaatlicher Programme auf die primäre Verteilung gilt prinzipiell auch für andere Länder. Wie genau der Umfang an Einkommensumverteilung im internationalen Vergleich variiert und wie sich diese im Laufe der Zeit veränderte, stellt Kapitel 3.1 präziser dar. Die Feststellung, dass der Sozialstaat den während der letzten Dekaden größer gewordenen Einkommensabstand zwischen Oben und Unten verminderte, sagt noch nicht, ob sozialstaatliche Umverteilung ausreichend oder gerecht ist. Ebenso wenig wird mit ihr der Rückbau mancher sozialer Programme ignoriert. Dennoch: Der Sozialstaat macht aus einer durch den Erfolg Einzelner auf dem Arbeitsmarkt geprägten Einkommensverteilung eine, in der auch soziale Aspekte Eingang finden. Seine Maßnahmen gelten als politisch bestimmt, da Bürger den Umfang an sozial- und steuerpolitischen Interventionen »wählen« können. Wer was, wie viel und warum bekommt, sollten-- jedenfalls nach dem Ideal funktionierender Demokratie-- die Bürger bestimmen (Lasswell 1936; Lenski 1966). Sozialpolitik beeinflusst auch das Ausmaß von Armut und welche sozio-ökonomischen Gruppen davon besonders betroffen sind. In Kap. 3.2 werden zunächst diverse Formen der Armutsmessung vorgestellt. Anschließend wird dann besonders auf Kinderarmut eingegangen und erläutert, inwiefern die im Ländervergleich unterschiedlich hohe Kinderarmut einen familienpolitischen Hintergrund hat. Die Konzentration der Vermögen, die ebenfalls eine wichtige Facette der Wohlstandsverteilung ist, muss in einem Lehrbuch zu Sozialpolitik nicht behandelt werden. (Die Vermögensverteilung fällt allerdings weitaus ungleicher aus, als die Verteilung der Erwerbseinkommen der Haushalte.) 3.1 Einkommensverteilung und -umverteilung Analysen zur Einkommensverteilung unterscheiden zwischen der funktionalen Verteilung des gesamten Volkseinkommens auf die Faktoren Arbeit und Kapital und der personellen Einkommensverteilung. <?page no="46"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Dallinger__Sozialpolitik____[Druck-PDF]/ 04.02.2016/ Seite 46 www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Dallinger__Sozialpolitik____[Druck-PDF]/ 04.02.2016/ Seite 47 3.1 Einkommensverteilung und -umverteilung 47 3.1.1 Die funktionale Verteilung Bei der Betrachtung der funktionalen Verteilung geht es darum, wie das gesamte Einkommen einer Volkswirtschaft auf die Faktoren Kapital und Arbeit verteilt ist, bzw. wie das Verhältnis zwischen Einkommen aus Unternehmertätigkeit und Vermögen einerseits und aus abhängiger Erwerbsarbeit andererseits aussieht. Oder zugespitzter gesagt: Welcher Anteil des erzielten wirtschaftlichen Wohlstands steht den antagonistischen Lagern Kapital und Arbeit zu? Diese klassische verteilungspolitische Frage wird u. a. im Rahmen von Lohnverhandlungen diskutiert. Bei der Lohnfindung wird einerseits argumentiert, die Lohnhöhe müsse Beschäftigte an der Wohlstandsentwicklung teilhaben lassen, wachsende Anteile der Unternehmen werden entsprechend kritisiert. Andererseits gilt der an die Unternehmen fließende Anteil als unerlässlicher Anreiz für Firmen, überhaupt ein unternehmerisches Risiko auf sich zu nehmen. Die in der Regel verwendeten Maßzahlen für die Analyse der gesamtwirtschaftlichen Verteilungsentwicklung und des dahinter stehenden Verteilungskonflikts sind die Lohnquote und die Gewinnquote. Beide können als Brutto-Wert vor öffentlicher Umverteilung und als Netto-Wert nach Abzug von Steuern und Sozialabgaben berechnet werden. Die Brutto-Lohnquote gibt den Anteil der Bruttoeinkommen aus unselbständiger Arbeit einschließlich der Arbeitgeberbeiträge zu den Sozialversicherungen am Volkseinkommen an. Die Brutto-Gewinnquote zeigt den Anteil am gesamten Volkseinkommen, der mit unternehmerischer Tätigkeit und Vermögen erzielt wird. Eine strukturbereinigte Brutto-Lohnquote berücksichtigt zusätzlich, dass die Zahl abhängig Beschäftigter bzw. deren Anteil an allen ökonomisch Aktiven variiert. Sie hält die Beschäftigungsstruktur konstant und geht von einem konstanten Anteil abhängig Beschäftigter über die Zeit aus. Dadurch werden die Zahlen auch über einen längeren Zeitraum vergleichbar. Die strukturbereinigte Bruttolohnquote betrug 1970 67,3 %, stieg bis 1980 auf 71 % und sank 1990 in den alten Ländern auf 65 % (siehe Abb. 3.1). Jedoch lag sie für Gesamtdeutschland weiter bei 71 %. In den 1990er-Jahren bis 2003 bleibt sie bei 71-73 %, um ab dann auf Werte von etwa 64 % in den Jahren nach 2010 abzufallen (Schäfer 2012: Tab. 1). Die Brutto-Gewinnquote 16 bewegte sich spiegelbildlich dazu: 1970 lag sie bei 32,7 %, sank bis 1980 in den alten Bundesländern deutlich ab auf 24,8 %. Ab 1991 kam es zu einer allmählichen Aufwärtsentwicklung, die aber erst ab 2003 die 30 % Marke überschritt. Danach stiegen die Gewinnquoten rasch auf etwa 36 % und brachen erst im Krisenjahr 2009 auf 31,9 % ein. Inzwischen bewegt sich die Gewinnquote auf dem Niveau der 1970er-Jahre von 32-33 % des Volkseinkommens. Die Bruttolohnquote ist für die Sozialpolitik wichtig, da in Deutschland ein relativ hoher Anteil der Sozialleistungen über Beiträge zu Sozialversicherungen finan- 16 Wäre statt der bereinigten die unbereinigte Brutto-Lohnquote verwendet worden, ergäben die Werte für die Brutto-Lohnquote und Gewinnquote stets 100 %. <?page no="47"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Dallinger__Sozialpolitik____[Druck-PDF]/ 04.02.2016/ Seite 48 48 3. Einkommensverteilung, Armut und Sozialstaat ziert wird. Diese Beiträge beziehen sich auf die Löhne (lohnbezogene Sozialabgaben). Das bedeutet aber, dass bei einer sinkenden Bruttolohnquote auch die Basis zur Finanzierung der Sozialversicherungen und ihrer Leistungen schmaler wird. Eine geringere Lohnquote zieht daher Finanzierungsprobleme nach sich, die letztlich zu Leistungskürzungen führen oder mit steuerfinanzierten Zuschüssen aufgefangen werden müssen. 3.1.2 Personelle Einkommensverteilung und der Einfluss des Sozialstaats Bei der vieldiskutierten Zunahme der Ungleichheit geht es jedoch meist um die Ebene der personellen Einkommensverteilung zwischen Individuen oder Haushalten. Die zunehmenden Diskrepanzen zwischen den Einkommen haben eine ganze Reihe an verschiedenartigen Ursachen, die gleichzeitig wirken und sich überlagern. • Eine einflussreiche Erklärung verweist auf die wegen des technologischen Wandels schwache Nachfrage nach Geringqualifizierten, die die Löhne im unteren Lohnsektor sinken lässt, hingegen die Einkommensoptionen der Qualifizierten verbessert, da sie immer mehr benötigt werden (der sog. skilled biased technological change-Ansatz, SBCT). • Im Zuge des Übergangs zur Dienstleistungsgesellschaft bieten sich überwiegend Jobs im Dienstleistungssektor (Tertiarisierung). Es gibt aber große Unterschiede zwischen den einzelnen Tätigkeitsfeldern und deren Beschäftigten. Man beobach- Abb. 3.1: Bruttolohn- und Brutto-Gewinnquote in Deutschland 1970-2010 Quelle: Eigene Darstellung nach Daten aus Schäfer 2012, Tab. 1. 20 30 40 50 60 70 1970 1980 1990 2000 2010 Brutto-Lohnquote Brutto-Gewinnquote <?page no="48"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Dallinger__Sozialpolitik____[Druck-PDF]/ 04.02.2016/ Seite 48 www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Dallinger__Sozialpolitik____[Druck-PDF]/ 04.02.2016/ Seite 49 3.1 Einkommensverteilung und -umverteilung 49 tet zunehmende Diskrepanzen zwischen hochqualifizierten (Informatiker, Werbefachleute) und gut bezahlten oder aber geringqualifizierten und schlecht bezahlten Arbeitsplätzen (Polarisierung). • Ein weiterer Faktor ist die Globalisierung. Sie erleichtert die Auslagerung von Arbeitsplätzen in »Billiglohnländer«, was wiederum Arbeitsplatzverluste zur Folge hat, aber bereits als Drohung wirkt und die Macht der Arbeitnehmerseite bei kollektiven Lohnverhandlungen schwächt. • Ein Trend, der negativ auf die Löhne wirkt, ist die Enttariflichung und De-Regulierung der Arbeitsverhältnisse. 17 Die angesprochenen Trends beeinflussen die individuellen Löhne und Gehälter. Aber auch bei der Haushaltszusammensetzung fanden Veränderungen statt, die ebenso für die steigende Ungleichheit in den vergangenen Jahren verantwortlich sind: Es gibt mehr Alleinerziehende mit erschwerter Arbeitsmarktpräsenz, da Kinderbetreuung zu organisieren ist. Die Zahl der Ein-Personenhaushalte wuchs, die relativ betrachtet einen höheren Finanzbedarf haben, da die Vorteile des gemeinsamen Haushaltens wegfallen. Die Ursachen steigender Ungleichheit umfassen sehr heterogene Faktoren, die nicht stets mit Arbeit und Wirtschaft zu tun haben. Die verschiedenen Ansätze können hier nicht vertieft erklärt werden, da zunächst Grundbegriffe zur Analyse der Einkommensverteilung und wie Sozialpolitik darauf wirkt, betrachtet werden müssen. Der individuelle Lohn und weitere Löhne aller Haushaltsmitglieder plus eventuell weitere Markteinkommen-- etwa aus Vermietung, Verpachtung oder Kapitalmarktanlagen-- bilden die primäre Verteilung. Steuer- und Sozialpolitik machen aus der primären eine sekundäre Verteilung. Sozialabgaben und Steuern reduzieren die Markteinkommen, soziale Transferleistungen und Vergünstigen (etwa durch kostenlos zugängliche Kinderbetreuung) heben es wiederum an. Die sekundäre Verteilung ist in der Regel egalitärer als die primäre. Da sie von sozialpolitischen Zielsetzungen geprägt ist und mit politischen Mitteln geschieht, wird sie auch als politische Verteilung bezeichnet. 18 Es werden verschiedene Einkommensarten und Stufen des Verteilungsprozesses unterschieden (siehe Abb.-3.2). Diese Unterscheidungen sind wichtige Instrumente, um die Ursachen von Ungleichheit und Armut genau analysieren zu können. Denn 17 Enttariflichung meint, dass immer mehr Arbeitsverhältnisse nicht durch einen Tarifvertrag reguliert werden. De-Regulierung meint, dass die Zahl der Arbeitsverhältnisse wächst, die nicht den Standards der sozialversicherungspflichtigen Vollzeitbeschäftigung entsprechen. 18 Allerdings ist auch die primäre Verteilung nicht von »rein« marktlichen Kriterien geprägt. Auch sie wird durch politische Faktoren mit beeinflusst (Gesetze für Finanzmärkte, Steuern auf Gewinne etc.). Auch die primäre Verteilung ist sozialpolitisch beeinflusst, etwa weil in kollektive Lohnverhandlungen soziale Aspekte einfließen oder Geldleistungen für Arbeitslose den sog. Reservationslohn einziehen, der die Untergrenze markiert, unter die Löhne nicht sinken können, ohne wegen attraktiverer Sozialleistungen nicht aufgenommen zu werden. <?page no="49"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Dallinger__Sozialpolitik____[Druck-PDF]/ 04.02.2016/ Seite 50 50 3. Einkommensverteilung, Armut und Sozialstaat nur mit gezielten Analysen der Trends bei bestimmten Einkommensarten lässt sich bestimmen, weshalb sich die Einkommensdiskrepanzen oder Armut verschärft. Auf der Basis der individuellen Markteinkommen lassen sich Aussagen dazu treffen, ob besonders individuelle Löhne ungleicher wurden. Betrachtet man die Markteinkommen des Haushalts, kommt der Effekt der zunehmenden Frauenerwerbstätigkeit zum Tragen, die in der Regel für ein zweites Einkommen des Haushalts sorgt (oder auch dafür, dass bei Arbeitslosigkeit überhaupt ein Erwerbseinkommen da ist). Betrachtet man die verfügbaren Einkommen bzw. Nettoeinkommen, werden Sozialabgaben und Steuern abgezogen wie auch Sozialleistungen dazu gerechnet. Auf dieser Basis lässt sich der Einfluss sozialstaatlicher Politiken bemessen. Relevant für das verfügbare Einkommen sind der Ausbau der Transferleistungen bei Armut, Arbeitslosigkeit, Alter oder das Kindergeld, etc. Auch Dienstleistungen (öffentlich finanzierte Kinderbetreuung, Bildungswesen) beeinflussen die Haushaltseinkommen. Die sozialen Transferleistungen sind für bestimmte Personengruppen wie Arbeitslose oder Rentner ohne Markteinkommen das einzige verfügbare Einkommen. Für diese ist die Art und Weise, wie wohlfahrtsstaatliche Politik den Zugang zu Einkommen reguliert, ganz besonders wichtig. Außerdem werden Einkommensangaben mit der Zahl der Haushaltsmitglieder gewichtet, um sie vergleichbar zu machen. Man erhält dann das äquivalenzgewichtete Haushaltsnettoeinkommen. 19 19 Gewichtung ist ebenso mit den Markteinkommen des Haushalts möglich. Abb. 3.2: Einkommensarten und Stufen der Verteilungsprozesse Quelle: Eigene Darstellung angelehnt an Ullrich 2005: 166. Markteinkommen (Bruttoeinkommen, Löhne, Gehälter) - individuell - Haushalt Wirtschaftslage Arbeitsmarkt-Institutionen Frauenerwerbstätigkeit Verfügbare Haushaltseinkommen (Nettoeinkommen) Sozialstaatliche Programme Steuerpolitik Haushalts-Nettoäquivalenzeinkommen Finale Einkommen Kleinere Haushalte Demogra scher, familialer Wandel + staatliche Transfers - Steuern und Sozialabgaben Gewichtung mit Zahl Haushaltsmitglieder Indirekte Steuern/ Konsumsteuern/ Wert Dienstleistungen <?page no="50"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Dallinger__Sozialpolitik____[Druck-PDF]/ 04.02.2016/ Seite 50 www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Dallinger__Sozialpolitik____[Druck-PDF]/ 04.02.2016/ Seite 51 3.1 Einkommensverteilung und -umverteilung 51 Einkommensarten und Stufen der Verteilungsprozesse • Individuelle Markteinkommen sind die Löhne abhängig Beschäftigter plus Einkommen aus Vermietung, Verpachtung oder Kapitalmarktbeteiligung (etwa auch private Rente). Verteilung wird beeinflusst von: Angebot- und Nachfragefaktoren des Arbeitsmarktes, Regulierung der Arbeit, Stärke der Gewerkschaften. • Haushaltsmarkteinkommen ergibt sich aus weiteren Löhnen oder Einkommen anderer Haushaltsmitglieder, in der Regel des (Ehe-)Partners/ in. Verteilung wird beeinflusst von: Formen und Entlohnung der Frauenerwerbstätigkeit; Zusammensetzung der Haushalte. • Verfügbares Einkommen: Markteinkommen abzüglich Steuern und Sozialabgaben (Beiträge zu Renten-, Arbeitslosen-, Kranken- und Pflegeversicherung) und zusätzlich der Sozialleistungen: Kindergeld, Grundsicherungsleistungen (Hartz IV), Alters- oder andere Renten, negative Einkommenssteuer, steuerliche Vergünstigungen. Verteilung wird beeinflusst von: Steuerpolitik; Gestaltung der Sozialbeiträge; Höhe der Sozialleistungen; Kürzung oder Anhebung Sozialleistungen. • Gewichtung: Um Einkommen angemessen beurteilen zu können, wird mit der Zahl der Haushaltsmitglieder gewichtet. Denn entscheidend ist, ob ein Betrag für eine Person oder mehrere ausreichen muss. Es wird davon ausgegangen, dass Mehrpersonenhaushalten Finanzvorteile haben, da sie bei der Miete und für die Anschaffung von Gebrauchsgütern wie Waschmaschine oder eines Autos relativ weniger zahlen als ein Einpersonenhaushalt. Es existieren unterschiedliche Gewichtungsmethoden, die alle dem nach Alter variierenden Bedarf weiterer Personen im Haushalt Rechnung tragen. So gibt die neue OECD-Skala dem ersten Erwachsenen (über 14 Jahren) eins, weitere Erwachsene erhalten ein geringes Gewicht von 0,8, Kinder unter 14 Jahren im Haushalt werden je nach Alter mit 0,5 oder 0,7 gewichtet. Alle Einkommen des Haushalts gewichtet mit Anzahl und Alter der Haushaltsmitglieder, zurückgerechnet auf die Einzelperson ergeben das äquivalenzgewichtete individuelle Haushaltsnettoeinkommen.. • Finale Einkommen (selten verwendet): Indirekte Steuern/ Konsumsteuern mindern den Wert des Einkommens (in Deutschland die Mehrwertsteuer). Öffentliches Bildungswesen, Kinderbetreuung, in manchen Ländern das staatliche Gesundheitswesen entlasten private Einkommen. Da finale Einkommen geschätzt werden müssten, stützen sich die meisten Studien auf verfügbare Einkommen. Um Ungleichheit und deren Wandel zu analysieren, werden verschiedene Einkommensarten zugrunde gelegt. Für arbeitsmarktpolitische Fragen ist der individuelle Lohn von zentralem Interesse, für die Effekte der veränderten Frauenerwerbstätigkeit die Haushaltsmarkteinkommen. Der Einfluss des Sozialstaats wird über Vergleiche der Einkommen und deren Verteilung vor und nach Steuern und Abgaben erfasst. Um die Ungleichverteilung der jeweiligen Einkommensarten festzustellen, verwendet man verschiedene Maßzahlen. Der Vergleich zwischen der Verteilung des Markteinkomwww.claudia-wild.de: <?page no="51"?> [UTB-M]__Dallinger__Sozialpolitik____[Druck-PDF]/ 04.02.2016/ Seite 52 52 3. Einkommensverteilung, Armut und Sozialstaat mens der Haushalte einerseits und der Verteilung der verfügbaren Einkommen wird als Ergebnis der staatlichen Steuer- und Sozialleistungssysteme betrachtet. So ist der Gini-Index niedriger für verfügbare Einkommen als für Markteinkommen. Die Einkommensanteile der unteren Hälfte der Bevölkerung sind bemessen am verfügbaren Einkommen höher als bei den Markteinkommen. Diese Unterschiede werden dem Effekt staatlicher Einkommensumverteilung zugerechnet. Die Einkommensverteilung lässt sich mit unterschiedlichen Kennziffern beschreiben. • Häufig wird der Gini-Index verwendet, dessen Werte theoretisch zwischen 0 und 1 liegen; man kann aber ebenso eine größere Einheit zwischen 0 und 100 wählen. Grundsätzlich indizieren höhere Zahlen mehr Ungleichheit. Wenn man also für Großbritannien einen Wert von 0,34 und für Deutschland von 0,26 für verfügbare Einkommen hat, weiß man, dass in Großbritannien die Verteilung ungleicher ist. Zusätzlich lässt sich anhand des Gini sagen, wieviel % des Gesamteinkommens umverteilt werden müsste, um Gleichheit zu erzielen. Formal ist der Gini definiert als Fläche zwischen der Gleichverteilungsdiagonalen und der Lorenzkurve, dividiert durch die Fläche unter der Gleichverteilungsdiagonale. Er erfasst das Ausmaß der Abweichung der Einkommen von einer theoretischen Gleichverteilung. Abb. 3.3: Lorenzkurve Quelle: DESTATIS 2012: Einkommens- und Verbrauchsstichprobe, S. 20. 0 % 10 % 20 % 30 % 40 % 50 % 60 % 70 % 80 % 90 % 100 % Dezil Kumulierter Anteil ( %) am Nettoäquivalenzeinkommen Gleichverteilungsdiagonale Lorenzkurve 10 9 8 7 6 5 4 3 2 1 <?page no="52"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Dallinger__Sozialpolitik____[Druck-PDF]/ 04.02.2016/ Seite 52 www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Dallinger__Sozialpolitik____[Druck-PDF]/ 04.02.2016/ Seite 53 3.1 Einkommensverteilung und -umverteilung 53 Der Gini bietet zwar im Länder- oder Zeitvergleich rasch einen Überblick. Er ist aber unsensibel für unterschiedliche Verteilungsstrukturen innerhalb verschiedener Länder mit dem gleichen Gini-Index. Ein identischer Wert kann durch starke Ungleichheit bei den unteren oder bei den oberen Einkommen bedingt sein. • Ein präziseres Bild der Stellung einzelner sozio-ökonomischer Gruppen in der Einkommensverteilung bietet der prozentuale Anteil, den einzelne Gruppen der Bevölkerung am Gesamteinkommen haben. Dazu wird die Bevölkerung nach der Einkommensgröße der Haushalte geordnet und in Gruppen-- sogenannte Perzentile-- eingeteilt. Wie viele Gruppen man einteilt, ist flexibel und hängt von der jeweiligen Fragestellung ab. In der Literatur werden Dezile (Zehntel), Quintile (Fünftel) oder Quartile (Viertel) verwendet. Die Perzentil-Anteile erfassen Ungleichheit als Disproportionalität zwischen der Größe der Gruppe und dem Einkommensanteil, den sie erhält. Wenn also das unterste Zehntel der Bevölkerung nur 5 % der Gesamteinkommen erhält, ist die Verteilung disproportional. • Perzentilvergleiche und Perzentilratios bauen darauf auf: Hier werden Anteile verschiedener Gruppen ins Verhältnis gesetzt, etwa in Form von 90/ 10-Ratios oder 80/ 20-Ratios. Die Zahlen drücken aus, um wie viel das Einkommen des obersten Dezils über dem des unteren Dezils liegt. Daneben existieren weitere Kennziffern zu den Disparitäten in der Einkommensverteilung, die interessierte Leser im Bericht der OECD zur Ungleichheitsentwicklung (2011: 45) finden. Dank sozialstaatlicher Programme gelang es in den vergangenen Jahren, die Zunahme der Ungleichheit der Markteinkommen abzuschwächen. Dies wird in Abbildung 3.4 anhand des Vergleichs zwischen der Einkommensverteilung vor und nach Steuern und Abgaben und der beiden Jahre 1985 und 2010 sichtbar. Die Verteilung ist hier mit dem Gini-Index erfasst. 20 Zunächst ist festzustellen, dass zwischen 1985 und 2010 die Ungleichheit der Markteinkommen in den ausgewählten Ländern deutlich wuchs. Die Länder variieren aber bezüglich des Ausgangsniveaus wie auch des absoluten Zuwachses sehr: So weist zwar Norwegen den höchsten Zuwachs auf, hat aber auch 2010 noch den geringsten Gini-Index. Ausgehend von einem bereits 1980 vergleichsweise hohen Niveau liegt Großbritanniens Gini-Index nun an der Spitze der ausgewählten Länder. Die USA starten 1985 von einem überraschend moderaten Wert des Gini, weisen aber bis 2010 den stärksten Anstieg auf. Deutschland nahm Mitte der 1980er-Jahre wie auch 2010 einen mittleren Platz ein, sein Gini liegt aber trotz des Anstiegs deutlich hinter den liberalen Ländern. Griechenland rangierte zu beiden Zeitpunkten im vorderen Bereich. Das verfügbare Einkommen nach Steuern und Sozialabgaben weist aber zu beiden Zeitpunkten einen deutlich geringeren Gini auf (dunkler Balken in Abb. 3.4), was 20 Auch andere Kennziffern der Einkommensverteilung eignen sich für einen solchen Vergleich der Markt- und der verfügbaren Einkommen (siehe Kasten). <?page no="53"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Dallinger__Sozialpolitik____[Druck-PDF]/ 04.02.2016/ Seite 54 54 3. Einkommensverteilung, Armut und Sozialstaat zunächst grundsätzlich den egalisierenden Effekt der diversen sozialen Programme und der Steuern auf die Einkommensverteilung belegt. Dieser umverteilende Effekt hat sich nun keineswegs verringert, etwa wegen des viel diskutierten Sozialabbaus. Da 2010 die Werte des Gini für die Markt- und die verfügbaren Einkommen meist sogar noch stärker differieren (Ausnahme Schweden), wurde die staatliche Einkommensumverteilung im Laufe der Zeit sogar umfassender. Der Wohlfahrtsstaat leistet also 2010 mehr an Redistribution als 1985 (Kenworty/ Pontusson 2005: 455). Auch dieser Effekt variiert zwischen den Ländern: 2010 reduzierte Umverteilung den Gini-Index der Markteinkommen in den USA um etwa 20 %, in Deutschland um 29,3 %, in Schweden um ca. 30 % und in Frankreich sogar um 33 %. Mit der Abbildung 3.7 lässt sich der Wandel der Umverteilung noch genauer analysieren. Zu bedenken ist, dass dieser Zuwachs teilweise auf höhere Arbeitslosigkeit und die dann größere Zahl an Menschen, die soziale Transferleistungen in Anspruch nehmen, aber kein Markteinkommen haben, zurückgeht, nicht etwa auf bessere Sozialleistungen (Kenworthy 2008). 21 Dennoch gibt es gesellschaftlich betrachtet durchaus ein Mehr 21 Man spricht von »automatic compensation«, wenn bei steigender Arbeitslosigkeit öfter das Markteinkommen fehlt, mehr Leistungen in Anspruch genommen werden und so die Umverteilung zu wachsen scheint (Kenworthy 2005). Abb. 3.4: Wandel der Einkommensungleichheit und der Umverteilung-- Gini-Index Quelle: Eigene Darstellung nach Daten in: oecd.org und Immervoll/ Richardsen 2011: 36. Grundlage Bevölkerung im Erwerbsalter von 20-65 Jahre. Länder sortiert nach Höhe des Gini für Markteinkommen. 0,0 0,1 0,2 0,3 0,4 0,5 NO SE DE NL US FR UK GR NO SE NL DE FR US GR UK 1985 2010 Markteinkommen verf. Einkommen <?page no="54"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Dallinger__Sozialpolitik____[Druck-PDF]/ 04.02.2016/ Seite 54 www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Dallinger__Sozialpolitik____[Druck-PDF]/ 04.02.2016/ Seite 55 3.1 Einkommensverteilung und -umverteilung 55 an Umverteilung. Die Steuer- und Sozialtransfersysteme steigerten seit den 1980er- Jahren vor dem Hintergrund wachsender Diskrepanzen der Markteinkommen ihre redistributive Wirkung. Das konnte dennoch nicht die Dynamik der Ungleichheit der Verteilung der Märkte stoppen, die rascher wuchs als staatliche Umverteilung. Unter dem Strich wächst daher letztlich auch die Ungleichheit der verfügbaren Einkommen. Die grauen Balken in Abb. 3.4 sind länger, zeigen höhere Werte des Gini-Index an. Die gezeigten Länderunterschiede verweisen auf regimespezifische Strukturen der Ungleichheit (Der Begriff der Regime wird in Kap. 2.3 ausführlich erklärt): Die skandinavischen Länder (Schweden, Norwegen) zeigen die niedrigsten Gini-Werte, Deutschland, die Niederlande und Frankreich bewegen sich im Mittelfeld, Großbritannien und die USA erweisen sich nach dem Gini-Wert als Länder mit stärker inegalitärer Verteilung. Auch korrigiert deren Sozial- und Steuerpolitik die Ungleichheit der Markteinkommen weniger. Demnach generieren die drei Wohlfahrtsregime und deren institutionelle Logik unterschiedliche Verteilungsergebnisse bei Marktwie auch verfügbaren Einkommen. Um die regimespezifische Entwicklung der Ungleichheit wie auch der umverteilenden Sozialpolitik zu verdeutlichen, gibt Abbildung 3.5 den Wandel des Gini-Index für liberale Länder einerseits, konservative und sozialdemokratische Länder-- zusammen- Abb. 3.5: Die Entwicklung des Gini-Index für Markt- und verfügbare Haushaltseinkommen, angelsächsisch-liberale und europäische Länder 1980-2010 Quelle: Gini nur für Personen im Erwerbsalter 20-65 Jahre. Eigene Darstellung nach Daten in Immervoll/ Richardsen (2011: 34, Tab. 5). Liberale Länder: Australien, Canada, Großbritannien, USA. Europäische Länder: Deutschland, Finnland, Norwegen, Schweden. 20 25 30 35 40 45 1980 1985 1990 1995 2000 2005 2010 Markteink. liberal Markteink. Europa verfügbare Einkommen liberal verfügbare Einkommen Europa <?page no="55"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Dallinger__Sozialpolitik____[Druck-PDF]/ 04.02.2016/ Seite 56 56 3. Einkommensverteilung, Armut und Sozialstaat gefasst zu Europa-- andererseits wieder. In beiden Ländertypen sind die Gini-Werte für Markteinkommen zwischen 1980 und 2010 gestiegen. Unterschiedlich ist aber das jeweilige Niveau und der zeitliche Ablauf der Veränderung: Liberale Regime weisen eine höhere Ausgangs-Ungleichheit auf, die früher anstieg als in europäischen Ländern mit sozialdemokratischem oder konservativem Regime). Bereits die Ungleichheit der Markteinkommen (Löhne und Gehälter) ist wegen der in diesen Regimen üblichen kollektiven Lohnverhandlungen geringer; ab 1990 steigt der Gini-Index aber auch hier an. Die Werte des Gini für verfügbare Einkommen bewegen sich stets unter dem Wert für die Markteinkommen und steigen flacher an als diese. Soziale Sicherungssysteme und Steuern federn den Anstieg der Marktungleichheit also ab, kompensieren ihn aber nicht völlig. Auch ist der Ungleichheit reduzierende Effekt konservativer und sozialdemokratischer Regime nachhaltiger. Letztlich werden die verfügbaren Einkommen in beiden Regimen aber ungleicher. Sozialpolitik mindert also in den meisten Ländern die Zunahme der Einkommensdisparitäten, aber ihr Einfluss sinkt. Während in den 1990er-Jahren der Sozialstaat noch 70 % des Anstiegs der Marktungleichheit korrigierte, sind es in den 2000er- Jahren nur noch ca. 50 % (Immervoll/ Richardsen 2011: 32, Tab. 4). Seit Mitte der 1990er-Jahre wird der Sozialstaat weniger effektiv. Das folgende Zitat aus einer OECD Studie verdeutlicht, dass die Ungleichheitsentwicklung zeitweilig eher durch Trends bei den Markteinkommen geprägt wird, in anderen Phasen eher durch Sozialstaatsabbau und demografischen Wandel: »The 2008 OECD report Growing Unequal? highlighted that inequality in the distribution of market incomes-- gross wages, income from self employment, capital income, and returns from savings taken together- - increased in almost all OECD countries between the mid-1980s and the mid-2000s. Changes in the structure of households due to factors such as population ageing or the trend towards smaller household sizes played an important role. Finally, income taxes and cash transfers became less effective in reducing high levels of market income inequality in half of OECD countries, particularly during the late 1990s and the early 2000s.« (OECD 2011: 23) Während also von Mitte der 1980erbis Mitte der 2000er-Jahre die Arbeits- und Kapitalmärkte mehr Ungleichheit generierten, kam später als treibende Kraft die Zunahme kleiner Haushalte durch den demografischen Wandel hinzu. Seit Ende der 1990er-Jahre lässt dann die ausgleichende Wirkung des Sozialstaats nach. <?page no="56"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Dallinger__Sozialpolitik____[Druck-PDF]/ 04.02.2016/ Seite 56 www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Dallinger__Sozialpolitik____[Druck-PDF]/ 04.02.2016/ Seite 57 3.1 Einkommensverteilung und -umverteilung 57 3.1.3 Der Sozialstaat-- ein moderner Robin Hood? Neben der summarischen Betrachtung von sozialstaatlicher Umverteilung im vorigen Kapitel ist von Interesse, wie einzelne sozio-ökonomische Gruppen in sie involviert sind, wer die Benefiziare und wer die Finanzierer dieser die Marktergebnisse korrigierenden Programme sind. Denn Einkommensungleichheit und ihre wohlfahrtsstaatliche Korrektur stellt die einen besser, die anderen schlechter. Nicht alle benötigen die »kollektive Daseinsvorsorge« durch den Sozialstaat gleichermaßen. Diese Perspektive rechtfertigt es wie in der Überschrift des Kapitels zu fragen, ob der Sozialstaat der Figur des Robin Hood gleicht, der den »Reichen« nimmt, um den »Armen« zu helfen. 22 Denn die materielle Lage unterer Einkommensschichten wird-- im Großen und Ganzen und in einem zwischen den Ländern variierenden Umfang-- verbessert, wie es der Absicht des Sozialstaats entspricht (siehe Kap. 1, Ziele des Sozialstaats). Um der inneren Struktur der Umverteilung näher zu kommen, die der Gini-Index nicht aufdecken kann, müssen andere Instrumente gewählt werden. Daher zeigt Abbildung 3.6 zunächst den prozentualen Anteil, den einzelne Bevölkerungsgruppen jeweils vom gesamten Markteinkommen des Landes erhalten. Für die Abbildung wurden Fünftel der Bevölkerung, also Quintile, gewählt. (Diese Kennziffer wird auf Seite-53 »Maßzahlen zu Ungleichheit« erläutert.) Man sieht, dass die Einkommensverteilung disproportional ist. Das heißt: Die beiden unteren Quintile erhalten sehr viel weniger des gesamten Einkommens als es ihrem Bevölkerungsanteil- - nämlich 20 %-- entspricht, die beiden oberen Quintile aber weitaus mehr im Vergleich zu ihrer Größe. Bei Gleichverteilung sollte jedes Bevölkerungsfünftel auch ein Fünftel der Einkommen haben. Nur beim dritten, mittleren Fünftel der Bevölkerung ist der Anteil in etwa proportional, aber immer noch etwas unter 20 %. Diese Zahlen geben die Ausgangssituation für die eigentliche Frage nach dem Einfluss der Sozialpolitik auf die Einkommensverteilung an. Wie verändern sich die Anteile der einzelnen Gruppen, wenn man nun die verfügbaren Einkommen betrachtet? Abbildung 3.7 zeigt, wie sehr sich der Einkommensanteil der einzelnen Quintile vergrößert oder aber verkleinert nachdem sozialstaatliche Programme zum Zuge kamen. Dies wird als Veränderung in Prozentpunkten dargestellt. 22 Die Verteilung von Reich zu Arm wird oft als Solidarität bezeichnet. Inwiefern tatsächlich Solidarität benötigt wird, um eine redistributiv wirkende Politik zu etablieren, ist fraglich. Der Solidaritätsbegriff ist extrem weich und unbestimmt. Seine Klärung würde mehr Raum benötigen, als hier zu Verfügung steht. Wer sich genauer mit Solidarität beschäftigen möchte, sei verwiesen auf Dallinger (2007) und dort genannte weiterführende Literatur. <?page no="57"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Dallinger__Sozialpolitik____[Druck-PDF]/ 04.02.2016/ Seite 58 58 3. Einkommensverteilung, Armut und Sozialstaat Interpretationshilfe: Der Wert für Quintil 1 in Deutschland 1985 von 3,1 bedeutet, dass der Anteil der ärmsten Bevölkerungsgruppe am Gesamteinkommen um eben 3,1 Prozentpunkte ansteigt. Somit steigt der eher schmale Marktanteil dieses Quintils von gerade mal 4,4 % durch diverse Sozialleistungen und Steuern auf somit 7,5 % an. Der nach unten weisende Balken für Quintil 5 bedeutet, dass sich deren Anteil um 3,7 Prozentpunkte reduziert und diese Gruppe daher durch Sozialabgaben und Steuern Einkommen verliert. Demnach wachsen die Einkommensanteile der beiden untersten Quintile in den meisten Ländern an. Der Anteil des Gesamteinkommens, der den zwei obersten Quintilen der Bevölkerung zukommt, verringert sich jedoch nach Steuern und Abgaben. Ein gewisser, begrenzter »Robin-Hood Effekt« durch den Sozialstaat ist bestätigt. Besonders das wohlhabende oberste Fünftel der Einkommensbezieher ist Finanzierer, das unterste Fünftel in der Einkommenshierarchie ist Benefiziar, da sein Anteil am Gesamteinkommen ansteigt. Für das mittlere Quintil ändert sich durch Redistribution wenig, da der Anteil am verfügbaren Einkommen durch Umverteilung weder maßgeblich steigt, noch sinkt. Dies bedeutet, dass die mittlere Gruppe eine stabile Position bei den Marktbzw. Erwerbseinkommen hat, die durch sozialstaatliche Leistungen zwar nicht angehoben, so doch wirkungsvoll gegenüber Einkommensausfällen stabilisiert wird. Soziale Sicherungssysteme funktionieren hier als »Versicherung«. Dieses Bild entspricht der Tatsache, dass Sozialversicherungen, die den größten Teil des Sozialstaats ausmachen, durch die einkommensabhängigen Ein- und Auszahlungen eine propor- Abb. 3.6: Anteile einzelner Quintile am gesamten Markteinkommen des Landes (2010) Quelle: Eigene Darstellung. LIS, eigene Berechnung. 0 % 10 % 20 % 30 % 40 % 50 % 60 % 70 % 80 % 90 % 100 % DE FR NL NO SE UK USA PL Quintil 5 Quintil 4 Quintil 3 Quintil 2 Quintil 1 <?page no="58"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Dallinger__Sozialpolitik____[Druck-PDF]/ 04.02.2016/ Seite 58 www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Dallinger__Sozialpolitik____[Druck-PDF]/ 04.02.2016/ Seite 59 3.1 Einkommensverteilung und -umverteilung 59 tionale Verteilungswirkung haben, die für Haushalte des mittleren Quintils als Sicherung in »schlechten Zeiten« funktioniert (oder als »Sparschwein«; siehe Kap. 1). 23 Das oberste Quintil ist nach Abb. 3.7 der Nettofinanzierer staatlicher Transferleistungen und Steuern, die ärmere Haushalte besser stellen. Diese Struktur der Umverteilung ist 2010 noch ausgeprägter als 25 Jahre zuvor. Die Haushalte der untersten Bevölkerungsschicht erhalten mehr durch die Einkommensumverteilung auch wegen des zunehmenden Bedarfs am unteren Ende der Gesellschaft durch mehr Arbeitslosigkeit und Alleinerziehende, bei denen ebenfalls oft der Zugang zu Markteinkommen fehlt. Bei Haushalten der obersten Gruppe wächst zwar zwischen 1985 und 2010 der Teil des Markteinkommens, der für Steuern und Sozialabgaben gezahlt wird in allen Ländern, außer in Großbritannien und Polen, an. Das kann dennoch nicht als Mehrbelastung gesehen werden. Denn der Anteil, den das oberste Fünftel der Bevölkerung am Markteinkommen erhält, wuchs im gleichen Zeitraum um mehr als den Anteil, der durch Umverteilung zusätzlich abgezogen wurde. Das oberste Quintil ist also auch 23 Sozialversicherung zur Absicherung eigener Einkommensrisiken und Redistribution nach »unten« sind organisatorisch eng verwoben. Ein Beispiel bietet die Debatte um die Grundrente innerhalb der Gesetzlichen Rentenversicherung für langjährig versicherte Bezieher von Renten unterhalb einer bestimmten Einkommensschwelle. Die in die Sozialversicherung integrierte »Umverteilung« rief Unmut wegen der nicht beitragsäquivalenten Leistung hervor. Abb. 3.7: Umverteilung durch den Sozialstaat im Wandel (1985-2010) Quelle: Eigene Darstellung nach LIS, eigene Berechnung. Anmerkung: Umverteilung bedeutet die Di erenz zwischen dem Anteil der einzelnen Quintile am Gesamteinkommen, einmal berechnet mit den Markteinkommen des Haushalts, dann mit verfügbaren Haushalts- Nettoeinkommen. Gezeigt wird diese Di erenz in Prozentpunkten für je zwei Wellen in jedem Land. -8 -6 -4 -2 0 2 4 6 8 1985 2010 1985 2010 1985 2010 1985 2010 1985 2005 1985 2010 1985 2010 1995 2010 DE FR NL NO SE UK USA PL Quintil 1 Quintil 2 Quintil 3 Quintil 4 Quintil 5 <?page no="59"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Dallinger__Sozialpolitik____[Druck-PDF]/ 04.02.2016/ Seite 60 60 3. Einkommensverteilung, Armut und Sozialstaat nach Steuern und Sozialabgaben der »Gewinner« der zunehmend ungleichen Einkommensverteilung. Auch der Umverteilungseffekt weist wieder Länderunterschiede auf, die beträchtlich sind und weitgehend der Regimetypologie (siehe Kap. 2.3) folgen: Länder die zum liberalen Regime zählen (USA, UK), haben geringere Umverteilungseffekte und belasten das oberste Quintil am wenigsten mit der Finanzierung sozialer Leistungen. Sozialdemokratische Regime (SE, NO) heben am deutlichsten die Einkommensanteile der Haushalte des unteren Endes der Einkommensskala an und belasten das oberste Einkommensfünftel am meisten. Dazwischen sind Deutschland, Frankreich und die Niederlande als konservative Regime angesiedelt, mit moderaten Angleichungseffekten. Polen als Beispiel für post-sozialistische Regime ähnelt in Hinblick auf die Strukturen der Umverteilung den konservativen Regimen, verminderte aber wie Großbritannien die Belastung der höchsten Einkommen zwischen 1995 und 2010. Insgesamt lässt sich feststellen, dass die unterschiedlich organisierte Sozialstaatlichkeit auch die outcomes-- hier den Grad der Angleichung der Einkommensverteilung-- prägt. Bei der Interpretation der gezeigten Daten ist zu bedenken, dass surveybasierte Einkommensdaten nur ein bestimmtes Spektrum der Einkommen und auch der Steuern und Abgaben zeigen. Sehr hohe Einkommen aus Unternehmen, Kapitalmarktbeteiligungen etc. werden durch repräsentative Surveys nur unzureichend erfasst. Um Aussagen zu hohen Einkommen machen zu können, muss auf andere Datenquellen wie Steuererklärungen zurückgegriffen werden (OECD 2008: 32; Piketty 2013). Eine Betrachtung der Einkommen aus Unternehmensgewinnen, Kapitalmarktgewinnen und Aktien würden die Aussagen zum Effekt der Steuern und Sozialabgaben auf die Netto-Verteilung ändern, da in diesem Einkommenssegment andere Steuern greifen, die laut OECD (2011) in den letzten Jahren günstiger gestaltet wurden. Analysen hoher Einkommen und Vermögen nutzen gesonderte Datensätze, etwa die »World Top Income Database« (http: / / topincomes.g-mond.parisschoolofeconomics.eu). Dass Sozialpolitik die Einkommensverteilung beeinflusst und deren Anstieg bremst, ist somit belegt. Umstritten ist allerdings, ob dies eine Art Reaktion der Sozialpolitik auf die Ungleichheitsentwicklung ist, wegen der immer mehr Bürger Anlass haben, Umverteilung zu fordern und Politik diese Forderungen dann umsetzt. Eine solcher, von der klassischen Medianwählertheorie angenommener Zusammenhang wird in der Sozialpolitikforschung oft zurückgewiesen: Zunehmende Einkommensdiskrepanzen führten nicht zu mehr sozialstaatlicher Kompensation. Als Beleg wird auf Länder wie die Vereinigten Staaten und Großbritannien hingewiesen, in denen die Ungleichheit vergleichsweise hoch ist und dennoch keine Reaktion in Form von staatlicher Umverteilungspolitik erfolgt. Während die Soziologie diese fehlende sozialstaatliche Reaktion als Folge kultureller Werte interpretiert, betont die politische Ökonomie, dass wachsende Marktungleichheit ganz unterschiedlich politisch verarbeitet wird. Die Forderungen der Bürger müssen aus dieser Sicht stets erst den Filter aus politischen Akteuren und Institutionen passieren, die aber nicht unbedingt responsiv <?page no="60"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Dallinger__Sozialpolitik____[Druck-PDF]/ 04.02.2016/ Seite 60 www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Dallinger__Sozialpolitik____[Druck-PDF]/ 04.02.2016/ Seite 61 3.2 Armut und Armutsvermeidung 61 das umsetzen, was die Mehrheit will (zum Problem der Responsivität in Demokratien siehe Bartels 2006). Ein anderes durchgängiges Thema in der Debatte zu den umverteilenden Wirkungen des Sozialstaats ist, ob Regimetypen, die nicht nur an die Ärmsten gerichtete Leistungen nutzen und daher hohe Sozialausgaben erzeugen, oder aber Regime mit einer Ausrichtung der Leistungen auf die Bedürftigen (»targeting«) bessere Ergebnisse in Hinblick auf die Wohlfahrtsposition der ärmeren Schichten erzielen. Lange galt in der Literatur das sog. »Umverteilungsparadox« (Korpi/ Palme 1998), wonach gerade bei unspezifischen, nicht nur an Arme gerichteten Leistungen auch viel zugunsten der Ärmeren nach »unten« fließt (was man als paradox bezeichnet, da dies gar nicht das Ziel dieser Regime ist). Die These zu den universellen Regimen, die letztlich mehr armutsvermeidende Umverteilung schaffen, wird inzwischen hinterfragt. Targeting sei durchaus dem universellen Typ überlegen und bekämpfe Armut besser als die breiten Sozialversicherungssysteme (Van Lancker/ Van Mechelen 2015). Darüber hinaus ist die Beobachtung wichtig, dass der Grad des targeting der Leistungen zwischen 1985 und 2005 sank (Caminada et.al. 2012: 18). Regierungen gestalten Programme offenbar zunehmend so, dass alle Schichten davon profitieren (was mit der Akzeptanz und Durchsetzbarkeit der Programme zu tun haben dürfte). 3.2 Armut und Armutsvermeidung Armut Von Kolja Rudzio, Zeit online, 19. Dezember 2012 Steigt der Anteil der Armen in Deutschland? Viele glauben das, und die SPD will im Wahlkampf damit punkten. Doch es stimmt nicht. Es vergeht kaum ein Monat, ohne dass irgendwo schriller Alarm ertönt: Im-September berichten etliche Zeitungen, von taz bis Saarbrücker Zeitung: »Die Armut nimmt zu.« Bei Anne Will diskutieren die Talkshowgäste über »Mittelschicht in Abstiegsangst«. Mitte Oktober titelt die Abendzeitung: »So-viele Arme wie nie.« Im November schreibt die Frankfurter Rundschau: »Die Armut in den Metropolen wächst.« Und Anfang Dezember heißt es dann: »Bundesregierung schönt Armutsbericht.« [...] http: / / www.zeit.de/ 2012/ 52/ Armut-Wahlkampf-SPD Armut bedeutet eine Position am unteren Ende der Einkommensverteilung, das dürfte unstrittig sein. Wo aber genau das »unten« beginnt, und was eine mangelnde Ressourcen-Ausstattung ausmacht, die es rechtfertigt von Armut zu sprechen, ist durchaus strittig. Gängig ist heute das Konzept eines sozio-kulturellen Existenzminimums, <?page no="61"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Dallinger__Sozialpolitik____[Druck-PDF]/ 04.02.2016/ Seite 62 62 3. Einkommensverteilung, Armut und Sozialstaat wonach Armut dort vorliegt, wo Menschen insgesamt so geringe materielle, kulturelle und soziale Mittel haben, dass sie von der Lebensweise ausgeschlossen sind, die in einem Land als Minimum gilt. Dennoch bleibt aber zu bestimmen, wo genau dieses Minimum liegt, ab der Armut beginnt. Dem gehen diverse Konzepte zu Armut nach. Die absolute Armutsgrenze setzt das physische Existenzminimum als Maßstab. Arm ist, wer seine Existenz im Sinne von Essen, (beheizbarem) Wohnraum oder Kleidung nicht sichern kann. Bereits bei absoluter Armut lässt sich aber hinterfragen, was denn zum Überleben nötig ist. Daher wird meist der Begriff der relativen Armut verwendet. Hier wird der »Durchschnitt« bzw. das mittlere Einkommen als Maßstab zu Hilfe genommen. Arm ist, wer über weniger als die Hälfte des Medianeinkommens verfügt (50 %-Grenze), wobei äquivalenzgewichtete Netto- Haushaltseinkommen zugrunde gelegt werden. Daneben existiert eine 40 %-Grenze, unter der Menschen in strenger Armut leben. Legt man eine 60 % Grenze des Medianeinkommens zugrunde, wird von Armutsgefährdung gesprochen und man erhält höhere Zahlen für Armut. 24 Inzwischen wird in der deutschen und europäischen Literatur mehr und mehr die 60 %-Grenze verwendet, also die Armutsgefährdungsquote. Das wird so praktiziert bei Sozialpolitik aktuell, im Datenreport des statistischen Bundesamtes und in Veröffentlichungen von Eurostat, dem Statistischen Amt der EU. Das Konzept der »bekämpften Armut« besagt schließlich, dass die Grundsicherungsleistungen die Grenze markieren, unter der Armut beginnt. Schließlich ist das Lebenslagenkonzept zu nennen, das neben dem Einkommen Unterversorgung in weiteren Dimensionen wie Wohnraum, Bekleidung, Gesundheit oder Lebenszufriedenheit erfassen will. Die meisten Analysen stützen sich auf das Konzept der relativen Armutsquote, bemessen am Medianeinkommen eines Landes. Bei dieser Maßzahl ist zu bedenken, dass die ermittelte Armutsquote von unterschiedlichen Medianeinkommen bedingt wird. Das wirkt sich bei Ländervergleichen aus und ebenso, wenn man zeitlichen Wandel betrachtet. Menschen diverser Länder gelten gleichermaßen als arm, obwohl sie in unterschiedlich prekären Verhältnissen leben. Geht im Zeitverlauf das Medianeinkommen zurück, können bestimmte Gruppen aus der Armutszone herauswachsen, obwohl sich wenig an ihrer Wohlfahrtslage verändert hat. Aber sie sind relativ weniger arm. So sank die Quote armer Rentner zwischen 2007 und 2010 in Estland von 30 % auf 7 %, allein weil die Finanzkrise die Einkommen insgesamt verschlechterte, Renten aber stabil blieben. (Steigende Medianeinkommen haben den umgekehrten Effekt; OECD 2013, S. 7). Die relative Armutsquote sagt also noch nichts über die objektive Bedürftigkeit Armer aus. Der Indikator ist dennoch unverzichtbar für Trendanalysen in einzelnen Ländern oder für Vergleiche sozio-ökonomischer Gruppen (4. Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung: VIII). 24 Die unterschiedlichen Armutsquoten bei 50 % oder 60 % der Medianeinkommen zeigen Förster/ d’Ercole 2005. <?page no="62"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Dallinger__Sozialpolitik____[Druck-PDF]/ 04.02.2016/ Seite 62 www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Dallinger__Sozialpolitik____[Druck-PDF]/ 04.02.2016/ Seite 63 3.2 Armut und Armutsvermeidung 63 Das aktuelle Kapitel berichtet Armutsquoten auf der Basis der 50 %-Grenze und teils auf der Basis der 60 %-Grenze. Darüber hinaus ist anzumerken, dass die diversen Datenquellen unterschiedliche Verfahrensweisen bei der Berechnung der Armutsrate verwenden, die zu leicht unterschiedlichen Ergebnissen führen. So macht es einen Unterschied, ob das Vorjahreseinkommen oder das Monatseinkommen zugrunde gelegt oder welche Gewichtung für Haushaltsmitglieder verwendet wird (Statistisches Bundesamt/ Datenreport 2013: 172). Die in diesem Kapitel präsentieren Armutsraten sind also nicht identisch, wenn sie von verschiedenen Datenquellen stammen. Das macht die Armutsquoten nicht falsch. Kleine Variationen sind wegen der Berechnungsdetails möglich. Zunächst wird die Entwicklung der Armutsquote in einer Auswahl an Ländern von 1980 bis 2010 betrachtet (siehe Tab. 3.1). Die Länder mit einer niedrigen Armutsquote im aktuellsten verfügbaren Beobachtungsjahr stehen am Anfang. Die Niederlande, Schweden und Dänemark haben eine vergleichsweise niedrige Armutsquote. Österreich, Norwegen, Frankreich und die Schweiz liegen im Mittelfeld mit Armutsquoten zwischen 7 und 8 % der Bevölkerung. Deutschland ist am oberen Rand dieses Mittelfeldes platziert. Hier wuchs die Armut etwa ab 2000 auf 9,6 % der Bevölkerung an. Diesen kontinuierlichen Anstieg gibt es nicht in den zuvor erwähnten Ländern (in denen die Armutsquote eher schwankt als kontinuierlich zu wachsen). In Großbritannien stieg sie ebenfalls, aber hier bereits ab Mitte der 1980er-Jahre und lag auch stets auf einem höheren Niveau als in Deutschland. Die Vereinigten Staaten zeichnen sich durch eine im betrachteten Zeitraum durchgängig höhere Armutsquote von etwa 17 % der Bevölkerung aus. Spanien, mit einer bereits 1980 über anderen europäischen Tab. 3.1: Entwicklung der Armut im Ländervergleich 1980-2010 (50 %) NL SE DK AT NO F CH DE ES UK US 1980 5,3 5 10,3 7,6 5,3 12,1 9 15 1985 6,3 6,7 10,1 6,7 7,3 11,6 7,6 7,7 10,2 9,1 17,8 1990 6,3 6,7 7,2 8,7 6,4 8,9 9,3 5,6 10 14,6 17,6 1995 8,1 6,6 5,2 10,6 6,9 8 9,3 7,7 13,7 13,5 17 2000 4,9 6,6 5,4 7,7 6,5 7,3 7,5 7,6 14,2 13,2 16,6 2005 6,4 5,6 5,6 7,1 7,1 8,5 8 8,5 14,1 11,2 17,1 2010 5,2 6,3 7,4 9,1 9,6 15,2 15,4 16,9 Eigene Darstellung, Daten aus LIS-Key Figures, Abruf 14.12.14. Armutsquote Gesamtbevölkerung. <?page no="63"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Dallinger__Sozialpolitik____[Druck-PDF]/ 04.02.2016/ Seite 64 64 3. Einkommensverteilung, Armut und Sozialstaat Ländern liegenden Armut, weist ab 2000 einen Anstieg auf, so dass-- bedingt durch die Eurokrise-- inzwischen das Armutsniveau der liberalen Länder erreicht ist. Zum Vergleich und um für unterschiedliche Werte durch verschiedene Armutsgrenzen zu sensibilisieren, ziehe ich auch die vom Statistischen Bundesamt in seinem Datenreport 2013 berichtete Armutsquote für Deutschland auf der Basis der 60 %-Grenze heran: Demnach liegt die Armutsgefährdungsquote im Zeitraum 2009- 2011 durchschnittlich bei 13,2 %, in Ostdeutschland allerdings bei 19,3 %. Damit ist die Armutsgefährdungsquote von 11,7 % im Zeitraum 2000-2002 auf den genannten Wert angestiegen. Die Armutsquote für die Gesamtbevölkerung zeigt allerdings noch nicht, dass Armut bei bestimmten sozialen Gruppen konzentriert ist. Erst eine Betrachtung der Verteilung von Armut macht deren Brisanz deutlich und gibt Aufschluss über die Ursachen von Armut. Menschen mit niedrigem Ausbildungsabschluss, Arbeitslose, Familien mit mehreren Kindern und Menschen mit Migrationshintergrund sind überdurchschnittlich von Armut betroffen (siehe Statistisches Bundesamt/ Datenreport 2013: 175). Die überproportionale Armutsquote dieser sozialen Gruppen ist teils durch Probleme am Arbeitsmarkt verursacht. Menschen mit geringer Qualifikation und Kinderbetreuungsaufgaben finden schwerer eine Arbeit oder einen ausreichend bezahlten Job. Teils ist die Sozialpolitik und die Art und Weise, wie sie fehlende oder unzureichende Erwerbseinkommen kompensiert, die Ursache. Armut älterer Menschen: So ist Armut unter Älteren weitgehend bedingt durch staatliche Systeme der Alterssicherung und wie Menschen, die qua gesetzlicher Altersgrenze nicht mehr arbeiten, mit einem Anspruch auf die Rentenversicherung oder auf steuerfinanzierte Grundrenten ausstatten. Zwar wird die Alterssicherung bezogen auf die Dauer und Höhe der Beiträge Erwerbstätiger, die sich so nach einer »Rentenformel« einen Rentenanspruch erwerben. Viele Aspekte dieser Rentenformel sind aber politisch gesteuert (siehe Kap. 5) und es ist kein Automatismus, was Beiträge wert sind. 3.2.1 Kinderarmut und ihre Ursachen In der Öffentlichkeit erhält besonders Kinderarmut große Aufmerksamkeit, da der frühen Armutserfahrung negative langfristige Folgen im künftigen Lebensverlauf zugeschrieben werden. Zudem wurde wegen der überdurchschnittlichen Kinderarmut die Gerechtigkeit wohlfahrtsstaatlicher Programme für »Jung« und »Alt« problematisiert (genauer siehe Kap. 5 Alterssicherung). Allerdings sind Kinder nicht alleine arm, sondern die Haushalte bzw. die Eltern, mit denen sie leben. Daher betrachtet das Folgende gezielt die Armutsquoten unterschiedlicher Haushaltsformen und Altersgruppen und geht deren sozialpolitischen Ursachen nach. <?page no="64"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Dallinger__Sozialpolitik____[Druck-PDF]/ 04.02.2016/ Seite 64 www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Dallinger__Sozialpolitik____[Druck-PDF]/ 04.02.2016/ Seite 65 3.2 Armut und Armutsvermeidung 65 Tabelle 3.2 zeigt zum einen die durchschnittliche Armutsquote (»alle«), mit der dann die Armutsquoten verschiedener Haushaltsformen verglichen werden können. So lässt sich ablesen, ob Haushalte mit Kindern überdurchschnittlich oft zu den Armen zählen. Alleinerziehende weisen in fast allen Ländern die größte Armutsquote auf, gefolgt von den Familien mit mehr als 3 Kindern, deren Armutsrate in den meisten Ländern überdurchschnittlich ist-- außer in Schweden und Norwegen. Ein hohes Armutsrisiko für Haushalte mit Kindern lässt sich also offenbar durchaus sozialpolitisch kompensieren. Haushalte mit 2 Erwachsenen und 2 Kindern sind in den meisten Ländern unterdurchschnittlich armutsbetroffen, nicht jedoch in Polen, Griechenland und Spanien. In Transformations- oder Krisenländern ist demnach Armut so weit verbreitet, dass auch andere sonst nicht betroffene Gruppen in die Armutszone geraten. Nur 2-Personen-Haushalte älterer Menschen (mindestens eine über 65-jährige Person) sind in diesen wie auch den übrigen Ländern besser als der Durchschnitt vor Armut geschützt, mit Ausnahme der Schweiz. Das Bild ändert sich allerdings, wenn man die 1-Personen-Haushalte Älterer dazu nimmt. Ihre Armutsrate liegt in vielen Ländern deutlich über dem Durchschnitt, etwa in Deutschland bei Tab. 3.2: Armutsquote (50 %) nach Haushaltsformen 2010 im Ländervergleich alle Alleinerziehend 2 Erw/ 2 Kinder 2 Erw/ 3+ Kinder 2 Erw./ einer 65+ 1 Erw. 65+ DE 9,2 25,2 4,2 10,2 4,8 12,2 NL 4,9 14,3 4,7 5,8 0,7 3,8 FR 7,2 21 5,3 9,9 2,5 4,9 AT 9,1 20 4,7 18,1 7,8 16,3 BE 7,8 16,1 6,7 9,2 8 7 SE 7 19,4 3,7 5,8 1,3 9,3 NO 6 15,3 1,9 4,7 0,1 5,7 UK 9,8 13,3 5,9 17,6 9,6 16,8 CH 8,6 21 6,2 12 14,9 22,5 PL 10,5 24,6 11,1 23,1 5,4 10,4 GR 12,4 23,9 13,2 17,3 7,5 18,1 ES 15,1 33,7 17 36,8 9,9 11,9 Eigene Darstellung nach Daten von Eurostat, ilc_li03. Abruf 12.12.2014. <?page no="65"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Dallinger__Sozialpolitik____[Druck-PDF]/ 04.02.2016/ Seite 66 66 3. Einkommensverteilung, Armut und Sozialstaat 12,2 %, während die Quote in der Gesamtbevölkerung bei 9,2 % und bei den 2-Personen-Rentnerhaushalten bei nur 4,8 % liegt. Die deutsche Rentenpolitik sichert-- im Vergleich zu anderen westeuropäischen Ländern-- diese spezifische soziale Gruppe nur mangelhaft ab. Im Vergleich zur Gesamtbevölkerung ist also Armut in Haushalten mit mehr als 3 Kindern und bei Alleinerziehenden besonders hoch. Diesen Haushalten fehlt ein ausreichendes Einkommen, auch weil Kinder die Möglichkeit der Erwerbsbeteiligung der Frau einschränken. Selbstverständlich tragen auch klassische Risikomerkmale wie geringe berufliche Qualifikation oder kein Bildungsabschluss zur erhöhten Armut dieser beiden Gruppen bei. Jedoch konzentrierte man sich in den letzten Jahren auf das Einkommen der Frau und deren Beitrag zur Vermeidung von Kinderarmut (Wirtschaftsbericht für Deutschland 2014). Die Länderunterschiede beim Umfang an Armut bei Alleinerziehenden und Haushalten mit 3+ Kindern werden auf Unterschiede bei der Frauenerwerbsbeteiligung zurückgeführt, die wiederum vom Ausbau der Kinderbetreuung in einem Land abhängt (siehe auch Kap. 7 zu Familienpolitik). Demnach ist die Familienpolitik und ihr Beitrag zur Vereinbarkeit von Beruf und Familie unmittelbar wichtig dafür, wie sehr indirekte Kinderkosten bzw. das entgangene Erwerbseinkommens eines Elternteils sich in Armutsquoten von Haushalten mit Kindern niederschlägt. Insgesamt kann man sagen, dass die Höhe der Kinderarmut davon beeinflusst wird, wie gut Sozialpolitik die indirekten und direkten Kinderkosten kompensiert. Das erste sind die Opportunitätskosten 25 wegen eingeschränkter Erwerbsbeteiligung einer der Eltern, das zweite die höheren Ausgaben für Haushalte mit Kindern (Kleidung, Miete, Lebensmittel, etc.). Die jeweilige Familien- und Armutspolitik in den Ländern fängt die beiden Arten der Kinderkosten unterschiedlich gut auf. Verschieden hohe Armutsquoten von Kindern und Jugendlichen im Ländervergleich belegen dies (Abb. 3.8). In Schweden und Norwegen gelingt es sogar, die direkten und indirekten Kinderkosten in einem Umfang zu kompensieren, der die Armut von Kindern und Jugendlichen unter den Bevölkerungsdurchschnitt senkt. Konservative wie auch liberale Länder weisen demgegenüber eine im Vergleich zur Erwerbsbevölkerung erhöhte Armutsquote bei Kindern und Jugendlichen auf (Cantillon et.al. 2001). Dass der Erwerbsstatus der Frau entscheidend dafür ist, ob Haushalte mit Kindern (Paarhaushalte wie auch Alleinerziehende) unter die Armutsschwelle sinken, ist Teil des Wandels der Familienmodelle und Geschlechterrollen. Man beobachtet einen Trend vom male breadwinner zum dual-earner-Modell, also vom männlichen Alleinernährer hin zum Haushalt mit zwei Einkommen (Ferrarini/ Forssen 2005: 120). 25 Unter den Opportunitätskostenversteht man den entgangenen Nutzen wegen einer nicht realisierten Handlungsalternative, also den entgangenen Lohn der Frau wegen Verzicht auf Erwerbstätigkeit. <?page no="66"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Dallinger__Sozialpolitik____[Druck-PDF]/ 04.02.2016/ Seite 66 www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Dallinger__Sozialpolitik____[Druck-PDF]/ 04.02.2016/ Seite 67 3.2 Armut und Armutsvermeidung 67 In- dual-earner-Haushalten liegt die Armutsrate unter der von male bread-winner- Haushalten (siehe Abb. 3.9). 26 Das klassische male breadwinner-Modell mit einem männlichen Haupternährer deckt demnach nicht mehr die Kosten der Kinder, ganz zu schweigen von der materiellen Lage bei Arbeitslosigkeit. In dem Fall sind Lohnersatzleistungen oft nicht hoch genug um Armut zu entkommen. 27 Weibliche Erwerbsbeteiligung und deren Kinderarmut dämpfender Effekt folgt einer Multi Speed-Emanzipation (Cantillon et.al. 2001). Da der Umfang der Erwerbsbeteiligung der Frau stark von deren Qualifikation abhängt, sind es oft gerade nicht von Armut betroffene Haushalte, in denen der Schutzeffekt eines zweiten Einkommens zum Zuge kommt. Hochqualifizierte Frauen gleichen unabhängig von eigenen Kindern und unabhängig vom jeweiligen Land die Erwerbsbeteiligung an die der Männer an. Die Höhe der Erwerbsbeteiligung gering qualifizierter Frauen hingegen schwankt stark zwischen den Ländern. Deren Erwerbsquote wird also durchaus von 26 Analog gilt für Alleinerziehende, dass erwerbstätige Alleinerziehende wesentlich weniger von Armut betroffen sind (ohne Abb.). 27 Allerdings muss man hier einen statistischen Effekt durch das relative Armutskonzept bedenken: Indem dual earner-Haushalte mehr und mehr zur Normalität werden, bestimmen sie den steigenden Median und single-earner-Haushalte drohen hinter dem Median her zu hinken (es sei denn, ein Einkommen ist hoch genug). Abb. 3.8: Armutsquote (50 %) in der Erwerbsbevölkerung und bei Kindern/ Jugendlichen (0-17 Jahre) im Ländervergleich (2010) Quelle: Eigene Darstellung angelehnt an Pontusson 2005: 160. Daten: oecd.org, Statextracts Income Distribution and Poverty, Abruf 11.12.2014. 0 5 10 15 20 25 DE NL FR AT BE SE NO UK US CH PL GR SP Erwerbsalter 18-65 0-17 Jahre <?page no="67"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Dallinger__Sozialpolitik____[Druck-PDF]/ 04.02.2016/ Seite 68 68 3. Einkommensverteilung, Armut und Sozialstaat der Familienpolitik (Kinderbetreuung u. a.) beeinflusst. Sie reagieren auf Preis und Verfügbarkeit der Kinderbetreuung. Der eigene Lohn dieser Frauen ist häufig nicht attraktiv genug um private Kinderbetreuung zu finanzieren. Sind diese Angebote aber staatlich, kostenfrei oder zu geringem Preis zugänglich, verschiebt sich das Kalkül der Frauen mit weniger attraktiven beruflichen Qualifikationen. Die Länderdifferenzen in Abbildung 3.9 zur Abhängigkeit der Armutsgefährdungsquote vom zweiten Verdienst im Haushalt belegt auch Länderunterschiede bei der Förderung des Doppelverdiener-Modells. Die double speed Emanzipation, die durch öffentliche Kinderbetreuungsangebote aufgebrochen wird, verdeutlicht ein Vergleich zwischen den Erwerbsquoten hoch- und geringqualifizierter Frauen in Deutschland und Schweden (Tab. 3.3). Deutschland als konservatives Regime förderte lange keine Vereinbarkeit (was sich inzwischen geändert hat; siehe Kap. 7 Familienpolitik), Schweden jedoch ist bekannt für eine umfassende Kinderbetreuung und Erwerbsintegration der Frau. Die Erwerbsbeteiligung von Frauen- - und somit eine Politik zur Vereinbarkeit von Familie und Beruf- ist ein wichtiger Ansatzpunkt um Kinderbzw. Familienarmut zu vermeiden. Selbstverständlich beeinflussen auch andere Aspekte der Familienpolitik Abb. 3.9: Armutsgefährdung (60 %) und Erwerbsbeteiligung. Haushalte mit Kindern unter 6 Jahren Quelle: Eigene Darstellung nach: Cantillon et.al. 2001: 460 mit Daten der LIS. Anmerkung: Angaben beziehen sich auf die Jahre 1992-1995. Nur Kinder unter 6 Jahren, da v. a. bei jungen Kindern Frauen die Erwerbsbeteiligung einschränken. 0 5 10 15 20 25 30 35 40 45 DK NO SE NL DE FR UK USA SP IT Ein Verdiener Zwei Verdiener <?page no="68"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Dallinger__Sozialpolitik____[Druck-PDF]/ 04.02.2016/ Seite 68 www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Dallinger__Sozialpolitik____[Druck-PDF]/ 04.02.2016/ Seite 69 3.2 Armut und Armutsvermeidung 69 der diversen Regime die Höhe der Kinderarmut. Ebenso ist das Kindergeld und das Elterngeld oder die steuerliche Behandlung des »zweiten« Einkommens relevant. 3.2.2 Armutsreduktion durch den Sozialstaat In welchem Umfang Sozialpolitik das Auftreten relativer Armut reduzieren kann, demonstriert ein Vergleich der Armutsquote vor und nach Abzug von Steuern und Sozialleistungen. Dies ist zwar eine eher abstrakte Operation, da eine solche pre-taxes and transfer-Armut nicht existieren dürfte. Üblicherweise werden Armutsquoten berichtet, die bereits sozialpolitische Reaktionen auf die Tatsache enthalten, dass Menschen kein oder zu wenig Markteinkommen haben. In Deutschland wäre die Armutsquote (50 %-Schwelle) zwischen 1985 und 2010 von 27,7 % auf 32,3 % geklettert. Dank diverser sozialpolitischer Programme stieg sie lediglich von 5,6 % auf 8,8 %. In Schweden wäre die Armutsquote nach Markteinkommen von 10,4 % im Jahr 1985 auf 17,9 % im Jahr 2010 gestiegen; Steuern und Transfers bremsten den Anstieg: Die Armutsrate kletterte von 3,6 % auf 9,4 %. Großbritannien wies im Jahr 2010 eine Armutsrate vor sozialstaatlichen Korrekturen von 25 % auf, reduzierte diese aber bei den verfügbaren Nettoeinkommen auf 10,4 %. Die amerikanische Sozialpolitik verändert die Armutsquote nach Markteinkommen im Vergleich zu europäischen Ländern am wenigsten und belässt es bei dem vergleichsweise hohen Armutsniveau. 28 28 Rentner sind bei der Berechnung der Zahlen ausgeschlossen, da ein Vergleich der Armutsquote einmal bei Markteinkommen, das andere Mal bei Netto-Haushaltseinkommen für diese Gruppe unpassend ist. Rentner haben oft kein Markteinkommen, es sei denn durch private Altersvorsorge oder durch Erwerbsarbeit jenseits des Rentenalters. Wegen der in den meisten Ländern staatlichen Renten würde man eine enorm hohe Armutsreduktion durch den Sozialstaat erhalten, was aber eine völlig verzerrte Information darstellt. Tab. 3.3: Frauenerwerbsquoten nach Qualifikation und Kindern, Schweden und Deutschland Hochqualifizierte Geringqualifizierte Ohne Kinder Mit Kindern Ohne Kinder Mit Kindern D 69,8 53,4 48 19 S 82,7 86,1 68 62 Quelle: Cantillon et.al. 2001: 449. <?page no="69"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Dallinger__Sozialpolitik____[Druck-PDF]/ 04.02.2016/ Seite 70 70 3. Einkommensverteilung, Armut und Sozialstaat 3.3 Fazit Disparitäten in der Verteilung der Erwerbseinkommen wie auch der Umfang an Armut werden durch Wohlfahrtsstaaten nachweisbar reduziert. Die Leistungskürzungen in jüngerer Zeit schlagen selbstverständlich zu Buche und werden künftig stärker sichtbar. Die obigen Ausführungen machten zudem deutlich, dass die jeweils typische sozialpolitische Ausrichtung sozialstaatlicher Regime eine Rolle bei der Armuts- und Ungleichheitsreduktion spielen. Was genau bewirkt, dass Regierungen unterschiedlich auf die auf Arbeitsmärkten, aber ebenso durch Kapitalmärkte oder Vermögen entstandene Ungleichverteilung reagieren, ist ein eigenes, spannendes Feld der Sozialforschung. Sind hierbei Gerechtigkeitsideen die treibende Kraft, oder sind es die Interessen bestimmter sozialer Gruppen, die sich mit ihren Forderungen nach mehr Gleichheit durchsetzen? Wie »Vermögende« dazu gebracht werden, Sozialleistungen für Ärmere mitzufinanzieren, ist weder allein mit Werten wie Gerechtigkeit noch mit Interessen zu erklären. Max Webers Begriff der Wertinteressen dürfte hier weiter führen: Demnach vertreten Gruppen mit einem Interessen an sozialer Umverteilung auch entsprechende Werte. Das Regimemodell sieht dies genauso: Politische Vertreter, die einflussreiche soziale Gruppen hinter sich haben, setzen bestimmte Werte und Verteilungsmuster durch. Zudem sind viele Sozialleistungen gewissermaßen selbstfinanziert durch die Gruppe, die sie nutzt. Das wurde in Kapitel 2. mit dem Konzept der Risikopools dargelegt. Umverteilende Sozialleistungen und Steuern können außerdem aus der Sicht vertragstheoretischer Modelle als eine Art »Ausgleichszahlung« an Gruppen, die sich so ihr Konfliktpotential abkaufen lassen, verstanden werden (Dallinger 2008). Man muss sich vergegenwärtigen, dass Aussagen zu den Verteilungseffekten sämtlicher Einkommensarten und aller steuer- und sozialpolitischen Instrumente ausgesprochen komplex und letztlich kaum möglich sind. Denn dann müssten auch Einkommen aus Unternehmertätigkeit und deren Besteuerung berücksichtigt werden, die mit den hier eingeführten Instrumenten der vergleichenden Forschung zu Einkommensverteilung und Sozialpolitik schlecht erfasst sind. <?page no="70"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Dallinger__Sozialpolitik____[Druck-PDF]/ 04.02.2016/ Seite 70 www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Dallinger__Sozialpolitik____[Druck-PDF]/ 04.02.2016/ Seite 71 71 4. Arbeitsmarktpolitik Der Arbeitsmarkt ist das Feld, auf dem das Angebot an und die Nachfrage nach Arbeit aufeinander treffen. Wie auf Märkten für Güter sollten sich die beiden Größen theoretisch-- so die neo-klassische Sicht arbeitsmarktökonomischer Ansätze-- langfristig bei einem Gleichgewicht einpendeln. Bei einem zu hohen Arbeitsangebot soll die dann entstehende Arbeitslosigkeit die Löhne senken, so dass Arbeit billiger wird und wieder mehr von Unternehmen nachgefragt wird. Das Arbeitsangebot soll sich flexibel dorthin orientieren, wo Nachfrage besteht. Andere Ansätze betonen, dass Arbeit keine Ware wie jede andere ist. Sie thematisieren, dass Arbeit verwoben ist mit gesellschaftlichen und sozialen Prozessen. Sie soll die Möglichkeit bieten, ein ausreichendes Einkommen zu erzielen; Erwerbsarbeit ist noch immer zentral für den sozialen Status und berufliche Identität, also insgesamt für die Integration in eine »Arbeitsgesellschaft«. Arbeitsmärkte werden als »Ungleichheitsmaschinen« (Hinz/ Abraham 2005) bezeichnen, da sie die Chancen und Benachteiligungen der Einzelnen prägen. Die Arbeitsmarktpolitik versucht daher, Arbeitsmarktabläufe zu regulieren und die negativen Folgen der Arbeitslosigkeit zu mildern. Die Erwerbsarbeit ist in modernen industriellen und inzwischen postindustriellen Gesellschaften von grundlegender Bedeutung. Aber den einzelnen Ländern gelingt es unterschiedlich gut, Bürger in die Arbeitsgesellschaft zu integrieren, auch wegen unterschiedlicher Arbeitsmarktpolitik und Arbeitsmarktinstitutionen (siehe 4.2). Sicherlich ist nicht allein die Arbeitsmarktpolitik ausschlaggebend für die Arbeitsmarktchancen, sondern vor allem wirtschaftliche Faktoren (Konjunktur, globale Konkurrenz, technologischer Wandel) bestimmen die Nachfrage nach Arbeit. Arbeitsmarktpolitik ist jedoch ein institutioneller Faktor, der Märkte mit den sozialen Belangen der Arbeitsmarktteilnehmer rahmt. Umgekehrt haben die Regulation der Arbeit und die soziale Sicherung bei Arbeitslosigkeit Rückwirkungen auf den Arbeitsmarkt. Deutschland kämpfte viele Jahre mit einer andauernd hohen Arbeitslosigkeit, deren Reduktion das zentrale arbeitsmarktpolitische Ziel war. Erst ab 2005 wendete sich das Blatt und Deutschland ging ohne steigende Arbeitslosenquoten durch die Finanzmarktkrise von 2007/ 8, während andere europäische Länder mit stark steigender Arbeitslosigkeit konfrontiert wurden, besonders die südeuropäischen Länder, die nachfolgend noch eine Staatsschuldenkrise zu verarbeiten hatten. Deutschland ist also erst neuerdings der Musterknabe unter den europäischen Ländern in puncto Arbeitslosigkeit. Nach dem »Wirtschaftswunder« der Nachkriegszeit, die Vollbeschäftigung bescherte, war seit der ersten Ölkrise 1974 die Arbeitslosenquote stetig auf ein höheres Niveau geklettert, das weder durch Wirtschaftswachstum noch Arbeitsmarktpolitik zu senken war. In den 1990er-Jahren ließ die Wiedervereinigung die Arbeitslosigkeit besonders in Ostdeutschland hochschnellen. Im Jahr 2005 lag die Arbeitslosenquote <?page no="71"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Dallinger__Sozialpolitik____[Druck-PDF]/ 04.02.2016/ Seite 72 72 4. Arbeitsmarktpolitik dann bei 12,5 % der Erwerbspersonen, es gab mehr als 5 Millionen registrierte Arbeitslose (Bonß/ Ludwig-Mayerhofer 2005). Als Ursache hoher Arbeitslosigkeit wurden immer wieder die nachteiligen Rahmenbedingungen, die sozialstaatliche Institutionen in Deutschland setzten, benannt. Zu diesen Nachteilen zählt man die Regulation der Arbeit (Kündigungsschutz, Tarifverträge etc.), einen aufgrund von relativ hohen Sozialbeiträgen teuren Faktor Arbeit und der verpasste Strukturwandel hin zu mehr Dienstleistungsbeschäftigung. Deutschland galt lange wegen hoher Arbeitslosigkeit als »kranker Mann Europas«. Das folgende Kapitel legt Grundlagen zum Verständnis des Arbeitsmarktes, indem zunächst wichtige Begriffe zur empirischen Beschreibung des Arbeitsmarktes dargelegt werden (4.1), und rekonstruiert dann Arbeitsmarkttheorien (4.2) und wie sie »institutionelle Beschränkungen« durch Arbeitsmarktpolitik und Regulierung der Arbeit bewerten. Dazu gehört die Problemdiagnose einer »Eurosklerose«, also einer Verkrustung der an sich vorteilhaften Marktprozesse, die auch dem deutschen Arbeitsmarkt in den 1980er- und 1990er-Jahren gestellt wurde. Folgerichtig werden in einem dritten Unterkapitel die arbeitsmarktpolitischen Reformen hin zu einer sog. »Aktivierungspolitik« und deren soziale Folgen empirisch betrachtet (4.3). 4.1 Erwerbsbeteiligung und Arbeitslosigkeit Dieser Abschnitt führt zunächst einige Grundbegriffe zur Beschreibung des Arbeitsmarktes ein. Die Bevölkerung wird in Nicht-Erwerbspersonen (Kinder, Schüler, Hausfrauen, Rentner) und Erwerbspersonen differenziert (Abb. 4.1). Letztere stehen dem Arbeitsmarkt potentiell zu Verfügung, müssen derzeit aber nicht erwerbstätig sein. Üblicherweise werden Personen im Alter zwischen 20 und 65 Jahren als Erwerbspersonen gezählt. Die Altersgrenzen können aber auch anders gezogen werden: Wenn etwa in einem Land ein Renteneintrittsalter von ca. 60 Jahren üblich ist, sollte die obere Altersgrenze entsprechend niedriger liegen. Drückt man die Zahl der Erwerbspersonen als prozentualen Anteil an der Bevölkerung aus, dann hat man die Erwerbsquote, die als Indikator dafür verwendet wird, wie umfassend die Bevölkerung am Erwerbsleben partizipiert. Einzelne soziale Gruppen innerhalb eines Landes unterscheiden sich hinsichtlich der Erwerbsquote: Diese ist oft niedriger bei Frauen oder Personen im späten Erwachsenenalter oder auch bei Jüngeren. Die Erwerbsquoten schwanken im internationalen Vergleich deutlich infolge von Unterschieden bei der wirtschaftlichen Konjunktur und der Arbeitsmarktpolitik, aber auch wegen Unterschieden bei der Vereinbarkeit von Erwerbstätigkeit und Familie für Frauen mit Kindern oder der lange praktizierten Frühverrentung, die die Nachfrage nach Arbeit verringern sollte. Die jeweiligen Strategien der Länder in der Renten- oder Vereinbarkeitspolitik schlagen sich in der Erwerbsquote nieder. <?page no="72"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Dallinger__Sozialpolitik____[Druck-PDF]/ 04.02.2016/ Seite 72 www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Dallinger__Sozialpolitik____[Druck-PDF]/ 04.02.2016/ Seite 73 4.1 Erwerbsbeteiligung und Arbeitslosigkeit 73 Erwerbspersonen unterscheidet man weiter in Erwerbstätige und (gemeldete) Arbeitslose. Wenn man die Zahl Erwerbstätiger als Prozentsatz der Gesamtbevölkerung ausdrückt, dann ergibt dies die Erwerbstätigenquote. Arbeitslose werden lediglich beim Erwerbspersonenpotential mitgezählt. Die Differenz zwischen der Erwerbsquote und der Erwerbstätigenquote ist die Arbeitslosenquote. Die Erwerbstätigenquote wird in der Fachliteratur teils als die-- im Vergleich zur Arbeitslosenquote-- aussagekräftigere Kennziffer für die Arbeitsmarktlage und Erwerbsintegration für Ländervergleiche betrachtet, da die Arbeitslosenquote immer auch von der jeweiligen Definition der Arbeitslosigkeit in einem Land abhängt (Eichhorst/ Hemerinck 2008). Weiter unten wird die jedoch international vergleichbare Erwerbslosigkeit erläutert. An der Erwerbstätigenquote lässt sich erkennen, wie umfassend die erwachsene Bevölkerung in Erwerbsarbeit integriert ist. Das ist auch deshalb von Interesse, weil ein hoher Stand der Erwerbstätigkeit es erleichtert, Sozialleistungen der Inaktiven, also der Rentner und Arbeitslosen, zu finanzieren. Hohe Sozialausgaben und der in alternden Gesellschaften wachsende Bedarf an Sozialleistungen (Rente, Krankenversicherung und Pflege) lassen sich umso besser auffangen, wie die Partizipation von Frauen wie auch von älteren und jüngeren Arbeitnehmern am Arbeitsmarkt gelingt. Das ist der Grundgedanke der active society, die die Europäische Union propagiert. Mit Hilfe von hoher Erwerbsintegration aller Bevölkerungsgruppen sollen die Kosten des demografischen Wandels geschultert werden und das Europäische Sozialmodell auch weiterhin tragbar machen. Das lehnt sich an skandinavische Länder an, die schon länger eine hohe Quote der im Erwerbsleben Aktiven anstreben, um über die Abgaben der Erwerbstätigen die umfassenden Sozialleistungen finanzieren zu können. Abb. 4.1: Who is who im Erwerbsleben? Quelle: Eigene Darstellung; *Bildungs- oder Arbeitsbescha ungsmaßnahmen. Personen im Erwerbsalter Erwerbspersonenpotential Nicht-Erwerbspersonen - kein Erwerbswunsch Erwerbstätige registrierte Arbeitslose in Maßnahmen* stille Reserve Arbeitslose <?page no="73"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Dallinger__Sozialpolitik____[Druck-PDF]/ 04.02.2016/ Seite 74 74 4. Arbeitsmarktpolitik Abbildung 4.2 zeigt, dass die Erwerbstätigenquoten langfristig steigen (außer in Schweden, wo sie ohnehin am höchsten war) und dabei konvergieren, also mit der Zeit ähnlicher werden. Aber immer noch liegen Frankreich und die Schweiz mit 15 Prozentpunkten auseinander. Sozialdemokratische Länder wie Norwegen und Schweden haben sogar ein höheres Beschäftigungsniveau als liberale Länder wie die Vereinigten Staaten und Großbritannien. Das hohe Sozialausgabenniveau der beiden skandinavischen Länder scheint die umfassende Integration in Erwerbsarbeit nicht zu behindern. Modernen post-industriellen Gesellschaften geht demnach keineswegs »die Arbeit aus«, wie in den 1990er-Jahren befürchtet wurde. Sie wird aber anders. Zum einen dominiert inzwischen die Dienstleistungsbeschäftigung, zum anderen entstehen neben den »Normalarbeitsverhältnissen« auch deregulierte bzw. de-standardisierte Arbeitsverhältnisse (siehe Kap. 4.3). Daher ist es wichtig zu sehen, dass die gezeigte nominale Erwerbstätigenquote nur Personen in Arbeit zählt, nicht auch die Stundenintensität der ausgeübten Arbeit. Wächst v. a. der Umfang an Teilzeit- oder geringfügiger Beschäftigung, verzerrt dies die reale Situation. Eine bereinigte Erwerbstätigenquote, die auch den Stundenumfang einkalkuliert, liefert präzisierte Angaben. Werden Teilzeit und Minijobs eingerechnet, dann sieht man, dass der Anstieg der Erwerbstätigkeit in Deutschland seit 2005 geringer ausfällt (IMK Report 103; 2015). Die Arbeitslosenquote ist ein wichtiger Indikator für die Lage auf dem Arbeitsmarkt. Wie hoch sie ausfällt, wird davon bestimmt, wer als arbeitslos gezählt wird und damit Abb. 4.2: Entwicklung der Erwerbstätigenquote 1980-2012 Quelle: Eigene Darstellung nach OECD Labor Force Statistics. http: / / stats.oecd.org/ Index.aspx? DatasetCode=LSF_SEXAGE_I_R# 50 55 60 65 70 75 80 85 1980 1982 1984 1986 1988 1990 1992 1994 1996 1998 2000 2002 2004 2006 2008 2010 2012 DE AT FR NL NO SE UK US CH <?page no="74"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Dallinger__Sozialpolitik____[Druck-PDF]/ 04.02.2016/ Seite 74 www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Dallinger__Sozialpolitik____[Druck-PDF]/ 04.02.2016/ Seite 75 4.1 Erwerbsbeteiligung und Arbeitslosigkeit 75 überhaupt in die Berechnung der Höhe der Arbeitslosenquote eingeht. Die Arbeitslosenquote für Deutschland wird nach den Bestimmungen des Sozialgesetzbuchs (SGB) ermittelt, die auf Seite 76 »Wer ist eigentlich arbeitslos? « genauer erläutert werden. 29 Für internationale Vergleiche wird eine andere Definition der International Labour Organisation (ILO) verwendet, die Erwerbslosigkeit misst. Dieser Indikator wird ebenfalls im Folgenden genauer beschrieben. Anhand von Abbildung 4.3 lässt sich zunächst die Entwicklung der Arbeitslosenquote in Ostdeutschland im Vergleich zu Gesamtdeutschland in der Zeit zwischen 1992 und 2014 betrachten. Um ein präziseres Bild zeichnen zu können, zeigt sie ebenfalls die Unterschiede bei der Arbeitslosigkeit nach beruflicher Qualifikation. Zunächst sei die Entwicklung der Arbeitslosigkeit allgemein erläutert. Die durchgezogene graue Linie zeigt, dass nach der Wiedervereinigung die Arbeitslosigkeit in den neuen Ländern deutlich höher als für Deutschland insgesamt ausfiel. Wegen der umfassenden De-Industrialisierung und Schließung staatseigener Betriebe in den ers- 29 Sie erfasst nicht versteckte oder nicht registrierte Arbeitslosigkeit. Abb. 4.3: Arbeitslosenquote in Deutschland von 1992 bis 2014-- nach beruflicher Qualifikation Quelle: Arbeitslosenquote aller abhängigen zivilen Erwerbspersonen/ registrierte Arbeitslose. Eigene Darstellung nach: Destatis. www.destatis.de/ DE/ ZahlenFakten/ Indikatoren/ LangeReihen/ Arbeitsmarkt/ lrarb001.html Quali-kationsspezi-sche Arbeitslosenquote: IAB, Berechnungen auf Basis des Mikrozensus und Strukturerhebung der BA. www.iab.de/ de/ daten/ arbeitsmarktentwicklung Abruf 1.5.2015. 0 5 10 15 20 25 30 1992 1994 1996 1998 2000 2002 2004 2006 2008 2010 2012 2014 Deutschland Deutschland neue Länder ohne Ausbildung beruiche Ausbildung Hochschulabschluß <?page no="75"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Dallinger__Sozialpolitik____[Druck-PDF]/ 04.02.2016/ Seite 76 76 4. Arbeitsmarktpolitik ten Jahren nach der Wiedervereinigung stieg sie stark an. Maßnahmen wie Vorruhestandsregelungen und Kurzarbeit milderten zwar die Arbeitsmarktprobleme etwas, dennoch lag sie immer noch bei etwa 18 % im Jahr 2004. Seither ging die Arbeitslosigkeit zwar zurück, liegt aber in den neuen Bundesländern nach wie vor über dem bundesweiten Durchschnitt. Wer ist eigentlich arbeitslos? Arbeitslosigkeit kann nach den nationalen Standards der Sozialverwaltung definiert werden. Danach gilt eine Person als arbeitslos, wenn sie nicht in einem Beschäftigungsverhältnis steht, arbeitslos gemeldet ist, den Vermittlungsbemühungen der Arbeitsagentur zur Verfügung steht, unter 65 Jahre (Regelaltersgrenze) alt ist und mindestens 15 Stunden pro Woche eine zumutbare Beschäftigung ausüben kann (SGB III, § 16 und § 138). Hier handelt es sich um registrierte Arbeitslosigkeit. • Nicht registrierte Arbeitslosigkeit besteht aus jenen, die sich nicht arbeitslos melden, die eine Ausbildungsstelle suchen oder eine kurzfristige Beschäftigung, und aus älteren Arbeitslosen, die dem Arbeitsmarkt nicht mehr zur Verfügung stehen müssen. • In die registrierte Arbeitslosigkeit gehen auch Personen in Kurzarbeit, in Trainingsmaßnahmen und Arbeitsgelegenheiten sowie mit Existenzgründungszuschuss nicht ein. Die registrierte Arbeitslosigkeit wird dadurch um 1,24 Millionen Personen vermindert (Bäcker u. a. 2010: 483). Ein entsprechender Einsatz umfangreicher finanzieller Mittel für aktive Arbeitsmarktpolitik ist ein politisches Instrument zur Senkung der Zahl registrierter Arbeitsloser. • Auch die »Stille Reserve« taucht nicht bei den registrierten Arbeitslosen auf. Es handelt sich um Personen, die nicht arbeitslos gemeldet sind, jedoch für den Arbeitsmarkt verfügbar sind und unter besseren Bedingungen eine Erwerbsarbeit aufnehmen würden. Da sie nicht registriert sind, wird ihre Zahl geschätzt. Sie bilden die Stille Reserve im engeren Sinne. Außerdem zählt man Personen in arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen zur Stillen Reserve und nicht zu den Arbeitslosen (siehe oben). Die International Labour Organisation (ILO) bietet eine international vergleichbare Definition von Erwerbslosigkeit: Danach ist erwerbslos, wer weniger als 1 Std. in der Woche gegen Entgelt arbeitet, sich aktiv um Arbeit bemüht und innerhalb von 2 Wochen für eine Arbeit verfügbar ist. Auf die Meldung bei einer Agentur für Arbeit kommt es nicht an. Die mit unterschiedlichen Definitionen berechneten Arbeitslosenquoten weichen erheblich voneinander ab. In der Regel kommt man zu weniger Erwerbslosen als Arbeitslosen, da ja Menschen bereits ab zwei Stunden bezahlter Arbeit pro Woche als nicht erwerbslos zählen. So waren 2005 in Deutschland nach der ILO-Definition lediglich 9,4 % erwerbslos, nach der amtlichen Definition der registrierten Arbeitslosigkeit aber 13 % (Bäcker u. a. 2008: 484). <?page no="76"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Dallinger__Sozialpolitik____[Druck-PDF]/ 04.02.2016/ Seite 76 www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Dallinger__Sozialpolitik____[Druck-PDF]/ 04.02.2016/ Seite 77 4.1 Erwerbsbeteiligung und Arbeitslosigkeit 77 Arbeitsmarktprobleme schwanken nicht bloß zwischen Ost- und Westdeutschland, sondern auch nach der beruflichen Qualifikation. Menschen ohne Ausbildung haben die höchste Arbeitslosenquote. Bereits eine Berufsausbildung senkt das Arbeitsmarktrisiko unter den gesamtdeutschen Durchschnitt und ein Hochschulabschluss lässt es weiter fallen (was sicher nicht für alle Studienfächer gilt). Zu den überdurchschnittlich von Arbeitslosigkeit betroffenen Risikogruppen zählt man weiter junge Erwachsene, Ältere und Migranten. Frauen, die lange ebenso zu den Risikogruppen gehörten, können angesichts der in den vergangenen Jahren steigenden Erwerbsbeteiligung von Frauen kaum pauschal zugeordnet werden; das verneint nicht geschlechtsspezifische Arbeitsmarktnachteile, wie sie etwa der überproportionale Anteil der Frauen bei den de-standardisierten Arbeitsformen (siehe Kap. 4.3.3) oder weiter bestehende Entlohnungsunterschiede belegen. 30 Um die Höhe der Arbeitslosigkeit international zu vergleichen, verwendet man nach einheitlichen Kriterien erfasste Zahlen wie sie die ILO ermittelt. Diese Erwerbslosigkeit und Erwerbslosenquoten weichen von der mit SGB Standards berechneten Arbeitslosenquote etwas nach unten ab. Die Kriterien für Erwerbsarbeit sind nach der ILO breiter gesteckt und so werden mehr Menschen als erwerbstätig definiert. Die Arbeitslosenquote nach dem SGB-Konzept liegt höher. Die in Abbildung 4.4 verwendeten Zahlen nach ILO Standards zeigen die langfristige Entwicklung der Erwerbslosenquote in ausgewählten Ländern. Danach starten alle europäischen Länder in den 1960er-Jahren mit extrem niedrigen Erwerbslosenquoten, die ab 1970 anfangen zu steigen. In den 1970er-Jahren endet der Nachkriegsboom, beendet die Ölkrise die Zeit billiger Energie und das Wirtschaftswachstum verlangsamt sich. Deutschland erlebt in den 1980er- und 1990er-Jahren einen kontinuierlichen Zuwachs an Erwerbslosen und wird Anfang des Jahrtausends sogar der Spitzenreiter unter den europäischen Ländern. Ab Mitte der 2000er-Jahre wendet sich das Blatt und ein deutlicher Rückgang der Erwerbslosigkeit setzt ein. Der Verlauf ist in Frankreich ähnlich, jedoch geht hier die Erwerbslosenquote nicht Mitte/ Ende der 2000er- Jahre zurück, sondern bleibt hoch. Schweden konnte den Anstieg der Erwerbslosigkeit zwar in die 1990er-Jahre verzögern, jedoch ist ab etwa 2010 die Rate konstant hoch. Großbritannien konnte den drastischen Anstieg der Erwerbslosen in den 1980er-Jahren zurückdrängen, weist aber seit der Finanzkrise 2007 wieder einen Zuwachs auf. Bemerkenswert sind die Niederlande mit einem in den 1980er- und 1990er-Jahren starken Zuwachs der Erwerbslosen, aber einer offenbar erfolgreichen Arbeitsmarktpolitik, die diese senken konnte, bis die Auswirkungen der Finanzkrise dies zunichte machte. Norwegens niedrige Erwerbslosigkeit gilt eher als ein Spezialfall, der mit den Ölvorkommen zu begründen ist. 30 Zu Risikogruppen siehe Bäcker u. a. 2008. <?page no="77"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Dallinger__Sozialpolitik____[Druck-PDF]/ 04.02.2016/ Seite 78 78 4. Arbeitsmarktpolitik Die Entwicklung in den USA muss vor dem Hintergrund der europäischen Erfahrung der über 3 Dekaden hartnäckig wachsenden Arbeitslosigkeit interpretiert werden. Denn in den USA sank ab etwa 1975 die Arbeitslosigkeit und blieb (gleichwohl mit Schwankungen) auf einem niedrigen Level bis sie erst nach der Finanzkrise 2007 stark anstieg. Aufgrund dieses Kontrasts erklärt die Fachliteratur die Arbeitsmarktprobleme europäischer Länder oft mit deren regulierten Arbeitsmärkten und propagiert das liberale Modell der USA (oder Großbritanniens) als Rezept gegen Arbeitslosigkeit. Eurosklerose sei gewissermaßen durch die generöse soziale Absicherung Arbeitsloser, durch ein hohes Lohnniveau und Arbeitsschutz »selbstverschuldet«. Die Problemdiagnose, dass (zu) hohe Leistungen für Arbeitslose und ein auch sonst rigider Arbeitsmarkt in Europa Arbeitslosigkeit erzeuge, gehört zu den Standarderklärungen der Ökonomie und prägte viele Analysen der Arbeitsmarktprobleme europäischer Länder. Das folgende Kapitel geht auf das liberale Arbeitsmarkmodell und dessen Sicht von Institutionen ein, die das Gleichgewicht von Angebot und Nachfrage stören und Arbeitslosigkeit über ein »natürliches« Maß hinaus steigern würden. Dann wird der Begriff der Eurosklerose mit seinen Erklärungen für steigende Arbeitslosigkeit genauer definiert. Abb. 4.4: Entwicklung der Erwerbslosenquote im Ländervergleich, 1960-2013 Quelle: Eigene Darstellung nach: stats.oecd.org/ index.aspex? queryid=451#. Abruf 21.4.15. Rate of Unemployment as % of Civilian Labor Force, annual av., nicht saisonbereinigt. 0 2 4 6 8 10 12 1960 1965 1970 1975 1980 1985 1990 1995 2000 2002 2004 2006 2008 2010 2013 AT FR DE NL NO SE UK US <?page no="78"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Dallinger__Sozialpolitik____[Druck-PDF]/ 04.02.2016/ Seite 78 www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Dallinger__Sozialpolitik____[Druck-PDF]/ 04.02.2016/ Seite 79 4.2 Arbeitsmarkt und Institutionen 79 4.2 Arbeitsmarkt und Institutionen 4.2.1 Arbeitslosigkeit in der liberalen Theorie Arbeitslosigkeit bedeutet im Grunde ein zu großes Arbeitsangebot. Nach der klassischen Arbeitsmarktökonomie sollten sich das Angebot an Arbeit und die Nachfrage nach Arbeit aber ausgleichen, wenn vollkommene Flexibilität und Konkurrenz auf dem Markt herrschen. Denn bei einem Überangebot an Arbeit sollte der Preis für Arbeit, der Lohn, sinken, da der Preis sich aus der Knappheit der Arbeit ergibt. Arbeitsuchende stellen fest, dass zu dem angestrebten Lohn keine Stelle zu finden ist, und senken daher ihre Lohnerwartung. Die Untergrenze, bis zu dem die angebotene Arbeit angeboten wird, ist der Reservations- oder Anspruchslohn. Liegt die erzielbare Entlohnung darunter, ziehen sich Arbeitslose von der Suche zurück. Dies gilt in der ökonomischen Sicht als freiwillige Arbeitslosigkeit (da ja Arbeitsstellen zu einer geringeren Entlohnung vorhanden wären). Arbeitslosigkeit wäre also lediglich die Sucharbeitslosigkeit und freiwillig, daher friktionell. Werden zudem wegen eines wirtschaftlichen Abschwungs wenig Stellen angeboten, spricht man von konjunktureller Arbeitslosigkeit. Sind geringe Stellenangebote durch die Saison bedingt, handelt es sich um saisonale Arbeitslosigkeit. Die langanhaltende Arbeitslosigkeit wird mit grundlegenden Störungen des Marktmodells begründet, die durch institutionelle Faktoren entstehen, die Marktmechanismen behindern (Ludwig-Mayrhofer 2008). Zu den Institutionen des Arbeitsmarktes zählen Flächentarifverträge, die einzelnen Unternehmen die Flexibilität nehmen, Löhne der jeweiligen Gewinn-/ Nachfragesituation im Betrieb anzupassen. Arbeitsrecht und Kündigungsschutz erschweren es, der Wirtschaftslage angepasste, etwa befristete Arbeitsverhältnisse abzuschließen. Hohe Lohnersatzleistungen (social wage) für Arbeitslose fördern die Möglichkeit, sich vom Arbeitsmarkt zurückzuziehen. Vorhandene Stellen mit einer Bezahlung zum (darunter liegenden) Marktpreis müssen dann nicht angenommen werden. Denn je höher der social wage, desto höher ist der Reservationslohn bzw. der vom Arbeitgeber zu zahlende Lohn. Auch Mindestlöhne behindern aus dieser Sicht marktliche Anpassungsmechanismen, da Löhne dann nicht mehr auf ein Niveau fallen dürfen, auf dem aber bestimmte Arbeitsplätze erst lohnend angeboten werden können. Insgesamt hohe Lohnnebenkosten und eine hohe Steuerlast der Unternehmen gelten als Bürde für die Schaffung von mehr Arbeitsplätzen. Die wegen der Institutionen »teure« Arbeit habe zur Folge, dass Unternehmen entweder die Produktion in günstigere Länder verlagern oder rationalisieren, damit »teure« Arbeitskräfte entsprechend viel oder Hochwertiges produzieren. Abhilfe würde der Abbau der Lohnrigiditäten schaffen: a) Die Senkung eines relativ hohen und egalitären Lohnniveaus; b) die Reduzierung der Anzahl und Reichweite gesetzlicher Regulierung von Arbeit (v. a. des Kündigungsschutzes); <?page no="79"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Dallinger__Sozialpolitik____[Druck-PDF]/ 04.02.2016/ Seite 80 80 4. Arbeitsmarktpolitik c) die Senkung der Lohnnebenkosten; d) Rückbau des Einflusses der Gewerkschaften. Das neo-klassische Arbeitsmarktmodell und dessen These der den Marktmechanismus verzerrenden Institutionen wird jedoch seit langem kritisiert. Verschiedene Aspekte werden dabei ins Feld geführt: Auch innerhalb der Ökonomie existieren andere Erklärungen für Arbeitslosigkeit: Für den keynesianischen Ansatz ist es eher die mangelnde Güternachfrage, wegen der Arbeitsplätze fehlen. Denn dann ist der Absatz zu gering und Beschäftigung muss abgebaut werden, wodurch die Güternachfrage weiter schrumpft. Die Binnennachfrage zu stärken, ist hier ein wichtiges Instrument gegen Arbeitslosigkeit. Der Staat kann diese durch öffentliche Investitionsprogramme oder Beschäftigung ankurbeln, aber auch, indem fallende Löhne bzw. zu geringe Lohnanpassung verhindert werden. Gegen das Modell des perfekten Marktes wird außerdem eingewandt, dass der Faktor Arbeit nicht homogen ist (alle können jede Arbeit ausüben). Berufe und Branchen begrenzen Flexibilität. Menschen besitzen unterschiedliche Fähigkeit oder berufliche Qualifikationen. Offene Stellen in einem Beruf können nicht beliebig durch andere berufliche Qualifikationen ausgeglichen werden. 31 Ein Qualifikationsschutz für Arbeitslose, nach dem diese nicht gezwungen werden können eine Tätigkeit außerhalb ihres Berufs auszuüben, gilt in der klassischen Arbeitsmarkttheorie als Rigidität, die Arbeitslosigkeit in die Höhe treibt. Positive Aspekte dieser Institution werden vernachlässigt (siehe unten). Weiter sind Arbeitsmärkte durch Branchen segmentiert, zwischen denen Arbeitskräfte wenig flexibel sind-- ebenfalls wegen beruflicher Qualifikationen. Gerade der Arbeitsmarkt Deutschlands zeichnet sich im internationalen Vergleich durch hohe berufliche, betriebsspezifische Qualifikationen aus, die Unternehmen im industriellen Sektor die Spezialisierung auf hochwertige Produkte erlaubt (u. a. durch das duale Ausbildungssystem). In der klassischen Arbeitsmarkttheorie fehlen außerdem räumliche Schranken, wegen der ein Ausgleich zwischen Angebot und Nachfrage auf dem Markt erschwert ist. Auch aus sozialen Gründen wird zurückgewiesen, dass der Arbeitsmarkt ein Markt wie jeder andere sei. Wenn der Preis des Faktors Arbeit flexibel fallen können muss, bis wieder Nachfrage zu einem niedrigen Preis vorhanden ist, wäre bei reichlich Arbeitsangebot mit sehr niedrigen Löhnen zu rechnen. Armut würde steigen, was zumindest für die betroffenen Haushalte, aber durchaus auch für die Politik ein Problem darstellt. 32 Denn mit ihrer ökonomischen Situation Unzufriedene können für 31 Das beliebte Beispiel des Stahlkochers, der nun im Altenpflegeheim arbeiten soll, macht die Hürden gegenüber den Flexibilitätserwartungen anschaulich. 32 Dass die Generosität der Sicherung Arbeitsloser (Dauer der Leistung, Lohnersatzrate) die Armut senkt, zeigt Bäckman (2009). Der Zuwachs der Armut zwischen 1980 und 2000 in wird am besten durch die Lohnersatzrate für Arbeitslose erklärt. <?page no="80"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Dallinger__Sozialpolitik____[Druck-PDF]/ 04.02.2016/ Seite 80 www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Dallinger__Sozialpolitik____[Druck-PDF]/ 04.02.2016/ Seite 81 4.2 Arbeitsmarkt und Institutionen 81 die Abwahl der Regierung sorgen (Lewis-Beck/ Paldam 2000). Der Arbeitsmarkt ist auch deshalb kein normaler Markt, weil es hier um Erwerbseinkommen als die Existenzbasis der meisten Menschen in modernen Arbeitsgesellschaften geht. Wegen der Notwendigkeit, auch Bedarfskriterien oder Fairnessnormen bei der Lohnfindung gerecht zu werden, wird eine gewisse Regulierung von Löhnen und Arbeitsbedingungen auch jenseits der Marktmechanismen für angemessen gehalten. Die Institutionen des Arbeitsmarktes haben aber auch positive Effekte: Für Kritiker des Marktmodells hat ein geringer Preis der Arbeit die wirtschaftlich unerwünschte Folge, dass Rationalisierung in Unternehmen unterbleibt, die eigentlich einen wichtigen Konkurrenzvorsprung erzeugt. »Teure« Arbeit zwinge die Arbeitgeber, Arbeit entsprechend effektiv zu nutzen und innovativ zu sein. Durch Rationalisierung werden sie so eingesetzt, dass das hohe Lohnniveau durch hohe Produktivität aufgefangen werde. Teure Arbeit sei ein Anreiz, der die technologische Entwicklung vorantreibe und einen Hochlohn-Hochproduktivitätspfad der wirtschaftlichen Entwicklung fördert. »Billige« Arbeit hingegen schade der Wirtschaft langfristig. Die materielle Absicherung Erwerbsloser durch Lohnersatzleistungen bestimmt, wie hoch der Druck ist, Arbeit aufzunehmen. Deren Generosität (Höhe, Dauer und Bezugsbedingungen) ist aber nicht bloß negativ. Vielmehr sorgt diese für ein besseres Passungsverhältnis zwischen Stellenanforderungen und den Qualifikationen und Motivationen der Bewerber. Mehr Zeit für das matching verringert die Fluktuation, d. h. Stellen werden seltener gewechselt. Soziale Sicherung Arbeitsloser vermeidet somit, dass Humankapital auf inadäquaten Stellen vergeudet wird. Ein adäquates Absicherungsniveau ist der nötige Anreiz für Menschen, in eine fachspezifische Ausbildung zu investieren und langfristig betriebsspezifische skills zu erwerben. Soziale Absicherung stützt erst die Sucharbeitslosigkeit, die u. U. nötig ist, um einen der Qualifikation entsprechenden Job zu finden. Somit verhindert die staatliche Absicherung Arbeitsloser Ineffizienz durch zu geringe Investition in Bildung. Firmen können so sicher sein, hochqualifizierte Kräfte zu erhalten und richten ihre Produktstrategien entsprechend aus, wie der Varieties of Capitalism Ansatz darlegt (siehe Kap 2.4). FacharbeiterInnen investieren in das Asset Ausbildung und Berufserfahrung, die droht durch erzwungene Flexibilität in andere Arbeitsmarktsegmente verloren zu gehen. Die Sicherungsinteressen qualifizierter Arbeiter am Erhalt fachspezifischer Wissen sind also problemlos vereinbar mit den Interessen der Wirtschaft am Erhalt fachlicher und betriebsspezifischen Fertigkeiten auch über Konjunkturdellen hinweg (siehe Kap. 2.4). Schließlich gleichen soziale Sicherungsleistungen bei Erwerbslosigkeit intertemporale Schwankungen der Haushaltseinkommen aus und stabilisieren so den Konsum. <?page no="81"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Dallinger__Sozialpolitik____[Druck-PDF]/ 04.02.2016/ Seite 82 82 4. Arbeitsmarktpolitik 4.2.2 Arbeitslosigkeit verursacht durch Institutionen des Arbeitsmarktes? Die Institutionen des Arbeitsmarktes durchkreuzen aus einer liberalen Sicht mit marktfremden Zielen wie Armutsvermeidung oder sozialer Ausgleich die Marktmechanismen und erzeugen höhere Arbeitslosigkeit als sie sich »natürlich« (ohne Rigiditäten) einpendeln würde. Die konventionelle ökonomische Sicht, die auch die Erklärung der international vergleichsweise hohen Arbeitslosenquote in Deutschland und anderen europäischen Ländern prägt, ist, dass hohe Sozialleistungen Arbeitslosigkeit letztlich verschlimmern. Arbeitslosigkeit hat einen Gleichgewichtszustand, der aber nur erreicht wird, wenn das matching zwischen Arbeitslosen und Stellen nicht durch Faktoren gestört wird, die Löhne trotz eines hohen Angebots an Arbeit hoch halten. Die Arbeitslosenrate ist umso höher, je mehr Einfluss diese Institutionen auf Gleichgewichtsprozesse am Arbeitsmarkt haben. Somit würde Arbeitsmarktpolitik-- v. a. die passive materielle Sicherung-- letztlich Arbeitslosigkeit erzeugen, obwohl sie das Gegenteil will. Die soziale Sicherung Arbeitsloser, der Arbeits- und Kündigungsschutz setzt aus der liberaler Sicht Fehlanreize. Staatliche Lohnersatzleistungen ziehen eine untere Schwelle-- den sogenannte Reservations- oder Anspruchslohn- - ein, bis zu der Löhne fallen können. Dadurch, dass Lohnersatzleistungen (social wage) zur Verfügung stehen, braucht Arbeitskraft nicht zu einem unter dem Reservationslohn liegenden Preis verkauft werden. Arbeitsplätze, die zu geringeren Löhnen durchaus angeboten würden, verhindere der Sozialstaat selbst. Gerade wenig Qualifizierte mit den höchsten Arbeitslosenquoten würden von mehr Arbeitsplätzen profitieren, gäbe es weniger Rigiditäten. Im Folgenden wird kritisch beleuchtet, ob dieser Zusammenhang zutrifft. Die Frage, ob Leistungen bei Arbeitslosigkeit Fehlanreize setzen und so generöse soziale Sicherung unerwünscht mehr Arbeitslosigkeit erzeugt, wird seit langem kontrovers diskutiert. Ausführlich kann diese Debatte hier nicht dargestellt werden. Aber einige Schlaglichter auf die Vorgehensweise geben einen ersten Einblick. Im Grunde geht es darum, ob in entwickelten OECD-Ländern mit einer umfangreichen Sicherung sowohl hinsichtlich der Lohnersatzrate als auch der Dauer der Lohnersatzleistung die Arbeitslosenquote höher ist als in Ländern mit einer schlanken Absicherung Arbeitsloser. Klassische arbeitsmarktökonomische Studien (Layard et.al. 1991 und 2005; Nickell 1997) belegten, dass mit der Höhe der Lohnersatzleistung für Arbeitslose die Arbeitslosenquote steigt. So besteht nach Layard et. al. (1991) ein signifikanter positiver Zusammenhang zwischen der Lohnersatzrate und der Arbeitslosenquote: Bei einer um 10 % höheren Lohnersatzrate steigt die Arbeitslosigkeit um 1,7 % an. Auch bei einer längeren Bezugsdauer der Leistungen fällt die Arbeitslosenquote höher aus. Die Analysen berücksichtigen auch weitere Faktoren, die Arbeitslosigkeit beeinflussen, d. h. es gibt eine gewisse Absicherung, dass tatsächlich der Netto-Einfluss der Lohnersatzrate erfasst wird und nicht der Einfluss, der von der schwankenden Konjunktur auf die Arbeitslosenrate ausgeht. <?page no="82"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Dallinger__Sozialpolitik____[Druck-PDF]/ 04.02.2016/ Seite 82 www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Dallinger__Sozialpolitik____[Druck-PDF]/ 04.02.2016/ Seite 83 4.2 Arbeitsmarkt und Institutionen 83 Die festgestellte Korrelation zwischen der Leistungshöhe und der Arbeitslosenquote lässt sich jedoch aufgrund methodischer Mängel und mit in eine andere Richtung weisenden empirischen Ergebnissen hinterfragen. Kritisiert wurde im Einzelnen, dass mit den Querschnittsdaten, auf die sich die Studie stützt, nicht überprüfbar ist, ob der kausale Zusammenhang nicht umgekehrt verläuft, also eigentlich die hohe Arbeitslosigkeit die Leistungen für Arbeitslose steigen lässt (weil es entsprechenden politischen Druck gibt; Atkinson 1999: 43). Dies wird als Problem reverser Kausalität bezeichnet. In der Tat lassen sich mit einer Querschnittsanalyse, die ja Informationen aus der Variation der Lohnersatzraten und der Arbeitslosenquoten in verschiedenen Ländern zieht, nur eingeschränkt Ursachenzusammenhänge ableiten. Auch inhaltliche Gründe lassen sich gegen den einfachen kausalen Zusammenhang zwischen der Höhe der Absicherung und der Arbeitslosenquote anführen. Die Kritik zielt auf die Annahme, dass Menschen nur wegen »günstiger« Lohnersatzleistung in Arbeitslosigkeit verbleiben würden. Dies unterschätze den Wert eines Arbeitsplatzes für den Selbstwert und die Identität der Einzelnen. Die Annahme geht zudem sehr unrealistisch von einem hohen Wert der Freizeit für Arbeitslose aus und das, obwohl die »Freizeit« Arbeitsloser nachweislich negative Folgen hat (Howell/ Rehm 2009). Viele Arbeitslose wissen um die Entwertung ihrer Qualifikationen durch lange Ausfallzeiten, so dass sie andauernde Arbeitslosenphasen eher vermeiden. Zudem wurden die frühen Studien zum Zusammenhang zwischen Sozialleistungen und Arbeitslosigkeit wegen der damals verwendeten Daten der OECD hinterfragt. In den 1990er-Jahren stand lediglich eine Brutto-Lohnersatzrate für einen typischen Fall-- ein 40-Jähriger mit durchgehender Erwerbstätigkeit ab 18 Jahren-- zur Verfügung. Deren Berechnung hat nach heutigem Stand Mängel 33 und wurde von der OECD inzwischen durch eine Netto-Lohnersatzrate ersetzt. Neuere Analysen auf dieser Basis stützen aber keineswegs eindeutig, dass das Lohnersatzniveau die Arbeitslosenquote steigen lässt (Howell/ Rehm 2009: 62). Abbildung 4.5 dokumentiert dies anhand der neuen OECD Daten zur Netto-Lohnersatzrate, die erst ab 2000 zur Verfügung stehen. Nach einer Änderung der Netto-Lohnersatzrate (NRR) im Jahr 2001 bewegt sich die Arbeitslosenquote nicht eindeutig in die erwartete Richtung. Man findet in Ländern wie Schweden, der Schweiz, Portugal oder auch Deutschland den erwarteten Anstieg der Arbeitslosenquote, aber ebenso eine verringerte in den Ländern Italien, Canada oder Spanien (es werden nicht alle Länder genannt, für die das zutrifft). Eine einheitliche Tendenz existiert jedenfalls nicht. Denn offenbar wird die Arbeitslosenquote durch sehr viel mehr Faktoren als nur die Leistungshöhe bestimmt. Die Kritik am angenommenen Zusammenhang zwischen der materiellen Absicherung Arbeitsloser und der Arbeitslosigkeit zielte weiterhin auf die Tatsache, dass kei- 33 a) Berechnung als Prozentsatz des Lohnes des durchschnittlichen Produktionsarbeiters, statt als Anteil des Durchschnitts aller Löhne. b) Die Nicht-Berücksichtigung von sozialhilfeartigen Leistungen zusätzlich zu Arbeitslosenhilfeleistungen wie etwa Wohngeld. <?page no="83"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Dallinger__Sozialpolitik____[Druck-PDF]/ 04.02.2016/ Seite 84 84 4. Arbeitsmarktpolitik neswegs alle europäischen Länder eine im Vergleich zu den U. S. überdurchschnittliche Arbeitslosenquote aufweisen. Die Dauer der Leistung und die Lohn-Ersatzrate des social wage müssen nicht als Fehlanreiz wirken, wenn zugleich die Sanktionen und der Vermittlungsdruck auf Arbeitslose hoch sind. Die skandinavischen Länder praktizieren eine solche Kombination hoher sozialer Sicherung und gleichzeitiger Aktivierung, die-- wie niedrige Arbeitslosenzahlen nahelegen-- durchaus wirken. Zusätzlich gehört rechtliche Flexibilität zum arbeitsmarktpolitischen Flexicurity-Modell skandinavischer Länder (genauer zu Aktivierungsstrategien siehe Kap. 4.3). 4.2.3 Eurosklerose und »Welfare without work« Die Diagnose, dass relativ hohe Lohnersatzleistungen und Arbeitsmarktinstitutionen die Arbeitslosigkeit nach oben treiben, steckt auch im Begriff der Eurosklerose. Das Folgende legt zwei bekannte Erklärungen für die vergleichsweise hohe Zahl an Erwerbslosen in Europa und insbesondere in kontinentaleuropäischen Ländern dar. Sie stellen auf spezifische wirtschafts- und arbeitsmarktpolitische Konstellation ab, die in ein kontinentales Dilemma führen (Scharpf 1997) und wegen der Welfare without work (Esping-Andersen 1996) in diesen Ländern herrsche. Wie hängen viel Wohlfahrt, aber wenig Arbeit zusammen? Abb. 4.5: Netto-Lohnersatzrate 2001 und Änderung der Arbeitslosenquote 2001-2006 Quelle: Figure 7, S.87 aus Howell/ Rehm 2009. 3 2 1 0 -1 -2 -3 4 NRR 80 30 -20 -70 -120 U/ LF % point change -4 Finnland Germany Belgium Netherlands France UK Austria Australia New Zealand Norway Ireland Portugal Spain Switzerland Sweden Canada Japan USA Italy Denmark -2,7 -0,1 -0,9 -1 1,9 1,5 3,6 0,7 0 0,6 1 1,6 2,2 2,4 -1,9 -1,5-1,8 -1,4 -0,2 2001 NRR 2001-2006 change in the unemployment rate <?page no="84"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Dallinger__Sozialpolitik____[Druck-PDF]/ 04.02.2016/ Seite 84 www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Dallinger__Sozialpolitik____[Druck-PDF]/ 04.02.2016/ Seite 85 4.2 Arbeitsmarkt und Institutionen 85 Hohe Sozialabgaben v. a. in kontinental-europäischen Sozialstaaten machten Arbeit teuer und zwängen Unternehmen zu rationalisieren, Arbeit einzusparen und ältere Arbeitnehmer, für die es die Alternative »Frührentner« gibt, zu entlassen. Das hat für Betriebe zudem den Vorteil, dass die nach verbreiteten Stereotypen weniger produktiven älteren Arbeitsnehmer wegfallen. Beides lässt aber die Zahl der Inaktiven steigen; denn zu den Arbeitslosen kommen noch die via Frühverrentung Ausgegliederten dazu. Durch das arbeitsmarktpolitische Vorgehen müssen immer weniger im Erwerbsleben Aktive immer mehr Inaktive finanzieren. Dies steigert wiederum die Sozialabgaben und somit die Arbeitskosten, was ungünstig für die Schaffung von Arbeitsplätzen ist. In diese inactivity trap geraten besonders kontinentaleuropäische Wohlfahrtsstaaten, da sie Sozialleistungen überwiegend mit den Beiträgen Erwerbstätiger finanzieren und so die Aktiven immer mehr mit höheren Sozialabgaben belasten. Zudem erschwerten es die (wegen der Löhne und der Sozialabgaben) hohen Arbeitskosten, den Prozess der De-Industrialisierung zu bewältigen. Sie machten einfache Dienstleistungsarbeit teuer und bremsten die Expansion von Arbeitsplätzen in dem Bereich, der eigentlich die schrumpfende Beschäftigung in der Industrie kompensieren soll. Deutschland gilt als Beispiel dieser Ausrichtung par excellence mit zusätzlich teuren Frühverrentungsprogrammen zur Senkung der Arbeitslosenquote, die es zum »kranken Mann« Europas machten (Esping-Andersen 1996). Bereits der demografische Wandel lässt die zur Finanzierung der Alters- und Krankenversicherung nötigen Abgaben expandieren und treibt den »Abgabenkeil« in die Höhe. Alterung lässt die Rentenbezugsdauer anwachsen, was erneut die Sozialbeiträge und den Preis der Erwerbsarbeit steigert. Zusätzlich erfordere der in kontinentaleuropäischen Ländern ausgeprägte Familialismus, der lange Zeit den männlichen Haupternährer favorisierte (Frauen dagegen in Kindererziehung und Altenpflege sieht), hohe »Familienlöhne«, die wiederum Arbeitskosten für Betriebe und die Nachfrage nach einfachen Dienstleistungsjobs versiegen lasse. In konservativen Wohlfahrtsstaaten ist die Aktivenquote zu klein, um vergleichsweise viele Inaktive (immer mehr Ältere mit längeren Rentenansprüchen, Frauen, Arbeitslose) zu finanzieren, zudem auf einem hohen Level, das die auf Statuserhalt ausgerichteten Sozialversicherungen versprechen (siehe Kap. 5.2). Ein Dienstleistungsarbeitsmarkt kann nicht wachsen, weil einfache Arbeit meist zu teuer für private Nachfrage ist. Kontinentale Wohlfahrtsstaaten scheitern auch dabei, einfache Arbeit durch staatliche Nachfrage zu stützen, wie es skandinavische Länder praktizieren, da sie die Sozialausgaben begrenzen wollen und daher Arbeitsplätze im öffentlichen Sektor vermeiden. »Eurosklerose« ist das Stiefkind einer ausgebauten sozialen Sicherung und regulierter industrieller Beziehungen (Esping Andersen 1996: 79). Weder der private noch der staatliche Sektor fragt ausreichend Dienstleistungsarbeit nach. Der Insider-Arbeitsmarkt ist zwar sozial abgesichert und entlohnt, jedoch bietet er zu wenige Eintrittspunkte für neu auf den Arbeitsmarkt drängende Jüngere und Frauen. <?page no="85"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Dallinger__Sozialpolitik____[Druck-PDF]/ 04.02.2016/ Seite 86 86 4. Arbeitsmarktpolitik Auch die Analyse von Scharpf (1997) zu den Ursachen der hohen Arbeitslosigkeit zielt auf Defizite bei einfachen Dienstleistungsjobs. Dass allein institutionelle Rigiditäten (kollektive Lohnverhandlungen, Gewerkschaftsmacht, hohe Sozialabgaben) für wenig Arbeitsplätze sorgen, weist er mit der Beobachtung zurück, dass die Erwerbsintegration in skandinavischen Ländern mit umfassenden Sozialprogrammen und starken Gewerkschaften ebenso hoch ist wie im liberalen Amerika mit genau umgekehrten Rahmenbedingungen. Konventionelle Erklärungen für Arbeitslosigkeit erwarten, dass Länder mit institutionellen Rigiditäten international kaum konkurrenzfähig seien und daher im exponierten Arbeitsmarktsektor, der sich auf dem Weltmarkt behaupten muss, zu wenig Arbeit bieten. Dagegen könne sich ein liberaler Arbeitsmarkt im exposed sector behaupten und gerade hier Arbeitsplätze schaffen. Dies trifft aber nicht zu: Der Anteil der Erwerbstätigen im exposed sector ist in Ländern wie Deutschland, Schweden und Dänemark sogar höher als in den USA. Das eigentliche Problem sieht Scharpf in Hürden, die mehr Beschäftigung im Dienstleistungssektor entgegenstehen. Denn der zentrale Unterschied zwischen Ländern mit hoher und niedriger Beschäftigung ist der Anteil der Beschäftigten speziell in den Dienstleistungsbereichen Groß-und Einzelhandel, Gastronomie- und Hotelgewerbe sowie in sozialen und persönlichen Diensten. Während die USA als auch Schweden hier eine Beschäftigung von etwa 40 % aufweisen, arbeiten in Deutschland oder auch Frankreich, Österreich und Italien nur etwa 27 % der Erwerbsbevölkerung im Dienstleistungssektor. Der hohe Umfang an Dienstleistungsbeschäftigung wird in Schweden mit öffentlicher Beschäftigung erzielt, was die Sozialausgabenquote hoch treibt; die USA erzielt sie mit privater Dienstleistungsbeschäftigung, was den Niedriglohnsektor expandieren lässt. Für kontinentaleuropäische Länder sind beide Alternativen nicht zu übernehmen. Weder fördern sie die öffentliche Dienstleistungsbeschäftigung, noch Arbeit in privaten Dienstleistungen, v. a. nicht einfache Dienstleistungsarbeit. Denn wenig produktive, einfache personale Dienstleistungen sind für die private Nachfrage oft zu teuer, da der Reservationslohn relativ hoch ist und Steuern und Sozialabgaben die Kosten einfacher Arbeit hochtreiben. Diese Problemdiagnose trifft zwar nicht mehr in allen Punkten zu. So ist Frühverrentung inzwischen zurückgefahren und die Frauenerwerbsbeteiligung steigt. Dennoch ist sie weit verbreitet (z. B. Ebbinghaus/ Eichhorst 2006: 4) und stand im Hintergrund der deutschen Arbeitsmarktreformen zwischen 2001 und 2005, die als Hartz-Reformen bekannt wurden. Sie kürzten die Leistungshöhe und- -dauer und deregulierten Arbeitsverhältnisse, wollen also »verkrustete Verhältnisse« des deutschen Arbeitsmarktes aufbrechen. Im Folgenden werden arbeitsmarktpolitische Maßnahmen zunächst allgemein betrachtet, dann speziell die Hartz-Reformen. <?page no="86"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Dallinger__Sozialpolitik____[Druck-PDF]/ 04.02.2016/ Seite 86 www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Dallinger__Sozialpolitik____[Druck-PDF]/ 04.02.2016/ Seite 87 4.3 Arbeitsmarktpolitik und ihre Neuausrichtung 87 4.3 Arbeitsmarktpolitik und ihre Neuausrichtung 4.3.1 Formen der Arbeitsmarktpolitik Arbeitsmarktpolitik bezeichnet alle Maßnahmen zur Beeinflussung der Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt. Möglichkeiten der Steuerung des Arbeitsmarktes gibt es in vielen Feldern: 34 • Wirtschaftspolitik: Stützung der Konjunktur, etwa durch staatliche Nachfrageprogramme. • Geld(mengen)politik/ monetäre Politik: Regulierung des Zusammenhangs zwischen Geldwertentwicklung bzw. Inflation, Nachfrage nach Arbeit und Lohnsteigerung. Strikte monetäre Politik, die Inflation dämpft, treibt Arbeitslosigkeit nach oben und umgekehrt. 35 • Arbeitsbeziehungen: Art der Lohnverhandlungen, Umfang an kollektiv verhandelten 36 Löhnen, Einfluss der Gewerkschaften. • Arbeitsrecht: Rechte und Pflichten der Arbeitsmarktakteure wie auch betriebliche Mitbestimmung, Regeln der Gestaltung von Arbeitszeit, Arbeitsschutz und Arbeitsverträgen oder Auflagen für Arbeitgeber bei Entlassungen. • Öffentliche Beschäftigung: Sozialstaatliche Programme schaffen Arbeitsplätze im Gesundheits- und Bildungssektor, Altenpflege oder Kinderbetreuung. • Arbeitszeitpolitik steuert das Arbeitsangebot: Regelung der regulären Arbeitszeit oder der Lebensarbeitszeit (Frühverrentung, Bildungsdauer). • Arbeitsmarktpolitik im engeren Sinne: passive (Lohnersatzleistungen für Arbeitslose) und aktive (Fördern der Vermittelbarkeit) Arbeitsmarktpolitik. Üblich ist es aber, als Arbeitsmarktpolitik lediglich die direkt auf Arbeitslose zielenden Maßnahmen zu verstehen. Die passive Arbeitsmarktpolitik dient der materiellen Sicherung bei Arbeitslosigkeit oder Unterbeschäftigung, die Leistungen haben Lohnersatzfunktion (Arbeitslosengeld I, Kurzarbeitergeld, Insolvenzgeld, Wintergeld, etc.) oder sollen eine Grundsicherung bieten (Arbeitslosengeld II). Aktivierende Arbeitsmarkt- 34 Makroökonomische Zusammenhänge zwischen Wirtschafts-, Lohn- und Geldpolitik in ihren Wirkungen auf den Arbeitsmarkt werden mit dem Begriff der Beschäftigungspolitik betrachtet. 35 Lockere Geldpolitik fördert Investitionen, Nachfrage nach Arbeit, Lohnsteigerung und inflationäre Tendenzen. Als langfristiger Zielzustand gilt aber eine non-accelerating inflation rate of unemployment (NAIRU), also eine inflationsstabile Arbeitslosenquote. Diese wird erreicht, wenn die Lohn-Preis-Spirale zum Stillstand kommt und sich steigende Löhne, steigende Arbeitslosigkeit und Preise sich nicht mehr gegenseitig hochschaukeln. 36 Das meint zwischen Vertretern der Arbeitnehmer- und Arbeitgeberverbände ausgehandelte Löhne. <?page no="87"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Dallinger__Sozialpolitik____[Druck-PDF]/ 04.02.2016/ Seite 88 88 4. Arbeitsmarktpolitik politik zielt auf die (Re-)Integration von Arbeits- oder Ausbildungsplatzsuchenden in den Erwerbsprozess und deren verbesserte Beschäftigungsfähigkeit. Es handelt sich um ein Bündel an Einzelmaßnahmen der Berufsorientierung, der Förderung der beruflichen Eingliederung, der Aktivierung bei der Arbeitssuche und der Aus- und Weiterbildung. Bereits das Arbeitsförderungsgesetz (AFG) von 1969 nannte aktive Arbeitsmarktpolitik als Aufgabe und förderte Fortbildung und Umschulung. Heutige Aktivierungspolitik ist breiter (siehe Kap. 4.3.2). Im Zentrum der passiven Arbeitsmarktpolitik stehen die Höhe und die Dauer der Leistungen; beides prägt die Qualität der materiellen Absicherung Arbeitsloser als auch den Druck dem Arbeitsmarkt zur Verfügung zu stehen. Die Sicherungssysteme der meisten Länder trennen zwischen kurz- und langfristigen Transferleistungen für Arbeitslose. Die Leistung der ersten Phase ist in der Regel als Sozialversicherung, die der zweiten Phase als steuerfinanzierte Grundsicherung organisiert. In einer Anfangsphase ersetzt die Transferleistung noch einen höheren Prozentsatz des letzten Lohnes. Nach einer gewissen Zeit wird dieser gemindert oder die Bezieher wechseln in andere Programme und Rechtskreise, die mit Bedürftigkeitsüberprüfung, strengeren Auflagen und geringeren Leistungen auf Mindestsicherungsniveau verbunden sind. Dies soll Anreize zur raschen Wiederaufnahme von Arbeit setzen und den Überbrückungscharakter des Arbeitslosengeldbezugs unterstreichen. Dass generöse Leistungen möglicherweise Anreize setzen, länger im Leistungsbezug zu bleiben und die Konzessionsbereitschaft bei der Jobsuche senken, wird als Inaktivitäts- oder Arbeitslosigkeitsfalle (unemployment-trap) bezeichnet. Dieser Anreiz wird v. a. bei niedrigen Erwerbseinkommen gesehen, da wenig durch die Aufnahme von Arbeit dazugewonnen wird. Rechtlich ist die Arbeitsmarktpolitik in Deutschland im SGB III und SGB II (Grundsicherung für Arbeitssuchende) verankert. Die soziale Sicherung bei Arbeitslosigkeit ist als paritätisch finanzierte Sozialversicherung organisiert. Durch prozentual gleiche Abzüge vom Bruttolohn wird eine der Einkommenshöhe proportionale Beitragsbelastung erzielt. Im Jahr 2014 betrug der Beitragssatz 3 %, 2004 (vor der Reform) lag er noch bei 6,5 %. Die Höhe der Leistungen bei Arbeitslosigkeit bemisst sich nach den individuellen Beiträgen, die Erwerbstätige nach ihrer Lohnhöhe ein- Abb. 4.6: Formen der Arbeitsmarktpolitik Quelle: Eigene Darstellung. Arbeitsmarktpolitik Passive Arbeitsmarktpolitik Lohnersatzleistungen Aktive Arbeitsmarktpolitik Integration in den Erwerbsprozess <?page no="88"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Dallinger__Sozialpolitik____[Druck-PDF]/ 04.02.2016/ Seite 88 www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Dallinger__Sozialpolitik____[Druck-PDF]/ 04.02.2016/ Seite 89 4.3 Arbeitsmarktpolitik und ihre Neuausrichtung 89 zahlen (Statussicherung). Allerdings zieht die Beitragsbemessungsgrenze eine Obergrenze der Leistungen (Einkommen über einer bestimmten Schwelle werden weder für die Sozialversicherungsbeiträge noch die Leistungsansprüche berücksichtigt). Im Rahmen der paritätischen Finanzierung tragen Arbeitnehmer und Arbeitgeber je zur Hälfte den Beitrag. Das Arbeitslosengeld konnte vor der Hartz-Reform 2005 für maximal 32 Monate bezogen werden. Anschließend bestand Anspruch auf Arbeitslosenhilfe, die zwar steuerfinanziert und bedarfsgeprüft, jedoch weiter am vorigen Lohn orientiert und damit zumindest von der Idee der Statussicherung geleitet war. Das Prinzip äquivalenter Transferleistung ist typisch für konservative Sozialstaaten. Da die Finanzierungsquelle Erwerbsarbeit ist, führt wirtschaftlicher Abschwung und steigende Arbeitslosigkeit zu höheren Auszahlungen, aber geringeren Einzahlungen, was die Beitragssätze steigert, Arbeit ungewollt »verteuert« und letztlich die Genese neuer Jobs erschwert. Seit der Hartz-Reform ist der Arbeitslosengeldanspruch jedoch auf maximal 12 Monate verkürzt. Etwas anders ist die materielle Sicherung Arbeitsloser in Ländern mit dem Genter Modell organisiert. So wählen etwa in Schweden die Bürger freiwillig, ob sie neben der einheitlichen staatlichen Grundsicherung die von Gewerkschaften verwaltete und an Mitgliedschaft gebundene Versicherungsleistung abschließen. Die Finanzierung erfolgt allein durch Arbeitnehmerbeiträge (auch Dänemark). In anderen Ländern wiederum finanziert der Arbeitgeber die Beiträge (z. B. Spanien). Meist handelt es sich um eine Mischfinanzierung, die neben Beiträgen auch aus staatlichen Zuschüssen besteht. Die Leistungshöhe ist in der Regel vom Äquivalenzprinzip geprägt, lediglich in Großbritannien erhalten Arbeitslose einen Pauschalbetrag (flat rate). Die Reformen der Arbeitsmarktpolitik der vergangenen Jahre setzten an der materiellen Sicherung Arbeitsloser an (Bezugsvoraussetzungen, Dauer und Lohnersatzrate bzw. »Generosität« der Leistungen). Zudem will die neue Arbeitsmarktpolitik materielle Absicherung, Befähigen und Fordern von Eigenbemühungen der Arbeitsaufnahme in ein neues Verhältnis bringen. 4.3.2 Die neue Arbeitsmarktpolitik: Aktivieren, Fördern und Fordern Persistent hohe Arbeitslosigkeit, wirtschaftliche Stagnation und Einsparzwänge wie auch das international populär werdende Leitbild der Aktivierung sorgten auch in Deutschland für eine arbeitsmarktpolitische Wende. Der amerikanische Präsident Clinton leitete mit dem »Personal Responsibility and Work Opportunity Reconciliation Act« bereits 10 Jahre vor Deutschlands Hartz-Reformen tiefe Einschnitte bei den Sozialausgaben ein; bekannt wurde sein Satz: »put an end to welfare as we know it.« Die Strategie der Aktivierung oder des Fördern und Forderns fassten in vielen europäischen Ländern Fuß. Sie alle enthalten Leistungssenkungen, verschärfte Zumutbarkeit, eine stärkere Kontrolle der Eigenaktivitäten zur Arbeitssuche und die Zulässigkeit neuer <?page no="89"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Dallinger__Sozialpolitik____[Druck-PDF]/ 04.02.2016/ Seite 90 90 4. Arbeitsmarktpolitik Formen der Arbeitsverträge jenseits des »Normalarbeitsverhältnisses« (Mückenberger 1985) in Form von Mini- und Midi-Jobs oder Leiharbeit. Aktivierung ist ein Bündel aus fordernden und fördernden Maßnahmen, das Mischungsverhältnis ist nicht festgelegt und variiert je nach Sozialstaat. Eine strengere Zumutbarkeit in Bezug auf die Annahme auch geringer bezahlter Jobs, Druck durch Kürzungen und die Kontrolle der Eigenbemühungen bei der Arbeitssuche stehen für »workfare«; mehr Aus- und Weiterbildung, Eingliederungshilfen oder intensive Beratung und Vermittlung werden dem enabling zugeordnet (Dingeldey 2011). Was änderte die Agenda 2010? Vier Gesetze für »Moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt« bilden zusammen die Hartz-Reformen. Die wichtigsten Reformen waren: • Hartz I (2002): Einrichtung Personalservice-Agenturen (PSA) in den Agenturen für Arbeit: Zeitarbeit ist somit zulässig. Leiharbeitsunternehmen werden von privaten Trägern geführt. Arbeitnehmerschutzbestimmungen wie die begrenzte Überlassungsdauer bei Leiharbeit entfallen. Mit Ausnahme der ersten 6 Wochen sollen gleiche Beschäftigungsbestimmungen gelten. Änderung im Teilzeit und Befristungsgesetz (TzBfG), das befristete Arbeitsverhältnisse reguliert. Die rechtlichen Möglichkeiten, befristete Arbeitsverhältnisse abzuschließen, wurden erleichtert. Arbeitgeber können nun Arbeitsverträge auf eine Laufzeit von bis zu 2 Jahren begrenzen, und dies 3mal hintereinander. Bei Neueinstellung braucht kein Sachgrund angegeben werden. Der gesetzliche Kündigungsschutz entfällt somit. • Hartz II (2002): Existenzgründungszuschuss (Ich-AG): Zuvor Arbeitslose erhalten bei Existenzgründung (Selbstständigkeit) einen Zuschuss über 3 Jahre. Umwandlung des Arbeitsamtes in Jobcenter, Neuregelung der geringfügigen Beschäftigung: Geringfügigkeitsschwelle stieg auf 400.- Euro. Nun Mini- (bis 400 €) und Midijobs (401-- 800 €). • Hartz III (2003): Umbau der Bundesanstalt für Arbeit in die Bundeagentur für Arbeit. Beweislast für Arbeitslose über Eigenbemühungen bei Stellensuche. Sperrzeiten: bei mangelnder Mitwirkung und Stellensuche können Sperrzeiten des Leistungsbezuges verhängt werden. • Hartz IV (2003): Zusammenlegung von Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe zu Arbeitslosengeld II bzw. Grundsicherung ab 2005. Verschärfung der Zumutbarkeit: AL-Geld-II-Bezieher müssen nach 1 Jahr Arbeitslosigkeit auch untertariflich bezahlte und versicherungsfreie Stellen annehmen. 1-Euro Jobs: Arbeitsgelegenheiten mit Mehraufwandsentschädigung werden eingeführt. <?page no="90"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Dallinger__Sozialpolitik____[Druck-PDF]/ 04.02.2016/ Seite 90 www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Dallinger__Sozialpolitik____[Druck-PDF]/ 04.02.2016/ Seite 91 4.3 Arbeitsmarktpolitik und ihre Neuausrichtung 91 Die Reformen schaffen einerseits mit der Ermöglichung von Mini- und Midi-Jobs, der Leiharbeit sowie befristeter Beschäftigung mehr Arbeitsverhältnisse, allerdings sind es atypische bzw. deregulierte Jobs. Andererseits verstärkten die Änderungen bei den Transferleistungen für Arbeitslose den Druck zur Aufnahme von Arbeit. So wurde das Arbeitslosengeld I (ALGI) auf 12 Monate verkürzt, danach besteht nur ein Anrecht auf bedarfsgeprüftes Arbeitslosengeld II (ALGII). Die verschärfte Zumutbarkeit drängt Arbeitslose dazu, auch weniger qualifizierte und unterbezahlte Arbeit aufzunehmen. Die ausgeweiteten rechtlichen Möglichkeiten befristeter Beschäftigung und anderer Formen atypischer Arbeit folgen dem Argument, dass flexiblere Beschäftigung die Einstellungsschwelle für Unternehmen senkt und Erwerbslose mehr Beschäftigungschancen haben. Die teils mindere Qualität der Arbeit gilt als hinzunehmen, wenn dafür der Übergang in den 1. Arbeitsmarkt gefördert werde. Gelingt das der neuen Arbeitsmarktpolitik aber wirklich? Welche Folgen haben geringere Job-Qualität und gesunkene Sozialleistungen? 4.3.3 Folgen der Arbeitsmarkt-Reformen Die Kritik an den Hartz-Reformen 37 und ihren Folgen ist vielfältig. In der Fachdiskussion werden sie oft den Begriffen der Re-Kommodifizierung-- also der Absenkung de-kommodifizierender Lohnersatzleistungen-- und der Deregulierung-- der Senkung arbeitsrechtlicher Standards-- zugeordnet. Dieser Abschnitt greift als zentrale Folgen die sinkenden Lohnersatzleistungen und den Zuwachs atypischer Beschäftigungsverhältnisse heraus und diskutiert die steigende Armutsgefährdung. Sinkende Leistungen und Re-Kommodifizierung Seit dem Auslaufen des ALG I nach 12 Monaten werden wesentlich mehr Arbeitslose als vorher zu Beziehern einer bedürftigkeitsgeprüften Leistung, der Grundsicherung für Arbeitssuchende. Mehr Menschen beziehen somit eine Leistungsart, die nichts mit dem vorigen Einkommen und den gezahlten Beiträgen zu tun hat, obwohl evtl. jahrzehntelang versicherungspflichtige Erwerbsarbeit vorausging. 2010, also 5 Jahre nach den Hartz-Reformen, erhalten nur noch knapp 10 Prozent der Arbeitslosen eine von vorigen Beiträgen bestimmte Leistung, also das ALG I (Bothfeld/ Rosenthal 2014). Manche sehen in der Kappung einkommensbezogener Leistungen einen Systemwechsel, da die typische Ausrichtung des konservativen deutschen Sozialstaats auf die Sicherung des aufgrund von Erwerbsarbeit erworbenen materiellen Status stark eingeschränkt wird. 37 Zu den Auswirkungen von Hartz IV siehe WSI-Mitteilungen Schwerpunktheft 3/ 2014, Dingeldey 2010; Promberger 2010. Evaluationen von Einzelmaßnahmen sind auf der homepage des IAB verfügbar. Ein internationaler Vergleich von Aktivierungspolitiken siehe Konle-Seidl 2008, <?page no="91"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Dallinger__Sozialpolitik____[Druck-PDF]/ 04.02.2016/ Seite 92 92 4. Arbeitsmarktpolitik Denn aufgrund der letzten Beschäftigung »erworbene« Ansprüche auf Leistungen bei Arbeitslosigkeit sind nun rasch beendet (Bothfeld/ Rosenthal 2014: 11). Hilft dieser Bruch zumindest, die Dauer der Arbeitslosigkeit zu verkürzen? Dann hätte die Reform tatsächlich die sogenannte Inaktivitätsfalle entschärft. Nach Analysen der Abgangsraten aus Arbeitslosigkeit vollzieht sich lediglich im ersten Jahr der Wechsel zurück in Arbeit rascher. Offenbar wirkt bei Personen in Arbeitslosengeldbezug ein »Abschreckungseffekt« durch das drohende Abrutschen in das »Fürsorgesystem« (Knuth 2011). Im zweiten Jahr ist die Dynamik des Abgangs aus Arbeitslosigkeit deutlich geringer und nimmt nach den Reformen 2005 kaum zu. Eine raschere Rückkehr gerade der Langzeitarbeitslosen wird also nicht erreicht. Trotz geringerer Generosität, verschärfter Zumutbarkeit und mehr Aktivierung ist nach der Reform die Dauer des Bezugs von unbefristeten Leistungen-- früher der Sozialhilfe, heute ALGII-- gleich lang (Fehr/ Vobruba 2011; Knuth 2011: 583). Dies ist das Ergebnis eines Selektionseffektes: Arbeitslose mit einer gewissen Nähe zum Arbeitsmarkt aufgrund von Qualifikationen sind nach einem Jahr aussortiert, übrig bleiben die mit geringeren Chancen, die notgedrungen bedarfsgeprüfte Grundsicherung hinnehmen müssen. Nur Kurzzeitarbeitslose profitieren also vom Aufschwung, der offene Stellen bietet. Die deutsche Arbeitsmarkt-Reformpolitik wie auch die anderer OECD-Länder senkte in den letzten Dekaden die Qualität der Absicherung Arbeitsloser. Tabelle 4.1 demonstriert dies anhand des Vergleichs der Nettolohnersatzrate (NRR) 38 in den Jahren 2001 und 2012. Schaut man zunächst auf den in der letzten Spalte gezeigten Durchschnitt für einzelne Länder (also ohne zwischen Familienformen und Dauer der Arbeitslosigkeit zu trennen), dann sieht man erwartungsgemäß, dass sich europäische Länder und die liberalen Länder Australien und die USA bei der Generosität der Leistungen für Arbeitslose unterscheiden. Selbst das liberale Großbritannien bietet Arbeitslosen ein eher europäisches Absicherungsniveau (60 %). Die Lohnersatzrate geht in den meisten Ländern in der Zeit zwischen 2001 und 2012 zurück, am deutlichsten in Schweden mit einer Kürzung um 10 Prozentpunkte, wo allerdings das Ausgangsniveau hoch war. Länder wie Österreich und Großbritannien weisen sogar 38 Die Berechnungsbasis der NRR: Durchschnitt über 60 Monate Arbeitslosigkeit (ungewichtet). NRR für Löhne Vollzeitbeschäftigter mit 67 % und 100 % des Durchschnittslohns (average wage). Hier wird nicht zwischen geringen und Durchschnittseinkommen unterschieden. Steuern auf Einkommen sind abgezogen. Angenommen wird, dass bei Bezug von Grundsicherung ein Anspruch auf zusätzliche Sozialleistungen (wie Wohnkosten) besteht. Kinder minderjährig, 4 und 6 Jahre. Die NRR-Werte ergeben sich aus typisierenden Annahmen. So werden zwei unterschiedliche Niveaus des vorigen Lohns (67 % und 100 %) zusammengefasst. Dies verdeckt, dass Lohnersatzraten für das geringe Lohnniveau höher wären. Es werden nur Werte für zwei Haushaltsformen (Alleinstehend, Familie) wiedergegeben. Weitere Details siehe links unter der Tabelle. <?page no="92"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Dallinger__Sozialpolitik____[Druck-PDF]/ 04.02.2016/ Seite 92 www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Dallinger__Sozialpolitik____[Druck-PDF]/ 04.02.2016/ Seite 93 4.3 Arbeitsmarktpolitik und ihre Neuausrichtung 93 einen Anstieg der Ersatzrate auf, der auf höhere Leistungen gezielt für Familien zurückgeht (s. u.). Auch in den Vereinigten Staaten wächst die Generosität der Leistungen, allerdings von einem so geringen Ausgangsniveau aus, dass die Absicherung Arbeitsloser hier immer noch deutlich geringer als in Europa ausfällt. Die Leistungen für Arbeitslose unterscheiden sich nach der Familiensituation, um höheren Bedarfen von mehr Personen im Haushalt (teilweise) gerecht zu werden (Tab. 4.1). Dagegen ist für Alleinstehende sowohl vor als auch nach den Reformen die Lohn-Ersatzrate unterdurchschnittlich. Höhere Nettolohnersatzraten (NRR) für Familien wurden allerdings in vielen Ländern zurückgenommen, so etwa in Frankreich, Schweden, Norwegen und Australien, oder bleiben stabil, wie in Deutschland und den USA, beides Länder mit hoher Kinderarmut. Einige Länder steigerten die NRR, wenn Kinder im Haushalt leben, wie Österreich oder Großbritannien, um Kinderarmut zu vermeiden. Leistungskürzungen bei Familien waren in der Regel geringer als bei Alleinstehenden. In Deutschland sank die NRR bei Alleinstehenden von 57 % auf 45 %, für Ehepaare mit Kindern und einem Einkommensbezieher blieb sie fast konstant. Schweden sticht auch bei Leistungen für Familien mit einer um Tab. 4.1: Netto-Lohnersatzrate von Leistungen bei Arbeitslosigkeit 2001 und 2012 nach Haushaltsform Land Alleinstehend, kein Kind Familie, Alleinverdiener, 2 Kinder Durchschnitt 2001 2012 2001 2012 2001 2012 DE 57 45 74 73 67 60 AT 53 53 75 86 64 69 FR 59 53 72 63 65 58 SE 65 53 85 74 74 64 NO 65 54 89 84 77 69 UK 50 46 69 76 60 62 US 13 23 46 45 29 34 AU 42 33 79 63 59 52 Anmerkungen: Gezeigt wird der Prozentsatz der Leistungen für Arbeitslose im Verhältnis zum jeweiligen Netto-Durchschnittslohn der Beschäftigten, also Netto-Lohnersatzraten (net replacement rate=NRR; eigene Darstellung nach www.oecd.org/ els/ social/ workincentives. Hier findet man auch die NRR für weitere Familienformen (Alleinerziehende, Verheiratete ohne Kinder). Details zur NRR siehe Fußnote 38. <?page no="93"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Dallinger__Sozialpolitik____[Druck-PDF]/ 04.02.2016/ Seite 94 94 4. Arbeitsmarktpolitik 11 Prozentpunkte gekürzten NRR hervor. Dieser Rückgang erfolgt aber von einem höheren Ausgangsniveau als in anderen Ländern aus, sodass Schweden sich nun im Mittelfeld bewegt. Die arbeitsmarktpolitischen Reformen veränderten auch die Dauer des möglichen Leistungsbezugs. Kürzere Anrechte auf Arbeitslosengeld und schlechtere Konditionen bei der Arbeitslosenhilfe bzw. der Grundsicherung sollen den Druck vergrößern, Arbeit aufzunehmen. In allen Ländern ist es üblich, die Transferleistungen nach der Dauer der Arbeitslosigkeit zu staffeln und mit der Zeit zu senken. Die einzelnen Länder haben die Bezugsdauer recht unterschiedlich stark gesenkt. Die Abbildung 4.7 versucht die Zeitabschnitte so zu setzen, dass die Einschnitte möglichst sinnvoll vergleichbar sind. 39 Auch hier soll der Wandel zwischen 2001 und 2012 durch arbeitsmarktpolitische Reformen deutlich werden. Die NRR im ersten Jahr der Arbeitslosigkeit (2. Monat) blieb nach Reformen weitgehend unangetastet, sowohl für Alleinstehende als auch für Haushalte mit Kindern. Das Niveau der materiellen Absicherung ab dem 13. Monat, also bei einer länger andauernden Arbeitslosigkeit, ist jedoch (teils) drastisch gesunken. In Deutschland schrumpfte die NRR für Alleinstehende von 59 % auf 20 % des Durchschnittslohns, für Familien sinkt sie von etwa 75 % auf 50 % des Durchschnittslohns. Auch Familien müssen also eine Re-Kommodifizierung hinnehmen. Andere Länder senken erst zu einem späteren Zeitpunkt einer länger andauernden Arbeitslosigkeit die Lohnersatzrate ab. In Frankreich und den Niederlanden werden nach den Reformen die Leistungen ab dem 25. Monat der Erwerbslosigkeit sowohl für Alleinlebende als auch Familien drastisch reduziert. Norwegen senkt ebenfalls bei längerer Dauer (ab 25 Monaten) das Sicherungsniveau stark ab. Großbritannien bietet Familien und Alleinstehenden von Beginn an eine sehr unterschiedliche Höhe der Leistungen, die mit der Dauer der Arbeitslosigkeit kaum schwankt. Großbritannien hat seit 1996 mit der Jobseeker Allowance die Arbeitslosenunterstützung neu geordnet. In den U. S. gewährt die Arbeitslosenversicherung eine Leistung für 6 Monate. Seit den Reformen gibt es 2011 auch in der zweiten Phase der Arbeitslosigkeit Sozialleistungen. Allerdings sind sie für Bezieher von Hilfebzw. Fürsorgeleistungen konditionalisiert. Bei längerer Arbeitslosigkeit fehlt jedoch ein Leistungsanspruch völlig, weil nur für eine insgesamt begrenzte Zeit Ansprüche bestehen. In Schweden ist das Sicherungsniveau durch die Reformen gesunken, die Unterschiede nach der Dauer der Arbeitslosigkeit fallen wenig ins Gewicht. Die Zahlen zur Veränderung der Lohnersatzrate gaben einen Eindruck von der Reduktion der Leistungen bei Arbeitslosigkeit in Deutschland im Vergleich zu weiteren Ländern. Zu sehen war, dass vergleichsweise starke Einschnitte vorgenommen wurden. Zudem wurde deutlich, dass Leistungen nicht pauschal gekürzt wurden. Ein- 39 Das Leistungsrecht einzelner Länder mag davon abweichen und bereits nach 6 Monaten den Übergang von UI zu UA erzwingen. <?page no="94"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Dallinger__Sozialpolitik____[Druck-PDF]/ 04.02.2016/ Seite 94 www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Dallinger__Sozialpolitik____[Druck-PDF]/ 04.02.2016/ Seite 95 4.3 Arbeitsmarktpolitik und ihre Neuausrichtung 95 zelne Länder berücksichtigen Familien mit Kindern besser als zuvor. Das Ziel, durch die geringere Leistungshöhe und die verkürzte Bezugsdauer eine Re-Kommodifizierung Arbeitsloser zu erzwingen, die nun einem höheren Druck ausgesetzt sind, dem Arbeitsmarkt zur Verfügung zu stehen, dürfte erreicht sein. Ein weiterer Bestandteil der Reformen ist die De-Regulierung der Beschäftigung. Wie ist diese einzuschätzen? Abb. 4.7: Netto-Lohnersatzraten nach Dauer der Arbeitslosigkeit, 2001 und 2012 Quelle: Eigene Darstellung nach: Eurostat ec.europa.eu/ economy_ nance/ db_indicators/ tab/ Abruf 15.1.15. Anmerkungen: Ungewichteter Durchschnitt der NRR für Löhne Vollzeitbeschäftigter bei 67 und 100 % des Durchschnittsarbeiters (AW). Steuern auf Einkommen sind abgezogen. Angenommen wird, dass bei Bezug von Grundsicherungsleistungen Bedingungen wie Nachweis der Arbeitssuche erfüllt werden, ein Anspruch auf zusätzliche Wohnkosten besteht und Kinder minderjährig, 4 und 6 Jahre alt sind. 0 10 20 30 40 50 60 70 80 2001 2012 2001 2012 2001 2012 2001 2012 2001 2012 2001 2012 2001 2012 2001 2012 DE AT FR NL SE NO UK USA Netto-Lohnersatzraten nach Dauer der Arbeitslosigkeit für Alleinstehende ohne Kind (in Prozent) 2. Monat ab 13. Monat 25+ Monate 0 10 20 30 40 50 60 70 80 2001 2012 2001 2012 2001 2012 2001 2012 2001 2012 2001 2012 2001 2012 2001 2012 DE AT FR NL SE NO UK USA Verheiratete mit zwei Kindern, ein Einkommen (in Prozent) 2. Monat ab 13. Monat 25+ Monate <?page no="95"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Dallinger__Sozialpolitik____[Druck-PDF]/ 04.02.2016/ Seite 96 96 4. Arbeitsmarktpolitik De-Regulierung: Mehr a-typische Beschäftigung Zu den wesentlichen Kritikpunkten an den Hartz-Reformen zählt, dass die Beschäftigung lediglich wegen der größeren Zahl atypischer Arbeitsverhältnissen wachse. Wie gravierend ist diese Entwicklung aber und welche Gruppen sind besonders davon betroffen? Abbildung 4.8 bietet Antworten zu dieser Frage: Sie zeigt, wie sich die prozentuale Verteilung der Beschäftigten auf verschiedene Formen der Erwerbsarbeit zwischen 2003 und 2010 in Deutschland veränderte. Die überwiegende Mehrzahl der männlichen Beschäftigten befindet sich nach wie vor in einem Normalarbeitsverhältnis (NAV). Zwischen 2003 und 2010 geht deren Anteil lediglich um 3 Prozentpunkte auf 84 % zurück. Befristete und geringfügige Beschäftigung, Teilzeitarbeit und Leiharbeit-- diese Formen zählen zu irregulärer und atypischer Beschäftigung-- nehmen etwas zu, verbleiben aber bei niedrigen Werten und machen zusammen gerade einmal 17 % der männlichen Beschäftigten aus. Durchschnittszahlen verdecken gleichwohl die in bestimmten Gruppen höheren Werte. Bei jungen Erwachsenen, die erstmals in den Arbeitsmarkt eintreten, liegt der Anteil befristet Beschäftigter bei 31 % (Giesecke/ Groß 2005). Unter 25-Jährige machen zwar nur 4 % der Beschäftigten, aber 19 % der befristet Beschäftigten (ohne Azubi) aus. Auch die nach der Grafik recht seltene Leiharbeit ist in manchen Branchen durchaus beachtlich. Abb. 4.8: Wandel der Beschäftigungsformen in Deutschland 2003-- 2010, nach Geschlecht 0 10 20 30 40 50 60 70 80 90 100 Männer Frauen Männer Frauen 2003 2010 NAV befristet Vollzeitbeschäftigte Teilzeitbeschäftigte geringfügig Beschäftigte Leiharbeiter Quelle: Keller/ Schulz/ Seifert 2012: 7. Datenbasis SOEP 2010. <?page no="96"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Dallinger__Sozialpolitik____[Druck-PDF]/ 04.02.2016/ Seite 96 www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Dallinger__Sozialpolitik____[Druck-PDF]/ 04.02.2016/ Seite 97 4.3 Arbeitsmarktpolitik und ihre Neuausrichtung 97 In Bezug auf weibliche Beschäftigte bietet sich ein anderes Bild: Nur 45 % arbeiten Vollzeit. Die nächstgrößere und zudem wachsende Gruppe stellen Teilzeitbeschäftigte dar. Öfter als Männer findet man Frauen auch in geringfügiger Beschäftigung. Insgesamt sind Frauen mehr in atypischen Beschäftigungsformen als in einem NAV, ja die expandierende Partizipation von Frauen am Arbeitsmarkt verläuft über die Ausweitung der Beschäftigung jenseits des NAV. Allerdings ist zu sehen, dass atypische Erwerbsarbeit bei Frauen meist in Form von Teilzeitarbeit vorkommt. Teilzeitarbeit ist gewissermaßen das Standardarbeitsverhältnis von Frauen. Nun verbuchen aber die meisten Studien die Teilzeittätigkeit von Frauen zusammen mit anderen atypischen Formen wie Leiharbeit, befristete Verträge als prekäre Arbeit. Die starke Zunahme von weiblicher Teilzeitarbeit treibt dann die Zahlen für die prekäre Beschäftigung nach oben. Um ein angemessenes Bild der prekären Arbeit zu erhalten, wäre es sinnvoll, zwischen Teilzeitarbeit und geringfügiger Beschäftigung zu trennen. Die mit den neuen atypischen Erwerbsformen auftretenden Risiken wie Niedriglohn, Armut und unsichere Berufsperspektive sind nicht per se ein Problem teilzeitbeschäftigter Frauen. Ob Armutsprobleme zusammen mit neuer, flexibler Beschäftigung auftreten, ist aus der Sicht der Armutsforschung im Kontext aller Einkommen eines Haushalts zu bewerten (Lohmann 2010). Denn im Haushalt wird oft ein weiteres Einkommen aus einem NAV vorhanden sein. Das legt jedenfalls die hohe Quote der Männer in regulären Arbeitsverhältnissen nahe. Trotz der vorigen Hinweise darf nicht übersehen werden, dass auch teilzeitbeschäftigte Frauen- - etwa bei einer Scheidung-- Risiken tragen. Der Anstieg atypischer Arbeit wird oft als Prekarisierung bezeichnet, da diese Beschäftigungsformen weniger Arbeitsplatz- und Einkommenssicherheit bieten, kein für den Lebensunterhalt ausreichendes Einkommen erzielen (zu geringer Stundenumfang) und so vermehrt Armut trotz Erwerbstätigkeit auftritt. Diese working poor werden definiert als Beschäftigte mit weniger als 66 % des Durchschnittseinkommens. Menschen in Erwerbsformen jenseits des Normalarbeitsverhältnisses haben ein erhöhtes Armutsrisiko (OECD 2014: 100). Nach Tabelle 4.2 liegt das Armutsrisiko bei geringfügiger (23,5 %) und befristeter Beschäftigung (16,5 % jeweils 2010) am deutlichsten über dem Durchschnitt aller Beschäftigten. Auch hier gilt es aber den Hinweis der Armutsforschung zu berücksichtigen, dass individuelle Einkommen der working poor erst im Haushaltskontext realistisch zu bewerten sind, da viele Haushalte die Einkommen von 2 Personen kombinieren. Nachteilig ist weiter, dass arbeitsrechtliche Politikreformen, die Erwerbsverhältnisse destandardisieren und befristete Verträge oder Erwerbsarbeit mit einem geringen Stundenumfang erlauben, keine sozialrechtlichen Sicherungsansprüche erzeugen. Die soziale Absicherung sinkt auch für kleine Selbständige, die ebenfalls im Rahmen der neuen Arbeitsmarktpolitik gefördert werden. Gelingt es, von einer atypischen Beschäftigung in ein NAV auf dem ersten Arbeitsmarkt zu wechseln? Dazu vergleicht Tab. 4.3, aus welchem Arbeitsverhältnis Menschen <?page no="97"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Dallinger__Sozialpolitik____[Druck-PDF]/ 04.02.2016/ Seite 98 98 4. Arbeitsmarktpolitik kommen, die arbeitslos waren, und in welches neue sie wechseln (jede Zeile ist 100 %). Im Anschluss an Arbeitslosigkeit gelangen ehemals NAV wieder in eine NAV; der Verbleib in Arbeitslosigkeit ist im Vergleich zu allen anderen Gruppen unterdurchschnittlich. Atypisch Beschäftigte münden nach einer Arbeitslosigkeit überproportional oft erneut in eine unsichere Beschäftigung. Somit kann atypische Beschäftigung also nicht unbedingt als ein Sprungbrett in den ersten Arbeitsmarkt verstanden werden. Insgesamt wird der oben beschriebene Wandel der Beschäftigungsformen als ein Trend zur Dualisierung des Arbeitsmarktes bezeichnet. Denn eine stabile Kernarbeitnehmerschaft in NAV genieße weiter die Schutzfunktion der Arbeitsmarktinstitutionen. An den »Rändern« des Arbeitsmarktes haben die arbeits- und sozialleistungsrechtlichen Änderungen aber mehr Flexibilität geschaffen. Personen, die sich an den Rändern des Arbeitsmarktes befinden, sind junge Erwachsene, Frauen, Arbeitslose, Migranten, etc. Bilanzierend ist festzuhalten, dass Arbeitsmarktreformen zwar die Beschäftigungssituation verbessert haben und mehr Menschen in Arbeit sind, jedoch ist die Jobqua- Tab. 4.2: Armutsgefährdung in nichtregulären Beschäftigungsverhältnissen Armutsrisikoquote (60 %) 1998 2008 Gesamtbeschäftigung 4.6 6.2 Abhängige Beschäftigung 4.4 6.0 Abhängige unbefristete Beschäftigung 3.1 3.2 Abhängige nichtreguläre Beschäftigung Befristete Beschäftigung 10.8 16.5 Geringfügige Beschäftigung (Minijobs) 13 23.2 Zeitarbeit 8.5 Teilzeitbeschäftigung 9.9 15.3 Selbstständige Beschäftigung 6.7 7.7 Selbstständige Beschäftigung ohne Angestellte 9.3 10.3 Quelle: OECD 2014: 100. Statistisches Bundesamt. Anmerkung: Berechnungsbasis Personen im Alter von 15-- 64 Jahren, weder in Bildung noch in Ausbildung. Relatives Armutsrisiko: 60 % des mittleren äquivalenzgewichteten verfügbaren Haushaltseinkommens. <?page no="98"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Dallinger__Sozialpolitik____[Druck-PDF]/ 04.02.2016/ Seite 98 www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Dallinger__Sozialpolitik____[Druck-PDF]/ 04.02.2016/ Seite 99 4.4 Fazit 99 lität nicht immer zufriedenstellend. Somit fällt die Bilanz bei Berücksichtigung der Armutsrisiken und der wenigen Chancen auf einen Wechsel in der ersten Arbeitsmarkt weniger positiv aus. Man hat eher eine Spreizung der Chancen zu verbuchen. Gruppen mit einer schwachen Arbeitsmarktposition haben die Nachteile zu tragen: Junge Erwachsene, Geringqualifizierte, ältere Arbeitnehmer und Langzeitarbeitslose. 4.4 Fazit Das Kapitel legte zum einen die konzeptionelle Grundlage, um zu verstehen, wie die Institutionen des Arbeitsmarktes im Spannungsverhältnis zu den Marktprozessen, die das Zusammenspiel von Arbeitsangebot und -nachfrage regeln sollen, stehen und weshalb diese als nachteilige Rigiditäten gesehen werden. Es versuchte zu verdeutlichen, dass diese Institutionen die sozialen Belange der Bürger transportieren und welche wirtschaftlich positiven Aspekte sie haben. Die Arbeitsmarktpolitik lässt sich in Deutschland wie auch in anderen fortgeschrittenen Gesellschaften vermehrt vom Paradigma der Aktivierung leiten. Die lange kritisierte Eurosklerose-- insbesondere der konservativ-korporatistischen Länder, zu denen auch Deutschland gehört--, konnte durch De-Regulierung und De-Standardisierung partiell aufgelöst werden. Gezeigt wurde, dass teils gravierende Leistungskürzungen vorgenommen wurden, die eine Tab. 4.3 : Übergänge aus Nichterwerbstätigkeit in Erwerbstätigkeit, in % Typ des alten Arbeitsverhältnisses vor der Nichterwerbstätigkeit Typ des neuen Arbeitsverhältnisses Leiharbeit befristet 400-Euro-Job Teilzeit bis 35 Stunden Normalarbeitsverhältnis nicht erwerbstätig Leiharbeit 12 16 3 2 17 50 Befristet 4 27 6 4 15 45 400-Euro-Job 2 12 25 9 5 47 Teilzeit bis 35 Stunden 3 16 11 19 10 41 Normalarbeitsverhältnis 3 13 3 3 41 37 Insgesamt 4 19 7 5 23 42 Quelle: Keller/ Seifert 2011: 34, Tab. 8. <?page no="99"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Dallinger__Sozialpolitik____[Druck-PDF]/ 04.02.2016/ Seite 100 100 4. Arbeitsmarktpolitik Re-Kommodifizierung, als stärkeren Druck dem Markt auch unter ungünstigeren Konditionen zur Verfügung zu stehen, bewirken. Die hohe Arbeitslosigkeit des konservativen Sozialstaats Deutschland ist deutlich zurückgegangen-- um den Preis der Dualisierung der Arbeitsverhältnisse. Es bleibt abzuwarten, wie sich die Arbeitsmarktreformen in ökonomischen Krisen bewähren. <?page no="100"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Dallinger__Sozialpolitik____[Druck-PDF]/ 04.02.2016/ Seite 100 www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Dallinger__Sozialpolitik____[Druck-PDF]/ 04.02.2016/ Seite 101 101 5. Alterssicherung Die Einführung einer staatlichen Alterssicherung im Jahr 1889 in Deutschland stellt eine basale Innovation der entstehenden Industriegesellschaft dar. Sie trägt dem neuen sozialen Risiko Rechnung, das die nun immer weiter verbreitete abhängige Lohnarbeit mit sich bringt: Im Alter ohne ein Erwerbseinkommen zu sein. Die Rentenversicherung dieser Anfangsjahre ist zwar mit der heutigen an Reichweite kaum vergleichbar: Nur Arbeiter waren damals eingeschlossen, Rentenleistungen in Höhe von nur 10-20 % des letzten Lohnes waren ab dem 70. Lebensjahr vorgesehen. Dennoch markiert sie zwei wichtige Einschnitte: Erstens bedeutet sie den Einstieg in die Ergänzung der Erwerbsarbeit durch soziale Rechte, oder- - allgemeiner ausgedrückt- - die staatliche Flankierung des »Marktes« (siehe Kap. 1.) Zweitens verkörpert die zuerst in Deutschland etablierte Rentenversicherung idealtypisch das Modell einer als Sozialversicherung organisierten staatlichen Altersrente. Daneben wurde in anderen Industrieländern das Beveridge-Modell eingeführt. Beide Modelle spielen im internationalen Vergleich der Rentensysteme und in aktuellen Debatten um Rentenreformen eine wichtige Rolle. Im Vergleich zu den Anfängen ist die heutige Rentenversicherung der »Supertanker« des Sozialstaats. Die Ausgaben für die Alterssicherung in Deutschland machen mit ca. 40 % den größten Anteil der Sozialausgaben aus und belaufen sich auf ca. 11 % des Bruttoinlandsprodukts. Alterssicherungssysteme müssen wie Supertanker vorausschauend gesteuert werden, denn sie sind langfristig angelegt. Anrechte auf künftige Rentenleistungen werden über ein Erwerbsleben hinweg erworben. Die Zahl der Menschen, die Anwartschaften erworben haben und deren Renten somit zu finanzieren wären, liegt langfristig fest, ebenso wie die Zahl der im Erwerbsleben aktiven, die diese Rentenansprüche im Umlageverfahren zu finanzieren haben. Die Alterssicherung erzeugt ein langfristiges Generationenverhältnis, das Vertrauen in die künftige Stabilität und »Zahlungsfähigkeit« der Rentenversicherung benötigt. Die staatlich organisierte Alterssicherung sorgt zudem für die Strukturierung von Lebensläufen. Rechtlich fixierte Altersgrenzen brachten historisch betrachtet eine eigene, von Arbeit freie Lebensphase »Alter« überhaupt erst hervor (Kohli 1985). Zuvor gab es so etwas wie ein »sorgenfreies Alter« lediglich für Vermögende, Selbständige, Beamte und bestimmte Militärangehörige. Die staatliche Alterssicherung, die auch breiteren Schichten einen »Ruhestand« ermöglicht, wird zu einer wichtigen Legitimationsquelle des Sozialstaats. Der demografische Wandel stellt jedoch den »gesicherten Ruhestand« zunehmend in Frage. Eine längere Lebensarbeitszeit und mehr private Vorsorge werden gefordert. Die Bevölkerungsentwicklung ließ und lässt auch weiter den Finanzbedarf der Rentenversicherung wachsen. Angesichts der absehbaren Finanzierungsprobleme ist das Vertrauen der Bürger in die künftige Sicherheit der eigenen Rente erodiert. Reformen wurden eingeleitet, um Rentensicherheit und eine gleichmäßigere Belastung der <?page no="101"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Dallinger__Sozialpolitik____[Druck-PDF]/ 04.02.2016/ Seite 102 102 5. Alterssicherung Kohorten zu gewährleisten. Dieses Kapitel führt zunächst in Grundbegriffe zur Analyse von Alterssicherungssystemen ein (5.1) und stellt dar, welche institutionelle Logik die deutsche Rentenversicherung prägt (5.2). Für internationale Vergleiche der Leistungsfähigkeit und Kosten der Alterssicherung ist der Unterschied zwischen Bismarck- und Beveridge-System wichtig (5.3). Dann werden die Folgen des demografischen Wandels für die Rentenfinanzierung (5.4) und die jüngeren Rentenreformen, die diese Probleme beheben sollen, diskutiert (5.5). Zudem wird die Frage nach der Privatisierung der Alterssicherung und ihre sozialen Folgen gestellt. 5.1 Aufbau der Alterssicherung und Einkommenspakete Die finanzielle Sicherung Älterer beruht in den meisten Ländern auf einem Mehrsäulensystem, das sich aus einer staatlichen, einer betrieblichen und einer privaten Säule zusammensetzt. Die staatliche Alterssicherung ist in der Regel die obligatorische (verpflichtende) Komponente, die in Form einer Sozialversicherung oder einer Grundbzw. Mindestrente organisiert sein kann. In Deutschland bildet die Gesetzliche Rentenversicherung (GRV) diese erste Säule. Lange war die GRV für Arbeiter und der Angestellten getrennt. 1989 erfolgte die Zusammenlegung. Separat ist auch die Alterssicherung der Beamten geregelt, deren Pensionen eine staatliche Versorgung darstellen. Die Organisation der Alterssicherung der Arbeiter und Angestellten als Sozialversicherung bedeutet, dass die Finanzierung über Beiträge Erwerbstätiger erfolgt, deren Höhe vom eigenen Einkommen abhängt und die Rentenleistung an die Dauer und die Höhe der vorigen Einzahlungen gekoppelt ist. Somit ist die staatliche Rente an das vorige Einkommen der Versicherten gekoppelt und soll den im Erwerbsleben erreichten Lebensstandard in etwa sichern. Alterssicherungssysteme, in denen die erste staatliche Säule eine Grundrente ist, wie beispielsweise das der Niederlande, werden auch als »Volksversicherung« bezeichnet. Abb. 5.1: Das Mehrsäulensystem der Alterssicherung Quelle: Eigene Darstellung. Private Altersvorsorge Bedarfsorientierte Grundsicherung im Alter Betriebliche Zusatzsysteme, Zusatzversorgung im ö. Dienst Gesetzliche Rentenversicherung, Arbeiter und Angestellte Beamtenversorgung <?page no="102"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Dallinger__Sozialpolitik____[Druck-PDF]/ 04.02.2016/ Seite 102 www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Dallinger__Sozialpolitik____[Druck-PDF]/ 04.02.2016/ Seite 103 5.1 Aufbau der Alterssicherung und Einkommenspakete 103 Sie gewähren eine für alle Älteren gleiche Rente unabhängig vom Einkommen. Sie stellen eine Mindestsicherung dar, die die erste Säule der deutschen Alterssicherung nicht enthält. Eine Mindestsicherung für Ältere wurde hier in der Sozialhilfe geschaffen, die zwar nur nach einer Bedürftigkeitsüberprüfung gewährt wird. Einkommen von Kindern wird zwar berücksichtigt, allerdings erst ab einem hohen Betrag. In der Praxis werden Kinder kaum zur Finanzierung der Rente der Eltern herangezogen. Auch sind die Leistungen für Ältere höher als bei der regulären Sozialhilfe (Hauser/ Schüßler 2012: 172 f.). Der Unterschied zwischen Sozialversicherungs- und Grundrentensystemen wird unten genauer ausgeführt. Die betrieblichen Renten waren bisher in der Privatwirtschaft in Deutschland eine freiwillige Zusage des Arbeitgebers. Andere Länder schreiben betriebliche Renten durch den Gesetzgeber verpflichtend vor, wie etwa die Niederlande. Betriebliche Renten können grundsätzlich innerhalb des individuellen Arbeitsvertrags geregelt sein, als Betriebsvereinbarung oder im Tarifvertrag ausgehandelt werden. Nicht alle Arbeitnehmer hatten in der Vergangenheit gleichermaßen Zugang zu Betriebsrenten, da diese eher jenen Arbeitnehmern angeboten wurden, an denen Betriebe ein verstärktes Interesse haben und die mit attraktiven Konditionen gebunden werden sollen. Empirisch manifestiert sich dies darin, dass Beschäftigte mit höheren Qualifikationen und Einkommen überdurchschnittlich oft eine zusätzliche betriebliche Altersversorgung haben (und mehr Männer als Frauen eine betriebliche Rente erzielen). Im Abschnitt zu den Reformen der deutschen Alterssicherung ist auf Änderungen der betrieblichen Renten einzugehen. Für Beschäftigte im öffentlichen Dienst gibt es in Deutschland Zusatzversorgungssysteme deren Funktion analog zu den Betriebsrenten ist. Private Renten sind in Deutschland bisher noch weniger breit verfügbar als die Betriebsrente. (Selbständige sind hier nicht mit eingeschlossen; in dieser Gruppe ist private Vorsorge üblich). Die private Säule kann aus Kapitalmarktbeteiligung (Aktien), Vermögensbildung (Ansparen, Lebensversicherungen, Geldanlagen) oder Immobilienbesitz und dessen Verwertung im Alter bestehen. Wie umfassend und bedeutend die diversen Formen der privaten Kapitalmarktbeteiligung für die Alterssicherung der einzelnen Haushalte sind, lässt sich schwer quantifizieren. Zwar wird erhoben, welche Geldmarkt-Produkte die Bürger nutzen. Aber dies sagt wenig über die Höhe der Geldanlagen oder Lebensversicherungen; zudem ist der künftige Wert dieser privaten Anlagen nicht sicher zu bestimmen. In Deutschland waren private Renten lange eine Ergänzung zur staatlichen Rente für Bezieher höherer Einkommen, deren über der Beitragsbemessungsgrenze liegender Einkommensbestandteil bei der Rentenhöhe nicht berücksichtigt wird. Die Beitragsbemessungsgrenze definiert, bis zu welcher Einkommenshöhe die Beiträge an die GRV berechnet werden. Darüber liegendes Einkommen wird zwar nicht mit Renten-Beiträgen belastet, aber die Rente steigt dann auch nicht weiter. Die Rentenreform von 2001 in Deutschland hat die Rolle der privaten Altersvorsorge bedeutsam geändert. Sie wird nun durch staatliche Anreize gefördert (Riester-Rente). Die Reformen in <?page no="103"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Dallinger__Sozialpolitik____[Druck-PDF]/ 04.02.2016/ Seite 104 104 5. Alterssicherung Deutschland hin zu einem größeren Anteil der kapitalmarktbasierten Rente werden unten erläutert (Abschn. 5.5). Die private Alterssicherung hat in Ländern mit einem Grundrentensystem bereits heute eine stärkere Bedeutung wie ich ebenfalls im Folgenden genauer zeige. Die einzelnen Säulen der Alterssicherung haben in verschiedenen Ländern ein unterschiedliches Gewicht. Dies lässt sich am Einkommensmix oder den incomepackages von Älteren ablesen. Abbildung 5.2 vergleicht die Einkommensportfolios Älterer in Ländern mit verschiedenen Rentensystemen. Man erkennt, dass Rentner in Deutschland einen im Ländervergleich überdurchschnittlichen Anteil ihrer Altersrente aus der staatlichen Säule (GRV) beziehen. In Ländern wie Großbritannien, den Vereinigten Staaten oder den Niederlanden steuert die betriebliche Säule weitaus mehr als in Deutschland zur Alterssicherung bei. Die private Säule ist in den meisten Ländern nur eine ergänzende Rentenquelle, aber in den USA trägt sie immerhin 20 % des Renteneinkommens Älterer bei. Lediglich in Schweden kamen zum damaligen Zeitpunkt die Einkommensquellen der Älteren ähnlich dominant von der staatlichen Säule wie in Deutschland. Insgesamt ist in anderen Ländern der Beitrag unterschiedlicher Komponenten zum Alterseinkommen vielfältiger, während in Deutschland die staatliche Rente stärker als in anderen Ländern dominiert. Die Zahlen sind von 1995, um bewusst die spezifische Problematik der deutschen Alterssicherung abzubilden, die dann für die Rentenreformen Anfang des Jahrtausends ausschlaggebend waren. 40 Die verschiedenen Beiträge in Mehrsäulensysteme werden später noch dargestellt. An dieser Stelle ist lediglich wichtig zu sehen, dass der von verschiedenen Säulen beigesteuerte Umfang der Alterssicherung im Zuge des demografischen Wandels folgenreich ist. Wesentlich für die Debatte um die Rentenfinanzierung ist, dass die verschiedenen Einkommenskomponenten eine unterschiedliche intergenerationelle Lastenverteilung bedeuten. Die erste Säule der staatlichen Rentenversicherung ist umlagefinanziert: Danach werden die aktuellen Renten aus den Beiträgen der jetzigen Erwerbstätigen finanziert. Man bezeichnet dies zwar als Generationenvertrag, aber ein expliziter Vertrag zwischen den Generationen existiert nicht. Es handelt sich schlicht um ein Verfahren zur Rentenfinanzierung, eben das Umlageverfahren. Bis zur Rentenreform 1957 galt in der gesetzlichen Rentenversicherung Deutschlands das Kapitaldeckungsverfahren, das aus den Beitragsleistungen einen Kapitalstock ansammelte. Da sich angesichts der Erfahrungen mit Krieg und Inflation ein Kapitalstock als riskant erwiesen hatte, wurde 1957 auf das Umlageverfahren umgestellt. Die betriebliche und die private Säule werden kapitalgedeckt finanziert, also über individuelles Ansparen von Kapital. Die umlagefinanzierte erste Säule ist anfällig für demografische Ungleichgewichte, da sich unterschiedlich große Kohorten der Erwerbstätigen in der Rentenfinanzierung bemerkbar machen. Weniger Erwerbstätige müssen mehr Rentner finanzieren, wenn es mehr Rentner mit längerer Rentenbezugsdauer gibt. Einkommenspakete von Rent- 40 Neuere Zahlen zu income packages Älterer siehe Börsch-Supan/ Wilke (2006) <?page no="104"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Dallinger__Sozialpolitik____[Druck-PDF]/ 04.02.2016/ Seite 104 www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Dallinger__Sozialpolitik____[Druck-PDF]/ 04.02.2016/ Seite 105 5.2 Die institutionelle Logik der gesetzlichen Rentenversicherung Deutschlands 105 nern, in denen ein größerer Teil aus den kapitalgedeckten Komponenten der Alterssicherung kommt, belasten die Erwerbstätigen weniger und beteiligen die jeweilige Kohorte selbst an den Kosten des demografischen Wandels. An dieser Verflechtung zwischen der Art der Rentenfinanzierung und dem demografischen Wandel setzen die aktuellen Rentenreformen in Deutschland an. Sie fördern den Ausbau der privaten und der betrieblichen Rente, um die Konzentration auf die staatliche Säule zu mindern. Abschnitt 5.5 geht genauer auf die Reformpolitik ein. Zunächst aber werden die Merkmale des deutschen Alterssicherungssystems genauer erläutert. 5.2 Die institutionelle Logik der gesetzlichen Rentenversicherung Deutschlands Da Organisationsmerkmale der gesetzlichen Rentenversicherung nicht bloß bürokratische oder rechtliche Regeln umfassen, sondern ebenso spezifische Ideen und soziale Ziele, spricht man von einer institutionellen Logik, die Organisationen wie der Rentenversicherung eingelagert sind. So ist die umlagefinanzierte gesetzliche Rente an die Lohnentwicklung gekoppelt, was eine dynamische Rentenanpassung mit dem Ziel der Teilhabe der Rentner an der allgemeinen Wohlstandsentwicklung ermöglichen soll. Seit 1992 sind die Renten nicht mehr an Bruttolöhne gekoppelt, sondern an die Abb. 5.2: Der Einkommensmix von Älteren 1995 Quelle: Darstellung nach Pedersen 2004: 13. 0 10 20 30 40 50 60 70 80 90 100 Kapital-Einkommen Erw.-Einkommen Betriebsrente Staatl. Rente Deutschland Schweden Dänemark Norwegen Australien Niederlande Kanada UK USA <?page no="105"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Dallinger__Sozialpolitik____[Druck-PDF]/ 04.02.2016/ Seite 106 106 5. Alterssicherung Nettolöhne, da die Bruttolöhne Erwerbstätiger zunehmend durch steigende Sozialabgaben reduziert wurden, aber die Renten dennoch stiegen. Mit der Umstellung sollte eine Gleichbehandlung, primär der Erwerbstätigen, erreicht werden. Man sieht, dass organisatorische Merkmale und Ideen wie Teilhabegerechtigkeit eng zusammenhängen. Die Alterssicherung ist lohnbezogen, das heißt: Die Höhe der Rente richtet sich nach der Höhe des früheren Lohnes, die wiederum die jeweiligen Beitragszahlungen bestimmt. Renten sollen den individuellen Einkommen bzw. Beitragszahlungen äquivalent sein. Der Gedanke der Leistungsgerechtigkeit steht hier Pate: Rente soll der »Lebensleistung« im Erwerbsleben entsprechen. Daneben schlägt sich ebenso die Dauer der Erwerbstätigkeit in der Rentenhöhe nieder: Langjährige Erwerbsarbeit und daraus mögliche Beiträge steigern wiederum die Rente. Der enge Bezug zwischen Beiträgen und späterer Rente entspricht zudem dem Versicherungsprinzip. Nicht durch Beitragsjahre gedeckte Leistungen, wie sie in der Rentenversicherung in Form der Anrechnung von Kindererziehungs- oder von Ausbildungszeiten existieren, gelten als versicherungsfremd und die Akzeptanz der Beiträge störende Umverteilung. Da zweifellos das Aufziehen einer nachrückenden Kindergeneration eine für den Fortbestand des Umlageverfahrens wichtige generative Leistung ist, werden Kindererziehungszeiten zwar rentenrechtlich anerkannt, aber als gesamtgesellschaftliche Aufgabe definiert und über Steuerzuschüsse finanziert. Als sozial wird die Rentenversicherung oft bezeichnet, da die Beitragshöhe mit der Höhe des individuellen Einkommens variiert. Dies trägt zwar der finanziellen Leistungsfähigkeit der Einzelnen Rechnung, sorgt aber später auch für geringe Renten bei geringen Beiträgen. Das in der GRV verankerte Prinzip der Leistungsgerechtigkeit ist daher in Hinblick auf Bedarfsgerechtigkeit schwach aufgestellt. Geringverdiener können im Alter unter einen Mindestbedarf rutschen. Auch dürften künftige Rentnerkohorten, die öfter Phasen der Arbeitslosigkeit hinnehmen mussten als die »Wirtschaftswundergeneration«, rascher eine unzureichende Rente erzielen. In diese Richtung wirkt außerdem die Rentenreform von 2000, die ein reduziertes Rentenniveau für künftige Ältere bedeutet. Die Befürworter der einkommensbezogenen Rente verweisen auf die in Deutschland bereits bestehende bedarfssichernde Mindestrente. Sie ist aber im Rahmen der Sozialhilfebzw. heute der Grundsicherung angesiedelt, sodass Bedarfssicherung doch kein Bestandteil der GRV ist. Der Ausschluss versicherungsfremder Leistungen wird auch als ein Mittel zur Stärkung der Akzeptanz der Beitragsbelastungen für die Erwerbstätigen gesehen. Denn schließlich werde mit Rentenbeiträgen fürs eigene Alter vorgesorgt. Zudem verhindere eine den individuellen Beitragszahlungen äquivalente Rente ein free rider-Verhalten, also die Inanspruchnahme ohne eigene Vorleistung. Allerdings verliert die einkommensbezogene Rente in dem Maße an Akzeptanz, wie künftig trotz langjähriger Einzahlung ein geringes Absicherungsniveau erzielt wird, das bei geringem Einkommen auf der Höhe der Grundsicherung rangiert. <?page no="106"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Dallinger__Sozialpolitik____[Druck-PDF]/ 04.02.2016/ Seite 106 www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Dallinger__Sozialpolitik____[Druck-PDF]/ 04.02.2016/ Seite 107 5.2 Die institutionelle Logik der gesetzlichen Rentenversicherung Deutschlands 107 Die Finanzierung der Renten erfolgt paritätisch, ist also auf Arbeitgeber und -nehmer aufgeteilt. Der gesamte Beitragssatz vom monatlichen Bruttolohn abhängig Beschäftigter betrug 2014 18,9 %. Er schwankt mit dem jeweiligen Finanzbedarf aufgrund zu zahlender Renten einerseits, und wegen zu geringer Einnahmen etwa bei steigender Arbeitslosigkeit andererseits. Im Zusammenhang mit Debatten um die Höhe der Beiträge sind zwei Begriffe wichtig: Ist die Rentenhöhe oder das Rentenniveau (z. B. 60 % des letzten Einkommens) die bestimmende Größe, an die die Beiträge der Erwerbstätigen angepasst werden, spricht man von defined benefits. Dieses Prinzip war in Deutschland bisher rentenpolitisch maßgeblich. Der Begriff des »Eckrentners« steht dafür. Mit Hilfe von Annahmen über den Erwerbsverlauf wird eine Eck- oder Standardrente berechnet, die den Maßstab der erzielbaren Rentenhöhe ergibt. (Das sind 45 Beitragsjahre bzw. Entgeltpunkte, Durchschnittslohn, Altersrente bei der Regelaltersgrenze 65 Jahre.) Da sich abzeichnet, dass defined benefits angesichts von künftig weniger Beitragszahlern und mehr Rentnern die nötigen Beiträge stark steigen lassen würden, steuerte man auf defined contributions um. Die rentenpolitische Richtgröße ist dabei die Beitragshöhe der Erwerbstätigen, die nicht über einen bestimmten Prozentsatz steigen soll. Ob die Rentenpolitik an dem Ziel der defined benefits oder der defined contributions ausgerichtet wird, ist nicht »in Stein gemeißelt«. Mal hat die Begrenzung der Beiträge Erwerbstätiger die Oberhand, mal aber die Rentenleistungen. Begriffe aus der Rentendebatte in Deutschland wie das Äquivalenzprinzip oder das »individuelle Beitragskonto« deuten eine Sicherheit der späteren Rente an, die unrealistisch ist. Der Blick auf die Rentenformel unterstreicht dies. Sie enthält neben individuellen Entgeltpunkten einiges an Flexibilität wie den Nachhaltigkeitsfaktor oder den aktuellen Rentenwert. Berechnung der Rentenhöhe Die Rentenformel der monatlichen Bruttorente lautet: MR =-EP x Zf x Rf x aRW x demogr. Faktor. Das bedeutet, dass die individuellen Entgeltpunkte (EP) aufgrund Beitragsdauer und Lohnhöhe mit dem Rentenzugangsfaktor Zf (Rentenbeginn wann? ) gewichtet werden, außerdem mit dem Rentenfaktor Rf (vorgezogene Rente mit Abschlägen oder reguläre Altersgrenze) und dem aktuellen Rentenwert (aRW), der die Anpassung an die aktuelle Lohnentwicklung leistet. Schließlich wird mit dem Nachhaltigkeitsfaktor multipliziert, der den demografischen Wandel einbringt, indem das Verhältnis zwischen Beitragszahlern und Rentenempfängern (Rentnerquotient) berücksichtigt wird. Rentenarten: Es existieren diverse Rentenarten: Neben der Altersrente unterscheidet man Renten wegen verminderter Erwerbsfähigkeit und die Hinterbliebenen-Rente beim Tod des Rentenberechtigten, bei der wiederum die Witwen-/ Witwerrente und Waisenrente zu unterscheiden ist. <?page no="107"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Dallinger__Sozialpolitik____[Druck-PDF]/ 04.02.2016/ Seite 108 108 5. Alterssicherung 5.3 Institutionen der Alterssicherung im internationalen Vergleich 5.3.1 Bismarck und Beveridge Die deutsche Rentenversicherung repräsentiert das Bismarcksche Alterssicherungsmodell, das sich auszeichnet durch die Ausrichtung am früheren Status im Erwerbsleben (einkommensbezogene Sozialbeiträge und Renten). Auch Frankreich, Österreich, Belgien, die südeuropäischen Länder und die USA (auf einem sehr niedrigen Niveau) folgen diesem Modell. Davon wird die als Grundsicherung gestaltete Alterssicherung nach dem Beveridge-Modell unterschieden, die auf Armutsvermeidung zielt. Es ist nach dem britischen Ökonomen und Politiker William Henry Beveridge benannt, der in den 1940er-Jahren die britische Sozialpolitik prägte. Das Beveridge-Modell, das in skandinavischen Ländern, Großbritannien und der Schweiz etabliert wurde, enthält als erste staatliche Säule eine Mindestrente, die auch Menschen mit geringen oder fehlenden Einkommen im Alter absichert. Dazu kommen die betriebliche und die private Säule, die das Rentenniveau erhöhen und vor allem für Bürger mit höheren Einkommen auch eine höhere Rente bieten. Es wird als Mehrsäulensystem (multi-pillar) bezeichnet. Grundrenten oder »Volksversicherungen« weichen die enge Verbindung zwischen Erwerbseinkommen und Altersrente, wie sie für das Bismarck-Modell typisch ist, auf. Die Altersgrundsicherung sorgt auch ohne kontinuierliche Erwerbsbeteiligung für ein Alterseinkommen, bietet also vor allem Frauen mit eingeschränkter Arbeitsmarktpartizipation Vorteile, aber ebenso anderen Gruppen mit instabiler Arbeitsmarktintegration. Systemen mit Grundrenten wird eine umverteilende Wirkung zugesprochen, während das Bismarck-Modell mit dem Äquivalenzprinzip umverteilende Effekte sogar explizit abwehrt. In Bismarck-Ländern wie Deutschland sollen Rentenreformen sogar den Versicherungsgedanken stärken und schließen Renten ohne Beiträge aus, um das Versichertenkollektiv und dessen Zahlungsbereitschaft nicht zu schädigen (Ausnahme sind die Reformen bei der Anrechnung von Kindererziehung). Auch Beveridge-Rentensysteme definieren aber Bezugsvoraussetzungen und stufen Rentenleistungen ab. So erhalten in Schweden Personen aufgrund des Wohnortes eine Rente, die allerdings nach Wohndauer und Familienstand gestaffelt ist (Garantipension). Eine volle Garantipension ist gekoppelt an 40 Jahre Wohndauer, bei weniger Jahren wird entsprechend gekürzt. Finanziert wird sie aus Steuern und Beiträgen der Arbeitgeber in Höhe von ca. 6,8 % der Lohnsumme. Bereits seit 1960 existiert in Schweden eine verpflichtend abzuschließende einkommensbezogene Rente als zweite, ergänzende Säule. Anfang der 1990er-Jahre wurde diese die 1. Säule, die grundsichernde Garantierente lediglich die Ergänzung. Auch die Niederlande praktizieren eine vom Erwerbseinkommen unabhängige Altersgrundsicherung (AOW, Algemene Ouderdomswet) für die Wohnbevölkerung und für Nicht-Einwohner, die aber im Land lohnsteuerpflichtig sind. Die Höhe richwww.claudia-wild.de: <?page no="108"?> [UTB-M]__Dallinger__Sozialpolitik____[Druck-PDF]/ 04.02.2016/ Seite 108 www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Dallinger__Sozialpolitik____[Druck-PDF]/ 04.02.2016/ Seite 109 5.3 Institutionen der Alterssicherung im internationalen Vergleich 109 tet sich nach dem gesetzlichen Mindestlohn. Die Finanzierung erfolgt über Beiträge zur AOW, die die Wohnbevölkerung entrichtet, nicht nur die Erwerbstätigen. Der Beitragssatz beträgt ca. 19 % des Einkommens bis zu einer niedrig angesetzten Bemessungsgrenze (ca. 29.000 Euro im Jahr 2014), sodass die Beiträge nicht hoch steigen können. Arbeitgeber zahlen in die Grundrente keine Beiträge, aber es existiert eine verbindliche betriebliche Rente. Wer zwischen dem 15. und 65. Lebensjahr seinen Wohnsitz nicht ständig in den Niederlanden hatte, dessen AOW-Leistung wird gekürzt (2 % jedes Jahr). Dies ist eine Mischform aus Beitragsfinanzierung und Grundrente. In der Schweiz lässt sich wieder eine andere Organisation der Grundrente (Alters- und Hinterlassenenversicherung AHV) betrachten. Das Besondere ist, dass die gesamte Erwerbsbevölkerung (auch Selbständige) in die Finanzierung einbezogen ist und ohne Beitragsbemessungsgrenze Beiträge in Höhe von 8,4 % entrichtet werden müssen. Fehlt Erwerbseinkommen, wird etwa vorhandenes Vermögen herangezogen. Durch diesen Zuschnitt der Grundrente finanzieren auch hohe Einkommen und Vermögen die Grundsicherung. Die britische Alterssicherung besteht aus einer basic state pension (BSP), die bei Bedürftigkeit ergänzt werden kann durch pension credits, außerdem einer verdienstbezogenen Zusatzrente (SERPS, State Second Pension) und aus Betriebsrenten. Die betrieblichen Rentenzusagen sind freiwillig und werden überwiegend von Großbetrieben und im öffentlichen Dienst angeboten. Gerade Geringverdiener haben aber selten Zugang zu Betriebsrenten. Die staatliche Grundrente bietet ein sehr geringes Leistungsniveau noch unter dem Sozialhilfesatz. Mit der verdienstbezogenen staatlichen Zusatzrente (SERPS) plus der Grundsicherung (BSP) kann zumindest ein Rentenniveau von ca. 50 % der Durchschnittseinkommen erreicht werden. Seit der unter Thatcher eingeführten Möglichkeit, sich aus den staatlichen Systemen befreien zu lassen (opting out)- - bei Nachweis von betrieblichen Renten oder privaten Sparplänen- -, kann SERPS verlassen werden. Dies nutzen immerhin ca. 70 % der Beschäftigten und schließen betriebliche oder private Alterssicherungsformen ab. Die Beispiele zeigen, dass die Beveridge-Länder zusätzlich einkommensbezogene Alterssicherungsformen etablierten um auch Beziehern mittlerer und gehobener Einkommen ein höheres Lohnersatzniveau zu bieten. Einst vorrangig auf Armutsvermeidung zielende Systeme werden um Elemente des Statuserhalts weiter entwickelt, auch wegen Akzeptanzproblemen von Renten, die nur vor Armut schützen. Die Beveridge- Länder sind zudem in sich uneinheitlich: Einige Länder (Schweden, Norwegen, Finnland, Kanada) führten schon in den 1960er- Jahren zusätzliche staatliche einkommensbezogene Säulen ein, andere Länder erweiterten die Grundrenten erst später in den 1980er- und 1990er-Jahren, allerdings dann durch obligatorische Betriebsrenten (Niederlande, Schweiz, Australien) oder privates Sparen (Hinrichs/ Lynch 2010: 356). Reine Grundrentenländer existieren also ebenso wenig wie umgekehrt reine Bismarck- Länder; diese haben Mindestrenten zur Vermeidung von Altersarmut eingeführt. <?page no="109"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Dallinger__Sozialpolitik____[Druck-PDF]/ 04.02.2016/ Seite 110 110 5. Alterssicherung Die differierende Ausrichtung der beiden Modelle- - hier Statussicherung dort Armutsvermeidung- - macht sich beispielsweise in der Einkommensersatzrate, den die Rente leistet, bemerkbar. Dieser Indikator wird oft verwendet, um Auskunft über das materielle Absicherungsniveau der Älteren relativ zum durchschnittlichen Einkommen der Erwerbstätigen geben zu können. Damit lässt sich vergleichen, wie viel »Wohlfahrt« die beiden Rentensysteme erzeugen. Abbildung 5.3 zeigt die Netto- Ersatzrate 41 , also den Anteil, den die individuellen Rentenansprüche am vorigen Netto-Einkommen ausmachen. Verschiedene Rentenarten sind hier zusammengefasst. Bieten Bismarck-Länder mit einkommensbezogener staatlicher Rente eine bessere Alterssicherung als Beveridge-Länder, das auf Grundsicherung zielt? Nein, keineswegs. Länder mit einem Beveridgesystem erzielen ähnlich hohe Ersatzraten. Wie hoch diese ausfallen, hängt offenbar stärker von der Ausgestaltung des Rentensystems insgesamt ab. So erzielt die Niederlande, ein Land mit Grundrente, durch die anderen Rentensäulen bzw. -komponenten eine Ersatzrate, die Länder mit einer dominanten einkommensbezogenen Säule nicht erreichen. 41 Es handelt sich also nicht um das Rentenniveau bzw. das Rentenniveau der Standardrente, eine für die deutsche gesetzliche Rentenversicherung wichtige Größe. Netto heißt, dass in die Berechnung der Ersatzrate die Besteuerung der Renten einfließt. Dies ist sinnvoll, da die steuerliche Ent- oder Belastung durch rentenpolitische Ziele geprägt ist. Abb. 5.3: Netto-Ersatzrate aller Renten im Verhältnis zum früheren Einkommen, Durchschnittsverdiener, nur Männer, nur verpflichtende Renten (staatlich, betrieblich und privat) Quelle: Eigene Darstellung nach OECD 2013: 141, Tab. 4.8. Anmerkungen: Die Netto-Ersatzrate wird de-niert als die individuellen Rentenanrechte geteilt durch das Nettoeinkommen vor der Rente. 0 20 40 60 80 100 AT IT FR DE USA NL CH NO SE GB <?page no="110"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Dallinger__Sozialpolitik____[Druck-PDF]/ 04.02.2016/ Seite 110 www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Dallinger__Sozialpolitik____[Druck-PDF]/ 04.02.2016/ Seite 111 5.3 Institutionen der Alterssicherung im internationalen Vergleich 111 Würde allein das Ersatzniveau der staatlichen Rente zählen, wären die Bismarck- Länder (Österreich, Italien und Frankreich) überlegen, wie Tabelle 5.1 zeigt, die den Prozentsatz für die staatliche Säule separat ausweist. In Bismarck-Ländern ersetzt die staatliche Altersrente einen größeren Anteil der Erwerbseinkommen, in Frankreich und Italien ca. 70-80 %, während das Ersatzniveau in den Grundrentenländern Schweden und Großbritannien nur ca. 38 % beträgt. Allerdings gibt es innerhalb der Modelle beträchtliche Schwankungen zwischen Ländern. So kommen die USA und Deutschland weniger deutlich über das Niveau der Beveridge-Länder. Allein anhand der staatlichen Säule lässt sich aber die Qualität der Alterssicherung beider Rentenmodelle kaum vergleichen. In Beveridge-Ländern wird die eher schmale staatliche Säule durch weitere Komponenten erweitert, hingegen kommt in den Bismarck-Ländern zur staatlichen Säule wenig aus weiteren Säulen Tab. 5.1: Netto-Ersatzraten der staatlichen Rente und weiterer verpflichtender privater Renten, in % der Erwerbseinkommen, für unterschiedliche Einkommensstufen Staatliche Säule Einkommensniveau Alle Säulen Einkommensniveau Bismarck 0,5 1,0 1,5 0,5 1,0 1,5 Deutschland 55,9 55,3 54,4 55,9 55,3 54,4 Österreich 91,2 90,2 86,2 91,2 90,2 86,2 Italien 78,0 78,2 77,9 78 78,2 77,9 Frankreich 75,9 71,4 60,9 75,9 71,4 60,9 USA 56,2 44,8 40,4 56,2 44,8 40,4 Beveridge Niederlande 65,6 33,0 21,4 104,8 101,1 97,2 Norwegen 71,5 52,0 39,5 78,3 59,7 47,8 Schweden 47,6 33,7 27,6 68,8 55,3 72,9 Großbritannien 61,7 38 27,2 61,7 38 27,2 Schweiz 60,2 43,4 28,5 78,4 74,7 49,1 Eigene Darstellung nach OECD 2013: S. 143, Tab. 4.10. Anmerkungen: Definition Netto-Ersatzrate siehe vorige Tabelle. Die Spalte »Alle Säulen« umfasst betriebliche Renten soweit sie verpflichtend sind, jedoch keine freiwillige betriebliche oder private Altersvorsorge. Das Einkommensniveau ist berechnet als Vielfaches der durchschnittlichen Einkommen von Männern. <?page no="111"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Dallinger__Sozialpolitik____[Druck-PDF]/ 04.02.2016/ Seite 112 112 5. Alterssicherung dazu. Nach der Spalte Gesamt in Tabelle 5.1, liegt das Ersatzniveau in Grundrentenländern sogar höher bei geringen Einkommen (0,5: Hälfte des Durchschnitts) und bei Durchschnittseinkommen (1: Durchschnitt). Für hohe Einkommen (1,5-faches des Durchschnitts) gilt das tendenziell nicht. Diese Haushalte sind also auf freiwillige private Vorsorge verwiesen, die die Tabelle nicht erfasst. Sie zählt nur verpflichtende private Rente. Freiwillige private Alterssicherung lässt das Ersatzniveau noch steigen, wie in Deutschland, Norwegen, Großbritannien und den USA. Die staatliche Grundbzw. Mindestrente erzielt also zusammen mit betrieblicher und privater Alterssicherung ein höheres Netto-Ersatzniveau für Durchschnitts- und v. a. Geringverdiener als das Bismarck-Modell. Daraus wird oft die Überlegenheit des »multi-pillar-Systems« abgeleitet, das mehr private Altersvorsorge vorsieht. Anhand der Einkommensersatzrate lässt sich auch vergleichen, wie stark in beiden Systemen das frühere Einkommen die Rentenhöhe prägt (Einkommensbezug). Dazu muss man die Ersatzraten auf den unterschiedlichen Einkommensstufen- - untere, mittlere und höhere Einkommen-- in Tabelle 5.1 betrachten (0,5 Hälfte des Durchschnitts; 1,0 Durchschnittseinkommen; 1,5-fache des Durchschnitts). In Ländern mit Beveridge-System sind die Netto-Ersatzraten nach Einkommen abgestuft: Für geringe Einkommen sind sie höher, um dennoch ein ausreichendes Rentenniveau zu erzielen, für hohe Einkommen ist dagegen eine niedrigere Ersatzrate vorgesehen, da lediglich Mindestsicherung erreicht werden soll. Dagegen ist in Bismarck-Ländern wie Deutschland, Österreich und Italien die Ersatzrate nur wenig nach der Einkommenshöhe abgestuft und für geringe, mittlere und hohe Einkommen relativ ähnlich. Dies sorgt aber dafür, dass die Renten einkommensbezogen sind. Einheitliche Ersatzraten transportieren die Einkommensunterschiede aus der Erwerbsphase auch in das Rentenalter. Lediglich einzelne Länder (Frankreich oder die USA) weichen ab und weisen moderat abgestufte Ersatzraten auf. Beide Rentensysteme sind also unterschiedlich stark einkommensbezogen. Unterschiede zwischen den Rentensystemen zeigen sich auch beim Anteil des Bruttoinlandsprodukts, der in deren Finanzierung fließt, und an der Beitragshöhe. Beides informiert darüber, wie teuer die Rentensysteme sind. In Beveridge-Ländern ist nach Tabelle 5.2 beides niedriger als in Bismarck-Ländern, da das Alterseinkommen stärker auf unterschiedliche Quellen verteilt ist und die staatliche Säule nur ein geringeres Gewicht des gesamten Einkommens im Alter trägt. Die Ausgaben für staatliche Grundrenten liegen in Beveridge-Ländern zwischen 4,8 % (Norwegen) und 7,7 % (Schweden) des Brutto-Inlandsproduktes, und damit deutlich unter den Werten der Bismarckländer mit Rentenausgaben von 11 % bis 14 % des BIP. Ähnlich liegen auch die Beitragssätze auf unterschiedlichem Niveau, wenngleich die Differenzen weniger ausgeprägt sind. Die Beveridge-Länder belasten wegen ihrer schmaleren staatlichen, umlagefinanzierten Säule die aktive Erwerbsbevölkerung weniger. Die Folgerung, das Beveridge-Modell sei »billiger« und robuster gegenüber dem demografischen Wandel, wäre aber voreilig. Denn erst die Kosten für die kapitalgewww.claudia-wild.de: <?page no="112"?> [UTB-M]__Dallinger__Sozialpolitik____[Druck-PDF]/ 04.02.2016/ Seite 112 www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Dallinger__Sozialpolitik____[Druck-PDF]/ 04.02.2016/ Seite 113 5.3 Institutionen der Alterssicherung im internationalen Vergleich 113 deckten, privaten Rentensäulen ergeben ein vollständiges Bild. Insgesamt sind die Kosten der Alterssicherung nicht geringer, aber anders verteilt. Ein größerer Umfang kapitalgedeckter Renten in Ländern mit Mehrsäulensystem entschärft zwar Probleme infolge des demografischen Wandels, aber die Risiken durch Kapitalmarktschwankungen wachsen. 5.3.2 Wie gut wird Altersarmut vermieden? Eine zentrale Frage lautet, ob Länder mit unterschiedlichen Rentenmodellen auch unterschiedlich hohe Altersarmut aufweisen. Diese ließe Folgerungen über die Leistungsfähigkeit der beiden Modelle zu. Abbildung 5.4, die Armutsquoten international vergleicht, versucht eine Antwort zu geben. Länder mit einer Alters-Grundsicherung (Beveridge) sind rechts, Länder mit Bismarck-System sind links angeordnet. Schweden wechselte 1999 zu einer einkommensbezogenen 1. Säule mit einer Grundrente nach Bedürftigkeitsprüfung, Norwegen im Jahr 2011. Daher stehen diese Länder in der Mitte. Der Vergleich ergibt allerdings kein einheitliches Ergebnis: Weder liegt die Armutsquote Älterer in Ländern mit einkommensbezogener Rente (DE, AT, FR, IT, ES, US) durchgängig über der der Bevölkerung im Erwerbsalter. Noch ist umgekehrt die Armutsquote über 65-Jähriger in Ländern mit Grundrente (NL, CH, GB, DK) gene- Tab. 5.2: Der »Preis« der Alterssicherung: Anteil der Rentenausgaben am Bruttoinlandsprodukt und Beitragshöhe im Vergleich Bismarck Rentenausgaben in % GDP Beitragssatz** 2012 Beveridge Rentenausgaben in % GDP Beitragssatz 2012 Deutschland 11,4 19,6 Niederlande 5,0 17,9 Frankreich 12,4 16,7 Norwegen 4,8 * Italien 14,0 33,0 Schweden 7,7 18,4 USA 6,0 12,4 Großbritannien 5,7 * Österreich 12,6 22,8 Schweiz 6,8 9,8 Eigene Darstellung nach OECD 2013: 169. * Kein eigener Rentenbeitrag in Norwegen und Großbritannien. ** Die Aufteilung des Beitrags auf Arbeitgeber und -nehmer ist nicht immer paritätisch wie in Deutschland, sondern wird teils stärker vom Arbeitgeber (IT, SE), teils stärker vom Arbeitnehmer (NL) getragen. <?page no="113"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Dallinger__Sozialpolitik____[Druck-PDF]/ 04.02.2016/ Seite 114 114 5. Alterssicherung rell niedriger als die der Bevölkerung im Erwerbsalter. Die Armutsquote kann auch in Ländern mit Grundrente hoch sein. Es kommt offenbar auf die konkrete Ausgestaltung beider Sicherungssystemen an. Um ein realistisches Bild der Einkommenslage Älterer zu gewinnen, wird zunehmend der Einkommensbegriff erweitert und auch der Mietwert von selbst genutztem Wohneigentum berücksichtigt (OECD 2013: 79 f.; Hauser/ Schüßler 2012: 84). 42 Denn wenn aufgrund von Immobilienbesitz die Mietzahlung entfällt, entlastet dies das Renteneinkommen. 43 Auf der Basis eines erweiterten Einkommenskonzepts berechnete Armutsquoten Älterer liegen in beiden Rentensystem-Typen niedriger. In Italien und Spanien reduziert sich die Armutsquote Älterer besonders deutlich (siehe Abb. 5.4). Da die ersparte Miete auf Schätzungen beruht, die zudem in den Ländern mit unterschiedlichen Methoden durchgeführt werden (OECD 2013: 84 f.), sollte man die Zahlen nicht zu wörtlich nehmen. Dennoch lassen sie die Aussage zu, dass die Armutsquoten bei Berücksichtigung des Mietwerts eigener Immobilien in der 42 Hauser/ Schüßler 2012 schließen außerdem Betriebsrenten und Direktversicherungen in ein erweitertes Konzept des verfügbaren Haushaltseinkommens ein. 43 Hausbesitz kann jedoch auch eine Quelle finanzieller Belastung im Alter sein, wenn Hypothekenzahlungen noch nicht beendet sind (OECD 2013: 80). Abb. 5.4 : Armutsquote (50 %) Älterer im Vergleich zur Bevölkerung im Erwerbsalter, Beveridge- und Bismarckländer (ca. 2005) Quelle: Eigene Darstellung nach OECD 2013: Pensions at a Glance, S. 165, Abb. 5.5. 0 5 10 15 20 25 DE AT FR IT ES US SE NO NL CH GB DK Bevölkerung 20-64 Ältere 65+ Ältere, einschl. Mietwert <?page no="114"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Dallinger__Sozialpolitik____[Druck-PDF]/ 04.02.2016/ Seite 114 www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Dallinger__Sozialpolitik____[Druck-PDF]/ 04.02.2016/ Seite 115 5.4 Demografischer Wandel und Rentenfinanzierung 115 Regel sogar geringer sind als die der Bevölkerung im Erwerbsalter (mit Ausnahme der Schweiz). Beide Rentensystem-Typen unterscheiden sich hier nicht systematisch voneinander. 5.4 Demografischer Wandel und Rentenfinanzierung Die gesetzliche Rentenversicherung geriet angesichts des demografischen Wandels in den letzten Dekaden immer mehr unter Druck. Die steigende Lebenserwartung hat die Rentenbezugsdauer verlängert und wird sie auch künftig ausweiten. 1970 hatten Männer nach dem Arbeitsmarktaustritt eine weitere Lebenserwartung von 11,2 Jahren im Rentenalter, im Jahr 2011 war die Zahl auf 20 Jahre gestiegen. Frauen hatten 1970 nach dem Ausscheiden aus dem Erwerbsleben eine weitere Lebenserwartung von 15,1 Jahren, im Jahr 2011 hatte sich der Wert auf 22,5 Jahre erhöht. Sinkende Geburtenraten in der Vergangenheit sorgen heute für kleinere Kohorte im Erwerbsalter. Auch künftig wird die mittlere Kohorte im Erwerbsalter von 20 bis 65 Jahren-- also die potentiellen Beitragszahler-- schrumpfen. Die aus der demografischen Entwicklung sich ergebenden Probleme der Rentenfinanzierung lassen sich mithilfe des Altenquotienten beleuchten. Dieser zeigt die Zahl der über 65-Jährigen je 100 Personen im Erwerbsalter zwischen 20 und 64 Jahren. 44 Nach Abbildung 5.5 stieg diese Belastung in der Nachkriegsperiode stetig an und wird künftig deutlich größer. Zwischen 1950 und 2010 wuchs die Zahl von 16 auf ca. 34 Rentnern, die 100 Erwerbstätige zu finanzieren haben. Zwischen 2010 und 2060 wird sich diese Zahl nochmal fast verdoppeln auf 67 Rentner pro 100 Personen im Erwerbsalter. Allerdings hängt der Altenquotient auch davon ab, wo genau man die Altersgrenze festsetzt. Sein Anstieg-- und mithin wachsende Probleme der Rentenfinanzierung-- ist also kein demografischer Sachzwang, sondern beeinflussbar. Läge die Altersgrenze bei 67 Jahren, sänke der Quotient und die finanzielle Belastung der aktiven Erwerbsbevölkerung wäre entschärft. Es kämen 2010 lediglich 29 Rentner auf 100 Personen im Erwerbsalter, statt 34 (Statistisches Bundesamt 2009: 21). Die rentenpolitischen Reformen in Deutschland verfolgten eigentlich den Ansatz, die gesetzliche Altersgrenze heraufzusetzen. Allerdings wurde die 2012 beschlossene Heraufsetzung des Rentenalters partiell zurück genommen, da seit ca. 2007 die Beschäftigung steigt und Arbeitslosigkeit sinkt, was hohe Beitragseinnahmen in die Rentenkassen spülte (genauer zu Rentenreformen Abschn. 5.5). 44 Auch ein Jugendquotient existiert. Er ist definiert als das Verhältnis zwischen der Zahl unter 20-Jähriger je 100 Personen im Alter zwischen 20 und 64 Jahren. <?page no="115"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Dallinger__Sozialpolitik____[Druck-PDF]/ 04.02.2016/ Seite 116 116 5. Alterssicherung Die Folgen des demografischen Wandels für die Alterssicherung lassen sich international vergleichend auch mit »support-ratios« darstellen (auch bezeichnet als dependency ratio, old age support rate; OECD 2013: 181 f.). Sie erfassen das Verhältnis zwischen der Zahl der Menschen im Erwerbsalter (20-64 Jahre, ökonomisch Aktive) und den ökonomisch Inaktiven im Rentenalter (65+). Nach Abbildung 5.6 ist Deutschland (mit Italien) das Land mit der ungünstigsten demografischen Situation. Im Jahr 2010 hatte Deutschland eine Altersabhängigkeitsrate von 3, das heißt: 3 Personen im Erwerbsalter müssen durch ihre Beiträge die Rente einer über 65-jährigen Person erwirtschaften. Nach Bevölkerungsprognosen verschlechtert sich dieses Verhältnis künftig auf 2,6 im Jahr 2020 und 2 im Jahr 2030. In 35 Jahren, wenn heute 25Jährige 60 Jahre alt sind, beträgt die Relation 1,54. Länder wie die USA und Schweden weisen eine günstigere demografische Entwicklung auf, hier sinkt die old age support rate nur auf ca. 2,5. Mit dem demografischen Wandel stiegen und steigen die Kosten der Alterssicherung. Zwischen 1990 und 2009 wuchsen die staatlichen Ausgaben für die Alters- und Hinterbliebenenrenten in Deutschland von 9,7 auf 11,3 % des BIP, in Österreich von 11,4 auf 13,5 %, in Frankreich von 10,6 auf 13,7 % und in Italien von 10,1 auf Abb. 5.5: Entwicklung des Altenquotienten-- Zahl 65+-Jährige je 100 Personen zwischen 20 und 64 Jahren Quelle: Eigene Darstellung nach Datenreport 2013: Abb. 5, mittlere Bevölkerung, Untergrenze (Annahmen Geburten je Frau 1,4, Anstieg Lebenserwartung bei Geburt in 2060 Jungen 8 Jahre, Mädchen 7 J., Wanderungssaldo 100.000 ab 2014) und Koordinierte Bevölkerungsvorausberechnung, S. 11. 0 10 20 30 40 50 60 70 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 <?page no="116"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Dallinger__Sozialpolitik____[Druck-PDF]/ 04.02.2016/ Seite 116 www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Dallinger__Sozialpolitik____[Druck-PDF]/ 04.02.2016/ Seite 117 5.4 Demografischer Wandel und Rentenfinanzierung 117 15,4 % des BIP. In Beveridgeländern wuchsen die staatlichen Rentenausgaben moderater: In Schweden von 7,7 auf 8,2 %, in der Schweiz von 5,6 auf 6,3 % und in Großbritannien von 4,8 auf 6,2 % des GDP (OECD 2013: Tab. 5.2, S. 171). Da hier Alterssicherung stärker auch auf betriebliche und private Renten verlagert ist, hat die staatliche Alterssicherung weniger zu tragen und ist weniger vom steigenden Altenanteilen »bedroht«. 45 Der Anstieg der Altenquotienten wird oft direkt in einen steigenden Finanzbedarf für Renten und eine wachsende Belastung »Jüngerer« übersetzt. Dies greift aber zu kurz und demografisiert die Debatte um die künftige Rentenfinanzierung. Zwar steigen mit dem Altenquotienten die Ausgaben für Renten an (OECD 2013: 171). Aber neben demografischen Ursachen sind weitere Determinanten zu beachten. Auch Entwicklungen wie die Zahl ökonomisch Aktiver und die Qualität von deren Arbeit- - sprich handelt es sich um sozialversicherungspflichtige Beschäftigung-- sind bedeutsam: • Die »Alterslast« lässt sich durch die gesetzlichen Altersgrenzen steuern, die ja definieren, ab wann die gesetzliche (Standard-)Altersrente bezogen werden darf (s. o.). 45 Ausgaben für private Renten 1990-2009 siehe OECD 2913, S. 173, Tab. 6.5. Abb. 5.6: Entwicklung der Alterslastquote-- old age support ratio-- im internationalen Vergleich Quelle: Eigene Darstellung nach OECD 2013: 183. www.oecd.org/ els/ public-pensions/ indicators.htm. 1 2 3 4 5 6 1960 1970 1980 1990 2000 2010 2020 2030 2040 2050 DE FR NL SE GB USA IT <?page no="117"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Dallinger__Sozialpolitik____[Druck-PDF]/ 04.02.2016/ Seite 118 118 5. Alterssicherung • Auch die aktive Bevölkerung ist eine beeinflussbare Größe. Arbeitslosigkeit, ein schrumpfendes Arbeitsvolumen und weniger sozialversicherungspflichtige Erwerbsformen verschärften in der Vergangenheit die Finanzierungsprobleme der Renten. Die in Deutschland seit ca. 2008 zurückgehende Arbeitslosigkeit sorgt für mehr Beitragseinnahmen der Rentenversicherung; wirtschaftlicher Aufschwung sorgt für mehr Steuern, die wiederum als staatliche Zuschüsse in die Rentenfinanzierung fließen. • Frühverrentungs-Programme, die in den 1980er- und 1990er-Jahren noch zur Senkung der Arbeitslosigkeit eingesetzt wurden (»labor shedding«), aber die Rentenbezugsdauer ausweiteten und die Beitragszahler reduzierten, konnten angesichts der steigenden Erwerbstätigenquoten auslaufen. • Der Umfang an ökonomisch Aktiven ist durch die wachsende Frauenerwerbstätigkeit gestiegen. Es wurde erkannt, dass mehr Frauenerwerbsbeteiligung für mehr Beiträge sorgt und soziale Sicherung in alternden Gesellschaften finanzierbar macht. Die »active society« mit hoher Erwerbsbeteiligung von Frauen und älteren Arbeitnehmern ist ein Leitbegriff der Europäischen Union dafür, wie die Folgeprobleme alternden Gesellschaften zu bewältigen sind. • Das jeweilige Rentensystem beeinflusst, wie sehr die demografische Entwicklung auf staatliche Ausgaben durchschlägt. Grundrentenländer haben eine geringere Beitragsbelastung, weil staatliche Rente einen geringeren Anteil des Alterseinkommens deckt. Diese Determinanten sind zugleich »Stellschrauben« für rentenpolitische Reformen, an denen bereits gedreht wird, um die gesetzliche Rentenversicherung finanzieren zu können. Die staatliche Altersgrenze wurde heraufgesetzt, das vorzeitige Ausscheiden aus dem Erwerbsleben wurde durch Abschläge auf Rentenarten mit einem früheren Rentenbeginn erschwert, die Expansion der Frauenerwerbstätigkeit wird durch staatliche Kinderbetreuungsangebote erleichtert. Das folgende Kapitel beschäftigt sich näher mit der Rentenreformpolitik. 5.5 Rentenreformen der letzten Dekade Die deutsche Reformpolitik zur Anpassung der GRV an die demografischen und wirtschaftlichen Bedingungen bestand vor der Jahrtausendwende vor allem aus leistungsmindernden Eingriffen, die versuchten, das Verhältnis zwischen Ausgaben und Einnahmen auszubalancieren. Der Erfolg war zweifelhaft. Daher wurden mit der Rentenreform von 2000 (Altersvermögensgesetz) weitreichende Maßnahmen implementiert, die als Paradigmenwechsel (grundlegende Neuausrichtung) der bisherigen deutschen Renten-Sozialversicherung im Sinne einer Liberalisierung und Privatisierung bezeichnet werden. Denn durch die Reform wird das Rentenniveau der gesetzliwww.claudia-wild.de: <?page no="118"?> [UTB-M]__Dallinger__Sozialpolitik____[Druck-PDF]/ 04.02.2016/ Seite 118 www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Dallinger__Sozialpolitik____[Druck-PDF]/ 04.02.2016/ Seite 119 5.5 Rentenreformen der letzten Dekade 119 chen Standardrente schrittweise verringert. 46 Das Netto-Rentenniveau der Standardrente lag 2001 noch bei 52,6 %, im Jahr 2015 bei 47,5 % und soll bis 2030 auf 43 % sinken. Dieser Wert gilt als Untergrenze, unter den das Rentenniveau der Standardrente nicht fallen sollte, und ist gesetzlich in einer Niveausicherungsklausel fixiert. Individuelle Renten mögen aber unter diesem Niveau liegen, da der Standardrentner 46 Hier ist das Netto-Standardrentenniveau gemeint. Es gibt den prozentualen Anteil der Standardrente am durchschnittlichen Nettoverdienst aller Beschäftigten an. Die Standardrente nimmt an: 45 Beitragsjahre, Durchschnittsverdienst, reguläre Altersgrenze. Rentenreformen seit den 1990er-Jahren: 1992 Rentenreformgesetz Übergang zur Nettolohnanpassung der Renten. Sukzessive Heraufsetzung der Altersgrenze auf 65 Jahre und Abschläge bei vorzeitiger Inanspruchnahme einer Rente. Ausweitung der Anrechnung von Kindererziehungs- und Pflegezeiten. 1999 Rentenreformgesetz Einführung eines demografischen Faktors in die Berechnung der Rentenleistungen. Absenkung des Standard-Rentenniveaus auf 64 % bis 2020. Auslaufen der Rente nach Mindesteinkommen. Kürzere Anrechnung schulischer und beruflicher Ausbildungszeiten. Abschaffung der rentensteigernden Wirkung von Zeiten der Arbeitslosigkeit ohne Leistungsbezug, wegen eines Regierungswechsels nur teilweise in Kraft getreten. Die rotgrüne Regierung setzte den demografischen Faktor aus. 2000 Altersvermögensgesetz Absenkung des Rentenniveaus; Einführung der Riester-Rente; Einführung des Anspruchs auf betriebliche Altersvorsorge durch Bruttoentgeltumwandlung; statt Erwerbs- und Berufsunfähigkeitsrente nun Erwerbsminderungsrente; verbesserte Anerkennung von Kindererziehungszeiten; Änderung der Rentenanpassungsformel zu einer modifizierte Bruttoanpassung. 2004 Rentenversicherungs- Nachhaltigkeitsgesetz Einführung des Nachhaltigkeitsfaktors in der Rentenformel; Nachgelagerte Besteuerung der Renten. 2007 Rentenversicherungsaltersgrenzenanpassungsgesetz Anhebung der Regelaltersgrenze auf 67 Jahre Eigene Zusammenstellung. <?page no="119"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Dallinger__Sozialpolitik____[Druck-PDF]/ 04.02.2016/ Seite 120 120 5. Alterssicherung mit 45 Versicherungsjahren und Durchschnittseinkommen für viele Bürger nicht zu erreichen ist. Zur Kompensation der so entstehenden Sicherungslücke sollen Betriebs- und private Renten ausgebaut werden, die beide auf Finanzmarktbeteiligung basieren. Mit finanziellen Anreizen und Steuererleichterungen fördert der Staat die private Alterssicherung, die Beteiligung am Kapitalmarkt vorsieht (durch Versicherungsverträge, Banksparpläne, Investmentfonds). Die Riester-Rente ist das wichtigste Instrument; eine durch staatliche Zulagen und steuerliche Begünstigung geförderte private Rente. Das Abschmelzen des Rentenniveaus soll die umlagefinanzierte, staatliche Rentenkomponente reduzieren und so die Folgekosten des demografischen Wandels weniger ausschließlich Erwerbstätigen überlassen. Da die betriebliche und private Säule kapitalgedeckt finanziert sind, werden die mit dem »Generationenvertrag« verbundenen Belastungen Erwerbstätiger zurückgefahren. Denn Bürger finanzieren dabei ihre Alterssicherung selbst. Die Rentenreformpolitik reduziert insgesamt den Anteil der staatlichen Rente und will parallel dafür den Anteil der privaten Altersvorsorge steigern. Die massive Förderung der Riester-Rente soll auch Haushalten mit geringen Einkommen eine private Altersvorsorge ermöglichen. Zwar stieg anfangs die Zahl der Riester-Verträge deutlich. Dennoch werden die Förderoptionen vom Gros der Anspruchsberechtigten nicht genutzt. In den zehn Jahren seit Einführung der Riester-Rente haben 15 Millionen Menschen einen derartigen Vertrag abgeschlossen, was nur 40 % des geschätzten Potentials entspricht (Hagen/ Kleinlein 2012). Die Anreize zu privater Vorsorge greifen bei Geringverdienern zu wenig, sei es, weil die finanziellen Mittel fehlen, sei es, dass Vorbehalte gegenüber den Vorsorgeprodukten der Finanzwirtschaft bestehen. In einer Befragung von 2001 gaben 69 % der Bürger an kein Interesse an einer privaten Altersvorsorge zu haben (Bulmahn 2003: 32). Von den Beziehern sehr geringer und geringer Einkommen haben lediglich 17 % einen Riester-Vertrag, in der Gruppe der mittleren und hohen Einkommen sind es 21 % und unter den Beziehern sehr hoher Einkommen sinkt der Anteil wieder auf 17 %, da andere Geldanlageformen für diese Gruppe attraktiver sind (Lamping/ Tepe 2009: 413; auch DIW Wochenbericht/ Braun/ Pfeiffer 2009: 539). So bleibt die private Altersvorsorge trotz der Förderung im Rahmen der Riester- Rente ungleich verteilt. 47 Daher kompensiert die neue private Komponente auch nicht einfach das abgesenkte Rentenniveau der staatlichen Säule, wie die Reform suggeriert. Vielmehr sinkt für soziale Gruppen, die weniger vorsorgen (können), das Rentenniveau. Die Beiträge zur staatlichen Rentenversicherung zu senken und die von Privathaushalten aufzubringende Altersvorsorge zu steigern, entlastet Arbeitgeber und weicht 47 So verfügten im Jahr 2000 90 % der Bezieher hoher Einkommen, aber nur 30 % der un- und angelernten Arbeiter über eine private Altersvorsorge. <?page no="120"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Dallinger__Sozialpolitik____[Druck-PDF]/ 04.02.2016/ Seite 120 www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Dallinger__Sozialpolitik____[Druck-PDF]/ 04.02.2016/ Seite 121 5.5 Rentenreformen der letzten Dekade 121 von der paritätischen Finanzierung ab. Es wird erwartet, dass mit dieser partiellen Privatisierung der Alterssicherung die soziale Ungleichheit im Alter zunimmt. Mehr Menschen werden künftig mit gekürztem Rentenniveau keine Rente oberhalb der Armutsschwelle mehr erhalten. Wer im Erwerbsleben unzureichende Rentenansprüche erworben hat, ist auf bedarfsgeprüfte Rente innerhalb der Grundsicherung verwiesen. Das einstige Ziel der Lebensstandardsicherung ist aufgegeben und nur noch mit privater Vorsorge zu erzielen. Auch soziale Gruppen mit durchschnittlichen und höheren Einkommen, die bekanntlich eher Vorsorge betreiben, müssen aber in Kauf nehmen, dass Finanzmarktrisiken die private Rente schwanken lassen. Ein trotz hoher Beiträge sinkendes Rentenniveau dürfte der Akzeptanz der staatlichen Rente schaden. Ein weiteres Element der Rentenreform von 2000 ist die Begrenzung der Beiträge zur Rentenversicherung auf 20 % bis 2020 und auf 22 % bis 2030. Es werden also »contributions« definiert, die »benefits« aber sinken. Die festgeschriebene Beitragshöhe dient der intergenerationellen Lastverteilung und verhindert, dass Erwerbstätige grenzenlos für ein bestimmtes Rentenniveau herangezogen werden. Allerdings werden Älteren geringere Leistungen zugemutet. Ein Zielkonflikt zeichnet sich ab: Einerseits soll die Beitragssatzvorgabe einhalten werden, andererseits darf das Rentenniveau nicht unter das ebenfalls mit der Rentenreform 2000 beschlossene Mindestsicherungsniveau von 46 % (2020) bzw. 43 % (2030) sinken. Dann wäre eine Beitragsanhebung nötig. Nach dem Rentenversicherungsbericht sinkt das Sicherungsniveau von 48 % im Jahr 2014 auf 47 % im Jahr 2020 und dann bis 2028 auf 44,4 % % ab (BMAS 2014: 12). Die Rentenlücke wird künftig größer. 48 Auch die Betriebsrente, die andere kapitalgedeckte Säule der Alterssicherung, wurde umgestaltet. Es besteht nun ein gesetzlicher Anspruch des Arbeitnehmers auf Entgeltumwandlung von Einkommensbestandteilen durch den Betrieb, die einen Vorsorgeplan anbieten müssen. Dabei wird ein Teil des Brutto-Entgeltes steuerfrei (maximal 4 % der Beitragsbemessungsgrenze in der GRV) an Pensionsfonds oder Direktversicherungen geleitet. Der Arbeitgeberanteil entfällt jedoch und die Basis für die Bemessung der weiteren Sozialbeiträge ist verringert. Die Entgeltumwandlung muss im Tarifvertrag vorgesehen sein (Tarifvorbehalt). Garantiert wird bei der neugeregelten betrieblichen Altersorge nur die geleistete Einzahlung, welches Leistungsniveau diese ergeben, ist abhängig von den Erträgen und damit vom Finanzmarkt. Damit wird von einer definierten Rentenleistung abgewichen, lediglich in Hinblick auf die Beiträge besteht Sicherheit (defined contributions). Vieldiskutiert und umstritten war und ist die 2012 beschlossene, schrittweise Anhebung der Regelaltersgrenze von 65 auf letztlich 67 Jahre. Beginnend mit der Geburtskohorte 1947 würde allmählich das Rentenalter monateweise steigen. Die seit 2014 48 Der Rentensicherungsbericht meint dazu: »In Zukunft wird der erworbene Lebensstandard nur erhalten bleiben, wenn die finanziellen Spielräume des Alterseinkünftegesetzes und die staatliche Förderung genutzt werden« (BMAS 2014: 12). <?page no="121"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Dallinger__Sozialpolitik____[Druck-PDF]/ 04.02.2016/ Seite 122 122 5. Alterssicherung regierende Koalition nahm aber die Anhebung partiell wieder zurück, indem langjährig Versicherte (mind. 45 Jahre) bereits ab 63 Jahren abschlagfrei in Rente gehen können. Das Umsteuern auf private kapitalgedeckte Rente wurde auch mit der überlegenen Rendite, die die Renten-Beiträge der Erwerbstätigen an Kapitalmärkten im Vergleich zur »Anlage« in der gesetzlichen Rentenversicherung erbringe, gerechtfertigt (Schnabel/ Ottnad 2008). Diese Annahme erweist sich aber angesichts der Finanzmarktkrise und der Zinsentwicklung als optimistisch. 5.5.1 Die Folgen von Finanzmarktkrisen für private Renten Die Finanzmarktkrise 2007/ 08 störte erstmals empfindlich die hohen Erwartungen der 1990er-Jahre, mit dem Umsteuern auf private Anlageformen die Probleme der Rentenfinanzierung umschiffen zu können. Allein die Krise 2008 vernichtete 23 % des Wertes der Anlagen im OECD-Raum (OECD 2013: 25). Auch Aktienmärkte waren betroffen, sodass Rentner, die Altersvorsorge über Aktien betreiben, mit sinkenden Aktiengewinnen konfrontiert waren. 49 Im OECD Durchschnitt besteht ein Viertel der Einkommen Älterer aus privaten Renten. Da diese Zahl aber stark zwischen den Ländern schwankt, konzentrierten sich die negativen sozialen Folgen der Finanzkrise heute noch auf jene Länder, in denen Alterssicherung bereits zu einem maßgeblichen Anteil privat ist (USA, GB, NL). In Deutschland expandieren private Renten erst künftig. Für langjährige Rentenbezieher bestand wenig Anlass zur Sorge. Aber die Privatisierung der Alterssicherung wird dies ändern. Je umfassender der Anteil der privaten kapitalgedeckten Rente am income package der Rentner wird, desto mehr sind Finanzmarktkrisen für Rentner spürbar. Das Alter des Versicherten ist entscheidend dafür, wie gut Rentenpläne krisenhafte Phasen verkraften. Die Anlagen jüngerer Erwachsener haben Zeit, sich in normalen Phasen von schlechten Phasen zu »erholen«. Ein noch geringerer Geldbestand wird weniger durch Verluste getroffen. Dagegen fehlt bereits älteren Arbeitnehmern die Zeit zum Ausgleich oder die Zeit mit der Verwertung von Aktien zu warten bis sich die Bedingungen verbessern. Der Umfang der Verluste hängt vom Anlagetyp ab. Verträge mit fixen Beiträgen (defined contributions) sind nicht gesichert, da die endgültige (Renten-)Leistung schwankt. Enthält der Vertrag hingegen eine Leistungszusage (defined benefits), dann ist 49 Die Krise hatte ebenso auf die Realwirtschaft negative Auswirkungen und lässt Rentenbeitrags- und Steuereinnahmen sinken. Arbeitslosenzahlen gehen nach oben, was natürlich nahelegt, alte Instrumente wie Frühverrentung wieder zu nutzen. Das gerade begonnene Umsteuern auf längere Erwerbspartizipation würde so konterkariert. Die rentenpolitischen Folgen der realwirtschaftlichen Probleme wie Arbeitslosigkeit und Rezession werden im Folgenden nicht behandelt. <?page no="122"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Dallinger__Sozialpolitik____[Druck-PDF]/ 04.02.2016/ Seite 122 www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Dallinger__Sozialpolitik____[Druck-PDF]/ 04.02.2016/ Seite 123 5.5 Rentenreformen der letzten Dekade 123 in der Regel eine Mindestgarantie gegeben. Diese verhindert Kürzungen bei aktuellen Auszahlungen nicht. Auch Immobilien erweisen sich in Ländern mit Immobilienblasen als riskanter Anlagetyp. Versicherungen und Betriebsrenten seien weniger riskant, da diese über Rücklagen verfügten, die Ertragsschwankungen ausgleichen. Diese Auffassung ist recht optimistisch, da Lebensversicherer und ähnliche Finanzdienstleister ihre Leistungen verschlechtern. Zudem werden Betriebsrenten wegen der Risiken von »defined benefits« zunehmend umgestellt auf »defined contributions« (DC). In Amerika etwa waren 2003 71 % der Betriebsrenten DC-Anlagen, während diese 1980 nur 32 % ausmachten. Schweden stellte 2006 Betriebsrenten für Angestellte auf DC um. Beobachtet wird ein Rückgang der Betriebsrenten in Kanada und Großbritannien. Private Rentenversicherer sind wegen der schlechten Ertragslage mit der Situation konfrontiert, dass ihre Rentenzusagen den Wert ihrer Vermögen übersteigen (OECD 2009). Das Umsteuern auf private Rentenvorsorge schwächt die Vorteile großer Versicherungspools, Risiken aufzuteilen. Ökonomische Krisen oder eine Politik geringer Zinsen, die Kapitalmarkterträge reduzieren, schlagen nun individuell zu Buche. Das Alterseinkommen wird ohne die Garantien eines großen Pools an »Sozialkapital« unsicherer. Private Altersvorsorge birgt größere Unsicherheit. Das gilt auch für Riester-Sparpläne, deren Rendite von Entwicklungen auf dem Kapitalmarkt abhängt. Bei Einführung der Riesterrente betrug die garantierte Zinszahlung 3,25 %, sie fiel 2012 auf 2,25 % und bei neuen Verträgen auf lediglich 1,75 % (Hagen/ Kleinlein 2012). Weitere Probleme sind die für Versicherte ungünstige Gewinnbeteiligung und von Lebensversicherungen hoch angesetzte Lebenserwartung, die ungünstige Zinsen ergibt. Betriebe werden angesichts der Finanzmarktkrise und minimaler Zinsen im Zuge der Eurokrise zögerlich, freiwillige Rentenzusagen als »defined benefits« zu machen. Die Niedrigzinsphase bereitet Schwierigkeiten für betriebliche Zusagen, da Betriebe mit erhöhten Rückstellungen die Lücken durch Niedrigzins ausgleichen müssen (FAZ 17.3.2015: 25). Auch die Eurokrise stellt die private Alterssicherung vor neue, schwer einschätzbare Unsicherheiten. Pensionsfonds erlitten Werteinbußen. Die einst als einfache Lösung präsentierte kapitalmarktbasierte Alterssicherung entpuppt sich als Wagnis. 5.5.2 Leistungen für Kindererziehung Die Rentenreformen seit 2000 weiteten aber Leistungen für Kindererziehung aus: Die rentenrechtliche Anerkennung von Zeiten der Kindererziehung ebenso wie der Pflege älterer Angehöriger wurde verbessert. Die alte Regelung beinhaltete, dass für vor 1992 geborene Kinder ein Jahr rentenrechtlich zu 75 % des Durchschnittsbeitrags der Männer angerechnet wird. Für ab 1992 geborene Kinder werden jeweils drei Jahre »gutgeschrieben«- - in Höhe des durchschnittlichen Beitrags der Männer. Das erhöhte die <?page no="123"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Dallinger__Sozialpolitik____[Druck-PDF]/ 04.02.2016/ Seite 124 124 5. Alterssicherung Monatsrente der Frauen um ca. 72 Euro (Ost-) bzw. ca. 81 Euro (Westdeutschland; Zahlen gelten für 2010; BMFSJ/ Gleichstellungsbericht 2011: 204). 2014 wurde eingeführt, dass für Mütter und Väter, deren Kinder vor 1992 geboren sind, ein weiteres Jahr an Erziehungsleistung rechtenrechtlich anerkannt wird. Es erhöht die Renten der betroffenen Frauen zwar nur wenig (um 26-28 Euro) und sicher ist strittig, ob dies der Kindererziehung angemessen ist. Dennoch sind diese Reformen bemerkenswert. Die neuen Anrechte stehen quer zum im Reformdiskurs sonst stets betonten verstärkten Beitragsbezug der GRV, da hier Rentenansprüche ohne eine lohnbezogene Vorleistung gewährt werden. In der Tat wird die unbezahlte generative Leistung von Frauen verstärkt anerkannt. Die Folgen des demografischen Wandels für die Finanzierbarkeit der sozialen Sicherungssysteme machen ja deutlich, wie sehr »Wohlfahrt« auf dieser informellen Arbeit beruht. 5.5.3 Folgen der Reformen für künftige Rentner Würde man die beschlossenen Reformen berücksichtigen, dann betrüge eine Eckrente (45 Beitragsjahre bei Durchschnittslohn) aus der GRV nur noch 900 Euro, also ein Viertel weniger als ohne Reform (Schmähl 2006: 399). Um eine gesetzliche Rente zu erhalten, deren Höhe Armut über der Armutsschwelle liegt, reichen künftig nicht mehr 25 Beitragsjahre, sondern erst 37 Jahre aus. Wer unterdurchschnittlich verdient (z. B. 80 % des Durchschnitts), hat nach den beschlossenen Reformen 45 Jahre zu arbeiten, um eine Rente in Höhe der Armutsschwelle zu erhalten. Allerdings sanken die Beitragsjahre, die Beschäftigte im Durchschnitt erzielten. Die Folgen der Rentenreformen der letzten Jahre für die materielle Lage der Rentner und Rentnerinnen werden erst künftig sichtbar. Anhand einer Prognose der OECD kann man aber in die Zukunft blicken: Hierzu werden die Rentenansprüche einer Kohorte, die 2002 ins Erwerbsleben eintrat, verglichen mit denen der Kohorte, die 2009 ins Erwerbsleben eintritt-- also nach den einschneidenden Rentenreformen. In Deutschland und anderen OECD Ländern wird künftig die Nettorente einen geringeren Anteil des letzten Lohnes ersetzen. Länder mit Bismarck- oder aber Beveridge-Rentensystem unterscheiden sich nicht systematisch in Bezug darauf, dass die Reformen einen Rückbau der Rentenansprüche künftiger Rentnerkohorten bedeuten (Meyer 2013; OECD 2005: 52; OECD 2011: 127). 5.6 Fazit Das Kapitel zeigte die institutionellen Grundlagen des deutschen Rentensystems, das einem Bismarckschen Modell der Alterssicherung entspricht. Es zielt auf Statussicherung auch im Alter und ersetzt im Vergleich zu anderen Ländern einen relativ hohen <?page no="124"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Dallinger__Sozialpolitik____[Druck-PDF]/ 04.02.2016/ Seite 124 www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Dallinger__Sozialpolitik____[Druck-PDF]/ 04.02.2016/ Seite 125 5.6 Fazit 125 Anteil des vorigen Erwerbseinkommens. Das macht wiederum relativ hohe Beiträge nötig, die aber, da sie im Umlageverfahren durch die Erwerbstätigen finanziert werden, im Zuge des demografischen Wandels immer höher werden müssten. Es wurde dargelegt, dass sich das Zahlenverhältnis zwischen Rentenempfängern und Aktiven besonders im bismarckschen Rentensystem verschlechtert und besonders hier Probleme der Rentenfinanzierung auftreten. Das in anderen OECD Ländern übliche Beveridge-Modell der Alterssicherung ist weniger von demografie-bedingten Finanzierungsproblemen betroffen. Hier muss die staatliche Säule lediglich eine Mindestrente aufbringen; weitere Säulen mit kapitalgedeckter Finanzierung wie die betriebliche Rente und private Kaptalmarktrenten stemmen die Rentenfinanzierung. Die geburtenstarken Kohorten selbst finanzieren also ihr Alter. Dieses Mehrsäulenmodell wird seit Jahren von internationalen Organisationen wie der Weltbank propagiert. Gezeigt wurde im Vorigen, wie die Rentenreformen in Deutschland seit 2001 die Finanzierung auf private, kapitalgedeckte Rentensäulen verlagern und welche Folgen dies haben kann. Ob die Zunahme privater, vom Kapitalmarkt abhängiger Renten, die Alterssicherung privatisiert und einen »Pfadbruch« mit dem bisherigen Bismarckschen Modell einleitet, der als neoliberale Kürzungspolitik zu bezeichnen ist, kann an dieser Stelle nicht geklärt werden. Sicher ist, dass eine Risikoverlagerung stattfindet, durch die künftige Rentner stärker als bisher Finanzmarktrisiken und den Preis des hohen Alters individuell zu tragen haben. Beitragssatzstabilität und Lebensstandardsicherung schließen sich zunehmend aus. Es findet eine schleichende Beitragsentwertung statt, der von der betroffenen Kohorte wenig widersprochen wird, da die Folgen erst künftig voll zum Tragen kommen. Die zusätzliche Altersvorsorge ist nicht mehr paritätisch durch Arbeitgeber finanziert. Die Teilprivatisierung verändert die deutsche Alterssicherung von einem one-pillar zu einem multi-pillar-System, der »public-private mix« wird vielfältiger, was neue Risiken beinhaltet, aber angesichts demografischer Alterung kaum zu vermeiden ist. Die Rede von der Stärkung der Eigenverantwortung verschleiert allerdings die Risiken volatiler Finanzmärkte. <?page no="125"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Dallinger__Sozialpolitik____[Druck-PDF]/ 04.02.2016/ Seite 126 <?page no="126"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Dallinger__Sozialpolitik____[Druck-PDF]/ 04.02.2016/ Seite 126 www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Dallinger__Sozialpolitik____[Druck-PDF]/ 04.02.2016/ Seite 127 127 6. Pflegepolitik Die Bürger moderner Gesellschaften haben aufgrund einer meist guten medizinischen Versorgung eine hohe Lebenserwartung, was zweifellos zu den anerkannten Zielen unserer Gesellschaft gehört. Deren Kehrseite ist aber, dass mehr Menschen ein Alter erreichen, in dem das Risiko der Pflegebedürftigkeit stark anwächst. Zwar wurde oft betont, dass Alter nicht mit Krankheit gleichzusetzen sei. Dennoch ist kaum zu leugnen, dass Pflegebedarf inzwischen zu den Standardrisiken zählt, da mehr Menschen als zuvor hochbetagt werden. Die Versorgung und Pflege von älteren Menschen ist historisch betrachtet zwar keine neue Aufgabe für Familien und Gesellschaft. Neu ist allerdings der Umfang des Versorgungsbedarfs, der die Familienangehörigen stärker als früher in Anspruch nimmt und der auch mehr als früher das private Renteneinkommen der Älteren belastet. Auf diesen steigenden Bedarf an Altenpflege reagierte Deutschlands Sozialpolitik mit der Einführung einer sozialen Pflegeversicherung. Dieses Kapitel analysiert, wie dieser neue Zweig der Sozialversicherungen die Pflege durch Familienangehörige reformiert, inwiefern ein neuer Public-Privat-Mix entsteht und die Vermarktlichung der Pflege gefördert wird. Beide Begriffe haben einen zentralen Stellenwert in sozialwissenschaftlichen Debatten um die Reform der Pflegepolitik. Zunächst aber wird im Folgenden auf die demografische Entwicklung bei den Hochbetagten eingegangen und gezeigt, wie ältere Menschen versorgt werden und welche Rolle die Pflege zuhause durch Familienangehörige oder durch professionelle Dienste spielt (6.1). Dann wird das Konzept der Care-Regime erklärt, das für internationale Vergleiche der unterschiedlichen Formen der Altenpflege nützlich ist (6.2). Um die Neuerungen der Pflegeversicherung angemessen zu verstehen, wird zunächst die Situation vor ihrer Einführung skizziert, dann die Reformen in der Pflegepolitik in Deutschland (6.3). Dabei gilt es insbesondere zu zeigen, wie die neuen pflegepolitischen Instrumente Marktelemente in die klassische sozialstaatliche Problembearbeitung einbauen und zugleich auch informelle Pflegepotentiale stärken wollen. Inwiefern dies eine Vermarktlichung darstellt, diskutiert das abschließende Kapitel (6.4). 6.1 Demografie und Versorgung Pflegebedürftigkeit im hohen Alter wird aufgrund des demografischen Wandels zu einem dringlichen sozialpolitischen Problem. Generell wächst die Zahl der Älteren, weil geburtenstarke Kohorten altern, denen aber infolge des Geburtenrückgangs seit den 1970er-Jahren zahlenmäßig schmaler besetzte jüngere Kohorten gegenüber stehen. Vor allem aber dehnt die steigende Lebenserwartung die Lebensspanne ab 80 Jahren weiter aus, was in Hinblick auf den Pflegebedarf die entscheidende Veränderung darstellt. Ab dem Alter von 80 Jahren spricht man von »Hochbetagten« und steckt <?page no="127"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Dallinger__Sozialpolitik____[Druck-PDF]/ 04.02.2016/ Seite 128 128 6. Pflegepolitik jene Phase ab, in der es wegen abnehmender Selbstständigkeit wahrscheinlicher wird, bei den Aktivitäten des täglichen Lebens Hilfe zu benötigen. Das Risiko pflegebedürftig zu werden (also die Prävalenz), steigt von 33 % bei den 80 bis 84-Jährigen, auf 55 % bei den 85 bis 89-Jährigen und auf 87 % bei der über 90-Jährigen. Die Besetzung der jüngeren Kohorten bzw. die Zahl der Menschen im Erwerbsalter ist von Interesse, da diese das Potential an Pflegepersonen darstellen. Die Diskrepanz zwischen der wachsenden Zahl Hochbetagter und der schrumpfenden mittleren Generation im Erwerbsalter lässt sich mit einem Indikator zur »demografischen Lücke« erfassen, der den Anteil der über 80-Jährigen an den 20 bis 64-Jährigen darstellt. 50 Ein höherer prozentualer Anteil bedeutet ein ungünstigeres Verhältnis zwischen Hochbetagten und Bevölkerung im mittleren Alter, die potentiell als familiale Pflegeperson oder als bezahlte formelle Pflegekraft in Frage kommen. Nach Abbildung 6.1 wird zwischen 2000 und 2040 dieser Anteil in allen ausgewählten Ländern größer. Demnach stehen immer weniger Personen mittleren Alters zur Verfügung, um mehr Hochbetagte-- und potentiell Pflegebedürftige-- zu versorgen. Der Ländervergleich in Abbildung 6.1 verdeutlicht jedoch, dass nicht in allen Ländern der Anteil der Hochbetagten in gleichem Masse wächst. In Ländern mit einem weniger drastischen Geburtenrückgang in den vergangenen Dekaden wie in Österreich, den skandinavi- 50 Diese »dependency ratio« ähnelt der aus der Diskussion um die Rentenfinanzierung, bei der aber die Altersgrenze bei 65 Jahren oder auch 60 Jahren gesetzt wird. Abb. 6.1: Die demografische Lücke: Anteil der über 80-Jährigen an der Bevölkerung von 20 bis 64 Jahren Quelle: Eigene Darstellung, Daten: OECD Statistics (2015), Population Statistics. 0 5 10 15 20 25 ES DE IT AT SE DK UK USA 2000 2010 2020 2030 2040 <?page no="128"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Dallinger__Sozialpolitik____[Druck-PDF]/ 04.02.2016/ Seite 128 www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Dallinger__Sozialpolitik____[Druck-PDF]/ 04.02.2016/ Seite 129 6.1 Demografie und Versorgung 129 schen und liberalen Ländern (Schweden, Dänemark bzw. Vereinigtes Königreich, Vereinigte Staaten) stellt sich die Frage »Wer pflegt uns im Alter? « weniger dringlich als in Deutschland, Italien oder Spanien. In diesen drei Ländern entwickeln sich die demografischen Relationen bis zum Jahr 2040 sehr viel ungünstiger. Mit dem Begriff der doppelten Alterung wird die besondere Dynamik des demografischen Wandels unterstrichen. Denn innerhalb der Gruppe der Älteren (65 Jahre und älter) nimmt die Zahl der über 80-Jährigen besonders stark zu und führt zu einem überproportionalen Anwachsen des Anteils Hochbetagter. Durch die weiter steigende Lebenserwartung wächst gerade der Anteil Hochbetagter und potentiell Pflegebedürftiger in besonderem Maße (siehe Tab. 6.1). Nach OECD Prognosen werden dadurch die öffentlichen Ausgaben für Langzeitpflege von durchschnittlich 6-7 % des Bruttoinlandsproduktes im Jahr 2005 auf 10 % im Jahr 2015 anwachsen, wenn keine Reformen eingeleitet werden (OECD 2006). Allerdings wird eingewandt, dass man die Folgen der Hochaltrigkeit nicht allein aus einer demografischen Warte beurteilen dürfe. Denn die erweiterte Lebensspanne bestehe auch aus einer längeren gesunden Phase, so dass sich letztlich der Versorgungs- und Pflegebedarf von immer mehr Hochbetagten weniger gravierend darstelle. Man unterscheidet inzwischen die Lebensspanne ohne Pflege (77,6 Jahre) und die Lebenserwartung insgesamt mit Pflegebedürftigkeit (ca. 80,2 Jahre für Deutschland 2009; Datenreport/ Statistisches Bundesamt 2013: 31). Die Phase der Pflegebedürftigkeit beträgt also im Durchschnitt 2,6 Jahre. Tab. 6.1: Wandel des Anteils verschiedener Altersgruppen in Deutschland in %, 2008-- 2060 2008 2020 2040 2060 0 bis unter 20 J. 19 17 16 16 20 bis unter 65 J. 61 60 52 50 65 bis unter 80 J. 15 16 21 20 80 und mehr J. 5 8 11 14 Gesamt 100 100 100 100 Quelle: Eigene Darstellung nach: Destatis 2009: 17, Tab. 2 (mittlere Bevölkerung, Untergrenze). Neben ungünstigen demografischen Zahlenverhältnissen sprechen auch Verhaltensänderungen dafür, dass die Versorgungspotentiale für ältere Pflegebedürftige künftig enger werden, zumindest wenn man die herkömmlichen Formen der Pflege Älterer durch Familienangehörige zugrunde legt. Denn die Frauenerwerbstätigkeit steigt, so dass weniger (Schwieger-)Töchter als Pflegeperson in der Familie zur Verfügung stehen. Die Sorgearbeit hat es vor dem Hintergrund von mehr beruflichen Möglichkeiten von Frauen schwer, sich als eine attraktive Option durchzusetzen. Zudem hat der <?page no="129"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Dallinger__Sozialpolitik____[Druck-PDF]/ 04.02.2016/ Seite 130 130 6. Pflegepolitik Wandel der privaten und familialen Lebensformen Folgen für die künftigen Pflegepotentiale. Mehr Frauen bzw. Paare bleiben kinderlos, die dann im hohen Alter auf formelle Pflegepersonen angewiesen sein werden. Unklar ist, wie sich die steigende Zahl an Scheidungen und Folgefamilien auf die Pflegebereitschaft der (Ehe-)Partner und ebenso der erwachsenen Kinder auswirkt. Man unterscheidet zwischen der informellen Pflege in der Familie und der formellen Pflege Älterer durch erwerbstätige Pflegepersonen im Rahmen ambulanter und (teil-) stationärer Dienstleistungen. Beide Formen mögen gemeinsam auftreten, etwa wenn ein ambulanter Dienst den pflegenden Ehepartner unterstützt. Die informelle Pflege kann intragenerationell oder intergenerationell sein. Im ersten Fall handelt es sich um die Pflege durch (Ehe-)Partner, wobei durch den üblichen Altersunterschied zwischen den Partnern meist die jüngere Frau den älteren Partner versorgt. Im zweiten Fall handelt es sich um Pflegebeziehungen zwischen erwachsenen Kindern und einem alten Elternteil, meist der Mutter oder Schwiegermutter. Aufgrund ihrer höheren Lebenserwartung und wegen des Musters der Wahl eines älteren Partners haben hochbetagte Frauen zumeist keinen Partner mehr, der Versorgung und Pflege übernehmen könnte. Aber selbst wenn beide hochbetagte Partner noch leben, mangelt es oft an der physischen Konstitution zur Übernahme von Pflege. In der intergenerationalen Pflege sorgen Muster der geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung dafür, dass meist (Schwieger-)Töchter die Hauptpflegeperson sind, nicht etwa die Söhne. Daher wird in der Diskussion um Pflegebedürftigkeit auch oft das »Töchterpflegepotenzial« bzw. die entsprechende Lücke als Kennzahl für die problematische Entwicklung der Pflege genannt. Hierfür werden dann lediglich Frauen der mittleren Generation in die Berechnung von Quotienten zur demografischen Lücke wie in Abbildung 6.1 einbezogen. Intergenerationelle familiale Beziehungen spielen eine besondere Rolle, da Hochbetagte mit einem hohen Risiko des Pflegebedarfs naturgemäß auf die Kindergeneration angewiesen sind. Die Alters- und Familiensoziologie prägte für die Beziehungen in der späten Familienphase zwischen betagten Eltern und erwachsen Kinder die Formel der »inneren Nähe bei äußerer Distanz« (Rosenmayr/ Köckeis 1965): Die Haushalte beider Generationen streben nach Autonomie, dennoch sind die emotionalen Kontakte meist gut. Der Austausch zwischen den Generationen ist nach diesem Modell der üblichen Generationenbeziehung in modernen Gesellschaften ohne Pflegeaufgaben begrenzt auf die kommunikative und emotionale Ebene. Wird der Hilfebedarf zeitlich wie auch in Hinblick auf die Tätigkeiten umfassender, dann kann die Balance aus Nähe und räumlichem Abstand kippen. Oft wird eine Krise der Familie beschworen, wonach die Alten von ihren Kindern in Heime »abgeschoben« würden. Allerdings ist durch die steigende Lebenserwartung die Anforderung an die Pflegebereitschaft der Kinder weitaus größer als das, was Familien früher zu bewältigen hatten. Die Familiensoziologie spricht von »Bohnenstangenfamilien«, da die Generationen lange gleichzeitig leben, aber die Seitenzweige der Verwandtschaftsbeziehungen wegen der geringen Kinderzahl wenig ausgeprägt sind (Lüscher 1993). <?page no="130"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Dallinger__Sozialpolitik____[Druck-PDF]/ 04.02.2016/ Seite 130 www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Dallinger__Sozialpolitik____[Druck-PDF]/ 04.02.2016/ Seite 131 6.1 Demografie und Versorgung 131 Dass die meisten Pflegebedürftigen- - nämlich ca. 70 %- - nach wie vor zuhause versorgt werden, zeigt Tabelle 6.2. (hier handelt es sich um jede Form der Pflege zuhause, gleich ob intra- oder intergenerationell). Zwischen 1999 und 2013 ist die Zahl der zuhause Gepflegten nur leicht rückläufig, etwas deutlicher ging der Anteil derer zurück, die allein durch Angehörige versorgt werden. Spiegelbildlich stieg der Anteil derer, die zuhause Unterstützung durch ambulante Dienste erhalten und dies als eine Leistung der Pflegeversicherung beziehen. Nur wenig stieg ebenfalls der Anteil der in Heimen lebenden Pflegebedürftigen. Zahlen dazu, wo ältere Menschen gepflegt werden, sind stets auch im Kontext der Sorge um mögliche Verdrängungs- Effekte der Pflegeversicherung gegenüber der bisher vorrangigen Pflege Älterer durch die Familie von Interesse. Von einem crowding-out Effekt (Verdrängung der Pflege zuhause) kann man angesichts der nur geringen Veränderung bei der häuslichen Pflege nach den Zahlen aus Tabelle 6.2 kaum sprechen. Der leicht steigende Anteil der Pflegebedürftigen in Heimen belegt allenfalls einen kleinen »Heimsogeffekt«. Allerdings ist allein wegen der sehr viel größeren Zahl an Pflegebedürftigen insgesamt die Zahl der in Heimen lebenden, aber auch die Zahl der zuhause lebenden Pflegebedürftigen gewachsen. So wurden 1999 573.000 Ältere in Heimen versorgt, 2013 jedoch bereits 764.431. Allein durch Angehörige wurden 1999 1,03 Mio. Pflegebedürftige betreut, 2013 waren es bereits 1.246 Mio. (Pflegestatistik, verschiedene Jahrgänge). Tab. 6.2: Wie werden ältere Pflegebedürftige versorgt? 1999 2009 2011 2013 Pflegebedürftige zu Hause versorgt Davon - allein durch Angehörige* - Zusammen mit/ durch ambulante Pflegedienste 71,6 % 51,0 % 20,6 % 69,3 % 45,6 % 23,7 % 70,3 % 47,3 % 23,0 % 70,9 % 47,7 % 23,5 % Pflegebedürftige in Heimen 28,4 % 30,7 % 29,7 % 29,1 % Pflegebedürftige insgesamt 2 Mio. 2,34 Mio. 2,5 Mio. 2,6 Mio. Anmerkung: *Empfänger von Pflegegeld. Quelle: Stat. Bundesamt-- Pflegestatistik. Quelle: www.destatis.de/ DE/ Publikationen/ Thematisch/ Gesundheit/ Pflege/ Abruf 4.2.15. <?page no="131"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Dallinger__Sozialpolitik____[Druck-PDF]/ 04.02.2016/ Seite 132 132 6. Pflegepolitik 6.2 Care Im Sozialrecht werden Personen als pflegebedürftig definiert, »… die wegen körperlicher, geistiger oder seelischer Krankheit und Behinderung für regelmäßige Verrichtungen des täglichen Lebens auf Dauer der Hilfe bedürfen« (§ 14 SGB XI). Diese Formulierung zielt auf Grundpflege, die regelmäßig-- ohne Aussicht auf Besserung und nur bei Verrichtungen des täglichen Lebens-- nötig ist, und grenzt diese von Behandlungspflege bei Krankheit ab, für deren Finanzierung Krankenkassen zuständig sind. Jenseits einer solch recht sozialtechnologisch klingenden Definition hat sich allerdings der Care-Begriff etabliert, der Pflege in einen breiteren gesellschaftlichen Kontext einordnet. Es waren feministische Ansätze in der Sozialpolitikforschung, die mit dem Care-Konzept die basale Bedeutung unbezahlter Arbeit von Frauen für die Wohlfahrt der Einzelnen und ebenso für die Funktionsfähigkeit des Sozialstaats herausarbeiteten. Sozialpolitik setze oft Care-Leistungen von Frauen voraus, sei es bei der Betreuung von Kindern, kranken Menschen oder älteren Pflegebedürftigen. Fürsorge und Reproduktionshandeln jenseits der Erwerbsarbeit erzeuge unerlässliche Werte, die-- würden sie als Erwerbsarbeit erbracht- - teuer bezahlt werden müssten. Informelle Care-Arbeit bleibe aber ohne Bezahlung und soziale Absicherung. Der Sozialstaat sei gendered, da er sich auf eine spezifische geschlechtsspezifische Arbeitsteilung stützt und auf eine dieser immanenten Zuschreibung von bestimmten Aufgaben an Frauen (Antonnen/ Sipilä 1996; Saraceno 2000). Dass überwiegend Frauen Pflege leisten, beruhe nicht auf ihren natürlichen Fähigkeiten, sondern ergebe sich aus einer spezifischen Organisation der Care-Arbeit, die an erworbene geschlechtsspezifische Rollenmuster anknüpft. Diese könne ebenso als staatliche oder marktliche Dienstleistung organisiert werden. Care sei meist eine Mischung aus familialen, staatlichen und privatwirtschaftlichen Akteuren. Welchen Anteil die einzelnen Akteure haben, schwankt zwischen den Ländern. Wem in den postmodernen Gesellschaften die Finanzierung und Ausführung von Fürsorge für ältere Menschen zugewiesen wird, hängt von geschlechtsspezifischen Leitbildern und Definitionen von familialer oder aber öffentlicher Verantwortung ab. Aus dem Gedanken einer je typischen Organisation von Care entstand der Begriff der Care-Regime. Sie unterscheiden sich nach dem Grad des Familialismus, der sie in typischer Weise prägt, nicht nach dem Grad der De-Kommodifizierung wie in der ursprünglichen Typologie von Esping-Andersen (siehe Kap. 2). Dieser Grundbegriff der Sozialpolitikanalyse verfehlt typisch weibliche Care-Tätigkeiten. Denn diese sind gerade meist nicht kommodifiziert, also keine erwerbsmäßige Tätigkeit auf dem Arbeitsmarkt. Frauen als informelle Pflegepersonen benötigen keine De-Kommodifizierung, sondern umgekehrt zunächst einmal Vermarktlichung ihrer privaten und informellen Care-Arbeit. Bei der Organisation und Aufteilung von Fürsorgebedarfen zwischen privaten, staatlichen, marktlichen und zivilgesellschaftlichen Akteuren geht es um Fragen wie: <?page no="132"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Dallinger__Sozialpolitik____[Druck-PDF]/ 04.02.2016/ Seite 132 www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Dallinger__Sozialpolitik____[Druck-PDF]/ 04.02.2016/ Seite 133 6.2 Care 133 Wer soll die Finanzierung tragen? Welche Kriterien müssen erfüllt werden, um Zugang zu Leistungen zu erhalten? Welche Personen mit welchen Kenntnissen und Qualifikationen sind geeignet? Wie hoch soll das Versorgungsniveau sein? Konkrete Altenpflegepolitik enthält bereits Antworten auf diese Dimensionen. Die spezifische Organisation der Pflege in verschiedenen Ländern entspricht equity choices (Österle 2001), also Entscheidungen für bestimmte, als gerechtfertigt betrachtete Alternativen der Organisation von Pflege. Deutschland als konservatives, von der katholischen Soziallehre geprägtes Regime bot bisher wenig De-Familialisierung. Die Fürsorge für pflegebedürftige ältere Angehörige galt als eine familiale Angelegenheit, zu bewältigen durch die eigene Rente des Pflegebedürftigen oder durch dessen »Töchterpflegepotential«. Söhne treten wenig als Pflegepersonen in Erscheinung. Dazu passt, dass in Deutschland das lange favorisierte Familien-Modell das des männlichen Alleinernährers war (male breadwinner), der ergänzt wird durch die »fürsorgliche Praxis« einer finanziell mit abgesicherten Ehefrau (Leitner/ Ostner/ Schratzenstaller 2004). Der Grad des Familialismus im Sinne der Zuschreibung der Verantwortung für Pflege an die Familie bzw. die Frau zeigt sich in den zwischen Ländern variierenden kulturellen Einstellungen der Bürger zur optimalen Form der Pflege älterer Angehöriger. So wurden Befragte in einem Survey gebeten, Folgendes zu beantworten: »Wenn Sie einen alleinlebenden älteren Vater/ Mutter hätten, was glauben Sie wäre die beste Form der Versorgung? « Der im Fragebogen angebotenen Lösung »Ich/ Geschwister sollten Vater/ Mutter auffordern bei dem Kind zu leben« stimmten in Dänemark lediglich 9 %, in Deutschland 39 % und in Spanien 67 % der Befragten zu (Eurobarometer 50.1; 1998; eigene Auswertung). Diese familialistische Lösung für den Pflegebedarf eines Angehörigen erhält zwar in Deutschland weniger Zustimmung als in Spanien, aber immer noch wesentlich mehr als in Dänemark. Das, was als die »beste« bzw. »angemessene« Lösung in einem Land betrachtet wird, unterscheidet sich also und ist Teil von als »selbstverständlich« betrachteten kulturellen Überzeugungen. Für eine andere Versorgungsalternative, die Versorgung durch ambulante Dienste oder in einem Heim, findet man spiegelbildliche Zustimmung: In Dänemark werden diese de-familialisierenden Lösungen vergleichsweise stark akzeptiert (32 % der Befragten stimmen einer Pflege im Heim zu, einer Pflege durch ambulante Dienste 43 %); deutsche Befragte rangieren in der Mitte (ca. 10 % sprechen sich für das Heim aus, ca. 23 % für eine Versorgung durch ambulante Dienstleistungen); in Spanien liegt die Zustimmung zur Pflege Älterer außerhalb der Familie bei lediglich 5 % (Heim) bzw. 9 % (ambulante Dienste). Auch an den im Ländervergleich sehr unterschiedlich hohen öffentlichen Ausgaben für Altenpflege (siehe Abb. 6.2) zeigt sich der variierende Grad des Familialismus in verschiedenen Ländern: Die staatlichen Aufwendungen sind in familialistischen Ländern wie Deutschland oder Österreich erwartungsgemäß gering, aber deutlich höher in Ländern, deren Altenpflegepolitik den Familien Pflegeverantwortung abnimmt und an öffentliche Pflegedienste überträgt (die durch Steuern oder Versicherungsbeiträge finanziert werden), wie es in Schweden oder Norwegen geschieht. <?page no="133"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Dallinger__Sozialpolitik____[Druck-PDF]/ 04.02.2016/ Seite 134 134 6. Pflegepolitik Das in Deutschland bisher verankerte Care-Regime hielt dem wachsenden Pflegebedarf nicht mehr Stand. Vor allem geriet das tradierte familialistische Muster der Pflege in Konflikt mit veränderten weiblichen Lebensentwürfen und ihrer vermehrten Erwerbsbeteiligung. Mehr Pflegeerfordernisse der immer öfter hochbetagten alten Eltern und zugleich veränderten Rollenmuster in der Kohorte erwachsener Töchter sorgen dafür, dass ein später Vereinbarkeitskonflikt zwischen eigener Berufstätigkeit und Familie nun zur Frauenbiografie gehört (Dallinger 1996). Das folgende Kapitel beschreibt genauer aus einer pflegepolitischen Perspektive, wie es zur Reform der Altenpflege in Deutschland kam und welche Merkmale die Neu-Organisation von Care auszeichnen. 6.3 Die Reform der Pflegepolitik Vor der Reform der Altenpflege war die Situation gekennzeichnet durch eine hohe Belastung pflegender Angehöriger, die wegen des Mangels an ambulanten und stationären Pflegedienstleistungen wenig Entlastung erhalten konnten, und durch das Problem, dass die Finanzierung der stationären Pflege die einzelnen Pflegebedürftigen als auch die Kommunen stark in Anspruch nahm. Denn Pflegebedürftige, die die hohen Kosten stationärer Pflege nicht mehr tragen konnten, wurden Empfänger von »Hilfe in besonderen Lebenslagen« nach dem Bundessozialhilfegesetz (BSHG). Die Kommunen wiederum sahen sich von der stetigen Zunahme Hochbetagter in ihrer Sicht Abb. 6.2: Öffentliche Ausgaben für Altenpflege 2005 (in % des BIP) Quelle: Eigene Darstellung nach OECD 2006: Projecting OECD Health and Long-term care expenditure. Economics Departments Working Papers No. 477: 31. 0 0,5 1 1,5 2 2,5 3 3,5 NO SE DE AU NL FR IT ES UK US <?page no="134"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Dallinger__Sozialpolitik____[Druck-PDF]/ 04.02.2016/ Seite 134 www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Dallinger__Sozialpolitik____[Druck-PDF]/ 04.02.2016/ Seite 135 6.3 Die Reform der Pflegepolitik 135 bestätigt, dass Pflegebedürftigkeit zum »Standardrisiko« im Lebenslauf werde und nicht als »besondere Lebenslage« durch die Sozialhilfe abzusichern sei, sondern analog anderer sozialer Risiken durch eine Sozialversicherung. Das jahrzehntelange Ringen um dringend erforderliche Reformen der Finanzierung der Altenpflege stagnierte, weil man nicht mit einer weiteren Sozialversicherung-- nun für Pflege im Alter-- die Sozialabgaben für Arbeitgeber hochtreiben wollte. Es wurden Finanzierungsmodelle angestrebt, die die Kosten für Arbeitsplätze nicht weiter steigern, wie das bei einer erneut aus den Beiträgen der Arbeitgeber und -nehmer finanzierten Sozialversicherung der Fall wäre. Der schließlich erreichte Kompromiss sieht vor, einen arbeitsfreien Feiertag zu streichen, dafür aber die Arbeitgeber wie bisher hälftig an den Sozialbeiträgen (nun zur Pflegeversicherung) zu beteiligen. Kritiker der Sozialversicherungslösung auch für die Kosten der Pflege im Alter verweisen auf die demografische Entwicklung, die schon in kurzer Zeit eine umlagefinanzierte Sozialversicherung an ihre Grenzen bringen werde. Nur privat angesparte, kapitalgedeckte finanzielle Vorsorge vor Pflegekosten biete eine längerfristig nachhaltige Finanzierung. Die Belastung der Erwerbstätigen durch umlagefinanzierte Leistungen für Pflege werde so exorbitant steigen, dass die den demografischen Wandel verursachenden Kohorten privat vorsorgen müssen, auch zugunsten der Generationengerechtigkeit. Mit der Pflegeversicherung (PflegeV) wurde dennoch ein individueller Rechtsanspruch auf Leistungen bei Pflegebedürftigkeit etabliert. Seit 1995 gilt dies für ambulante, seit 1996 auch für stationäre Leistungen. Durch diese nun gewissermaßen »kollektiven« Ressourcen zur Finanzierung der Pflegekosten hängt es nun weniger stark als vorher von den eigenen finanziellen Ressourcen oder den verfügbaren familialen Pflegepersonen ab, wie Pflegebedürftige versorgt werden. Die erneut durchgesetzte »Sozialversicherungslösung« (also die Finanzierung durch Arbeitnehmer- und Arbeitgeberbeiträge und nicht durch privat angespartes Kapital) auch für die durch Pflegebedürftigkeit entstehenden Kosten war politisch heftig umstritten. Sie bringt jedoch sofort mehr »Geld ins System«. Das heißt: Durch das Umlageverfahren stehen sofort mehr finanzielle Mittel bereit, um die defizitäre Situation in der Altenpflege zu reformieren. Und: Die Sozialversicherungslösung schafft einen Zugang zu Pflegediensten, der unabhängiger vom eigenen Einkommen ist als zuvor. Sie enthält dennoch einige Besonderheiten, mit denen sie von den Merkmalen bisheriger Sozialversicherungen abweicht: • Die Leistungen der PflegeV sind gedeckelt, um Beitragssatzstabilität zu erreichen (§ 70 SGB XI). Das bedeutet, dass der Umfang der Geld- und Sachleistungen, die Pflegebedürftige beziehen können, gesetzlich fixiert ist und nicht automatisch mit der Preisentwicklung steigt oder durch ärztliche Verordnungen expandiert. Wachsende Kosten, etwa wegen steigender Löhne des Pflegepersonals, sind durch höhere private Zuzahlungen auszugleichen oder mit den vorgesehenen Leistungssätzen (siehe Seite 137 Pflegestufen) kann ein geringerer Umfang an Pflegedienstleistung bezogen werden. Eine Kompensation der Wertverluste durch die Preis- und <?page no="135"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Dallinger__Sozialpolitik____[Druck-PDF]/ 04.02.2016/ Seite 136 136 6. Pflegepolitik Lohnentwicklung ist vorgesehen (siehe § 30). Nun ist aber zur Anhebung der Pflegesätze eine bewusste politische Entscheidung nötig, die zudem die Beitragssatzstabilität beachten muss. Diese Regelung reagiert auf die Erfahrung der schwer kontrollierbaren Ausgabenexpansion in der Krankenversicherung, die der demografische Wandel und der medizinische Fortschritt dort auslöst. Hier definiert außerdem der Arzt mit seiner Krankheits- und Behandlungsdiagnose einen Anspruch auf eine bedarfsgerechte Behandlung, die prinzipiell unbegrenzt ist. Diverse Leistungs- Beschränkungen in der Krankenversicherung haben dieses Prinzip allerdings inzwischen eingeschränkt. Dennoch: Mit der Leistungsfestsetzung qua Gesetzgeber weicht die PflegeV klar von der Krankenversicherung ab. • Mit der Deckelung der Leistungen geht einher, dass nicht für den gesamten Pflegebedarf ein Leistungsanspruch des Pflegebedürftigen besteht. Der medizinische Dienst der Krankenkassen (und nicht ein Arzt) stellt zwar den Pflegebedarf insgesamt fest. Aber der Umfang der Geld- oder Dienstleistungen der PflegeV (oder eine Kombination aus beidem) erlaubt es nur, diesen Pflegebedarf teilweise aufzufangen. Diese Regelung soll die Eigenverantwortung der Betroffenen erhalten, indem sie deren Beteiligung an den Pflegekosten erwartet. Kritiker haben daher die PflegeV als eine »Teilkasko-Versicherung« kritisiert, die vom in der Krankenversicherung noch dominanten Prinzip der Bedarfsgerechtigkeit abweicht und eine Lücke lässt, die nach wie vor durch private Einkommen oder private Hilfenetze zu decken ist. • In § 3 SGB XI wird explizit der Vorrang häuslicher Pflege durch Angehörige und Nachbarn betont. Entsprechend sollen Leistungen der Pflegeversicherung informelle Pflege stützen und fördern. Betont wird, dass bei häuslicher und teilstationärer Pflege die familialen, nachbarschaftlichen und ehrenamtlichen Pflegeleistungen ergänzt werden (§ 4). »Die Pflegeversicherung soll mit ihren Leistungen vorrangig die häusliche Pflege und die Pflegebereitschaft der Angehörigen und Nachbarn unterstützen, damit die Pflegebedürftigen möglichst lange in ihrer häuslichen Umgebung bleiben können. Leistungen der teilstationären Pflege und der Kurzzeitpflege gehen den Leistungen der vollstationären Pflege vor.« In der nun stärker honorierten informellen (weiblichen) Fürsorge sieht die Forschung einen Trend zur Überlagerung bisher unbezahlter Fürsorge durch Aspekte semiformeller Arbeit, die aber nicht die Standards beruflicher professioneller Pflege erreicht. • Pflegebedürftige können zwischen Geld- und pflegerischen Dienstleistungen (Sachleistung) wählen oder beides kombinieren (§ 38 SGB XI). Die materiellen Anreize der Geldleistung sollen informelle Pflegepotentiale der Familie wie auch der Zivilgesellschaft stärken, aber vor allem Konsumentensouveränität schaffen. Pflegebedürftige und ihre Angehörigen werden mit Geld ausgestattete Kunden, die eine ihrem individuellen Bedarf gerechte Versorgung wählen können. Zusammen mit einer generellen Expansion pflegerischer Angebote (siehe unten) soll die Geldleistung die Versorgung bedarfsgerechter machen, da sich die Dienstleistungen an die »Nachfrage« anpassen. Dass nun Pflegebedürftige und ihre Angehörigen als wählende <?page no="136"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Dallinger__Sozialpolitik____[Druck-PDF]/ 04.02.2016/ Seite 136 www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Dallinger__Sozialpolitik____[Druck-PDF]/ 04.02.2016/ Seite 137 6.3 Die Reform der Pflegepolitik 137 Kunden angesprochen sind, wird als ein Element der insgesamt offiziell geförderten Vermarktlichung der Sozialpolitik kritisiert (Konsumerismus). • »Mehr Markt« ist vor allem mit der Regelung etabliert, dass nun jeder Leistungserbringer (ambulante, teilstationäre und stationäre Einrichtungen, Einzelpersonen) tätig werden kann, der mit den Pflegekassen-- die Träger der Pflegeversicherung-- einen Versorgungsvertrag abschließt (§ 72). Dadurch werden alle-- auch gewerbliche-- Anbieter von Pflegediensten zugelassen, die allerdings bestimmte Kriterien Pflegestufen Tab. 6.3: Pflegestufen und Leistungen der Pflegeversicherung ab 1.1.2015 (in Euro) Häusliche Pflege Vollstationäre Pflegestufe Pflegegeld (monatlich) Sachleistungen (bis max. mtl.) Sachleistungen (pauschal mtl.) 0 (mit Demenz) 123 231 1.064 I 244 468 1.064 II 458 1.144 1.330 III 728 1.612 1.612 Härtefälle - 1.995 1.995 Eigene Darstellung. Quelle: Bundesministerium für Gesundheit; bmg.bund.de. Abruf 4.2.15 Innerhalb der Pflegestufen I und II wird zudem eine erhöhte Leistung gewährt, wenn zusätzlich Demenz vorliegt. Zu den Leistungen der PflegeV gehört außerdem die sogenannte Ersatzpflege: Ist die private Pflegeperson wegen Krankheit oder Urlaub vorübergehend verhindert, finanziert die PflegeV bis zu 6 Wochen pro Jahr eine Verhinderungsbzw. Kurzzeitpflege mit einem bestimmten Betrag. Geplant und von der Koalitionsregierung aus Christdemokraten und Sozialdemokratie im August 2015 bereits beschlossen ist, ab 2017 die Zahl der Pflegestufen und die Leistungen zu erweitern. Nach dem Zweiten Pflegestärkungsgesetz sind künftig 5 Pflegestufen vorgesehen, um dem Pflegebedarf aufgrund von Demenz Rechnung zu tragen. Ein neuer Begriff der Pflegebedürftigkeit wird eingeführt. Auch werden pflegende Angehörige besser als bisher in der Arbeitslosen- und Rentenversicherung abgesichert. Zur Finanzierung dieser Leistungsverbesserungen werden bereits ab 2016 die Beiträge zu PflegeV um 0,2 auf 2,55 Prozentpunkte angehoben; für Kinderlose steigt der Beitragssatz auf 2,8 Prozentpunkte. <?page no="137"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Dallinger__Sozialpolitik____[Druck-PDF]/ 04.02.2016/ Seite 138 138 6. Pflegepolitik erfüllen müssen wie ortsübliche Bezahlung, Wirtschaftlichkeit und die ständige Verantwortung einer ausgebildeten Pflegefachkraft in der ambulanten Pflege (§ 71). Das Wegfallen der vorher praktizierten Bedarfsplanung durch die Kommunen ist das wesentliche Mittel zur Ausweitung des Pflegeangebotes. Mehr ambulante und (teil-)stationäre Pflege erweitert die Optionen Pflegebedürftiger ein selbstbestimmtes Leben führen zu können. Mit zwei Gesetzen zur Pflegestärkung wurden die Leistungen der Pflegeversicherung ausgeweitet. Bereits seit Januar 2015 sind nach dem ersten Pflegestärkungsgesetz höhere Geld- und Sachleistungen sowie eine feinere Abstufung der Pflegestufen für Demente vorgesehen (siehe Seite- 137 Pflegestufen). Hinzu kommt die Einführung eines Pflege-Vorsorgefonds. Er wird bis 2034 aus Beitragsmitteln gespeist, ab 2035 dient er dann der Stabilisierung des Beitragssatzes. In einer Phase mit einer wachsenden Zahl an Pflegebedürftigen bildet der Fonds eine Demografie-Rücklage. Ein zweites Pflegestärkungsgesetz soll den Begriff der Pflegebedürftigkeit so reformieren, dass nicht mehr zwischen Pflegebedarf aufgrund von körperlichen oder demenzbedingten Einschränkungen getrennt wird und berücksichtigt künftig 5 Pflegestufen. Beide Leistungsausweitungen treffen aber auch auf Kritik, da sie die Beiträge ansteigen lassen und eine Mehrbelastung der Erwerbstätigen wie auch der Arbeitgeber bedeuten, die auf Dauer nicht finanzierbar sei. Dadurch fehlt es der neuerlichen Pflegereform an Nachhaltigkeit, da die jetzt belasteten Kohorten künftig kaum mit gleichwertigen Leistungen rechnen können. Zudem sei die intergenerationelle Verteilungswirkung unausgeglichen. Allerdings mildert der Vorsorgefonds die Kritik an der mangelnden Generationengerechtigkeit etwas ab, da die künftigen Hochbetagten an der Finanzierung ihrer Pflegekosten partiell beteiligt werden. 6.4 Effekte der neuen Pflegepolitik 6.4.1 Care goes public Die Pflegereform bedeutet ein »Care goes public« (Ungerson 2006), da nicht mehr ältere Pflegebedürftige und ihre Familie hauptsächlich privat für die Versorgung und Pflege Verantwortung tragen. Die Finanzierung des Pflegerisikos ist »kollektiviert« durch eine Versicherung, familiale Pflege wird stärker gestützt von außen, Alternativen zur häuslichen Pflege weiten sich aus und damit die Wahlmöglichkeit für Pflegebedürftige und Pflegeperson. Die sozialen Staatsbürgerrechte (siehe Kap. 2) wurden um Care-Tätigkeiten erweitert (Knijn/ Krämer 1997; Theobald 2008). In dem pflegepolitischen Ziel »mehr Markt« als das beste Instrument, um Bedarf und Angebot zusammenzubringen, fließen also sowohl neo-liberale als auch normative Aspekte (Wahlfreiheit) zusammen. <?page no="138"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Dallinger__Sozialpolitik____[Druck-PDF]/ 04.02.2016/ Seite 138 www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Dallinger__Sozialpolitik____[Druck-PDF]/ 04.02.2016/ Seite 139 6.4 Effekte der neuen Pflegepolitik 139 Die neuen Regelungen der PflegeV werden als »Pflegemarkt« bezeichnet. Allerdings ist es eher ein Quasi-Markt, da einiges vom üblichen Marktverhältnis abweicht: So stellt die Mittel für den Konsum die PflegeV bereit, es sei denn, das private Einkommen und Vermögen wird zusätzlich genutzt, um als privater Käufer von Pflege aufzutreten. Pflegebedürftige sind bei Sachleistungen nur indirekt zahlende Kunden, da die Finanzierungsträger die Pflegekasse bleibt. Dennoch sorgen Verträge auch zwischen Dienstleister und Pflegebedürftigen für mehr Transparenz. Zudem treten als autonome Kunden realistischer Weise eher die Angehörigen auf, als die körperlich und oft kognitiv eingeschränkten Älteren selbst. Die Einführung oder Ausweitung von Cash for Care als Instrument der Pflegepolitik ist europaweit verbreitet. Vor allem Länder, die traditionell eine geringe Dienstleistungsbeschäftigung im Pflege-Sektor haben, richten ihre Pflegepolitik auf Geldleistungen aus, wie etwa die südeuropäischen Wohlfahrts-Regime. Auch in konservativen Regimen wie Deutschland spielt aber das Pflegegeld eine wichtige Rolle, selbst wenn hier zugleich die ambulanten und stationären Pflegedienste in den vergangenen Jahren expandierten. Die Geldleistung soll jenseits der Pflege in Form von Erwerbsarbeit von qualifizierten, sozialversicherungspflichtig beschäftigten Pflegekräften neue Arbeitsformen generieren, die den teils einfachen hauswirtschaftlichen Anforderungen in der Versorgung Pflegebedürftiger entsprechen. Die (recht vage) Kategorie der »selbstbeschafften Pflegekräfte« steht für die Intention, honrierte Tätigkeiten jenseits formeller Berufsarbeit auszuweiten. Was als finanzieller Anreiz für Familienangehörige und Nachbarn oder auch Zuschuss zu Beschäftigungsverhältnissen im Privathaushalt gedacht war, entwickelte aber eine gewisse Eigendynamik. Die meisten Pflegebedürftigen bzw. Angehörigen wählen das Pflegegeld (ca. 47 %), und nicht die durch professionelle Pflegekräfte ausgeübte Sachleistung. Zahlen dazu gehen aus Tabelle 6.2 hervor. Die dort angegebenen Anteile der zuhause, allein von Angehörigen Versorgten sind identisch mit den Beziehern von Pflegegeld. Welche Motive genau hinter dem oft gewählten Pflegegeld stehen, lässt sich schwer sagen. Man kann vermuten, dass das Pflegegeld als Belohnung der eigenen Pflege betrachtet wird, oder aber professionelle Dienste als zu wenig bedarfsgerecht empfunden werden. Auch Preisbewusstsein könnte eine Rolle spielen, wenn Haushalte mit Pflegebedürftigen mit dem gegebenen Geldbetrag »kostengünstigere« Pflegeleistungen suchen und sich dann mehr Stunden an Pflege kaufen können. Zudem bestimmen die Pflegestufe, die Lebensform und die Erwerbsverhältnisse, ob das Pflegegeld eine sinnvolle Wahl ist. Da die Verwendung des Pflegegelds in Deutschland nicht gesteuert oder kontrolliert wird (wie in anderen Ländern), kann man nicht definitiv sagen, wie Haushalte damit Pflege bzw. Entlastung organisieren. Offensichtlich ist aber, dass das Pflegegeld ein Anreiz für die Verbreitung eines »Grauen Pflegemarktes« ist, der den gemeinsamen Europäischen Binnenmarkt nutzt. Im Rahmen der Dienstleistungsfreiheit lässt sich häusliche Pflege zu wesentlich günstigeren Konditionen von Anbietern aus den neuen <?page no="139"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Dallinger__Sozialpolitik____[Druck-PDF]/ 04.02.2016/ Seite 140 140 6. Pflegepolitik Beitrittsländern in Mittel- und Osteuropa beziehen als es regulierte Arbeitsverhältnisse in Deutschland zulassen. 51 In den vergangenen Jahren entstand ein »grauer Pflegemarkt«, auf dem 24-Stunden Pflege offeriert wird, also die ganztätige Betreuung für demente und pflegebedürftige Ältere, die so weiter in der eigenen Wohnung leben können. Mit dem begrenzten Pflegegeld lässt sich aufgrund der niedrigeren Löhne, die Pfleger und Pflegerinnen aus mittel- oder osteuropäischen Ländern wegen des geringeren Lohnniveaus im Herkunftsland akzeptieren, mehr Pflegezeit einkaufen als mit nach hiesigen Standards entlohnten Kräften. Zudem entspricht die Pflege zuhause in hohem Maße den Wünschen der Älteren selbst. 6.4.2 Graue Pflegemärkte Die Pflege durch selbst beschaffte Pflegekräfte ist ambivalent. Sie entspricht dem Konsumerismus der PflegeV, da Haushalte (wie Unternehmen) das niedrigere Lohnniveau mittel- und osteuropäischer Länder für sich nutzen und Pflegegeld mit eigenen Mitteln aufstocken-- zur gewünschten Betreuung zuhause. Da es sich um »graue« Pflege und Fürsorge-Arbeit jenseits des Normalarbeitsverhältnisses mit regulierten Arbeitszeiten und Entlohnung handelt, wird sie kontrovers diskutiert (Lutz 2008; Dallinger/ Eichler 2010). Was für Familien eine Lösung bietet, wird von den Anbietern professioneller Pflegedienste teils als Billig-Konkurrenz gesehen. Dennoch wird gerade in den familialistischen Ländern Deutschland, Österreich und v. a. Italien und Spanien beobachtet, dass die Probleme der pflegerischen Versorgung der zunehmenden Zahl Älterer in Form der Zunahme grauer Arbeit bewältigt wird. Diese Care-Regime entlasten Familien weniger durch Dienstleistungen wie das etwa in Schweden der Fall ist, sondern bieten primär Geldleistungen. Diese Geldbeträge sollen einerseits die Selbsthilfefähigkeit der Familien stützen und ebenso das neue Bild des Konsumenten, also des seine Pflegedienstleistung selbst wählenden Kunden, verwirklichen. Andererseits sorge die Entstehung irregulärer Arbeit für neue Ungleichheiten auf dem Care-Arbeitsmarkt (Theobald 2008; Dallinger/ Theobald 2008). Auffällig ist in der Tat, dass bei Fürsorgearbeit weniger stark zwischen formeller und informeller Arbeit unterschieden wird. Dennoch werden der bereits bestehende Personalmangel und das Aufrücken geburtenstarker Jahrgänge in den Lebensabschnitt der Hochbetagten es unabdingbar machen, attraktive Arbeitsbedingungen in der Pflege 51 Aus den neuen Beitrittsländern zuwandernde Pflege(fach)kräfte können auch ganz regulär in der ambulanten und stationären Pflege beschäftigt werden. Hier gelten die üblichen arbeitsrechtlichen Vorschriften, die auch die Beschäftigung von Inländern regeln, und werden im Rahmen des Gebotes der Nicht-Diskriminierung auf im Rahmen der Öffnung des Arbeitsmarktes Zuwandernde angewandt. <?page no="140"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Dallinger__Sozialpolitik____[Druck-PDF]/ 04.02.2016/ Seite 140 www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Dallinger__Sozialpolitik____[Druck-PDF]/ 04.02.2016/ Seite 141 6.4 Effekte der neuen Pflegepolitik 141 zu schaffen. Im Folgenden wird die bisherige Veränderung der Anbieter und Personalstrukturen in der Altenpflege unter dem Einfluss der PflegeV analysiert. 6.4.3 Die Entwicklung der Altenpflege und des Pflegearbeitsmarktes Die Gleichstellung der diversen Trägerformen durch die PflegeV ließ in der Tat die privat-gewerblichen Pflegeanbieter stark wachsen. Nach Tabelle 6.4 stieg die Zahl der Leistungsanbieter im ambulanten und stationären Bereich zwar insgesamt, aber gleichzeitig expandierten die privaten Träger am stärksten. In der ambulanten Pflege waren 1999 schon etwas mehr als die Hälfte private Träger, etwas weniger als die Hälfte waren freigemeinnützig. Die öffentlichen Träger spielten schon damals eine untergeordnete Rolle. Bis zum Jahr 2011 stieg die Zahl der privaten Träger um 41 %, während der Anteil der freigemeinnützigen Träger sogar um 13,7 % sank. Auch im stationären Bereich stieg der Anteil der Pflegeheime, die private Träger haben, deutlich an (35 % im Jahr 1999-- 40,5 % im Jahr 2011). Die freigemeinnützigen Träger haben im stationären Bereich ihre Vorrangstellung noch behalten, da sie auch 2011 noch über die meisten Einrichtungen (54 %) verfügten. Jedoch wuchsen die freigemeinnützigen Pflege-Einrichtungen zwischen 1999 und 2011 weniger als die Privaten. Der Anteil Tab. 6.4: Leistungsanbieter in der Altenpflege, 1999 und 2011 1999 2011 Veränderung Anzahl Anteil in % Anzahl Anteil in % Anzahl Ambulante Dienste Private Träger 5.504 50,9 7.772 62,9 + 41,2 Freigemeinnützige Träger 5.103 47,2 4.406 35,7 - 13,7 Öffentliche Träger 213 2,0 171 1,4 - 19,7 Gesamt 10.820 100,0 12.349 100,0 + 14,1 Stationäre Pflege Private Träger 3.092 34,9 4.998 40,5 + 61,6 Freigemeinnützige Träger 5.017 56,6 6.721 54,4 + 34,0 Öffentliche Träger 750 8,5 635 5,1 - 15,3 Gesamt 8.859 100,0 12.354 100,0 + 39,5 Quelle: Auth 2013: 415. <?page no="141"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Dallinger__Sozialpolitik____[Druck-PDF]/ 04.02.2016/ Seite 142 142 6. Pflegepolitik der von öffentlichen Trägern betriebenen Pflegeheime ging jedoch deutlich zurück. Insgesamt expandierte die stationäre Pflege stärker (um 39,5 %) als die ambulante (um 14,1 %), was nicht den Zielen der PflegeV entspricht, die eigentlich Pflegebedürftige solange wie möglich ein Leben zuhause ermöglichen soll. Da durch die Pflegeversicherung mehr finanzielle Mittel in die Altenpflege fließen und mehr Pflege-Dienstleistungen nachgefragt werden können, stieg die Zahl der Einrichtungen der ambulanten und stationären Pflege und der darin Beschäftigten. Expandierten dabei auch bestimmte Beschäftigungsformen? Diese Frage ergibt sich aus der in Fachkreisen verbreiteten Sorge, dass unqualifizierte Beschäftigung in der Pflege besonders zunehmen könnte. Nach Tabelle 6.5 wurde insgesamt das Personal zwischen 1999 und 2013 stark ausgebaut, im ambulanten Sektor um ca. 58 %, im stationären um ca. 50 % (nicht in Tabelle ausgewiesen). Diese Expansion wurde von der Zunahme der Teilzeit-Beschäftigung mit einem Stundenumfang über 50 % der vollen Arbeitszeit getragen. Die Zahl der Personen mit diesem Beschäftigungsvolumen wuchs in der ambulanten Pflege um 131 %, im stationären Bereich sogar um 155 %. Auffällig ist, dass die Vollzeitbeschäftigung unter dem in Pflegeheimen tätigen Personal sogar leicht sank, während alle anderen Personalkategorien eine Steigerung verzeichnen. Dies mag auf Personaleinsatzstrategien oder Präferenzen der Beschäftigten zurückgehen. In Pflegeheimen ist lediglich ca. knapp 30 % des in diesem Sektor tätigen Personals vollzeitbeschäftigt, im ambulanten Bereich arbeitet ein gutes Viertel aller Kräfte Vollzeit. Der Anteil der geringfügig Beschäftigten am gesamten Personal in der ambulanten Pflege ist mit 20 % relativ hoch, im stationären Bereich erreicht diese Gruppe lediglich ca. 9 %. Insgesamt muss der starke Beschäftigungsanstieg relativiert werden. Denn in Vollzeitäquivalente umgerechnet beträgt der Anstieg im stationären Bereich nur 23 % und in der ambulanten Pflege 44 %. Die Qualifikationsstrukturen sind ein weiterer Punkt, an dem die befürchtete Expansion minderwertiger Erwerbsformen in etwa abgeschätzt werden kann. In der ambulanten Pflege stellen Pflegefachkräfte die Hälfte des Personals und ihre Zahl weist den größten Zuwachs auf, allerdings ohne den Anteil der Fachkräfte maßgeblich expandieren zu lassen. Die hohe Steigerungsrate derer mit pflegewissenschaftlicher Ausbildung täuscht, da sie von einem geringen Niveau aus geschieht. Immerhin hat ein Fünftel der in der ambulanten Versorgung Beschäftigten sozialpädagogische oder pflegerische und hauswirtschaftliche Qualifikationen, ebenso groß ist der Anteil der Unqualifizierten. Im stationären Bereich fällt der Anteil der Unqualifizierten wesentlich größer aus, weil mehr Tätigkeiten in Hauswirtschaft und Reinigung erforderlich sind. Daher kann man die demgegenüber klein wirkende Gruppe der Pflegefachkräfte auch schwerlich als bedenklich gering bezeichnen. Um die Qualität der personellen Ausstattung letztlich zu beurteilen, sind diese Zahlen aber recht unspezifisch. 52 52 Der starke Anstieg der pflegewissenschaftlichen Ausbildung kann wegen nur geringen Zahlen vernachlässigt werden. <?page no="142"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Dallinger__Sozialpolitik____[Druck-PDF]/ 04.02.2016/ Seite 142 www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Dallinger__Sozialpolitik____[Druck-PDF]/ 04.02.2016/ Seite 143 6.4 Effekte der neuen Pflegepolitik 143 Der Pflegearbeitsmarkt war insgesamt ein weniger starker Jobmotor für geringqualifizierte Frauen als erhofft. Jedoch wird in diesem Sektor künftig ein großer Arbeitskräftebedarf herrschen, bereits jetzt besteht Personalknappheit. Tab. 6.5: Entwicklung der Beschäftigung Art der Beschäftigung 1999 2013 Veränderung der Anzahl in % Anzahl Anteil in % Anzahl Anteil in % Ambulante Dienste Vollzeitbeschäftigte 56914 31,0 85866 26,8 + 50,9 Teilzeitbeschäftigte-… … über 50 % … 50 % und weniger, aber nicht geringfügig … geringfügig 49149 28794 39126 26,7 15,7 21,3 113604 44307 65432 35,5 13,8 20,4 + 131,1 + 53,9 + 67,2 Sonstige 9799 5,3 10868 3,4 + 10,9 Personal ambulant insgesamt 183782 100,0 320077 100,0 + 74,2 Pflegeheime Vollzeitbeschäftigte 211544 48,0 203715 29,7 - 3,7 Teilzeitbeschäftigte-… … über 50 % … 50 % und weniger, aber nicht geringfügig … geringfügig 100897 54749 42795 22,9 12,4 9,7 257795 101891 64486 37,6 14,9 9,4 + 155,5 + 86,1 + 50,7 Sonstige 30955 7,0 57560 8,4 + 85,9 Personal stationär insgesamt 440940 100,0 685447 100,0 + 55,5 Quelle: Statistisches Bundesamt 2015: 28 f.; Auth 2013: 415. <?page no="143"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Dallinger__Sozialpolitik____[Druck-PDF]/ 04.02.2016/ Seite 144 144 6. Pflegepolitik 6.5 Fazit: Ein neuer Public-Privat-Mix? Das Kapitel gab einen Überblick über die Formen der informellen und formellen Pflege Älterer und führte in das Care-Konzept ein, das die Sozialpolitikforschung verwendet, um die unterschiedliche Art und Weise der Organisation der Pflege älterer Menschen in verschiedenen sozialstaatlichen Regimen zu vergleichen. Vor allem wurde gezeigt, wie die Sozialpolitik auf die ungünstige demografische Entwicklung mit einer wachsenden Zahl hochbetagter über 80-Jähriger reagierte und wie die bislang stark auf familiale Pflegepersonen abstellende Pflegepolitik reformiert wurde. Die 1995 in Deutschland eingeführte Pflegeversicherung trägt einige besondere Merkmale und Neuerungen wie Geldleistungen, die Betonung des Pflegekonsumenten und die Eta- Tab. 6.6: Entwicklung der Professionalität 1999 2011 Veränderung Anzahl Anteil in % Anzahl Anteil in % Anzahl in % Ambulante Dienste Pflegefachkraft-… … davon mit pflegewiss. Ausb. (FH/ Uni) 88.840 420 48,3 150.003 1.080 51,6 + 68,8 + 157,1 Sonst. pflegerische, sozialpäd. oder hauswirtsch. Qualifikation 41.933 22,9 63.663 21,9 + 51,8 Sonstige oder keine Qualifikation 53.009 28,8 77.048 26,5 + 45,3 Pflegeheime Pflegefachkraft-… … davon mit pflegewiss. Ausb. (FH/ Uni) 136.252 808 30,9 213.458 2.870 32,3 + 56,7 + 255,2 Sonst. pflegerische, sozialpäd. oder hauswirtsch. Qualifikation 91.011 20,6 159.351 24,1 + 75,1 Sonstige oder keine Qualifikation 213.677 48,5 288.370 43,6 + 35,0 Quelle: Auth 2013: 415. <?page no="144"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Dallinger__Sozialpolitik____[Druck-PDF]/ 04.02.2016/ Seite 144 www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Dallinger__Sozialpolitik____[Druck-PDF]/ 04.02.2016/ Seite 145 6.5 Fazit: Ein neuer Public-Privat-Mix? 145 blierung von Marktelementen, die auch andere europäische Länder kennzeichnen. Es wurde dargelegt, inwiefern man von einem internationalen Trend zu care goes public sprechen kann und wie weitreichend eine »Vermarktlichung« tatsächlich zutrifft. Einige Einschätzungen der neuen Trends sollen das Kapitel zu Pflegepolitik abschließen: Weil die Geldleistung dominiert, ist unklar, wie viel an Entlastung die Pflegeversicherung für die Angehörigen bringt. Eine stärkere Verteilung finanzieller Lasten weg von den Pflegebedürftigen fand aber zweifellos statt. Nach Schätzungen deckt die PflegeV 67 % der Kosten für die Pflege, der Rest ist privat aufzubringen. Das kann immer noch ein beträchtlicher Betrag sein, der die eigene Rente übersteigt. Auch die Reichweite der Marktelemente ist begrenzt: Denn zwar könnte ein Überangebot entstehen durch mehr Anbieter auf dem Markt, aber ein Preiswettbewerb nach unten ist unwahrscheinlich wegen der im Gesetz formulierten Personalmindeststandards, der Pflicht zu Qualitätssicherung und der großen Personalknappheit im Pflegesektor. Der Abschluss von Verträgen schafft zwar Transparenz, dennoch bleibt die Marktmacht von Pflegebedürftigen begrenzt. Diese extrem abhängigen, oft multimorbiden Personen benötigen v. a. Vertrauen in die Pflegedienste; Preiswettbewerb zählt weniger als die humane Betreuung. In dieser Hinsicht haben die Pflegedienste der freigemeinnützigen Wohlfahrtsverbände einen Konkurrenzvorteil, weil sie Vertrauen generierende Zeichen tragen: Wertbindung statt Geschäft. <?page no="145"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Dallinger__Sozialpolitik____[Druck-PDF]/ 04.02.2016/ Seite 146 <?page no="146"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Dallinger__Sozialpolitik____[Druck-PDF]/ 04.02.2016/ Seite 146 www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Dallinger__Sozialpolitik____[Druck-PDF]/ 04.02.2016/ Seite 147 147 7. Familienpolitik Folgt man den Medien, dann ist die Familie in einer Krise. Es wird berichtet, die Zahl der Familien sinke, aber die Zahl der Scheidungen wachse. Private Lebensformen werden in der Tat vielfältiger und Lebensformen mit Kindern weniger. Die Geburten gehen zurück und die Gesellschaft altert, weil nachrückende Kohorten schmaler besetzt sind. Von einer Geburten fördernden Familienpolitik sah Deutschland lange Zeit ab, da pro-natalistische Maßnahmen den Beigeschmack einer national-sozialistischen Geburtenförderung hatten. Die Konsequenzen des demografischen Wandels sind jedoch mittlerweile so gravierend, dass nun die Entscheidung für Kinder nicht mehr zur »Privatsache« deklariert wird, sondern eine aktive Familienpolitik begonnen wurde. Auch ruft der Wandel der Geschlechterrollen nach einer Politik, die die heute doppelte Frauenrolle sowohl im Beruf als auch in der Familie stützt. Die fortgesetzte Zurückhaltung des Staates bei der öffentlichen Kinderbetreuung kommt dem gewandelten Selbstverständnis der Frau nicht entgegen. Dies nimmt die Politik inzwischen durchaus wahr, da sie auf Wählerstimmen auch von Frauen angewiesen ist, und reagiert mit einer modernen Familienpolitik. Familienpolitik soll die Familie in ihrer Leistungsfähigkeit unterstützen, so bestimmen Definitionen die Familienpolitik. Die spezifische Leistung von Familien aber sind Kinder, sie zur Welt zu bringen und zu sozialisieren. Denn nach einer modernen Definition bedeutet Familie das Zusammenleben von Erwachsenen und Kindern in einem Haushalt mit dem Ziel sie großzuziehen und zu erziehen. Bei diesem in der Sozialstatistik benutzten Familienbegriff werden kein Verwandtschaftsverhältnis oder ein bestimmter Familienstand der Eltern vorausgesetzt (Datenreport 2013). Andere Institutionen mögen durchaus andere Familienbegriffe vertreten. Wenn nun Kinder im Zentrum von Familienpolitik stehen, ist der Geburtenrückgang und das überproportionale Armutsrisiko 53 von Familien- - bzw. Lebensformen mit Kindern- - allerdings ein Zeichen dafür, dass die Unterstützung unzureichend ist. Kritiker der Familienpolitik weisen darauf hin, dass die Kosten des Kinder-Bekommens und -Aufziehens weitgehend privat getragen werden. Im Unterschied dazu steht die materielle Absicherung im Alter, die fast vollständig durch die Sozialversicherungen übernommen wird. Internationale Vergleiche der Geburtenraten von ähnlich modernisierten Ländern verdeutlichen, dass die Familienpolitik die private Entscheidung zugunsten von Kindern durchaus positiv beeinflussen kann. Denn unterschiedlich ausgerichtete Politikmuster zur Stützung von Familie gehen einher mit günstigen oder aber ungünstigen Geburtenraten. Zunächst wird im Folgenden der Begriff der Familienpolitik näher 53 Das heißt nicht, dass alle Familien automatisch arm sind. Lediglich das Risiko unter die Armutsschwelle zu fallen ist im Vergleich zu Lebensformen ohne Kinder höher. Genauer siehe das Kap. 3 zu Einkommensverteilung, Armut und Sozialstaat. <?page no="147"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Dallinger__Sozialpolitik____[Druck-PDF]/ 04.02.2016/ Seite 148 148 7. Familienpolitik bestimmt (7.1) und das Konzept des Familialismus, ein zentrales Instrument für den internationalen Vergleich der Familienpolitik, skizziert (7.2). Kapitel 7.3 legt die Entwicklung der Familienpolitik empirisch dar, und zwar sowohl anhand international vergleichender Indikatoren als auch mit Blick auf die spezifischen familienpolitischen Instrumente in Deutschland. Dabei wird eine Neubewertung der Familienpolitik sichtbar, die Kapitel 7.4 in den Diskurs um die »Entdeckung« der Familienpolitik als Achillesferse des Sozialstaats einordnet. Abschließend werfen wir einen Blick auf den Zusammenhang zwischen Modernisierung der Frauenrolle, Familienpolitik und Geburten (7.5). 7.1 Familienpolitik und Unterstützung der Familie Familienpolitik gilt als eine Querschnittsaufgabe, da familienrelevante Aspekte in zahlreichen Politikfeldern verstreut sind. Neben einer Familienpolitik im engeren Sinne in Form von Kinder- oder Elterngeld und öffentlichen Kinderbetreuungsangeboten sind in zahlreichen Politikbereichen oder einzelnen Programmen Maßnahmen zur Unterstützung der Familie eingebaut. So fließen in die Gestaltung der Steuern familienpolitische Aspekte ein, in der gesetzlichen Krankenversicherung werden Kinder und Ehefrau beitragsfrei mitversichert, in der gesetzlichen Rentenversicherung werden Kindererziehungszeiten teilweise angerechnet. Auch Maßnahmen wie die Flexibilisierung der Arbeitszeit dienen v. a. Familien und der Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Das Unterhaltsrecht beinhaltet ebenfalls familienpolitische Aspekte, da es die Höhe des Unterhalts für Kinder im Falle von Scheidung bestimmt. Würde man all die familienrelevanten Leistungen innerhalb der Steuern, der Krankenversicherung oder dem Bildungswesen beziffern, käme man theoretisch auf Ausgaben von insgesamt 14 % des Bruttoinlandsproduktes. Allerdings liefert eine so breit angelegte Hochrechnung unrealistische Zahlen. Wenn der Begriff der Familienpolitik enger gesteckt wird, kommt man auf geringere Ausgaben, die ca. 7-8 % des Bruttoinlandsproduktes ausmachen. Eine systematischere Betrachtung der Familienpolitik unterscheidet direkte Zahlungen wie das Kinder- oder Erziehungsgeld, indirekte Leistungen wie die beitragsfreie Mitversicherung Familienangehöriger in der Gesetzlichen Krankenversicherung und die Realtransfers im Sinne nichtmonetärer Leistungen, die Familien zu Gute kommen (zum Beispiel das Bildungswesen). Das umfasst immer noch die ganze Breite an Ausgabenfeldern. In Bezug auf die Familienpolitik im engeren Sinne unterscheidet man zwischen den direkten monetären Transferleistungen (wie z. B. Kindergeld), steuerlichen Vergünstigungen (Freibeträge, Rückerstattungen) und familienunterstützenden Dienstleistungen, wozu primär die öffentliche Kinderbetreuung zur Vereinbarkeit von Beruf und Familie zählt. Diese letztgenannte Unterteilung verschiedener familienpolitischer Felder wird in Kapitel 7.3 genauer aufgegriffen und empirisch bewertet. <?page no="148"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Dallinger__Sozialpolitik____[Druck-PDF]/ 04.02.2016/ Seite 148 www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Dallinger__Sozialpolitik____[Druck-PDF]/ 04.02.2016/ Seite 149 7.1 Familienpolitik und Unterstützung der Familie 149 Ob Familienpolitik tatsächlich die Familie in ihrer Leistungsfähigkeit hinreichend unterstützt, lässt sich bezweifeln. Ein Blick auf die sinkenden Geburtenraten bestätigt dies. Zwar ist der Rückgang der Geburten ein langfristiger Trend, für den man kaum allein die Familienpolitik verantwortlich machen kann. In modernen Gesellschaften ändert sich der Stellenwert von Kindern für die Familie und den Einzelnen. 54 Kinder sind nicht mehr wichtige Arbeitskräfte und zentrale Stützen der Alterssicherung in Haushalten, die eine gemeinsame Wirtschaftseinheit bilden. Eine Krise der sinkenden Geburtenraten sollte man daher nicht daran bemessen, dass die Zahl der Geburten moderner Industriegesellschaften geringer als in agrarischen Gesellschaften ist. Die Lebensverhältnisse haben sich schlicht zu drastisch verändert. Die langfristige Entwicklung der Geburtenraten ist geprägt durch sogenannte demografische Übergänge. Nach einem ersten demografischen Übergang mit stark sinkenden Geburten an der Schwelle vom 19. zum 20.- Jahrhundert ist ein zweiter demografischer Übergang zwischen 1960 und 1980 zu beobachten. In diesem Zeitraum kam es in den meisten entwickelten Industrieländern erneut zu einem deutlichen Geburtenrückgang (siehe Tab. 7.1). Begründet wird dieser neuerliche Rückgang mit einem Wertewandel und Individualisierungsschub, der eine eigenständige, von Kindern und Familie unabhängige Lebensperspektive der Frau selbstverständlich macht. Zudem können Frauen im Zuge wachsender Bildungsbeteiligung und Erwerbstätigkeit ein von Ehe und Familie unabhängigeres Leben führen. Hinzu kommt die Erfindung und Verbreitung der Antibabypille als einer sicheren Verhütungsmethode. Diese Faktoren münden in ein Geburtenverhalten, bei dem Frauen immer seltener 3 und mehr Kinder zur Welt bringen. Die geringe Quote an Mehrkind-Familien kann die steigende Kinderlosigkeit nicht mehr ausgleichen. Der Umfang des Geburtenrückgangs variiert aber zwischen einzelnen Ländern nicht unerheblich. Auch die Unterschiede der Fertilitätsrate zu einem Zeitpunkt, wählen wir 2013, sind beträchtlich: Spanien weist gerade mal durchschnittlich 1,27 Geburten je Frau auf, Frankreich jedoch 1,99 (Tab. 7.1). Es liegt nahe, dass diese Unterschiede maßgeblich durch die jeweilige Familienpolitik mit verursacht sind. Denn in der Tat dürfte die Bereitschaft von Frauen und Männern, Verantwortung für Kinder zu übernehmen, davon mitbestimmt sein, wie sehr sie dabei durch Rahmenbedingungen gestützt werden, die das Leben mit Kindern erleichtern. Die Familienpolitik beeinflusst nun genau diese Rahmenbedingungen durch diverse Maßnahmen, die die materielle Zusatzbelastung kompensieren und/ oder die zeitliche Flexibilität vor allem für Mütter herstellen, alternativen Rollen in Beruf und Familie nachzugehen. Die Geburtenrate je Frau sank in Deutschland von 2,36 im Jahr 1960 auf 1,56 im Jahr 1980, und danach nur noch wenig auf 1,4 im Jahr 2013. Die Fertilitätsrate in Österreich macht eine ähnliche Entwicklung durch und fällt langfristig auf 1,44. Diese Zahlen für die Geburtenraten im Jahr 2013 liegen unter einer für den Erhalt des Bevölkerungsbestandes 54 In der Sozialforschung existiert ein Ansatz, der sich dem value of children (VoC) widmet. <?page no="149"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Dallinger__Sozialpolitik____[Druck-PDF]/ 04.02.2016/ Seite 150 150 7. Familienpolitik nötigen Geburtenrate von 2,1, die sogenannte Bestandserhaltungsquote. Die Geburtenraten in Frankreich (1,99), Schweden (1,89) und Norwegen (1,78) weisen jedoch eher ein Niveau auf, das den Bevölkerungsbestand annähernd stabil hält. Die Länder Großbritannien und die USA erzielen eine ähnlich hohe Geburtenrate wie die zuvor genannten, wobei für die USA aber besondere Gründe für die relativ günstige Geburtenentwicklung anzuführen sind: Nicht die ausgebaute Familienpolitik, sondern vielmehr der hohe Anteil der Migranten in den USA mit (noch) traditionellem Fertilitätsverhalten sorgt für mehr Geburten als in vielen der kontinentaleuropäischen Länder, in denen außer in Frankreich die Zahl der Geburten niedrig ist. Spanien als Land, das in diesem Buch die südeuropäischen Länder vertritt, weist mit 1,27 im Jahr 2013 die niedrigste Fertilitätsrate auf. Auch Italien (1,39) oder Griechenland (1,30) liegen nicht wesentlich darüber. Gerade in Südeuropa ist wegen eines dort dominanten Katholizismus, der die tradierte Frauenrolle in Familie und Kindererziehung stabilisieren will, eine entlastende Familienpolitik so unzureichend, dass die Geburtenraten die geringsten in Europa sind. Das kulturell familienfreundliche Umfeld kontrastiert mit offenbar wenig familienfreundlichen sozio-ökonomischen Bedingungen. Diese »kleinen Unterschiede« bei den Fertilitätsraten sind aber längerfristig für die Bevölkerungsentwicklung entscheidend: »Während sich in Ländern mit einer Gesamtfertilitätsrate von 1,7 und darüber die Bevölkerungszahl auch langfristig mit modera- Tab. 7.1: Entwicklung der Geburtenraten zwischen 1960 und 2013 1960 1980 2000 2013 DE 2,36 1,56 1,38 1,4 AT 2,69 1,65 1,34 1,44 NL 3,12 1,6 1,72 1,68 FR 2,73 1,95 1,89 1,99 SE 2,13 1,68 1,5 1,89 NO 2,9 1,72 1,85 1,78 GB 2,69 1,9 1,64 1,83 US 3,65 1,85 2,1 1,9 ES 2,86 2,2 1,23 1,27 Anmerkung: Gezeigt wird die total fertility rate (TFR): Kinder pro Frau, die geboren würden, wenn jede Frau bis zum Ende ihrer fruchtbaren Phase leben würde. Quelle: Eurostat/ population data/ fertility, Abruf 15.7.2015 und Bertram 2000: Tab 1. Zahlen für US worldbank.org/ indicators <?page no="150"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Dallinger__Sozialpolitik____[Druck-PDF]/ 04.02.2016/ Seite 150 www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Dallinger__Sozialpolitik____[Druck-PDF]/ 04.02.2016/ Seite 151 7.2 »Welten des Familialismus« 151 ter Zuwanderung stabil halten lässt, schrumpfen die Bevölkerungen der Länder mit niedriger Fertilität wie Deutschland, Italien oder Spanien bereits in absehbarer Zeit durch die immer größeren Überschüsse der Sterbefälle gegenüber den Geburten.« (Kröhnert/ Klingholz 2005: 6) Die Konsequenzen des Geburtenrückgangs sind weitreichend. Sie betreffen die Finanzierbarkeit der sozialen Sicherungssysteme oder das Erwerbspersonenpotential, aber darüber hinaus auch die Innovationsfähigkeit der Gesellschaft (Kaufmann 2005). Das Ergebnis des internationalen Vergleichs der Geburtenraten ist, dass es durchaus möglich ist, dem Bestandserhalt nahe zu kommen und dass die Familienpolitik dabei eine gewisse Rolle spielt, wenngleich sie sicher nicht der alleinige Faktor im Rahmen der Entscheidung für Kinder ist. Die europäischen Länder und die USA haben ganz unterschiedliche Modelle zur Unterstützung von Familien entwickelt, die teils durch die jeweilige politische Kultur und insbesondere die dominante Religion beeinflusst wurden, aber ebenso durch die politische Organisationsfähigkeit der Interessen von Frauen. Für die unterschiedlichen Modelle hat die komparative Sozialpolitikforschung eine Typenbildung entwickelt, die am jeweiligen Familialismus ansetzt. 7.2 »Welten des Familialismus« Die für manchen eventuell merkwürdig klingende Überschrift schließt bewusst an Esping-Andersens Typologie (1990) der drei Welten des Wohlfahrtskapitalismus an. Denn seine ursprüngliche Typologie wurde erweitert um eine systematische Betrachtung der zwischen den Ländern variierenden Art und Weise, an wen Kindererziehung, Hausarbeit und Altenpflege-- man spricht insgesamt von informeller Sorgearbeit oder Reproduktionsarbeit-- zugewiesen werden. Das zielt auf die Frage, welcher Platz der Kindererziehung durch die staatliche Politik gegeben wird. Denn ob man die Verantwortung der Familie, dem Staat und/ oder dem Markt zuweist, ist nicht beliebig, sondern schlägt sich nieder in der Förderung verschiedener Formen der Familie und der Kindererziehung durch das Steuerrecht, die Familienpolitik oder die Arbeitspolitik, die etwa durch flexible Arbeitszeiten oder die Förderung von Teilzeit dazu beiträgt, dass Familie lebbar wird. Empirisch wird die Aufgabe der Kindererziehung auf die drei idealtypischen Akteure Familie, Staat, Markt aufgeteilt (das gilt ebenso für die Pflege Älterer); man spricht von einem Wohlfahrtsdreieck (Evers/ Olk 1996). Wie viel Kinderbetreuung in einem Land jeweils durch die Familie geleistet, über den Arbeitsmarkt »gekauft« (privat finanzierte Kinderbetreuung) oder durch öffentliche Kinderbetreuung aufgefangen wird, variiert je nach Land. Denn Sozialstaaten behandeln Care- Aufgaben für Kinder (und Ältere) recht unterschiedlich. Das ursprüngliche Regime-Modell und dessen zentraler Grundbegriff der De- Kommodifizierung bezogen sich allein auf die Absicherung der Einkommensrisiken, die bei Ausfall des Erwerbseinkommens im Alter, bei Krankheit und Arbeitslosigkeit <?page no="151"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Dallinger__Sozialpolitik____[Druck-PDF]/ 04.02.2016/ Seite 152 152 7. Familienpolitik entstehen. Die vergleichende Sozialpolitikforschung kritisierte dies aber als zu eng, da Wohlfahrt auch durch informelle Arbeit erzeugt wird. Kinder erziehen, Kranke und Pflegebedürftige versorgen geschieht im Rahmen von »Familienarbeit«, und zwar genauer in der Regel durch die Frau. Auch die Familienarbeit ist jedoch in spezifischer Weise in den Sozialstaat eingebunden. Sozialpolitik stützt sich auf informelle Tätigkeiten und kann diese mehr oder weniger fördern, indem informelle Sorgearbeit durch Citizenship rights honoriert wird (z. B. Anerkennung der Kindererziehung, Pflege in der Rentenversicherung). Oder aber eine solche Anerkennung fehlt und wird dann oft als die selbstverständliche Aufgabe der Frau innerhalb der Familie definiert. Zwischen Mann und Frau besteht eine private Arbeitsteilung mit einem Genderkontrakt darüber, welche »Zuständigkeiten« wer hat. Der Sozialstaat schließt an diese private Arbeitsteilung an. Er ist daher nicht geschlechtsneutral, sondern gendered. Die sozialen Citizenship-Rights, die er vergibt, sind ungleich zwischen Mann und Frau verteilt. Aufgehoben oder gemildert wird eine solche Ungleichheit, indem soziale Rechte auch für typisch weibliche Familienarbeit eingerichtet werden. Der Begriff der De-Kommodifizierung zielt auf die Frage, inwieweit Menschen durch soziale Transferleistungen in die Lage versetzt werden, von Markteinkommen unabhängig leben zu können. Das Konzept der De-Familialisierung zielt analog darauf, inwieweit der Staat durch Familienpolitik Alternativen zur unbezahlten Sorgearbeit der Frau in der Familie schafft, die es Frauen überhaupt erlauben, zwischen Sorgearbeit und Erwerbsarbeit zu wählen (Knijn/ Kremer 1997; Esping-Andersen 1999). Zudem soll auch Sorgearbeit Staatsbürgerrechte erschließen, etwa indem für die Pflege von Älteren oder Kindern Anrechte auf soziale Sicherung etabliert werden. Der Grad an De-Familialisierung meint also, inwieweit Sozialpolitik Frauen vom männlichen Familien-Ernährer-Einkommen unabhängig macht. Familienarbeit haftet nicht via Geschlecht an der Frau. Sozialstaatliche Alternativen oder Geld, um Sorgearbeit auf dem Markt zu kaufen, können die Frau (zeitlich) entlasten oder für Sorgearbeit anerkennen. Da in der klassischen Regimetypologie der Genderaspekt des Sozialstaats fehlt (Lewis/ Ostner 1991), wurde eine Typologie entwickelt, die sich auf den Familialismus stützt. Leitner (2003) unterscheidet vier Formen: Abb. 7.1: Das Wohlfahrtsdreieck der Aufteilung der Sorgearbeit Staat, Zivilgesellscha t Markt Familie Quelle: Eigene Darstellung. <?page no="152"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Dallinger__Sozialpolitik____[Druck-PDF]/ 04.02.2016/ Seite 152 www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Dallinger__Sozialpolitik____[Druck-PDF]/ 04.02.2016/ Seite 153 7.2 »Welten des Familialismus« 153 a) Den optionalen Familialismus wie ihn die Länder Schweden, Dänemark oder Frankreich praktizieren. Hier existieren sowohl eine ausgebaute öffentliche Kinderbetreuung, die es Müttern erlaubt, erwerbstätig zu sein, als auch relativ gut ausgestattete staatliche Transferleistungen zur Kompensation der direkten und indirekten Kinderkosten. Das bietet Wahlmöglichkeiten für Frauen, sich ohne den Druck negativer Einkommenseffekte für eine der beiden Optionen zu entscheiden: Selbst die Kinder zu erziehen oder aber externe Kinderbetreuung zugunsten eigener Erwerbstätigkeit zu nutzen. b) Ein expliziter Familialismus in Ländern wie Deutschland, Österreich, Italien oder den Niederlanden ist dadurch gekennzeichnet, dass die tradierte Familie bewusst in ihrer Rolle bei der Kinderbetreuung gestützt wird, indem Familien primär durch Transfers finanziell entlastet werden, man also partiell das fehlende Einkommen der Frau kompensiert. Zum expliziten Familialismus gehörte eine wenig ausgebaute Kinderbetreuung. Jedoch hat sich dies in einigen Ländern dieses Typs zwischen verändert. So expandierte in Deutschland die Frauenerwerbstätigkeit und die Familienpolitik baut die Kinderbetreuung massiv aus (siehe Kap. 7.3). c) Beim impliziten Familialismus wie in Spanien oder Portugal ist der Staat in beiden Feldern eher inaktiv. Implizit wird auf die Funktionen der Familie in Kinderbetreuung und Altenpflege gesetzt, ohne diese jedoch gesondert zu stützen. Wie zuvor gilt die Familie als ideell wertvoll, jedoch sorgt hier die fehlende öffentliche Unterstützung gerade für die Erosion der Familie und erschwert die Entscheidung für Kinder. Denn diese Länder weisen die geringsten Geburtenraten unter den westlichen OECD-Ländern auf. d) Die Variante des De-Familialismus stützt zwar öffentliche oder private Kinderbetreuung, die es Frauen ermöglicht, am Arbeitsmarkt teilzunehmen. Sonst greift er aber-- gemäß eines insgesamt favorisierten politischen Liberalismus-- wenig in die Familienverhältnisse ein. Er fördert die familiale Frauenrolle weder durch ein hohes Kindergeld, noch durch steuerliche Instrumente, die eher die Hausfrauenrolle begünstigen (wie die in Deutschland hohe Besteuerung des zweiten Einkommens der Ehefrau). Großbritannien oder Irland repräsentieren diesen Typus. Länder lassen sich also danach unterscheiden, inwieweit und auf welche Art sie Familien stützen. Auch in dieser Typologie wird-- wie im ursprünglichen Regime-Modell-- ein enger Zusammenhang zwischen den organisierten politischen Kräften (Parteien) sowie den Ideologien, auf die diese sich berufen, und den jeweiligen familienpolitischen Instrumenten angenommen. Die Familialismus-Typen haben-- über die jeweiligen sozial- oder steuerpolitischen Anreize, die sie setzen oder unterlassen, letztlich Auswirkungen auf die Vereinbarkeit von Familie und Beruf und auf die Kinderzahl. Beide Politikfelder werden im Folgenden empirisch betrachtet. Dann wird gezeigt, dass sich der klassische negative Einfluss der modernen Frauenrolle auf die Kinderzahl nicht mehr halten lässt. <?page no="153"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Dallinger__Sozialpolitik____[Druck-PDF]/ 04.02.2016/ Seite 154 154 7. Familienpolitik 7.3 Staatliche Leistungen für Familien Staatliche Leistungen für Familien werden mit dem gesellschaftlichen Nutzen begründet, den Familien für »alle« erzeugen: Sie sorgen für eine nachfolgende Generation, aus der Ingenieure, Bankangestellte, Bäcker, Bauarbeiter, Altenpfleger und nicht zuletzt wieder Eltern hervorgehen. Man unterscheidet bei den familienpolitischen Leistungen zwischen direkten monetären Transferleistungen (Kindergeld und Elterngeld), steuerlichen Vergünstigungen (Freibeträge, Rückerstattungen) und Maßnahmen, die die Vereinbarkeit von Beruf und Familie erleichtern. Letztgenannte Maßnahmen lassen sich wiederum gliedern in Dienstleistungen zur Kinderbetreuung und in gesetzliche Regelungen zur Freistellung von Erwerbsarbeit vor und nach der Geburt (auch Zeitrechte genannt). Die monetären Transferleistungen und Steuerbegünstigungen sollen die verfügbaren Einkommen von Familien verbessern und die Mehrbelastungen ausgleichen (Armutsvermeidung). Zudem sollen materielle Erleichterungen Anreize setzen, überhaupt Kinder zu bekommen und zu erziehen (Demografie). Ein gebräuchlicher Indikator für die familienpolitischen Anstrengungen einzelner Länder ist der Anteil der familienpolitischen Ausgaben an der gesamtgesellschaftlichen Wertschöpfung (Bruttoinlandsprodukt; siehe auch BMFSF 2007: 39). Wenn man den Umfang der familienpolitischen Ausgaben im internationalen Vergleich insgesamt betrachtet (Abb. 7.2), sieht man, dass Deutschland mit Ausgaben im Umfang von insgesamt ca. 3 % des Bruttoinlandsproduktes im Jahr 2011 eher im Mittelfeld rangiert. Der mit dem Kinderbetreuungsausbaugesetz im Jahr 2005 angeregte Ausbau der Kinderbetreuung für unter Dreijährige in Deutschland wird nur teilweise abgebildet, da keine aktuelleren, international vergleichbaren Daten zur Verfügung stehen. Er ist aber daran sichtbar, dass zwischen 2005 und 2011 der Anteil der Ausgaben für familienbezogene Dienstleistungen am BIP von 0,8 % auf 0,97 % anstieg. Diese Expansion sollte sich nach 2011 weiter fortgesetzt haben. Um die in einzelnen Ländern jeweils vorherrschende Form des Familialismus empirisch nachzuvollziehen, ist aber nicht das Gesamtvolumen der Ausgaben, sondern die Aufteilung der Gesamtausgaben auf einzelne Dimensionen der Familienpolitik-- steuerliche Anrechnung, monetäre Transferleistungen, familiennahe Dienstleistungen- - aufschlussreich: Deutschland sticht mit einem im Vergleich besonders hohen Anteil, den die Steuervergünstigung an den Gesamtausgaben für Familienpolitik ausmacht, hervor. Lediglich Frankreich berücksichtigt Familie in ähnlichem Umfang bei der Berechnung der zu zahlenden Steuern. Diese Ausrichtung entspricht dem expliziten Familialismus insofern als das Gründen einer Familie zwar in Form des partiellen Ausgleichs der materiellen Belastung gestützt wird. Das bedeutet aber noch nicht, dass ebenso stark die Doppelrolle der Frau durch die öffentliche Kinderbetreuung gefördert wird. Im Gegenteil, in Deutschland wird sogar das zweite Einkommen in der Familie steuerlich besonders belastet, da durch das sog. Ehegattensplitting des zu versteuernden Einkomwww.claudia-wild.de: <?page no="154"?> [UTB-M]__Dallinger__Sozialpolitik____[Druck-PDF]/ 04.02.2016/ Seite 154 www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Dallinger__Sozialpolitik____[Druck-PDF]/ 04.02.2016/ Seite 155 7.3 Staatliche Leistungen für Familien 155 mens ein weiteres Einkommen nachteilig wirkt, während es bei einem Einkommen Vorteile hat. Denn ein Einkommen (in der Regel des male breadwinners) wird rechnerisch auf die zwei Ehepartner verteilt und erhält so eine günstigere Besteuerung. Die steuerliche Begünstigung der Ehe (ohne Kinder) in Deutschland fördert eher die nicht erwerbstätige Ehefrau, statt Familien mit Kindern. Schweden verzichtet sogar auf die steuerliche Sonderstellung der Familie. Es fördert Familie aber über das besonders umfassende Angebot an öffentlicher Kinderbetreuung (=familienbezogene Dienstleistungen). Auch Norwegens Ausgaben für Kinderbetreuung sind ähnlich hoch, die steuerliche Begünstigung ebenfalls niedrig. Die breit ausgebaute Kinderbetreuung ermöglicht die Erwerbstätigkeit von Müttern, was das Modell des optionalen Familialismus bestätigt, das in einem hohen Maße die Wahlfreiheit zwischen Beruf und Kindererziehung für Mütter herstellt und eine Privilegierung der traditionellen male bread-winner-Familie vermeidet. Aber auch in Deutschland wird die Kinderbetreuung massiv ausgebaut. Sie war bereits ein Bestandteil der Agenda 2010. Mit dem Tagesbetreuungsausbaugesetz (TAG, Sozialgesetzbuch VIII Kinder- und Jugendhilfe) wurde 2004/ 05 ein Rechtsanspruch auf einen Betreuungsplatz für Kinder unter 3 Jahren mit erwerbstätigen (oder arbeitssuchenden) Eltern eingeführt. Der nächste familienpolitische Schritt etablierte dann 2013 ein Anrecht auf einen Betreuungsplatz bereits ab der Vollendung des ersten Lebensjahres. Den Kommunen wurde die Verantwortung für den Ausbau der Plätze Abb. 7.2: Öffentliche Ausgaben für verschiedene familienpolitische Leistungen in Prozent des BIP, 2011 Quelle: Eigene Darstellung nach: OECD Family Database. Abruf 15.7.2015. 0 0,5 1 1,5 2 2,5 3 3,5 4 4,5 GB SE FR BE NO DE AT NL IT ES US steuerliche Berücksichtigung der Familie familienbezogene Dienstleistungen monetäre Transfers <?page no="155"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Dallinger__Sozialpolitik____[Druck-PDF]/ 04.02.2016/ Seite 156 156 7. Familienpolitik in der Kindertagesbetreuung übertragen. Zunächst war noch eine Betreuungsquote bei unter Dreijährigen von durchschnittlich 20 % angestrebt. Die Debatte um die Notwendigkeit und die Vorteile der öffentlichen Kinderbetreuung verlief jedoch sehr dynamisch und man setzte rasch höhere Ziele. Bereits 2007 wurde eine Betreuungsquote bei unter Dreijährigen von 35 % bis zum Jahr 2013 angestrebt (Deutsches Jugendinstitut 2008). 55 In der Folge stieg die Inanspruchnahme von Kindertagesbetreuung für unter Dreijährige stark an. Genauere Zahlen zur Entwicklung der Nutzung von Kinderbetreuung in Deutschland und anderen europäischen Ländern bietet die Abbildung 7.3. Deutschlands öffentliche Ausgaben für familienbezogene Dienstleistungen sind vergleichsweise niedrig und bewegen sich auf einem Niveau, wie es auch die Niederlande oder Italien aufweisen, die ebenfalls in die Ländergruppe gehören, die Familie primär über monetäre Entlastung stützen, nicht indem ein zweites Einkommen der Frau ermöglicht wird. Der Ausgleich der zusätzlichen finanziellen Belastung von Familien durch monetäre Transfers (bzw. Kindergeld) macht in Österreich und Großbritannien den größten Anteil der Ausgaben aus und erreicht zudem ein auffallend hohes Niveau. Diese Staaten setzen offenbar ganz auf das familienpolitische Instrument der Transferleistungen. Das deutsche »Kindergeld« dominiert nicht ganz so deutlich wie im wesentlich stärker familialistischen Österreich. Hier liegt der Schwerpunkt der Ausgaben noch deutlicher bei Transferzahlungen für Familien. Aber noch immer ist es der größte Ausgabenblock der deutschen Familienpolitik, obwohl seit 2005 bereits ein deutlicher Rückgang zu verzeichnen ist, da die Kinderbetreuungsausgaben anstiegen. Das Kindergeld beträgt in Deutschland seit 2015 188 Euro für das erste und zweite Kind, sowie 194 Euro für das dritte Kind. Der in Deutschland bisher im Ländervergleich besonders hohe Anteil der monetären Leistungen unterstreicht den Vorrang der Betreuung der Kinder in der Familie und einer lediglich in Teilzeit ausgeübten Erwerbstätigkeit der Frau. Der Vorrang der Geldleistungen ist aber auf dem Rückzug. Der in Großbritannien hohe Anteil der monetären Transferleistungen, der diesen eher schmalen Sozialstaat sogar als familienpolitischen Spitzenreiter erscheinen lässt, ist auffallend. Denn es existiert eigentlich keine ausgebaute, explizite Familienpolitik. Der hohe Anteil der Geldleistungen resultiert vielmehr aus Programmen der Armutsbekämpfung; hier legt Großbritannien in der Tat den Schwerpunkt auf die Bekämpfung von Kinderarmut und unterstützt insbesondere Alleinerziehende. Aber die britische Familienpolitik zielt nicht darauf, generell Familien für ihre Mehrbelastung zu kompensieren. Das (einkommensunabhängige) Kindergeld ist moderat (120 Euro erstes Kind, 100 Euro zweites Kind), die steuerliche Begünstigung (child tax credit) richtet sich an einkommensschwache Familien, nicht wie in Deutschland an alle Familien. 55 Die Kinder-Betreuungsquote der 3-6-Jährigen liegt bei 92 % in Westdeutschland und 93 % in Ostdeutschland. <?page no="156"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Dallinger__Sozialpolitik____[Druck-PDF]/ 04.02.2016/ Seite 156 www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Dallinger__Sozialpolitik____[Druck-PDF]/ 04.02.2016/ Seite 157 7.3 Staatliche Leistungen für Familien 157 Das Bundesgesetz zum Elterngeld und zur Elternzeit (BEEG) bietet ab 2007 nach der Geburt eines Kindes finanzielle Unterstützung und ermöglicht einem Elternteil für ein Jahr die Freistellung von der Erwerbstätigkeit (in der Regel der erwerbstätigen Frau). Die Freistellung nach der Geburt durch Elterngeld und Elternzeit wurde in Deutschland in den letzten Jahren umgestellt. Das frühere Erziehungsgeld, das 2 bzw. 3 Jahre gewährt wurde, konnte lediglich bis zu einer bestimmten Einkommenshöhe bezogen werden. Für das neue Elterngeld existiert dagegen keine Einkommensgrenze-- auch Bezieher höherer Einkommen können es erhalten und profitieren zudem davon, dass es einkommensabhängig gestaltet ist. Elterngeld ähnelt nun einer Lohnersatzleistung. Dies bedeutet eine stärkere Statussicherung und soll auch qualifizierten Frauen materielle Erleichterungen für die erste Phase der Mutterschaft bieten. Jedoch ist eine soziale Komponente eingebaut, indem bei geringen Einkommen höhere Anteile des vorigen Lohnes angerechnet werden. Das Elterngeld wird allerdings für eine kürzere Zeit als das Erziehungsgeld gewährt, was die raschere Rückkehr der Mutter auf den Arbeitsmarkt fördern soll. Das Elterngeld kann für die Dauer von insgesamt 14 Monaten bezogen werden, wobei sich die Eltern die Zeit frei aufteilen können. Da aber ein Elternteil maximal 12 Monate Elterngeld erhalten kann, die Bezugsdauer sich aber durch den anderen Elternteil um 2 Monate verlängern lässt, werden in der Praxis meist 12 »Mütter-Monate« und 2 »Väter-Monate« beantragt. Um den vollen Zeitraum auszuschöpfen, beteiligen sich Väter wenigstens für den gesetzlich vorgegebenen Zeitraum Vollzeit an der Kleinkindbetreuung. Die Bezugsdauer verlängert sich, wenn nur ein Teilbetrag in Anspruch genommen wird, um in Teilzeit weiter zu arbeiten. Die Höhe des Elterngeldes ist abhängig vom durchschnittlich verfügbaren monatlichen Einkommen, das im Jahr vor der Geburt des Kindes erzielt wurde und schwankt zwischen 300 Euro minimal und 1800 Euro maximal. Bei geringen Einkommen ist die Ersatzrate höher (bis zu 100 %), bei höheren Einkommen (ab 1200.- Euro) sinkt die Ersatzrate auf 65 %. Seit 2015 gilt zudem ein flexibleres »Elterngeld Plus«, das Teilzeitarbeit und den Bezug eines anteilig reduzierten Elterngeldes ermöglicht. Man will noch stärker fördern, dass Frauen den Kontakt zur Erwerbsarbeit halten. Um Familien, die ihr Kind zuhause betreuen, nicht gegenüber denen, die vom Ausbau der Kindertagespflege profitieren, zu benachteiligen, wurde parallel auch ein Betreuungsgeld im Umfang von derzeit 150 Euro für jene Eltern etabliert, die das Kind nach Ablauf der Elternzeit, also nach dem 14. Lebensmonat des Kindes, bis zu seinem 36. Lebensmonat ausschließlich zuhause betreuen. Das Betreuungsgeld war heftig umstritten, da es wiederum die klassischen Rollenmodelle mit einer nichterwerbstätigen Mutter verfestige. Im Juli 2015 wurde es durch ein Bundesverfassungsgerichtsurteil außer Kraft gesetzt und es ist offen, wie es verfassungskonform weitergeführt werden kann. Zuletzt gilt es, das Mutterschutzgesetz zu erwähnen, welches u. a. die Freistellung der erwerbstätigen werdenden Mutter in den letzten 6 Wochen vor der voraussichtlichen <?page no="157"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Dallinger__Sozialpolitik____[Druck-PDF]/ 04.02.2016/ Seite 158 158 7. Familienpolitik Entbindung vorsieht. Zudem dürfen Mütter 8 Wochen nach der Geburt nicht beschäftigt werden. In den Zeiten mit Beschäftigungsverboten besteht eine Verpflichtung des Arbeitsgebers zur Entgeltfortzahlung. Daneben regelt es weitere Beschäftigungsverbote für spezielle Fälle und Kündigungsverbote. Die Beschäftigungsverbote und Schutzfristen nach der Geburt wurden bereits 1952 durch die International Labour Organisation (ILO) festgesetzt, die Europäische Union bestimmte 1992, dass der gemeinsame Mindeststandard für die Freistellung der Mütter nach der Geburt 14 Monate betragen muss. In Analysen zur Familienpolitik taucht der Mutterschutz oft gar nicht auf, weil es sich hier um basale Schutztatbestände für erwerbstätige werdende Mütter handelt. Aber der Mutterschutz ist dennoch Teil einer geburtenfördernden Familienpolitik, da die einzelnen Länder nach oben abweichen und mit längeren Schutzzeiten erwerbstätige Mütter stützen können. Zusammen mit den Freistellungen für Mütter oder auch Väter bieten Mutterschutzfristen und Elterngeld bzw. -zeit (analog in anderen Ländern anders benannte Maßnahmen) einen Zeitraum, dessen Dauer sicher die Entscheidung für die Geburt eines Kindes erleichtert. Nachdem die Ausgabenstruktur der Familienpolitik analysiert und einzelne Maßnahmen der deutschen Familienpolitik skizziert wurden, werfen wir einen Blick auf »Ergebnisse« der Familienpolitik anhand eines Indikators für den Ausbau der öffentli- Abb. 7.3: Prozentsatz aller Kinder unter 3 Jahren in formeller Kinderbetreuung 2005 und 2013 (Nutzungsquoten) Quelle: Eigene Darstellung nach: Eurostat, Income and living conditions/ child care arrangements; Abruf 16.7.15. Anmerkung: Die gezeigten Prozentwerte summieren die Prozentwerte für den Betreuungsumfang von unter und von über 30 Stunden. 0 10 20 30 40 50 60 70 80 AT IT DE UK ES FR NL BE NO SE DK 2005 2013 <?page no="158"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Dallinger__Sozialpolitik____[Druck-PDF]/ 04.02.2016/ Seite 158 www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Dallinger__Sozialpolitik____[Druck-PDF]/ 04.02.2016/ Seite 159 7.4 Familienpolitik-- Achillesferse des Sozialstaats 159 chen Kinderbetreuungsangebote. Denn sie gilt besonders als ein Feld, an dem sich eine positive Vereinbarkeitspolitik ablesen lässt: die Nutzungsquote. Man kann sie für verschiedene Altersstufen des Kindes vergleichen, jedoch ist im Rahmen der aktuellen familienpolitischen Diskussion die der unter Dreijährigen am interessantesten (siehe Abb. 7.3). Auch liegen die Betreuungsquoten für Kinder zwischen 3 und 6 Jahren in allen OECD-Ländern sehr hoch bei ca. 90 %. Bei Kindern unter drei Jahren variiert der Ausbau der Tagesbetreuung viel stärker zwischen den Ländern und bietet eher einen Blick auf länderspezifische familienpolitische Muster und auch auf die hohe Dynamik des Ausbaus. Als Anhaltspunkt sei die von der Europäischen Union als benchmark formulierte Zielgröße benannt, dass für 33 % der Kinder unter 3 Jahren Tagesbetreuungen angeboten werden sollten. Die skandinavischen Länder, die Niederlande und Spanien hatten bereits 2005 einen solchen Ausbaugrad erreicht. In Deutschland und Österreich vollzieht sich ein rascher Ausbau, aber auf geringerem Niveau. 7.4 Familienpolitik-- Achillesferse des Sozialstaats Die Ausgaben für Kinderbetreuung, Elterngeld, Erziehungszeiten und Altenpflege sind in fast allen OECD Ländern in der vergangenen Dekade angestiegen, während in anderen Politikfeldern die Kürzungspolitik dominiert- - wie in der Arbeitslosen- oder Rentenversicherung. Die Ausweitung der Leistungen der Familienpolitik, die nun das dual-earner-model mit vermehrter Erwerbsarbeit der Mütter stützt, folgt nicht allein veränderten kulturellen Geschlechterrollen. Vielmehr ist die Neuausrichtung der Familienpolitik der Einsicht geschuldet, dass der Frauenerwerbsarbeit eine Schlüsselstellung für die Bewältigung der Bevölkerungsalterung und ebenso bei der Vermeidung von Armut in Familien zukommt. Die strategische Neuausrichtung der Förderung von Geburten und der Erwerbstätigkeit von Müttern bricht mit der lange Zeit zurückhaltenden deutschen Familienpolitik, die Geburten als eine private Entscheidung betrachtete, in die der Staat sich nicht einmischen solle, und die die Betreuung von unter Dreijährigen der Familie bzw. den Frauen überließ. Manche kritisieren die Neuausrichtung der Familienpolitik als »produktivistisch«, da es nicht mehr um sozialen Ausgleich für Familien oder die Gleichberechtigung der Frau geht. Vielmehr stünden nun instrumentelle Ziele im Vordergrund: Die Finanzierbarkeit des Sozialstaats trotz demografischer Alterung zu erleichtern, indem man die Erwerbstätigenquote auch bei Müttern erhöht, was wiederum Steuern und Sozialabgaben einbringt; die Sicherung des Arbeitskräfteangebots trotz einer alternden Erwerbsbevölkerung; die Eindämmung der überproportionalen Armut bei Familien mit Kindern; und schließlich auch dem Sinken der Fertilität zu begegnen. Die Folgeprobleme der demografischen Alterung sollen dadurch gemildert werden. Ein Ausbau der Kinderbetreuung auch für unter Dreijährige sei zudem eine Investition in die frühkindliche Bildung, die helfe soziale Nachteile auszugleichen. So wird <?page no="159"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Dallinger__Sozialpolitik____[Druck-PDF]/ 04.02.2016/ Seite 160 160 7. Familienpolitik Familienpolitik zum Bestandteil einer child-centered social investment strategy, die soziale Inklusion fördert, indem durch den Ausbau frühkindlicher Bildung ungleiche Bildungschancen beseitigt werden könnten (Esping-Andersen 2002). Familienpolitik wurde durch diese Koppelung mit den »großen Problemen« der Gesellschaft gewissermaßen zur »Allzweckwaffe« bei der Bekämpfung gleich mehrerer notorischer Probleme des deutschen Sozialstaats: der Armut gerade bei Familien; und die Finanzierung der breiten staatlichen Alterssicherung (siehe Kapitel 5. zu Alterssicherung). Zu geringe Geburten und zu wenig Frauenerwerbsbeteiligung gelten seit Neuem als die Achillesferse des Sozialstaats. Dieser bislang eher unbedeutende Politikbereich wurde erkannt als der kleine, aber sehr verwundbare Punkt ansonsten starker, moderner Volkswirtschaften. Denn geringe Fertilität verschärft die Alterung, den Mangel an jüngeren Arbeitskräften, die Finanzierungsprobleme der Renten- und der Pflegeversicherung. Geburtendefizite allein über die Zuwanderung auszugleichen, wird wegen der damit verbundenen Möglichkeit, dass es zu Abwehrreaktionen in der Bevölkerung kommt, nicht ausschließlich angestrebt. Die zentrale Erkenntnis lautet: eine hohe Geburtenrate ist nicht über die Förderung der tradierten Frauenrolle und das male breadwinner-Modell zu erreichen. Ganz im Gegenteil: die skandinavischen Länder machen vor, dass Unterstützung von Vereinbarkeit hohe Geburten schafft. Auf diesen Zusammenhang zwischen der Geburtenrate und der Frauenrolle geht der folgende Abschnitt genauer ein. 7.5 Was steigert die Geburtenrate? Lange nahm man auf der Grundlage der ökonomischen Theorie des Geburtenrückgangs an, dass im Zuge der fortschreitenden Modernisierung die Geburtenzahlen sinken. Der Modernisierungsprozess hat viele Facetten und durchzieht viele gesellschaftliche Bereiche. Ein Aspekt ist der Wandel der Frauenrolle mitsamt einer schrumpfenden Geburtenrate. Denn: Frauen investieren mehr in Bildung und sind dann auch erwerbstätig. Ein Verzicht verursacht für höher gebildete Frauen größere Opportunitätskosten für eine Erwerbsunterbrechung zugunsten von Kindererziehung als für Frauen mit geringerem Bildungsniveau. Infolge längerer Bildungsphasen und mehr Erwerbsarbeit bleibt aber weniger Lebenszeit für Kinder übrig. Der Zusammenhang zwischen dem Grad der Modernisierung und der Fertilitätsrate ist demnach negativ. Nun wird aber dieser negative Zusammenhang durch die Entwicklung der letzten Dekaden widerlegt. Denn empirisch sind die Geburtenraten gerade in jenen Ländern höher, die eine moderne Frauenrolle bzw. die Vereinbarkeit von Familie und Beruf unterstützen (Kröhnert/ Klingholz 2005; siehe Abb. 7.4). Die Theorie des Geburtenrückgangs unterscheidet daher drei Phasen: • In einer ersten traditionellen Phase sind die Geburten hoch und die Beteiligung der Frau in formeller Arbeit gering. <?page no="160"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Dallinger__Sozialpolitik____[Druck-PDF]/ 04.02.2016/ Seite 160 www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Dallinger__Sozialpolitik____[Druck-PDF]/ 04.02.2016/ Seite 161 7.5 Was steigert die Geburtenrate? 161 • Die zweite Phase bringt wirtschaftliche Entwicklung und wachsenden Reichtum, steigende Frauenerwerbstätigkeit und sinkende Geburten. Für diesen Widerspruch zwischen einer Gesellschaft mit hohem Lebensstandard und zugleich wenigen Geburten wegen der Kosten der Kinder prägte man den Begriff des demografischökonomischen Paradoxons. • Seit den 1980er-Jahren etablierte sich eine dritte Phase mit stabil hoher Frauenerwerbsbeteiligung und stabilen Geburten. Familienpolitische Programme allein bringen die Geburtenrate kaum auf den Stand der 1960er-Jahre. Auch ist es ein komplexes Unterfangen, mithilfe von Wirkungsstudien deren nachhaltigen Einfluss auf die Fertilität zu belegen (Spieß 2012). Dennoch besteht Konsens darüber, dass Länder mit umfassender Kinderbetreuung, steuerlicher Entlastung von Familien und gezielter Förderung der Teilzeitarbeit günstigere Geburtenraten haben (Eichhorst/ Hermerinck 2008: 30). Die Einsicht in die Umkehr der klassischen Theorie des Geburtenrückgangs prägt inzwischen die Familienpolitik, die aktiv die Erwerbsbeteiligung der Frauen fördert. Selbst die christdemokratische Partei in Deutschland stützt inzwischen den Ausbau der Betreuung für unter Dreijährige. Ein internationaler Vergleich der Geburtenrate mit dem Umfang an Frauenerwerbstätigkeit in ausgewählten Ländern kann annähernd Aufschluss über diesen positiven Einfluss geben. Allerdings ist zu bedenken, dass diese Methode zur Analyse eines Zusammenhangs zwischen beiden Größen ihre Grenzen hat, da die unterschiedlich hohe Fertilität selbstverständlich durch weitere länderspezifische Bedingungen bestimmt wird. Auch familienpolitische Programme wie das Mutterschaftsgeld und Abb. 7.4: Zusammenhang zwischen Frauenerwerbstätigkeit und Geburten (2013) Quelle: Eigene Darstellung nach: Eurostat. Abruf 15.7.2015 0 10 20 30 40 50 60 70 80 90 0,0 0,5 1,0 1,5 2,0 2,5 ES GR IT DE ÖS CH NL NO GB SE USA FR Fertilität Frauenerwerbstätigenquote <?page no="161"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Dallinger__Sozialpolitik____[Druck-PDF]/ 04.02.2016/ Seite 162 162 7. Familienpolitik -urlaub sowie Elterngeld/ -zeit und andere Faktoren dürften die Geburten positiv beeinflussen. Ich lasse solche Einschränkungen beiseite, um die angenommene Umkehr des traditionell negativ gedeuteten Zusammenhangs zwischen Frauenerwerbstätigkeit und Geburten zumindest annähernd betrachten zu können: Nach Abbildung 7.4 findet man außer in den südeuropäischen Ländern eine recht ähnlich hohe Erwerbstätigkeit der Frauen, aber dennoch unterschiedliche Fertilitätsraten. Also sind in der Tat weitere Bedingungen in Rechnung zu stellen, um die Geburtenrate zu erklären-- nicht nur familienpolitische. Der Zusammenhang zwischen einer modernen, auch Erwerbsbeteiligung zulassenden Frauenrolle und Fertilität ist nicht mechanisch, aber dennoch sichtbar. Ein positiver demografischer Gesamteffekt geht einher mit hoher Frauenerwerbsbeteiligung, und diese wiederum wird durch eine Vereinbarkeit stützende Familienpolitik erzielt. Zwischen der realen Kinderzahl und der Zahl der gewünschten Kinder besteht eine Lücke, deren Umfang zwischen den Ländern variiert. Familienpolitik kann günstige Bedingungen dafür schaffen, den eigentlich vorhandenen Kinderwunsch zu realisieren. In Deutschland ist jedoch der prozentuale Anteil derer, bei denen die gewünschte Kinderzahl noch über der tatsächlichen Zahl der bereits geborenen Kinder liegt, im Vergleich mit anderen europäischen Ländern am geringsten. Lediglich 24 % der deutschen Frauen zwischen 40 und 64 Jahren würden gerne mehr Kinder haben, jedoch 36 % der Französinnen dieser Altersgruppe (BMFSF 2007: Abb. II.12, S. 66). 7.6 Zusammenfassung Der Geburtenrückgang und der demografische Wandel haben der Familienpolitik in den meisten fortgeschrittenen Industriegesellschaften einen neuen Stellenwert verliehen, besonders aber in Deutschland, das bislang von einer geburtenfördernden Politik abgesehen hatte. Jedoch ist es angesichts der Probleme der Finanzierung der sozialen Sicherung für immer mehr Ältere durch immer weniger Junge und der überproportionalen Armut bei Familien kaum noch von der Hand zu weisen, dass Familien gefördert werden müssen. Zudem musste die Familienpolitik in Rechnung stellen, dass sich die Familienformen ändern und das Modell des männlichen Alleinernährers, bei dem das Erwerbseinkommen des Mannes die übrigen Familienangehörigen miternährt, auf dem Rückzug ist. Ein dual earner-Modell mit vorwiegend in Teilzeit ausgeübter Berufstätigkeit der Frau breitete sich in den letzten Jahren aus. Die Familienpolitik reagiert inzwischen auf die gesellschaftlichen wie auch individuellen Bedarfslagen und expandierte-- anders als die meisten Politikfelder-- durch einen Ausbau vor allem der Betreuungs-Dienstleistungen für Kinder unter 3 Jahren. Die Familienpolitik der einzelnen Länder weist unterschiedliche Muster auf, die die Literatur als Typen des Familialismus beschreibt. Auch die Expansion familienpolitischer Unterstützung folgt partiell diesen Mustern des Familialismus. So hat zwar <?page no="162"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Dallinger__Sozialpolitik____[Druck-PDF]/ 04.02.2016/ Seite 162 www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Dallinger__Sozialpolitik____[Druck-PDF]/ 04.02.2016/ Seite 163 7.6 Zusammenfassung 163 Deutschland, das bisher als durch die katholische Soziallehre geprägter Sozialstaat dem Typ des expliziten Familialismus zugeordnet wurde, mit dem Tagesbetreuungsausbaugesetz einen Ausbau der Kinderbetreuung für unter Dreijährige eingeleitet. Das fördert die Frauenerwerbsbeteiligung, die inzwischen annähernd so hoch ist wie in Schweden. Jedoch begünstigt die Steuerpolitik in Deutschland nach wie vor die Ehe und nicht Kinder im Haushalt und »bestraft« ein zweites Familieneinkommen, in der Regel das der Frau. Neben den Reformen bei der Dienstleistung der öffentlichen Kinderbetreuung wurde anhand der Freistellungsregelungen, den Zeitrechten der Eltern, gezeigt, dass versucht wird, sowohl die rasche Wiederaufnahme der Erwerbsarbeit von Frauen nach der Geburt zu fördern und zugleich die Entscheidung für Kinder zu erleichtern durch ein nun als Lohnersatzleistung ausgestaltetes Elterngeld. Ob die diversen Maßnahmen tatsächlich zu höheren Geburten führen, ist schwer zu sagen. Aber-- wie oben gezeigt wurde- - gilt inzwischen der historisch lange gültige Zusammenhang zwischen fortschreitender Modernisierung und immer geringeren Kinderzahlen als gebrochen. Das Zulassen einer modernisierten Frauenrolle mit gleichberechtigter Teilhabe am Erwerbsleben und die staatliche Unterstützung der Vereinbarkeit von Beruf und Familie erweist sich als ein erfolgversprechender Pfad, die Geburtenrate zu stabilisieren und ist inzwischen die Basis familienpolitischer Reformen in Europa. <?page no="163"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Dallinger__Sozialpolitik____[Druck-PDF]/ 04.02.2016/ Seite 164 <?page no="164"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Dallinger__Sozialpolitik____[Druck-PDF]/ 04.02.2016/ Seite 164 www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Dallinger__Sozialpolitik____[Druck-PDF]/ 04.02.2016/ Seite 165 165 8. Gesundheitspolitik Gesundheit ist ein zentrales Anliegen von Menschen, ist doch bei Krankheit eine autonome Lebensführung und fortgesetzte Erwerbswie auch Familienarbeit eingeschränkt. Behandlungskosten können zudem sehr hoch sein und die finanziellen Kapazitäten der Einzelnen übersteigen. Erstaunlich wenig kritisieren die Bürger hohe Ausgaben in diesem Feld, obwohl die Ausgabenexpansion im Gesundheitswesen sich trotz aller Reformgesetze nur schwer bremsen lässt. Die Finanzierungsbereitschaft der Bürger für diesen Bereich der Sozialpolitik ist hoch. Beim Risiko Krankheit gibt es keine stigmatisierende Zuschreibung »eigenen Verschuldens«, sondern die Meinung herrscht vor, dass Krankheit jeden treffen kann. Krankheit gilt als »Schicksalsschlag« und das Beziehen von Leistungen-- in dem Fall die von einem Arzt als nötig betrachtete Behandlung- - wird nicht hinterfragt. Die Vermutung der Ausbeutung der Sozialsysteme, die gegenüber Arbeitslosen durchaus gängig ist, wird gegenüber Kranken nicht angestellt. Denn niemand wird gerne krank, weshalb bei Gesundheitsleistungen ein echter Bedarf sicher scheint. In Bezug auf Gesundheitssysteme gibt es auch die geringsten Widerstände gegen eine solidarische Finanzierung. Es findet Umverteilung von den Gesunden zu den Kranken statt, die jedoch in hohem Maße akzeptiert wird, da die hohen Kosten bei eigener Betroffenheit und die zufällig verteilte Krankheit eine hohe Umverteilungsbereitschaft schafft. Sie basiert auf Reziprozität: Die »Hilfe« für jetzt Bedürftige- - sie erhalten Leistungen aus dem finanziellen Pool der Versichertenbeiträge-- wird akzeptiert, da man später einmal selbst auf Hilfe angewiesen sein kann. Die Möglichkeit bei Bedarf einen Arzt zu besuchen, ist ein existentielles Staatsbürgerrecht. Dass Chancengleichheit beim Zugang zu Gesundheitsleistungen bestehen soll, ist in den meisten Gesellschaften verankert. Der Behandlungs-Bedarf soll den Umfang der ärztlichen und sonstigen medizinischen Behandlung determinieren, und nicht der Geldbeutel-- auch das ist weitgehend unumstritten. Dennoch hat Gesundheitspolitik zahlreiche Probleme zu bearbeiten und kämpft mit steigenden Ausgaben. Innovationen in Medizintechnik und Behandlungsmethoden sind ein Feld wissenschaftlichen Fortschritts, die das Gesundheitswesen immer teurer machen ebenso wie der wachsende Anteil Älterer in der Gesamtbevölkerung, die höhere Krankheitskosten als Kinder, Jugendliche und Erwachsene aufweisen. Man definiert Gesundheitspolitik als die Gesamtheit der organisierten Anstrengungen und Auseinandersetzungen im Hinblick auf bevölkerungs- und gruppenbezogene Zielformulierung, Zielvorgaben und Maßnahmen, um Zwecke der Förderung, Erhaltung und (Wieder-) Herstellung von Gesundheit und zur Linderung individueller und sozialer Folgen von Krankheit (Rosenbrock 1998). Das Kapitel zeigt, wie die Gesundheitskosten steigen (8.1), welche Typen an Gesundheitssystemen man im Länderverwww.claudia-wild.de: <?page no="165"?> [UTB-M]__Dallinger__Sozialpolitik____[Druck-PDF]/ 04.02.2016/ Seite 166 166 8. Gesundheitspolitik gleich vorfindet (8.2). Anschließend werden die besonderen Problemstrukturen dargelegt, die Reformen erschweren und die in den letzten Dekaden in Deutschland umgesetzten Reformbemühungen skizziert. 8.1 Die Entwicklung der Gesundheitskosten Die Gesundheitsausgaben machten bereits in den 1970er-Jahren einen deutlichen Sprung nach oben. Zwischen 1970 und 1980 stieg der Beitragssatz der Krankenversicherungen um 8,2 % auf 11,4 %. Wenn man aber für die letzten 35 Jahre auf die gesamten Gesundheitskosten schaut sieht man einen kontinuierlichen weiteren Anstieg, obwohl Kostendämpfungsbemühungen einsetzten. Abbildung 8.1 begrenzt sich auf Länder, die weiter unten als Vertreter verschiedener Gesundheitssystem-Typen diskutiert werden und bietet außerdem einen Vergleich mit den Durchschnittsausgaben von 10 OECD Ländern, die alle ein ausgebautes Gesundheitswesen haben und so repräsentativ sind (Dänemark, Deutschland, Frankreich, Kanada, Niederlande, Norwegen, Schweden, Schweiz, Vereinigtes Königreich, USA). Bei den Ausgaben für das Gesundheitswesen ist zu unterschieden zwischen öffentlichen und privaten Gesundheitsausgaben. Die privaten Gesundheitsausgaben werden von Privathaushalten getätigt. Hier belasten die Krankheitskosten die Betroffenen direkt und ein unterschiedliches Krankheitsrisiko wird nicht durch die Versicherung gewissermaßen auf viele verteilt, sondern obliegt der privaten Verantwortung und Abb. 8.1: Entwicklung der Gesundheitsausgaben, als Anteil des Bruttoinlandsproduktes (öffentliche und private Ausgaben zusammen) 0 2 4 6 8 10 12 14 16 18 1980 1985 1990 1995 2000 2005 2010 DE GB US OECD 10 Quelle: Eigene Darstellung nach Daten bei: OECD.STAT Health statistics; Gesamte Gesundheitsausgaben (THE), alle Finanzierungsträger, alle Anbieter. Abruf 5.10.15 <?page no="166"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Dallinger__Sozialpolitik____[Druck-PDF]/ 04.02.2016/ Seite 166 www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Dallinger__Sozialpolitik____[Druck-PDF]/ 04.02.2016/ Seite 167 8.1 Die Entwicklung der Gesundheitskosten 167 Finanzstärke des Haushalts. Der Anteil privater Ausgaben für Krankheitskosten ist ein Indikator für die Privatisierung des Krankheitsrisikos, die v. a. Haushalte mit geringerem Einkommen, aber etwa auch chronisch Kranke negativ belastet. Es ist daher ein Indikator des ungleichen Zugangs zu Gesundheitsleistungen. Der private Anteil ist in der Regel zwar klein, aber dennoch stärkten die Reformbestrebungen der vergangenen Jahre den privaten Anteil. Dies schlägt sich in Abbildung 8.2 für Deutschland in einer seit 1995 ansteigenden Linie nieder. Großbritannien mit einem nationalen Gesundheitssystem (NHS) weist einen früheren und stärkeren Anstieg des privaten Anteils auf, da Menschen zusätzlich zum staatlichen NHS privat Krankheitskosten tragen. Grundsätzlich aber ist in Deutschland-- das wie andere europäische Länder das Gesundheitssystem über Krankenversicherungen finanziert-- der private Anteil höher als in Großbritannien mit NHS. Nicht nur die Ausgaben, auch der Beitrag der Gesetzlichen Krankenversicherungen stieg kontinuierlich an. 2010 lag er bei 15,5 % des Bruttoeinkommens, und wurde ab 2014 auf 14,6 % gesetzlich herunterreguliert. Denn es kann ein Zusatzbeitrag in Höhe von 0,9 % erhoben werden, wenn die Versicherung höhere Kosten hat. Dieser Zusatzbeitrag wird nicht mehr paritätisch, sondern nur von den Versicherten finanziert. Die Arbeitgeber werden also nicht mit weiter steigenden Gesundheitskosten belastet. Abb. 8.2: Entwicklung der privaten Gesundheitsausgaben (Anteil am BIP) DE GB US OECD 10 Quelle: Eigene Darstellung nach Daten bei: OECD.STAT Health statistics; Gesamte Gesundheitsausgaben (THE), alle Finanzierungsträger, alle Anbieter. Abruf 5.10.15 0 1 2 3 4 5 6 7 8 9 1980 1985 1990 1995 2000 2005 2010 <?page no="167"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Dallinger__Sozialpolitik____[Druck-PDF]/ 04.02.2016/ Seite 168 168 8. Gesundheitspolitik 8.2 Unterschiedliche Gesundheitssysteme Das Aufbringen der Kosten für eine Behandlung bei Krankheit ist wie andere Politikfelder in den verschiedenen Ländern unterschiedlich organisiert. In der Fachliteratur wird dies als unterschiedliche Institutionalisierung bezeichnet, um zu betonen, dass verschiedene Werte und Ziele mit dem jeweiligen Gesundheitswesen einhergehen. Die Gesundheitssysteme lassen sich in drei Typen gliedern: • Die Krankenversicherungen (KV) als beitragsfinanzierte Sozialversicherungssysteme. Das dominante Ziel ist Sicherheit auch bei finanziell belastenden Behandlungen. Der Zugang zu Leistungen wird hier über die Erwerbsarbeit bzw. die vom Lohn/ Gehalt abgezogenen Beiträge erworben. Die freie Arztwahl erzeugt eine im Vergleich zu den nationalen Gesundheitssystemen überdurchschnittliche Inanspruchnahme von Leistungen. Daher liegen die Pro-Kopf Gesundheitsausgaben in KV-Systemen höher als im NHS. Die Reformmöglichkeiten sind erschwert, da staatliche Interventionen abgewehrt werden können durch die Verbände der anderen Akteure wie Ärzte, Pharmaindustrie oder Krankenkassen. Organisierte Interessengruppen haben Vetomacht und verhindern staatliche Steuerungsversuche, die nicht ihren Interessen entsprechen. • Die nationalen Gesundheitssysteme (NHS=national health service) sind durch den Staat getragen. Die Finanzierung erfolgt staatlich durch Steuern (ein kleiner Anteil kommt in GB auch aus Sozialversicherungsbeiträgen) und die Leistungserbringung erfolgt durch staatliche Leistungserbringer (Ärzte, Therapeuten etc.). Zugang haben alle Bürger, die gesundheitliche Versorgung ist als Staatsbürgerrecht definiert, was dem in diesem Typ dominierenden Ziel des gleichen Zugangs zu gesundheitlicher Versorgung entspricht. Es gilt das Hausarztprinzip (general practioner): Patienten müssen zu den Ärzten gehen, die einen bestimmten Bezirk versorgen. Die Arztbesuchsquote in Ländern mit NHS ist niedriger als in den Krankenversicherungsländern, insgesamt sind die Kosten niedriger. In den NHS-Ländern hat der Staat direktere Steuerungsmöglichkeiten, da weniger Interessen der Verbände zu beachten sind. Da der Staat die Zuteilung der Mittel für den NHS steuert, kommt es eher zu einer Unterfinanzierung des Gesundheitssystems. • Die privaten Gesundheitssysteme werden über die Versicherungsverträge aus eigenem Einkommen bzw. über die privaten Versicherungen, die Arbeitgeber ihren Beschäftigten bieten, finanziert. In den USA sind 54 % der Bürger über den Arbeitgeber versichert. Es gelten die Leitbilder Eigenvorsorge und Selbstverantwortung. Daneben existiert ergänzend ein Zugang zu Behandlung durch staatliche Gesundheitsdienste. In den USA sind das Fürsorgeleistungen nach Medicaid für Einkommensschwache und außerdem Medicare für über 65-Jährige und Behinderte. Der Anteil der privaten Ausgaben ist naheliegenderweise hoch. Die Versorgungssituation ist extrem ungleich, Millionen Menschen (ca. 15 %) sind unversichert. Unversicherte müssen in Krankenhäusern als Notfall behandelt werden. <?page no="168"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Dallinger__Sozialpolitik____[Druck-PDF]/ 04.02.2016/ Seite 168 www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Dallinger__Sozialpolitik____[Druck-PDF]/ 04.02.2016/ Seite 169 8.2 Unterschiedliche Gesundheitssysteme 169 Dennoch sind die Pro-Kopf Ausgaben für Gesundheit hoch. Für diejenigen mit einer privaten Absicherung bietet das Gesundheitswesen eine hochmoderne Versorgung. Die Typen existieren nicht in Reinform. So lagert die Deutsche Sozialversicherung auch Elemente der privat finanzierten Krankheitskosten durch Zuzahlungen und Leistungsausschluss an. Leistungen müssen dann privat finanziert werden oder über eine private Zusatzversicherung. Sozialversicherungen versichern Familienangehörige kostenlos mit und nehmen Nicht-Erwerbstätige als Pflichtmitglieder auf, was dem Fürsorgegedanken entspricht. Marktliche Gesundheitssysteme wie das der USA lagern Elemente der staatlichen Fürsorge ein für jene, deren Einkommen nicht ausreicht, um sich am privaten Versicherungsmarkt zu beteiligen. Die Institutionen der Gesundheitssysteme differieren außerdem in Hinblick auf die Möglichkeiten zur Regulierung und Reformierbarkeit. Dieser Aspekt wird im nächsten Kapitel behandelt. Entsprechende Stichworte stehen bereits in Tabelle 8.1. Tab. 8.1: Gesundheitssystem-Typen Sozialversicherung Nationaler Gesundheitsdienst Private Versicherung Zugang/ Finanzierung Erwerbsarbeit, Sozialversicherungsbeiträge an Krankenkassen, Staatsbürgerrecht, Steuern Privatversicherung, privat über Arbeitgeber Idee Sicherheit Gleichheit Markt, ergänzt durch Medicare, Medicaid (staatl.) Steuerung Verbände der Akteure, Selbstverwaltung der GKV Staat privater Versicherungsmarkt/ Wettbewerb Anteil priv. Ausgaben 24 % 17,4 % 51,8 % Gesamtausgaben pro Kopf US$ PPP 4.819.- (2013) 3.235.- 8.713.- Länder DE (FR, NL, CH) GB (SE) USA Eigene Darstellung nach Stats.OECD.org, health expenditure database. Abruf 1.10.15 <?page no="169"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Dallinger__Sozialpolitik____[Druck-PDF]/ 04.02.2016/ Seite 170 170 8. Gesundheitspolitik 8.3 Zentrale Probleme der Gesundheitssysteme und-Reformfähigkeit Das Problem der Kostensteigerung für Gesundheitsdienstleistungen geht-- neben der Alterung der Gesellschaft und dem medizinisch-technischen Fortschritt-- wesentlich auch auf spezifische Konstellationen und Anreizstrukturen zurück. Das betrifft sowohl das Verhalten der Versicherten als auch der Leistungserbringer. a) Moral hazard: Wenn eine Versicherung besteht und Menschen in sie einzahlen, wird der Anreiz gesetzt, mögliche Leistungen auch abzurufen, ohne dass ein dringender Behandlungsbedarf besteht. Oder es wird mehr als nötig nachgefragt, um gewissermaßen die Einzahlungen auszugleichen. Zudem ist die bestehende Versicherung ein Anreiz, weniger auf Krankheitsvermeidung durch Vorsorge und Lebenswandel zu achten. Patienten werden sich nicht auf die gesundheitlich notwendige Versorgung beschränken, sondern eine maximale Versorgung anstreben. Folglich sollte durch Selbstbeteiligung an den Kosten der Behandlung die sorgsamere Entscheidung der Klienten zur Nutzung der Gesundheitsleistungen erzielt werden. Dem wird entgegengehalten, dass die Nachfrage wenig preiselastisch ist. Bei Krankheit gibt es oft wenig Einfluss darauf, wieviel »Behandlung« man nutzt und wie teuer die Therapie ist. b) Angebotsinduzierte Nachfrage: Ärzte und andere medizinisch-therapeutische Berufsgruppen können ihre Behandlung über das medizinisch Notwendige hinaus ausweiten mit dem Ziel der Optimierung des eigenen Einkommens. Das ist besonders dann ein Anreiz, wenn Einzelleistungen abgerechnet werden. Dagegen setzt eine Fallpauschale solch einen Anreiz nicht, da mehr Behandlung nicht mehr Geld gibt. Die Fallpauschale hat andere Nachteile, etwa dass für die einzelnen Fälle dann entsprechend wenig Zeit übrig ist, was die Qualität senkt. Die jahrelang geringen Erfolge das Anwachsen der Gesundheitsausgaben zu bremsen ließ Reformer und Sozialpolitikforscher auf die spezifischen Entscheidungsstrukturen schauen, die Änderung unterschiedlich behindern oder erleichtern. Abbildung 8.3 verdeutlicht, dass in Krankenversicherungssystemen wie in Deutschland zahlreiche Akteure auf diversen Ebenen mitwirken und die Durchsetzung von eigentlich als nötig erkannten Reformen nicht leicht ist. Selbst wenn der Staat an der Spitze steht, kann er doch nicht die Organisationen der Finanzierer, die Krankenkassen, und der Leistungserbringer dirigieren. Das deutsche Gesundheitssystem ist korporatistisch, da die Kammern der Ärzte (Kassenärztliche Bundesvereinigung) und anderen Heilberufe sowie die Verbände der anderen Leistungserbringer (Krankenhausgesellschaft) eine starke Stellung haben. Sie sind in einem Bundesausschuss vertreten, in dem zusammen mit den Verbänden der GKV gesundheitspolitische Weichen <?page no="170"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Dallinger__Sozialpolitik____[Druck-PDF]/ 04.02.2016/ Seite 170 www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Dallinger__Sozialpolitik____[Druck-PDF]/ 04.02.2016/ Seite 171 8.4 Reformen im deutschen Gesundheitswesen 171 gestellt werden. Die gesetzlichen Krankenversicherungen werden durch Organe der Selbstverwaltung gesteuert und sind dadurch teilautonom. Die Machbarkeit von gesundheitspolitischen Reformen wird daher allgemein auf den Umfang an »Vetopunkten« zurückgeführt. Dieser Begriff aus den Politikwissenschaften zielt darauf ab, dass Instanzen den politischen Prozess bremsen und Widerspruch einlegen können. Je nach politischem System oder-- wie im vorliegenden Fall das Gesundheitswesen- - je nach den Akteuren, Gruppen und Verbänden, die die Institutionen des Gesundheitssystems bilden, existieren mehr oder weniger Vetopunkte oder auch Veto-Spieler (Immergut 1992). Das Sozialversicherungssystem hat naturgegeben zahlreiche Veto-Spieler; ein NHS hat geringere Widerstände zu bearbeiten, gesundheitspolitische Reformen sind leichter umzusetzen. 8.4 Reformen im deutschen Gesundheitswesen Seit 1992 wird mit Strukturreformen versucht die Wettbewerbsorientierung im Gesundheitswesen zu stärken in der Hoffnung, die stetig steigenden Kosten in den Griff zu bekommen. Maßnahmen können am Moral-Hazard-Verhalten der Versicherten ansetzen: Abb. 8.3: Komplexe Steuerungshierarchie im deutschen Gesundheitswesen Quelle: Bäcker u.a. 2011: 222. Staatliche Ebene Staat Gebietskörperschaften Verbandsebene Verbände der Krankenversicherungen Verbände der Leistungserbringer Individualebene einzelne Krankenversicherung einzelne Leistungserbringer Versicherter/ Patient <?page no="171"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Dallinger__Sozialpolitik____[Druck-PDF]/ 04.02.2016/ Seite 172 172 8. Gesundheitspolitik • Ausgrenzen von bestimmten Gesundheitsleistungen aus dem bisherigen Leistungskatalog; Wahltarife, • Private Selbstbeteiligung und Zuzahlung (z. B. feste Zuschüsse bei Zahnersatz); Beitragsrückerstattung; und die Tendenz zur Angebotsausweitung der Leistungsanbieter eindämmen: Budgetierungen (d. h. Begrenzung der verfügbaren Finanzmittel) in allen Bereichen des Gesundheitswesens (niedergelassene Ärzte, Krankenhäuser, Arzneimittel); Fallpauschalen im Bereich der stationären und ambulanten Einrichtungen, • Zulassungsbeschränkungen bei der Niederlassung für Ärzte, • Pflicht zur Verordnung wirkstoffgleicher kostengünstigerer Medikamente (Wirkstofflisten). Reformen im Gesundheitswesen-- Wettbewerbsorientierte Strukturreformen Gesundheitsstrukturgesetz 1992: • Einführung der Budgetierung im Gesundheitswesen (d. h.. Festlegung des verfügbaren Finanzvolumens, das maximal zur Verfügung steht): Budgets existieren für die Leistungsbereiche Krankenhausversorgung, ambulante ärztliche Leistungen, Heil- und Hilfsmittel, Arzneimittel. So soll Beitragssatzstabilität erreicht werden. • Freie Wahl der Krankenkasse für alle GKV-Versicherte. • Risikostrukturausgleich: Ausgleich für Unterschiede der GKV bei der Morbidität ihrer Versicherten (in manchen Kassen mehr Versicherte mit starken Gesundheitsproblemen und viel Behandlungsbedarf ). GKV-Modernisierungsgesetz 2005: • Festsetzung des Beitragssatzes durch den Gesetzgeber, nicht durch die GKV; Einführung eines Sonderbeitrags von 0,9 % zur GKV, den nur Versicherte, nicht Arbeitgeber aufbringen: Abweichen von paritätischer Finanzierung. Praxisgebühr bei Arztbesuchen; höhere Zuzahlungen. Aufwertung der Hausärztlichen Versorgung. GKV Wettbewerbsstärkungsgesetz 2007: • Ab 2009 Einführung eines Gesundheitsfonds, der aus gesetzlich festgelegten Beiträgen Versicherter (7,7 % des Bruttoeinkommen) und der Arbeitgeber (6,8 %) finanziert wird. Zusätzlich zum höheren Beitrag kann von Versicherten ein Zusatzbeitrag von 0,9 % erhoben werden, wenn die Krankenkasse höhere Ausgaben hat. Die Festsetzung einheitlicher Beiträge durch die Regierung widerspricht Selbstverwaltungsprinzip der GKV. Kassen entscheiden lediglich über die Zusatzprämien. Aus dem Gesundheitsfond erhalten Krankenkassen einen einheitlichen Pauschalbetrag, ergänzt um alters- und morbiditätsabhängigen Zuschlag. • Bundeszuschuss aus Steuermitteln zur Finanzierung gesellschaftlicher Aufgaben wird eingeführt. <?page no="172"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Dallinger__Sozialpolitik____[Druck-PDF]/ 04.02.2016/ Seite 172 www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Dallinger__Sozialpolitik____[Druck-PDF]/ 04.02.2016/ Seite 173 8.4 Reformen im deutschen Gesundheitswesen 173 • Ablösung des budgetierten Finanzvolumens für die ärztlichen Leistungen, stattdessen Vergütung nach einer Euro-Gebührenordnung. GKV Finanzierungsgesetz 2010: • Fehlbetrag bei Beitragseinnahmen aufgrund der konjunkturellen Entwicklung. Abwendung des drohenden Defizits der Krankenkassen durch den Gesetzgeber. Beschlossen wurde ein Steuerzuschuss, die Ausgabenbegrenzung bei den Leistungserbringern (Ärzte, Krankenhäuser, Arzneimittelhersteller) und die Wiederherstellung des alten Beitragsniveaus von 15,5 %. Weiterführung des Zusatzbeitrags zur Entkoppelung der Gesundheitskosten von den Arbeitskosten. Aber nun Sozialausgleich für Geringverdiener. GKV Finanzstruktur- und Qualitätsweiterentwicklungsgesetz 2014: • Festsetzung des Beitrags auf 14,6 %. Arbeitgeberbeitrag bei 7,3 % festgeschrieben. Abschaffung des Sonderbeitrags für Versicherte. Künftig wird ein Ausgabenanstieg der GKV durch einkommensabhängige Zusatzbeiträge der einzelnen Kassen finanziert. • Kürzung des Bundeszuschusses zum Gesundheitsfonds, der soziale Aufgaben der Kassen ausgleichen soll. Insgesamt fand eine Verlagerung der Finanzierungsverantwortung an die Bürger statt. Eingeschränkte Leistungskataloge machen den Zugang zu Gesundheitsleistungen stärker vom Einkommen abhängig. Der Gesundheitsfonds will Wettbewerb und Wirtschaftlichkeit der Kassen fördern, indem diese versuchen werden, den Zusatzbeitrag zu vermeiden, um attraktiv für die Versicherten zu sein. Dies setzt Anreize, Personengruppen mit geringen Risiken anzuziehen und solche mit schlechten Risiken abzuschrecken. Die seit 2005 (GKV Modernisierungsgesetz) unterschiedliche Beitragshöhe für Arbeitgeber und -nehmer soll die Arbeitskosten von den Gesundheitskosten abkoppeln. Auch die gesetzliche Festlegung von Beiträgen zu einem Gesundheitsfonds und die Finanzierung des zusätzlichen Finanzbedarfs allein durch die Versicherten soll vermeiden, dass sich steigende Gesundheitskosten auf die Arbeitskosten auswirken. Die GKV nutzen zunehmend Instrumente der privaten Krankenkassen wie Wahltarife mit Basis- und Zusatzleistungen. Dies zersplittert die Versorgungslage und rückt die Gesundheitsversorgung näher an ein Marktgeschehen: Man kann nur das bekommen, was man bezahlen kann. <?page no="173"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Dallinger__Sozialpolitik____[Druck-PDF]/ 04.02.2016/ Seite 174 <?page no="174"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Dallinger__Sozialpolitik____[Druck-PDF]/ 04.02.2016/ Seite 174 www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Dallinger__Sozialpolitik____[Druck-PDF]/ 04.02.2016/ Seite 175 175 9. Der Wandel des Wohlfahrtsstaats: Kürzungspolitik, Globalisierung und Pfadabhängigkeit Dass der Sozialstaat zu verändern, zu reformieren, zu verschlanken oder auszuweiten wäre, ist seit Jahrzehnten die gängige Diagnose. Krisenszenarien und Reformforderungen begleiten ihn. Programme werden als wenig problemangemessen oder ineffizient betrachtet, oder ihnen wird mangelnde Gerechtigkeit attestiert. Für die einen ist der Sozialstaat ungenügend ausgebaut, für andere erzeugt er eine »Anspruchsinflation« der Bürger oder aber Wachstum- und Wettbewerbs-Hemmnisse für die Wirtschaft. Nun ist Reformbedarf bei sich verändernden sozialen Problemen- - etwa weil es mehr Pflegebedürftige gibt-- selbstverständlich. Ein einst für die Risiken des industriellen Lohnarbeiters gebautes Sicherungssystem wird kaum unverändert in einer postindustriellen Dienstleistungsgesellschaft Bestand haben. Hinzu kommen weitere Herausforderungen: Die Rahmenbedingungen für den Sozialstaat wandeln sich im Zuge der Öffnung nationaler Ökonomien durch Europäisierung oder Globalisierung. Neoliberale Konzepte haben Rückenwind und werden für politische Eliten wie auch für die Bevölkerung zu glaubwürdigen Lösungen. Der Sozialstaat erscheint nun als Verursacher von Lohnnebenkosten, die der internationalen Konkurrenzfähigkeit der Unternehmen schadeten. Werden sie beibehalten drohe, dass Firmen in Länder mit geringeren Kosten abwanderten. Zudem attestiert man dem Sozialstaat einerseits eine Dauer-Krise, andererseits aber eine-- vor diesem Hintergrund-- auffällige Widerstandsfähigkeit. Anstelle von Kürzungen an breiter Front kann man Resilienz feststellen. Diese verhindert den sozialstaatlichen Abbau teilweise, hemmt aber auch nötige Reformen. Daher ist von frozen landscapes die Rede, ein stehender Begriff in sozialwissenschaftlichen Analysen zum oft nur schwer machbaren Wandel des Wohlfahrtsstaats. Die vergleichende Sozialpolitikforschung nimmt den Umbau des Sozialstaats aus unterschiedlichen Perspektiven in den Blick, die im Folgenden vorgestellt werden: • Der Retrenchment-Ansatz (9.1); • Institutionentheorien und die Möglichkeit von Wandel (9.2); • Globalisierung und ihre Folgen für den Wohlfahrtsstaat (9.3); • Interne Gründe wie De-Industrialisierung und neue soziale Probleme der postindustriellen Gesellschaft (9.4). Diese vier zentralen Ansätze markieren keine voneinander abgegrenzten Forschungsfelder, vielmehr überschneiden sich die Argumente, wie im Folgenden ersichtlich wird. Was postulieren die genannten Ansätze und wie stellen Sie die Notwendigkeit des Umbaus und dessen Hindernisse dar? <?page no="175"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Dallinger__Sozialpolitik____[Druck-PDF]/ 04.02.2016/ Seite 176 176 9. Der Wandel des Wohlfahrtsstaats Eine Vorbemerkung ist evtl. für die studentische Leserschaft sinnvoll, die in den vergangenen Jahren in Deutschland sinkende Arbeitslosigkeit, wachsende Steuer- und Beitragseinnahmen sowie teils expandierende Ausgabenprogramme (Kinderbetreuung, Pflege, keine Rente mit 67 Jahren, Ausweitung der Mütterrente) kennen lernte. Diese Kohorte mag sich über die Debatten um Sparzwänge und Kürzungen sozialer Programme wundern. Sie sei daran erinnert, dass Deutschland in den 1990er-Jahren eine im internationalen Vergleich überdurchschnittlich hohe Arbeitslosigkeit, wirtschaftliche Stagnation, fehlende Einnahmen bei Sozialen Sicherungssystemen und Steuern und eine wachsende Zahl an von Sozialleistungen Abhängigen (v. a. ältere Menschen und Arbeitslose) hatte. Analysen zu Sozialpolitik in Zeiten der Austerität-- also der Einsparzwänge-- sind in dieser damaligen Konstellation verankert. Für viele europäische Länder ist diese Konstellation aufgrund der im Zuge der Finanzmarktkrise schwachen Wirtschaftsentwicklung und wegen der Staatschuldenkrise nach wie vor aktuell. Und auch Deutschland ist nicht frei vom Zwang die Staatsverschuldung einzuschränken. 9.1 Retrenchment Der Ausgangspunkt des New Politics-Ansatzes ist die Beobachtung, dass Sozialstaaten wesentlich beständiger sind, als man vor dem Hintergrund der vielfältigen Kritik an den Nachteilen sozialer Sicherungssysteme und angesichts der Forderungen nach Begrenzung »ausufernder« Leistungen meinen möchte. Die beständig hohen Sozialausgaben sprächen für die Widerstandsfähigkeit, also Resilienz des Sozialstaats gegenüber liberalen Kürzungsbestrebungen. Um dieses Phänomen zu erklären, so der Anspruch von Pierson (1996), werde eine eigene, neue Theorie des Rückbaus benötigt, wie sie der Retrenchment-Ansatz entwickle. Das Folgende skizziert zunächst das Konzept der New Politics of Retrenchment und geht dann auf die umstrittene Ausgangsbeobachtung, Kürzungen seien gering, ein. 9.1.1 Grundlagen Nach einem »goldenen Zeitalter« (golden age) des steten Ausbaus sozialpolitischer Programme im wirtschaftlichen Aufschwung nach dem 2. Weltkrieg bis in die 1970er- Jahre mehrte sich die Kritik am Sozialstaat: Er erzeuge eine Anspruchsinflation der Bürger, die hohen Kosten für unproduktive Sozialleistungen schadeten der Wirtschaft, hohe Lohnersatzleistungen verteuerten Löhne und steigerten Arbeitslosigkeit. Und: er habe trotz hoher Kosten Armut oder andere Probleme nicht zum Verschwinden gebracht. Trotz zahlreicher Kritikpunkte und zusätzlichen Einsparzwängen durch eine seit den 1980er-Jahren kriselnde Wirtschaft ist der Sozialstaat unerwartet wenig <?page no="176"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Dallinger__Sozialpolitik____[Druck-PDF]/ 04.02.2016/ Seite 176 www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Dallinger__Sozialpolitik____[Druck-PDF]/ 04.02.2016/ Seite 177 9.1 Retrenchment 177 geschrumpft, so jedenfalls wenn man als Maßstab die Höhe der Sozialausgaben heranzieht. Selbst liberalen Politikern wie Thatcher und Reagan sei es nicht gelungen, ihren eigentlich bei Amtsantritt geplanten radikalen Rückbau umzusetzen. Die erstaunliche Widerstandsfähigkeit (resilience) des Wohlfahrtsstaates ist die Ausgangsbeobachtung des New Politics-Ansatzes des amerikanischen Politikwissenschaftlers Paul Pierson (1996). Konkret vergleicht er die ursprünglich weitreichenden Kürzungspläne von Reagan und Thatcher mit dem faktisch weit weniger durchschlagenden Rückbau sozialer Programme. Die Resilienz wird erklärt mit den Wählerinteressen und den zahlreichen Interessenorganisationen, die umfangreiche Kürzungen verhindern. Diese Interessen breiter Wählerschichten und von Organisationen, die alle in unterschiedlicher Weise existentiell vom Sozialstaat abhängen bzw. profitieren, gab es zur Zeit der sozialstaatlichen Expansion noch nicht. Der Widerstand gegen Kürzungen ist also gewissermaßen »selbst gemacht«. Hinzu kommt die Angst der Politiker, vom Wähler »bestraft«, d. h. nicht wiedergewählt zu werden, wenn unpopuläre Kürzungsmaßnahmen implementiert würden. Die Strategie der blame avoidance (das Vermeiden der Bestrafung durch Wähler) erklärt, warum soziale Ausgaben nach wie vor hoch sind-- trotz der Kritik am »zu teuren« Sozialstaat. Eine neue Theorie des Sozialstaats ist für Pierson also wegen der veränderten Randbedingungen erforderlich. Während der Ausbau des Sozialstaats Anfang der 1970er- Jahre in einer Umwelt schwacher Interessengruppen stattgefunden habe, hat der Sozialstaat die Umwelt selbst radikal verändert: Er selbst ließ zahlreiche Interessengruppen wachsen, die unmittelbar vom Sozialstaat abhängig sind und nun Widerstand gegen Rückbau leisten. Das sind »Versorgungsklassen« wie Rentner und Rentnerinnen, die aus nahe liegenden Gründen zu den Befürwortern eines breiten Sozialsystems zählen, da sie jahrelang Beiträge abführten, nun reziprok den »Lohn für Lebensleistung« erwarten und zudem schlicht von dieser einzigen Einkommensquelle abhängen. Das sind aber auch Pharmaunternehmen und Ärzteverbände, genauso wie Verbände der Logopäden oder der Erzieher und Erzieherinnen, deren Interessen einem Retrenchment klar zuwiderlaufen. Sie alle wollen den Bestand an sozialen Programmen erhalten oder eher noch ausbauen, selbst wenn hohe Sozialausgaben beklagt werden. Zu den neuen Bedingungen der wohlfahrtsstaatlichen Entwicklung, die eine neue Erklärung berücksichtigen müsse, zählt weiter, dass in der heutigen Rückbauphase unpopuläre Maßnahmen nötig sind, während in der Expansionsphase populäre, für viele vorteilhafte Programme eingerichtet und so Kredit beim Wähler erworben wurde (credit claiming; siehe Giger/ Nelson 2010). Während in der Vergangenheit lediglich ein diffuser Widerstand in der Bevölkerung gegen mehr Sozialabgaben zu überwinden war, was gleichzeitige Lohnsteigerungen aber einfach machten, stehe Kürzungspolitik meist vor dem Problem, dass spezifische Gruppen negativ betroffen sind, die sich-- je nach Organisationsgrad-- unterschiedlich gut wehren. Statt Wähler-Kredit einzuheimsen, müssen sich Politiker in der Rückbauphase um Schadensbegrenzung bemühen: Das gelinge durch Koalitionen, in denen negative <?page no="177"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Dallinger__Sozialpolitik____[Druck-PDF]/ 04.02.2016/ Seite 178 178 9. Der Wandel des Wohlfahrtsstaats Effekte auf den Koalitionspartner abgewälzt werden können, durch kleinteilige (inkrementelle) Reformen, deren negative Folgen erst kumuliert sichtbar sind, oder indem unbeliebte Reform-Wirkungen in die Zukunft verschoben werden. Das langfristige Abschmelzen des Sicherungsniveau in der Rentenversicherung ist ein Beispiel dafür (siehe Kap. 5). Es werden Reform-Pakete geschnürt, die attraktive Programme mit unbeliebten kombinieren. Insgesamt ist also die New Politics of Retrenchment bestrebt, in einer Umwelt konzentrierter Interessen die politischen Kosten zu minimieren. Da große Teile der Bevölkerung heute als Leistungsempfänger oder als Beschäftigte im Gesundheits- und Bildungswesen in den Sozialstaat involviert sind, muss die Politik des Rückbaus notgedrungen mit der vom Sozialstaat selbst geschaffenen Umwelt zurechtkommen. Dies wird als feed-back-Effekt bezeichnet. Kritisch wird seitens der Vertreter des Retrenchment-Konzeptes angemerkt, dass Theorien der Expansion zu sehr einer Logik des Industrialismus und der Arbeitermacht folgten, obwohl doch inzwischen die Dienstleistungsgesellschaft die Zahl der Arbeiter und die Macht von deren Interessenorganisationen stark verringert habe. Linke politische Kräfte dürften daher keine entscheidende Rolle mehr spielen, vielmehr sei wohlfahrtsstaatliche Politik inzwischen unabhängig davon, welche Partei an der Macht ist. Alle Parteien nutzen Sozialpolitik für credit-claiming. 56 Wichtig sei heute vor allem, wie die politischen Institutionen die Macht verteilen, etwa durch Veto-Punkte. Damit bezeichnet man die »Einspruchsmöglichkeiten« verschiedener politischer Akteure neben der Regierung, die eigentlich den Kurs vorgeben sollte, aber real eben oft nicht dazu in der Lage ist. In Deutschland ist ein wichtiger Veto-Punkt die Gewaltenteilung zwischen Bund und Ländern. Bestimmte Gesetzesvorschläge müssen im Bundestag und im Bundesrat Mehrheit finden, um verabschiedet zu werden. Der Bundesrat als Vertretung der einzelnen Bundesländer hat also Veto-Macht. 9.1.2 Kritik: Politikfeldspezifische Kürzungspolitik statt Resilienz Der Annahme relativ stabiler sozialer Ausgaben und Programme des Politics of Retrenchment-Ansatzes wurde widersprochen (Korpi/ Palme 2003; Siegel 2002). Denn: Die Bedingungen der 1980er Jahre, für die Pierson die Resilienz-These entwickelt hatte, sind nicht mehr aktuell und der betrachtete Zeitraum ist zu kurz. Kürzungspolitik vollzieht sich langfristig. Vor allem lässt sich unter den neuen Bedingungen von hoher Staatsverschuldung und Finanzkrise die New Politics-These weitgehender Stabilität des Sozialstaats nicht mehr halten, sondern Einsparzwänge setzen sich durch (Obinger 2012). Seine empirische Basis-- Daten zu Sozialausgaben und Fallstudien zu nur weni- 56 Eine aufschlussreiche Analyse der neueren Familienpolitik der CDU als Beispiel für »Wähler-Kredit-Einheimsen« jenseits von Links-Rechts-Verteilungskonflikten findet man bei Blome 2014. <?page no="178"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Dallinger__Sozialpolitik____[Druck-PDF]/ 04.02.2016/ Seite 178 www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Dallinger__Sozialpolitik____[Druck-PDF]/ 04.02.2016/ Seite 179 9.1 Retrenchment 179 gen Ländern-- ist schmal. Die Eignung von Sozialausgaben als Indikator für die Qualität sozialer Absicherung wird seit Langem kritisiert, da sie eine Expansion der Ausgaben anzeigen, obwohl evtl. lediglich die Empfängerzahl ansteigt und dann ein Mehr an Ausgaben nicht zugleich mehr Generosität bedeutet (siehe Kap. 2). Andere Kritiker wenden ein, dass sozialstaatlicher Wandel nicht einfach in Form von Kürzungen erschlossen werden kann und schlagen stattdessen Begriffe wie Fragmentierung (Bogedan u. a. 2009) oder Dualisierung des Sozialstaats (Palier/ Thelen 2012) vor. Die Resilienz-Annahme sehe nicht, dass sich die Politikfelder in Bezug auf die Wahrscheinlichkeit von Kürzungen unterscheiden. Aber genau das gelte es zu beachten, so die These der politikfeldspezifischen Kürzungen. Diese sind so weitreichend, dass vom »reworking of the European postwar social contract« (Korpi 2003) die Rede ist. Auch in den heutigen post-industriellen Dienstleistungsgesellschaften sei Sozialpolitik vor allem ein Verteilungskonflikt. Er werde immer noch durch die klassischen politischen Akteure ausgetragen. Die jeweilige parteipolitische Ausrichtung der Regierung, also ob hier »linke« oder »konservative« Parteien an der Macht sind, präge auch weiterhin, wie Verteilungskonflikte ausgehen. Gleichwohl kommen neue »postindustrielle Kräfte« hinzu, die aber ebenso in einen Verteilungskonflikt eintreten. Bei genauer Betrachtung der Entwicklung des Sozialstaats mit geeigneten Indikatoren fänden sich durchaus massive Kürzungen. Die im SCIP Projekt (Social Indicator Project) versammelten Forscher zeigen anhand der Sozialen Rechte (siehe Kap. 2.2.1), dass in bestimmten Programmen, die keine Mehrheitsinteressen hinter sich haben, sehr wohl Rückbau stattfand (Korpi/ Palme 2003). 57 In Politikfeldern mit aufgrund ihrer Größe aber auch aufgrund ihres Organisationsgrads »unwichtigen« Wählergruppen wie den Arbeitslosen finde man durchaus Kürzungen. Tabelle 9.1 zeigt die in einem zentralen Aufsatz der schwedischen Forscher verwendeten Daten zur Änderung der Lohnersatzraten bis 1995 für ausgewählte Länder. Das ist zwar nicht mehr aktuell, illustriert aber, auf welcher Grundlage die Forscher zur Diagnose programmspezifischer Kürzungen kamen. Diese zentrale Aussage wird belegt durch die im Bereich Arbeitslosigkeit umfassender als in den anderen Bereichen (Lohnfortzahlung im Krankheitsfall und Arbeitsunfälle) ausfallenden Kürzungen. Die Leistungen für Arbeitslose wurden deutlich stärker zurückgebaut, ein insgesamt geltender Trend, auch wenn einzelne Länder beim Umfang an Kürzungen und beim Ausgangsniveau der Lohnersatzrate zu Beginn der betrachteten Phase variieren. Demnach scheinen Kürzungen in Bereichen mit schwachen Interessengruppen (und zu diesen zählen Arbeitslose) tatsächlich eher stattzufinden als etwa bei der Lohnfortzahlung im Krankheitsfall. Arbeitslosigkeit trifft vor allem Geringqualifizierte, jedoch kann Krankheit »jeden« treffen. Die Interessen an einer Absicherung bei Krankheit 57 Auch die recht ähnlichen Indikatoren des Comparative Welfare Entitlement Dataset (CWED; Scruggs 2008) dienen dem Zweck, genauer im Zeitverlauf und Ländervergleich prüfen zu können, inwiefern Sozialrechte eingeschränkt wurden. <?page no="179"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Dallinger__Sozialpolitik____[Druck-PDF]/ 04.02.2016/ Seite 180 180 9. Der Wandel des Wohlfahrtsstaats sind also viel umfassender. Zudem existiert in Bezug auf Krankheit keine Debatte um eigenes Verschulden und »freiwilligen Leistungsbezug«, die aber gegenüber Arbeitslosen immer wieder geführt wird. Die Analyse von Korpi und Palme lässt sich mit neueren Daten wiederholen. Auch für den Zeitraum bis 2010 ergibt sich, dass die Leistungen für Arbeitslose am stärksten zurückgefahren wurden. Nun widerspricht diese Beobachtung keineswegs dem Retrenchment-Ansatz. Allerdings sind Kritiker der Resilienzthese vorsichtiger dabei, generell die Stabilität sozialer Programme zu diagnostizieren, da spezifischen Politikfeldern Sozialabbau nicht erspart blieb. Aber auch sie sehen, dass soziale Programme nicht unbedingt radikal gekürzt werden. Gemeinsam ist weiterhin, dass auch die Kritiker der Stabilitätsannahme auf den politischen Druck der Interessengruppen und der Wähler Bezug nehmen, um relativ stabile Bereiche des Sozialstaats zu erklären. Um die Frage, ob Kürzungspolitik oder Resilienz die richtige Diagnose ist, zu lösen, haben Sozialwissenschaftler den Wandel der Sozialausgaben mit dem sich ändernden »Bedarf« an Leistungen durch die wachsende Zahl an Rentenempfängern oder Arbeitslosen verrechnet. Dadurch entsteht in der Tat ein anderes Bild (Clayton/ Pontusson 1998). Im Vergleich zur Ausbauphase (1960-1980) stagnierten in der Austeritätsphase (1980-1993) die Ausgaben pro Person aus der sogenannten abhängigen Bevölkerung, Tab. 9.1: Änderung der Lohnersatzrate in % zwischen 1975 und 1995 (Niveau) Typ Land Arbeitslosigkeit Krankheit Arbeitsunfall Niveau Änderung Niveau Änderung Niveau Änderung Targeted USA 59.8 - 12.8 - - - - GB 63.4 - 39.9 63.4 - 43.1 71.6 - 51.3 Konservativ FR 41.1 - 7.2 55.7 - 6.8 66.8 0.0 AT 47.4 - 10.1 99.2 - 4.6 00.0 - 3.4 BE 76.0 - 28.1 91.9 - 9.3 100.0 - 3.7 DE 74.3 - 6.4 100.0 0.0 100.0 0.0 NL 81.6 - 13.2 84.7 - 14.7 84.7 - 14.7 Universell SE 77.1 - 7.3 90.3 - 13.8 92.6 - 21.8 NO 73.5 - 10.0 55.0 0.0 55.0 0.0 DK 81.9 - 24.5 74.7 - 21.4 74.7 - 21.4 Quelle: Eigene Darstellung nach Korpi/ Palme 2003: 435. Die Ersatzrate bei Krankheit bezieht sich auf die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall. <?page no="180"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Dallinger__Sozialpolitik____[Druck-PDF]/ 04.02.2016/ Seite 180 www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Dallinger__Sozialpolitik____[Druck-PDF]/ 04.02.2016/ Seite 181 9.1 Retrenchment 181 also der Älteren und arbeitslosen Leistungsbezieher, deutlich (siehe Tab. 9.2). Betrachtet man zusätzlich das wirtschaftliche Wachstum, dann kommt man zu dem Schluss, dass ein geringerer Teil des erwirtschafteten Wohlstands zugunsten der sozialen Sicherung verteilt wird. Ob man dies als positiv oder negativ für die Wirtschaft oder für die Gesellschaft bewerten möchte, ist eine andere Frage. Tab. 9.2: Durchschnittliches jährliches Wachstum der gesamten Sozialausgaben (zu konstanten Preisen) pro Person der abhängigen Bevölkerung (Ältere, Arbeitslose), 1960-1993 1960-80 1980-93 DE 2.65 .53 SE 5.68 .79 GB 3.08 2.48 US 4.30 2.09 Quelle: Clayton/ Pontusson 1998: S. 79, Tabelle 4. Zahlen zu Arbeitslosigkeit und Älterer Bevölkerung siehe OECD Labor Force Statistics, versch. Jahre, Paris. Andere Kritiker der Politics of Retrenchment-These zeigen zudem, dass sich Sozialausgaben von den öffentlichen zu den privat aufgebrachten verschieben. Der Eindruck der insgesamt konstanten oder sogar steigenden Sozialausgaben verdeckt, dass private Haushalte vermehrt etwa die Kosten für Gesundheit (Zuzahlungen) oder Altersrenten (Privatisierung) finanzieren. Auch wenn man speziell die Ausgaben für soziale Dienstleistungen und für öffentliche Beschäftigung betrachtet, kommt man zu dem Schluss, dass Kürzungen stattfinden. Kürzungspolitik verläuft zudem innerhalb von Pfaden, die Regime vorzeichnen. Liberale Länder weisen andere Muster auf als konservative und sozialdemokratische Länder. In ihnen wird eher ein Niedriglohnsektor akzeptiert, der gering Qualifizierten Dienstleistungsjobs bietet, etwa um Arbeitslosigkeit oder die weitere Expansion der Sozialausgaben zu vermeiden. In sozialdemokratischen Ländern ist diese Option nicht wählbar (feasible). Der dortige Optionsraum lässt eher die Expansion der Sozialausgaben zu, die typischerweise in öffentliche Beschäftigung fließen, die einen vor Globalisierung geschützten Arbeitsmarktsektor aufbaut und Menschen in vollwertige Arbeitsverhältnisse bringt. Die kontinentaleuropäischen konservativen Länder bewegen sich langfristig in einem anderen Lösungsspielraum: Hier wurde lange Zeit über Frühverrentung und Transferzahlungen an die Gruppe der älteren Arbeitsnehmer Arbeit »vom Markt genommen« um den Arbeitsmarkt zu entlasten. Arbeitsplätze im Dienstleistungssektor wuchsen lange Zeit nur spärlich und nur in qualifizierten Tätigkeiten. So wurde zwar eine starke Spreizung der Einkommen verhindert, jedoch auf Kosten einer weiter hohen Arbeitslosigkeit und bei hohen Sozialkosten aus den Renwww.claudia-wild.de: <?page no="181"?> [UTB-M]__Dallinger__Sozialpolitik____[Druck-PDF]/ 04.02.2016/ Seite 182 182 9. Der Wandel des Wohlfahrtsstaats tenkassen. Gespart wurde nicht bei den Kerngruppen des Arbeitsmarktes, sondern bei Outsidern (Dallinger/ Fückel 2014). Die Entwicklung der vergangenen Jahre zu deregulierter Arbeit und zweierlei Standards des Sozialschutzes verstärkt die für das kontinentaleuropäische Regime typische Spaltung in In- und Outsider. 9.2 Institutionentheorien und Wandel sozialstaatlicher Institutionen Institutionen stabilisieren Abläufe und stehen somit Wandel zunächst einmal entgegen. Denn indem sie Handlungsspielräume definieren oder bestimmte Möglichkeiten bevorzugen, Probleme zu sehen und zu lösen, sorgen sie für Stetigkeit. Institutionen sind die rules of the game, so die bekannte Definition von Douglas North (1992). Durch bestimmte Regeln ist natürlich das »Spiel« immer gleich zu spielen. Es bilden sich Pfade aus, die immer wieder begangen werden und so »selbstverständlich« werden, während andere Optionen schwer denkbar scheinen und mangels geeigneter Anreize nicht begangen werden. Institutionen sind die formalen oder informellen Prozeduren, Verfahren, Vorschriften, Routinen, Normen, und Konventionen, die in Organisationsstrukturen der Politik eingebettet sind. Politik ist institutionell organisiert. Institutionen prägen kollektives Verhalten, die Handlungsspielräume politischer Akteure und sorgen somit letztlich auch für unterschiedliche Ergebnisse von Sozialpolitik (Hall/ Taylor 1996). Aufgrund der Institutionen bilden sich Strukturen aus, die Akteure mit den von ihnen definierten Regeln zwar geschaffen haben, aber diese verselbständigen sich und werden zu einem »äußeren« Zwang. Die Rolle, die Akteuren zukommt und ihre Spielräume, die sie angesichts institutionell definierter Strukturen haben, diskutieren Forscher als Dualität von structure und agency. Die Sozialpolitikforschung ist durch institutionenheoretische Ansätze geprägt und entsprechend auch von dem Problem, wie man Wandel mit einem solchen Begriffsapparat denken kann. Wie lassen sich frozen landscapes (Esping-Andersen 1996) überhaupt reformieren, wenn man diese aufgrund von Pfadabhängigkeit als hochgradig persistent betrachtet? Bereits Klassiker der Wohlfahrtsstaatstheorie wie der Machtressourcenansatz und die Regimetheorie lassen sich institutionentheoretisch deuten, aber bei ihnen überwiegt agency: Akteure, ihre Interessen und ihre politische Macht sind entscheidend. Dies gilt im Grunde auch für die ursprüngliche These von Paul Pierson zur Persistenz sozialstaatlicher Institutionen, da danach die Akteurs-Interessen verhindern, dass der eigentlich von neoliberaler Politik angestrebte Rückbau machbar ist. Neuere Theorien des Wandels sozialstaatlicher Institutionen rücken von agency ab und betonen stattdessen die durch Institutionen gesetzten Zwänge. <?page no="182"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Dallinger__Sozialpolitik____[Druck-PDF]/ 04.02.2016/ Seite 182 www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Dallinger__Sozialpolitik____[Druck-PDF]/ 04.02.2016/ Seite 183 9.2 Institutionentheorien und Wandel sozialstaatlicher Institutionen 183 9.2.1 Pfadabhängigkeit Pfadabhängigkeit meint, dass bestimmte Programme trotz festgestelltem Reformbedarf und erkannter Probleme nicht einfach geändert werden können, so wie man nach erfolgter Problemdiagnose bei einem defekten Auto vernünftigerweise den Keilriemen wechselt oder die Antriebswelle austauscht. Dem stehen in der Sozialpolitik die versunkenen Kosten, die institutionelle Komplementarität, die Interessen der Politiker und der Bürger oder auch die durch sozialstaatliche Institutionen selbst verfestigen Ideen entgegen. Einmal etablierte Sozialprogramme schaffen eine inertia. Damit ist eine gewisse Beharrungskraft gemeint, die dadurch entsteht, dass die sozialstaatlichen Institutionen selbst bereits Akteurs-Interessen in einer bestimmten Richtung festlegen. Wenn ein soziales Programm festschreibt, dass Beiträge vom Erwerbseinkommen einen Leistungsanspruch generieren, dann legt es eine Form der Leistungsgerechtigkeit fest, die für die politischen Eliten, die Sozialverwaltungen und die Arbeitnehmer selbst verbindlich wird. Bei Reformen etwa der Lohnersatzleistungen bei Arbeitslosigkeit sind die Reform-Spielräume der Politik gebunden, da das Prinzip einer am Erwerbseinkommen ausgerichteten Leistungsgerechtigkeit nicht plötzlich aufgegeben werden kann. Bürger werden auf dessen Einhaltung pochen, da es jahrelang ihr Verhalten und ihre Erwartungen prägte, was eine adäquate Sozialleistung ist. Ein Beispiel für Pfadabhängigkeit QWERTY bietet ein Beispiel für Pfadabhängigkeit: Diese Buchstaben stehen für die Anordnung der Buchstaben auf einer Tastatur. In dieser spezifischen Anordnung, die willkürlich und rein konventionell ist, sind Kosten enthalten: Firmen, die Tastaturen produzieren, haben Ihre Anlagen und Maschinen darauf eingestellt, Sekretärinnen haben Zeit in ihrer Ausbildung investiert, diese Anordnung blind zu beherrschen, viele andere auch nicht professionell Schreibende kennen die Tastatur aus Gewohnheit. Diese Kosten sind versunken; sie sind einmal getätigt und rentieren sich umso mehr, je länger die Anordnung beibehalten wird. Sozialversicherungen erzeugen ähnlich der Schreibmaschinen-Tastatur bestimmte Pfade. Ganze Erwerbsbiografien lang wird für die Rente angespart. Der Pfad »Beitragspunkte kumulieren um Rente zu erhalten« kann nicht rasch verlassen werden. Die Umstellung auf Kapitaldeckung ist wegen der einmal getroffenen Entscheidung zugunsten des Umlageverfahrens schwierig. Beitragszahler würden die aktuellen Renten finanzieren und die künftige, eigene Rente ansparen müssen. Auch informelle Normen gehören zu Pfadabhängigkeit. Die beitragsbezogene Rente betont, dass eine Leistung durch die eigene Erwerbsarbeit »verdient« wird; es handle sich um erworbene Rechte, die der Staat nicht willkürlich zurücknehmen dürfe. Wegen solcher Deutungsmuster lassen sich Reformen (wie hier zugunsten von mehr Kapitaldeckung) nicht ohne Rücksicht auf Akzeptanz und Legitimität »durchziehen«. <?page no="183"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Dallinger__Sozialpolitik____[Druck-PDF]/ 04.02.2016/ Seite 184 184 9. Der Wandel des Wohlfahrtsstaats Vor allem den zu einem kontinentaleuropäischen Regimetyp gehörenden Ländern wird Reformunfähigkeit attestiert. Aufgrund neuer sozialer Probleme wird im Grunde eine Anpassung des »Lohnarbeitersozialstaats« als dringend nötig gesehen. Diese Länder seien jedoch wegen der starken Interessengruppen, die Länder dieses Regimes ja gerade auszeichnen, in höherem Masse als andere Regime eingeschlossen in den bisherigen institutionellen Pfad (locked in). Die Interessengruppen sind machtvoller und stärker beteiligt am Wohlfahrtsstaat und sorgen für frozen landscapes, so die Diagnose von Esping-Andersen (1996) zur besondere Reformresistenz gerade der korporatistischen Länder, zu denen Deutschland zählt. Im Licht der inzwischen auch hier vollzogenen Reformen dürfte die Diagnose heute aber anders ausfallen. Manche Reformen (Altersrente, Hartz IV) werden gar als ein Pfadwechsel hin zu einem liberalen Regime betrachtet. Daher wird inzwischen vermehrt analysiert, wie Politikern die Abkehr von bestimmten Pfaden gelingt und ob tatsächlich stets eine Bestrafung durch die Wähler zu erwarten ist. Was ist eine Reform? Begriffe wie Kürzung, Reform oder Rückbau werden in der Alltagsprache, aber ebenfalls in politischen Debatten oft ungenau oder plakativ verwendet. Eine recht geringe Anpassung kann in der Öffentlichkeit als ein Kahlschlag angeprangert werden, obwohl die Institution weitgehend erhalten bleibt. Eine Leistungskürzung kann minimal sein und das Leistungssystem in seinen bisherigen Zielen und Mittel nicht ändern; Kürzungen können aber ebenso wesentliche Bestandteile des Sozialprogramms ändern und es rechtfertigen, von einem paradigmatischen, d. h. grundlegenden Wandel zu sprechen. Es ist also sinnvoll Reformen oder Kürzungen genauer einordnen zu können. Palier (2006) schlägt im Anschluss an Peter Hall-- ein Begründer des Neo-Institutionalismus-- vor, drei Stufen der Reformen zu unterscheiden: • First order change: Werden lediglich einzelne Mittel und Instrumente verändert, etwa die Leistungen abgesenkt oder Beiträge erhöht, dann findet ein instrumenteller Wandel erster Ordnung statt. Das kann als Anpassung an Finanzierungsprobleme geschehen, tastet aber das System als Ganzes nicht an. • Second order change: Hier werden einzelne Instrumente oder spezifische Elemente des Settings bereits grundlegender in ihrer institutionellen Logik verändert. Dies verwandelt einzelne charakteristische Merkmale des Systems; es bleibt aber in seinem Bestand erhalten. Daher wird die Bezeichnung parametrischer Wandel gewählt. Ein solcher Wandel wäre die Umstellung von Beitragsauf Steuerfinanzierung. Man hätte damit bereits ein tragendes Element verändert, da die Steuerfinanzierung mit »willkürlicherem« Einfluss der jeweiligen Regierungen verbunden ist, während paritätische Finanzierung mit Mitspracherechte der Beschäftigten und der Unternehmen verbunden ist. • Third order change: Ein paradigmatischer Wandel ändert die grundlegenden Ziele und das gesamte Setting. Das wäre der Fall, wenn statt des Umlageverfahrens die <?page no="184"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Dallinger__Sozialpolitik____[Druck-PDF]/ 04.02.2016/ Seite 184 www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Dallinger__Sozialpolitik____[Druck-PDF]/ 04.02.2016/ Seite 185 9.2 Institutionentheorien und Wandel sozialstaatlicher Institutionen 185 Kapitaldeckung in der Rentenfinanzierung eingeführt würde, wenn statt der am vorigen Lohn bezogenen Leistungen nun eine für alle Arbeitslosen gleiche flat rate gezahlt würde, oder wenn die gesetzliche Altersrente nicht mehr das Ziel Statuserhalt sondern Mindestsicherung verfolgt. Auch bei den Instrumenten kann ein fundamentaler Wandel stattfinden. Ein Beispiel wäre die Abkehr von der paritätischen Finanzierung der Krankheitskosten, die dann allein die Bürger zu zahlen hätten. Aufmerksame Leser werden einwenden, dass diese Unterscheidung immer noch Ungenauigkeit und fließende Grenzen zulässt. Was nun unter einem instrumentellen, parametrischen oder paradigmatischen Wandel zu verstehen ist, hängt vom jeweiligen Land bzw. dem dortigen Wohlfahrtsstaatstyp ab. Ein parametrischer Wandel kann zu einem paradigmatischen werden, wenn sich Reformen nicht eindeutig zuordnen lassen. Teils ist schwer zu entscheiden, ob die verkürzte Bezugsdauer des lohnabhängigen Arbeitslosengeldes nun ein Bruch mit den bisherigen Prinzipien der Arbeitslosenversicherung bedeutet (also ein third order change ist) oder ob lediglich die Leistungen in solche für Kurzzeit- und für Langzeitarbeitslose unterschieden werden. Letztes wäre eher ein second order change. Man kann auch eine Hybridisierung oder Dualisierung der Sozialpolitik diagnostizieren. Endogener institutioneller Wandel Wandel geschieht aus der Sicht der Institutionentheorie in einer spezifisch endogenen Weise. Es werden nicht durch exogene Kräfte Forderungen nach Wandel herangetragen (siehe etwa Machtressourcenansatz) und dann erfolgt die Reform. Vielmehr vollzieht sich Wandel graduell in folgenden typischen Formen (nach Weishaupt u. a. 2013): • Displacement und Layering: Neue Institutionen werden ganz allmählich aufgebaut oder alte bestehende Institutionen werden reaktiviert und verdrängen die alten, bisher bestehenden. • Drift: Reformen werden vernachlässigt trotz eines offensichtlichen Anpassungsbedarfs. Obwohl die Notwendigkeit zu Reformen erkannt ist und Wissen vorhanden ist, dass ein Zustand verbessert werden müsste, geschieht nichts, mehr oder weniger unbewusst. Der amerikanische Mindestlohn ist ein Beispiel: Indem keine Anpassung an das Preisniveau erfolgte, verlor er an Wert. Obwohl immer mehr Einkommen aus Finanzmarkttransaktionen erzielt werden, blockierte die Politik eine Anpassung der Steuergesetzgebung. Folglich ist die Steuer unzureichend niedrig und ein Grund für exorbitante Gewinne von Hedge-Fonds- Managern (beide Beispiele aus Hacker/ Pierson 2010). • Conversion: Bestehende sozialstaatliche Institutionen werden so sehr verändert, dass sich ihr alter Gehalt verkehrt. Beispiel sind die Rentenreformen, die das Rentenniveau kürzten und den Anteil der Alterseinkommen, die aus betrieblicher und privater Rente kommen müssen, ausweitete. Diese Ausweitung der privaten, kapitalmarktabhängigen Rentenarten wird als Aushöhlung der einkommensbezogenen <?page no="185"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Dallinger__Sozialpolitik____[Druck-PDF]/ 04.02.2016/ Seite 186 186 9. Der Wandel des Wohlfahrtsstaats Rente zu einer Grundsicherung gedeutet. Die Sozialversicherung besteht noch, jedoch ist ihr Kern geschwächt. • Exhaustment: Eigentlich funktionierende und akzeptierte Institutionen werden erschöpft, weil bestimmte Problemlagen diese überstrapazieren oder weil sich unerwünschte Folgen zeigen. Die Strategie, Frühverrentung massiv zur Reduktion der Arbeitslosigkeit in Ostdeutschland einzusetzen, wie dies nach der Wiedervereinigung geschah, erschöpft das System. Die Kosten für die GRV waren angesichts demografischer Alterung nicht mehr tragbar. 9.3 Globalisierung »globalization does not clearly cause welfare state expansion, crisis, and reduction or convergence. Ultimately, this study suggests skepticism toward bold claims about globalization’s effect on the welfare state.« (Brady et al. 2005) Nach den gängigen Auffassungen zwingt die Öffnung nationaler Märkte für den globalen wirtschaftlichen Austausch die Firmen, die an internationalen oder europäisierten Märkten bestehen wollen, zu weit mehr Effizienz. Die (Mit-)Finanzierung sozialer Sicherung wird aber im Rahmen internationaler Konkurrenz eine Bürde, die sich Firmen schwerer leisten können. Habe die Konkurrenz aus anderen Ländern lediglich geringere Sozialstandards zu finanzieren, bestehe unweigerlich ein Nachteil, der die Firma letztlich vom Markt dränge. In allen Ländern bilde sich daher langfristig ein ähnliches Sozialstaatsmodell mit lediglich minimalem Sicherheitsniveau aus. Diese Annahme über die Folgen der Globalisierung für den Wohlfahrtsstaat wird als Konvergenzthese bezeichnet. Obwohl sie populär ist, ist dieses Bild der Reduktion sozialer Leistungen auf eine Grundsicherung, die sich mit einer liberalen Wirtschaftsordnung vertrage, keineswegs bestätigt. Das Eingangszitat aus einer einschlägigen Studie zum Zusammenhang zwischen Globalisierung und dem Sozialstaat deutete dies bereits an. Gegen die Annahme eines in allen Ländern ähnlichen race to the bottom hin zu einem minimalen Sozialstaat wurde postuliert, dass es ganz entscheidend auf die jeweilige nationale Politik und ihre Reaktionen auf Globalisierung ankomme. Regierungen könnten Liberalisierung forcieren oder aber dämpfen, was meist davon abhängt, welche Partei die Regierung stellt. Zudem wird beobachtet, dass der Wohlfahrtsstaat in gewisser Weise resilient gegenüber Ausgabenkürzungen sei, da Bürger soziale Sicherheit nachfragten und die Politik dem auch nachkomme, um nicht vom Wähler für Ausgabenkürzungen bestraft zu werden (Pierson 1996; Rodrik 1998). Dem Effizienzargument wird außerdem entgegen gehalten, dass mit der wirtschaftlichen Integration in Weltmärkte zugleich die Sozialaufwendungen gestiegen seien (siehe Abb. 9.1). Die bekannt gewordene Frage des Ökonomen Dani Rodrik »Why do more open economies have bigger governments? « (1998) markiert die Position, die <?page no="186"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Dallinger__Sozialpolitik____[Druck-PDF]/ 04.02.2016/ Seite 186 www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Dallinger__Sozialpolitik____[Druck-PDF]/ 04.02.2016/ Seite 187 9.3 Globalisierung 187 die sozialwissenschaftliche Forschung zur Frage, wie sich die Globalisierung auf den Sozialstaat auswirkt, insgesamt prägt: Globalisierung ist nicht der Triumph der Ökonomie auf ganzer Linie, sondern wird von Bürgern nur durch das Versprechen des Staates akzeptiert, sozialen Schutz zu gewährleisten. Importzölle, die früher die Arbeitsplätze (und somit die Erwerbseinkommen) der Bürger in einem Land schützten, konnten in dem Moment zugunsten offener Märkte abgebaut werden, in dem die Sozialstaaten die Sicherungssysteme für die Risiken im Zusammenhang mit Erwerbsarbeit hochzogen. Statt Schutzzöllen und anderen Instrumenten zur Regulierung der Importe installieren Regierungen nun soziale Sicherheit und die Regulierung der Arbeit (das meint Kündigungsschutz, etc.). In offenen Ökonomien seien die Bürger größerer Unsicherheit ausgesetzt und forderten deshalb von der Regierung soziale Sicherung gegen das gewachsene Risiko des Arbeitsplatzverlustes. Die Expansion von sozialen Sicherungssystemen mache die Öffnung nationaler Ökonomien überhaupt erst akzeptabel für die Bürger (Rieger/ Leibfried 1998; Garrett 1998). Abb. 9.1: Entwicklung der Sozialausgaben und ökonomische Offenheit (Durchschnitt OECD Länder) Quelle: Iversen 2001: 48 mit Daten aus OECD National accounts Teil II, detaillierte Tabellen, verschiedene Jahre. Rechte Achse Trade/ Handel. Erläuterungen: Government consumption = Ausgaben für öentliche Dienstleitungen, außer Militär; Trade = Export/ Import; Transfers = monetäre Sozialleistungen; jeweils ausgedrückt in % des BIP. Anteil am BIP in % monetäre Sozialleistungen Ausgaben für öentliche Dienstleitungen, außer Militär Export/ Import 6 8 10 12 14 16 18 20 40 45 50 55 60 65 70 1950 1960 1970 1980 1990 2000 Trade/ Handel Jahr <?page no="187"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Dallinger__Sozialpolitik____[Druck-PDF]/ 04.02.2016/ Seite 188 188 9. Der Wandel des Wohlfahrtsstaats Globalisierung finde letztlich politische Grenzen, weil Bürger die wirtschaftliche Öffnung stützen müssen. Wenn nicht, können sie liberalisierungskritische Parteien des linken ebenso wie des rechten Spektrums an die Macht bringen. Da die Zustimmung der Bürger zu Projekten der Marktöffnung und Liberalisierung keineswegs selbstverständlich ist, erhalten derzeit in vielen Ländern liberalisierungskritische, rechtspopulistische Parteien Zulauf (Finnland, Dänemark, Frankreich), die Bedrohungsgefühle der Bürger durch die Europäisierung aufgreifen. Mehr ökonomische Verflechtung und mehr Sozialausgaben sind parallele Trends (siehe Abb. 9.1), die mit dem Bedarf der Bürger nach sozialer Sicherheit plausibel gemacht werden (Garrett 1998: 788). Bürger fordern den Sozialstaat in einem höheren Maße als zuvor. Denn internationale Märkte bedeuten eine riskante Interdependenz der Volkswirtschaften, die Bürger zu spüren bekommen. Und zwar als gesteigerte Volatilität, also rasches, nicht von Einzelregierungen steuerbares Auf und Ab der Konjunkturzyklen, die Wirtschaftszweige und Arbeitsplätze überflüssig machen. 58 Wer verstärkt mit dem Risiko des Arbeitsplatzverlustes rechnen muss, fragt soziale Sicherheit nach, die schwankende (Arbeits-)Marktchancen ausgleicht. Globale wirtschaftliche Verflechtungen gehörten unabdingbar mit dem domestic demand (also der Nachfrage der jeweiligen Bürger eines Landes) nach Kompensation wachsender Einkommensrisiken zusammen. Da die Bürger die globalisierte Wirtschaft nicht beeinflussen können, bleiben nationale Regierungen der Ansprechpartner, den sie adressieren. Umgekehrt bleiben Regierungen über politische Wahlen an »ihre« Bürger gebunden. Den auf Wähler angewiesenen Politikern ist der Nationalstaat nicht egal, denn hier befindet sich die politische Einheit, eben das »Wahlvolk«, von dem diese ihre Macht beziehen. Globalisierung ist also weder ein Zustand, in dem staatliche Regulierung abwesend ist, noch der Sozialstaat zurückgefahren wird, weil er ökonomisch zu belastend sei. Katzenstein (1985) betonte die eigentümliche Konstellation, in die Politik im Kontext geöffneter nationaler Märkte steuert. Die neue Wirtschaftsordnung erzeugt »Kosten«, etwa weil bestimmte Berufe ausgelagert werden und in West-Europa nicht mehr existieren, weil ganze Wirtschaftszweige abgezogen werden. Die »Kosten« tragen offensichtlich Menschen, deren Beschäftigungs- und Entlohnungschancen sich verschlechtern. Im weiteren Sinne ist mit den »Kosten« einer internationalisierten Wirtschaft aber auch die Unzufriedenheit in der Bevölkerung gemeint: Sie entwickle Unmut gegen liberale Wirtschaftspolitiken und verweigere die (politische) Zustimmung zu Liberalisierungsprojekten-- etwa gegenüber der Europäischen Union (»Euroskeptizis- 58 Beispiele für die Verflechtung und rasches Durchdringen der negativen Folgen: Durch Solarzellenproduktion in China gehen in Deutschland Arbeitsplätze verloren; die Bankenkrise in den USA durch von der Bank Lehmann Brothers vergebene »faule« Kredite (die mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht zurückgezahlt werden) erreichte auch europäische Länder und erzeugte eine schwere Wirtschaftskrise, die zahlreiche Arbeitsplätze kostet. <?page no="188"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Dallinger__Sozialpolitik____[Druck-PDF]/ 04.02.2016/ Seite 188 www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Dallinger__Sozialpolitik____[Druck-PDF]/ 04.02.2016/ Seite 189 9.3 Globalisierung 189 mus«). Für Katzenstein haben politische Eliten die Möglichkeit, solche »Eruptionen« der Unzufriedenheit der Bürger mit globalen Märkten zu verhindern. Sie seien gezwungen durch politische Arrangements die Bürger mit den sozialen Folgen der Globalisierung zu versöhnen. Der umfassend ausgebaute Sozialstaat gehört zu diesen Arrangements, die globalisierungsbedingte Unsicherheit befrieden sollen. Sozialstaatliche Politik verspricht eine gewisse Statussicherheit: »… claims for social protection and for compensatory equalization of distributional market outcomes for the politically and electorally significant groups in society had to be efficiently fulfilled before foreign trade barriers could be lowered.« (Rieger/ Leibfried 2003: 133). Man spricht daher von den wohlfahrtsdemokratischen Grundlagen der Globalisierung. Die Politik manövriert letztlich zwischen den Abwanderungsdrohungen der Unternehmen und den Sicherheitsforderungen der Bürger. Der Versuch, beidem gerecht zu werden, führt in Konstellationen, die Streeck als »Zeit kaufen« (2013: S. 79-132) beschreibt. Die Staatsschulden steigen, da Regierungen die Sicherheitsversprechen gegenüber den Bürgern nun eher mit Schulden statt mit Sozialbeiträgen und Steuern finanzieren, da sie die Wirtschaft nicht mit zusätzlichen Kosten belasten können. Gegenüber der Wirtschaft müssen sie beweisen, dass die Sozialkosten reduziert und zugleich die Arbeitsmärkte flexibilisiert werden. Gegenüber Wählern müssen sie Sicherheitsversprechen erfüllen. »Gekaufte Zeit« bedeutet, dass die Regierungen mit Staatsverschuldung beide Seiten des Konfliktes zu befrieden versuchen. Diese Staatsverschuldung ist aber riskant, da der Staat von Finanzmärkten abhängig wird, obwohl er doch den Bürgern verpflichtet sein sollte. Allerdings sollte man parallele Entwicklungen wie Abbildung 9.1 sie zeigt, nicht bereits als ursächlichen Zusammenhang interpretieren. Die Außenhandelsbilanz und Sozialausgaben können steigen, ohne kausal zusammenzuhängen, ohne dass ein Überschuss des Außenhandels (als Indikator wirtschaftlicher Globalisierung) mehr Sozialausgaben verursacht. Das Folgende bietet weitere Argumente und Fakten, die dazu auffordern, einen einfachen kausalen Zusammenhang zwischen global eingebundenen Volkswirtschaften und hohen Sozialausgaben zu hinterfragen. Lässt sich »domestic demand« bestätigen? Um die domestic demand-These auch empirisch zu beleuchten, könnte man zunächst prüfen, ob der Umfang an Globalisierung und die Arbeitslosigkeit zusammenhängen. Denn eine zentrale Aussage des domestic demand-Ansatzes ist ja, dass ökonomisch in internationale Märkte eingegliederte Länder höhere wirtschaftliche Volatilität aufweisen und so ein höheres Risiko des Arbeitsplatzverlusts nach sich ziehen (die dann weiter Menschen dazu bringt, sich einen ausgebauten Sozialstaat zu wünschen). Dazu benötigt man zunächst einen Indikator für Globalisierung. Dazu existieren verschiedene Möglichkeiten: Die wirtschaftliche Offenheit wird anhand der Handelsbilanz (Differenz zwischen Ex- und Importen), anhand des Umfangs ausländischer <?page no="189"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Dallinger__Sozialpolitik____[Druck-PDF]/ 04.02.2016/ Seite 190 190 9. Der Wandel des Wohlfahrtsstaats Direktinvestitionen (FDI) oder anhand von Maßzahlen zur Regulierung von Kapitalmärkten und zum Umfang internationaler Kapitalflüsse ermittelt. Diese einzelnen Dimensionen kann man auch zu Indizes wie den KOF-Index zusammenfassen, der wirtschaftliche Offenheit beim Handel, bei der Produktion und bei finanziellen Transaktionen addiert (Dreher 2006). 59 Man erkennt in Abbildung 9.3, dass die Einbindung der Länder in internationale wirtschaftliche Austauschbeziehungen bis zum Jahr 2000 intensiver wurde, dann aber etwas abflachte oder leicht rückläufig war. Die Bundesrepublik Deutschland liegt im Mittelfeld; kleine Länder wie Dänemark oder die Niederlande sind weitaus mehr geöffnet, die USA auffällig wenig. Die Phase von 1970 bis 1980 oder 1990 (je nach Land) ist auch die Zeit der sozialstaatlichen Expansion. Findet man nun empirisch auch einen Zusammenhang zwischen Globalisierung und Arbeitslosigkeit? Dies wäre nach den Annahmen der domestic demand-Hypothese plausibel, da ökonomische Unsicherheit Bürger dazu bringt, sich Erwerbseinkommen ersetzende Sozialleistungen zu wünschen und als Wähler entsprechend Druck auszuüben. 59 Der KOF Index setzt sich zusammen zum einen aus Variablen, die die mit Globalisierung verbundenen Gelegenheiten (etwa Handelssaldo als Anteil des BIP, Umfang der Auslandsdirektinvestitionen, Wertpapieranlagen) erfassen und zum anderen die Restriktionen wie Importbarrieren, Zollraten, Steuern für internationalen Handel erfassen. Abb. 9.2: Entwicklung der ökonomischen Offenheit Quelle: Eigene Darstellung nach Daten bei: www.globalization.kof.ethz.ch 40 50 60 70 80 90 100 1970 1980 1990 1995 2000 2005 2010 DE FR GB USA SE DK NO <?page no="190"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Dallinger__Sozialpolitik____[Druck-PDF]/ 04.02.2016/ Seite 190 www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Dallinger__Sozialpolitik____[Druck-PDF]/ 04.02.2016/ Seite 191 9.3 Globalisierung 191 Wenn man zunächst die Arbeitslosenquote und wirtschaftliche Offenheit für mehrere Länder und Jahre korreliert-- Abbildung 9.3 verwendet wegen der besseren Lesbarkeit nur sechs Länder, auf die in diesem Buch immer wieder Bezug genommen wird- -, dann ergibt sich durchaus, dass höhere Werte des Globalisierungsindex und mehr Arbeitslosigkeit schwach zusammenhängen. Mit der gezeigten Länderauswahl erhält man einen positiven Korrelationskoeffizienten von- .31 (signifikant auf dem 5 % Niveau). Erweitert man die Länderauswahl um Belgien und Österreich, wird der positive Zusammenhang noch stärker. 60 Also weisen ökonomisch stärker in internationale Austauschbeziehungen integrierte Länder tendenziell eine höhere Arbeitslosigkeit auf. Zu bedenken ist aber, dass selbstverständlich weitere Faktoren die Höhe der Arbeitslosigkeit determinieren. Der von domestic demand angenommene Zusammenhang zwischen der Öffnung der nationalen Volkswirtschaft für internationale Austauschbeziehungen und den Sozialausgaben trifft langfristig zu, ist aber kein pauschaler Trend. 61 Die jeweilige Umgangsweise eines Landes mit den Risiken der Globalisierung für die eigenen Arbeitsmärkte spielt eine wichtige Rolle. 60 Der Korrelationskoeffizient wird nun höchst signifikant und liegt bei -.43. 61 Wenn man einzelne Jahre etwa für Deutschland nachvollzieht, erkennt man gut diesen tendenziell, aber eben nicht 100 %igen Zusammenhang. Abb. 9.3: Offene Wirtschaft und Arbeitslosigkeit Anmerkungen: Arbeitslosenquote in % der zivilen Labor Force, jährlicher Durchschnitt. Quelle: Eigene Darstellung nach Daten bei: stats.oecd.org. DE70 DE75 DE80 DE85 DE90 DE95 DE00 DE05 DE10 FR70 FR75 FR80 FR85 FR90 FR95 FR00 FR05 FR10 GB70 GB75 GB80 GB85 GB90 GB95 GB00 GB05 GB10 NO70 NO75 NO80 NO85 NO90 NO95 NO00 NO05 NO10 SE70SE75 SE80 SE85 SE90 SE95 SE00 SE05 SE10 US70 US75 US80 US85 US90 US95 US00 US05 US10 0 5 10 Arbeitslosenquote in % 40 50 60 70 80 90 KOF <?page no="191"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Dallinger__Sozialpolitik____[Druck-PDF]/ 04.02.2016/ Seite 192 192 9. Der Wandel des Wohlfahrtsstaats Im domestic demand-Ansatz haben die Wählerforderungen einen zentralen Stellenwert. Bürger bzw. Wähler sind die Akteure, die Regierungen zu Reaktionen entsprechen der Wünsche der Bürger antreiben. Die Politik muss die Folgen der Globalisierung für den Arbeitsmarkt entsprechend der Präferenzen der Bürger abfedern, will sie an der Macht bleiben und nicht für wachsende Risiken bestraft werden. 62 Demnach wäre zu erwarten, dass mit der Offenheit der Ökonomie auch die Forderungen der Bürger nach einer umfassenden sozialen Sicherung wachsen, insbesondere im Falle von Arbeitslosigkeit. Abbildung 9.4 prüft diesen Zusammenhang. Die Zahlen zeigen lediglich die Veränderung (Differenz) zwischen 1996 und 2006 sowohl für die wirtschaftliche Offenheit als auch für die Wählerforderungen. Nach der domestic demand-These müsste in Ländern mit einer in diesem Zeitraum größeren Globalisierung auch die »Binnennachfrage« der Bürger zur Ausweitung der materiellen Absicherung Arbeitsloser ansteigen. Dies ist aber nicht durchgängig der Fall. Deutschland wie auch Frankreich verzeichnen einen im Rahmen der gezeigten Länder moderaten Zuwachs an Globalisierung und ebenfalls der Zustimmung dazu, dass der Staat die Sicherung Arbeitsloser ausweiten solle. In den beiden skandinavischen Ländern verändert sich wenig. Schweden war bereits 1996 am meisten globalisiert, in Norwegen geht der Wert leicht zurück. Die beiden liberalen Länder bieten ein konträres Bild. Eine geringe Zunahme des KOF in Großbritannien wird begleitet von rückläufigen Forderungen, die materielle Sicherheit Arbeitsloser zu verbessern. In den Vereinigten Staaten legte der Wunsch bei Arbeitslosigkeit gesichert zu sein, stark zu, was sich mit der geringen Absicherung überhaupt erklärt. Aber Globalisierung wuchs nur wenig bei einem insgesamt niedrigen Niveau. Das stärkste Wachstum der ökonomischen Offenheit verzeichneten die postsozialistischen Länder Polen und Ungarn, jedoch wuchs die Zustimmung zu einer besseren materiellen Absicherung Arbeitsloser kaum. Mit anderen Worten: jede Kombination ist möglich. Dies bestätigt nun gerade nicht, dass die Nachfrage der Bürger nach sozialer Sicherheit in jenen Ländern steigt, die sich wirtschaftlich für globale Märkte öffnen. Die Wirkungskette trifft also nicht exakt so zu wie es nach der verbreiteten domestic demand Hypothese gedacht wird. Bei näherem Hinsehen (mit Hilfe multivariater Verfahren, die hier nicht dargestellt werden) stellt sich ein komplexerer Zusammenhang heraus. Höhere Arbeitslosigkeit hat nicht in allen Bevölkerungsgruppen gleichermaßen den Effekt, dass die Zustimmung zu mehr Sozialausgaben zugunsten der Arbeitslosen steigt. Bei den direkt Betroffenen, den Arbeitslosen, wächst zwar wie zu erwarten ist die Haltung, dass Regierungen Arbeitslosigkeit besser absichern müssten. Bei der restlichen, nicht persönlich durch Arbeitslosigkeit betroffenen Bevölkerung, die aber zumindest eine gewisse Jobunsicherheit spürt, sinkt die Unterstützung für Arbeitslose. Die Unsicherheit wegen des eigenen möglichen Jobverlusts schmälert also 62 Das erzeugt den widersprüchlichen Effekt, dass trotz der Einsparzwänge sozialstaatliche Programme ausgebaut werden. <?page no="192"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Dallinger__Sozialpolitik____[Druck-PDF]/ 04.02.2016/ Seite 192 www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Dallinger__Sozialpolitik____[Druck-PDF]/ 04.02.2016/ Seite 193 9.3 Globalisierung 193 die Bereitschaft, für die materielle Absicherung der wirklich Betroffenen (Arbeitslose) einzutreten. Oder anders gesagt: Um ihren Job fürchtende Bürger befürworten sogar, dass für Arbeitslose weniger ausgegeben wird. Vermutlich wirkt hierbei die Angst, dass hohe Sozialabgaben auch den eigenen Job gefährden (Dallinger 2014). Bivariate Analysen zwischen nur zwei Merkmalen können nicht endgültig klären, welche Nettoeffekte die Globalisierung im Zusammenspiel mit weiteren Faktoren hat. Das gelingt erst mit multivariaten Verfahren. Es dürfte aber deutlich geworden sein, dass eine domestic demand-Theorie, die mit zunehmender Arbeitsplatzunsicherheit der Bürger und entsprechenden sozialpolitischen Forderungen die Sozialstaatsexpansion oder -stabilität erklären will, zu pauschale Aussagen macht. Die Folgen wirtschaftlicher Öffnung sind zu heterogen für einzelne Gruppen, als dass man eine einheitliche Reaktion ableiten könnte. Plausibel scheint aber, dass Bürger ab dem Moment, in dem Regierungen Arbeitsplätze und damit die Möglichkeit ein Einkommen zu erzielen, nicht mehr durch Protektion schützen, soziale Sicherungssysteme erweitert werden müssen. Denn so viel konnte bestätigt werden: Langfristig steigt mit ökonomischer Offenheit das Niveau der Arbeitslosigkeit. Abb. 9.4: Veränderung der ökonomischen Offenheit und der Wählernachfrage nach sozialer Sicherung bei Arbeitslosigkeit zwischen 1996 und 2006. (gezeigt wird die jeweilige Differenz zwischen den beiden Jahren) Quelle: Eigene Darstellung nach dem KOF-Index für wirtschaftliche O enheit (www.globalization.kof.ethz.ch) und den Präferenzen für Ausgaben der Regierung für Arbeitslose nach ISSP 1996 und 2006, Modul »Role of Government«. -10 -5 0 5 10 15 20 25 DE FR SE NO GB US PL HU ökon. O enheit (KOF) mehr soz. Sicherung f. Arbeitslose <?page no="193"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Dallinger__Sozialpolitik____[Druck-PDF]/ 04.02.2016/ Seite 194 194 9. Der Wandel des Wohlfahrtsstaats 9.4 Interne Gründe: De-Industrialisierung und neue-soziale-Probleme Statt der Globalisierung wird ebenso der interne Wandel in den wohlhabenden postindustriellen Ländern als die Ursache sozialstaatlichen Wandels gesehen. Zu den postindustriellen Problemen zählen die wachsende Zahl alter und sehr alter Menschen oder der Wandel der privaten Lebensformen mit mehr Scheidungen und Alleinerziehenden, die nur einen, meist weiblichen Haushaltsvorstand und Einkommensbezieher haben. Der Wandel zur postindustriellen Dienstleistungsgesellschaft geht weiter einher mit dem Rückgang industrieller Beschäftigung. Somit wird Produktivität gedrosselt und es gibt weniger vollwertige Beschäftigung in einem Normalarbeitsverhältnis mit Sozialversicherungsabgaben. Mit der Ausbreitung flexibler Beschäftigungsformen in den vergangenen Jahren-- die weniger Sozialbeiträge, in die Kassen spülen-- wird die Finanzierungsbasis schmaler. Der sozialpolitische Spielraum wird somit enger. Ein Faktor, der neue soziale Probleme entstehen lässt, ist die Zuwanderung: Personen nicht-deutscher Herkunft sind oft schlechter in den Arbeitsmarkt integriert und somit auf Sozialleistungen angewiesen. Die De-Industrialisierung sorgt dafür, dass klassische Kräfte, die für den umfassenden Sozialstaat wirkten, schwächer werden: Bekanntlich gingen die Mitgliederzahlen von Gewerkschaften oder sozialdemokratischen Parteien deutlich zurück. Auch verschwindet mit der De-Industrialisierung der vergemeinschaftende Aspekt der Arbeit in großen Industriebetrieben. Diese typische Form industrieller Arbeit habe die gleiche Identität der Angelernten und qualifizierten Facharbeiter gefördert, die aber im Dienstleistungssektor fehle. Mit den Beschäftigungsverlusten bei den traditionellen industriellen Jobs schrumpft nicht nur die Interessenbasis, sondern die ganze Ausrichtung des Sozialversicherungsstaats. Der Sozialstaat, der einst entstanden war um die Einkommensrisiken der Erwerbstätigen bei Alter, Krankheit und Arbeitslosigkeit abzusichern, werde obsolet. Folglich ist der herkömmliche Sozialstaat nur unzureichend an neue soziale Probleme angepasst. Die Pflege- und die Familienpolitik der letzten Jahre holten aber in Bezug auf die Adaption an postindustrielle Problemlagen kräftig nach. Der sektorale Wandel förderte also ebenso wenig wie Globalisierung einen Rückbau sozialstaatlicher Leistungen und Dienste. Im Gegenteil wachse das Interesse an einer kollektiven Lösung für mit dem sektoralen Wandel verbundene Risiken. »… with the transition to more knowledge-intensive forms of production, firms that rely on firmand industry-specific skills share with their employees an interest in strengthening the aspects of the welfare state that reduces the riskiness for workers of making investments in specific skills.« (Iversen/ Soskice 2000: 326) In einer Wissens- oder Dienstleistungsgesellschaft bestehe ebenso großes Interesse an den Leistungen der kollektiven Risikovorsorge. Parteienwettbewerb steigert eher noch den Ausbau, da sich jede Partei profilieren möchte (Leibfried/ Obinger 2003). <?page no="194"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Dallinger__Sozialpolitik____[Druck-PDF]/ 04.02.2016/ Seite 194 www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Dallinger__Sozialpolitik____[Druck-PDF]/ 04.02.2016/ Seite 195 9.5 Fazit 195 9.5 Fazit Die Diagnose eines »race to the bottom« und eines Schrumpfens der Sozialstaaten auf Grundsicherungsniveau trifft sicherlich nicht zu. Die alternativen Ansätze zum Zusammenhang zwischen globaler Wirtschaft und Sozialstaat schaffen letztlich aber ebenso wenig Klarheit. Einfache Antworten sind-- wie oft-- nicht verfügbar. Jenseits heterogener Resultate besteht dennoch zumindest Konsens in Bezug darauf, dass interne Faktoren wie die Bevölkerungsalterung sehr viel stärker die Entwicklung der Sozialausgaben bestimmen als es die Einbindung nationaler Ökonomien in globale Märkte tun. Der Retrenchment-Ansatz, aber auch andere Beobachter betonen die bemerkenswerte Stabilität sozialstaatlicher Ausgaben und schreiben diese Resistenz risiko-aversen Bürgern und mächtigen organisierten Interessengruppen gegenüber dem Rückbau solcher sozialen Programme zu, die ihrer Wohlfahrt zu Gute kommen. Kürzungspolitik kann lediglich in jenen Feldern greifen, in denen nur kleine Wählergruppen betroffen sind, oder in denen sich keine schlagkräftigen Interessengruppen wehren. Kürzungsbestrebungen, die nach neoliberalen Diagnosen unumgänglich scheinen, konnten nicht oder in wesentlich geringerem Umfang durchgesetzt werden als erwünscht. Reife Wohlfahrtsstaaten sind schwer zu reformieren wegen institutioneller Verfestigungen, zahlreicher Wählerinteressen und Interessengruppen, die der Staat selbst generiert hat. Viele der diskutierten Erklärungen für wohlfahrtstaatlichen Wandel stellen die Wählerinteressen und die Strategien der vom Wähler abhängigen politischen Eliten in den Mittelpunkt. Stets wird unterstellt, die wirtschaftlichen Risiken, die mit offenen Ökonomien und dem sektoralen Wandel zur Dienstleistungsgesellschaft noch wüchsen, ließen den »demand« der Menschen nach materieller Sicherheit, die der Staat am besten garantiert, wachsen. Demgegenüber ist aber zu bedenken: Die Bürger sind in unterschiedlicher Weise durch volatile Märkte verwundbar; aber Geringqualifizierte sind am meisten betroffen. Ein einheitliches Interesse an mehr staatlicher sozialer Sicherheit ist unwahrscheinlich. Manche sehen sich als Finanzierer des Sozialstaats, die ihn weniger benötigen. Das erzeugt Brüche, die Theorien zu einem einheitlichen domestic demand nicht fassen. Die Diagnose der Stabilität des Sozialstaats ist an der Vergangenheit abgelesen. Für die künftige Entwicklung ist dies kaum realistisch. Auch treffen Staatsverschuldung und Finanzkrise die europäischen Länder höchst unterschiedlich, was länderübergreifende Diagnosen verbietet. In Deutschland sind sowohl Leistungsausbau (Pflege, Familien) als auch Kürzungspolitik (Arbeitslose) nebeneinander möglich. <?page no="195"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Dallinger__Sozialpolitik____[Druck-PDF]/ 04.02.2016/ Seite 196 <?page no="196"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Dallinger__Sozialpolitik____[Druck-PDF]/ 04.02.2016/ Seite 196 www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Dallinger__Sozialpolitik____[Druck-PDF]/ 04.02.2016/ Seite 197 197 Abbildungsverzeichnis Abb. 1.1: Entwicklung der Sozialausgaben in ausgewählten Ländern, 1980-2014 20 Abb. 1.2: Sozialausgaben nach Funktionen im Ländervergleich 2012 (in % aller Sozialausgaben) 23 Abb. 2.1: Modernisierungsgrad (Bruttoinlandsprodukt pro Kopf ) und Höhe der Sozialausgaben (in-% des BIP) 29 Abb. 2.2: Soziale Rechte nach dem Generosity-Index, 1975-2010 41 Abb. 3.1: Bruttolohn- und Brutto-Gewinnquote in Deutschland 1970-2010 48 Abb. 3.2: Einkommensarten und Stufen der Verteilungsprozesse 50 Abb. 3.3: Lorenzkurve 52 Abb. 3.4: Wandel der Einkommensungleichheit und der Umverteilung-- Gini-Index 54 Abb. 3.5: Die Entwicklung des Gini-Index für Markt- und verfügbare Haushaltseinkommen, angelsächsisch-liberale und europäische Länder 1980-2010 55 Abb. 3.6: Anteile einzelner Quintile am gesamten Markteinkommen des Landes (2010) 58 Abb. 3.7: Umverteilung durch den Sozialstaat im Wandel (1985-2010) 59 Abb. 3.8: Armutsquote (50 %) in der Erwerbsbevölkerung und bei Kindern/ Jugendlichen (0-17 Jahre) im Ländervergleich (2010) 67 Abb. 3.9: Armutsgefährdung (60 %) und Erwerbsbeteiligung. Haushalte mit Kindern unter 6 Jahren 68 Abb. 4.1: Who is who im Erwerbsleben? 73 Abb. 4.2: Entwicklung der Erwerbstätigenquote 1980-2012 74 Abb. 4.3: Arbeitslosenquote in Deutschland von 1992 bis 2014-- nach beruflicher Qualifikation 75 Abb. 4.4: Entwicklung der Erwerbslosenquote im Ländervergleich, 1960-2013 78 Abb. 4.5: Netto-Lohnersatzrate 2001 und Änderung der Arbeitslosenquote 2001-2006 84 Abb. 4.6: Formen der Arbeitsmarktpolitik 88 Abb. 4.7: Netto-Lohnersatzraten nach Dauer der Arbeitslosigkeit, 2001 und 2012 95 Abb. 4.8: Wandel der Beschäftigungsformen in Deutschland 2003-- 2010, nach Geschlecht 96 Abb. 5.1: Das Mehrsäulensystem der Alterssicherung 102 Abb. 5.2: Der Einkommensmix von Älteren 1995 105 <?page no="197"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Dallinger__Sozialpolitik____[Druck-PDF]/ 04.02.2016/ Seite 198 www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Dallinger__Sozialpolitik____[Druck-PDF]/ 04.02.2016/ Seite 199 198 Abbildungsverzeichnis Abb. 5.3: Netto-Ersatzrate aller Renten im Verhältnis zum früheren Einkommen, Durchschnittsverdiener, nur Männer, nur verpflichtende Renten (staatlich, betrieblich und privat) 110 Abb. 5.4 : Armutsquote (50 %) Älterer im Vergleich zur Bevölkerung im-Erwerbsalter, Beveridge- und Bismarckländer (ca. 2005) 114 Abb. 5.5: Entwicklung des Altenquotienten-- Zahl 65+-Jährige je 100 Personen zwischen 20 und 64 Jahren 116 Abb. 5.6: Entwicklung der Alterslastquote-- old age support ratio-- im-internationalen Vergleich 117 Abb. 6.1: Die demografische Lücke: Anteil der über 80-Jährigen an der Bevölkerung von 20 bis 64 Jahren 128 Abb. 6.2: Öffentliche Ausgaben für Altenpflege 2005 (in % des BIP) 134 Abb. 7.1: Das Wohlfahrtsdreieck der Aufteilung der Sorgearbeit 152 Abb. 7.2: Öffentliche Ausgaben für verschiedene familienpolitische Leistungen in Prozent des BIP, 2011 155 Abb. 7.3: Prozentsatz aller Kinder unter 3 Jahren in formeller Kinderbetreuung 2005 und 2013 (Nutzungsquoten) 158 Abb. 7.4: Zusammenhang zwischen Frauenerwerbstätigkeit und Geburten (2013) 161 Abb. 8.1: Entwicklung der Gesundheitsausgaben, als Anteil des Bruttoinlandsproduktes (öffentliche und private Ausgaben zusammen) 166 Abb. 8.2: Entwicklung der privaten Gesundheitsausgaben (Anteil am BIP) 167 Abb. 8.3: Komplexe Steuerungshierarchie im deutschen Gesundheitswesen 171 Abb. 9.1: Entwicklung der Sozialausgaben und ökonomische Offenheit (Durchschnitt OECD Länder) 187 Abb. 9.2: Entwicklung der ökonomischen Offenheit 190 Abb. 9.3: Offene Wirtschaft und Arbeitslosigkeit 191 Abb. 9.4: Veränderung der ökonomischen Offenheit und der Wählernachfrage nach sozialer Sicherung bei Arbeitslosigkeit zwischen 1996 und 2006. (gezeigt wird die jeweilige Differenz zwischen den beiden Jahren) 193 <?page no="198"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Dallinger__Sozialpolitik____[Druck-PDF]/ 04.02.2016/ Seite 198 www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Dallinger__Sozialpolitik____[Druck-PDF]/ 04.02.2016/ Seite 199 199 Tabellenverzeichnis Tab. 1.1: Sozialstaatsexpansion zwischen 1950 und 1975 in ausgewählten Ländern 21 Tab. 1.2: Staatliche (und staatlich angeordnete) Sozialausgaben in % des-Bruttoinlandsproduktes-- Vergleich der Brutto- und Nettoausgaben, 2003 22 Tab. 1.3: Was erreicht der Sozialstaat in Deutschland? 23 Tab. 2.1: Machtressourcen-- was bestimmt die Leistungshöhe bei Arbeitslosigkeit? 35 Tab. 3.1: Entwicklung der Armut im Ländervergleich 1980-2010 (50 %) 63 Tab. 3.2: Armutsquote (50 %) nach Haushaltsformen 2010 im Ländervergleich 65 Tab. 3.3: Frauenerwerbsquoten nach Qualifikation und Kindern, Schweden und Deutschland 69 Tab. 4.1: Netto-Lohnersatzrate von Leistungen bei Arbeitslosigkeit 2001 und 2012 nach Haushaltsform 93 Tab. 4.2: Armutsgefährdung in nichtregulären Beschäftigungsverhältnissen 98 Tab. 4.3 : Übergänge aus Nichterwerbstätigkeit in Erwerbstätigkeit, in % 99 Tab 5.1: Netto-Ersatzraten der staatlichen Rente und weiterer verpflichtender privater Renten, in % der Erwerbseinkommen, für unterschiedliche Einkommensstufen 111 Tab. 5.2: Der »Preis« der Alterssicherung: Anteil der Rentenausgaben am-Bruttoinlandsprodukt und Beitragshöhe im Vergleich 113 Tab. 6.1: Wandel des Anteils verschiedener Altersgruppen in Deutschland in %, 2008-- 2060 129 Tab. 6.2: Wie werden ältere Pflegebedürftige versorgt? 131 Tab. 6.3: Pflegestufen und Leistungen der Pflegeversicherung ab 1.1.2015 (in Euro) 137 Tab. 6.4: Leistungsanbieter in der Altenpflege, 1999 und 2011 141 Tab. 6.5: Entwicklung der Beschäftigung 143 Tab. 6.6: Entwicklung der Professionalität 144 Tab. 7.1: Entwicklung der Geburtenraten zwischen 1960 und 2013 150 Tab. 8.1: Gesundheitssystem-Typen 169 Tab. 9.1: Änderung der Lohnersatzrate in % zwischen 1975 und 1995 (Niveau) 180 <?page no="199"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Dallinger__Sozialpolitik____[Druck-PDF]/ 04.02.2016/ Seite 200 www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Dallinger__Sozialpolitik____[Druck-PDF]/ 04.02.2016/ Seite 201 200 Tabellenverzeichnis Tab. 9.2: Durchschnittliches jährliches Wachstum der gesamten Sozialausgaben (zu konstanten Preisen) pro Person der abhängigen Bevölkerung (Ältere, Arbeitslose), 1960-1993 181 <?page no="200"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Dallinger__Sozialpolitik____[Druck-PDF]/ 04.02.2016/ Seite 200 www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Dallinger__Sozialpolitik____[Druck-PDF]/ 04.02.2016/ Seite 201 201 Literatur Abraham, Martin/ Hinz, Thomas (2005), Theorien des Arbeitsmarktes. 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Äquivalenzgewichte sorgen dafür den unterschiedlichen Bedarf Arbeitslosigkeit (nach deutschem Sozialrecht SGB III, § 16 und § 138). Eine Person ist arbeitslos, wenn sie nicht in einem Beschäftigungsverhältnis steht, arbeitslos gemeldet ist, den Vermittlungsbemühungen der Arbeitsagentur zur Verfügung steht, unter 65 Jahre (Regelaltersgrenze) alt ist und mindestens 15 Stunden pro Woche eine zumutbare Beschäftigung ausüben kann. Armutsgefährdungsquote: Anteil der Personen an der Gesamtbevölkerung, deren Einkommen weniger als 60 % des Medianeinkommens eines Landes beträgt. Armutsquote: Anteil der Personen an der Gesamtbevölkerung mit weniger als 50 % des Medianeinkommens in einem Land. Beitragsbemessungsgrenze: Obergrenze beim Einkommen, bis zu der Sozialbeiträge an die verschiedenen Zweige der Sozialversicherung zu entrichten sind. Beveridgesystem: Prototyp des Sozialstaats, der auf das Vermeiden von Armut und eine soziale Mindestsicherung zielt. Soziale Programme werden eher durch Steuern finanziert. Bismarcksystem: Prototyp des Sozialstaats, der eine lohnarbeitsbezogene soziale Sicherung bedeutet, die vorrangig die Standardrisiken im Lebenslauf der abhängig Beschäftigten abfedern soll. Defined contributions: Rentenpolitische Richtgröße, bei der die Beitragshöhe Erwerbstätiger einen bestimmten Prozentsatz nicht übersteigen soll. Bei defined benefits ist eine bestimmte Rentenhöhe die Richtschnur. De-Kommodifizierung: Durch Soziale Sicherungssysteme erzielte Abschwächung der Notwendigkeit, die Arbeitskraft zu jeder Bedingung (bzgl. Entlohnung oder Arbeitszeit), auf dem Arbeitsmarkt anzubieten. De-Familiarisierung: Umfang, in dem Wohlfahrtsstaaten Alternativen zur Versorgung von älteren Pflegebedürftigen durch die Familie einrichtet. Gegenteil: Familialismus: <?page no="211"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Dallinger__Sozialpolitik____[Druck-PDF]/ 04.02.2016/ Seite 212 www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Dallinger__Sozialpolitik____[Druck-PDF]/ 04.02.2016/ Seite 213 212 Glossar Zuschreibung der Verantwortung für Pflege an die Familie, i. d. R. die Zuständigkeit der Frau. Einkommenspakete (income-packaging): Begriff betont, dass Personen/ Haushalte in der Regel Einkommen aus diversen Quellen beziehen (z. B. die gesetzliche Rente und Einnahmen aus Vermietung; Arbeitseinkommen und Kindergeld) und die je spezifische Zusammensetzung für komparative Wohlfahrtsstaatsanalysen aufschlussreich ist. Erwerbslosigkeit: International vergleichbare Definition der International Labour Organisation (ILO). Danach ist erwerbslos, wer weniger als 1 Std. in der Woche gegen Entgelt arbeitet, sich aktiv um Arbeit bemüht und innerhalb von 2 Wochen für eine Arbeit verfügbar ist. Eurosklerose: Populärer Begriff für ein geringes Arbeitsplatzangebot wegen einer ausgebauten sozialen Sicherung und regulierten industriellen Beziehungen. Free riding: Bezeichnet den Anreiz, die Kollektivgüter zu nutzen, ohne einen eigenen Beitrag zu leisten. Daher ist eine übergeordnete Instanz nötig, in der Regel ist das heute der Staat, die die Beiträge aller überwacht, etwa durch einen Versicherungszwang. Funktionale Verteilung: Aufteilung der gesamtwirtschaftlichen Einkommen einer Volkswirtschaft auf die Produktionsfaktoren Kapital und Arbeit. Generosity-Indizes: Indikatoren zum Umfang sozialer Rechte, die in der vergleichenden Sozialpolitikforschung verwendet werden, um die Qualität der sozialen Sicherung zu erfassen. Gini-Index: Indikator zur Messung der Einkommensverteilung. Erfasst das Ausmaß der Abweichung der empirischen Einkommensverteilung von einer theoretischen Gleichverteilung. Werte i. d. R. zwischen 0 und 1; höhere Werte stehen für mehr Ungleichheit. GRV: Gesetzliche Rentenversicherung. Inaktivitätsfalle/ Inactivity trap: Anreiz durch relativ hoch bemessene Sozialtransfers an Arbeitslose, nicht am Arbeitsmarkt teilzunehmen. Kapitaldeckungsverfahren: Finanzierungsverfahren für Altersrenten, bei dem Beitragszahlungen einen Kapitalstock bilden, der spätere Rentenzahlungen deckt. Mehrsäulensystem: Bezeichnet die Tatsache, dass die finanzielle Sicherung älterer Menschen über der Altersgrenze auf staatlichen, betrieblichen und privaten Renten beruht. Modernisierungstheorie: Geht davon aus, dass sich durch den Wandel zu neuen Lebens- und Erwerbsarbeitsformen des Industriezeitalters funktionale Erfordernisse ausbilden, die den Sozialstaat nötig machen. <?page no="212"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Dallinger__Sozialpolitik____[Druck-PDF]/ 04.02.2016/ Seite 212 www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Dallinger__Sozialpolitik____[Druck-PDF]/ 04.02.2016/ Seite 213 Glossar 213 Machtressourcenansatz: Sozialstaaten sind das Resultat von Verteilungskonflikten, die im Rahmen eines demokratisch gezähmten Klassenkampfes ausgetragen werden. Moral hazard: menschliches Verhalten, die Leistungen einer Versicherung auch dann in Anspruch zu nehmen, wenn kein Versicherungsfall besteht, um eigene Einzahlungen »auszugleichen«. NAV (Normalarbeitsverhältnis): Unbefristete, tariflich entlohnte Vollzeit-Beschäftigung mit Integration in alle sozialen Sicherungssysteme (Renten-, Arbeitslosen-, Kranken- und Pflegeversicherung). Begriff wird seit den 90er Jahren als normatives Konzept genutzt, um Trends der Flexibilisierung von Arbeit zu analysieren. Opportunitätskosten: Entgangener Nutzen wegen einer nicht realisierten Handlungsalternative. PflegeV: Pflegeversicherung Reservationslohn: Annahme einer Untergrenze, unter die Löhne nicht sinken können, da wegen attraktiverer Transferleistungen für Arbeitslose diese Arbeitsplätze nicht aufgenommen zu werden. Perzentile/ -vergleiche: Indikator der Einkommensungleichheit. Basiert auf der Disproportionalität zwischen Bevölkerungsanteil und deren Anteil am Gesamteinkommen. Hat ein Zehntel der Bürger (Dezil) weniger/ mehr als 10 % der Gesamteinkommen? Wie ist das Verhältnis zwischen dem Anteil des obersten und des untersten Bevölkerungszehntels (90/ 10-Ratio)? Resilienz: Widerstandsfähigkeit des Sozialstaats gegenüber Kürzungspolitik. Retrenchment: Begriff zur Bezeichnung der spezifischen Strategien der Regierungen um Rückbau/ Kürzungspolitik möglich zu machen. Risikopools: Kollektivgüter wie soziale Sicherungssysteme, Bildungswesen oder auch Abwassersysteme zur Absicherung gegen soziale Risiken, die durch individuelles Sparen schwerer einzurichten wären. Das Zusammentragen von Sozialbeiträgen schafft Risikopools, da Menschen mit unterschiedlichen, aber unbekanntem Risiko z. B. arbeitslos oder krank zu werden »zusammenlegen«. Skilled biased technological change (SBCT): Verstärkte Nachfrage nach höheren Qualifikationen im Zuge des technologischen Wandels. Stille Reserve: nicht arbeitslos gemeldete Personen, die jedoch für den Arbeitsmarkt verfügbar sind und unter besseren Bedingungen eine Erwerbsarbeit aufnehmen würden. Stratifizierung: Wohlfahrtsstaatlichen Programme prägen die Strukturen sozialer Ungleichheit. <?page no="213"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Dallinger__Sozialpolitik____[Druck-PDF]/ 04.02.2016/ Seite 214 www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Dallinger__Sozialpolitik____[Druck-PDF]/ 04.02.2016/ Seite 215 214 Glossar Targeting: Grundidee der Ausrichtung der Sozialpolitik an den Bedürftigsten, was hohe Zielgenauigkeit erreiche. Tertiarisierung: Verschiebung der Arbeitsplätze in den tertiären Sektor beim Übergang zur Dienstleistungsgesellschaft. Vermarktlichung: Tendenz des zunehmenden Einbaus privatwirtschaftlicher Elemente in die diversen Sozialprogramme angefangen von der Zulassung gewerblicher Anbieter in der Pflege Älterer bis hin zu privater Vorsorge für die Alterssicherung, etc.. Welfare effort: Alle Aufwendungen eines Landes für soziale Sicherheit und sozialen Ausgleich unter den Bürgern, meist dargestellt mit Hilfe des Anteils, den die Sozialausgaben am Bruttoinlandprodukt ausmachen. Workfare: Bezeichnung für im Rahmen der neuen Arbeitsmarktpolitik etablierte Maßnahmen zur Aktivierung Arbeitsloser durch Leistungssenkung, verschärfte Zumutbarkeit und stärkerer Kontrolle der Eigenbemühungen bei der Arbeitssuche. Working poor: Beschäftigte mit weniger als 66 % des Durchschnittseinkommens Soziale Staatsbürgerrechte: Gedanke einer historisch allmählichen Ausweitung der Bürgerrechte, die rechtliche, politische und zuletzt soziale Gleichheit der Bürger anstreben. Bieten Status jenseits des am Arbeitsmarkt erworbenen Status. Varieties of Welfare Capitalism: Unterscheidung zwischen liberalen, konservativen und sozialdemokratischen »Welten des Wohlfahrtskapitalismus«, die jeweils divergierende Modelle des Sozialstaats verkörpern. Varieties of Capitalism (VoC): Unterscheidung liberaler und koordinierter Produktionsregime. Diese sind zwei Formen der Organisation privatgewerblicher Marktwirtschaften, die ökonomische, soziale und politische Institutionen in spezifischer Weise kombinieren. Vetopunkte: Regierungen können Politische Entscheidungen nicht einfach durchsetzen, sondern andere politische Akteure können u. U. Einspruch erheben. Je mehr Organe Einspruchsmöglichkeiten haben, desto schwerer sind etwa Kürzungen durchzusetzen. Vetomacht ist durch föderale Strukturen gegeben, ebenso durch Interessenorganisationen. <?page no="214"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Dallinger__Sozialpolitik____[Druck-PDF]/ 04.02.2016/ Seite 214 www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Dallinger__Sozialpolitik____[Druck-PDF]/ 04.02.2016/ Seite 215 215 Register A Aktivierungsstrategien 84, 91 Akzeptanz 61, 106, 121, 183 Altenquotient 115 Altersarmut 22, 38, 109, 113 Arbeitslosenversicherung 25, 94, 185 Arbeitslosigkeit 34, 35, 38, 40, 59, 95, 107, 118, 151, 176, 179, 190 - friktionelle Arbeitslosigkeit 79 - konkunkturelle Arbeitslosigkeit 79 - langanhaltende Arbeitslosigkeit 79 - saisonale Arbeitslosigkeit 79 Arbeitsmarktpolitik 88, 94 - keynesianischen Ansatz 80 Armutsgefährdungsquote 62 Armutsquote 62, 63, 64, 65, 113, 114 B Beveridge-Modell 108, 112, 125 Bismarcksche Sozialgesetzgebung 15 Budgetierung 172 C Care 38, 132, 138, 140, 144 - Cash for Care 139 Citizenship rights 36, 40, 152 D defined benefits 107, 122 defined contributions 107, 121, 122 De-Industrialisierung 29, 75, 85, 175, 194 De-Kommodifizierung 37, 40, 41, 132, 151, 152 domestic demand 188, 189, 192 E Eckrentners 107 Einkommenspaket 104 Einkommensungleichheit 52, 55, 57 Einkommensverteilung 52, 60 Eurosklerose 84 F Familialismus 132, 148, 152 Familienpolitik 66, 147, 160, 162 feministische Ansätze 132 Finanzmarktkrise 122, 123, 176 free riding 17 friendly societies 15 frozen landscapes 175, 182, 184 G Geburtenrate 115, 147, 149, 160, 161 Generationenvertrag 104, 120 Generosität 40, 81, 89, 92, 179 generosity 40 Generosity-Index 40, 41 Gesundheitsausgaben 166, 168, 170 Gesundheitsfonds 172, 173 Gesundheitssysteme 165, 168, 169 Gini-Index 52, 53, 56, 57 Gleichheit 16, 17, 18, 22, 36, 37, 169 Globalisierung 27, 33, 175, 181, 186, 187, 188, 192 Grundrente 32, 102, 109, 113 H Hartz-Reformen 89, 91, 96 Haushaltseinkommen 62 Haushaltsnettoeinkommen. 51 I inactivity trap 85 Indikatoren 28, 33, 40, 148, 179 Institutionen 18, 32, 41, 42, 60, 79, 80, 81, 82, 147, 171, 178, 182, 183, 185 Interessengruppen 177, 179, 184, 195 K Kapitaldeckung 183, 185 Kapitalmarktschwankungen 113 Kinderarmut 21, 25, 64, 156 kollektivem Handeln 17 <?page no="215"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Dallinger__Sozialpolitik____[Druck-PDF]/ 04.02.2016/ Seite 216 www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Dallinger__Sozialpolitik____[Druck-PDF]/ 04.02.2016/ Seite 216 216 Register Kollektivgut 17 kontinentales Dilemma 84 Krankenversicherungen 166, 167, 168, 171 L Lorenzkurve 52 M Machtressourcenansatz 32, 38, 42, 182, 185 male breadwinner 66, 133, 160 Mehrsäulensystem 108 Moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt 90 Modernisierungstheorie 26, 27, 28, 29 Moral hazard 170 multi-pillar-System 125 N national health service 168 O Opportunitätskosten 66, 160 P Perzentile 53 Perzentilvergleiche 53 Pfadabhängigkeit 183, 185 Pflegegeld 137, 139, 140 Pflegepolitik 127, 133, 135, 138, 140 Public-Privat-Mix 127, 144 Q Qualifikationsschutz 80 R race to the bottom 186 Regime 36, 38, 39, 42, 56, 60, 61, 68, 127, 133, 134, 139, 140, 151, 181 relative Armut 62 Rentenreformen 108, 115, 119, 123, 185 Reservationslohn 37, 79, 82 Resilienz 175, 176, 178, 180 Retrenchment 33, 175, 176, 195 Riesterrente 123 S Schulden 189 Sorgearbeit 129, 152 Sozialstaat 188 Sozialstaatsgenese 13, 30 Staatsbürgerrechte 13, 36, 37, 42, 138, 152 Stratifizierung 37 Strukturreformen 171 T targeting 61 Teilhabe 36, 105, 163 Theorie des Sozialstaats 17, 25, 177 Töchterpflegepotential 133 U Umlageverfahren 104, 125, 135 Umverteilung 18, 21, 54, 57, 58, 59, 60, 106, 165 Umverteilungsparadox 61 Unsicherheit 18, 123, 187, 189, 190 V Varieties of Capitalism 13, 42, 81 Vermarktlichung 127, 132, 137, 145 Versorgungsklassen 177 Vetopunkte 34, 171 Volksversicherungen 108 W Wettbewerbsorientierung 171 Wohlfahrtskapitalismus 13, 25, 36, 38 Wohlfahrtsregime 41 workfare 90