Theorien des Fremden
Eine Einführung
0926
2016
978-3-8385-4569-1
978-3-8252-4569-6
UTB
Wolfgang Müller-Funk
Was heißt es, fremd zu sein, sich fremd zu fühlen, als Fremder gesehen zu werden? In 13 transdisziplinären Zugängen spannt sich der Bogen von sozialwissenschaftlichen Ansätzen über klassische Konzepte der Psychoanalyse, philosophische Denkfiguren von Alterität bis hin zur Dekonstruktion. Berücksichtigung finden zudem Theorien des Phantastischen, die Imagologie, postkoloniale Beiträge sowie differenzfeministische Annäherungen. Damit bietet dieses Buch eine verlässliche Orientierung auf einem Feld, das in Zeiten der Globalisierung, forcierter trans- und interkultureller Prozesse sowie von Migrations- und Flüchtlingsbewegungen von immer größerer Bedeutung ist.
Wolfgang Müller-Funk Theorien des Fremden Eine Arbeitsgemeinschaft der Verlage Böhlau Verlag · Wien · Köln · Weimar Verlag Barbara Budrich · Opladen · Toronto facultas · Wien Wilhelm Fink · Paderborn A. Francke Verlag · Tübingen Haupt Verlag · Bern Verlag Julius Klinkhardt · Bad Heilbrunn Mohr Siebeck · Tübingen Nomos Verlagsgesellschaft · Baden-Baden Ernst Reinhardt Verlag · München · Basel Ferdinand Schöningh · Paderborn Eugen Ulmer Verlag · Stuttgart UVK Verlagsgesellschaft · Konstanz, mit UVK / Lucius · München Vandenhoeck & Ruprecht · Göttingen · Bristol Waxmann · Münster · New York utb 0000 UTB (M) Impressum_15.indd 1 08.12.14 10: 56 u t b 4 5 6 9 Wolfgang Müller-Funk ist Professor für Kulturwissenschaften und lehrt an der Universität Wien, an der Universität für Musik und darstellende Kunst und der Diplomatischen Akademie in Wien sowie an der Alpen-Adria-Universität Klagenfurt. Wolfgang Müller-Funk unter Mitarbeit von Johanna Chovanec Theorien des Fremden Eine Einführung A. Francke Verlag Tübingen Umschlagabbildung: © Sabine Müller-Funk, 2016 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb.dnb.de abrufbar. © 2016 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72 070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Gedruckt auf säurefreiem und alterungsbeständigem Werkdruckpapier. Internet: www.francke.de E-Mail: info@francke.de Satz: pagina GmbH, Tübingen Einbandgestaltung: Atelier Reichert, Stuttgart Printed in Germany utb-Nr. 4569 ISBN 978-3-8252-4569-6 Professor: So! -- Wir haben also in der letzten Unterrichtsstunde über die Filzpantoffel gesprochen und behandeln heute das Hemd. Wer von euch weiß zufällig einen Reim auf „Hemd“? Valentin: Auf Hemd reimt sich „fremd“. Professor: Sehr gut! Und wie heißt die Mehrzahl von „fremd“? Valentin: Die Fremden. Professor: Jawohl, die Fremden.-- Und aus was bestehen die Fremden? Valentin: Aus „fremd“ und aus „den“. Professor: Sehr gut! -- Und was ist ein „Fremder“? Valentin: Fleisch-- Gemüse-- Mehlspeisen-- Obst usw. Professor: Nein! -- Nein! -- Nicht was er ißt, sondern was er tut. Valentin: Er reist ab. Professor: Sehr richtig! -- Er kommt aber auch an-- und ist dann ein Fremder.-- Bleibt er dann für immer ein Fremder? Valentin: Nein! -- Ein Fremder bleibt nicht immer ein Fremder. Professor: Wieso? Valentin: Fremd ist der Fremde nur in der Fremde. Professor: Das ist nicht unrichtig.-- Und warum fühlt sich ein Fremder nur in der Fremde fremd? Valentin: Weil jeder Fremde, der sich fremd fühlt, ein Fremder ist, und zwar so lange, bis er sich nicht mehr fremd fühlt-- dann ist er kein Fremder mehr. Professor: Ausgezeichnet! -- Wenn aber ein Fremder schon lange in der Fremde ist, ist das dann auch ein Fremder? Oder ist das ein Nichtmehrfremder? Valentin: Jawohl, das ist ein Nichtmehrfremder; aber es kann diesem Nichtmehrfremden-- unbewußt-- doch noch einiges fremd sein. Professor: Was zum Beispiel? Valentin: Den meisten Münchnern zum Beispiel ist das Hofbräuhaus nicht fremd-- hingegen ihnen die meisten Museen fremd sind. Professor: Sehr richtig! -- Dann kann also der Einheimische in seiner eigenen Vaterstadt zugleich noch ein Fremder sein.-- Es gibt aber auch Fremde unter Fremden! Wie verstehen Sie das? Valentin: Fremde unter Fremden sind-- so wie ich mir das vorstelle wenn Fremde mit dem Zug über eine Brücke fahren und ein anderer Eisenbahnzug mit Fremden unter derselben durchfährt, so sind die durchfahrenden Fremden-- Fremde unter Fremden, was Sie, Herr Professor, wahrscheinlich nicht so schnell begreifen werden. Professor: Leicht fällt es mir nicht! Aber nun wieder zum Thema.-- Und was sind „Einheimische“? Valentin: Einheimische sind das Gegenteil von Fremde. Aber dem Einheimischen sind die fremdesten Fremden nicht fremd-- er kennt zwar den Fremden persönlich nicht, merkt aber sofort, daß es sich um einen Fremden handelt, beziehungsweise um Fremde handelt; zumal, wenn diese Fremden in einem Fremdenomnibus durch die Stadt fahren. Professor: Wie ist es nun, wenn ein Fremder von einem Fremden eine Auskunft will? Valentin: Sehr einfach.-- Frägt ein Fremder in einer fremden Stadt einen Fremden um irgend etwas, was ihm fremd ist, so sagt der Fremde zu dem Fremden: „Das ist mir leider fremd, ich bin hier nämlich selber fremd.“ Professor: Das Gegenteil von fremd ist bekannt. Ist Ihnen das klar? Valentin: Eigentlich ja! Denn, wenn zum Beispiel ein Fremder einen Bekannten hat, so muß ihm dieser Bekannte zuerst fremd gewesen sein-- aber durch das gegenseitige Bekanntwerden sind sich die beiden nicht mehr fremd. Wenn aber diese beiden Bekannten zusammen in eine fremde Stadt reisen, so sind diese zwei Bekannten dort für die Einheimischen wieder Fremde geworden.-- Sollten sich diese beiden Bekannten hundert Jahre in dieser fremden Stadt aufhalten, so sind sie auch dort den Einheimischen nicht mehr fremd. (Karl Valentin, Die Fremden) Habent sua fata libelli. Dieses Buch hat wie jedes andere auch seine Geschichte, in diesem Fall einen ‚Vorlauf ‘ in Vorträgen, Vorlesungen, Kursen und Seminaren, die ich im Verlauf der letzten fünfzehn Jahren etwa an der Universität Wien, an der Österreichischen Akademie der Wissenschaften und an der Diplomatischen Akademie (ab)gehalten habe. Erwähnt seien in diesem Zusammenhang auch das 2013 entstandene Netzwerk AKA (Arbeitskreis Kulturanalyse), die Internet-Plattform Kakanien revisited, meine PhD / Master-Seminare, die zahlreichen Gespräche im Rahmen des fakultären Forschungsprojektes Broken Narratives (2011-2014), die Kollegenschaft am Institut und in der Abteilung sowie die Arbeitsgruppe Kulturwissenschaften / Cultural Studies an der Universität Wien. Von den vielen Gesichtern von Kollegen und Kolleginnen, von Freundinnen und Freunden, die dabei vor meinem inneren Auge auftauchen, möchte ich besonders meinen langjährigen Weggefährten Clemens Ruthner, der das Rohmanuskript studiert und kommentiert hat, und meine Mitarbeiterin Johanna Chovanec namentlich erwähnen. Sie hat im Rahmen eines Stipendiums der Stadt Wien das Buch nicht nur lektoriert und es mit Index und Bibliographie versehen, sondern intensiv mit dem Verfasser über Inhalt und Gestaltung diskutiert. Ihre unbeirrbare Genauigkeit, ihr Engagement und ihre Offenheit waren eine unschätzbare Hilfe. Ich möchte mich bei ihr und Clemens Ruthner ganz herzlich und ausdrücklich bedanken. Bedanken möchte ich mich auch bei Silvia Stoller und Mauro Ponzi, die mir wichtige Ratschläge gegeben haben. 11 Inhalt 1. Begriffsklärungen: Fremd, anders, ausländisch . . . . . . . . . . . . . . . . 15 1.1. Die Relationalität des Fremden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15 1.2. Formen des Alteritären . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17 1.3. Alterität und Raum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 24 1.4. Fremdheit als transdisziplinäres Paradigma . . . . . . . . . . . . . . . . . 29 2. Die Konstruktion des Anderen in der französischen Nachkriegsphilosophie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35 2.1. Der „gespenstische Schatten“ Hegels . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35 2.2. Die Entdeckung des Anderen im postkolonialen Frankreich 37 2.3. Hegels Phänomenologie des Geistes. Lektüre des Abschnitts über Herr und Knecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 42 2.4. Kojèves ‚Re-Vision‘ von Hegels Konzeption von Herr und Knecht 48 2.5. Kommentar und Kritik an Kojèves Konzept von Alterität . . . . . . 59 2.6. Die Hölle, das ist der Andere: Sartre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 66 3. Freuds Hoffmann-Lektüre und ihre Spuren in Julia Kristevas Theorie der Fremdheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 73 3.1. Romantik und Psychoanalyse: Das Andere der Vernunft . . . . . . . 73 3.2. Das Unheimliche als Fremdes und Vertrautes. Freuds Lektüre von E. T. A. Hoffmann . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 75 3.3. Fremde sind wir uns selbst: Julia Kristeva . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 88 3.4. Exkurs: Adelbert von Chamisso . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 92 4. Emmanuel Lévinas: Die Vorgängigkeit des / der Anderen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 100 4.1. Zeitlichkeit und Alterität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 100 4.2. Die Genese der Theorie von Lévinas und ihr Widerhall im Werk von Jacques Derrida . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101 4.3. Lévinas erster programmatischer Text Die Zeit und der Andere . 105 4.4. Die Erotik des geschlechtlichen Paares als Modell von Alterität . 107 4.5. Die Vorgängigkeit des Anderen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 111 4.6. Von der Intimität zur Allgemeinheit des Anderen . . . . . . . . . . . . 114 12 Inhalt 5. Bernhard Waldenfels: Fremdheit in der Moderne . . . . . . . . . . . . . . . 121 5.1. Überblick und Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 121 5.2. Der Stachel des Fremden. Frage und Antwort . . . . . . . . . . . . . . . . 123 5.3. Die Figur der Verflechtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 126 5.4. Das Fremde als Springpunkt von Erfahrung . . . . . . . . . . . . . . . . . 129 5.5. Aneignung und Enteignung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 130 6. Georg Simmel und Alfred Schütz: Fremdheit in soziokulturellen Bezügen und in der Lebenswelt. Mit einem Exkurs zu Carl Schmitt und Werner Sombart sowie zu gegenwärtigen Ansätzen in der Soziologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 134 6.1. Vorbemerkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 134 6.2. Einschluss im Ausschluss: Die Figur des Fremden bei Georg Simmel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 134 6.3. Der Fremde als Feind: Carl Schmitt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 147 6.4. Die Funktion des Fremden im Eigenen: Werner Sombart . . . . . . 149 6.5. Der Fremde als Ankommender: Alfred Schütz . . . . . . . . . . . . . . . 153 6.6. Beiträge zur sozialen Konstruktion des Fremden in der gegenwärtigen Soziologie (1): Rudolf Stichweh . . . . . . . . . . . . . . . 161 6.7. Beiträge zur sozialen Konstruktion des Fremden in der gegenwärtigen Soziologie (2): Kai-Uwe Hellmann Fremdheit als soziale Konstruktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 165 7. Ich ist ein Anderer (Rimbaud). Das gespaltene Ich: Jacques Lacans Theorie des Spiegelstadiums . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 174 7.1. Vorbemerkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 174 7.2. Vom doppelten Ich zum Spiegelstadium . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 175 8. Imagologie: Von der Aachener Schule zu Edward Said und Homi K. Bhabha . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 189 8.1. Imagologie als Methode und Teildisziplin der Vergleichenden Literaturwissenschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 189 8.2. Edward Said: Orientalism . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 195 8.3. Homi Bhabha: ‚Hybridität‘ und Dritter Raum . . . . . . . . . . . . . . . 206 8.4. Die Frage des Anderen. Homi Bhabhas Konzept von Fetisch und Mimikry . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 212 13 Inhalt 9. Dekonstruktion: Derrida und Nancy . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 221 9.1. Jacques Derrida: Das fremde Tier, der Mensch . . . . . . . . . . . . . . . 221 9.2. Jean-Luc Nancy: Der Fremde als Eindringling . . . . . . . . . . . . . . . 240 10. Differenz und Fremdheit der Geschlechter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 248 10.1. Das andere Geschlecht. Diskurslinien nach Beauvoir . . . . . . . . . 248 10.2. Luce Irigaray: Das Geschlecht, das nicht eins ist . . . . . . . . . . . . . 253 10.3. Das weibliche Gefäß als Gestaltungsprinzip: Der Ort, der Zwischenraum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 260 10.4. Weiblichkeit als Maskerade: Joan Riviere . . . . . . . . . . . . . . . . . . 265 11. Das Fremdwerden des Eigenen. Theorien der Entfremdung . . . . . 273 11.1. Karl Marx, Die Pariser Manuskripte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 273 11.2. Nach Heidegger und Marx: Günther Anders’ Diagnose der Weltfremdheit des Menschen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 287 12. Die Übersteigerung des Fremden: Das Phantastische, das Wunderbare, das Unheimliche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 295 12.1. Diskursbegründung: Tzvetan Todorov . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 295 12.2. Liminalität des Fremden: Das Phantastische . . . . . . . . . . . . . . . . 303 13. Übersetzung als Agentur von Fremdheit und Differenz: Benjamin, Steiner, Buden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 311 13.1. Von der Unübersetzbarkeit des fremden Textes: Benjamin . . . . . 311 13.2. Nach Benjamin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 320 13.3. Im Turm zu Babel: George Steiner . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 326 13.4. Boris Buden: Kulturelle Übersetzung und ‚dritter Raum‘ . . . . . . 333 Anhang Bibliographie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 343 Nachweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 358 Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 359 Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 363 15 1.1. Die Relationalität des Fremden 1. Begriffsklärungen: Fremd, anders, ausländisch 1.1. Die Relationalität des Fremden Die Beschäftigung mit der Figur des Fremden gehört seit mehreren Jahrzehnten zum unverzichtbaren Bestandteil gegenwärtiger kultureller, sozialer sowie politischer Diskurse und Debatten. Phänomene wie Migration, Kulturtransfer und globale Medialität im Bereich von Kommunikation und Information, die allesamt ein verändertes Verhältnis von Fremdheit und Heimat implizieren, halten diese Aktualität wach. All die hier erwähnten soziokulturellen Veränderungen führen dazu, dass die Fremdheit im ‚traditionellen‘ exotischen Sinne, wie wir sie aus den ethnographischen Diskursen der Neuzeit kennen, im Rückzug begriffen sein könnte oder, wie ich an anderer Stelle schrieb, zum raren Gut geworden ist, während in der ‚eigenen‘ Kultur Fremdheit auf paradoxe Weise wächst. 1 Nichts spricht selbst in einer für Mode und Trends so anfälligen Kultur dafür, dass sich dies bald ändern wird. Es scheint, als ob mit der sich verändernden Figur des Fremden jene kulturelle Dynamik beschrieben wird, die heute Gegenstand kulturwissenschaftlicher Forschungen ist: Migration, Transfer, inter- und transkulturelle Beziehung in einer global gewordenen Welt. Zu dieser Entwicklung gehört auch, dass die Bedeutungen des Fremden wie auch des Eigenen im Wandel begriffen sind. Oft erweist sich das Fremde nämlich verdeckt als Teil des Eigenen: Dieser Ansatz wird von verschiedensten Denktraditionen-- von der Psychoanalyse über die Phänomenologie bis zu den Cultural Studies-- verfolgt und verändert sowohl unser Verständnis jenes scheinbar so vertrackten Fremden, das sich dadurch bestimmt, dass es sich uns entzieht, als auch unsere Vorstellung des uns scheinbar so Vertrauten, dass sich durch die Amalgamierung mit Fremdheit plötzlich in ein Vexierbild unserer selbst verwandelt. In jedem Fall scheint es nicht angebracht, Fremdes und Eigenes, oder auch Fremde und Heimat als binäre Oppositionen zu begreifen, sondern als Pole einer unaufkündbaren Relation und damit als Teil des kulturellen Prozesses, der sich Georg Simmel zufolge durch Wechselwirkungen wie Verbinden 1 Müller-Funk, Wolfgang: Niemand zu Hause. Essays zu Kultur, Globalisierung und neuer Ökonomie. Wien: Czernin, 2005. 16 1. Begriffsklärungen: Fremd, anders, ausländisch und Trennen, durch Einschluss und Ausschluss bestimmt. 2 Mit diesem Verweis wird gleichzeitig deutlich, wie Liminalität und Alterität miteinander verwoben sind. Denn ohne jene ausschließenden wie verbindenden Grenzformationen und -konstruktionen, ohne die Abhängigkeitsbeziehung von Fremdem und Eigenem, von Öffnung und Schließung und von wechselseitigem Austausch sind Phänomene des Alteritären nicht denkbar. Was vom einzelnen aus betrachtet jenseits einer bestimmten, oftmals unsichtbaren Grenze angesiedelt ist, das ist eben das Fremde, das jedoch so beweglich und veränderlich ist wie all jene Grenzprozeduren, die Sicherheit und Verbindung ermöglichen: vom persönlichen Augenschein über Öffnungsmodalitäten und Identitätsnachweise bis zu zeitlichen Beschränkungen, die Grenze zu überschreiten. Mit Simmel lassen sie sich als ein System von Öffnungen und Schließungen ansehen. Der deutsche Philosoph und Soziologe hat dieses Wechselspiel als charakteristisch für das Phänomen Kultur überhaupt gesehen. Simmel beschreibt den Menschen kulturanthropologisch als „das verbindende Wesen-[…], das immer trennen muß und ohne zu trennen nicht verbinden kann-[…]“. 3 Was ‚fremd‘ und was ‚eigen‘ ist, das ist in höchstem Maße kontextabhängig, das heißt von den jeweiligen Mustern des Teilens und Zusammenführens bestimmt. In diesem Zusammenhang ist die Unterscheidung davon abhängig, wo ich mich befinde. Wenn ich mich etwa auf einem anderen Erdteil befinde, dann schmilzt meine binneneuropäische sprachliche oder ethnische Differenz womöglich sehr schnell zusammen. Oder anders ausgedrückt: Die Figur des Fremden widersetzt sich jedweder Substanzialisierung. Jeder und jede von uns kann in einer bestimmten Situation, Beziehung oder Konstellation zum Fremden bzw. zur Fremden werden. Kulturwissenschaftlich betrachtet, unterliegen Phänomene wie Nähe und Distanz kulturellen Gegebenheiten, die sich ungeachtet mannigfaltiger Festlegungsversuche nicht ein für allemal fixieren lassen. Der französische Philosoph François Jullien hat in diesem Zusammenhang die komplexe Struktur eines dialektischen Umschlages von Fremdheit und ‚Eigenheit‘ am Beispiel des Phänomens der Intimität herausgearbeitet. Er unterscheidet zwei Bedeutungen des französischen Wortes intime: den Abschluss des / der Einzelnen vor seiner / ihrer Umgebung und die Verbindung mit einem anderen Menschen, 2 Simmel, Georg: „Brücke und Tür“. In: Simmel, Georg: Aufsätze und Abhandlungen -. Gesamtausgabe. Bd. 1. Herausgegeben von Otthein Rammstedt. Frankfurt / Main: Suhrkamp, 2001. S. 55-61. 3 Simmel, „Brücke und Tür“, S. 60. 17 1.2. Formen des Alteritären mit dem man einen gemeinsamen intimen ‚Raum‘ stiftet. Die Öffnung hin zum Anderen erfolgt aber genau in jener Zone, in die sich das Individuum zurückzieht. 4 1.2. Formen des Alteritären Diesem Buch liegt die Kernthese zugrunde, dass sich der Begriff des ‚Fremden‘ ebenso wie jener der ‚Kultur‘, mit dem er auf unkündbare Weise verbunden ist, nicht eindeutig definieren lässt. In diesem Zusammenhang wird im vorliegenden Werk auf verschiedene Bedeutungsschattierungen eingegangen, die für die Kulturanalyse von außerordentlichem Belang sind. Fremdheit und Eigenheit funktionieren in diesem Verständnis nicht länger im Sinn eines Gegensatzes oder einer Gegenüberstellung, bleiben doch beide Termini stets aufeinander verwiesen. Im vorliegenden Buch wird deshalb der Begriff der Alterität, der die Verknüpfung von Fremdheit und Eigenheit als Prozess und Erfahrung in eins fasst, in den Vordergrund gerückt. Das von dem lateinischen Adjektiv ‚alter‘ abgeleitete Substantiv, das sich auch als Andersheit bezeichnen lässt, beschreibt die abstrakteste und zugleich philosophische Form von ‚Fremdheit‘, eine Form, die noch ganz ohne Prädikat auskommt. Die Alterität umfasst alle Formen eines Außerhalbs meiner Selbst, wobei dieses Andere auch durch die Konstitution und Konstruktion dieses Außerhalbs bestimmt wird. So lässt sich mit der Psychoanalyse fragen, ob das ‚Unbewusste‘ etwas (in) mir Fremdes ist. Alterität umfasst also verschiedene, sich überlagernde Phänomenlagen. Ich möchte provisorisch drei benennen. Viele europäische Sprachen kennen diese Unterscheidungen und Nuancen, die keineswegs trennscharf sind und sich immer wieder irritierend überlagern. Aber in den germanischen wie in den romanischen und slawischen Sprachen wird, wie unscharf auch immer, zwischen dem / der Ausländer (the foreigner), dem / der Fremden (the stranger) und dem / der Anderen (the other) unterschieden. Im Titel eines berühmten Lieds von Frank Sinatra, ‚Strangers in the Night‘, lassen sich die strangers, die Fremden, nicht durch die Ausländer (foreigners) oder gar durch die Anderen (others) substituieren. Das Liebespaar, das hier besungen wird, ist einander so verheißungsvoll fremd und unbekannt wie dem männlichen lyrischen Ich die Nacht und die damit verbundenen 4 Jullien, François: Vom Intimen: Fern Der Lärmenden Liebe. Wien: Turia- + Kant, 2014. S. 19-31. 18 1. Begriffsklärungen: Fremd, anders, ausländisch Konnotationen: Eros, Dunkelheit, Unbewusstes, Intimität, Grenzüberschreitung. Die beiden begegnen einander als Fremde an einem unbekannten Ort. 5 Im Begriff der Fremden schwingt ein Moment mit, wonach diese aus der Perspektive der Einheimischen als unbekannt wahrgenommen werden. Sie lassen sich nicht wirklich einordnen, sie beinhalten ein Moment der Störung, wohl auch deshalb, weil sie sich innerhalb des ‚eigenen‘ Raums der ‚anderen‘ befinden. Im Deutschen wie in anderen Sprachen ist das Fremde mit dem Unbekannten (im Tschechischen ist der Unbekannte neznámy, im Kroatischen neznanac) 6 , ja sogar mit dem Unheimlichen verschwägert. Das Beunruhigende am Fremden ist also nicht nur, dass es nicht ‚zu uns‘ gehört, sondern, dass man nicht weiß, wohin es überhaupt gehört. Insofern negiert das Fremde den vertrauten Zustand der ‚Heimat‘. Ungleich stärker als die beiden anderen Phänomenlagen von Andersheit trägt das Fremde auch das Moment der Irritation und der Furcht mit bzw. in sich, das etwa durch die Betrachtung und Wahrnehmung von Behinderung, Krankheit oder deviantem Aussehen (Gesicht, Körper, Haarfarbe) ausgelöst wird. Diese Fremdheit ist asymmetrisch: Der kulturell ‚normale‘ Mensch wehrt das als abweichend wahrgenommene Gegenüber ab, möchte ihm nicht gleichen und hat Angst, er / sie könnte auch so krank oder entstellt werden wie das Vis-à-vis. Für den als befremdlich stigmatisierten Menschen kommt zur Last des ‚unheimlichen‘, fremden Leidens oder der Abweichung einer wie auch immer gearteter Norm, jene sozio-kulturelle Marginalisierung, die sich durch die negative Fixierung von Krankheit, Behinderung und physischer Devianz ergibt. Nirgends tritt der radikale Ausschlussmechanismus so drastisch zutage wie in diesem Fall. Es ist kein Zufall, dass sich der Rassismus jedweder Couleur an körperlicher Differenz entzündet hat. Ausländisch-- das Adjektiv klingt im Gegensatz zu ‚anders‘ und ‚fremd‘ etwas holprig-- hat demgegenüber eine klare liminale und häufig nationalstaatliche Zuordnung: Der Ausländer bzw. die Ausländerin befindet sich, symbolisch markiert, auf der anderen Seite. Im Tschechischen kommt diese Konnotation sehr schön zum Ausdruck: ‚zahraniční‘ bedeutet nämlich ‚hinter der Grenze‘. Der Ausländer befindet sich jenseits des eigenen Raumes. Das heißt aber auch, dass er durch die 5 http: / / www.songtexte.com / songtext / frank-sinatra / strangers-in-the-night-7bd04a00. html, heruntergeladen am 16. 02. 2016. 6 Informationen von meinen Kollegen Jan Budnak, Tomas Pospišil und Marijan Bobinac. 19 1.2. Formen des Alteritären Grenzziehung explizit markiert ist. 7 Auf jeden Fall gehört der ausländische Mensch nicht zur jeweils ‚eigenen‘ heimischen nationalen und regionalen Gemeinschaft, nicht, weil man ihn oder sie nicht kennt, sondern gerade, weil man ihn oder sie zu kennen glaubt und weil er / sie sich von uns sichtbar wie hörbar unterscheidet. Im Gegensatz zum Fremden, der, wie Georg Simmel und Alfred Schütz gezeigt haben, Teil eines kulturellen Systems ist und darin, vom Sündenbock bis zum Schiedsrichter, eine Rolle einnehmen kann, bleibt der Ausländer, dessen Aufenthalt im ‚eigenen‘ kulturellen Raum nicht nur zeitlichen Restriktionen unterliegt, außerhalb eines gegebenen kulturellen Systems. Der ausländische Mensch, zum Beispiel der Nachbar eines angrenzenden Staates, hat zumindest ein Prädikat, er ist, etwa im Tschechischen, ein Deutscher, ein němec, nämlich jemand, der nicht die eigene-- ‚unsere‘-- Sprache spricht. An dieser Stelle ist ein Seitenblick auf Figuren von ‚ausländischer‘ Alterität erhellend, wie sie zum kulturellen Alltag gehören. Der moderne Tourist ist ein zeitweiliger Besucher eines anderen Landes, einer anderen Kultur. Er ist ein Ausländer, der sich zeitlich befristet, unter bestimmten Auflagen und womöglich auch örtlich beschränkt in einem fremden Land aufhält. Für eine kurze Zeit wird der Ausländer zum Fremden in einem bestimmten Land, in einem Ausland. Er ist nicht zuletzt willkommen, weil er für diesen Aufenthalt bezahlt. Der Gast wiederum, dessen kulturelle Existenz mit dem Phänomen der Gabe und des Geschenks verwandt ist, kommt auf eine Einladung in ein anderes Land bzw. in eine andere Region. Zur Logik der Gabe gehört indes, dass diese nicht nur angenommen, sondern erwidert wird. 8 Insofern etabliert die Figur der Gastfreundschaft eine interkulturelle Beziehung zwischen dem jeweiligen In- und dem jeweiligen Ausland. Als offizieller Repräsentant des jeweils anderen Landes kann er sich an einem bestimmten extraterritorialen Ort aufhalten, etwa in einer Botschaft. Die dramatischste Figur unserer Tage ist indes der Flüchtling (im Sinne der Genfer Flüchtlingskonvention), jener fluchtsuchende Mensch, der aus unterschiedlichsten Gründen vom Ausland her kommend, die Grenzen zu einem anderen Land überschreitet. Es kann die Absicht bestehen, in diesem neuem Aufenthaltsort zu bleiben. Anders als der klassische Ausländer, Tourist, Gast 7 Hinweis von Jan Budnak. 8 Godelier, Maurice: Das Rätsel der Gabe. Geld, Geschenke, heilige Objekte. München: Hanser, 1999. S. 35. Vgl. auch Müller-Funk, Wolfgang, „Die Gabe und das Alteritäre“, Vortrag Thessaloniki 2016. In: www.wolfgang.mueller-funk.com. 20 1. Begriffsklärungen: Fremd, anders, ausländisch oder Diplomat, ist sein Aufenthalt also nicht zeitlich begrenzt. Das Telos seines Ankommens ist, einen Platz in einem für ihn bis dato unbekannten kulturellen Raum zu finden. Selbst wenn dies gelingt, wird er wohl bis zu einem gewissen Grad ein Fremder bleiben, auch wenn er jenen Pass erhält, der ihm bescheinigt, kein Ausländer mehr zu sein. Noch komplizierter erweist sich die abstrakte Kategorie des Anderen, für die das Tschechische-- neben jiny (das sich auf das Neutrum ‚anders‘ bezieht)-- das Wort druhy, das Kroatische das verwandte drugo verwendet, das in der Nebenbedeutung der / die / das zweite als Konnotation in sich trägt. Das heißt der Andere hängt damit zusammen, dass ich nicht allein auf dieser Welt bin. Dieser Andere ist aber keineswegs, wie noch zu zeigen sein wird, irgendein kulturell Fremder, sondern ergibt sich daraus, dass er ein Zweiter / eine Zweite / ein Zweites ist, der / die / das mir gegenübertritt. Er / sie / es ist übrigens, um an dieser Stelle die geschlechtliche Differenz ins Spiel zu bringen, nicht unbedingt sexuell markiert. Diese Zweiheit, diese Dualität der Andersartigkeit, ist geradezu dadurch bestimmt, dass in ihr und in dem durch sie geschaffenen Zwiespalt die konkrete symbolische Bestimmung als Eigenschaft nicht existiert. Deshalb ist es, dem feministischen Einspruch und Impuls folgend, problematisch, diesem unbestimmten Pronomen eine männliche Markierung-- ‚der andere‘-- zu geben. Aber die männliche durch eine weibliche zu substituieren oder ihr diese zur Seite zu stellen, würde diesem subtilen Sachverhalt der Alterität als Zwiespalt nicht gerecht, sondern suggerierte höchst missverständlich und irreführend, dass Alterität maßgeblich mit der Dualität von Männlichkeit und Weiblichkeit einhergeht. Dies ist, aus der Perspektive dieses Buches, nicht der Fall. Dennoch kann der / die / das Andere etwas sein, das weder im herkömmlichen Sinn unbekannt noch ausländisch und exterritorial, das heißt Teil einer anderen Kultur, sein muss. In dem kurzen Versuch, die drei relativen Unterscheidungen fremd, anders und ausländisch voneinander abzugrenzen und zugleich miteinander zu verbinden, wird deutlich, dass die Zuschreibung von Fremdheit immer die Tendenz in sich trägt, diesem oder dieser Fremden den Status des / der (gleichberechtigten und respektierten) Anderen abzusprechen. Das gilt für sexistische wie für rassistische Diskurse fast gleichermaßen. Den / die oder das Andere zu respektieren inkludiert einen Akt wechselseitiger Anerkennung, bei dem weder eine positive noch einer negative Differenzsetzung eine Rolle spielen. Einem Menschen 9 wegen 9 Ich gebrauche den Terminus ‚Mensch‘ und begreife den männlichen Artikel hier sowie im Folgenden in einem unspezifischen, ausschließlich grammatischen Sinn. Sofern die 21 1.2. Formen des Alteritären seines Geschlechts, seiner sexuellen Orientierung, seiner spezifischen Sprache, seiner jeweiligen Religion oder seiner unverkennbaren Hautfarbe besondere Zuwendung zu erweisen, ihn also positiv zu diskriminieren, widerspricht einer generellen Respektierung. In dieser steht Anerkennung in keiner Abhängigkeit von solchen kulturellen und ‚natürlichen‘ Eigenschaften und ist von keinem exklusiven Verhältnis abhängig. Die Alterität als radikale Andersheit beinhaltet, wie in den Kapiteln über die Philosophie Bernhard Waldenfels’ und Emmanuel Lévinas’ gezeigt wird, eine unmissverständliche ethische Option und Herausforderung. Sie schließt nicht nur eine Anerkennung des Anderen als Anderer meiner selbst ein, sondern akzeptiert auch den existential-ontologischen Sachverhalt von dessen Vorgängigkeit gegenüber meinem Selbst. Sie basiert auf einem komplexen Einschluss ( → -Kapitel 4). Demgegenüber sind die beiden anderen Phänomenlagen, jene des (unbekannten) Fremden und des exterritorialen Anderen, immer schon von einer Form dauerhaften Ausschlusses und potentieller Diskriminierung begleitet. Freilich besteht auch hier die Möglichkeit einer Korrektur. So läuft die psychoanalytische Denkfigur, wie sie Julia Kristeva entwickelt hat, darauf hinaus, das Unbekannte in uns, das Unbewusste, zu akzeptieren und damit potentiell auch das Fremde außerhalb unserer selbst ( → -Kapitel 3). Die sexuelle Differenz, um kurz auf sie zu sprechen zu kommen, lässt sich dieser Argumentation zufolge ausschließlich vor dem Hintergrund des alteritären Phänomens der Fremdheit / Unbekanntheit analysieren und begreifen. Die Alterität des Anders-Seins im Sinne der Zweiheit übersteigt die sexuelle Differenz, weil die abstrakte Relation der Andersheit auf kein Prädikat, so auch nicht auf die Zuschreibung des Geschlechtlichen (männlich, weiblich, ‚hybrid‘ bzw. ‚transgender‘) bezogen ist. Die Alterität des Ausländischen wiederum ist für die geschlechtlichen Differenzen nur dann von Belang, wenn sexuelle und kulturelle Andersheit miteinander ge- und verkoppelt sind. Es mag zudem Orte geben, an denen sich Frauen, metaphorisch gesprochen, in einem männlichen ‚Ausland‘ befinden. Damit ist gemeint, dass es ethnologisch gesprochen in allen Kulturen spezifische und exklusive ‚subkulturelle‘ Orte, Räume und Treffpunkte der beiden Geschlechter gibt. Illustrativ ist in diesem Zusammenhang der im Post-68er Feminismus einflussreiche Mythos vom fremden Volk der Frauen, den Amazonen, in dem der Unterschied der sexuellen und der ethnischen Differenz geschlechtliche Differenz für das Alteritätsphänomen entscheidend ist, wird diese entsprechend sprachlich markiert. 22 1. Begriffsklärungen: Fremd, anders, ausländisch enggeführt bzw. sistiert wird. Aber dabei handelt es sich ganz offenkundig nicht um eine kulturgeschichtliche Tatsache, sondern um ein ganz besonderes gegenweltliches, ja phantasmatisches Narrativ, das der Gegenwart entzogen bleibt oder eine negativ besetzte männliche Angst-Utopie darstellt. 10 Natürlich besteht zwischen diesen drei sich überlappenden Alteritätsphänomenen-- Andersheit (Zweiheit), Fremdheit (Unbekanntheit) und Ausländisch-Sein (Exterritorialität)-- ein innerer und unkündbarer Zusammenhang, alle drei sind relational und beziehen sich auf etwas, das sich als widerständig oder irritierend erweist und das sich nicht aus der Welt schaffen lässt. Der Status des Ausländischen und des Fremden kann sich ändern oder kann sogar verschwinden. Das Phänomen jener Alterität, die vielleicht den mir allernächsten Menschen betrifft, bleibt jedoch grundsätzlich bestehen, auch wenn diese Beziehung in einem Wandel begriffen sein und sich verschieben mag. Die Alterität ist philosophisch gesprochen die ontologische Voraussetzung für eine Ethik, die nicht einfach Anwendung von bestimmten Normen und Werten ist, sondern sich im Sinne eines Subjekt-Subjekt-Verhältnisses fassen lässt, das philosophisch basal ist. In der Begegnung mit dem Anderen vollzieht sich jenes Moment der Annahme des Fremden und Anderen, das zugleich Selbst-Annahme bedeutet ( → -Kapitel 4.5). In seinem Buch Soi-même comme un autre (Das Selbst als ein Anderer) diskutiert der französische Philosoph Paul Ricœur nicht nur die komplizierten Relationen zwischen Selbst und (geschlechtsneutral) Anderem, sondern differenziert auch zwischen zwei Aspekten von Identität. Während Identität, im Sinne des lateinischen Wortes idem, gleich, mit Beständigkeit in Raum und Zeit verbunden ist, impliziert Identität im Sinne des lateinischen Wortes ipse, selbst, keineswegs einen unveränderlichen Kern von Persönlichkeit. 11 Einerseits existiert Identität als ‚Selbigkeit‘ (englisch: sameness, französisch: mêmeté), andererseits als Selbstheit (englisch: selfhood, französisch: ipseité). Das Wort même, das der Idem-Identität zugrunde liegt, wird als Gegensatz zu „anders, verschieden, unterschieden, 10 Hier zwei prominente Bücher aus dem Diskurs der 1980er-Jahre sind: Wesel, Uwe: Der Mythos vom Matriarchat. Über Bachofens Mutterrecht und die Stellung von Frauen in frühen Gesellschaften vor der Entstehung staatlicher Herrschaft. Frankfurt / Main: Suhrkamp, 1988. Göttner-Abendroth, Heide: Das Matriarchat I. Geschichte seiner Erforschung. Stuttgart: Kohlhammer, 1988. Insbesondere Göttner-Abendroths Publikationen haben diesen Mythos einer anderen weiblichen Kultur im Sinne des essentialistischen Feminismus der Nach-68er-Ära forciert. 11 Ricœur, Paul: Das Selbst als ein Anderer. München: Fink, 1996. S. 11. 23 1.2. Formen des Alteritären unterschiedlich, ungleich“ verwendet. 12 Mit der Selbstheit (ipse) kommt, wie Ricœur schreibt, die „Dialektik-[…] des Selbst und des Anderen“ ins Spiel. 13 Im Einklang mit dem Titel des Buches kommt der Philosoph zu dem Schluss, dass die „Andersheit“ die „Selbstheit“ konstituiert. 14 Während ipse auf die Frage Wer? bezogen ist, referiert idem auf die Frage Was? Selbigkeit ist, wie Ricœur schreibt, eine relationale Größe, während der zweite Aspekt von Identität qualitativer Natur ist und auf die „größtmögliche Ähnlichkeit“ bezogen ist. Ricœur ergänzt jene qualitative bzw. prädikative Identität durch ein Prinzip der Beständigkeit und erläutert das am Beispiel eines Werkzeugs, dessen Struktur erhalten bleibt, auch wenn im Laufe der Zeit alle einzelnen Teile durch neue ersetzt worden sind. 15 Im Sinne einer „Dialektik“ von Identität und Alterität gibt es demnach zwei nicht voneinander abzuleitende Formen von Identität, die, wie Ricœur zeigt, durch narrative Konstruktionen miteinander verbunden sind. Es ist nämlich das Narrativ, das die Beständigkeit im Wandel und damit Kontinuität generiert und garantiert. In der narrativen Konstruktion von Identität überlappen sich die beiden Aspekte von Identität. 16 Das bedeutet indes, dass Identität wie Alterität das Ergebnis ein und derselben kulturellen Dynamik darstellen, die ohne die Kulturtechnik des Erzählens undenkbar ist. Zugleich aber gibt es zwei Grundformen von Alterität: Andersheit als Pendant (Opposition und Komplement) zur Selbstheit und Fremdheit wäre demnach Nicht-Selbstheit, Fremdheit als Gegenstück zur ‚Selbigkeit‘ hingegen Nicht-Selbigkeit. Die dritte Phänomenlage der Alterität, die Exterritorialität, das ‚Ausländische‘, die man natürlich auch als eine Sonderform der Fremdheit behandeln könnte, hat eine unverkennbar qualitative Bestimmung und gehört demnach zum Aspekt der Identität im engeren Sinne, der Idem-Identität. Aber das Ausländische hat eine unmissverständliche räumliche Dimension, die übrigens nicht konstant sein muss. Sie hängt ganz offensichtlich mit der Äquivokation des Wortes ‚sein‘ zusammen, die im Spanischen insofern aufgelöst wird, als dieses zwischen ser (sein) und estar (sich befinden) unterscheidet. Was zum Beispiel Österreich ist und wo sich-- je nach Perspektive-- dieses Inbzw. Ausland befindet, das hat sich binnen hundert Jahren dramatisch verändert, vom Imperium über den ‚angeschlossenen‘ Teil Deutschlands bis zur Zweiten Republik. Weil der exterritoriale Aspekt von 12 Ricœur, Das Selbst, S. 11. 13 Ricœur, Das Selbst, S. 13. 14 Ricœur, Das Selbst, S. 12. 15 Ricœur, Das Selbst, S. 144 ff. 16 Ricœur, Das Selbst, S. 173-186. 24 1. Begriffsklärungen: Fremd, anders, ausländisch Alterität räumlich ist, ist es naheliegend, diesen mit der Frage Wo? zu verbinden. Wie der hübsche Dialog von Karl Valentin sinnfällig macht, ist Fremdheit zentral auf den jeweiligen raum-zeitlichen Kontext bezogen. In diesem rein formalen Sinne sind wir allesamt potentiell Fremde in der von Valentin formulierten Tautologie: „Fremd ist der Fremde nur in der Fremde.“ 1.3. Alterität und Raum Wie an mehreren Stellen deutlich wird, gibt es einen klaren Zusammenhang zwischen dem Thema der Alterität und einem anderen Themenkomplex, der mit dem „spatial turn“, der Hinwendung zu Phänomenen des Räumlichen, in Zusammenhang steht. Die Rede ist von der Liminalität, ohne die die Diskussion über räumliche oder auch raum-zeitliche Phänomene nur schwer denkbar ist. Alle Formen von Grenzen und Rahmungen implizieren eine Teilung des realen, symbolischen und imaginären Raumes, wobei das deutsche Wort ‚teilen‘ einen doppelten Sinn in sich trägt. Etwas zu teilen, bedeutet einerseits eine Grenze zu ziehen (in unserem Falle also zwischen zwei Individuen), es meint aber andererseits auch, mit jemand anderem etwas gemeinsam zu haben. Das deutsche Wort teilen umfasst also die Bedeutung der beiden englischen Wörter separate und share. Interessanterweise ist das Individuum etymologisch als eine existentielle Entität zu begreifen, die, wie das Präfix ‚in‘ anzeigt, kein Teilbares (dividuum) ist. Im heutigen Verständnis ist aber dieses unteilbare Selbst indes fragmentiert und diese ‚Teilung‘ verbindet es wiederum mit einem Anderen. Das Gemeinsame in dieser reziproken Andersheit ist eben der Grenzverlauf oder der trennende Rahmen. Massimo Cacciari hat deshalb das Doppel-Phänomen der Grenze- - Trennung und Verbindung- - mit den Begriffen limes und limen beschrieben, wobei ersteres das Hindernis und die Trennung darstellt, zweiteres die Öffnung und den Übergang. 17 Das klassische Gemälde ist von seiner Umgebung durch einen Bilderrahmen getrennt und zugleich mit ihm als seinem Kontext verbunden. Bekanntlich ist der Rahmen, Simmel folgend, 18 jenes Strukturelement, das dem, was es umrahmt, Be- 17 Cacciari, Massimo: Wohnen. Denken. Essays über Baukunst im Zeitalter der völligen Mobilmachung. Aus dem Italienischen von Reinhard Kacianka. Klagenfurt: Ritter 2002. S. 73-84. 18 Simmel, Georg: „Der Bildrahmen. Ein ästhetischer Versuch“. In: Simmel, Georg: Aufsätze und Abhandlungen -. Gesamtausgabe. Bd. 1. Herausgegeben von Otthein Rammstedt. Frankfurt / Main: Suhrkamp, 1995. S. 101-108. 25 1.3. Alterität und Raum deutung verleiht, indem es ihm einen Kontext zuweist, ohne den das so Gerahmte keine Bedeutung hat. Das gilt auch für jene vielschichtigen Dispositionen, die hier im Überbegriff des Alteritären, der Andersheit, versammelt sind. Wir sprechen über Andersheit, weil wir in einer Welt leben, in der sich das Denken darüber nachhaltig verändert hat. Nimmt man die Globalisierung nämlich nicht als einen Effekt, der sich vornehmlich auf die Zeit nach 1989 bezieht, sondern im Sinne einer longue durée, eines sich über Jahrhunderte erstreckenden Prozesses, so wird sichtbar, dass diese Globalisierung, die in der Neuzeit mit den außereuropäischen Entdeckungsreisen beginnt, gegenläufige Tendenzen in sich birgt, die den Vereinheitlichungstendenzen zuwiderlaufen und neue Partikularitäten begründen. Globalisierung bedeutet eine Weitung und Expansion in den Raum. Sie nimmt insofern von europäischem Boden ihren Ausgang, indem sie den Raum um Dimensionen, die zuvor undenkbar waren, öffnet und die zu Beginn dieser Ausfahrt mit phantastischen Welten und Völkern assoziiert worden sind. Diese unbekannten Populationen sind es nun, die als ‚Andere‘ konstruiert werden und somit die neuen peripheren Ränder der Erde bevölkern. 19 Mit der Ausweitung des Raumes beginnen indessen die kollektiven Anstrengungen, diesen Raum zu komprimieren, einerseits durch die Überführung europäischer Kultur in die neu entdeckten Räume, andererseits durch die Entwicklung von Medien, die eben diesen Transfer von Menschen, Gütern und Ideen forcieren. Beispiele dafür sind die Beschleunigung des Schiffsverkehrs und die Erfindung der ‚Luftschiffe‘, der Buchdruck (Zeitung, technisch produzierte Bücher) und die sich daran anschließenden medialen Revolutionen im Bereich von Information und Kommunikation (Radio, Telefon, Computer). Von entscheidender Bedeutung ist außerdem der kulturgeschichtliche Triumph der wohl wichtigsten Neuerung der Neuzeit, der Tauschwährung Geld, die sich in diesem Langzeitprozess als entscheidendes Movens erweist, um das asymmetrische Zusammenwachsen der Welt voranzutreiben. Der unübersehbare Effekt all dieser Weiterentwicklung ist nämlich, dass sich, zumindest oberflächlich, Entferntes näher kommt. Dass der Globus, auf dem wir leben, eine runde Gestalt besitzt und sich nicht unendlich linear erstreckt, trägt real wie symbolisch zu diesem Zusammengehörigkeitsgefühl bei. Letzteres manifestiert sich darin, dass wir eine globale Katastrophengemeinschaft geworden sind: Jeder Unfall, jedwede Umweltkatastrophe sowie 19 Todorov, Tzvetan: Die Eroberung Amerikas. Das Problem des Anderen. Aus dem Französischen von Wilfried Böhringer. Frankfurt/ Main: Suhrkamp, 1985. 26 1. Begriffsklärungen: Fremd, anders, ausländisch die Kriege und Bürgerkriege dieser Welt werden in unterschiedlichen narrativen Versionen, von allen Menschen auf diesem Erdball wahrgenommen. Die Öffnung der Räume mit der damit einhergehenden Erfahrung des kulturell Fremden und die Schließung der Räume, die eine Verbindung mit jenen neuen Alteritäten mit sich bringt, sind zwei einander bedingende Effekte. Sie sind Teil desselben kulturellen Prozesses, der keineswegs linear verläuft sondern Gegenreaktionen dadurch erfährt, dass neue Grenzen gesetzt werden, die Räume strukturieren und zugleich trennen. Ein Beispiel dafür ist der klassische Nationalstaat, der nach innen Homogenisierung forciert und sich- - die europäische Flüchtlingskrise der Jahre 2015 / 2016 ist ein besonders illustratives Beispiel-- gegen den Einfluss von außen abschotten möchte bzw. diesen zumindest streng reglementieren und kanalisieren möchte. Mittels einseitiger territorialer und symbolischer Abgrenzung wird Heterogenität produziert. Wie gegenläufig diese Prozesse verlaufen, lässt sich an den zentral-, ost- und südosteuropäischen Metropolen erkennen: Keine von ihnen, weder Wien noch Budapest, weder Prag noch Belgrad, weder Zagreb noch Triest, weder Thessaloniki noch Wilna waren sprachlich, ethnisch oder religiös homogen, sie sind es erst infolge des Ersten und Zweiten Weltkrieges bzw. durch die Ereignisse um und nach 1989 geworden. Umgekehrt strömen heute Menschen aus ärmeren Teilen der Welt in viele wohlhabende europäische und nicht-europäische Städte und generieren so neue Fremden und auch neue Heimaten. Der marxistische Sozialismus hat sich zunächst als eine globale Alternative zur kapitalistischen Globalisierung verstanden und hat so dem kapitalistischen Weltmarkt und der medialen Globalisierung markante Grenzen gesetzt. Dazu gehören sichtbare Beschränkungen wie der Eiserne Vorhang sowie unsichtbare wie beispielsweise die Kontrolle von Medien und Binnenmärkten. Wie ich in einem anderen Buch (Niemand zu Hause) dargelegt habe, wird das Fremde in einem exotischen Sinn infolge dieser Doppelbewegung von Öffnung und Schließung zum raren Gut. 20 Wer in den vielen Städten dieser Welt mit dem Flugzeug landet, der ist nicht nur von der Fremdheit des anderen Landes überrascht, sondern auch davon, dass sich bestimmte Infrastrukturen ähneln und dass er dort neben Flughäfen und breiten Fahrstraßen all jene globalen Produkte, Markennamen, elektronischen Ausrüstungen, Imbiss-Restaurants und postmoderne Einkaufszentren findet, die er auch aus seinem eigenen kulturellen Kontext kennt. Dieses Zusammenwachsen vollzieht sich an einer fragilen, sich 20 Müller-Funk, Niemand zu Hause, S. 76-98. 27 1.3. Alterität und Raum schnell ändernden Oberfläche, die Marc Augé als ein System von Nicht-Orten bestimmt hat. 21 Dennoch bleiben die klassischen, oft vormodernen Orte, ohne die der moderne Nationalismus sein Auskommen nicht finden kann, nach wie vor als symbolische Ressourcen intakt. Unter der homogenisierenden Fassade einer gleichförmigen, scheinbar alles nivellierenden Globalisierung halten sich hartnäckig partikulare Charakteristika, die etwa einer stärkeren Integration Europas im Wege stehen; von diesen auch medial gepflegten Besonderheiten, die ja auch dem Selbstbild des multiplen Halbkontinents bis zu einem gewissen Grad entsprechen, profitieren in jüngster Zeit nicht zuletzt radikale Rechte wie Linke, die gegen eine gemeinsame Politik, Kultur und Ökonomie bereits innerhalb Europas Sturm laufen. Problematisch ist dabei nicht so sehr der unvermeidliche Fortbestand von Partikularitäten, der zur prozessualen Logik von Kultur gehört und der sich positiv als Vielheit von Fremdem begreifen lässt, sondern vielmehr die Instrumentalisierung der feinen Unterschiede für die Wiederherstellung von Grenzen, die nur mehr einen Aspekt des Teilens, nämlich den der Abschottung, im Sinn hat. Die neo-nationalistischen Strategien vieler europäischer Staaten lassen sich hier als plastisches Beispiel anführen. Wo niemand zu Hause ist, da sind die Menschen räumlich gesprochen potentiell unterwegs, ohne dass freilich die Menschen globale Nomaden geworden sind. Gewiss, die privilegierten Erdenbürger ziehen in den Urlaub, sie nutzen akademische Austauschprogramme oder verlassen gar ihre angestammten Länder, aber eigentlich machen sie sich damit zugleich andernorts sesshaft: 22 So wie sich Medien und Zeichensysteme vermischen, so kombinieren sich umherziehende und sesshafte Existenzen. Das bedeutet aber auch, dass jene letztendlich auf der Sesshaftigkeit beruhenden fixen Identitäten-- und nichts anderes meint das problematische deutsche Wort ‚Heimat‘-- mit Anführungszeichen versehen werden sollten. Die- - neue- - Bedeutung von ‚Heimat‘ als einem Ort, an dem sich der Mensch befindet, dem er sich zurechnet und in den er, unabhängig von seiner Herkunft, mitgestaltend eingreifen möchte, besitzt durchaus politisches und kulturelles Gewicht. Dennoch verfügt ‚Heimat‘ in dieser entpathetisierten kulturellen Neufassung nicht mehr über das gleiche metaphysische Potential wie 21 Augé, Marc: Orte und Nicht-Orte. Vorüberlegungen zu einer Ethnologie der Einsamkeit. Aus dem Französischen von Michael Bischoff. Frankfurt / Main: S. Fischer, 1994. S. 53-134. 22 Vgl. hierzu Deleuze, Gilles / Guattari, Félix: Tausend Plateaus. Aus dem Französischen von Gabriele Ricke und Ronald Voillié. Berlin: Merve, 1992. S. 658-694. 28 1. Begriffsklärungen: Fremd, anders, ausländisch der Nationalismus und Familialismus, 23 wie er dem traditionellen pathetischen Verständnis von ‚Heimat‘ im 19. und 20. Jahrhundert innegewohnt hat. Auch wenn neuerdings die Berufung auf Heimat, Tradition und Nation durch den Rechtspopulismus wieder virulent wird, so ist doch eine gewisse Säkularisierung des Heimat-Begriffs unübersehbar. Harmlos ist derlei politische Indienstnahme von ‚Heimat‘ indes keineswegs, vor allem dann, wenn die Anrufung des scheinbar substanziell Eigenen in einem Akt symbolischer Aufrüstung als binäre Opposition zu den diversen Phänomenlagen von Fremdheit und Andersheit forciert wird. „Niemand zu Hause“, das bedeutet auch, dass der moderne (postbzw. hypermoderne) Mensch nicht mehr bei sich zu Hause ist. Während also das Fremde in der weiten Welt draußen seine Fremdheit einzubüßen scheint, wächst das Fremde in der eigenen Kultur, äußerlich durch die Anwesenheit von Menschen aus historisch anderen Kulturen, innerlich durch die Einsicht jener Selbst-Fremdheit, wie sie Sigmund Freuds Lehre vom Unbewussten nahelegt ( → - Kapitel 3). Nicht zuletzt-- und das wäre ein anderer, letztendlich auf den frühen Karl Marx rekurrierender kulturkritischer Befund-- ist dem Menschen jene Welt, die er selbst als ein kollektiver Demiurg ge- und erschaffen hat, fremd geworden. Das Entäußerte tritt ihm dabei, so die einstmals sehr prominente und heute ein wenig verschattete Theorie der Entfremdung, als ein fremdes Anderes und Unbekanntes entgegen ( → -Kapitel 11). Der Einbruch der Figur des bzw. der Anderen (Singular und Plural, Mann und Frau) in den philosophischen Diskurs wäre neben der Globalisierung der zweite Rahmen, innerhalb dessen heute Phänomene des Alteritären verhandelt werden. Er bedeutet den Bruch mit einer Tradition des Philosophierens, die vornehmlich --Ausnahmen hat es immer gegeben-- monologisch und monadisch nach dem Verhältnis von Mensch und Welt gefragt hat und letzte dabei unter die Kategorie eines gegenständlichen Objekts gefasst hat, mit dem das theoretisch fragende Subjekt konfrontiert ist. Dieser Bezug ist heute von einem anderen gleichsam überschrieben, in dem es um die Relation zwischen Subjekten, um eine Subjekt-Subjekt-Beziehung geht. Martin Buber und Gabriel Marcel haben sie im Sinne einer Ich-Du-Beziehung skizziert, aber vielleicht markiert dieses Du doch tendenziell 23 Anderson, Benedict: Die Erfindung der Nation. Zur Karriere eines folgenreichen Konzepts. Aus dem Englischen von Christoph Münz und Benedikt Burkhard. 2. erweiterte Ausgabe. Frankfurt / Main: Campus, 1996. S. 20: „Meiner Auffassung nach ist der Nationalismus nur zu verstehen, wenn man ihn nicht in eine Reihe mit bewußt verfochtenen Ideologien stellt, sondern mit den großen kulturellen Systemen, die ihm vorausgegangen sind und aus denen-- und gegen die-- er entstanden ist.“ 29 1.4. Fremdheit als transdisziplinäres Paradigma ein exklusives und intimes Verhältnis zweier Menschen und unterschlägt eben die in und durch die Moderne erkannte und formulierte ‚Heimatlosigkeit‘ des modernen Menschen, der sich selbst fremd ist und dem auch sein Gegenüber an einem entscheidenden Punkt fremd bleibt. Insofern beginnt der Diskurs der Alterität, der mit der französischen Nachkriegsphilosophie anfängt, tatsächlich erst, als dieses Gegenüber in einem schillernden und vieldeutigen Sinn mit dem Epitheton des Anderen versehen wird. Der Blick auf die beiden Rahmungen unseres Themas, Globalisierung einerseits, Alterität andererseits, macht deutlich, dass diese Überlagerungen sich wechselweise produktiv beeinflussen, ohne doch theoretisch und ‚kategorisch‘ identisch zu sein. Rückt nämlich der mit den Globalisierungsphänomenen befasste kulturwissenschaftliche Blick die Figur des oder der kulturell Anderen, der mit der Zuschreibung des Ausländisch-Exterritorialen und darüber hinaus mit der des Fremden verbunden ist, ins Zentrum, so kreist der philosophische viel stärker um die Frage der Zweiheit, Gespaltenheit und Fragmentierung der conditio humana. Die Fremdheit, die sich dabei auftut, unterscheidet sich prinzipiell von der traditionellen Angst-Lust vor anderen Kulturen. Strukturell löst sie ebenfalls Angst-Lust aus, aber sie entzündet sich nicht an der kulturellen Fremdheit eines Menschen, sondern an der Tatsache, dass es ein unübersteigbares Moment an Fremdheit in uns gibt, das wir nicht zu übersteigen vermögen, das wir im Sinne einer nachtraditionellen Ethik aber produktiv entfalten können. 1.4. Fremdheit als transdisziplinäres Paradigma Es gibt, wie der Verweis auf Simmel nahelegt, eine ältere, aber stets erneuerte soziologische und sozialwissenschaftliche Diskursschicht, die den Anderen vornehmlich in seiner gesellschaftlichen Funktion begreift und dabei zumeist zwischen stratifikatorischen und funktionell differenzierenden Gesellschaftskonstruktionen unterscheidet. Auch diese Funktion ist nicht einheitlich. Sie reicht vom Fremden als Feind oder als Sündenbock über die Zuweisung als Schiedsrichter bis zu speziellen Zuweisungen. Immer spielen dabei Unbekanntheit, Konflikt und Unterwerfung (bis zur Sklaverei) eine zentrale Rolle. Erstaunlich ist, wie wenig die aus verschiedenen Disziplinen heraus entstandenen Konzepte von Fremdheit miteinander im Dialog stehen bzw. wie die Debatten aus anderen Diskursen diesen Dialog systematisch ignorieren. So wird man in der in den Vergleichenden Literaturwissenschaften entstandenen Imagologie nur selten auf naheliegende und anschließbare soziologische oder kulturwissen- 30 1. Begriffsklärungen: Fremd, anders, ausländisch schaftliche Perspektiven verwiesen. Auch im soziologischen Funktionalismus wird allenfalls auf bestimmte philosophische Traditionen rekurriert, aber die Bezugnahme zu gegenwärtig aktuellen psychoanalytischen oder dekonstruktivistischen Theorien wird gemieden. Das lässt sich etwa an der empfehlenswerten einführenden Studie von Yaşar Aydın Topoi des Fremden ablesen, die den Fremden als Wanderer und potentiellen Zuwanderer, als kulturellen Hybriden und als Außenseiter präsentiert, die philosophische Dimension der Alterität freilich ebenso außer Acht lässt wie die Differenz von Fremdem und Ausländer. Aydın verweist in seinen Überlegungen zur Genese des Topos des Fremden auf so unterschiedliche Momente wie den (postmodernistischen) Diskurs über die Moderne, die Herabstufung des Fremden, den Begriff der Entfremdung, den Begriff der Verantwortung im Sinne von Lévinas oder die Idee der Reziprozität bei Honneth und Ricœur, ohne die zumindest partielle Differenz von Fremdheit und Alterität ins Blickfeld zu rücken. Psychoanalyse, Kultur- oder Literaturwissenschaft kommen gar nicht zur Sprache und werden auch nicht eigens erwähnt. 24 Gleichwohl halte ich die von dem Autor vorgenommene Typologie von Theorien und Konzepten des Fremden für erhellend. Aydın unterscheidet vier gesellschaftstheoretische Denkmodelle: 1. Das Modell des Fremden als eines negativen Kontrastes zum Eigenen. Als Theoretiker führt er hier- - in kritischer und nicht-affirmativer Intention- - Bernhard Waldenfels an ( → -Kapitel 5). 2. Das Modell, das Fremdheit auf Entfremdung zurückführt und von Hegel entworfen und von Marx und der marxistischen Theorie systematisch ausgearbeitet wurde ( → -Kapitel 11). 3. Das Modell, das Fremdheit und die Vorrangigkeit des Fremden vor dem Eigenen postuliert, so das Verständnis von Lévinas Philosophie der Alterität ( → -Kapitel 4). 4. Das Modell, das Eigenheit und Fremdheit als reziprok begreift. Dieses Modell verbindet er mit Axel Honneth, einem Erben der Kritischen Theorie, sowie mit Paul Ricœur. 25 24 Aydın, Yaşar: Topoi des Fremden. Zur Analyse und Kritik einer sozialen Konstruktion. Konstanz: UVK , 2009. S. 84-116 bzw. S. 46-70. 25 Aydın, Topoi des Fremden, S. 49. 31 1.4. Fremdheit als transdisziplinäres Paradigma Es ist ganz offenkundig, dass sich die vier vorgestellten Modelle auch darin unterscheiden, was sie unter ‚Fremdheit‘ verstehen, einmal den Kontrast gegenüber einer anderen fremden Kultur (Modell 1), sodann einen Prozess der Enteignung, in dem das kulturelle Moment zunächst gar keine Rolle spielt (Modell 2), während die Pointe bei Lévinas ja gerade darin besteht, ‚Fremdheit‘ in der Alterität des Vertrauten, des Nicht-Exotischen, im Gegenüber zu verorten. Und auch bei Ricœur geht es nicht primär um die Figur eines Menschen, der aus einer anderen Kultur stammt bzw. dessen Herkunft dunkel und mysteriös ist. Anders ausgedrückt: Das Thema ‚Fremdheit‘ changiert zwischen kultureller Prädikation (der kulturell Fremde, ‚der Türke‘) und universaler Prädikatslosigkeit, die sich in der Begegnung eines Anderen vollzieht, der nicht (mehr) im Sinne einer sozialen oder kulturellen Konstruktion ‚fremd‘ ist. Das vorliegende Buch ist als eine fächerübergreifende und transdisziplinäre Einführung konzipiert, in der neben philosophischen Fragestellungen auch kulturtheoretische und literaturwissenschaftliche Ansätze zur Sprache kommen, die in den sozialwissenschaftlichen Abhandlungen zumeist zu kurz kommen. Es verfolgt den Anspruch, möglichst viele, im Bereich von Sozial- und Humanwissenschaften relevante, theoretische Ansätze zu thematisieren und ihren je spezifischen Beitrag zum Verständnis alteritärer Phänomene zu würdigen. Dabei werden die verschiedenen Ansätze möglichst textnah vorgestellt und diskutiert. Nach der in diesem Eingangskapitel skizzierten Begriffsklärung kommt in Kapitel 2 Hegels überaus einflussreicher Text aus der Phänomenologie über Herr und Knecht zur Sprache, ohne den der französische philosophische Nachkriegsdiskurs über Alterität und Differenz undenkbar wäre. Kapitel 3 präsentiert Denkformen des Fremden im Umfeld von Romantik und Psychoanalyse. Wie nicht zuletzt Freuds Kommentar zu E. T. A. Hoffmann nahelegt, hat die Romantik psychoanalytische Denkfiguren des Fremden und des Unbewussten wie auch soziologische Bestimmungen des Fremden gebündelt und vorweggenommen. In diesem Kapitel wird auch Julia Kristevas einflussreiches und bahnbrechendes Buch über Fremdheit diskutiert, das sich auf den romantischen und den psychoanalytischen Diskurs, wie er in Freuds Hoffmann-Lektüre gebahnt wurde, bezieht. Das vierte und das fünfte Kapitel, die in so mancher Hinsicht an Kapitel 2 anschließen, stellen die bedeutsamen Beiträge von Ansätzen vor, die im Umfeld phänomenologischen Denkens entstanden sind. Dabei kommt den Schriften von Emmanuel Lévinas und Bernhard Waldenfels eine besondere, nämlich auch korrektive Bedeutung zu. Daran anschließend werden in Kapitel 6 all jene sozialwissenschaftlichen Ansätze zur Sprache kommen, die im Anschluss an Georg Simmel und Alfred 32 1. Begriffsklärungen: Fremd, anders, ausländisch Schütz und später an Niklas Luhmanns Systemtheorie Fremdheit als soziale Konstruktion begreifen. Kapitel 7 unternimmt eine intensive Lektüre von Lacans Spiegelstadium-Aufsatz und seiner Implikation für eine Theorie des Alteritären. Um Bildkonstruktionen des Anderen geht es im Anschluss daran in dem Kapitel über Imagologie, in dem das theoretische Selbstverständnis der Aachener Schule, der Orientalismus Edward Saids sowie die Analyse des kolonialen Stereotyps bei Homi K. Bhabha vorgestellt und kommentiert werden. Kapitel 9 behandelt die Denkfigur der Dekonstruktion und ihre ‚Strategie‘, bestehende, selbstverständliche Grenzen in Frage zu stellen, im Fall Jacques Derridas die Differenz von Mensch und Tier, im Falle Jean-Luc Nancys jene von Gesundheit und Krankheit. Nicht nur wird Krankheit als eine potentiell lebensbedrohende Macht erfahren, sondern auch die medizinische Therapie, die im Falle von Nancy in der Implantation eines fremden Herzens gipfelt. Immer geht es dabei darum, den Fremden bzw. das Fremde als das Ergebnis von binären Denkstrukturen zu begreifen, ohne die die Unterscheidung von Eigenem und Fremdem undenkbar wäre. Diese reflexive Subversion spielt auch für die Kategorie des Geschlechts und insbesondere für die Geschlechterdifferenz eine maßgebliche Rolle, die in Kapitel 10 erörtert werden, wobei Texte aus dem differenztheoretischen Feminismus (Luce Irigaray) konstruktivistischen Denkweisen (Judith Butler) gegenübergestellt werden. Im Kapitel 11 kommt ein Diskurs zur Sprache, der zeitweilig bereits historisch geworden zu sein schien, von dem aber noch immer nicht unerhebliche subkutane kulturpolitische Impulse ausgehen. Die Rede ist von der höchst aufschlussreichen Kategorie der ‚Entfremdung‘, die auf der These und dem Narrativ von Karl Marx basiert, wonach es die moderne okzidentale kapitalistische Produktion ist, die systematisch und strukturell Fremdheit erzeugt. Hierbei wird ‚Entfremdung‘ (ein Begriff, der ja eigentlich eine Rücknahme von Fremdheit meint), zum Inbegriff einer in ihrem Kern als tragisch interpretierten Selbstfremdheit des Menschen. Alle gesellschaftlichen und kulturellen Befreiungsbewegungen des 19., 20. und womöglich auch noch des 21. Jahrhunderts haben sich an diesem Befund entzündet. Die Konstatierung wachsender Fremdheit menschlicher Befindlichkeit bildet ein tragendes Element in allen Formen und Versionen von kritischen Theorien, von ihren Anfängen bei György Lukács und Walter Benjamin, über Günther Anders bis zu Theodor W. Adornos Spätwerk. Eine gänzlich andere Produktion des Fremden und Befremdlichen rückt mit der Phantastik in den Vordergrund ( → - Kapitel 12). Dabei springt einem der Zusammenhang von Fremdheit und Liminalität ins Auge. Über Übersetzung als Mediation von Fremdheit geht es im dreizehnten und letzten Kapitel dieses Buches. Dabei werden im Anschluss 33 1.4. Fremdheit als transdisziplinäres Paradigma an Benjamins Überlegungen zur Arbeit des Übersetzens literatur- (George Steiner) und kulturwissenschaftliche Ansätze (Boris Buden) vorgestellt. Das Thema ‚Hybridität‘ wird in die Kommentierung miteinbezogen, in der es um eine Subjekt-Konstellation geht, in der die Differenz von Eigenheit und Fremdheit überwunden scheint und die Eigenheit als Fremdheit und umgekehrt die Fremdheit als Eigenheit erscheint. Ziel des Buches, das auf verschiedene Seminare zurückgeht, die der Verfasser im Laufe seiner akademischen Lehrtätigkeit gehalten hat, ist eine facettenreiche Darstellung der durchaus verschiedenen Annäherungen an das Phänomen von Alterität, die Diskussion ihrer Problematik und auch ihrer Brüchigkeiten, ihrer gesellschafts- und kulturpolitischen Implikationen. Ziel des Buches ist es auch, die in der Einleitung vorgenommene kategoriale Differenzierung des Alteritären- - Alterität (Dualität), Fremdheit (Unbekanntheit), Ausländisch-Sein (Exterritorialität)- - im Sinne einer die Sprache einschließenden Phänomenologie immer wieder zur Sprache zu bringen. Bei der Sichtung des theoretischen Materials ist es wichtig zu prüfen, welche Form von Alterität die jeweiligen Zugänge in den Mittelpunkt rücken und wie bzw. ob sie diese verschiedenen Dimensionen des ‚Fremden‘ herausarbeiten. Dabei werden, wie gesagt, verschiedene Disziplinen und methodische Ansätze vorgestellt und diskutiert, Phänomenologie und Dekonstruktion, systemische Konzepte der Soziologie, cultural studies, diverse psychoanalytische Zugänge, komparatistische Ansätze, literarische und politische Perspektiven. Wie schon ein früheres Einführungsbuch des Verfassers (Kulturtheorie), ist auch dieses einem Verfahren verpflichtet, das als close reading bezeichnet wird. Programmatische Absicht des Buches ist, sich auf zumeist kurze und überschaubare Texte zu konzentrieren und diese auch hinsichtlich ihrer sprachlichen und rhetorischen Struktur gründlich und kommentierend zu lesen und zu befragen. Bei der Auswahl des Materials kam es ganz unvermeidlich zur Qual der Wahl. Ein entscheidendes Kriterium war dabei, inwiefern die ausgewählten Texte im Sinne der Diskursanalyse Michel Foucaults diskursbegründend sind bzw. waren, 26 d. h. die gedankliche Auseinandersetzung mit einem bestimmten Thema, in diesem Falle Fremdheit, bestimmt haben. In diesem Zusammenhang liegt der Begriff der ‚klassischen‘ Texte nahe. Der Soziologe Rudolf Stichweh versteht, der philologischen Tradition folgend, darunter Texte, „die gelesen und immer erneut 26 Foucault, Michel: Die Ordnung des Diskurses. Inauguralvorlesung am Collège de France. Aus dem Französischen von Walter Seitter. Frankfurt / Main: Ullstein, 1977. S. 45. 34 1. Begriffsklärungen: Fremd, anders, ausländisch gelesen werden“. 27 Ein solcher Text wird auch dann noch gelesen, selbst wenn er im Kern zurückgewiesen worden ist, weil er, wie Stichweh unter Berufung auf Niklas Luhmann 28 argumentiert, im Hinblick auf eine bestimmte „Problemstellung“ eine fortdauernde Geltung besitzt. 29 Nicht selten werden in den Kapiteln neuere Texte aufgerufen und einer intensiven Lektüre unterzogen, die die Grundüberlegungen der Diskursbegründer weiterentwickelt haben. Es war mir ein besonderes Anliegen, nicht nur die jeweiligen Stärken, sondern auch die Unzulänglichkeiten der jeweiligen Konzepte herauszuarbeiten. Entstanden ist ein Buch, das sich mit Heterogenität befasst und selbst Theorien und Komplexe vorstellt, die in ihrer Unterschiedlichkeit und Inkompatibilität zeigen, wie vieldeutig und facettenreich Alterität ist. 27 Stichweh, Rudolf: Der Fremde. Studien zur Soziologie und Sozialgeschichte. Berlin: Suhrkamp, 2010. S. 9. 28 Luhmann, Niklas: „Arbeitsteilung und Moral“. In: Durkheim, Emil: Über die Teilung der sozialen Arbeit. Frankfurt / Main: Suhrkamp, 1997. S. 17 f.: „Klassisch ist eine Theorie, wenn sie einen Aussagenzusammenhang herstellt, der in dieser Form später nicht mehr möglich ist, aber als Desiderat fortlebt.“ Und: „Der Text bleibt aktuell, solange seine Problemstellung kontinuierbar ist. Er bleibt maßgebend in einem ambivalenten Sinne: Man kann an ihm ablesen, was zu leisten wäre, aber nicht mehr, wie es zu leisten ist.“ 29 Stichweh, Der Fremde, S. 10. 35 2.1. Der „gespenstische Schatten“ Hegels 2. Die Konstruktion des Anderen in der französischen Nachkriegsphilosophie 2.1. Der „gespenstische Schatten“ Hegels Das folgende Kapitel behandelt einen Kulturtransfer zwischen Deutschland und Frankreich. Er bezieht sich vornehmlich auf Georg Wilhelm Friedrich Hegel (1770-1831) und Martin Heidegger (1889-1976), die nach dem 2. Weltkrieg einen maßgeblichen Einfluss auf das französische Denken erlangten. Im Falle Hegels steht dabei sein erstes und berühmtestes Werk, die Phänomenologie des Geistes (1807), im Zentrum des Interesses der französischen Nachkriegsphilosophie. Insbesondere ein einziger Abschnitt aus dem Schlüsselwerk des Deutschen Idealismus, nämlich jener, in dem Hegel sich mit der Entstehung des Selbstbewusstseins beschäftigt, hat dabei eine prominente Rolle gespielt. Zu dessen Erlangung bedarf es, so Hegel, nämlich eines Gegenübers, eines Zweiten, eines potentiellen anderen ipse im Sinne von Ricœurs Theorie ( → -Kapitel 1). Der Idealismus Hegels hat im Verlauf seiner Rezeption so manche Umwandlung erfahren, angefangen bei seinem Schüler Karl Marx, der für sich reklamierte, dessen Philosophie vom Kampf auf die Füße gestellt zu haben, 1 bis hin zur Luhmannschen Systemtheorie. Hegels Konzept eines ideellen Kampfes zwischen zwei potentiellen ‚Selbstbewußtseinen‘ ist nicht selten mit der Marxschen Konzeption des sozio-ökonomisch bestimmten Klassenkampfes und in Verlängerung damit auch mit seiner Denkfigur der Entfremdung ( → -Kapitel 11) verbunden worden. In der französischen Diskussion wird diese marxistische Adaption Hegels zwar aufgenommen (von Alexandre Kojève wie von Jean-Paul Sartre), was angesichts der Allgegenwart des politischen Marxismus in Frankreich nach 1945 nicht weiter Wunder nimmt. Sie wurde aber insofern an entscheidender Stelle verändert und verfeinert, als Hegel zum Ausgangspunkt für ein Denken wird, das nunmehr die Figur des Anderen und nicht mehr die des Selbst in den Vordergrund rückt. Im Sinne der Unterscheidung der drei Phänomenlagen von Andersheit ( → -Kapitel 1) befinden wir uns also auf jener Ebene, die durch die Figur des Anderen bestimmt 1 Marx, Karl / Engels, Friedrich: „Die Deutsche Ideologie“. In: Marx-Engels-Werke. Herausgegeben vom Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED . Berlin: Dietz-Verlag, 1969. S. 27. Vgl. Castoriadis, Cornelius: Gesellschaft als imaginäre Insitution. Entwurf einer politischen Philosophie. Deutsch von Horst Brühmann. Frankfurt / Main: Suhrkamp, 1984. S. 92-96. 36 2. Die Konstruktion des Anderen in Frankreich ist. Weder der ‚Herr‘ noch der ‚Knecht‘ besitzen positive (oder negative) Eigenschaften und Prädikate, es geht auch nicht darum, dass sie einander ‚fremd‘ sind; ihre Verschiedenheit ergibt sich vielmehr aus einer Relation, die als Kampf beschrieben wird. Dass sie sich unterscheiden, ist das Ergebnis eines Kampfes und bezieht sich auf ihre unterschiedliche Stellung in einem sozialen Raum. Von einem „gespenstischen Schatten Hegels“ spricht Michel Foucault in seiner Antrittsvorlesung am Collège de France im Jahr 1970. Damit ist gemeint, dass die französische Philosophie, die nach 1945 durch Theorien wie die Phänomenologie und den Strukturalismus geprägt wurde, noch immer versuche, der Philosophie Hegels zu „entkommen“, von der sie ihren Ausgang genommen hat. 2 Foucault ist sich in seinem Résumé übrigens keineswegs sicher, ob diese Befreiung von Hegel letztendlich gelungen sei: Aber um Hegel zu entkommen, muß man ermessen, was es kostet, sich von ihm loszusagen; muß man wissen, wie weit uns Hegel insgeheim nachgeschlichen ist; und was in unserem Denken gegen Hegel vielleicht noch von Hegel stammt; man muß ermessen, inwieweit noch unser Anrennen gegen ihn seine List ist, hinter der er uns auflauert: unbeweglich und anderswo. 3 Foucault gehört, wie wir noch sehen werden, zu jener zweiten Generation französischer Nachkriegsphilosophen, die unter Berufung auf Karl Marx und Friedrich Nietzsche die idealistische Geist-Philosophie Hegels und insbesondere seine Dialektik und seinen Systemgedanken zu unterminieren trachten. In der Antrittsvorlesung würdigt der frisch berufene Epistemologe Foucault Jean Hippolyte, den Lehrer, Vorgänger und Freund, der mit seiner Übersetzung von Hegels Phänomenologie zu einem neuen Verständnis des deutschen Philosophen beigetragen habe. Aus diesem Grund werde seine französische Übertragung auch von „jenen Deutschen“ „konsultiert“, „um seine ‚deutsche Version‘ besser zu verstehen“. 4 Hippolyte habe das „Hegelsche System“ nicht als ein „beruhigendes Universum“, sondern vielmehr als „das äußerste Wagnis der Philosophie“ begriffen. 5 Wenn in der oben zitierten ironischen Passage vom Anrennen gegen die Hegelsche List die Rede ist, so handelt es sich dabei um eine Anspielung auf dessen Philosophie der Geschichte. In dieser erweist sich die Vernunft durch eben jene List, die sich die Begehren des Einzelnen zunutze macht, als die dominierende 2 Foucault, Die Ordnung des Diskurses, S. 50. 3 Foucault, Die Ordnung des Diskurses, S. 50. 4 Foucault, Die Ordnung des Diskurses, S. 50. 5 Foucault, Die Ordnung des Diskurses, S. 52. 37 2.2. Die Entdeckung des Anderen im postkolonialen Frankreich Macht des historischen Prozesses, auch wenn dabei der Einzelne bzw. das Besondere zu Schaden kommen. 6 Diese Dialektik ist, wenn auch unausgesprochen, in der Auseinandersetzung zwischen Herr und Knecht anwesend: Zwar wird der Unterlegene als Knecht marginalisiert, doch dient das zugleich dem Fortschritt der Geschichte in Gestalt des triumphierenden Selbstbewusstseins. Die Gegenwärtigkeit und Aktualität des „gespenstischen Schattens“ von Hegel zeigt sich nicht zuletzt in den Spuren, die seine Überlegungen in den philosophischen Alteritätsdiskursen unserer Tage hinterlassen haben. Exemplarisch soll dies anhand der in der französischen Nachkriegsphilosophie, unter Bezugnahme auf einflussreiche Philosophen wie Alexandre Kojève und Jean-Paul Sartre, gezeigt werden. 2.2. Die Entdeckung des Anderen im postkolonialen Frankreich Dass das Thema des Anderen und des Fremden und seine diversen Ausformungen so aktuell sind, ja sich geradezu aufdrängen, hat mit geschichtlichen Bedingungen zu tun, die im ersten einleitenden Kapitel umrissen wurden: Sie werden unter den Begriff einer Globalisierung gefasst, die politische, ökonomische, aber auch kulturelle Effekte zeitigt und die als ein Langzeitprozess zu verstehen ist. Diese Entwicklung ist ohne den Komplex der Eroberung der sog. Neuen Welt und die daran anknüpfenden Kolonialisierungswellen undenkbar. Der Kolonialismus ist die maßgebliche Ursache dafür, dass die Begegnung mit fremden Kulturen von einer kulturellen Schieflage, von einem asymmetrischen Verhältnis geprägt ist, in der brutale Machtausübung, militärische Expansion, Ausbeutung und menschliche Geringschätzung Hand in Hand gegangen sind. In diesem Zusammenhang kann erwähnt werden, dass zwei bedeutende französische Autoren, der Dichter Albert Camus und der Philosoph Jacques Derrida, aus Algerien stammen und beide den unermesslich blutig verlaufenen Prozess der kolonialen Befreiung 6 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, Werke in zwanzig Bänden. Bd. 12. Herausgegeben von Eva Moldenhauer und Karl Markus Michel. Frankfurt / Main: Suhrkamp, 1970 ff. Hier: S. 49: „Es ist das Besondere, das sich aneinander abkämpft und wovon ein Teil zugrunde gerichtet wird. Nicht die allgemeine Idee ist es, welche sich in Gegensatz und Kampf, welche sich in Gefahr begibt; sie hält sich unangegriffen und unbeschädigt im Hintergrund. Das ist die List der Vernunft zu nennen, daß sie die Leidenschaften für sich wirken läßt, wobei das, durch was sie sich in Existenz setzt, einbüßt und Schaden leidet.“ 38 2. Die Konstruktion des Anderen in Frankreich hautnah miterlebt haben. Camus’ Der Fremde und Derridas Überlegungen zur Alterität nähren sich nicht zuletzt aus dieser historischen Erfahrung. 7 Dieser realgeschichtlichen Entwicklung steht, komplementär und kontrastiv, eine Wende der okzidentalen philosophischen Diskurse gegenüber. In dieser spielt die Figur des / der Anderen bzw. des / der Fremden eine zentrale Rolle, da sie die Allmacht des Ichs in Frage stellt. Exemplarisch hierfür ist die Entwicklung der französischen Nachkriegsphilosophie, die in diesem Abschnitt vor allem Vincent Descombes folgend skizziert werden soll. Descombes unterscheidet in seinem Überblickswerk, das den programmatischen Titel Le même et l’autre (Das Selbe und das Andere. Fünfundvierzig Jahre Philosophie in Frankreich -) trägt, zwei Perioden der französischen Philosophie. Die eine umfasst die Generation jener, die nach 1900 geboren sind und deren Wirksamkeit sich auf die Jahre 1930 bis 1960 konzentriert. Diese fasst er mit der Formel von den drei H: Hegel, Husserl, Heidegger. Diese drei deutschsprachigen Philosophen bilden Descombes zufolge die fixen Bezugsgrößen für die ältere Generation, also für Jean-Paul Sartre (1905-1980), Alexandre Kojève (1902-1968), Jean Hippolyte (1907-1968), Emmanuel Lévinas (1906-1995) und Maurice Merleau-Ponty (1908-1961). Die zweite Periode wird von der Generation der zwischen 1915 und 1930 geborenen Philosophen repräsentiert, die dann ab den 1960er Jahren bestimmend wird und die sich an den Meistern des Zweifels orientieren. Bei letzteren handelt es sich wieder um deutschsprachige Denker: Karl Marx (1818-1883), Friedrich Nietzsche (1844-1900) und Sigmund Freud (1856-1939). Sie stellen wichtige Bezugsgrößen für den theoretischen Diskurs nach 1960 dar. Descombes bezieht sich hierbei auf Theoretiker wie zum Beispiel Michel Foucault (1926-1984), Roland Barthes (1915-1980) oder Jacques Derrida (1930-2004). Auffällig ist, wie gesagt, die Dominanz deutschsprachiger Meisterdenker in diesem Diskurs. Descombes kommt in diesem Zusammenhang auf das Problem 7 Descombes, Vincent: Das Selbe und das Andere. Fünfundvierzig Jahre Philosophie in Frankreich -. Deutsch von Ulrich Raulff. Frankfurt / Main: Suhrkamp, 1981. S. 162. Descombes spricht in diesem Zusammenhang von einer „Gewissensprüfung“ der französischen Philosophie: Es sei darauf hingewiesen, dass diese Gewissensprüfung mit dem Untergang der europäischen Kolonialreiche einhergeht (1962 ist das Ende des Algerienkrieges). Zu Derridas Verbindung mit dem Algerienkrieg vgl. auch Peeters, Benoit: Jacques Derrida. Eine Biographie. Deutsch von Horst Brühmann. Berlin: Suhrkamp, 2013. S. 138-160; vgl. Müller-Funk, Wolfgang: Jenseits von Resignation und Nostalgie. Kommentare und Essays. Herausgegeben von Peter Clar. Wien: Sonderzahl, 2014. S. 422-426. 39 2.2. Die Entdeckung des Anderen im postkolonialen Frankreich der Übersetzung zu sprechen. So wurde zum Beispiel Hegels Phänomenologie des Geistes erst 1947 durch Jean Hipppolyte vollständig übersetzt und bis in die 1970er Jahre war das Hauptwerk Heideggers Sein und Zeit auf Französisch nicht zugänglich. Das Fehlen einer kanonisierten Übersetzung eröffnete freilich einen interpretatorischen und kontextuellen Spielraum und ermöglichte so großzügige Adaptionen. Kultureller Transfer bedeutet immer auch die widersprüchliche, manchmal paradoxe Einfügung des Fremden in den eigenen Kontext. Dadurch verändert sich beides, das Eigene sowie das Fremde. Die an sich erstaunliche Rückkehr zu Hegel und damit verbunden seine Neu- Interpretation als „Avantgarde-Autor“ lassen sich auf verschiedene Faktoren zurückführen: Ein wesentliches Moment ist das wieder erwachte Interesse am Hegel-Schüler Marx (der später eine anti-hegelianische, nämlich strukturalistische Lesart durch Louis Althusser, einen Autor der zweiten Periode der französischen Nachkriegsphilosophie, erfuhr 8 ) und seinem Verständnis von geschichtlichem Handeln und vom Primat der Praxis (vgl. seine Feuerbach-Thesen als Kritik an der Philosophie). 9 Ein anderer Grund ist die Neubewertung speziell der Phänomenologie des Geistes durch den russisch-französischen Philosophen Alexandre Kojève. 10 In diesem Zusammenhang erfahren die Hegelsche Dialektik und die ihr zugrunde liegende Triade (These-- Antithese-- Synthese) eine überraschende Aufwertung. Diese Philosophie wird, anders als bei Platon, nicht mehr als Modus des Dialogs (das Abwägen des Für und Wider und die Integration bzw. Synthetisierung der beiden konträr erscheinenden Positionen), sondern als die maßgebliche, dynamische Form des historischen Entwicklungsprozesses selbst begriffen. Die Hegelsche Version der Dialektik wird, wie Descombes hervorhebt, als Korrektiv zum Kantianischen Rationalismus verstanden. In diesem Sinne betrachtet etwa Merleau-Ponty Hegel als einen Vorgänger von Freud und Nietzsche. 11 Dieser hat in Kojèves Deutung die Forderung nach einer „konkreten“, nicht-idealistischen Philosophie, die den „unvernünftigen Ursprung der Ver- 8 Althusser, Louis / Balibar, Etienne : Das Kapital lesen. 2 Bände. Reinbek: Rowohlt, 1962. 9 Marx, Karl: „Thesen über Feuerbach“. In: Marx-Engels Werke. Herausgegeben vom Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED . Berlin: Dietz, 1969. S. 533-535. 10 Für Beiträge u. a. von Jean Hippolyte, Hans Georg Gadamer, Georg Lukács, Alexandre Kojève siehe den Materialienband von: Fulda, Hans Friedrich / Henrich, Dieter (Hg.): Materialien zu Hegels Phänomenologie des Geistes. Frankfurt / Main: Suhrkamp, 1973. 11 Descombes, Das Selbe, S. 19 f. Das französische Originalzitat findet sich in: Merleau-Ponty, Maurice: Sens et non-sens. Paris: Nagel 1948. S. 109 f. 40 2. Die Konstruktion des Anderen in Frankreich nunft“ zum Thema macht, ins Zentrum gerückt. 12 Bei Merleau-Ponty wird, wie später bei Sartre, Hegels Idealismus in eine ‚realistische‘ Philosophie integriert, in der das Primat der Vernunft kritisch hinterfragt wird ( → - Kapitel 2.6.). Die moralische Last dieses Hegelianismus, in der die Ethik ein blinder Fleck ist, wird freilich auch schon von Kojève-- Ausgangspunkt sind die Verbrechen des Stalinismus 13 -- thematisiert: „Der Erfolg spricht das Verbrechen los.“ 14 Die Entthronung Hegels wiederum vollzieht sich, um bei Descombes’ Generations-Schema zu bleiben, in der zweiten Etappe der französischen Nachkriegsphilosophie, etwa bei Gilles Deleuze (1925-1995). In diesem intellektuellen Umfeld sind auch die bereits erwähnten Bemerkungen Foucaults zu Hegel in seiner Antrittsvorlesung am Collège de France Die Ordnung des Diskurses zu verstehen. Damit einher geht ein radikaler Wandel des Denkens. An die Stelle von Negation und Identität, Pfeiler einer post-hegelianischen Dialektik, tritt bei Deleuze 15 und Derrida eine Denkbewegung, in deren Zentrum die Differenz und die Wiederholung stehen. Descombes fasst diese folgendermaßen zusammen: Hegel hatte gesagt, der Unterschied sei in sich widersprüchlich. Nun aber geht es darum, einem Denken des nicht-widersprüchlichen, nicht-dialektischen Unterschiedes Bahn zu machen, der nicht das einfache Gegenteil der Identität ist und nicht unter dem Zwang steht, sich ‚dialektisch‘ mit der Identität identisch erklären zu müssen. 16 In dieser theoretischen Anstrengung, das Andere neu zu denken, wird eine bestimmte Auffassung von Differenz entscheidend. Derrida wird den sprachlich ‚unmöglichen‘ Begriff der ‚différance‘ prägen, der phonetisch, nicht aber in der Schreibweise mit dem klassischen Terminus différence identisch ist. Hegels Dialektik fasst den Unterschied als kontrastiv, um diesen Widerspruch in einem zweiten Schritt zu versöhnen. Diese Form der Identität ist dialektisch. Narrativ gesprochen handelt es sich um die Versöhnung von Widersprüchen. Das anti-dialektische Denken des Anderen beruht bei Deleuze und noch stärker bei Derrida auf einer Auffassung, in der Differenz und Identität potentiell zusammenfallen, aber nicht infolge der Figur einer versöhnenden und abschließenden Dialektik. 12 Descombes, Das Selbe, S. 23. 13 Merleau-Ponty, Maurice: Humanismus und Terror. Frankfurt / Main: Syndikat, 1976. 14 Kojève, Alexandre: Introduction à la lecture de Hegel. Paris: Gallimard, 1947. Hier zitiert nach Descombes, Das Selbe, S. 24. 15 Deleuze, Gilles: Differénce et repetition. Paris: 1968. Deutsch: Deleuze, Gilles: Differenz und Wiederholung. München: Fink, 1992. 16 Descombes, Das Selbe, S. 161. 41 2.2. Die Entdeckung des Anderen im postkolonialen Frankreich Die Differenz, die kein Widerspruch und kein Unterschied im klassischen Sinn ist, wird gleichsam als eine offene Stelle verstanden, die sich nicht schließt. Das Selbst und das Andere stehen sich als nicht oppositionell gegenüber, sondern sind schon von vornherein in der Differenz miteinander verbunden. Oder anders ausgedrückt, die Differenz ist in dieser Version ein Grenzbegriff. Wie Descombes betont, versteht sich die Dekonstruktion als eine Reflexion der okzidentalen Philosophie, die vor dem postkolonialen Hintergrund, hier dem Ende des Kolonialismus, „als Ideologie der europäischen Ethnie“ begriffen wird. 17 Man könnte den Übergang von der einen Position zur anderen als die Radikalisierung eines rationalitätskritischen Denkens in Frankreich, dem Land der Aufklärung und des Rationalismus, betrachten. Dieses entzündet sich an der Figur des Anderen und des Fremden als eines prinzipiell Unzugänglichen. Das Fremde ist durch eine Grenze markiert, die freilich nicht genau festlegbar ist. Das klassische, nicht-dialektische Denken hat eine klare Grenze zwischen dem Rationalen und dem Irrationalen gezogen. Die dialektische Denkfigur wird nun als eine Möglichkeit begriffen, bisherige Grenzen zu überschreiten, die der klassischen Vernunft verschlossen blieben. Aber damit geht eine Umkehrung der Auffassung von Rationalität einher. In dieser Denkbewegung kommt es zu einem strukturellen Bezug der Vernunft auf ein ihr ganz Fremdes, ihr Anderes. Descombes schreibt in diesem Zusammenhang: Die Frage bleibt also, ob diese Bewegung dazu führt, dass das Andere zum Selben gemacht wird, oder ob die Vernunft, um gleichzeitig das Rationale und das Irrationale, das Selbe und das Andere zu umfassen, eine Metamorphose vollziehen, ihre ursprüngliche Identität verlieren, dieselbe zu sein aufhören und mit dem Anderen eine andere werden wird. Das Andere der Vernunft aber ist die Unvernunft, der Wahnsinn. So stellt sich das Problem eines Weges von der Vernunft zum Wahnsinn oder zum Irrtum, eines Weges, ohne den es keinen Zugang zu wahrhafter Weisheit gibt. 18 Descombes’ Kommentar weist daraufhin, dass in der von Derrida maßgeblich beeinflussten Denkbewegung das Selbe und das Andere nicht mehr einander gegenüberstehen, sondern auf paradoxe Weise einen Platzwechsel vollziehen. Das, was in der traditionellen Logik im Sinne einer negativen Definition zur Bestimmung des Selbst als des Eigenen diente, nämlich das Andere, wird nunmehr zum Bestimmungsmoment dieses Selbst, das dadurch aber sein ‚Eigen-Sein‘ verliert. Damit wird auch die Vernunft gleichsam deplatziert, weil sie weder das 17 Descombes, Das Selbe, S. 162. 18 Descombes, Das Selbe, S. 21. 42 2. Die Konstruktion des Anderen in Frankreich bestimmende Moment in der nunmehr paradoxen Relation zwischen dem Selbst und dem Anderen darstellt, noch diese paradoxe Relation in ihren ‚klassischen‘ Figuren (Negation, Dialektik) erfassen kann. Indem die Vernunft aber ihr vorgängig Anderes, das Nicht-Vernünftige, den ‚Wahnsinn‘, nicht länger kategorisch ausschließt, verändert diese ihren Charakter. Es geht also nicht darum, die Vernunft in einem Akt klassischer Negation zu verabschieden, sondern das Andere als ihren paradoxen Bestandteil zu begreifen. Das Denken der Differenz ist eines, das die Grenze stark macht: Es handelt sich um jene Grenze, die sich das Selbst und das Andere ‚teilen‘ ( → - Kapitel 1). Der Terminus „Weisheit“, der von Kojève entlehnt ist, steht in Descombes’ Kommentar offenkundig für eine neue Form von Wahrheit, die den Wahnsinn umschließt. Ganz offenkundig interpretiert Descombes beide Perioden der französischen Nachkriegsphilosophie in diesem Sinne. Denn die Umkehrung des Verhältnisses des Selben und des Anderen ist der Tendenz nach schon bei Denkern wie Lévinas, Merleau-Ponty oder Kojève gegeben. Die Radikalisierung besteht vornehmlich darin, dass sich nachfolgende Denker wie Derrida von jenen Denkfiguren verabschieden, die implizit noch immer die Vorstellung eines autonomen Selbst tradieren. Der Andere 19 , von dem Descombes spricht, ist Derselbe oder fällt mit diesem in der Differenz zusammen. 20 In diesem Sinn kommt es zur Überwindung der Entfremdung ( → -Kapitel 11), aber auch zu einem Ende des Menschen als eines handlungsmächtigen Wesens. 2.3. Hegels Phänomenologie des Geistes. Lektüre des Abschnitts über Herr und Knecht Wenden wir uns zunächst einmal jenem Text zu, der in der französischen Nachkriegsphilosophie eine so erstaunliche wie nachhaltige Wirkung erfahren hat, nämlich dem Abschnitt aus Hegels Phänomenologie des Geistes. Diese Abhandlung hat- - neben der Rechtsphilosophie- - für die Konstitution der Marxschen Theorie, etwa seines Konzepts des Klassenantagonismus, eine bemerkenswert 19 Ich verwende in diesem Kapitel wie auch in anderen die Formulierung „der Andere“ in einem geschlechtsneutralen Sinn und vermeide die Aufspaltung in der und die, da sie eine missverständliche Konnotation hervorrufen würde. Auf der hier diskutierten Ebene spielt die geschlechtliche bzw. sexuelle Differenz noch keine Rolle. Die Konfiguration des Anderen ist dabei ebenso leer wie die des Selben. Oder anders ausgedrückt: Der Andere hat hier kein Prädikat (Geschlecht, Nation, Sprache, Ethnie). 20 Vgl. die Figur bei Novalis und bei Bloch. 43 2.3. Hegels Phänomenologie des Geistes untergeordnete Rolle gespielt. Es ist, wie gesagt, jener Text, in dem die Figur des Anderen als einer bestimmenden Instanz in der okzidentalen Philosophie debütiert. Hegels Philosophie lässt sich vielleicht am besten verstehen, wenn man sie als Teil jener Philosophie begreift, die die idealistische Philosophie Immanuel Kants und Johann Gottlieb Fichtes unter anderen Vorzeichen fortschreiben und zur Vollendung bringen möchte. Dabei steht sie in einem merkwürdigen Nahe- und zugleich Abgrenzungsverhältnis zu einer Zeitströmung, in der die Alterität schon eine wichtige Rolle spielt. Gemeint ist die Romantik, in der das Andere, als Gegenpart zur Vernunft, in der Gestalt des Doppelgängers und des Spiegelbildes auftritt ( → - Kapitel 3). Die Romantik ist der feindliche Bruder von Hegels Vernunftphilosophie, ihr Gegenpart. Es lässt sich sagen, dass es ein Schreckbild der Moderne gibt, gegen das Hegels Denken anschreibt. Es hat mit der Konfiguration des Fremden als eines Unheimlichen zu tun. Mehrfach erwähnt sein Œuvre die Gestalt des schrecklichen Gespenstes E. T. A. Hoffmann. Hegel selbst scheint diese Unheimlichkeit gekannt und reflektiert zu haben, denn in einer seiner Jugendschriften, der Jenaer Realphilosophie (1805 / 06), die vor dem endgültigen Bruch mit seinem Weggefährten und Studienkollegen Friedrich Wilhelm Joseph Schelling, dem zeitweiligen Weggefährten der deutschen Frühromantiker, verfasst wurde, findet sich folgende, sprachlich beeindruckende Passage: Der Mensch ist diese leere Nacht, dieses leere Nichts, das alles in ihrer Einfachheit enthält, ein Reichtum unendlich vieler Vorstellungen, Bilder, deren keines ihm gerade einfällt oder die nicht als gegenwärtige sind. Dies (ist) die Nacht, das Innre der Natur, das hier existiert-- reines Selbst. In phantasmagorischen Vorstellungen ist es ringsum Nacht; hier schießt ein blutig Kopf, dort eine andere weiße Gestalt plötzlich hervor und verschwinden ebenso. Diese Nacht erblickt man, wenn man dem Menschen ins Auge blickt-- in eine Nacht hinein, die furchtbar wird; es hängt die Nacht der Welt hier einem entgegen.-- Macht, aus dieser Nacht die Bilder hervorzuziehen oder sie hinunterfallen zu lassen: Selbstsetzen, innerliches Bewusstsein, Tun, Entzweien. 21 21 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich.: Jenaer Realphilosophie. Bd. 2. Hamburg: 1931. S. 180 f. Zur Diskussion dieser Passage, vgl. Castoriadis, Cornelius: Gesellschaft als imaginäre Institution. Entwurf einer politischen Philosophie. Deutsch von Horst Brühmann. Frankfurt / Main: Suhrkamp, 1984. S. 218. 44 2. Die Konstruktion des Anderen in Frankreich Abb. 1 Johann Heinrich Füssli, „Der Nachtmahr“ (1790) Johann Heinrich Füsslis proto-romantisches Bild aus dem Jahr 1790 lässt sich-- neben Francisco de Goyas berühmtem Capriccio- - als Veranschaulichung der philosophischen ‚Urszene‘ des jungen Hegels nutzen. Denn auch bei Hegel ist es die Nacht, die Zeit des Traumes und dunkler, non-rationaler unbewusster Kräfte, der das ‚leere‘ Selbst ausgeliefert ist. Es ist in Füsslis Darstellung nicht zufällig, dass das ausgelieferte Selbst durch eine junge schutzlos hingestreckte Frau repräsentiert wird, deren Gestik Schrecken und Hingabe an die fremde Gewalt versinnbildlicht. Dieses Befremdliche und Unbekannte ist das Andere der Vernunft. Aber weil das Selbst in dieser nächtlichen Situation leer ist, wird es zugleich zum Anderen der Vernunft, das hier als erschreckend und unheimlich aber zugleich auch als widersprüchlich dargestellt ist: „blutiger Kopf und weiße Gestalt“. Die von Hegel hervorgehobene Leere hat zwei Bestimmungen, wird sie doch mit dem „reinen Selbst“ verbunden, das in dem Schrecken der Nacht- - um eine spätere Denkfigur Hegels zu verwenden-- gleichsam zu sich kommt. Diese Nacht wird beim intensiven Blick in die Augen des Anderen gewärtig. Aber dies scheint nicht der Endpunkt der narrativen Szene zu sein. Man kann diese Bilder der Nacht auch „hinunterfallen“ lassen. An dieser Stelle kündigt sich der Wille und das Vermögen („Macht“) des vernünftigen Subjekts an, es nicht bei diesem schrecklichen Ausgeliefert-Sein des Selbst zu belassen, sondern sich selbst zu setzen. Interessant ist, dass diese Selbst-Setzung von Hegel selbst als eine Antwort auf die Schrecken der Nacht, in der sich das Selbst als leer und nichtig erfährt, verstanden wird. 45 In gewisser Weise ist Hegels Philosophie der Kunst und der Dichtung also in ständig negativem Dialog mit jenen Dichtern begriffen, die dieses Grauen der Nacht für Hegel verkörpern: die Romantiker, die das Andere stets als etwas Abgründiges verstanden haben, aus dem sie ihr literarisches Potential schöpfen. Zugleich aber lässt sich die romantische Literatur als jene symbolische Anstrengung verstehen, die das Andere der Vernunft, das fremde Unbewusste, das sich etwa im Traum manifestiert (→-Kapitel 3), zeigen und im Sinne einer anderen Vernunft bearbeiten will. In diesem Sinn werden wir dem Anderen in der Phänomenologie des Geistes nicht begegnen. Die deutsche Literaturgeschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts ist Hegels vernichtendem Urteil wesentlich gefolgt und hat für lange Zeit die deutsche Romantik als eine eigentlich progressive und moderne Bewegung verschattet. Umgekehrt hat sich Hegels Denken negativ an dieser Herausforderung durch die frühmoderne Romantik geschult und gerieben. Seine letztendlich antimodernistische und klassizistische Ästhetik ist nicht zuletzt das Resultat einer verschwiegenen Auseinandersetzung mit dieser. Es gibt allerdings Gemeinsamkeiten zwischen der Philosophie Hegels und der Romantik: Auch letztere operiert in ihrer narrativen Grundstruktur des Ursprungs (Einheit - Trennung - Wiederherstellung der Einheit des Getrennten) mit einer triadischen, im Neuplatonismus verankerten Gedankenfigur, die erst durch Hegel philosophischen Weltruhm erlangte: Die Dialektik im Sinne Hegels überschreitet diese klassische Logik insofern, als sie die binären Gegensätze „aufhebt“. Die Synthese, der dritte und maßgebliche Schritt der Hegelschen Dialektik, basiert einerseits auf einem Gegensatz, beispielsweise zwischen dem Selben und dem Anderen. Andererseits wird dieser im Fortgang von Hegels großer dialektischer und post-aufklärerischer Erzählung überwunden. Die Synthese ist also immer zugleich Bewahrung und Beseitigung, sie ist das dritte Element, das die binären Gegensätze überschreitet. Sie ist wie eine Brücke, die das Subjekt immerfort mit sich trägt. Ungeachtet zahlreicher Kritik und gerade wegen der Vielfalt ihrer Interpretation ist die Phänomenologie des Geistes, Hegels Frühwerk, sein einflussreichstes Buch geblieben, insbesondere jenes förmlich aus dem Werk herausspringende Kapitel über Herr und Knecht im Abschnitt über das Selbstbewusstsein. Dem Werk ist selbst ein literarisches Narrativ unterlegt, eine Odyssee des Geistes. Es handelt sich hierbei um eine Metapher, die sich schon bei Schelling findet. 22 22 Schelling, Friedrich W. J.: „System des transzendentalen Idealismus“. In: Schelling, Friedrich W. J: Ausgewählte Schriften. Herausgegeben von Manfred Frank: Frankfurt / Main: 2.3. Hegels Phänomenologie des Geistes 46 2. Die Konstruktion des Anderen in Frankreich Mit der Konnotation von Irrfahrt und Umweg- - der homerische Held kehrt ja bekanntlich nicht auf direktem Weg in die Heimat zurück-- wird die lineare Erzählung des Weiterkommens modifiziert. Auch bestimmte Fehlschläge auf der Ebene des Geschehens werden durch ihre interpretierende Erzählung im Nachhinein als wesentliche Elemente von Fortschritt und Heimkehr des Menschen zu seiner ‚wahren‘ Bestimmung verstanden. Der Weg, den das Bewusstsein nimmt, führt in diesem dialektischen Verfahren stets über das Hindernis des Gegensatzes, der überwunden werden muss, um zum Ziel zu gelangen. Die Odyssee des Geistes ist gleichsam das Abenteuer, das das Bewusstsein von vorbewussten Stadien („sinnliche Gewissheit“) bis zum absoluten Geist besteht, um schließlich in diesem Zustand zur Ruhe zu kommen. Hegels erstes bedeutendes Werk weist, wie schon früh vermerkt wurde, überraschende Ähnlichkeit mit zwei zentralen Genres um 1800 auf: dem Bildungsroman und der Autobiographie. 23 Die Phänomenologie des Geistes lässt sich als die Geschichte eines rudimentären Anfanges lesen, die in der Schädelstätte des absoluten Geistes ihre Vollendung findet. Die individuelle Bildung des einzelnen, wie sie uns Goethes Wilhelm Meister-Romane exemplarisch vorführen, wird zur narrativen Folie des Fortschritts eines allgemeinen Geistigen, der seiner ganzen Logik nach im Absoluten enden muss. Das Kapitel über das Selbstbewusstsein, in dem sich der knapp zehnseitige Abschnitt „Selbständigkeit und Unselbständigkeit: Herrschaft und Knechtschaft“ als maßgeblicher Wendepunkt findet, basiert auf einer Art von Gründungsmythos. Die zentrale These Hegels ist, dass der Kampf um bzw. auf Leben und Tod die Voraussetzung dafür bildet, Selbstbewusstsein zu erlangen. Er ist das ontogenetische Abenteuer des zu Selbstbewusstsein fähigen Lebewesens, des Menschen. Das schließt einen Gedankenzirkel mit ein, der für die Hegelsche Dialektik charakteristisch ist: Denn das Selbstbewusstsein, das Resultat des Kampfes ist, wird Suhrkamp, 1985. S. 696: „Was wir Natur nennen, ist ein Gedicht, das in geheimer wunderbarer Schrift verschlossen liegt. Doch könnte das Rätsel sich enthüllen, würden wir die Odyssee des Geistes darin erkennen, der wunderbar getäuscht, sich selber suchend, sich selber flieht.“ 23 Danto, Arthur C.: Das Fortleben der Kunst. Aus dem Englischen von Christiane Spelsberg. München: Fink, 2000. S. 25: „Hegels frühes Meisterwerk, Die Phänomenologie des Geistes, weist insofern die Form eines Bildungsromans auf, als sein Held, Geist, eine Reihe von Phasen durchläuft, um nicht nur eine Erkenntnis seiner selbst zu gewinnen, sondern auch die Einsicht, daß eine solche Erkenntnis ohne die Geschichte der Fehlschläge und der fehlgeleiteten Begeisterungen sinnlos wäre.“ 47 stillschweigend schon am Anfang vorausgesetzt. Die Hegelsche Philosophie löst diesen Widerspruch mit einem terminologischen Kniff. Es wird argumentiert, dass das Selbstbewusstsein sich anfänglich auf der Stufe des an sich befindet, aber durch die Begegnung mit dem Andern, zu einem für sich emporsteigt. Ansonsten wäre nämlich der Kampf zwischen den beiden ‚Selbstbewusstseinen‘, die um ihre Anerkennung ringen, gar nicht denkbar. Der Knecht ist derjenige, der sein Leben nicht riskiert hat. Der nunmehrige Herr, der sein Leben aufs Spiel gesetzt hat, ist wiederum jener, der dem Unterlegenen das Leben schenkt. Obwohl der Kampf in diesem Abschnitt als einer auf Leben und Tod konzipiert ist, kommt der Unterlegene nicht zu Tode, schon einfach deshalb nicht, weil er diesem aus dem Weg gegangen ist. Es geht also nicht nur darum, dass er den Kampf verloren, sondern im entscheidenden Moment kapituliert hat. Der eine wird der Diener, der andere der Herr. Aber nun kommt es zu einer seltsamen dialektischen Kippbewegung: Der Knecht, der für ihn arbeiten muss, behält einen realen Zugang zur Welt, während der Herr diesen nicht nur verliert, sondern, ohne es zu wollen, in Abhängigkeit von seinem arbeitenden Instrument, dem Knecht, gerät. Er lebt buchstäblich davon, dass der Knecht für ihn arbeitet. Ohne den Knecht ist er nichts. Der Knecht bekommt nur in diesem Kapitel einen prominenten Auftritt, verschwindet aber dann wieder aus der Phänomenologie. 24 Denn im nachfolgenden Kapitel über die Vernunft steht zu lesen: Damit, daß das Selbstbewußtsein Vernunft ist, schlägt sein bisheriges Verhältnis zu dem Anderssein in ein positives um. Bisher ist es ihm nur um seine Selbständigkeit und Freiheit zu tun gewesen, um für sich selbst auf Kosten der Welt oder seiner eigenen Wirklichkeit, welche ihm beide als das Negative seines Wesens erschienen, zu retten und zu erhalten. Aber als Vernunft, seiner selbst versichert, hat es die Ruhe gegen sie empfangen und kann sie ertragen; denn es ist seiner selbst als der Realität gewiß, oder daß alle Wirklichkeit nichts anderes ist als es; sein Denken ist unmittelbar selbst die Wirklichkeit; es verhält sich also als Idealismus zu ihr. 25 Das „selbständige“ 26 Selbstbewusstsein, das sich im Kampf mit dem Anderen konstituierte, strebt nunmehr und im Gegensatz zum unselbstständigen und un- 24 Vgl. Müller-Funk, Wolfgang: Die Dichter der Philosophen Essays über den Zwischenraum von Denken und Dichten. München: Fink, 2013. S. 61-74. 25 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich. Die Phänomenologie des Geistes. Werke in zwanzig Bänden. Bd. 3. Herausgegeben von Eva Moldenhauer und Karl Markus Michel. Frankfurt / Main: Suhrkamp, 1970. S. 178. 26 Hegel, Die Phänomenologie, S. 155. 2.3. Hegels Phänomenologie des Geistes 48 2. Die Konstruktion des Anderen in Frankreich glücklichen Selbstbewusstsein seiner nächsten Entwicklungsstufe, der Vernunft, entgegen. In der Auseinandersetzung mit dem Anderen war das Selbstbewusstsein negativ bestimmt. Ausfluss dieses Gegensatzes war der Kampf. Dieses Kapitel ist nunmehr geschlossen. Das Selbstbewusstsein hat seine Identität-- das meint ja das ‚Selbst‘- - zunächst ex negativo erlangt, durch die Negation des Anderen. Im nächsten Schritt bezieht es sich lediglich „positiv“ auf sich selbst und erlangt damit seine „Ruhe“. Mit dem Eintritt in die Vernunft ist die Odyssee des Geistes beendet, wie das Bild der Eintracht mit sich selbst, die Hegel in der zitierten Passage beschwört, sinnfällig macht. 2.4. Kojèves ‚Re-Vision‘ von Hegels Konzeption von Herr und Knecht Der russisch-französische Philosoph Alexandre Kojève (1902-1968) entwirft eine anthropologische Version der Hegelschen Philosophie, in der der Tod des Menschen mit dem Ende der Geschichte zusammenfällt. Das Ende der Geschichte tritt ein, wenn der Mensch als handelndes, tätiges Subjekt seine historischen Ziele erreicht hat. Es ist ein Humanismus in und durch die Geschichte, der von der prinzipiellen Überwindung der Entfremdung ausgeht: Die Theologie stellt sich vor, dass der theologische Diskurs einer ist, in dem der Mensch (Subjekt) von Gott (Objekt) spricht, während es ein Diskurs ist, in dem Gott von sich selbst spricht, das heißt vom Menschen, aber ohne es zu wissen. 27 Kojèves affirmative und zugleich revisionäre Lesart des Textes, der auf Vorlesungen beruht, die der Philosoph zwischen 1933 und 1939 gehalten hat, 28 bricht mit dem in der Textpassage programmatisch verkündeten Idealismus und lenkt das Augenmerk nunmehr auf eine ‚materialistische‘, d. h. historisch-gesellschaftliche Perspektive, die unzweideutig (post-)marxistische Züge trägt. Der Autor denkt dabei nicht nur über den Ursprung von Herrschaft, sondern auch über deren Zukunft nach. Demnach wäre, wie wir noch sehen werden, das Ende der in Hegels Kapitel beschriebenen Herrschaft des Einen über den Anderen zugleich 27 Kojève, Alexandre: Hegel. Eine Vergegenwärtigung seines Denkens. Kommentar zur Phänomenologie des Geistes. Frankfurt / Main: Suhrkamp, 1975. Der zentrale Text Kojèves ist auch in folgendem Sammelband abgedruckt: Fulda, Hans Friedrich / Henrich, Dieter (Hg.): Materialien zu Hegels Phänomenologie des Geistes. Frankfurt / Main: Suhrkamp, 1973. S. 133-188. 28 Fetscher, Iring: „Vorwort“. In: Kojève, Hegel, S. 9. Vgl. auch Descombes, Das Selbe, S. 17-60. 49 2.4. Kojèves ‚Re-Vision‘ von Hegels Konzeption von Herr und Knecht das von Hegel prognostizierte Ende der Geschichte. Denn das Hegelsche Kapitel hinterlässt eine Leerstelle, verschwindet doch die Figur des unterlegenen anderen Selbstbewusstseins spurlos wie eine Nebenfigur in und aus einem Roman. Kojève führt diese Nebenfigur wieder ein und macht sie im Geist des Marxismus zu einer Hauptfigur, die die entscheidende Wende der Geschichte herbeiführt. Kojève stellt den Text in unmittelbaren Zusammenhang mit einem berühmten Satz Hegels aus einem Brief an seinen Freund und Kollegen Friedrich Immanuel Niethammer: Den Kaiser- - diese Weltseele- - sah ich durch die Stadt zum Rekognizieren hinausreiten; - - es ist in der Tat eine wunderbare Empfindung, ein solches Individuum zu sehen, das hier auf einen Punkt konzentriert, auf einem Pferde sitzend, über die Welt übergreift und sie beherrscht. 29 Der rhetorisch brillante Text, dem die Mündlichkeit des Vortrags noch anzumerken ist, treibt schon sehr bald auf die scheinbar naive Frage zu: „Wer bin ich, wenn ich Hegel bin? “ 30 Diese scheinbar harmlose Frage bekommt eine so naheliegende wie zugleich abseitige und atemberaubende Antwort: Ich bin nicht nur ein denkendes Wesen; ich bin Träger eines absoluten Wissens: Und gegenwärtig, im Augenblick, da ich denke, ist dieses Wissen in mir, in Hegel, inkarniert. Also ich habe nicht nur ein denkendes Wesen; ich bin auch noch- - und vor allem- - Hegel. Was ist denn nun dieser Hegel? Zunächst einmal ein Mensch von Fleisch und Blut, der weiß, daß er dies ist. Und dann schwebt dieser Mensch nicht im luftleeren Raum. Er sitzt auf einem Stuhl an einem Tisch und schreibt mit einer Feder auf Papier. Und er weiß, daß all diese Gegenstände nicht vom Himmel gefallen sind; er weiß, daß die Produkte ein gewisses Etwas sind, das man menschliche Arbeit nennt. Er weiß auch, daß diese Arbeit in einer menschlichen Welt vollbracht wird, im Schoße einer Natur, der er selber angehört. Und diese Natur ist in seinem Geiste in eben jenem Augenblick gegenwärtig, wo er schreibt, um auf die Frage ‚Was bin ich? ‘ zu antworten. So hört er von Ferne kommende Geräusche; er weiß außerdem, daß diese Geräusche von Kanonenschüssen herrühren, und er weiß, daß auch die Kanonen Produkte von Arbeit sind, diesmal für einen Kampf auf Leben und Tod zwischen den Menschen hergestellt. Darüber hinaus weiß er, daß das, was er hört, 29 Vgl. Jaeschke, Walter: Hegel Handbuch, Leben-- Werk-- Wirken. Stuttgart: Metzler, 2003. S. 24. 30 Kojève, Hegel, S. 51. 50 2. Die Konstruktion des Anderen in Frankreich die Kanonen Napoleons in der Schlacht von Jena sind; er weiß also, daß er in einer Welt lebt, in der Napoleon handelt. 31 Es ist die ‚reale‘ (Welt-)Geschichte-- in der narrativen Interpretation Kojèves--, die eine Situation herbeiführt, in der Hegel, der Philosoph, als der Träger des absoluten Wissens, das jenes um das Ende der Geschichte mit einschließt, möglich wird. Die damit verbundene Unbescheidenheit, die Hegel förmlich auf den Philosophenthron setzt, ist in diesem Denken in ihrem ganzen Aberwitz systemimmanent. Er weiß etwas, das andere Philosophen vor ihm, Descartes oder Plato zum Beispiel, nicht wissen konnten, dass nämlich Napoleon nicht nur irgendein Politiker, Heerführer und Herrscher ist, sondern jene Person der Weltgeschichte, die ihren Sinn erfüllt. Kritisch gesprochen liegt dieser Erzählung von Hegel und Napoleon, erzählt von Hegel und nacherzählt von Kojève (der 1937 übrigens Stalin an die Stelle von Napoleon setzen wird 32 ) ein Denkmechanismus zugrunde, den Hans Blumenberg als eine Form von historischer Selbstzentrierung analysiert hat. Er spricht von der verführerischen Vorstellung, Weltzeit und eigene Lebenszeit zur Deckung zu bringen: „Es spricht sich gut vom Weltgeist, weil der Standpunkt des Sprechenden nur am Ende seiner Geschichte vorgestellt werden kann-[…].“ Blumenberg fügt indes hinzu, dass der Messianismus, der die Offenbarung in die Zukunft verlegt, eine stärkere Dynamik zu entfalten vermag, als die Hegelsche Formel eines Endes der Geschichte, das freilich nur von einem privilegierten einzelnen, nämlich Hegel, wahrgenommen worden ist. 33 Dass sich die Geschichte am Ende als eine Geschichte der Vernunft erweist, wäre demnach die Plotstruktur des Hegelschen Narrativs. Zugleich ist die Geschichte aber auch von einer letztendlich anthropologischen Setzung bestimmt, die den Menschen als begehrendes und arbeitendes Wesen begreift. Man kann diese Vorstellung Kojèves als Abwandlung des auf Marx zurückgehenden Basis- Überbau-Schemas lesen, demzufolge alle menschlichen Beziehungen aus den ökonomischen Bedingungen, dem Wider- und Zusammenspiel von Produktiv- 31 Kojève, Hegel, S. 51. 32 Fetscher, „Vorwort“, S. 17. 33 Blumenberg, Hans: Lebenszeit und Weltzeit. Frankfurt / Main: Suhrkamp, 1986. S. 310. Vgl. auch Lembcke, Oliver W.: „Über das Ende der Geschichte und den Beginn moderner Politik. Zu Hegels Figur des Weltgeistes“. In: Kühl, Kristian / Seher, Gerhard (Hrsg.): Rom, Recht, Religion. Symposion für Udo Ebert zum siebzigsten Geburtstag. Tübingen: Mohr Siebeck, 2011. S. 297-307. Vgl. auch Vassányi, Miklós: Anima mundi. The Rise of the World Soul Theory in Modern German Philosophy. Dordrecht: Springer, 2011. 51 2.4. Kojèves ‚Re-Vision‘ von Hegels Konzeption von Herr und Knecht kräften (Technik) und Produktionsverhältnissen (Eigentums- und Aneignungsformen) abzuleiten sind. Die Basis, den Unterbau also, bildet die „Gesamtheit der menschlichen Taten, die im Laufe der Weltgeschichte vollbracht worden sind.“ 34 Sie gipfeln in Napoleons militärischem Triumph und in Hegels Philosophie. Der Mensch ist Material (Ziegel) und zugleich Agens (Maurer), Handwerker und Baumeister seiner Geschichte. Er errichtet ein Gebäude, in dem er wohnen kann und wohnen wird. Die Geschichte der Menschheit ist zugleich eine Autobiographie der Gattung, die sich von den bescheidenen Anfängen passiven Betrachtens zum absoluten Geist erhebt. 35 Das absolute Wissen ist objektiv möglich geworden, weil in und durch Napoleon der wirkliche Prozeß der geschichtlichen Entwicklung, in dessen Verlauf der Mensch neue Welten geschaffen hat und sich selbst in diesem Schatten verwandelt hat, an sein Endziel gelangt ist. 36 Dieses Narrativ, das nach vielen Irrungen und Wirrungen-- hier ließe sich noch einmal auf die narrative Konfiguration der Odyssee Bezug nehmen- - auf ein endgültiges und glückliches Ende der Weltgeschichte zustrebt, ist eine große Erzählung im Sinne Jean-François Lyotards, 37 vermutlich ist sie sogar eine Meta- Erzählung, die alle großen Erzählungen mit einschließt. Sie bildet das Kernstück von Hegels Philosophie, wie sie bereits in der Phänomenologie des Geistes vorliegt. Der französische Kommentator spannt Hegels Philosophie in einen geschichtsphilosophischen Bezugsrahmen, in dessen Zentrum Begehren (Begierde), Kampf und Arbeit stehen. Der Mensch konstituiere sich, so Kojèves Hegel-Interpretation, durch die Begierde. Durch diese werde er erst eigentlich zum Ich und durch sie werde er zu sich gebracht. 38 In einem nächsten Schritt operiert der Kommentar mit einer binären Unterscheidung von Mensch und Tier ( → -Kapitel 9). Das menschliche Begehren hat immer schon, über das primäre Begehren nach Dingen, eine sekundäre soziale und kulturelle Dimension: Es drückt sich zum Beispiel in einem Streben nach Anerkennung aus. Wird er in der passiven „sinnlichen Gewissheit“, 34 Kojève, Alexandre: „Zusammenfassender Kommentar zu den ersten sechs Kapiteln der Phänomenologie des Geistes“. In: Fulda / Henrich (Hg.) Materialien, S. 134. 35 Kojève, „Kommentar“, S. 135. 36 Kojève, „Kommentar“. S. 139. 37 Lyotard, Jean-François: Das postmoderne Wissen. Ein Bericht. Aus dem Französischen von Otto Pfersmann. Wien: Böhlau / Passagen, 1986. S. 43. bzw. 96-111. 38 Kojève, Hegel, S. 21. 52 2. Die Konstruktion des Anderen in Frankreich wie Hegel den anfänglichen und ‚embryonalen‘ Zustand der Vernunft nennt, von dem Ding, dem Objekt der Außenwelt, absorbiert, so zielt das Begehren darauf, das Ding durch eine Tat zu verwandeln und zu negieren. An dieser Stelle kommt die Arbeit ins Spiel. Denn sie ist ein Tun, das mit der Begierde Hand in Hand geht und die Voraussetzung für die Erfüllung des Verlangens schafft. Voraussetzung für das menschliche Selbstbewusstsein ist darüber hinaus, dass es stets mehrere Begierden gibt, die sich wechselseitig begehren. Die Begehrlichkeiten des Menschen gehen über die primären animalisch-biologischen, wie den Hunger, hinaus. Jenes reziproke Verlangen, das auf Anerkennung zielt, kann jedoch nur um den Preis befriedigt werden, dass der Mensch sein biologisches Leben aufs Spiel setzt. 39 Kojève zufolge sagt Hegel, […] dass ein Wesen, das nicht imstande ist, sein Leben zur Erreichung nicht unmittelbar lebenswichtiger Ziele aufs Spiel zu setzen, d. h., das sein Leben nicht in einem Kampf um die Anerkennung, in einem reinen Prestigekampf einsetzen kann, kein wirklich menschliches Leben ist. 40 Kojèves Konzept der Begierde kennt insgesamt vier Bestimmungen: 1. Sie ist meine Begierde und geht Hand in Hand mit der Erfahrung des Ich, Ich will. 2. Die Begierde negiert, assimiliert oder verwandelt das begehrte Ding. 3. Das menschliche Begehren bezieht sich nicht auf ein Daseiendes, sondern auf ein Nicht-Seiendes. „Die Begierde muss, um anthropogen zu sein, sich auf ein Nichtseiendes beziehen, d. h. auf eine andere Begierde, auf ein anderes lechzendes Leeres, auf ein anderes Selbst.“ Sie ist auf eine andere Begierde verwiesen. 4. Der Mensch ist das bedürftige Wesen, das um seine Bedürftigkeit weiß. 41 Durch das Begehren und seine Verschränkungen kommt die Konfiguration des symbolisch unmarkierten Anderen ins Spiel. Dabei ist diese Konfiguration sowohl ein Hindernis als ein Ermöglichungsgrund: 39 Kojève, Hegel, S. 58. 40 Kojève, Hegel, S. 58. 41 Kojève, „Kommentar“. S. 145. 53 2.4. Kojèves ‚Re-Vision‘ von Hegels Konzeption von Herr und Knecht Der Mensch muß ein Leeres sein, ein Nichts, das nicht reines Nichts ist, sondern ein Etwas, das insofern ist, als es Seiendes vernichtet, um auf seine Kosten sich selbst zu verwirklichen und im Sein zu richten. 42 Unverkennbar und der Diktion Hegels folgend, dominiert in diesem Konzept von Alterität eine agonale Dimension, die überdies den Menschen, der nicht sein Leben riskiert und der den knechtischen Aspekt des Selbstbewusstseins ausmacht, merkwürdig, ja auf skandalöse Weise belastet. Seine Situation der Marginalisierung ist im Kantschen Sinne selbstverschuldet, 43 weil er sein biologisches Leben nicht aufs Spiel zu setzen imstande gewesen ist. Umgekehrt erfährt die ‚herrische‘ Position eine Legitimation, nicht nur weil sie die einer Siegerposition ist, sondern weil sie das Ergebnis einer heroisch- ‚romantischen‘ Bereitschaft darstellt, sein Leben um seiner selbst aufs Spiel zu setzen. Selbstbewusstsein wird in Kojèves umfangreichem Kommentar negativ als das „Ausschließen alles anderen“ definiert. Das würde linear zu Ende gedacht zur Vernichtung des störenden Anderen führen. Aber in Hegels Philosophie wird das andere bedrohliche, potentielle ebenfalls mit sekundärer Begierde ausgestattete, aber scheiternde Selbstbewusstsein nicht vernichtet so wie die Dinge, die Objekte dieser Welt, vielmehr wird der Gegner ‚dialektisch‘ aufgehoben. 44 Aufheben hat im Denken Hegels, wie schon erwähnt, stets eine doppelte Bedeutung, verschränken sich doch in ihm zwei Momente, Beseitigung und Bewahrung. Die Hegelsche Dialektik, an der sich die zweite Generation der französischen Nachkriegsphilosophie abarbeiten wird, vollbringt das Unmögliche, die Verbindung der Gegensätze. So wird das Gegenüber im Kampf um Anerkennung symbolisch vernichtet und auf einen minderwertigen, ‚tierischen‘ Status herabgedrückt. Biologisch überlebt der marginalisierte Andere allerdings in der nun entstandenen asymmetrischen Relation von Herr und Knecht. Warum ist es, wie Kojève an mehreren Stellen seines Kommentars betont, notwendig, dass beide Gegner am Leben bleiben und dass es einen Sieger gibt, dessen superiore Position von dem Anderen anerkannt werden muss, dem der Sieger wiederum das Leben schenkt? 45 Kojève formuliert das an einer Stelle sehr 42 Kojève, „Kommentar“. S. 143. 43 Zur Kritik an dieser „Mystifikation“ vgl. Blumenberg, Hans: Höhlenausgänge. Frankfurt / Main: Suhrkamp, 1989. S. 548. 44 Kojève, Hegel, S. 32. 45 Kojève, Hegel, S. 59-61. 54 2. Die Konstruktion des Anderen in Frankreich pathetisch und affirmativ. Er geht davon aus, dass Menschwerdung und Herrschaft einander scheinbar bedingen: Der Mensch wurde geboren und die Geschichte begann mit dem ersten Kampf, der mit dem Auftauchen eines Herrn und eines Knechts endete. Das heißt, daß der Mensch ursprünglich immer entweder Herr oder Knecht ist; und es gibt keinen wirklichen Menschen, wo es nicht einen Herrn und einen Knecht gibt. 46 Warum ist es nun notwendig, dass der Unterlegene am Leben bleibt? Vordergründig deshalb, damit der Sieger jemanden hat, der ihn als Sieger anerkennt. Der Knecht arbeitet für den Herrn und befriedigt dessen Bedürfnisse, ohne dass letzterer sich selbst anstrengen muss. Die Pointe besteht aber darin, dass nur das Überleben jene sekundäre Begierde befriedigen kann, die den Ausgangspunkt des Kampfes bildete: die Anerkennung durch einen Anderen, der mit derselben sekundären Begierde nach Anerkennung ausgestattet ist. So ist der Andere Bedrohung und Bedingung der Möglichkeit eines selbstbewussten Seins. Er ist eine Bedrohung, insofern wir in einem Rivalitätsverhältnis zueinander stehen, er ist die (einzige) Möglichkeit, um Selbstbewusstsein zu erlangen. Denn ohne Anerkennung kann aus einem potentiellen kein ‚wirkliches‘ Selbstbewusstsein werden - nichts anderes bedeuten die von Hegel verwendeten Kategorien des an sich und für sich. Etwas Ähnliches meint übrigens eine weitere zentrale Kategorie im Hegelschen Denken: Vermittlung. Der Andere ist ein Mittel, ein ‚Medium‘ in diesem Bewusstseinsprozess, er ist aber auch eine mediative Instanz, die immer dann in Erscheinung tritt, wenn in Hegels Philosophie die Gegensätze aufeinanderprallen und eben dialektisch ‚vermittelt‘, das heißt überbrückt, genauer ‚aufgehoben‘ werden. Herrschaft bedeutet abstrakt betrachtet, dass der eine, der den Kampf aufgibt, für den anderen arbeiten muss, während der andere womöglich kämpft, aber nicht arbeitet. Beide sind am Leben geblieben und aufeinander angewiesen, insbesondere aber der Herr auf die Arbeit, die der Knecht für ihn leistet. Umgekehrt liegt das Leben des Knechtes in der Hand des siegreichen und kampfbereiten Herrn. Kojèves Überlegungen zu Hegel enden mit der Darstellung all jener ‚knechtischen‘ Philosophien, die er als Reaktionsformen auf die menschheitsgeschichtliche Konstellation von Herr und Knecht begreift und die an dieser Stelle nur kurz resümiert werden sollen: Im Stoizismus wird Freiheit als abstrakt in mir befindlich verstanden; eine solche Auffassung erfüllt eine kompensatorische Funk- 46 Kojève, Hegel, S. 61. 55 2.4. Kojèves ‚Re-Vision‘ von Hegels Konzeption von Herr und Knecht tion und macht es möglich, die wirklichen knechtischen Existenzbedingungen als nebensächlich anzusehen. Skeptizismus und Nihilismus sind Philosopheme, die das Dasein und seinen Wert aktiv verneinen, während das Christentum, das in gewisser Weise als eine ‚dialektische‘ Synthese verstanden werden kann, sich eine andere jenseitige Welt mit einem absoluten transzendenten Herrn schafft, der auch den Knecht anerkennt. Damit nimmt Hegel übrigens Nietzsches Kritik an dem ‚knechtischen‘ Christentum vorweg. Die Französische Revolution und potentiell der aus ihm hervorgegangene Sozialismus wären demgegenüber die wirkliche Aufhebung, die „die dialektische Aufhebung sowohl des Knechts wie auch des Herrn vollbringt.“ 47 Aus dieser Logik ergibt sich ein triadisches Modell der Weltgeschichte, jener Weltgeschichte, die in dieser mythischen Denkfigur mit dem Kampf als Konstitutionsmoment menschlichen Selbstbewusstseins gründet. Sie umfasst ▶ Die Epoche des Herrn (These) ▶ Die Epoche des Knechts (Antithese) ▶ Die Epoche jenseits von Herr und Knecht Kojèves Fortschreibung von Hegels Geschichte von Herr und Knecht behält dessen Grundfiguren, Negation und Dialektik bei. Herr und Knecht stehen in einem einander ausschließenden Verhältnis zueinander. Hegels Geschichte, wie sie in der Phänomenologie erzählt wird, endet mit der Epoche, in der sich das Selbstbewusstsein durch seinen Sieg über den Anderen konstituiert. Kojève führt die Geschichte insofern fort, als er den dialektischen Umschlag thematisiert, der sich dadurch ergibt, dass der Knecht durch die Arbeit ein reales Verhältnis zur Wirklichkeit entwickelt, an dem es dem Herrn mangelt. Aber diese Situation ist aus dialektischem Blickwinkel unbefriedigend, weil sie nur eine Umkehrung des negativen Verhältnisses mit sich bringt. Dieses wird in der dritten Epoche ‚aufgehoben‘, wobei die Hegelsche Dialektik sich die Äquivokation des Wortes zunutze macht, dass ja zugleich beseitigen und erhalten bedeutet. In der dritten Epoche, die die Synthese der beiden vorangegangenen darstellt, werden, im Sinne eines Endes der Weltgeschichte, sowohl die Konfigurationen des Herrn als auch die des Knechtes in einer Welt von freien Produzenten und Konsumenten ‚aufgehoben‘. 47 Kojève, Hegel, S. 61. 56 2. Die Konstruktion des Anderen in Frankreich Diese Trinität bei Kojève, die freilich schon in Hegels Philosophie am Werk ist, hat eine mythisch-religiöse Dimension, die mindestens auf Joachim von Fiore, einen spirituellen Denker am Ausgang des Mittelalters, zurückreicht. Er hat die christliche Heilsgeschichte ebenfalls in drei Epochen eingeteilt und damit Hegels Modell der Weltgeschichte nachhaltig beeinflusst. Die erste ist durch das Reich des Vaters, die zweite durch das des Sohnes, die dritte durch das Reich des Heiligen Geistes bestimmt. 48 Die Konfiguration des marginalisierten Anderen ist hier, zunächst einmal ganz unabhängig von kulturellen Markierungen (wie Geschlecht, Ethnie, Religion, Sprache, Generation), als ein Kampf bestimmt, dessen Ziel in der Menschwerdung besteht. Der idealistische Heroismus besteht darin, dass dieser Kampf auf Leben und Tod biologisch oder materiell keineswegs lebensnotwendig ist, er ist notwendig ‚nur‘ im Hinblick auf eine Menschwerdung, die sich als ein spiralförmiger Bildungsprozess von der sinnlichen Gewissheit, über Bewusstsein und Selbstbewusstsein, Verstand und Vernunft, zum absoluten Geist hinaufschraubt. Warum muss Kojève zufolge die Position des Knechts wie die des Herrn „aufgehoben“ werden? Warum behält nicht dieses Herrschaftsverhältnis das letzte Wort in der Weltgeschichte? Bei Hegel war diese ‚dialektische‘ Wende, wenigstens in der Phänomenologie des Geistes, explizit nicht vorgesehen. Kojève fügt in seiner Nacherzählung Hegels durchaus in dessen Geiste also ein Kapitel an. Aus seiner Philosophie der Geschichte lässt sich freilich schließen, dass er das bürgerliche Zeitalter, das ja das feudale, aristokratische Herrschaftsverhältnis von Herr und Knecht in Frage stellt, als den Abschluss der Weltgeschichte angesehen hat, zunächst in Gestalt des Siegers von Jena, später in der historischen Konfiguration des autoritären preußischen Staatswesens. In der Phänomenologie des Geistes bleibt indes Platz nur für das siegreiche Selbstbewusstsein, das sich nach der Erledigung des Anderen zu einer selbstherrlichen vernünftigen Daseinsform aufmacht. Dass der Knecht danach trachtet, seine nachteilige Position zu verbessern oder zu transzendieren, liegt im Wesen der Sache und erklärt die Herausbildung jener ‚knechtischen‘ Philosophien, die Hegel diskutiert (Stoizismus, Skeptizismus, Christentum). Wie das Beispiel des Christentums sinnfällig macht, trachtet der Knecht nach jener Anerkennung als selbstbewusstes menschliches Lebewesen, die 48 Vgl. Bloch, Ernst: Erbschaft dieser Zeit. Frankfurt / Main: Suhrkamp, 1962. S. 63; Taubes, Jacob: Abendländische Eschatologie. München: Matthes & Seitz, 1991. 57 2.4. Kojèves ‚Re-Vision‘ von Hegels Konzeption von Herr und Knecht ihm angesichts des etablierten Herrschaftsverhältnisses vorenthalten wurde. Ihm blieb die entscheidende Befriedigung seiner Begierde demnach versagt. Wie Kojève an einer Stelle anführt, ist die Herrschaft für den Herrn, entgegen ersten Augenscheins, eine „existentielle Sackgasse“. 49 Das hat für Kojève zwei wesentliche Gründe: Zum einen ist der Status der erhaltenen Anerkennung, den der Herr durch den Knecht erfährt, letztendlich unbefriedigend. Denn sie erfolgt ja seitens eines Anderen, der nicht den Status des Selbstbewusstseins erlangt hat. In einem tieferen Sinn beruht Anerkennung aber darauf, von meinesgleichen als Mensch, das heißt als ein selbstbewusstes, begehrliches intelligentes Lebewesen anerkannt zu werden. Aber weil infolge des heroischen Kampfes der Andere auf einen knechtischen Status herabgedrückt worden ist, kann er nicht dieser Andere, dieses Vermittlungsglied sein, mittels dessen sich Selbstbewusstsein konstituieren kann. Was der Knecht unter dem Druck von Leben und Tod anerkennen muss, ist vornehmlich seine Unterordnung. Zum anderen aber bedeutet die Existenzweise des Herrn einen letztendlichen entfremdeten Zustand. Mag er noch so ungehindert seine Begierden dadurch befriedigen, dass sie ihm ein anderer durch seine Arbeit verschafft, so ist seine ‚Arbeitslosigkeit‘ eine Reduktion des Menschenmöglichen. Tendenziell wird das siegreiche Selbstbewusstsein zu einem Mangelwesen, das sich zu Tode amüsiert und jeden Kontakt mit dem ‚realen‘ Leben verloren hat. Im Lichte eines Humanismus, in dem der Mensch in der gestaltenden Arbeit zu sich kommt, ist der Herr, ungeachtet seiner erlangten Freiheit, defizitär (→-Kapitel 11). Schien nämlich zunächst die Arbeit als eine anstrengende Plackerei, die der geschlagene Andere für den Sieger verrichten muss, so erfolgt nun eine dramatische Umwertung der Arbeit als jenes Vermögen, in dem der Mensch in ein erfülltes und konkretes Verhältnis zur Wirklichkeit eintritt. Die Nobilitierung der Arbeit gegenüber dem Müßiggang ist bürgerlichen Ursprungs, denn das Besondere und Neue am Bürger ist, dass er selbst arbeitet und in gewisser Weise so (sein eigener) Herr und Knecht in einem oder auch weder Herr noch Knecht ist. 50 Und weiter heißt es: Die Geschichte ist also nichts anderes als die Geschichte der dialektischen, d. h. der aktiven Beziehung zwischen Herrschaft und Knechtschaft. Die Geschichte kommt darum in dem Augenblick zum Abschluss, da die Synthese von Herr und Knecht Wirklichkeit geworden ist, nämlich der integrale, heile Mensch, der Bürger des universellen und homogenen, von Napoleon geschaffenen Staates. 49 Kojève, Hegel, S. 64. 50 Kojève, Hegel, S. 83-89. 58 2. Die Konstruktion des Anderen in Frankreich Die Schreckensherrschaft Robespierres macht den Bürger zum bürgerlichen Subjekt und bildet die historische Voraussetzung für das Imperium Napoleons, wobei Hegel das wahre Selbstbewusstsein Napoleons darstellt. Damit endet, philosophisch betrachtet, die Weltgeschichte in der Synthese von Herr und Knecht. 51 Der Nachteil des Knechtes, dass er arbeiten muss, schlägt also unversehens in einen Vorteil um. Nicht nur, dass der Knecht das „Nichts erfasst“ hat, verändert er durch sein knechtisches Mensch-Sein die natürliche Welt und wird ganz unfreiwillig zum heimlichen historischen Subjekt der Geschichte, zum Motor von Kultur und Zivilisation: „Zwar hätte es ohne den Herrn keine Geschichte gegeben. Aber einzig deshalb, weil es ohne ihn keinen Knecht und darum keine Arbeit gegeben hätte.“ 52 Unübersehbar ist hier, wie die Arbeit, die in die Nähe von Kunst, Bildung und Entwicklung gerückt wird, zu einem ethischen und kulturellen Ideal avanciert. Die Arbeit wird von Kojève übrigens ganz im Einklang zu Marx als die zentrale Form des Tuns bestimmt, das den Menschen zum Menschen macht, ihn vom Tier abhebt ( → -Kapitel 11). Nur durch die Tat, dort den Kampf, hier die Arbeit, kommt der Mensch zu sich selbst. Arbeit ist demnach in ihrer Idealform unentfremdetes Dasein des Menschen. Kojève denkt dabei nicht an die unsäglichen und lebensgefährlichen Schindereien des Menschen, sondern hat die klassische Kunst vor Augen, wenn er meint: […] dank seiner Arbeit kann der Knecht sich wandeln und ein anderer werden, als er ist, d. h. aufhören, Knecht zu sein. Die Arbeit ist Bildung im doppelten Sinn des Wortes: einerseits bildet sie die Welt, bildet sie um, vermenschlicht sie, indem sie dieselbe dem Menschen anpaßt; andererseits bildet sie den Menschen um, bildet, erzieht, vermenschlicht ihn, indem sie ihn der Idee konformer macht, die er sich von sich selbst macht, und die zunächst nur eine abstrakte Idee, ein Ideal war. 53 „Diese schöpferische Erziehung des Menschen durch die Arbeit“ 54 entgeht dem Herrn, er hat an ihr keinen Anteil. Er ‚verblödet‘ im Verlauf der Menschheitsgeschichte. Seine anfängliche Superioritätsposition schlägt ins Gegenteil um, sobald der Knecht die Furcht vor dem Herren und damit jene vor dem Tode verliert und bereit ist, gegen den Herrn zu kämpfen, wie es die Ära der Französischen Revolution und Napoleons zeigt. 51 Kojève, Hegel, S. 83-89. 52 Kojève, Hegel, S. 70. 53 Kojève, Hegel, S. 70. 54 Kojève, Hegel, S. 71. 59 2.5. Kommentar und Kritik an Kojèves Konzept von Alterität 2.5. Kommentar und Kritik an Kojèves Konzept von Alterität Ich möchte den Kommentar zur Lektüre von Kojèves Text auf zwei Ebenen ansiedeln, zunächst einmal ist die philosophisch-theoretische Konsistenz dieser für das Thema Alterität und Herrschaft so maßgeblichen Hegel-Interpretation einer kritischen Prüfung zu unterziehen. Und in einem weiteren Abschnitt ist zu klären, wie sich Kojèves Gedanken in den gegenwärtigen Alteritätsdiskursen einfügen. Dabei lasse ich die Frage nach der Denkfigur der Dialektik und die sie bedingenden Kategorien (‚Vermittlung‘, ‚Aufhebung‘) sowie die religiös-mythologische Struktur des Hegelschen Denkens einmal ganz beiseite und konzentriere mich auf die Begriffe des Anderen, der Begierde bzw. des Begehrens, der Arbeit und des Kampfes. Unübersehbar wird das Verhältnis zum Anderen ausschließlich als strukturell feindselig, bedrohlich und antagonistisch beschrieben, auch wenn Hegels Philosophie davon ausgeht, dass der Andere die Bedingung der Möglichkeit meines Selbstbewusstseins ist. Gegen einen weit verbreiteten Solipsismus in der abendländischen Philosophie-- das einsame Subjekt vor einem stummen Objekt-- kommt in Hegels Geschichte von Herr und Knecht eine intersubjektive Konstellation (Subjekt-Subjekt) ins Spiel. Freilich unter negativem Vorzeichen: Ich brauche den Anderen, auch wenn (oder gerade weil) ich ihn zugleich besiegen und symbolisch beseitigen muss. Kojèves Version korrigiert dieses Narrativ insofern, als er meint, dass daraus keine wirklich befriedigende und reziproke Anerkennung erwachsen kann. Darüber hinaus lässt sich in Frage stellen, warum und inwiefern die Anerkennung meines Selbstbewusstseins als eines begehrenden Ichs vornehmlich nur durch einen Kampf auf Leben und Tod erfahren und gefunden werden kann. Schließt die Tatsache, dass alle einander gegenübertretenden menschlichen Selbstbewusstseine die Begierde nach Anerkennung in sich tragen und artikulieren, wirklich die Möglichkeit einer mehr oder minder friedlichen, wechselseitigen Anerkennung aus? Beinhaltet die existenzielle Dimension der Liebe in all ihren (erotischen und non-erotischen) Facetten nicht eine solche Möglichkeit? Und gibt es nicht zwischen Rivalität und Solidarität, zwischen Feindschaft und Liebe, eine ganze Anzahl von möglichen Relationen? Unübersehbar ist in Hegels Narrativ, das-- wie später das Marxsche-- realistisch-tragische und erlösende Momente in sich birgt, die Affirmation des Heroisch Männlichen, die Feier der Todesverachtung, die Geringschätzung des eigenen Todes wie die des Todes des Anderen. Unübersehbar ist, dass der im Kampf der 60 2. Die Konstruktion des Anderen in Frankreich Selbstbewusstseine Unterlegene nicht aus Empathie geschont wird, sondern aus einem doppelten Kalkül. Augenscheinlich bedarf der Sieger eines marginalisierten menschlichen Werkzeugs sowie eines wenn auch lädierten Gegenübers, das ihm Selbstbewusstsein durch-- unterwürfige-- Anerkennung beschert. Die post-idealistische Verklärung der Arbeit zu einem Motor der Bildung des Menschengeschlechtes scheint mir ein weiteres Moment einer prekären Erbschaft der Hegelschen Philosophie im Allgemeinen wie ihrer theoretischen Fassung des Anderen zu sein. Horkheimer / Adorno wie auch Arendt haben auf unterschiedliche Weise Naturbeherrschung und Produktionsfetischismus als problematische Momente der großen Erzählungen der Aufklärung, deren Ausläufer die von Hegel und von Marx in Umlauf gesetzten Narrative doch unzweideutig sind, kritisch diskutiert. 55 Was Arbeit und Kampf miteinander verbindet, ist ihre kriegerische Einstellung: Kampf gegen die Natur und Kampf gegen den Anderen. 56 Umgekehrt lässt sich zeigen, dass sich in totalitären Denk- und Gesellschaftsformationen, wie sie Stalinismus und Faschismus hervorgebracht haben, die Heroisierung der Tat in Gestalt von Kampf und Arbeit präsent ist, etwa im Frühwerk von Ernst Jünger wie in der stalinistischen Sprache und Bilderwelt. 57 In der Produktionsschlacht des glücklich werktätigen Menschen in einer vorgeblich nicht mehr herrschaftlichen Welt treten sie uns heute als politischer Kitsch vor Augen. 58 Hinter diesem lauert eine a-ethische Auffassung von Geschichte, die, wie das auch bei Kojève der Fall ist, den Menschen als deren Material betrachtet. Und um noch einen letzten kritischen Punkt aufzugreifen: Hegels mythische Geschichte vom Ursprung der Herrschaft aus dem Kampf um Anerkennung als Selbstbewusstsein macht letztendlich den Unterworfenen für seine Unterwerfung selbst verantwortlich. Dieser hatte sich der Geschichte von Herr und Knecht zu- 55 Horkheimer, Max / Adorno, Theodor W.: Die Dialektik der Aufklärung. Frankfurt / Main: Fischer, 1971. S. 1-41. 56 Horkheimer / Adorno, Die Dialektik, S. 16: „Das Wissen, das Macht ist, kennt keine Schranken, weder in der Versklavung der Kreatur noch in der Willfährigkeit gegen die Herren der Welt.“ An Hegels Herr-Knecht-Dispositiv angelehnt, sprechen die beiden Autoren von dem „Selbst, das die Ordnung und Unterordnung an der Unterwerfung lernte“. 57 Jünger, Ernst: Der Arbeiter. Herrschaft und Gestalt. Stuttgart: Klett-Cotta, 1992. S. 155-203. Für Jünger, der „von der Mobilisierung der Welt durch den Arbeiter“ (S. 165) spricht, ist die Technik jene zentrale historische Macht, die die alte Welt zerstört und eine Art von permanentem Krieg in der nachbürgerlichen Kultur und Gesellschaft etabliert, was Jünger übrigens affirmiert. 58 Vgl. hierzu den Sammelband von: Gruber, Bettina / Parr, Rolf (Hg.): Linker Kitsch. Bekenntnisse-- Ikonen-- Gesamtkunstwerke. München: Fink, 2015. 61 2.5. Kommentar und Kritik an Kojèves Konzept von Alterität folge geweigert, sein Leben um seiner Anerkennung willen aufs Spiel zu setzen und ein Leben in Unterwerfung gewählt. Übrigens steckt in dieser Erzählung eine gewisse Zweideutigkeit. Es ist nicht ganz klar, ob er sich in dem (männlichen) Zweikampf ergeben und um sein Leben gefleht hat oder ob er überhaupt je ernsthaft gekämpft hat. Des ungeachtet besitzt Hegels Konzept von Alterität den Vorzug, dass es auf einer äußerst abstrakten Ebene den Anderen mit der Frage von Macht und Herrschaft in Zusammenhang bringt. Mit Hegel und Kojève lässt sich plausibel machen, wie und warum in den Beziehungen zum Anderen stets Aspekte von Macht und Herrschaft tragend sind. Insofern muss man die Frage stellen, ob sich konkrete historische Herrschaftsformen durch die narrative Folie des von Hegel geschaffenen und von Kojève nacherzählten und umgeschriebenen Narrativs begreifen lassen. Inwiefern kann man zum Beispiel die Geschlechterverhältnisse in patriarchalen Gesellschaften, das Beziehungsgefüge von Herrscher und Untertan, die Klassenantagonismen in modernen Gesellschaften oder das Verhältnis von dem kolonisierenden zu dem kolonisierten Subjekt als anschauliche Ausformungen von Hegels Denkmodell verstehen, die einer ähnlichen positiven oder auch negativen ‚Dialektik‘ unterliegen? Wie Kojèves Interpretation nahelegt, ist das von Hegel entworfene Herrschaftsmodell, mitsamt dem Narrativ von Herr und Knecht, auf die europäische Feudalwelt bezogen. Es verweist damit auf ein persönliches Herrschaftsmodell, das durch die verschiedenen Diskurse der Aufklärung, die sozialgeschichtlich mit dem Bürgertum verbunden sind, kritisch in Frage gestellt wird. Im Zentrum dieses Denkens, das sich noch in den Werken der deutschen Klassik von Lessing über den jungen Goethe bis zu Schiller nachzeichnen lässt, steht die Kritik an willkürlicher Obrigkeit, aber auch an der Untätigkeit des adligen Herrn. Das bürgerliche und protestantische Lob der Arbeit richtet sich gegen den feudalen Herrn. Arbeit wird in der großen Erzählung der Bildung des Menschengeschlechtes 59 zum Motor menschlicher Selbstentwicklung. Von Molières Version des Don Juan bis zu Denis Diderots Jacque le Fataliste findet sich ein bürgerliches antifeudales Narrativ, das die philosophische Umkehrung, die Kojève konsequent zu Ende führt, in sich trägt. Hinter dem anmaßenden Herrschaftsgestus des faulen Aristokraten verbirgt sich eine Hilflosigkeit, die den Dienern der Don Quichottes und 59 Lyotard, Das postmoderne Wissen, S. 103: „Die Enzyklopädie des deutschen Idealismus ist die Erzählung der ‚Geschichte‘ dieses Subjekt-Lebens.“ Dieses „Subjektleben“ ist eingebettet in die „universale Geschichte des Geistes“. 62 2. Die Konstruktion des Anderen in Frankreich Don Juans in ihrer Konsequenz entgangen ist und die von Miguel de Cervantes, Molière und Diderot systematisch-komisch aufgedeckt wird. 60 Es ist also durchaus fraglich, und das kommt auch in den Schlussüberlegungen Kojèves zum Ausdruck, ob man den auf Lohnarbeit und Kapital zurückgehenden Klassengegensatz von Bourgeois und Proletarier- - so das Marxsche Standardmodell- - umstandslos im Sinne des Hegelschen Denkfiguration interpretieren kann. Etwas anders verhält sich die Frage hinsichtlich der philosophischen Interpretation kolonialer Herrschaft. Es liegt zunächst auf der Hand, den Status des entrechteten kolonisierten Subjekts als eine radikale Version des knechtischen Zustandes zu deuten und die Unterwerfung der außereuropäischen Völker im Sinne der Befriedigung, als sieghaftes Selbstbewusstsein anerkannt zu werden, zu begreifen. Das ist abgesehen von der politischen Obszönität, die in einer solchen heroischen, bis zu einem gewissen Grad heroisierenden Argumentation läge, aus mindestens zwei Punkten problematisch: Denn die Genozide, die mit der Eroberung und Unterwerfung außereuropäischer Kulturen einhergingen, durchbrechen das Argument, dass der Herr im Kampf mit seinem Gegenüber dessen Leben schont, um anerkannt zu werden. Vielmehr rechtfertigt sich die koloniale Unterwerfung ja nicht zuletzt darin, dass die indigenen Völker, auf die die bunt zusammengewürfelten Heerscharen europäischer Abenteurer treffen und die ihnen zuweilen erbitterten Widerstand entgegensetzen, von diesen nicht im Hegelschen Sinne als potentielle menschliche Selbstbewusstseine anerkannt werden. Nicht selten wird ihnen bis in die rassistischen Diskurse des 20. Jahrhunderts das volle gleichwertige Mensch-Sein abgesprochen. Kommen wir zur letzten Prädikation: Genus und Geschlecht. Zunächst einmal scheint es verlockend, den Geschlechterkampf von Mann und Frau im Sinne einer Herr-Knecht-Relation zu interpretieren und den langen Kampf der Frauen um Gleichberechtigung als einen Kampf der Frauen um diese Anerkennung zu interpretieren. Mit seiner Penthesilea hat Heinrich von Kleist fast zeitgleich eine Parallel-Erzählung zu Hegels Kapitel aus der Phänomenologie vorgelegt. Penthesilea stellt sich dem kriegerischen Kampf auf Leben und Tod und erzwingt damit etwas, das in der patriarchalen Ordnung, die immer eine der Geschlechtertrennung beinhaltet, nicht vorgesehen ist, nämlich dass Frauen kämpfen. In der klassischen Geschlechterprädikation schließen Frau und Krieger / in einander 60 Müller-Funk, Die Dichter der Philosophen, S. 67. 63 2.5. Kommentar und Kritik an Kojèves Konzept von Alterität aus. 61 Denn die Geschlechterordnung ist traditionell so gefügt, dass die beiden zentralen Bereiche bei Hegel und bei Kojève, Arbeit und Kampf, der Welt des Mannes zugeordnet sind. Der Mann kommt vom Draußen der Fremde, der Schlacht und der Arbeit, die Frau befindet sich im Innern des Heimes, in dem sie den Heimkehrer empfängt. Pointiert gesprochen: Während der Herr in Hegels Modell kämpft und der Knecht für ihn schuftet, kämpft die Frau nicht, sie arbeitet auch nicht im heroischen Sinne Hegels und Kojèves, denn was sie in der Privatsphäre des Oikos tut, ist letztendlich keine vollwertige Arbeit, keine heroische Negation der Welt. Deshalb lässt die Frau des Herrn andere für sich arbeiten und übernimmt das administrative Regiment im Haushalt. Insofern kann sie, strenggenommen, in dem Hegelschen Drama keine Rolle übernehmen oder spielen. Die Ausnahme bestätigt die Regel, wenn sie kurzfristig eine männliche Rolle besetzt und damit eigentlich die ihr zugeordnete angestammte Position verlässt. Ich-- also ein Selbstbewusstsein mit Begierde nach Anerkennung-- werden kann sie erst, wenn sie in der agonalen Begegnung zugelassen wird. Es ist erstaunlich, dass in der Diskussion über die Figur des Anderen all diese schon damals brennenden Fragen nicht zur Sprache gekommen sind, obschon vom blutigen Algerienkrieg über die anhaltenden sozialen Konflikte bis zu den Diskussionen über das „andere Geschlecht“ diese Fragen gleichsam in der Luft lagen (→-Kapitel 10). Heute wird man das Thema der Alterität ohne diese Referenzen kaum diskutieren können. Was freilich bleibt, ist die Einsicht, dass Alterität stets mit der Frage von Macht und Anerkennung verquickt ist, mit Kämpfen, die heute in nahezu allen Bereichen der ‚Zivilgesellschaft‘ im Dialog und mit Techniken der Verhandlung ausgetragen werden. Die empirische Realität, in der es nach wie vor physische Kämpfe auf allen Ebenen gibt, mag sich auch in demokratischen Gesellschaften anders ausnehmen, programmatisch beruht die Zivilgesellschaft unserer Tage indes auf einem solchen dialogischen Verständnis, das den harten und kühlen Interessenausgleich freilich nicht ausschließt. In diesem kulturellen Selbstbild steckt, wenn man so will, ein utopischer Restbestand. Es wäre kurzschlüssig, die philosophisch abstrakte Ebene von Alterität, ein entgegentretendes potentielles Selbstbewusstsein, von vornherein auszublenden und zu ignorieren, und damit den mindestens doppelten Aspekt der Frage nach dem / der Anderen zu ignorieren. Hinter der Differenz zwischen dem Anderen, 61 Herrmann, Hans Peter / Blitz, Hans-Martin / Moßmann, Susanna: Machtphantasie Deutschland. Nationalismus, Männlichkeit und Fremdenhaß im Vaterlandsdiskurs deutscher Schriftsteller des . Jahrhunderts. Frankfurt / Main: Suhrkamp, 1996. 64 2. Die Konstruktion des Anderen in Frankreich der noch kein Prädikat hat und eine universale Figur ist, und jenem Anderen, der eine klar erkennbare symbolische Markierung, ein Prädikat (Geschlechtszugehörigkeit, Sprache, Religion, Tradition) hat, tut sich ein alter Konflikt auf. Dieser besteht nämlich zwischen einem Universalismus, der den Unterschieden, die der Andere in sich trägt, gleichgültig gegenübersteht, und einem Partikularismus, der gerade auf die Anerkennung des Unterschiedlichen pocht. Es ist nicht dasselbe, als Schwarzer oder Weißer, als Mann oder Frau geachtet zu sein, und als Mensch, unabhängig von Hautfarbe und Geschlecht, anerkannt zu sein. Bei Kojève und, wie noch zu zeigen sein wird, bei Sartre, wird das Verhältnis zum Anderen einseitig unter dem Gesichtspunkt einer Freiheit gesehen, die vornehmlich im Zeichen der Negation steht: Freiheit als Unabhängigkeit vom Anderen, nicht als Gestaltung eines eben unaufkündbaren Verhältnisses. Durch ihre verwandelnde Kraft negiert die Arbeit die natürliche Welt, indem sie ihre ‚Objekte‘ (und dazu gehört auch alles Organische, das nicht ‚Mensch‘ ist) in ihrer bisherigen Form zerstört und transformiert. Aber auch die Begierde ist wesentlich negativ, indem sie die Dinge aufnimmt und verzehrt. Der Kampf wiederum zielt auf die reale oder-- wie im Falle von Herr und Knecht-- auf die symbolische und soziale Zerstörung des anderen potentiellen selbstbewussten Objekts, das sich mir in die Quere stellt. Diese drei Momente, Begierde, Kampf und Arbeit, werden dabei als unverzichtbar im Hinblick auf die Konstitution des Menschen als eines metabiologischen Lebewesens betrachtet. Es ist aufschlussreich, wie die Figur des Anderen gerade in diesem Zusammenhang zur Sprache kommt. Das andere (potentielle) Selbstbewusstsein wirkt wie ein Hindernis, das geschaffen wurde, um es zu überwinden. Das hängt ganz offensichtlich damit zusammen, dass Freiheit programmatisch und ausschließlich als ein Tun bestimmt wird, das sich in der Negation des Anderen und durch sie ‚offenbart‘ zeigt. Die einzige Möglichkeit der Überwindung besteht darin, dieses negative und agonale Verhältnis in einer dialektischen Synthese aufzulösen, in der es streng genommen das Selbe und das Andere, Herr und Knecht, nicht mehr gibt, weil beide vollständig verschmelzen. Die Dialektik, der sich Kojève und übrigens auch Sartre bedienen, ist eine, die die Freiheit und die Figur des Gegensatzes als eine von Sein und Nichts begreift und zwischen den beiden Polen ‚vermittelt‘. Dabei greift Kojève zu einem Gleichnis, jenem vom Goldring: Nehmen wir einen goldenen Ring. Er hat ein Loch und dieses Loch ist für den Ring ebenso wesentlich wie das Gold: ohne das Gold wäre das ‚Loch‘ (das dann im übrigen 65 2.5. Kommentar und Kritik an Kojèves Konzept von Alterität gar nicht existieren würde) kein Ring; aber ohne das Loch wäre das Gold (das gleichwohl existieren würde) auch kein Ring. Doch während man im Golde Atome gefunden hat, ist es ganz unnötig, sie in dem Loch zu suchen. Und nichts weist darauf hin, dass Gold und Loch in ein und derselben Weise ‚sind‘ (Es handelt sich selbstverständlich um das Loch als ‚Loch‘ und nicht um die Luft, die ‚in dem Loch‘ ist). Das Loch ist ein Nichts, das als Abwesenheit einer Anwesenheit nur dank des umgebenden Goldes existiert. Ebenso könnte der Mensch, der Tun ist, dank des Seins, das er ‚negiert‘, ein im Sein ‚nichtendes‘ Sein sein. 62 Selbstredend ist damit ein zentrales Problem der Ontologie, der Lehre vom Sein, angesprochen, ja mehr noch, benannt. Es geht um die Relation von Sein und Nichts. In der philosophischen Tradition (Parmenides) trifft man die Unterscheidung, dass das Sein ist und dass das Nichts nicht ist. Kojève meint nun, dass Parmenides eine Bestimmung vergessen habe, nämlich die Differenz. Für ihn ist es ganz offenkundig, dass es einen Unterschied zwischen dem Nichts und dem Sein gibt. Dieser Unterschied, diese Differenz, gibt es im gleichen Maße wie das Sein. Denn ohne einen solchen Unterschied zwischen dem Sein und Nicht-Sein gäbe es das Sein nicht. Um auf die Fabel zurückzukommen: Es besteht ein dialektisches Verhältnis zwischen dem Sein, dem Gold und dem Nichts, dem Loch. Sie besteht im „Einschluss“ des Nichts ins Sein oder der Differenz in die Identität bzw. in der Vereinigung der beiden: Das Gold (das Sein) bedarf sicher nicht des Loches (Nichts), um zu sein, aber der Goldring (die Welt) wäre nicht, was er ist, nämlich ein Goldring, wenn es das Loch nicht gäbe. Hier wird eine Dialektik gestiftet, die einen Gegensatz zur klassischen binären Logik postuliert. Diese beruht darauf, einem bestimmten Subjekt S ein eindeutiges Prädikat P zuzuordnen. Indem die Dialektik zeigt, dass S P und zugleich nicht P ist, untergräbt sie die logische Ordnung der Dinge, die auch für das Sprechen über den Anderen von entscheidender Bedeutung wird. Oder anders ausgedrückt: Die Dialektik nähert sich dem Paradox, vor allem dann, wenn die Doppeldeutigkeit nicht mehr durch die Figur der Synthese, der Einheit der Gegensätze, dialektisch geschlossen wird. Aber damit wird es möglich, die Gegenüberstellung von Eigenem und Fremden, von Identität und Differenz zu hinterfragen, weil immer das Andere und auch Fremde in das Eigene eingeschrieben sind. 62 Zit. nach Kojève, Hegel, S. 46. 66 2. Die Konstruktion des Anderen in Frankreich 2.6. Die Hölle, das ist der Andere: Sartre Auch Jean-Paul Sartres während des Zweiten Weltkriegs verfasste Werk L’ être et le néant. Essai d’ontologie phenomenologique (1943) (deutsch: Das Sein und das Nichts. Versuch einer phänomenologischen Ontologie, 1952) ist einem ‚humanistischen‘ Alteritätskonzept verpflichtet, in dem, wie sich schon im Titel ankündigt, das Moment der Negation im Mittelpunkt steht. Das seinerzeit höchst einflussreiche, heute aber verblasste Werk markiert im Diskurs über Alterität einen Übergang von der klassischen post-idealistischen Philosophie zu gegenwärtigen Konzepten des Anderen und Fremden. Die Überlagerung von traditionellem philosophischen Denken und innovativem Anspruch lässt sich sowohl an der Gliederung des Werkes wie an der theoretischen Strategie des Buches ablesen. Zunächst beschäftigt sich Sartre mit dem ‚dialektischen‘ Verhältnis von Sein und Nichts, um sich dann im zweiten Teil dem Für-sich-sein und im dritten dem Für-Andere-Sein zu widmen. Diese Anordnung suggeriert, dass das Andere zeitlich wie logisch nachordenbar ist. So wird zwar die Gegenüberstellung von Eigenem und Fremden, dem für sich und für andere, immer wieder unterlaufen, jedoch zugleich bestätigt. Mit anderen Worten, Sartres Werk ist eines des Übergangs. Von Anfang an versucht Sartre, einen dritten Weg zwischen den zwei Hauptströmungen abendländischer Philosophie einzuschlagen, oder, um Hegels Terminologie zu benützen, zwischen diesen beiden zu vermitteln. Vereinfacht gesprochen ist der Realismus, insbesondere nach der Kantschen Wende, philosophisch vorkritisch geworden. Die idealistische Philosophie hat aber insofern Schwierigkeiten mit dem Anderen, als dieser, insbesondere in radikalen Versionen, nur als Teil meiner Vorstellungswelt vorkommt. Die Figur des Anderen stellt also eine Herausforderung für das okzidentale Denken dar. Diese bezeichnet Sartre in einer Kapitelüberschrift als „die Klippe des Solipsismus“, jener Denktradition, in der der Mensch vornehmlich als singuläres und nicht als soziales Wesen fokussiert wird. 63 Während also der Realist die Tatsache des Anderen für gewiss hält, diese indes niemals als ein Problem angesehen und sich damit beschäftigt hat, ist der Andere in dem von Kant initiierten kritischen Idealismus lediglich ein Objekt unserer Vorstellungswelt. Sartre schreibt mit unüberhörbar kritischer Distanz über Kant: 63 Sartre, Jean-Paul: Philosophische Schriften I: Das Sein und das Nichts. Versuch einer phänomenologischen Ontologie. Deutsch von Hans Schöneberg und Traugott König. Reinbek: Rowohlt, 1991. S. 408. 67 2.6. Die Hölle, das ist der Andere: Sartre Diesen Anderen, dessen Verhältnis zu mir wir nicht erfassen können und der nie gegeben ist, konstituieren wir nach und nach als ein konkretes Objekt; er ist nicht das Instrument, das dazu dient, ein Ereignis meiner Erfahrung vorauszusehen, sondern die Ereignisse meiner Erfahrung dienen dazu, den Andern als Andern zu konstituieren, das heißt als Vorstellungssystem außer Reichweite wie ein konkretes und erkennbares Objekt. 64 Wenn der Andere nur als ein intellektuelles Produkt unseres Bewusstseins erscheint, dann ist er von vornherein kein Anderes im Sinne eines Draußen, das uns widerfährt. Dann reduziert sich Erfahrung auf ein rein inneres kognitives „Ereignis“. Die Pointe besteht nun aber darin, dass der Andere nicht nur für uns ein Wahrnehmungsobjekt ist, sondern umgekehrt auch wir für ihn. Der Andere ist von daher die „radikale Negation meiner Erfahrung“: Er durchbricht meinen Solipsismus dadurch, dass ich bemerke, wahrgenommen zu werden: „Der Andere ist ja nicht nur der, den ich sehe, sondern auch der, der mich sieht.“ 65 Damit wird ein absoluter Solipsismus, den Sartre als „ontologisches Alleinsein“ bezeichnet, obsolet. Favorisiert wird an dieser Stelle eine bescheidenere Version, die im Sinne der Phänomenologie Husserls gegenüber der Erfassung und dem Begriff des „Andern“ 66 Zurückhaltung (epoché) übt und jede unkritische Verdinglichung des Anderen zu vermeiden trachtet. 67 Der Andere ist der, der mich ins Visier nimmt und ohne den das Phänomen der Scham (→-Kapitel 9), das für Sartre zentral ist, nicht denkbar wäre. In dieser Szene erfolgt der Umschlag des Für-sich-Seins in das Für-Andere-Sein: Die Scham sei, so Sartre, die Scham vor jemandem, und obwohl der Autor zuvor suggeriert hatte, die Scham sei eine intime Beziehung zu mir selbst, so enthält sie eine Dimension, die dieses Für-sich übersteigt. Über Sartre hinaus gesprochen, lässt sich sagen, dass diese Intimität sich erst durch die Anwesenheit des Anderen herstellt, doch soweit möchte Sartre in seinem „bescheidenen“ Solipsismus nicht gehen. Aber er beschreibt, wie sich der, die oder das Andere in das Eigene eindrängen: Ich habe mich ungeschickt oder grob benommen: dieses Benehmen haftet an mir, ich beurteile und tadle es nicht, ich lebe es einfach, ich realisiere es nach dem Modus des 64 Sartre, Das Sein und das Nichts, S. 416. 65 Sartre, Das Sein und das Nichts, S. 417. 66 Die deutsche Übersetzung verwendet durchgehend die Form des „Andern“ statt des Anderen. Im Sinne der textgetreuen Zitierung folge ich bei der wörtlichen Wiedergabe von Sartres Ideen der Übersetzung. 67 Sartre, Das Sein und das Nichts, S. 418. 68 2. Die Konstruktion des Anderen in Frankreich Für-sich. Aber plötzlich hebe ich den Kopf; jemand war da und hat mich gesehen. Mit einemmal realisiere ich die ganze Grobheit meines Benehmens und schäme mich. 68 Das ist eine Schlüsselpassage des ganzen Buches und demonstriert die Zwiespältigkeit seines ganzen Ansatzes. Denn einerseits schämt sich Sartres Ich dafür, was es ist, sozusagen ganz für sich allein, aber andererseits ist dieses Schamgefühl doch undenkbar ohne die-- vorgängige-- Anwesenheit eines Anderen, der von außen hinzutritt und sich nicht schon im ‚Feld‘ des Intimen befindet. An anderer Stelle heißt es: „Der Andere ist der, der nicht ich ist und der ich nicht bin.“ Dadurch entsteht ein Nichts, das ein Trennungselement darstellt: „Zwischen dem Andern und mir selbst gibt es ein Trennungs-Nichts.“ 69 Die Figur des Anderen ist üblicherweise so konzipiert, dass sie, insbesondere in realistischen und idealistischen Konzepten des Anderen, in einer Äußerlichkeit zum Eigenen verbleibt: Dieses Nichts leitet seinen Ursprung weder von mir selbst noch vom Andern oder von einer Wechselbeziehung zwischen dem Andern und mir selbst her; sondern es ist im Gegenteil ursprünglich die Grundlage jeder Beziehung zwischen dem Andern und mir als persönliches Fehlen einer Beziehung. 70 Während Idealismus und Realismus Sartre zufolge dieses Nichts gleichermaßen als externe, äußerliche Relation begreifen, möchte Sartre dieses Nichts im Sinne einer internen Negation verstanden wissen, als „eine Negation, die die ursprüngliche Unterschiedenheit des Andern und meiner Selbst in genau dem Maß setzt, wie sie mich durch den Andern bestimmt und den Andern durch mich bestimmt“. 71 In dieser Denkfigur wird die Negation noch einmal dialektisch gewendet. Denn die mit der strikten Grenzziehung identische Negation führt letztendlich dazu, dass diese mich durch den Anderen „bestimmt“ und umgekehrt. Dass ich nicht der Andere bin, setzt mich demnach als Subjekt, das von sich sagen kann, dass es Ich ist. Dass der Andere nicht ich sein kann, ist ebenfalls das Ergebnis der Negation. 68 Sartre, Das Sein und das Nichts, S. 406, zur Scham als einem Gesehen-Werden von einem Anderen vgl. auch Simmel, Georg: „Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung“. In: Rammstedt, Otthein (Hg.): Gesamtausgabe. Bd. 11. Frankfurt / Main: Suhrkamp, 1992, S. 724. 69 Sartre, Das Sein und das Nichts, S. 418. 70 Sartre, Das Sein und das Nichts, S. 420 f. 71 Sartre, Das Sein und das Nichts, S. 424 f. 69 2.6. Die Hölle, das ist der Andere: Sartre Sartres Versuch eines ‚dritten Weges‘ zwischen den idealistischen und realistischen Denktraditionen führt ihn immer wieder dazu, an klassischen Subjekt- Vorstellungen festzuhalten und damit die Spaltung von Körper und Bewusstsein, die auf Descartes zurückgehende monistische Trennung zwischen res extensa und res cogitans, aufrechtzuerhalten und zu prolongieren. Von dieser Warte aus kann er der Hegelschen Phänomenologie mehr abgewinnen als jener Husserls oder Heideggers. Dessen „zeitlose Dialektik“ wird ausdrücklich bekräftigt: „Nicht mehr für die Konstituierung der Welt und meines empirischen Ego ist ja die Erscheinung des Andern unentbehrlich, sondern für die Existenz meines Bewußtseins von sich.“ 72 Hegels „geniale Intuition“ besteht demgemäß darin, „daß er mich in meinem Sein vom Andern abhängig macht. Ich bin, sagt er, ein Fürsichsein, das nur durch einen Andern für sich ist.“ 73 Ausdrücklich wird Sartres Bewusstseinsphilosophie darauf bestehen, dass die körperliche Begegnung, etwa der heterosexuelle intime Akt in seiner physischen Tatsächlichkeit, das leibliche Zusammentreffen mit dem / der Anderen, gegenüber dieser rein bewusstseinsmäßigen Präsenz alteritären Bewusstseins kontingent sei. An dieser Stelle kommt freilich ohne theoretische Reflexion und höchst indirekt die geschlechtliche Differenz als irritierendes und fremdes Moment ins Spiel. Die Begierde nach dem Anderen interpretiert Sartre von daher als eine Unterordnung unter die eigene Kontingenz, insofern das Bewusstsein „einen andern Körper-- das heißt eine andre Kontingenz-- als begehrenswert erfaßt“. 74 Kontingenz meint philosophisch immer mehr als einen bloßen Zufall, und enthält zudem die Bestimmung, dass es keinen zwingenden Grund gibt: Mein Körper und der des / der Anderen könnten auch anders beschaffen sein. Die „Seinstiefe meines Körpers“ besteht für Sartre darin, dass er „dieses fortwährende ‚Draußen‘ meines intimsten ‚Innen‘“ ist. So ist der Körper ein merkwürdiges Mittelding, halb Gegenstand, halb ‚Medium‘ 75 meines Bewusstseins und meiner Begierde: 72 Sartre, Das Sein und das Nichts, S. 429. 73 Sartre, Das Sein und das Nichts, S. 432. 74 Sartre, Das Sein und das Nichts, S. 679. 75 Vgl. auch Merleau-Ponty, Maurice: Phänomenologie der Wahrnehmung. Deutsch von Rudolf Boehm. Berlin: de Gruyter, 1966. Eine gute Einführung bietet: Bermes, Christian: Maurice Merleau-Ponty zur Einführung. Hamburg: Junius, 1998. S. 70-119. 70 2. Die Konstruktion des Anderen in Frankreich Ich existiere meinen Körper: das ist seine Seinsdimension. Mein Körper wird vom Andern benutzt und erkannt: das ist seine zweite Dimension. Aber insofern ich für den Andern bin, enthüllt sich mir der Andre als das Subjekt, für das ich Objekt bin. 76 „Ich existiere meinen Körper“, das ist nun, wenigstens im Deutschen, eine ganz merkwürdige Formulierung, die mit einer hintersinnigen Bedeutung des aus dem Lateinischen abgeleiteten Wort existieren einhergeht, das es in vielen europäischen Sprachen, etwa im Französischen und Englischen, gibt. Die menschliche Existenz, eben die Seinsweise im Sinne der Lehre vom menschlichen Sein, besteht demzufolge darin, dass der Mensch als ein Lebewesen bestimmt wird, das aus sich heraustritt, und zwar mittels seines Körpers. Aber durch dieses Heraustreten, dass das ‚Drinnen‘ ins ‚Draußen‘ drängt, gerät der Mensch zugleich in eine Fremde, die er nicht mehr zu steuern vermag. Der Andere kommt (in einem geschlechtsneutralen Sinn) mir deshalb ins Bewusstsein, weil er mich sieht. Die sich daraus ergebende Scham hat zwei Aspekte: Sie „enthüllt“ mir, dass „ich dieses Sein bin“. 77 Zugleich aber bedeutet dieses Gesehen-Werden seiner ganzen Logik nach eine „Selbstentfremdung“ 78 : „Mein Sündenfall ist die Existenz des andern“. Wiederum tritt der Andere als eine Instanz auf, die mich einschränkt und meiner Freiheit beraubt: „Ich erfasse den Blick des andern gerade innerhalb meiner Handlung als Verhärtung und Entfremdung meiner eigenen Möglichkeiten.“ 79 Von hier ist es nicht mehr weit bis zum berühmten Diktum aus Sartres Theaterstück Geschlossene Gesellschaft: L’ Enfer c’est les autres, „Die Hölle, das sind die Anderen“. 80 Der Andere trägt den „Anteil des Teufels“ (André Gide) in sich, er lähmt mich, so wie das Kafka in seinen Romanen Der Prozeß und Das Schloß beschrieben habe. Durch den Anderen verliere ich die Kontrolle über meine Welt, ich werde ihrer nicht mehr ihrer Herr, sie entgeht mir. Franz K. und K. wären in diesem Sinne exemplarische Gestalten, weil ihre Weltverlorenheit mit dem Ausgeliefert-Sein an den Anderen zusammenfällt. 81 Sartre verwendet den Begriff Entfremdung in einem gänzlich anderen Sinn als der auf Marx zurückgehende Diskurs. Marx charakterisiert die Selbstentfremdung des Menschen wie folgt: Die vom Menschen geschaffenen Produkte seiner Arbeit 76 Sartre, Das Sein und das Nichts, S. 619. 77 Sartre, Das Sein und das Nichts, S. 473. 78 Sartre, Das Sein und das Nichts, S. 475. 79 Sartre, Das Sein und das Nichts, S. 474. 80 Sartre, Jean-Paul: Geschlossene Gesellschaft. Deutsch von Traugott König. Hamburg: Rowohlt, 1991. S. 59. 81 Sartre, Das Sein und das Nichts, S. 478. 71 2.6. Die Hölle, das ist der Andere: Sartre und die Organisation der menschlichen Welt kommen ihm als etwas Äußerliches und Fremdes entgegen, obwohl sie doch eigentlich seine Erfindungen sind. Weil er für Andere und Anderes arbeitet, gehören ihm die Produkte seiner Arbeit nicht, er kann sie nicht als sein Produkt erfahren und genießen. Die Entfremdung in der kapitalistischen Welt ist demgemäß eine durch die Gesellschaft und Wirtschaft hervorgebrachte Spaltung von Mensch und Welt. Das politische Versprechen des Marxismus bestand gerade darin, dass mit der Überwindung des Kapitalismus (auch im Sinne des Hegelschen Modells von Herrschaft) nicht nur der Ausbeutung, sondern auch der Entfremdung, von der alle Menschen, Herren wie Knechte letztendlich betroffen sind, ein Ende gesetzt werden würde (→-Kapitel 11). Sartres Vorstellung ist eine ganz andere und sie hat eigentlich zwei Seiten, wobei die eine auffällig unterbelichtet bleibt. Der Andere, der mich mit seinen Augen sieht, macht mich zum Fremden, Anderen, aber er ermöglicht mir dadurch eine völlig neue Form von Reflexion, insofern wäre „Entfremdung“ sogar ein menschlicher ‚Zugewinn‘. Aber viel bedeutsamer ist, dass er in mein Leben eintritt und mich von mir selbst trennt, meine Handlung lähmt oder zumindest beschränkt. Der Blick des Anderen auf mir macht mich plötzlich zum Gegenstand der Wahrnehmung eines Anderen und ich erfahre mich als Subjekt. Diese Entfremdung verstärkt sich, wenn die Körperlichkeit und damit die Berührung ins Spiel kommen. Nicht nur beim Arztbesuch, sondern auch in der intimen Begegnung mit einem anderen Menschen erfahre ich meinen Körper als einen entfremdeten. „Mein Körper“, so Sartre, entgeht mir als ein „Werkzeug unter Werkzeugen“, das zugleich durch fremde „Sinnesorgane“ erfasst und fixiert wird. Sartre beschreibt diese Szene im Sinne „einer konkreten Auflösung meiner Welt, die zum Andern hin abfließt und die der Andre in seiner Welt wieder erfaßt“. 82 Der Andere enteignet mein Bewusstsein, mein Für-sich-Sein und degradiert so meinen Körper, in den ich mich ebenso verliere wie in den Anderen. Insofern ist das, was die französische Sprache höchst treffend den kleinen Tod nennt, der Sexualakt, der Inbegriff von Selbstenteignung und Selbstentfremdung. Mag Sartre in seinem Buch auch verschiedene Möglichkeiten der Beziehung zum Anderen erörtern, die Liebe, die Sprache, den Masochismus, die Gleichgültigkeit, die Begierde, den Hass und den Sadismus, so ist die von ihm konstatierte Abhängigkeit des Ich vom Anderen eine schmerzliche. Ein radikaler Weltpessimismus kommt hier zum Vorschein, für den die Begegnung mit dem Anderen vornehmlich als eine Auslieferung an ein Fremdes, das nicht ich bin, erscheint. Mag der Andere 82 Sartre, Das Sein und das Nichts, S. 621. 72 2. Die Konstruktion des Anderen in Frankreich auch eine Instanz sein, die mich ermöglicht, so entmächtigt sie mich zugleich. Etwas Misanthropisches umgibt diesen ‚linken‘ Humanismus, und es drängt sich die Frage auf, ob die von Sartre beschriebene Konstellation nicht auch im Verhältnis zum konkreten Anderen von Belang ist. Wir sind im Allgemeinen gewohnt, Xenophobie als Auswuchs von irrationalen, womöglich unbewussten Ängsten anzusehen, aber es könnte auch sein, dass die Unberechenbarkeit des Anderen jenen Kontrollverlust bewirkt, die der Rationalist, der die Vernunft vornehmlich als probates Instrument der Kontrolle und Beherrschung ansieht, generell fürchtet. Bis in die Metaphorik hinein begleitet die heutige Migration nach Europa das Narrativ, dass wir wegen der Einwandernden nicht mehr imstande sind, unser Territorium zu überwachen und die Invasion der Fremden zu unterbinden. Nicht mehr Herr der Lage zu sein, weil eine unberechenbare andere Instanz ins Spiel kommt, das generiert nachhaltiges Unbehagen. Das Andere beherrschen zu können, beschert Sicherheit. Festzuhalten bleibt, dass die von Sartre beschriebene Konstellation der Entfremdung eine wechselweise ist. Dass wir uns einander entfremden, Entfremdung erzeugen und Entfremdung erleiden, und mittels unserer Körper aus uns heraustreten, ist in dieser Philosophie das Schicksal aller Menschen, und zwar ungeachtet ihrer jeweiligen Prädikation. Insofern gibt es keinen Platz für Xenophobie in dieser Philosophie. Nicht als Fremder einer anderen Sprache und Kultur und nicht als Fremde eines anderen Geschlechtes, sondern gerade als ein vertrautes Wesen in unserer Nähe bedroht uns der Andere, der uns enteignet. Je näher uns der Andere kommt und je weniger fremd wir ihn erfahren, desto prekärer wird unsere wie auch seine Existenz. Vom „Schock der Begegnung mit dem Andern“ als einer „leeren Enthüllung in der Existenz meines Körpers“ und vom „Abfließen meiner Welt zum Andern hin“ spricht Sartre wörtlich an einer Stelle ganz drastisch. 83 In jedem Fall erklärt Sartres ‚bescheidener‘ Solipsismus nicht, warum wir uns vor den Anderen nicht nur fürchten, sondern die Begegnung mit ihnen zuweilen auf den verschiedensten Dimensionen unseres Daseins ersehnen. Sehnen wir uns bloß danach, „ein An-sich für den andern“ zu sein? Gibt es so etwas wie eine Lust an Selbst-Entmächtigung und Selbstenteignung? Schon die Romantik hat, wie ein Brief von Clemens Brentano zeigt, davon geträumt, kein Ich sein zu müssen. 84 83 Sartre, Das Sein und das Nichts, S. 620 f. 84 Vgl. hierzu Kamper, Dietmar: Zur Geschichte der Einbildungskraft. München: Hanser, 1981. S. 69-85. 73 3.1. Romantik und Psychoanalyse: Das Andere der Vernunft 3. Freuds Hoffmann-Lektüre und ihre Spuren in Julia Kristevas Theorie der Fremdheit 3.1. Romantik und Psychoanalyse: Das Andere der Vernunft Die Gespaltenheit des Selbst infolge des Anderen ist ein Leitmotiv gegenwärtigen Denkens. Denn die Figur des Anderen lässt sich nicht nur als eine äußere Instanz begreifen, die mir gegenübertritt, sondern ist immer schon integraler Bestandteil unseres Selbst ( → -Kapitel 2), was dann im Kontext der französischen Nachkriegsphilosophie vor allem in der Alteritätsphilosophie von Emmanuel Lévinas zur Entwicklung einer transzendentalen Ethik geführt hat. In der französischen Nachkriegsphilosophie ist das Andere personal gedacht als eine Figur, die mir gegenübertritt und die in mich gleichsam eindringt. Von dieser Perspektive sind die verschiedenen Konzepte, wie sie historisch aus dem psychoanalytischen Diskurs entstanden sind, zu unterscheiden. Hier sind nämlich das Fremde und Andere zunächst nicht im Sinne einer personalen Konfiguration gedacht, sondern werden mit dem höchst paradoxen Phänomen des Unbewussten, das, was Freud auch das Es genannt hat, verknüpft. Dieses manifestiert sich in Traum, Literatur, Kunst und Alltag. Der französische Psychoanalytiker Jacques Lacan hat sich eine Besonderheit der französischen Sprache zunutze gemacht, um diese Gespaltenheit sprachlich plastisch zu machen. Bekanntlich finden sich im Französischen zwei Ausdrücke für Ich: Je und moi. Das Je ist, was ich im Spiegel als ein Anderes wahrnehmen kann. Unmittelbar ist dabei nur die Ansicht des Spiegelbildes: Zu diesem (unbewussten) Ich habe ich also nur indirekten, niemals einen unmittelbaren Zugang. Dieser Zugang führt über das, was Lacan als das Imaginäre bezeichnet, für das hier der Spiegel steht. Das Je bleibt also stets in einem perspektivischen Dunkel, nur das Andere wird sichtbar. Demgegenüber ist das Moi der sekundäre und tendenziell bewusste Aspekt der Ich-Bildung, der Prozess der Identifikation mit dem primären Ich ( → -Kapitel 7). Hegels eindrucksvolles Bild von dem leeren Selbst, das von den Albträumen der Nacht heimgesucht wird, ist ein exemplarisches Bild jener Fremdheit, die mit den unwillentlichen Manifestationen des Unbewussten als des Anderen der Vernunft verbunden ist. Unübersehbar hat die europäische Romantik wesentlichen Anteil an dieser Beschäftigung mit jenem fremdartigen Anderen, jenem Unbekannten, das uns plötzlich und uneingeladen aufsucht. 74 3. Freuds Hoffmann-Lektüre und Kristevas Theorie der Fremdheit Es ist kein Zufall, dass sich Sigmund Freud in seiner einflussreichen Studie über das Unheimliche auf den Philosophen des romantischen Zeitalters, auf Friedrich Wilhelm Joseph Schelling beruft, bei dem das Unbewusste eine prominente Rolle spielt, insofern nämlich als er in seiner idealistischen Philosophie die Natur als das ‚Unbewusste‘ ansieht, das in Wissenschaft und Kunst ins Bewusstsein tritt. Schellings Philosophie löst diese Alterität freilich dadurch auf, dass er am Ende eine spiegelartige Identität zwischen dem Unbewussten und dem Bewussten postuliert. Darin sind ihm Romantiker wie Novalis und E. T. A. Hoffmann nicht gefolgt, bleibt hier das Unbewusste die dunkel-nächtliche, andere Seite des täglichen Verstandeslebens. Der Dualismus bleibt hier bestehen, auch wenn, wie zum Beispiel in Novalis Hymnen an die Nacht eine positive Umwertung, eine jubilatorische Annahme des Nächtlichen, Erotischen und-- an dieser Stelle kommt auch der Gender-Aspekt zum Tragen-- Weiblichen erfolgt: „Abwärts wende ich mich zu der heiligen, unaussprechlich geheimnisvollen Nacht.“ 1 Und an einer späteren Stelle heißt es im Gestus religiöser Verzückung: Preis der Weltkönigin, der hohen Verkünderin heiliger Welten, der Pflegerin seliger Liebe-- sie sendet mir dich-- zarte Geliebte-- liebliche Sonne der Nacht,-- nun wach ich-- denn ich bin Dein und Mein-- du hast mir die Nacht zum Leben verkündet-- mich zum Menschen gemacht- - zehre mit Geisterglut meinen Leib, daß ich luftig mit dir inniger mich mische und dann ewig die Brautnacht währt. 2 Jene literarische und kulturelle Bewegung, die das Fremde in Gestalt des Romantischen in sich trägt, ist auch deshalb eine Romantik, weil sie eine des Fremden ist, das in dem kunstvoll arrangierten Poem des Novalis ekstatisch überhöht wird. Die positive Umdeutung ist untrennbar mit dem Unbekannten verbunden. Wenn das fremde Andere zum Geheimnis wird, dann büßt es seinen Schrecken ein und wird zu einer Einladung in eine andere verheißungsvolle Welt, die hier unübersehbar religiös und erotisch aufgeladen ist. Das Andere der Vernunft ist das Leibliche, das Medium, das sich zum Anderen hin öffnet. Aufschlussreich an der Textstelle ist, wie sich das fremde Andere, die Welt des nächtlich-Unbewussten, mit der konfiguralen Person der Anderen, der romantisch überhöhten Frau, verbindet. Diese erscheint hier nicht als Allegorie nächtlichen Schreckens, sondern nächtlicher Verheißung und Entzückung-- ein Gegenbild zu Füsslis Nachtmahr und zu Hegels Schreckensbild unserer inneren 1 Schulz, Gerhard (Hg.): Novalis Werke. Studienausgabe. München: C. H. Beck, 1981. S. 41. 2 Schulz, Novalis Werke, S. 42. 75 3.2. Das Unheimliche als Fremdes und Vertrautes Fremdheit. Im Bild der ewigen Brautnacht taucht-- jenseits des erotischen Versprechens und der Vermischung-- noch ein anderes Motiv auf, nämlich die hier durch das ‚Medium‘ des Leiblichen vollzogene Liebe. Die Liebe ist deshalb eine ‚Erkenntnis‘ des Anderen, weil sie den Status des Fremden, des Unbewussten wie des Gegenübers, nachhaltig verändert, indem sie das Fremde und Andere zwar nicht ‚aufhebt‘, aber vertraut macht. Im Medium des literarischen Textes wird dieses Andere in seinen beiden Aspekten-- Schrecken und Verheißung-- gezeigt und bearbeitet. Romantik bedeutet demnach die Demonstration dieses unaufhebbar fremden Anderen im Medium der Literatur und anderer Künste sowie ihrer philosophischen Kommentierung. Demgegenüber beschreitet die Psychoanalyse rund einhundert Jahre später einen anderen Weg, das Unbewusste zu ergründen. Sie versucht die Spuren, die dieses ungeachtet aller ‚Verdrängungen‘ hinterlässt, (körperliche Symptome, Traum), zu lesen. Es ist eine romantische Erzählung, die die Brücke zur Psychoanalyse des Fremden schlägt, nämlich Hoffmanns kunstvoller und vieldeutiger Text Der Sandmann. Ihn macht Sigmund Freud zum Ausgangspunkt seiner Überlegungen zum Unheimlichen, während die Lacan-Schülerin Julia Kristeva insofern über Freud hinausgeht, als sie Hoffmanns Text und Freuds Kommentar in eine genuin psychoanalytische Theorie des Fremden integriert. Mit Adelbert von Chamissos Erzählung des heimatlosen und unbekannten Peter Schlemihl betreten wir noch ein anderes romantisches Gelände. Aber insgesamt befinden wir uns in diesem Kapitel im Bereich jener zweiten Phänomenlage von Andersheit, die konnotativ mit dem Fremdem, völlig Andersartigen, Unbekannten, Mysteriösen und Unheimlichen verquickt ist. 3.2. Das Unheimliche als Fremdes und Vertrautes. Freuds Lektüre von E.T. A. Hoffmann Inwiefern hat das Thema des Unheimlichen mit dem vielschichtigen Makro- Phänomen des Alteritären zu tun? Der Terminus enthält, wenn auch scheinbar in negierter Form, den semantischen Kern ‚heim / Heim‘, auf den sich jene Heimat bezieht, die nicht selten als Gegenstück zur Fremde begriffen wird. Wer nicht zu Hause ist, der befindet sich in der Fremde. Aber wie verhält es sich nun mit dem Unheimlichen? Ganz offenkundig ist es mit dem Fremden nicht gleichzusetzen, 76 3. Freuds Hoffmann-Lektüre und Kristevas Theorie der Fremdheit hat aber mit dem Phänomenkomplex des Befremdlichen und der Fremdheit einiges gemein. 3 Um das Unheimliche in seiner schillernden Bedeutungsvielfalt zu erkunden, gibt es Sigmund Freud, dem Begründer der Psychoanalyse, zufolge zwei Möglichkeiten: Man kann sich etymologisch nach den verschiedenen Bedeutungen von unheimlich aber auch heimlich umsehen, aber es ist auch denkbar, all jene Situationen zu ergründen, in denen jenes Unheimliche auftritt: „Ich will gleich verraten, daß beide Wege zum nämlichen Ergebnis führen, das Unheimliche sei jene Art des Schreckhaften, welche auf das Altbekannte, Längstvertraute zurückgeht.“ 4 Insofern gehört das Unheimliche nicht nur zum Komplex des Fremden, sondern auch zum Komplex des Vertrauten, das z. B. fremd wird. In seiner kurzen Abhandlung Das Unheimliche (1919) wird Freud, wie er selbst schreibt, beide Wege beschreiten, den etymologischen und den ‚phänomenalen‘. Freud bezeichnet das „Unheimliche“ als eine Kategorie, die ein Randgebiet der Ästhetik darstellt, aber für die Psychologie von enormem Interesse ist. Damit akzentuiert er einen markanten Gegensatz zwischen Psychoanalyse und Ästhetik. Die Psychoanalyse arbeite nämlich, so Freud, in „anderen Schichten des Seelenlebens“ 5 als jene. Umgekehrt scheint sich die traditionelle Regelästhetik, die sich vornehmlich auf die Beschäftigung mit dem Schönen konzentriert hat, nicht sonderlich für Phänomene des Unheimlichen zu interessieren. Aus diesem Grund sei es, als Kreuzungspunkt des Ästhetischen und des Psychischen, in der Ästhetik unterbelichtet geblieben. In seiner knappen Abhandlung verweist der Begründer der Psychoanalyse auf die Studie von E. Jentsch Zur Psychologie des Unheimlichen (1906), die schon Grundlage von E. T. A. Hoffmanns Text und auch Offenbachs Operette Hoffmanns Erzählungen war. Jentschs Schrift hat Freud also ganz offenkundig den Hinweis auf die Meistererzählung des Unheimlichen, E. T. A. Hoffmanns Erzählung Der Sandmann (1817), entnommen. Nebenbei bemerkt ver- 3 Wesentliche Werke in diesem Kapitel sind: Freud, Sigmund: „Das Unheimliche (1919)“. In: Mitscherlich, Alexander / Richards, Angela / Strachey, James (Hg.): Psychologische Schriften. Studienausgabe IV . Frankfurt / Main: Fischer 1970. S. 241-282. Zitiert wird der Text nach der historischen Gesamtausgabe: Freud, Sigmund: „Das Unheimliche“. In: Freud, Sigmund; Gesammelte Werke. Herausgegeben von Anna Freud u. a., Band XII . Frankfurt / Main: Fischer, 1940. S. 229-268. Kristeva, Julia: Fremde sind wir uns selbst. Deutsch von Xenia Rajewski. Frankfurt / Main: Suhrkamp, 1990. Hoffmann, E. T. A.: „Der Sandmann“. In: Ders.: Werke. Bd. 2. Frankfurt / Main: Insel, 1967. S. 7-40. 4 Freud, „Das Unheimliche“, S. 231. 5 Freud, „Das Unheimliche“, S. 229. 77 wendet Hoffmann selbst den Begriff des Unheimlichen in der fast gleichzeitig entstandenen Novelle Das Majorat. 6 Eine strategisch wichtige Rolle für den Text über das Unheimliche und Fremde spielt aber, wie wir noch sehen werden, auch die Studie seines Schülers Otto Rank über den Doppelgänger ( → -Kapitel 12). Die Bedeutung des deutschen Wortes unheimlich ist- - wie Freud, der die Nachschlagewerke seiner Zeit zur Hand nimmt, ausführt- - überaus komplex und widersprüchlich. Aber bevor der Autor auf die Etymologie des deutschen Ausdrucks unheimlich eingeht, nimmt er einen Umweg, indem er nach fremdsprachigen Pendants zum Wort Ausschau hält: Latein: locus suspectus, intempestus Altgriechisch: xénos 7 Französisch: inquiétant, sinistre, lugubre, mal à son aise Spanisch: sospechoso, de mal aguëro Das Italienische und Portugiesische verwenden Umschreibungen, während das Arabische und das Hebräische unheimlich als dämonisch oder schaurig übersetzen. Das altgriechische Wort xenos bezeichnet indes in seiner primären Bedeutung den Fremden oder als to xenon das Fremde (als neutrales Substantiv) und macht somit schon auf den Zusammenhang von fremd und unheimlich aufmerksam. Das deutsche Wort leitet sich indes negativ von Heim ab, jenem Wort, das auch der Heimat zugrunde liegt. Der Heimatbegriff ist für gewöhnlich der Gegenbegriff zur Fremde, und zwar unter beiden perspektivischen Blickwinkeln: Aus der eigenen Perspektive bin ich in der Fremde, der Mensch in der Diaspora, im Exil. Aus der Perspektive des und der Anderen ist er / sie ist ein / e Fremde / r, weil er / sie sich nicht in seiner / ihrer Heimat befindet und weil er / sie hier nicht zu Hause ist. Was aber bedeutet das Wort heimlich? Ganz offenkundig hat es, Freud zufolge, mehrere Bedeutungsnuancen und Konnotationen: 6 Hoffmann, Werke, S. 41-113. 7 Im Fall des Altgriechischen ist Freuds Wortreihe sehr knapp. Übrigens bedeutet xénos viel eher ‚fremdländisch‘, aber auch ‚Kriegsgegner‘, vgl. Gemoll, Wilhelm: Griechisch-Deutsches Schul- und Handwörterbuch. Mit einer Erweiterung von Karl Vretska. München / Wien: G. Freytag Verlag / Hölder-Pichler-Tempsky, 1979. S. 528. 3.2. Das Unheimliche als Fremdes und Vertrautes 78 3. Freuds Hoffmann-Lektüre und Kristevas Theorie der Fremdheit 1. Bedeutung: heimlich-= heimelig, zum Hause gehörig, nicht fremd, vertraut, zahm, traut, traulich (lat. familiaris) 2. Bedeutung: versteckt, verborgen gehalten, „so dass man Andere nicht davon oder darum wissen lassen, es ihnen verbergen will“. 8 In seinem etymologischen Streifzug ist im Hinblick auf die erste Bedeutung ein gewisser manipulativer Trick unübersehbar, 9 findet sich doch weder im Grimmschen Wörterbuch 10 und schon gar nicht in den Lexika unserer Tage 11 eine Bedeutungszuschreibung, die das Heimliche über den Umweg des Heimeligen mit dem Heimisch-Vertrauten in eins setzen würde. Kurzum, das Wort ‚heimlich‘ hat von Anfang an jene ‚entstellte‘ Bedeutung, die es zum Gegenpol des verflixt ähnlichen Wortes ‚heimisch‘ oder ‚heimelig‘ macht. Es ließe sich also allenfalls sagen, dass das Wort eigentlich auf Grund der Logik des Deutschen diese Bedeutung haben müsste bzw. könnte. Denn die Nachsilbe -lich zeigt eine zumeist wertneutrale Adjektivierung an, auch wenn bei Wörtern wie ‚hässlich‘ (Hass), ‚zierlich‘ (Zier) bzw. ‚lieblich‘ (Liebe) eine gewisse Bedeutungsverschiebung unübersehbar ist. In diesem Sinne ließe sich sagen- - und das käme Freuds Deutung wieder nahe- -, dass das Heimliche etwas ist, dass daheim, vor den Augen anderer verborgen, stattfindet. In der zweiten Bedeutung fällt die Bedeutung von „heimlich“ weithin, wenn auch nicht so eindeutig, wie es Freud suggeriert, mit dem „Unheimlichen“ zusammen. 12 Freud zitiert Schelling: „Unheimlich nennt man Alles, was im Geheimnis, im Verborgenen-[…] bleiben sollte und hervorgetreten ist.“ 13 Das Heimliche 8 Freud, „Das Unheimliche“, S. 234. 9 Ich danke an dieser Stelle Clemens Ruthner, der mich darauf aufmerksam gemacht hat. 10 Vgl. die Einträge zu ‚heimlich‘ und ‚unheimlich‘ in: Grimm, Jacob / Grimm, Wilhelm: Deutsches Wörterbuch. 16 Bände in 32 Teilbänden. Leipzig 1854-1961, Quellenverzeichnis Leipzig 1971. Online-Version vom 16. 02. 2016. 11 Kluge, Friedrich: Etymologisches Wörterbuch. 21. unveränderte Auflage. Berlin / New York: de Gruyter, 1975. S. 300: (‚heimlich‘). So bedeutet ‚heimlich‘ bereits im 12. Jahrhundert so viel wie ‚fremd‘ und ‚geheim‘. Dass ‚unheimlich‘ nicht das Gegenteil von ‚heimlich‘ bedeutet, hat offenkundig mit der logischen Unschärfe der Vorsilbe ‚un‘ zu tun, die nicht verlässlich eine klare Negation beinhalten muss. 12 „Also heimlich ist ein Wort, das seine Bedeutung nach einer Ambivalenz hin entwickelt, bis es endlich mit seinem Gegensatz unheimlich zusammenfällt“: Freud, „Das Unheimliche“, S. 237. 13 Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph: Gesammelte Werke. Werke 2.2. Herausgegeben von Karl F. A. Schelling. Stuttgart: Cotta, 1856-161. S. 649 ff. (digitale Ausgabe unter https: / / www.infosoftware.de / schelling_ii.htm, heruntergeladen am 30. 04. 2016). 79 wird zum Unheimlichen: „Wir nennen das unheimlich, Sie nennen’s heimlich.“ 14 (Gutzkow) Der Ausdruck unheimlich durchkreuzt also Freud zufolge- - das ist schon ein bedeutsamer und bemerkenswerter Befund- - die binäre Opposition, die mit dem Präfix un angezeigt zu sein scheint. Das Unheimliche ist nicht das Gegenteil von heimlich, weil sich bereits die Bedeutung des Heimlichen entscheidend verschoben hat. Es ist aber auch nicht dasselbe wie das Heimliche. Etwas Störendes, das nicht in das Vertraute und Eigene integriert werden kann, liegt ihm zugrunde. So ist das Unheimliche gewiss nicht etwas, das zum Heim und damit zum symbolischen Eigentum gehört, aber das lässt sich auch für das Heimliche sagen, das ja nicht in die symbolische Ausstattung des Heimes passt und daher verschwiegen werden muss. Das ist genau der Punkt, der Freud an diesem Phänomen interessiert. Hoffmanns Erzählung beginnt im narrativen Format einer Brieferzählung, an der drei Personen, Nathanael, der Protagonist, ein Student und angehender romantischer Poet, seine rational veranlagte Verlobte Clara und deren Bruder beteiligt sind. Die drei kennen sich schon von Kindesbeinen an. An diese brieflichen Dialoge schließt sich dann ein Text an, in der die Erzählerrede vorherrscht.Die Geschichte nimmt ihren Ausgang von der Begegnung Nathanaels mit einem italienischen Optiker, der ihm magische Augengläser verkauft, mit deren Hilfe er später eine schöne Frau im Haus gegenüber, nämlich die Puppe Olimpia, sieht, in die er sich unsterblich verliebt. Die Begegnung mit dem merkwürdigen Coppola rufen in ihm traumatische Kindheitserinnerungen hervor, in deren Zentrum der früh verstorbene Vater und dessen furchterregender Freund Coppelius stehen. Beide Männer sind zusammen allabendlich in merkwürdige ‚alchemistische Experimente‘ verwickelt gewesen, an denen die Kinder offenkundig nicht teilhaben sollten, weswegen sie mit der Geschichte vom Sandmann ins Bett geschickt worden sind. Der Sandmann ist hier Teil einer schwarzen Pädagogik und eine böse, dämonische Gestalt, die den unartigen Kindern die Augen ausreißt. Die Gestalt des Sandmanns verschmilzt in der kindlichen Erinnerung mit der des unheimlichen Alchimisten, der ebenfalls nach den Augen des Kindes trachtet. Im Augenglashändler Coppola will der Student den Coppelius seiner Kindheit wiedererkannt haben, wobei die Ähnlichkeit des Namens, aber auch gewisse äußerliche Gemeinsamkeiten, von entscheidender Bedeutung sind. Clara und ihr Bruder wollen Nathanael diese ‚Hirngespinste‘ ausreden und bitten ihn flehentlich zur Vernunft zu kommen. So fordert ihn seine Verlobte 14 Freud, „Das Unheimliche“, S. 235. 3.2. Das Unheimliche als Fremdes und Vertrautes 80 3. Freuds Hoffmann-Lektüre und Kristevas Theorie der Fremdheit auf, eine phantastische Geschichte, die er geschrieben und die das Geschehen der Kindheit zum Gegenstand hat, zu verbrennen. Nathanael verstrickt sich indes immer weiter in die von Coppola und einem italienischen Professor, Spalanzani, dem Vater der schönen Olimpia, inszenierten Ereignisse. Die stumme und starre Schönheit, derentwegen der junge Mann seine rational denkende Verlobte vergessen und verlassen möchte, erweist sich am Ende als eine täuschend echte Nachahmung, als ein Automat, für den der Konstrukteur scheinbar echte Augen benötigt. Dies bildet ganz offenkundig die Analogie zu der traumatischen Kindheitssituation mit dem Sandmann. Bei einem Streit zwischen den beiden Fremden-- beide sind Italiener-- geht die schöne Puppe entzwei. Nathanael verfällt in eine schwere psychische Krankheit und scheint am Ende doch von den schockartigen-- inneren wie äußeren-- Ereignissen geheilt zu sein. Er kehrt, scheinbar von seinem Wahn befreit, zu seiner Verlobten zurück. Clara schlägt ihm einen Ausflug in die Stadt und auf den Rathausturm vor. Unter den Menschen, die er vom Turm aus sieht, glaubt er den Advokaten Coppelius zu erkennen, der höhnisch zu ihm hinaufblickt. Er bricht in Raserei aus und versucht, seine Verlobte vom Turm in die Tiefe zu stürzen. Zuletzt aber stürzt er sich selbst in die Tiefe. Aber selbst durch das tragische Ende des jungen Romantikers bleibt das Spannungsverhältnis zwischen Phantasie und Wirklichkeit bestehen, auch wenn das Ende die zerstörerische Macht der Phantasie, vor der sich Clara und ihr Bruder immer schon gefürchtet haben, scheinbar bestätigt. Durch die Verschiebung der Erzählperspektive bleibt unklar, ob nur Nathanael oder auch die anderen Figuren jenen mysteriösen Coppelius sehen können, den Hoffmanns Protagonist von Anfang mit Coppola identifiziert hat. Unverkennbar ist, wie wir noch sehen werden, die Lesart Freuds durchaus selektiv. Sie greift nämlich ausschließlich jene Aspekte aus dem literarischen Text auf, die für die Entwicklung der eigenen Theorie des Unheimlichen als eines Fremden, das vertraut war, aber verdrängt worden ist, von Relevanz sind: ▶ Freud erzählt die Geschichte vom Sandmann in einem durchgängigen Format, während sie bei Hoffmann multi-perspektivisch ist. Letzterer stellt die Geschichte im ersten Teil nämlich als Brief-Erzählung dar. Freud löscht aber damit die polyphone Struktur des Textes zugunsten einer einzigen Lesart auf. ▶ Freud erzählt die Geschichte zeitlich linear, während sie bei Hoffmann diskontinuierlich erzählt wird (durch die Verwendung von Erinnerungs- Rückblenden). 81 ▶ Freuds Nacherzählung erzeugt Distanz, während die Hoffmannsche die Leserschaft in den opaken Raum der Erzählung mit hineinzieht. Das führt in Hoffmanns Textur dazu, dass die Erzählung die Leserschaft hinsichtlich des Geschehenen im Unklaren lässt; was geschehen ist, lässt sich nicht auflösen. So weiß die Leserschaft nicht, ob es sich nur um Nathanaels Phantasmagorien handelt und was in seiner Kindheit wirklich passiert ist. 15 Freuds Nacherzählung, die hier als ein eigener Text verstanden wird, lässt sich auch als ein Metatext begreifen, der den Text Hoffmanns wiederholt, überschreibt und zugleich abwandelt. Die Unterstreichungen der im Folgenden abgedruckten Version Freuds markieren jene figuralen und dramatischen narrativen Eckpunkte, die den Plot seiner Nacherzählung bilden. Diese wird in voller Länge wiedergegeben, wobei für die Interpretation zentrale Geschehenselemente unterstrichen worden sind: 15 Breuer, Josef / Freud, Sigmund: Studien über Hysterie. Mit einer Einleitung von Stavros Mentzos, Frankfurt / Main. Fischer 1991. Kritisch hierzu Borch-Jacobsen, Mikkel, Anna O. zum Gedächtnis. Eine hundertjährige Irreführung. Aus dem Französischen von Martin Stingelin, München: Fink 1997. Der Student Nathanael, mit dessen Kindheitserinnerungen die phantastische Erzählung anhebt, kann trotz seines Glücks in der Gegenwart die Erinnerungen nicht bannen, die sich an den rätselhaft erschreckenden Tod des geliebten Vaters knüpfen. An gewissen Abenden pflegte die Mutter die Kinder mit der Mahnung zeitig zu Bette zu schicken: Der Sandmann kommt, und wirklich hört das Kind dann jedes Mal den schweren Schritt eines Besuchers, der den Vater für diesen Abend in Anspruch nimmt. Die Mutter, nach dem Sandmann befragt, leugnet dann zwar, dass ein solcher anders denn als Redensart existiert, aber eine Kinderfrau weiß greifbarere Auskunft zu geben: „Das ist ein böser Mann, der kommt zu den Kindern, wenn sie nicht zu Bett gehen wollen, und wirft ihnen Hände voll Sand in die Augen, daß sie lustig zum Kopfe herausspringen, die wirft er dann in den Sack und trägt sie in den Halbmond zur Atzung für seine Kinderchen, die sitzen dort im Nest und haben krumme Schnäbel wie Eulen, damit picken sie der unartigen Menschenkindlein Augen auf.“ Obwohl der kleine Nathanael alt und verständig genug war, um so schauerliche Zutaten zur Figur des Sandmanns abzuweisen, so setzte sich doch die Angst vor diesem selbst in ihm fest. Er beschloß, zu erkunden wie der Sandmann aussehe, und verbarg sich eines Abends, als er wieder erwartet wurde, im Arbeitszimmer des Vaters. In dem Besucher erkennt er dann den Advokaten Coppelius, eine abstoßende 3.2. Das Unheimliche als Fremdes und Vertrautes 82 3. Freuds Hoffmann-Lektüre und Kristevas Theorie der Fremdheit Persönlichkeit, vor der sich die Kinder zu scheuen pflegten, wenn er gelegentlich als Mittagsgast erschien, und identifiziert nun diesen Coppelius mit dem gefürchteten Sandmann. Für den weiteren Fortgang dieser Szene macht es der Dichter bereits zweifelhaft, ob wir es mit einem ersten Delirium des angstbesessenen Knaben oder mit einem Bericht zu tun haben, der als real in der Darstellungswelt der Erzählung aufzufassen ist. Vater und Gast machen sich an einem Herd mit flammender Glut zu schaffen, Der kleine Lauscher hört Coppelius rufen: „Augen her, Augen her“, verrät sich durch seinen Aufschrei und wird von Coppelius gepackt, der ihm glutrote Körner aus der Flamme in die Augen streuen will, um sie dann auf den Herd zu werfen. Der Vater bitte die Augen des Kindes frei. Eine tiefe Ohnmacht und lange Krankheit beenden das Erlebnis. Wer sich für die rationalistische Deutung des Sandmannes entscheidet, wird in dieser Phantasie des Kindes den fortwirkenden Einfluß der Erzählung der Kinderfrau nicht verkennen. Anstatt der Sandkörner sind es glutrote Flammenkörner, die dem Kind in die Augen gestreut werden sollen, in beiden Fällen damit die Augen herausspringen. Bei einem weiteren Besuche des Sandmannes ein Jahr später wird der Vater durch eine Explosion im Arbeitszimmer getötet; der Advokat verschwindet vom Orte, ohne eine Spur zu hinterlassen. Diese Schreckgestalt seiner Kinderjahre glaubt nun der Student Nathanael in einem herumziehenden italienischen Optiker Giuseppe Coppola zu erkennen, der ihm in der Universitätsstadt Wettergläser zum Kauf anbietet und nach seiner Ablehnung hinzusetzt: „Ei nix Wetterglas, nix Wetterglas! - hab auch sköne Oke - sköne Oke.“ Das Entsetzen des Studenten wird beschwichtigt, da sich die angebotenen Augen als harmlose Brillen herausstellen; er kauft dem Coppola ein Taschenperspektiv ab und späht mit dessen Hilfe in die gegenüberliegende Wohnung des Professors Spalanzani, wo er dessen schöne, aber rätselhaft wortkarge und unbewegte Tochter Olimpia erblickt. In diese verliebt er sich bald so heftig, daß er seine kluge und nüchterne Braut Clara über sie vergißt. Olimpia ist indes ein Automat, an dem Spalanzani das Räderwerk gemacht und dem Coppola - der Sandmann - die Augen eingesetzt hat. Der Student kommt hinzu, wie die beiden Meister sich um ihr Werk streiten. Der Optiker hat die hölzerne, augenlose Puppe davongetragen, und der Mechaniker, Spalanzani, wirft Nathanael die auf dem Boden liegenden blutigen Augen Olimpias an die Brust, von denen er sagt, daß Coppola sie dem Nathanael gestohlen hat. Dieser wird von einem neuerlichen Wahnsinnsanfall ergriffen, in dessen Delirium sich die Reminiszenz an den Tod des Vaters mit dem frischen Eindruck verbindet: „Hui - hui - hui! - Feuerkreis - Feuerkreis! Dreh’ dich Feuerkreis - lustig - lustig! Holzpüppchen hui, schön Holzpüppchen dreh’ dich -.“ Damit wirft er sich auf den Professor, den angeblichen Vater Olimpias, und will ihn erwürgen. 83 16 Freud liest zwei Texte, die Meistererzählung von E. T. A. Hoffmann und den Kommentar von Jentsch, dem er seine eigene Lektüre gegenüberstellt. Dabei geht es darum, Jentschs’ These, wonach das Unheimliche mit dem Unbekannten einhergehe, umzukehren. Im Unheimlichen, so konstatiert Freud an späterer Stelle seines Aufsatzes, steckt immer schon ein bekanntes Moment, etwas, das vergessen oder verdrängt worden ist. Jentsch hatte das Unheimliche in Hoffmanns Der Sandmann, nicht zuletzt unter dem Eindruck von Offenbachs Oper Hoffmanns Erzählungen, insbesondere im Motiv der belebt erscheinenden Puppe Olimpia gesehen. Dem widerspricht Freud einigermaßen vehement. Freuds alternative und exemplarische Lektüre konzentriert sich auf die folgenden vier Punkte: 1. Das Motiv der Puppe, die ein menschliches Lebewesen vortäuscht, ist nicht das einzige unheimliche Motiv. 2. Diese Täuschung wird durch die satirische Auflösung geschwächt. 16 Freud, „Das Unheimliche“, S. 239-242. Aus langer, schwerer Krankheit erwacht, scheint Nathanael endlich genesen. Er gedenkt, seine wiedergefundene Braut zu heiraten. Sie ziehen beide durch die Stadt, auf deren Markt der hohe Ratsturm seinen Riesenschatten wirft. Das Mädchen schlägt ihrem Bräutigam vor, auf den Turm zu steigen, während der das Paar begleitende Bruder unten bleibt. Oben zieht eine merkwürdige Erscheinung von etwas, was sich auf der Straße heranbewegt, die Aufmerksamkeit Claras an sich. Nathanael betrachtet dasselbe Ding durch Coppolas Perspektiv, das er in seiner Tasche findet, wird neuerlich vom Wahnsinn ergriffen, und mit den Worten: „Holzpüppchen, dreh’ dich“, will er das Mädchen in die Tiefe schleudern. Der durch ihr Geschrei herbeigeholte Bruder rettet sie und eilt mit ihr herab. Oben läuft der Rasende mit dem Ausruf herum: Feuerkreis, dreh’ dich, dessen Herkunft wir ja verstehen. Unter den Menschen, die sich unten ansammeln, ragt der Advokat Coppelius hervor, der plötzlich wieder erschienen ist. Wir dürfen annehmen, daß es der Anblick seiner Annäherung war, der den Wahnsinn bei Nathanael zum Ausbruch brachte. Man will hinauf, um sich des Rasenden zu bemächtigen, aber Coppelius lacht: „Wartet nur, der kommt schon herunter von selbst.“ Nathanael bleibt plötzlich stehen, wird des Coppelius’ gewahr und wirft sich mit dem gellenden Schrei: „Ja! Sköne Oke - Sköne Oke“ über das Geländer herab. Sowie er mit zerschmettertem Kopf auf dem Straßenpflaster liegt, ist der Sandmann im Gewühl verschwunden. 16 3.2. Das Unheimliche als Fremdes und Vertrautes 84 3. Freuds Hoffmann-Lektüre und Kristevas Theorie der Fremdheit 3. Das Unheimliche kommt vielmehr durch die Konfiguration des unheimlichen Fremden, der mit dem Sandmann identifiziert wird, zentral ins Spiel. 4. In Freuds Deutung fallen letztendlich fremd und vertraut wieder zusammen, da er psychoanalytisch im Sandmann die Angst vor dem Vater erkennt: „[…]-sowie man für den Sandmann den gefürchteten Vater einsetzt, von dem man die Kastration erwartet.“ 17 Sigmund Freuds Abhandlung ist ein klassisches Beispiel für Intertextualität, in diesem Fall für einen reziproken Textbezug zwischen einem literarischen Text und einer wissenschaftlichen Abhandlung. Intertextualität inkludiert, dass sich durch die wechselseitige Bezugnahme beide Texte verändern. In diesem Zusammenhang bedeutet das Zitat, einen Text in einen fremden Kontext zu stellen und ihm damit eine neue Bedeutung zu geben: Der Text des ‚Spätromantikers‘ wird zu einem illustrativen psychoanalytischen Prätext, während umgekehrt Freuds Abhandlung in die Nachbarschaft zur Romantik gerät. Freuds Text über das Unheimliche ist bzw. enthält keine vollständige Interpretation der romantischen Textur Hoffmanns, vielmehr dient der Text des spätromantischen Autors als Folie und Illustrationsmaterial für die eigene Theoriebildung; unübersehbar enthält er indes zugleich eine Lesart der Erzählung. Diese basiert auf der von Freud behaupteten etymologischen Aufspaltung der Bedeutung des Unheimlichen, das nun mit Schelling und der gesamten romantischen Tradition als etwas gedeutet wird, das eigentlich ein Geheimnis bleiben sollte. In psychoanalytischer Diktion bedeutet das: Es handelt sich beim Unheimlichen um eine Form der Verdrängung. In seiner Arbeit am Text entwickelt Freud eine Art von Typologie des Unheimlichen ( → -Kapitel 12), in der es um die Figur des Doppelgängers, der Wiederholung des Gleichartigen und um den Glauben an die Wirksamkeit magischer Mächte geht. So gründet sich das Unheimliche einerseits auf infantilen Phantasien, andererseits aber auch auf späteren Entwicklungen und Phasen der menschlichen Ontogenese. Beiden Varianten ist gemeinsam, dass sie, menschheitsgeschichtlich betrachtet, Figuren und Bildungen aus „überwundenen seelischen Urzeiten“, in denen die Menschen an Magie und fremde Mächte glauben, darstellen und diese zugleich reproduzieren. 18 Überdies kann das Unheimliche im alltäglichen Erleben wie auch als fiktionales Konstrukt etwa in Literatur (oder 17 Freud, „Das Unheimliche“, S. 244. 18 Freud, „Das Unheimliche“, S. 247 f. 85 Film) auftreten, wobei das Phantastische damit spielt, ob das Dargestellte ‚Realität‘ oder ‚Fiktion‘ ist. Das Unheimliche, das Hoffmanns Text zur Sprache bringt, versinnbildlicht für Freud das Drama der Kindheit und ist somit Teil des „Familienromans“. In dessen Zentrum steht das ambivalente und ödipale Verhältnis zur Vater-Imago. Dabei kommt es zur Aufspaltung in einen guten und in einen bösen Vater: den eigentlichen, früh verstorbenen Vater und den dämonischen Coppelius, den „Sandmann“, der Nathanael droht, ihm die Augen auszureißen. Diese realen oder phantastischen Geschehen wiederholen sich Freud zufolge insofern, als Nathanael viele Jahre nach den traumatischen Kindheitserlebnissen, die im Tod des geliebten, für das Kind aber unzugänglichen Vaters kulminieren, dem Brillenhändler Coppola begegnet. In jenem, und darin besteht das Unheimliche im Text, glaubt er den Alchemisten aus seiner Kindheit, Coppelius, wiederzuerkennen, den er für den Tod des Vaters verantwortlich macht und an dem er aufgrund des suggerierten Mordes zunächst Rache üben will. Coppola wird somit zum Wiedergänger einer bedrohlichen Gestalt aus der Kindheit, die mit elementarem Schrecken verknüpft ist. Nicht umsonst trägt diese düstere Person in Hoffmanns Erzählung-- das stellt Freuds Deutung hintan-- die Charakterzüge des Teufels. So wie Coppelius, der mit dem Vater magische Experimente unternimmt, so hat auch Coppola einen Gefährten, einen Professor für Mechanik namens Spalanzani. Diese beiden unheimlichen Gestalten-- wobei Spalanzani eher eine satirische als eine dämonisch-teuflische Gestalt ist-- sind Freuds Deutung zufolge die unheimlichen Wiedergänger der kindlich ödipalen Situation, die von der Kastrationsangst bestimmt ist. Sie wird durch das von dem bösen Vater angedrohten Ausreißen der Augen virulent. Einen Teil seiner eigenwilligen Interpretation hat Freud merkwürdigerweise in die Fußnote ‚verschoben‘. Dort ist davon die Rede, dass die ambivalente Position des Sohnes zum Vater eine „in zwei Gegensätze zerlegte Vaterimago“ bewirke. Und weiter heißt es dann: Das von der Verdrängung am stärksten betroffene Stück des Komplexes, der Todeswunsch gegen den bösen Vater, findet seine Darstellung in dem Tod des guten Vaters, der dem Coppelius zur Last gelegt wird. Diesem Väterpaar entsprechen in den späteren Lebensgeschichte des Studenten Professor Spalanzani und der Optiker Coppola, der Professor an sich eine Figur der Vaterreihe, Coppola als identisch mit dem Advokaten Coppelius erkannt. 19 19 Freud, „Das Unheimliche“, S. 244, Anm. 1. 3.2. Das Unheimliche als Fremdes und Vertrautes 86 3. Freuds Hoffmann-Lektüre und Kristevas Theorie der Fremdheit In Freuds Deutung, in der Spalanzani und Coppola als „Reinkarnationen von Nathanaels Väterpaar“ 20 fungieren, ist die mechanische Erzeugung des weiblichen Automaten nur die Fortsetzung jener alchemistischen Tätigkeit seines Vaters und in ihr wiederholt sich jene Kastration, die auch schon im ersten traumhaften Tableau zentral im Spiel war. Allerdings ist Freuds Analogie schief, verkörpert doch der gauklerische und betrügerische Prahler Spalanzani nicht wirklich ein positives Vater-Imago, auch wenn er vorgeblich die Rolle des freundlichen präsumtiven Schwiegervaters spielt. Im Anschluss an die die oben wiedergegebene Nacherzählung unternimmt Freud sodann eine Deutung des Olimpia-Komplexes. Dieser gründet in der Annahme der Identität von Nathanael und Olimpia. Olimpia sei „ein von Nathanael losgelöster Komplex“, der in der „zwanghaften Liebe zur Olimpia ihren Ausdruck“ 21 finde. Diese Liebe sei ausschließlich eine „narzißtische“ und entfremde ihn von seinem „realen Liebesobjekt“. 22 Die Relation zu dem gedoppelten Vater interpretiert der Begründer der Psychoanalyse als eine Fixierung, die die Liebe zur Frau, Clara, die zugleich das Realitätsprinzip verkörpert, unmöglich macht. Darin besteht die kastrierende Funktion des bösen Vaters. Das ins Phantastische gesteigerte Unheimliche ist demnach die Entstellung eines peinlich Vertrauten, nicht von etwas Unbekanntem. Sie ist zum einen die Folge einer Verdrängung, die in der Begegnung mit Coppola, dem zuweilen satirisch beschriebenen Doppelgänger des teuflischen Coppelius, zutage tritt. Sie folgt der Logik der Wiederkehr des Verdrängten. Sie ist natürlich auch das Werk der literarischen Fiktion, die eine andere Welt schafft, in der „für die Dauer unserer Hingegebenheit“ 23 möglich ist, was in der erlebten Welt unmöglich ist. So ist nicht ganz klar, ob die Erlebnisse des Studenten als real zu begreifen sind. Am Ende jedoch wird laut Freud deutlich, „daß der Optiker Coppola wirklich der Advokat Coppelius und also auch der Sandmann ist“. 24 Der böse Vater ist demnach mit magischen Kräften ausgestattet, um den eher zarten Muttersohn zu verderben. 25 Dass Freud eine eindeutige Lösung des Falls bevorzugt, hat auch damit zu tun, dass die psychoanalytische Lesart das Unheimliche auflöst und es auf ein 20 Freud, „Das Unheimliche“, S. 244, Anm. 1. 21 Freud, „Das Unheimliche“, S. 244, Anm. 1. 22 Freud, „Das Unheimliche“, S. 245. 23 Freud, „Das Unheimliche“, S. 264. 24 Freud, „Das Unheimliche“, S. 242. 25 Freud, „Das Unheimliche“, S. 244. 87 vergessenes und verdrängtes Ganzes zurückführen möchte. Das Unheimliche ist eigentlich per definitionem aufklärungsresistent, aber die psychoanalytische Form einer zweiten Aufklärung liefert den Schlüssel, das Geheimnis des Unheimlichen ans Licht zu fördern. Wenn Freud also letztendlich von der Existenz von Coppola (coppa ist die Augenhöhle) und dessen Identität mit Coppelius (der Name leitet sich übrigens von copella: Probiertiegel ab) ausgeht, dann verweist die Erinnerung, die Nathanael im ersten Brief an seinen Freund mitteilt, auf ein reales traumatisches Geschehen, das um Kastrationsdrohung und sexuellen Missbrauch kreist. 26 Hoffmanns Erzählung selbst bietet alternative Deutungen an. Aus dem Blickwinkel der Braut handelt es sich um phantastische und eingebildete Ängste, denen der Geliebte widerstehen sollte. Deshalb auch bittet Clara ihren Geliebten inständig, die Spukgestalten seiner Phantasie aus seinem Inneren zu verbannen und die Geschichte von der Wiederkehr des unheimlichen Coppelius in Gestalt von Coppola, die er in seinem Brief mitgeteilt hat, zu verbrennen. Überhaupt enthält Hoffmanns Text eine ganze Reihe von scheinbar unwichtigen Details, so etwa jenes, dass der Brief des Studenten versehentlich in die Hände seiner Braut gelangt, oder dass das Haus, in dem Nathanael wohnt, wie von Zauberhand niederbrennt, wodurch er nun in das Haus übersiedelt, in dem die mysteriöse Schönheit Olimpia wohnt. Deren Namen ist ähnlich und doch anders als die Stadt der antiken griechischen Sommerspiele und- - damit verbunden- - der Berg der griechischen Götter, der Olymp. Verwirrend ist auch, dass am Ende nicht etwa der Optiker Coppola auftritt, sondern der Alchemisten-Freund des Vaters aus der Kinderzeit. Gerade die Verschiebung Olimpia / Olympia ließe sich doch im Sinne einer verzerrenden Traumarbeit deuten, die dem Text Hoffmanns zugrunde liegt. Es ist erstaunlich, dass dieser Sachverhalt dem professionellen Traumdeuter Freud entgangen ist. So schildert Hoffmanns Erzählung nicht etwa nur unheimliche Begebenheiten und Ähnlichkeiten, sondern ist selbst als Gesamttext insofern traumhaft, traumatisch und unheimlich, als sich in ihm nichts endgültig klärt. So wissen doch die Umgebung Nathanaels und der namenlose Erzähler, der sich nach den drei Briefen zu Eingang des Textes zu Wort meldet, nicht mehr als die Figuren, die in dem unheimlichen Geschehen agieren. Im 26 Rosner, Ortwin: Körper und Diskurs. Zur Thematisierung des Unbewußten in der Literatur anhand von E. T. A. Hoffmanns „Sandmann“. Wien: Diplom-Arbeit, 2003. Buchfassung: Frankfurt / Main: Lang, 2006. 3.2. Das Unheimliche als Fremdes und Vertrautes 88 3. Freuds Hoffmann-Lektüre und Kristevas Theorie der Fremdheit Gegensatz zu Freud müsste eine genauere Lesart des Textes davon ausgehen, dass sich dieser nicht auflösen lässt. Umgekehrt ist Nathanael freilich felsenfest von der Wahrheit seiner Geschichte überzeugt. Mit Freud ließe sich sagen, dass Angst- und Kastrationsvorstellungen eine psychische „Realität“ darstellen, eine ‚subjektive‘ Wirklichkeit, die die Psychoanalyse als eine neue Disziplin ernst zu nehmen hat, übrigens an diesem Punkt ganz ähnlich wie die romantische Psychologie. Insofern nimmt die psychoanalytische Interpretation des Fremden eine dritte Position ein, die die binäre Opposition zwischen dem allzu engen aufklärerischen Rationalismus und einem ‚romantischen‘ Irrationalismus auflöst. Das wird auch deutlich, wenn Freud mutmaßt, „daß der Dichter uns selbst durch die Brille oder das Perspektiv des dämonischen Optikers schauen lassen will, ja daß er vielleicht in höchsteigener Person durch solch ein Instrument geguckt hat“. 27 Damit rückt das optische Instrument in die Nähe einer manipulativen Gerätschaft, die das Bekannte verzerrt und unkenntlich macht. Das Gerät, das in Hoffmanns Text zum Einsatz kommt, ist nicht identisch mit dem methodischen Instrumentarium der Psychoanalyse, die die dunklen Kräfte nicht einfach verbannen und verbieten möchte wie Clara; die ‚Optik‘ der Psychoanalyse möchte durch den Blick in das Glas des Dramas gewahr werden, das sich ‚hinter‘ dem vordergründig sichtbaren Spuk abspielt. Was Nathanael sieht, hat auch dann Gewicht, wenn es ein reines Phantasiegebilde ist. Insofern markiert die psychoanalytische Sicht, womöglich über Freud hinaus, auf die Welt in Hoffmanns Text eine dritte Perspektive jenseits jener von Nathanael und von Clara. 3.3. Fremde sind wir uns selbst: Julia Kristeva Was als unheimlich auftritt, erweist sich am Ende als das Andere meiner selbst, dem ich ausgeliefert bin. Diese Figur des verdrängten Eigenen findet sich im Titel des Buches der französischen Psychoanalytikerin, Feministin und Poststrukturalistin Julia Kristeva Etrangers à nous-mêmes (Fremde sind wir uns selbst). Äußerer Anlass für ihr Buch war die bereits in den 1980er Jahren in Frankreich aufflammende Fremdenfeindlichkeit, die zur Gründung von SOS Racisme führte, einer Einrichtung, die wiederum Pate für SOS Mitmensch in Österreich stand. Darüber hinaus stellt Kristevas Abhandlung einen Kommentar zu Freuds Text über das Unheimliche dar, und zwar genau vor dem Hintergrund einer kollektiven 27 Freud, „Das Unheimliche“, S. 242. 89 3.3. Fremde sind wir uns selbst: Julia Kristeva politischen Aggression gegen Fremde, gegen ausländische Menschen, die im Falle Frankreichs zumeist aus den ehemaligen Kolonialgebieten nach Frankreich kommen. Das hässliche oder auch das romantisch verklärte Antlitz des Fremden ist laut Kristeva verzerrtes Abbild des verdeckten Eigenen und ist demnach das Ergebnis der entstellenden Arbeit der Projektion, die ihre Ursache in unserer eigenen Gespaltenheit hat. Mit dem französischen Psychoanalytiker Jacques Lacan gesprochen manifestiert sich diese, wie bereits ausgeführt, in der Unterscheidung von einem Je und einem moi. Diese drückt sich beispielsweise in den Figuren der Ich-Teilung oder Ich-Verdopplung aus. Damit greift Lacan einen Befund auf, der, wie wir gesehen haben, in Freuds Abhandlung über das Unheimliche mit dem Doppelgängertum verbunden ist. Die Interpretation Kristevas geht von Freuds These aus, „daß das archaische, narzißtische, noch nicht von der Außenwelt abgegrenzte Ich das in sich als bedrohlich oder unangenehm Empfundene aus sich heraus projiziert und daraus einen fremden, unheimlichen, dämonischen Doppelgänger macht“. 28 In diesem Bereich ist auch das Unheimliche angesiedelt: „Das Unheimliche, das Bilder vom Tod, von Automaten, von Doppelgängern oder vom weiblichen Geschlecht auslöst- […], ereignet sich, wenn „die Grenze zwischen Phantasie und Wirklichkeit verwischt wird.“ 29 Die Autorin zitiert einen Satz aus einem Gespräch eines Kindes mit seinem Analytiker. „Ich bin gern ich, ich bin nicht gern ein anderer.“ 30 Das Unheimliche erweist sich als „Königsweg“, der uns die Zurückweisung des Fremden in uns selbst begreifen lässt: In der faszinierten Ablehnung, die der Fremde in uns hervorruft, steckt ein Moment jenes Unheimlichen- […]. Der Fremde ist in uns selbst. Und wenn wir den Fremden fliehen oder bekämpfen, kämpfen wir gegen unser Unbewusstes- - dieses ‚Uneigene‘ unseres nicht möglichen ‚Eigenen‘-[…]. Freud-[…] lehrt, die Fremdheit in uns selbst aufzuspüren. Das ist vielleicht die einzige Art, sie draußen nicht zu verfolgen. Dem Kosmopolitismus der Stoiker, der universalistischen Integration durch die Religion folgt bei Freud der Mut, uns selbst als desintegriert zu benennen, auf daß wir die Fremden nicht mehr integrieren und noch weniger verfolgen, sondern sie in dieses Unheimliche, diese Fremdheit aufnehmen, die ebenso ihre wie unsere ist. 31 28 Kristeva, Fremde sind wir uns selbst, S. 200. 29 Kristeva, Fremde sind wir uns selbst, S. 204. 30 Kristeva, Fremde sind wir uns selbst, S. 205. 31 Kristeva, Fremde sind wir uns selbst, S. 208 f. 90 3. Freuds Hoffmann-Lektüre und Kristevas Theorie der Fremdheit So hat also auch der Fremde ein Narrativ, das er mit allen Fremden, d. h. allen Menschen dieser Welt, teilt. Dass wir uns fremd sind, erscheint dabei als eine condition humaine, der sich der psychoanalytische Diskurs auf paradoxe Weise stellt, hebt doch diese post-humanistische Einsicht die Fremdheit keineswegs auf. Das Unheimliche steckt auch die Grenzen der von ihm geschaffenen Möglichkeit der Selbst-Einsicht. Zugleich begreift sich die Psychoanalyse im Hinblick auf den Umgang mit dem Anderen und Unbekannten nicht nur als eine Lebenspraxis, sondern zugleich auch als eine Ethik. Denn die Einsicht, dass das Fremde ein Teil meiner selbst ist, eröffnet die Möglichkeit mit dem greifbaren, realen Fremden in einer offenen Weise umzugehen. Bei der Begegnung mit Fremden bin ich immer selbst im Spiel. Von einer neuen Politik des „Kosmopolitismus“ spricht Kristeva an einer Stelle, bei dem die „Solidarität der Menschen in dem Bewußtsein ihres Unbewußten gründet“. 32 Der historische Kosmopolitismus gründet in der Aufklärung des 18. Jahrhunderts, jener, den Kristeva vorschlägt, in einer bestimmten Form eines transkulturellen Modernismus, im Rahmen dessen sich der Mensch seiner eigenen prinzipiellen Fremdheit in Gestalt seines eigenen Anderen, seines Unbewussten, bewusst wird. Was sowohl Freuds Text als auch Kristevas Kommentar zu diesem interessanterweise nicht thematisieren, ist, dass beide teuflische Gestalten in Hoffmanns Erzählung Der Sandmann tatsächlich kulturell Fremde sind. Von dem einen heißt es an einer Stelle, dass er nicht wirklich ein echter Deutscher sei, 33 was ja auch durch den mittelalterlich anmutenden, lateinischen Namen noch akzentuiert wird, während Coppola mit allen xenophoben Zuschreibungen belegt ist, die dem Fremden, hier dem Italiener, gelten: Er spricht ein lächerliches Deutsch, er ist aufgeblasen, marktschreierisch und hat, übrigens im Gegensatz zu Coppelius, betrügerische Merkmale. 34 Coppelius’ Wiederkehr als Coppola trägt parodistische Züge. Kurzum, Coppola ist, wie übrigens auch sein ebenfalls italienischer Spalanzani, ein Hochstapler und Schwindler. 35 32 Kristeva, Fremde sind wir uns selbst, S. 209. 33 Hoffmann, „Der Sandmann“, S. 18: „Coppelius war ein Deutscher, aber wie mich dünkt, kein ehrlicher.“ 34 Hoffmann, „Der Sandmann“, S. 14: „Er war anders gekleidet, aber Coppelius’ Figur und Gesichtszüge sind zu tief in mein Innerstes eingeprägt, als daß hier ein Irrtum möglich sein sollte.“ 35 Hoffmann, „Der Sandmann“, S. 18: „Ein kleiner rundlicher Mann, das Gesicht mit starken Backenknochen, feiner Nase, aufgeworfenen Lippen, kleinen stechenden Augen. Doch 91 3.3. Fremde sind wir uns selbst: Julia Kristeva Wie E. T. A. Hoffmann so bedient sich auch der österreichische Romancier Joseph Roth der Figur eines dämonischen falschen Menschen, eines nomadisierenden Fremden. In diesem Fall ist der teuflische Manipulator menschlicher Beziehungen ein Ungar, vermutlich ein ‚Zigeuner‘, namens Jenö Lakatos, der überall in der epischen Welt des Autors Zwietracht und Unfrieden stiftet. 36 In dieser Entstellung werden alle dunklen menschlichen Seiten auf den Anderen, den Fremden projiziert. So führt uns Hoffmanns Text, der letztendlich die Grundlage für Freuds und Kristevas Reflexionen bildet, alle drei Dimensionen des Fremden und Alteritären (→-Kapitel 1) vor Augen: Er oder sie ist ein Anderer unserer selbst, ein Doppelgänger, er ist ein Unbekannter (wir erfahren nichts über Coppelius und Coppola) und er gehört auch nicht zur vertrauten eigenen, ‚nationalen‘ Kultur. Der Fremde ist ein Ausländer, eben ein Italiener. Xenophobie ist in der Argumentation Kristevas der Tatsache zuzuschreiben, dass das Unbewusste keinen Platz in unserem Bewusstsein hat, aber auf paradoxe Weise doch haben könnte, als eine Spur, als Symptom, als Projektion. Vergleicht man die Fremdheitskonzeption der Psychoanalyse in der Traditionslinie von Freud zu Kristeva etwa mit phänomenologischen Zugängen, so wird deutlich, dass das Andere hier nicht so sehr personal gedacht ist, sondern vielmehr eine sub- oder transpersonale Instanz darstellt. Diese Dimension kommt in Freuds Terminologie als das Es zum Ausdruck. Demgegenüber bevorzugt Lacans Terminologie die Idee von einer Verdopplung und Aufspaltung des Ich in zwei Momente, ein bewusstes und ein unbewusstes. Ein personales Format besser als in jeder Beschreibung siehst Du ihn, wenn Du den Cagliostro, wie er von Chodowiecki in irgendeinem berlinischen Taschenkalender steht, anschauest.“ 36 Die Figur des unheimlichen Fremden, des Ungarn Lakatos taucht in mehreren Texten Roths auf, so in der misogynen Erzählung Triumph der Schönheit, in der er sich als Halbwelt-Galan erweist, in Beichte eines Mörders erzählt in einer Nacht als Akteur der Unterwelt und der Geheimdienst oder in Der Leviathan, in dem er die Ostjuden durch den Handel mit falsch synthetischen Korallen wirtschaftlich vernichtet: „Nissen Piczenik sah, daß er etwas hinkte. Offenbar war sein linkes Bein kürzer, denn er trug am linken Stiefel einen doppelt so hohen Absatz wie am rechten. Er duftete gewalttätig und betäubend-- und man wußte nicht, wo eigentlich an seinem schmächtigen Körper die Quelle all seiner Düfte untergebracht war. Blauschwarz wie eine Nacht waren seine Haare. Und seine dunklen Augen, die man im ersten Moment für sanft hätte halten können, glühten von Sekunde zu Sekunde so stark, daß eine merkwürdige Brandröte mitten in ihrer Schwärze aufglühte. Unter dem schwarzen gezwirbelten Schnurrbärtchen lächelten weiß und schimmernd die Mäusezähnchen des Lakatos.“ (Roth, Joseph: Der Leviathan. Erzählungen. München: dtv, 1976 ff. S. 190) 92 3. Freuds Hoffmann-Lektüre und Kristevas Theorie der Fremdheit erhält das Unbewusste durch den Prozess der Projektion auf den Fremden und Anderen. Lévinas phänomenologische Theorie des Alteritären bevorzugt eine transzendentale Ethik im Hinblick auf die Figur des Anderen (→-Kapitel 4), dessen Vorgängigkeit ich anerkenne, während Freuds Ethik sich auf einem paradoxen Prozess der Selbsterkenntnis gründet. Dieser Vorgang gilt dem eigenen Fremden, das mir zwar ins Bewusstsein rücken kann, aber nie aufhört fremd zu sein. In dieser Perspektive überschreitet die Psychoanalyse den klassischen Humanismus und dessen Selbsterkenntnisappell. Dem Triangel von Fremdheit, Vertrautheit und Unheimlichkeit ist eine große Bedeutung beizumessen, spielt sich in ihm doch jenes Drama ab, in dem sich laut Freud zeigt, […] daß dies Ängstliche etwas wiederkehrendes Verdrängtes ist. Diese Art des Ängstlichen wäre eben das Unheimliche- […]. Wenn dies wirklich die geheime Natur des Unheimlichen ist, so verstehen wir, daß der Sprachgebrauch das Heimliche in seinen Gegensatz, das Unheimliche übergehen läßt, denn dies Unheimliche ist wirklich nichts Neues oder Fremdes, sondern etwas dem Seelenleben von alters her Vertrautes, das ihm nur durch den Prozeß der Verdrängung entfremdet worden ist. 37 3.4. Exkurs: Adelbert von Chamisso Chamisso (1781-1838) gehört zum engen Freundeskreis von E. T. A. Hoffmann. Sein singulär gebliebener, 1813 verfasster Text Peter Schlemihls wundersame Reise enthält eine weitere Facette romantischer Überlegungen zum Thema des Fremden. Was seine Gestaltung des Fremden von jener in Hoffmanns Erzählung unterscheidet, ist die Fokalisierung: Während dort die fremden Gestalten (Coppelius, Coppola, Spalanzani) aus der heimischen Perspektive beschrieben sind, erzählt Chamisso die Geschichte von Fremdheit aus der Perspektive des Fremden, Schlemihls also. Diese scheinbar nur erzähltechnische Differenz generiert einen gewaltigen theoretischen und ethischen Unterschied. Bei Hoffmann waren die Fremden unheimlich, unzugänglich und dunkel, während bei Chamisso die implizite Leserschaft infolge der Erzählsituation Empathie für den traurigen Helden entwickelt. Er streift auch insofern die Figur des Doppelgängers, als der Schatten eine Doublette des Selbst darstellt. Otto Rank zufolge, auf den sich Freuds Studie über das Unheimliche maßgeblich stützt, verweist der Doppelgänger auf die 37 Freud, „Das Unheimliche“, S. 254. 93 3.4. Exkurs: Adelbert von Chamisso Spaltung von Körper und Seele. 38 Der Schatten, der Spiegel oder auch mein (photographisches) Porträt beziehen sich in diesen magischen Vorstellungen auf das Double meines Körpers, nämlich meiner Seele. So steht der Verlust des Schattens, eines scheinbar nebensächlichen Phänomens, für einen zentralen menschlichen Verlust. Aber es gibt noch ein anderes Moment in dieser traurig-heiteren Geschichte, die mit dem Unheimlichen virtuos spielt. Die Hauptfigur ist nämlich ein Seemann, jemand der stets unterwegs und niemals zu Hause ist. Der Fremde wird nicht nur argwöhnisch betrachtet, weil man ihn nicht kennt oder mit negativen Attributen bekennt (er spricht nicht unsere Sprache, er hat ganz andere Sitten usw.), sondern auch, weil er in einem existentiellen Sinn heimatlos ist. Er stellt für diejenigen, die in einer steten Umgebung leben, eine Bedrohung dar, könnte er uns doch in den Stand versetzen, selbst in jenen Zustand zu geraten, in dem er sich befindet. Chamisso war ein aristokratischer Emigrant aus Frankreich, Botaniker, Polarforscher und Dichter. Dass er als Reisender die Erfahrung gemacht hat, heimatlos zu sein, ist biographisch evident, auch wenn dies für das Verständnis des Textes nicht unbedingt von Belang ist. Die Pointe besteht im Falle des Emigranten darin, dass es sich nicht nur um den Verlust der einen Heimat handelt, der womöglich durch die Erlangung einer zweiten ersetzt und wettgemacht wird. Vielmehr bedeutet dieser in gewisser Weise deren Verlust an sich, das heißt die Einbuße jener scheinbaren Selbstverständlichkeit, die mit Begriffen wie Kindheit, Geborgenheit und Selbstverständlichkeit einhergeht. Die zweite Heimat, die aus dem Durchlaufen von Fremdheitserfahrungen erwächst, gleicht nicht der ersten. Wer sein Herkunftsland verlassen musste, der hat immer schon einen Bruch im Leben erfahren: verlassen zu müssen, was bislang vertraut und sicher gewesen ist.Schon der Name des nomadisierenden Protagonisten, Schlemihl ist beredt, bezeichnet dieser hebräisch-jüdische Ausdruck einen ungeschickten Menschen, dem nichts gelingt. Für den Fremden, zumindest so wie ihn Chamisso aus der eigenen Lebenserfahrung als französischer Emigrant beschreibt, ist in der Kultur, in die er von außen eingetreten ist, nichts selbstverständlich. Er ist immer ein wenig ungeschickt und ungelenk und versteht nicht all die unausgesprochenen 38 Rank, Otto: Der Doppelgänger. Eine psychoanalytische Studie. Wien: Internationaler Psychoanalytischer Verlag, 1925. 94 3. Freuds Hoffmann-Lektüre und Kristevas Theorie der Fremdheit Codes, die in ihr obwalten. Kurzum, der Fremde ist ein Außenseiter, komischer und linkischer Mensch, dem nichts gelingt. „Nach einer glücklichen, jedoch für mich sehr beschwerlichen Seefahrt erreichten wir endlich den Hafen-[…].“ 39 Erzählt wird von vornherein aus der Perspektive desjenigen, der ortsfremd ist und als Seefahrer im Hafen einlangt. Das ist ganz entscheidend, denn der Fremde besitzt hier die Stimme und behält das letzte Wort. Deshalb wird er zu jener Person, mit der sich die Leserschaft, ungeachtet aller Missgeschicke und Missgriffe des Titelhelden, identifiziert. Offenkundig ist die Stadt, in die er kommt und die man immer wieder als Hamburg identifiziert hat, nicht seine Heimat. Die Erzählung spielt mit der Doppelbödigkeit der Konfiguration des Fremden: ▶ Der Fremde ist „subjektiv“ fremd, weil er sich selbst als ausgeschlossen erfährt und niemanden kennt. ▶ Der Fremde ist „objektiv“ fremd, weil er, sofern seine Umgebung ihn überhaupt wahrnimmt, als von den Anderen verschieden fixiert wird. Der einsame Wanderer Chamissos ist, umgangssprachlich formuliert, ein armer Teufel, er befindet sich in einer finanziell prekären Lage. Aus diesem Grund wird er im Zuge der Tafelrunde eines reichen Geschäftsmannes Opfer eines Anderen, eines Unbekannten, der sich ebenfalls zu der Feier eingestellt hat: des Teufels. Dem Gastgeber dieser vornehmen Gesellschaft händigt Schlemihl ein Empfehlungsschreiben aus, das ihm aus seiner peinlichen sozialen und ökonomischen Lage helfen soll. Ganz offenkundig ist er deplatziert, ein von den anderen Gästen kaum wahrgenommener Mensch, verfügt er doch nicht über den Status, der den Einheimischen zukommt. Wie in so vielen romantischen Texten, in denen eine fremde irreale Dimension in den Alltag hineinragt, so kommt es auch hier zu Spuk und Aberglaube: Ein Männchen, wie schon gesagt auch ein Fremder, ist Gast bei der vornehmen Gesellschaft und zaubert herbei, was die Gesellschaft sich wünscht: ein Pflaster, einen türkischen Teppich, ein Zelt, drei Pferde. Während der des Aberglaubens kundige Leser diesen Zauberer als Teufel zu identifizieren vermag, bleibt dem unbeholfenen Schlemihl dieser Tatbestand verborgen. Aber nun erfolgt die entscheidende Wende dergestalt, dass sich der ominöse Zauberer dem unscheinbaren Fremden zuwendet und ihm ein Tauschgeschäft vorschlägt: Der Teufel möchte 39 Chamisso, Adelbert von: „Peter Schlemihl“, in: „Ich bin nach Weisheit weit umhergefahren.“ Gedichte-- Dramatisches-- Prosa, Leipzig: Reclam 1978, S. 185. 95 3.4. Exkurs: Adelbert von Chamisso den „schönen“ Schatten Schlemihls erwerben und bietet ihm einen Zaubersäckel an, mittels dessen er beliebig viele Goldmünzen herbeizaubern kann. 40 Damit werden zwei Momente verwoben, die beide unheimliche Züge in sich tragen, das Geld und der Schatten. Das Geld ist das Fremde, das zunächst den Menschen, aber auch den Gegenständen dieser Welt fremd und äußerlich zu sein scheint und das doch zugleich unser Begehren nach diesem vermittelt ( → - Kapitel 6, 7). Das Geld ist nomadisch, abstrakt und zugleich imaginär, eine dunkle Macht, zugleich intransparent. Menschen, die mit ihm intensiven Umgang pflegen, ja von ihm leben, sind verdächtig. Dass Chamissos Fremder einen jüdischen Namen trägt, ist also kein Zufall, gehört doch die Verbindung des schnöden Geldes und dem Juden zum antisemitischen Stereotyp schlechthin, übrigens auch im Umkreis jenes Teils der Romantik, der schon sehr bald ins Lager deutschnationaler Tischgesellschaften übergehen sollte. Das Stereotyp des Anderen, das hier virulent wird, ist das des nomadisierten Fremden ( → -Kapitel 6, 8), der nirgendwo zu Hause ist und der mit dem zu ihm passenden schnöden, allgegenwärtigen und nicht lokalisierbaren Tauschmittel Geld ausgestattet ist. Auch Richard Wagners Antisemitismus, der in Opern wie Rheingold und Der fliegende Holländer seinen Niederschlag gefunden hat, wäre in diesem Zusammenhang zu erwähnen. 41 Das dämonisierte Geld, das doch auch ein soziales Medium im Umgang mit anderen Menschen darstellt, bedroht dieser Angst zufolge die Identität des Menschen: Wer sich und das Seine verkauft, der hat sich schon selbst verkauft. Der Geldmensch, der Händler, ist nicht nur der Gegensatz zum Helden, sondern auch zum Menschen mit Eigenschaften und Heimat. Der Geldmensch ist ein Mensch ohne Seele. Der Verkauf des Schattens führt zu der absurden Situation, dass der schon zuvor stets deplatzierte Schlemihl erst recht in der Welt umherwandern muss. Seine Schattenlosigkeit wird nämlich als etwas Unheimliches wahrgenommen und macht ihn zum Paria. Auch der Schatten selbst wird zum Träger des Unheimlichen: Die Erzählung spielt damit voll Paradoxie: Denn der Schatten wird vom Teufel in dessen Manteltasche verstaut und wie ein handgreifliches Gut behandelt. Der Text setzt dabei das kulturelle Wissen voraus, dass der Schatten eine hintergründige doppelgängerische Bedeutung hat. 40 Dieses Motiv findet sich bereits im Volksbuch Fortunatus von 1509. Vgl.: Roloff, Hans-Gert (Hg.): Fortunatus. Studienausgabe nach der Editio Princeps von 1509. Stuttgart: Reclam, 2004. Darin findet sich auch eine ausführliche Bibliographie. 41 Vgl. hierzu die einschlägige Studie von: Hartwich, Wolf-Daniel: Romantischer Antisemitismus von Klopstock bis Wagner. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2005. 96 3. Freuds Hoffmann-Lektüre und Kristevas Theorie der Fremdheit Der Tausch kommt zustande und der Segen des unbegrenzten Reichtums wird schnell zum Fluch: Musste er zuvor als deplatzierter Mensch in der Fremde leben, so ist dieses Leben fortan schier unmöglich geworden. Sobald seine skandalöse Schattenlosigkeit entdeckt wird, befindet er sich beständig auf der Flucht vor den anderen und vor sich selbst. So ist er zwar unermesslich reich geworden, jedoch gezwungen, in der Nacht zu leben. Im Versuch, seine Schattenlosigkeit zu vertuschen, hält er sich in einer geschickten Beleuchtung auf oder bewegt sich im Schatten seines Dieners Bendels. Durch diese Maßnahmen wird er erst recht zu einer dunklen und verdächtigen Gestalt. Gleichzeitig kommt es immer wieder zu traurig-komischen Effekten und Szenen, etwa bei seinem Versuch, eine Frau und Lebensgefährtin zu finden. Nach vielen Niederlagen trifft er abermals das graue Männchen und versucht, seinen Schatten zurückzutauschen, was der Teufel bewilligt, wenn er ihm seine Seele verschreibt. Aber das ist natürlich ein paradoxes Angebot, ist doch der Schatten der Repräsentant dieser Seele, die zugleich Einheit und Identität verbürgt. Aber auf diesen Handel lässt sich Schlemihl nicht mehr ein. Schließlich findet er als Heimatloser, als Reisender seine Bestimmung. Der Fremde, das ist der Mensch ohne Selbst, der Mann ohne Schatten, ein Mensch, um noch einmal die Terminologie von Ricœur zu bemühen, dessen Ipse mit einem leerem Idem verbunden ist. Er schmeißt den magischen Geldsäckel von sich und erwirbt ein Paar Zauberschuhe, Siebenmeilen-Stiefel. Mit diesen reist er als Naturgelehrter über den ganzen Globus. Es ist ein Glück, das seinen hohen Preis hat: Freiheit von menschlichen Bindungen, die „Heimat“ generieren. Wie Faust ist er zur Ehelosigkeit verdammt. Der Fremde Chamissos ist also nicht so sehr der Mensch mit einer anderen Identität, nicht so sehr der „Hybrid“, der in zwei Welten lebt, der sich in einem Dritten Raum befindet, sondern der Mensch ohne feste Zugehörigkeit, ohne Heimat, ohne ein Ensemble von heimischen Geschichten. Die einzigen Geschichten, die er zu erzählen vermag, sind Reisegeschichten. Mit Blick auf Roland Barthes Neutrum lässt sich die Figur des Dritten nach zwei Seiten wenden: positiv-- und das wäre dominant die heute so beliebte Figur des Hybriden-- im Sinne von ‚sowohl als auch‘ oder negativ im Sinne von ‚weder noch‘. 42 Ganz offenkundig folgt die literarische Spielfigur Chamissos der zweiten Bedeutung, die den Fremden als einen Menschen begreift, der nirgendwohin gehört. 42 Barthes, Roland: Das Neutrum: Vorlesung Am Collège De France -. Herausgegeben von Eric Marty. Frankfurt / Main: Suhrkamp, 2005. 97 3.4. Exkurs: Adelbert von Chamisso Chamisso hat noch ein zusätzliches und brisantes unheimliches Moment hinzugenommen, das so scharfsinnig wie verfänglich ist: Der Fremde ist so identitätslos wie das Zero-Medium Geld. Wie der Fremde bei Chamisso so ist auch das Geld ohne Schatten. Chamisso durchbricht dieses xenophobe Stereotyp- - der verdächtige Fremde, der reiche Jude- - dadurch, dass Schlemihl am Ende den Geldsäckel wegwirft, um zur Ruhe zu kommen. Nicht zu übersehen ist in dieser Parabel die Verdoppelung des Fremden: hier der arme Schlemihl und dort der dämonisch-listige Fremde, der das abstrakte Tauschprinzip der modernen kapitalistischen Gesellschaft repräsentiert. Das Geld ist es, das marxistischen und post-marxistischen Theorien zufolge Fremdheit erzeugt, Fremdheit der Menschen zueinander und zu sich selbst. Nicht umsonst heißt diese kulturelle Wirkung des Geldfetischismus Entfremdung ( → -Kapitel 11). Aufschlussreich ist auch, wie die Umgebung auf seine Schattenlosigkeit reagiert: mit Entsetzen, Aggression und Abwehr, vor allem aber mit einem ganz selbstverständlich ausgeübten Ausschluss. Der Fremde ist dadurch definiert, dass er nicht dazu gehören darf ( → -Kapitel 6). So ist die Figur des Fremden doppelt bestimmt: fremd- und selbstbestimmt zugleich. Der Fremde ist stets derjenige, mit dem etwas nicht stimmt, der nicht zur heimatlichen symbolischen Ordnung gehört, der etwas versteckt und der deshalb negativ kodiert ist. 43 Das dürfte auch der Grund dafür sein, warum der / die Fremde Gefahr läuft, Opfer von Gewalt zu werden. Obschon er bestimmte Funktionen innehaben kann, gehört er oftmals nicht zu einer Gesellschaft dazu. Obwohl er sich innerhalb eines bestimmten sozialen und symbolischen Raums befindet, ist er ein Störenfried jener Ordnung, die dadurch bestimmt ist, dass sie eindeutige Unterscheidungen trifft. Sofern der Fremde, wie Chamissos Protagonist, mit Geld zu tun hat, also mit einem Medium, das das Nomadische und Unüberschaubare konnotativ in sich trägt, verstärkt sich dieses Unbehagen, das dem fremden Händler und Geldmenschen gilt, der die Einheimischen möglicherweise benachteiligt. Die historischen Genozide an Juden oder auch, wie zum Beispiel in Indonesien, an Chinesen, liefern hierfür erschreckende Beispiele. Tendenziell ist der Fremde, der ja nicht selten ethnisch markiert ist bzw. wird, ein potentieller Sündenbock, wie René Girard in seinen Studien über das Heilige und die Gewalt geschrieben hat. Er wird für die Übel in einer Gesellschaft verantwortlich gemacht wie Girard das am Beispiel der Pest und der mit ihr einher- 43 Vgl. auch Strauss, Richard / Hofmannsthal, Hugo von: Die Frau ohne Schatten, Oper in drei Akten (Textbuch). Berlin: Fürstner, 1916. 98 3. Freuds Hoffmann-Lektüre und Kristevas Theorie der Fremdheit gehenden mittelalterlichen Pogrome gegen die jüdische Bevölkerung darstellt: Die Juden werden dabei zu jenen Brunnenvergiftern, zu jenen Menschen, die das Wasser mit giftigen Substanzen versetzt haben, die die Pest auslösen. In diesem Zusammenhang kommt Girard zu der zunächst überraschenden These, dass es nämlich nicht die Differenz ist, die die Gewalt gegen den minoritären Andern im eigenen Land auslöst, sondern gerade deren Fehlen. Was Gewalt und Aggression gegen den anderen auslöst ist nicht, dass er einem anderen Nomos, 44 also einer anderen symbolischen Ordnung entstammt, sondern dass er bar jeglicher Satzung und Sitte ist, dass er also keine besitzt: Man sieht nicht den anderen nomos im Anderen, sondern die Anomalie, nicht die andere Norm, sondern die Abnormität; der Behinderte wird verkrüppelt, der Fremde wird staatenlos. Es ist nicht gut, in Rußland als Kosmopolit zu gelten. Mischlinge äffen alle Differenzen nach, weil sie keine besitzen. 45 Der schattenlose Schlemihl, der stets vor seiner Umgebung auf der Hut sein muss, damit sie seine Anomalie, das Fehlen seines Schattens, nicht bemerken, passt exakt zu der erstaunlichen Beobachtung Girards. Es ist ein historisch unbezweifelbarer Tatbestand, dass gerade der ‚eigene‘ Fremde sich potentiell in Gefahr befindet, Opfer der Gewalt seitens der Mehrheitsgesellschaft zu werden. Angesichts dessen ist Girards Kernthese das stärkste Argument dafür, zunächst einmal zwischen dem exterritorialen Fremden (Ausländer) und dem ‚in-territorialen‘, eigenen Fremden zu unterscheiden. Das Fremdländische wäre mit einem fremden Nomos versehen, dem womöglich Ablehnung entgegengebracht wird. Der Fremde im Sinne Chamisso steht hingegen unter dem Generalverdacht, gar keinen zu besitzen und damit das Prinzip Ordnung überhaupt in Frage zu stellen: Angst vor dem Chaos. Das muss nicht heißen, dass sich die beiden Phänomenlagen nicht überlappen können. Girards Hinweis auf den Kosmopolitismus ist erhellend, denn das bedrohliche am programmatisch-freiwilligen wie am unfreiwilligen Kosmopoliten ist, dass er seine Heimat verloren hat. Die Heimatlosigkeit des fremden Andern 44 Der griechische Begriff ‚Nomos‘, der in Bourdieus Feldtheorie aber auch bei Carl Schmitt eine prominente Rolle spielt, ist nicht einfach ins Deutsche zu übertragen. Er meint Satzung, Recht, Sitte, kurzum, was in einer Gesellschaft kulturelle Geltung besitzt. 45 Girard, René: Der Sündenbock. Aus dem Französischen von Elisabeth Mainberger-Ruh. Zürich: Benziger, 1988. S. 36. 99 3.4. Exkurs: Adelbert von Chamisso löst bei den heimischen Menschen die Angst aus, der Fremde könnte einem die eigene Heimat wegnehmen. 46 46 Vgl. Kristeva, Fremde sind wir uns selbst, S. 17: „Keinem Ort zugehörig, keiner Zeit, keiner Liebe. Der Ursprung ist verloren, die Verwurzelung unmöglich-…“ 100 4. Emmanuel Lévinas: Die Vorgängigkeit des / der Anderen 4. Emmanuel Lévinas: Die Vorgängigkeit des / der Anderen 4.1. Zeitlichkeit und Alterität Mit der Philosophie von Emmanuel Lévinas betreten wir einen Denkraum, der ganz von der Idee der Alterität erfüllt ist und diese zum Kernbestand menschlicher Existenz macht. Diese Alterität ist im Sinne der Andersheit (Kapitel 1) abstrakt gefasst, umfasst aber unterschiedliche Ebenen. Diese allgemeine Phänomenlage wird unter anderem von einer ganz konkreten Konfiguration überlagert, die mit der geschlechtlichen Differenz, also der prädikativen Verschiedenheit von Mann und Frau, zu tun hat. Darüber hinaus kommt mit dem Tod ein existenzieller Rahmen hinzu, der als ein „absolut Anderes“ in Bezug auf das Leben bestimmt wird. Zwischen den Erscheinungsformen des ganz Anderen in Hinblick auf Leben und Tod gibt auch einen markanten Unterschied. Während sich nämlich die Begegnung mit dem geliebten anderen Menschen im Horizont der Zeit vollzieht, ist der Tod, der zwar etwas Anderes, aber kein Anderer im Sinne einer personalen Konfiguration ist, gewissermaßen deren Negation. 1 Der Tod ist ein Ereignis, dessen das Subjekt nicht mächtig ist und durch das es seinen Subjektstatus einbüßt. Was das absolut Andere, der Tod, mit dem konkreten Anderen, etwa dem weiblichen, gemeinsam hat, ist, dass jeglicher Versuch, dieser Alterität habhaft zu werden, sie besitzen zu wollen, fehlschlagen muss. Diesen Umstand führt Lévinas in seinem ersten wesentlichen Buch, Die Zeit und der Andere, zum Thema der alteritären Phänomenlagen aus. In der Auffassung, dass wir uns jenem mehrgestaltigen Anderen, das sich uns indes selbst an entscheidender Stelle entzieht, nicht entziehen können, liegt das spezifisch Neue in Lévinas’ Denken über das Alteritäre. Dabei lehnt es Lévinas zum Beispiel entschieden ab, eine Psychologie oder Soziologie von Andersheit zu entwickeln. Ebenso wenig versteht er sein Konzept als eine Form von Moralphilosophie. Vielmehr entwirft er eine philosophische Ontologie, die eo ipso, aus sich heraus, ethisch ist. Seine Konzeption will er keineswegs als eine praktische, angewandte Philosophie verstanden wissen: So läuft sein Kernargument darauf hinaus, gegen die abendländische Tradition des Denkens, und konkret gegen Heidegger zu postulieren, dass die menschliche Existenz selbst eine ethische Struktur besitzt. 1 Lévinas, Emmanuel: Die Zeit und der Andere. Hamburg: Felix Meiner, 1984. S. 43-47. 101 4.2. Die Genese der Theorie 4.2. Die Genese der Theorie von Lévinas und ihr Widerhall im Werk von Jacques Derrida Aus heutiger Sicht ist es kaum übertrieben zu behaupten, dass Emmanuel Lévinas (1906-1995) im Gefolge Heideggers und Husserls das wohl bedeutsamste und mittlerweile einflussreichste Œuvre zum Thema des Anderen hinterlassen hat. Man könnte sogar die These riskieren, dass sich die Wirkung seines Werkes erst nach seinem Tod entfaltet hat. Die Anfänge seiner Überlegungen zur Vorgängigkeit des Anderen als eine innere Instanz gehen, ähnlich wie jene Kojèves und Sartres, auf die 1930 und 1940er Jahre zurück. Lévinas begann, wie so viele andere auch, seine philosophische Laufbahn als zunächst getreuer Schüler Martin Heideggers. So er hat auch an dem legendären Streitgespräch zwischen diesem und Ernst Cassirer in Davos über die Zukunft des Humanismus teilgenommen. Dort wurde unter anderem über Cassirers Philosophie der symbolischen Formen und Heideggers Sein und Zeit diskutiert, damit aber auch über Kultur und Humanismus. Es steht fest, dass der junge jüdische Philosoph aus Litauen zweifelsohne auf der Seite seines damaligen Lehrmeisters Martin Heidegger gestanden hat, dessen Philosophie auf die programmatische Überwindung des liberalen Humanismus zielt, mit dem er Cassirer identifizierte. 2 Bei Lévinas’ später erfolgender Absetzung von Heidegger mag nicht zuletzt auch dessen Hinwendung zum Nationalsozialismus, der sich freilich schon in seinem Antisemitismus ankündigte, 3 eine maßgebliche Rolle gespielt haben. 4 Lévinas’ Philosophie hat zweifelsohne mit der Wiederentdeckung der jüdischen Geistestradition zu tun, etwa mit der Idee eines personalen Gottes als eines Gegenübers. Sie ist, wie wir noch sehen werden, ein wichtiger Horizont für Lévinas’ Sicht des Anderen. Die Betonung des Ethischen als einer existenziellen Grundkonstellation des Menschen stellt insgesamt eine philosophische Antwort 2 Recki, Birgit: „Kampf der Giganten. Die Davoser Disputation 1929 zwischen Ernst Cassirer und Martin Heidegger“. In: http: / / www.warburg-haus.de / eca / davos.html, heruntergeladen am 26. 02. 2016. Safranski, Rüdiger: Ein Meister aus Deutschland. Heidegger und seine Zeit. München: Hanser, 1994. S. 219-225. Gordon, Peter E.: Continental Divide: Heidegger, Cassirer, Davos. Cambridge / Mass.: Harvard University Press, 2010. 3 Victor Farias zitiert Cassirers Ehefrau Toni Cassirer mit den Worten, die sie 1950 im Rückblick schrieb: „Seine Neigung zum Antisemitismus war uns nicht fremd.“ Vgl. Farias, Victor: Heidegger und der Nationalsozialismus. Mit einem Vorwort von Jürgen Habermas. Frankfurt: S. Fischer, 1987. S. 118. 4 Vgl. dazu auch: Malka, Salomon: Lévinas. Eine Biographie. München: C. H. Beck, 2003. S. 65 f. 102 4. Emmanuel Lévinas: Die Vorgängigkeit des / der Anderen auf den „Meister aus Deutschland“ und den fatalen politischen Kontext dar, in den Heidegger selbst sein Werk zwischen 1933 und 1945 gestellt hat. 5 Die nachfolgende, kommentierende Lektüre von Lévinas Werk stützt sich vor allem auf die folgenden Texte, die hier kurz skizziert sind. Es sind Texte von Lévinas und von Jacques Derrida, der sich mehrfach zum Werk des Philosophen auf eine sehr textnahe und zugleich pointierte Weise geäußert hat: ▶ Die Zeit und der Andere (Le Temps et l ’Autre, 1946 / 47) umfasst ursprünglich vier Vorlesungen, die Emmanuel Lévinas 1946 / 47 am Collège Philosophique im Quartier Latin gehalten hat. Der Text wurde 1948 als Aufsatz publiziert, erschien aber erst 1979 in Buchform auf Französisch und 1984 in deutscher Übersetzung. ▶ Ich und Totalität erschien 1954 in der Revue de Métaphysique et de Morale, 1991 als Teil einer Essay-Sammlung Entre nous. Essais sur le penser-à-l’autre (bei Grasset), 1995 auf Deutsch unter dem Titel Zwischen uns. Versuche über das Denken an den Anderen. ▶ Derridas wichtiger Aufsatz Gewalt und Metaphysik. Essay über das Denken Emmanuel Lévinas wurde 1967 auf Französisch und 1972 auf Deutsch veröffentlicht. ▶ Derridas Nachruf Adieu. Nachruf auf Emmanuel Lévinas erschien 1997 in Frankreich, zwei Jahre später in Deutschland. Es handelt sich um zwei Reden, die eine vom 07. 12. 1996, eine posthume Hommage, die zweite ist Derridas Totenrede auf dem Friedhof Pantin vom 27.12.1995. Der Kommentar von Jacques Derrida wurde aus zwei Gründen im vorliegenden Textkorpus berücksichtigt: Zum einen stellt er einen konzisen und hilfreichen Kommentar dar, der das Denken von Lévinas erschließt. Zum anderen macht er auf die philosophische Tragweite seines Konzeptes aufmerksam, ohne das die Dekonstruktion und ihre Auffassung von Alterität nur schwer denkbar wären. Obwohl Lévinas’ Philosophie in den späten 1940er und frühen 1950er Jahren entstanden ist, setzt die intensive Diskussion seines Werkes verspätet ein: Für die Entdeckung seiner Texte war nicht zuletzt dieser über hundertseitige Essay von Derrida aus dem Jahr 1967 verantwortlich. Derrida, der Lévinas dreißig Jahre später, in seiner Grabrede auf den älteren Philosophen, als „Freund“ und „Lehr- 5 Dass die Abwendung Heideggers vom Nationalsozialismus eine Legende ist, hat die Publikation seiner „Schwarzen Hefte“ gezeigt, vgl. dazu: Noll, Alfred: Der rechte Werkmeister. Marin Heidegger nach den ‚Schwarzen Heften‘. Köln: Papyrossa, 2015. 103 meister“ bezeichnet, 6 sieht die Bedeutung von Lévinas’ Denken darin, dass es offensiv und kritisch auf die Krise der europäischen Philosophie-- im Spannungsfeld zwischen Husserl und Heidegger-- reagiert. Er erwähnt dabei insbesondere drei Punkte: erstens, dass Lévinas das philosophische Denken vom griechischen Ursprung her kritisch hinterfragt; zweitens dessen Archäologie, die den „Raum der Transzendenz und jenen der Metaphysik“ neu bestimmt und öffnet, sowie das, was Derrida als Heteronomisierung der Ethik bezeichnet. Diese Ethik ist existenziell, aber sie kann, weil sie an den anderen geknüpft ist, nicht autonom oder selbstbestimmt sein. Damit steht sie im Gegensatz zu klassischen Konzepten wie etwa jenen der Aufklärung oder des deutschen Idealismus. Vielmehr ist sie heteronom, also fremdbestimmt. Die Idee der Heteronomie nimmt nun ihren Ausgangspunkt von der Frage nach dem Anderen. Derrida drückt dies durchaus pathetisch aus, wenn er schreibt: In dieser Tiefe bringt uns das Denken von Emmanuel Lévinas zum Erzittern. Auf dem Grund der Trockenheit, in der wachsenden Wüstenei, läßt uns dieses Denken, das nicht länger mehr Denken des Seins und der Phänomenalität sein will, von einer unglaublichen Entmotivierung und Besitzaufgabe träumen. 7 Die letzten beiden Termini sind im Zusammenhang mit der Entmächtigung des autonomen Selbst, das sich selbst setzt, zu verstehen. Die philosophische Relation, die Lévinas zwischen dem Selbst und dem Anderen konstituiert, läuft, wie das Präfix entnahelegt, auf einen Entzug hinaus. Die Motivierung erfolgt von einem Gegenüber, nicht von mir. Sofern der Andere mich konstituiert, kann nicht länger vom Selbstbesitz die Rede sein. In seinem Kommentar wird deutlich, dass diese neue Konstellation, die nichts mehr mit dem traditionellen Humanismus zu tun hat, positiv gesehen wird, als ein Traum. Diese produktive ‚Selbstaufgabe‘ der Philosophie vollzieht sich Derrida zufolge auf mehreren Ebenen. Derrida führt dabei folgende Punkte an: 1. Die Dislokation des griechischen Logos und damit verbunden der Dislozierung unserer Identität. Das von der jüdischen Tradition inspirierte Denken von Lévinas 6 Derrida, Jacques: Adieu: Nachruf auf Emmanuel Lévinas, München: Hanser, 1999. S. 9 bzw. 34 ff. 7 Derrida, Jacques: Die Schrift und die Differenz. Deutsch von Rodolphe Gasché, Frankfurt / Main: Suhrkamp, 1976. S. 126. 4.2. Die Genese der Theorie 104 4. Emmanuel Lévinas: Die Vorgängigkeit des / der Anderen […] ruft uns auf, den griechischen Ort zu verlassen, damit wir auf etwas zugehen, das selbst kein Ursprung und kein (den Göttern zu gastlicher) Ort mehr ist, auf eine Respiration, ein prophetisches Wort zu, das nicht nur früher als Platon, nicht nur früher als die Vorsokratiker, sondern jenseits allen griechischen Ursprungs gesprochen (gemurmelt: sufflé): ‚das Andere des Griechischen‘ ist. 8 2. Es geht in diesem Denken um die Bestimmung der ursprünglichen Möglichkeiten der Metaphysik und ihre Überführung in eine Ethik, die in der Existenz des Menschen gründet und die nicht einfach eine Anwendung philosophischer Prämissen auf das Gebiet von Ethik und Moral ist. 3. Dieses Denken appelliert an die „ethische Beziehung“, an ein „gewaltloses Verhältnis zum Unendlichen als dem schlechthin Anderen, zum Fremden“ das allein imstande wäre, den Raum der Transzendenz zu eröffnen und die Metaphysik zu befreien. „Die Ethik ist also die Metaphysik“, „Die Moral ist kein Zweig der Philosophie, sondern Erste Philosophie“. 9 Derrida spitzt diesen Punkt zu, wenn er pointierend festhält: „Lévinas schlägt vor, Offenheit im allgemeinen von der Gastlichkeit oder vom Empfang her zu denken-- und nicht das Gegenteil.“ 10 Es handelt sich um ein Denken, dass das Sein nicht länger als Objekt vorbestimmt. Lévinas philosophiert jenseits der Subjekt- Objekt-Korrelation. 11 Um sich die Radikalität des Lévinasschen Ansatzes zu vergegenwärtigen und sich die Differenz zu Kojève und Sartre vor Augen zu führen, ist es hilfreich, diese drei Momente im Denken des Philosophen in ihrem systematischen Zusammenhang zu fassen. Das fremde Andere bekommt bei Lévinas seinen Auftritt nicht wie bei Sartre, erst nachdem sich das Subjekt zunächst als Für-sich begriffen hat und als eine Art notwendiges Übel, das zum reflexiven Bewusstsein führt. Vielmehr ist der Andere immer schon vorhanden: Ich bin von Anfang an in mir gespalten und diese Vorgängigkeit, diese zeitliche Antezendenz des Anderen in mir, ist es, die eine Form von Ethik eröffnet, in der das Moment des Empfangs die entscheidende Rolle spielt. Vorgängigkeit meint, dass immer schon ein Anderer vor mir da ist, dass ich niemals der oder die erste bin. Es ist, um ein sehr einprägsames Beispiel 8 Derrida, Adieu, S. 26. 9 Lévinas, zit. nach Derrida, Die Schrift und die Differenz, S. 151, vgl. auch Derridas Ausführungen zur Redlichkeit, in: Derrida, Adieu, S. 10 ff. bzw. seine Kommentare zum Lévinasschen Konzept der Gastlichkeit, Derrida, Adieu, S. 40 ff. 10 Deerida, Adieu, S. 37. 11 Derrida, Die Schrift und die Differenz, S. 131. 105 4.3. Lévinas erster programmatischer Text Die Zeit und der Andere zu verwenden, immer ein anderer Mensch, eine Frau, eine Mutter, der ich meine Existenz verdanke. Kein Mensch ist selbstgeboren. Die Abkehr vom griechischen Logos, die Verschiebung der Metaphysik hin zu einer Seinsethik und die Überwindung des klassischen Subjekt-Objekt-Denkens bedingen einander. Sie haben ihren gemeinsamen Ort in der Art und Weise, wie Lévinas die Konfiguration des Anderen begreift. 4.3. Lévinas erster programmatischer Text Die Zeit und der Andere Der Titel der ersten Schrift von Lévinas, Die Zeit und der Andere, ist natürlich auch eine Replik auf Heideggers Sein und Zeit, in der, wie schon Sartre kritisch konstatiert hat (Kapitel 2.6.), der Andere vornehmlich (negativ) als jenes Man vorkommt, das dem einzelnen als eine unpersönliche und einförmige gesellschaftliche Macht entgegentritt und das sich zufällig in der gemessenen Zeit (im Unterschied zur subjektiven Zeit) manifestiert. Zeit gründet auf der Beziehung zum Anderen. Letztere sowie die zeitliche Relation werden in dieser Philosophie eng geführt: „Das Ziel dieser Vorlesungen besteht darin zu zeigen, daß die Zeit nicht das Faktum eines isolierten und einsamen Subjektes, sondern das Verhältnis des Subjekts zum andern ist.“ 12 Zeit und Alterität sind in dem frühen programmatischen Text miteinander verbunden. Die Bedeutung von Einsamkeit verschiebt sich also in dieser Denkweise. Es gibt kein absolutes Allein-bei-sich-Sein, sondern immer ist unsere relative Einsamkeit von einem Horizont umgeben, der von der Epiphanie des Anderen, seiner Stimme und seines Antlitzes bestimmt und geprägt ist. Dieser Befund ist dem Autor von Die Zeit und der Andere zufolge keine soziologische Analyse, die zeigt, wie Zeit in einer Gesellschaft „zerlegt und angeordnet wird“. Es handelt sich vielmehr um eine Form von Ontologie, die Zeit vor dem Hintergrund eines Alteritätsverhältnisses behandelt, bei der Einsamkeit und Kollektivität nicht einfach Begriffe der Psychologie sind. In der Zeit in diesem Sinn wird Einsamkeit „überschritten“. Schon gleich zu Anfang spricht Lévinas aus, was dieses Übersteigen nicht ist: ▶ Es ist kein Erkennen, denn durch das Erkennen wird das Objekt vom Subjekt vereinnahmt und verschwindet. 12 Lévinas, Die Zeit und der Andere, S. 17. 106 4. Emmanuel Lévinas: Die Vorgängigkeit des / der Anderen ▶ Es ist keine Ekstase, denn in der Ekstase wird das Subjekt vom Objekt vereinnahmt und verschwindet. Die Beziehung zum Anderen ist etwas, das nicht auf die Auflösung des Anderen oder auch auf die Neutralisierung meiner selbst abzielt. Es ist kein Verhältnis, das auf dem Bewusstsein beruht und das auch nichts Mystisches in sich birgt. Denn durch die abstrakte Erkenntnis wird der Andere zu einem Gegenstand verdinglicht und durch die Ekstase verliere ich mich samt dem Anderen in einer Einheit, in der es kein Ich und keinen Anderen gibt. Die existentielle Relation, auf die Lévinas in dem Text zusteuert und die weder soziologisch noch psychologisch zu bestimmen sei, ist zunächst einmal eine, die weder rational noch irrational, sondern etwas Drittes ist. Lévinas wendet sich also gegen das Denken einer am Ende dialektisch wiederhergestellten Einheit im Sinne Hegels ( → - Kapitel 2). Vielmehr geht es ihm um einen „Pluralismus, der nicht in einer Einheit fusioniert“. Es gehe darum, „mit Parmenides zu brechen“. 13 Die Idee, die Unterscheidung des Parmenides von Sein und Nichts zu revidieren, findet sich, wie wir gesehen haben, bereits bei Kojève und seinem Gleichnis vom Goldring ( → -Kapitel 2.5.). In diesem wird die Relation als drittes Element ins Spiel gebracht. Aber Lévinas zielt ganz offenkundig noch auf ein anderes Moment, nämlich auf ein Sein, das immer schon in Erwartung auf ein Anderes existiert: Die Zukunft, das ist das andere. Das Verhältnis zur Zukunft, das ist das eigentliche Verhältnis zum anderen. Von Zeit zu sprechen in einem Subjekt allein, von einer rein persönlichen Dauer zu sprechen, scheint uns unmöglich. 14 Die Zukunft ist das Andere und es ist zugleich die Zeit des Anderen. Die Zeit setzt Lévinas zufolge immer schon eine Subjekt-Subjekt-Konstellation voraus. Es gehört zur menschlichen Grundsituation, dass der Mensch allein, aber ontisch nicht einsam ist: Die Situation des Von-Angesicht-zu-Angesicht wäre der eigentliche Vollzug der Zeit: das Übergreifen der Gegenwart auf die Zukunft ist nicht die Tat eines einsamen Subjekts, sondern das intersubjektive Verhältnis. Die Bedingung der Zeitlichkeit liegt im Verhältnis zwischen menschlichen Wesen oder in der Geschichte. 15 13 Lévinas, Die Zeit und der Andere, S. 17. 14 Lévinas, Die Zeit und der Andere, S. 48. 15 Lévinas, Die Zeit und der Andere, S. 51. 107 4.4. Die Erotik des geschlechtlichen Paares als Modell von Alterität 4.4. Die Erotik des geschlechtlichen Paares als Modell von Alterität Wie Lévinas in einem Vorwort zur Neuausgabe des Textes im Jahre 1979 schreibt, greift die frühe Abhandlung zu einem illustrativen Modell, das das Verhältnis zum Anderen veranschaulichen soll. Diese Beziehung sei weder bloß gegenständliche Erkenntnis noch unio mystica und soll deshalb am Beispiel der Verbindung des Mannes zur Anderen, zur Frau, erläutert werden. Das Vorwort differenziert zugleich den ursprünglichen Ansatz, wenn es heißt: „Der Begriff der transzendenten Anderheit-- jener Anderheit, von der die Zeit eröffnet wird-- wird zuerst gesucht im Austrag von einer Inhalts-Anderheit, im Ausgang von der Weiblichkeit.“ Diese Alterität ist semantischer Natur, die mit Mann und Frau jeweils ein Prädikat hat. „Weiblichkeit“ erscheine in dem Text von 1947, heißt es rückblickend und selbstkritisch, als „eine Qualität, die von allen anderen Qualitäten unterschieden ist“. Die Geschlechterdifferenz sei eine „formale Struktur“. 16 Diese Struktur ist, wie wir sehen werden, erotisch und zugleich meta-erotisch. Denn die exemplarische Situation, die Lévinas beschreibt, ist gleichsam eine angehaltene. Nicht die Vereinigung ist dabei entscheidend, sondern die Annäherung, die ihr vorausgeht. Lévinas räumt im Hinblick auf die formale Struktur dieser Beziehung zum Anderen ein, dass das, was er hinsichtlich der „Weiblichkeit“ gesagt habe, möglicherweise auch für die „Männlichkeit“ gilt. Beide Qualitäten stehen demnach für den Unterschied der Geschlechter. In einem nächsten Schritt macht er deutlich, dass es ihm um den „Begriff des Paares als eines von jeder numerischen Zweiheit Unterschiedenen“ geht. In diesem Zusammenhang kommt der Begriff der Epiphanie ins Spiel, eine Erscheinung, in der etwas zutage tritt, sich ‚offenbart‘. Er spricht davon, dass die „außergewöhnliche Epiphanie des Antlitzes- - dieser abstrakten und keuschen Nacktheit--,-[…] sich von den sexuellen Unterschieden ablöst, die jedoch für die Erotik wesentlich ist-[…]. Durch Erotik und Libido tritt die Menschheit in die Gemeinschaft zu zweit ein.“ 17 Weder die Prädikation im Sinne einer Zuschreibung von männlich oder weiblich noch die Frage der sexuellen Orientierung des Paares spielen für diese formale Struktur eine Rolle. In der Öffnung des Menschen hin zum Anderen, die die Grundvoraussetzung für das Paar bildet, tritt die formale Struktur unserer Beziehung zum Anderen zutage. In diesem ersten wichtigen und bahnbrechenden Werk untersucht Lévinas die Befindlichkeit des Subjekts auch im Hinblick auf Phänomene wie Arbeit, Leiden, 16 Lévinas, Die Zeit und der Andere, S. 13. 17 Lévinas, Die Zeit und der Andere, S. 14. 108 4. Emmanuel Lévinas: Die Vorgängigkeit des / der Anderen Genuss und Tod, aber gleichwohl ist es der Eros, an dem Alterität, „Anderheit“, vorgeführt wird. Die Erotik im Sinne Lévinas ist eben weder eine Aneignung wie die Erkenntnis noch eine Ekstase wie zum Beispiel der sexuelle Akt. Lévinas spricht zwar an mehreren Stellen von einer „Dialektik des Verhältnisses zum anderen“, aber damit ist keine Dialektik gemeint, die eine Einheit zwischen dem Selben und dem Anderen herstellt. Die Einsamkeit, von der Lévinas spricht, ist Beziehung zum bzw. mit dem Anderen, dessen gleichzeitige An- und Abwesenheit. Das wird in dem kontrastiven Verhältnis von Einsamkeit und Kollektivität sinnfällig: „Das Subjekt ist allein, weil es eines ist.- […] Die Einsamkeit ist also nicht nur Verzweiflung und Preisgegebenensein, sondern auch Stärke, Stolz und Souveränität.“ 18 Die Einsamkeit hat hier ein Moment, das, wie der Begriff Stolz zeigt, die Anwesenheit des Anderen als unhintergehbaren und nicht aufhebbaren Horizont voraussetzt. Oder anders formuliert: Die Einsamkeit im Sinne des Allein-Seins ist ein Modus unseres Verhältnisses zum Anderen. Und nicht umgekehrt. Denn die Gemeinsamkeit ist keine Addition der Einsamkeit zweier Subjekte. Im Unterschied zum sozialen Alltagsleben, das oftmals auf Reziprozität beruht, ist der „intersubjektive Raum nicht symmetrisch.“ 19 Es ist kein Zufall, dass der Text diesen Befund so akzentuiert. Denn damit setzt er eine unverkennbare Differenz zu anderen philosophischen Konzepten, etwa den dialogischen Theorien von Gabriel Marcel und Martin Buber, in dem Ich und Du vis-à-vis einander gegenüberstehen. Auch die Alteritätskonzepte von Hegel und Sartre basieren auf der Idee dieser Reziprozität. Als gleichberechtigte potentielle Selbstbewusstseine, als jeweiliges Selbstbewusstsein an sich, treten sie sich bei Hegel gegenüber. Die Ungleichheit zwischen beiden ist eine a posteriori, eine nachherige, denn sie ergibt sich aus dem Kampf auf Leben und Tod und seinem Resultat, aus Sieg und Niederlage und aus der Schonung des Unterlegenen. Aber auch Sartres Beschreibung von Ich und Anderem beruht auf der Wechselseitigkeit: Denn so wie ich durch den Anderen zum Objekt und mir selbst entfremdet werde, so wird der Andere sich dadurch selbst fremd, dass ich ihn zum Objekt mache. Aus der Sicht Lévinas’ verfehle ich den Anderen aber, wenn ich ihn zum Gegenstand von Wahrnehmung und Begrifflichkeit mache. Mir entgeht ein philosophisch entscheidendes Moment an dem anderen menschlichen Lebewesen. Denn dessen spezifischer Status besteht gerade darin, dass er im klassischen Sinn weder ein Subjekt noch ein Objekt ist. 18 Lévinas, Die Zeit und der Andere, S. 29. 19 Lévinas, Die Zeit und der Andere, S. 55. 109 4.4. Die Erotik des geschlechtlichen Paares als Modell von Alterität Noch etwas ist wesentlich für das Verständnis des Anderen bei Lévinas: Dieser Andere ist keine Instanz, die mir als ein kompaktes, in sich geschlossenes Subjekt entgegentritt. Der Andere ist integraler Bestandteil meiner Selbst, aber nicht im Sinn des psychoanalytischen Denkens, das das Andere als etwas Non-Personales wie bei Kristeva im Unbewusstsein meiner selbst verankert ( → - Kapitel 3). Der Andere ist, wie wir noch sehen werden, eine personale Instanz, die in der Begegnung mit einem anderen Menschen gleichsam aktualisiert und inszeniert wird. Auf dieser „intersubjektiven“ Ebene löst sich das klassische Subjekt ebenso auf wie die traditionelle, auf die antike griechische Philosophie zurückgehende Denkform von Subjekt und Objekt, von Eigenem und Fremdem gleichsam auf. Das Subjekt ist bei Lévinas ein immer schon durch den Anderen fragmentiertes, dem Anderen Unterworfenes. Dies ist gleichzeitig die zweite Bedeutung des lateinischen Wortes subjectum: das Unterworfene. Das fragmentierte Subjekt unterscheidet sich aber auch prinzipiell von jenem Hybrid, von jener Heterogenität, die wir aus den gegenwärtigen Kulturwissenschaften kennen. Es befindet sich niemals im Zustand des Selbst. Es ist keine Mischung im Sinne des Sowohl-als-Auch und es ist auch nicht ein Weder-Noch. Demgegenüber ist Heterogenität nicht zuletzt das Ergebnis einer spezifisch kulturellen Mischung von Eigenem und Fremdem mit der durchaus radikalen Tendenz, dass sich die Grenzen und Unterschiede zwischen Eigenem und Fremdem verwischen. Lévinas zufolge ist jedes, auch das (vermeintlich) homogen(st)e kulturelle Subjekt immer schon durch die Figur des Anderen gebrochen, das heißt fragmentiert und wenn man so will heterogen, bedeutet doch das griechische Wort heteros der Andere. Fragmentierung und Asymmetrie, wie sie in der Angewiesenheit des Selben auf den Anderen gegeben ist, schließen Kränkung und Chance mit ein. Keines der Subjekte hat diese Beziehung unter Kontrolle und keines von ihnen hat im Grunde genommen eine Wahl. Aber aus dieser peinlichen Situation der Abhängigkeit, die unseren Wunsch nach Selbst- und Allmächtigkeit dementiert, resultiert auch die Möglichkeit der Öffnung zu dem, was uns konstituiert, ‚fremdbestimmt‘. Damit verschiebt sich freilich auch, mit vergleichendem Blick auf Sartre, die Bedingungen der Möglichkeit von Freiheit (Kapitel 2). Denn Freiheit ist nur in der innerhalb der durch die Alteritätsrelation gegebenen Bedingungen möglich. Freiheit ist das Antworten auf eine Anforderung, die an mich ergangen ist. Es sind drei miteinander verbundene Elemente, die die Beziehung zum Anderen bestimmen, wobei die Folie der (geschlechtlichen) Liebe immer wieder zum Vorschein kommt. Die Beschaffenheit der Liebe in unserer Wahrnehmung und 110 4. Emmanuel Lévinas: Die Vorgängigkeit des / der Anderen emotionalen Erfahrung wird in der frühen Abhandlung von 1947 zum Modell von Alterität. Phänomenologie meint hier eine lebensweltliche Erfahrung einer bestimmten intersubjektiven Konstellation: 1. Die Konfiguration des Anderen ist gleichsam in mich eingeschrieben. Das bedeutet aber nicht, dass er mich besitzt oder ich ihn. Die Relation zu ihm ist keine, die im Begriff des Besitzes aufgeht. Der Besitz widerspricht im Kern des Status des Anderen: „Wenn man den anderen besitzen, ergreifen und erkennen könnte, wäre er nicht der andere. Besitzen, Erkennen, Ergreifen sind Synonyme des Könnens.“ 20 Nun wird auch deutlich, warum die Annäherung zweier sich liebender Menschen so wichtig ist und weshalb dieses Dritte, jenseits von Erkennen und Ekstase, von Besitzen und Verlieren, von so entscheidender Bedeutung ist. Denn mit ihr kommen Momente der Zärtlichkeit und der Berührung ins Spiel, sie bedeuten, je nachdem, wie man es sehen möchte, entweder den Verzicht auf Inbesitznahme oder die resignative Einsicht, dass ich den Anderen weder real noch symbolisch zu meinem Eigentum machen kann. Kein Koitus in dieser Welt vermag letztendlich eine Überwindung der prinzipiellen Grenze, die mich vom anderen trennt. Diese Relation bildet die Voraussetzung für die geschlechtliche Liebe. Es ist die Annäherung, die mir vor Augen führt, dass der Andere sich immer entzieht und niemals endgültig greifbar ist, in diesem Sinne immer fremd bleibt. 2. Zur Beziehung zum Anderen, die sich in der Liebe zeigt, gehört auch, dass die Beziehung nicht von mir geschaffen wurde. Zur Vorgängigkeit des Anderen gehört ganz konsequent, dass ich auf den Anderen antworte bzw. die Beziehung mit annehme (oder auch nicht): „Die Liebe ist nicht eine Möglichkeit, sie verdankt sich nicht unserer Initiative, sie ist ohne Grund, sie überfällt uns und verwundet uns und dennoch überlebt in ihr das Ich.“ 21 3. Die Konfiguration des Anderen entzieht sich mir. Das jeweils andere Geschlecht entzieht sich mir gerade deshalb, weil es das andere ist. An dieser Stelle wird deutlich, dass es nicht nur die Paarbildung, sondern auch die sexuelle Differenz ist, die bei Lévinas’ Ontologie des Anderen im Spiel ist. Wovon er sich entschieden und prinzipiell absetzt, ist ein Geschlechtermodell, das wie in Platons Symposion davon ausgeht, dass Mann und Frau komplementär seien und ihre Beziehung eine ursprüngliche Einheit wiederherstellt. 20 Lévinas, Die Zeit und der Andere, S. 61. 21 Lévinas, Die Zeit und der Andere, S. 59. 111 4.5. Die Vorgängigkeit des Anderen Die Liebe ist in keinem Fall ein Verschmelzen, sondern sie spitzt die Alterität, gerade im gelingenden Fall der Liebe, als menschliche Grundkonstellation zu: Der Unterschied der Geschlechter ist auch keine Dualität zweier komplementärer Bezugspunkte, denn zwei komplementäre Bezugspunkte setzen ein präexistentes Ganzes voraus. Zu sagen, daß die geschlechtliche Dualität ein ganzes voraussetze, hieße von vornherein die Liebe als Verschmelzen zu setzen. Die Leidenschaftlichkeit der Liebe besteht jedoch in einer unüberwindlichen Dualität des Seienden. Es ist ein Verhältnis zu dem, das sich für immer entzieht. Das Verhältnis neutralisiert nicht ipso facto die Andersheit, sondern bewahrt sie. Die Leidenschaftlichkeit der Wollust besteht darin, zu zweit zu sein. Das andere als anderes ist hier nicht ein Objekt, das das unsrige wird oder das wir wird; es zieht sich im Gegenteil in sein Geheimnis zurück. 22 Verworfen werden hier die zwei verwandten, aber nicht identischen Denkfiguren, Komplementarität und Synthese. Beide basieren auf der Idee, dass die herzustellende Einheit eine ursprüngliche Ganzheit wieder herstellt. Einen solchen Ursprung gibt es bei Lévinas jedoch nicht, vielmehr befinden wir uns immer schon in einer Beziehung zum Anderen, die wir insofern nicht selbst geschaffen haben, als der Andere uns ja immer schon zuvor gekommen ist. Weil sich der Andere stets entzieht, kann die Liebe überleben. Wenn es so etwas wie ein Ganzes gibt, so, paradox gesprochen, dann nur in Gestalt einer unaufhebbaren Alterität. Überhaupt ließe sich sagen, dass die Form, in der Lévinas Alterität denkt, eine paradoxe ist: Liebe ist das Eingeständnis, dass wir ohne den Anderen nicht-- wenigstens nicht in einem emphatischen Sinne-- leben können. Die Frage bleibt indes, ob die Liebe wirklich die einzige und vorgängige Beziehung zum Anderen darstellt. Aber es wäre vorschnell, Lévinas eines kosmischen Optimismus zu bezichtigen. In der Liebe zeigt sich vielmehr die Möglichkeit unseres alteritären In-der-Welt-Seins. Zweifelsohne ist auch für Lévinas die Gewalt eine Möglichkeit in der Beziehung zum Anderen, die indes nicht imstande ist, dessen Schatten abzuwerfen. 4.5. Die Vorgängigkeit des Anderen Kommen wir noch einmal auf die zentrale Aussage der Lévinasschen Alteritäts- Philosophie, auf die Vorgängigkeit des Anderen, auf die Tatsache, dass er uns immer zuvorkommt, zu sprechen: Wie zeigt und wie manifestiert sich diese 22 Lévinas, Die Zeit und der Andere, S. 57. 112 4. Emmanuel Lévinas: Die Vorgängigkeit des / der Anderen Anwesenheit des Anderen in mir? Um Lévinas’ Denkweise zu verstehen, sei noch einmal auf das, was Derrida als „Dislokation des griechischen Logos“ bezeichnet hat, verwiesen. Diese Dislokation, diese Dezentrierung bzw. Verschiebung, wird aus einer Perspektive vorgenommen, die geistesgeschichtlich betrachtet unverzichtbarer Teil der okzidentalen Tradition ist, nämlich die personale Gottesvorstellung im Judentum und den aus ihm hervorgegangenen Religionen. Lévinas’ Philosophie ist insofern säkularisiertes Judentum (und bis zu einem gewissen Grade auch Christentum), als sie die Vorstellung von Gott als dem Anderen, der uns anspricht, in ihrer Denkstruktur aufnimmt und systematisch ausbreitet. Aus dem transzendenten jenseitigen ‚Gott‘ wird ein ‚antezendentaler‘, d. h. uns vorausgehender und von uns nicht gewählter, immanenter und diesseitiger Anderer, den wir schon in uns selbst antreffen, noch ehe er uns äußerlich begegnet sein muss. Die Präferenz des Anderen gegenüber dem Selbst thematisiert Lévinas nun auf unterschiedliche Weise: 1. Die erste Erfahrungsweise dieser Vorgängigkeit ist die Epiphanie des Antlitzes. 23 „Das Gesicht ist keine Metapher und keine Figur-[…]“, fügt Derrida kommentierend an. 24 Das altertümliche deutsche Worte Antlitz enthält im Gegensatz zum Gesicht, das sich vom Passiv ‚gesehen werden‘ ableitet, die Konnotation eines aktiven Gegenübers, das ich ansehe, dass es mich ansieht: „Das Antlitz ist nichts anderes als die Identität des seins. Es zeigt sich, wie es selbst ist, ohne Begriffe.“ 25 Vorgängigkeit wiederum besitzt einen zeitlichen und einen prinzipiellen Aspekt, etwas / jemanden, das / der mir stets zuvorkommt und das / der mich anspricht, bevor ich selbst das Wort erhoben habe. Diese Differenz ist aber nicht eine, die mir äußerlich gegenübertritt, sondern die schon immer in mich eingeschrieben ist. Dieser Vorrang manifestiert sich in dem, was Lévinas als Epiphanie des Antlitzes bezeichnet. Wobei das Wort Epiphanie in unserer kulturellen Tradition, wie schon angedeutet, eine religiöse Aufladung in sich trägt, eine Form von Erscheinung, deren Bedeutung über die reine Wahrnehmung hinausgeht und auf etwas zielt, was Evidenz besitzt. Das Antlitz ist also eine Art Instanz, die über die bloße Sichtbarkeit hinausgeht und die sich auch darin manifestiert, dass der Anblick Gottes unerträg- 23 Lévinas, Die Zeit und der Andere, S. 49. 24 Derrida, Die Schrift und die Differenz, S. 154. 25 Lévinas, Emmanuel: Zwischen uns. Versuche über das Denken an den Anderen. Deutsch von Frank Miething. München: Hanser, 1991. S. 49. 113 4.5. Die Vorgängigkeit des Anderen lich ist. Das Gesicht ist aber auch-- und hier klingt wohl auch die phänomenologische Schulung an-- die verletzliche Stelle des Anderen. In ihr manifestiert sich zugleich die Geste der Zuwendung (oder auch der Abwehr). Jene Geste steht in der philosophischen Formel von der Epiphanie des Antlitzes im Zentrum. Epiphanie, ein griechisches Wort aus dem neutestamentarischen Kontext, bedeutet: in Erscheinung treten, sich offenbaren. In der alteritären Begegnung, so ließe sich sagen, tritt der Andere im Gestus seines bloßen, nackten, ungeschminkten Gesichtes, unabhängig von dessen spezifischer Beschaffenheit in Erscheinung. Mehr als alle anderen körperlichen Dimensionen manifestiert sich im „Antlitz“ ein Sein, das vom Anderen her zu denken ist. Derridas Kommentar aus dem Jahre 1967 bringt das recht bündig auf den Punkt, wenn er schreibt: Im Gesicht teilt sich der Andere leibhaftig als Anderer mit, das heißt als etwas, was sich nicht offenbart, als das, was sich nicht thematisieren läßt. Ich kann unter keinen Umständen über den Fremden reden, ein Thema aus ihm machen, ihn im Akkusativ als Gegenstand bezeichnen. Ich kann allein, ich darf einzig und allein zum Fremden sprechen, ihn im Vokativ anreden, der keine Kategorie und kein Kasus der Sprache, sondern das Hervortreten, die Erhöhung der Sprache selbst ist. 26 2. Um den Anderen zu ‚verstehen‘, kann ich nur in Kontakt mit ihm treten. Genauer gesagt stehe ich jedoch vielleicht bereits ohne es zu wissen oder zu wollen im Kontakt mit ihm. Er hat mich nämlich angerufen: Er manifestiert sich nicht nur als Antlitz, sondern auch als die Stimme, als der Ruf, der mich ereilt. 27 Damit bekommt aber der Begriff der Vernunft eine völlig verschobene Bedeutung: Vernunft lässt sich als ein Vernehmen dessen begreifen, was jemand gesagt hat. Dabei ist das Sprechen nicht nur ein instrumentales Medium der Kommunikation, vielmehr ist sie, der das Phänomen von Stimme und Ruf zugrunde liegt, selbst eine Epiphanie des Anderen. Die Sprache richtet sich an dieses ‚fremde‘ unerreichbare Gegenüber, das indes in ihr nicht begrifflich enthalten ist. Das heißt aber, dieser (oder auch diese und dieses) ist auf paradoxe Weise in der Sprache enthalten und manifestiert sich im So-Sein der Sprache selbst, eben weil er begrifflich nicht in ihr vorkommt. Mit anderen Worten: Die Sprache enthält ein Moment der Zuwendung, des Auf- und Anrufs. Deshalb ist der Vokativ, dieser scheinbar marginale Kasus der Grammatik europäischer Sprachen, für das Verständnis der Sprache selbst 26 Derrida, Die Schrift und die Differenz, S. 158. 27 Vgl. Derrida, Die Schrift und die Differenz, S. 153. 114 4. Emmanuel Lévinas: Die Vorgängigkeit des / der Anderen zentral: weil die Sprache immer schon eine Anrede, ein kommunikativer Akt ist. 3. Um die ethische Implikation, die in der menschlichen Grundkonstellation der Alterität enthalten ist, zu verstehen, muss man noch einmal auf die Figur des personalen Gottes eingehen, der strukturell das Modell für das Phänomen des Alteritären für Lévinas abgibt und der sich als unsichtbares, transzendentes Gesicht (Antlitz) und als vernehmbare Stimme offenbart. In der Logik von Lévinas fallen dabei Immanenz und Transzendenz tendenziell zusammen. Der konkrete empirische Mensch vertritt dabei den Anderen schlechthin, der mich transzendiert, das heißt hier übersteigt. Die Begegnung mit dem Anderen hat nämlich eine strukturell religiöse Dimension. Dieser Andere bleibt nämlich ein Geheimnis und begründet zugleich eine Instanz, die mich als ethisches und freies Wesen konstituiert. 4. Das Vis-à-vis „ist das einzige Wesen, das ich töten wollen kann“, es ist aber das einzige, das mir den Befehl erteilt; ‚Du wirst keinen Mord begehen‘ und meine Macht absolut einschränkt“. 28 Das was früher einmal Metaphysik gewesen ist, kristallisiert sich als eine Ethik heraus, die als Seinslage des Menschen bestimmt ist. 4.6. Von der Intimität zur Allgemeinheit des Anderen Ausgangspunkt von Lévinas’ Überlegungen ist, dass das menschliche Sein, das Schuld und Unschuld kennt, aus der Totalität des Seins herausfällt. Denn es ist die Konfiguration des Anderen, die das Prinzip des Seins übersteigt und die ethische Grundsituation des Menschen bildet. In späteren Schriften reflektiert Lévinas darüber, ob die Paar-Beziehung, die in Die Zeit und der Andere als Modell der Alteritätsbeziehung diente, wirklich als exemplarisch für die alteritäre Grundsituation des Menschen dienen kann. Gewiss, am Beispiel der erotischen Begegnung des Paares lässt sich veranschaulichen, dass der Andere kein begrifflich fassbares Phänomen ist, insofern behält das Beispiel auch seinen Wert; aber das Paar stellt phänomenologisch besehen schon programmatisch eine Besonderheit dar. Kurzum, eine Philosophie des Alteritären muss auf eine andere ‚Figur‘ rekurrieren und diese ist die des Dritten, eben desjenigen, der (oder die) aus der Paarbeziehung ausgeschlossen ist. 28 Derrida, Die Schrift und die Differenz, S. 159. 115 4.6. Von der Intimität zur Allgemeinheit des Anderen Aus einer solchen Perspektive erscheint das exklusive Liebespaar als eine „innere Gemeinschaft“, die in „ihrer Autarkie durchaus der falschen Totalität des Ich vergleichbar“ ist. 29 In seiner radikalen Version ist diese erotische Liebe modernen, genauer romantischen Ursprungs. Sie begreift sich als ganzheitlich und bedeutet Einsamkeit à deux: „Liebe heißt existieren, als wären Liebender und Geliebter allein auf der Welt.“ Und: „Das intersubjektive Verhältnis der Liebe ist nicht Beginn, sondern Negation der Gesellschaft.“ 30 Schon Ludwig Tieck hat diese totale ‚romantische‘ Liebe in einer späteren, post-romantischen Novelle Des Lebens Überfluß höchst ironisch konterkariert. Sein Liebespaar verabschiedet sich mehr und mehr von der Welt, weil es ohne Abstriche dem kategorischen Imperativ seiner erotischen Liebe, seiner Libido folgend, nicht mehr das Haus verlassen will und von der äußeren Not, Hunger und Kälte eingeholt wird. Dass es zu guter Letzt das hölzerne Stiegenhaus zum Brennmaterial macht, hat dabei natürlich eine hintersinnige Bedeutung, bildet doch diese den (einzigen) Zugang zur Außenwelt. Sigmund Freuds umfangreiche Abhandlung Das Unbehagen in der Kultur lebt von der gleichen Opposition von Privatem und Öffentlichem, von Libido und Gesellschaft. Denn das menschliche Unbehagen des (westlichen) Menschen an der von ihm geschaffenen Kultur resultiert für Freud letztendlich daraus, dass die moderne, auf Arbeit beruhende Kultur die Libido des Menschen massiv einschränkt und damit dessen Begehren substanziell unterdrückt. Aber auch hier befindet sich die Freud zufolge von den Frauen eingeforderte Liebe in Opposition zur kulturellen Logik der modernen Gesellschaft, die auf Triebverzicht zugunsten gesellschaftlich verordneter Arbeit drängt. 31 Für den späten Lévinas ist die individuelle Paar-Liebe aber noch aus einem anderen Grund ethisch problematisch. Dies hat mit dem Ausschlussmechanismus zu tun, der jedweder individuellen Liebe zugrunde liegt. Gewiss, wir sind entgegen gewisser sozio-erotischer Phantasien (zu denken wäre dabei an die Konzepte des Frühsozialisten Fourier, die 1968- - make love, not war- - eine gewisse Renaissance erfuhren) außerstande, alle Menschen, wenigstens potentiell, gleich intim und intensiv zu lieben. Das liefe darauf hinaus, die Geschlossenheit des Paares zu einer totalitären Gesellschaft hin zu prolongieren. Die sexuelle 29 Lévinas, Die Zeit und der Andere, S. 31. 30 Lévinas, Die Zeit und der Andere, S. 33. 31 Freud, Sigmund: Das Unbehagen in der Kultur. Mit einem Kommentar von Wolfgang Müller- Funk. Wien: Vienna Univ. Press, 2016. Müller-Funk, Wolfgang: Kulturtheorie. 2., erweiterte und korrigierte Auflage. Tübingen: Francke / UTB , 2010. S. 23-47. 116 4. Emmanuel Lévinas: Die Vorgängigkeit des / der Anderen oder auch nur sexualisierte Gemeinschaft kann von daher nicht als Modell für die Gesellschaft dienen. Wenn wir also dem Anderen in seiner allgemeinen und generellen Bedeutung nicht im geliebten und liebenden, im begehrten und begehrenden Anderen begegnen, muss er sich an einem anderen Ort befinden. Und diesen Ort benennt Lévinas ex negativo: Das wirkliche ‚Du‘ ist nicht das von den Anderen abgesonderte geliebte Wesen. Es begegnet uns in einer anderen Situation. Die Krise der Religion im geistigen Leben unserer Zeit beruht auf dem Bewußtwerden dessen, daß die Gesellschaft über die Liebe hinausgeht, daß beim Dialog der Liebenden immer ein verletzter Dritter dabei ist und daß ihm gegenüber die Gemeinschaft der Liebenden im Unrecht ist. Der Mangel an Universalität rührt hier nicht von einem Mangel an Großzügigkeit, sondern vom exklusiven Wesen der Liebe her. Jede Liebe- […] ist die Liebes eines Paares. Die geschlossene Gemeinschaft ist das Paar. 32 Daraus folgert der späte Lévinas: „Die irdische Moral fordert zum unbequemen Umweg über die Dritten auf, die von der Liebe ausgeschlossen wurden.“ 33 Der Dritte ist derjenige, der in der Liebe dadurch anwesend ist, dass er abwesend ist. Aber aus der besonderen Situation der Liebe heraus kann keine Ethik entstehen, denn diese ist dadurch charakterisiert, dass sie allgemein ist. Eine Sonderform, die nur für bestimmte Gruppen von Menschen gilt, ist streng besehen keine, will man Ethik nicht einfach als den Ethos einer Gruppe oder einer Kultur begreifen. Will sie universalistisch sein wie jene von Lévinas (und das eigentlich gilt für alle modernen Ethiken), muss sie von daher den Anderen so unspezifisch wie möglich zu fassen suchen. Lévinas spitzt diesen Tatbestand zu, wenn er schreibt: „Wahres Unrecht-- das heißt unverzeihliches-- gibt es nur gegenüber dem Dritten.“ 34 Ob das wirklich so stimmt, darüber lässt sich streiten. Denn schließlich sind die ersten und zweiten, aus denen das Paar besteht, immer potentiell auch Dritte. Dass ich für einen Menschen der intime Andere bin (und neben dem Status des Geliebten gibt es ja noch weitere exklusive Alteritätsrelationen, Vater / Mutter, Freund/ Freundin usw.) bedeutet ja umgekehrt nicht, dass ich aus dem Status des Dritten vertrieben bin. Was allen Alteritätsbeziehungen gemeinsam ist und was die intime Beziehung womöglich radikalisiert, ist das, was man als die Deplatzierung des Selbst bezeichnen kann, die den Kern des Lévinasschen Denkens bildet: „Daß das 32 Lévinas, Die Zeit und der Andere, S. 35. 33 Lévinas, Die Zeit und der Andere, S. 36. 34 Lévinas, Die Zeit und der Andere, S. 37. 117 4.6. Von der Intimität zur Allgemeinheit des Anderen Selbstbewusstsein sich nun außerhalb unseres Selbst bildet, verleiht der Sprache, unserer Verbindung mit dem Draußen eine erstrangige Rolle.“ 35 Kommen wir noch einmal auf die niemals strenge Unterscheidung von Fremde und der Andersheit im Hinblick auf Lévinas zu sprechen: Der Fremde kann in diesem Zusammenhang auch durchaus als problematische Kategorie verstanden werden. Ich verstehe die Anrede seitens des Anderen nicht, weil er fremd ist, weil er eine andere Sprache spricht, die ich nicht verstehe. Das bedeutet, die dialogische Geste zu ignorieren, die allen Sprachen gemeinsam ist. Jede Sprache enthält ja den Vokativ als strukturbildendes Element, eben jenes Du, das sich an den anderen richtet. Der Fremde des ethnozentrischen Rassisten ist so anders, dass kein Anerkennungsverhältnis möglich ist, weil sein Antlitz und seine Stimme nicht als meinesgleichen, nicht als menschlich akzeptiert werden. Für den historischen Rassisten, der noch immer in den aktuellen politischen Diskursen klammheimlich, hinter vorgehaltener Hand, und auch nicht so verstohlen murmelt, ist der Fremde kein vollwertiger Mensch, weil er scheinbar ganz anders ist als er selbst, das historische Subjekt, der weiße Mann. In Lévinas’ Philosophie bleibt der Andere, ungeachtet seiner sprachlichen, religiösen, historischen und sexuellen Spezifität, letztendlich unzugänglich, aber gerade dies setzt die Bewegung hin zu ihm und ihr in Gang. Die Anerkennung unserer alteritären Situation beginnt und endet aus dieser Warte nicht mit der Anerkennung einer kulturellen Spezifität. Eine Frau anzuerkennen, bedeutet in dieser Logik nicht, sie (aus männlicher Sicht) als Frau zu akzeptieren; einen Menschen schwarzer Hautfarbe anzuerkennen, heißt aus der Perspektive eines ‚Weißen‘ nicht, ihn als ‚Schwarzen‘ zu akzeptieren, sondern bedeutet in beiden Fällen, sie oder ihn als Manifestationen eben jener „Epiphanie des Antlitzes“ zu begreifen, die mein alteritäres In-der-Welt-Sein manifestiert. Denn die partikulare Anerkennung trägt stets die Kehrseite in sich, den Anderen nur weil oder trotz seiner Prädikate anzuerkennen. Der unerbittlichen Strenge von Lévinas’ post-humanistischer Ethik, die die Totalität des Ichs radikal in Frage stellt, genügt eine solch partikulare Anerkennung keineswegs. Dass diese Ethik radikal ist und darüber hinaus einen traditionellen Hintergrund hat, den sie vollkommen neu kontextualisiert, kann wohl kaum als Einwand gegen sie ins Feld geführt werden. Ob sie ‚realistisch‘ ist, das heißt, ob sie nicht im Sinne post-marxistischer Diskurse gesellschaftliche Realitäten ignoriert, darüber ließe sich streiten. Ihre Stärke und vielleicht auch Schwäche besteht darin, dass sie das Ethische in der existentiellen Befindlichkeit des Menschen verankert und diesen 35 Lévinas, Die Zeit und der Andere, S. 37. 118 4. Emmanuel Lévinas: Die Vorgängigkeit des / der Anderen als ein Wesen begreift, das Verantwortungen dadurch übernimmt, dass es auf den Anderen antwortet. Wie jede Ethik ist jene von Lévinas kontrafaktisch. Das Tötungsverbot, das bei Lévinas mit dem verletzlichen Angesicht des Anderen verbunden ist, bedeutet immer auch, dass getötet wird, vielleicht auch deshalb, weil die Zumutung der Alterität und die Fragmentierung des vermeintlichen Eigenen als unverträglich empfunden und Gewalt als eine scheinbar schnelle und eindeutige Lösung begriffen wird. Aus der Perspektive kulturwissenschaftlicher Diskurse ließe sich Lévinas’ Alteritätsphilosophie als ein Korrektiv verstehen, das die ethische und nicht nur politische Dimension unseres Tuns beleuchtet und uns vor kulturalistischen Missverständnissen von Alterität bewahrt. 36 Der Systemtheorie zufolge hat jede theoretische Beobachtung einen blinden Fleck. Im Falle von Lévinas’ Alteritätstheorie ist das zweifelsohne die fehlende Thematisierung von Macht und Herrschaft. Denn Lévinas’ Modell erklärt sehr wohl das Phänomen spontaner Gewalt, nicht aber die Funktionsweise eines stabilisierten Herrschaftsverhältnisses. Oder anders ausgedrückt: Die ontische Übermacht des Anderen hat immer schon eine positive ethische Dimension. So ist der Andere, anders als in der Psychoanalyse, auch eine Art von Über-Ich, dem ich mich unterwerfe, und zwar vernünftigerweise, weil es mich zu dem macht, was der Mensch ist oder sein soll: ein ethisches Lebewesen. Eine Definitions- und damit Machtfrage ist es auch, wem die „Epiphanie des Antlitzes“ und damit ein Mensch-Sein, mit dem ich in einen Blickkontakt trete, zugesprochen wird. Worauf hier angesprochen wird, ist die in Frage gestellte Differenz von Mensch und Tier. Hat das Tier also, mit Lévinas gesprochen, ein Antlitz, eine Stimme, also die Qualität des Anderen? Das ist Gegenstand eines philosophischen Disputes zwischen Lévinas und Derrida. Während Lévinas in einem Aufsatz über die Shoah den Lagerhund, der die Todessklaven des nazistischen Lagers als Menschen respektiert, als eine ethische Instanz begreift, hat er indes stets 36 Aydın kritisiert Lévinas und behauptet, dass Lévinas „Autonomie“ und „Unabhängigkeit“ verwechsle und dass er letztendlich das Subjekt durch einen „absoluten Pflichtaufruf “ seitens des Anderen untergrabe (Aydın, Topoi des Fremden, S. 65). Ich denke, dass ihm dabei die radikale Pointe von Lévinas’ Philosophie entgeht. Sie besteht in der Akzeptierung des heteronomen Status des Subjektes in einer Relation, die nicht dem traditionellen Subjekt-Objekt-Denken verpflichtet ist, wie Aydın zuvor meint (Aydın, Topoi des Fremden, S. 63). Ich sehe auch an diesem Punkt keinen unvereinbaren Unterschied zu Ricœur, denn die Asymmetrie, die Vorgängigkeit des Anderen, gilt ja reziprok, für den einen wie den anderen. 119 4.6. Von der Intimität zur Allgemeinheit des Anderen darauf bestanden, Alterität ausschließlich als eine Mensch-Mensch-Beziehung zu verstehen. Demgegenüber eröffnet Derrida in seinem posthum erschienenen Buch Das Tier, das ich bin eine Perspektive, die sich alteritätstheoretisch eng an Lévinas anlehnt und dessen Konzept gegen den älteren Philosophen wendet, indem er die Frage der Alterität des Tieres ins Spiel bringt: Ich, das ist das Tier des Anderen und das Andere des Tiers ( → -Kapitel 9). Historisch betrachtet hatten übrigens für lange Zeit auch viele Menschen kein Antlitz und keine Stimme, etwa der Sklave, womöglich auch der Hegelsche Knecht, der außereuropäische Mensch in der Ära des Kolonialismus. Im Sinne einer Diskursgeschichte der Grausamkeit, die immer eine am Anderen ist, würde dies erklären, warum Millionen von Menschen geschunden, verstümmelt und ermordet werden konnten, ohne dass viele der Täter ein schlechtes Gewissen hatten: eben deshalb, weil sie die Anderen nicht als die Anderen ihrer Selbst begriffen haben. Sie waren in den Augen der Täter einfach keine ‚Menschen‘. Das Konzentrationslager und die mit ihm verwandten Vernichtungsmaschinerien verdanken sich nicht zuletzt dem perversen Kalkül, den anderen Menschen auf eine rein biologische Existenz herabzudrücken, die jener entspricht, die in einer dominanten Denktradition mit dem Tier, der biologischen Sache, verbunden ist. Eine Form von Alterität ist hier im Spiel, die anders als die von Lévinas entfaltete, auf eine radikale Exklusion hinausläuft. In diesem Sinne funktioniert die Gegenüberstellung von Mensch und Tier, wobei sich das Attribut des Nicht- Menschlichen, also Tierischen, auch auf Menschengruppen ausweiten lässt. 37 Damit koinzidiert-- nicht bei Lévinas, wohl aber in einer gar nicht so subkutanen okzidentalen Tradition-- eine Distanz, die sich etwa im Blick des weiblichen Gegenübers manifestiert. Das fremde Gesicht des-- vorgeblich und inszenierten-- ganz anderen Lebewesens Frau schaut irgendwohin, es sieht mich nicht an, es steht metonymisch für den männlichen Blick als kostbares Objekt bereit (so grell imaginiert die Malerei der Jahrhundertwende das Weibliche, so konsequent philosophiert Otto Weininger über „das Weib als die bejahte Sexualität des Mannes“ 38 ). Man kann dies bis heute an der Parfüm- und Lingeriewerbung auf Litfaßsäulen studieren. Das Problematische ist nicht, dass die Frauen sich entblößt zeigen (eine solche Kritik ließe sich der Prüderie zeihen), sondern dass ihnen jenes Element abgeht, dass den Blick zu einem ‚menschlichen‘ macht: dass er eine Beziehung 37 Vgl. Agamben, Giorgio: Das Offene. Der Mensch und das Tier. Frankfurt / Main: Suhrkamp, 2003. 38 Weininger, Otto: Geschlecht und Charakter. München: Matthes & Seitz, 1980. S. 401. 120 4. Emmanuel Lévinas: Die Vorgängigkeit des / der Anderen zum Anderen stiftet. Das hat aber auch damit zu tun, dass sie virtuell andauernd angestarrt und begehrlich fixiert werden, worauf sich nicht ‚antworten‘ lässt. Das macht ihre merkwürdige narzisstische Einsamkeit und Melancholie aus. Mehrere Motive überlagern sich dabei: das Geheimnis, die Abwesenheit, das Wissen ein Objekt des eigenen wie des männlichen Blicks zu sein; Objekt zu sein, heißt aber auch, keinen eigenen Blick werfen zu dürfen. Lévinas Werk richtet sich übrigens nicht gegen Erotik und Sinnlichkeit. Über das Genießen schreibt er: „Jedes Genießen ist auch Empfinden, das heißt Erkennen, und Licht“. 39 Es insistiert aber darauf, dass der Mensch nur über den Umweg über den Anderen Zugang zu sich selbst zu finden vermag. Dieses asymmetrische Prinzip ist reziprok. Diese existenzielle Grundsituation wird in all jenen rassistischen oder sexistischen Diskursen systematisch unterlaufen, die den Anderen exklusiv und ausgrenzend positionieren, in der Angst, ansonsten durch den anderen deplatziert zu werden. Rassismus und Sexismus sind, von welcher Position auch immer, Angst vor jener Heteronomie, die zwischen dem Selbst und dem Anderen im Spiel ist. 39 Lévinas, Die Zeit und der Andere, S. 42. 121 5.1. Überblick und Einführung 5. Bernhard Waldenfels: Fremdheit in der Moderne 5.1. Überblick und Einführung Bernhard Waldenfels (Jahrgang 1934) ist der wohl wichtigste lebende Vertreter der deutschsprachigen Phänomenologie, einer der heute vielleicht am meisten unterschätzten und zugleich maßgeblichsten nicht-szientistischen Strömung der Philosophie des 20. Jahrhunderts. Ihr Begründer, der Österreicher Edmund Husserl, hat sie-- was Hans Blumenberg auch wiederholt betont hat-- unter die programmatische Formel des Neuanfangs gebracht. 1 Damit fördert die Phänomenologie ein Thema zu Tage, das in der abendländischen Philosophie stets unterbelichtet gewesen ist: die Fremdheit. 2 Die von Husserl geprägten Formeln wie „Zurück zu den Dingen“ oder der viel versprechende Begriff „Lebenswelt“ zeugen von der kulturellen Energie eines Unterfangens, dass noch einmal mit dem Philosophieren beginnen möchte. Dieser von Husserl initiierte Neuanfang schließt sowohl das Vergessen wie das Erinnern mit ein. Die Phänomenologie versteht sich als eine philosophische Richtung, die das abendländische Denken erneuern möchte und das Feld des Philosophischen in ein neues Licht zu tauchen versucht. Ganz offenkundig war dieser Neuansatz der Philosophie, wie er von Husserl vorgeschlagen wurde, für Heidegger nicht radikal genug. Seine radikalisierte Version der Phänomenologie möchte die abendländische Philosophie seit Platon destruieren. Aber auch der Strukturalismus der Nachkriegszeit und die mit ihm einhergehende Wende zu einem neuen Verständnis der Sprache, das diese nicht länger als ein passives Medium begreift, betont das Moment des Bruchs mit der Tradition. Mit letzterem steht die Phänomenologie in einem produktiven Spannungsverhältnis, denn sie bezieht sich, anders als der linguistisch erfüllte Strukturalismus, auf vorsprachliche „Dinge“, die unerreichbar erscheinen: auf die Innenlage des Menschen oder den Binnenraum des Leiblichen. Dabei handelt es sich um jene Lebenswelt, die uns nur in symbolischen Formen zugänglich ist und die doch Erfahrungen generiert, die mit dem liminalen Phänomen zusammenhängen. Im Gegensatz dazu gehen konstruktivistische Strömungen davon aus, dass sym- 1 Zur vermeintlich unmittelbaren Kategorie der ‚Lebenswelt‘ vgl. Blumenberg, Hans: Lebenszeit und Weltzeit. Frankfurt / Main: Suhrkamp, 1986. S. 7-68. 2 Aydın, Topoi des Fremden, S. 50. 122 5. Bernhard Waldenfels: Fremdheit in der Moderne bolische Limes, Identitäten und Differenzen stets gesetzt sind. In diesem Zusammenhang kennen sie keine prinzipiellen oder unübersteigbaren Beschränkungen. Denn die Grenzen werden stets in Kulturen durch Symbolordnungen geschaffen. Zur Besonderheit der von Husserl begründeten Denkschule gehört auch, dass sie Schüler hervorgebracht hat, die das Werk des Begründers teilweise in den Schatten stellen: Heidegger mit seiner Existenzanalyse und seiner Humanismus-Kritik, Maurice Merleau-Ponty, dessen Philosophie der Wahrnehmung, des Leiblichen noch immer Teil eines gegenwärtigen philosophischen Diskurses ist, gleichsam in zweiter Reihe die Existenzanalyse Binswangers, Sartres Existentialismus oder der Posthumanismus von Karl Jaspers und Jan Patočka. Aber damit ist die historische Reichweite der Phänomenologie nicht erschöpft. So hat sie die französische Nachkriegsphilosophie der Generation der um 1900 und dann um 1930 geborenen Denker nachhaltig beeinflusst ( → - Kapitel 2). Auch die philosophischen Werke von Hannah Arendt, Emmanuel Lévinas (Kapitel 4), Hans-Georg Gadamer und auch Hans Blumenberg sind ohne Kenntnis des phänomenologischen Diskurses nur schwer zu begreifen. Wenn man sich das umfangreiche Werk von Bernhard Waldenfels genauer ansieht, insbesondere Werke wie In den Netzen der Lebenswelt (), Phänomenologie in Frankreich (1983 / 1987), Ordnung im Zwielicht (1987), Studien zur Phänomenologie des Fremden (2 Bde., 1997 / 1998), Der Stachel des Fremden (1990), dann kreist es um hauptsächlich zwei Themen: nämlich um den Transfer zwischen deutschen und französischen Denktraditionen (als deren Mediator man Waldenfels in verschiedenen, mittlerweile historisch gewordenen Kontroversen sehen kann) sowie, damit verbunden, um das Thema des Fremden. Das Fremde ist der narrative Plot, um den die Phänomenologie kreist, der rote Faden, der ihre Diskurse eigentümlich charakterisiert. Es handelt sich um jenes Fremde, das für Waldenfels etwa in Mörikes Peregrina-Gedicht oder in Camus’ L’Etranger seinen prominenten Auftritt hat. Das Fremde kommt bei Waldenfels in mehreren Versionen, Nuancen zu Wort, wobei die Bedeutungen von Andersheit und Fremdheit immer wieder verschwimmen: 1. Die Fremdheit im Eigenen in mir selbst: Meine Reden, meine Taten und mein Empfinden sind niemals „völlig mein“ und unter meiner völligen Kontrolle. 123 5.2. Der Stachel des Fremden. Frage und Antwort 2. Das Eigene und das Fremde befinden sich in einem asymmetrischen Verhältnis zueinander. Das Selbst entsteht durch Abgrenzung und befindet sich damit auf der einen, das Fremde, das Andere, indes auf der anderen Seite. 3. Das Fremde ist nicht zuletzt das Intransparente und Unverfügbare, das nicht hierarchisch ist. Die Alteritäten überlagern sich, wie Waldenfels am Beispiel eines „arabischen Epileptikers“ erläutert, der einem europäischen Psychiater unter Umständen trotz seiner Differenz weniger fremd sein mag als ein „arabischer Normaler, obwohl er als Kranker eine spezifische Form der Fremdheit behält“. 3 4. Das Fremde ist niemals total fremd, sondern unter Umständen etwas, das bekannt war und vergessen bzw. verdrängt worden ist, wie Waldenfels unter Bezugnahme auf Freuds Aufsatz über das Unheimliche ausführt ( → -Kapitel 3). 4 Waldenfels begreift Fremdheit aber auch-- und hier kommt er sozialwissenschaftlichen Konzepten beträchtlich nahe (Kapitel 6)-- als etwas, das durch bestimmte soziale und symbolische Ordnungen und die von ihnen generierten Normen erzeugt wird. In diesen Bereich gehören auch Andersheiten wie Krankheit, Behinderung und ‚Fremdsprache‘ (das sind alle Sprachen, die nicht die Muttersprache sind). 5.2. Der Stachel des Fremden. Frage und Antwort Im Folgenden werden drei Abschnitte des Buches Der Stachel des Fremden, die unter der Kapitelüberschrift „Eigenes und Fremdes“ stehen, einer eingehenden und intensiven Lektüre unterzogen. Sie behandeln das (neue) Verständnis von Dialog, die Logik von Frage und Fragen, das Modell der Verflechtung von Fremdem und Eigenem, und eine Logik jenseits des klassischen Subjekt-Prinzips: Bei all diesen Prozessen gehe es mit Musil gesprochen darum, die „Festung Ich“ zu „schleifen“. 5 In den folgenden Abschnitten werden diese einzelnen Elemente Waldenfels’ Philosophie vorgestellt. Der Dialog spielt eine zentrale Rolle bei Überlegungen zum Eigenen und Fremden. Üblicherweise wird in der philosophischen Tradition der Dialog zumeist als 3 Waldenfels, Bernhard: Grenzen der Normalisierung. Studien zur Phänomenologie des Fremden 2. Frankfurt / Main: Suhrkamp, 1998. S. 137. 4 Waldenfels, Bernhard: Der Stachel des Fremden, Frankfurt / Main: Suhrkamp 1990, S. 8. 5 Waldenfels, Der Stachel des Fremden, S. 72. Musil, Robert: Tagebücher. Bd. II . Herausgegeben von Adolf Frisé. Reinbek: Rowohlt, 1976. S. 1148. 124 5. Bernhard Waldenfels: Fremdheit in der Moderne ein „Monolog mit verteilten Rollen“ verstanden. 6 In der klassischen Denkfigur der dialektischen Synthese von Einheit und Vielheit verschwindet, so lautet die Diagnose des Philosophen, zumeist die Differenz und die unifizierende Identität obsiegt. Die Synthese ist dabei lediglich eine gedankliche Operation, die die bleibende Differenz neutralisiert. „Die Versöhnung nimmt Züge des Gewaltsamen“ an. 7 Dabei wird der Dialog zumeist als ein Kampf oder als ein Streitgespräch mit einem anderen verstanden. Zwischen Sieg und Niederlage gibt es nichts Drittes: „Das Widerspiel von Rettung und Abdankung läßt die Möglichkeiten einer Wandlung außer acht.“ 8 Waldenfels möchte hingegen Formen des Dialogischen neu denken, und zwar von einer Theorie des Anderen her. Zunächst gibt es zwei ‚klassische‘ Variationen in eine Konversation einzutreten: wechselseitige diplomatische monologische Verlautbarung und agonaler diskursiver Wettbewerb. Darüber hinaus konstatiert Waldenfels die Dimension, dass das Gespräch mich verändert. Der Dialog wird dabei nicht so sehr als ein Mittel des Mit- und Gegeneinander-Sprechens verstanden, sondern er ist selbst ein Zweck, in dem ein ethisches Moment enthalten ist. Die Unterhaltung bedeutet über eine diplomatische Höflichkeit hinaus, die mit dem Ritual der Gastfreundschaft korrespondiert, wechselseitige Anerkennung und verändert meine Gesprächssituation insofern, als meine Position relational auf den anderen bezogen wird. Meine Meinung ist nicht länger der einzig mögliche Standpunkt in meiner Lebenswelt. Was uns, über alle Differenzen hinweg, gemeinsam ist, das ist die dialogische Situation selbst, in der wir uns befinden. Die Unterredung ist also ein Zwischen, das durch den Anderen seine Rahmung erhält. Nicht nur der Dialog zwischen zwei Personen impliziert die Möglichkeit von Veränderung, sondern auch zum Beispiel der inter- oder transkulturelle Dialog. Das Gespräch bedeutet also, sich auf das Abenteuer und die Erfahrung eines solchen Wandels einzulassen. Durch dieses Verständnis des Dialogischen wird die „Festung Ich“ geschliffen. Auch die Frage möchte Waldenfels neu thematisiert wissen, nicht im Sinne einer rhetorischen Frage oder der traditionellen Vorstellung, wonach alle Fragen automatisch zu beantworten seien. Frage soll nicht in diesem ‚zwanghaften‘ Vgl. Payne, Philipp: „The Symbiosis of Robert Musil’s Life and Work“. In: Payne, Philipp / Baratram, Graham/ Tihanov, Galen (Hg.): A Companion to the Works of Robert Musil. Rochester: Camden House, 2007. S. 38. 6 Waldenfels, Der Stachel des Fremden, S. 44. 7 Waldenfels, Der Stachel des Fremden, S. 45. 8 Waldenfels, Der Stachel des Fremden, S. 45. 125 5.2. Der Stachel des Fremden. Frage und Antwort Sinne verstanden werden, nämlich dass sie Antwort einfordert, erzwingt oder gar erpresst, wie das Roland Barthes nahegelegt hat: „Es gibt stets- […] einen Terrorismus der Frage; jede Frage impliziert eine Macht. Die Frage bestreitet das Recht auf Nichtwissen, das Recht auf ein unschlüssiges Begehren- […].“ 9 Etwas mit einem Fragezeichen zu versehen, heißt auch, etwas im Status des Offenen zu belassen. Vielmehr enthält die Frage einen kommunikativen Überschuss. Dieser besteht darin, dass sie einen diskursiven und symbolischen Raum öffnet, „daß sie die Selbstverständlichkeit dessen, was auf der Hand liegt, durchbricht und Bezugsstellen schafft, wo Antworten anknüpfen können. Nicht der Zustand des Nichtwissens ist entscheidend, sondern der gezielte Umgang mit dem Wissen und Nichtwissen, bei sich und beim Andern“. 10 Die Frage ist jene sprachliche Geste, die sich, wenigstens in der Diktion Waldenfels’, dem Anderen zuwendet und ihn in eben diesem Status bestätigt. Frage und Antwort sind indes strukturell verschieden. Während erstere stets etwas offen hält, bedeutet letztere zumeist einen mehr oder weniger endgültigen Schluss. Über Waldenfels hinaus gesprochen ist die Antwort potentiell mit der Macht verschwistert. Wer Antworten geben kann, der befindet sich in einem Modus sprachlicher und auch praktischer Selbstermächtigung, darauf beruht die Attraktivität des Antwortens. Im Gegensatz dazu kann ich mich auch in der Situation befinden, antworten zu müssen. Dann befinde ich mich in einer unterlegenen Situation. Alle traditionellen Formen der Politik basieren im Grunde genommen auf dem Primat und der Notwendigkeit, Antwort zu geben. Die ‚echte‘, das heißt die nicht besserwisserische rhetorische Frage, ist demgegenüber ausweichend und von eigentümlicher „Widerspenstigkeit“. Anders als die Antwort erhebt sie überdies keinen Wahrheitsanspruch. Die Suggestivfrage ist demnach, ähnlich wie und anders als die Inquisition, ein Sonderfall: Sie stellt eine Antwort dar, die sich als Frage maskiert, weil sie die Antwort bereits kennt. Wie wäre es, ein Buch mit lauter Fragesätzen zu schreiben? Das Fragen ist gegenüber dem Selbstverständlichen und der Normalität subversiv. Mit unüberhörbarem kritischen Seitenblick auf die Kommunikationstheorie von Jürgen Habermas, die Wahrheit als intersubjektive Übereinstimmung bestimmt, heißt es bei Waldenfels: 9 Vgl. Barthes, Roland: Das Neutrum : Vorlesung am Collège de France -. Herausgegeben von Eric Marty. Dt. Erstausgabe, 1. Aufl.: Frankfurt/ Main: Suhrkamp, 2005. S. 185. 10 Waldenfels, Der Stachel des Fremden, S. 46. 126 5. Bernhard Waldenfels: Fremdheit in der Moderne „Das Fragen durchlöchert die großen, auf Fragen der Wahrheit, Gerechtigkeit und Wahrhaftigkeit zugeschnittenen Geltungssphären.“ 11 5.3. Die Figur der Verflechtung Das neue Verständnis von Dialog und die positive Akzentuierung des Frage- Modus leiten fast unvermeidlich zur Bestimmung des Verhältnisses von Eigenem und Fremdem über. Denn beide kommunikativen Elemente implizieren eine andere Relation zwischen dem Eigenen und dem Fremden. Sie überschreiten die binäre Dyade, jene Form der Abhängigkeit, die auf dem Prinzip der zweiteiligen Opposition beruht. ‚Verflechtung‘ ist jene von Norbert Elias forcierte Denkfigur, 12 die die polare Gegenüberstellung, die ja auch ein Abhängigkeitsverhältnis beinhaltet, modifiziert und überschreibt. Sie ist, wie Waldenfels unter Berufung auf Merleau-Ponty hervorhebt, weder eine „Verschmelzung“ noch eine „Trennung“, sondern vielmehr eine „Abhebung im gemeinsamen Feld“. 13 Mit der Dekonstruktion Derridas hat sie gemein, dass sie die Binarität von Oppositionen überhaupt hinterfragt, in diesem Fall die zumeist für selbstverständlich genommene Trennung von Eigenem und Fremdem. Das Fremde, das Waldenfels an dieser Stelle mit dem Anderen in eins setzt, und nicht automatisch mit einer spezifischen kulturellen Differenz gleichsetzt, ist immer schon im Eigenen gegeben und vorausgesetzt. Es gibt in dieser Verflechtung immer eine Vorgängigkeit des Anderen ( → -Kapitel 4). Bei Sich-Sein ist immer schon ein Bei-sich-Sein im Anderen. Diese Asymmetrie ist indes reziprok: Sie hebt sich insofern auf, als sich jeder Mensch in der gleichen asymmetrischen Situation befindet. Die „Festung Ich“ ist insofern als ein höchst prekärer Selbstschutz gegenüber jener Zumutung zu sehen, die durch die Anwesenheit des Anderen gegeben ist. Um bei Musils Metapher zu bleiben, ließe sich sagen: Während also die Festung Ich sich gegen den Anderen als einen Feind eben dieses Ichs wappnet, ist dieser längst in den Innenraum eingedrungen, der durch die Festung verteidigt werden sollte. Die Formel von der Andersheit des Ichs hat mindestens zwei Bedeutungen. Die eine bezieht sich auf die fragile Beschaffenheit jenes Ichs, das eben anders ist als das klassische Subjekt der idealistischen Philosophie; die zweite bringt 11 Waldenfels, Der Stachel des Fremden, S. 47. 12 Elias, Norbert: Die Gesellschaft der Individuen. Frankfurt / Main: Suhrkamp, 1987. S. 43. 13 Waldenfels, Der Stachel des Fremden, S. 65. 127 5.3. Die Figur der Verflechtung die Figur des Anderen ins Spiel, durch die sich die Position des Ichs verschiebt und verändert. In Der Stachel des Fremden wird das mehrmals pointiert: „Es gibt keinen Sprecher und Täter, der sich als reiner Autor seiner Reden und Taten aufspielen könnte, es gibt kein Reden oder Tun, das nicht auch ein Antworten wäre.“ 14 Der zweite Halbsatz des Zitats liefert eine Erklärung für die Behauptung des ersten. Wir sind nicht die Urheber und Erfinder unserer Sätze, unsere Freiheit ist stets relational zu sehen. Wir befinden uns, ob wir wollen oder nicht, immer in jener Beziehung, die Waldenfels als „Antworten“ bezeichnet. Programmatisch heißt es an anderer Stelle: „Was hier in Zweifel rückt, ist die Vorstellung eines Cogito, das aus sich heraustritt, um nach den bestandenen Abenteuern der Andersheit zu sich selbst zurückzukehren.“ 15 Das ist in der Tat ein klassisches Narrativ der okzidentalen Philosophie und Literatur. Die Odyssee des Homer führt das klassisch vor: Das Ausfahrt-Abenteuer mit all seinen spannenden, amüsanten und gefährlichen Irrungen und Wirrungen dient letztendlich nur einem Telos, einem tieferen Sinn und Zweck: in der Heimat anzukommen. Dieses narrative Muster entspricht jenen Typen früher Prosa, die Bachtin als Chronotopoi bezeichnet hat: dem Abenteuerroman und der Autobiographie. 16 Der klassischen Narration liegt eine Matrix zugrunde, deren Kern darin besteht, ein kompaktes Ich zu konstituieren. Auch Hegels Phänomenologie des Geistes folgt einem narrativen Muster, das, wie wir gesehen haben, dem der Odyssee durchaus verwandt ist. Auf seinem Weg von der sinnlichen Gewissheit hin zur absoluten Vernunft durchläuft der Geist die verschiedensten Stadien, bis er bei seiner ‚wahren‘ Bestimmung in der Vernunft endet ( → -Kapitel 2). Im Unterschied zu dieser klassischen Meistererzählung bekommt hier ein gespaltenes Ich seinen Auftritt, das nie bei sich ankommt und das sich selbst immer tendenziell fremd bleibt. Dadurch werden aber Termini wie „Enteignung“ und „Aneignung“ eigentümlich relativiert, aber keineswegs völlig annulliert. Folgende Theoriebezüge werden von Waldenfels aufgerufen, um die Verflechtung von Eigenem und Fremden, von Ich und Anderem zu unterstreichen: 14 Waldenfels, Der Stachel des Fremden, S. 67. 15 Waldenfels, Der Stachel des Fremden, S. 53. 16 Bachtin, Michail: Formen der Zeit im Roman. Untersuchungen zur historischen Poetik. Deutsch von Michael Dewey. Frankfurt / Main: Fischer, 1989. S. 9-38. 128 5. Bernhard Waldenfels: Fremdheit in der Moderne ▶ Die Sozialtheorie von G. H. Mead, in der die Gespaltenheit von I and Me im Rahmen einer Theorie des Selbstgesprächs in den Mittelpunkt rückt. ▶ Philosophische Überlegungen von Daniel Lagache (zum Phänomen der verbalen Halluzination) und Merleau-Ponty (Chiasma), die den Kern der Ent-Persönlichung im Ich selbst ins Zentrum ihrer Überlegungen stellen. ▶ Die von Freud (Jenseits des Lustprinzips) und Melanie Klein ausgehende Theorie des englischen Psychoanalytikers D. W. Winnicott vom „Übergangsobjekt“, das die abwesende Mutter ersetzt und repräsentiert. Parallel dazu hat René Spitz das symbiotische Verhältnis von Mutter und Kleinkind als eine Form des Dialogs interpretiert. 17 ▶ Die von Lacan in seinem Aufsatz über das Spiegelstadium ( → -Kapitel 7) erstmals herausgearbeitete Spaltung des Subjekts, „das sich nur auf dem Umweg über imaginäre Spiegelungen und symbolische Ordnungen aufbaut“. „Auch hier tritt die Andersheit bereits in der intrasubjektiven Sphäre auf, so bei der frühkindlichen Identifizierung mit dem eigenen Spiegelbild, in dem das Kind sich zugleich wieder erkennt und verkennt.“ 18 ▶ Mit Blick auf (Lévinas und) Derrida heißt es: „Die Zeitlichkeit des eigenen Daseins bedeutet, daß das Selbstbewusstsein als die Urstätte des Sinnes immer schon sich selbst gegenüber im Verzug ist; die Gegenwart ist immer schon mit Nicht-Gegenwart, das Selbe mit Anderem durchsetzt.“ 19 Der / die / das Andere trägt ein Moment des Inkommensurablen in sich. ▶ Bachtins Theorie der Vielstimmigkeit der Sprache. Das (eigene) Wort befindet sich immer schon auf der Grenze zwischen Eigenem und Fremdem. Die Redevielfalt im Roman ist ein (Wechsel-)Spiel zwischen beiden, miteinander verflochtenen Momenten. Im Zwischenreich eines solchen Dialogs sind als dramatische Personen ein idealer Autor und ein idealer Leser angesiedelt. 20 17 Waldenfels, Der Stachel des Fremden, S. 54. 18 Waldenfels, Der Stachel des Fremden, S. 54 f. 19 Waldenfels, Der Stachel des Fremden, S. 55. 20 Waldenfels, Der Stachel des Fremden, S. 55 f. 129 5.4. Das Fremde als Springpunkt von Erfahrung 5.4. Das Fremde als Springpunkt von Erfahrung Wenn also das Eigene und das Fremde im Sinne dieser und anderer Theorien miteinander untrennbar verflochten sind, so bildet dieses „Feld“ die Bedingung der Möglichkeit der Erfahrung des bzw. mit dem Fremden. Waldenfels spricht in diesem Zusammenhang von „Erfahrungsbereichen“ und „Erfahrungsgehalten“. Eine zentrale These ist, dass das Fremde und das Fremdartige- - diese Unterscheidung adaptiert Waldenfels von Alfred Schütz’ Unterscheidung zwischen Neuem und Neuartigem 21 ( → -Kapitel 6)-- Erfahrung in einem existentiellen Sinn eröffnen. Gerade darin bestehen Reiz und Risiko des Fremden als eines Neuen, Ungewohnten und Unbekannten, dem sich schon die klassischen Helden von Mythos und Sage zu stellen haben. Ohne die Konfrontation mit Unvertrautem gibt es keine Erfahrung. Waldenfels’ Untersuchung liefert mehrere Definitionen des Fremden und des Fremdartigen, aber alle haben miteinander gemeinsam, dass sie das Moment der Erfahrung in sich tragen. In diesem Kontext ist die so genannte „Kette des Fremden“ von Wichtigkeit. Der Autor bedient sich zweier literarischer Beispiele für seine Definition dieser Formulierung: Eduard Mörikes Gedicht Peregrina und Albert Camus’ L’Etranger. In beiden steht die Erfahrung der Entstehung von Fremdheit im Zentrum, wenn wie bei Mörike die Geliebte zur wilden unverständlichen Fremden wird oder der Held sich in einem symbolischen Raum verliert, der ihn von sich zu entfernen scheint: „Diese Kette [des Fremden, A. v. m.] ist dort festgemacht, wo Lebensbereiche und Lebenswelten im Persönlichen wie im Gesellschaftlichen ihre Vertrautheit verlieren.“ 22 Waldenfels unterstreicht die prekäre Rolle der Wissenschaft, die alles vertraut zu machen trachtet. Wie könnte, fragt der Autor, ein „Wissen und Handeln aussehen- […], das sich Fremdem aussetzt, ohne es einzugemeinden“. 23 Das Fremde wird also in dieser Konzeption nicht ethnisch substanzialisiert und ‚verdinglicht‘, sondern wie bei Alfred Schütz lebensweltlich und sozial gedacht ( → - Kapitel 6) als das, was eine scheinbar selbstverständliche Ordnung durchbricht: „Das Fremdartige, das die Grenzen bestimmter Ordnungen überschreitet, setzt eine bestimmte Form der Normalität voraus.“ 24 21 Waldenfels, Der Stachel des Fremden, S. 59; Schütz, Alfred: Das Problem der Relevanz. Frankfurt/ Main: Suhrkamp, 1982. S. 108. 22 Waldenfels, Der Stachel des Fremden, S. 58. 23 Waldenfels, Der Stachel des Fremden, S. 59. 24 Waldenfels, Der Stachel des Fremden, S. 59. 130 5. Bernhard Waldenfels: Fremdheit in der Moderne Der Fremde wird als „abartig“, als abweichend, eben als deviant wahrgenommen - diese Wahrnehmung ist immer soziokulturell gerahmt. Fremd, das können unter bestimmten Umständen das Kind, der ‚Wilde‘, der ‚Irre‘, der ‚Narr‘, die Frau, aber auch das anthropoide Tier, der Automat sein: „Diese exemplarischen Figuren bevölkern auch das Unbewußte und suchen den Menschen auf vielfache Weise im privaten und öffentlichen Leben heim.“ 25 Ein solches Verständnis von Fremdem schafft die Möglichkeit, die westliche Moderne-- und Waldenfels tut dies unter Berufung auf Robert Musils epochalen Roman Der Mann ohne Eigenschaften-- als jene Form der Kultur zu beschreiben, in der jedwede ‚normale‘ Ordnung ihre Selbstverständlichkeit eingebüßt hat. Gleichzeitig ist jeder Versuch, eine solche zu re-etablieren, zum Scheitern verurteilt. Der von Musils Romanfigur propagierte „Möglichkeitssinn“ wird dabei zum programmatischen Erfahrungsmodus, mit Fremdem umzugehen. Mit Möglichkeitssinn meint Waldenfels im Anschluss an Musil, dass die Wirklichkeit ganz anders sein könnte, als es die normalisierte Wahrnehmung des Gegebenen, der Sinn fürs Wirkliche, annimmt. In gewisser Weise lässt sich sagen, dass Möglichkeitssinn und Wirklichkeitssinn ihre Plätze tauschen. Moderne wäre also eine dynamische, aber auch fragile prozessuale Anordnung von Kultur, eine Infragestellung des Bekannten und Vertrauten, in der das Fremde auf der Tagesordnung steht, und zwar nicht nur in Gestalt der Andersartigkeit der Anderen, sondern vor allem auch in der Andersartigkeit des Eigenen. 26 5.5. Aneignung und Enteignung Das Fremde und Fremdartige werden, wie das Unheimliche Freuds ( → -Kapitel 3), als etwas Ambivalentes erfahren. Es ist ebenso bedrohlich wie verlockend und zieht Prozeduren wie Eindämmung, Ausschließung und Einschränkung, aber auch solche der Entgrenzung und Auslieferung nach sich. Diese kulturellen Reaktionen, die er als „Überreaktion und Gegenreaktion“ bezeichnet, nennt der deutsche Philosoph Aneignung und Enteignung. Sie sind Modi der Bändigung von Fremdheit. Aneignung wie Enteignung setzen Waldenfels zufolge zwei Momente voraus: 25 Waldenfels, Der Stachel des Fremden, S. 60. 26 Vgl. das Kapitel über Waldenfels und Musil in: Müller-Funk, Wolfgang: Die Dichter der Philosophen. München: Fink, 2013. S. 171-180. 131 5.5. Aneignung und Enteignung ▶ Das Eigene und das Fremde werden als etwas vollkommen Getrenntes erfahren. ▶ Die Zersplitterung der physischen und sozialen Welt, der Verlust ihrer (angenommenen) früheren Einheitlichkeit. Aneignung bedeutet: „Fremdes wird bewältigt, indem es am Eigenen gemessen wird, als Dublette (Alter Ego), als Abwandlung.“ Dieser Egozentrismus („possessiver Individualismus“) ist insbesondere in der okzidentalen wissenschaftlichen Rationalität am Werk, die im Sinne einer klaren cartesianischen Unterscheidung von Innen und Außen operiert, die auch die Methoden und das Maß der Empathie bzw. der Nicht-Empathie bestimmen. 27 Die Integration der zersplitterten Welt vollzieht sich in einem „totalen, allumfassenden Denkraum“. Der Logozentrismus, das Monopol der Vernunft, verbindet sich in dieser zentralen Aneignungsform des Fremden mit der Logozentrik; zusammen entsteht ein Komplex der Ethnozentrik. Waldenfels teilt also die Kritik an problematischen Aspekten der klassischen okzidentalen Episteme und verbindet diese mit der Praxis des Kolonialismus auf der politischen Ebene. 28 Die Enteignung bedeutet demgegenüber Auslieferung an das Fremde. Für Waldenfels stellen all jene romantischen Strategien des détachment und depaysement (Lévi-Strauss) nur die Kehrseite der Aneignungs-Strategien dar. Dabei wird das Eigene und Eigenartige durch das Fremde und Fremdartige ersetzt, das nunmehr als eine rettende Alternative zur vertrauten Kultur erscheint. Aber auch diese Technik der Enteignung basiert demzufolge auf einer statischen und binären Gegenüberstellung von Eigenem und Fremdem. Waldenfels kommentiert das an einer Stelle recht trocken, wenn er meint: „Doch ein europäischer Buddhist bleibt ein Europäer.“ 29 Erfahrung als Auseinandersetzung etabliert eine „Zwischensphäre“ als ein „Zusammenwirken mit Fremdem“. In diesem Prozess kommt es zu „Erfahrungsanordnungen“, die das Fremde strukturieren, normalisieren, filtern und adaptieren. Das Fremde als ein kostbares Gut, das unter unserem Griff gleichsam schmilzt. Aneignung und Enteignung setzen immer schon eine Binarität, eine Trennung von Fremden und Eigenem voraus, eine Kluft, die durch die Aneignung des Fremden bzw. durch die Selbstaneignung des Selbst überwunden werden soll. Im phänomenologischen Modell befinden wir uns immer schon in Bezügen, in 27 Waldenfels, Der Stachel des Fremden, S. 61. 28 Waldenfels, Der Stachel des Fremden, S. 61 ff. 29 Waldenfels, Der Stachel des Fremden, S. 63. 132 5. Bernhard Waldenfels: Fremdheit in der Moderne die Fremdheit eingelagert ist. Von den drei Elementen der Beziehung der dialogischen Situation (Ich, Du, die Beziehung) wird in dieser Denkwende das unscheinbare Und der Beziehung konstitutiv. Dieser programmatische Blickwechsel hat drei Dimensionen. Sie beziehen sich allesamt auf einen Modus von Erfahrung, der ohne „Andersheit“ nicht denkbar ist. Sie unterscheiden sich darin, dass ihr Ausgangspunkt verschieden ist, sie gehören letztendlich zusammen: 1. Die Andersheit des Anderen. Hierbei kommt das Lacan-Theorem zum Tragen, das folgendes besagt: Sprache ist immer etwas für jemanden, bevor sie etwas bezeichnet. Dialog ist und bedeutet Verflochten-Sein im Wechselspiel, Polylog und Vielstimmigkeit (Bachtin). 2. Die Andersheit des Ich: Es gibt keine Stimme, die für sich spricht. Aus uns spricht immer ein Anderer, eine Andere. Hier bekommt die Antwort noch eine ganz andere Dimension als die des Schließens. Sie meint Bezugnahme auf eine andere Person: „Das Ich findet nie ganz und gar seinen Ort und ist somit nie völlig es selbst, sondern immer auch ein anderes.“ 30 Waldenfels spricht vom „Spalt, der das ich und somit das Subjekt durchzieht“. 3. Die Andersheit der fremden Ordnung will Waldenfels als ein „Grenzspiel“ verstanden wissen. Intersubjektivität, Intrasubjektivität und Interdiskursivität: das sind jene neuen Kulturtechniken und Momente, die fremde Ordnung „zu erreichen“, sie aber niemals anzueignen oder zu annektieren. Zum Schluss des Kapitels erinnert der Autor mit Seitenblick auf die fortdauernden philosophischen Debatten seit den 1990er Jahren daran, dass das moderne Subjekt eine Doppelbedeutung hat, als selbstverantwortliches Subjekt und als hypokeimenon, als ein Unterworfenes. In seinen Reflexionen für und wider das „Subjekt“ erwähnt er die Verteidiger einer „harten“ Subjekt-Konzeption: Diese kritisieren etwa im Gefolge von Jürgen Habermas den „Tod des Subjekts“ als einen Verzicht auf Verantwortung, als eine Auslieferung an fremde Mächte, als eine Auflösung errungener Formen, als Regression und Ästhetizismus. Verteidigt werden dabei Ideen wie Autopraxis und Autonomie. Waldenfels löst diesen Widerstreit nicht auf, sondern liefert nur einen indirekten Hinweis, wenn er Intersubjektivität nicht als ein Vis-à-vis autonomer Subjekte, sondern als eine Zwischensphäre, als ein Wechselspiel von Anspruch 30 Waldenfels, Der Stachel des Fremden, S. 67. 133 5.5. Aneignung und Enteignung und Antwort begreift und damit versucht, diese Opposition von Autonomie und Heteronomie zu unterlaufen. 31 Das Fremde wirft, so ließe sich Waldenfels’ Ansatz resümieren, Fragen auf, die sich nicht im klassischen Sinn eindeutig beantworten lassen. Die Frage konstituiert einen Dialog, der zeigt, dass es Antworten gibt, die insofern die Struktur einer Frage haben, insofern sie etwa offen lassen oder halten. Waldenfels weiß aber auch, dass es Antworten auf den Fremden und das Fremde geben muss, wenn die Selbstverantwortung des Menschen nicht beseitigt werden soll. Die Heteronomie, die Abhängigkeit von Anderem, setzt nicht die Verantwortung außer Kraft, die Fähigkeit zu handeln und zu denken. Aber diese relationale Freiheit vollzieht sich stets im Horizont des Alteritären. 31 Waldenfels, Der Stachel des Fremden, S. 74 f. 134 6. Georg Simmel und Alfred Schütz 6. Georg Simmel und Alfred Schütz: Fremdheit in soziokulturellen Bezügen und in der Lebenswelt. Mit einem Exkurs zu Carl Schmitt und Werner Sombart sowie zu gegenwärtigen Ansätzen in der Soziologie 6.1. Vorbemerkung Im folgenden Kapitel kommen sozialwissenschaftliche Diskurse zur Sprache, die historisch betrachtet bis in die Anfänge der modernen Soziologie zurückreichen und die ihre Fortsetzungen in den 1920er und 1930er Jahren gefunden haben. Behandelt werden Autoren wie Georg Simmel und Alfred Schütz. Diskutiert werden aber auch zwei Autoren, die zu Recht als politisch problematisch gelten, deren Texte kritisch zu sichten aber doch sinnvoll ist, zumal beide seit den 1980er Jahren auch in politisch ganz anders orientierten Diskursen wieder aufgegriffen wurden. Ihre Namen tauchen in fast allen gegenwärtigen sozialtheoretischen Abhandlungen zum Thema des Fremden auf. Die Rede ist von Carl Schmitt und Werner Sombart. Mit Rudolf Stichweh und Kai-Uwe Hellmann kommen zwei deutsche Theoretiker zu Wort, die unübersehbar von der Luhmannschen Systemtheorie und ihrem radikalen Holismus beeinflusst sind. In ihr erscheint der Fremde hauptsächlich als eine bloße Systemgröße. Damit ist er eine mitunter überaus gewichtige Figur, die zum einen durch die Stigmatisierung deplatziert ist, zum andern aber gerade deshalb eine maßgebliche Funktion in der Schaffung und Erhaltung sozialer Gefüge innehat. 6.2. Einschluss im Ausschluss: Die Figur des Fremden bei Georg Simmel Wie der Luzerner Soziologe Rudolf Stichweh anmerkt, sind in den Jahren zwischen 1890 und 1945 eine Reihe von Texten publiziert worden, „für die sich heute der Name einer Soziologie des Fremden anbietet“. 1 In diesem Zusammenhang fallen unter anderen auch die Namen von Georg Simmel (1858-1918), 2 Robert Ezra 1 Stichweh, Rudolf: Der Fremde. Studien zur Soziologie und Sozialgeschichte. Berlin: Suhrkamp, 2010. S. 9. 2 Vgl. auch: Geenen, Elke M.: Soziologie des Fremden. Ein gesellschaftstheoretischer Entwurf. Wiesbaden: Springer, 2002. S. 39-54. Geenen bezieht sich auch auf Sombart und Tönnies. 135 6.2. Einschluss im Ausschluss: Die Figur des Fremden bei Georg Simmel Park (1864-1944), Werner Sombart (1863-1941) und Alfred Schütz (1899-1959). Sie gelten als zentrale Stichwortgeber in einer Disziplin, für die das Thema nicht nur wie geschaffen schien, sondern auch durch die die Figur eine bedeutsame kulturanthropologische Weitung erfuhr. Der Text von Georg Simmel, der neben Karl Marx und Alfred Weber als einer der Mitbegründer der deutschen Soziologie gilt, steht dabei zeitlich am Anfang, erschien er doch bereits im Jahre 1908. Mit der Figur des Fremden hat sich Simmel, der nicht zuletzt auch als Theoretiker des Geldes, der Mode und der Geschlechter hervorgetreten ist, Horst Stenger zufolge „immer wieder beschäftigt, mit Fremdheitserfahrungen kaum, jedenfalls nicht mit einem deutlich konturierten systematischen Interesse“. 3 Diese Ansicht ist weit verbreitet und zugleich erstaunlich, schon deshalb, weil sie die systematische Absicht hinter der essayistischen Form übersieht. Mit Simmels kultursoziologischem ‚Gründungstext‘ über den Fremden liegt nämlich eine schwergewichtige und äußerst verdichtete Abhandlung vor, die sowohl die Figur und Funktion des Fremden als auch dessen Erfahrungen in Augenschein nimmt. Woran sich die aktuelle Soziologie reibt, ist womöglich jene unsystematische, ‚essayistische‘ Verfahrensweise eines ihrer Gründungsväter. Dabei bleibt außer Acht, welche reflexive, analytische Leistung und welche Plastizität durch diese kreisende und assoziative Denkbewegung möglich sind. Gerade im Hinblick auf ein überaus komplexes und paradoxes Phänomen wie Fremdheit kann dieses Verfahren neue Bedeutungskontexte eröffnen. Zentrale These bei Simmel ist, dass sich Fremdheit als eine soziale Beziehung und Position begreifen lässt. Dieses Alteritätskategorie ist demzufolge keine substanzielle Eigenschaft, sondern relational und darüber hinaus kontextabhängig. Ähnlich wie in den Texten von Alfred Schütz und Robert Ezra Park 4 kommt dabei auch die Binnenperspektive des Fremden, also die Fremdheitserfahrung zur Sprache. Wie wir gesehen haben, macht es in Hinblick auf das Thema dieses Buches einen erheblichen Unterschied, ob man diese aus der subjektiven Perspektive des- und derjenigen, der / die die Erfahrung von Fremdheit und die damit verbundene Zuschreibung von außen erfährt, erlebt, oder ob man diese aus einer Außenperspektive darstellt. 3 Stenger, Horst: „Soziale und kulturelle Fremdheit. Zur Differenzierung von Fremdheitserfahrungen am Beispiel ostdeutscher Wissenschaftler“. In: Zeitschrift für Soziologie, Jg. 27, Heft 1. S. 18-38, hier S. 18. 4 Vgl. Makropoulos, Michael: „Robert Ezra Park. Modernität zwischen Urbanität und Grenzidentität“. In: Korta, Tobias F./ Niekisch, Sibylle (Hg.): Culture Club. Klassiker der Kulturtheorie. Bd. I. Frankfurt / Main: Suhrkamp, 2004. S. 48-66. 136 6. Georg Simmel und Alfred Schütz Simmels zentraler Text über den Fremden findet sich in einem Werk, das auf Grund seines Titels ein systematisches Vorgehen suggeriert: Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung. Bei genauerem Hinsehen erweist sich dieses Werk aber als überaus heterogen und enthält viele Themen, die Simmel in knappen, essayistisch behandelten Texten behandelt hat: Streit und Geheimnis, Raum und Erbamt (Vererbung eines herrscherlichen Amtes), Schmuck und Adel, Treue und Dankbarkeit, soziale Stratifikation, Individualismus und Gruppe. Zusammengehalten wird das Buch durch eine systematische methodische Fragestellung, in der die Soziologie als eine Wissenschaft von der Vergesellschaftung begriffen wird. Dieser prozessual gedachte Vorgang wird dabei sowohl im Lichte der Sozialisation wie auch der Kulturalisation definiert. Was Simmel thematisiert und ihn für die gegenwärtige Kulturanalyse attraktiv macht, ist der Umstand, dass soziale und kulturelle Phänomene hier immer im Zusammenhang mit Beziehungen und Positionierungen untersucht werden. Der knappe, überaus dichte Text über den Fremden findet sich im neunten und vorletzten Kapitel des Buches. Es ist der dritte Exkurs im Rahmen von Simmels Überlegungen zu Raum und Räumlichkeit. Raum versteht Simmel dabei nicht in einem vornehmlich physischen oder territorialen Sinn, sondern als ein soziokulturelles Gestaltungsprinzip. Der Raum ist nur dann ein menschlicher Raum, wenn er bestimmte soziale und kulturelle Funktionen erfüllt, wenn er von Menschen nach ganz bestimmten Regeln bewohnt und benutzt wird. Der Raum ist ein wesentlicher Faktor dessen, was menschliche Kultur und Gesellschaft möglich macht und plastisch verdichtet. Der Fremde wird dabei nicht durch bestimmte ‚essentialistische‘ Eigenschaften, sondern durch seine Positionierung in einem gegebenen soziokulturellen Raum bestimmt. Jede Veränderung dieses Raumes kann die jeweilige Position von Menschen verändern. Wenn sich ein sprachlich, ethnisch oder religiös zunächst heterogener Raum tendenziell homogenisiert (wie das im Fall der europäischen Nationsbildungen der Fall war und ist), dann werden Menschen, ohne dass sie sich selbst geändert haben, plötzlich Fremde, zumindest aber Marginalisierte, die sich am Rand einer symbolischen Raumordnung oder gar außerhalb von ihr befinden. Umgekehrt ist es natürlich ebenfalls denkbar, dass Menschen in einem gegebenen Raum ihre deplatzierte Position aufgeben und sich plötzlich in einer anderen, günstigeren sozialen Position befinden. Simmels Ausführungen über den Fremden sind also von vornherein in eine Theorie des Spatialen eingebettet. Diese geht davon aus, dass sich, systemtheoretisch gesprochen, in modernen Gesellschaften verschiedene Dimensionen des 137 6.2. Einschluss im Ausschluss: Die Figur des Fremden bei Georg Simmel Räumlichen ausdifferenzieren. Er unterscheidet zwischen physischen, sozialen, symbolischen und imaginären Räumen. Darüber hinaus betont Simmel den engen Zusammenhang zwischen dem Raum und seinen Beschränkungen: Konstitutives Bestimmungsmerkmal des Raumes ist seine Grenze. Fremde sind Menschen, die sich außerhalb oder an den Rändern eines gegebenen sozialen und symbolischen Feldes befinden. Nicht zuletzt denkt Simmel dieses Makrophänomen raumzeitlich, das heißt als einen bewegten modus vivendi. Dieser Punkt ist für sein Verständnis des Fremden ganz entscheidend. Denn ähnlich wie bei Chamisso ( → - Kapitel 3.3.) sind Fremde für ihn Menschen, die nicht in verfestigte Raumordnungen passen. Simmels Text akzentuiert in seinem Konzept des Fremden das Moment der Bewegung: Fremde Menschen sind dadurch charakterisiert, dass sie wandern: Sie zeichnen sich durch eine „Gelöstheit von jedem gegebenen Raumpunkt“ aus und stehen damit im Gegensatz zu jenen Fixierungen, die für das Phänomen des Raumes charakteristisch sind. Der und die Fremde verkörpern also die Einheit beider Bestimmungen. Er und sie sind nicht im Raum fixiert und befinden sich zugleich im Status innerer wie äußerer Beweglichkeit. Generell gesprochen ist das Verhältnis zum Raum zum einen die notwendige Bedingung, zum anderen aber das „Symbol“ des „Verhältnisses zu Menschen“. Auf die Figur des und der Fremden umgelegt, bedeutet dies, dass fremde Menschen ihr Verhältnis zu den Räumen, in die sie einwandern, ex negativo bestimmen. Dies geschieht durchaus unfreiwillig: Flucht vor gewaltpolitischer Verfolgung, Krieg oder Vertreibung sind klassische Formen von krasser Fremdbestimmung. In dem Raum, den sie neu betreten, sind sie oft durch den Abstand zu den von anderen, den Einheimischen, bewohnten Gefilden bestimmt und befinden sich auch symbolisch außerhalb dieser. Ihnen wird von den Lokalen ein Platz zumeist am Rande zugewiesen. Bisher haben wir das Fremde unter anderem aus kognitiver Perspektive (das Unbekannte), als Kategorie der Differenz, als Produkt systematischer psychischaffektiver Verdrängung, als Gegensatz zur ‚Heimat‘ und in vielen weiteren Konstellationen kennengelernt. Simmel thematisiert das Fremde indes als eine höchst widerspruchsvolle Erscheinung, in der Kategorien wie Nähe und Ferne eine zentrale Rolle spielen. Der Soziologe unterscheidet in seinem Essay die permanenten von den potenziellen Wandernden. Erstere führen ein nomadisches Leben, die anderen haben oftmals provisorisch an einem Ort angesiedelt, sind aber ihrer ganzen Haltung nach mobil. Die Übergänge sind dabei fließend und wir dürfen auch nicht ver- 138 6. Georg Simmel und Alfred Schütz gessen, dass die Räume, von denen die Rede ist, nicht nur physisch-reale, sondern auch symbolische und virtuelle sind. Beide Typen gehören „von vornherein“ nicht in die räumliche Ordnung, in der sie sich befinden. Vor allem für die Menschen, die sich nach ihrer Wanderung niederlassen und eingerichtet haben, ist dies markant. Sie sind einst in diesen Raum gekommen und trugen Qualitäten in ihn hinein, die nicht aus diesem stammen und stammen können: Die Einheit von Nähe und Entferntheit, die jegliches Verhältnis zwischen Menschen enthält, ist hier zu einer, am kürzesten so zu formulierenden Konstellation gelangt: Die Distanz innerhalb des Verhältnisses bedeutet, daß der Nahe fern ist, das Fremdsein aber, daß der Ferne nah ist. Denn das Fremdsein ist natürlich eine ganz positive Beziehung, eine besondere Wechselwirkungsform; die Bewohner des Sirius sind uns nicht eigentlich fremd-- dies wenigstens nicht in dem soziologisch in Betracht kommenden Sinn des Wortes--, sondern sie existieren überhaupt nicht für uns, stehen jenseits von Fern und Nah. Der Fremde ist ein Element der Gruppe selbst, nicht anders als die Armen und die mannigfaltigen, inneren Feinde-- ein Element, dessen immanente und Gliedstellung zugleich ein Außerhalb und Gegenüber einschließt. 5 Nähe und Distanz sind zwei Momente räumlicher Verdichtung, die das Verhältnis von Menschen zueinander bestimmen. Dabei ist zunächst ganz klar, dass die Fremden sich in diesem Verhältnis auf dem Pol der Distanz befinden, während die Heimischen in einem prinzipiellen Nähe-Verhältnis zueinander stehen. Sie können jedoch unter andere, ganz spezifische Ausschlussbedingungen fallen, wenn sie zum Beispiel Arme, innere Feinde oder aber auch, im Falle traditioneller patriarchalischer Gesellschaften, Frauen sind. Wie schnell sichtbar wird, hat die Nähe-Ferne-Relation noch eine andere konstitutive Bedeutung: Durch den Fremden, der plötzlich Teil unserer Gruppe geworden ist, rückt das Ferne in die Nähe und das Nahe, das sich durch die Anwesenheit von Fremden gleichsam ‚verfremdet‘, in die Ferne: Diese Konstellation ist für Simmel das entscheidende, Angst auslösende Charakteristikum des Fremden, das uns zu nahe kommt. Das Fremde in seiner persönlichen wie unpersönlichen Dimension ist im Sinne einer Theorie der Vergesellschaftung, wie sie Simmel vor Augen steht, ein maßgeblicher, ja konstitutiver Faktor. Ohne Fremdheit gäbe es nicht jenes Zusammengehörigkeitsgefühl, das sich durch die Abgrenzung vom Fremden her- und einstellt. Das 5 Simmel, Georg: Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung, Gesamtausgabe. Herausgegeben von Rammstedt, Ottheim, Bd. 11. Frankfurt / Main: Suhrkamp, 1992, S. 765. Vgl. Geenen, Soziologie des Fremden, S. 43. 139 6.2. Einschluss im Ausschluss: Die Figur des Fremden bei Georg Simmel ist insofern ein provokanter Befund, als sich die Frage stellt, ob die Organisation von Zusammenhalt und Solidarität überhaupt ohne jene Figur möglich ist, die sich laut Simmel außerhalb unserer Gemeinschaft oder an ihren Rändern befindet. Gerade weil sich die / der Fremde in dieser markanten Position befindet, gehört sie auf höchst paradoxe Weise zu jenem Raum, der sie ausschließt; hat sie, obschon exterritorial oder peripher, eine zentrale Bedeutung für die soziokulturelle Konstruktion menschlicher Räume. Simmel spricht in diesem Zusammenhang von „Wechselwirkungsform“. Nur wenn der / die Fremde eine solche Funktion einnimmt, ist er / sie streng betrachtet ein Fremder oder eine Fremde. Der Autor verweist zum Beispiel auf hypothetische Bewohner anderer Sonnensysteme und statuiert, dass die möglichen vielleicht menschenähnlichen Lebewesen auf dem Sirius soziologisch und kulturell für uns gar nicht existieren, da sie jenseits des Verhältnisses von Nah und Fern stehen. Das bedeutet aber auch, dass Nah und Fern keine arretierten Größen darstellen, sondern die Plätze tauschen können. Ein Mensch der Diaspora ist stets bzw. zunächst randständig in der Kultur, in die er einwandert, aber der einheimische Mensch findet sich in der diasporischen Partialkultur unversehens in der Position jener Deplatziertheit, die für den Fremden eigentümlich ist. Das lässt sich auch umkehren: Jede marginale ‚Platzzuweisung‘ erzeugt Fremdheit. Diese ist demzufolge nicht angeboren, sondern Ergebnis sozialer Platzierungen, mit denen symbolische Markierungen einhergehen. Im Unterschied zum Fremden, der in der Ferne bleibt, kommt uns der Mensch, der in unsere Kultur einwandert, etwa der Exilant, nahe. Dadurch wird er ein widersprüchliches Element der Gruppe selbst, so wie die Armen, die Feinde, oder die Frauen bzw. Männer. Unabhängig von seinem jeweiligen Fremdheitsattribut (Kultur, Sprache, Geschlecht, Religion, Hautfarbe) gehören der Flüchtling, der Migrant oder der Vertriebene genau deshalb zu einer Gruppe bzw. zu einer Kultur, weil sie scheinbar nicht dazugehören. Ihre räumliche Positionierung schließt ein „Außerhalb“ und ein „Gegenüber“ mit ein. Die klassische oder vormoderne Figur des Fremden ist Simmel zufolge der Händler, der Tauschagent. Aber auch in den hypermodernen Gesellschaften unserer Tage sind diese Funktionen enorm wichtig, wenn man dem Handel das Gastgewerbe und bestimmte Dienstleistungsfunktionen, wie die elektronische Datenübertragung, hinzufügt. In vorkapitalistischen Eigenbedarfs-Ökonomien bedarf es nur der Händler: für Produkte, die in einem bestimmten Raum nicht erzeugt werden und von außen importiert werden. Dabei lassen sich je nach Entwicklungsgrad von Ökonomie und Handel zwei Typen unterscheiden. Der eine ist der Fremde als Händler, der aus seiner (bishe- 140 6. Georg Simmel und Alfred Schütz rigen) Heimat Produkte beschafft, die es in der anderen Kultur nicht gibt. Diese Wanderbewegung entspricht der Bewegung des Hin- und Herpendelns. Der andere ist der Fremde als Händler, der Orte aufsucht, in denen er selbst fremd ist, um dort Gegenstände zu beschaffen. 6 Der Händler erscheint hier als Agent und Repräsentant fremder Produkte schlechthin: „Die Position verschärft sich für das Bewusstsein, wenn er statt den Ort seiner Tätigkeit wieder zu verlassen, sich an ihm fixiert.“ 7 Er wird zum Träger des Zwischenhandels, „Supernumerarius“ in einem Kreis etablierter gesellschaftlicher Beziehungen, die vorkapitalistisch durch Grund und Boden sowie durch Handwerk charakterisiert sind. Seiner ursprünglichen gesellschaftlichen Position nach ist der Fremde kein Bodenbesitzer oder Handwerker. Sein Verhältnis zum territorialen Raum ist nämlich unsicher, denn seine Position ist zwar eine wichtige, aber immer deplatzierte. Darin besteht seine für die jeweilige Gemeinschaft durchaus wichtige, womöglich lebensnotwendige Sonderstellung. Komplexere Gesellschaften bedürfen eines Netzwerks von Händlern. Dabei handelt es sich also um keine Gefälligkeit gegenüber der betreffenden Gesellschaft, sondern der Fremde erfüllt eine maßgebliche ökonomische Funktion, die mit Tausch, Handel und Geld konnotiert ist. Diese Faktoren sind wiederum imstande, Misstrauen und Neid hervorzubringen. Beispiele für diesen traditionellen Typus des fremden Händlers liegen auf der Hand: die europäischen Juden, die Griechen und Armenier im Osmanischen Reich, die Chinesen und Inder in mittlerweile nahezu allen Erdteilen dieser Welt. In seiner Bestimmung der Rolle des Fremden kommt Simmel auch auf einen ganz anderen Punkt zu sprechen, auf das, was er die Objektivität des Fremden nennt. Diese ergibt sich für ihn aus der Sonderstellung, die er in dem gegebenen Raum einnimmt. Unvoreingenommenheit meint, dass er in der betreffenden Gruppe oder Gemeinschaft gering verwurzelt ist und deshalb nicht in die subjektiven Gegensätze der heimischen Menschen verstrickt ist. Diese Neutralität ist also keine ‚natürliche‘ Eigenschaft, sondern ergibt sich aus seiner widerspruchsvollen Position im soziokulturellen Gewebe. Objektivität bedeutet nicht einfach bloßer Abstand und Unbeteiligtheit, sondern „ein besonderes Gebilde aus Ferne und Nähe, Gleichgültigkeit und Engagement“. 8 6 Vgl. die Figur des dämonischen Optikers Coppola in E. T. A. Hofmanns Erzählung „Der Sandmann“ (Kapitel 3). 7 Simmel, Soziologie, S. 765 f. 8 Simmel, Soziologie, S. 766 f. 141 6.2. Einschluss im Ausschluss: Die Figur des Fremden bei Georg Simmel Das Beispiel, das Simmel anführt, entnimmt er der Geschichte italienischer Renaissance-Städte, die häufig Richter von auswärts beriefen, um ihre Unstimmigkeiten und Streitfälle zu schlichten. Ganz generell lässt sich dabei an Schiedsrichterfunktionen denken, wie wir sie auch vom Fußball oder aber der internationalen Diplomatie her kennen. Unter bestimmten Bedingungen wird der Fremde auf Grund seiner sozialen Stellung, seiner Außenseiterposition, zum Rezipienten von Konfessionen, Beichten und Geheimnissen, die man den nahe stehenden Menschen oft nicht mitteilt. Die von Simmel ins Spiel gebrachte Kategorie der Objektivität, die hier rein soziologisch und relational zu verstehen ist, impliziert eine gewisse soziale Freiheit: Der Fremde ist nicht an „Festgelegtheiten“ 9 gebunden. Sie hat aber auch damit zu tun, dass er in dem gegebenen gesellschaftlichen Raum keine Machtposition innehat. Das ermöglicht ihm die Sekundärmacht des Zuhörens und Schlichtens. Diese Freiheit gewährt auch die Möglichkeit, das Nahe wie auch das Ferne gleichsam aus der Vogelperspektive zu betrachten, wird doch Kultur stets aus der wirklichen oder angenommenen Perspektive des Fremden analysiert. Aber diese privilegierte, objektive Ausnahmestellung kann leicht in Gewalt und Aggression umschlagen. Denn wenn die sozialen Gefüge ins Wanken kommen, dann schlägt die Stimmung gegen die Fremden sofort um: „Von jeher wird bei Aufständen aller Art von der angegriffenen Partei behauptet, es hätte eine Aufreizung von außen her, durch fremde Sendlinge und Hetzer stattgefunden.“ 10 Der Antisemitismus der Nationalsozialisten, der sowohl Kapitalismus als auch Kommunismus als fremde, ergo jüdische Produkte begreift, ist ein erschreckendes Beispiel dafür. Immer ist es der Mensch, der von außen kommt, durch den das Übel in die eigene Heimat geschleust wird. Insofern gerät der Fremde potentiell in jene Position, die der französische Literaturwissenschaftler und Anthropologe René Girard als „Sündenbock“ bezeichnet hat. Wenn eine Gesellschaft in eine Krise-- Pest, Hungersnot, Wirtschaftskrise, verlorener Krieg- - gerät, wird von der betroffenen Bevölkerung nach einem Schuldigen gesucht. Wie Girard am Beispiel der Pest zeigt, sind es an der Wende zur Neuzeit in Europa die Fremden im Eigenen, die ‚jüdischen Brunnenvergifter‘, die diese Funktion übernehmen müssen. Ihre schiere Existenz erklärt scheinbar den Ausbruch der Krise und ihre reale wie symbolische Vernichtung verspricht 9 Simmel, Soziologie, S. 767. 10 Simmel, Soziologie, S. 767. 142 6. Georg Simmel und Alfred Schütz einen Ausweg aus ihr. 11 In gewisser Weise lässt sich also auch sagen, dass Fremde produzierbar sind. In Freuds Terminologie heißt das, dass der Fremde jene Figur ist, an der sich die kollektive Aggression einer sozialen Entität- - einer überschaubaren vormodernen Gemeinschaft, aber auch einer abstrakten modernen Gesellschaft-- entlädt. Von einer Magie der Gewalt spricht Girard in diesem Zusammenhang: Der Gewalt wird die Kraft zugesprochen, reinigend und klärend zu wirken. 12 Sigmund Freud wiederum beschreibt, wie die Aggression nach Außen im Sinne einer Triebentladung im Inneren funktioniert. Die strukturell gewalttätige Konstitution des Fremden schweißt die Einheimischen zu einer geschlossenen Gruppe zusammen. Freud formuliert das ganz lapidar: „Es ist immer möglich, eine größere Menge von Menschen in Liebe aneinander zu binden, wenn nur andere für die Äußerung der Aggression übrig bleiben.“ 13 Schauen wir uns nun an, wie Simmel das Verhältnis von Bekannten und Fremden vergleicht. Diese Relationen unterscheiden sich signifikant voneinander. Zu den Fremden, die nur ganz allgemeine Qualitäten mit der einheimischen Gruppe und ihrer Kultur gemeinsam haben, zu diesen Heimatlosen, unterhält die einheimische Gruppe ein höchst abstraktes, emotional schwaches Gemeinschaftsgefühl. „Je größer die Abweichung“, schreibt der französische Kulturtheoretiker René Girard, „um so größer das Risiko der Verfolgung“. 14 Hinzuzufügen ist, dass sich diese Abweichungen potentiell durch Bündelung-- soziale, ethische und sexuelle Unterschiede-- aufladen. Demgegenüber ist unser Verhältnis zu bekannten Menschen durch Verbundenheit und durch eine „Gleichheit von spezifischen Differenzen“ charakterisiert. Dieser Einklang baut sich gegen das Allgemeine auf: Die Verbundenheit etabliert potentiell ein Wir-Gefühl gegen die Anderen. Jenes Gemeinsame selbst vielmehr wird in seiner Wirkung auf das Verhältnis dadurch wesentlich bestimmt, ob es nur zwischen den Elementen eben dieses besteht und so, nach innen zwar allgemein, nach außen aber spezifisch und unvergleichlich ist-- oder 11 Girard, Der Sündenbock, S. 7-22. 12 Girard, Der Sündenbock, S. 70-85. 13 Freud, Sigmund: „Das Unbehagen in der Kultur“. In: Freud, Anna (Hg.) Gesammelte Werke. Band XIV . Frankfurt / Main: Fischer, 1940. 421-508. Hier: S. 473. Vgl. Freud, Sigmund: Das Unbehagen in der Kultur. Mit einem Kommentar von Wolfgang Müller-Funk. Wien: Vienna University Press, 2016. 14 Girard, Der Sündenbock, S. 32. 143 6.2. Einschluss im Ausschluss: Die Figur des Fremden bei Georg Simmel ob es für die Empfindung der Elemente selbst ihnen nur gemeinsam ist, weil es überhaupt einer Gruppe oder einem Typus oder der Menschheit gemeinsam ist. 15 Im Hinblick auf den Fremden konstatiert Simmel eine eigentümliche Mischung aus Nähe und Ferne, oder eine Affekthaltung aus Kühle und Wärme, aus Unbeteiligtheit und Beteiligtheit: Der Fremde ist uns nah, insofern wir Gleichheit nationaler oder sozialer, berufsmäßiger oder allgemein menschlicher Art zwischen ihm und uns fühlen; er ist uns fern, insofern diese Gleichheiten über ihn und uns hinausreichen und uns beide nur verbinden, weil sie überhaupt sehr Viele verbinden. 16 Das Moment der nahen Fremdheit hat auch in der erotischen Beziehung eine Bedeutung: Die Fremdheit bildet den Reiz, an dem sich das Begehren entzündet. Inzestuöse Beziehungen beziehen ihren Reiz von kulturellen Verboten, aber sie tragen das Problem möglicherweise fehlender Fremdheit zwischen den Partnern in sich. 17 Insofern ließe sich sagen, dass alle langwährenden Beziehungen tendenziell ‚inzestuös‘, das heißt symbiotisch werden. Zur Krise intimer Beziehungen kommt es nicht zuletzt dann, wenn das Gefühl der Einzigartigkeit der eigenen Liebe wie die des geliebten Menschen verschwindet. Die Partner werden einander fremd, weil sie sich zu nahe gekommen sind. Dahinter lauert die Frage, ob ‚unsere‘ Beziehung wirklich so einzigartig ist, wie es unsere romantische Verliebtheit nahelegt hat: Ist das Zweien Gemeinsame nicht am Ende doch eines, das nicht bloß ihnen gemeinsam ist? 18 Die Konklusion ist wohl, dass erfolgreiche erotische Beziehungen solche sind, in denen ein Spannungsverhältnis von Nah und Fern bestehen bleibt, in dem die Erfahrung von Nähe und Ferne aufrechterhalten wird (vgl. die Analyse der Zärtlichkeit bei Lévinas →-Kapitel 4). Im Falle ethnischer Unterschiede in intimen Beziehungen überlagern sich zwei verschiedene Fremdheiten, das mag das Gefühl der Einzigartigkeit verstärken, bietet aber wohl keine Sicherheit gegen den Verlust des „Einzigartigkeitsgefühls“, die Simmel für die intime Beziehung als konstitutiv ansieht. 15 Simmel, Soziologie, S. 768. 16 Simmel, Soziologie, S. 769. 17 Vgl. zu diesem Themenbereich die Freud-kritische Studie von: Bischof, Norbert: Das Rätsel Ödipus. Die biologischen Wurzeln des Konflikts von Intimität und Autonomie. München: Piper, 1985. S. 87-115. 18 Simmel, Soziologie, S. 770. 144 6. Georg Simmel und Alfred Schütz Simmel erwähnt indes noch eine andere Konzeption des Fremden, in der jedwede Gemeinsamkeit ausgeschlossen ist. Er erläutert dies am griechischen Begriff des ‚Barbaren‘, einer traditionellen Bezeichnung der antiken Griechen für alle anderen fremdsprachigen Völker. Den ‚barbaroi‘ werden all die generellen Eigenschaften abgesprochen, die man mit den Menschen der eigenen Kultur teilt und die man für sich reklamiert: all die Werte, Sitten und Gepflogenheiten, die für selbstverständlich gelten. Diese Beziehung zum Fremden ist die „Nicht-Beziehung“. Das ist politisch gesprochen die Position des Rassisten gegenüber reichen oder auch armen Minderheiten, gegenüber kolonialisierten außereuropäischen Völkern oder gegenüber Nachbarvölkern, die man beherrscht. Die Nicht-Gemeinsamkeit wird zum entscheidenden Element unserer Nicht-Beziehung zum Fremden, der nah und fern zugleich ist. Der Fremde wird auch nicht in seiner Individualität und seiner sozialen Stellung wahrgenommen, sondern als bestimmter kultureller Typus behandelt. Beispiele dafür sind die mittelalterliche Judensteuer und die Nürnberger Rassengesetze des Nationalsozialismus. Simmel konstatiert zu Ende seiner kurzen Abhandlung eine Zunahme des Fremden als Folge des Überganges von blut- und stammesverwandtschaftlich organisierten Gemeinschaften zu abstrakteren Gebilden. Ausdrücklich erwähnt er dabei das kulturelle Gebot der Exogamie, die Vorschrift, Fremde zu heiraten, das heißt Menschen, die außerhalb des Familienverbandes stehen. Charakteristika der Globalisierung gehören letztendlich in den Phänomenbereich des ‚Exogamen‘, also des Austausches und der Verbindung mit immer Fernerem: Es kommt zu einer Zunahme von Wanderbewegungen und, damit verbunden, von Fremdheit. Die Beziehung von Nahem und Fernem verändert sich und überlagert sich. Nähe verschwindet nicht, wird aber relativ und relational, das heißt, sie ist nunmehr Teil einer Wechselwirkung, die sich aus der Polarität von nah und fern, bekannt und fremd, ergibt. Mit Simmel und seiner Philosophie des Geldes kann man auch daran denken, wie das abstrakte und immer virtueller werdende Tauschmedium Geld die Raum-Koordinaten verschiebt. Es komprimiert gleichsam die global gewordene Menschheit und weckt Angst vor dem Verlust von ‚Identität‘, deren kulturelle Konstruktion ohne Bekanntheit und Vertrautheit undenkbar ist. Kurzum besteht die Sorge, ‚Heimat‘, inklusive der mit diesem Begriff einhergehenden Affekte (Zugehörigkeit, Stolz, Pathos, Glücksgefühl), zu verlieren. Es gibt gerade in den hochentwickelten kapitalistischen Gesellschaften, die ohne die tiefgreifenden kulturellen Wirkungen des Geldes undenkbar sind, die Bereitschaft breiter Schichten in der Bevölkerung, gegen das abstrakt Fremde des Geldes und des Kapitals Sturm 145 6.2. Einschluss im Ausschluss: Die Figur des Fremden bei Georg Simmel zu laufen. Zuweilen lugen dahinter die alten stereotypen Feindbilder hervor: Der Antisemitismus und generell jedwede Fremdenfeindlichkeit richten sich gegen ethnische oder soziale Gruppen, gegen innere und äußere Feinde, die nicht selten mit dem Medium des Geldes verbunden sind und Verschwörungstheorien auslösen. Dabei überlagern sich historisch nicht selten linke und rechte Positionen: Das Feindbild des Kapitalisten verschmilzt mit jenem des Juden. Der deutsche Politikwissenschaftler Thomas Schmidinger schreibt mit Blick auf die sozialen Netzwerke unserer Tage: In Karikaturen werden die der Globalisierungskritik latent innewohnenden Weltverschwörungstheorien schon manifester. Die alles umschlingende Krake versucht die ganze Welt zu verschlingen und erhält allerorts Gegenwehr der „produktiven“ Arbeiter usf. Hier gleichen sich die Illustrationen linker wie rechter GlobalisierungsgegnerInnen zusehends. Manch linke Gruppierung kann dabei nicht einmal auf die obligate Hakennase verzichten, die dem zigarrerauchenden und zylindertragenden Unternehmer angedichtet wird und damit ebenso aus dem Stürmer wie aus einer trotzkistischen, maoistischen oder Attac-Publikation stammen könnte. 19 Abb. 2 Zerrspiegel der globalisierten Welt 19 Vgl. Thomas Schmidinger, Struktureller Antisemitismus und verkürzte Kapitalismuskritik, http: / / homepage.univie.ac.at / thomas.schmidinger / php / texte / antisemitismus_struktureller_antisemitismus.pdf, heruntergeladen am 29. 02. 2016. 146 6. Georg Simmel und Alfred Schütz Darüber hinaus haben derartige Feindbilder noch eine ganz andere Stoßrichtung, wenden sie sich doch gegen die zunehmend abstrakter werdenden Formen der Vergesellschaftung und der transnationalen kulturellen Kommunikation. 20 Der, die und das bedrohliche Fremde werden mit dem Geld gleichgesetzt. Insofern lebt die Ambivalenz vormoderner Kulturen gegenüber der Figur des fremden Händlers in der hypermodernen Ära der Globalisierung fort, als Unbehagen an den transnationalen Akteuren etwa der Geldwirtschaft und des Welthandels. Was sich an der Kritik an Ungleichheit und Ungerechtigkeit entzündet, ist stets, rechts wie links, in Gefahr, sich in Feindschaft gegen ein bedrohliches Außen zu verdichten. Erstaunlich bleibt, dass Simmels Analyse des Fremden zumindest vier Modi von Migrationen und Migranten unberücksichtigt lässt: 1. Das politische Exil; 2. die Flucht infolge der Verfolgung von Menschengruppen, die minoritär und fremd bleiben wie die Juden Europas und des Nahen Ostens; 3. Migration aus ökonomischen und sozialen Gründen; 4. die binnen- und transnationalen Wanderungen, die sich grosso modo vom peripheren, oftmals ruralen Raum in die urbanen Kristallisationspunkte der Industrialisierung und Postindustrialisierung vollziehen. Diese Formen von Wanderung mögen sich zum Teil mit dem von Simmel fokussierten Typus des fremden Händlers überlagern, sind aber nicht mit ihm identisch. Obschon die Grenzen zwischen freiwilliger und erzwungener Wanderschaft fließend sein mögen, so divergiert die Position des fremden Teilnehmers an einem fremden Markt beträchtlich von jener, der vor Gewalt und Verfolgung fließen und gegebenenfalls Hab und Gut zu Hause lassen muss. Der klassische Händler befindet sich, verglichen mit vielen anderen armen Migrantinnen und Migranten, die sich damals wie heute als Fremde für geringen Lohn abrackern, in einer vergleichsweise privilegierten Position. Deshalb träumen nicht wenige Menschen mit Migrationshintergrund davon, einmal vom Ersparten ein eigenes Geschäft oder ein eigenes Lokal aufmachen zu können, um in den von Simmel beschriebenen Status aufsteigen zu können. 20 Auf diesen Zusammenhang hat bereits Hermann Broch in seiner unabgeschlossenen Studie Massenwahntheorie hingewiesen, vgl. dazu: Müller-Funk, Wolfgang: The Architecture of Modern Culture. Towards a Narrative Cultural Theory. Boston: de Gruyter, 2012. S. 173-186. 147 6.3. Der Fremde als Feind: Carl Schmitt 6.3. Der Fremde als Feind: Carl Schmitt Es liegt nahe, an dieser Stelle eine kurze Lektüre eines Autors einzufügen, der in so mancher Hinsicht Simmels Befunde aufgreift und zuspitzt: Carl Schmitt (1888-1985). Simmels kulturelle und soziale Verortung des Fremden basiert vor allem darauf, dass der Fremde nicht das ausgeschlossene ‚Element‘ einer Gruppe ist, sondern gerade durch seine Deplatzierung am Rande oder außerhalb des ‚heimischen‘ Raums eine wichtige Position einnimmt. Die Figur des Fremden nimmt insofern eine Schlüsselfunktion für eine Gemeinschaft oder Gesellschaft ein: Die Gruppe konstituiert sich nämlich durch ihn und begreift sich als seine Negation. Der Fremde nimmt dabei nolens volens die gleiche Position ein wie der Arme oder der innere Feind. Carl Schmitt, der berüchtigte Gegner und Kritiker der modernen liberalen politischen Ordnung, hat diesen Sachverhalt in seiner einflussreichen Streitschrift Der Begriff des Politischen (1932) zugespitzt: Dort wird die der Politik angemessene Unterscheidung als eine von Freund und Feind bestimmt. 21 Der Krieg bildet dabei „die äußerste Realisierung der Feindschaft“ 22 und wird „als das extremste politische Mittel“ 23 angesehen. Eine Gruppierung sei von daher dann und nur dann politisch, wenn sie „sich an dem Ernstfall orientiert“. 24 Dem Liberalismus, dem Pazifismus und dem mit ihm einhergehenden Humanismus hält Schmitts ‚realistische‘ Theorie nun vor, die dramatische Härte des Politischen, das in seiner Struktur dem Krieg, in dem Freund und Feind auf Leben und Tod aufeinander treffen, ähnlich ist, zu unterlaufen. Der Liberalismus versuche, das Politische nicht im Sinne der strukturellen Feindschaft, sondern im Sinne der Konkurrenz zu fassen und die Freund-Feind-Struktur, die dem Politischen inhärent sei, durch die Opposition von nützlich und schädlich zu ersetzen. Diese vom Liberalismus betriebenen ökonomischen „Neutralisierungen und Entpolitisierungen“ 25 nicht nur des Politischen haben „einen politischen Sinn“, der nicht zuletzt darin besteht, die Herrschaft eines „ökonomisch fundierten 21 Schmitt, Carl: Der Begriff des Politischen. Mit einem Vorwort und drei Corollarien von . Hamburg: Duncker & Humblot, 1991. S. 26. Vgl. Klass, Tobias Nikolaus: „Der Fremde als meine eigene Frage in Gestalt. Überlegungen zum Fremden als ‚Feind‘ im Anschluss an Carl Schmitt“. In: Flatscher, Matthias / Loidolt, Sophie (Hg.): Das Fremde im Selbst-- das Andere im Selben. Würzburg: Königshausen & Neumann, 2010. S. 264-281. 22 Schmitt, Der Begriff des Politischen, S. 33. 23 Schmitt, Der Begriff des Politischen, S. 37. 24 Schmitt, Der Begriff des Politischen, S. 39. 25 Schmitt, Der Begriff des Politischen, S. 68, S. 79-95. 148 6. Georg Simmel und Alfred Schütz Imperialismus“ zu legitimieren. 26 So produziert der Liberalismus aus dieser Warte eine Illusion, die Schmitt zufolge gleichzeitig ungeheuer mächtigkeitswirksam ist, nämlich als globale Herrschaft eines kapitalistischen Imperialismus über die ganze Welt. An einer entscheidenden Stelle, an der Schmitt seine Definition des Politischen als eines Kampfes zwischen Freund und Feind ausbreitet, nimmt der Text nun eine Gleichsetzung des Feindes mit dem Fremden vor, wenn es heißt: Der politische Feind braucht nicht moralisch böse, er braucht nicht ästhetisch häßlich zu sein; er muß nicht als wirtschaftlicher Konkurrent auftreten, und es kann vielleicht sogar vorteilhaft scheinen, mit ihm Geschäfte zu machen. Er ist eben der andere, der Fremde, und es genügt zu seinem Wesen, daß es in einem besonders intensiven Sinne existentiell etwas anderes und Fremdes ist, so daß im extremen Fall Konflikte mit ihm möglich sind, die weder durch eine im voraus getroffene generelle Normierung, noch durch den Spruch eines ‚unbeteiligten‘ und daher ‚unparteiischen Dritten‘ entschieden werden können. 27 Die Konstituierung und Konstruktion des Fremden hat also ihren entscheidenden Sinn darin, dass erst die Figur des Fremden jene Form von Politik ermöglicht, die ihrem Wesen entspricht. Es ist nicht notwendig, den Feind zu hassen, er muss sich nur in einem radikalen Sinne ‚außerhalb‘ von uns befinden, damit ein Moment nicht wirksam werden kann: die Empathie mit ihm. Es genügt eben jene Distanz, die der Fremdheit, die ihn für uns auch emotional unerreichbar macht, innewohnt. Insofern sind Feind und Fremder logisch miteinander verbunden. Ausdrücklich betont Schmitt, dass die christliche Feindesliebe, die ja nur eine private sei, für das abstrakte Verhältnis der Politik keine Gültigkeit besitze. Schmitt macht diese Unterscheidung von ‚privat‘ und ‚öffentlich‘ an einem Beispiel, das heute auf ganz besonders grelle Weise wieder aktuell ist, deutlich, wenn er schreibt: Auch ist in dem tausendjährigen Kampf zwischen Christentum und Islam niemals ein Christ auf den Gedanken gekommen, man müsse aus Liebe zu den Sarazenen oder den Türken Europa, statt es zu verteidigen, dem Islam ausliefern. Den Feind im politischen Sinne braucht man nicht persönlich zu hassen, und erst in der Sphäre des Privaten hat es einen Sinn, seinen ‚Feind‘, d. h. Gegner, zu lieben. 28 26 Schmitt, Der Begriff des Politischen, S. 77. 27 Schmitt, Der Begriff des Politischen, S. 27. 28 Schmitt, Der Begriff des Politischen, S. 30. 149 6.4. Die Funktion des Fremden im Eigenen: Werner Sombart Es lässt sich also extrapolieren, dass der private Feind, anders als der politische, sich nicht in der Position der Fremdheit befindet. Drastisch gesprochen kann man privat mit dem Vertreter einer ‚fremden‘ Minderheit Mitleid haben, während man sich mit der Gruppe, zu der er gehört, in einem leidenschaftslosen, aber heroischen Kampf auf Leben und Tod befindet. Carl Schmitts Theorie führt tatsächlich zu einer sich erfüllenden Prophezeiung, deren prophetischer Sprecher er 1933 werden wollte und sollte: Als der deutsche Verfassungstheoretiker seine Streitschrift zum Begriff des Politischen vorlegt, regiert in Deutschland eine autoritäre Regierung mit Notverordnungen. Parallel dazu schickt sich Österreich im Gefolge eines Staatsstreiches-- eines Ausnahmezustandes, der im Sinne Schmitts Recht setzt-- an, einen Ständestaat nach dem Vorbild des italienischen Faschismus zu etablieren. Hitler, der mit seinem ‚antikapitalistischen‘ und ‚antiglobalen‘ Antisemitismus ein besonders aggressives Freund-Feind-Schema für seine Politik gewählt hat, ist bereits ante portas. Was Carl Schmitt vorlegt, ist die radikalste Version jener schon bei Nietzsche vorfindlichen Gedankenfigur, wodurch sich soziale Entitäten dadurch konstituieren, dass sie sich Feinde schaffen. Insofern beinhaltet die Zivilgesellschaft, als deren theoretischer wie praktischer Kontrahent sich Schmitt historisch erwies, in der Tat ein utopisches Potential. Es ist die Idee einer Sozialstruktur und Kultur, die nicht auf der radikalen und letztendlich kriegerischen Idee des Fremden als eines Feindes beruht, der ex negativo unser politisches Handeln bestimmt, sondern in der die Struktur des Krieges allenfalls dann zum Tragen kommt, wenn die plurale und heterogene Ordnung als Ganze bedroht ist und der politische Konkurrent darauf dringt, sich als Feind zu etablieren. Carl Schmitts Definition des Fremden als eines Feindes ist aber auch vor dem Hintergrund des Aufstiegs von extremen politischen Gruppierungen- - rechts wie links-- von Belang. Diese speisen sich aus einem ähnlichen Unbehagen wie das theoretische Werk Carl Schmitts. Sie stellen nicht nur bestimmte neoliberale Auswüchse, sondern letztendlich auch das politische System einer repräsentativen Demokratie in Frage, indem sie den ‚Liberalismus‘ als heuchlerische Illusion der kapitalistischen Globalisierung ‚entlarven‘. 6.4. Die Funktion des Fremden im Eigenen: Werner Sombart Eine andere Funktion des Fremden im Raum des ‚Eigenen‘ hat der renommierte Ökonom und Wirtschaftshistoriker Werner Sombart in seinem berühmten, bis heute immer wieder aufgelegten mehrbändigen Werk Der moderne Kapitalismus 150 6. Georg Simmel und Alfred Schütz in den Mittelpunkt gerückt. Im ersten Band, der sich mit der Entstehung der kapitalistischen Ökonomie in der vorkapitalistischen Gesellschaft beschäftigt, untersucht der Autor im achten und letzten Abschnitt die Entstehung der Unternehmerschaft zu Anfang der Neuzeit. Dabei kommt er zu dem überraschenden Schluss, dass es neben dem vorkapitalistischen Bürgertum durchaus gesellschaftliche und kulturelle Randgruppen sind, die zur Entstehung der kapitalistischen Wirtschaft maßgeblich beigetragen haben, die religiösen ‚Ketzer‘, die Fremden und unter ihnen ganz besonders die Juden. Ihnen widmet er ein eigenes Kapitel, weil sie in ihrem prekären Status dauerhafter Randständigkeit eine ganz besondere Rolle im okzidentalen Kontext eingenommen haben. Anders als Schmitt argumentiert Sombart wenigstens in diesem Buch keineswegs dezidiert antikapitalistisch, es geht ihm um eben die von Simmel begründete Fragestellung der sozialen Funktion des Fremden, der unter vormodernen Bedingungen im günstigsten Fall die Position eines zuweilen privilegierten, aber stets bedrohten Außenseiters (etwa in Gestalt des jüdischen, aber auch des griechischen oder armenischen Händlers) einnimmt. Sombart, ursprünglich nationalliberal eingestellt, später ein politischer Wanderer zwischen links und rechts, enthält sich in seiner Gelehrsamkeit einer offenkundigen Wertung. Wenn man der hier ausgebreiteten, mit vielen Beispielen unterfütterten Geschichte des modernen Kapitalismus eine programmatisch pejorative Wertung unterlegt, dann kommt aus einem ganz bestimmten Sichtwinkel die Figur des hässlichen Fremden und des Juden zum Vorschein, etwa wenn der Anteil und Beitrag der jüdischen Unternehmer an der Kolonisierung Amerikas geschildert wird. 29 Manche der zitierten Passagen mögen heute unbehaglich, ja unkorrrekt anmuten, beschreiben indes die soziale Funktion des Fremden zunächst keineswegs ‚essenzialistisch‘ oder rassistisch, zum Beispiel als spezifische ethnische Eigenschaft. Es ist die soziale Funktion, die im Mittelpunkt der Analyse steht. Im Grundton kommt Sombarts Darstellung, auch wenn er nicht eigens auf den soziologischen Diskurs etwa Simmels eingeht, diesem beträchtlich nahe. Seine kulturgeschichtliche Sichtweise bestimmter Fremder macht ihn schon vor der Machtergreifung Hitlers für das Lager der ‚Konservativen Revolution‘ zu einem gut rezipierbaren Theoretiker. Der Autor erwähnt zunächst einmal den 29 Sombart, Werner: Der moderne Kapitalismus. Die vorkapitalistische Wirtschaft. Bd 1. Zweiter Halbband. München: dtv, 1987. S. 897-906. Der kulturgeschichtliche und ökonomische Hintergrund dieser antisemitischen Imagologie ist im Übrigen auch im marxistischen Diskurs analysiert worden, vgl. die 1942 geschriebene Studie des von den Nationalsozialisten ermordeten Abraham Léon, Judenfrage & Kapitalismus, München: Trikont 1971. 151 6.4. Die Funktion des Fremden im Eigenen: Werner Sombart Tatbestand der Migration selbst, den er, unverkennbar sozialdarwinistisch, als eine positive Auslese begreift: Diejenigen Individuen, die sich zur Auswanderung entschließen, sind- - zumal oder vielleicht: nur in den früheren Zeiten, als jeder Ortswechsel und vor allem jede Übersiedlung in ein Kolonialland noch ein kühnes Unterfangen war- - die tatkräftigsten, willensstärksten, wagemutigsten, kühlsten, am meisten berechnenden, am wenigsten sentimentalen Naturen; ganz gleich, ob sie wegen religiöser oder politischer Unterdrückung oder aus Erwerbsgründen sich zu der Wanderung entschließen. 30 Wohlwollend in den heutigen politischen Diskurs übersetzt, bedeutet das: Der Migrant und die Migrantin sind besonders mobil, motiviert und flexibel. Sarkastisch gesprochen ließe sich auch sagen, dass sie damit durchaus einem Profil entsprechen, das im Kapitalismus unserer Tage einen hohen Stellenrang einnimmt. Im Falle der heutigen Migration wird diese Möglichkeit freilich durch die bekannten staatlichen Schikanen verhindert. Was den entstehenden Kapitalismus der Neuzeit anbelangt, prädestiniert sie ihre Bereitschaft, die Heimat zu verlassen, Sombart zufolge dazu, unternehmerisch zu werden und damit einen gewissen ökonomischen Aufstieg zu erlangen, der lange nicht mit dem sozialen Status korrespondiert. Die Migranten in frühkapitalistischer Zeit erfüllen aber noch eine andere Tugend, die Sombart für die Entstehung des Unternehmers als eines soziokulturellen Typs für wichtig hält: ihren Individualismus. Durch ihre Migration dokumentieren sie eindrucksvoll, dass sie sich im Gegensatz zu vielen Angehörigen ihrer verfolgten und benachteiligten religiösen, politischen oder kulturellen Gruppe-- Sombart erwähnt hier Hugenotten und Juden-- nicht anpassen wollen. Insofern haben sie, gewiss nicht ohne Zwang, den Status der Fremdheit gewählt. Dieser manifestiert sich im Zustand und Akt der Wanderung selbst, einer Erfahrung, die Migranten von der Mehrheit der Bodenständigen unterscheidet. Menschen, die fremd sind, bringen also gute Voraussetzungen für die Entfaltung unternehmerischen Verhaltens mit; aber auch ihre Stellung als Fremde in der neuen Heimat scheint sie für die historisch neue Figur des kapitalistischen entrepreneurs zu prädestinieren. Das ist zum einen der „Abbruch aller alten Lebensgewohnheiten und Lebensbeziehungen“. 31 Mit diesem Bruch hat das Herkunftsland für den Fremden aufgehört „eine Wirklichkeit zu sein“. 32 30 Sombart, Der moderne Kapitalismus, S. 885. 31 Sombart, Der moderne Kapitalismus, S. 885 f. 32 Sombart, Der moderne Kapitalismus, S. 886. 152 6. Georg Simmel und Alfred Schütz Zu seiner neuen Heimat wiederum steht der Fremde in einer äußerlichen wie in einer inneren Distanz. Die Kultur, die er vorfindet, ist nicht von ihm geschaffen und verbleibt so in einer gewissen Fremdheit für ihn. Die neue Heimat kann demgemäß niemals mehr die unwiederbringlich verlorene alte sein. Distanziert ist der Fremde, der „in dem alten Kulturstaat“- - Sombart bezieht sich hier auf die prämodernen europäischen Staaten- - lebt, aber auch deshalb, weil diese ständische Ordnung ihm den Zugang zu bestimmten Berufen und vor allem die Teilnahme am öffentlichen Leben verwehrt. Deshalb muss er sich beruflich selbst erfinden und wird nicht selten zum Projektemacher, wobei die Notwendigkeit des ökonomischen Überlebens eine handfeste Bedeutung besitzt. Sombart spricht das sehr plastisch, fast enthusiastisch aus, wenn er schreibt: Es gibt für den Ausgewanderten-- das gilt gleichermaßen für den Emigranten wie für den Kolonisten-- keine Vergangenheit, es gibt für ihn keine Gegenwart. Es gibt für ihn nur eine Zukunft. Und wenn erst einmal das Geld in den Mittelpunkt des Interesses gerückt ist, so erscheint es fast als selbstverständlich, daß für ihn der Gelderwerb den einzigen Sinn wahrt als dasjenige Mittel, mit Hilfe dessen er sich seine Zukunft erbauen will. Geld erwerben kann er nur durch Ausdehnung seiner Unternehmertätigkeit. 33 Es ist also auch die Not, die erfinderisch macht, sowie ein Bündel von Erfahrungen, die mit Fremdheit zusammenhängen. Ähnlich wie bei Simmel tritt uns der Fremde hier als eine Figur vor Augen, in der sich Außenseitertum, Privilegierung und Innovation miteinander untrennbar vermischen. Und weil er im Status des Fremden verbleibt und damit auf Distanz zu den Anderen, Heimischen hält, ist er imstande, jenes Distanz erzeugende rationalistische Medium des Geldes besonders geschickt zu bedienen-- was ihm, so lässt sich hinzufügen, sozialen Neid eintragen kann. Denn für den heimischen Xenophoben kann der eingewanderte Fremde immer nur alles falsch machen: Scheitert er in seinem Bemühen, einen Platz in der neuen Heimat zu bekommen und bleibt arm, dann gilt er als Sozialschmarotzer. Gelingt ihm aber dank seiner sozialen Tugenden der Eintritt in die für ihn zunächst fremde Kultur, dann nimmt er den Einheimischen alles weg. Interessant ist, dass Sombart den Status des Fremden „in dem alten Kulturstaat“ von der Situation des Kolonisten in Amerika unterscheidet, in der alle eingewanderte Fremde sind, während sich der innereuropäische Emigrant eben mit den Beschränkungen der ständisch-feudalen Ordnung arrangieren muss, zu der er keinen Zutritt hat. 33 Sombart, Der moderne Kapitalismus, S. 886. 153 6.5. Der Fremde als Ankommender: Alfred Schütz Manche Momente, die Sombart erwähnt, lassen sich auch in den Migrationsbewegungen unserer Tage wiederfinden, wobei die innereuropäische doch partiell eine zeitliche begrenzte Migration darstellt. Auch die pathetische Annahme des radikalen Vergessens der Herkunft, die für die Ausgewanderten keine „Wirklichkeit“ mehr sei, ist wohl selbst für die historische Migration im Frühkapitalismus zweifelhaft, wenn man sich anschaut, wie viele Migrationsgruppen ihre religiöse, sprachliche und / oder kulturelle ‚Identität‘ erhalten haben. Für die gegenwärtige Situation von Menschen mit Migrationshintergrund ist, insbesondere unter den medialen Möglichkeiten unserer Zeit, mit kulturellen Überlagerungen (‚Hybridität‘) zu rechnen ( → -Kapitel 8.3., Kapitel 11). 6.5. Der Fremde als Ankommender: Alfred Schütz Mit diesen Fragestellungen sind wir bei einem anderen einschlägigen und kanonischen Text über den Fremden angekommen, Alfred Schütz’ Studie Der Fremde. Ein sozialpsychologischer Versuch (1944). Diese Abhandlung des Begründers einer phänomenologischen Soziologie zählt bis heute zu den Schlüsseltexten eines spezifisch soziologischen Diskurses über die Konstruktion des Fremden. Darüber hinaus handelt es sich um ein Dokument, das auf hohem Abstraktionslevel das eigene Schicksal des europäischen-- österreichischen-- Immigranten in den USA reflektiert. 34 Der Titel enthält bereits zwei wichtige Hinweise: einerseits die formale Bezugnahme auf den essayistischen, unabgeschlossenen Charakter der Überlegungen sowie andererseits den methodisch-disziplinären Verweis auf eine spezifische Verbindung von Psychologie und Soziologie. Aus heutiger Sicht wird man sogleich feststellen, dass das psychologische Moment in eine Fragestellung eingebettet ist, die sich als kulturanalytisch begreifen lässt. Das wird schon im ersten Satz der Abhandlung deutlich, in der die Untersuchung als eine Anwendung „einer allgemeinen Theorie der Auslegung“ verstanden wird, „die typische Situationen untersucht, in der sich ein Fremder bei dem Versuch wiederfindet, die kulturelle Eigenart einer sozialen Gruppe, in der er als Neuankömmling lebt, zu deuten und sich in ihr zu orientieren“. 35 Was der österreichische Sozialphilosoph in Ver- 34 Geenen, Soziologie des Fremden, S. 54-66. 35 Schütz, Alfred: „Der Fremde. Ein sozialpsychologischer Versuch“. In: Brodersen, Arvid (Hg.): Gesammelte Aufsätze. 2. Studien Zur Soziologischen Theorie. Den Haag: Nijhoff, 1972. S. 53-69 und 84. 154 6. Georg Simmel und Alfred Schütz bindung zueinander bringt, sind klassische Konzepte einer Soziologie der Gruppe mit einer transkulturellen Hermeneutik, in der es drei verschiedene Personen gibt: das autochthone Mitglied der Gruppe, den Fremden und den uninteressierten wissenschaftlichen Beobachter. Als Beispiel für eine solche exemplarische Typologie und die daraus entstehende soziale Situation wählt Schütz die Figur des Immigranten, nicht ohne indes hinzuzufügen, dass es aus sozialphilosophischer Sicht auch andere vergleichbare Fälle eines Neuankömmlings gibt. Das bedeutet, dass Fremdheit aus soziologischer Perspektive keineswegs erst mit dem Phänomen von Migration und Exil beginnt. Dieser Punkt ist für die Methode von Schütz wichtig, die Fremdheit als ein soziologisches Gruppenproblem ortet. Beispiele für interne Fremdheit sind der Mensch, der einem Verein beitreten will, der Bräutigam, der in die Familie der Braut aufgenommen werden möchte, der Bauernsohn, der an der Universität studiert, die Familie, die vom Land in die Stadt zieht. Sie alle durchlaufen eine Krise, in deren Zentrum die Erfahrung steht, dass ihre „kulturelle Eigenart“ beim Betreten der neuen sozialen und symbolischen Räume, dem neuen Verein, der anderen Familie, der bürgerlichen Institution Universität oder dem urbanen Raum ein Hindernis darstellt, in den neuen sozialen Raum einer anderen Gruppe aufgenommen zu werden. Vielmehr ist das Gelingen, sich einigermaßen zu integrieren, daran geknüpft, die eigene „kulturelle Eigenart“ ein Stück weit hintanzustellen. Das kann von einem taktischen Verhalten bis zum Vergessen der eigenen Herkunft reichen. Viele Menschen, die etwa im 19. Jahrhundert in die USA ausgewandert sind, haben ihre ‚fremden‘, nichtenglischen Familiennamen getilgt, und ungarische Juden haben ihre deutschen oder jüdischen Namen geändert, um durch diesen Akt der Assimilation ihren sozialen Aufstieg abzusichern. Schütz’ soziologischer Blick geht davon aus, dass der Fremde von der Intention und der Einsicht getragen ist, sich anzupassen oder gar zu assimilieren. Am Ende dieses komplizierten Prozesses steht letztendlich das Verschwinden des Fremden. Ein Sonderfall des Fremden wird von Schütz erwähnt, aber nicht weiter verfolgt. Es ist der Gast, der Besucher, der sich nur temporär in einer anderen Gruppe befindet, der sich auch nicht mit dem Gedanken trägt, Mitglied der betreffenden sozialen Gruppe zu werden. Der Gast ist ein Sonderfall des Fremden. Insofern ist seine Situation nicht typisch. Die Rituale der Gastfreundschaft dienen wohl nicht zuletzt dazu, diesen provisorischen Status auf paradoxe Weise zu fixieren. Die Offenheit von beiden Seiten sowie Geschenke und Gastmahl stabilisieren zugleich 155 6.5. Der Fremde als Ankommender: Alfred Schütz die vorgefundene Ordnung und dienen zugleich der sozialen Entschärfung des ‚gefährlichen‘ Fremden. 36 Neben der ‚Gruppe‘ bringt Schütz eine weitere Analysekategorie ins Spiel, nämlich das „kulturelle Muster des Gruppenlebens“. Darunter versteht er eine mehr oder minder geordnete Ansammlung von „besonderen Wertungen und Institutionen sowie orientierungs- und Lenkungssystemen“. Als Beispiel gibt der Theoretiker Gebräuche, Sitten, Gesetze, Gewohnheiten, Traditionen, Etikette und Moden der Lebenswelt an. 37 Später wird er auch die Sprache als wesentliches Thema kultureller Differenz in Anschlag bringen. Während sich also das Mitglied einer Gruppe metaphorisch gesprochen in diesem kulturellen Muster mit einiger Selbstverständlichkeit in diesem symbolischen Raum bewegt, nimmt der Beobachter indes eine Außenposition ein, ganz ähnlich wie der Fremde, aber mit dem Unterschied, dass der sozial- oder kulturwissenschaftliche Beobachter ja gar nicht vorhat, Mitglied jener Gruppe zu werden, die er untersucht. Schütz sondiert das Verhältnis zur Gruppe zunächst aus der Perspektive des- oder derjenigen, die Teil der Gruppe sind. Um sich in dieser Gruppe zu behaupten und um anerkannt zu werden, muss er die-- das ist eine weitere Kategorie in der Abhandlung-- „relevanten“ Elemente des für die Gruppe konstitutiven Wissens kennen. Mit William James unterscheidet Schütz zwischen „Vertrautheitswissen“ und „Bekanntheitswissen“. Vertraut bedeutet über einen persönlichen Zugang mit der Gruppe, in der man sich befindet, zu besitzen. Bekanntheit zielt wohl eher auf ein mehr oder minder gesichertes Wissen um diese. Man ist ein Einheimischer, sofern man über ein Vertrautsein der eigenen Absichten im Rahmen der betreffenden Gruppe verfügt und ein „als ausreichend angesehenes Bekanntheitswissen“ verfügt. 38 Das Mitglied der betreffenden Gruppe, der sozial und kulturell einheimische Mensch, verfügt in dieser ihn umgebenden sozialen Lebenswelt also über ein relatives Wissen, das vor allem die Funktion hat, sich im Rahmen der Gruppe zu behaupten, oder in und von dieser Gruppe anerkannt zu werden. Dieses beschränkte Wissen ist Schütz zufolge durch drei Merkmale charakterisiert: Es ist 1. inkohärent, 2. „nur teilweise klar“ und 3. „keineswegs frei von Widersprüchen“. 39 36 Kristeva, Fremde sind wir uns selbst, S. 64. Derrida, Jacques: Von der Gastfreundschaft. Wien: Passagen, 2001. Bahr, Hans Dieter: Die Sprache des Gastes. Eine Metaethik. Leipzig: Reclam, 1994. 37 Schütz, „Der Fremde“, S. 60. 38 Schütz, „Der Fremde“, S. 61. 39 Schütz, „Der Fremde“, S. 62 f. 156 6. Georg Simmel und Alfred Schütz Die (mangelnde) Kohärenz zielt auf den Umstand, dass die kulturellen Muster wie auch das eigene Leben ständigen Wandlungen unterliegen. Die partielle Unklarheit beruht auf dem ausschließlich funktionellen Wert von Wissen im Rahmen eines „kulturellen Musters“. Man muss keine einschlägigen Kenntnisse von Geld oder Telefon besitzen, um beide ‚Medien‘ bedienen zu können. Die Widersprüchlichkeit rührt nicht so sehr von logischen Fehlschlüssen, sondern hat viel eher damit zu tun, dass sich die Menschen auf Sachverhalte beziehen, die oftmals auf verschiedenen Ebenen liegen, so dass Gegensätzliches nicht weiter auffällt. Für die Mitglieder einer Gruppe genügt ein gewisses Maß an Kohärenz, Klarheit und Konsistenz, um sich in der angestammten Umgebung zurechtzufinden. Dabei ist es klar, dass die betreffenden kulturellen Muster nicht hinterfragt sondern als gegeben und als selbstverständlich vorausgesetzt werden. In diesem Zusammenhang spricht Schütz von der „Evidenz“ des Vertrautheitswissens und bietet das „Rezept“ als eine weitere Analysekategorie an. Dieses hat zwei Funktionen: Zum einen liefert es ein „Auslegungsschema“ der uns umgebenden sozialen und kulturellen Welt und zum anderen dient es als „Richtschnur“ unseres Handelns: Wer auch immer sich gemäß eines bestimmten Rezepts verhält, von dem wird angenommen, das entsprechende Resultat erreichen zu wollen. Die Funktion des kulturellen Musters besteht also darin, durch ein Angebot fertiger Gebrauchsanweisungen ermüdende Recherchen zu verhindern, durch selbstverständliche Gemeinplätze eine schwer zu erreichende Wahrheit und das zu Hinterfragende durch das Selbstverständliche zu ersetzen. Schütz betont in seinen Überlegungen, dass soziales Handeln stets auf ein mehr oder minder hohes Maß an Anpassung hinausläuft. Nur Assimilation an das gegebene „kulturelle Muster“ macht es möglich, jene Ziele zu erreichen, die das Individuum, das zugleich Mitglied der Gruppe ist, anstrebt. Es agiert, mit Max Scheler gesprochen, in einem „Denken in den gewohnten Bahnen“ 40 , was häufig mit dem etwas missverständlichen englischen Terminus Common Sense gleichgesetzt wird und in etwa Clifford Geertz „dünner Beschreibung“ entspricht. 41 Diese heimisch-gewohnte Lebenswelt beruht, wie Schütz schreibt, auf vier „Grundannahmen“: 40 Schütz, „Der Fremde“, S. 63. 41 Geertz, Clifford: Dichte Beschreibung. Beiträge zum Verstehen kultureller Systeme. Deutsch von Brigitte Luchesi und Rolf Bindemann. Frankfurt / Main: Suhrkamp, 1987. S. 10-12. 157 6.5. Der Fremde als Ankommender: Alfred Schütz 1. der Konstanz des sozialen Lebens und der Annahme, dass sich „künftige Situationen“ so „meistern“ lassen wie frühere Ereignisse; 2. dem Vertrauen in die Autorität von „Eltern, Lehrer und Regierungen, Traditionen und Gewohnheiten“, auch wenn wir „die eigentliche Bedeutung“ der von ihnen geschaffenen kulturellen Muster nicht verstehen; 3. der Annahme der Gültigkeit unseres Wissens im Hinblick auf den „Typus und den Stil“ sozialer Ereignisse, die wir durch eben dieses „handhaben“ und „kontrollieren“; 4. der Idee, dass die Rezepte der kulturellen Auslegung einer bestimmten sozialen Lebenswelt nicht unsere Privatangelegenheit sind, sondern von der betreffenden sozialen Gruppe geteilt werden. Schütz will diese Annahmen in einem sehr strengen Sinn verstanden wissen. Wenn nämlich nur eine der oben skizzierten Voraussetzungen nicht mehr gegeben ist, dann tritt eine „Krise“ ein. Das „aktuelle Relevanzsystem“ ist implodiert und das „kulturelle Muster funktioniert nicht länger als ein System erprobter Rezepte“ und büßt seine generelle Anwendbarkeit ein. 42 In diese Krise gerät vornehmlich jener Migrant, der von der einen in die andere soziale Gruppe wandert und der erkennen muss, dass sein bisheriges kulturelles Verhaltensmuster an Selbstverständlichkeit und Praktikabilität verloren hat. An dieser Stelle lässt sich natürlich fragen, ob nicht das, was wir mit der Kategorie der Modernität bezeichnen, sich gerade dadurch beschreiben lässt, dass es diese Sicherheit tradierter kultureller Muster in Frage stellt und letztendlich die „Krise“ zum Programm erhebt. Gegen diese Veränderung der vertrauten Ordnung, die diese fremd ‚macht‘, organisiert sich der Widerstand (vgl. den Zusammenhang von Moderne und Fremdheit bei Waldenfels → -Kapitel 5). Andererseits kann man zeigen, dass auch moderne soziale Gruppen, wenn auch ungleich fragiler und paradoxer, „kultureller Muster“ bedürfen. Kultur, so ließe sich behaupten, bedeutet die Schaffung von Rezepten und Relevanzen, die tendenziell neue Unhinterfragbarkeiten konstituieren, so wie die Formel: Man muss absolut modern sein. Wenn etwa Sozial- und Kulturwissenschaften derartige Evidenzen in Frage stellen, so lässt sich die Theoriefeindlichkeit sozialer Gruppen sehr gut erklären, stellt doch die kritische Infragestellung eines weithin innerhalb einer Gruppe anerkannten Musters seitens eines fremden Außen eine Bedrohung dar. Und man 42 Schütz, „Der Fremde“, S. 64. 158 6. Georg Simmel und Alfred Schütz könnte hinzufügen, dass Xenophobie auch damit zu tun hat, dass der Fremde als ein Mensch, Mann oder Frau, identifiziert wird, der die heimischen kulturellen Muster nicht kennt, wissentlich oder unwissentlich missachtet und schon durch seine schiere Anwesenheit bedroht, eben weil er ein anderes ‚evidentes‘ Kulturmuster in sich trägt: „Der Fremde jedoch teilt die genannten Grundannahmen aufgrund seiner persönlichen Krise nicht. Dies macht ihn gerade zu dem Menschen, der fast alles in Frage stellt, was den Mitgliedern der er als Neuankömmling lebt, fraglos gegeben scheint.“ 43 Schütz’ Aufsatz wechselt in der Folge die Perspektive und wendet sich nun dem Immigranten zu, der ein doppeltes Problem hat: Seine alten kulturellen Gruppenmuster taugen für die neue Situation nicht mehr, aber er hat sich die neuen Muster, die ihm nicht selbstverständlich sind, noch nicht aneignen können. Deshalb befindet er sich auf doppelte Weise in der Fremde wie in einer Zwickmühle: Für ihn hat das kulturelle Muster der Gruppe, in der er als Neuankömmling lebt, nicht die Autorität eines erprobten Systems von Rezepten, und das allein schon deshalb, weil er nicht an der lebendigen geschichtlichen Tradition teilhat, in der dieses System gebildet wurde. Selbstverständlich hat auch aus der Perspektive des Fremden die Kultur der Gruppe, der er sich als Neuankömmling nähert, ihre besondere Geschichte, und diese Geschichte ist ihm sogar zugänglich. Aber sie ist im Unterschied zur Geschichte der Gruppe, aus der er stammt, und in der er aufgewachsen ist, nie ein integraler Teil seiner eigenen Biographie geworden. 44 Schütz beschreibt die Situation des Fremden so, dass er auch aus seiner eigenen Perspektive, nicht nur aus jener der ‚Einheimischen‘ ein Fremder bleibt. Für ihn besteht das kulturelle Muster aus seiner Herkunftsgruppe fort, das mit seiner Geschichte und seinen Erinnerungen verbunden bleibt. Diese hat er freilich verlassen: Was ihm vertraut war, ist fremd geworden und das alte Vertrautheitswissen hat für ihn keinen funktionalen Nutzen mehr. Aber auch die neue Gruppe, in der seine Biographie fremd ist, belässt ihn in der Situation des Fremden. Schütz bringt hier am Rande ein Phänomen ins Spiel, das in den Kulturwissenschaften bis heute von großer Bedeutung ist: die individuelle wie kollektive soziale Erinnerung, wie sie zuerst von Maurice Halbwachs analysiert und bestimmt worden ist. 45 43 Schütz, „Der Fremde“, S. 65 44 Schütz, „Der Fremde“, S. 65. 45 Halbwachs, Maurice: Das kollektive Gedächtnis. Deutsch von Holde Lhoest-Offermann. Frankfurt / Main: Suhrkamp, 1985. S. 1-33. 159 6.5. Der Fremde als Ankommender: Alfred Schütz Dem Migranten bleibt indes, wenn er in der neuen Gruppe akzeptiert werden will, nichts anderes übrig, als zu versuchen, in die neue soziale Lebenswelt einzutreten. Das hat zwei Konsequenzen: Einerseits büßt er die selbstverständliche Verankerung in das kulturelle Muster seiner Herkunftsgruppe ein. Andererseits gibt er die Position des unbeteiligten Betrachters auf, wie sie für den Wissenschaftler, den Touristen, aber auch für Menschen aus seiner Herkunftskultur charakteristisch ist. Die Unbeteiligtheit des Wissenschaftlers ergibt sich aus seinem wissenschaftlichen Ethos der Distanz, jene des Touristen aus seinem kurzen Aufenthalt und seinem ganz spezifischen Interesse an dem Ort (Erholung, Konsum, Besichtigung repräsentativer Orte), jene des Menschen aus der Herkunftskultur aus seiner sozialen, räumlichen und emotionalen Ferne. Das führt dazu, dass das kulturelle Muster zur „Lebensumwelt“ des Migranten wird. Es wird nun für ihn bestimmend und gerät in ein Spannungsfeld zu dem alten. Er macht eine Erfahrung, die nicht-migrantische Menschen niemals in dieser pointierten Form machen: Die bisher für selbstverständlichen und ‚objektiv‘ geltenden Muster und Rezepte lösen sich in ihrer Evidenz auf. „Jedwede Vorstellung aus der Zeit vor dem Aufbruch“ wird „notwendig unangemessen, wenn sie unverändert auf die neuen Verhältnisse angewendet wird“. 46 Unwirksam wird in diesem Veränderungsprozess das ursprüngliche Fremdbild, das er von der neuen Gemeinschaft hatte, als er noch in seinem angestammten sozialen Verband lebte. Denn dieses diente lediglich zur Auslegung der fremden Gesellschaft, aber nicht der Interaktion zwischen beiden Gruppen. Diese-- womöglich unfreiwillige-- Interaktion ist die Folge der migrantischen Bewegung und der damit verbundenen neuen räumlichen Situation. Im Folgenden beschreibt Schütz nun die „Entdeckung, daß Dinge in seiner neuen Umgebung ganz anders aussehen“, als der Fremde sie sich zu Hause vorgestellt hatte, als ein schockhaftes Erlebnis, das „das Vertrauen in die Gültigkeit seines ‚Denkens in den gewohnten Bahnen‘ erschüttert“. 47 Schütz geht davon aus, dass kollektive Orientierungsschemata so funktionieren, dass man sich selbst stets im Zentrum der betreffenden Umgebung befindlich betrachtet. Dieser Auto-Zentrismus ist nicht einfach eine Illusion oder eine verkappte Privilegierung, sondern ergibt sich aus der Logik der Beziehung zwischen Individuum und Gruppe. Schütz vergleicht diesen selbst-zentrierenden Effekt mit 46 Schütz, „Der Fremde“, S. 66. 47 Schütz, „Der Fremde“, S. 67. 160 6. Georg Simmel und Alfred Schütz der Nutzung einer Landkarte, in der zuerst der Standort der betreffenden Person fixiert und seine Darstellung auf der Karte identifiziert werden muss. Der Fremde vermag sich zwar bis zu einem gewissen Grad „das kulturelle Muster und seine Rezepte“ anzueignen. Aber nur für die Mitglieder der Gruppe stellen diese eine Einheit dar, in der sich die Schemata von Ausdruck und Auslegung ‚überlappen‘. 48 Demgegenüber muss der Fremde die „Ausdrucksweise“ der neuen Gruppe „in die seiner kulturellen Heimat ‚übersetzen‘“ ( → -Kapitel 13). Auch wenn Schütz das nicht eigens erwähnt, unterliegt der Fremde einer bestimmten Dynamik: Zunächst versucht er am Anfang die Ausdrucksweise der neuen Gruppe in den Mustern seiner Herkunftskultur zu fassen. In einem nächsten Schritt schafft er es, das fremde Ausdrucksschema als sein eigenes zu verwenden. Prinzipiell gilt dies für alle Bereiche des kulturellen Musters wie Sitten, Gesetze, Gebräuche oder Mode. Schütz veranschaulicht diese Entwicklung am Beispiel der Sprache. Dabei geht es um die Divergenz zwischen einem „passiven Verstehen einer Sprache und ihrer aktiven Beherrschung als Mittel zur Realisierung der eigenen Handlungsentwürfe“. 49 An diesem Beispiel kann Schütz verdeutlichen, welche prinzipiellen Hindernisse sich dem Fremden auf dem Weg in eine neue Gruppe und deren Kultur eröffnen. Jeder sprachliche Ausdruck einer anderen Sprache enthält Konnotationen, die sich nicht so leicht in die eigene Sprache übersetzen lassen; zudem unterliegt das fremde Wort einem ganz bestimmte Kontext, der durch das Wort nicht angezeigt wird. Was für den Fremden überdies nur schwer zu entschlüsseln bleibt, sind alle Formen von Fachsprachen, Dialekten oder privaten Codes. Nicht zuletzt spielt es auch eine Rolle, wenn er die Literatur der neuen, aber noch fremden Gruppe nur in der Übersetzung aus seiner Herkunftskultur kennt. So hat der Migrant, der in eine neue soziale Gruppe einwandert, Vorteile und Nachteile zugleich. Er hat durch den Heimatverlust die schmerzhafte Erfahrung gemacht, dass kulturelle Muster entgegen ihrer scheinbaren Evidenz relativ und veränderbar sind, zugleich wird er niemals völlig imstande sein, „mit einem einzigen Blick die alltägliche soziale Situation“ zu durchschauen und sofort das richtige „Rezept“ zu fassen. Für den Fremden sei, so der Emigrant Schütz, „die kulturelle Eigenart der neuen Gruppe-[…] kein Schutz, sondern ein Abenteuer, keine Selbstverständlichkeit, sondern ein Untersuchungsfeld mit offenen Fragen“. 50 48 Schütz, „Der Fremde“, S. 68. 49 Schütz, „Der Fremde“, S. 68. 50 Schütz, „Der Fremde“, S. 72. 161 6.6. Die soziale Konstruktion des Fremden (1): R. Stichweh Das hat nun zwei Folgen, die „Objektivität des Fremden“ sowie dessen „zweifelhafte Loyalität“. Die Unvoreingenommenheit hat Schütz zufolge nicht so sehr damit zu tun, dass er mit seiner Herkunftskultur einen kritischen Parameter besitzt. Sein Bestreben, sich die neue Kultur möglichst intensiv anzueignen, entspringt seiner deplatzierten Situation, führt ihn aber dazu, das betreffende kulturelle Muster zu hinterfragen. Der Fremde ist demnach derjenige, der aus dem Reich der Selbstverständlichkeiten vertrieben ist. Er ist unzuverlässig, weil er „ein kulturelles Mischwesen am Rande zweier unterschiedlicher Formen des Gruppenlebens“ ist, „das nicht weiß, wohin es gehört“. 51 Diese zwiespältige Situation macht erklärlich, warum viele Menschen in der Fremde, in die sie eingewandert sind, soziale Parallelgruppen bilden, in denen scheinbar das gewohnte kulturelle Muster nach wie vor Geltung besitzt: die Diaspora und der Ethnoscape (Appadurai) 52 sind solche Formen, die die radikale Umkehr von Nähe und Ferne, die mit der kulturellen Wanderung verbunden ist, diese Störerfahrung, lindern. Es kommt aber sehr darauf an, wie sich die Interaktion zwischen der dominanten neuen sozialen Gruppe und jener Sub-Gruppe, die sich auf das alte Muster bezieht, gestaltet. 6.6. Beiträge zur sozialen Konstruktion des Fremden in der gegenwärtigen Soziologie (1): Rudolf Stichweh Der von Autoren wie Simmel, Park oder Schütz in Gang gesetzte Diskurs ist in den vergangenen Jahrzehnten in der internationalen wie in der deutschsprachigen Soziologie und Anthropologie nicht ohne Bezugnahme auf Luhmanns Systemtheorie verallgemeinert worden, die Gesellschaft als ein Bündel von Funktionen und Beziehungen fasst, die sich zu einem Zusammenhang zusammenschließen, auch wenn dieser im Fall der modernen Gesellschaft „der Modalform der Kontingenz“ unterliegt. 53 Neben dem Begriff des Systems- - die Gesellschaft besteht aus verschiedenen, weithin autonomen aber holistisch funktionierenden Subsystemen, unter denen selbst noch einmal ‚Fremdheit‘ besteht-- spielt dabei auch die ‚Konstruktion‘ eine entscheidende Rolle. Diese Logik wird dabei so sehr mit jener des ‚Fremden‘ enggeführt, dass in der Architektur des Fremden jene des Eigenen, hier mehr im Sinne des Mega-Begriffs ‚Gesellschaft‘ als jenes der Kultur, 51 Schütz, „Der Fremde“, S. 73. 52 Appadurai, Arjun: Modernity at Large. Cultural Dimensions of Globalization. Minneapolis: Univ. of Minnesota Press, 1996. 53 Luhmann, Niklas: Beobachtungen der Moderne. Opladen: Westdeutscher Verlag, 1992. S. 47. 162 6. Georg Simmel und Alfred Schütz sichtbar wird. Fremdes und Eigenes bilden dabei die Pole, die durch die konstruktivistische Tätigkeit des Menschen hervorgebracht werden. Bevor wir uns Rudolf Stichwehs Konzepte des Fremden zuwenden, sei kurz und mit Blick auf andere aktuelle Werke und Autorinnen und Autoren das Terrain einer solchen Sozialwissenschaft des Fremden abgesteckt. So steht Elke M. Geenens Soziologie des Fremden (2002) ganz offensichtlich in der Tradition von Gründervätern wie Simmel und Schütz. Darüber hinaus hat der Titel des Buches auch die Nebenbedeutung, dass das, der und die Fremde einen zentralen Schlüssel zum Verständnis der Funktion von Gesellschaft liefern und dass sich Gesellschaft ohne die verwirrend vielen Funktionen des Fremden eigentlich gar nicht begreifen lässt. Auch der von Jörg Baberowski, Hartmut Kaelble und Jürgen Schriewer herausgegebene Band zum Thema Selbst- und Fremdbilder ist kein philologisch-kulturwissenschaftliches Buch, sondern vielmehr einem sozialen Funktionalismus verpflichtet, der den gesellschaftlichen Dynamiken von Bildproduktionen nachgeht. Mit der kulturwissenschaftlichen Sicht hat der darin formulierte Zugang die Auffassung gemein, dass Fremdheit-- entgegen ersten Augenscheins-- in all ihren Ausprägungen keine Eigenschaft, keine Essenz ist, der man ein bestimmtes Prädikat zuschreiben könnte. Im Gegensatz dazu wird Fremdheit erzeugt und stellt vornehmlich eine Relation dar, weshalb vom Fremden kaum mehr ohne den Bezug zum (vermeintlich) Eigenen gesprochen werden kann. Alle Prozesse von Deutungen schließen stets die Dyade, den Zweierbezug zwischen Eigenem und Fremdem mit ein: „Deutungen des Eigenen und des Anderen, Selbstbeschreibungen und Fremdbeschreibungen sind Formen der Repräsentation.“ Sie sind relevant für die Entscheidungen sozialer Akteure, sie bestimmen die „Befindlichkeit ganzer Kollektive“ und sind darüber hinaus „Imaginationen“, die in Konflikten (Krieg, Migration, Kampf, Versöhnung usw.) eine maßgebliche Rolle spielen. 54 In diesem Diskursfeld ist die wohl prominenteste Sozialtheorie des Fremden, jene von Rudolf Stichweh, zu verorten. Seine Überlegungen zur Weiterentwicklung einer Soziologie des Fremden, die im vorliegenden Kapitel diskutiert werden, finden sich im ersten Kapitel seiner programmatischen Aufsatzsammlung Der Fremde. Studien zu Soziologie und Sozialgeschichte (2010). Dabei greift der Verfasser, wie Geenen, wiederholt auf die klassischen Texte Schütz’ und Simmels zurück und verbindet diese mit Fragestellungen der Kulturanthropologie sowie 54 Schriewer, Jürgen: „Einleitung“. In: Baberowski, Jörg/ Kaelble, Hartmut / Schriewer, Jürgen (Hg.): Selbstbilder und Fremdbilder. Repräsentationen sozialer Ordnungen im Wandel. Frankfurt / New York: Campus, 2008, S. 17. 163 der Systemtheorie Luhmannscher Prägung. Die „Probleme“ der „klassischen Soziologie des Fremden“ möchte er anhand „einiger Leitunterscheidungen vergegenwärtigen“. 55 Damit ist wohl eine Systematisierung und Transformation der klassischen soziologischen Befunde gemeint. In Stichwehs Überlegungen wird der Tatbestand der Differenzierung und Pluralisierung der Figur des Fremden herausgestellt. Verkürzt gesprochen heißt das: Es gibt die Fremden nur in der Vielzahl von Erscheinungsformen. Die erste wichtige Unterscheidung ist temporärer Art. Es mache, so Stichweh, einen Unterschied zwischen dem Ankömmling und einem Typus des passageren Menschen, der, mit Georg Simmel gesprochen, „heute kommt und morgen bleibt“. 56 Während Alfred Schütz seine Theorie von Fremdheit aus der Perspektive des „Ankömmlings“ in einer neuen sozialen Lebenswelt skizzierend beschreibt und analysiert, gehen Simmel und dessen Schüler Robert Ezra Park (1864-1944) eben von jenem soujourner, dem Pfadfinder, der sich nur temporär an einem Ort aufhält, aus, den sie beide in den Mittelpunkt ihrer Überlegungen stellen. Eine zweite wichtige Unterscheidung im Hinblick auf den Fremden trifft Stichweh insofern, als er die Figur bei Simmel und Park kontrastiert. Wie wir gesehen haben, betont Simmel (und übrigens auch Sombart) die innere Distanz des Fremden zu seiner neuen (Nicht-)Heimat, die ihn zu einem produktiven Außenseiter macht. Demgegenüber befindet sich Parks ‚marginal man‘ in der Position des Randständigen, der auf Grund seiner schwachen sozialen Integration durch die Grenzlage charakterisiert ist. Im Gegensatz zu „innerer Distanz“ ist geringe kulturelle Einbindung aber eher ein defizitärer Befund, eine Herausforderung für Sozial- und Gesellschaftspolitik. Park hat den marginalen Fremden in seiner Schrift aus dem Jahre 1928 als einen kulturell gemischten Menschen, in der heutigen Terminologie als einen ‚Hybriden‘, beschrieben: […] ein Mensch, der im kulturellen Leben und in den Traditionen zweier Kulturen lebt und sie auf intime Weise teilt; der, auch wenn es ihm niemand untersagen könnte, nie bereit wäre, mit seiner Vergangenheit und mit seinen Traditionen zu brechen, und der, aus einem rassischen Vorurteil heraus, in der Gesellschaft, in der er jetzt seinen Platz sucht, nie vollständig akzeptiert wurde. Er ist ein Mensch auf der Grenze zweier Kulturen und zweier Gesellschaften, die sich nie vollständig fusionieren und miteinander funktionieren. 57 55 Stichweh, Der Fremde, S. 10. 56 Simmel, Soziologie, S. 764. 57 Zit. nach: Stichweh, Der Fremde, S. 11 f. 6.6. Die soziale Konstruktion des Fremden (1): R. Stichweh 164 6. Georg Simmel und Alfred Schütz ‚Hybridität‘ kann- - und darin scheint mir eine analytische Leistung Parks zu bestehen- - demnach je nach sozialem Status eine Chance oder aber auch ein Handicap bedeuten. Es ist nicht nur der unübersehbare Außendruck zur Anpassung, sondern auch der Wunsch, der Marginalisierung zu entrinnen, der den Fremden dazu bringt, ein heimisches Gesicht zu bekommen und womöglich seine Herkunft im doppelten Sinn des Wortes zu ‚vergessen‘: als non-intentionales Verschwinden eines vergangenen Erlebnisses und als dessen abschätzige Bewertung in der Umgangssprache: Das kannst (Du) vergessen. Stichweh führt noch eine weitere Differenzierung vor, bei der es um die Identifizierung mit einem sozialen und kulturellen System geht. Der Autor unterscheidet dabei vier Optionen: 1. Das detachement. Diese Haltung des Fremden gegenüber seiner neuen kulturellen Heimat ist mehr oder minder identisch mit der inneren Distanznahme, die Simmel für den Fremden als Grunddisposition annimmt und die eigentümliche Mischung aus nah und fern in sich trägt. Stichweh setzt sie von der Gleichgültigkeit ab. 2. Die geteilte Loyalität. Diese ist für den ‚hybriden‘ Mensch charakteristisch, der sich zwei kulturellen Lebenswelten gegenüber verpflichtet fühlt. Solche partikulären Identitäten finden sich auch im modernen Berufsleben. 3. Die disaffiliation. Dabei handelt es sich um die Identifikation des Fremden mit einer neuen Kultur, die aber von dieser bzw. deren Angehörigen verweigert wird. 4. Die multiple Identifikation. Diese unterscheidet sich von der zweiten Haltung dadurch, dass es hier, wie im Fall vieler amerikanischen Juden, zu einer „konflikt- und reibungsfreien Partizipation an zwei Kulturen“ 58 kommt, während bei der „geteilten Loyalität“ ein Spannungsverhältnis, ja vielleicht sogar Unvereinbarkeit besteht. Zwei mögliche und auch historisch wirksame Haltungen bleiben in dieser Auflistung ausgespart: Zum einen die vollständige und offene Ablehnung der neuen Kultur und die damit verbundenen Formen der mehr oder minder freiwilligen Ghettobzw. Nischenbildung, zum anderen die vollständige Assimilation, die mit 58 Stichweh, Der Fremde, S. 15. 165 dem intentionalen und non-intentionalen Vergessen der eigenen Herkunft und auch dem Namenswechsel verbunden ist. In seiner Rekonstruktion der klassischen Soziologie des Fremden greift Stichweh eine weitere Unterscheidung auf, der wir insbesondere schon bei Simmel begegnet sind. Es ist jene Differenzierung zwischen ‚Händler‘ und ‚Bodenbesitzer‘. Beide Figuren markieren unterschiedliche Eigentumsformen und verschiedene Ausprägungen der Beweglichkeit. Wenn der Fremde-- mit Simmel gesprochen--, der händlerischen Tätigkeit zuneigt, dann kann dem Fremden in der Tat eine Modernisierungsfunktion hinsichtlich einer sich durch Tausch- und Kommunikationsmedien weitenden Welt zugeschrieben werden. Damit wird aber auch deutlich, dass sich eine globale Gesellschaft, in der das Medium Geld eine nicht nur ökonomisch, sondern auch sozial und kulturell wirksame und bestimmende Macht darstellt, immer mehr dahingehend entwickelt, dass sich in ihr Fremde bewegen und einander begegnen. Denn wie Stichweh betont, ist Fremdheit immer ein relationales Phänomen. 59 Eine wachsende Anzahl von Menschen auf diesem Planeten bewegt sich zunehmend in einem sozialen und kulturellen Lebensalltag, in dem die Fremde beinahe etwas Vertrautes geworden ist. Wir haben andauernd mit Menschen zu tun, die wir nicht kennen, selbst wenn sie aus unserem Kulturkreis kommen. Es sind Menschen, von denen wir nicht wissen, ob sie ein ähnliches, gleiches oder verschiedenes kulturelles Programm in sich tragen. Ob das nun gut oder schlecht ist, sei einmal dahingestellt. Tatsache bleibt, dass wir zunächst von der Annahme einer bestimmten Ähnlichkeit ausgehen. 60 6.7. Beiträge zur sozialen Konstruktion des Fremden in der gegenwärtigen Soziologie (2): Kai-Uwe Hellmann Fremdheit als soziale Konstruktion Der Aufsatz des Luhmann-Schülers Kai-Uwe Hellmann Fremdheit als soziale Konstruktion aus dem Jahr 1998 ist im Zusammenhang mit einer umfangreichen, von dem prominenten Politikwissenschaftler Herfried Münkler geleiteten interdisziplinären Arbeitsgruppe Die Herausforderung durch das Fremde entstanden. 59 Stichweh, Der Fremde, S. 19-22. 60 Bhatti, Anil / Kimmich, Dorothee: „Einleitung“. In: Anil Bhatti / Dorothee Kimmich (Hg.): Ähnlichkeit. Ein kulturtheoretisches Paradigma. Konstanz: Konstanz University Press, 2015. S. 7-31. 6.6. Die soziale Konstruktion des Fremden (2): K.-U. Hellmann 166 6. Georg Simmel und Alfred Schütz Ziel dieses Unternehmens war es, dem Phänomen des Fremden aus den verschiedensten disziplinären Forschungsperspektiven nachzugehen und dabei den unterschiedlichen „Dimensionen der Fremdheit wie der über sie vermittelten Identitätsbildung“ 61 nachzugehen. Hellmanns Beitrag, der den programmatischen Untertitel Eine Studie zur Systemtheorie des Fremden trägt, stellt unübersehbar eine Weiterentwicklung der von Alfred Schütz entfalteten Gedanken dar und bettet sie in die Systemtheorie von Niklas Luhmann ein. Zugleich bezieht der Autor aber auch Überlegungen von Rudolf Stichweh, Armin Nassehi und Alois Hahn, die er als Beiträge zu einer Systemtheorie des Fremden ansieht, in seine Ausführungen mit ein. Dabei formuliert er zwei Leitfragen, eine komparativ-historische und eine allgemein anthropologische: 1. Wie gehen evolutionär unterschiedliche Gesellschaftsformen wie Stammesgesellschaft, Hochkultur und moderne Gesellschaft mit Fremdheit um-[…] 2. Welche allgemeinen Merkmale weist die Konstruktion von Fremdheit auf ? 62 Hellman, der die Ausdrücke ‚der Fremde‘, ‚das Fremde‘ und ‚Fremdheit‘ weithin synonym fasst, operiert mit einem evolutionistischen Ansatz, der die Varietät historischer und gegenwärtiger Partikularkulturen in ein ‚trinitarisches‘ Schema fasst. Auffällig ist, dass diese Typologie ausschließlich auf der Zeitachse angesiedelt ist. Offensichtlich geht der Verfasser davon aus, dass sämtliche menschlichen Partialkulturen dieser Welt insgesamt mehr oder minder linear drei Stadien durchlaufen: jenes der Stammesgesellschaft, jenes der Hochkultur und jenes der Moderne. Die Frage, ob es aber nicht auch auf der Raumachse bemerkenswerte Unterschiede im Umgang mit Fremdheit gibt, bleibt von Anfang an ausgespart. Hellmans zweite Leitfrage zielt darauf ab, dass es, ungeachtet der verschiedenen Kulturstadien, menschliche Universalien gibt, also gewissermaßen eine Anthropologie der Fremdheit und des Fremd-Seins, die sich in ganz bestimmten Reaktionsbildungen und Konstruktionsformen niederschlägt. Eine solche Position hält sich gegenüber naturwissenschaftlich-biologischen Fragestellungen offen. Mit dem evolutionsgeschichtlichen Schema und der Hypothese einer transkulturellen anthropologischen Konstante im Umgang mit dem Fremden geht ein 61 Münkler, Herfried: „Vorwort“. In: Münkler, Herfried (Hg.): Die Herausforderung durch das Fremde. Berlin: Akademie-Verlag, 1998. S. 7. 62 Hellmann, Kai-Uwe: „Fremdheit als Erfahrung. Eine Studie zur Systemtheorie des Fremden“. In: Münkler, Die Herausforderung durch das Fremde, S. 403. 167 gewisser Reduktionismus einher, der das Spezifische kultureller Möglichkeiten hintanstellt. Kommen wir auf die drei Stadien menschlicher Kultur im Sinne dieses systemtheoretischen Ansatzes zu sprechen, so lässt sich sagen, dass dieser davon ausgeht, dass stammesgeschichtliche Gesellschaften zu extremen Reaktions- und Konstruktionsweisen im Hinblick auf den Fremden neigen. In ihnen gibt es die Möglichkeit, den Fremden zu verherrlichen, ihm göttliche Eigenschaften zuzusprechen oder ihn gar zum Stammeshäuptling zu machen. Eine konträre Option ist die Tötung des Fremden, sein realer und symbolischer Verzehr oder seine soziale Einverleibung (Heirat). 63 Diesen Extremismus erklärt Hellman aus dem Umstand, dass diese Gesellschaften auf Grund ihrer Homogenität noch nicht über Sozial- und Kulturtechniken verfügen, Fremde auf eine ganz spezifische Weise im eigenen Raum zu platzieren. 64 Solche frühen Gesellschaftsformen sieht Hellmann dadurch charakterisiert, dass sie segmentär differenziert sind. Das heißt, dass sie „aus füreinander gleichen Teilsystemen wie Familien oder Verwandtschaftsnetzwerken“ bestehen. 65 Die Konstitution stabiler kultureller Systeme gelingt auch im Falle von Hochkulturen, die ähnlich wie die Stammesgesellschaften Rituale im Umgang mit dem Fremden entwickeln. Ein solcher Brauch ist etwa die Gastfreundschaft, die aber unversehens in Fremdenfeindlichkeit umkippen kann. In den Hochkulturen ist es möglich, dass Fremden im neuen sozialen und kulturellen Umfeld bestimmte Sonderrollen zugewiesen bekommen. In diesem Zusammenhang lässt sich auch auf Simmel verweisen, der als erster auf die Funktionen der Schlichtung (Schiedsrichter) oder Vermittlung zwischen Binnenwelt und Außenwelt (der reisende Händler) hingewiesen hat. 66 Im Gegensatz zu rezenten Gesellschaften sind Hochkulturen aber primär stratifiziert differenziert, sie bestehen aus „füreinander ungleichen Teilsystemen“ (Ober- und Unterschicht, Stadt / Land). 67 Die Erfahrung von Ungleichheit und Heterogenität ist hier, im Gegensatz zu Stammesgesellschaften, gegeben. Dies ermöglicht es, Menschen aus anderen Herkunftskulturen dem Ungleichheitsgebot entsprechend-- oben oder unten-- zu positionieren. 63 Hellmann, „Fremdheit als Erfahrung“, S. 404. 64 Hellmann, „Fremdheit als Erfahrung“, S. 407. 65 Hellmann, „Fremdheit als Erfahrung“, S. 406. 66 Hellmann, „Fremdheit als Erfahrung“, S. 404. 67 Hellmann, „Fremdheit als Erfahrung“, S. 406. 6.6. Die soziale Konstruktion des Fremden (2): K.-U. Hellmann 168 6. Georg Simmel und Alfred Schütz In der Moderne wiederum kehrt sich das Verhältnis von Einheimischen und Fremden, von Vertrauten und Unvertrauten dramatisch um. Während der Fremde in rezenten und hochkulturellen Gesellschaften eher die Ausnahme darstellt, so wird er, dem Typenschema der kulturellen Evolutionstheorie folgend, nunmehr in einem urban geprägten Lebensalltag zur Regel. Moderne Gesellschaften beruhen auf „funktioneller Differenzierung“. Das ist eine zentrale Kategorie in Luhmanns Systemtheorie. Hier beruht die Gesellschaft „aus füreinander gleichen wie ungleichen Teilsystemen“. Gleich sind diese Teilsysteme, weil sie alle eine „gesellschaftlich relevante Funktion“ besitzen, ungleich sind diese Teilsysteme, weil diese Funktionen völlig verschieden sind. Dabei verliert die Familie gegenüber den beiden anderen Gesellschaftstypen zunehmend ihre identitätsstiftende Rolle. In den modernen anonymen Gesellschaften, in der die Teilsysteme weithin voneinander entkoppelt sind, wird die Erfahrung von Fremdheit und Fremd- Sein zu einer „erwartbaren Normalität“ (Stichweh). Die Beunruhigung durch das Fremde löst sich in einer Gesellschaft, in der alle einander fremd sind, tendenziell auf und büßt ihren Schrecken ein-- so die überaus optimistische Diagnose einer konstruktivistischen Soziologie des Fremden. 68 Nicht erst die weltweit grassierende Xenophobie, sondern schon die nationalen Homogenisierungsbestrebungen (Nationsbildung) machen sichtbar, dass das hier vorgelegte Modell viel zu einfach und linear konzipiert ist. Will man diese Phänomene nicht kulturgeschichtlich als Rückzugsgefechte früherer und überkommener Konstruktionsformen des Eigenen und des Fremden ansehen, dann wird deutlich, dass die kulturellen Homogenisierungstendenzen, die überall, etwa im europäischen Kontext zur symbolischen Vereinheitlichung in den Bereichen von Kultur, Medien und Öffentlichkeit nationaler Gesellschaften führen, quer zu jener von der soziologischen Systemtheorie konstatierten funktionellen Differenzierung stehen. An dieser Stelle wird übrigens ein Kontrast zwischen sozial- und kulturwissenschaftlichen Perspektiven unübersehbar. Beschäftigt sich etwa die Soziologie mit der Funktion des Fremden in verschiedenen Typen von Gesellschaften, rückt mit der Kulturanalyse jener Aspekt des Symbolismus ins Zentrum, der sich womöglich nicht so leicht dem funktionalistischen Denken, wie es die Sozialwissenschaften grosso modo bestimmt, zuordnen lässt. Der Fremde unserer Tage, der Migrant, wird, über die ökonomischen Existenzängste hinaus, als „beunruhigendes Moment“ wahrgenommen, weil er die eigene traditionelle Identität 68 Hellmann, „Fremdheit als Erfahrung“, S. 408 f. 169 bedroht. Er wird als Agent einer kulturellen Enteignung wahrgenommen, als einer ‚Entfremdung‘ in einem freilich non-marxistischen Sinne. Eben weil alles und alle fremd geworden sind, erhält die Sehnsucht nach ‚Heimat‘ einen kräftigen Schub. 69 Während vormoderne Kulturen über Mechanismen verfügen, Fremdheit im eigenen Kontext sozial und kulturell zu neutralisieren und zu kanalisieren, besteht in modernen, post-nationalen Gesellschaften Bedarf an neuen Techniken, mit der eigenen und der fremden Fremdheit umgehen zu lernen. In jedem Fall ist Fremdheit nicht im Sinne fester Attribute fixierbar. Fremdheit ist, sozialwie kulturwissenschaftlich, kontextuell: „Fremd ist, wer als fremd bezeichnet wird.“ 70 Jede Differenz trägt das symbolische Potential in sich, Fremdheit und damit potentiell Feindschaft und Konflikt zu konstruieren. 71 Solche dramatischen Beispiele sind uns aus der Zeitgeschichte bekannt: So wurden etwa die europäischen Juden in Zentraleuropa durch Mechanismen der Ausgrenzung und Verfolgung als andere, fremde „Rasse“ stigmatisiert. Ein weiteres Beispiel ist die Transformierung religiöser Unterschiede in unvereinbare Fremdheit, die Kroaten, Serben und bosnische Muslime im Zuge der post-jugoslawischen Kriege zu erbitterten Feinden gemacht hat. Im Prinzip basiert die Nationsbildung seit dem 19. Jahrhundert auf der Produktion von Fremdheit: Die Fremden sind Menschen, die nicht in das Bild einer sprachlich und kulturell homogenen Nationalkultur passen; sie sind die Feinde im eigenen Haus, die fünfte Kolonne, die es gegebenenfalls sogar handgreiflich auszuschalten gilt. Die Systemtheorie des Fremden versucht demgegenüber, die Fremdheit kommunikations- und informationstheoretisch zu fassen. In diesem Sinne schließt Hellmanns Aufsatz an Alfred Schütz an, der die Situation des Fremden dadurch charakterisiert sieht, dass er mit der neuen kulturellen Lebenswelt, in die er als Migrant eintritt, unvertraut ist. In der Konstruktion von Fremdheit spielt demnach das „Verstehensproblem“ eine fundamentale Rolle. 72 Im Unterschied zu Schütz, der die Unvertrautheit aus der Sicht des Fremden beschreibt, lenkt die Systemtheorie ihr Hauptaugenmerk auf die Perspektive der Mehrheitsgesellschaft. 69 Müller-Funk, Niemand zu Hause, S. 49. 70 Hellmann, „Fremdheit als Erfahrung“, S. 409. 71 Koschorke, Albrecht: „Wie werden aus Spannungen Differenzen? Feldtheoretische Überlegungen zur Konfliktsemantik“. In: Fassmann, Heinz / Müller-Funk, Wolfgang / Uhl, Heidemarie: Kulturen der Differenz-- Tramsformationspozesse in Zentraleuropa nach . Transdisziplinäre Perspektiven. Wien: Vienna University Press, 2009. S. 271-286. 72 Hellmann, „Fremdheit als Erfahrung“, S. 410. 6.6. Die soziale Konstruktion des Fremden (2): K.-U. Hellmann 170 6. Georg Simmel und Alfred Schütz Hellmann betrachtet Kultur und Kommunikation teilweise synonymisch. Er interessiert sich nicht zuletzt deshalb für ‚Kultur‘ unter ihrem kommunikativen Aspekt, weil sich dadurch der Großbegriff ‚Gesellschaft‘ mit dem der ‚Kultur‘ verschränken lässt. Kulturelle Prozesse in diesem Sinne generieren insofern eine Stabilität, als die Mitglieder einer soziokulturellen Entität davon ausgehen, dass Information und Kommunikation funktionieren. Sie unterliegen einem Automatismus, der den Beteiligten oft gar nicht bewusst ist und auch nicht bewusst zu sein braucht. In diesem Sinn gibt es so etwas wie symbolische und kommunikative Selbstverständlichkeit. Der Fremde ist nun jene Konfiguration, die dieses Selbstverständnis irritiert. Für den Einwandernden sind sprachliche Bezüge zunächst ein Problem, weil er oder sie den neuen kulturellen Kontext und die damit einhergehenden sozialen Spielregeln noch nicht kennt. Für das bestehende ‚System‘ kann Fremdheit zum Stein des Anstoßes werden, weil- - so das Modell der Systemtheorie- - die gewohnte Kommunikation ins Stocken gerät, was zu „Störungen von Routineabläufen und Krisenkommunikation“ 73 führt. Zugleich eröffnet diese Fremdheit die Möglichkeit der Innovation und der Veränderung, weshalb der Autor die Figur der Ambivalenz ins Spiel bringt. Diese ist ähnlich wie die asymmetrische Situation des Fremden und die Erfahrung der Unvertrautheit eine universale, auch wenn die drei gesellschaftlichen Idealtypen der Systemtheorie (Stammesgesellschaft, Hochkultur, Moderne) unterschiedlich damit umgehen mögen. Im zweiten Teil der Abhandlung kommt der Aufsatz nun eingehender auf die soziale Konstruktion jener Fremdheit als Unvertrautheit zu sprechen. Vertrautheit und das eher weniger gebräuchliche Gegenstück Unvertrautheit enthalten Konnotationen, die etwa über Bekanntheit bzw. Unbekanntheit hinausreichen. 74 Denn bei der Unvertrautheit geht es nicht um das bloße Fehlen bestimmter Kenntnisse und Informationen, sondern auch darum, dass sie mir nicht selbstverständlich sind und dass ich mit bestimmten Symbolismen, Kulturtechniken und Spielregeln nicht umzugehen gelernt habe. Ferner steckt in der Un / Vertrautheit eine andere Nebenbedeutung, nämlich das (Nicht-)Vertrauen, das hier ein doppeltes ist: das (Nicht-)Vertrauen in die zunächst ungewohnten Verfahren, Regeln und Lebensformen der neuen Kultur, in die ich geraten bin, und das Nicht-Vertrauen in jene Menschen, die diese Kultur repräsentieren. Das gilt im Sinne der asymmetrischen Reziprozität selbstredend auch für den Einheimischen, der durch die 73 Hellmann, „Fremdheit als Erfahrung“, S. 412. 74 Hellmann, „Fremdheit als Erfahrung“, S. 415. 171 Unvertrautheit des Fremden mit seiner Kultur verunsichert wird. Die Existenz des kulturell Fremden stellt strukturell eine Infragestellung meiner kulturellen Selbstverständlichkeit dar. Hellmann formuliert demgegenüber das Problem des Fremden und der mit ihm einhergehenden Phänomene durchaus formaler, nämlich als Nichtverstehen, Unvertrautheit, Problem, Krise und Ambivalenz. Für ihn setzt sich Kommunikation „als Operation aus drei Selektionen“ zusammen, wobei das aus dem Darwinismus bekannte Wort ‚Selektion‘ Auswahl und Präferenz meint, zugleich aber auch auf den evolutionstheoretischen Ansatz des Verfassers verweist. Bei den drei Formen der Selektion beruft er sich auf Luhmann: 1. Information: Bei der Information geht es um die Auswahl eines „möglichen Sachverhalts“ aus der Vielfalt möglicher Aussagen über die Welt. („Worüber sprichst Du? “) 2. Mitteilung: Bei der Mitteilung steht die „Auswahl eines möglichen Mitteilungsverhaltens“ aus der Vielfalt der möglichen Aussagemodi. („Meinst Du das ernst? “) 3. Verstehen: Beim Verstehen geht es darum, den Unterschied zwischen Information und Mitteilung verstanden zu haben. Erst durch das Verstehen kommt Kommunikation zustande. Das Verstehen wird in diesem Zusammenhang gleichfalls als eine Selektion verstanden, nämlich als eine zwischen Kommunikation und Nicht-Kommunikation. 75 Hellmann unterscheidet im Hinblick auf das (Nicht-)Verstehen drei Möglichkeiten: das kommunikative Rauschen (Nicht-Kommunikation), das operative Begreifen und das strukturelle Verstehen. Im Fall des operativen Begreifens funktioniert der Kommunikationsablauf formal, während er beim strukturellen Verstehen auf den ‚inhaltlichen Gehalt‘ zielt: Wenn man die Konstruktion von Fremdheit systemtheoretisch als eine Kommunikation begreift, dann war der Verstehensversuch zumindest auf der operativen Ebene erfolgreich: Es wurde eine Differenz von Information und Mitteilung beobachtet, die Kommunikation kam als Operation zustande. Anders auf der Ebene der Beobachtung, dem strukturellen Verstehen, wo es darum geht zu deuten, was und wie jemand etwas mitteilt, also Information und Mitteilung von ihrem inhaltlichen Gehalt her zu verstehen. 76 75 Hellmann, „Fremdheit als Erfahrung“, S. 414. 76 Hellmann, „Fremdheit als Erfahrung“, S. 415. 6.6. Die soziale Konstruktion des Fremden (2): K.-U. Hellmann 172 6. Georg Simmel und Alfred Schütz Das Nicht-Verstehen, das mit Fremdheit einhergeht, kann nun alle drei Formen der Selektion betreffen, die Information, die Mitteilung und das Verstehen als solches. 1. Das Nicht-Verstehen der Information: „Man kennt die Welt des Fremden nicht und weiß nicht, worüber er spricht.“ 2. Das Nicht-Verstehen der Mitteilung: Man versteht zwar die Information, nicht aber die Form der Mitteilung, weil mir die Person fremd erscheint. 3. Das Nicht-Verstehen des Verstehens: Hier wird weder die Information noch die Mitteilung verstanden, weil mir das Wissen über die Welt ebenso fremd ist wie der Modus der Mitteilung. Das erzeugt eine radikale Fremdheit und Unvertrautheit. Der Fremde erscheint hier als ein uneinholbares Wesen, das nicht unsresgleichen ist. Hellmann zitiert in diesem Zusammenhang einen Satz Wittgensteins: „Wenn ein Löwe sprechen könnte, wir könnten ihn nicht verstehen.“ 77 In einer-- gemeinsamen-- Welt im Status einer bestimmten Gewissheit zu leben, das könnte unter Rückgriff auf Alfred Schütz eine Umschreibung von Vertrautheit darstellen. Diese ist latent und befindet sich im Zustand des für selbstverständlich Gehaltenen. Weil sie unhinterfragt ist, verbindet sie Menschen zu einer Gemeinschaft. In der Gemeinschaft besteht ein bestimmter Grad von Einvernehmlichkeit: „Systemtheoretisch betrachtet ist es entscheidend, daß Vertrautheit im Kommunikationsprozeß Anschlußfähigkeit absichert.“ 78 Der hier verwendete Begriff ist eigentümlich sperrig und beinhaltet zwei Momente: Einerseits meint Anschluss den Vollzug der Zugehörigkeit zu einer Gruppe, mit der ich ein mehr oder minder strukturiertes Bündel von Gewissheiten teile. Andererseits wird mit dem zweiten Teil des Kompositums auf meine Möglichkeit angesprochen, den Akt der Integration zu vollziehen. Diese kann ich gegenüber einem Fremden, dessen Lebenswelt und oft auch Sprache ich nicht kenne, nicht realisieren, sie ist im höchsten Maße eingeschränkt. Aber auch der oder die Fremde befindet sich, womöglich noch auf eine ungleich prekärere Weise, in der Situation, sich nicht anschließen zu können. Das führt zu einer „Erwartungsenttäuschung“ 79 , denn jede Kommunikation basiert, der Systemtheorie zufolge, wie sie Hellmann uns hier exemplarisch vorführt, auf der Erwartung ihres Gelingens. Das Vertraute wird problematisiert. „Die Erfahrung des Fremden kon- 77 Hellmann, „Fremdheit als Erfahrung“, S. 416-418. 78 Hellmann, „Fremdheit als Erfahrung“, S. 421. 79 Hellmann, „Fremdheit als Erfahrung“, S. 423. 173 frontiert die Gewißheit des Vertrauten gewissermaßen mit einer Situation, in der sich diese Gewissheit als Illusion erweist- […].“ 80 Daraus entstehen drei weitere Phänomene, die mit Fremdheit als sozialer Konstruktion einhergehen: Problem, Krise und Ambivalenz. Diese drei Momente bedingen einander, denn das strukturelle Nicht-Verstehen in der Kommunikation führt zu Erwartungsenttäuschung und Vertrauensverlust. Diese wiederum lösen eine Krise über die Gewissheiten aus, die eine sozio-kulturelle Entität ausmachen und charakterisieren. Diese Krise wiederum trägt das Merkmal der Ambivalenz in sich, insofern sie nicht nur einen Verlust alter Gewissheiten, sondern neue Möglichkeiten eröffnet. Ambivalenz bedeutet stets auch die unaufhebbare Dualität von Angst und Neugierde. 81 Es ist unübersehbar für den von Simmel und Schütz initiierten Diskurs über Fremdheit als soziale Konstruktion, dass er die Figur des Fremden sehr weit fasst. Das hat mit dem Funktionalismus der Systemtheorie aber auch mit der Konzentration auf das Kommunikationsproblem zu tun, das übrigens ein in den Kulturwissenschaften verbreitetes Thema, nämlich Viel- und Mehrsprachigkeit, nahezu völlig ignoriert. Wenn der Fremde der oder die ist, der in einer bestimmten Situation nicht zuletzt wegen seines Kommunikationsverhaltens als fremd wahrgenommen und bezeichnet wird, dann kann jeder und jede von uns in einer bestimmten Situation „fremd“ sein, auch wenn er oder sie keineswegs migrantisch und in diesem Sinne kulturell Fremde sind: eine junge Frau in einer dominant und programmatisch männlichen Gruppe, ein Intellektueller an einem Stammtisch, ein Naturwissenschaftler in einer literatur- oder kulturwissenschaftlichen Vorlesung. In all diesen Situationen kommt es unter Umständen zu einem Nicht-Verstehen der Information, der Mitteilung, zu fehlender „Anschlussfähigkeit“, zu „Erwartungsenttäuschung“, zu „Unvertrautheit“, „Problem“, „Krise“ und womöglich auch zu „Ambivalenz“. Kritisch gesprochen, ist dieser Ansatz nicht imstande, die spezifische Differenz zwischen dieser uns allen geläufigen Fremdheit und jener sprachlich-religiös-kulturellen herauszustellen. Was die Systemtheorie des Fremden überdies von den Anfängen einer Soziologie der Fremdheit unterscheidet, ist ein methodisch vorgegebener Perspektivwechsel. Fremdheit wird als soziale Konstruktion doch vornehmlich aus der Perspektive des ‚Systems‘ und seiner Repräsentanten gesehen und nicht (mehr) auch aus der Position des durch seine soziale Stellung aber auch durch seine Unvertrautheit marginalisierten Menschen. 80 Hellmann, „Fremdheit als Erfahrung“, S. 422. 81 Hellmann, „Fremdheit als Erfahrung“, S. 435. 6.6. Die soziale Konstruktion des Fremden (2): K.-U. Hellmann 174 7. Jacques Lacans Theorie des Spiegelstadiums 7. Ich ist ein Anderer (Rimbaud). Das gespaltene Ich: Jacques Lacans Theorie des Spiegelstadiums 7.1. Vorbemerkung Am 3. August 1936 hielt ein junger französischer Psychiater und Psychoanalytiker, Jacques Lacan (1901-1981), beim 14. Kongress der Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung in Marienbad einen mündlichen Vortrag über das Spiegelstadium. Er verließ den Kongress vor dessen Ende, um zu den elften Olympischen Spielen, die in Berlin ausgetragen wurden, zu reisen. Das nationalsozialistische Regime hatte diese internationale Sportveranstaltung zum ersten Mal in der Geschichte der neuzeitlichen Olympischen Spiele mit einem gigantischen medialen Aufwand zelebriert. Wie der Psychoanalytiker und Lacan-Schüler Philipp Julien meint, besteht zwischen Lacans Theorie des Narzissmus als „einer ontologischen Struktur der menschlichen Welt“ 1 und der rassistischen Selbstfeier des nationalsozialistischen Deutschland ein inniger Zusammenhang. Lacan hat, so lautet die These Juliens, eine Theorie vorgelegt, die die wahre Quelle des modernen Rassismus freilegt. 2 Davon wird am Ende des Kapitels noch die Rede sein. Die Überlegungen zum Spiegelstadium, die Lacan dann noch einmal, dreizehn Jahre später und diesmal in schriftlicher Form, auf dem 16. Kongress der Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung in Zürich 1949 vortragen wird, markieren eine nachhaltige und fortdauernde Wende im psychoanalytischen Diskurs. Von einem „return“, von einer Rückkehr also, spricht die Studie von Julien, von einer „Ent-Stellung“ der bedeutende Lacan-Kommentator Samuel Weber. 3 Damit ist eine Doppelbewegung beschrieben, die gegen eine Verwässerung der Freudschen Lehren im US -amerikanischen Diskurs eintritt. Zugleich möchte sie an bestimmten widerständigen Grundprämissen der Psychoanalyse festhalten und begreift sich als deren Weiterentwicklung. Im Prinzip ist dies bereits mit der Formel von der Rückkehr beschrieben, die ja, wie jede Art der Wiederholung, niemals eine Wiederherstellung des Gleichen ist, sondern eine innovative Rück- 1 Lacan, Jacques: „Das Spiegelstadium als Bildner der Ichfunktion“. In: Ders.: Schriften . Herausgegeben von Norbert Haas. Olten / Freiburg: Walter, 1973. S. 61-70. Hier: S. 64. 2 Julien, Philippe: Jacques Lacan’s Return to Freud. New York: New York University Press, 1994. S. 28. 3 Weber, Samuel: Rückkehr zu Freud. Jacques Lacans Ent-stellung der Psychoanalyse. Frankfurt / Main: Ullstein, 1978. 175 7.2. Vom doppelten Ich zum Spiegelstadium wendung darstellen kann. Dabei kommen vier Momente zum Tragen: Das erste ist die Weiterentwicklung von Psychiatrie und Psychoanalyse. Zweitens bringt die mit Saussure und dem Strukturalismus vollzogene linguistische Wende in den Humanwissenschaften Lacan dazu, das Unbewusste, das sich etwa im Traum manifestiert, als einen sprachlichen Symbolismus zu verstehen. Das dritte Moment knüpft sich an das Entstehen einer post-klassischen Philosophie in Frankreich, die mit dem traditionellen Identitätsschemata im philosophischen Diskurs bricht ( → -Kapitel 1, 4, 5) und deren gemeinsamer Nenner eben Rimbauds Satz Je est un autre / Ich ist ein Anderer 4 ist. Und schließlich ist es der Surrealismus, der Nachfahre von Symbolismus und forcierter Romantik, denn dieser spielt beim Kulturtransfer der Psychoanalyse in die Frankophonie eine ganz wesentliche Rolle. Wie Nicolas Langlitz darlegt, brachte der Kreis um Breton den jungen Psychiater Lacan mit den Lehren Freuds in intensive Verbindung. 5 All dies führt zu einem neuen Vokabular der Psychoanalyse, das zuweilen auf die klassischen Termini Freuds zurückgreift, diese aber zugleich überschreibt. So verschwindet in der Lacanschen Theorie weithin die Triade Es, Ich und Über-Ich und wird durch die trinitarische Gedankenfigur des Realen, Imaginären und Symbolischen überschrieben. Lacans Grundkategorien sind keineswegs eindeutig und markieren keine strikten linearen Trennungen zwischen verschiedenen Bereichen. Vielmehr greifen die durch diese Begriffe bezeichneten Prozesse ineinander. Was die Lektüre von Lacans Werk so schwierig macht, ist die Komplexität eines post-logischen Denkens und einer Sprache, die sich spielerisch, zuweilen auch poetisch und auf jeden Fall uneindeutig den schwer greifbaren psychischen Phänomenen anzunähern versucht. Hinzu kommt auch, dass sein Denken auf Prämissen aus anderen Theoriekomplexen beruht, die er nicht immer expliziert. 7.2. Vom doppelten Ich zum Spiegelstadium Ganz wesentlich für die Eigenart des Lacanschen Denkens ist die Unterscheidung zwischen zwei Ich-Instanzen, die die französische Sprache auf elegante Weise möglich macht, jene zwischen moi und je. Diese Differenzierung wurde immer wieder mit der Freudschen Unterscheidung von Es und Ich gleichgesetzt. Achim 4 Werner von Koppenfels: „Nachwort“. In: Rimbaud, Arthur: Seher-Briefe / Lettres du voyant. Übersetzt und herausgegeben von Werner von Koppenfels. Mainz: Dieterich’sche Verlagsbuchhandlung, 1990. S. 105. 5 Langlitz, Nicolas: Die Zeit der Psychoanalyse. Lacan und das Problem der Sitzungsdauer. Frankfurt / Main: Suhrkamp, 2005. S. 31. 176 7. Jacques Lacans Theorie des Spiegelstadiums Perner hat vorgeschlagen, das Lacansche Je tendenziell mit dem Freudschen Ich gleichzusetzen und es als jenes Selbst zu begreifen, das durch die Identifikation mit dem Spiegelbild überhaupt erst entsteht. Ob das moi demgegenüber dessen unbewusste Seite repräsentiert, darüber sind sich die Lacan-Forscher nicht einig. Vom Freudschen Es unterscheidet es sich schlichtweg dadurch, dass Es einen ungeteilten Zustand markiert, in dem es noch kein Ich geben kann. Meistens wird das moi als imaginäres Ich-Bild verstanden. 6 Das Spiegelstadium ist jene Phase, in der das Ich sich durch die Begegnung mit einem äußeren Ebenbild konstituiert und etabliert. Das Je verkörpert dabei den integralen Aspekt (‚Das bin ich‘), während das moi den imaginären Aspekt verkörpert. Die Dualität von moi und je betont auch die im Grunde unaufhebbare Gespaltenheit des menschlichen Subjekts sehr plastisch. Das sich betrachtende Subjekt wird niemals mit seinem imaginären Bild identisch. Was ‚ich‘ ist, das ist stets eine Projektion. Es gibt kein Jenseits des Spiegels. Das Bild ist keine Reproduktion, sondern eine Repräsentation. 7 Mit diesem Begriff verweist Lacans Vortrag von 1949 auf bestimmte Befunde der vergleichenden Psychologie seiner Tage. Zugleich aber sieht er in ihnen eine Bestätigung seiner eigenen theoretischen Bemühungen „die Funktion des Ich (je), wie wir sie in der Psychoanalyse erfahren, zu verdeutlichen“. Schon im ersten Abschnitt lässt Lacan keinen Zweifel an der theoretischen Tragweite seiner Interpretation des frühkindlichen Spiegelstadiums, wenn er meint, dass diese „spezielle Erfahrung- […] jeder Philosophie“ diametral entgegensteht, „die sich unmittelbar vom cogito ableitet“. 8 In der Philosophie ist das sich durch den mentalen Zweifel konstituierende Ich als ein autonomes und rationales Subjekt gedacht. Das Subjekt Lacans hingegen ist heteronom und an einen verzweifelten, unendlichen Akt der Selbstidentifikation geknüpft. Wie es am Ende des Vortragstexts heißen wird, befindet es sich im Zustand einer „imaginären Knechtschaft“. 9 Das ist philosophiegeschichtlich betrachtet nicht der erste theoretische Bruch mit der von René Descartes begründeten, neuzeitlich-okzidentalen Subjekt-Philosophie (zu denken ist hier zum Beispiel an die deutsche Frühroman- 6 Im Hinblick auf die Arbeiten von Cindy Sherman siehe: Perner, Achim: „Einführende Bemerkungen zu Jacques Lacan: Das Spiegelstadium als Bildner der Ichfunktion“. In: http: / / www.freud-lacan-berlin.de / res / Perner_Einfuehrung_Spiegelstadium.pdf, heruntergeladen am 29. 02. 2016. 7 Weber, Rückkehr zu Freud, S. 18. 8 Lacan, „Das Spiegelstadium“, S. 63. 9 Lacan, „Das Spiegelstadium“, S. 70. 177 7.2. Vom doppelten Ich zum Spiegelstadium tik und an die Philosophie Schellings). Es ist aber vielleicht der erste, der eine außerphilosophische Argumentation liefert und überdies, im Unterschied zur deutschen Frühromantik, einen zutiefst pessimistischen Grundzug in sich trägt. Lacan beruft sich auf die Befunde der vergleichenden Psychologie seiner Zeit, die etwa Menschen und Schimpansen in ihrem Verhalten erforscht. Zum einen tut er dies um den Bruch mit der philosophischen Tradition und mit der herrschenden Freud-Deutung zu vollziehen und zum anderen, um einen Diskursaspekt Freuds zu vertiefen: Ähnlich wie der Ödipus-Komplex ist dieser Aspekt mit einem Mythos verbunden, der dem psychischen Phänomen auch den Namen gegeben hat: Narzissmus. 1914 hat Freud den Narzissmus folgendermaßen bestimmt: Der Terminus Narzißmus entstammt der klinischen Deskription und ist-[…] zur Bezeichnung jenes Verhaltens gewählt worden, bei welchem ein Individuum den eigenen Leib in ähnlicher Weise behandelt wie sonst den eines Sexualobjekts, ihn also mit sexuellem Wohlgefallen beschaut, streichelt, liebkost, bis es durch diese Vornahmen zur vollen Befriedigung gelangt. 10 Bekanntlich handelt die Geschichte davon, dass sich Narziss in das Spiegelbild verliebt, das er auf der Oberfläche des Wassers sieht. In dem Begehren, sich mit diesem zu vereinigen, kommt er zu Tode. Man kann die beiden Mythen, die die Psychoanalyse so sorgfältig und intensiv bearbeitet hat, als komplementär begreifen. Es geht in beiden nämlich um eine höchst widerspruchsvolle Identifikation-- das eine Mal mit dem Vater (Ödipus), das andere Mal mit sich selbst (Narziss). Weniger poetisch aber erhellend ist jene Geschichte aus dem Bereich der vergleichenden Psychologie, die Lacan zu Eingang des Textes erzählend referiert: Das ‚Menschenjunge‘ erkennt auf einer Altersstufe von kurzer, aber durchaus merklicher Dauer, während der es vom ‚Schimpansenjungen‘ an motorischer Intelligenz übertroffen wird, im Spiegel bereits sein eigenes Bild als solches. Dieses Erkennen wird signalisiert durch die illuminative Mimik des ‚Aha-Erlebnisses‘, in dem- - als einem wichtigen Augenblick des Intelligenzaktes-- sich-[…] die Wahrnehmung der Situation ausdrückt. Dieser Akt erschöpft sich nicht, wie beim Affen, im ein für allemal erlernten Wissen von der Nichtigkeit des Bildes, sondern löst beim Kind sofort eine Reihe von Gesten aus, mit deren Hilfe es spielerisch die Beziehung der vom Bild aufgenommenen Bewegungen zur gespiegelten Umgebung und das Verhältnis dieses ganzen virtuellen 10 Freud, Sigmund: Zur Einführung des Narzißmus (1914). Studienausgabe. Bd. III . Frankfurt / Main: Fischer, 1969-1975. S. 41. 178 7. Jacques Lacans Theorie des Spiegelstadiums Komplexes zur Realität untersucht, die es verdoppelt, bestehe sie nun im eigenen Körper oder in den Personen oder sogar in Objekten, die sich neben ihm befinden. 11 Soweit also die Befunde frühkindlicher Verhaltensweisen zwischen dem 6. und dem 18. Lebensmonat, auf die sich Lacan beruft, die er in ‚seiner‘ Sprache wiedergibt und die zugleich zur theoretischen Deutung hinführen. Die Frage liegt nahe, wie es sich mit menschlichen Kulturen verhält, in denen es keine manifesten Spiegel gibt und in der sich die Menschen seltener in ihrer Körperlichkeit zu Gesicht bekommen. Der Vergleich mit dem Schimpansenjungen macht deutlich, dass Lacan zumindest an dieser Stelle auf einer anthropologischen Ebene argumentiert. Gegenüber jenem ist das Menschenjunge hilflos und von vergleichsweise geringer praktischer Intelligenz. Das Besondere des Menschen sei es, so Lacan, dass er generell zu früh auf die Welt kommt und deshalb eine Nachreife durchläuft, während andere Säugetiere viel realitätstüchtiger auf die Welt kommen. 12 Ein Charakteristikum des Kleinkindes ist, dass es auf eine spezifische Weise auf sein Spiegelbild reagiert und sich-- im Gegensatz zur mythologischen Figur des Narziss-- in ihm erkennt. Das sechs bis acht Monate alte Kleinkind kommuniziert mit dem Abbild im Spiegel und entfaltet einen rudimentären körpersprachlichen Symbolismus, der im Aha gipfelt. Entscheidend ist dabei, dass es zu einer Verdopplung kommt, die den Ausgangspunkt der paradoxen Auto-Kommunikation bildet. Zwei Begriffe, die miteinander verschränkt werden, sind dabei festzuhalten: das Virtuelle und die Realität. Aber es geht, wie wir noch sehen werden, nicht darum, die beiden Begriffe einander gegenüberzustellen. Vielmehr generiert das virtuelle Moment des Spiegels erst recht die ‚Realität‘ des menschlichen Subjekts. Lacan erwähnt auch die Möglichkeit, dass das ‚Menschenjunge‘ auch noch Anderes wie Objekte oder Personen im Spiegel erblickt und identifiziert. In diesem Zusammenhang ist fraglich, ob nicht die Anwesenheit eines Dritten, etwa der Mutter, für das Erkennen als ‚Ich‘ eine wesentliche Rolle spielt. Nun nimmt Lacan eine erste theoretische Sichtung des Spiegelstadiums vor. Der Spiegel bildet, so lautet die zentrale These, nicht etwas Vorhandenes ab, sondern er konstituiert das, was man als gespaltene Ich-Funktion bezeichnen könnte. Dabei greifen Momente ineinander, die Lacan folgendermaßen benennt: 11 Lacan, „Das Spiegelstadium“, S. 63. 12 Lacan, „Das Spiegelstadium“, S. 63. 179 7.2. Vom doppelten Ich zum Spiegelstadium 1. Ein „libidinöser Dynamismus“ 13 : Dieser untermauert Freuds Annahme einer frühkindlichen Libido, die als ein Begehren und Verlangen nach etwas bzw. nach jemandem beinhaltet. 2. „Eine ontologische Struktur der menschlichen Welt: 14 : Man kann das Spiegelstadium als eine Identifikation im Sinne der Psychoanalyse verstehen. In diesem Sinne ist es eine „Verwandlung“, die durch ein Bild ausgelöst wird, in dem sich das Kleinkind mit seiner imaginären Repräsentation identifiziert und damit ein Ich hervorbringt, das stets auf einer Identifikation mit einem scheinbar Anderen beruht. Diese Struktur versteht Lacan als „paranoisch“. 15 Damit wird der Begriff der Paranoia, der eine bestimmte psychische Störung bezeichnet, normalisiert und neutralisiert. Das menschliche Lebewesen, das im Spiegelbild zu sich kommt und sich zugleich verfehlt, ist strukturell paranoid. 3. Durch die „exemplarische Situation“, die „jubilatorische Aufnahme“ des Spiegelbildes, entsteht eine vorsprachliche „symbolische Matrix“, in der das Ich (Je) seinen Niederschlag findet, noch bevor die „Dialektik der Identifikation mit dem andern“ einsetzt und ihm der sprachliche Symbolismus den Status eines Subjekts verleiht. Lacan vergleicht dieses Ich mit dem „Ideal-Ich“. 16 4. Diese Form wiederum „situiert“ nicht nur das Selbst (Je), das eine integrierende Funktion besitzt, sondern zugleich auch die „Instanz des Ich (moi)“, und zwar auf einer „fiktiven Linie“. 17 Weder das Je noch das moi sind also vor dem Spiegelstadium vorhanden, sondern sind dessen Resultat. Auch sind die beiden „Ichs“ nicht im Sinne einer binären Opposition zu verstehen. Sie sind nämlich in ihrer Gespaltenheit miteinander verflochten und entsprechen jener Relation, die durch den Satz Rimbauds beschrieben ist: Ich ist ein Anderer. Eine Relation besteht bekanntlich stets aus zwei Momenten. In der durch den Spiegel bewirkten Verdoppelung manifestiert sich die Situation des in seine beiden Funktionen bzw. Aspekte gespaltenen Ichs. 5. Der eigene, visuelle Körper ist dem Subjekt stets nur in einer fremden, objekthaften ‚Gestalt‘ sichtbar gegeben. Es kann seinen Körper immer nur in 13 Lacan, „Das Spiegelstadium“, S. 63. 14 Lacan, „Das Spiegelstadium“, S. 64. 15 Lacan, „Das Spiegelstadium“, S. 64. 16 Lacan, „Das Spiegelstadium“, S. 64. 17 Lacan, „Das Spiegelstadium“, S. 64. 180 7. Jacques Lacans Theorie des Spiegelstadiums einem „Außerhalb“, in einem Zustand der Entfremdung und als „Standbild“ seiner selbst wahrnehmen. 18 Lacan sieht das frühkindliche Spiegelstadium als charakteristisch für die ontologische Struktur des Menschen an. Er macht auf dramatische Weise deutlich, dass sich das Ich stets nur als ein Anderes, sich selbst immer wieder Entgleitendes, niemals vollständig Beherrschbares gegenübertritt. Es ist, wie Lacan schreibt, einer Symmetrie unterworfen, „die ihre Seiten verkehrt“, und zwar so, dass das Imaginäre als das Reale und das Reale als das Imaginäre erscheint. Lacan expliziert diese Begriffe an dieser Stelle nicht, aber er macht deutlich, dass in seinem Konzept ‚real‘ und ‚imaginär‘ nicht im Sinne der üblichen Opposition funktionieren. Es entsteht, wie schon oben vermerkt, die ‚Realität‘ der Ich-Funktion erst durch den virtuellen Akt, den der Blick im Spiegel versinnbildlicht. An einer Stelle spricht Lacan davon, dass „die totale Form des Körpers, kraft der das Subjekt in einer Fata Morgana die Reifung seiner Macht vorwegnimmt,-[…] ihm nur als ‚Gestalt‘ gegeben“ 19 ist. Von der ‚klassischen‘ „Fata Morgana“ unterscheidet sich die Spiegelsituation darin, dass sie eine unentrinnbare psychische Realität darstellt, die Lacan zufolge-- und das ließe sich kritisch hinterfragen-- vorgesellschaftlich und vorkulturell sei. 20 In einem nächsten Schritt beschäftigt sich Lacan mit dem Begriff der Imagines, die er mit der Metapher „verschleierter Gesichter“ erklärt und von denen er höchst hellsichtig meint, dass sie „in unserer alltäglichen Erfahrung und im Halbschatten der symbolischen Wirksamkeit Konturen gewinnen“. 21 In dem obigen Zitat führt Lacan en passant auch den Begriff des Symbolischen ein, wenn er davon spricht, dass die Bilder „symbolische Wirksamkeit“ entfalten. Schon an dieser Stelle wird deutlich, dass sich alle drei Momente der später ausgearbeiteten Theorie- - das Reale, das Symbolische und das Imaginäre- - wie beim Borromäischen Knoten überlagern und überkreuzen. Es gibt aber auch andere Interpretationsmöglichkeiten, so zum Beispiel jene, die das Reale, das unfassbare seelische Geschehen, und das Imaginäre, als die nicht zuletzt durch das Begehren initiierte Phantasie, als Horizontbegriffe verstehen, die vom bedeutungsstiftenden Symbolischen erfasst werden. Auf keinen Fall stellen sie drei getrennte Bereiche oder Felder dar. 18 Lacan, „Das Spiegelstadium“, S. 64 u. 66. Vgl. auch Julien, Jacques Lacan’s Return to Freud, S. 30. 19 Lacan, „Das Spiegelstadium“, S. 64. 20 Lacan, „Das Spiegelstadium“, S. 64. 21 Lacan, „Das Spiegelstadium“, S. 65. 181 7.2. Vom doppelten Ich zum Spiegelstadium Abb. 3 Borromäischer Knoten Die entscheidende Triade bei Lacan, zu der es bei Freud kein Gegenstück gibt, besteht aus drei Momenten. Das Symbolische bezieht sich auf die Sprache, aber auch, und hier gibt es Anknüpfungspunkte an Freuds Über-Ich, auf die bestehende Ordnung, die traditionellerweise vom Gesetz des Vaters bestimmt wird. Das Reale ist negativ bestimmt, es ist das Unfassbare, das im Imaginären und Symbolischen nicht aufgeht. Es macht sich durch den Einbruch des Vaters in die symbiotische Dyade von Mutter und Kind geltend. 22 Das Imaginäre, dessen Bedeutung wir schon in Spiegelstadium kennengelernt haben, bezieht sich darauf, dass das Reale immer nur über den Umweg über ein Anderes, das Imaginäre, zur Verfügung steht. Beide bedürfen indes des Symbolischen als eines ordnenden Prinzips. Das Problem an Lacans Terminologie ist, dass sie nicht einer strikten Denotation folgt, sondern viele Konnotationen, also einen Bedeutungsüberhang, besitzt. So lässt sich zum Beispiel die triadische Figurenkonstellation mit der Trinität von Lacans Begriffssystem analog führen: das Symbolische mit der (traditionellen) Figur des Vaters, das Imaginäre mit der des Kindes (das sich im Spiegel als ein Anderes seiner selbst erkennt) und das Reale mit der der Mutter. Aber zugleich besitzen alle drei Figuren alle drei Dimensionen. Vater, Mutter und Kind können unter gewissen Voraussetzungen das Attribut des Realen, des Symbolischen und des Imaginären besitzen. Philippe Julien zufolge hat der Begriff des Imaginären bei Lacan drei Bedeutungen. Das Imaginäre wird im Einklang mit der philosophischen Tradition von Platon bis Spinoza im Sinne von Täuschung und Illusion, also als Gegensatz zu 22 Kristeva, Julia: Die Revolution der poetischen Sprache. Frankfurt / Main: Suhrkamp, 1978. S. 32-42. Die poetische Sprache unterläuft den symbolischen Zugriff des Vaters. 182 7. Jacques Lacans Theorie des Spiegelstadiums ‚Wahrheit‘ und ‚Realität‘ verstanden. 23 Es wird zweitens positiv als eine zentrale Funktion und Operation begriffen, als ein privilegierter Zugang der Kunst zur Welt. Dank des Imaginären ist die menschliche Einbildungskraft, wie Julien unter Berufung auf Gaston Bachelard betont, prinzipiell offen für die wahre Erfahrung des Neuen. Drittens verfügt jede Kultur über Repräsentationen ihres eigenen kollektiven Imaginären, also über ein Ensemble von Phantasmen, die weder gut oder schlecht sind. 24 Der griechisch-französische Philosoph und Psychoanalytiker Cornelius Castoriadis hat in diesem Sinne eine Theorie der Gesellschaft entworfen, die eben jene imaginären Schichten in die Untersuchung von Kultur und Gesellschaft einbezieht. Er geht davon aus, dass das Imaginäre, das er auch mit der Einbildungskraft engführt, und das Symbolische einander bedürfen. So setzt der Symbolismus stets die Einbildungskraft voraus, deren Fähigkeit darin besteht, „in einem Ding ein anderes- - oder: ein Ding anders als es ist- - zu sehen“. 25 Im Zentrum des kollektiven Imaginären ortet der griechisch-französische Philosoph und Psychoanalytiker den gesamten religiösen und ideologischen Komplex. 26 Das kollektive Imaginäre einer Kultur ist doppelt bedeutsam, im Hinblick auf deren Symbolismus, aber auch als jenes Moment, das in der eher funktionalen Logik des Symbolischen nicht aufgeht. An einer Stelle bedient sich Lacan, und das wäre wohl eine vierte Bedeutung des Imaginären, des Freudschen Terminus der Projektion, in der etwas Inneres, das nicht selbst darstellbar ist, auf einer Außenfläche abgebildet wird. 27 Der Autor des Spiegelstadiums spricht in diesem Zusammenhang davon, dass die „entfremdende Bestimmung“ der spiegelbildlichen Situation „mit den Entsprechungen“ „schwanger geht, die das Ich (je) mit dem „Standbild“, auf das hin sich der Mensch projiziert, „vereinigen“. 28 Das verfestigte „Standbild“ wird dabei mit dem Ich auf eine untrennbare, eben imaginäre Weise verwoben. So erweist sich das Imaginäre als unvermeidliche Selbsttäuschung, als poetisches Verfahren der Einbildungskraft, als Repräsentation von Kulturen bzw. Gesellschaften sowie als ein Darstellungsmechanismus des eigentlich Unsichtbaren. Lacan erwähnt in seiner verknappten Erörterung zu den Imagines Bildräume wie Traum, Tagtraum und Halluzination. Aus heutiger Sicht lässt sich auf jene 23 Kamper, Dietmar: Zur Geschichte der Einbildungskraft. München: Hanser, 1981, S. 7-18. 24 Julien, Jacques Lacan’s Return to Freud, S. 32. 25 Castoriadis, Cornelius: Gesellschaft als imaginäre Institution, S. 218. 26 Castoriadis, Cornelius: Gesellschaft als imaginäre Institution, S. 221. 27 Lacan, „Das Spiegelstadium“, S. 65. 28 Lacan, „Das Spiegelstadium“, S. 65. 183 7.2. Vom doppelten Ich zum Spiegelstadium „Rückkehr der Bilder“ 29 verweisen, wie sie heute nach der digitalen Medienrevolution zur kulturellen Selbstverständlichkeit geworden sind. Wie vor allem die Arbeiten Slavoj Žižeks zum Film gezeigt haben, lassen sich diese virtuellen Bilder im Rekurs auf die narzisstische ‚Urszene‘ des Spiegelstadiums als eine Verkoppelung des Imaginären mit dem Medialen lesbar machen. Insofern lebt die Menschheit strukturell in jener imaginären Höhle, die Platon in seinem berühmten Höhlengleichnis beschrieben hat, allerdings ohne dass die Schattenbilder auf einen Kosmos metaphysischer Ideen verweisen würden. Die Schatten, die die Menschen in der Höhle sehen, wären in Lacans Version, analog zum Spiegelstadium, sie selbst als andere. In diesem Sinne lässt sich übrigens auch das Geschehen auf einer Leinwand nicht nur als eine virtuelle Welt, die auf ein Draußen verweist, sondern auch als ein Spiegel lesen. Die moderne Filmtheorie hat vom Lacanschen Spiegelstadium ausgiebig Gebrauch gemacht. 30 Spätestens an dieser Stelle wird sichtbar, dass das „Spiegelstadium“ nur ein anschauliches Beispiel für den Zustand einer in einem Bildergefängnis befangenen Menschheit ist, die sich nur über das Imaginäre Zugang zu „jenem bißchen Realität“ 31 verschaffen kann. Die Funktion des Spiegelstadiums, führt Lacan aus, sei nur ein „Spezialfall der Funktion der Imago“. 32 Aber was ist nun deren Funktion? Das Bild stiftet eine Relation „zwischen dem Organismus und seiner Realität“; es vermittelt „zwischen der Innenwelt und der Umwelt“. 33 Aber diese Beziehung ist-- und das macht die Besonderheit von Lacans Theorie etwa im Vergleich zu Ernst Cassirers Philosophie der symbolischen Formen aus- - indes gestört. In Cassirers Philosophie kommt dem Symbolischen, dem, was er ‚symbolische Formen‘ nennt, die entscheidende Aufgabe zu, „dem schlichten Dasein“ eine „Bedeutung“ zu verleihen und damit die Welt bewohnbar zu machen. 34 Ganz anders bei Lacan. Von einer „ursprünglichen Zwietracht“ ist in dem Schlüsseltext die Rede und von einem „gewissen Aufspringen (dehiscence)“ des Organismus in seinem Innern. 35 Etwas von einer doppelsinnigen negativen Anthropologie kommt in dieser andeutungshaften Passage ins Spiel. Das menschliche Lebewesen ist mit 29 Müller-Funk, Wolfgang: Die Rückkehr der Bilder. Beiträge zu einer ‚romantischen Ökologie‘. Wien: Böhlau, 1988. S. 93-110. 30 Elsässer, Thomas; Hagener, Malte: Filmtheorie zur Einführung. Hamburg: Junius, 2008. 31 Lacan, „Das Spiegelstadium“, S. 66. 32 Lacan, „Das Spiegelstadium“, S. 66. 33 Lacan, „Das Spiegelstadium“, S. 66. 34 Cassirer, Ernst: Philosophie der symbolischen Formen. Darmstadt: WBG , 1994, S. 9. 35 Lacan, „Das Spiegelstadium“, S. 66 f. 184 7. Jacques Lacans Theorie des Spiegelstadiums dem Makel auf die Welt gekommen, zu früh geboren zu sein. Es ist strukturell mit sich im Unreinen, uneins. Es hat negative Anteile und es lässt sich nicht im Sinne einer positiven Bestimmung fassen. 36 Das Gefühl von Identität und Realität birgt Samuel Weber zufolge „Irrealität, Täuschung und Nichtidentität“ in sich. Sie sei, so Lacans prominenter Kommentator, „eine nicht so sehr entfremdete als entfremdende Identität“. Dieses Ich, das dem Subjekt „das Gefühl seiner Selbstidentität“ gibt, sei in der „unerschöpflichen Quadratur der Ich-Bestätigungen, intrasubjektiv durch die Beziehung des Subjekts zu Sich und zu seinem Ich“ gefangen. 37 Dieser illusionäre Selbstbezug, die imaginäre Identifikation mit sich selbst als eines Anderen geht der Identifikation mit dem fremden Anderen, etwa dem Vater, voraus. Das Drama des Narziss geht jenem des Ödipus voraus. Die Integration des Körpers vollzieht sich vorerst allein im Spiegelbild, während der Organismus sich im hilflosen Zustand einer schwachen Koordination seiner Teile befindet: […] das Spiegelstadium ist ein Drama, dessen innere Spannung von der Unzulänglichkeit auf die Antizipation überspringt und für das an der lockenden Täuschung der räumlichen Identifikation festgehaltene Subjekt die Phantasmen ausheckt, die ausgehend von einem zerstückelten Bild des Körpers, in einer Form enden, die wir in ihrer Ganzheit eine orthopädische nennen könnten, und in einem Panzer, der aufgenommen wird von einer wahnhaften Identität, deren starre Strukturen die ganze mentale Entwicklung des Subjekts bestimmen werden. 38 An keiner Stelle wird der Pessimismus und Skeptizismus klarer formuliert als in dieser Textpassage. Zunächst einmal ist das Wort ‚Drama‘ hier wörtlich zu nehmen, beinahe in jenem Sinn, dass das menschliche Lebewesen traumatisiert auf die Welt kommt. 39 Der zweite Gedanken, den Lacan in dieser Passage formuliert, hat eine gewisse Ähnlichkeit mit der Kompensationstheorie, 40 wird hier 36 Sonnemann, Ulrich: Negative Anthropologie. Vorstudien zur Sabotage des Schicksals. Frankfurt / Main: Syndikat, 1969. S. 227-269. 37 Weber, Rückkehr zu Freud, S. 31. 38 Lacan, „Das Spiegelstadium“, S. 67. 39 Caruth, Cathy: „Introduction“. In: Dies. (Hg.): Trauma. Explorations in Memory. Baltimore: The John Hopkins University Press, 1995. S. 3-11. Caruth, Cathy: „Unclaimed Experience: Trauma and the Possibility of History“. In: Dies. (Hg.): Unclaimed Experience: Trauma, Narrative and History. Baltimore: John Hopkins University, 1996. S. 10-24. 40 Vgl. dazu Marquard, Odo: „Inkompetenzkompensationskompetenz. Über Kompetenz und Inkompetenz der Philosophie“. In: Ders. (Hg.): Abschied vom Prinzipiellen. Philosophische 185 7.2. Vom doppelten Ich zum Spiegelstadium doch ein bestimmter Mangel, eine „Unzulänglichkeit“ durch die Spiegelsituation kompensiert. Aber bei dieser überspringenden Antizipation handelt es sich um eine Täuschung und um Phantasmen, die „das zerstückelte Bild des Körpers“, das Hieronymus Bosch in seiner Malerei festgehalten hat, in das Bild eines scheinbar perfekten, starren, strikt abgrenzbaren und wehrhaften Körper verwandelt-- nichts anderes meinen nämlich die Metaphern des „Orthopädischen“ und des „Panzers“. So wie in den Bildern Boschs kommt in den Träumen sowie in bestimmten psychischen Symptomen der zerstückelte menschliche Körper ebenso zum Vorschein wie der wahnhafte Aspekt, der auf dem Spiegelstadium als dem ‚Gründungsakt‘ einer imaginär gewonnen Identität beruht. Zu ihr gehört auch das, was Lacan als eine „Befestigungsanlage“ bezeichnet. Mentale Gegenstücke hierzu seien Inversion, Isolation, Verdopplung, Annullierung und Verschiebung. 41 Diese Dispositionen sind, wie Lacan später im Anschluss an Anna Freud darlegen wird, mit diversen Störungen wie Hysterie und Zwangsneurose in Zusammenhang zu bringen. Das Spiegelstadium, das die organische Entwicklung des Menschen überspringt, schafft einen Spalt, der den Menschen psychisch ‚störanfällig‘ macht. Im Verlauf des Vortragstextes ist eine gewisse Verschiebung der Wertung unübersehbar. Erschien das „Spiegelstadium“ zunächst als eine ‚neutrale‘ condition humaine, die doch immerhin die Chance auf einen anderen Umgang mit Alterität eröffnen könnte, so überwiegt doch zu Ende des Textes eine überaus pessimistische Anthropologie, in der der Mensch in seinen Phantasmen ausweglos gefangen bleibt, so wie eben Platons Höhlenbewohner, die gar nicht wissen, auf welch einem kleinen Teppich von Realität sie sich befinden. Damit wird die Unterscheidung von Normalität und Perversion, von psychischer Gesundheit und Krankheit einigermaßen systematisch unterwandert. Diese Methode nennt Lacan unter Berufung auf Anna Freud „symbolische Reduktion“. 42 Aber noch ist das Spiegelstadium nicht an sein Ende gelangt. Dieses vollendet sich in der Entwicklung des Kindes, die die „Wendung vom Spiegel-Ich (je speculaire) zum sozialen Ich (je social)“ beinhaltet und Hand in Hand mit der Identifikation des Nächsten und der Ur-Eifersucht geht. Auch diese Wendung Studien. Stuttgart: Reclam, 1981. S. 23-38. Marquard, Odo: „Kompensation. Überlegungen zu einer Verlaufsfigur geschichtlicher Prozesse“. In: Faber, Karl Georg / Meier, Christian (Hg.): Historische Prozesse. München: dtv, 1978. S. 330-362. 41 Lacan, „Das Spiegelstadium“, S. 67. 42 Lacan, „Das Spiegelstadium“, S. 68. 186 7. Jacques Lacans Theorie des Spiegelstadiums wird, ähnlich wie das frühkindliche Stadium, als eine „paranoische Entfremdung“ begriffen. Lacans Interpretation hat das tragische Ende des Mythos von Narziss nicht vergessen. Abschließend kommt der Text, ohne Freud direkt zum Adressaten zu wählen, auf die Theorie des „primären Narzissmus“ zu sprechen, der er ein „tiefes Gefühl für das Latente im Semantischen“ bescheinigt. 43 Es liest sich wie eine sanfte Korrektur Freuds und seiner Anhänger, wenn Lacan auf den Gegensatz von Libido und „Destruktionsinstinkte“ zu sprechen kommt. Lacans komplexe Denkform ist jedoch nicht dualistisch wie jene Freuds: hier der Sexual-, dort der Todestrieb. Für den primären Narzissmus konstatiert er nämlich einen unaufkündbaren „offensichtlichen Zusammenhang zwischen der narzisstischen Libido“ und der „entfremdenden Ich-Funktion“, 44 die er mit Aggressivität gleich setzt. Offensichtlich entspringt die Aggressivität der Gespaltenheit des Ich. Damit erinnert er trotz des oben erwähnten Unterschieds an Freuds Pessimismus seit Jenseits des Lustprinzips und trägt zugleich dem zeitgenössischen philosophischen Kontext Rechnung. Freuds Psychoanalyse hat für Lacan Verwandtschaft mit „jener existentiellen Negativität“, wie sie-- das ist wohl eine Anspielung auf Sartre ( → -Kapitel 2)-- im „Philosophieren über Sein und Nichts“ anzutreffen sei. 45 Doch bleibe diese Philosophie allzu sehr in einer auf das Bewusstsein bezogenen Selbstgenügsamkeit behaftet. Sie sei noch immer in der Illusion der Autonomie und in den „Verkennungen des Ich (moi)“ befangen. Stattdessen schlägt Lacan eine „existentielle Psychoanalyse“ vor, die die psychoanalytische Erfahrung einer keineswegs aus freien Stücken konstituierten Konstruktion des Subjekts ernst nimmt. 46 Ungewöhnlich scharf nimmt Lacan den Existentialismus, ohne Sartres Namen in den Mund zu nehmen, als falsche Romantisierung aufs Korn. Er kritisiert folgende Elemente: die Proklamation einer Freiheit „innerhalb der Mauern eines Gefängnisses“, die Forderung nach einem Engagement der „Ohnmacht des reinen Bewusstseins“, den sadistischen Voyeurismus der sexuellen Beziehung, die Idee einer Persönlichkeit, die sich ausschließlich im Selbstmord realisiert, und ein Bewusstsein des Anderen, „das sich erst mit dem Hegelschen Mord zufrieden“ gebe. 47 Insofern Lacan die Philosophie seiner Zeit kritisiert, hier unverkennbar Sartre, greift sein Anspruch einer Philosophie des Alteritären über den traditio- 43 Lacan, „Das Spiegelstadium“, S. 69. 44 Lacan, „Das Spiegelstadium“, S. 69. 45 Lacan, „Das Spiegelstadium“, S. 69. 46 Lacan, „Das Spiegelstadium“, S. 69. 47 Lacan, „Das Spiegelstadium“, S. 69. 187 7.2. Vom doppelten Ich zum Spiegelstadium nellen psychoanalytischen Diskurs weit hinaus. Er präsentiert die Psychoanalyse selbstbewusst als ein Gegenmodell zur existentialistischen Philosophie. Sie allein erkennt „jenen Knoten imaginärer Knechtschaft“, den er am Beispiel des Spiegelstadiums vorgeführt hat. Dieser lasse sich durch „Liebe“- - das Wort ist bis dahin nicht gefallen- - „lösen oder zerschneiden“; offenkundig nicht durch philosophische Reflexion. Wobei er hinzufügt, dass er, ähnlich wie zuvor Freud, die altruistische Liebe als „eitel“ einschätzt: „[…]- wir setzen die Aggressivität ins Licht, welche unter den Aktionen des Philanthropen, des Idealisten, des Pädagogen, sogar des Reformators liegt.“ 48 Vorgestellt hat Lacan sein Konzept, wie Philippe Julien, der zu Anfang dieses Kapitels zitiert wurde, bereits im Jahr 1936, zum Zeitpunkt der von den Nationalsozialisten organisierten Olympischen Spiele in Berlin. Zu dessen Kommentar soll hier zu Ende des Kapitels noch einmal zurückgekehrt werden, nicht zuletzt, weil dieser einiges erhellendes Licht auf die komplexe Textur von Lacans Vortrag wirft. Das Neue an seiner Version der Psychoanalyse bestehe nicht zuletzt darin, dass er den entfremdeten Selbstbezug ambivalent fasse. Insofern fallen in dieser Beziehung erotische und aggressive Momente untrennbar zusammen. Die Struktur dieser narzisstischen Beziehung, Ich ist ein Anderer, machen auch erklärlich, warum Hetero-Aggression und Auto-Aggression so nahe beieinander liegen. Julien konstatiert, dass Lacans Position an dieser Stelle mit Melanie Kleins Konzept der „depressiven Position“ zusammenfalle. 49 Im ödipalen Konflikt richtet sich die Aggression gegen den Vater, der die symbiotische Beziehung zur Mutter bedroht. Im narzisstischen Konflikt richtet sich die Aggression gegen den Anderen, der man zugleich selbst ist. Mit Seitenblick auf Freud lässt sich sagen, dass Lacan Freuds dualistische Trieblehre insofern überwindet, als sich Begehren und Aggression aus derselben entfremdenden und entfremdeten Selbstbeziehung speisen, die Lacan am Beispiel des Spiegelstadiums illustriert. Julien interpretiert Lacans Fahrt zu den Olympischen Spielen des Jahres 1936 als eine Anwendung seiner Theorie des Spiegelstadiums. Die Macht des Rassismus gründet in der archaischen negativen oder positiven Faszination eines jeden von uns mit seinem oder ihrem Gegenüber. Der oder die Fremde als der ganz andere, negativ kodierte Mensch, ist jener oder jene aus dieser Spiegelansicht Ausgeschlossene und zugleich als Horizont Anwesende. Mit ihm oder ihr kann ich 48 Lacan, „Das Spiegelstadium“, S. 70. 49 Julien, Jacques Lacan’s Return, S. 34 f. 188 7. Jacques Lacans Theorie des Spiegelstadiums mich nicht identifizieren, denn er / sie würde mein Spiegelbild irritieren, verstören oder zerbrechen. 50 Der Rassismus hat offenkundig mit dem entfremdeten Ich zu tun. Was ich im ‚Spiegel‘ sehe, das kann nicht ich sein. Deshalb löst das andere, etwa dunkle Gesicht, Aggression aus. Das bedeutet aber auch, dass Rassismus viel tiefer verankert ist. Er resultiert nicht aus einem manifesten Programm, sondern hat ganz offenkundig mit den Strukturen unserer Ich-Bildung zu tun, die über eine Identifikation verlaufen, in der der Andere als Ich identifiziert wird. Die Inszenierung der Olympischen Spiele begreift Julien mit Lacan als eine gigantische kollektive narzisstische Identifikation, als eine liturgische Feier des Körpers der deutschen Jugend oder, mit Freud gesprochen, als eine Übertragung von einem Außen an ein Innen. Das sei, so Lacans Interpretation, kein Phänomen, das auf Hitler beschränkt sei. Die medial inszenierten Olympischen Spiele waren gleichsam der narzisstische Spiegel, der dem deutschen Volk vorgehalten wurde. Die Stärke von Lacans Theorie des imaginären und imaginierten Ich, des individuellen wie des kollektiven, liegt zweifelsohne im Bereich der Analyse des Bildlich-Medialen. So haben der französische Filmtheoretiker Christian Metz und nach ihm der slowenische Philosoph Slavoj Žižek das bewegte photographische Bild als eine Variante der Situation des Spiegelbildes verstanden, das darauf beruht, dass der Zuschauer bzw. die Zuschauerin sich mit einem / einer Anderen identifiziert. 51 Wie die auf die Phänomenologie zurückgehenden Konzepte von Waldenfels und Lévinas ( → - Kapitel 4 und 5) macht Lacans Ansatz einen signifikanten Unterschied zwischen dem (kulturell) Fremden und dem Anderen ( → -Kapitel 1). In diesem Sinne stellt er tatsächlich, ungeachtet aller Bezugnahmen auf Freud, eine eigene Theorie des Fremden dar, die sich unübersehbar von jener des Fremden als des Unheimlichen unterschiedet, die Julia Kristeva im Anschluss an Freud entwickelt hat ( → -Kapitel 3). 50 Julien, Jacques Lacan’s Return to Freud, S. 29: Dieses Zerbrechen kann natürlich auch ein Akt eines libidinösen oder aggressiven Begehrens sein, dann, wenn ich nicht der sein will, der ich bin. 51 Metz, Christian: Der imaginäre Signifikant. Münster: Nodus, 2000. 189 8.1. ImagologiealsMethodeundTeildisziplinderVergleichendenLiteraturwissenschaft 8. Imagologie: Von der Aachener Schule zu Edward Said und Homi K. Bhabha 8.1. Imagologie als Methode und Teildisziplin der Vergleichenden Literaturwissenschaft Das, was man in einschlägigen akademischen Kreisen als „Imagologie“ bzw. als „Aachener Schule“ beschreibt, stellt wohl den relevantesten Beitrag der Literaturwissenschaft, genauer der Komparatistik, im Hinblick auf Theorien von Fremdheit dar. 1 Der aus dem Lateinischen kommende Begriff, dessen Konnotation im Deutschen vom ‚Bild‘ bis zur Imagination (Einbildungskraft) reicht, ist durchaus kompliziert und vielschichtig. Er beschränkt sich keineswegs auf externalisierte, also gemalte oder lichttechnisch erzeugte Bilder (Tafelbild, Photographie), sondern meint vor allem jene Summe von internen Vorstellungswelten und Bildkomplexen, die unsere Wahrnehmung überlagern oder auch steuern. In diesem Zusammenhang geht es nicht nur um visuelle, sondern auch um sprachlich formatierte ‚Bilder‘. Dabei sind kognitive wie emotive Momente im Spiel. Der Begriff des Bildes, der Imago oder des Images (diese drei Begriffe werden in diesem Zusammenhang weithin synonym verwandt), ist dabei mit einem anderen verwandt, den wir sowohl aus der Literaturwissenschaft als auch aus der Soziologie kennen: dem Stereotyp. Dabei handelt es sich um eine Wahrnehmungsform, die von vornherein verkürzt und reduziert, aber apperzeptionstechnisch zugleich überaus effizient ist. Mit ganz wenigen Strichen lassen sich durch stereotypische Darstellungen Mann und Frau, Europäer und Asiaten, Spanier und Schweden, Muslime und Inder, Inuit und Menschen aus der Südsee kodieren und dekodieren. Ein einziges Merkmal, ein breitkrempiger Hut oder ein bunter Männerrock genügen, um den Vertreter einer anderen Ethnie als Mexikaner bzw. als Schotten zu markieren. Kaum einer der Witze über ein anderes Land kommt ohne solche Stereotypisierungen aus, die tendenziell den Anderen herabsetzen und kleiner machen. In diesem Zusammenhang enthalten nahezu alle Bilder 1 Ich beziehe mich im Folgenden auf die überaus faire und differenzierte Darstellung von Ruthner, Clemens: „Between Aachen and America. Bhabha, Kürnberger and the Ambivalence of Imagology“. In: Dukić, Davor (Hg.): Imagology today: Achievements-- Challenges-- Perspectives / / Imagologie heute: Ergebnisse- - Herausforderungen- - Perspektiven. Bonn: Bouvier, 2011. S. 137-160. 190 8. Imagologie: Aachener Schule, E. Said und H. K. Bhabha des Anderen konnotative Bedeutungsüberschüsse, die in der jeweiligen Kultur sozusagen Gemeingut sind. Solche Bildkonstruktionen, denen nicht selten ein klassischer Aussagesatz zugrunde liegt („Alle Bewohner von A sind…“), kommen nicht zuletzt als Aneignungs- und Verwerfungsstrategien des Fremden zum kulturellen Einsatz. Dass solche Bildkonstruktionen unter bestimmten Bedingungen ein hohes Aggressionspotential enthalten, davon zeugen in unserem kulturellen Kontext die so lange wirksamen Stereotypen etwa gegenüber den europäischen Juden oder vielen Kulturen Außereuropas, die zwischen dem 16. und dem 20. Jahrhundert Gegenstand kolonialer Beherrschung wurden. Infolge eines in ganz Europa so wirksamen Nationalismus spielten und spielen stereotype Fremdbilder auch zwischen den heute in die Europäische Union integrierten Nationalstaaten eine erhebliche Rolle. Solche lassen sich zum Beispiel an all den Feindbildern zeigen, die am Höhepunkt der europäischen Finanzkrise etwa in Griechenland und in Deutschland mit atemberaubender Schnelligkeit aus der historischen Versenkung auftauchten, vom hässlichen und geldgierigen Deutschen bis zu dem kleinen Taugenichts im Süden, der nicht arbeiten, es sich aber gutgehen lassen will. Solche Bilder anderer Kulturen und Länder haben immer zwei Adressaten: einerseits die Menschen der eigenen Kultur, denen man etwa durch das Format des Berichts die andere Kultur erklären und begreiflich machen will, und andererseits die Menschen des Auslandes, mit denen man nicht zuletzt dadurch ins Gespräch kommt, dass man sie beschreibt und kommentiert. Immer kommt dabei selbstverständlich die eigene Kultur ins Spiel. Sie ist gleichsam die Projektionsfläche, die der Erkundung des Fremden zugrunde liegt. Jeder Reisebericht, der einen ästhetischen wie ethischen Anspruch ins Spiel bringt, wird danach trachten, die bisherigen Bilder über das andere Land zu bekräftigen bzw. zu wiederholen oder aber zu korrigieren. So ist das Schreiben über die andere Kultur immer zugleich Zerstörung ‚falscher‘ und-- im Gestus einer womöglich naiven Aufklärung-- die Etablierung neuer, ‚richtiger‘ Bilder. Die Entwicklung der von Hugo Dyserinck begründeten Aachener Schule ist eng mit diesem europäischen Kontext verknüpft. So ging es doch nach dem Zweiten Weltkrieg darum, alte Feindschaften wie die zwischen Deutschen und Franzosen oder- - auf einer Binnenebene- - zwischen Flamen und Wallonen (oder seit den 1990er Jahren zwischen den Nachbarvölkern des ehemaligen Jugoslawien) zu überwinden. Die kritische Aufarbeitung jener oftmals negativen Bilder des Nachbarn lässt sich dabei als ein meta-politischer symbolischer Beitrag zur europäischen Integration bzw. als Reflexion transkultureller Beziehungen im globalen 191 8.1. Imagologie als Methode und Disziplin Maßstab verstehen. Als exemplarische Beispiele für eine Unzahl ähnlicher Publikationen sei hier pars pro toto der von Dietrich Harth herausgegebene Band Fiktion des Fremden. Erkundungen kultureller Grenzen in Literatur und Publizistik (1994) genannt, in dem unter anderem dem Deutschlandbild in Frankreich oder dem Frankreichbild in Deutschland nachgegangen wird. 2 Die Komparatistik als eine spezifische Form der Literaturwissenschaft beruht auf dem Vergleich von Texten, Literaturen und Artefakten aus verschiedenen Kulturen und ist insofern immer schon mit Formen der kulturellen Begegnung befasst: Die Stereotype, die von einer Kultur hinsichtlich einer anderen formuliert und festgehalten werden, sind eine problematische aber gleichzeitig wirksame Form der interkulturellen Begegnung. Diese stereotypischen Muster können in Literatur, Journalismus und Film analysiert werden. Von einer „Technik des Vergleichs“ spricht Manfred Beller, einer der prominentesten Vertreter der Imagologie, in einem knappen und programmatischen Aufsatz aus dem Jahre 2011. Aber der Vergleich ist nicht bloß eine Technik bzw. eine gedankliche Operation, sondern ist die Bedingung der Möglichkeit sich eine andere, fremde Kultur anzueignen. Hermeneutisch gesprochen bildet unser eigener kultureller Vorstellungshorizont immer schon den Ausgangspunkt dieses Prozesses: Wer ein anderes Land und seine Menschen betrachtet, beurteilt und beschreibt, der betrachtet sie nicht nur aus seiner persönlichen Perspektive, sondern er vergleicht die anderen auch mit dem Land seiner Herkunft und den Eigenschaften seiner Landsleute. 3 Ein gewisser Ethnozentrismus ist diesem Argument zufolge- - darin würde die Systemtheorie (vgl. Kapitel 6) der Imagologie beipflichten-- unvermeidlich. Es ist also der Prozess des Verstehens selbst, der positive und negative Urteile über die 2 Harth, Dietrich (Hg.): Fiktion des Fremden. Erkundungen kultureller Grenzen in Literatur und Publizistik. Frankfurt / Main: Fischer, 1994. Hier finden sich unter anderem Imagologien zu Deutschland (Gonthier-Louis Fink), zu Frankreich (Thomas Lange), Polen (Hubert Orlowski), Indien (Vridhagiri Ganeshan), China (Dietrich Harth) oder Japan (Albrecht Kloepfer). Mit der Konstruktion von Selbstbildlichkeit im lateinamerikanischen Kontext beschäftigt sich der folgende Band: Hölz, Karl (Hg.): Das Fremde, das Eigene, das Andere. Die Inszenierung kultureller und geschlechtlicher Identität in Lateinamerika. Berlin: Erich Schmidt, 1998. 3 Beller, Manfred: „Die Technik des Vergleichs in der Imagologie“. In: Dukic, Imagology today, S. 39. 192 8. Imagologie: Aachener Schule, E. Said und H. K. Bhabha fremde wie die eigene Kultur hervor- und mit sich bringt. Der Akt des Verstehens setzt logisch voraus, dass wir mit etwas konfrontiert sind, das sich uns (zunächst) nicht erschließt, wir aber trotzdem begreifen wollen. In diesem Prozess spielen Vorurteile, Stereotypen, Gemeinplätze und bestimmte Topoi eine entscheidende Rolle, sie funktionieren gleichsam als oftmals schon vorgefundene Wahrnehmungsfilter des Fremden. Dies lässt sich- - und das ist ein beliebtes Sujet der Imagologie- - an der sich seit dem 18. Jahrhundert entwickelnden Reiseliteratur zeigen. Die erste Art, das Fremde zu beschreiben, besteht in der Analogie. Mathematisch entspricht dies der Formel A-= B. Viele Gebräuche und Einrichtungen im fremden Land werden gar nicht eigens hervorgehoben, weil sie jenen im eigenen Land A entsprechen. Natürlich kann der Reisende, der aus dem Land A in das Land B fährt, auch ausdrücklich diese Entsprechung hervorheben, ob er sie nun positiv, negativ oder neutral betrachtet. Aber die für die Imagologie und das Thema des Fremden wichtige Form des Vergleiches stellt nicht die analogische Entsprechung bzw. die Betonung der Ähnlichkeit, sondern die Konstatierung von Unterschieden und Gegensätzen dar. Beller zitiert den schweizerischen Diplomaten und Reiseschriftsteller Karl Victor von Bonstetten, einen anglophilen Aufklärer, der den Unterschied zwischen den Kulturen der Nordeuropäer und der mediterranen Kultur mit Verweis auf das unterschiedliche Klima bipolar fasst: Während die Menschen im Norden lieber nachdenken als handeln, neigen jene des Südens eher zu schnellen und lebhaften Aktionen als zum gründlichen Nachdenken. Der negative Kontrast ist der „zweite Modus“. „Die Masse der Urteile über fremde Nationen“ unterliege, so Beller kritisch, dieser bipolaren Entgegensetzung mittels „asymmetrischer Grundbegriffe“ (Koselleck) 4 . Wiederum greift der Imagologe zu einer formalen Beschreibung: In der antithetischen Argumentation gilt: A steht im Gegensatz zu B, und B im Gegensatz zu A. Mathematisch sieht das folgendermaßen aus: A ←→ - B. Das bedeutet: „Hier herrschen die Unterschiede zwischen allen diesbezüglichen Vorurteilen, Hetero- und Auto-Stereotypen, Topoi und Klischees.“ 5 An dieser Stelle wird aber auch der Zusammenhang zwischen Fremd- und Selbstbildern besonders illustrativ. Während es nämlich im korrespondierenden Vergleich (Ähnlichkeit, Entsprechung) kaum zu einer symbolischen Aufladung des Auto-Imago kommt, ist diese im kontrastiven Urteil enthalten. B ist nicht zuletzt 4 Beller, „Die Technik des Vergleichs“, S. 42. 5 Beller, „Die Technik des Vergleichs“, S. 42. 193 nicht A, weil B mit einem Minus und A mit einem Plus versehen ist. So auch in dem Beispiel des Diplomaten aus der Schweiz, der dem absolutistischen und rückständigen Italien das bürgerlich-zivilisierte England gegenüberstellt: „Die jeweilige einseitige Sehweise veranlaßt das beobachtende Ich (the spectant), den benachbarten Anderen (the spected) mehr mit negativen und abschätzigen als mit positiven Eigenschaften zu versehen.“ 6 Beller führt Beispiele aus den heutigen, zumeist medialen Diskursen an, etwa, wenn er auf Berichte in deutschen Medien über den Müllskandal in Neapel verweist. Dabei geht es nicht nur um eine „neutrale“ Darstellung eines politischen Skandals, sondern dieser Schilderung liegt die binäre Opposition ordentlich / sauber vs. unordentlich / dreckig zugrunde. „Wenn ein Autor der Nation A die schlechten Eigenschaften und Besonderheiten der Nation B abschätzig beurteilt, gibt er indirekt zu verstehen, daß seine eigene Nation von derlei Fehlern und Unsitten frei ist.“ 7 Es ist offenkundig, dass die Situation komplizierter ist, als Beller sie darstellt. Der von ihm zitierte Autor kommt nämlich weder aus England noch aus Italien, sondern aus einem dritten Land, das sprachlich betrachtet an die Schweiz angrenzt. Die kontrastive Stereotyp-Bildung muss übrigens nicht zwangsläufig ethnozentrisch bzw. ‚egophil‘ sein, es gibt durchaus Beispiele dafür, dass ein Autor den kulturellen Zustand des eigenen Landes mit einem Minus und das des anderen mit einer polar positiven Wertung versieht. Das Müllproblem ist ein gutes Beispiel dafür. Das andere Land-- Deutschland, Amerika, England-- wird bewundert, weil der Autor sich einen Wandel in seiner Gesellschaft wünscht, die sein Land A am Ende mit dem Land B tendenziell mit den gleichen Eigenschaften versehen würde. Man möchte so sein wie der Andere, das fremde Gegenüber. Interessant ist an den Beispielen der Imagologie, wie stark diese sich für nachbarliche Gegenüber interessiert, also für Länder, die eine gemeinsame-- reale oder symbolische-- Grenze miteinander verbindet. Das Beispiel des italienischen Müllskandals führt in dieser stark systematisierten Darstellung zu einer dritten Modalität des Vergleichs. Die erste war die analoge, die zweite die kontrastive bzw. antithetische, die dritte nennt Beller „reziprok“: Es handelt sich um eine beinahe mechanische Reziprozität zwischen nationalen mentalen Attitüden, wonach eine positive Meinung über die Nation A eine Kritik 6 Beller, „Die Technik des Vergleichs“, S. 42. 7 Beller, „Die Technik des Vergleichs“, S. 43. 8.1. Imagologie als Methode und Disziplin 194 8. Imagologie: Aachener Schule, E. Said und H. K. Bhabha an der eigenen Nation B verrät bzw. verbirgt, und umgekehrt ein negatives Urteil über die Nation A einer positiven Selbsteinschätzung von Nation B entspricht. 8 In eine mathematische Formel gegossen nimmt sich das so aus: +A ←→ -B und -A ←→ +B Daraus ergibt sich für die Komparatistik die Notwendigkeit, diese Modalitäten kritisch zu hinterfragen und zu versuchen einen neutralen’ Standpunkt einzunehmen, anstatt die in den Vergleichen schlummernden Werturteile zu reproduzieren. Im Weiteren verfeinert Beller sein imagologisches Modell, wenn er noch andere maßgebliche Faktoren anführt, die die Analyse von „Bildern in unseren Köpfen“ komplizierten. An dieser Stelle zitiert Beller den Soziologen Lippmann und betont, dass all diese Fremd- und Selbstbilder einem kulturellen Wandel unterliegen. So können sich die Macht- und Herrschaftsverhältnisse zwischen zwei Ländern verschieben, die kulturelle Durchlässigkeit verändert sich, politische Feindschaften werden überwunden bzw. neu geschaffen. Zudem ändern sich Wertsetzungen, Mentalitäten und Urteile. Beller verweist hier- - und das war von Anfang an ein wichtiges Thema der Aachener Schule- - auf die französisch-deutsche Aussöhnung nach dem Zweiten Weltkrieg, die eine erhebliche Rolle für die Aachener Imagologie gespielt hat. Dabei verschwinden die alten Bilder nicht vollständig, aber die Vergleiche komplizieren sich. Es kommt zu einer Überlagerung von kontrastiven und reziproken Modalitäten des Vergleichs: Die Urteile ändern sich mit den geschichtlichen Erfahrungen und Optionen; zugleich aber hält die zugrunde liegende topische Argumentationsform die einmal geprägten und insofern konstanten Bilder im Archiv der kollektiven Memoria zur gefälligen Bedienung parat. 9 Der zweite Faktor betrifft die „verschiedenen Perspektiven“, unter denen ein bestimmtes Land von anderen betrachtet und gesehen wird. Hier bezieht sich der Verfasser auf einen Sammelband Deutschlandbilder, in dem die unterschiedliche Stereotypisierung des wiedervereinigten Deutschland nach 1989 untersucht wird. An den Beispielen-- Großbritannien, USA , Israel, Russland, Türkei-- wird deutlich, dass sich Stereotype nicht nur kulturell wandeln, sondern sich immer auch aus bestimmten eigenen Interessenlagen und Erfahrungen (bzw. deren jeweiligen 8 Beller, „Die Technik des Vergleichs“, S. 43. 9 Beller, „Die Technik des Vergleichs“, S. 45. 195 8.2. Edward Said: Orientalism symbolischen Formatierungen) speisen. 10 Daraus ergibt sich ein Kreis von „spectant nations“, deren jeweils unterschiedlicher Blick sich auf eine einzige Nation („spected nation“) richtet. Beller erwähnt noch einen dritten „Faktor, der sich in kein graphisches Schema fassen läßt“: „die persönliche Perspektive des jeweiligen Referenten“. Damit kommt ein unberechenbares Moment der Abweichung ins Spiel, das ebenso schwer systematisch zu analysieren sei wie die „Interferenz zwischen individuellem und kollektivem Meinungsbild“. 11 Ausdrücklich betont der Autor, dass die verschiedenen Nationen zugeschriebenen Charakteristika, auch wenn sie poetisch-sprachlich hochgradig elaboriert sein mögen, Dokumente unserer Phantasie, „Manifestationen der Bilder in unseren Köpfen“ 12 , sind. Es ließe sich hinzufügen, dass es auch Dokumente von hoher politischer, kultureller und gesellschaftlicher Wirkungsmächtigkeit sein können. Beller plädiert am Ende für die Skepsis gegenüber den von ihm herausgearbeiteten Modalitäten des Vergleichs. Denn es gibt keine wahre Wirklichkeit hinter den Stereotypen, Klischees, Topoi und all den mentalen Bildern in unseren Köpfen. Die Imagologie weiß aber um die rhetorischen Techniken, die den verschiedenen Modalitäten der Bildkonstruktion des kulturell Anderen zugrunde liegen. Damit nimmt sie einen klassischen intellektuellen und wissenschaftlichen Platz ein, den des skeptischen und kalmierenden Meta-Beobachters. 8.2. Edward Said: Orientalism Mit seiner Ausgangsfragestellung, nämlich der Frage des Bildes des Nahen oder auch (Fernen) Ostens in der westlichen Welt, schließt der amerikanisch-palästinensische Komparatist Edward W. Said (1935-2003) scheinbar nahtlos an die oben skizzierte Imagologie an, ohne sie jemals zu erwähnen. Denn unter ‚Orientalismus‘ versteht der Autor einen über Jahrhunderte entstandenen, verfestigten Bildkomplex, als ein „Konzept“ der anderen Kultur. In der Einleitung erklärt Said den Orientalismus als eine bestimmte Art der Begriffsbildung des so genannten Orients, die auf dessen speziellen Ort in der westlich-europäischen Erfahrung beruht. 13 Der „fremde“ Orient umfasst bei Said etwa auch den Iran und 10 Beller, „Die Technik des Vergleichs“, S. 45 f. 11 Beller, „Die Technik des Vergleichs“, S. 47. 12 Beller, „Die Technik des Vergleichs“, S. 48. 13 Said, Edward: Orientalism. Western Conceptions of the Orient. With a new Afterword. London: Penguin Books, 1995. S. 1: „I shall be calling Orientalism, a way of coming to 196 8. Imagologie: Aachener Schule, E. Said und H. K. Bhabha Indien. In den europäischen Kulturen-- der Komparatist unterscheidet mehrfach Frankreich, England, Amerika, Deutschland, Italien und Russland- - nimmt er einen ganz besonderen symbolischen Ort (Topos) der europäischen Erfahrung ein. Erfahrung ist hier nicht als etwas ‚Authentisches‘ zu verstehen, sondern wird von Werturteilen gefiltert. Zu diesem ‚Filter‘ gehört die Konstruktion des Orients als eines raumzeitlich homogenen symbolischen Großgebildes. Eine solche Homogenisierung im Gefolge von Stereotypisierungsprozessen ist auch im Falle von ‚Asien‘ und ‚Afrika‘ zu konstatieren, in der eine kulturelle Vielfalt auf eine abstrakte Einheit reduziert wird. Dieses sich aus der gefilterten Erfahrung auskristallisierende Bild des Nahen und Mittleren Ostens, das letzteren als homogenes Ganzes erschafft und zugleich orientalisiert, diese „imaginative Geographie“ 14 , ist undenkbar ohne den Tatbestand des kolonialen Status, in den Ägypten, der Nahe Osten oder auch Indien in der Auseinandersetzung mit dem Britischen Weltreich oder dem französischen Imperium geraten sind. Said führt dem Lesepublikum eine ganze Anzahl von englischen und französischen, gelegentlich auch deutschsprachigen Schriften vor, die die Kontinuität eines oftmals abwertenden und feindlichen Bildes der gegenüber dem Westen anderen Mega-Kultur sinfällig machen. Der Literaturwissenschaftler bleibt indes nicht dabei stehen, deskriptiv das Bild des Orients zu beschreiben, das unter anderem in literarischen Texten entfaltet wird, sondern untersucht dessen Funktion für den europäischen Okzident. Vorweg gesprochen ist der Orientalismus, um noch einmal auf Bellers Imagologie zu sprechen zu kommen, ein kontrastiver Bildkomplex. Er basiert darauf, dass A (der Westen) nicht B (der Orient) ist und umgekehrt. Die „Sehweise“ auf die andere Kultur ist systematisch pejorativ. So schmachtet etwa Mohammed, der Begründer des Islams, in Dantes Divina Commedia im vorletzten Kreis der Hölle, unweit des letzten, in dem der Teufel selbst haust. Das hängt offenkundig damit zusammen, dass Mohammed als ein Häretiker angesehen wird, was, kritisch zu Said gesprochen, eigentlich wenig mit ‚Orientalismus‘ zu tun hat. So befinden sich muslimische Gelehrte wie Avicenna, Averroës und Saladin zusammen mit den antiken Philosophen einzig und allein deswegen im ersten Kreis der Hölle, weil sie formal keine Christen sind. 15 In dieser Sicht auf den Islam wird dieser als Konkurrenz und Störfaktor angesehen, terms with the Orient that is based on the Orient’s special place in European Western experience.“ 14 Said, Orientalism, S. 49-73. Geläufiger ist mittlerweile der Terminus „imaginäre Geographie“. 15 Said, Orientalism, S. 68-70. 197 8.2. Edward Said: Orientalism keineswegs aber, wie in dem von Said untersuchten ‚Orientalismus‘, als das kulturell komplett Andere und Fremde. Methodisch geht Said über die philologische Methode des Textvergleiches und die Paradoxien der Hermeneutik, wie sie der traditionellen Imagologie und der Stereotypen-Kritik inhärent ist, weit hinaus. Vielmehr rückt er den politischen Hintergrund der Bildkonstruktion anderer Kulturen ins Blickfeld seiner Überlegungen. Das machen schon die beiden Motti zu Anfang der Abhandlung programmatisch deutlich. Das eine Zitat- - „Sie können sich nicht vertreten, sie müssen vertreten werden“- - stammt von Karl Marx und ist seiner Analyse des aus der Revolution von 1848 hervorgegangenen bonapartistischen Regimes entnommen. Es diskutiert das Problem der Repräsentation und besagt, dass die untergeordneten Klassen sich nicht selbst repräsentieren können, sondern repräsentiert werden müssen. Marx bezieht sich auf die damals große Gruppe armer Parzellenbauern, die keine politische Repräsentation haben und die von Louis Napoleons bonapartistischen Partei vertreten werden. 16 Das zweite stammt aus einem literarischen Text des englischen Politikers Benjamin Disraeli und verkündet: „Der Osten ist eine Karriere.“ Damit werden in Saids prominentem Buch zwei Gedankenstränge miteinander verbunden: die in den angelsächsischen Kulturstudien zentrale Frage nach der Repräsentation, die mit der Frage der Macht eng verknüpft wird. So ist in die Tatsache, dass der Orientalismus keine Selbstsondern eine Fremdrepräsentation darstellt, von vornherein eine asymmetrische Machtkonstellation eingeschrieben. Diese verdankt sich, wie das Disraeli-Zitat nahelegt, der kolonialen Herrschaft und Kontrolle des Britischen Weltreiches im Nahen Osten. Saids Buch Orientalism spannt einen weiten historischen Bogen: Bereits die antiken griechischen Dramatiker Aischylos (Die Perser), Euripides (Die Bacchien) und sogar schon Homer (Ilias) werden mit ihren Bildkonstruktionen der Perser, des östlichen Kults des Dionysos und des östlichen Troja, lange vor dem Siegeszug des Islams als Erfinder eines frühen Orientalismus betrachtet. Wir finden neben Dante die englische und französische Orientalistik (von Silvestre de Sacy über 16 Marx, Karl / Engels, Friedrich: „Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte“. In: Werke. Bd 8. Herausgegeben vom ZK der SED . Berlin / DDR : Dietz, 1960. S. 111-207. Hier S. 198: „Und dennoch schwebt die Staatsgewalt nicht in der Luft. Bonaparte vertritt eine Klasse, und zwar die zahlreichste Klasse der französischen Gesellschaft, die Parzellenbauern.“ Vgl. die Adaption des Marxschen Überlegung bei Spivak, Gayatri Chakravorty: Can the Subaltern Speak? Postkolonialität und subalterne Artikulation. Deutsch von Alexander Joskowicz und Stefan Nowotny. Wien: Turia-+ Kant, 2008. S. 17-118. 198 8. Imagologie: Aachener Schule, E. Said und H. K. Bhabha Edward William Lane bis zu Ernest Renan und Joseph Arthur de Gobineau), englische und französische Politiker sowie Intellektuelle, Nervals Reiseberichte und Flauberts Salammb ô, Goethe und die deutsche Romantik. Am Ende dieser Aufzählung an Autoren kommt selbst Henry A. Kissinger als Ko-Autor eines Orientalismus zur Sprache, der eines mit anderen orientalistischen Diskursen gemeinsam hat: dass er, selbst in den positiven Zuschreibungen, von der Inferiorität eben jenes Orients überzeugt ist, der als ein Hort der Unterlegenheit und Grausamkeit erscheint. Auf die vielen Details der Untersuchung und die zum Teil berechtigten kritischen Reaktionen, die das Buch hervorgerufen hat, 17 kann an dieser Stelle nicht eingegangen werden, wohl aber auf Saids methodische Vorgehensweise. Auf sie kommt Said in der Einleitung zu sprechen und diese soll im Zentrum dieses Abschnitts stehen. Demgegenüber setzt sich das Nachwort von 1995 vor allem mit den politischen Reaktionen auseinander, die das Buch in den fünfzehn Jahren nach seinem Erscheinen (1978) insbesondere von konservativer Seite erfahren hat. In der Einleitung von 1978 diskutiert Said zunächst drei Bedeutungen des Terminus ‚Orientalismus‘, die eng miteinander verbunden sind und sich überlappen. Es sind dies: 1. Die akademische Bezeichnung: Orientalismus etabliert sich als eine Wissenschaft des bzw. vom Fremden. Die Wissenschaft einer anderen Großkultur wird in der Neuzeit zu einer Disziplin an den Universitäten und wissenschaftlichen Akademien in vielen europäischen Ländern. Mit orientalischen Studien sind dabei Disziplinen wie die Anthropologie, die Soziologie, die Geschichtsforschung und die Philologie (Literatur- und Sprachwissenschaft) und natürlich die Orientalistik als Sonderdisziplin umfasst. 2. Orientalismus als Denkstil: Dieser Begriff von Orientalismus ist weiter gefasst. Er ist eine bestimmte Denkweise, die aus der ontologischen und epistemologischen Unterscheidung, die zwischen Ost und West getroffen wird, hervorgeht. 3. Orientalismus als Diskurs: Diesem Bedeutungsrahmen folgend ist Orientalismus ein Diskurs im Sinne Michael Foucaults, wie ihn der französische Philosoph in Büchern wie Die Archäologie des Wissens oder Überwachen und Strafen entwickelt hat. In diesem Zugang kommen stärker als in den ersten beiden Punkten geistesgeschichtliche historische und materielle Gesichts- 17 Vgl. dazu auch die Repliken des Autors: Said, Orientalism, S. 329-354. 199 8.2. Edward Said: Orientalism punkte ins Spiel. Foucault begreift Diskurs nicht primär und ausschließlich als linguistisches Phänomen. Er wird in diesem Zusammenhang nicht allein als ein Feld bestimmter, sprachlich formatierter Aussagen und Aussageformen, sondern vielmehr als eine Form von strukturierter Macht und Kontrolle fixierten und fixierbaren Sprechens und Wissens verstanden. 18 Foucaults Untersuchungen über Diskursmacht konzentrieren sich bekanntlich auf binnenkulturelle Diskurse und epistemai (Wissensformen), von Justiz und Gefängnis über die Psychiatrie bis zu den verschiedenen Etappen der neuzeitlichen Wissenschaften. Said weitet Foucaults Methode aus, indem er sie auf den Diskurs über eine bestimmte fremde Kultur anwendet. Es ist ein ganz bestimmter primär wissenschaftlich-begrifflich-intellektueller Diskurs, der darüber bestimmt, was der Orient ist. Dieses systematisch kontrollierte Sprechen geht Hand in Hand mit der kolonialen Beherrschung dieses geographischen Raumes. Orientalismus wird als Diskursmacht des Westens über den Nahen und Mittleren Osten verstanden. Der Orient ist dabei der ‚innere‘ Herrschaftsaspekt des Kolonialismus, der nicht das Thema des Buches ist, aber doch dessen Horizont bildet. Der Tatbestand des Orientalismus als eines westlichen Diskurses ist die tiefere Ursache dafür, dass der ‚Orient‘ kein freies Subjekt des Denkens und Handelns war und ist. Ohne das Verständnis des Orientalismus als eine westliche Diskursmacht-Formation, könne man, so Said, nicht die enorme systematische Disziplin begreifen, mit der die europäische Kultur der nachaufklärerischen Periode imstande war, Kulturen des Nahen Ostens politisch, soziologisch, militärisch, ideologisch, wissenschaftlich und imaginativ zu kontrollieren und zu leiten, ja sogar zu produzieren. 19 Dieser Diskurs etabliert, was Said an dieser Stelle nicht eigens ausführt, die binäre Opposition Orient-Okzident, mit deren Hilfe letzterer seine eigene Identität konstruiert, und zwar ex negativo, durch Exklusion. So wie die Vernunft des aufklärerischen Zeitalters den ‚Wahnsinn‘ benötigt, um zu ‚bestimmen‘, was vernünftig ist, so bedarf die westliche Kultur des ‚Orients‘, um festzulegen, was der ‚Okzident‘, ‚Europa‘ oder der ‚Westen‘ sind. Das was Beller als kontrastives Stereotypenschema beschreibt, ist kulturell betrachtet so erfolgreich, weil es auf plastische, nämliche kontrastive und zugleich reziproke Weise, wie das Negativ eines analogen photographischen Films, die eigene kollektive Identität konstruiert und zugleich Herrschaft und Hegemonie 18 Foucault, Die Ordnung des Diskurses, S. 15. 19 Said, Orientalism, S. 3. 200 8. Imagologie: Aachener Schule, E. Said und H. K. Bhabha über die andere, fremde Kultur legitimiert. In dieser Adaption von Foucaults Diskursanalyse besteht das eigentlich Innovative von Saids Imagologie des ‚Orients‘. Im folgenden Abschnitt konkretisiert der Verfasser von Orientalism seine methodischen Prämissen, wie sie sich vor allem aus seiner Auffassung des Orientalismus als eines spezifischen machtförmigen Diskurses im Sinne Foucaults ergeben. Dabei wird schnell klar, dass der vergleichende Literaturwissenschaftler Said seine Disziplin überschreitet, indem er sich neben Foucault auf Raymond Williams, Antonio Gramsci und auf Giambattista Vico beruft. Insofern lässt sich sagen, dass Saids Buch sich in einem transdisziplinären Diskursfeld befindet, das durch Begriffe wie Cultural Studies und Kulturwissenschaften recht provisorisch markiert ist. 1. Die erste Prämisse umfasst eine deutlich konstruktivistische Tendenz. Der gesamte Problemkomplex, um den das Buch kreist, Orient wie Okzident und die sich daraus ergebende Interdependenz, ist ein kulturelles Konstrukt. Dieses ist, wie alle Kultur, vom Menschen gemacht, wie Said unter Berufung auf Vico, der nicht selten als Gründungsvater der Kulturwissenschaften beschworen wird, konstatiert. Der Orient sei, wie übrigens auch der Okzident, keine reine Erfindung ohne jegliche Referenz. 20 Der konstruktivistische Blick bringt es freilich mit sich, dass der Begriff der ‚Wirklichkeit‘ nur mehr als Grenzbegriff funktioniert. Es gibt keine naive Aufklärung in dem Sinne, dass man dem ‚Orientalismus‘ das ‚wahre Gesicht‘ des Orients entgegensetzen könnte. Diese methodische Prämisse gilt natürlich nicht nur für jene Großregion, die im Deutschen der ‚Nahe Osten‘ und im angelsächsischen Kontext ‚Middle East‘ heißt, sondern für sämtliche jeweils fremde, andere Mikro- und Makrokulturen. 2. Die Beziehungen zwischen Kulturen und die sich daraus ergebenden Bildkomplexe sind immer von Macht, komplexen Formen der Hegemonie und Dominanz bestimmt. Auf den Nahen Osten angewandt bedeutet das, dass er nicht nur deshalb orientalisiert wurde, weil er von westlichen Reisenden entdeckt, sondern weil er von westlich imperialen und kolonialen Mächten ganz bewusst „oriental“ gemacht wurde. 21 Said veranschaulicht das an einem prominenten Autor, Gustave Flaubert, der seine reale erotische Begegnung 20 Said, Orientalism, S. 5. 21 Said, Orientalism, S. 5 f. 201 8.2. Edward Said: Orientalism mit einer ägyptischen Kurtisane, Kuckuch Hanem, in Les Lettres d’Égypte festgehalten hat. Dadurch habe er, so Said, ein einflussreiches Modell der orientalischen Frau geschaffen, das er in seinem Roman Salammbô , der die Titelfigur als grausam-erotisches Lebewesen fixiert, übrigens noch gesteigert hat. Flaubert habe sie nicht nur physisch ‚besessen‘, sondern er spricht auch für sie. Unabhängig von seiner Haltung gegenüber dem Kolonialismus befindet sich Flaubert als der westliche weiße Mann in einer Machtposition: Die andere, fremde Frau steht ihm real wie symbolisch zu Verfügung. Insofern versinnbildlicht diese Situation modellhaft das asymmetrische Verhältnis von West und Ost und übrigens auch das von Mann und Frau. 22 3. Der Orientalismus-- und wir können hinzufügen auch die stereotypen Bildkomplexe anderer Kulturen-- ist nicht einfach ein Sammelsurium von (leicht widerlegbaren und aufzuklärenden) Mythen und Lügen, sondern steht in einem engen Zusammenhang mit der Schaffung dauerhafter sozio-ökonomischer und politischer Institutionen und Strukturen. Orientalismus muss eher als eine ausgearbeitete Menge von Theorien und Praktiken verstanden werden, als ein System von Wissen über den Orient, ein kulturell allgemein akzeptiertes ‚Gitter‘ (grid), das den Orient in das europäische Bewusstsein ‚durchfiltert‘ (filtering through). 23 Said erwähnt in diesem Zusammenhang den italienischen Marxisten Antonio Gramsci, der eine systematische Unterscheidung zwischen Zivilgesellschaft und politischer Gesellschaft (Staat) getroffen hat. Einrichtungen der Zivilgesellschaft sind etwa Schulen, 24 Familien und Vereine, staatliche Einrichtungen sind hingegen Armee, Bürokratie und Polizei. Es ist vor allem der zivilgesellschaftliche Bereich, in dem ‚Kultur‘ wirksam ist. Hier wird der Einfluss von Ideen, Institutionen und Personen nicht durch Beherrschung, sondern vielmehr durch Zustimmung hergestellt. In nicht totalitären Gesellschaften sind stets gewisse kulturelle Formen einflussreicher und bestimmender als andere. Dieser Tatbestand, führt Said aus, sei das, was Gramsci unter Hegemonie verstehe. Diese Form von Hegemonie, die nicht mit einer herrschaftlichen Verordnung von oben verwechselt werden darf, ist das Ergebnis von Debatten und Diskursen, die sich zu Formationen verfestigen. 22 Said, Orientalism, S. 6 bzw. S. 186-188. 23 Said, Orientalism, S. 6. 24 In den meisten europäischen Ländern sind Schulen überwiegend staatliche Einrichtungen, in den angelsächsischen Ländern mit ihren breitgefächerten Privatschulen mögen das Verständnis und die Praxis des Schulwesens anders sein. 202 8. Imagologie: Aachener Schule, E. Said und H. K. Bhabha In diesem Sinn ist der Orientalismus Ausdruck der Hegemonie des Westens über den ‚Orient‘. 25 Oder anders ausgedrückt: Die politisch-polizistische Macht über die andere Kultur geht Hand in Hand mit einer konsensual generierten Hegemonie im Sinne Gramscis. Wie schon im Falle der Anwendung von Foucaults Diskursanalyse wird auch deutlich, wie Said Gramscis Modell für eine binnengesellschaftliche und -kulturelle Befindlichkeit auf einen transkulturellen Komplex überträgt. Ein Aspekt, der sich aus der Adaption von Gramscis Hegemonie-Konzept ergibt, bleibt jedoch nicht nur in der Einleitung, sondern im Fortgang der konkreten Analyse weithin ausgespart. Gemeint ist die Frage, inwieweit das Bild des westlichen Orientalismus nicht auch deshalb hegemonial ist, weil es etwa im 19. Jahrhundert das Denken der Menschen, der Intellektuellen, Politiker, Literaten und Wissenschaftler im arabischen Raum geprägt hat. Aber dazu bedürfte es eines Komplementes, nämlich der Analyse all jener gelehrten und nicht-gelehrten Diskurse, die zur gleichen Zeit wie der klassische westliche Orientalismus im Nahen Osten geführt worden sind. Aus einer solchen Perspektive lässt sich auch begreifen, warum der aggressive Fundamentalismus unserer Tage bei Teilen der Bevölkerung in vielen, vom Islam geprägten Ländern auf Zustimmung stößt: weil er auf eine prekäre, letztlich autodestruktive Weise eine Befreiung von jenem Orientalismus verspricht, der die Hegemonie des Westens verkörpert. Kommen wir zum dritten und letzten Abschnitt der Einleitung, die wiederum drei Fragen zu diskutieren und klären versucht, die Said bei seiner Arbeit an dem Buch begleitet haben: 1. Die Unterscheidung zwischen ‚reiner‘ und politischer Erkenntnis: Es sei leicht zu behaupten, schreibt Said, dass das Wissen über Shakespeare und Wordsworth im Gegensatz zu dem über China und die Sowjetunion nicht politisch sei, einfach, weil sein literaturwissenschaftliches Fachgebiet scheinbar keinen direkten Bezug zur politischen Realität besitze. In der Einleitung von 1978 bezeichnet sich Said als ‚Humanisten‘, als einen Menschen, dessen ideologische Färbung von eher nebensächlicher Bedeutung für die Tagespolitik ist. Jene Menschen, die unmittelbar im politischen Bereich tätig sind, seien im Gegensatz dazu selbst in den politischen Kontext verwoben. 26 Im Nachwort von 1995 relativiert der Autor diese Ansicht insofern, als er sich mit den zum Teil heftigen politischen Reaktionen konfrontiert sieht, die ihm zum Beispiel 25 Said, Orientalism, S. 7. 26 Said, Orientalism, S. 9. 203 8.2. Edward Said: Orientalism vorwerfen, ein Feind des Westens zu sein. 27 Schon vor dem 11. September ist Saids Buch von den aktuellen politischen Ereignissen, der Zuspitzung des Konflikts des Westens mit der islamischen Welt, eingeholt worden. In der Einleitung von 1978 wird deutlich, dass Said seinen ‚Humanismus‘ mit Verweis auf Noam Chomsky als kämpferisch versteht und der klassischen Trennung von Wissenschaft und Politik misstraut. Noch einmal ruft Said Gramsci für seine Auffassung in den Zeugenstand, wonach auch der akademische Bereich Teil eben jener Zivilgesellschaft ist, in der der Kampf um Bedeutung und damit um Hegemonie ausgetragen wird. 28 Aber es ist wohl selten so drastisch passiert, dass das Buch eines Humanwissenschaftlers, das sich auf einer Metaebene bewegt-- nämlich auf der Ebene, wie die eine Kultur von der / einer andern stereotypisiert und ‚erfunden‘ wird--, derart von der politischen Realität eingeholt wird. So wurde ein Vortrag Edward Saids, den der mittlerweile weltberühmte palästinensisch-amerikanische Wissenschaftler am 6. Mai 2001 im Wiener Sigmund-Freud-Museum halten sollte, von den Veranstaltern aus Angst insbesondere vor jüdisch-israelischen Protesten abgesagt. 29 2. Die methodische Dimension: Die methodische Frage bezieht sich auf die Auswahl des Textkorpus. Auch hier spielt der politische Aspekt insofern eine Rolle, als der Autor seine Beispiele vornehmlich aus dem angelsächsischen und französischen Bereich wählt. Hier kann der Zusammenhang zwischen realpolitischer Kontrolle und einem ausgearbeiteten System eines Orientalismus in Wissenschaft und Literatur am prägnantesten sichtbar gemacht werden. Die Realgeschichte kolonialer und imperialer Herrschaft wird zwar nicht selbst zum Thema gemacht, bildet aber den Horizont der Untersuchung. Sein Buch sei nicht zuletzt ein System zum Zitieren von Werken und Autoren, wobei Said betont, dass er die Funktion des Autors für weit bedeutsamer halte als Foucault, für den der Autor ja nicht der Urheber, sondern eher das Resultat eines bestimmten Diskurses darstellt, der in diesem eine vereinheitlichte Funktion besitzt. 30 27 Said, Orientalism, S. 334. 28 Said, Orientalism, S. 11. 29 Siehe dazu: Die Absage der Wiener Freud-Gesellschaft an Prof. Edward Said http: / / www. antiimperialista.org / de / node / 376, heruntergeladen am 01.03.2016. Vgl. auch: Der Spiegel, Hamburg, 19. 03. 2001, http: / / www.spiegel.de / spiegel / print / d-18 759 195.html, heruntergeladen am 01. 03. 2016. 30 Said, Orientalism, S. 23. 204 8. Imagologie: Aachener Schule, E. Said und H. K. Bhabha 3. Die persönliche Dimension: Said bezieht sich auf eine Passage aus den lettere del carcere, in der Gramsci die Selbsterkenntnis als eine wichtige Voraussetzung für Wissen und Wissenschaft apostrophiert. Ebenso wie im Falle des politischen Engagements gilt es den persönlichen Bezug zu benennen, in diesem Fall die Lebensgeschichte eines Mannes, der seine Ausbildung in Palästina, Ägypten und den Vereinigten Staaten erhalten hat. Er betont, dass alle diese Stationen seines Lebens von der westlich-englischen Kultur bestimmt gewesen seien. Insofern sieht sich Said selbst als ein Produkt dieses Orientalismus und damit als ein Mensch, der selbst den offenen wie versteckten Rassismus bzw. die Xenophobie kennengelernt hat. 31 Kulturanalyse ist stets ein Teil dessen, was sie beschreibt und insofern kommt es auch darauf an, wie reflektiert die politischen wie privaten Momente, die der jeweils ‚eigenen‘ wissenschaftlichen Tätigkeit zugrunde liegen, thematisiert werden. Said räumt durchaus die Möglichkeit von ideologischen Verkürzungen und Kurzschlüssen ein, wenn die „Kultur ihre Nase in die Politik steckt“ (Said spricht wörtlich von kruder Ikonoklastik). Zugleich betont er aber die Notwendigkeit, den Zusammenhang zwischen ökonomischer ‚Basis‘ und ideellem ‚Überbau‘- - bekanntlich zwei Marxsche Kategorien-- in der Textanalyse freizulegen. 32 Insofern lässt sich Saids an Foucault und Gramsci geschulte ‚Imagologie‘ als eine Form von Kulturwissenschaft begreifen, die eben diese Lücke auf eine nicht-mechanische und deterministische Weise zu schließen versucht, in dem sie zeigt, wie die handfeste ökonomisch-politische Asymmetrie (das ist die Ebene der ‚Basis‘) ihr Gegenstück in jener Hegemonie hat, die dem westlichen Orientalismus inhärent ist (das ist der Überbau). Wie das Nachwort von 1995 sinnfällig macht, ist die Kritik an dem Buch vornehmlich politisch gewesen: Nicht zuletzt fielen die Reaktionen westlicher Orientalisten durchaus heftig aus. Gleichzeitig bekomme Said von arabischer Seite insofern falschen Beifall, als die arabischen Kritiker des Westens sich in ihrer Auffassung bestätigt sahen, dass die okzidentale Wissenschaft vom Nahen Osten nutzlos sei. Solch eine Ansicht laufe aber letztendlich darauf hinaus, jedwede Wissenschaft fremder Kulturen zu delegitimieren und nur mehr eine ethnozentrische Kulturwissenschaft aus dem jeweils eigenen Verstehenshorizont zuzulassen. 33 Gegenüber solcher Kritik und solch ebenso problematischem Lob muss 31 Said, Orientalism, S. 25 f. 32 Said, Orientalism, S. 13. 33 Said, Orientalism, S. 331 ff. 205 8.2. Edward Said: Orientalism man die Pionierleistung des Buches hervorheben. Dass die in ihm eingeforderte Reflexion und Revision im akademischen Milieu zum Teil schlecht aufgenommen wurde, spricht eher dafür, dass Said einen wunden Punkt getroffen hatte. Wie alle Initialwerke hat es aus heutiger Perspektive methodische Schwächen. Dazu gehört etwa, dass Said selbst von einer langen Kontinuität von Orient-Bildern, von der griechischen Antike bis zur gegenwärtigen amerikanischen Politik, ausgeht, anstatt deren Brüche und Wandelhaftigkeit ins Auge zu nehmen. Darüber hinaus ist sein System, was das Zitatenmaterial anbelangt, überaus heterogen, ohne dass der Verschiedenheit der jeweiligen Textsorten (wissenschaftliche Abhandlungen, literarische Texte, politische Aussagen) Rechnung getragen wird. Ein entscheidendes Problem ist zudem, dass Said die textlichen Zeugnisse aus dem ‚Orient‘, also der Gelehrten, Schriftsteller und Intellektuellen etwa im arabischen Raum der gleichen Epochen nicht berücksichtigt. Somit kann das Ausmaß der Hegemonisierung des Nahen und Mittleren Ostens, aber auch Indiens nicht ermessen werden. Dass Said in seiner Darstellung auch die Ambivalenzen des westlichen Orientalismus weithin ausblendet, hat, wie Homi Bhabha und Clemens Ruthner gezeigt haben, mit diesem Versäumnis, aber auch mit einem verkürzten Verständnis von Stereotypen zu tun. Die sich an das Orientalismus-Buch anschließenden Studien zum ‚Balkanismus‘, in denen insbesondere jener Teil des Halbkontinents Europa, der über eine länger Dauer Teil des Osmanischen Reiches gewesen ist, als der eigene ‚Orient‘ konstruiert wird, haben, unter Beibehaltung der kritischen, meta-politischen Perspektive Saids, einige der Verkürzungen korrigiert und damit den Zusammenhang von politischer Übermacht und kultureller Hegemonie auf eine differenziertere Weise formuliert und dargestellt. An vorderster Front sind hier Maria Todorova, 34 aber auch das österreichische Forschungsprojekt und Netzwerk Kakanien revisited zu nennen. 35 34 Todorova, Maria: Die Erfindung des Balkans. Europas bequemes Vorurteil. Darmstadt: Primus 1999. 35 Vgl. die mittlerweile 23 Bände umfassende Buchreihe Kultur- - Herrschaft- - Differenz (Tübingen: Francke, 2002 ff.) sowie die digitale, mittlerweile nur noch als Archiv vorhandene Plattform www.kakanien.revisited.at. 206 8. Imagologie: Aachener Schule, E. Said und H. K. Bhabha 8.3. Homi Bhabha: ‚Hybridität‘ und Dritter Raum Homi Bhabha (geboren 1949) und Edward Said haben einiges miteinander gemein: Beide stammen aus ehemaligen britischen Kolonien-- der eine aus Palästina, der andere aus Indien-- und haben eine Schulausbildung durchlaufen, die durch und durch angelsächsisch geprägt gewesen ist. Darüber hinaus sind sie Literaturwissenschaftler und gehören bzw. gehörten der akademischen Elite in den Vereinigten Staaten an. Beide bringen also eine Erfahrung ein, die zentral mit dem postkolonial fortdauernden asymmetrischen Verhältnis von ‚Ost‘ und ‚West‘ zu tun hat. In diesem Zusammenhang lassen sie sich als klassische Repräsentanten der postkolonialen Konstellationen in der global gewordenen Moderne verstehen. Aber zwischen den Autoren gibt es natürlich auch Unterschiede, Unterschiede der Herkunft, aber auch des Alters. So gehört Bhabha einer (zweiten) Generation von Kulturtheoretikern an, die sich unter anderem intensiv mit der Dekonstruktion Derridas auseinandergesetzt haben und versuchen, diese kreativ auf ihre Themen anzuwenden. Bhabha entstammt einem privilegierten Milieu, nämlich jener parsischen Minderheit, die bis zum heutigen Tag eine wichtige Rolle im wirtschaftlichen Leben Mumbais spielt, so etwa im Bereich der Autoindustrie (Tata) oder in der indischen Filmindustrie. Die Parsen, Nachfahren der vor dem Islam aus Persien geflüchteten Anhänger der zoroastrischen Religion, haben in der Kolonialzeit eine wichtige Rolle als Vermittler zwischen Kolonie und kolonialem Zentrum gespielt. Das monotheistische Moment ihrer Religion und ihre pragmatische Ethik waren zum Beispiel mit dem britischen Staatsprotestantismus leichter zu vereinbaren als die bunten Mischungen der Veden. Eines der großen Themen des Postkolonialismus und damit auch des Werkes von Bhabha ist der ‚Hybrid‘, ein Terminus, den Mieke Bal als einen zwischen den Disziplinen wandernden Begriff beschrieben hat. 36 Im Altgriechischen und speziell in den griechischen Mythen, ist die Hybris aus der Perspektive der olympischen Götter eine Selbstüberhebung des Menschen, die wie im Falle des Prometheus eine drakonische Bestrafung nach sich zieht. In der modernen Biologie bedeutet der Hybrid eine biologische Kreuzung verwandter Pflanzen oder Lebewesen. Mittlerweile gibt es bekanntlich auch in der automobilen Welt „hybride“ Fahrzeuge, nämlich solche, deren Motoren mit verschiedenen Energiequellen (z. B. Elektrik und Benzin) betrieben werden. 36 Bal, Mieke: Kulturanalyse. Aus dem Englischen von Joachim Schulte. Herausgegeben und mit einem Nachwort versehen von Thomas Fechner-Smarsly und Sonja Neef. Frankfurt / Main: Suhrkamp, 2002. S. 7-27. 207 8.3. Homi K. Bhabha: ‚Hybridität‘ und Dritter Raum Der insbesondere in der angelsächsischen Kulturwissenschaft beheimatete Begriff des Hybriden, der eine kulturelle Mischung bezeichnet, 37 geht letztlich auf den russischen Literaturtheoretiker Michail Bachtin zurück. In seiner Theorie des Romans ist die Idee von Hybridität auf zweifache Weise präsent. Zum einen begreift Bachtin den Roman selbst als ‚hybrid‘, nämlich als eine moderne literarische Gattung, die nicht einfach eine neue Form der Prosa darstellt, sondern die vielmehr alle bisherigen Prosaformen in sich trägt, strukturell heterogen ist und damit die bisherigen Gattungsgrenzen sprengt. Zum anderen ist der moderne Roman insofern ein Gemisch, als er die verschiedensten Sprachen, Stile und Ideologien in sich trägt. Diese Polyphonie, diese Vielfalt der Stimmen, die nicht autoritativ durch eine Erzählerstimme aufgehoben wird, ist ein untrügliches Zeichen für eben jene Hybridität, die schon bei Bachtin als Ausweis von Modernität angesehen wird. 38 Hybridität steht hier also für Pluralität und Mischung und betont schon von der Konnotation des Begriffs ‚hybrid‘ die Künstlichkeit dieser Figur. Kultur erscheint hier als Kontrapunkt zur traditionellen Vorstellung einer homogenen Kultur als Ergebnis von Mischungen und Binnendifferenzen. Problematisch an dem Begriff erscheint indes seine biologische Konnotation, die damit Kultur in die Nähe von essentialistischen und rassischen Zuordnungen bringt, während es doch eigentlich darum geht, dass es zunehmend Menschen gibt, die sich in und zwischen zwei oder mehreren Kulturen (Sprachen, Symbolsystemen, Verhaltensmustern etc.) bewegen, so wie etwa Bhabhas Landsmann Salman Rushdie. Dessen Satanische Verse werden von dem indischen Kulturtheoretiker immer wieder als literarischer Belegtext für die Hybridität der hyper- oder postmodernen Kultur ausgewiesen. Rushdies Roman erfüllt im Übrigen beinahe sämtliche Kriterien von Modernität, die Bachtin in seiner Theorie des Romans entwickelt hat: Er ist polyphon, intertextuell und viele seiner Figuren sind Wandernde zwischen den Welten. Zuweilen erscheint es so, dass der Hybrid, dieser neue Repräsentant einer globalen transbzw. interkulturellen Welt, das ideale Subjekt zur Herstellung einer Welt wäre, die nationale Grenzen und andere Partikularitäten hinter sich lässt. 37 Vgl. die Denkfigur der mêlée, (Gedränge, Gewühl, Wirrwarr) bei Nancy, Jean-Luc: „In Praise of the Mêlée“. In: Ders.: A finite thinking. Stanford: Stanford University Press, 2003. S. 277-288. Ich danke Clemens Ruthner für den Hinweis. 38 Vgl. Aydın, Yaşar: „Zum Begriff der Hybridität. Sozialökonomischer Text Nr. 105“. HWP -- Hamburger Universität für Wirtschaft und Politik Hamburg, September 2003. In: https: / / www.wiso.uni-hamburg.de / fileadmin / sozialoekonomie / fachbereich/ _dwpordner / Forschung / Publikationen / Zum_Begriff_der_Hybriditt.pdf, heruntergeladen am 01. 03. 2016. 208 8. Imagologie: Aachener Schule, E. Said und H. K. Bhabha Er wird nicht mehr wie bei Parks als ein ‚marginal man‘ gesehen ( → -Kapitel 6), dessen Loyalität schmerzlich gespalten ist, sondern als jemand, der imstande ist, Fremdheit in sich und mit sich selbst auszutragen-- sozusagen ein dialogisches Subjekt schlechthin. 39 Dass eine solche Privilegierung sozial besehen auf bestimmte Eliten im Bereich von Kunst, Wirtschaft oder Medien beschränkt ist und dass viele Migranten zwar ‚hybrid‘, aber im Sinne Parks marginalisiert sind, liegt auf der Hand. Heikel ist der Begriff eben auch wegen seiner biologistischen Konnotationen, weshalb Begriffe wie Synkretismus, Mischung, Heterogenität und plurale Identitätskonstruktion angemessener sind als ‚Hybridität‘. Der Begriff ist auch deshalb strittig, weil er daran erinnert, dass in den kolonialen und postkolonialen Verhältnissen jenes auf den Leib geschriebene Phänomen der Hautfarbe (wie andere körperlichen Phänomene wie Gesichtsphysiognomie oder Körpergröße) eine unhintergehbare Rolle spielt. Menschen können ihre religiösen oder ideologischen Auffassungen ändern, sie können die Sprache der neuen Heimat so perfektionieren, dass sie von der heimischen Mehrheitsbevölkerung ununterscheidbar ist, aber die Hautfarbe lässt sich nicht ohne weiteres und für immer verändern. Wie wir aus der Kulturgeschichte des Fremden und des Rassismus wissen und wie Franz Fanon, ein Stichwortgeber Bhabhas, gezeigt hat, haben diese zunächst nicht-kommunikativen Aspekte von Fremdheit aber eine maßgebliche Rolle gespielt. Der Rassismus erzeugt eine Wertungsskala, in der Weiß ganz oben, Schwarz ganz unten steht, während ‚Gelb‘ und ‚Braun‘ eine Mittelposition zwischen dieser binären Opposition einnehmen. Dass sich solche Bewertungsschemata in bestimmten Kontexten umkehren können, ist kein stichhaltiger Einwand gegen diesen kulturellen Sachverhalt, macht aber deutlich, dass diese ‚objektiven‘, ‚natürlichen‘ Differenzen selbstverständlich integraler Bestandteil des Symbolismus von Kulturen und ihren Verhältnissen zueinander darstellen, in denen die Möglichkeit besteht, Wertungen und Wertsysteme umzukehren und zu modifizieren. Die Pointe des Arguments lautet, dass Kultur immer schon, auch ohne klassischen Außenkontakt, ein pulsierendes System von Mischungen und Trennungen darstellt. Unter den globalen Bedingungen unserer Tage hat sich diese Dynamik 39 Müller-Funk, Wolfgang: „Transgressionen und dritte Räume: ein Versuch Homi Bhabha zu lesen“. In: Bhabha, Homi K.: Über kulturelle Hybridität. Tradition und Übersetzung. Herausgegeben und eingeleitet von Anna Babka und Gerald Posselt. Wien: Turia-+ Kant, 2012. S. 79-88. 209 zweifelsohne infolge von Phänomenen wie Migration und elektronischen Medien rasant verstärkt. Diese neue kulturelle Situation hängt aufs Engste mit dem zusammen, was Bhabha als „postkoloniale Perspektive“ bezeichnet hat: Die postkoloniale Perspektive- […] weicht von den Traditionen der Soziologie der Unterentwicklung oder der „Dependenz“-Theorie ab. In analytischer Hinsicht versucht sie, jene nationalistischen oder „nativistischen“ Perspektiven zu revidieren, welche die Beziehungen zwischen Dritter und Erster Welt als binär entgegengesetzte Struktur konstruieren. Die postkoloniale Perspektive widersetzt sich dem Versuch holistischer sozialer Erklärungen. Sie erzwingt eine Anerkennung der komplexen und politischen Grenzen, die am Berührungspunkt jener einander häufig entgegengesetzten politischen Sphären bestehen. 40 Auffällig ist, dass Bhabha die von ihm präferierte Perspektive, die dezidiert den Befreiungsnationalismus ablehnt, nicht sehr positiv bestimmt, sondern in Abgrenzung zu anderen Paradigmen vornimmt. Sie positioniert sich nicht nur kritisch gegenüber den fortbestehenden hegemonialen Ideologien des Westens, sondern auch gegen den ‚Nationalismus‘ in jenen Ländern, die Kolonialismus als Opfer erfahren haben. Insbesondere misstraut der Verfasser aber jener binären Opposition, die von zwei sich polar gegenüberstehenden Welten ausgeht. Was ihn interessiert, das sind indes jene zahlreichen Verbindungen, Verknüpfungen und Vermischungen, die aus der unter dem Zeichen des Kolonialismus stehenden Begegnungen entstanden sind. Die Bedeutung des post in ‚postkolonial‘ lässt sich weithin in Analogie zu postmodern vierfach bestimmen: 1. als ein Danach: Zweifelsohne leben alle Erdenbürger nicht mehr in einer Welt, die von der Logik kolonialistischer Regime bestimmt ist, sondern in einer globalen Situation, in der die ehemaligen Kolonien eigene Formen der Nationalstaatlichkeit hervorgebracht haben und ihre jeweiligen Interessen international, bi- und multilateral aushandeln. 2. im Sinne einer Fortdauer asymmetrischer Strukturen: Die durch den Kolonialismus etablierte politische, militärische und vor allem ökonomische Ungleichheit lebt in den verschiedensten Formen von Benachteiligungen fort. 3. als Bezugnahme auf die unwiederbringlichen Folgen des Kolonialismus: Diese umfassen zum Beispiel die von den ehemaligen Kolonialmächten ge- 40 Bhabha, Homi K.: Die Verortung der Kultur. Aus dem Englischen von Michael Schiffmann und Jürgen Freudl. Tübingen: Stauffenburg, 2000. S. 257. 8.3. Homi K. Bhabha: ‚Hybridität‘ und Dritter Raum 210 8. Imagologie: Aachener Schule, E. Said und H. K. Bhabha schaffenen Grenzen (und den sich daraus ergebenden geopolitischen Problemen etwa in Afrika oder im Nahen Osten) der heutigen außereuropäischen Nationalstaaten, deren sprachliche Situation oder Infrastruktur. Weitere Folgen betreffen das Bildungssystem in vielen ehemaligen Kolonialländern, die Anwesenheit migrantischer Gruppen aus den ehemaligen Kolonien in den reichen, ehemaligen Kolonialländern (Frankreich, England, Portugal und der Niederlande), den Kulturtransfer und Lebensstil. Der Kolonialismus, gewiss eines der nachhaltigsten kollektiven Verbrechen der Menschheitsgeschichte, hat jenen globalen Raum geschaffen, in dem wir alle ‚postkolonial‘ und marktkapitalistisch sind. 4. als Kategorie der Reflexion: Dass das Zeitalter des ‚klassischen‘ Kolonialismus zu Ende gegangen ist, seine Folgen aber nachwirken, nicht beseitigt und zum Teil auch nicht zu beseitigen sind, schafft jene postkoloniale Perspektive, die Bhabha in seiner Aufsatzsammlung entwickelt. Ihr Titel The Location of Culture hat dabei eine programmatische Bedeutung: Der Verfasser geht nämlich davon aus, dass diese „Verortung“- - so lautet die deutsche Übersetzung- - nicht mehr national-territorial vorgenommen werden kann. Die Kultur unserer Tage ist demzufolge sowohl transnational wie translational: Sie ist transnational, weil die zeitgenössischen postkolonialen Diskurse in spezifischen Geschichten der kulturellen De-platzierung wurzeln, egal ob es sich dabei um die ‚mittlere Passage‘ in die Sklaverei und Knechtschaft, um die ‚Reise in die Ferne‘ der zivilisatorischen Mission, die spannungsreiche Anpassung der Migration aus der Dritten Welt in den Westen nach dem 2. Weltkrieg oder die wirtschaftlich und politisch begründeten Flüchtlingsströme innerhalb und außerhalb der Dritten Welt handelt. 41 Zu erwähnen wären mit Blick auf die gegenwärtige Situation die seit 1989 aus Osteuropa, aus Teilen der ehemaligen Sowjetunion, aus Asien und Afrika in die westliche Welt einsetzenden Migrationsbewegungen. Diese betreffen hauptsächlich auch Länder, die zwar eine imperiale, aber nur eine bescheidene koloniale Vergangenheit haben, wie Deutschland bzw. gar keine wie Österreich. Bhabha fasst den ‚dritten Raum‘, anders als etwa Edward Soja, vornehmlich in einem metaphorisch-symbolischen Sinn, wie Anna Babka und Gerald Posselt schreiben: „Der Dritte Raum ist damit auch Erfahrungsbereich im Spannungsfeld zwischen Identität und Differenz; er ist Ort des Aushandelns von Differenzen mit dem Ziel der Überwindung von Hierarchisierungen und damit Ort und Möglich- 41 Bhabha, Die Verortung der Kultur, S. 257. 211 keit der Hybridisierung.“ 42 Die Existenz solcher kultureller Zwischenräume ist ein Indiz für die postkoloniale wie postmoderne Konstellation. Bhabhas Vorstellung des dritten Raumes ist unübersehbar von der poststrukturalistischen Auffassung symbolischer Repräsentation geprägt, etwa wenn er schreibt: „Daß ein Text oder ein kulturelles Bedeutungssystem sich nicht selbst genügen können, liegt daran, daß der Akt des kulturellen Ausdrucks-- der Ort der Äußerung-- von der différance des Schreibens überkreuzt wird.“ 43 Bhabha spricht in diesem Zusammenhang von der „Differenz im Prozess der Sprache“ und davon, dass Bedeutung nie „einfach mimetisch und transparent ist“. Die Möglichkeit kultureller dritter Räume basiert nicht zuletzt auf der in der französischen Nachkriegsphilosophie auf verschiedene Art und Weise ausgearbeiteten und formulierten Subjektspaltung (→-Kapitel 2): Das sujet d’énoncé und das sujet d’enunciation, Ausgesagtes und Aussage, die Geschichte und ihre Erzählung, kommen niemals zur Deckung. Aber das ermöglicht es dem Menschen, der tendenziell in zwei kulturellen Welten lebt, seine interne Differenz sprachlich als ein unaufhebbares Phänomen zu gestalten und zu thematisieren. Denn in dieser Repräsentation befindet sich das Subjekt des Aussagens, etwa die erzählende Person, im neuen kulturellen Kontext, während sich das Subjekt, über das erzählt wird, sich noch in der Herkunftskultur befindet. Die Melange, die mêlée, entsteht also in der narrativen Komposition und durch sie hindurch. Das Phänomen einer prinzipiellen Alterität des Menschen wird hier also mit der Erfahrung kultureller Fragmentierung verbunden, obschon es kritisch gesprochen nicht deckungsgleich ist. Denn aus jener ‚abstrakten Alterität‘, die besagt, dass ich nie bei mir anzukommen vermag, und jener doppelten Fremdheitserfahrung- - Erfahrung einer neuen Kultur, Fremd-Werden meiner Herkunftskultur- - besteht ein signifikanter Unterschied. Im Gegensatz zu der ganz allgemeinen Alterität sind Hybridität und damit verbunden der dritte Raum fragil und flüssig. Oder pointiert gesprochen: Der dritte Raum ist nicht wirklich ein stabiles räumliches Phänomen. Er ist immer auch im Sinne der Translation codiert: als ein Zwischenraum ( → - Kapitel 13), in dem sich Menschen, z. B. MigrantInnen treffen (Schwelle, Stiege, Vorraum) oder als ein Ort der Begegnung und des Aushandelns. Raum ist dabei nicht bloß ein physischer, sondern auch ein symbolischer und sozialer Raum mit einer spezifischen Zeit-Dimension. 42 Babka, Anna / Posselt, Gerald: „Vorwort“. In: Bhabha, Homi: Über kulturelle Hybridität. Tradition und Übersetzung. Aus dem Englischen von Kathrina Menke. Wien: Turia-+ Kant, 2012. S. 7-16, hier S. 12. 43 Bhabha, Die Verortung der Kultur, S. 54. 8.3. Homi K. Bhabha: ‚Hybridität‘ und Dritter Raum 212 8. Imagologie: Aachener Schule, E. Said und H. K. Bhabha Bhabhas Begriff des ‚Dritten Raumes‘ bleibt einigermaßen vage, so dass es am Ende praktisch nur noch dritte Räume gibt und man sich fragen mag, wie es denn mit dem ersten und zweiten Raum bestellt ist. Zur Eigenart von Bhabhas Theorie gehört, dass sie selbst ‚hybrid‘ ist. Sie begreift sich als eine Philosophie im ‚Dritten Raum‘ und fügt, beinahe wie im Montageprinzip, Elemente aus verschiedensten Theorien und Traditionen zusammen und dekontextualisiert sie. Zum Teil folgt Bhabha auch der Logik der Dekonstruktion, die einen Text auseinanderlegt und wieder zusammenfügt, z. B. Derridas Theorie der différance und der Alterität ( → -Kapitel 9), Bachtins Romantheorie, die Stereotypentheorie von Edward Said (Orientalism), Benjamins Konzept des Übersetzens ( → -Kapitel 13), Foucaults Diskursanalyse, die Psychoanalyse von Freud und Lacan ( → - Kapitel 3, 7) oder Hegels Analyse von Herr und Knecht ( → - Kapitel 2). Die Kenntnis dieser Theorien wird in The Location of Culture vorausgesetzt. Was das Verständnis dieser schwierigen, überaus dichten Aufsatzsammlung zudem erschwert, ist die eigenwillige Art und Weise, wie Bhabha diese Diskurse zuweilen zusammenfügt. 8.4. Die Frage des Anderen. Homi Bhabhas Konzept von Fetisch und Mimikry Höchst voraussetzungsvoll ist auch Bhabhas Aufsatz Die Frage des Anderen, der sich im Anschluss an Fanon und Said mit den Konstruktionen des Anderen im kolonialen und postkolonialen Kontext beschäftigt. Wie schon Said begreift Bhabha das Stereotyp „als eine ambivalente Form von Erkenntnis und Macht“, das sich „von deterministischen und funktionalistischen Formen des Begreifens der Beziehung zwischen Diskurs und Macht frei macht“. 44 Mit diesem Programm korrigiert Bhabha zwei geläufige Vorstellungen von ‚Stereotyp‘ und ‚Bild‘: Es geht ihm nicht um die funktionale Bestimmung der Begriffe als unvermeidliche Wahrnehmungsverkürzung bzw. Apperzeptionsreduktion oder als ethnozentrische und damit ideologische Verstellung der kulturellen Beschaffenheit des / der Anderen und seiner / ihrer Kultur. Vielmehr geht Bhabha davon aus, dass die Frage des Anderen sich nicht in separierten symbolischen Feldern, sondern in einem gemeinsamen Bezugsrahmen ereignet. 44 Bhabha, Die Verortung der Kultur, S. 98. 213 Gleich zu Anfang des 1982 erstmals publizierten Aufsatzes konstatiert der Autor einen seltsamen Kontrast, der dem Stereotyp innewohnt: Dieses ist, so lautet die These, eine (womöglich retrospektive) Fixierung des Anderen. Im Kontext kolonialistischer Konstruktion und asymmetrischer Machtkonstellationen wird damit die Ungleichheit der Machtposition fixiert. Bei der Repräsentation stellt Bhabha einen merkwürdigen Widerspruch fest. Die koloniale Form der Stereotypisierung „bezeichnet Starre und eine unwandelbare Ordnung“. 45 Was der Mensch der jeweiligen außereuropäischen Kultur ‚ist‘, wird durch das Stereotyp einmalig und unmissverständlich festgelegt. Umgekehrt muss diese Zuschreibung des Anderen als eines Minderwertigen und Degenerierten unendlich oft wiederholt werden, so etwa die suggerierte Doppelzüngigkeit des Asiaten oder die sexuelle Freizügigkeit des Afrikaners. 46 Die zweite These Bhabhas bezieht sich auf die Ambivalenz der Konstruktion von Fremd- und Selbstbildern. Ambivalenz bedeutet nach Freud eine untrennbare Verquickung von Anziehung und Abwehr, von Identifizierung und Distanzierung. Das Cliché ist demzufolge Teil einer nicht eindeutigen Beziehung, die von vermeintlicher, fixierter Selbstsicherheit und Unsicherheit, von Begehren und Belustigung, von Sehnsucht und Angst getragen ist. Klassische Konzepte der Stereotypisierung lassen dieses ambivalente Moment ebenso außer Acht wie die Reziprozität. Diese meint, dass beide Seiten im Sinne psychoanalytischer Übertragung in einem vom Stereotyp geprägten Verhältnis befangen sind. Standardtheorien von Fremd- (und Selbst-)bildern […] bedienen sich eines passiven und einheitlichen Begriffs der Zuschauereinbindung, der die Politik und die „Ästhetik“ der Position des Zuschauers simplifiziert, indem sie den-- für die gesamte Argumentation entscheidenden-- ambivalenten Prozeß der Identifikation außer Acht lassen. Im Gegensatz dazu würde ich die sehr vorläufige These vorschlagen, daß es sich beim Stereotyp um eine komplexe, ambivalente, widersprüchliche Form von Repräsentation handelt, die ängstlich und assertorisch zugleich ist und von uns nicht nur verlangt, daß wir unsere kritischen und politischen Zielsetzungen erweitern, sondern auch, daß wir das Objekt der Analyse wechseln. 47 Ausgangspunkt von Bhabhas Überlegungen ist ein einschlägiger Aufsatz von Robert Stam und Louise Spence (Colonialsm, Racism and Representation) aus dem Jahr 1975. Was Bhabha-- und das war zu diesem Zeitpunkt mutig-- einfordert, ist 45 Bhabha, Die Verortung der Kultur, S. 97. 46 Bhabha, Die Verortung der Kultur, S. 97. 47 Bhabha, Die Verortung der Kultur, S. 103. 8.4. Homi K. Bhabhas Konzept von Fetisch und Mimikry 214 8. Imagologie: Aachener Schule, E. Said und H. K. Bhabha eine Differenzierung des antikolonialen Diskurses, ohne dass er dessen Berechtigung in Frage stellen möchte. Der entscheidende Punkt findet sich am Ende des Zitats. Die Forderung, das „Objekt der Analyse“ zu wechseln, spielt womöglich auf die Psychoanalyse an, meint aber auch, dass alle Beteiligten in diesen Prozess verstrickt sind, die ‚Produzenten‘ wie die Rezipienten (das Publikum). Kritisch sieht Bhabha dabei „das traditionelle Vertrauen auf das Stereotyp, als böte dieses zu jeder beliebigen Zeit einen sicheren Identitätspunkt“. 48 Nicht das Stereotyp in seiner illusorischen Fixierung, sondern die komplexen Prozesse, die mit ihm einhergehen, rücken also in den Mittelpunkt der Untersuchung. Die Kette der stereotypischen Zuschreibung erweist sich dabei als „seltsam gemischt und gespalten, polymorph und pervers“, eine „Artikulation multipler Überzeugung“. 49 Der Text illustriert das an einem anschaulichen Beispiel: Der Schwarze ist Wilder (Kannibale) und doch zugleich der gehorsamste und ausgezeichnetste aller Diener (der Verwalter der Nahrung); er ist die Verkörperung zügelloser Sexualität und doch unschuldig wie ein Kind; er ist mystisch, primitiv und einfältig und doch der gewandteste und meisterhafteste Lügner und Manipulator sozialer Kräfte. 50 Auf der Ebene der Narration bedeutet das: „Was in jedem Fall dramatisch in Szene gesetzt wird, ist eine Trennung-- zwischen Ethnien, Kulturen, Geschichten innerhalb von Geschichten-- eine Trennung zwischen davor und danach, die obsessiv den mythischen Moment der Disjunktion wiederholt. 51 Das Stereotyp ist, wie gesagt, eine ambivalente Form von Erkenntnis und Macht, die die Subjektifizierung des kolonialen wie des kolonialisierten Menschen bestimmt. Was Bhabha ablehnt, ist eine normative, ideologiekritische Kritik an diesen Stereotypen. Vielmehr interessiert ihn deren Wirksamkeit und vor allem wie Macht in diese symbolischen kolonialistischen und postkolonialistischen Repräsentationsformen eingeschrieben wird. Insofern knüpft Bhabha an Foucault und Said an. Bhabha spricht von „Strategien diskriminatorischer Macht“, die nicht auf den rassistischen Diskurs beschränkt sind, sondern sich auch in Diskursen „sexistischer, peripherer und metropolitaner Natur“ wiederfinden. 52 Im kolonialen Diskurs sind zumeist immer mehrere Dimensionen der Alterität im Spiel, so dass die Attribute „ethnisch“ oder „sexuell“ nunmehr als Formen 48 Bhabha, Die Verortung der Kultur, S. 102. 49 Bhabha, Die Verortung der Kultur, S. 122. 50 Bhabha, Die Verortung der Kultur, S. 122. 51 Bhabha, Die Verortung der Kultur, S. 122. 52 Bhabha, Die Verortung der Kultur, S. 98. 215 der Differenzierung gesehen werden, „die als multiple, sich überschneidende Bestimmungen polymorph-perverser Art realisiert sind und immer eine spezifische und strategische Kalkulation ihrer Wirkungen erfordern“. 53 Die Spuren der Psychoanalyse sind an dieser Passage unübersehbar. Das Stereotyp entspringt einer reziproken Subjekt-Konstruktion, an der, wie ungleich auch immer, beide Seiten beteiligt sind. Die Konstruktion des kolonialen Subjektes ist immer eine doppelte, in der der Körper sowohl in die Ökonomie von Lust und Begehren als auch in die Ökonomie von Diskurs, Herrschaft und Macht eingeschrieben ist. Durch den psychoanalytischen Blick wird der Körper theoretisch eingeblendet. Die Differenz anderer Kulturen lässt sich nicht mit einem einfachen Schema der Übermittlung des Begehrens oder als ein Überschuss an Bedeutungserzeugung (Signifikation) begreifen. Es kann Bhabha folgend keine unproblematische Lektüre anderer kultureller und diskursiver Systeme geben. Der koloniale Diskurs erweist sich dabei als ein Machtapparat im Sinne Foucaults: „Es handelt sich um einen Apparat, der sowohl auf der Anerkennung als auch der Ableugnung ethnischer/ kultureller / historischer Differenz beruht. Seine vorherrschende Funktion besteht in der Schaffung eines Raumes für ein ‚Untertanenvolk‘. Koloniale Diskurse haben mit der Autorisierung von Strategien zu tun, die mit den Wissensbeständen über den Kolonialherrn und die Kolonisierten verbunden sind und die koloniale Herrschaft als plausibel und vernünftig erscheinen lassen: „Die Zielsetzung des kolonialen Diskurses besteht darin, die Kolonisierten auf der Basis ihrer ethnischen Herkunft als aus lauter Degenerierten bestehende Bevölkerung darzustellen, um die Eroberung zu rechtfertigen und Systeme der Administration und Belehrung zu etablieren“. 54 Das Moment der Überwachung, das einen unverkennbaren Bezug zu Foucault enthält, wird hier psychoanalytisch gewendet mit dem Schautrieb verbunden. Dieser Trieb ist wiederum in zwei Momente aufgespalten-- in die Lust am Sehen und die Lust, gesehen zu werden: „Wie der Voyeurismus ist die Überwachung für ihre Wirksamkeit auf die ‚aktive Zustimmung, die ihr reales oder mythisches Korrelat-[…] ist‘, angewiesen und ‚etabliert im geschauten Raum die Illusion der Objektbeziehung‘.“ 55 53 Bhabha, Die Verortung der Kultur, S. 99. 54 Bhabha, Die Verortung der Kultur, S. 99. 55 Bhabha, Die Verortung der Kultur, S. 113. 8.4. Homi K. Bhabhas Konzept von Fetisch und Mimikry 216 8. Imagologie: Aachener Schule, E. Said und H. K. Bhabha Das sich aus dieser Szene ergebende narrative Dispositiv ist wiederum doppeldeutig und produziert zwei Varianten: 1. Es gibt eine teleologische Version: Der ‚Eingeborene‘ ist Schritt für Schritt reformierbar (humanistischer Kolonialismus). Die koloniale Kontrolle, das Protektorat des Kolonisierten besteht auf Zeit: Das Kind wird erwachsen, der Wilde zivilisiert. 2. Es gibt eine separatistische Version: Diese verewigt die Trennung und macht diese unerlässlich sichtbar. Dabei wird dem Kolonisierten die Fähigkeit zur Selbstregierung, zur Unabhängigkeit und zu den westlichen Formen der Zivilität abgesprochen. Hier ist die Kontrolle auf unabsehbare Zeit als Notwendigkeit festgeschrieben: Der kolonisierte Andere wird immer ein Kind und ein Wilder bleiben. Im kolonialen Diskurs, dessen plastische Ausprägung das Stereotyp darstellt, sind Macht und Lust, strategische und unbewusste Momente auf eigentümliche Weise ineinander verstrickt. Bhabhas Dissens mit Said hat darin seine tiefere Ursache. Saids Kritik unterschlägt die unbewusste Seite und setzt sie tendenziell mit der rationalistischen (Orientalismus) gleich. Sie blendet auch den Tatbestand der Verstrickung beider Seiten in diesen Prozess aus und beleuchtet eben nur die eine Seite, die Ökonomie der Diskurse, der Politik und der Ökonomie, nicht aber jene des Begehrens. Das führt Bhabha zu einer weiteren These, die in der Behauptung gipfelt, dass das Stereotyp ähnlich wie ein Fetisch funktioniert, ja vielleicht selbst als ein Fetisch verstanden werden kann: Der Mythos des historischen Ursprungs- - ethnische Reinheit, kultureller Erstanspruch--, der in Verbindung mit dem kolonialen Stereotyp produziert wird, resultiert in der „Normalisierung“ der multiplen Überzeugungen und gespaltenen Subjekte, die als Folge des Verleugnungsprozesses den kolonialen Diskurs konstituieren. Ähnlich funktioniert das Szenario des Fetischismus gleichzeitig als Reaktivierung des Materials der ursprünglichen Phantasie-- der Kastrationsangst und der Angst vor der sexuellen Differenz-- und als Normalisierung jener Differenz und Unruhe mit Hilfe des Fetischsubjekts, das Substitut für den Penis der Mutter. Innerhalb des Apparats der kolonialen Macht stehen die Diskurse von Sexualität und Rasse in einem Prozess der funktionellen Überdeterminierung zueinander-[…]. 56 56 Bhabha, Die Verortung der Kultur, S. 109. 217 Der Fetisch entspringt dem ethnographischen Diskurs und ist ein Gegenstand, dem die Menschen einer kulturellen Gemeinschaft bestimmte magische Eigenschaften zuschreiben, die sich aber nicht ihm selbst verdanken, sondern Beziehungen und Gegebenheiten, auf die er verweist und die er zugleich verdeckt. Semiotisch betrachtet ist der Fetisch, den Freud bekanntlich auch im Seelenleben des modernen Menschen geortet hat, ein ganz spezieller Signifikant, der auf etwas verweist, wie zum Beispiel auf sexuelles Begehren. Taschentüchern, Schuhen oder Unterwäsche kommt nicht auf Grund ihrer Materialität eine magisch-erotische Bedeutung zu, sondern ausschließlich wegen ihres Verweischarakters, den der Fetisch enthält und den er zugleich verdeckt. Die Verdeckung ist es, die zu einer symbolischen und affektiven Aufladung verführt. Marx hat bekanntlich vom Fetischcharakter der Ware gesprochen 57 und von der magischen Bedeutung des Geldes, die sich freilich nicht dem Metall verdankt, sondern jener Funktion, die hinter dem ‚Geld‘ steht und die letztendlich ebenso menschengemacht ist wie jedweder Art von Fetisch. So erscheint der Fetisch als etwas Anderes, als er ist: nicht als ein menschliches Konstrukt, sondern als eine äußere Macht, die den Menschen beherrscht. Der Fetisch hat demnach eine metaphorische und-- damit verbunden-- eine maskierende wie eine metonymische Funktion, die wiederum auf ein Fehlen verweist. Das Stereotyp als der Ausgangspunkt der Subjektifizierung [Subjekt-Konstruktion A. d. V.] sowohl für den Kolonialherrn als auch den Kolonisierten im kolonialen Diskurs ist dann die Szene einer-[…] ähnlichen Phantasie und Abwehr-- das Verlangen nach einer Ursprünglichkeit, die hier wiederum durch die Unterschiede von Rasse, Hautfarbe und Kultur bedroht ist. 58 In der klassischen Theorie von Stereotypen wird davon ausgegangen, dass das Stereotyp eine „falsche Repräsentation einer gegebenen Realität“ 59 ist. Eine solche Ansicht wird von Bhabha zurückgewiesen, zum einen, weil es diese „Realität“ ohne diese Form der Repräsentation nicht gäbe, zum andern aber- - und das folgt daraus-- weil es hinter der „falschen Repräsentation“ keine „wahre Realität“ gibt. Das Falsche an ihr liegt in der Fixierung und Arretierung in dieser Repräsentation, die das Spiel der Differenz verhindert und verbietet. Damit wird sie 57 Vgl. dazu die auf Marx und Freud eingehende Studie von Böhme, Hartmut: Fetischismus und Kultur: Eine andere Theorie der Moderne. Reinbek: Rowohlt, 2006. 58 Bhabha, Die Verortung der Kultur, S. 110. 59 Bhabha, Die Verortung der Kultur, S. 111. 8.4. Homi K. Bhabhas Konzept von Fetisch und Mimikry 218 8. Imagologie: Aachener Schule, E. Said und H. K. Bhabha ein Problem für die Repräsentation des Subjekts in seinen sozialen, psychischen und symbolischen Beziehungen: Was dem kolonialen Subjekt, und zwar sowohl dem Kolonialherrn als auch dem Kolonisierten nicht offen steht, ist jene Form der Negation, die den Zugang zur Anerkennung der Differenz gewährt. Es ist diese Möglichkeit von Differenz und Zirkulation, die die Signifikanten Hautfarbe / Kultur von den Fixierungen der ethischen Typologie, den Erkenntnisschemata des Blutes und von den Ideologien der ethischen und kulturellen Vorherrschaft oder Degeneriertheit befreien würde. 60 Aber auch die Fetischisierung führt nicht zu einer Stabilisierung der Beziehungen, diese verbleiben im Zustand einer beständigen Konfliktanfälligkeit: Das Subjekt wird im kolonialen Diskurs durch ein ganzes Repertoire konfligierender [konkurrierender bzw. kontrastiver, A. v. m.] Positionen konstituiert. Ganz gleich, welche dieser Positionen man innerhalb einer spezifischen diskursiven Form und innerhalb einer besonderen historischen Konstellation einnimmt, sie ist immer problematisch- - Ort sowohl der Festgestelltheit als auch der Phantasie. Sie liefert eine koloniale „Identität“, die-- wie alle Phantasien über Ursprünglichkeit und Ursprung-- im Bannkreis der Erschütterung und Bedrohung durch die Heterogenität anderer Personen ausgelebt wird. 61 Die Unterschiede zwischen dem sexuellen Fetisch oder dem Fetischcharakter des Geldes und dem Fetisch im kolonialen Diskurs liegen auf der Hand, ist doch die Hautfarbe sichtbar kein Geheimnis wie die Sexualität oder die Funktionsweise des Tauschmediums Geld. Der sexuelle Fetisch ist mit dem „guten Objekt“ verbunden: Er macht es begehrenswert und der Liebe würdig und erleichtert die sexuelle Beziehung. Es ließe sich sagen, dass all die Phänomene von sexualisierter Körperlichkeit und nackter Haut von der Fetischisierung erfasst werden so wie die Objekte im vormodernen primären Fetisch. Sie offenbaren und verbergen zugleich die Andersheit des kulturellen Gegenübers aber auch das Fremde der Sexualität. Die dunkle Haut und die damit assoziierte sexuelle Potenz verweisen so auf die Beschaffenheit einer höchst affektiven kulturellen Fremdheit, die gleichsam in dieser körperlichen Beschaffenheit als Fetisch markiert ist- - so wie in der indischen Kultur den skulpturalen Genitalien, Lingam und Yoni, eine Wirkmächtigkeit zugesprochen wird. 60 Bhabha, Die Verortung der Kultur, S. 111. 61 Bhabha, Die Verortung der Kultur, S. 114. 219 Das Stereotyp als eine fixierte Form des kolonialen Subjekts erleichtert die kolonialen Beziehungen und etabliert fixe Gegensätze. Dadurch, dass es damit auch Ambivalenz möglich macht, stellt es wiederum einen Sonderfall des Fetischs dar. Im Unterschied zum ‚klassischen‘ Fetisch löst es zugleich Hass und Begehren aus. Im Hinblick auf den kolonialen Diskurs gibt es eine „große Bandbreite“ von Fremdbildern und Clichés, die vom loyalen Diener bis zum Teufel, vom Geliebten bis zum Gehassten reicht. Bhabha betont die Möglichkeiten des Wandels durch die Beweglichkeit des metaphorisch / narzisstischen und metonymisch / aggressiven Systems des kolonialen Diskurses. 62 Entgegen seiner arretierenden Rhetorik unterliegt das Stereotyp dem Wandel, womit noch ein Widerspruch benannt ist, nämlich jener zwischen seiner Hartnäckigkeit und seiner Flüchtigkeit. In dem durch Fremdbildkonstruktionen manifesten kolonialen Diskurs sind so widersprüchliche und gegenläufige Aspekte wie Narzissmus und Aggression im Spiel. Aus einer Perspektive, die die Psychoanalyse in Betracht zieht, nimmt sich die symbolische Konstruktion des und der Anderen sehr kompliziert aus. Es ist nicht etwa ein simples falsches Bild des Anderen, vielmehr ist in dieses ein höchst ambivalentes Gemisch von Projektionen und Phantasien eingeschrieben, die der kolonial Andere scheinbar wie von selbst aufzurufen scheint: Die Produktion des Stereotyps besteht nicht in der Schaffung eines falschen Bildes, welches dann zum Sündenbock diskriminierender Praktiken wird. Es handelt sich hier um einen viel ambivalenteren Text von Projektion und Introjektion, metaphorischen und metonymischen Strategien, De-platzierung, Überdeterminierung, Schuld, Aggressivität; um die Kaschierung und Auspaltung’ offizieller’ und phantasmagorischer Erkenntnisse, die der Konstruktionen der Positionierungen und Gegensätzlichkeiten des rassistischen Diskurses dienen-[…]. 63 Mit seinem Hinweis auf die Fragilität, die Ambivalenz und den Fetischismus von Stereotypen hat Bhabha der Imagologie wichtige Impulse gegeben. Nicht ganz überzeugen vermag vielleicht die Art und Weise, mit der die Überkreuzung von Macht und Begehren beschrieben und analysiert wird. An dieser Stelle ist Saids Bezugnahme auf Gramscis Konzept der Hegemonie im Bereich der Kultur womöglich plausibler, beschreibt diese doch die scheinbare Überlegenheit als eine, die sich zwar agonal, nicht aber rein polizistisch und repressiv durchsetzt, wie das bei Foucault angelegt ist. Bhabha legt nicht überzeugend dar, wie er Foucaults Analyse der Macht mit jener psychoanalytischen Perspektive verbinden kann, in 62 Bhabha, Die Verortung der Kultur, S. 115 ff. 63 Bhabha, Die Verortung der Kultur, S. 121. 8.4. Homi K. Bhabhas Konzept von Fetisch und Mimikry 220 8. Imagologie: Aachener Schule, E. Said und H. K. Bhabha der Phänomene wie Ambivalenz, Fetischismus und das Widerspiel von Narzissmus und Aggressivität zum Thema werden. Bedauern mag man auch, dass im Kapitel kein konkretes, historisches Beispiel eines Stereotyps im kolonialen Diskurs exemplarisch analysiert wird. Zusammenfassend lässt sich das Heterostereotyp, also die Bildkonstruktion des Fremden, wissenschaftlich-theoretisch auf dreifache Weise lesen, 1. als ein verzerrtes Bild der anderen Kultur, das aus mangelnder Kenntnis, aus Angst oder aus strategischer Feindschaft erwächst (das Stereotyp als verzerrte Aussage über eine andere Kultur); 2. als ein eingestandenes und uneingestandenes Negativ oder evtl. auch Positiv eines kollektiven Selbstbildes, wobei das Negativ bzw. das Positiv mehr über die eigene als über die fremde Kultur aussagt (das Stereotyp als Spiegel und Projektionsfläche); 3. als ein Verweis auf die oftmals asymmetrischen und reziproken Beziehungen zwischen zwei und auch mehreren Kulturen (das Stereotyp als Relation). 64 Die Analysen von Fremd- und Selbstbildern müssen heute alle drei Ebenen umfassen. Insbesondere die dritte und auch die zweite Ebene gewinnen insofern an Bedeutung, als sie zu einfache Konzepte von der Funktionsweise von Stereotypen zu korrigieren vermögen. Gerade darin ist das Produktive an Bhabhas Vorstoß zu sehen. Bereits Said hat mit jenem Philologismus gebrochen, der sich weigert, die gemeinsame Matrix von Fremd- und Selbstbildern im Hinblick auf die darin enthaltenen Einschreibungen von Macht und Hegemonie zu lesen. 64 Müller-Funk, Wolfgang: „Amerikabilder, made in Austria: Franz Kafka“, in: Dukić, Imagology today, S. 161-174, hier S. 161 ff. 221 9.1. Jacques Derrida: Das fremde Tier, der Mensch 9. Dekonstruktion: Derrida und Nancy 9.1. Jacques Derrida: Das fremde Tier, der Mensch Die Dekonstruktion ist heute wie andere theoretische Zugänge, etwa die Diskursanalyse oder bestimmte Konzepte des Narrativen, eine Denkform, die fächerübergreifend Anwendung findet. Wie das Wort selbst besteht sie aus drei Momenten, dem de, dem kon und der struktion. Sie ist im Sinne der Heideggerschen Formel „Destruktion“ der abendländischen Denktradition und damit Teil dessen, was man als klassischen Modernismus begreift. Gleichzeitig ist sie aber auch Konstruktion, indem sie die in der Destruktion zerlegten Teile neu zusammensetzt. So wenig sie einen ‚Ursprung‘ kennt, so wenig hat sie ein festgelegtes Ziel. Was neu an ihr ist, ist das post-strukturalistische, an der Sprache orientierte Denken. Dekonstruktion bedeutet, anders als der künstlerische oder philosophische Avantgardismus, keinen Kampf mit der Tradition, sondern vielmehr eine Spurensuche, eine Korrektur, eine Revision. Dies macht ihren Unterschied zu Nietzsche oder Heidegger aus und kennzeichnet ihre Postmodernität. Was sie de-kon-struiert, das ist vor allem die Binarität des Denkens, das auf dessen sprachlicher Verfasstheit ruht. Es handelt sich um binäre Kategorisierungen, die auf fixen Grenzen beruhen: hier der Mann, dort die Frau, hier der Mensch, dort das Tier, hier die eine Gattung, dort die andere Gattung. Hier das Eigene, dort das Fremde. Was die Dekonstruktion hinterfragt, ist also jene Ordnung, die uns auf Grund ihrer scheinbar feststehenden Limitierungen Orientierung und Sicherheit beschert, und zwar dadurch, dass wir Grenzen und Differenzen setzen. Jacques Derrida (1930-2004) in einem Buch, das sich mit Fremdheit befasst, nicht zu Wort kommen zu lassen und zu kommentieren, ist, selbst wenn man dem dekonstruktiven oder dekonstruktivistischen Verfahren kritisch gegenübersteht, unmöglich. Der französische Denker hat die klassische Figur der Differenz (différence) in die im Französischen gleich klingende zeitliche différance verwandelt, um den Unterschied zu ersterer hervorzuheben. Die Bedeutung dieser différance ist nicht einfach zu bestimmen: negativ zielt sie auf eine Differenz, die im Unterschied zur klassischen Denkfigur immer schon ‚da‘ und auch nicht ‚aufhebbar‘ ist. Etymologisch bezieht sich Derridas Neologismus auf das Verb différer, das sowohl ‚unterscheiden‘ wie ‚aufschieben‘ bedeutet. Damit ist eben jenes Moment einer prinzipiellen und unaufhebbaren Fremd- und Andersheit strukturell in Derridas Theorie eingeschrieben. Derridas Philosophie beschäftigt sich nicht so sehr mit 222 9. Dekonstruktion: Derrida und Nancy dem Thema der Alterität, sie ist eine Philosophie des Alteritären, die keinen Anfang und kein Ende, sondern nur Aufschub und Gleiten kennt. 1 Im Anschluss an Publikationen Kathrin Buschs und Thomas Khuranas lässt sich zeigen, dass Derridas gesamtes Werk von der Idee einer Alterität durchdrungen ist, die sich nicht in ein Selbst auflösen lässt. Zu erwähnen sind hier Derridas Überlegungen zur „Ent-Aneignung“ (exappropriation). Diese zeigen, wie der Versuch der Aneignung des Fremden und Anderen letztlich sein Ziel verfehlt, und das Subjekt sowohl durch diesen Versuch als auch durch dessen Scheitern bestimmt ist. Das gilt, wie Busch überzeugend darlegt, für den Fall der Trauer, in dem zwar alles „in mir“ verbleibt, in dem aber der tote fremde Mensch sich einer vollständigen Integration widersetzt. 2 Khurana zeigt, dass die Derridaschen Reflexionen zum Gedächtnis auf die Widerlegung der Idee der „Wiedererweckung der Präsens“, das heißt der Wiederherstellung und Vergegenwärtigung des Vergangenen in der Gegenwart, hinauslaufen. Stattdessen bleibt das Erinnern ein unabschließbarer Prozess, der selektiv funktioniert und nie zur erinnerten Vergangenheit zurückführt. Die Wiederholung, etwa die Wieder- Holung des Vergangenen in der Gegenwart, generiert nicht etwas Gleiches. 3 Zu erwähnen sind im Hinblick auf das Thema dieses Buches zudem Derridas Untersuchungen zum Thema der Gastfreundschaft und damit verbunden die Figur des ‚parasitären‘ Fremden. 4 Einem der bedeutendsten Philosophen des Alteritären, Emmanuel Lévinas, hat Derrida zudem einen ausführlichen Aufsatz gewidmet. In diesem bekräftigt er den maßgeblichen Einfluss des Älteren auf seine eigene Philosophie ausdrücklich, ebenso wie später in seiner Abschiedsrede ( → - Kapitel 4). Dass man einem Vorgänger sehr viel verdankt, bedeutet auch, dass man ihm, wie die folgende Intensivlektüre von Derridas Das Tier, das ich also bin (L’animal que donc je suis) nicht in allen Punkten folgt. 1 Derrida, Jacques: Randgänge der Philosophie. Deutsch von Gerhard Ahrens. Wien: Passagen, 1999. S. 29-52. 2 Busch, Kathrin: „Die Figur der Ent-Aneignung bei Derrida“. In: Flatscher, Matthias / Loidolt, Sophie (Hg.): Das Fremde im Selbst-- Das Andere im Selben. Würzburg: Königshausen & Neumann, 2010. S. 176-187. 3 Khurana, Thomas: „Das Gedächtnis des Anderen. Zum Ethos des Gedächtnisses bei Derrida“. In: Flatscher / Loidolt, Das Fremde im Selbst, S. 160-175, hier S. 161. 4 Busch, „Die Figur der Ent-Aneignung“, S. 185; Delhom, Pascal: „Gastlichkeit und Verletzlichkeit“. In: Flatscher / Loidolt, Das Fremde im Selbst, S. 209-224. Derrida, Jacques: Von der Gastfreundschaft. Wien: Passagen, 2001. 223 9.1. Jacques Derrida: Das fremde Tier, der Mensch Zu einem der Grundverfahren der Dekonstruktion von Derrida wie übrigens auch von Paul de Man gehört es, gängige Unterscheidungsschemata wie zum Beispiel das der literarischen Gattungen kritisch zu hinterfragen 5 und so aufzulösen, dass die Arbeit der Konstruktion sichtbar bleibt. Die Unterscheidung der literarischen Formen und deren prononcierte Infragestellung bzw. Relativierung sind Teil ein und desselben Verfahrens. Dieses wendet Derrida auch auf eine Unterscheidung und damit auf eine Alterität an, die in der westlichen Episteme von zentraler Bedeutung ist. Die Rede ist von der Differenzsetzung zwischen Mensch und Tier, die in der rationalistischen Philosophie eines Descartes, in der das Tier als eine seelenlose Maschine erscheint, ihren programmatisch-historischen Höhepunkt erreicht hat. Diese Unterscheidung steht aber insofern in der abendländisch-christlichen Tradition, als nämlich das Tier dort als bloße Sache, als Objekt und Gegenstand, oder um einen Begriff von Descartes zu verwenden, als eine res extensa (im Gegensatz zur res cogitans) definiert wird. Max Horkheimer und Theodor W. Adorno haben diesen Sachverhalt in der Dialektik der Aufklärung höchst lapidar beschrieben: Die Idee des Menschen in der europäischen Geschichte drückt sich in der Unterscheidung vom Tier aus. Mit seiner Unvernunft beweisen sie die Menschenwürde. Mit solcher Beharrlichkeit und Einstimmigkeit ist der Gegensatz von allen Vorvorderen des bürgerlichen Denkens, den alten Juden, Stoikern und Kirchenvätern, dann durchs Mittelalter und die Neuzeit begleitet worden, daß er wie wenige Ideen zum Grundbestand der westlichen Anthropologie gehört. 6 Denn nicht zuletzt bestimmt sich der Mensch im traditionellen humanistischen Diskurs dadurch, was er nicht ist: ein Tier. Wenn der Mensch- - das ist der erwachsene Mann- - also bei Aristoteles als intelligentes Lebewesen, als ein zoon logikon bestimmt ist, dann ist damit impliziert, dass das Tier, eine wahrhaft problematische Abstraktion ein zoon alogikon, ein Lebewesen ohne Vernunft und Rationalität ist, das nicht zwischen Gutem und Bösem, Nützlichem und Schädlichem unterscheiden kann und ausdrücklich als vom Menschen unterworfen betrachtet wird, dies übrigens ähnlich wie der Sklave und die Frau. 7 Der Binarismus, der in 5 Derrida, Jacques: „Das Gesetz der Gattung“. In: Ders.: Gestade. Deutsch von Monika Buchgeister und Hans-Walter Schmidt. Wien: Passagen, 1994. S. 245-284. 6 Vgl. Horkheimer, Max / Adorno, Theodor W.: Die Dialektik der Aufklärung. Frankfurt / Main: Fischer, 1971. S. 219 7 Aristoteles: Politik. Schriften zur Staatstheorie. Deutsch von Franz F. Schwarz. Stuttgart: Reclam, 1989. S. 78 (§ 1253a). 224 9. Dekonstruktion: Derrida und Nancy der Kontrastierung von Tier und Mensch zum Ausdruck kommt, folgt übrigens der von Foucault entworfenen Diskurslogik. Was der Mensch als vernünftiges Lebewesen ist, ergibt sich ex negativo aus der Exklusion des Tieres als eines unvernünftigen Wesens. Es liegt auf der Hand, dass eine Philosophie, die sich kritisch mit dem okzidentalen Rationalismus (Logozentrismus) beschäftigt, den Konstruktionen von Tier und Mensch in diesem gebührende Aufmerksamkeit schenken muss. Von einem „Wandlungsprozess“, ja von einer „beispiellosen Umwälzung“ seit ungefähr zwei Jahrhunderten spricht Derrida in diesem Zusammenhang. 8 Gemeint ist die maßlose, monströse und schamlose Ausbeutung alles Tierisch-Organischen. Die mit der ökologischen Wende entstandene Aufmerksamkeit für die non-humane ‚Natur‘ hat dieser Unruhe, die eine theoretische wie eine ethische ist, neuen Auftrieb gegeben. Der Vegetarismus unserer Tage ist als ein lebenspraktischer kultureller Ausdruck und als ein Symptom dieser Irritation des traditionellen Tier-Mensch-Verhältnis zu begreifen. Dessen Infragestellung hat indes einen geschichtlichen Vorlauf. Dies zeigt die Derrida-Schülerin Sarah Kofman in ihrem Buch (das Derrida auch zu Anfang überschwänglich als Vermächtnis der toten Freundin, Schülerin und Kollegin erwähnt 9 ) Schreiben wie eine Katze. E. T. A. Hoffmanns ‚Lebens-Ansichten des Katers Murr‘ auf. 10 Die Vorgeschichte reicht mindestens bis zum prinzipiellen Einspruch der Romantik gegen den aufklärerischen Rationalismus und den mitverbundenen und verdeckten Herrschaftsanspruch zurück. 11 Man könnte mit einem weiteren Seitenblick auch auf Theodor W. Adornos und Max Horkheimers Die Dialektik der Aufklärung verweisen. In diesem Werk wird der Logozentrismus der Aufklärung- - philosophischer Bezugspunkt ist hier Bacon und weniger Descartes--, als Verkehrung und als ein systematischer Herrschaftszusammenhang, als „Unterwerfung alles Seienden unter den rationalistischen Formalismus“ interpretiert. Das dieses ’Seiende’ dabei 8 Derrida, Jacques: Das Tier, das ich also bin. Deutsch vom Markus Sedlazek. Wien: Passagen, 2010. S. 47. 9 Derrida, Das Tier, das ich also bin, S. 23. 10 Kofman, Sarah: Schreiben wie eine Katze. Zu E. T. A. Hofmanns „Lebens-Ansichten des Katers Murr“. Wien: Passagen, 1985. S. 13; Vgl. Müller-Funk, Wolfgang: Die Dichter der Philosophen. Essays über den Zwischenraum von Denken und Dichten. München: Fink, 2013. S. 123-132. 11 Müller-Funk, Wolfgang: Die Rückkehr der Bilder-- Beiträge zu einer ‚romantischen Ökologie‘. Wien: Böhlau, 1988. S. 99. 225 9.1. Jacques Derrida: Das fremde Tier, der Mensch zum Objekt eines vernünftigen, von ihm getrennten Subjekts wird, allein darin steckt schon der Gestus „gehorsamer Unterordnung“. 12 Kofmans brillant geschriebener Essay nimmt damit jene Kritik am Logozentrismus vorweg, die in Derridas vier Texten über Mensch und Tier eigentlich schon vorausgesetzt wird, die aber im Mittelteil des ersten Textes, der Gegenstand der engen Textlektüre in diesem Abschnitt sein wird, noch einmal aufgerufen wird. Aber er geht über diese Kritik hinaus, in dem er die Frage eröffnet, inwiefern ‚das Tier‘ uns nicht auch anders entgegentritt als in jenem negativen Sinn als Material und unterworfenes Leben. Das führt noch einmal zurück zur Alteritätsphilosophie von Emmanuel Lévinas, die davon ausgeht, dass der Andere, der als Mensch jenseits aller Prädikation (Sexus, Hautfarbe, kulturelle und ethnische Zugehörigkeit) gedacht ist, eine Instanz ist, die uns als Gesicht, das uns anschaut, oder als Stimme, die uns anruft, immer schon zeitlich aber auch positionell ‚voraus‘ ist. Immer schon sind wir ins Blickfeld des Anderen geraten und in ihm befangen, bevor wir ihn fixiert und bemerkt haben ( → -Kapitel 4). Dieses existenzielle Tableau Lévinas’, wonach ‚ich‘ immer schon damit konfrontiert bin, von einem / einer Anderen angeblickt zu werden, wendet nun Derrida auf eine übrigens sehr persönliche Art und Weise auf die Mensch-Tier-Beziehung an und gerät damit in einen Gegensatz zu kritischen Denkern wie Benjamin und Lévinas, der sein existentielles Modell der Alterität als eine ausschließlich menschliche Beziehung begreift ( → -Kapitel 4). Derridas beinahe immer rhetorisch ausladender Text geht auf einen Vortrag zurück und beginnt mit einer Danksagung an den Freundeskreis und an den Genius des Ortes Cerisy, an dem der Philosoph seit vielen Jahre-- er spricht sogar von drei Dekaden-- seine jeweiligen Überlegungen einem kleinen auserlesenen und in vielfacher Hinsicht ähnlich gestimmten Publikum, einer Schar von Vertrauten, vorgeführt hat. 13 In gewisser Weise ist es also ein intimer und damit geeigneter Ort, an dem es erlaubt ist, über das Phänomen der Nacktheit zu sprechen: Am Anfang-- möchte ich mich Worten anvertrauen, die, wenn es möglich wäre, nackt sein sollten. An erster Stelle nackt-- um aber bereits anzukündigen, daß ich unablässig über die Nacktheit sprechen werde, und über das Nackte in der Philosophie. Von der 12 Horkheimer/ Adorno, Die Dialektik der Aufklärung, S. 27. 13 Peeters, Benoît: Jacques Derrida. Eine Biographie. Aus dem Französischen von Horst Brühmann. Frankfurt / Main: Suhrkamp, 2013. S. 689 f. 226 9. Dekonstruktion: Derrida und Nancy Genesis an. Ich möchte Worte wählen, die, für den Anfang, nackt sein sollten, schlicht und einfach, Herzensworte. 14 Das „Nackte“ hat hier schon mindestens drei Debzw. Konnotationen, das heißt Bedeutungen und Assoziationen. Es steht für eine persönliche Situation der Nähe und Intimität, es verweist auf den Verzicht des Redeschmucks, aber auch jeglicher Bekleidung und es steht für eine existentielle Situation des Menschen, für eine Offenheit, die aber auch eine riskante Gefährdung darstellt. Mit der Nacktheit ist ein entscheidender Aspekt jener Fremdheit benannt, der ich begegne, die mich ereilt und auf die ich antworte. Ich bin dem Blick des Anderen schutzlos ausgeliefert. In dem Tableau, das Derrida entwirft, ist es der Blick einer Katze. Nachdem Derrida die vielen Themen der philosophischen Zusammenkünfte mitsamt der Namen der Freunde und Weggefährten hat Revue passieren lassen, kommt er auf das gemeinsame, von ihm vorgeschlagene Rahmenthema der Konferenz L’animal autobiographique zu sprechen, das in gewisser Weise mit einem anderen, von seinen intellektuellen Freunden Philippe Lacoue-Labarthe und Jean-Luc Nancy vorgeschlagenen Titel Les fins de l’homme korrespondiert. 15 Der Zusammenhang zwischen beiden Themen besteht offenkundig darin, dass zwischen den plural gedachten „Enden“ des Menschen und jener Autobiographie, in der das Tier und darin der mit ihm verstrickte Mensch zur Sprache kommen, ein innerer Zusammenhang besteht. Das veränderte Fremd-Bild des Tiers, das Derridas Ausführungen implizieren, und des Tierischen schlägt nämlich auf das Selbst-Bild des Menschen zurück, das nunmehr die ‚animalischen‘ Seiten des Menschen in dieses integriert. Nach der großzügig-ausschweifenden Vorrede beginnt Derrida seine Überlegungen zum Tier. Er tut dies nicht, indem er darauf verweist, wie fragwürdig unser abschätziges Bild von dem, was wir sehr summarisch ‚Tier‘ nennen, geworden ist. Er verzichtet nicht nur deshalb darauf, weil darüber Einvernehmen mit seinem Publikum, dem er seine insgesamt etwa zehnstündigen Auslassungen vorträgt, besteht. Sein Vorgehen hat auch damit zu tun, von allem Anfang an die eigene Position philosophisch, aber in gewisser Hinsicht auch privat, offensiv herauszustellen. Dass es im dem ausführlichen Vortrag um ein „Überschreiten“ von Grenzen gehen soll, versteht sich von selbst. Derrida ruft seiner Zuhörerschaft Nietzsches Diktum vom Menschen als einem versprechenden Tier in Erinnerung. Dieses 14 Derrida, Das Tier, das ich also bin, S. 17. 15 Derrida, Das Tier, das ich also bin, S. 19. 227 9.1. Jacques Derrida: Das fremde Tier, der Mensch „Versprechen“ hat eine merkwürdige Mehrfachbedeutung. Wenn der Mensch ein Versprechen ist, genauer sein eigenes Versprechen ist, dann ist er ein Tier, dem es an etwas fehlt und mangelt. Der Mensch ist indes auch ein versprechendes Tier, das, wie Derrida schreibt, „um sich selbst verlegen ist“. 16 Aber damit sind Tier und Mensch schon ein Stück näher aneinandergerückt, ohne dass die spezifische Differenz vollständig beseitigt wäre. Das wird in der folgenden Frage und dem sich daran anschließenden Tableau, vielleicht einer autographischen Episode eines Katzenfreundes, auch ausgesprochen: Kann man sagen, daß das Tier uns seit der Zeit [Nietzsches, A. d. V.] anblickt / angeht (nous regarde)? Welches Tier? Das / Der Andere (l’autre). Ich frage mich oft, nur mal eben um zu sehen, wer ich bin (qui je suis), da ich nackt und schweigend überrascht vom Blick eines Tiers (animal), zum Beispiel den Augen einer Katze leidlich Mühe habe, ja leidlich Mühe (du mal), eine gewisse Verlegenheit zu überwinden. Warum diese leidliche Mühe? Ich habe leidlich Mühe, eine Regung der Schamhaftigkeit (pudeur) zu unterdrücken. Leidlich Mühe, in mir einen Protest gegen die Unschicklichkeit zum Schweigen zu bringen. Gegen die Ungehörigkeit, die darin bestehen kann, sich nackt, mit exponiertem Geschlecht, splitterfasernackt vor einer Katze wiederzufinden, die einen anblickt, ohne sich zu regen, just um zu sehen. 17 Dieses Bündel von Fragen enthält einen doppelten Blickwinkel: Die eine Perspektive richtet sich auf den Menschen, die andere auf das Tier. Die alltägliche visuell dichte Szene, die diese gedoppelte Perspektive zunächst veranschaulicht, nimmt in dem Text eine leitmotivische Funktion ein. Um sie kreist die gesamte folgende Abhandlung. Derrida wird zweimal ausdrücklich auf die „Obszönität des Ereignisses“ zu sprechen kommen, das eine Mal, wenn er betont, dass diese Scham auch vorhanden ist, wenn die Katze abwesend ist, 18 das andere Mal, wenn er die sexuelle Differenz ins Spiel bringt. 19 Dabei tritt eine doppelte Verlegenheit zutage. Die eine, die auf Nietzsche gründet, besteht darin sagen zu können, wer und was für ein Wesen ich bin; die andere bezieht sich auf die Frage, wer das Lebewesen ist, das mich in Augenschein nimmt und in Betracht sieht. Welche Züge habe ich mit dem Tier, das mich ansieht, gemein, und welche trennen mich von ihm? 16 Derrida, Das Tier, das ich also bin, S. 20. 17 Derrida, Das Tier, das ich also bin, S. 20. 18 Derrida, Das Tier, das ich also bin, S. 28 f. 19 Derrida, Das Tier, das ich also bin, S. 31. 228 9. Dekonstruktion: Derrida und Nancy Die Peinlichkeit rührt daher, dass mich etwas von meinem ‚tierischen‘ Betrachter, der nur sehen will, zu trennen scheint: Der Mann empfindet unter dem Anblick des anderen nicht-menschlichen Lebewesens Scham. Wobei hier die Scham eine doppelte ist, handelt es sich bei der Katze um ein weibliches Lebewesen (ein beliebtes Fremdbild der Frau etwa im Symbolismus), das-- so die projektive Seite der Szene-- das sexuelle ‚Teil‘ des nackten Mannes in Augenschein nimmt. 20 Die Alteritätsszene koppelt-- das ist kein Versehen-- die Andersheit des Weiblichen mit der des Tieres. Die Nacktheit ist buchstäblich wie existentiell zu verstehen. Die Scham hat zentral damit zu tun, nackt, das heißt unbekleidet zu sein wie ein Tier. 21 Wie tierisch bin ich und wie menschlich ist meine Betrachterin? Derrida lässt keinen Zweifel daran, dass diese Katze, offenkundig seine vertraute Mitbewohnerin,-- um mit Lévinas Worten zu sprechen-- ein ‚Antlitz‘, ein Angesicht hat. Dieses sieht den Mann an, taxiert ihn prüfend und scheint ihn, in (s)einer passiven, nackten und voyeuristischen Situation, zu erfassen. Auch diese / s Andere ist, ähnlich wie bei Lévinas, als vorgängig gedacht. Potentiell bin ich ein Lebewesen, das immer schon vom Tier bzw. von einem Tier angeblickt wird. Die Variation und Modifikation der Lévinasschen Szene ist unüberhörbar: „Noch bevor ich mich nackt gesehen sehe (voir) oder weiß (savoir)“, noch bevor ich mich ihr „präsentiere“, bin ich schon präsentiert: „Nacktheit gibt es nur in dieser Passivität, in dieser unfreiwilligen Exponiertheit seiner selbst.“ 22 Dass hier der Mann und Philosoph Derrida eine exponierte Stellung einnimmt, die üblicherweise dem Weiblichen zugeschrieben wird, liegt auf der Hand- - man mag dieses „verrückte Theater“, das keine „Urszene“ sein will und bis zu einem gewissen Grade als eine solche präsentiert wird, auch als einen empathischen Akt verstehen. Es ist auf Grund des traditionellen Binarismus, in dem die Frau das Geschlechtliche repräsentiert, kulturgeschichtlich gewiss kein Zufall, dass Scham und Schamhaftigkeit stets dem weiblichen Geschlecht zugesprochen worden sind. 23 20 Auf das sexuelle Moment und ihre verdeckte ‚tierische‘ Funktion kommt Derrida später zu sprechen, vgl. Derrida, Das Tier, das ich also bin, S. 64: Das Tier wird laut Derrida jenseits der sexuellen Differenzen wahrgenommen. Zugleich aber wird es offenkundig mit Sexualität identifiziert, was auch die Scham des nackten Mannes mit seinem erigierten Glied im Angesicht der Katze erklären würde. 21 Derrida, Das Tier, das ich also bin, S. 21. 22 Derrida, Das Tier, das ich also bin, S. 31. 23 Saurer, Edith: „Über die Beziehung von Schamhaftigkeit, Öffentlichkeit und Geschlecht“. In: Müller-Funk, Wolfgang (Hg.): Macht, Geschlechter, Differenz. Beiträge zur Archäologie 229 9.1. Jacques Derrida: Das fremde Tier, der Mensch An einer weiteren Stelle, an der Derrida von „Bodenlosigkeit des Blicks“ spricht, wird die Nähe zu Lévinas, die zugleich eine „Beunruhigung“ ist, sinnfällig, wenn er auf das Sehen des Gesehen-Werdens eingeht: „Wenn man den Blick des Anderen erblickt, muß man die Augen des Anderen vergessen, mit anderen Worten: Eher als die sichtbaren Augen des Andren muß man den Blick sehen, das sehende Gesicht.“ 24 Der Blick der Katze ist für Derrida bodenlos, da er für ihn als Menschen nicht deutbar und nicht lesbar ist. Genau darin liegt die absolute Andersheit seiner Katze: „Sich nackt erblickt sehen in einem Blick, dessen Grund bodenlos bleibt der vielleicht unschuldig und grausam zugleich ist, empfindlich und unempfindlich (impassible), gut und böse, unausdeutbar, unlesbar, unentscheidbar, abgründig und geheim: ganz anders, der ganz Andere, der ganz anders ist.“ 25 Lévinas’ Szene bezieht sich auf eine intermenschliche, jene von Derrida bezieht ein Tier mit ein. Der Unterschied zu der existentiellen Grundsituation von Mensch zu Mensch ist indes beträchtlich und entscheidend. Von einem anderen Menschen ‚angesehen‘ zu werden, bedeutet als Mensch angesehen zu werden und damit ‚Ansehen‘ haben, das heißt anerkannt zu werden. Es mag da eine Irritation und eine Kränkung geben, dass mein ‚Ich‘, das mir (scheinbar) Eigene, immer passiv von einem Anderen abhängt. Mein Status als Lebewesen hängt jedoch nicht vom menschlichen Gegenüber ab. Vom anderen Tier wird nämlich die Frage evoziert, wer ich nun eigentlich bin. Das von Angesicht zu Angesicht mit dem Tier provoziert die Gattungsfrage. Dabei tut sich ein Spiel der Differenzen auf. Auf der einen Seite macht mich die Anwesenheit der Katze nackt und ruft eine Scham hervor, die Simmel zufolge bedeutet, nicht gesehen werden zu wollen. Deshalb ist es die automatische Reaktion des sich schämenden Menschen den Blick zu Boden zu richten, um nicht zu sehen, wie man gesehen wird: 26 nackt, eben weil der Mensch sich bedeckt hält. Das Vis-à-vis mit dem Tier führt mir vor Augen, dass ich nackt wie ein Tier bin, wobei hier unberücksichtigt bleibt, dass die Katze ein Fell, der Mensch aber nur seine unbedeckte Haut besitzt. Die Szene besagt: Du bist nackt und unbekleidet wie ein Tier. Der Mensch ist das Tier, das sich schämt eines zu sein. der Macht im Verhältnis der Geschlechter. Wien. Picus, 1994. S. 63-90. 24 Derrida, Das Tier, das ich also bin, S. 32. Das Zitat bezieht sich auf: Lévinas, Emmanuel: Ethik und Unendliches. Deutsch von Dorothea Schmidt. Wien: Passagen, 1984. S. 64. 25 Derrida, Das Tier, das ich also bin, S. 31. 26 Simmel, Soziologie. S. 724. 230 9. Dekonstruktion: Derrida und Nancy Das Tier, von vornherein unbekleidet und in diesem Sinne ‚nackt‘, ist zugleich nicht nackt, denn zum Nackt-Sein gehört eben jene subjektive, von Scham begleitete, emotional besetzte Befindlichkeit. Die Katze, so lautet die projektive Vermutung, kennt diese Scheu nicht. Darin besteht die feine Differenz zwischen dem Lebewesen Mensch und jenem anderen, das pauschal als ‚Tier‘ bezeichnet wird. Die Katze, so betont und beteuert Derrida gegenüber seiner Zuhörerschaft, sei keine allegorische Katze, sondern diese Katze existiere wirklich. Aber dieser rhetorische Verweis liefert zugleich die Möglichkeit, die ‚allegorischen‘ Konfigurationen der Katze bei Montaigne, La Fontaine, Tieck, Baudelaire, Rilke, Buber bis zu Lewis Caroll zu erwähnen. Montaigne ist in dieser Reihe wohl der erste, der den Hochmut der Menschen und dessen Anmaßung zu wissen, was in Katzen vorgehe, kritisierte. Demgegenüber wird bei Lewis Caroll die Irritation des Menschen durch die Katze thematisiert. Das Tier gibt, so jedenfalls befindet es Alice, die Protagonistin in Alice hinter den Spiegeln, keine (eindeutige) Antwort, man kann nicht ordentlich mit ihm kommunizieren. Der philosophische Leser Derrida spricht von einer Leichtgläubigkeit Alice’. 27 Abermals nimmt er die Eingangsszene in Augenschein, wenn er-- als Antwort auf den Zweifel von Alice, auf den kommunikativen Aspekt zwischen dem nackten Philosophen und seiner „Kätzin“ zu sprechen kommt, die mich anzuflehen schien, indem sie mich klar und deutlich bat, ihr die Tür aufzumachen, damit sie unverzüglich hinaus könne, was sie sehr oft tut, zum Beispiel, wenn sie mir zunächst ins Badezimmer folgt und es gleich darauf bedauert. Das ist im Übrigen eine Szene, die sich jeden Morgen wiederholt. Die Katze folgt mir beim Erwachen ins Badezimmer, wobei sie ihr Frühstück einfordert, doch sobald sie mich nackt sieht, bereit zu ganz anderen Dingen und entschlossen, die Geduld über zu lassen, verlangt sie, das besagte Badezimmer zu verlassen. 28 Während er dieses Tableau seinem Publikum vor Augen stellt, entwickelt er eine ironische Art „Klassifikation à Linné“, in der er zwei Typen von Menschen einander gegenüberstellt, die partiell, wenn auch nicht vollständig mit einer Unterscheidung, die er zuvor getroffenen hatte, koinzidiert, nämlich jener zwischen „Poem“ und „Philosophem“. Ersteres zielt auf die Dichtung, Letzteres auf die (klassische) Philosophie. Der schon erwähnten literarischen Reihe, die Montaigne 27 Vgl. Derrida, Das Tier, das ich also bin, S. 21. 28 Derrida, Das Tier, das ich also bin, S. 33. 231 9.1. Jacques Derrida: Das fremde Tier, der Mensch mit einschließt, stellt er eine philosophische gegenüber, die von Descartes bis zu Lacan und Lévinas reicht. 29 Da sind zunächst einmal die vornehmlich philosophischen Texte von Leuten, „die das Tier zweifelsohne gesehen, beobachtet, analysiert, reflektiert haben, die sich aber nie vom Tier gesehen sahen“. 30 Die kritische und exemplarische Lektüre zentraler Texte und Textstellen von Descartes, Kant, Heidegger, Lacan und Lévinas führt Derrida dann in weiteren Vorträgen vor, sie bilden die nachfolgenden Kapitel des posthum zusammengestellten Buches. 31 Die andere „Kategorie des Diskurses“ befindet sich, wie Derrida schreibt, „in einer poetischen oder prophetischen Situation“. 32 Die Poeten und Propheten fühlen sich von dem, was allgemein als ‚Tier‘ bezeichnet wird, angesprochen, ‚adressiert‘. Sie nehmen also prinzipiell die von Derrida beschriebene Situation an und auf sich, „noch bevor sie die Zeit und die Möglichkeit haben, sich ihr zu entziehen, sich ihr nackt oder im Morgenmantel zu entziehen“. 33 Diese Poeten und Propheten bleiben an dieser Stelle namenlos, ihr theoretischer, philosophischer und juristischer Status bleibt offen, aber es ist ganz offenkundig, dass sich Derrida zu dieser Kategorie zurechnet als einer, der „auf der Suche ist“. 34 Auf dieser Suche stößt der nackte Philosoph auf eine mythische Erzählung der Bibel bzw. der Thora. Exakter formuliert handelt es sich um zwei Textpassagen, die aber als Varianten ein und derselben Erzählung begriffen werden können. Es handelt sich um jenes erste, Moses zugeschriebene, Buch, das in der christlichen Tradition die Genesis, in der jüdischen Bereschit heißt. In seiner Interpretation greift Derrida auf mystisch inspirierte Übersetzungen wie jene von André Chouraqui und Martin Buber zurück. Dabei geht es darum, wie in der Schöpfung (und durch sie) das Verhältnis von Mensch und Tier geregelt und bestimmt ist. Was in dem Vortrag als erste Version bezeichnet wird, ist vom chronologischen Diskurs der jüdisch-christlichen Erzählung aus betrachtet der zweite Bericht: Hier kommt der Mann allein ins Bild, ohne weibliches Alter Ego; er ist es, der den Tieren einen Namen gibt. Bekannter ist der als zweite Version vorgestellte Bericht, wonach Mann und Frau vom göttlichen Schöpfer den Auftrag erhalten, die Tierwelt zu beherrschen. Den philosophischen Leser interessiert die ‚erste‘ Version 29 Derrida, Das Tier, das ich also bin, S. 33. 30 Derrida, Das Tier, das ich also bin, S. 34. 31 Derrida, Das Tier, das ich also bin, S. 85-226. 32 Derrida, Das Tier, das ich also bin, S. 35. 33 Derrida, Das Tier, das ich also bin, S. 35. 34 Derrida, Das Tier, das ich also bin, S. 35. 232 9. Dekonstruktion: Derrida und Nancy (Bericht 2), weil diese eine entscheidende Bestimmung enthält, die Zeit vor der Ursünde, vor der Scham, vor der Zeit. 35 Ausdrücklich verworfen wird Benjamins Idee von der Stummheit und Erlösungsbedürftigkeit der Tiere, 36 die sich eben auf diese Variante des Schöpfungsberichts bezieht, in der der Mensch nicht mit der Beherrschung, sondern lediglich mit der Bezeichnung der Tiere beauftragt wird. Benjamin hat in seinem frühen Aufsatz Über die Sprache überhaupt und über die Sprache des Menschen, sichtbar von gnostischen und romantischen Gedankenfiguren beeinflusst, die paradiesische Sprache als eine gefasst, die noch nicht ‚bürgerlich‘-konventional ist und in der Dinge und Namen noch identisch waren - das Paradies ist eine Welt, in der es keinerlei Fremdheit gibt und geben kann 37 ( → -Kapitel 13). Nun liest Derrida in dem kunstvoll gesponnenen Text abermals seine private, scheinbar ganz persönliche (Nicht-)‚Urszene‘: Nun wollte ich mich aber an die Nacktheit vor der Katze erinnern, von der Zeit her, einer vorgängigen Zeit im Bericht der Genesis her, von der Zeit her, da Adam alias Ich den Tieren vor dem (Sünden-)Fall ihre Namen zuruft, aber bevor er sich seiner Nacktheit schämte. 38 Aus der Derridaschen ‚Arbeit am Mythos‘ (Blumenberg) ergeben sich nun zwei Hypothesen, die im Folgenden umfassend erläutert werden: Die erste lautet, dass sich seit „ungefähr zwei Jahrhunderten-[…] das Verhältnis zum Tier oder zu den Tieren“ grundlegend verändert habe. Von einem rasanten Wandlungsprozess ist die Rede, in der „die Grenzen beim Überschreiten der Grenzen, zwischen bios und zoé, zwischen Biologischem, Zoologischem und Anthropologischem- […] zwischen Leben und Tod, Leben und Technik, Leben und Geschichte usw. erzittern“. 39 Derrida zögert von einer Wende zu sprechen, weil das einen „Bruch“ oder eine „Mutation“ implizieren würde. Aber diese Umwälzung ist nicht einem einmaligen Datum zuzuschreiben. Dieser Wandlungsprozess ist kein prinzipieller Bruch mit der Art und Weise der abendländischen Tradition das Verhältnis von Mensch und Tier zu denken. Vielmehr stehen die mit dieser Umwälzung verbundenen 35 Derrida, Das Tier, das ich also bin, S. 40. 36 Derrida, Das Tier, das ich also bin, S. 41. 37 Benjamin, Walter: „Über die Sprache überhaupt und über die Sprache des Menschen“. In: Ders.: Ausgewählte Schriften. Bd. 2. Frankfurt / Main: Suhrkamp, 1988 ff. S. 9-26. 38 Derrida, Das Tier, das ich also bin, S. 43. 39 Agamben, Giorgio: Das Offene. Der Mensch und das Tier. Deutsch von Davide Giuriato. Frankfurt / Main: Suhrkamp, 2003. S. 23-26. 233 9.1. Jacques Derrida: Das fremde Tier, der Mensch „Motive“ im Zusammenhang mit dem, was Derrida als die „Auto-Biographie des Menschen“ bezeichnet. Darunter versteht er eben die „Selbst-Definition“, die „Selbst-Situierung des Menschen oder des menschlichen Daseins“, die in diesem Text befragt werden soll. 40 Autobiographie meint in diesem Zusammenhang nicht primär eine literarische Gattung oder einen konkreten Text, obwohl diese Konnotationen durchaus von Bedeutung sind, sondern eine „kollektive Selbstrepräsentation des menschlichen Lebens“. Mit der Biographie ist also eine große, durchaus langfristig wirksame und praktische Erzählung gemeint. 41 In diesem Prozess, der mit Kapitalismus, Naturwissenschaft, moderner Technik und Biopolitik Hand in Hand geht, nimmt die Unterwerfung des Lebens bisher ungeahnte Dimensionen an, die in der Tierfleisch-Nahrungsmittelproduktion, in künstlicher Besamung und genetischer Manipulation kulminieren. Derrida erinnert daran, dass die fast bedingungslose und systematische Reduzierung des Tieres auf den Rohstoff von Lebensmittelproduktionen und wissenschaftlichen Laboratorien auf einem historischen Prozess systematischer Domestikation, Dressur, Züchtung, Ausbeutung tierischer Arbeitskraft und Instrumentalisierung als Opfer beruht. Diese historische Entwicklung zeigt, dass dem Tier, von Haustieren abgesehen, im Normalfall nur ein Objektstatus zukommt. Aber die moderne Ausbeutung und Zurichtung, die auf einem biologisch-genetischen Wissen beruht, geht weit darüber hinaus und spitzt das prekäre einseitige Machtverhältnis zwischen Mensch und Tier zu. 42 Diese Unterwerfung beschreibt Derrida als Gewalt und Grausamkeit, die von den Menschen systematisch und im Weltmaßstab verleugnet oder verborgen werden. 43 In diesem Zusammenhang kommt der französische Denker auf Benthams Theorie der Leidensfähigkeit der Tiere zu sprechen. Dieser hätte den philosophischen Diskurs über das Tier insofern verändert, als hier nicht mehr nach der Vernunft und Unvernunft der Tiere als der Kardinaldifferenz zwischen Mensch und Tier gefragt wird, sondern danach, ob Tiere „leiden können“. Dass dies der Fall sei, könne nicht bestritten werden. Demzufolge haben Tier und Mensch etwas gemein: Tiere kennen Leid und haben Angst, sie erleben Panik, Schrecken oder Grauen. Aber, was das Entscheidende ist: Der Mensch, das leidensfähige und zugleich empathische Lebewesen, kann davon „Zeugnis ablegen“. 44 Damit er- 40 Derrida, Das Tier, das ich also bin, S. 47 f. 41 Derrida, Das Tier, das ich also bin, S. 55. 42 Derrida, Das Tier, das ich also bin, S. 49. 43 Derrida, Das Tier, das ich also bin, S. 50. 44 Derrida, Das Tier, das ich also bin, S. 51-54. 234 9. Dekonstruktion: Derrida und Nancy öffnet der Text eine neue Ethik, die das Tier einschließt. Von der Möglichkeit des tierischen Leidens leitet Derrida ab, dass Menschen von Mitleid ergriffen werden können. Dieses Mitleiden wird jedoch „anschließend verkannt, verdrängt oder verleugnet“. 45 In diesem Zusammenhang spricht der Philosoph von einem „Krieg um / gegen das Sujet / Subjekt des Mitleids“. Dies kann als Aufruf zu einer neuen Tierethik gewertet werden, als Aufforderung Verantwortung zu übernehmen und vor dem (Mit-)Leiden nicht die Augen zu verschließen. Die zweite Hypothese schließt an die erste an und thematisiert die Überschreitung von Grenzen bzw. den Bruch zwischen Mensch und Tier. Dabei hebt Derrida hervor, dass es nicht darum geht, die Grenze zwischen Mensch und Tier auszulöschen, sondern „ihre Figuren zu vervielfältigen, die Linie eben dadurch zu verkomplizieren, zu verdicken, zu entlinearisieren, zu krümmen, zu teilen, daß man dafür sorgt, daß sie wächst uns sich vervielfältigt“. 46 Derridas plural gedachte Grenze führt geradewegs zur einer Kritik an der Sprache über das Tier. Der Mensch ist nämlich das Lebewesen, das durch seine Sprache das „Tier“ gleichsam ein zweites Mal gebzw. erschaffen hat: „Die Menschen wären zuallererst jene Lebenden, die sich das Wort gegeben haben, um mit der einzigen Stimme vom Tier zu sprechen und in ihm denjenigen zu bezeichnen, der, als einziger, ohne Antwort geblieben wäre, ohne Wort, um zu antworten.“ 47 Das Tier ist „ein Wort“, ein symbolisches Konstrukt der Menschen, die sich das Recht genommen haben, alle anderen Lebewesen unter einem einzigen Begriff zu fassen, um sich damit einen eigenen privilegierten Platz für sich zu reservieren. 48 In diesem Zusammenhang wird der Terminus „anthropo-zentrische Subjektivität“ eingeführt. Aus ihr speist sich eben jene menschliche und zugleich tierische „Autobiographie“ 49 . Wie bereits erwähnt leugnet Derrida nicht das Bestehen von Grenzen, sondern fordert auf, jene pluralistisch zu denken. In diesem Zusammenhang spricht er von einem „abgründigen Bruch“: Dieser hat aber nicht nur zwei Ränder-- hier Mensch, dort Tier. Vielmehr gebe es jenseits des „sogenannten menschlichen Randes“ „eine heterogene Vielfalt des Lebens“. 50 Fassen wir noch einmal zusammen: Die These der klassischen Philosophie lautet: Das Tier kann nicht denken, geben oder grüßen, es kann nicht antworten, 45 Derrida, Das Tier, das ich also bin, S. 54. 46 Derrida, Das Tier, das ich also bin, S. 55. 47 Derrida, Das Tier, das ich also bin, S. 59. 48 Derrida, Das Tier, das ich also bin, S. 58. 49 Derrida, Das Tier, das ich also bin, S. 57. 50 Derrida, Das Tier, das ich also bin, S. 57. 235 9.1. Jacques Derrida: Das fremde Tier, der Mensch das heißt es kann kein ‚Wort‘ geben. Bei diesen und ähnlichen Zuschreibungen verdeckt das Abstraktum ‚Tier‘ die Pluralität und Vielfalt all jener Lebewesen: Weder seitens eines großen Philosophen-- von Platon bis Heidegger-- noch seitens von irgendjemandem sonst, der die sogenannten Frage nach dem Tier und nach der Grenze zwischen dem Tier und dem Menschen philosophisch, als solche angeschnitten hätte, habe ich jemals irgendeinen prinzipiellen Protest, vor allem aber keinen konsequenten Protest gegen diesen allgemeinen Singular, das Tier vernommen. Auch nicht gegen den allgemeinen Singular eines Tiers mit prinzipiell undifferenzierter-- oder neutralisierter, wenn nicht kastrierter-- Sexualität. 51 Der Kritiker des abendländischen Logo- und Anthropozentrismus konstatiert eine Übereinstimmung von Philosophie und „gemeinem Sinn“ (common sense). Der ansonsten sehr zurückhaltende Begründer der Dekonstruktion greift an dieser Stelle einmal zu drastischen Worten: „Diese Übereinstimmung- […], in aller Seelenruhe von dem Tier (l’Animal) im allgemeinen Singular zu sprechen, ist vielleicht eine der größten- - und systematischsten- - Dummheiten (bêtises) derer, die sich Menschen nennen.“ 52 Ironisch ist dieser Kommentar, weil das im Französischen verwendete Wort für Dummheit an die „Bestie“, an das Tier erinnert und somit die Dummheit zugleich „bestialisch“ ist. Aber diese dumme Opposition generiert eine einmalige Privilegierung: das ganze Tierreich mit Ausnahme des Menschen. Fassen wir an dieser Stelle noch einmal die wichtigsten Überlegungen in drei Punkten zusammen: 1. Zwischen den unter dem Abstraktum ‚Tier‘ versammelten Lebewesen kann es ggfs. mehr Unterschiede geben als zwischen einzelnen Tiergattungen und dem Menschen. 2. Durch das ‚singuläre‘ Wort ‚Tier‘ konstituiert sich der Mensch als ein einmaliges, unvergleichliches und privilegiertes Lebewesen und gibt sich eine Identität, übrigens ganz im Sinne der Diskursanalyse von Foucault. Mittels der diskursiven Exklusion hebt der traditionelle Humanismus den Menschen aus einem animalischen Grund heraus. Mehr noch: Er konstituiert, was der Mensch ist, durch die zentrale Negation des Tieres. Der Mensch ist das, was nicht Tier ist. 51 Derrida, Das Tier, das ich also bin, S. 69 (Hervorhebung im Original). 52 Derrida, Das Tier, das ich also bin, S. 70. 236 9. Dekonstruktion: Derrida und Nancy 3. Mit dieser Exklusion gehen Beanspruchung und Ausübung einer unbeschränkten Machtposition einher. Dem entsprechen zwei mythische Erzählungen, die biblische von Kain, dem Ackerbauern, und Abel, dem Tierhüter. Die Verstoßung Kains und die Auszeichnung Abels werden im Sinne einer Legitimation der Herrschaft des Menschen über die fremde andere Kreatur gelesen. Etwas verzwickter ist der antike Mythos von Bellerophon, der das tierische bzw. tierisch-menschliche Mischwesen, die Hybridin, die Chimäre, besiegt und tötet. Dieser Mythos ist komplexer, weil in der Chimäre zum einen die in der Abstraktion verleugnete und unterdrückte Vielfalt des Tiers aufleuchtet, zum anderen aber das Tierische in die Nähe des Monströsen gerät ( → - Kapitel 12). In jedem Fall bilden beide Mythen frühe Dokumente einer Auto-Biographie des Menschen, der sich langfristig durch die prinzipielle Differenz zum Tier situiert. Wenn Derrida in seiner ‚Arbeit am Mythos‘ einen Text aus der Antike und einem aus dem jüdisch-christlichen Bereich wählt, dann wendet sich das auch gegen die Vorstellung, dass es diese problematische „Autobiographie“ des Menschen nur in einem Teil des okzidentalen Erbes, nämlich der griechisch-antiken, gäbe, wie das mitunter bei Lévinas anklingt ( → - Kapitel 4), der die Alterität doch immer wieder mit der jüdischen und damit in Verlängerung mit der christlichen Erbschaft in Verbindung bringt. Zumindest hinsichtlich der Frage nach dem Tier, die zugleich eine nach dem Menschen ist, scheint dies für Derrida problematisch. Um diese Befunde sprachlich zu illustrieren, greift Derrida, der sich gerne einer nicht ganz unproblematischen Technik des Etymologisierens, die ihre Herkunft aus der Philosophie Heideggers schwerlich verleugnen kann, bedient, wie so oft zum Wortspiel des Neologismus. Er erfindet das Wortes „animot“, das den Signifikanten ‚mot‘, also Wort, enthält, das wie der Plural von Tier („animaux“) klingt. Wie bei dem bekanntesten dekonstruktiven Wort-Spiel, jenem zwischen der différence und der différance, kommt der feine Unterschied nur in der visuellen, nicht aber in der akustischen Bezeichnung zum Tragen. Ähnlich funktioniert auch das hier vorgeschlagene Wortspiel ‚animot‘/ ‚animaux‘. Es hat zumindest drei semantische Aspekte: 1. Mittels des Neologismus wird der Singular Tier (animal) als eine sprachliche Setzung des Menschen in Frage gestellt und dekonstruiert. Tier ist nur ein Wort (animot) und wird der Vielfalt aller Lebewesen nicht gerecht. 237 9.1. Jacques Derrida: Das fremde Tier, der Mensch 2. Durch den phonetischen Gleichklang der beiden Wörter, des bekannten und des erfundenen Wortes, kommt jenes Moment ins Spiel, das Derrida offenkundig wichtig ist: die Pluralität. 3. Das Wortspiel dekonstruiert die durch die Sprache geschaffene absolute Grenze zwischen Mensch und Tier und unternimmt eine ‚chimärische‘ Offenheit für das Heterogene des Lebens. 53 Noch ein letztes Mal variiert der Text seine Zentralszene: Die Katze, die mich ansieht und deren Augen ein Spiegel sind, impliziert den (möglich gewordenen) Bruch mit einem Anthropozentrismus, der das Tier als das prinzipiell Fremde, Monster und bloßes Ding betrachtet, das wenigstens in der philosophischen Tradition des Okzidents kein angenommenes Anderes ist. Wenn das Tier als mein Alter Ego anerkannt wird, dann stellt sich die Frage nach einer „Autobiographie“ ganz anderer Art: „Es findet sich, dass es zwischen dem Wort ‚ich‘ und dem Wort ‚Tier‘ jede Art signifikanter Überschneidungen gibt.“ 54 Der programmatische Text endet mit einem rhetorischen Spiel mit gebündelten Fragen: Das Tier im Allgemeinen, was ist das? Was will das sagen? Wer ist das? Welcher Sprache entspricht (correspond) ‚das‘? Wer antwortet (respond) wem? Wer hört / antwortet auf den allgemeinen Singular- und Gattungsnamen dessen, was sie so seelenruhig ‚Tier‘ nennen? Wer antwortet? Die Referenz dessen, was mich im Namen (des) Tier(s) anblickt / angeht (me regarde), was nun im Namen (des) Tier(s) ausgesagt wird, wenn man im Namens des Tiers appelliert, das ist es, was man bloßlegen müßte, in der Nacktheit und Blöße dessen, der während er die Seiten einer Autobiographie aufschlägt, sagt: „Da seht ihr, wer ich bin.“ Aber ich, wer bin ich? 55 Die hier eingeforderte Reflexion zielt nicht auf eine schlichte Verneinung oder darauf, all diese Fragen eindeutig und positiv zu beantworten. Ziel des dialogisch konzipierten Vortragstextes ist die Verunsicherung, das Ende bestimmter Gewissheiten. Das Tier Mensch hat sich durch das Wort ‚Tier‘ als ein Jenseits des Tieres konstituiert, aber zugleich verstellt ihm dieses in dem mäandrierenden Text dekonstruierte Wort den Blick darauf, wer er ist und wem er folgen soll. Dabei ist auch denkbar, dass es keine Antwort auf diese Frage gibt, weil diese wiederum in eine metaphysische Falle tappen würde. 53 Derrida, Das Tier, das ich also bin, S. 79 f. 54 Derrida, Das Tier, das ich also bin, S. 81. 55 Derrida, Das Tier, das ich also bin, S. 83. 238 9. Dekonstruktion: Derrida und Nancy Es geht Derrida um mehr als eine ‚negative Anthropologie‘, in der das Spezifische des Menschen in der Negation einer bestimmten positiven Fixierbarkeit gesucht wird, 56 und um mehr als den Einspruch gegen eine systematische Unterdrückung und Aneignung jener fremden Lebewesen, die unter dem Singular ‚Tier‘ firmieren. Das Verhältnis zum fremden Tier und damit auch die eigene Geschichte des Menschen wären neu zu schreiben. 57 Sein Text versteht sich als exemplarischer Beitrag zu einer solchen Autobiographie, die die bisherige korrigiert. In dem Diskurs über das Tier, den Derrida befragt, ist es, wie übrigens in der ganzen okzidentalen Tradition, um ganz bestimmte Tiere gegangen, die aus der menschlichen Perspektive ähnlich und anschlussfähig sind und die immer schon Teil der „Autobiographie“ des Menschen gewesen sind. Ganz oben rangieren die mehr oder minder ‚nutzlosen‘ Haustiere wie die Katze oder der oftmals seiner Wachfunktion entledigte Hund, die über Jahrtausende in Symbiose und Kohabitation mit dem Menschen leben. Darunter befinden sich die ‚nützlichen‘ Haustiere, die zur Versorgung des Menschen mit Lebensmittel oder Kleidung dienen (und die noch bis ins Zeitalter der industrialisierten Landwirtschaft einen Namen bekamen). Schließlich kommen jene ‚Foucaultschen‘ Tiere hinzu, die an anderen Orten, in Heterotopien eingepfercht sind, als Archive der Zoologie, als Subjekte der Schaulust: All diese Tiere sind Teil jener „Autobiographie“, jener kulturellen Selbsterfindung, in der eine höchst ungleiche Domestikation vonstattengeht, die des Menschen einerseits und die des Tieres andererseits. Derridas ‚Kätzin‘ ist ein privilegiertes Geschöpf: Es sind nicht viele Tiere, die im Badezimmer des Menschen oder Philosophen wie selbstverständlich ihren Platz einnehmen (können), um ihn Tag für Tag in Augenschein zu nehmen. Die natürliche Vielfalt der vielen Lebewesen, die unter dem Begriffsdach ‚Tier‘ firmieren, wird von multiplen symbolischen Zuschreibungen überlagert. Wenn die Tiere etwa in den Fabeln des von Derrida erwähnten La Fontaine und eigentlich schon bei Äsop nicht nur einen Namen bekommen, sondern, wenn auch allegorisch, menschliche Eigenschaften besitzen, bedeutet das, dass sie ihren radikalen Status als ganz Andere einbüßen. Um aber noch einmal auf die reale ‚Kätzin‘ des Philosophen zu sprechen zu kommen: Zwischen beiden besteht ein bestimmtes durch Wiederholung bestätigtes Verhältnis des Einvernehmens. Ihre 56 Vgl. Sonnemann, Ulrich: Negative Anthropologie. Vorstudien zur Sabotage des Schicksals. Frankfurt / Main: Syndikat, 1969. S. 227-269. 57 Macho, Thomas: Tiere- - Menschen- - Maschinen. Zur Kritik der Anthropologie. Frankfurt / Main: Fischer, 2009. 239 9.1. Jacques Derrida: Das fremde Tier, der Mensch durchaus raffinierte Kommunikation ist das Ergebnis kultureller Kohabitation. Diese Beziehung ist es, die es der Katze, ohne zu wissen, worum es für den Menschen dabei geht, ermöglicht, ganz ungebeten als sein Alter Ego zu fungieren. Um auf den ‚heiklen‘ sexuellen Aspekt zu sprechen zu kommen: Die Katze sieht das womöglich erigierte Glied des Mannes, was bei diesem Scham auslöst. Häufig ist der absolute Binarismus von Mensch und Tier mit der Zuschreibung des Sexuellen als etwas Animalischem verbunden. Hier bedeutet etwa der psychoanalytische Diskurs, der die exorbitante Bedeutung der menschlichen Sexualität darlegt und kulturgeschichtlich deren Integration in die Autobiographie des Menschen ermöglicht, jedoch einen gewissen Bruch. Dieser Hinweis ist deshalb so bedeutsam, weil in der traditionellen Auffassung der animalischen Sexualität die brisante Möglichkeit besteht, andere Ethnien, Menschen mit anderer Hautfarbe, aber auch das andere Geschlecht in die Nähe des Animalischen und Sub-Humanen zu rücken. Diese Fremden, die Frau schlechthin oder Frauen aus bestimmten Kulturen (‚die slawische Frau‘), 58 ‚der Schwarze‘, 59 der mexikanische Migrant oder der ‚nackte‘ Wilde werden als besonders sexuell unkontrolliert, hemmungslos und unersättlich imaginiert. 60 Aus dieser diskursiven Erfindung der Tierähnlichkeit von bestimmten Menschengruppen entspringt eine radikale Ungleichgewichtigkeit, die die Anerkennung vereitelt, die darin besteht zu sehen, wie man vom anderen gesehen wird. Zudem legitimiert ein solch diskursiv zugewiesener marginaler Status einen Herrschaftsanspruch, der in imperialen und kolonialen, aber auch in einigen traditionellen religiösen Diskursen (in orthodoxen Formen des Islams, des Hinduismus, des evangelikalen Christentums und des Judentums) intrawie interkulturell schlagend wird (vgl. Kapitel 8). Diese Anmerkung ist nicht als Metakritik an dem hier diskutierten und ‚vorgeführten‘ Text zu verstehen, sondern als ein ergänzender Kommentar. Von jenem exklusiven Diskurs über das Tier ist der Mensch auf vielfache Weise tangiert, die hier angesprochene ist nur mehr eine weitere Facette, die zeigt, dass dieser Text, womöglich entgegen des ersten Anscheins, keineswegs randständig ist, oder 58 Müller-Funk, Wolfgang: „Kakanien revisited. Über das Verhältnis von Herrschaft und Kultur“. In: Müller-Funk, Wolfgang / Plener, Peter / Ruthner, Clemens (Hg.): Kakanien revisited. Das Eigene und das Fremde in der österreichisch-ungarischen Monarchie. Tübingen: Francke, 2002. S. 14-32. 59 Bhabha, Die Verortung der Kultur, S. 97-124. 60 Hall, Stuart: „The spectacle of the ‚other‘“. In: Ders. (Hg.): Representation. Cultural Representations and Signifying Practices. London: Sage, 1997. S. 223-290. 240 9. Dekonstruktion: Derrida und Nancy anders formuliert, dass eben die (scheinbare) Marginalität dieses Themas letztendlich ins Zentrum des Themas Fremdheit führt. Was einer Schonung jener Lebewesen, die der Mensch dem biblischen Schöpfungsauftrag und der auf Abel zurückgehenden Auto-Biographie des Menschen zufolge unterwerfen soll, im Wege steht, das ist zweifelsohne ein über das rein Ökonomische hinausgehender Gattungs-Egoismus: Wir wollen es uns gut gehen lassen, auf Kosten all jener Lebewesen, die wir als unsere selbstverständliche Lebensressource betrachten. Was wir dabei verschweigen, ist der Tatbestand, dass wir, ökologisch gesprochen, in einem Konkurrenzverhältnis zu anderen Lebewesen standen und stehen und manche der Lebewesen, die unter die Rubrik des ‚Tiers‘ zusammengefasst sind, immer schon als Feinde und damit als Fremde und nicht als Andere (vgl. hierzu die Unterscheidung in → - Kapitel 1) betrachtet haben. So dient ein spezifischer ‚humanistischer‘ Diskurs über Tier und Mensch auch der Neutralisierung unserer Hemmungen, gegen die fremden anderen Lebewesen Gewalt anzuwenden. Derridas Ethik lässt sich folgendermaßen zusammenfassen: Das Tier blickt den Menschen im Zustand der Nacktheit an. Das ist eine neue Herausforderung für das Denken: Die Referenz dessen, was mich im Namen (des) Tier(s) anblickt / angeht (regarde)-[…], das ist es, was man bloßlegen möchte, in der Nacktheit oder der Böße dessen, der, während er die Seite einer Autobiographie aufschlägt, sagt, „Da sehr ihr, wer ich bin.“ 61 9.2. Jean-Luc Nancy: Der Fremde als Eindringling Der Philosoph Jean-Luc Nancy gehörte zum engsten intellektuellen Freundeskreis von Jacques Derrida, dem philosophischen Begründer der Dekonstruktion. Das schmale Büchlein, das im Französischen den Titel L’Intrus trägt, erschien 1999 und ein Jahr danach auf Deutsch in der Übersetzung des Freundes Alexander García Düttmann (Der Eindringling/ Das fremde Herz). Es ist in mehrerlei Hinsicht ein bemerkenswertes Buch, spielt es doch den Begriff der Fremdheit in ganz neuen Bereichen wie der Medizin durch. Zugleich lässt sich an ihm die ‚dekonstruktive‘ Denkweise des französischen Philosophen besonders anschaulich machen. Exzeptionell ist der Text aber hinsichtlich seiner Komposition: Das Ich, das dort ins Spiel kommt, verweist tatsächlich auf den Philosophen Jean-Luc Nancy und auf sein eigenes Lebensschicksal. 61 Derrida, Das Tier, das ich also bin, S. 84. 241 9.2. Jean-Luc Nancy: Der Fremde als Eindringling Beginnen wir diesen verschlungenen Text über Fremdheit ganz von vorne, ohne das ihm vorangestellte Motto von Antonin Artaud, in dem das Herz zum Gegenstand einer Schmährede wird- - „das schmutzigste aller Mittel- […], um Leben in mich zu pumpen“--, eingehend zu kommentieren. 62 In den ersten beiden Abschnitten spricht Nancy ganz generell vom Fremden, und zwar aus der Innenperspektive dessen, der sich mit dem Fremden konfrontiert sieht. Dabei wird der / die / das Fremde mit der Figur des „Eindringlings“ identifiziert, der von außen jenen Raum betritt, der mir zu gehören scheint. Der Text bevorzugt zur Darstellung des Fremden die Raum-Metapher und macht damit sichtbar, dass das Thema des Fremden mit räumlichen Phänomenen wie Raum und Grenze zu tun hat. Der Fremde, der Eindringling also, betritt, gleichsam unbefugt den mir zugehörigen Raum, und zwar „gewaltsam“ („de force“), „überraschend“ („par surprise“) und mit „List“ („par ruse“). Der Fremde wird als der wahrgenommen, der keinen rechtmäßigen Anspruch auf Zutritt hat. Wenn er eine Einreiseberechtigung oder ein Aufenthaltsrecht besitzt, dann büßt er, wenigstens partiell, seine Fremdheit ein. Aber solange er im Status des Ankommens verbleibt, bleibt er ein Eindringling. An einer Stelle spricht Nancy gar von einem „Aufruhr im Innersten“ („un trouble dans l’intimité“), was wohl an dieser Stelle auf jene bezogen ist, die mit dem „Eindringling“ konfrontiert sind. 63 Nun kommt der französische Philosoph darauf zu sprechen, wie man auf die Intervention des Fremden reagiert, wie man seine Fremdheit auffängt, wie man ihn resorbiert, noch ehe er / sie die „Schwelle“ zu dem anderen Raum überquert hat. Die Schwelle ist ein wichtiges Raumphänomen, beschreibt sie doch den Übergang von einem Raum in einen anderen und auch die damit verbundene Änderung eines Zustands. Sie enthält insofern ein zeitliches Moment, als sie ein Ort ist, an dem man sich normalerweise nicht dauerhaft aufhält, sondern zeitlichen Limitierungen erliegt. 64 Kafkas Text über den Mann vom Lande (Vor dem Gesetz) ist die literarisch prominente absurde Ausnahme. 65 Insofern lässt sich sagen, dass Fremdheit immer auch ein kontextuelles und zeitliches Phänomen darstellt. 62 Zitiert nach: Nancy, Jean-Luc: Der Eindringling. Das fremde Herz. Deutsch von Alexander García Düttmann. Berlin: Merve, 2000. S. 7. Original: S. 6: „le plus sale moyen- […] de pomper la vie en moi“. 63 Nancy, Der Eindringling, S. 6 f. 64 Augé, Marc: Orte und Nicht-Orte. Vorüberlegungen zu einer Ethnologie der Einsamkeit. Deutsch von Michael Bischoff. Frankfurt / Main: Fischer, 1994. S. 90-135. 65 Kafka, Franz: Sämtliche Erzählungen. Herausgegeben von Paul Raabe. Frankfurt / Main: Fischer, 1970 ff. S. 131 f. 242 9. Dekonstruktion: Derrida und Nancy Vom Auffangen des Fremden hat Nancy gesprochen und im folgenden Satz beschreibt er dieses Auffangen als ein „Empfangen“ („Accueillir“), das logisch voraussetzt, dass das Eindringen des Fremden bemerkt worden ist. Zumeist will man „sein Eindringen nicht wahrhaben und ihn nicht einlassen“. Und nun folgen merkwürdige Sätze, die eines Kommentars bedürfen: Das Motiv des Eindringens bewirkt selbst ein Eindringen, ein Eindringen in jenes, was wir für moralisch halten, und in die berichtigende Funktion der Moral. Unsere Weigerung, das Eindringen wahrzuhaben und zu akzeptieren, ist sogar ein bemerkenswertes Beispiel für das Eindringen in die Richtung der political correctness. Das moralisch Richtige und Berichtigende setzt voraus, daß man den Fremden empfängt, indem man auf der Schwelle seine Fremdheit löscht. 66 Das ist nun eine sehr sublime und ironische, vielleicht auch etwas spitzfindige Kritik an der politischen Korrektheit, die es gebietet, den Fremden zu respektieren und zu empfangen. Aber das damit verbundene „moralisch Richtige“ löscht zugleich dessen Fremdheit, damit auch jenes unheimliche Moment des Eindringens, um das der Text kreist. Nancy lässt offen, ob es eine Alternative zum politisch korrekten Empfangen des Fremden gibt, geht aber in seiner Kritik dieser Moral davon aus, dass sie den Fremden ignoriert, der sich freilich durch diese Korrektheit in seinem invasiven Tun nicht beirren lässt. Das korrekte Ihn / Sie-Empfangen ist also wie das unkorrekte Ihn / Sie-Fernhalten dadurch gekennzeichnet, dass es das faktische Eindringen des Fremden ignoriert, nicht wahrhaben will. Auf diese Weise erzeugt der Text einen Schwebezustand. Er lehnt das Eindringen in den Bereich des Moralischen nicht schlichtweg ab, sondern beschreibt höchst ambivalent dessen Konsequenzen. In einem bestimmten politischen Diskurs darf der Fremde nicht als Eindringling bezeichnet werden, das hat indes zur Folge, dass er in einer möglicherweise illusorischen Wahrnehmung nicht mehr als der Eindringling wahrgenommen wird, der er ist, solange er ein Fremder bleibt. Statt diesen prekären Gedankengang fortzuführen, setzt der nun folgende Abschnitt mit einer völlig neuen, scheinbar unabhängigen Überlegung an, die im Wesentlichen zum Kernbestand der strukturalistischen Linguistik im Frankreich der Nachkriegszeit ( → -Kapitel 2) gehört und der in seiner philosophischen Konsequenz zur Konstatierung der menschlichen Ich-Spaltung führt ( → - Kapitel 7). Dieser theoretische Grundbestand der französischen Alteritätsphilosophie, wonach das aussagende Ich („sujet de l’enonciation“) dem ausgesagten Ich („sujet 66 Nancy, Der Eindringling, S. 8 f. 243 9.2. Jean-Luc Nancy: Der Fremde als Eindringling de son enoncé“) fremd bleibt, 67 wird nur in Klammer gleichsam aufgerufen, aber doch mit einem Gedanken mit dem vorigen Abschnitt verbunden. Nancy hatte in seiner Eingangsüberlegung den Fremden als Eindringling (bzw. das Fremde mit dem Phänomen des Eindringens) bezeichnet und eng geführt, also muss es in dem Bezug zwischen den beiden Ich ebenfalls ein solches Eindringen geben, ein Eindringen des Subjekts des Aussagens in das Subjekt der Aussage also, obschon dieses aussagende Subjekt ja, wie der Philosoph einräumt, wie „ein Schalthebel oder wie ein Herz“ im Hinblick auf das andere Ich funktioniert. 68 Was Nancy hier zur Anwendung bringt, ist die Kunst der Analogie: Zuerst wurde das Verhältnis von Eigenem und Fremden als Eindringen (und Empfangen) beschrieben. Diese Dynamik der Fremdheit wird nun auf die beiden Seiten des gespaltenen Ichs übertragen. Der Hauptsatz bringt aber nun eine weitere, für den Text entscheidende Analogie mit sich. Er lautet ohne Klammer: „Ich-[…] ich, also, habe vor bald zehn Jahren das Herz eines anderen erhalten.“ 69 Das fremde Herz, Untertitel der deutschen Version des Textes, ist also jener Eindringling, der in den Körper eines Subjektes implantiert wurde, das hier ein aussagendes Ich ist, das über das ausgesagte Ich berichtet, dass es mit einem fremden Herzen lebt. Wie in der Folge des Textes deutlich wird, komplizieren und vervielfältigen sich die Fremd-Bezüge. Das eigene unbrauchbar gewordene Herz wird zu einem Fremdkörper, 70 der am Ende durch die medizinische Transplantation abgestoßen wird. Zuvor aber lässt es das Fremd-Werden des eigenen Körpers spüren. Krankheit löst als Leben und Tod verbindendes Glied die Erfahrung der Fremdheit meines eigenen Körpers aus. Krankheit ist etwas, das in mich eindringt. Nancy wird später mit Hinweis auf den Krebs darauf zu sprechen kommen und diese spezifische Fremdheit ist es, die Angst und das „körperliche Gefühl einer Leere“ auslöst, in der es unmöglich wird „das Organische, das Symbolische, das Imaginäre auseinanderzuhalten“. 71 So wird zunächst das eigene Herz zum fremden Eindringling: „Mein Herz wurde nun zu meinem Fremdem.“ 72 Durch die Krankheit des real wie symbolisch so zentralen Körperorgans Herz entsteht also gleichsam ein Eindringen 67 Vgl. dazu Kapitel 8.3. 68 Nancy, Der Eindringling, S. 8 f. 69 Nancy, Der Eindringling, S. 8 f. 70 Nancy, Der Eindringling, S. 12 / 13: „Wenn mich mein eigenes Herz im Stich ließ-- wie sehr und wie weit war es dann ‚mein‘ Herz, ‚mein eigenes‘ Organ? “ 71 Nancy, Der Eindringling, S. 12 / 13. 72 Nancy, Der Eindringling, S. 14 / 15. 244 9. Dekonstruktion: Derrida und Nancy des Fremden, das die bisherige Selbstverständlichkeit des gesunden Menschen, sich einigermaßen reibungslos in seinem Leib vorzufinden, radikal in Frage stellt und eine unvorstellbare Fremdheit ankündigt, den (möglichen) Tod. Zu dieser Vertrautheit gehört auch, dass die gesunden Organe nicht selten fremd in jenem Sinn sind, dass sie gar nicht wahrgenommen würden. 73 In seiner philosophischen Analyse der eigenen existentiellen Erfahrung greift Nancy zur Metapher des Schiffs, das in Seenot geraten ist: „Eine einzige Vorstellung: über Bord gehen und zugleich an Deck bleiben.“ 74 Die folgenden Abschnitte sind von Überlegungen über die moderne technische Medizin und der ihr zugrunde liegenden, auf Descartes gründenden, Philosophie bestimmt. Mit diesem Programm hat die „moderne Menschheit den Wunsch nach einem Fortleben und nach der Unsterblichkeit“ auf die „Beherrschung und Aneignung der Natur“ 75 hin ausgerichtet. Die Wissenschaft, Erbin der religiösen Energie, möchte das Fremde, die Krankheit und den Tod, beherrschen und kontrollieren. Aber mit diesem Paradigma kommen neue Fremde und Götter ins Spiel, die in das Leben der Menschen eindringen, es kontrollieren und darüber bestimmen, wessen Leben es wert ist, durch die Implantation eines fremden Organs verlängert zu werden. 76 Mit der Transplantation gehen neue Alteritätserfahrungen Hand in Hand. Von einer „vielgestaltigen Fremde“, die „in mein Leben eindringt“, geht der Text aus und davon, dass deren polymorphe Gestalt der Tod sei oder, genauer, die Aufhebung eines „Seinszusammenhangs“ („un suspension du continuum d’être“), der durch die Relation von Leben und Tod bestimmt sei. Das moderne medizinische Subjekt erfährt das Mittel seines Überlebens als ein völlig „Fremdartiges“ („étrangeté complète“). 77 Nancy spricht von einer dreifachen „Fremdbestimmung“ („une triple emprise étrangere“) und hier nähert sich sein Modell, Fremdheit zu denken, jenem der Entfremdung an: Denn in dem gesamten Prozess der Transplantation, der hier beschrieben wird, geht es darum, dass der ‚eigene‘ Körper als fremder erscheint und zugleich durch die medizinische Operation-- Objekt der modernen Transplantationsmedizin-- enteignet wird. Ähnlich wie gegenüber der politischen Korrektheit zeigt sich der französische Philosoph hinsichtlich eines humanistischen Diskurses skeptisch, der die Idee der 73 Nancy, Der Eindringling, S. 16 / 17. 74 Nancy, Der Eindringling, S. 12 / 13. 75 Nancy, Der Eindringling, S. 12 / 13. 76 Nancy, Der Eindringling, S. 24 / 25 f. 77 Nancy, Der Eindringling, S. 26 / 27. 245 9.2. Jean-Luc Nancy: Der Fremde als Eindringling Spende und Gabe des Einen für den Anderen in den Mittelpunkt stellt. Zwar anerkennt der Text die moralische Verpflichtung, die mit der Möglichkeit der Transplantation verbunden ist, und spricht in diesem Zusammenhang davon, dass die Organverpflanzung die Situation einer „Vernetzung aller schafft“, aber das ändert nichts an der Erfahrung der Fremdartigkeit, die mit der Transplantation verbunden ist: „Doch es dauert nicht lange, bis sich der andere als Fremder kundtut. Nicht die Frau, nicht der Schwarze, nicht der junge Mann oder der Baske, sondern der durch seine Immunität gekennzeichnete andere, der ersetzbare andere, den man ersetzt hat.“ 78 Nancy unterscheidet an dieser Stelle ganz unzweideutig das kulturell Fremde, das Fremde, das ein Prädikat hat (z. B. weiblich, schwarz, jung), von einem prädikatlos Anderen und Fremden. Erstere Fremdheit bedeutet unzweifelhaft eine Irritation der eigenen Identität: das Herz einer Frau in sich zu haben, ein Herz, das womöglich jünger ist und im Körper eines Menschen geschlagen hat, der einer ganz anderen Kultur angehört hat. Im Verhältnis zu dem Anderen und der durch ihn evozierten Fremdheit kommt nun die „Immunität“ ins Spiel, die im Falle des menschlichen Körpers dazu führt, dass das Organ des Fremden von diesem „abgestoßen“ wird, was erhebliche medizinische Manipulationen erforderlich macht, die alle einem Zweck dienen, das eigene Immunsystem so zu schwächen, dass es das Eindringen des fremden Körperteils ermöglicht: „Der Eindringling befindet sich in mir: Ich werde mir selber fremd. Wenn es zu einer sehr heftigen Abstoßung kommt, muß man mich behandeln, damit ich den menschlichen Abwehrkräften widerstehen kann.“ 79 Diese Selbstentfremdung führt aber nun nicht dazu, dass das transplantationsmedizinisch traktierte Subjekt-- hier im Doppelsinn als Agens und als erleidendes Objekt-- nun dem Eindringling näher kommen würde. Ganz im Gegenteil: Das Eindringen, das ja vielfältige Spuren und Narben am behandelten Körper hinterlassen hat, vervielfältigt und verstetigt sich. Das führt zu einem Zustand, in dem der Körper von Fremdem auch von Feinden im Inneren (Viren) durchsetzt und zugleich Objekt der medizinischen Behandlung ist. Was hier geschieht, ist eine tendenzielle Gleichsetzung von Identität und Immunität. Identität steht an dieser Stelle für Immunität. Wenn man die Immunität schwächt, schwächt man auch die Identität. Fremdheit und Fremdsein werden 78 Nancy, Der Eindringling, S. 30 / 31 f. 79 Nancy, Der Eindringling, S. 32 / 33. 246 9. Dekonstruktion: Derrida und Nancy alltäglich und gemein. Das zeigt sich in einem ständigen Heraustreten aus mir selber: man muss mich messen, kontrollieren, testen. 80 Die moderne Transplantationsmedizin reproduziert auf die ihr eigene Weise den Befund einer Philosophie, die von der Fremdheit des eigenen Selbst ausgeht: „Welch seltsames und fremdes Selbst! / Quel étrange moi.“ 81 Aber diese Fremdheit ist eine, die zugleich mit meinem Ich verbunden wird, in der sich der Eindringling als mein Alter Ego erweist. In der Transplantation erfährt das gespaltene Ich dieses ‚Es‘ in seiner vollen Plastizität: Ich kann es genau fühlen, da es viel stärker ist als ein Gefühl: nie hat die Fremdheit meiner Identität, die ich stets deutlich empfunden habe, mich so heftig berührt und sich mit solcher Schärfe bemerkbar gemacht. Das ‚ich‘ ist deutlich zu einem formalen Index einer nicht nachprüfbaren und nicht faßbaren Verkettung geworden. Immer schon hat sich zwischen meinem Selbst und meinem Selbst ein Zeitraum erstreckt: doch jetzt ist da die Öffnung eines Einschnitts, das Unversöhnliche einer Immunität, der man in die Quere gekommen ist. 82 Die Spuren dieser Öffnung des Eigenen für das Fremde-Eindringliche verschwinden nicht, sondern lassen sich nicht mehr schließen. Sie manifestieren sich etwa im Auftauchen einer fremden Krebsgeschwulst, die, so die ärztliche Diagnose, das Ergebnis der Schwächung des Immunsystems ist: „Der Krebs ähnelt einer elenden, krummen und verwüstenden Gestalt des Fremden.“ 83 In der Selbstanalyse der Befindlichkeit seines Körpers, der traktiert und gerettet wird, tritt eine andere Dimension der Entfremdung zutage, die aber eine verblüffende Ähnlichkeit mit der ‚klassischen‘ Struktur der Entfremdung aufweist. Es ist das Eigene, das einem als Fremdes, Feindliches und Eindringliches gegenübertritt ( → -Kapitel 2.2). Die beschriebene Struktur ähnelt jenem Vorgang, den man mit dem „Aufpfropfen“ verbindet. Etwas Fremdes wird organisch mit dem Eigenen verbunden und schafft damit einen ‚künstlichen‘ Konnex, bei der man eigentlich nicht mehr beschreiben kann, was fremd und was eigen ist. 84 Insofern führt Nancy an einem extremen, nämlich selbst erfahrenen Beispiel vor, wie die Dekonstruktion die Relation von Eigenem und Fremdem sieht und wie sie, analog zur Spaltung des Ich, auch das Alteritäre als gespalten begreift. 80 Nancy, Der Eindringling, S. 34 / 35. 81 Nancy, Der Eindringling, S. 36 / 37. 82 Nancy, Der Eindringling, S. 38 / 39. 83 Nancy, Der Eindringling, S. 38 / 39. 84 Nancy, Der Eindringling, S. 48 / 49. 247 9.2. Jean-Luc Nancy: Der Fremde als Eindringling Problematisch mag anmuten, dass diese Fremdheit demgemäß nicht immer differenziert wird. Denn die Beschreibung, wie der Körper gegen das Fremde immun ist, lässt sich natürlich auf kulturelle Konflikte übertragen. Es ist kein Zufall, dass Fremde auch deshalb beargwöhnt werden, weil mit ihnen Seuchen, fremde Gesetze, Sitten und Vorstellungen verbunden werden, die in unseren kulturellen Raum eindringen und die als lebensgefährlich für den imaginären ‚Volkskörper‘ gelten. 85 Die sympathische Rhetorik, wonach uns die Fremden und das Fremde reicher machen und ohne Fremdes keine Erfahrung möglich ist, kann nicht vergessen machen, dass eben das Auftreten des Fremden in all seiner Vielfältigkeit Angst auszulösen vermag. Austößig im Sinn eines kritischen Arguments ist die Analogie, der Zauberstab der Romantik, dessen sich auch Nancy unter der Hand bedient, wenn er eine allgemeine Phänomenologie des Fremden als eines Eindringlings mit den medizinischen Phänomenen und Binnenerfahrungen moderner Transplantationsmedizin in Zusammenhang bringt. Aber die Analogie täuscht: Auch wenn Gemeinschaften gerne als körperlich homogene Einheiten imaginiert werden, stellen sie doch heterogene soziale Identitäten dar, die kein natürliches Immunitätssystem in sich tragen, dass deren ‚Identität‘ verbürgt. Vielmehr sind sie auch ohne den „Eindringling“ heterogen und in sich gespalten. Die organische Einheit ist ein kulturell bewirkter Effekt, eine durchaus wirksame Konstruktion, die tatsächlich- - in der Xenophobie- - zu den bekannten Abstoßungen führt. Würde man die Analogie zu Ende denken, dann wäre jede politische Intervention gegen sie eine gezielte Schwächung des Immunitätssystems moderner oder hypermoderner Einwanderungsgesellschaften. Das entspräche aber genau jenem Szenario, dass die Gegner von Migration immer wieder beschwören. Eine solche Lesart seines Textes hat Nancy gewiss nicht im Sinn, führt er uns doch an dem extremen Beispiel seiner lebensgefährdenden Krankheit vor, die Fremdheit des Eigenen und die aufgepfropfte Fremdheit zu akzeptieren-- aber daraus erwächst keine Utopie und keine Romantik des Fremden. 85 Girard, Der Sündenbock, S. 23. 248 10. Differenz und Fremdheit der Geschlechter 10. Differenz und Fremdheit der Geschlechter 10.1. Das andere Geschlecht. Diskurslinien nach Beauvoir „Die weibliche Sexualität ist immer von männlichen Parametern ausgehend gedacht worden“ 1 , notiert die 1930 geborene belgische Philosophin Luce Irigaray in einem der bekanntesten Texte des Feminismus der späten 1970er Jahre Das Geschlecht, das nicht eins ist (Ce sexe qui n’en pas un). Es handelt sich um einen Text, dessen doppelte Intention unverkennbar ist: Zunächst gibt es eine theoretische Dimension, die darauf abzielt, in Auseinandersetzung mit psychoanalytischen Standardtheorien neue Konzepte des weiblichen Geschlechts und seiner Sexualität zu erarbeiten. Diese sollen dann im Einklang mit der zweiten Frauenbewegung nach 1968 die Geschlechterverhältnisse im öffentlichen wie im privaten und intimen Bereich verändern. An dieser diskursiven Grundkonstellation hat sich, ungeachtet vieler Weiterentwicklungen seit den Tagen von Simone de Beauvoir (1906-1986), der Gründerfigur des modernen Feminismus, kaum etwas verändert. In den Divergenzen zwischen ‚essentialistischen‘ und ‚konstruktivistischen‘ Geschlechtertheorien, zwischen Luce Irigaray und Judith Butler, bleibt Beauvoir, die zum ersten Mal die Frau als das Andere der Normalität des Mannes hervorgehoben hat, die fortdauernde Bezugsperson. 2 Die Diskussion um Geschlechteridentitäten und -differenzen ist ohne die mitunter höchst kritische Bezugnahme auf die Psychoanalyse ebenso undenkbar wie die Reflexion dieses Themas als eines metapolitischen kulturellen Kampfs um Bedeutung im Sinne Gramscis. 3 In dieser Auseinandersetzung ist von Belang, dass „stratifikatorische“ Gesellschaften auf einer hierarchischen Zuordnung und Verortung sozialer, ethnischer und eben auch geschlechtlicher Differenz beruhen. Die strikte Trennung und Unterscheidung der Geschlechter insbesondere in solchen traditionellen sozialen Gemeinschaften stellt ein maßgebliches Moment bestehender Ordnungen dar, die dem Mann den öffent- 1 Irigaray, Luce: Das Geschlecht, das nicht eins ist. Berlin: Merve, 1979. S. 22. 2 Beauvoir, Simone de: Das andere Geschlecht. Deutsch von Uli Aumüller. Reinbek: Rowohlt, 2000. 3 Lauggas, Ingo P.: Hegemonie, Kunst und Literatur. Ästhetik und Politik bei Gramsci und Williams. Wien: Löcker, 2013. S. 112-117. 249 10.1. Das andere Geschlecht. Diskurslinien nach Beauvoir lichen Bereich, die Agorá, der Frau aber den privaten Raum, den Oikos, zuweist. 4 Dass dabei neben der Frage der Differenz auch jene verwandte, aber nicht identische der Fremdheit zum Tragen kommt, liegt auf der Hand. So ist die überraschende Analogie zwischen Freuds Aussage, wonach die weibliche Sexualität ein „dunkler Kontinent“ 5 ist, und jener Hegels, der Afrika als dunklen Kontinent bezeichnet, unübersehbar. 6 Diese Fremdheit ist eine perspektivische und sie resultiert aus dem von Irigaray konstatierten, überaus lange ungebrochenen männlichen Monopol, ‚die‘ Frau zu beschreiben und symbolisch zu fixieren. Diese Situation macht intrakulturell besehen die historische Asymmetrie der traditionellen Geschlechterverhältnisse sinnfällig. Zu dieser Asymmetrie gehört auch vom Aktporträt bis zum Hollywood-Film, 7 dass der Mann als das begehrende Subjekt, die Frau aber das sich zur Schau stellende Objekt konfiguriert. Das Monopol der begehrlichen Betrachtung wie jenes der wissenschaftlichen Fixierung des ‚anderen‘ Geschlechts gehen bis zu einem gewissen Grad Hand in Hand, basieren sie doch auf derselben gespaltenen Subjekt-Position, die der Frau die passive, dem Mann die aktive Rolle zuweist. In vielen, zum Teil höchst anspruchsvollen Texten des okzidentalen Modernismus kommt es zu einer Koppelung von sexueller mit ethnischer, sprachlicher oder ‚rassischer‘ Fremdheit. Die Frau ist dabei nicht nur signifikant anders als der Mann, sondern sie ist ein anziehendes wie abschreckendes Wesen. Ihre ‚Dunkel- 4 Aristoteles, Politik, § 1252a, S. 75; Höffe, Otfried: „Aristoteles. Politik“. In: Bocker, Manfred: Geschichte des politischen Denkens. Ein Handbuch. Frankfurt/ Main: Suhrkamp, 2007. S. 31-46. 5 Freud, Sigmund: „Die Frage der Laienanalyse“. In: Freud, Anna: Gesammelte Werke. Band XIV . Frankfurt / London: Fischer, 1948. S. 209-306. (inklusive Nachwort), im speziellen S. 241: „[…]-ist doch auch das Geschlechtsleben des erwachsenen Weibes ein dark continent für die Psychologie.“; Saiber, Linde: Der dunkle Kontinent. Freud und die Frauen. Reinbek: Rowohlt, 2006; Sehr differenziert gegenüber einer Pauschalkritik an Freud ist der Aufsatz von: Rainer, Petra: „Der dunkle Kontinent spricht! Karen Horney und Simone de Beauvoir als Avantgarde“. In: http: / / www.psychoanalyse-salzburg.com / sap_ zeitung / pdf / Rainer.pdf, heruntergeladen am 05. 03. 2016. 6 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: „Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte“. In: Theorie Werkausgabe. Hg. von Eva Moldenhauer und Karl Markus Michel. Frankfurt / Main: Suhrkamp, 1970. S. 120-129. Vgl. Frank, Michael C.: Kulturelle Einflussangst. Inszenierungen in der Reiseliteratur des . Jahrhunderts. Bielefeld: transcript, 2006. S. 131. 7 Silverman, Kaja: The Acoustic Mirror. The Female Voice in Psychoanalysis and Cinema. Bloomington: Indiana University Press, 1988. 250 10. Differenz und Fremdheit der Geschlechter heit‘ ist unübersehbar mit dem Geschlechtsorgan, der Vagina verbunden, in der zum Beispiel der männliche Held in Robert Musils Erzählung Grigia gefangen bleibt. 8 Ob als kreatürliches Naturwesen oder als raffinierte Verführerin, oft wird ‚die‘ Frau in männlichen Bildkonstruktionen und Imaginationen als fremd, unheimlich und unbekannt wahrgenommen, was sie mitunter, z. B. bei Robert Musil oder bei seinem Freund Robert Müller (Die Tropen) in die Nähe zum Tier rückt, zu einem fremden ethnischen Stamm oder sie auch zu einer überhöhten, zuweilen furchterregenden mythischen Gestalt macht. Bei Gustave Moreau, den Präraffaeliten, den Symbolisten und den Malern und Dichtern der Jahrhundertwende lässt sich durchaus von einem kunstvoll arrangierten, zuweilen auch untergründig ironischen Tableau des Weiblichen sprechen. Eines der bekanntesten das Stereotyp durchbrechende Bild ist in diesem Zusammenhang Fernand Khnopffs Die Kunst oder die Liebkosungen oder die Zärtlichkeit der Sphinx aus dem Jahr 1896. Es handelt sich um ein Gemälde, das sowohl das Thema der Frau als des absoluten anderen, mit dem Männlichen inkompatiblen Wesen, als auch die Figur der mythischen Sphinx ironisch untergräbt. Mit dem irritierten, nur halb bekleideten jungen Mann und der möglichen Identifikation mit der weiblichen Figur ergeht eine Einladung an die Betrachterin des Bildes und damit auch eine Umkehrung der männlich markierten Schaulust: Abb. 4 Fernand Khnopff, Liebkosungen (Die Zärtlichkeit der Sphinx) (1896) In Khnopffs Bild ist der Schrecken des jungen Mannes durchaus gemäßigt und die wohl ältere Raubtier-Frau, die sich mit ihrer Tatzenhand der männlichen 8 Müller-Funk, Wolfgang: „Die Frau und das Fremde“. In: Komplex Österreich. Fragmente zu einer Geschichte der modernen österreichischen Literatur. Wien: Sonderzahl, 2009. S. 195-205. 251 10.1. Das andere Geschlecht. Diskurslinien nach Beauvoir Leibesmitte und damit dem verdeckten Genital des Mannes nähert, hat die Augen geschlossen und lehnt sich mit ihrem Gesicht fast zärtlich an das des jungen Mannes, dessen Gesichtsausdruck Ratlosigkeit verrät. Schon der Mythos der Amazonen, den Heinrich von Kleist in seinem Drama Penthesilea bearbeitet hat, beruht auf einem solchen Komplex: Die Frauen werden als ein fremdes kleinasiatisches Volk beschrieben, das unerwartet auf dem Kampfplatz von Troja erscheint. Auch im Falle der Medea beruht die Weiblichkeitskonstruktion darauf, dass die Frau hier ethnisch fremd und daher affektiv ungebremst ist, in ihrer unbändigen Liebe zu Jason wie in ihrer Rache. 9 Eine systematische, kulturwissenschaftliche Imagologie des Weiblichen liegt, trotz unzähliger Studien zu einzelnen Motiv- und Stoffbereichen, 10 nicht vor. In ihr würde zutage treten, dass das Bild des ‚anderen‘ Geschlechts beträchtliche Wandlungen erfahren hat. Zu denken ist an die platonisch-romantische Idee, dass Mann und Frau Komplemente sind (auch Theorien des Androgynen gehören letztendlich in diesen Bereich), 11 den Universalismus aufklärerischer Konzepte, der die Differenz programmatisch ausblendet, oder eben an jene ‚klassischen‘ modernistischen Konzepte, die nicht selten von der Inkompatibilität und darüber hinaus von der prinzipiellen Inferiorität des ‚Weibs‘ ausgehen. 12 Otto Weiningers höchst einflussreiche Studie Geschlecht und Charakter, ein philosophisches Manifest der Wiener Jahrhundertwende, ist die wohl radikalste Version einer sexistischen Konstruktion des anderen Geschlechts, deren strukturelle Ähnlichkeit zum Rassismus-- in diesem Fall zur Bildkonstruktion des ‚Jüdischen‘-- unverkennbar ist. 13 In dem heute vornehmlich kulturgeschichtlich interessanten Werk des jüdischen Philosophen wird die skandalisierte Sexualität ausschließlich der Frau zugeschrieben. 14 Insofern ist, spätestens seit dem Diskurs der Psychoanalyse, 9 Mingjun, Lu: Wahnsinn der Medea. Eine Studie zu Grillparzers Trilogie ‚Das goldene Vließ‘ und Jahnns Drama ‚Medea‘. Heidelberg: Mattes, 2013. 10 Hermanns, Fritz: Der Sitz der Sprache im Leben. Beiträge zu einer kulturanalytischen Linguistik. Berlin: de Gruyter, 2012. S. 52-59. 11 Platon: Das Trinkgelage. Übertragung von Ute Schmidt-Berger. Frankfurt / Main: Insel, 1985. S. 47 f. Prinz, Ursula (Hg.): Androgyn. Sehnsucht nach Vollkommenheit (Ausstellung Neuer Berliner Kunstverein / Kunstverein Hannover 1987). Berlin: Reimers, 1987. 12 Müller-Funk, „Die Frau und das Fremde“, S. 196. 13 Weininger, Otto: Geschlecht und Charakter. München: Matthes & Seitz, 1980. S. 342-402. 14 Vgl. Weininger, Geschlecht und Charakter, S. 425-43: Die Gemeinsamkeit, die Weininger zwischen dem ‚Juden‘ und dem ‚Weib‘ herstellt, sind Mangel an Tiefe und Unmittelbarkeit, Materialismus, Sinnlichkeit, und Beweglichkeit. Die Frau ‚ist‘ nicht, weil sie sich ständig maskieren kann. 252 10. Differenz und Fremdheit der Geschlechter keine theoretische Diskussion über die Alterität der Geschlechter mehr denkbar, die den Zusammenhang zwischen Geschlechterposition und sexuellem Begehren ausblendet. Mit Blick auf die gegenwärtige Situation lassen sich innerhalb des gegenwärtigen post-psychoanalytischen Geschlechter-Diskurses vereinfacht gesprochen zwei konträre Konzepte unterscheiden. Die eine Position hat wie die klassische Psychoanalyse eine anthropologische Dimension. Sie basiert auf der Annahme, dass sich Geschlechterverhältnisse nicht verändern und geht davon aus, dass zwischen den beiden Geschlechtern unüberwindliche Differenzen bestehen. Diese Unterschiede markieren eine letztlich unaufhebbare Grenze zwischen den Geschlechtern und ihren jeweiligen Begehrensweisen. Diese Auffassung möchte dem weiblichen Begehren und seiner Repräsentation ebenso Raum schaffen wie sie diesen für die Frau als politisches Subjekt (hier im emphatischen Sinne) reklamiert. Solche Differenztheoretikerinnen sind etwa Luce Irigaray oder auch Julia Kristeva. Diese wird vornehmlich aus der Perspektive ihrer Kritikerinnen als essentialistisch und differenzfeministisch bezeichnet. 15 Eine gegenläufige, heute im akademischen Bereich dominante Position vertritt die Geschlechtertheorie Judith Butlers und ihres Umfeldes. Sie geht davon aus, dass sexuelle Positionen stets kulturelle Konstruktionen darstellen. Zu dieser Konstruktion gehört Butler zufolge auch die Polarität von Mann und Frau und die damit verbundene Heterosexualität, die im Sinne Michel Foucaults als ein Zwangsregime beschrieben und analysiert wird, das weibliche und männliche ‚Identität‘ generiert. Butler dekonstruiert aber nicht nur im Sinne der Derridaschen Philosophie die binäre Opposition von Mann und Frau, sondern auch jene zwischen biologischem Geschlecht (sex) und der jeweiligen soziokulturellen Geschlechterrolle (gender), die ein Mann bzw. eine Frau in einer bestimmten Gesellschaft einnehmen und die sich aus der jeweiligen Interpretation von ‚Mann‘ und ‚Frau‘ ergibt. Im Anschluss an einen Aufsatz von Gayle Rubin The Traffic in Women. The Political Economy of Sex (1975) notiert Butler: Mit der Auflösung des Zwangscharakters der Heterosexualität und dem gleichzeitigen Entstehen von bi- und homosexuellen kulturellen Möglichkeiten würde nach Rubins Vorstellung zugleich auch die Geschlechtsidentität als solche zusammenbrechen. Insofern man die Geschlechtsidentität als kulturelle Verwandlung einer biologischen 15 Einen Brückenschlag zwischen diesen scheinbar inkompatiblen Positionen unternimmt das Buch von: Stoller, Silvia: Existenz-- Differenz-- Konstruktion. Phänomenologie der Geschlechtlichkeit bei Beauvoir, Irigaray und Butler. München: Fink, 2010. S. 9-35. 253 10.2. Luce Irigaray: Das Geschlecht, das nicht eins ist Polysexualität in eine kulturell angeordnete Heterosexualität versteht und von dieser Heterosexualität ihrerseits diskrete, hierarchische, geschlechtlich bestimmte Identitäten (gender identities) entwickelt, um ihr Ziel zu erreichen, müßte Rubin zufolge der Zusammenbruch des Zwangscharakters der Heterosexualität logischerweise auch zum Zusammenbruch der Geschlechtsidentität selbst führen. 16 Butlers Vorbehalt gegenüber Rubin besteht vornehmlich in dem von dieser angenommenen Urzustand einer ursprünglichen biologisch-natürlichen „Polysexualität“, die durch die Implosion des heterosexuellen Zwangssystems zutage tritt. Sie stimmt jedoch in der Tendenz mit ihr überein, dass dessen Zusammenbruch die alte Frage nach der Identität und Differenz der Geschlechter als überholt erscheinen lässt. Wenn ‚Identität‘ von Interesse ist, so nur mehr als Gegenstand einer ambitionierten Dekonstruktion, die deren ‚ideologische‘ Funktion freilegt. So wie der dekonstruktivistische Diskurs im Bereich kultureller Fremdheit den ‚Multikulturalismus‘ auflöst und zersetzt (→-Kapitel 9), so zielt die Intention von Butlers erstem programmatischen Buch auf die Ablösung nicht nur des Paradigmas der Heterosexualität, sondern auch jenes einer ‚natürlichen‘ Polysexualität (im Sinne Rubins). So wie die erste und die zweite Kultur zugunsten von Hybridität und dritten Räumen in den Hintergrund treten, so lösen sich ‚Mann‘ und ‚Frau‘ in Formen von sexueller Hybridität auf. Ob die traditionelle Geschlechteridentität sich vollständig auflösen lässt oder nicht schon rein logisch die Voraussetzung für jenes hybride Dritte bildet, hält Butlers programmatisches Buch in der Schwebe. 17 In dem Maße, in dem Hybridität zum kulturellen Maß wird, verschwinden auf paradoxe Weise Alterität und Fremdheit, dann nämlich, wenn Heterogenität auf eigenartige Weise Zuschreibung dessen wird, was aufgelöst werden soll: Identität. 10.2. Luce Irigaray: Das Geschlecht, das nicht eins ist Ausgangspunkt von Irigarays Überlegung zur Alterität des weiblichen Geschlechts ist die auf Beauvoir zurückgehende These, wonach ‚die‘ weibliche Sexualität stets von Männern erforscht worden sei. Deshalb kommt in dem Buch Das Geschlecht, das nicht eins ist, das insgesamt elf Aufsätze enthält, jene zweite Generation des psychoanalytischen Diskurses zu Wort, unter denen sich so gewichtige Theoretikerinnen wie Karen Horney oder Melanie Klein befinden. Der diskursive Ort, 16 Butler, Judith: Das Unbehagen der Geschlechter. Deutsch von Kathrina Menke. Frankfurt / Main. Suhrkamp, 1991. S. 117. 17 Butler, Das Unbehagen der Geschlechter, S. 117. 254 10. Differenz und Fremdheit der Geschlechter über Alterität, Differenz und Hybridität von Geschlecht und Geschlechtlichkeit zu diskutieren, ist bis heute post-psychoanalytisch. Das heißt, er nimmt immer wieder-- kritisch und zuweilen auch zustimmend-- Bezug auf die Psychoanalyse. Die Eingangsthese Irigarays mag heute-- angesichts der Vielzahl gewichtiger Theoretikerinnen-- vielleicht überholt erscheinen, ist aber historisch betrachtet nur schwer zu bestreiten. Ausgangspunkt ihrer Theorien ist die Bezugnahme auf zwei Männer; auf den einen, der den psychoanalytischen Diskurs begründet hat, und auf den anderen, der ihm eine neue Richtung gewiesen hat: Freud ( → -Kapitel 3) und Lacan ( → -Kapitel 7). Freud und seine Schule nähern sich „dem dunklen Kontinent der weiblichen Sexualität“ 18 auf zwei Ebenen, auf einer ausgesprochen physisch-körperlichen, in der die Beschaffenheit der Geschlechtsorgane die weibliche Sexualität ins Blickfeld rücken, sowie auf einer relational-inter-subjektiven, in der das Verhältnis von weiblichem, Kind, Vater und Mutter maßgeblich sind. In dieser konfliktreichen und weiblich-ödipalen Relation konstituiert sich so etwas wie weibliche ‚Identität‘. Was Freud vorträgt, ist ein anthropologisches Modell. Lacan wiederum, dessen Analyse ebenfalls anthropologisch argumentiert, schwächt den physiologischen Aspekt insofern ab, als er den Penis, dessen Fehlen Freud als Mangel des Weiblichen ins Zentrum rückt, durch den Phallus ersetzt, den er zugleich als ein symbolisches Prinzip versteht. Deshalb kann Lacan davon sprechen, dass der Mann einen Phallus hat, dessen Begehren sich- - im Falle der Heterosexualität-- auf den Körper der Frau richtet, von der er sagt, dass sie ein Phallus sei. „Als Signifikant“, schreibt Liliane Weissberg, „befindet sich der Phallus immer am Ort des Anderen, das begehrt wird.“ 19 Die amerikanische Psychoanalytikern führt die auf den ersten Blick befremdliche These vom phallischen ‚Da-Sein‘ der Frau aus, wenn sie schreibt: Der Begriff des Begehrens, den Lacan an dieser Stelle einführt, bezeichnet damit die Gespaltenheit des Subjekts. Und gerade diese Struktur des Begehrens, die dem Subjekt Einheit verweigert, macht die Bedeutung des Phallus aus. Diese Bedeutung ist für Mann und Frau verschieden, und ihre Positionen dem Phallus gegenüber scheinen inkompatibel. Denn während der Mann des Phallus besitzt, so ist die Frau der Phallus. Phallus zu sein stellt dabei ein Paradox dar. Die Frau als Objekt repräsentiert das Andere 18 Ein kritischer Überblick zu dem Thema findet sich bei: Rainer, Petra: „Der dunkle Kontinent spricht! Karen Horney und Simone de Bauvoir als Avantgarde“. In: SAP - Zeitung, Nr. 14, 2009, http: / / www.psychoanalyse-salzburg.com / sap_zeitung / pdf / Rainer.pdf, heruntergeladen am 05. 03. 2016. 19 Weissberg, Liliane: „Gedanken zur Weiblichkeit. Eine Einführung“. In: Dies. (Hg.): Weiblichkeit als Maskerade. Frankfurt / Main: Fischer, 1994. S. 7-33. Hier: S. 7. 255 10.2. Luce Irigaray: Das Geschlecht, das nicht eins ist und gleichzeitig das Begehren des Anderen; sie dient der männlichen Selbstdefinition. Indem die Frau Phallus ist, zeigt sie gleichzeitig dessen Abwesenheit, den Mangel, die Ursache der Kastrationsangst. 20 In dem hier referierten Standardmodell Lacans wird der Phallus mit dem sexuellen Begehren schlechthin, dem weiblichen wie dem männlichen, enggeführt. Die Gespaltenheit des Subjekts ergibt sich daraus, dass es sich geschlechterspezifisch das eine Mal als Besitz und das andere Mal als Sein manifestiert. Lacan neutralisiert die Asymmetrie insofern, als der Mann nun ebenfalls einen Mangel aufweist. Denn er bedarf der Repräsentation durch das Weibliche, das das Andere und die Sexualität des (männlichen) Anderen bedarf. Die Frau hat in dieser Relation, die ohne Alterität nicht denkbar ist, eine repräsentative und zugleich dienende Funktion. Zugleich aber ist ihr ‚Mangel‘-- der fehlende Besitz des Phallus--, insofern die Frau selbst das Zentrum des Phallischen bildet, zugleich exklusiv: Er ist Signifikant des männlichen und des eigenen Begehrens. Unverkennbar, und darauf spielt der Titel von Irigarays Aufsatz an, besteht die Differenz zwischen Mann und Frau auch darin, dass ihre Gespaltenheit noch eine viel tiefer liegende Dimension besitzt als im Falle des Mannes. Die Formel Das Geschlecht, das nicht Eins ist beschreibt den Unterschied zu jenem Geschlecht, das „eins“ ist, dem Mann. Die Frau ‚ist‘ nicht „eins“. Sie besitzt-- wohl im Unterschied zum Mann, der den Phallus ‚hat‘,-- keine eindeutige Identität, sie ist heterogen und ‚hybrid‘. Wenn die Frau zudem nicht ‚eins‘ ist, dann liegt es nahe zu fragen, ob sie ‚zwei‘ oder gar ‚drei‘ ist. Oder ob die Frau anders als der Mann, in einem durchaus paradoxen Sinn Mann und Frau zugleich ist. Aber dabei gerät die durch das ‚ist‘ markierte essentielle Zuschreibung gleichsam ins Schlittern. Aus dieser ‚zwiespältigen‘ Bestimmung des Weiblichen resultiert jene Zuschreibung, die Joan Riviere und Jacques Lacan, aber auch Irigaray als „Maskerade“ beschrieben haben ( → -Kapitel 10.4.). Irigarays Text setzt mit Freuds Denkmodell zur weiblichen Sexualität ein. Diese basiert auf einer Opposition, die physiologisch ‚bestimmt‘ ist: Die Klitoris wird als kleiner Penis begriffen, der die aktive, männliche Sexualität in der Frau repräsentiert. Demgegenüber stellt die Vagina die passive-weibliche Sexualität als „‚Herberge‘ des männlichen Geschlechts“, den ‚Ort‘ weniger des eigenen als eines fremden Begehrens dar. 20 Weissberg, „Gedanken zur Weiblichkeit“, S. 7. 256 10. Differenz und Fremdheit der Geschlechter In dieser Konstruktion der weiblichen Sexualität ist jene auf doppelte Weise mangelhaft, hier „ein Klitoris-Geschlecht, das den Vergleich mit dem wertvollen phallischen Organ nicht standhält“, dort ein „Schlupf-Loch, das den Penis beim Koitus umschließt und reibt: ein Nicht-Geschlecht, oder ein männliches Geschlecht, das sich umgestülpt hat, um sich selbst zu affizieren“. 21 Irigaray kritisiert die psychoanalytischen Standard-Modelle Freuds und Lacans, und zwar nicht auf einer psychoanalytisch-anthropologischen Ebene, sondern zunächst im Hinblick auf deren gesellschaftliche Konsequenzen, führen sie doch zu einer weiblichen Identität, in die die Subordination eingeschrieben ist: Von der Frau und ihrer Lust ist bei einer solchen Konzeption des Geschlechtsverkehrs nicht die Rede. Ihr Los wäre das des ‚Mangels‘ und der ‚Verkümmerung‘ (des Geschlechts) und des ‚Penisneids‘ gegenüber dem Penis als dem einzigen als wertvoll anerkannten Geschlecht. Sie müßte daher mit allen Mitteln danach streben, sich den Penis anzueignen: durch ihre etwas servile Liebe zum Vater/ Gatten, der fähig ist, ihr den Penis zu geben, durch ihren Wunsch nach einem Penis-Kind, das am liebsten ein Junge sein soll-[…]. Die Frau könnte ihren Wunsch nur als Hoffnung erleben, endlich ein Äquivalent des männlichen Geschlechts zu besitzen. 22 Diese männliche ‚Zuschreibung‘ weiblicher Sexualität, die sich einer „dominierenden phallischen Ökonomie“ 23 verdankt, wird nun programmatisch abgewiesen. Im Folgenden entwirft die Autorin das Konzept einer „weiblichen Sexualität“, die nicht mehr am Phallus orientiert ist und in der es um jene Anerkennung des eigenen Geschlechts geht, die es in den psychoanalytischen Standardmodellen nicht gibt. Die Schülerin Lacans bringt nun ein Phänomen ins Spiel, das in den Standard-Modellen so nicht vorkommt: die Berührung. Das deutsche Wort hat eine dreifache Bedeutung: Berührung ist zunächst ein haptisches Verhalten, sie kann zudem Erregung generieren, sie verweist aber auch auf einen Modus von Emotion, der sich im Spannungsverhältnis Fremd- und Selbstbezug entfaltet. Irigaray fragt nach der Differenz der Auto-Erotik bei Mann und Frau. Irigaray behauptet, dass zwischen der männlichen und der weiblichen Auto-Erotik gravierende Unterschiede bestünden. Der Mann bedarf zu seiner ‚Berührung‘ eines „Instru- 21 Irigaray, Das Geschlecht, das nicht eins ist, S. 22. 22 Irigaray, Das Geschlecht, das nicht eins ist, S. 21 f. 23 Irigary schwankt übrigens zwischen dem Terminus „Penis“ und „Phallus“ und hebt damit die Differenz zwischen dem konservativeren Modell Freuds und dem ‚egalitäreren‘ Lacans wieder auf. 257 10.2. Luce Irigaray: Das Geschlecht, das nicht eins ist ments“: seiner Hand (im Falle der Masturbation), des Geschlechtsorgans der Frau (im Falle des Koitus) und der erregenden Sprache der Emotion. Demgegenüber ist die Auto-Erotik der Frau selbstgenügsam und autonom, sie braucht keine instrumentelle Hilfe. Das hängt mit einem physiologischen Detail ihres Geschlechts zusammen: Die Frau ‚berührt sich‘ immerzu, ohne daß es ihr übrigens verboten werden könnte, da ihr Geschlecht aus zwei Lippen besteht, die sich unaufhörlich aneinander schmiegen. Sie ist also in sich selbst schon immer zwei, die einander berühren, die jedoch nicht in eins (einen) und eins (eine) trennbar sind. 24 Das ist eine überaus poetische, theoretisch indes folgenreiche Beschreibung, die als körperliche Erfahrung wie auch im Sinne der „Selbstaffektion“ verstanden werden kann; sie zielt in letzter Konsequenz darauf ab, dass sich die Frau sexuell besehen potentiell im Status der emotionalen Selbstbezüglichkeit befindet, die keines Hilfsmittels und keines Außen bedarf. Dieses Konzept wird Irigaray in ihren späteren Werken Speculum. Spiegel des anderen Geschlechts 25 und in Ethik der sexuellen Differenz vertiefen. In letzterer Publikation beschreibt sie die Schamlippen als „Paradigma des Übergangs“ und als zentralen Beleg für ‚uneinse‘ weibliche Sexualität. 26 Durch sie kommt ein Moment der Zärtlichkeit ins Spiel, wie sie ja auch mit den Lippen jenes Mundes verknüpft sind, den Mann wie Frau ‚besitzen‘. Es ist naheliegend, dass eine solche Position, die „aus einer spezifisch weiblichen Sexualität abzuleiten“ versucht, „im Brennpunkt anti-essentialistischer Argumente“ stehen, wie Butler unter Bezugnahme auf Monique Wittig schreibt. 27 Die weibliche Selbstaffektation, die aus der gegenseitigen Berührung der Schamlippen resultiert, wird durch ein „gewaltsames Einbrechen“ suspendiert, 24 Irigaray, Das Geschlecht, das nicht eins ist, S. 23. Zu Irigarays Ontologie vgl. Stoller, Existenz-- Differenz-- Konstruktion, S. 315. 25 Irigaray, Luce: Speculum. Spiegel des anderen Geschlechts. Frankfurt / Main: Suhrkamp, 1980. 26 Irigaray, Luce: Ethik der sexuellen Differenz. Frankfurt / Main: Suhrkamp, 1991. S. 18; vgl. Treusch-Dieter, Gerburg: „Luce Irigaray: Speculum. Spiegel des anderen Geschlechts“. In: Löw, Martina / Mathies, Bettina (Hg.): Schlüsselwerke der Geschlechterforschung. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften, 2005. S. 72-96. Hier: S. 73 f. 27 Butler, Judith: Das Unbehagen der Geschlechter. Aus dem Amerikan. von Kathrina Menke. Frankfurt / Main : Suhrkamp, 1991. S. 56 und S. 226. 258 10. Differenz und Fremdheit der Geschlechter „dem brutalen Spreizen dieser Lippen durch einen vergewaltigenden Penis“. 28 Aber zugleich bedeutet der Koitus den Übergang von der Auto-Erotik zur Hetero- Erotik, von einer einsamen Sexualität zu einer zu zweit, die indes misslingt. In der von Irigaray als phallisch bezeichneten Ökonomie kommt das weibliche Begehren, die „Lust, sich zu berühren“ nämlich nicht mehr vor. Sie ist gelöscht. Für die gewaltsam aufgelöste weibliche Auto-Erotik scheint es, so wird dies hier suggeriert, keine angemessene positive Transzendierung im Sinne eines ‚Aktes‘ zu geben, in dem das spezifisch weibliche Begehren seinen Platz findet. Sie wird vor die unmögliche Wahl zwischen einer selbstbezüglichen „defensiven Virginität“ und einer willigen Öffnung ihres Körpers für die Penetration gestellt. Die heteroerotische Szene ist von „männlichen Phantasien“ besetzt. Es erinnert an Elfriede Jelinek, 29 wenn Irigaray formuliert: Aber diese Lust ist vor allem masochistische Prostitution ihres Körpers für einen Wunsch, der nicht der ihre ist; das beläßt sie in diesem Zustand der Abhängigkeit vom Mann, den man ihr zuweist. Nicht wissend, was sie will, ist sie zu allem bereit, bettelt sogar immer wieder darum, er möge sie doch als ‚Objekt‘ zur Ausübung seiner Lust ‚nehmen‘. Sie, sie wird also nicht sagen, was sie begehrt. Sie weiß es außerdem nicht, oder nicht mehr. 30 Statt das Begehren von Mann und Frau auf ein ‚phallisches‘ Begehren zurückzuführen, geht Irigaray davon aus, dass das männliche und das weibliche Begehren unauflösbar verschieden sind. Wird das weibliche Begehren, wie die Szene der sich immerfort berührenden Schamlippen es nahelegt, durch die Dominanz der Berührung bestimmt („die Frau genießt mehr durch die Berührung als durch den Blick“), so ist das männliche Begehren vom Vorrang eines objekthaften Blicks „und der Absonderung der Form“ getrieben. Die Pointe des Arguments besteht darin, dass die Frau unter den gegebenen gesellschaftlichen Bedingungen der „herrschenden skopischen Ökonomie“ unterworfen wird, die sie in die passive Rolle drängt. Das beginnt damit, dass sie zum schönen Objekt wird, das sich für den Mann zur Schau stellt, während ihr Geschlecht „den Schrecken“ repräsentiert, 28 Butler, Das Unbehagen der Geschlechter, S. 117. 29 Jelinek, Elfriede: Gier. Ein Unterhaltungsroman. Reinbek: Rowohlt, 2000. S. 124. Der Text operiert mit einem Gestus des zynischen Neins: „Sie klaffen schon, kaum daß sie von ihm berührt wurden, von ihm, nur von ihm, meine Schamlippen, obwohl ich sie hinter mir, aber noch vor der Welt zuschlagen wollte, diese Klappen mit ihren ganz eigenen Empfindungen.“ 30 Irigaray, Das Geschlecht, das nicht eins ist, S. 24. 259 10.2. Luce Irigaray: Das Geschlecht, das nicht eins ist dass „nichts zu sehen“ ist. Das Geschlecht, das nicht eins ist, ist zugleich eines, „das sich nicht sehen lässt“. Dessen subtiles Begehren ist in einer Kultur, die von den Phantasmen und Imaginationen des „Phallomorphismus“ bestimmt ist, systematisch blockiert. 31 Aus der kulturellen Tatsache der systematischen Verdrängung der weiblichen Sexualität erklärt sich für Irigaray auch, warum die Frau und ihr Geschlecht ein „Mysterium“ und damit fremd bleiben. An dieser Stelle des Aufsatzes streift der radikale Differenz-Feminismus an den Entfremdungsdiskurs und seine Narrative (→-Kapitel 11) an, wenn die Autorin von einem „Berührungstabu einer weitgehend besitzergreifenden Zivilisation“ spricht, von der die Frau, deren Begehren sich Irigaray zufolge aus der Berührung speist, ganz direkt betroffen ist. Wenn sich das auf Penetration und Blick konzentrierte männliche Begehren und das auf die sanfte Berührung hin orientierte weibliche verfehlen, so bleibt, wie die Autorin einräumt, die Möglichkeit des Kindes, die die Frau für ihre sexuellen Frustrationen und für die „Versagungen einer verdrängten weiblichen Sexualität“ entschädigt. Während der Koitus, wenigstens unter den Bedingungen der phallischen Ökonomie, zum Scheitern verurteilt zu sein scheint, ermöglicht das gemeinsame Kind eine zärtliche Vermittlung zwischen den beiden Geschlechtern. Es ist wohl nicht ironisch gemeint, wenn Irigaray überraschenderweise schreibt: „Am liebsten ein Junge“, um dies sodann, wie folgt, zu begründen: „Der mit dem Sohn identifizierte Mann findet die Lust an der mütterlichen Zärtlichkeit wieder, die Frau berührt sich (wieder), indem sie jenen Teil ihres Körpers: ihr Klitoris- Penis-Baby liebkost.“ 32 Worauf der programmatische Aufsatz, dessen Gestus des Suchens und Fragens unübersehbar ist, zusteuert, ist die Auflösung der verdrängten weiblichen Sexualität, die Irigaray noch einmal zu fassen versucht. Folgende Definitionen hat der Text in seinem eher kreisenden Argumentationsverlauf vorgestellt: 1. Das Geschlecht, das nicht eins ist. 2. Das Geschlecht, das sich nicht sehen lässt. 3. Das Geschlecht, das nicht ein Geschlecht ist. 33 Die Pointe all dieser Zuschreibungen besteht darin, dass sie, höchst absichtsvoll, nicht eindeutig sind: Das negierte ‚eins‘ ist zum einen numerisch gemeint, 31 Irigaray, Das Geschlecht, das nicht eins ist, S. 25. 32 Irigaray, Das Geschlecht, das nicht eins ist, S. 25 f. 33 Irigaray, Das Geschlecht, das nicht eins ist, S. 26. 260 10. Differenz und Fremdheit der Geschlechter zum anderen als einheitlich zu verstehen. Darüber hinaus schwankt das ‚ein‘ in der dritten (vermeintlichen) Definition wiederum zwischen numerischer und konnotativer Konnotation. Das weibliche Geschlecht ist entweder nicht bloß ein Geschlecht oder es ist kein Geschlecht im Sinne des männlichen Geschlechts. An einer zentralen und verdichtenden Stelle versucht Irigaray diese Doppeldeutigkeit aufzuzeigen, wenn sie meint: „Die Frau hat also kein Geschlecht. Sie hat mindestens zwei, die jedoch nicht als zwei identifizierbar sind.“ 34 Das im Vergleich zur männlichen Sexualität ungreifbare, aber plurale weibliche Begehren beruht auf der Vielgestaltigkeit der Lustquellen des weiblichen Körpers, der die Einzigartigkeit des Lustempfindens gewährleistet: Tatsächlich kann die Lust der Frau zum Beispiel nicht zwischen der klitoralen Aktivität und der vaginalen Passivität wählen. Die Lust der vaginalen Liebkosung kann sich nicht derjenigen der klitorialen Liebkosung substituieren. Alle beide tragen sie in unersetzlicher Weise zum Lustempfinden der Frau bei.-[…] Das Streicheln der Brüste, die Berührung der Vulva, das Aufgehen der Lippen, das Zu- und Abnehmen eines Drucks auf die hintere Scheidenwand, das Streifen des Muttermundes usw. 35 Die vergewaltigte weibliche Sexualität ist vielfältig und ubiquitär. Um sie entfalten, erproben und gestalten zu können, scheint es notwendig, so lautet die gedämpft kämpferische Schlussfolgerung, die aus dem Kontext der 1970er Jahre zu begreifen ist, sich wenigstens zeitweise von den Männern fernzuhalten. Worum es in diesem Text aus der zweiten Periode der Frauenbewegung geht, ist, das weibliche Begehren von dem, was Irigaray als phallische Sexualökonomie begreift, zu befreien. 10.3. Das weibliche Gefäß als Gestaltungsprinzip: Der Ort, der Zwischenraum Von einem anderen sprachlichen und gedanklichen Gestus getragen ist ein späterer Text Irigarays in der Ethik der sexuellen Differenz. Diese Abhandlung ist ein Kommentar zu einem Kapitel aus Aristoteles’ Physik. Der Text des griechischen Philosophen dient dabei vornehmlich als eine Folie für die Entfaltung der eigenen Theorie. Ausgangspunkt dieser ist, dass die sexuelle Differenz ihre bestimmende Ursache in der Körperlichkeit von Mann und Frau hat, und zwar nicht nur in ihrer schieren Physiologie, sondern auf Grund von unterschiedlichen Raumbezügen 34 Irigaray, Das Geschlecht, das nicht eins ist, S. 27. 35 Irigaray, Das Geschlecht, das nicht eins ist, S. 27. 261 10.3. Das weibliche Gefäß als Gestaltungsprinzip der beiden Geschlechter. Dabei spielt, wie noch zu zeigen sein wird, der Gegensatz von Innen und Außen eine ganz wesentliche Rolle. 36 Irigarays Aufsatz Der Ort, der Zwischenraum beginnt mit der Zitierung einer zentralen Passage aus Aristoteles’ Physik, in der nach der Realität des Phänomens des Ortes gefragt wird. Wenn der Ort etwas Seiendes ist, ein „seiendes Ding“, dann stellt sich die Frage, wo sich dieses Ding selbst befindet. Denn alle Dinge sind dadurch definiert, dass sie einen Ort haben, sich also an einem Ort befinden. In der dem Text eigentümlichen Folgerichtigkeit wird aus der Bejahung der Frage geschlossen, dass es einen „Ort des Ortes“ geben muss. Darüber hinaus muss der Ort des Ortes, der sich immer wieder verdoppelt, ins Unendliche gehen. Irigaray kommentiert die Passage aber nun weniger im klassisch philosophischen Sinn, sondern bezieht aus ihm die Frage, ob die Matrix, wenn sie „ausdehnbar ist“, „den Ort des Ortes darstellen“ kann. Wie einem Kommentar der Übersetzung zu entnehmen ist, bedeutet Matrix aber nicht nur ‚Schema‘, ‚Tabelle‘ oder ‚Übersicht‘, sondern in seiner ursprünglichen vergessenen lateinischen Bedeutung ‚Gebärmutter‘ oder ‚Mutterleib‘. ‚Matrix‘ ist eine Ableitung von ‚mater‘. 37 Irigaray diskutiert, inwiefern der weibliche Leib geschlechtstheoretisch betrachtet eben jener philosophische Ort des Ortes sein kann, den Aristoteles in seiner Physik anspricht. Überflüssig zu erwähnen, dass diese Erwägung aus dem historischen Text gleichsam ‚herausspringt‘. Der Text bejaht diese Frage indirekt aber unmissverständlich positiv, ist doch diese ‚Matrix‘ der erste bestimmbare ‚Ort‘, von dem wir in unserer Existenz umgeben sind. Er scheint auch jene Bestimmung des Unendlichen zu erfüllen, folgt doch dieser ausdehnbare Raum der Idee einer unendlichen Progression. Irigaray knüpft an diese Bestimmung ein ganzes Bündel von Fragen, die mit dem Ort der Orte verbunden sind. Sie sind alle mit einer Unruhe verbunden, die offenkundig diesem Ort der Orte gilt, den wir verlassen haben und dem unsere Sehnsucht und Suche gilt. Konsequent verbindet die Philosophin eine religiöse mit einer sexuellen Dimension, die Sehnsucht nach dem einen Ort und den Glauben an einen Gott: „Der Körper hat mir als Ort gedient, der mich umschlossen hat, ich suche ihn in x Körpern, in der Natur, in Gott.“ 38 36 Vgl. auch das elfminütige Interview mit Irigaray Of Relations and Rights https: / / www. youtube.com / watch? v=ODD8-wayDhM, heruntergeladen am 09. 09. 2015. 37 http: / / www.wortbedeutung.info / Matrix/ , heruntergeladen am 09. 09. 2015. 38 Irigaray, Luce: „Der Ort, der Zwischenraum. Eine Lektüre von Aristoteles: Physik IV, 2-5“. In: Dünne, Jörg / Güntzel, Stephan (Hg.): Raumtheorie. Grundlagentexte aus Philosophie und Kulturwissenschaften, Frankfurt / Main: Suhrkamp, 2006. S. 244-260. Hier S. 244. 262 10. Differenz und Fremdheit der Geschlechter Von Anfang an wird im Text die Situation des Mannes von jener der Frau unterschieden. Für ersteren besteht das Problem nämlich in der „Trennung zwischen dem ersten und dem letzten Ort“. Ob auf der Suche nach dem Ort der (einzigen) Frau / Mutter oder auf der nach dem einzigen Gott, stets befindet sich der Mann in einer Außenposition. Demgegenüber ist die Frau der Ort selbst, zunächst ein „Nest in ihr für sie“. 39 Die Frau befindet sich demgemäß in einer Innenposition: „[…]-so ist sie der Ort.“ 40 Sie muss indes diesen Ort in sich selbst finden: Sie bewegt sich als Ort im Ort. In der Verfügbarkeit des Ortes. Ihr Problem besteht darin, selbst Begrenzungen entwerfen zu müssen, um sich in ihnen zu situieren und den anderen in ihnen aufnehmen zu können. Um umschließen zu können, ist es notwendig, daß sie selbst eine Umschließung hat. Nicht nur verführerische Kleider oder Schmuck, sondern ihre Haut. Und dass ihre Haut ein Receptaculum umschließt. 41 Das weibliche Geschlechtsorgan wird hier, anders als noch in Das Geschlecht, das nicht eins ist, nicht als ‚Loch‘, als etwas, das nichts ist, bestimmt, sondern unter Aufrufung einer biologischen Metapher als ein „Receptaculum“, als ein Blütenkelch und als eine Öffnung verstanden, dessen Telos die Aufnahme, die ‚Rezeption‘ eines anderen Körpers ist. Dafür bedarf sie eines Körpers, der einen Innenraum besitzt und der über äußere Ausdehnung verfügt. Aus dieser Ortsbeschreibung ergibt sich die Bestimmung des Weiblichen. Sie besteht in der „Funktion-[…], Behältnis zu sein“. 42 Und das in dreifacher Hinsicht: ▶ das Behältnis für das Kind, ▶ das Behältnis für den Mann, ▶ das Behältnis für sie selbst. 43 Zwischen diesen drei Möglichkeiten besteht durchaus eine Konkurrenz. Traditionellerweise- - „nach einer bestimmten Moralvorstellung“ 44 - - wird die Funktion des Behältnisses auf das Kind und evtl. auf den Mann, nicht aber auf die Frau selbst bezogen. In diesem „Streit“, schreibt Irigaray, ist der „erste Ort“, also die Erstpublikation auf Deutsch: Ethik der sexuellen Differenz. Aus dem Französischen von Xenia Rajewski. Frankfurt / Main: Suhrkamp, 1991. S. 46-70. 39 Irigaray, „Der Ort, der Zwischenraum“, S. 245. 40 Irigaray, „Der Ort, der Zwischenraum“, S. 244. 41 Irigaray, „Der Ort, der Zwischenraum“, S. 245. 42 Irigaray, „Der Ort, der Zwischenraum“, S. 247. 43 Irigaray, „Der Ort, der Zwischenraum“, S. 247. 44 Irigaray, „Der Ort, der Zwischenraum“, S. 247. 263 Raumfunktion des weiblichen Körpers für das Kind, eigentlich der einzige, weil die Aufnahme des Mannes eine temporäre „Perforation“ sei. Demgegenüber ist der ‚dritte‘ Ort kulturgeschichtlich mit einem Tabu belegt: „Sie muß sich“, schreibt Freud, „von ihrer Mutter abwenden, um in das Begehren des Mannes einzutreten.“ 45 Behältnis für sie / sich selbst zu sein, bedeutet demnach eine Verweigerung dieses Gebotes. Das vollzieht sich anscheinend durch eine Identifikation mit der Mutter: Sofern sie in „Empathie mit ihrer Mutter bleibt, bleibt sie in ihrem Ort.“ 46 Im Anschluss an die antike Physik und Metaphysik wird die Geschlechterdifferenz über Kategorien wie Stoff, Form und Gefäß (Raum) zugespitzt und pointiert: „Das weibliche Geschlecht ist weder Stoff noch Form, sondern Gefäß. Die Form dieses Gefäßes kann verändert werden, auch durch die Frau. Sie ist also als Frau auch Stoff und Form.“ 47 Wie schon in dem früheren Text wird Geschlecht tatsächlich in einem Doppelsinn verstanden, es ist das weibliche Geschlechtsorgan und es ist das weibliche Geschlecht in einem umfassenderen Sinn. Aus der Phänomenologie des Receptaculums resultiert also das, was in früheren Text auch als „weibliche Sexualität“ bezeichnet wurde. Die Aufnahme des Fremden wird aber nun keineswegs mehr als „Mangel“ oder als passives Gewähren-Lassen im Sinne der Freudschen Geschlechtertheorie verstanden. Ganz im Gegenteil: Die Überlegenheit des weiblichen ‚Geschlechts‘ besteht nun gerade in dessen Aufnahme und Ausdehnungsfähigkeit. Der Begriff des ‚Gefäßes‘ eröffnet noch zwei weitere Möglichkeiten. Denn die Metapher des Gefäßes enthält-- anders als die des Hohlraums, des Containers-- unverkennbar eine ästhetische Dimension. Dieses Spatium ist gestaltbar und wird von der Frau, dem ‚anderen‘ Geschlecht, entsprechend gestaltet, so dass die Frau in einem sekundären Sinn, selbsttätig und autopoetisch, dadurch Stoff und Form wird, dass sie sich als Gefäß gestaltet. In der Etymologie des Wortes steckt ein aktives Moment, das das Bild der passiven Aufnahme gleichsam umkehrt. Jemandem oder etwas eine Fassung geben impliziert eine aktive Tätigkeit. Das weibliche Geschlecht formt nicht nur das Gefäß, das es ist, sondern auch das Geschlecht des Mannes, wiederum im Doppelsinn des Wortes. Der sexuelle Akt wird, anders als in dem programmati- 45 Irigaray, „Der Ort, der Zwischenraum“, S. 247. 46 Irigaray, „Der Ort, der Zwischenraum“, S. 248. 47 Irigaray, „Der Ort, der Zwischenraum“, S. 248. 10.3. Das weibliche Gefäß als Gestaltungsprinzip 264 10. Differenz und Fremdheit der Geschlechter schen Text von 1977, nicht mehr als eine Prostitution des weiblichen Körpers für die Lust des Mannes verstanden, sondern vielmehr als ein Ort weiblichen Tuns und Gestaltens: „Auf seiten der Frau wäre der sexuelle Akt. Sie verleiht dem Geschlecht des Mannes Form und formt es von innen.“ 48 Die potentielle männliche Gewalttätigkeit wird von daher ganz anders erklärt als in früheren Texten: „Was die Frau betrifft, sollte sie nur deshalb als passiv imaginiert werden, weil der Mann um die Herrschaft in jenem Akt fürchtet? Daher manchmal seine Gewalttätigkeit? “ 49 Die räumliche Durchdringung und Umschließung, wie sie der Akt mit sich bringt, wird nunmehr, wenn auch in der Vorsicht des Konjunktivs, als ein Höhepunkt eines Zusammenseins mit dem / der jeweils Anderen interpretiert: Die Grenze des umschließenden Körpers könnte die körperliche Identität der Frau sein, neu erstanden oder erneuert durch die innere Vereinigung und nicht zerstört durch eine Regression in utero. In diesem Fall wäre es ziemlich sinnlos, Liebe und Begehren trennen zu wollen, ebenso wenig wie dem Sexuellen einen amoralischen oder unethischen Charakter zuzuschreiben. Im Gegenteil, der sexuelle Akt wäre das, wodurch der andre mir noch einmal Form, Leben, Inkarnation verleiht. Statt den Verfall des Körpers herbeizuführen, nimmt er an seiner Wiedergeburt teil. Und kein anderer Akt kommt ihm darin gleich. Göttlicher Akt. Der Mann läßt die Frau ihren Körper als Ort erfahren. Nicht nur ihr Geschlecht und ihre Matrix, sondern ihren Körper. 50 Diese Passage bringt gegenüber früheren Aufsätzen abermals eine überraschende Wendung. Ganz abgesehen von dem fast hymnisch-pathetischen Ton, in dem der Koitus als ein ethisches und zugleich lebensbejahendes Prinzip, ja als göttlicher „Akt“ gedeutet wird, wird nun das Eindringen des männlichen in das weibliche Geschlecht im Sinne einer Anerkennung des weiblichen Status gedeutet, der eben darin besteht, der Ort des Ortes zu sein. Es ist gleichsam die ‚Intervention‘ von außen, die die Frau ihren Ort in ihrer Gesamtheit erfahren lässt, der über ihr Geschlecht im physischen Sinn und ihre Funktion als Matrix hinausgeht. So hält der Text an dem Argumentationsmuster einer prinzipiellen Differenz zwischen den Geschlechtern fest, interpretiert aber diese Alterität nicht mehr primär im Sinne von Zwangsstruktur und Asymmetrie. Dass ihre spätere Position als eine Zurücknahme ihrer radikal feministischen Kritik an der männlichen Ordnung gelesen werden kann, ist der eine strittige Punkt. Der andere beruht auf dem von Irigaray 48 Irigaray, „Der Ort, der Zwischenraum“, S. 249. 49 Irigaray, „Der Ort, der Zwischenraum“, S. 249. 50 Irigaray, „Der Ort, der Zwischenraum“, S. 254. 265 10.4. Weiblichkeit als Maskerade: Joan Riviere nahegelegten anatomischen Determinismus, der aus der physischen Beschaffenheit der Geschlechtsorgane deterministisch die geschlechtliche Beschaffenheit, „Identität“, bestimmt. Dieser vom konstruktivistischen Feminismus vorgetragene Einwand ist auch dann bedenkenswert, wenn man die konstruktivistische Sicht der Dinge in dieser Radikalität nicht teilen mag, für die sich die Körperlichkeit (sex) primär als ein Diskursphänomen darstellt. 51 Sexualität ist nämlich durchaus nicht (nur) ein körperliches Phänomen, sondern geht Hand in Hand mit Phantasien und imaginären Momenten, die sich nicht einfach aus der Physiologie der Leiber ableiten lassen. 10.4. Weiblichkeit als Maskerade: Joan Riviere Lange Zeit ist der schmale Text Weiblichkeit als Maskerade (1929) der britischen Psychoanalytikerin Joan Hodgson Riviere (1883-1962) nur peripher rezipiert worden. Wie Liliane Weissberg darlegt, ist die Abhandlung auch von Lacan und seiner Schule ignoriert worden, obschon die Verwandtschaft der Konzepte Lacans und Rivieres unübersehbar ist. 52 Die Idee der Maskerade, die Riviere im Anschluss an eine weibliche Fallstudie entfaltet, ist in ihrer strukturellen Logik mit der Idee Irigarays, wonach die Frau keine homogene und einheitliche Sexualität besitzt, verwandt. Die Maskerade bedeutet zunächst einmal Verdopplung und Verschleierung, theatralische Vortäuschung einer Befindlichkeit, die eine andere überlagert. Aber wenn die Maskerade selbst zu einer Befindlichkeit wird, dann ist sie gleichsam zu einer zweiten, unverzichtbaren Natur geworden, die man nicht einfach wie eine Maske abzulegen vermag, um des ‚wirklichen‘ Gesichts der Frau gewahr zu werden. Beides, das Masken-Gesicht und jenes, das verborgen bleibt, gehören zusammen, was Riviere auch ausdrücklich hervorhebt: Der Leser mag sich nun fragen, wie ich Weiblichkeit definiere und wo ich die Grenze zwischen echter Weiblichkeit und der ‚Maskerade‘ ziehe. Ich behaupte gar nicht, daß 51 Vgl. Butler, Das Unbehagen der Geschlechter, S. 226: „Wie Monique Plaza und Christine Delphy hat Wittig dargelegt, daß Irigarays Bewertung dieser anatomischen Besonderheit selbst eine unkritische Kopie des reproduktiven Diskurses sei, der den weiblichen Körper markiert und in künstliche ‚Teile‘ wie ‚Vagina‘, ‚Klitoris‘ und ‚Vulva‘ zerlegt. Als Wittig bei einer Lesung im Vassar College gefragt wurde, ob sie eine Vagina hätte, antwortete sie mit „nein“. 52 Weissberg, „Gedanken zur Weiblichkeit“, S. 9. 266 10. Differenz und Fremdheit der Geschlechter es diesen Unterschied gibt; ob natürlich oder aufgesetzt, eigentlich handelt es sich um ein und dasselbe. 53 Irigaray, die ganz offenkundig Rivieres Konzept kennt, hat in einem Aufsatz („Fragen“) des Sammelbands Das Geschlecht, das nicht eins ist diese Bestimmung des Weiblichen zugleich in einen kulturgeschichtlichen Kontext gestellt, wenn sie schreibt: Was ich unter Maskerade verstehe? U. a. das, was Freud die ‚Weiblichkeit‘ nennt. Das besteht zum Beispiel darin, zu glauben, daß man eine Frau- - und noch dazu, eine normale Frau-- werden muß, während der Mann von vornherein Mann ist. Er braucht lediglich sein Mann-Sein zu vollziehen, während die Frau gezwungen ist, eine normale Frau zu werden, das heißt in die Maskerade der Weiblichkeit einzutreten. Der weibliche Ödipus-Komplex ist im Endeffekt das Eintreten der Frau in ein Wertesystem, das nicht das ihre ist, und in dem sie nur ‚erscheinen‘ und zirkulieren, wenn sie in den Bedürfnis- Wünschen-Phantasmen der anderen-- Männer-- eingewickelt ist. 54 So explizit formuliert das Riviere freilich nicht, aber der Tenor ist ganz ähnlich. Im Zentrum der schon erwähnten Fallstudie steht nämlich eine Frau, die als Akademikerin ihren ‚Mann‘ steht und damit die traditionellerweise auf den Sohn bezogenen Erwartungen ihres Vaters bzw. ihres Vater-Imago erfüllt. Nach den sattsam bekannten akademischen Vortragsritualen gibt sie sich jedoch insofern betont weiblich, als sie nicht für ihren Vortrag Anerkennung heischt, sondern für ihre Attraktivität als Frau. Riviere deutet das im Sinn einer Camouflage, in deren Zentrum Selbstschutz steht. Die junge erfolgreiche Frau, die, so berichtet Riviere, eine glückliche und erfüllte heterosexuelle Beziehung unterhält, möchte sich vor möglichen unliebsamen negativen männlichen Reaktionen gegenüber der unliebsamen Rivalin, die einen Platz in ihrem ureigenen Territorium beansprucht, schützen. Deshalb zieht sie es vor, mittels Flirtens und Kokettierens jene ‚normale‘ Anerkennung zu erlangen, die dem weiblichen Geschlecht in der gegebenen symbolischen Ordnung nun einmal zusteht: „Es war der unbewußte Versuch, sich gegen die Angst zur Wehr zu setzen, die sich einstellte, weil sie nach der intellektuellen Leistung ihres Vortrags Vergeltungsmaßnahmen von seiten der Vaterfigur fürchtete.“ 55 53 Riviere, Joan: „Weiblichkeit als Maskerade“. In: Weissberg, Weiblichkeit als Maskerade, S. 34-47, hier: S. 38 f. 54 Irigaray, Luce: Das Geschlecht, das nicht eins ist, S. 139 f. 55 Riviere, Joan: „Weiblichkeit als Maskerade“, S. 37. 267 10.4. Weiblichkeit als Maskerade: Joan Riviere Die Vorstellung von der weiblichen Maskerade ist, wie Weissberg in ihrem umsichtigen Vorwort schreibt, älter als der psychoanalytische Diskurs. Sie verweist dabei auf die Kleidungs-Maskeraden des 18. Jahrhunderts und auf Nietzsches Invektiven in Jenseits von Gut und Böse. 56 Womöglich gehört die weibliche Attributierung des Maskierens, Verstellens und Sich-Putzens zum Grundbestand einer okzidentalen Imagologie des Weiblichen. 57 Ähnliches lässt sich von der Auffassung sagen, dass Männer wie Frauen wenn auch auf unterschiedliche Weise jeweils gegengeschlechtliche Komponenten in sich tragen. Dies eröffnet eine nicht-stigmatisierende Sicht auf Homosexualität, die davon ausgeht, dass alle Menschen ‚männliche‘ und ‚weibliche‘ Anteile in sich tragen. Riviere legt das insofern nahe, als sie die akademische Karriere ihrer Patientin mit einer ‚männlichen‘ Komponente in Zusammenhang bringt, die durch eine ‚weibliche‘ Maskerade verdeckt werden soll. Insofern erscheint die Vermutung plausibel, wonach die Maskerade nicht eine ‚natürliche‘ Eigenschaft des weiblichen Geschlechts, sondern einen kulturellen Selbstschutz darstellt, der darauf basiert, der geforderten ‚normalen‘ Identität der jeweiligen symbolischen Ordnung zu entsprechen. Das Beispiel homosexueller Männer, die sich betont ‚männlich‘ benehmen und oder einer lesbischen Frau, die ihre ‚Weiblichkeit‘ betont ausspielt, dient Riviere dabei als Beleg. Auch die Tatsache, dass nur der ‚normale‘ Mann mit einer Identität ohne doppelten Boden agiert, kann als Indiz dafür angesehen werden, dass es bestimmte männlich dominierte kulturelle Bedingungen gibt, in denen eben Männlichkeit besonders positiv kodiert ist. Die Tatsache weiblicher Maskerade wäre demnach an einen bestimmten patriarchalen Kontext gebunden. Diese lässt sich auf doppelte Art und Weise lesen, als anthropologische Zuschreibung des Weiblichen und einer bisexuellen condition humaine oder als Folge einer kulturellen Entfremdung, in der die Frau in einem ganz konzisen Sinne ‚fremd‘ bleibt, weil die öffentliche Welt sie ausschließt. Die erste Position lässt sich tendenziell als ‚essentialistisch‘, die zweite als konstruktivistisch beschreiben. Die eine konstatiert und definiert eine bestimmte geschlechtliche Grundbefindlichkeit, die andere hinterfragt Geschlechter-Identität als Teil kultureller Konstruktions- und Symbolisierungsformen. 56 Weissberg, Liliane: „Gedanken zur Weiblichkeit“, S. 11. 57 Das ist bereits bei Ovid ein durchgängiger Zug des Weiblichen, vgl. Ovid: Ars amandi / Liebeskunst. Deutsch von Alexander Gleichen-Rußwurm. Wiesbaden: Emil Vollmer-Verlag, 1956. 268 10. Differenz und Fremdheit der Geschlechter Die Bisexualitätshypothese, die Rivieres Aufsatz zugrunde liegt, ist letztendlich weder mit Irigarays Konzeption noch mit der gegenläufigen Butlers und anderer Konstruktivistinnen vereinbar. Die Vorstellung einer ganz anderen weiblichen Geschlechtlichkeit läuft der etwa von der Romantik forcierten Idee der Androgynie (die Riviere in ihrem Aufsatz stark macht) zuwider, wonach jedes Erdenkind jeweils gegenläufige Geschlechtsanteile in sich trägt. Das hängt, wie wir bei Irigaray gesehen haben, nicht zuletzt mit jenem Determinismus zusammen, der die Geschlechtlichkeit fast ausschließlich an der physischen Beschaffenheit der Geschlechtsorgane festmacht und Sexualität nicht auch als ein imaginäres Theater im Kopf begreift. Für den konstruktivistischen Zugang wiederum ist die These vom Bisexualismus deshalb schwer zu akzeptieren, weil sie von fixen und natürlichen, polar angeordneten geschlechtlichen Identitäten ausgeht und deren Wider- und Zusammenspiel in der binär angeordneten Geschlechtlichkeit zum Austrag kommen lässt. Insofern der Konstruktivismus auch eine Dekonstruktion beinhaltet, zielt diese Geschlechtertheorie darauf ab, den Binarismus mitsamt der alten Grenzen und Identitäten aufzulösen und sie allenfalls als Konstrukte gelten zu lassen. Lacans Position tendiert zu einer anthropologischen Deutung der Geschlechter-Relation: Bekanntlich definiert Lacan die Frau dadurch, dass sie Phallus ist. Das sei sie aber nur, argumentiert Lacan, weil sie der Signifikant des Begehrens des Anderen, des Mannes, ist. Um in dem ihr angemessenen Status des Phallus zu sein, bedarf sie indes der Maskerade, in der sie alle wesentliche Momente des Weiblichen ‚bannt‘ (vgl. Kapitel 7). Umgekehrt findet sie den Signifikanten ihres Begehrens „im Körper dessen, auf den sich ihr Liebesanspruch richtet“. Daraus erklärt Lacan den Umstand, dass der Phallus zum Fetisch wird. 58 Damit wird aber die Frage nach der Bedeutung der Maskerade neu gestellt. Handelt es sich um einen Mangel und um eine Schwäche oder um einen Überschuss und eine Stärke? In einem Kommentar zu Riviere und zu Lacan bringt Judith Butler das auf den Punkt, wenn sie in Das Unbehagen der Geschlechter schreibt: Ist die Maskerade die Folge eines weiblichen Begehrens, das maskiert werden mußte und damit in einen Mangel verwandelt wurde, der nun irgendwie zum Vorschein kommen muß? Oder folgt sie gerade daraus, dass dieser Mangel verleugnet wird, um den Anschein zu erzeugen, der Phallus zu sein? Wird die Weiblichkeit durch die Maskerade 58 Lacan, Jacques: „Die Bedeutung des Phallus“. In: Ders.: Schriften II . Freiburg und Olten: Walter, 1975. S. 130 ff; Butler, Das Unbehagen der Geschlechter, S. 75-93. 269 10.4. Weiblichkeit als Maskerade: Joan Riviere als Widerspiegelung des Phallus konstruiert, um die bisexuellen Möglichkeiten zu verschleiern, die andernfalls die ‚bruchlose‘ Konstruktion einer heterosexuellen Weiblichkeit stören könnten? Oder verwandelt die Maskerade die Aggression und Angst vor Vergeltung in Verführung und Flirt, wie Riviere nahelegt? Dient die Maskerade in erster Linie dazu, eine vorgegebene Weiblichkeit zu verbergen oder zu verdrängen, ist sie also ein weibliches Begehren, das eine dem männlichen Subjekt nicht untergeordnete Andersheit begründen könnte und das notwendige Scheitern der Männlichkeit offenbaren würde? Oder ist sie gerade das Mittel, durch das die Weiblichkeit allererst gestiftet wird, das ausschließliche Verfahren der Identitätsbildung, das die Männlichkeit wirkungsvoll ausschließt und jenseits der Grenzen einer spezifisch weiblichen Geschlechter-Position (feminine gendered position) verweist? 59 Nicht alle alternativen Interpretationsmöglichkeiten, die Butler anführt, schließen einander vollständig aus und doch ergibt sich aus ihnen ein Spektrum der heutigen Positionen im Diskurs über weibliches Begehren und weibliche Befindlichkeit im Hinblick auf jene Maskerade, die der Frau als Attribut aber auch als Kulturtechnik zugeschrieben wird: 1. Die Maskerade verdeckt einen Mangel insofern, als sich das weibliche Begehren nicht manifestieren kann oder darf. 2. Die Maskerade verleugnet den Mangel und erweckt den Anschein, Phallus zu sein. 3. Die Maskerade verschleiert die bisexuellen Potentiale des weiblichen Geschlechts. 4. Die Maskerade ist ein Abwehrmechanismus, der die männliche Aggression gegen das weibliche Begehren transformiert und neutralisiert. 5. Die Maskerade begründet zuallererst eine weibliche Andersheit, die sich dem Männlichen nicht unterordnet. 6. Die Maskerade stiftet als performativer Akt eine weibliche Identitätsbildung, die die Männlichkeit ausschließt und eine neue Geschlechter-Position jenseits traditioneller Zuschreibungen des Weiblichen verweist. Damit sind verschiedene, zum Teil sich überschneidende, zum Teil aber auch oppositionelle Deutungen der Maskerade benannt. Es liegt auf der Hand, das die Queer-Theoretikerin Judith Butler die sechste Interpretation (eventuell auch die dritte) der Maskerade bevorzugt, weil diese hier als Auflösung der traditionellen 59 Butler, Das Unbehagen der Geschlechter, S. 80. 270 10. Differenz und Fremdheit der Geschlechter Geschlechter-Ordnung und der ihr zugrundeliegenden Identitäten verstanden wird. Andere Interpretationen lassen sich konkurrierenden Geschlechter-Konzepten zuordnen, die erste und eventuell auch die fünfte etwa Irigaray (1979) (vgl. Kapitel 10.2.), die vierte ganz offenkundig Riviere. Die zweite Deutung bezieht sich augenscheinlich auf Lacan, der die weibliche Maskerade aus der paradoxen Geschlechterposition der Frau erklärt und als deren notwendiges Moment bestimmt. Butler weiß sich mit Lacan in der Abweisung einer klassischen Ontologie der Geschlechter einig. Lacan frage nämlich nicht nach dem Sein des Mannes und dem Sein der Frau, sondern wie dieses Sein durch die jeweiligen „Beziehungspraktiken“ der „Ökonomie des Vaters“ situiert wird. Maskerade kann einerseits als „performative Hervorbringung einer sexuellen Ontologie verstanden werden“, aber auch als „Verleugnung eines weiblichen Begehrens“ gelesen werden. Lacans Bipolarität basiert darauf, dass in der patriarchalen symbolischen Ordnung der Status des Mannes darin besteht, einen Phallus zu haben und jener der Frau, einer zu sein, und dies auf überaus paradoxe Weise, wie Butlers Lacan-Kommentar ausführt: Der Phallus ‚sein‘ bedeutet also für die Frauen, daß sie die Macht des Phallus widerspiegeln, diese Macht kennzeichnen, den Phallus verkörpern, den Ort stellen, an dem der Phallus eindringt, und den Phallus gerade dadurch bezeichnen, daß sie sein Anderes, sein Fehlen, die dialektische Bestätigung seiner Identität ‚sind‘. 60 Das ist höchst paradox gedacht: Die Frauen sind der Phullus, der ihnen zugleich fehlt und den sie anziehen und den sie sich aneignen. Diese Formulierung erklärt sich aus einer höchst eigenwilligen Adaption der Saussureschen Zeichentheorie, in der der Signifikant als das aktive bedeutungsgenerierende Element des Zeichens angesehen wird, das Bedeutung generiert. Wenn die Frau der Signifikant des Mannes ist, dann bedeutet das, dass sie auf das Signifikat, den Mann, verweist. Die Frauen sind der Phallus, der ihnen zugleich fehlt und den sie anziehen. Was die Lacan-Schule macht, ist, den Binarismus des Zeichens und den Binarismus der Geschlechter in ein analoges Verhältnis zu bringen, bei dem der Frau-- scheinbar-- das aktive Moment zukommt. So wird die Geschlechter-Relation nach dem ungleichen Verhältnis der Bestandteile des (sprachlichen) Zeichens bestimmt. Zur Logik des Zeichens gehört, dass die Anwesenheit des Signifikanten auf die Abwesenheit des Signifikats verweist. Der Signifikant ist gewissermaßen ein 60 Butler, Das Unbehagen der Geschlechter, S. 75. 271 10.4. Weiblichkeit als Maskerade: Joan Riviere falscher Ersatz, so wie das Bildzeichen eines gemalten Baumes oder die Schriftfolge ‚Baum‘ auf den abwesenden konkreten Baum in der Landschaft verweist. In diesem abstrakten Sinn bedeutet die geschlechtliche Position strukturell eine Maskerade, denn das „Phallus sein“ der Frau beschränkt sich zunächst auf die symbolische Ebene. Sie ist Phallus als Signifikant des aus ihrer Position anderen Geschlechtes, das den Phallus besitzt, aber auch wiederum nur auf einer symbolischen Metaebene. Denn anders als der physische Penis bedarf der Besitz des Phallus der Repräsentation im Signifikanten, der Frau. Weil sich der Mann in der Position des Signifizierten befindet, er also ein Signifikat ist, ist für ihn die Maskerade strukturell nicht wesentlich, während sie sich für die Frau aus ihrer Position des Signifikanten ergibt, die mit dem Phallischen ‚spielt‘: Denn, über die Theorien, die die weibliche Geschlechtlichkeit und Sexualität über die Maskerade definieren, hinaus gesprochen, ist jede Maskerade ein Spiel. Lacans Theorie begreift die Geschlechter als in einer symbolischen Ordnung befangen, das heterosexuelle Beziehungsgefüge ist in seiner Theorie, so Butler, immer eine komische Verfehlung, die nicht überwindbar ist, weshalb Butler Lacans Theorie mit jenem Ausdruck belegt, den Nietzsche gegenüber dem Christentum verächtlich als „Sklavenmoral“ bezeichnet hat. 61 An dieser Stelle sei noch einmal an das Gemälde des belgischen Symbolisten Fernand Khnopffs erinnert, das sich als eine gebrochene Version des Maskerade- Komplexes interpretieren lässt. Unverkennbar maskiert sich die Frau ‚phallisch‘, aber das geschieht vornehmlich auf der symbolischen Ebene. Sie repräsentiert die geschlechtliche Macht des Mannes, der ohne sie ein schmächtiges und bescheidenes Nichts wäre. Aber sie ist dieser Phallus als Signifikant nur insofern, als sie sich auf den Phallus, den der Mann besitzt, bezieht. Das tut sie, indem ihre Krallenhand nach dem männlichen Geschlecht langt. Gebrochen ist diese Maskerade, weil sich die Frau, die Phallus ist, an den Mann anschmiegt und die Augen schließt. Die weibliche Raubkatze ist zahm, sie wird den Mann nicht verzehren. In Khnopffs Gemälde ist die panische Angst des Mannes vor dem Geschlecht der Frau ermäßigt, bestimmend ist eine beinahe schon versöhnliche Geste-- zwischen Ironie, Komödie und Resignation. Butlers Konzept der Maskerade, soweit es sich aus der Kritik an anderen Theoretikerinnen und Theoretiker ablesen lässt, besteht darin, Maskerade möglichst unbefangen als ein kulturelles Phänomen zu betrachten und zu begreifen, als Teil 61 Vgl. dazu Günzel, Stephan: „Herrenmoral-- Sklavenmoral“. In: Henning, Ottmann (Hg.): Nietzsche-Handbuch. Stuttgart-Weimar: Metzler, 2000. 253-255. 272 10. Differenz und Fremdheit der Geschlechter jener Performanz, 62 die künstlich und in ihrer steten Wiederholung ‚Identität‘ generiert. Insofern ist das Spiel des Transvestiten / der Transvestitin nur das sichtbare und subversive Schauspiel, das wir, Frau oder Mann, tagtäglich vollziehen. Es gibt aber dahinter- - ganz ähnlich wie hinter dem Bild des Fremden im imagologischen Diskurs ( → - Kapitel 8)- - keine wie auch immer geartete eigentliche geschlechtliche Identität. Hinter der Maske ist buchstäblich nichts. Die ‚wahre‘ Frau existiert nicht (la femme n’éxiste pas). Auf diese radikale Konsequenz läuft der dekonstruktive Konstruktivismus hinaus und daraus erklärt sich auch seine Anziehungskraft. In letzter Konsequenz löst dieser radikale Kulturalismus die Alterität der Geschlechter in eine offene und plurale Form geschlechtlicher Maskeraden und performativer Akte auf. Im Spiel und Tanz der Geschlechter bleiben freilich die Spuren der Alterität sichtbar. 62 Zum performative turn vgl. Bachmann-Medick, Doris: Cultural Turns. Neuorientierungen in den Kulturwissenschaften. Reinbek: Rowohlt, 2006. S. 104-143. 273 11.1. Karl Marx, Die Pariser Manuskripte 11. Das Fremdwerden des Eigenen. Theorien der Entfremdung 11.1. Karl Marx, Die Pariser Manuskripte Der Terminus Entfremdung ist seiner Bedeutung nach ein merkwürdiger Begriff. Seiner sprachlichen Logik folgend müsste er eigentlich das Gegenteil dessen beinhalten, was man gemeinhin darunter versteht. Denn das Präfix ent-/ Enthat zumeist eine negierende Bedeutung. Die Enteignung ist eine Beseitigung von Eigentum, die Entfesselung eine Entfernung von Fesseln, ähnlich verhält es sich mit entkernen, enthärten und entkrampfen. Nicht so mit der Entfremdung, die ja nicht eine Auslöschung von Fremdheit, sondern vielmehr ihre soziale und kulturelle Herstellung und damit eine Beseitigung von Vertrautheit bedeutet. Im theoretischen Dreieck zwischen Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Ludwig Feuerbach und Karl Marx entstanden, ist die Entfremdung zu einer handfesten, historisch zeitweilig ungeheuer einflussreich gewordenen Kategorie geworden. Es ist in dem mit ihr einhergehenden Diskurs selbstverständlich, Entfremdung ausschließlich negativ zu verstehen, im Sinne einer Einbuße des Menschlichen, einer Beschädigung des Menschen durch die von ihm geschaffenen gesellschaftlichen und damit auch kulturellen Verhältnisse. Der Mensch kommt nicht oder nicht mehr bei sich an, das, was ihm zu eigen schien, ist ihm abhanden gekommen. 1 Es liegt der Entfremdungsdiagnose ein bestimmter Typus von Humanismus zugrunde, dessen Utopie darin besteht, dass der Mensch nicht nur an sich, sondern auch für sich in der Welt ist. Aber dieser Humanismus befindet sich im Widerstreit mit einer Welt, die einen solchen Zustand von Selbstvertrautheit nicht zulässt. In seinem enzyklopädischen Werk Das Prinzip Hoffnung hat Ernst Bloch diese Vertrautheit, dieses bei sich und für sich Sein, mit dem Begriff der ‚Heimat‘ enggeführt und assoziiert, in der freilich der Mensch noch nie gewesen sei: Die Wurzel der Geschichte aber ist der arbeitende, schaffende, die Gegebenheiten umbildende und überholende Mensch. Hat er sich erfaßt und das Seine ohne Entäußerung und Entfremdung in realer Demokratie begründet, so entsteht in der Welt etwas, das allen in die Kindheit scheint und worin noch niemand war: Heimat. 2 1 Zima, Peter V.: Entfremdung. Pathologien der postmodernen Gesellschaft. Tübingen: Francke, 2014. S. 1-19. 2 Bloch, Ernst: Das Prinzip Hoffnung. Frankfurt / Main: Suhrkamp, 1973. S. 1628. 274 11. Das Fremdwerden des Eigenen. Theorien der Entfremdung Blochs Utopismus kehrt die Pole-- Fremde und Heimat-- gleichsam um, wenn die Heimat zur Fremde avanciert, in der noch kein Mensch gewesen sei. Er radikalisiert die säkulare Heilsgeschichte des Marxismus, ein pathetisches Narrativ, wenn er den Blickwinkel auf die Überwindung jener Entfremdung richtet, die auf verschlungene Art und Weise mit der Arbeit verbunden ist. In Blochs Version gibt es keinen nicht entfremdeten paradiesischen Anfang, wohl aber am Ende der Geschichte, dann nämlich wenn die Arbeit ihre entfremdende und entfremdete Seite einbüßt. Schon Hegels Irrfahrt des menschlichen Geistes, wie der Philosoph sie in einem wohl bekanntesten Werk Der Phänomenologie des Geistes entfaltet hat, kennt durchaus solche Fremdheitserfahrung. Die Bewegung, die Hegel beschreibt, wird von dem Ungenügen des unfertigen Geistes angetrieben, der noch nicht bei sich angekommen ist. In dem Kapitel über Herr und Knecht ( → -Kapitel 2) lässt sich von beiden Seiten aus eine Entfremdung konstatieren: Der Knecht, der am Leben geblieben ist, ist in seiner Arbeit für den Herrn fremd bestimmt und der Herr, der nicht arbeitet, hat die entscheidende Verbindung zur Welt, die Arbeit, verloren und ist ihr somit entfremdet. Feuerbach wiederum, dessen Religionskritik Marx aufgreift und weiterführt, sieht die Entfremdung des Menschen darin, dass er seine eigene Wesensartigkeit Gott bzw. Göttern zuschreibt, sich aber nicht in der fremden Gestalt wiedererkennt, die er doch selbst geschaffen hat. Diese These ist der Ausgangspunkt für Marx’ Überlegungen zur Entfremdung, die 1844 in jenen fragmentarischen Schriften entwickelt worden sind, die als Pariser Manuskripte in die Marx-Philologie eingegangen sind. Erstmals vollständig publiziert wurden diese Texte erst im Jahr 1932, auch wenn Teile in die 1928 in Moskau begonnene russische Ausgabe der Gesammelten Werke, nicht aber in die Folgeausgabe von 1995, einbezogen worden sind. In den 1950er Jahren wurden sie, nicht zuletzt auf Betreiben Jean-Paul Sartres ( → - Kapitel 2), zu einem wichtigen Werk all jener kritischen Geister, die in Abgrenzung zum offiziellen Marxismus- Leninismus die Marxsche Theorie, unter Berufung auf seine Frühschriften, zu erneuern trachteten. Beispiele dafür sind etwa die ‚humanistischen‘ Reformer des Kommunismus in Polen, der Tschechoslowakei und natürlich in Jugoslawien, aber auch in Frankreich und Italien. 3 3 Hillmann, Günther: „Zum Verständnis der Texte“. In: Marx, Karl: Texte zur Methode und Praxis II : Pariser Manuskripte . Herausgegeben von Günther Hillmann. Reinbek: Rowohlt, 1966. S. 203. 275 11.1. Karl Marx, Die Pariser Manuskripte Die Kategorie der Entfremdung impliziert, wie Günther Hillmann in seinem Kommentar festhält, eine soziale wie kulturelle Situation, in der etwas Eigenes verlorengegangen ist, etwas, das meine ‚Identität‘ bezeichnet. Was mich bestätigt und was mir wohl bekannt ist, hat sich zu etwas Fremdem gewandelt, das mir unbekannt ist und mir auch als eine nicht vertraute Macht voll feindseliger Willkür und Laune gegenübertritt. 4 Hegel hat diese Entfremdung als einen Zustand des intellektuellen Bewusstseins, als ein „Durchgangsstadium“ einer zu sich selbst kommenden Vernunft angesehen, 5 Feuerbach wiederum hat unter Hinweis auf die anthropomorphe, also menschenähnliche, Gestalt Gottes bzw. der Götter die Religion als ein entfremdetes Verhältnis des Menschen zu sich verwiesen. Das Eigene, das sich hinter dem Göttlichen verbirgt, tritt dem Menschen in der Religion als fremde Macht gegenüber. Marx geht einen Schritt weiter, in dem er die Entfremdung als eine ökonomisch-gesellschaftliche verortet. Die geistig-intellektuelle Entfremdung, von der, wie Marx an anderer Stelle schreibt, Hegel und Feuerbach auf je verschiedene Weise ausgehen 6 , betrachtet er als einen Sonderfall eben jener gesellschaftlichen Entfremdung. Deshalb beginnt er in diesem fragmentarischen, vorläufigen Werk mit Aufzeichnungen und Kommentaren zu englischen und französischen Nationalökonomen (Jean Baptiste Say, David Ricardo, James Mill u. a.), deren Konzepte und Theorien über Arbeitslohn, Profit und Grundrente er sich kritisch aneignet, bevor er sich der Frage der Entfremdung zuwendet. Diese bilde nämlich bei jenen einen blinden Fleck, wie er ausdrücklich hervorhebt: „Die Nationalökonomie verbirgt die Entfremdung in dem Wesen der Arbeit dadurch, daß sie nicht das unmittelbare Verhältnis zwischen dem Arbeiter (der Arbeit) und der Produktion betrachtet.“ 7 Wie noch zu zeigen sein wird, bildet die Arbeit die zentrale Kategorie im Drama der Entfremdung, ist sie doch in diesem Denkzusammenhang deren Ursache wie deren Überwindung. Marx’ gesellschaftliche Sichtweise der Entfremdung bringt es fast automatisch mit sich, dass er Entfremdung zugleich als ein Herrschaftsverhältnis begreift. Das Eigene, das dem Menschen als Fremdes gegenübertritt, übt eine scheinbar unentrinnbare Zwangsherrschaft über ihn aus. Wenn es also gelänge, Herrschaft 4 Hillmann, „Zum Verständnis der Texte“, S. 221. 5 Vgl. Aydın, Topoi des Fremden, S. 57. 6 Marx, Karl: „Die Kritik der Hegelschen Dialektik und Philosophie überhaupt“. In: Ders.: Pariser Manuskripte, S. 109. 7 Marx, Karl: „Ökonomisch-philosophische Manuskripte“. In: Ders.: Pariser Manuskripte, S. 54. 276 11. Das Fremdwerden des Eigenen. Theorien der Entfremdung und Zwang des ‚eigenen‘ Fremden aufzuheben, dann würde dies das Ende jener ‚Fremdherrschaft‘ bedeuten. Diese Aufhebung kommt, um es vorweg zu sagen, im Sozialismus bzw. Kommunismus zum Ausdruck. Was ist dieses Eigene, das dem Menschen als fremder unerbittlicher Zwang entgegentritt? Die explizite Antwort darauf findet sich aber nicht nur in den Ökonomisch-philosophischen Manuskripten, sondern auch einem beinahe zeitgleichen Text, der sich mit Hegels Philosophie beschäftigt. Darin wird positiv zu Hegel vermerkt: Das Große an der Hegelschen Phänomenologie und ihrem Endresultat-- der Dialektik der Negativität als dem bewegenden und erzeugenden Prinzip-- ist also einmal, daß Hegel die Selbsterzeugung des Menschen als einen Prozeß faßt, die Vergegenständlichung als Entgegenständlichung, als Entäußerung und als Aufhebung dieser Entäußerung; daß er also das Wesen der Arbeit faßt und den gegenständlichen Menschen, wahren, weil wirklichen Menschen, als Resultat seiner eigenen Arbeit begreift. Das wirkliche, tätige Verhalten des Menschen zu sich als Gattungswesen oder die Bestätigung seiner als eines wirklichen Gattungswesens, d. h. als menschlichen Wesens, ist nur möglich, daß er wirklich alle seine Gattungskräfte-- was wieder nur durch das Gesamtwirken des Menschen möglich ist, nur als Resultat der Geschichte-- herausschafft, sich zu ihnen als Gegenständen verhält, was zunächst wieder nur in der Form der Entfremdung möglich ist. 8 Die Arbeit wird hier als das entscheidende Moment gesehen, das den Menschen zum Menschen macht, zu seiner historisch zu denkenden „Selbsterzeugung“. Scheinbar ist der Mensch nur tätig, um seine Bedürfnisse zu befriedigen, aber dieses „produktive Leben“ ist zugleich, wie es in den Ökonomisch-philosophischen Manuskripten heißt, sein „Gattungsleben“. 9 Mag die Arbeit auch aus der Not des Überlebens geboren sein, so enthält sie einen Überschuss, der den Menschen zu dem werden lässt, was er ist bzw. sein kann oder soll. Arbeit wird also als das entscheidende Movens jener ‚Bildung‘ verstanden, die im Zentrum eines spezifisch deutschsprachigen Diskurses der Aufklärung steht. Was die Marxsche Theorie von Anbeginn auszeichnet, ist-- durchaus im Widerspruch zu anderen sozialistischen Theorien (z. B. Charles Fourier)-- die hohe Wertschätzung jener systematischen und intentionalen Tätigkeit, eben der Arbeit, die Marx zufolge das historisch selbsterzeugte Gattungswesen von allen anderen natürlichen Gattungen unterscheidet. Durch dieses Tätig-Sein wird der Mensch „wirklich“, kommt er zu 8 Marx, „Die Kritik“, S. 113. 9 Marx, „Ökonomisch-philosophische Manuskripte“, S. 57. 277 sich selbst. In der ‚protestantischen‘ Arbeitsethik von Marx schwingt indes eine Vorstellung von (unentfremdeter) Arbeit mit, wie sie zum Beispiel der künstlerischen Arbeit zukommt, bei der sich der tätige Mensch selbst vergegenständlicht und ‚verwirklicht‘. Diese Arbeit mutet auf den ersten Blick im Vergleich etwa zur handwerklichen Arbeit nutzlos an, trägt aber jene bestimmenden Elemente in sich, die Marx als „Selbsterzeugung“ bezeichnet. Einige Jahre später wird Marx in einer der raren Passagen, in denen er sich über die unentfremdete Gesellschaft auslässt, davon sprechen, dass der kommunistische Mensch vielfach tätig sein wird, etwa als „Jäger, Fischer, Hirt oder Kritiker“. 10 Ausdrücklich lobt der junge Marx die „Negativität“ der Hegelschen Dialektik, die auch den Umschlag zu beleuchten vermag, der darin besteht, dass die Vergegenständlichung auch als Entgegenständlichung begriffen wird, und die Entäußerung sich zur Entfremdung steigern kann. Vergegenständlichung meint, dass das von mir geschaffene Produkt das meinige ist, aber in einem zweiten Schritt macht dieses sich gleichsam unabhängig von mir und tritt mir als etwas Anderes gegenüber. Denn wenn das Ziel der Arbeit die Hervorbringung von etwas Gegenständlichem ist, dann birgt das die Möglichkeit, dass dieser Gegenstand sich dem arbeitenden Menschen systematisch entzieht. Ob es historisch eine nicht-entfremdete Arbeit in der Geschichte des Gattungswesens Mensch gegeben hat, lässt Marx an dieser Stelle offen. Der letzte Halbsatz legt den Schluss nahe, dass die Möglichkeit der Selbsterzeugung des Menschen durch Arbeit zunächst „nur in der Form der Entfremdung möglich ist“. Was also die Bedingung der Möglichkeit von Selbstbestätigung und Bei-sich- Sein, von sekundärer, weil selbst geschaffener ‚Heimat‘ ist, das verkehrt sich unter den Bedingungen kapitalistischer Ökonomie ins Gegenteil. Das Eigentümliche der kapitalistischen Ökonomie ist nicht allein die zunächst systemlogisch schändlich niedrige Bezahlung der Lohnarbeit. Selbst im Falle besserer Bezahlung der Arbeit bliebe deren entfremdende Wirkung unangetastet. Marx spricht das an einer späteren Stelle ausdrücklich an: „Eine gewaltsame Erhöhung des Arbeitslohnes“, die er jedoch innerhalb des bestehenden kapitalistischen Systems für unwahrscheinlich hält, würde nur zu einer „besseren Salarierung der Sklaven“ führen. Diese würde „weder dem Arbeiter noch der Arbeit ihre menschliche Bestimmung und Würde“ ‚erobern‘. Und gegen Pierre-Joseph Proudhons Idee 10 Marx, Karl / Engels, Friedrich: „Die Deutsche Ideologie“. In: Marx-Engels-Werke. Herausgegeben vom Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED . Berlin: Dietz-Verlag, 1969. Bd. 3, S. 33. 11.1. Karl Marx, Die Pariser Manuskripte 278 11. Das Fremdwerden des Eigenen. Theorien der Entfremdung der „Gleichheit der Saläre“ argumentiert der junge Marx, dass dies zu einer Gesellschaft führe, „die als abstrakter Kapitalist gefaßt“ sei. 11 Übrigens sind die egalitären Gesellschaftssysteme des ‚realen Sozialismus‘ einer solchen Gesellschaftsform sehr nahe gekommen. Das gesellschaftliche Projekt, auf das Marx letztendlich abzielt (auch wenn es hier noch nicht proklamiert wird), bezieht sich genau auf die Aufhebung jener falschen Entäußerung, die zu Entfremdung und den mit ihr verbundenen Herrschaftsverhältnissen führt. Arbeit und Produktion werden zur entscheidenden Basis einer umfassenden gesellschaftlichen Entfremdung. Deren Analyse bildet das Herzstück der Ökonomisch-philosophischen Manuskripte. Den knapp fünfzehn Seiten, die einige dichte und analytische Passagen enthalten, ist nicht zuletzt wegen der Sprunghaftigkeit und Verknappung der Argumentation die Vorläufigkeit anzumerken. Die zentrale und prominente Passage bildet die folgende: Der Gegenstand, den die Arbeit produziert, ihr Produkt, tritt ihr als ein fremdes Wesen, als eine von dem Produzenten unabhängige Macht gegenüber. Das Produkt der Arbeit ist die Arbeit, die sich in einem Gegenstand fixiert, sachlich gemacht hat, es ist die Vergegenständlichung der Arbeit. Die Verwirklichung der Arbeit ist ihre Vergegenständlichung. Diese Verwirklichung der Arbeit erscheint in dem nationalökonomischen Zustand als Entwirklichung des Arbeiters, die Vergegenständlichung als Verlust und Knechtschaft des Gegenstandes, die Aneignung als Entfremdung, als Entäußerung. 12 Anders als die Nationalökonomie seiner Zeit konzentriert sich Marx’ Analyse der Entfremdung darauf, diese in dem „unmittelbaren Verhältnis“ zwischen dem Arbeiter bzw. der Arbeit zu orten. Dazu definiert er jene Elemente, die in diesem Verhältnis eine maßgebliche Rolle spielen: Arbeiter, Arbeit und Produkt (Gegenstand). In jedem Produktionsverhältnis ist das Ergebnis der Tätigkeit des Arbeitenden ein Gegenstand, der, wie schon der Name besagt, seinem Produzenten als etwas Eigenes gegenübertritt. Aber nur unter den Bedingungen kapitalistischer Entfremdung, „im nationalökonomischen Zustand“, tritt er ihm als etwas entgegen, das ihm fremd ist und das nicht ihm, sondern einem anderen gehört. Die Entfremdung hat dabei drei Dimensionen, die Marx im Folgenden zu präzisieren versucht: 1. Sie bedeutet eine so genannte Entwirklichung des Arbeiters. Das heißt, sie führt zum Verlust von dessen Wirklichkeit, obschon doch ihrer vollen Bedeu- 11 Marx, „Ökonomisch-philosophische Manuskripte“, S. 61. 12 Marx, „Ökonomisch-philosophische Manuskripte“, S. 52. 279 tung nach Arbeit zu Verwirklichung führen soll. Im Extremfall kann dieser Verlust von Wirklichkeit, wie Marx drastisch formuliert, bis zum „Hungertod“ führen. Entfremdung bedeutet demgemäß, dass der Arbeiter sich nicht selbst besitzt, sondern dass über ihn verfügt wird. 2. Sie bedeutet den Verlust des Gegenstands. Das bedeutet, dass der Arbeiter im Kapitalismus der notwendigsten Gegenstände des Lebens (auch derer, die er selbst produziert hat) sowie seiner Arbeitsgegenstände beraubt ist. Die auf Privateigentum basierende kapitalistische Gesellschaft zeichnet sich Marx zufolge dadurch aus, dass die überwältigende Mehrheit der Menschen kein Eigentum besitzt. In diesem Sinn ist der Verlust von bzw. an Eigentum ein zentrales Moment von Entfremdung. Das bedeutet aber auch, dass Eigentum im Frühwerk von Marx ganz ähnlich wie die Arbeit eine positive Bedeutung in sich trägt. 13 Nicht zuletzt konnten solche Auffassungen von Marx in den Ländern des ‚realen Sozialismus‘ als bedrohlich erscheinen, ließ sich doch unter Verweis auf Marx mühelos die fortdauernde Entfremdung in den bürokratischen kommunistischen Systemen nachweisen und damit deren Anspruch einer positiven Befreiung von Kapitalismus grundsätzlich in Frage stellen. Die Kritik könnte lauten, dass die Enteignung des Kapitals nicht zu einer Aneignung der Arbeit durch das Proletariat geführt habe, sondern dieses nur durch eine autoritäre Zentralplanung ersetzt worden war. 14 3. Entfremdung lässt sich generell als eine Form von Enteignung verstehen. Diese Entfremdung resultiert nämlich daraus, dass der Gegenstand nicht ihm, sondern einem anderen gehört, eben jenem, der Ziel und Inhalt der Produktion bestimmt. Marx spitzt diesen Befund an mehreren Stellen dahingehend zu, dass „[…]- je mehr Gegenstände der Arbeiter produziert“, er „um so mehr“ „unter die Herrschaft seines Produkts, des Kapitals“ gerät. 15 Indem der (Lohn-)Arbeiter produziert, kreiert er gleichzeitig das gegebene Herrschaftsverhältnis. Den Gegenstand, den er in letzter Instanz erzeugt, ist das ‚Kapital‘, das von der Aneignung der fremden Gegenstände ‚lebt‘. Marx formuliert diesen Sachverhalt so: 13 Hillmann, „Zum Verständnis der Texte“, S. 211. 14 Vgl. Hillmann, „Zum Verständnis der Texte“, S. 221f.: Hillmann spricht diese Thematik 1966 erstaunlich aktuell aus, wenn er meint, dass die utopische Kraft des Kommunismus erloschen sei und als neues Ziel „Machtaufteilung und Selbstregelung“ empfiehlt. 15 Marx, „Ökonomisch-philosophische Manuskripte“, S. 52. 11.1. Karl Marx, Die Pariser Manuskripte 280 11. Das Fremdwerden des Eigenen. Theorien der Entfremdung Die Entäußerung des Arbeiters in seinem Produkt hat die Bedeutung, nicht nur, daß seine Arbeit zu einem Gegenstand, zu einer äußeren Existenz wird, sondern daß sie außer ihm, unabhängig, fremd, von ihm existiert und eine selbständige Macht ihm gegenüber wird, daß das Leben, was er dem Gegenstand verliehen hat, ihm feindlich und fremd gegenübertritt. 16 Je mehr der Arbeiter arbeitet, umso mehr zementiert er seine Situation und vergrößert die Macht der ihm feindseligen fremden Welt. Es ist wichtig, dass Marx hier Herrschaft nicht vornehmlich als ein persönliches Herrschaftsverhältnis betrachtet. Vielmehr, und das hängt mit der Vergegenständlichung und der daraus möglichen Entfremdung zusammen, betrachtet er sie als ein verhängnisvolles anonymes gesellschaftliches Zwangssystem. Marx zieht mit Seitenblick auf Feuerbach eine Analogie zwischen Ökonomie und Religion: Dem Arbeiter komme ganz ähnlich wie im Verhältnis des Menschen zu Gott die „innere Welt“ abhanden. Das ist eine Denkfigur, die auch in einigen post-marxistischen Entfremdungskonzeptionen, wie etwa von Walter Benjamin und Günther Anders, eine Rolle spielt. Es ist ebenso in der Religion. Je mehr der Mensch in Gott setzt, je weniger behält er in sich selbst. Der Arbeiter legt sein Leben in den Gegenstand; aber nun gehört es nicht mehr ihm, sondern dem Gegenstand. Je größer also dieses Produkt, je weniger ist er selbst. 17 „Selbst“ fungiert hier ganz eindeutig als binärer Gegensatz zu „fremd“. Damit steht das Fremde generell im Verdacht, der ‚Selbstverwirklichung‘, die den logischen Gegensatz zur ‚Entfremdung‘ bildet, im Wege zu stehen. Dieser neue ‚künstliche‘ Gegenstand befindet sich wiederum in einem Zustand des Entäußert- Seins, er kann sich selbständig machen, so wie im Kinderbuch der Holzkasperl Pinocchio von seinem Hersteller, dem Schnitzer. Die Möglichkeit für Entfremdung, ließe sich ergänzen, ergibt sich aus dem Phänomen der Vergegenständlichung selbst, der Tatsache, dass sich das Geschaffene von seinem Schöpfer trennt und verselbstständigt. Häretische Strömungen am Rande des Christentums, wie die Gnosis, haben diesen Tatbestand zum Ausgangspunkt ihrer Diagnose von einer gottfernen, Gott entfremdeten Welt gemacht: Die Schöpfung und ihre Akteure haben sich vom eigentlichen Initiator losgesagt. Auch hier lebt der Mensch in einer fremden und das heißt in diesem 16 Marx, „Ökonomisch-philosophische Manuskripte“, S. 53. 17 Marx, „Ökonomisch-philosophische Manuskripte“, S. 53. 281 Fall in einer falschen, materialistischen Welt, die seinem geistigen Wesen nicht entspricht. 18 Aber in diesem Fall geht es nicht um eine Revolte, sondern um die Tatsache, dass das Geschaffene von Anfang an, in der deterministischen Mechanik des kapitalistischen Gesellschaftssystems, automatisch einem anderen gehört, der über Eigentum verfügt. Wie und ob dieser übrigens ebenfalls von der gesellschaftlichen Entfremdung betroffen ist, darüber lässt sich Marx hier nicht aus. Mit Seitenblick auf Hegel ließe sich sagen, dass der Eigentümer insofern von der Entfremdung betroffen ist, als er ja selbst nicht ‚arbeitet‘ ( → -Kapitel 2) und sich damit auch nicht als Gattungswesen reproduziert, während dies der Arbeiter, unter entfremdeten Umständen, tut. Auf diese „Vergegenständlichung“ kommt Marx nun in der Folge eingehender zu sprechen. Sie erweist sich unter den entfremdenden Bedingungen der kapitalistischen Produktion als eine Entfremdung zwischen Produzent und Produkt sowie als eine zwischen Produzent und dem Akt des Produzierens. Marx führt eine weitere Dimension der gesellschaftlichen Produktion des Fremd-Werdens an: die Entfremdung von der Natur. Die Natur ist die Bedingung der Möglichkeit der Arbeit. Arbeit als Zentralparadigma des Marxschen Denkens bedeutet die praktische Bearbeitung eines Objekts durch ein Subjekt, das „Gattungswesen“ Mensch. Das impliziert insofern eine Modifikation der Hegelschen Philosophie und darüber hinaus der abendländischen Tradition, als in diesen die denkende Reflexion das Verbindungsglied zwischen wahrnehmendem Subjekt und wahrgenommenem Objekt darstellt. Für Marx ist es erst die Arbeit, die die Natur zu einem Objekt macht, da sie der Bearbeitung zur Verfügung steht. Der junge Philosoph bezeichnet das natürliche Objekt gar als „Lebensmittel der Arbeit“. Die „Aneignung“ der sinnlichen Natur in der Arbeit und durch sie führt einen doppelten „Entzug“ herbei. Zum einen hört die sinnliche Außenwelt mehr und mehr auf, das „Lebensmittel“, d. h. der Gegenstand der Arbeit zu sein. Damit meint Marx, dass die Arbeit die problematische Kehrseite hat, die „sinnliche Außenwelt“ etwa in Gestalt kapitalistisch-industrieller Arbeit zu vernichten. Und gleichzeitig hört diese auch auf, für den Arbeiter eine Ressource zu sein, insofern er die Lebensmittel, nun im engeren Sinn verstanden, nicht mehr selbst erzeugt. Er erhält fortan die Gegenstände der Arbeit ebenso wie die Gegenstände, die für seine physische Subsistenz vonnöten sind. 19 Wenn, wie Marx-- fast im Sinne der 18 Jonas, Hans: Gnosis und spätantiker Geist. 2 Bände. Göttingen: Vandenhoek & Ruprecht, 1988 und 1993. 19 Marx, „Ökonomisch-philosophische Manuskripte“, S. 53. 11.1. Karl Marx, Die Pariser Manuskripte 282 11. Das Fremdwerden des Eigenen. Theorien der Entfremdung vorangegangenen Naturphilosophie-- schreibt, dass die Natur „der unorganische Leib“ des Menschen ist, dann bedeutet hier Entfremdung eine Selbstentfremdung sowie eine Entfremdung von der Natur. Bei der Unterscheidung von Mensch und Tier spielt für Marx die Arbeit als „bewußte Lebenstätigkeit“ 20 eine ganz entscheidende Rolle. Die Arbeit ist das entscheidende Moment der Humanität, das heißt, dass sich der Mensch durch Arbeit konstituiert. Das Tier kann nicht selbst einen Zustand der Entfremdung herbeiführen, weil es durch ‚Arbeit‘ weder zu sich noch von sich selbst kommen kann. Der entfremdete Mensch hingegen wird durch das von Marx beschriebene Herrschaftssystem letztendlich auf einen ‚tierischen‘ Zustand, das heißt auf die für das Leben notwendigen physischen Bedürfnisse und Funktionen zurückgeworfen. Die bewusste Lebenstätigkeit unterscheidet den Menschen unmittelbar von der tierischen Lebenstätigkeit. Nur darum ist er ein Gattungswesen, eines, das sich selbst zur Gattung macht. Oder er ist nur ein bewusstes Wesen, d. h. sein eigenes Leben ist ihm Gegenstand, weil er ein Gattungswesen ist. Deshalb ist seine Tätigkeit freie Tätigkeit. Die entfremdete Arbeit kehrt das Verhältnis um: Der Mensch macht, eben weil er ein bewusstes Wesen ist, seine Lebenstätigkeit, sein Wesen nur zu einem Mittel für seine Existenz. 21 Gattungswesen versteht Marx in dem Sinn, dass Gattung das Ergebnis einer Selbstsetzung ist. Der Mensch macht sich, intentional oder nicht, selbst zur Gattung. Darin besteht wohl die Differenz zum Tier. Während das Tier seine „Lebenstätigkeit“ ist, schafft sie der Mensch Marx zufolge erst. Der deutsche Philosoph streckt den Begriff der Arbeit, wenn er deren eigentlichen und letztlichen Zweck als „die Vergegenständlichung des Gattungslebens“ bezeichnet. 22 Marx vermeidet wie in fast all seinen Schriften den Begriff ‚Kultur‘. Dennoch geht es hier um einen Begriff des Schaffens, der auf die Herstellung von Kultur abzielt, in der und mittels derer der Mensch sich selbst erschafft. So wie der Begriff der Arbeit so ist auch jener der Kultur hier positiv gesetzt. Der Mensch wird durch die Arbeit mit sich vertraut. Die kapitalistische Entfremdung vernichtet diese Vertrautheit. Nun stellt Marx sich und seiner Leserschaft die Frage, wem die eigene Tätigkeit gehöre. Auch wenn es dem Menschen in bestimmten Perioden der Geschichte erscheint, als gehöre sie mächtigen Göttern, so ist dies, Marx folgend, eine Illusion. 20 Marx, „Ökonomisch-philosophische Manuskripte“, S. 57. 21 Marx, „Ökonomisch-philosophische Manuskripte“, S. 57. 22 Marx, „Ökonomisch-philosophische Manuskripte“, S. 57. 283 Letztere habe aber einen triftigen Grund, denn das falsche religiöse Bewusstsein spiegelt gleichsam die Situation einer Entäußerung, die Enteignung ist. Das fremde Eigene wird also als fremde Macht projiziert. In Wirklichkeit kann das „fremde Wesen, dem die Arbeit und das Produkt der Arbeit gehört,-[…] nur der Mensch selbst sein“. 23 Die Entfremdung, die eine Entäußerung des von dem Arbeiter produzierten Gegenstandes ist, geht Hand in Hand mit einem Herrschaftsverhältnis, bei dem der eine, unfreie Mensch „unter der Herrschaft, dem Zwang und dem Joch eines anderen Menschen“ 24 steht. Teil der Tätigkeit des entfremdeten Arbeiters, des Proletariers, ist also zugleich die Herstellung des ungleichen Verhältnisses zwischen Arbeiter und Nicht-Arbeiter, das Marx so formuliert: „Der Nicht-Arbeiter tut alles gegen den Arbeiter, was der Arbeiter gegen sich selbst tut, aber er tut nicht gegen sich selbst, was er gegen den Arbeiter tut.“ 25 Entfremdung umfasst zusammenfassend betrachtet mehrere Dimensionen des Menschen und der menschlichen Gesellschaft, die sich aber allesamt auseinander ergeben bzw. aufeinander verweisen: 1. Entfremdung des Arbeiters von seiner Lebenstätigkeit, der Arbeit, die keine freiwillige, sondern eine von den sachlich-ökonomischen Zwängen bestimmte ist. 2. Entfremdung des Arbeiters von seinem Gegenstand, den sich der Nicht-Arbeiter aneignet und der damit das Eigentum eines Anderen wird. 3. Entfremdung des Menschen von der Natur, die das „Lebensmittel“ seines aktiven schaffenden Tuns ist. 4. Entfremdung des Menschen von seinem speziellen, von ihm selbst geschaffenen, d. h. humanen Gattungswesen. 5. Entfremdung der Menschen voneinander durch die abstrakte Mittlerrolle des Geldes, in der der jeweils andere nur mehr auf seine Zweckfunktion reduziert ist. 6. Die absolute Entfremdung des Menschen, die sich unter anderem im Kreditwesen ausdrückt: Der Mensch wird nur mehr in Geld gemessen. 26 Die beiden letzten Punkte entwickelt Marx in diesem Abschnitt nicht systematisch, sie ergeben sich aber aus seinen späteren Überlegungen zum Geld als dem 23 Marx, „Ökonomisch-philosophische Manuskripte“, S. 59 24 Marx, „Ökonomisch-philosophische Manuskripte“, S. 59. 25 Marx, „Ökonomisch-philosophische Manuskripte“, S. 61. 26 Marx, „Die Kritik“, S. 103-107; vgl. auch: Hillmann, „Zum Verständnis der Texte“, S. 210 f. 11.1. Karl Marx, Die Pariser Manuskripte 284 11. Das Fremdwerden des Eigenen. Theorien der Entfremdung maßgeblichen Medium der entfremdeten Welt. Sie sind insofern wichtig, als damit ex negativo deutlich wird, dass die Aufhebung der Entfremdung nur möglich ist, wenn das Medium Geld abgeschafft wird. Die Abschaffung der Geldwirtschaft, das ‚Absterben‘ des Geldes (wie übrigens auch des Staates) und seine Ersetzung durch reine Rechnungseinheiten waren das erklärte Ziel der kommunistischen Revolutionäre in Russland. Geldfeindschaft war aber auch einem radikal anders gepolten Regime wie dem Nationalsozialismus nicht fremd. 27 Das Ende der Demokratien im Zentrum Europas und die fortschreitende Stalinisierung des Kommunismus innerhalb und außerhalb seines Herrschaftsbereichs haben dazu geführt, dass die Pariser Manuskripte und überhaupt das sogenannte Frühwerk (1843-1847) erst in den 1960er systematisch diskutiert wurden, obwohl sie einzelnen Theoretikern bekannt waren. Sowohl von den ‚humanistischen‘ Reformern im ‚realen Sozialismus‘ bzw. im titoistischen Jugoslawien (Praxis-Gruppe) als auch von kritischen Linken innerhalb und außerhalb der etablierten kommunistischen Partei etwa in Italien und Frankreich, aber auch in der Bundesrepublik Deutschland wurden die Marxschen Schriften behandelt. Im Nachhinein lassen sich natürlich auch Parallelen zwischen dem Frühwerk und den Anstrengungen von Marxisten wie Karl Korsch und György Lukács, die darauf abzielten, die Marxsche Theorie als eine Philosophie zu begreifen, herstellen. 28 Befruchtend gewirkt haben die frühen philosophischen Abhandlungen von Marx auf jene Theoretiker, die eine Brücke zwischen Existenzphilosophie und Marxismus schaffen wollten. Dazu gehört neben Sartre, bei dem der Begriff der Entfremdung von der Analyse der kapitalistischen Gesellschaft losgelöst wird ( → - Kapitel 2), vor allem Günther Anders. Er hat bereits im französischen Exil eine eigene Theorie der Entfremdung vorgelegt und diese nach 1945 weiterentwickelt und zum Beispiel mit Lukács diskutiert ( → - Kapitel 11.3). Auch die Kritische Theorie, wie Lukács in dem bereits erwähnten Briefwechsel mit Anders zu Recht ausführt, ist ohne Marx’ analytische Kategorie der Entfremdung schwer denkbar, auch wenn Theodor W. Adorno einen Begriff wie Verdinglichung ganz offensichtlich bevorzugt hat. 29 Darzulegen wie triftig dessen Analyse ist und mit 27 Preobraschenski, Jewgeni Alexejewitsch: Die neue Ökonomik (1926). Berlin: Neuer Kurs, 1971. Preobraschenski, ein Weggefährte Trotzkis, war ein Gegner der Neuen Ökonomischen Politik ( NEP ) und vertrat die Ansicht, dass das Geld mit dem Übergang zu einer sozialistischen Gesellschaft notwendigerweise verschwinden würde. 28 Dank an Mauro Ponzi für diesen Hinweis. 29 Vgl. den Briefwechsel zwischen György Lukács und Günther Anders, Lukács-Archiv (Forschungsforum Lukács im Kontext, FLK ). In: Universität Wien, www.georg-lukacs. 285 welchen Erfahrungen von ‚Entfremdung‘ sie korrespondiert, würde hier zu weit führen, zumal auf den historischen Kontext der damaligen, sich herausbildenden, bereits transnationalen kapitalistischen Gesellschaft eingegangen werden müsste. Die politische und historische Relevanz des von Marx initiierten Entfremdungsdiskurses steht ebenso außer Zweifel wie die Kraft seiner Gesellschaftskritik. Viele der Alternativbewegungen des 20. Jahrhunderts sind ohne die kollektive Sehnsucht, den Zwängen und Enteignungen der marktkapitalistischen Gesellschaft zu entgehen, nicht denkbar. Die radikale und kompromisslose Analyse der soziokulturellen Schattenseiten der marktkapitalistischen Gesellschaft und damit auch die beinahe groteske Unterschätzung ihrer Freiheitspotentiale sind von großer Wichtigkeit. Die Protestbewegungen des 20. Jahrhunderts entzündeten sich keineswegs ausschließlich oder vornehmlich an ökonomischen Forderungen, sondern suchten politisch nach anderen Formen eines gemeinsamen, unentfremdeten und solidarischen Lebens. Im Übrigen hat die Arbeiterbewegung in ihrer Blütezeit Oasen und Nischen einer programmatisch nicht-entfremdeten Gegenwelt geschaffen: Genossenschaften, alternative Sportbewegungen, Bildungseinrichtungen, Freizeitvereine, Grünraumsiedlungen-- Nuklei einer zukünftigen nicht-kapitalistisch organisierten Gesellschaft. Auch die ‚Freizeit‘ von der Arbeit in Gestalt von Urlaub und Pension oder die Wertschätzung ‚unentfremdeter‘ künstlerischer Tätigkeit gehören letztendlich in diesen Bereich. Wenn die Marxsche Entfremdungsdiagnose im Rahmen einer Erkundung philosophischer Theorien über Alterität heute ein wenig in die Jahre gekommen ist, dann hat das seinen Grund weniger in seiner kritischen Analyse der kapitalistischen Ökonomie des 19. Jahrhunderts, sondern in einigen strittigen, heute für überkommen geltenden theoretischen Prämissen. Sie seien hier summarisch genannt: 1. Der ‚Humanismus‘ des jungen Marx: Die Bestimmung der Entfremdung suggeriert die Existenz eines ‚eigentlichen‘ Wesens und einer wahren Bestimmung des Menschen. 2. Die idealisierte Auffassung der (‚unentfremdeten‘) Arbeit übersieht andere Faktoren von Sozialisation und Kulturalisation (wie Eros, Sprache und Komunivie.ac.at; bzw. Müller-Funk, Wolfgang: „Lukács und die Linke in Österreich“. In: Der Standard / Album, Wien 18. 04. 2015. 11.1. Karl Marx, Die Pariser Manuskripte 286 11. Das Fremdwerden des Eigenen. Theorien der Entfremdung munikation) und reduziert, wie Hannah Arendt richtig gesehen hat, den Menschen auf seine ökonomische, produzierende Funktion. 30 3. Die geradezu vollständige Entfremdung und Enteignung der überwältigenden Mehrheit der Menschheit lässt es eigentlich als unwahrscheinlich erscheinen, dass diese sich aus dem herrschaftlichen Zwang zu befreien bzw. ihn wenigstens zu mildern imstande wäre. Der entfremdete Arbeiter des jungen Marx taugt eigentlich kaum zu jenem revolutionären Subjekt, als das ihn die marxistische Arbeiterbewegung seit dem Kommunistischen Manifest begriff. Womöglich ist deshalb, auch bei Marx, der Begriff der Entfremdung in den Hintergrund getreten. Reaktualisiert wurde die Entfremdungstheorie zu jenem Zeitpunkt, als die Arbeiterschaft als verbürgerlicht, zu sehr in das staats- oder privatkapitalistische System integriert und damit längst nicht mehr als revolutionäres Subjekt angesehen wurde. 4. Fremd und Eigen werden in diesem Konzept trotz aller Dialektik binär und als einander ausschließend verstanden. Insofern verkörpert das Fremde von vornherein den Negativpol schlechthin. Das ‚Projekt‘, das sich daraus ergibt, zielt darauf ab, sich von allem Fremden zu befreien. Es lässt sich unter bestimmten historischen Bedingungen mit dem Nationalismus des 19. Jahrhunderts verbinden, der die Nation auch als eine homogene, fremdenfreie Gemeinschaft von Gleichen imaginiert, in der es nichts Fremdes gibt und geben soll. 31 Solche nationalen Sozialismen hat es in nicht wenigen Ländern, nicht nur in Deutschland und Österreich in der Zwischenkriegszeit gegeben. Auch der verdeckte Nationalismus so mancher Globalisierungsgegner von heute verweist darauf, dass es zwischen ‚linker‘ Kapitalismusfeindschaft und ‚rechter‘ Xenophobie Übergänge gibt. Den Fremden, der mich enteignet, als einen ethnisch Fremden zu sehen, der nicht zu uns gehört und der uns 30 Arendt, Hannah: Vita activa oder Vom tätigen Leben. München: Piper, 1967. S. 11: „Die Neuzeit hat im 17. Jahrhundert damit begonnen, theoretisch die Arbeit zu verherrlichen, und sie hat zu Beginn dieses Jahrhunderts damit geendet, die Gesellschaft im Ganzen in eine Arbeitsgesellschaft zu verwandeln.“ 31 Wie Gellner und Anderson auf unterschiedliche Weise dargelegt haben, bildet die gedruckte Sprache die materielle und mediale Basis für die Homogenisierung von symbolischen Räumen. Dieser mediale Effekt ist mit einem imaginären Moment verwoben, in der alle Menschen als Teil einer unmittelbaren, familienähnlichen Gemeinschaft erscheinen, vgl. hierzu: Özkırımlı, Umut: Theories of Nationalism. A Critical Introduction, Basingstoke: Palgrave, 2000. S. 127-155. Diese Kombination und die damit geschaffene Identität erklärt auch das hohe Maß an Affektivität, das mit dem Bezug zur jeweiligen Nation verbunden ist. 287 11.2. Günther Anders’ Diagnose der Weltfremdheit des Menschen unserer Kultur ‚entfremdet‘, ist eine große Versuchung. Die Geschichte des modernen, nach-christlichen Antisemitismus ist ohne diese fatale Engführung nur schwer zu verstehen. 11.2. Nach Heidegger und Marx: Günther Anders’ Diagnose der Weltfremdheit des Menschen Diskursgeschichtlich betrachtet gibt es zwei Quellen jenes Diskurses, der das Thema der Weltfremdheit des Menschen zum Gegenstand hat. Die eine entstammt der Erbschaft der Hegelschen Philosophie und des Deutschen Idealismus, wie sie von Marx interpretiert und transformiert wurde, die andere hat mit jenen Brüchen zu tun, die mit den Namen Nietzsche und Heidegger verbunden sind. Im einen Fall bedeutet Entfremdung ein zeitlich begrenztes Schicksal, das von bestimmten Eigentums- und Produktionsverhältnissen der modernen Gesellschaft bestimmt ist. Im anderen Kontext handelt es sich um eine unaufhebbare Wesensbestimmtheit des Menschen, der dadurch definiert wird, dass er sich existentiell betrachtet niemals in einem Zustand der Selbstverständlichkeit in der Welt befindet. Heimatlosigkeit und Weltverlorenheit sind Begriffe, die an Marx Diagnose der Entfremdung angrenzen, aber nicht mit ihr identisch sind. Denn Entfremdung bedeutet streng genommen die Herbeiführung eines Zustands, der nicht ursprünglich gegeben ist, sondern durch bestimmte Umstände herbeigeführt worden ist. Häufig wird dieser Weltverlust dem zugeschrieben, was man als ‚Moderne‘ bezeichnet. In diesem Sinn hat der ungarische Philosoph György Lukács (1885-1971), der sich in seinem Spätwerk ausführlich mit Marx’ Konzept der Entfremdung auseinander gesetzt hat, in seiner einflussreichen, prä-marxistischen Theorie des Romans diesen Verlust als „die Form der transzendentalen Heimatlosigkeit“ bezeichnet. 32 Diese Abhandlung wurde beispielsweise von Theodor W. Adorno (1903-1969), Walter Benjamin (1892-1940) und Günther Anders (1902-1992) überaus positiv rezipiert. Benjamin bezieht sich beispielsweise in seinem prominenten Text Der Erzähler auf Lukács. Sein Befund, wonach es mit dem Erzählen zu Ende geht, gründet auf der Annahme, dass die Voraussetzungen des Erzählens, nämlich die eigene Erfahrung in und mit der Welt, verlorengegangen bzw. abhanden gekommen seien. Benjamin stimmt ausdrücklich Lukács’ These 32 Lukács, György (Georg): Die Theorie des Romans. Ein geschichtsphilosophischer Versuch über die Formen der großen Epik, Neuwied-- Berlin 1971. S. 47-59. 288 11. Das Fremdwerden des Eigenen. Theorien der Entfremdung zu, dass der im manifesten Sinn erzählerlose Roman seiner ganzen Struktur und seinem ganzen Gestus nach Ausdruck dieser Erfahrungslosigkeit ist. Aber wenn es in der Welt der Moderne nichts mehr Signifikantes zu erfahren gibt und die Menschen gleichsam verstummen, dann ist damit ein Zustand eingetreten, der mit Weltfremdheit oder Entfremdung zu umreißen ist. Denn bei Benjamin ist der Begriff der ‚Erfahrung‘ so gefasst, dass in ihm eine konkrete und plastische Form von Welt, in der der Mensch lebt und worüber er zu erzählen vermag, gegeben ist. Der Gegensatz von traditionellem oralen Erzählen und modernem gedruckten Roman fällt mit jenem von Weltvertrautheit und Weltfremdheit weithin zusammen. Den Befund einer prinzipiellen und existentiellen Weltfremdheit des Menschen verbindet man zumeist mit dem Namen des französischen Philosophen Jean-Paul Sartres ( → -Kapitel 2). Wie Konrad Paul Liessmann in seiner Monographie über den österreichischen Philosophen Günther Anders festhält, hat dieser kritische Heidegger-Schüler und Hannah Arendts erster Ehemann bereits 1929 / 1930 zwei Vorträge über die Weltfremdheit des Menschen gehalten, die er später, 1934 und 1936, in einer französischen Zeitschrift publiziert hat. Darin beschreibt er den Menschen im Sinne Nietzsches als das ‚nicht festgestellte Tier‘, das in der Welt fremd bleibt. Diese Fremdheit des Menschen bildet zugleich die Voraussetzung für seine Freiheit. Sie meint einen grundsätzlichen Zustand. „Menschsein heißt“ für Anders, wie Liessmann kommentierend schreibt, „die Einheit mit der Welt verloren zu haben“. 33 Das ist nicht im Sinne eines historischen Befundes zu verstehen, sondern ist, wie Liessmann zu Recht sagt, eine ontologische Aussage. Während also Anders und Sartre davon ausgehen, dass Weltfremdheit ein zentrales Wesensmerkmal des Menschen darstellt, war der junge Lukács in seiner Theorie des Romans davon ausgegangen, dass der Mensch der Antike noch in einer holistischen und sinnerfüllten Welt gelebt habe. Das bedeutet aber, dass Fremdheit hier als ein möglicherweise passagerer Zustand des Menschen dargestellt wird, nicht aber seine ‚Bestimmung‘ ist. Wenn man Anders’ Gesamtwerk betrachtet, dann wird sichtbar, dass es bei ihm beide Varianten gibt, die ‚existentialistische‘ wie die kultur- und gesellschaftskritische Version. Denn in seiner Analyse der modernen technischen Welt (Die Antiquiertheit des Menschen) geht er davon aus, dass der Mensch gleichsam ein Anhängsel der von ihm selbst geschaffenen technischen Welt ist, die er nicht versteht und der er offenkundig ausgeliefert ist. Die Situation bezeichnet er als prometheische Scham. 33 Liessmann, Konrad Paul: Günther Anders. München: C. H. Beck, 2002. S. 31. 289 Prometheus hat eine künstliche Welt geschaffen, die ihn beschämt, weil sie ihn als hilflos erscheinen lässt. Die Denkfigur, wonach das Eigene, die von Menschen gemachte Technik, als fremd erscheint, kann ihre strukturelle Ähnlichkeit mit der Marxschen schwerlich verleugnen und verrät zugleich eine gewisse Ähnlichkeit mit Heideggers etwas hölzernem Begriff ‚Gestell‘, in das der Mensch der technischen Moderne ‚gestellt‘ wird und in dem er zugleich gefangen ist: Die Bedrohung des Menschen kommt nicht erst von den möglicherweise tödlich wirkenden Maschinen und Apparaturen der Technik. Die eigentliche Bedrohung hat den Menschen bereits in seinem Wesen angegangen. Die Herrschaft des Gestells droht mit der Möglichkeit, daß dem Menschen versagt sein könnte, in ein ursprüngliches Entbergen einzukehren und so den Zuspruch einer anfänglicheren Wahrheit zu erfahren. 34 Dass eine solche Weltinterpretation gnostische Züge trägt, wurde bereits im vorigen Kapitel angedeutet: Die Gnosis ist eine anspruchsvolle Erklärung der modernen Erfahrung, in einer systematisch falschen, weil entfremdeten und sinnentleerten Welt zu leben. Freilich ist der Demiurg dieser verpatzten Schöpfung nicht mehr ein böses göttliches Wesen, sondern-- noch tragischer-- der Mensch selbst. 35 Sie enthält das große Narrativ der Entfremdung, berichtet sie doch davon, dass der Mensch in einer Welt lebt, die ihm substanziell fremd ist. In Heideggers Fall ist das die moderne technische Welt. Es ist offensichtlich, wie leicht sich dieser Entfremdungsbefund mit dem des ‚jungen‘ Marx verkoppeln lässt. Der Links-Heideggerianer und Semi-Marxist Anders schwankt in seiner Diagnose der Entfremdung wie bereits erwähnt zwischen einer kultur- und gesellschaftskritischen Position einerseits und einer ‚negativen‘ existenzialistischen andererseits. Tendenziell lässt sich sagen, dass in seinen bekannten Büchern und Schriften der gesellschaftskritische Tenor vorherrschend ist. Dies gilt auch für das Vorwort zu jenen 1984 neu publizierten Essays über Kunst und Literatur mit dem programmatischen Titel Mensch ohne Welt, die wichtige Texte des Autors über Alfred Döblin, Franz Kafka, Bertolt Brecht, John Heartfield, Hermann Broch und George Grosz enthalten. In diesem Vorwort stellt er noch einmal seine philosophischen Prämissen vor und ordnet seine Texte diesen zu. Günther Anders, der auch als Theoretiker, der die Atombombe gedacht hat, in die Geschichte der Philosophie eingegangen 34 Heidegger, Martin: Die Technik und die Kehre. Pfullingen: Neske, 1976. S. 28 35 Waldenfels, Der Stachel des Fremden, S. 58: „‚Entfremdung‘“ ist „nicht frei-[…] von gnostischen Untertönen“. 11.2. Günther Anders’ Diagnose der Weltfremdheit des Menschen 290 11. Das Fremdwerden des Eigenen. Theorien der Entfremdung ist, spricht im Vorwort von einer Zäsur in seinem Denken, die sich mit dem „Hiroshimatag am 6. August 1945“ datieren lässt. Während es seither für ihn darum gegangen sei, eine Welt ohne Menschen zu denken, habe er sich bis dahin vornehmlich mit dem „Menschen ohne Welt“ beschäftigt. Diese Weltlosigkeit umschreibt Anders zunächst so: ‚Menschen ohne Welt‘ waren und sind diejenigen, die gezwungen sind, innerhalb einer Welt zu leben, die nicht die ihrige ist; einer Welt, die, obwohl von ihnen in täglicher Arbeit erzeugt und in Gang gehalten, ‚nicht für sie gebaut‘ (Morgenstern), nicht für sie da ist; innerhalb einer Welt, für die sie zwar gemeint, verwendet und ‚da‘ sind, deren Standards, Abzweckungen, Sprache und Geschmack aber nicht die ihrigen, ihnen nicht vergönnt sind. 36 Ausdrücklich erwähnt Anders im Vorwort von 1984 die Grundthese von Marx, wonach das Proletariat die „Produktionsmittel, mit deren Hilfe es die Welt der herrschenden Klasse erzeuge und so in Gang halte, nicht selbst besitze“. 37 Er möchte indes seinen Ansatz als eine Weitung der Marxschen Entfremdungsdiagnose verstanden wissen. So beschränkt er sich nicht auf die fremden Produktionsmittel oder auf die von dem Arbeiter erzeugten „products of easy life“, sondern bezieht insbesondere die moderne Technik unter Einschluss der Medien in seine Überlegungen mit ein. Anders unterscheidet vier Bedeutungen von Weltlosigkeit. Vor allem ist seine Theorie der Weltfremdheit im Sinne einer „negativen Ontologie“ zu verstehen. Ebenso wenig wie dem „Bauarbeiter das von ihm mit errichtete Gebäude“ gehört, ist der moderne Mensch heimatlos. Er lebt nur für die Welt Anderer. Heideggers Seinsbefund korrigierend, spricht der österreichische Philosoph davon, dass der Mensch ohne Welt nicht in dieser, sondern nur innerhalb von ihr lebt, auch wenn ihm das oft nicht bewusst sei. Unter Rekurs auf Marx und Hegel unterscheidet er die Situation des Arbeitenden, das „Sein des Knechts“, der bloß und gezwungenermaßen innerhalb der Welt lebt, von der „Welt der Herren“, die immerhin in der Welt leben. 38 Anders relativiert seine negative Ontologie, wenn er den Befund der Weltlosigkeit mit Marx bestimmten gesellschaftlichen Gegebenheiten und Klassenverhältnissen zuordnet. Es bleibt dabei auch unentschieden, inwiefern die Minderheit der Besitzenden ‚Menschen mit Welt‘ sind. Der generalisierende 36 Anders, Günther: „Einleitung“. In: Ders.: Mensch ohne Welt. München: C. H. Beck, 1984. S. XI . 37 Anders, „Einleitung“, S. XII . 38 Anders, „Einleitung“, S. XII f. 291 Titel des zweibändigen Hauptwerks Die Antiquiertheit des Menschen impliziert die Grundthese, dass der Mensch in der modernen technischen Welt von der von ihm geschaffenen Technik überholt und marginalisiert wird, so dass er am Ende wie eine fast überflüssige Randerscheinung anmutet. Das ist übrigens der Kipp-Punkt, wo die Situation des Menschen ohne Welt (Weltlosigkeit) in den Zustand der Welt ohne Mensch (Menschlosigkeit) einmündet. Beide großen negativen Erzählungen und Hypothesen Anders lassen sich fast kongenial miteinander verbinden. Im Folgenden führt Anders’ noch drei weitere Bedeutungen von Weltlosigkeit an. Die Arbeitslosigkeit, Charakteristikum der auf Lohnarbeit beruhenden kapitalistischen Ökonomie, ist für ihn insofern eine potenzierte Weltlosigkeit, als der Arbeitslose diejenige Welt verliert, die zwar nicht die seine ist bzw. war, innerhalb derer er indes tätig war. In einer weiteren Bedeutungszuweisung des Weltverlusts geht Anders noch einmal auf seine philosophischen Anfänge ein, nämlich auf jene beiden philosophischen Aufsätze aus den 1930er Jahren, die er selbstkritisch im Sinne eines „politikfreien Intermezzos“ 39 bezeichnet. In diesen versteht er die Weltfremdheit ontologisch und anthropologisch. Es finden sich, wie zuvor bei Friedrich Nietzsche und danach bei Arnold Gehlen, zentrale Überlegung zu einer, mit Ulrich Sonnemann gesprochen, negativen Anthropologie. Das bedeutet in diesem Zusammenhang, dass der Mensch als Lebewesen nicht existentiell festgelegt und von daher fremd und nicht selbstverständlich in der Welt ist. Dieser Gedankengang ist schon bei Marx in dem Gegensatz von Mensch und Tier nachweisbar: Während das Tier mit seiner „Lebenstätigkeit“ eins ist, schafft der Mensch diese, wie es in den Philosophisch-ökonomischen Manuskripten heißt, „bewußt“. 40 Die bewusste Schaffung der menschlichen Lebenstätigkeit wird vom jungen Marx gerade als jene potentielle Möglichkeit angesehen, dass der Mensch bei sich sein kann und eben nicht entfremdet ‚ex-sistieren‘, bzw. aus sich heraustreten muss. Anders spricht an dieser Stelle, ähnlich wie andere philosophische Anthropologen, von einem „anthropologischen Defekt“. 41 Demzufolge befindet sich der Mensch im Zustand der Uneinigkeit mit sich selbst, er ist unfertig und muss seinen ‚ursprünglichen‘ Zustand verändern. Der österreichische Philosoph relativiert die eigene Hypothese seines früheren Denkens jedoch: Er statuiert nun, dass der besagte Defekt nicht auf archaische, sondern nur auf „spätgeschichtliche“ Kul- 39 Anders, „Einleitung“, S. XIV . 40 Marx, „Ökonomisch-philosophische Manuskripte“, S. 57. 41 Anders, „Einleitung“, S. XIII . 11.2. Günther Anders’ Diagnose der Weltfremdheit des Menschen 292 11. Das Fremdwerden des Eigenen. Theorien der Entfremdung turen und „Weltkonzepte“ zutrifft, 42 also letztendlich keine übrigens nicht nur negative, sondern auch paradoxe anthropologische Konstante (konstant ist, dass die menschliche Befindlichkeit inkonstant ist) darstellt. Die vierte Bedeutung des Ausdrucks ‚Mensch ohne Welt‘ mag auf den ersten Blick überraschend und auch provokant anmuten. Der Mensch ist auch deshalb weltlos, weil er „im Zeitalter des kulturellen Pluralismus“ lebt. Er partizipiert gleichzeitig an „vielen, an zu vielen Welten“. Diese in unserer Gesellschaft zumeist positiv konnotierte Pluralität kaschiert für Anders aber jene Befindlichkeit, der zufolge der moderne Mensch „keine bestimmte, und damit auch keine Welt hat“. 43 Der Philosoph liefert einige illustrative Beispiele: der Protestant, der ergriffen ist von einer katholischen Messe, der Reformjude, der seinem Buben Darwins Entstehung der Arten schenkt, oder der Quantenmechaniker, der sich für die Gralsmusik Wagners begeistert. Anders fasst das kultur- und medienkritisch, wenn er auf den Hörfunk zu sprechen kommt: „Das Radio bedient nicht nur jedermann, spendet nicht nur suum cuique, sondern Allen alles.“ 44 Wer gegen diese sich hinter dem Pluralismus (den Anders gar als „kulturelle Promiskuität“ apostrophiert) verbergende Weltlosigkeit Einspruch erhebt, der würde gar als „kulturell prüde, stur, provinziell, unaufgeschlossen, intolerant, undemokratisch und unkultiviert“, ja sogar als unmoralisch angesehen. 45 Anders zeigt sich unbeirrt, wenn er davon ausgeht, dass dieser moderne „Polytheismus“ und die damit verbundene „Toleranz“ Symptome eines Mangels sind: „Wer in einer Welt lebt, in der alle Religionen und Weltanschauungen als gleichermaßen berechtigt gelten, der lebt in keiner eindeutigen ‚Welt‘; vielmehr in einem Zustande, in dem der merkwürdige Plural ‚Welten‘ unanstößig zu werden beginnt.“ 46 Auch wenn man Anders’ Wertungen nicht teilen mag, muss man doch einräumen, dass er seine Position und seinen Befund konsequent zu Ende denkt. Strukturell ähnelt dieses Moment ideologisch-religiöser Weltlosigkeit jenem der anthropologischen Nicht-Fixiertheit. So wie der Mensch nicht auf eine bestimmte Lebensform fixiert ist, so gibt es auch-- kulturwissenschaftlich gesprochen-- keine weltbildlichen und symbolischen Festlegungen. Das bedeutet aber auch, dass der Pluralismus, den Anders letztendlich als eine intellektuelle Form des kapitalisti- 42 Anders, „Einleitung“, S. XIV . 43 Anders, „Einleitung“, S. XV . 44 Anders, „Einleitung“, S. XVII . 45 Anders, „Einleitung“, S. XVII . 46 Anders, „Einleitung“, S. XVI . 293 schen Konsumismus und als Folge medialer Tyrannis begreift, doch eine gewisse Unvermeidlichkeit innewohnt. Der Philosoph geht so weit, unter Hinweis auf sein Hauptwerk von einem „heimlichen Totalitarismus der Medien“ zu sprechen, der uns zwinge, uns für frei zu halten. 47 „Als Waren können selbst Todfeinde zu Alliierten werden.“ 48 Die Ware und das sie bedingende Geld werden als eine kulturelle Macht angesehen, die alle Gegensätze gleichsam neutralisiert und einander gleichmachen. Der kulturelle Pluralismus erweist sich für Anders als ein Effekt, der sich aus der Logik der kapitalistischen Warenwirtschaft ergibt: Dazu kommt, daß das klassische ‚non olet‘ nicht nur vom Geld gilt, sondern von jeder gegen Geld verkäuflichen und käuflichen Ware. Durch die Tatsache, daß sie ehrlich auf den Strich geschickt und gekauft werden kann, verliert jede ihren ‚Gestank‘. ‚Ich bin käuflich, also bin ich anständig‘, spricht jede, ‚und gleich anständig wie jede andere‘. Also gleichermaßen ein Kulturobjekt innerhalb der pluralistischen (keine ‚Welt‘ bildenden) Welt. Also gleichermaßen geeignet für jeden ‚Menschen ohne Welt‘. 49 Der Pluralismus wäre, will man diesem mit linker Gesellschaftskritik durchsetztem Kulturpessimismus glauben, demnach nicht ein frei gewählter Zustand des aufgeklärten skeptischen Menschen, sondern der gesellschaftliche Zwang einer entfremdeten Warenwelt. Wie Anders nachfolgende Ausführungen zu Kunst und Religion zeigen, sieht er beide durch den Pluralismus gefährdet. Die Programmatiken der jeweiligen Ismen verkommen in der Kunst zu Moden und die Religion büßt infolge ihrer aufgeklärten Vertreter ihre Glaubwürdigkeit ein. Was Weltlosigkeit nämlich als Folge von Relativismus und Unverbindlichkeit auch bedeutet, das ist der Verlust an Ernst und an Wert. Dieser Befund ist, auch wenn man sich den pejorativen Gestus nicht zu eigen machen will, doch bedenkenswert. Mit Anders lässt sich nämlich die Attraktivität all jener Bewegungen erklären, die man mit dem Etikett ‚fundamentalistisch‘ versieht und die es in allen religiösen Umfeldern, wie zum Beispiel christlichen, hinduistischen, islamischen, buddhistischen und jüdischen gibt. Sie nähren sich von einem latenten Unbehagen an der modernen Welt, die einem keine verbindlichen Richtlinien und Werte an die Hand gibt und in der Gewissheiten Mangelware geworden sind. Nichts in dieser ‚weltlosen‘ Welt gilt und steht unumstößlich fest. Der Fundamentalismus ist also nicht einfach Traditionalismus, 47 Anders, „Einleitung“, S. XIX . 48 Anders, „Einleitung“, S. XXIII . 49 Anders, „Einleitung“, S. XXIII . 11.2. Günther Anders’ Diagnose der Weltfremdheit des Menschen 294 11. Das Fremdwerden des Eigenen. Theorien der Entfremdung sondern eine Reaktionsbildung auf die „kulturelle Promiskuität“. Statt des pluralistischen und polytheistischen ‚Programms‘ gibt es nur ein einziges Programm, das einen Status der Unhinterfragbarkeit und Unbezweifelbarkeit besitzt und das mir nicht nur sagt, was richtig und was falsch ist, sondern auch mein Leben wie selbstverständlich regelt und einrichtet. Übrigens enthielt auch der radikale Kommunismus sowjetischer Provenienz das Programm einer solch eindeutigen Zurichtung. 50 All diese Programme beruhen auf der Idee, dass der Mensch in einer klar umrissenen, transparenten Welt, in der es kein Fremdes und keine fremden Ungläubigen gibt und geben soll, leben soll. Ob eine solche „Welthaftigkeit“ der Weltlosigkeit vorzuziehen ist, darf bezweifelt werden. Erfolge können solche modernen Fundamentalismen haben, wenn latentes Unbehagen oder die Angst vor der Freiheit mit ökonomischen Krisen, politischen Konflikten oder ethnischen Auseinandersetzungen verbunden werden. Scheinbar hat dieses Kapitel an den Rand der Thematik dieses Buches geführt. Denn das Fremde, um das es hier geht, hat primär weder mit der Alterität im philosophischen Sinn, noch mit der Fremdheit in kultureller Hinsicht oder mit Fremdheit als sozialer Konstruktion zu tun. Aber was es mit all diesen Formen und Ausprägungen gemeinsam hat, ist das Kennzeichen des Unvertraut-Seins, das Angst auslöst wie auch ein eigentümliches Widerspiel von Fremdem und Eigenem. Gegen Anders gesprochen, ist die von ihm beschriebene Weltlosigkeit im Sinne eines kulturellen Pluralismus die Bedingung der Möglichkeit, mit Fremdem umzugehen, dem ‚eigenen‘ wie dem ‚fremden‘. Es könnte also neben jener handfesten Enteignung, wie sie Marx formuliert hat, eine positive Form von Ent-Fremdung geben, eine, die uns für das Fremde offen hält, eine, die das Fremde fremd sein lässt und doch auf paradoxe Weise vertraut ist. 50 Lenin, Wladimir I.: „Drei Quellen und drei Bestandteile des Marxismus (1913)“. In: Ders.: Werke. Band 19. Berlin: Dietz-Verlag, 1977, S. 3. „Die Lehre von Karl Marx ist allmächtig, weil sie wahr ist. Sie ist in sich geschlossen und harmonisch, sie gibt den Menschen eine einheitliche Weltanschauung, die sich mit keinerlei Aberglauben, keinerlei Reaktion, keinerlei Verteidigung bürgerlicher Knechtung vereinbaren läßt.“ 295 12.1. Diskursbegründung: Tzvetan Todorov 12. Die Übersteigerung des Fremden: Das Phantastische, das Wunderbare, das Unheimliche 12.1. Diskursbegründung: Tzvetan Todorov Der französisch-bulgarische Literaturtheoretiker und Strukturalist Tzvetan Todorov (Jahrgang 1939) hat zwei Bücher vorgelegt, in denen die Figur des Fremden eine maßgebliche Rolle spielt: Beim einen Werk handelt es sich um seine 1983 auf Französisch erschienene Studie über den frühen spanischen Kolonialismus, 1 in der er die rivalisierenden Wahrnehmungen und Konstruktionen des außereuropäischen Fremden diskutiert. Das zweite, 1970 (deutsch 1972) erschienene Buch, stellt eine Einführung in die phantastische Literatur dar, 2 in der es nicht zuletzt um die Fähigkeit der Literatur geht, andere, ‚fremde‘ Welten zu erfinden, die signifikant von der Alltagswelt abweichen. Vorab gesprochen besteht zwischen beiden Fragestellungen ein spürbarer Zusammenhang: Denn lange vor den europäischen Eroberern hat oft die schriftstellerische Phantasie diese unbekannten Räume mit phantastischen Mischwesen bevölkert. Diese Phantasiegestalten waren z. B. halb Tiere, halb Menschen- - und zum Teil auch mit mehreren Köpfen ausgestattet. Die Welt von Mythos und Märchen, aber auch Film und digitale Medien sind voll mit solchen sub- oder hyper-humanen Lebewesen, mit Nymphen und Zentauren, Zwergen und Riesen, Drachen und Engeln, mit Feen, Hexen und teuflischen Gestalten, mit Sylphiden und Vampiren, mit Elefanten- und Affenmenschen oder Sphinxen, mit all den Monstern, denen sich antike Helden wie Herkules und Theseus in den Weg stellen. Es ist nicht zuletzt das Unbekannte, Unvertraute, das Unbewusste, kurzum, das, was sich an einer Grenze befindet, das die menschliche Einbildungskraft in Gang setzt. Nicht umsonst sind die Atlanten aus dem 15. Jahrhundert mit monströsen und fremden Lebewesen bevölkert, die an den Rändern der bekannten Welt lebten. 3 Die Literatur ist ein klassisches Kunstformat, in der Welten dargestellt werden, in denen es solche Wesen gibt. Es scheint so etwas wie eine literarische Spielver- 1 Todorov, Tzvetan: Die Eroberung Amerikas. Das Problem des Anderen. Frankfurt / Main: Suhrkamp, 1985. 2 Todorov, Tzvetan: Einführung in die phantastische Literatur. Übersetzung aus dem Französischen von Karin Kersten, Senta Metz, Caroline Neubaur. Hanser: München, 1972. 3 Nebenzahl, Kenneth: Der Kolumbus Atlas. Karten aus der Frühzeit der Entdeckungsreisen. Braunschweig: Westermann, 1990. 296 12. Das Phantastische, das Wunderbare, das Unheimliche einbarung zu geben, die die Leserschaft veranlasst, zumindest für den Zeitraum der Lektüre zu glauben, dass es diese Welt mitsamt ihren erdachten Lebewesen gibt. Spätestens seit der europäischen Romantik gilt die phantastische Literatur als eine spezifische Gattung innerhalb der Literatur. Sie definiert sich dadurch, dass in ihr eine Szenerie dargestellt wird, die sich von unserer Alltagswelt unterscheidet. Die Grenze zwischen Realität und Phantastik ist jedoch nicht immer klar zu ziehen: Auch in der sogenannten realistischen Welt, die z. B. auf die Geographie unseres Planeten, auf die in ihr existierenden Kulturen und Völker Bezug nimmt, gibt es phantastische Elemente und sei es auch nur der Umstand, dass es, wie in der Mehrheit moderner Romane, einen gottähnlichen namenlosen Beobachter und Berichterstatter gibt, der all die Innenwelten der real möglichen Menschen kennt. Ein weiteres Beispiel sind die kompositorischen Häufungen von Zufällen und Begegnungen von Romanfiguren. Sie gehören, streng betrachtet, im ‚realen‘ Leben zu den eher unwahrscheinlichen Ereignissen. Jedwede Komposition und Konstruktion lässt sich als das Werk einer phantastischen Schöpfung begreifen. Berühmte Werke der Weltliteratur wie Gerard de Nervals Aurelia oder das Œuvre Franz Kafkas, die üblicherweise nicht der phantastischen Literatur zugerechnet werden, können in gewisser Hinsicht phantastisch genannt werden. In der Erzählung Nervals dominieren phantastische Innenwelten. Kafkas Texte hingegen erschaffen eine Welt, die- - abgesehen von der Tatsache sprechender Tiere- - in ihrer Unheimlichkeit und Undurchschaubarkeit nicht mit unserem vertrauten Lebensalltag übereinstimmt. Von einer prinzipiellen Fremde spricht Benjamins Interpretation und davon, dass „die Figuren Kafkas-[…] durch eine lange Reihe von Gestalten-[…] mit dem Urbilde der Entstellung, den Buckligen“ 4 verbunden sind. Nichtsdestotrotz gibt es zwischen dem künstlichen Wesen Frankenstein oder Dracula und Madame Bovary oder Anna Karenina signifikante Unterschiede. Um solche Unterscheidungen geht es auch in Todorovs Studie über das Phantastische. Todorov zitiert aus einem französischen Roman der phantastischen Literatur, aus Jacques Cazottes (1719-1792) Le Diable amoureux, in dem der Protagonist mit einem Wesen zusammenlebt, von dem er nicht weiß, ob es eine Frau oder eine Sylphide, ein weiblicher Geist in menschlicher Gestalt ist. Diese Irritation, dieser Einbruch des Unerklärlichen in die dem Leser vertraute Welt, ist für den Autor das Moment, das zum Kernbestand des Phantastischen gehört. Es findet 4 Vgl. dazu bereits: Benjamin, Walter: Franz Kafka. In: Ders.: Ausgewählte Schriften 2. Frankfurt / Main: 1966. S. 248-263. Hier: S. 262. 297 12.1. Diskursbegründung: Tzvetan Todorov ein Ereignis statt, das sich nicht erklären lässt. Es ist jener Kontrast zum Realen und Vertrauten, der als „phantastisch“ wahrgenommen wird. Wesentliches Charakteristikum des Phantastischen ist indes, dass diese ‚befremdliche‘ Situation nicht aufgeklärt werden kann. Cazottes Held Alvares und mit ihm auch seine Leserinnen und Leser sind nicht imstande, das Rätsel zu lösen. Wie ist das Ereignis, „das sich aus den Gesetzen eben dieser vertrauten Welt nicht erklären läßt“ 5 , zu begreifen? Der Held und die sich mit ihm identifizierende Leserschaft haben zwei Möglichkeiten: Entweder man deutet dieses Ereignis als Produkt der Einbildungskraft oder geht davon aus, dass die betreffende Fragestellung Bestandteil der Wirklichkeit ist, was dann natürlich unser Realitätsverständnis spürbar verschiebt. Wobei hinzuzufügen ist, dass gerade das moderne Publikum während des ‚Aufenthaltes‘ in der fiktiven Welt im Roman, im Film oder im digitalen Medium diese für ‚real‘ hält. Wenn es diese jedoch wieder verlassen hat, findet es sich wieder im profanen Lebensalltag ein. Das Phantastische schafft eine eigene, andere und fremde Welt. Über den Autor hinaus gesprochen ist an dieser Stelle zu erwähnen, dass es sich im konkreten literarischen Fallbeispiel um ein weibliches Wesen handelt, das monströs konstruiert und damit verfremdet wird. Die allegorische Lösung löst allerdings, wie Todorov schreibt, das Phantastische auf. Das phantastische Moment dient nämlich nur als gleichnishafter Verweis auf die Eigenschaften einer Frau, ist also hauptsächlich funktional. 6 Allgemein gesprochen resultiert das Phantastische aus einer epistemologischen Unschlüssigkeit. Etwas ist passiert und ich weiß nicht, wie ich es verstehen soll: Das Fantastische liegt im Moment dieser Ungewißheit; sobald man sich für die eine oder die andere Antwort entscheidet, verläßt man das Fantastische und tritt in ein benachbartes Genre ein, in das des Unheimlichen oder das des Wunderbaren. Das Fantastische ist die Unschlüssigkeit, die ein Mensch empfindet, der nur die natürlichen Gesetze kennt und sich einem Ereignis gegenübersieht, das den Anschein des Übernatürlichen hat. 7 5 Todorov, Tzvetan: Einführung in die fantastische Literatur. Deutsch von Karin Kersten, Senta Metz und Caroline Neubaur. Frankfurt / Main: Fischer, 1992. S. 25. 6 Todorov, Fantastische Literatur, S. 32: „Es gibt Erzählungen, die Elemente des Übernatürlichen enthalten, ohne daß der Leser jemals über die Beschaffenheit im Zweifel wäre, weil er sehr wohl weiß, daß er sie nicht wörtlich zu nehmen hat. Wenn Tiere sprechen, so gibt es für uns keinen Zweifel: Wir wissen, daß die Worte des Textes in einem anderen, allegorisch genannten, Sinn zu verstehen sind.“ 7 Todorov, Fantastische Literatur, S. 26. 298 12. Das Phantastische, das Wunderbare, das Unheimliche Nach dieser Definition wäre auch Hoffmans Erzählung Der Sandmann dem Phantastischen zuzuordnen, bleibt doch auch hier eine Unschlüssigkeit im Hinblick auf die geschilderten Ereignisse. Waren es nur Phantasien eines sensiblen, jungen romantisch veranlagten Mannes (so die Version seiner Verlobten) oder gibt es den ‚Sandmann‘ wirklich (so die Deutung des Protagonisten)? ( → -Kapitel 3). Todorov zufolge wäre die ‚unheimliche‘ Auflösung jene, die mit der ersten Interpretation einhergeht, die zweite führte hingegen in die Welt des Wunderbaren. Der französisch-bulgarische Literaturtheoretiker betont ausdrücklich, dass die Unschlüssigkeit nicht nur die der Hauptfigur sein kann, vielmehr soll auch die Leserschaft unschlüssig bleiben, damit der Effekt des Phantastischen sich einstellt und erhalten bleibt. Todorov zitiert einen englischen Autor, Montague Rhodes James, der diesen Effekt so beschreibt: „Es ist manchmal notwendig, daß die Ausgangstür zu einer natürlichen Erklärung offenbleibt, aber ich muß wohl hinzufügen, daß diese Tür so eng sein muß, daß man von ihr keinen Gebrauch machen kann.“ 8 Die Tür als Metapher macht anschaulich, worum es geht: nämlich um das Phänomen, in einem fremden Raum eingeschlossen zu sein, auch wenn sich hin und wieder mögliche Öffnungen zeigen, die aber jeweils in die Irre führen. Das ist übrigens auch in Kafkas Texten oftmals der Fall. Wie die Hauptfigur bzw. der Erzähler tappen auch der Leser und die Leserin in der labyrinthischen und opaken Welt, die Kafka etabliert, herum. Oder anders ausgedrückt: Das Wissen von Held, Erzähler und Publikum ist dasselbe. Deshalb ist auch Don Quichotte kein phantastischer Roman, weil das Publikum von vornherein von der Selbst- Täuschungsbereitschaft des Helden weiß und keinen Augenblick daran glaubt, dass die Flügel der Windmühle eine feindliche Heerschar sind. Das Phantastische „impliziert also die Integration in die Welt der Personen. Es definiert sich aus der ambivalenten Wahrnehmung der berichteten Ereignisse durch den Leser selbst“. Wenn der Leser, wie zum Beispiel im Falle von Kafkas Tiergeschichten, ‚weiß‘, dass ihnen eine gleichnishafte Bedeutung innewohnt, dann wird das Phantastische allegorisch aufgelöst. Eine poetische Auflösung des Befremdlichen findet dann statt, wenn man den betreffenden Ausdruck-- z. B. „das poetische Ich erhebt sich in die Lüfte“-- als poetische Verdichtung einer inneren Stimmung versteht. Daraus ergeben sich drei Bedingungen für das Phantastische: 1. Der Text muss die Leserschaft ‚zwingen‘, „die Welt der handelnden Personen wie eine Welt lebender Personen zu betrachten“. Somit wird sie in die Un- 8 Zit. nach Todorov, Fantastische Literatur, S. 26. 299 12.1. Diskursbegründung: Tzvetan Todorov schlüssigkeit einbezogen, ob die im Roman geschilderten Ereignisse „einer natürlichen oder einer übernatürlichen Erklärung bedürfen“. Diese erste Prämisse nennt Todorov den „verbalen Aspekt“. 9 2. Es gibt eine Verdoppelung dieser Unschlüssigkeit: Die Hauptfigur der Handlung bleibt wie das Lesepublikum im Unklaren darüber, wie sie die jeweiligen phantastischen Ereignisse einschätzen soll. Diese zweite Bedingung nennt der Verfasser den „syntaktischen Aspekt“, bei dem es um den formalen Rahmen des Narrativen geht. 3. Die Leserschaft muss die allegorische oder poetische Interpretation „zurückweisen“. Diese Prämisse wird im Buch als „semantischer Aspekt“ bezeichnet. 10 Die Generierung von Angst kommt zwar häufig in der Begegnung mit dem ganz Fremdartigen vor, ist aber für Todorov keine zwingende Bedingung. 11 Man könnte dem entgegenhalten, dass jene Unentscheidbarkeit, die die Leserschaft an das Phantastische bindet und die dafür sorgt, dass die Fremdheit sich in der Welt des Textes nicht aufzulösen vermag, angsterzeugend ist. Sie konstruiert, um hier Blumenbergs Begriff ins Spiel zu bringen, einen „künstlichen Absolutismus der Wirklichkeit“, der, anders als der alles erklärende Mythos, keine Möglichkeit der Angstabwehr bietet. 12 Blumenberg bestimmt die Funktion des Mythos als eine symbolische Form, die dem „Absolutismus der Wirklichkeit“, der Übermächtigkeit einer widrigen und darüber hinaus sinnleeren Umwelt, eine Bedeutung zuweist. Das Wunderliche / Erstaunliche / Skurrile / Absonderliche als das radikal Fremde versetzt uns im Medium der phantastischen Literatur, die auch als ein virtuelles Spiel begriffen werden kann, in den Status rationaler Hilflosigkeit zurück. Die zweite, syntaktische Bedingung hält Todorov zwar nicht für bindend, wird aber empirisch betrachtet sehr häufig erfüllt. Ob ein literarischer Text phantas- 9 Todorov, Fantastische Literatur, S. 31. 10 Todorov, Fantastische Literatur, S. 33. 11 Todorov, Fantastische Literatur, S. 35. 12 Blumenberg, Hans: Arbeit am Mythos. Frankfurt / Main: Suhrkamp, 1979. S. 9: „Wendet man den Blick von den professionell oder gar professoral ausgemalten Schrecknissen der Gegenwart und erst recht der Zukunft zurück auf die der Vergangenheit und Vorvergangenheit, stößt man auf die Notwendigkeit, einen Angstzustand vorzustellen, der die Erfordernisse jenes alten status naturalis philosophischer Kultur- und Staatstheorien erfüllt. Dieser Grenzbegriff der Extrapolation faßbarer geschichtlicher Merkmale ins Archaische läßt sich formal in einer einzigen Bestimmung festlegen: als Absolutismus der Wirklichkeit. Er bedeutet, daß der Mensch die Bedingungen seiner Existenz nicht in der Hand hatte, und, was wichtiger ist, nicht in seiner Hand glaubte.“ 300 12. Das Phantastische, das Wunderbare, das Unheimliche tisch ist oder nicht, das ergibt sich nicht allein, wie Todorov in seinem ‚objektiven‘ strukturalen Verfahren annimmt, aus der Struktur des Textes. Diese Frage muss auch dahingehend beantwortet werden, wie in unterschiedlichen kulturellen und historischen Kontexten ein bestimmter Text dekodiert wird. Die jeweilige Lesart unterscheidet demnach mit über das Ausmaß des Phantastischen. Jeder Text enthält verschiedene Möglichkeiten, ihn zu lesen. Bis zu einem gewissen Grad lassen sich zum Beispiel Kafkas Texte allegorisch lesen und das galt auch für Cazottes Text oder für Bachmanns Adaption des romantischen Undine-Motivs, das Gleichnis und Konstruktionsform des ‚anderen‘ Geschlechts ist. Das Phantastische entspringt einer Zwischenlage: „Der Begriff des Fantastischen definiert sich also aus seinem Verhältnis zu den Begriffen des Realen und des Imaginären-[…]“. 13 Es ist an dieser Stelle nicht recht klar, inwiefern der Autor diese Begriffe im Sinne Lacans ( → -Kapitel 7) versteht, 14 bei dem diese beiden Termini ‚Horizont‘-Kategorien darstellen, die mit einem dritten, dem Symbolischen, verbunden sind und die auch kein Oppositionspaar bilden, sondern einander durchdringen. Vielleicht lässt sich der Hinweis des Autors so verstehen, dass auch phantastische Texte, mitsamt ihres Überhangs an imaginären Elementen, Bezug auf die menschliche Wirklichkeit nehmen, etwa kontrastiv zur jeweiligen ‚Realität‘. Oder anders ausgedrückt: Alle literarischen Texte verfügen über eine bestimmte Referenz und appellieren an unsere Erfahrung mit der Welt, aber auch an unsere ästhetischen Erfahrungen und Kenntnisse, Texte zu lesen. Davon wird noch zu sprechen sein. Todorov spricht des Öfteren davon, dass das Phantastische eine „verschwimmende Gattung“ sei, stets bedroht, „sich jeden Augenblick aufzulösen“. 15 Insofern ist das Phantastische eine Art von Grenzphänomen zwischen zwei anderen literarischen Formen, wie er mit Blick auf den Schauerroman, der gothic novel, anmerkt, von dem auch Romantiker wie E. T. A. Hoffmann und Ludwig Tieck ausgiebig gezehrt haben. Zwei „Tendenzen“ gilt es dabei zu unterscheiden: 1. Das Unheimliche: Hier wird das Übernatürliche expliziert. (Beispiele sind Ann Radcliffe und Clara Reeves.) 2. Das Wunderbare: Hier wird das Übernatürliche akzeptiert. (Beispiele sind die Romane von Horace Walpole und M. G. Lewis.) 13 Todorov, Fantastische Literatur, S. 31. 14 Clemens Ruthner verneint in seiner Studie den Zusammenhang mit Lacans Theorie, persönliche Mitteilung des Autors. 15 Todorov, Fantastische Literatur, S. 40. 301 12.1. Diskursbegründung: Tzvetan Todorov In beiden Fällen kehrt eine gewisse ‚Sicherheit‘ ein. Im ersten Fall werden die befremdlichen, unserer Logik zuwiderlaufenden Ereignisse erklärt (wie bei Ann Radcliffe), während die Leserschaft im Falle des Wunderbaren davon überzeugt wird, dass es keine natürlichen Erklärungen gibt, weil sie sich in einer anderen Welt befindet. Der Autor versucht nun im Folgenden, den drei herausgearbeiteten Begriffen markante Unterschiede im Hinblick auf die temporalen Gegebenheiten zuzuschreiben: […] das Wunderbare entspricht einem unbekannten, nie gesehenen, kommenden, also zukünftigem Phänomen; beim Unheimlichen dagegen führt man das Unerklärliche auf bekannte Fakten zurück, auf eine vorgängige Erfahrung und damit auf die Vergangenheit zurück. Was das Fantastische selbst angeht, so kann die Unschlüssigkeit, die dafür charakteristisch ist, ganz offenkundig nur der Gegenwart angehören. 16 Freuds Lesart von Hoffmanns Erzählung Der Sandmann ist tatsächlich eine ‚unheimliche‘ im Sinne Todorovs, denn schon in seiner Nacherzählung erklärt er die phantastische Vorstellungswelt Nathanaels aus dessen frühkindlicher Vergangenheit und interpretiert sie mit Hilfe der Psychoanalyse ( → -Kapitel 3). Überhaupt ist es in diesem Spiel der phantastischen Literatur die Figur des / der Lesenden, der / die auf die Auflösung jenes Phantastischen drängt, nachdem er / sie den Kitzel des Fremden und Unerklärlichen genossen hat. Ein schönes Beispiel dafür bietet auch eine Erzählung von Robert Musil (Tonka), in der die junge Geliebte des Protagonisten unerklärlicherweise schwanger wird. Auch hier hat eine Literaturwissenschaftlerin versucht, dieses Mysterium durch eine natürliche Erklärung aufzulösen, für die es im Text freilich keinen zwingenden Grund gibt. Es ist also stets auch der rationalisierende und erklärende Rezeptionsvorgang der professionellen Philologie, die das Phantastische bedroht. 17 Todorov geht davon aus, dass die drei von ihm vorgeschlagenen Begriffe einander nicht ausschließen, sondern vielmehr überlagern, wobei er letztendlich das Phantastische als eine Grenzlinie zwischen dem Unheimlichen und dem Wunderbaren begreift: 18 16 Todorov, Fantastische Literatur, S. 41. 17 Huszai, Villö: Ekel am Erzählen. Metafiktionalität im Werk Robert Musils, gewonnen am Kriminalfall Tonka. München: Fink, 2002. 18 Todorov, Fantastische Literatur, S. 43. 302 12. Das Phantastische, das Wunderbare, das Unheimliche unvermischt Fantastisch- Fantastischunvermischt Unheimliches Unheimliches Wunderbares Wunderbares 1. Das unvermischt Unheimliche: Es wird von Begebenheiten erzählt, die sich vollständig logisch erklären lassen, die jedoch außergewöhnlich und schockierend erscheinen, d. h. die Erklärung hebt die Irritation durch das Fremdartige nicht auf, wie Todorov unter Bezugnahme auf Freud meint. 19 2. Das Phantastisch-Unheimliche: Alle Wunder und fremden Ereignisse werden am Ende oder im Laufe der Erzählung rational erklärt. Es kommt also zu einer Auflösung der Irritation. 20 3. Das Phantastische (Mittellinie): Wir sind unschlüssig, ob die geschilderten Vorkommnisse eine rationale natürliche Erklärung haben oder der Logik einer anderen, übernatürlichen Welt entstammen, in der andere Gesetze herrschen als in der unsrigen. 4. Das Phantastisch-Wunderbare: Die Erzählung beginnt mit der Schilderung phantastischer Ereignisse, die mit der Anerkennung des Übernatürlichen enden. 5. Das unvermischt Wunderbare. Wir befinden uns von Anfang an in einer anderen, übernatürlichen Welt, die von der Leserschaft als solche akzeptiert wird. 21 Literatur ist ein ‚Ort‘, in dem potentiell andere Welten etabliert werden, in denen es von Fremdlingen und wundersamen Gestalten nur so wimmelt. Was ist nun aber jenseits dieses Eskapismus, jener lustvollen Flucht aus der Alltagswelt und jenes Spiels mit dem Kitzel von Angst und Schrecken, die soziale und kulturelle Funktion phantastischer Literatur, die auch Texte mit einschließt, die zunächst ganz ‚realistisch‘ sind, in denen sich aber Vorkommnisse ereignen, die unserer vertrauten Realität widersprechen- - so wie das in Kafkas Verwandlung der Fall ist? Auf diese Frage kommt Todorov am Ende des Buches zu sprechen. Dabei macht er klar, dass das Imaginäre nicht einfach eine Negation des Realen ist, sondern sich auf dieses bezieht: Die Phantasie erlaubt es, Dinge zu denken, die an der jeweiligen Normalität gemessen unmöglich sind. Todorov zitiert den englischen Literaturwissenschaftler Peter Penzoldt, der davon ausgeht, dass das 19 Todorov, Fantastische Literatur, S. 44 f. 20 Todorov, Fantastische Literatur, S. 43 f. 21 Todorov, Fantastische Literatur, S. 49. 303 12.2. Liminalität des Fremden: Das Phantastische „Übernatürliche“ für viele Autoren „nur ein Vorwand“ ist, „Dinge zu beschreiben, die sie in realistischen Termini niemals auszudrücken gewagt hatten“. Das Phantastische ist demzufolge der Raum, der es „ermöglicht, bestimmte Grenzen zu überschreiten, die ohne seine Unterstützung unantastbar wären“. Als Beispiel verweist der Verfasser der Studie auf Themen wie „Inzest, Homosexualität, Liebe zu mehreren, Nekrophilie, exzessive Sinnlichkeit“, die heute freilich den Nimbus des Unantastbaren eingebüßt haben. Prinzipiell kann die Funktion der phantastischen Literatur nicht zuletzt darin bestehen, Themen, die in einer Kultur der Zensur anheimfallen, zu platzieren. 22 Aber die phantastische Literatur, die sich in das Fremde vorwagt, bekämpft nicht nur die äußere, institutionalisierte Zensur, sondern auch die innere Selbstzensur, die die Wünsche und Begierden nur verdeckt und verfälscht freigibt. Spätestens mit diesem Hinweis befinden wir uns in einem genuin psychoanalytischen Diskurs. Von einer Substitution der phantastischen Literatur durch die Psychoanalyse spricht der Autor gar an einer Stelle. 23 Das heißt aber auch, dass sich durch diese Art von Literatur und den Diskurs, den sie auslöst, unser Verständnis von Realität verändert und geweitet hat. Wenn nämlich all jene phantastischen Motive, die uns in den verschiedenen Formen der Literatur präsentiert werden, als psychische Realitäten gelesen werden können, dann ist das Phantastische nicht nur eine utopische oder dystopische Gegenwelt zur ‚normalen‘ Alltagswelt, sondern ein Verweis auf die vielschichtige innere seelische Verfasstheit des Menschen. In diesem Wechselspiel von Realem und Imaginären offenbart sich also eine Referenz und womöglich auch eine kritische Bezugnahme auf unsere verkürzte Realitätsauffassung, die die wundersamen Momente und die ihr zugrundeliegenden psychischen Mechanismen ausblendet. 24 12.2. Liminalität des Fremden: Das Phantastische Eine wichtige Funktion des Phantastischen kommt bei Todorov überraschenderweise nicht zur Sprache, nämlich die wunderliche Imagination des kulturell Fremden als Selbstwie als Fremdbild. In diesem Zusammenhang denke ich an die Bedeutung des Phantastischen in der lateinamerikanischen Literatur. Die 22 Todorov, Fantastische Literatur, S. 141. 23 Todorov, Fantastische Literatur, S. 143. 24 Lachmann, Renate: Erzählte Phantastik. Zur Phantasiegeschichte und Semantik phantastischer Texte. Frankfurt / Main: Suhrkamp, 2002. 304 12. Das Phantastische, das Wunderbare, das Unheimliche Phantastik bildet nicht selten bei z. B. Gabriel García Marquez oder Jorge Luis Borges eine mögliche andere Welt bzw. eine Gegenwelt oder einen mythischen Anfang ab, die ähnlich und doch anders sind als jene des gesellschaftlichen Alltags in diversen lateinamerikanischen Ländern. 25 Aber auch ein Phänomen wie Marginalisierung- - das Über-Fremde befindet sich stets an den Rändern- - ist in diesem Zusammenhang zu erwähnen. Ihm hat der österreichische Literaturwissenschaftler Clemens Ruthner die eingehende Studie Am Rande gewidmet. 26 Am Rande befindet sich nämlich die Literatur des phantastisch Fremden auf doppelte Weise, nämlich als Genre jenseits des klassischen Kanons und weil die phantastische Handlung zumeist an den ‚dunklen‘ Rändern Europas bzw. Südamerikas angesiedelt ist. Das gilt für Alfred Kubins Die andere Seite ebenso wie für die phantastischen Dimensionen im Werke Kafkas, für Joseph Roths peripheren östlichen Kosmos an den Grenzen der einstigen Donaumonarchie, für die östliche Verfremdung eines ebenfalls peripheren Raumes, der Bukowina, im literarischen Werk Gregor von Rezzoris oder die Erfindung eines phantastischen „Schutzgebiets“ namens Sinistra im Episodenroman des rumänisch-ungarischen Autors Adam Bodor. 27 Das Phantastische wird im Gefolge der Zuwendung zum Spatialen (spatial turn) im Hinblick auf seine räumliche Disposition analysiert. Das Phantastische ist so als ein Effekt von Deplatzierung zu verstehen, der die gewohnten Ordnungen symbolischer Räume negiert. Todorovs Ansatz ist primär strukturalistisch ausgerichtet, da er sich auf die ‚objektiven‘ Strukturen der Sprache von Texten konzentriert. Demgegenüber beziehen Theoretiker wie Clemens Ruthner die rhetorischen und performativen Aspekte des Phantastischen zentral in ihre Überlegungen mit ein. Hervorzuheben sind in diesem Zusammenhang Momente des literarischen Spiels und der Inszenierung. In einer ausführlichen Forschungsskizze hat Clemens Ruthner, der neben Hans Richard Brittnacher einer der wichtigsten deutschsprachigen Erforscher des phantastischen Raumes der Literatur ist, zwei Perspektiven und Themen zur Weiterentwicklung von Todorovs bahnbrechendem Werk vorgeschlagen: 1. Visualisierung und Literarisierung der Rhetorik des Imaginären; 25 Rössner, Michael: „Die hispanoamerikanische Literatur“. In: Jens, Walter (Hg.): Kindlers neues Literatur-Lexikon. Bd. 20. München: 1996. S. 40-56. 26 Ruthner, Clemens: Am Rande. Kanon, Kulturökonomie und Intertextualität des Marginalen am Beispiel der (österreichischen) Phantastik im 2. Jahrhundert. Tübingen: Francke, 2004. 27 Bodor, Adam: Schutzgebiet Sinistra. Deutsch von Hans Sirecki. Zürich: Amann, 1994. 305 12.2. Liminalität des Fremden: Das Phantastische 2. „Inszenierung“, Repräsentation und Bedeutung von Liminalität im Bereich der phantastischen Literatur. 28 Diese zwei Momente charakterisieren die Behandlung des übersteigerten Fremden in der literarischen Phantastik: ein spielerisch-rhetorisches Moment auf der Ebene des narrativen Diskurses und der Handlungsebene sowie eine auffällige Dominanz von Räumlichkeit, die zugleich mit einer Betonung von Phänomenen des Grenzhaften, Liminalen, verbunden ist. „The phantastic text is essentially preoccupied with limits“, schrieb schon 1985 Rosemary Jackson. 29 Dabei ist die Grenze nicht einfach nur die Linie, an der ein bestimmter Raum endet, sondern die Grenze ist es, die den Raum konstituiert. Dadurch wird der betreffende Raum nicht selten vom Rand aus thematisiert, wobei das ‚normale‘ Zentrum oftmals ausgeblendet bleibt. Ruthner, der sich auf so verschiedene Denker wie Victor Turner und Jacques Derrida beruft, fordert im Hinblick auf diese Forschungsperspektiven eine „Zusammenschau von Positionen der (literarischen) Anthropologie, des Konstruktivismus und des Poststrukturalismus“. 30 Um dem Fremden und Abweichenden in diesem Typus von Literatur gerecht zu werden, schlägt der Autor den Rekurs auf ein umfängliches kulturelles Phänomen vor: das Spiel, das übrigens oft als Folie für das Funktionieren von Kultur und Gesellschaft verwendet worden ist. Dieses Spiel enthält in seinen maßgeblichen Formen (Agon, Alea, Mimikry, Ilinx) 31 drei wesentliche Momente, die Idee der Regeln, die Begrenzung des Raums, in dem diese Regeln gelten (das Spielfeld, die Tribüne), und, damit verbunden, die Konstitution einer Trennung von Akteuren und Publikum sowie die Begrenzung der Zeit, in der die Regeln des Spiels gelten (Spielzeit). Aus diesen drei Eigenarten des Spiels ergibt sich noch eine vierte, die in Ruthners Konzept wesentlich ist. Es handelt sich dabei um die Kreation und Konstituierung einer fiktiven Welt im Spiel. Roger Caillois zufolge ist das Spiel nämlich „eine fiktive Betätigung, die von einem spezifischen Bewußtsein einer 28 Ruthner, Clemens: „Phantastik und / als Liminalität“. In: Amthor, Wiebke / Hille, Almut / Scharnowski, Susanne (Hg.): Wilde Lektüren. Literatur und Leidenschaft. Festschrift für Hans Richard Brittnacher. Bielefeld: Aisthesis, 2012. S. 35-52. Hier: S. 36 f. 29 Jackson, Rosemary: The Literature of Subversion. London / New York: Methuen, 1985. S. 48. Vgl. auch: Ruthner, „Phantastik und / als Liminalität“, S. 36. 30 Ruthner, „Phantastik und / als Liminalität“, S. 37. 31 Caillois, Roger: Die Spiele und die Menschen. Maske und Rausch. Frankfurt / Main: Ullstein 1982, S. 47. 306 12. Das Phantastische, das Wunderbare, das Unheimliche zweiten Wirklichkeit oder einer in bezug auf das gewöhnliche Leben freien Unwirklichkeit begleitet wird“. 32 Wenden wir uns nun Ruthners Verständnis von Literatur im Allgemeinen und eben jener Literatur des Phantastisch-Fremden zu, die er als eine spielerische Hervorbringung eines anderen Kosmos begreift: Grob gesprochen verstehe ich Fiktion als die ludistische Kreation einer symbolischen Welt, die nicht (ganz) dem Verifizierungskriterium jener kognitiven und sozialen Konstruktion unterliegt, die wir gemeinhin ‚Realität‘ nennen. Mit fiktionalen Medien wie etwa der Belletristik oder dem Spielfilm wird so kulturell ein markierter und abgegrenzter virtueller Versuchs- und Reflexionsraum für Simulakren hergestellt, d. h. Simulationen von Geschehnissen, die in der Lebenswelt so nicht vorkommen-[…]. 33 Die andere, befremdliche Welt der phantastischen Literatur funktioniert nur in ihrem impliziten Unterschied zur Alltagsrealität. Deren ‚Verfremdung‘ ergibt sich also aus eben dem spielerischen Moment, das ein konstruktives Element beinhaltet. Mit Ernst Cassirers Philosophie der symbolischen Formen gelesen, ließe sich auch sagen, dass die Literatur eine ganz bestimmte symbolische Form darstellt, die sich an einem entscheidenden Punkt von jener wissenschaftlichen oder alltäglichen symbolischen Formierung unterscheidet, die uns als ‚Realität‘ begegnet. Aber auch diese, so vertraut und selbstverständlich sie uns erscheinen mag, ist das Ergebnis einer-- bestimmten, eben anderen-- symbolischen Konstruktion. Symbolisch sind also beide Welten (die phantastische, die uns spielerisch vorgeführt wird, und die ‚reale‘, die wir Tag für Tag erleben), weil sie durch den Signifikationsprozess, d. h. durch die Generierung von Zeichen erzeugt sind. Aus dieser allgemeinen „ludistischen“ Bestimmung ergibt sich dann für die phantastische Literatur eine subversive Sonderrolle der verschiedenen phantastischen Formate: […] diese stellen dezidiert alternative bis dissidente Weltkonstruktionen her, die vom hegemonialen Wissenssystem der Lebenswelt ausgeschlossen bzw. im Fall des Märchens und der Fantasy in dieser Form überhaupt nur in einem kulturellen Repräsentationsmedium wie der Literatur oder den visuellen Künsten möglich sind. 34 Literatur ist ein kultureller Modus, der Fremdheit erzeugt, und dies in einem doppelten Sinne. Einerseits begegnen wir, wie im Falle der phantastischen Li- 32 Caillois, Die Spiele und die Menschen, S. 17. 33 Ruthner, „Phantastik und / als Liminalität“, S. 37. 34 Ruthner, „Phantastik und / als Liminalität“, S. 38. 307 12.2. Liminalität des Fremden: Das Phantastische teraturformate, fremdartigen und unbekannten Lebewesen. Andererseits ist diese Welt deshalb fremd, weil ihre Gesetze und Handlungsweisen von der uns bekannten Wirklichkeit, die auch immer auf symbolischen Konstruktionen basiert, abweichen. Phantastische Literatur macht von den spielerischen Möglichkeiten der Fiktion radikalen Gebrauch. Im Unterschied zu den geläufigen verzerrten und monströsen Bildern des Fremden, wie sie Gegenstand der Imagologie sind ( → -Kapitel 8), basiert sie primär nicht auf einer aggressiven oder negativen Haltung gegenüber dem Unbekannten, sondern auf dem spielerischen Vergnügen, ausgefallene Wesen zu erschaffen, die uns gegebenenfalls Schauer einflößen. Im Gegensatz zu diversen Standardmodellen der Ästhetik, die sich am Konzept der Mimesis, der naturgetreuen Nachahmung, orientieren, gehört zur phantastischen Fremdwelt-Literatur, dass die fiktionale Spielanordnung tendenziell explizit ist. Kennerschaft macht es möglich zu realisieren, dass die phantastische Welt im literarischen Text oder im Film ein Spiel mit dem Publikum ist. Es ist subversiv darin, dass es die phantastische Welt, mitsamt ihrer gegenüber den Alltagswahrnehmungen devianten Figuren, vorgeblich in einem quasi-realistischen Gestus präsentiert. Das Phantastische ist auch ein Maskenspiel. Insofern stellen diese Genres Parodien gängiger und dominanter Ästhetiken und mit ihnen verbundener Rezeptionsweisen dar. Ruthner unterscheidet groteske und phantastische Formen des Literarischen übrigens dadurch, dass die Groteske mit ästhetischen, die Phantastik mit epistemologischen Standards spielt. 35 Dabei greifen die diversen Strömungen der modernen phantastischen Literatur auf symbolisches Material zurück, das im Gefolge der säkularen Moderne ‚verdrängt‘ worden ist. Insofern erweisen sich viele, wenn auch nicht alle Texte dieses Genres, als „Medium der (postreligiösen) Alteritätserfahrung“. 36 Die Leserschaft, die in diesen virtuellen Raum eintritt, befindet sich in einer Transgression. Dies lässt sich als ein Akt verstehen, der als Überschreitung bekannt ist. Er besteht in einem „Übertreten einer ontologischen, sozialen, kulturellen oder symbolischen Grenze“. 37 Das Überschreiten lässt sich nicht nur als Grenzverletzung, sondern auch als ein den Spielregeln der phantastischen Literatur entsprechender Gebrauch von Grenzen begreifen. Denn Grenzen un- 35 Ruthner, „Phantastik und / als Liminalität“, S. 39. 36 Ruthner, „Phantastik und / als Liminalität“, S. 39. 37 Ruthner, „Phantastik und / als Liminalität“, S. 40. 308 12. Das Phantastische, das Wunderbare, das Unheimliche terliegen, als limen, nicht als limes verstanden, 38 einer doppelten Spielanordnung: Schließung und Öffnung. Aber damit stellen sie, wie Simmel es in seiner Analyse von Grenzphänomenen wie dem Rahmen, der Brücke und der Tür vorgeführt hat, zentrale Mechanismen von Kultur überhaupt und damit auch der paradoxen Relation von Eigenem und Fremdem dar ( → - Kapitel 13.4.). Denn die Relation zwischen Eigenem und Fremden ist nur-- real wie metaphorisch-- mittels liminaler Prozeduren des Trennens und Verbindens, der Erzeugung von Nähe und Distanz zu verstehen. Es wäre also eine Theorie des Fremden möglich, die ihren Ausgangspunkt von der Analyse jener Elemente nimmt, die mit der Trennung auch die Verbindung schaffen und somit Kultur als einen symbolischen Raum des Menschen strukturieren. Daraus lässt sich folgern, dass ein scheinbar so randständiges Genre wie die phantastische Literatur ganz en passant einen wesentlichen Beitrag zum Verständnis des Fremden eröffnet, in dem es Fremdheit und Liminalität systematisch miteinander verschränkt. Ruthner ruft die Theorien Foucaults und Derrida auf, etwa wenn ersterer in Von der Subversion des Wissens davon spricht, dass die Überschreitung eine „Geste“ sei, „die es mit der Grenze zu tun hat“, also mit anderen Worten, eine verstohlene Geste, die integraler Bestandteil des Liminalen ist. Dabei geht es immer um die Durchkreuzung eben jener schmalen, oft unsichtbaren Linie, die sich der Mann vom Lande in Kafkas berühmtem Text über das Gesetz nicht zutraut, weil er das Verbot so wörtlich nimmt, dass er nicht bedenkt, dass es eine heimliche Einladung mit einschließt. 39 Ruthner begreift Derridas Denken als eines, das sich an den Grenzen der Bedeutung angesiedelt hat, um diese systematisch zu hinterfragen und aufzulösen. Dadurch werden die durch epistemische Grenzen geschaffenen Symbolwelten ambig und unabschließbar. Insofern besteht ein innerer Zusammenhang zwischen den Irritationen der fremden Welten der phantastischen Literatur und jener Unruhe, die die Dekonstruktion hervorruft. 40 Die weiteren Ausführungen des programmatischen Aufsatzes werden im Folgenden kursorisch behandelt, um sodann die Schlussfolgerungen Ruthners ausführlicher zu diskutieren. 38 Cacciari, Massimo: Wohnen. Denken. Essays über Baukunst im Zeitalter der völligen Mobilmachung. Aus dem Italienischen von Reinhard Kacianka. Klagenfurt: Ritter, 2002. S. 73 f. (Vgl. Kapitel 1) 39 Müller-Funk, Wolfgang: „Liminality and Space. Poetry of Space between (Dublin, October 2013)“. Unter: www.wolfgang.mueller-funk.com. 40 Ruthner, „Phantastik und / als Liminalität“, S. 42. 309 12.2. Liminalität des Fremden: Das Phantastische In einem nächsten Schritt behandelt der Text das Phänomen der Übergangsriten, wie es von Arnold van Gennep (Rites de passages, 1909) und von Victor W. Turner in den 1960er Jahren entwickelt worden ist. Vorweg gesprochen haben Ritual und Spiel einiges gemeinsam, so etwa die unmissverständliche Fixierung von Raum und Zeit sowie die extreme Regulierung und Regelhaftigkeit der Abläufe, die vom Spieler bzw. vom Initianden verlangt werden. Sie unterscheiden sich womöglich darin, dass der Eintritt ins Spiel freiwillig, die Initiation hingegen auch in unseren Breiten (von der jüdischen oder islamischen Beschneidung über diverse christliche Initiationen bis zur einstigen kommunistischen Jugendweihe) zumeist unter kulturellem und gesellschaftlichem Druck vonstattengeht. In beiden Fällen geht es jedoch darum, die Regeln zu befolgen. Das Konzept der rites des passage kennt drei Phasen, die mit der Eigenart von Grenzen korrespondieren: die Trennung von der Gruppe oder vom symbolischem Raum, dem man bislang angehört, und die Schwellenphase, in der ein kultureller Bereich durchschritten wird, „der wenig oder keine Merkmale des vergangenen oder künftigen Zustands aufweist“. 41 In der dritten Phase, der Angliederung, ist der Übergang vollzogen. Es stellt sich ein relativer stabiler Zustand ein, der / die Einzelne hat einen festen Platz in der sozialen Ordnung und im symbolischen Raum der Kultur. Es liegt auf der Hand zu sagen, dass die zweite Phase die entscheidende Phase von Liminalität und Transgression darstellt. Turner hat Genneps Drei-Phasen- Modell modifiziert und ein vierstufiges Modell entwickelt, das aus folgenden Abfolgen besteht: 1. Bruch mit der sozialen Norm, 2. Krise und Konflikt, 3. Versuch der Konfliktlösung (Ritual), 4. Wiedereingliederung oder Abspaltung. Turner teilt im Grunde genommen den Schwellenzustand in zwei Momente auf, die aber aufeinander bezogen sind. Denn ohne das Auftauchen der Krise, die eine Identitätskrise ist (bis jetzt ist man ein Jugendlicher, jetzt soll man ein Erwachsener werden, bis jetzt gehörte man einer sozialen Gruppe an, nun wird man Mitglied einer anderen, ursprünglich fremden), wäre der Versuch, sie zu lösen, nicht zu verstehen. Dabei spielt das der Zeremonie verwandte Ritual, eine bestimmte Spielanordnung, die das womöglich furchteinflößende Unbekannte 41 Ruthner, „Phantastik und / als Liminalität“, S. 42. 310 12. Das Phantastische, das Wunderbare, das Unheimliche und Fremde vertraut macht, eine ganz entscheidende und entlastende Rolle: Dem Initianden wird die Last des eigenen Handelns abgenommen und er wird dem ‚objektiven‘ Geschehen des Rituals, das nicht selten ein Schauspiel mit Zuschauern ist, anvertraut. Dieses Ritual stellt zugleich eine erste Repräsentation der neuen, fremden Ordnung dar. Rezeptionsästhetisch gewendet sind der Leser/ die Leserin belletristische Initianden, die eine fremde Welt betreten. Die diversen Phasen des Rituals sind mit der narrativen Vermittlung zu vergleichen, die den Eintritt der Leserschaft in die andere Welt des Phantastischen und damit die Überschreitung der Grenzen in diese steuert. Am Ende seines Aufsatzes kommt Ruthner noch einmal auf das Potential dieser Fremdheit generierenden Literatur zu sprechen: Phantastische Literatur stellt durch ihre immense Phantasieproduktion des Fremdartigen die „epistemologischen Standards“ in Frage. Sie erzeugt damit eine „produktive Beunruhigung“ 42 die sich gegen „begriffliche Festlegung und epistemologische Ruhestellung zur Wehr setzt“. 43 Auf der Handlungsebene führen sie Menschen als Testpersonen in ein liminales Stadium, das diese entweder überwinden oder in ihr scheitern und zerbrechen. Die Leserschaft spielt dabei eine ähnliche Rolle wie die Zuschauenden öffentlicher Initiationsrituale. Insofern sie sich spielerisch mit den Probandinnen und Probanden identifizieren, haben sie an der „Alteritätserfahrung“ teil, die die phantastische Literatur bereithält. Dieser Liste ließe sich noch hinzufügen, dass das Maskenspiel mit dem Fremden uns gleichsam unsere eigenen Ängste und Lüste an diesem vorführt, mitsamt den phantastischen und unmöglichen Bild- und Identitätskonstruktionen von Monstren und Dämonen. Insofern ist dieses literarische Genre, dessen Unterhaltsamkeit es klassischen Standardästhetiken suspekt macht, durchaus ein Medium, unsere eigenen ‚phantastischen‘ Konstruktionen des ‚realen‘ Anderen und Fremden zu durchschauen. In diesem Sinn wirkt Literatur als „Simulationsmedium für diverse Überschreitungen und liminale Zustände“, sei es nun in einem kompensatorischen Sinn (was in der ‚realen‘ Welt nicht möglich ist, das findet in der virtuellen Welt in Film, Literatur oder in digitalen Format statt), sei es im Sinn eines Erprobens und Einübens des Umgangs mit Fremdheit im Testgebiet des Literarischen. 44 42 Kommentar von Clemens Ruthner in einer E-Mail vom 27. 10. 2015. 43 Ruthner, „Phantastik und / als Liminalität“, S. 50. 44 Ruthner, „Phantastik und / als Liminalität“, S. 50. 311 13.1. Von der Unübersetzbarkeit des fremden Textes: Benjamin 13. Übersetzung als Agentur von Fremdheit und Differenz: Benjamin, Steiner, Buden 13.1. Von der Unübersetzbarkeit des fremden Textes: Benjamin Die Theorie des Übersetzens ist im Hinblick auf die heutige Kulturtheorie und damit auch für Konzeptionen des Fremden von maßgeblicher Bedeutung. Doris Bachmann-Medick spricht in diesem Zusammenhang von einem „translational turn“, der letztendlich Kultur selbst als einen ständigen „Prozess der Übersetzung-[…] im Sinne eines neuen räumlichen Paradigmas von Über-Setzung“ versteht. 45 Daraus folgt, dass Kulturtheorien, in die ja stets die Dimension der Vielfalt und des Fremden eingeschlossen ist, und Theorien des Übersetzens einander bedürfen. Anselm Haverkamp formuliert diesen Sachverhalt so: „Übersetzung ist- […] die Agentur der Differenz“, ein Ort, an dem die Unterschiede von Kulturen ver- und behandelt werden. 46 Sie ist ein zentrales Phänomen in einer sich globalisierenden Welt geworden. 47 Das Phänomen der Übersetzung weist darauf hin, dass, ungeachtet aller Weitungen des Kulturbegriffs-- Alltag, Essen, Medien, Popularkultur--, die Sprache für Identität, Differenz und Transfer eine privilegierte Bedeutung besitzt. ‚Kultur‘ ist jedoch nicht länger an die Vorstellung einer homogenen Sprachgemeinschaft gebunden, sondern lässt post- und transnational gedacht auch symbolische Gemengelagen zu, wie sie uns aus der vormodernen Alltagskultur geläufig sind. Wie schon Roland Barthes in seinen Mythologies (Die Mythen des Alltags) vorgeführt hat, haben sämtliche Manifestationen und Artefakte einer bestimmten Kultur 45 Bachmann-Medick, Doris: Cultural Turns. Neuorientierungen in den Kulturwissenschaften. Reinbek: Rowohlt, 2006. S. 247, dort auch entsprechende bibliographische Angaben, vgl. S. 282 f. Vgl. auch: Bachmann-Medick, Doris: „Übersetzung als Medium interkultureller Kommunikation und Auseinandersetzung“. In: Jaeger, Friedrich / Straub, Jürgen: Handbuch der Kulturwissenschaften. Band 2: Paradigmen und Disziplinen. Stuttgart: Metzler, 2004. S. 449-465; Venuti, Lawrence (Hg.): The Translational Studies Reader. London: Routledge, 2000. 46 Haverkamp, Anselm: Die Sprache der Anderen, Übersetzungspolitik zwischen den Kulturen. Frankfurt / Main: Fischer, 1997. S. 7 47 Müller-Funk, Wolfgang: „Walter Benjamin and the Translational Turn“. In: Ders.: The Architecture of Modern Culture. Boston: de Gruyter, 2012. S. 135-146. 312 13. Übersetzung als Agentur von Fremdheit und Differenz eine sekundäre konnotative „mythische“ Bedeutung. 1 Weil es bei der Übersetzung hauptsächlich um die Übertragung von Texten in eine andere Sprache geht, scheint sich die Möglichkeit für die einschlägigen Textwissenschaften zu eröffnen, sich in einem wissenschaftlichen Feld zu situieren, das ansonsten den engen Textbegriff übersteigt: die Kulturanalyse. Mit anderen medialen Phänomenen, aber auch mit materialen Artefakten und Produkten haben Texte gemein, dass sie nur vermittels einer „Ausdeutung fremdkultureller Rituale, Gefühlsbegriffe und Handlungsmuster“ lesbar werden. 2 Bei der Übersetzung geht es also nicht nur um eine reine sprachliche Übertragung, sondern auch um die Vermittlung solcher sekundärer oder mythischer Bedeutungen und Konnotationen. Es handelt sich auch oft um die Notwendigkeit bestimmte Sachverhalte zu erklären, da sie im anderen kulturellen Kontext nicht verstanden werden. Komparatistik und Translationswissenschaft leisten dabei einen wesentlichen Beitrag zum Thema Kulturtransfer. Umgekehrt erfährt ihr Kernthema, die Übertragung literarischer Texte in andere Sprachen, einen entsprechenden kulturtheoretischen Rahmen. Das deutsche Wort ‚Übersetzung‘ ist eine metaphorisch wörtliche Übertragung der verwandten Wörter lateinischer Herkunft ‚Translatio‘ und ‚Transfer‘. In diesem Zusammenhang und im Hinblick auf die Thematik des Buches lässt sich Übersetzung als dynamisches Verhältnis, als eine Migration von fremden Worten und symbolischen Systemen begreifen. Diese Definition steht in Analogie zu anderen kulturellen Transferprozessen: zu Transporten von materiellen Gütern oder medialen Übertragungen und auch zu den temporären oder stationären Wanderungen von Menschen durch die Kulturen. Dabei ist auch von Belang, ob und welche Spuren diese Migrationen in den Herkunfts- und in den ‚Hinkunftskulturen‘ hinterlassen. Fraglich ist, inwieweit diese Bewegungen Kulturen heterogener oder-- um einen gegenwärtig unhintergehbar gewordenen Ausdruck zu verwenden-- „hybrider“ machen. Warum Theorien des Übersetzens in einem Buch zum Thema Fremdheit Platz einzuräumen ist, liegt also auf der Hand. Diese sollen hier aber ausschließlich im Hinblick auf die Frage diskutiert werden, inwieweit sie für das Thema von Alterität relevant sind und wie sie unserer Verständnis, aber auch die kulturelle Praxis von Fremdem und Eigenem verändern. Übersetzungen sind nicht nur 1 Barthes, Roland: Mythen des Alltags. Frankfurt / Main: Suhrkamp, 1964. Vollständige Ausgabe: Frankfurt / Main: Suhrkamp, 2010. 2 Bachmann-Medick, Cultural Turns, S. 243. 313 13.1. Von der Unübersetzbarkeit des fremden Textes: Benjamin sprachliche Übertragungen sondern auch Aneignungen des Fremden. Aneignung ist hier in einem zunächst ‚neutralen‘ Sinn zu verstehen, nämlich als ein Akt, der eine für mich nachvollziehbare Bedeutung erzeugt. In dieser Aneignung steht die Figur des Übersetzers im Mittelpunkt, der auf den ersten Blick eine Moderationsfunktion einnimmt, aber selbst, eben durch seine Zweisprachigkeit, eine in sich gespaltene Figur ist, die mit zwei Zungen spricht. Wenn aber wie in vielen gegenwärtig aktuellen Theorien von Fremdheit etwa bei Lévinas, Waldenfels und Derrida (Kapitel 4 und 5) betont wird, dass das Andere sich letztlich dadurch bestimmt, dass es uneinholbar ist, verändert dies auch das Selbstverständnis des Übersetzens und die mit ihm einhergehenden theoretischen, philosophischen und literaturwissenschaftlichen Reflexionen. Dann wird nämlich der Aneignungsprozess des Übersetzens von der Widerständigkeit des Anderen, hier des sprachlich-kulturellen Fremden, gleichsam durchkreuzt und unterlaufen. Für diese paradoxe Erfahrung steht eine neologistische Kategorie Derridas: die „Entaneignung“ (exappropriation). Sie beschreibt die Aneignung des Fremden als Enteignung, die immer schon stattfindet und stattgefunden hat, da das Fremde immer schon strukturell anwesend ist (→-Kapitel 4, 5, 8). So wenig das Gedächtnis das erinnerte Vergangene wiederherstellt, so wenig ist die Übersetzung die Reduplikation des ‚Originals‘ in der anderen Sprache. Unter diesen Gesichtspunkten werden im vorliegenden Kapitel die Prämissen von Walter Benjamins (1892-1940) Aufsatz „Die Aufgabe des Übersetzers“ 3 , der in dekonstruktivistischen Literatur- und Kulturkonzepten eine maßgebliche Rolle spielt, kritisch vorgeführt und diskutiert. Darauf aufbauend wird in einem weiteren Schritt, über den deutschen Kulturkritiker hinausgehend, nach dem Ort des Übersetzens im Kontext eines kulturanalytischen Ansatzes gefragt. In diesem Zusammenhang werden auch Themenstellungen wie kulturelle Asymmetrie, Kontextualisierung und die Weiterentwicklung und Modifikationen der Benjaminschen Sprach- und Übersetzungstheorie erörtert. Der Eingang des Textes scheint im Hinblick auf ein neues Verständnis von Übersetzung und kultureller Einschreibung zunächst nicht sonderlich verheißungsvoll zu sein, huldigt der Autor doch ganz augenscheinlich einer idealistischen Ästhetik des geschlossenen Kunstwerkes, in der der Rezipient (und der jeweilige Kontext, den er repräsentiert) keine aktive Rolle spielt, sondern eher nur 3 Benjamin, Walter: „Tableaux parisiens. Deutsche Übertragung mit einem Vorwort über die Aufgabe des Übersetzers von Walter Benjamin“. In: Rexroth, Tillman / Tiedemann, Rolf (Hg.): Gesammelte Schriften. Bd. IV . Frankfurt / Main: Suhrkamp, 2004. S. 7-63. 314 13. Übersetzung als Agentur von Fremdheit und Differenz stört: Nirgends „erweist sich einem Kunstwerk oder einer Kunstform die Rücksicht auf den Aufnehmenden für deren Erkenntnis fruchtbar“. 4 Aber der Übersetzer, der ja doch zunächst ein „Aufnehmender“ ist, verändert, wie Benjamin zeigen will, das „Original“. Damit kehrt sein Aufsatz die traditionelle Sichtweise um, die am Anfang des Aufsatzes gestanden hatte. Dichtung, und nur um diese geht es in dem Aufsatz, ist für Benjamin dadurch gekennzeichnet, dass sie nichts mitteilt. Wir würden vorsichtiger formulieren und etwa sagen, dass sich Kunst und das, was man unpräzise als Medien bezeichnet, in ihrer Funktion unterscheiden: Letztere konzentrieren sich auf die Mitteilung, erstere hingegen auf den ästhetisch-semiotischen Aspekt der Einschreibung als solcher. Literarische Texte tragen tendenziell einen formalen Selbstbezug in sich, haben sich immer auch selbst zum Thema, sind mehrdeutig, stoßen programmatisch an die Grenze des Sagbaren, an das, was Benjamin als das „Unfassbare“ bezeichnet. Zwischen der „absoluten“ Dichtung etwa eines Mallarmé und den Medien der Kommunikation gibt es natürlich eine ganze Reihe von Schattierungen und Mischformen: es gibt journalistischdokumentarische Literatur und ästhetisch prononcierten essayistischen Journalismus. 5 Kunst teilt also Benjamin zur Folge nichts mit, sondern verweist auf eine prinzipielle Grenze, die zunächst nicht so sehr mit kulturellen oder ethnischen Differenzen zu tun hat, sondern mit existentiellen Befindlichkeiten des Menschen als solchen: Diese bezeichnet Benjamins Aufsatz als das Unfassbare, als das, was durch keine symbolische Form (Bild, Schrift, Sprache) zu fassen ist. Was die Übersetzung von Dichtung, anders als jene von kommunikativen Gebrauchstexten, in einen anderen Bereich überträgt, das ist also nicht die „Mitteilung“, sondern das, was der Autor als das „Dichterische“ beschreibt und was ihn als Übersetzer Baudelaires und Prousts selbst beschäftigt. Die Frage nach der Übersetzbarkeit stellt sich Benjamin zufolge doppelt: So geht es einerseits um die Zulänglichkeit des Übersetzers und andererseits um die Übersetzbarkeit des Werks. Im Zusammenhang mit der ersten Fragestellung kommt nun auch die Funktion des Lesers ins Spiel. Benjamin sucht zu ermitteln, ob es „unter der Gesamtheit der Leser“ einen zulänglichen Übersetzer gibt. Der klassische Übersetzer ist nämlich, ebenso wie andere mediale Übertragende, die 4 Benjamin, „Die Aufgabe des Übersetzers“, S. 9. 5 Wahl, Verena: Lüge-- Essay-- Persuasion. Deutschsprachige Gegenwartsessayistik seit 2 aus Sicht von Kommunikations- und Literaturwissenschaft sowie Philosophie. Wien: Diss., 2007. Vgl. auch: Müller-Funk, Wolfgang: Erfahrung und Experiment. Studien zu Theorie und Geschichte des Essayismus. Berlin: Akademie, 1995. 315 13.1. Von der Unübersetzbarkeit des fremden Textes: Benjamin ein Original in ein anderes Medium umwandeln (einen epischen oder dramatischen Text in ein Theaterstück, eine Lesung, in einen Fernsehfilm, ein Hörspiel oder einen Kinofilm), zunächst einmal ein Lesender und schon in dieser Position in einer prinzipiell anderen Situation als der Autor. Der „zulängliche Übersetzer“ wäre also dieser Bestimmung zufolge ein Grenzgänger, ein Experte einer unmöglichen Grenzüberschreitung, bei der nicht klar ist, ob man durch Übersetzung tatsächlich in die ‚Heimat‘, das heißt in einen symbolisch vertrauten Raum ohne Unsicherheiten und Irritationen, kommt-- was immer das auch sein mag. Die zweite Frage-- ob das Werk Übersetzung zulässt-- beschäftigt Benjamin viel ausführlicher. Denn ein Werk sprachlich zu übertragen ist, wie er schreibt, keine bloße Mimesis, sondern eine ganz eigene literarische Form. Wenn Übersetzung also eine Form ist, so muss „Übersetzbarkeit gewissen Werken wesentlich sein“. 6 Erst in der neuen Fassung in einer anderen Sprache tritt also eine bestimmte Bedeutung eines Werkes zutage, und das ist dessen Mehrdeutigkeit sowie dessen prinzipielle unaufhebbare Fremd- und Unvertrautheit. Ich muss mich, um ein Beispiel der amerikanischen Literaturtheoretikerin Barbara Johnson heranzuziehen, als Sprecher des Englischen entscheiden, wie ich in Kafkas Roman das Wort „verleumden“ in dem Satzteil „Jemand musste Josef K. verleumdet haben- …“ übersetzen will. Der amerikanische Übersetzer hat sich für das Wort traduce entschieden, womit er sein Problem- - das Überführen (lat. traducere)- - selbst thematisiert. Gerade in der schlechten, weil missverständlichen Übersetzung wird sichtbar, was Johnson als „Defiguration der Muttersprache“ bezeichnet. 7 Gleichzeitig wird vom theoretischen Lob einer schlechten Übersetzung eine kritische Frage provoziert. Es bleibt nämlich offen, ob diese Übersetzung nicht eine „Verleumdung“ darstellt, also einen Übergriff auf eine fremde Kultur, in der jedwedes Kriterium der guten oder schlechten, angemessenen oder unangemessenen, hegemonialen oder respektvollen Übersetzung ausgeblendet wird. An dieser Stelle tritt ein schwer zu überbrückendes Spannungsverhältnis zwischen kulturtheoretischer und literarisch-philologischer Perspektive zutage: Während erstere die Übertragung des ersten Satzes aus Kafkas Roman ohne Wertung als eine interessante Kontextualisierung beschreibt, bleibt in einer traditionellen 6 Benjamin, „Die Aufgabe des Übersetzers“, S. 11. 7 Wild, Cornelia: „Übersetzung als Defiguration. Barbara Johnsons Revision von Walter Benjamins ‚Die Aufgabe des Übersetzers‘“. In: www.literataurkritik.de / public / rezension. php? rez_id=9884&ausgabe=200 609, heruntergeladen am 17. 11. 2007. 316 13. Übersetzung als Agentur von Fremdheit und Differenz Sichtweise die Frage nach einem angemessenen Textverständnis und damit die Frage nach der Bewertung einer Übersetzung zentral. Letztendlich ist dies aber keine rein philologische Frage. Der interkulturelle Dialog ist voll von jenen Beschwerden, wie wir sie aus Partnerbeziehungen kennen: nämlich dass unser Gegenüber uns notorisch missverstanden hat. Grundsätzlich besteht ein enger und inniger Zusammenhang zwischen Original und Übersetzung. Die Übersetzung, ein Akt des Lesers, der selbst zum Autor eines sekundären Textes wird, stiftet die Nachzeitigkeit des Werkes. Obschon im Text mitunter die idealistische Werkauffassung bekräftigt wird, wonach auch die beste Übersetzung für das Original keine Bedeutung habe, wird diese Ansicht an anderer Stelle umgestoßen. Dort heißt es nämlich, dass in der Übersetzung eine bestimmte Bedeutung des Werkes im Nachhinein zum Vorschein kommt, die zuvor im Verborgenen geblieben war. Die Übersetzung ist Produkt und Produzentin jenes Sprach- und Bedeutungswandels, den Benjamin immer wieder hervorhebt. Oder mit anderen, kulturwissenschaftlichen Begriffen formuliert: Übersetzen bedeutet stets Kontextualisierung und inkludiert den Kulturtransfer von der einen Sprache in die andere oder von einem Medium in das andere. Die klassische Übersetzung ist dabei nur ein markanter und illustrativer Sonderfall. Während also Verfilmung und Inszenierung intermediale Phänomene tangieren, stellt die sprachliche Übertragung die Standardversion einer interbzw. transkulturellen Gemengelage dar. Wenn es jedoch-- und das ist eine starke rezeptionsästhetische Hypothese-- die Übersetzung ist, die, ähnlich wie der Kommentar das Fortleben des Originals gewährleistet (eben dadurch das sie dieses in einem anderen Kontext präsent hält), dann kehrt sich das Verhältnis zwischen ursprünglichem und neuem Text um. Es lässt sich dann im Sinne einer dekonstruktiven Lektüre sogar behaupten, dass die Übersetzung der ersten Fassung in gewisser Weise vorangehe. Damit ist gemeint, dass erst die neue Ausgabe das Original zum Original, also zum Werk macht. Deshalb spricht Benjamin auch vom „Nachreifen“ eines Werkes, was gleichzeitig eine Veränderung seiner Bedeutung und seines dichterischen Gestus einschließt. Original und Übersetzung stehen demnach in einem wechselseitigen Abhängigkeitsverhältnis zueinander. Das wird in ihrer sprachlichen Form manifest. Oder wie es Benjamin formuliert: „So ist die Übersetzung zuletzt zweckmäßig für den Ausdruck des innersten Verhältnisses der Sprachen zueinander. Sie kann dieses verborgene Verhältnis selbst unmöglich offenbaren, unmöglich herstellen; 317 13.1. Von der Unübersetzbarkeit des fremden Textes: Benjamin aber darstellen, indem sie es keimhaft oder intensiv verwirklicht, kann sie es.“ 8 In diesem Zitat verweist der Kulturtheoretiker auf die intrinsische Ähnlichkeit aller Sprachen zueinander. Auf diese Fragestellung wird im Folgenden näher eingegangen. Übersetzung bedeutet Begegnung mit dem fremden Anderen und ist in gewisser Weise ein Sonderfall eines Verstehens, das beständig an seine Grenzen gelangt. Aber welcher Art ist das Verhältnis der beiden ungleichen Dichtungen? Entschieden stellt Benjamin in Abrede, dass es sich um ein mimetisches Verhältnis handle, um eine Relation der Ähnlichkeit, die doch nur oberflächlich bzw. undefinierbar wäre. Im Gefolge von linguistischen Theorien seit und nach Saussure lässt sich behaupten, dass auf der Ebene der Signifikanten eine solche Ähnlichkeit gar nicht besteht, weil Sprache und Schrift arbiträre Zeichensysteme sind. Explizit nimmt Benjamin Bezug auf die Kritik der Abbildtheorie im Bereich der kantischen und nach-kantischen Erkenntniskritik. Sprachen bilden keine Wirklichkeit ab, sondern bauen eine Welt auf, die Bedeutung besitzt. Darin sind sie einander strukturell ähnlich und auf diese tiefe und bestimmte Verwandtschaft bezieht sich die Übersetzung. Sie nähert sich der reinen Sprache, jener Wendung, in der Edmond Jabès zufolge das Nichts der Sprache zur Sprache des Nichts wird. 9 Das bringt eine kabbalistische Denkfigur ins Spiel: Wie der kabbalistische Schöpfergott kreiert die ‚reine‘ Sprache aus dem schieren Nichts eine bedeutungsvolle Welt, die letztendlich auf dieses Nichts zurückverweist. 10 Die Übersetzung macht jene Dimension des Originals sichtbar, in der dieses sich auf die dichterische Intention selbst (kat’exochen) bezieht, eben auf die Idee der ‚reinen‘ Sprache. Aus dieser Bezugnahme folgt nun bei Benjamin eine weitere Bestimmung, „dass nämlich alle Übersetzung nur eine irgendwie vorläufige Art ist, sich mit der Fremdheit der Sprachen auseinanderzusetzen“, die dem Zeichensystem Sprache so eigen ist. Ernst Cassirer hat in seiner Philosophie der symbolischen Formen die Einsicht parallel zu Saussure formuliert, wenn er von der „künstlichen Symbolik“ der „‚willkürlichen‘ Zeichen“ spricht, in denen der „Inhalt selbst für das Bewusstsein“ einen „neuen ‚Charakter‘, weil eine neue Bestimmtheit“ annimmt. 11 Das sprachliche Zeichen besteht aus dem Verhältnis zweier Elemente, die einander ‚fremd‘ sind: dem Zeichenträger, 8 Benjamin, „Die Aufgabe des Übersetzers“, S. 12. 9 Jabès, Edmond: Vom Buch zum Buch. Aus dem Franz. von Felix Philipp Ingold. München: Hanser, 1998. 10 Scholem, Gershom: Zur Kabbala und ihrer Symbolik. Frankfurt / Main: Suhrkamp, 1973. S. 146-158. 11 Cassirer, Ernst: Philosophie der symbolischen Formen. Bd. 1. Darmstadt: WBG, 1953 ff. S. 43. 318 13. Übersetzung als Agentur von Fremdheit und Differenz dem Signifikanten (Laut, Buchstabe) und dem Signifikat, der Bedeutung, die durch den Signifikanten gesetzt wird. Diese Rätselhaftigkeit und Fremdheit der Sprache setzt dem „Verstehen“ eine prinzipielle Grenze. Deshalb ist auch jedwede Übersetzung ein Provisorium, denn die „Lösung dieser Fremdheit, eine augenblickliche und endgültige“, bleibt den Menschen versagt. 12 Paradoxerweise hat das Verstehen, vor dem Hintergrund einer prinzipiellen Fremdheit der Sprache, die Erfahrung des Nicht-Verstehens zur Voraussetzung. Die Verwandtschaft der Sprachen realisiert sich nicht durch vage Ähnlichkeit, sondern in der Idee der „reinen“ (verlorenen Sprache). In der Übersetzung manifestiert sich demnach Sehnsucht nach einer Sprache im Sinne der absoluten Dichtung Mallarmés. Der „endgültigere Sprachbereich“ ist die ‚reine‘ Sprache, die „Sprache der Wahrheit“. 13 Aber diese Sprache ist, wie die Dichtung des französischen Symbolisten, hermetisch, unverständlich und ‚fremd‘. Diese reine Sprache existiert und existiert nicht. Sie existiert, indem sie ihre Repräsentanz in allen Sprachen dieser Welt hat. Umgekehrt besteht ihre Funktion in der Integration aller Sprachen. Übersetzen bedeutet einen Text auf dieses ungreifbare Dritte zu beziehen, also auf das, was linguistisch nicht übertragbar ist und das utopisch in alle Sprachen-- um eine Metapher Blochs zu verwenden-- „scheint“. 14 Mit dieser schwerwiegenden Bestimmung wird noch einmal eine doppelte und grundsätzliche Differenz von Original und Übersetzung offenkundig: 1. Das Original ist auf paradoxe Weise übertragbar, weil es einen unübersetzbaren Rest besitzt: Gehalt und Sprache bilden dabei eine unaufkündbare Einheit. Die Übersetzung ist hingegen nicht übertragbar, ihr Gehalt faltet sich aus, bleibt gegenüber dem „Gehalt“ des Originals stets unangemessen, gewaltig und fremd, sie verweist auf eine ‚höhere‘ Sprache, die sich in der Relation von Original und Übersetzung ‚zeigt‘. 2. Das Original ist beinahe im Sinn der Schillerschen Unterscheidung naiv, ‚erstlich‘, anschaulich. Die Übersetzung ist hingegen „sentimentalisch“, das heißt abgeleitet, ‚letztlich‘ und ideenhaft. 12 Benjamin, „Die Aufgabe des Übersetzers“, S. 14. 13 Benjamin, „Die Aufgabe des Übersetzers“, S. 16. 14 Bloch, Ernst: Das Prinzip Hoffnung. Bd. 3. Frankfurt / Main: Suhrkamp, 1959. S. 1628. 319 13.1. Von der Unübersetzbarkeit des fremden Textes: Benjamin Gegenüber dem frühen sprachphilosophischen Aufsatz Benjamins, der noch-- im Sinn des Narratives vom Turmbau zu Babel 15 -- von einer verlorenen Ursprache ausgeht, ist dieses Moment der einen, reinen Sprache zwar spürbar zurückgenommen, bildet aber weiterhin eine Grenzdimension im Benjaminschen Denken. Es gibt kein Zurück zu dieser Sprache, aber sie ist als gemeinsamer Bezugspunkt das tertium comparationis, kein gemeinsames Drittes, das Original und Übersetzung verbindet und das nur in der Übersetzung offenbar wird. Das ist sozusagen der Rest einer sprachlichen Metaphysik, in der es einen verlässlichen universalen und apriorischen Referenzpunkt für sprachliche und auch für kulturelle Differenz gibt. Die ‚reine‘ Sprache bleibt unzugänglich, sie zeigt sich nur in Fragmenten: Wie nämlich Scherben eines Gefäßes, um sich zusammenfügen zu lassen, in den kleinsten Einzelheiten einander zu folgen, doch nicht zu gleichen haben, so muß anstatt dem Sinn des Originals sich ähnlich zu machen, die Übersetzung liebend vielmehr und bis ins Einzelne hinein dieser Art des Meinens in der eigenen Sprache sich umbilden, um so beide wie Scherben als Bruchstück eines Gefäßes, als Bruchstück einer größeren Sprache erkennbar zu machen. 16 Das Zitat, ganz offensichtlich der romantischen Theorie des Fragmentarischen verpflichtet, verschränkt implizit zwei letztendlich zusammengehörige religiöse Erzählmuster: Das eine bezieht sich auf das kabbalistische Motiv der zerbrochenen Gefäße (Schebira) und ihrer Wiederherstellung (Tikkun)-- dies ist die lurianische Version des Messianismus- -, das andere auf den deutschen Idealismus. Der Bruch der Gefäße, schreibt Gershom Scholem, der Weggefährte, Freund und zugleich auch Opponent Benjamins, […] ist die entscheidende Krise allen göttlichen und kreatürlichen Seins.-[…] Und so ist denn alles Sein von jenem Urakt an ein Sein im Exil und bedarf der Rückführung und Erlösung. Der Bruch der Gefäße setzt sich in alle weiteren Stufen der Emanation und Schöpfung fort; alles ist irgendwie gebrochen, alles hat seinen Makel, alles ist unvollendet. 17 Benjamin wiederum transferiert diese jüdische Version der Entfremdung und Gespaltenheit auf die Ebene des Sprachlichen. Der Vielfalt, die aus dem Zerspringen der Gefäße entspringt, entspricht die sprachliche Pluralität. Diese weist 15 Vgl. Buden, Boris: Der Schacht von Babel. Ist Kultur übersetzbar? Berlin: Kadmos, 2005. 16 Benjamin, „Die Aufgabe des Übersetzers“, S. 18. Vgl. Homi K. Bhabha, Die Verortung der Kultur, S. 253. 17 Scholem, Zur Kabbala und ihrer Symbolik, S. 150 f. 320 13. Übersetzung als Agentur von Fremdheit und Differenz bei Benjamin eine offene Struktur auf, weil das, was versprochen ist, die messianische Wiedererlangung der ursprünglichen Einheit in einer einzigen reinen Sprache, niemals eintritt. Sie ist immer schon aufgeschoben, bildet aber den Horizont alles sprachlichen Übertragens. Damit aber werden auf eigentümliche Weise Melancholie und Klage, die im Narrativ der Entfremdung und Entzweiung anklingen --etwa in der Tradition des deutschen Idealismus, der Romantik und der Marxschen Theorie-- neutralisiert. Entfremdung ist nicht nur ein Schicksal, das passiv erlitten wird, sondern setzt auch aktive Kräfte etwa in der Poetik frei und leitet den unabschließbaren Prozess symbolischer Sinnstiftung ein. Das Beste an der Welt wäre demnach ihre „Entfremdung“, weil die Fremdheit auf der Welt das Wesen des Menschen ausmacht und zugleich eine Möglichkeit eröffnet, das Fremde im Eigenen und das Eigene im Fremden zur intellektuellen Anschauung zu bringen (vgl. → -Kapitel 4 und 5). Die Sprachen, ohne die es nicht die Tätigkeit des Übersetzens gäbe, stellen Fragmente eines Ganzen dar, das es nur als regulative Idee gibt, als Horizont. Es ist kein Zufall, dass dieses Zitat im Werk des indischen Kulturtheoretikers Homi K. Bhabha eine nicht unwesentliche Rolle spielt. Damit sind wir schon in den Diskurs gegenwärtiger Kulturtheorie eingetreten, weil das Feld des Übersetzens als ein „third space“, als ein dritter heterogener Raum bestimmt werden kann, was Bhabha auch implizit tut. 18 In diesem Sinn ist denn auch Benjamins letzte Bestimmung der zugleich freien wie getreuen Übersetzung zu verstehen, wonach es in der Übersetzung nicht darum gehe, beispielsweise das Englische, Indische oder Griechische zu verdeutschen, sondern umgekehrt das Deutsche zu verenglischen, zu verindischen oder zu vergriechischen. Die Übersetzung betont das Fremde im Eigenen, der Akt des Übersetzens soll Spuren hinterlassen und das sprachliche wie kulturelle Fremde gleichsam repräsentieren. 13.2. Nach Benjamin Im Hinblick auf eine kulturwissenschaftliche Blickrichtung wird man Benjamins Theorie, die in ihrer Schlusswendung bereits über die klassische Philologie und Literaturtheorie hinausweist, zwangsläufig modifizieren müssen. Zum einen ist es simpel, aber doch richtig, zu sagen, dass die meisten Texte der mundan gewordenen Zivilisation keine dichterischen Artefakte im Sinne Benjamins sind. 18 Bhabha, Die Verortung der Kultur, S. 21. 321 13.2. Nach Benjamin Das Übersetzen hoher „Dichtung“, das große Thema der klassischen Moderne, stellt quantitativ ein winziges Segment dar. Aber wie Benjamin gezeigt hat, treffen all die Bestimmungen- - Präsentation des Fremden in seinen verschiedenen Manifestationen, Verweis auf die Sprache als solche, Unfassbarkeit- - nur auf das Übersetzen von Dichtungen zu. Der dritte Raum realisiert sich so besehen nur im dichterischen Übersetzen in all seinen Aspekten. Nur in diesem tut sich jene Fremdheit der Sprache auf, die nichts mit kultureller Fremdheit zu tun hat, sondern mit einer spezifischen Konstitution eines In-der-Welt-Seins, das immer schon sprachlich vermittelt ist. Diese Fremdheit wird indes sichtbar an den Übergängen und Schwellen, die die menschlichen Sprachen verbinden und zugleich trennen. In diesem Sinne ist auch die Forderung des portugiesischen Kulturwissenschaftlers Antonio Sousa Ribeiro zu verstehen, Literatur- und Kulturwissenschaft von der Grenze aus zu bestimmen. 19 Sie scheint zunächst einmal im Sinne einer kulturellen Peripherie auf, aber letztendlich befindet sie sich am Rande der Sprache(n), ist keine ethnisch markierte Trennlinie, sondern verweist auf das Liminale alles Sprachlichen schlechthin. Anders als zu Benjamins Zeiten gibt es in der global gewordenen Welt viele Texte, auch literarische, die bereits für die Übersetzung geschrieben werden, um eine mehrfache Kontextualisierung zu ermöglichen. Das gilt zum Beispiel für Autoren und Autorinnen kleiner Sprachen, die von Anfang an auf ein größeres deutschsprachiges oder angelsächsisches Publikum zielen, und das gilt natürlich auch für hybride Texte wie z. B. jene von Salman Rushdie oder von Dimitré Dinev. Fraglich ist auch, ob eine kulturwissenschaftliche Theorie des Transfers diesen ausschließlich aus der Perspektive des Transporteurs, des Übersetzers, schildern und die Funktionen, die die Übersetzung für die jeweilige Kultur besitzt, außer Acht lassen darf. Benjamins Text nimmt seinen Ausgangspunkt von einer Phänomenologie des Übersetzens, die diesen Vorgang-- entgegen der anfänglichen Prämisse-- als einen paradoxen Rezeptionsakt führt, der ein zweites Kunstwerk, einen zweiten Text in einer anderen Sprache oder in einem anderen Medium hervorbringt: ein Double, das keines ist. Übersetzung ist immer schon, was bei Benjamin auch an einer Stelle anklingt, Kontextualisierung und Transfer von 19 Ribeiro, Antonio Sousa: „The reason of borders or a border reason? Translation as a metaphor for our times“. In: www.eurozine.com / articles / 2004-01-08-ribeiro-en.html, heruntergeladen am 11. 03. 2008. In diesem Artikel auch weiterführende Literatur und Bezugnahme auf das Konzept von Homi Bhabha. Vgl. dazu auch Ponzi, Mauro / Borsò, Vittoria (Hg.): Topografia dell’Estraneo. Milano: Mondadori, 2006. 322 13. Übersetzung als Agentur von Fremdheit und Differenz einer Kultur in die andere. Diese Prozesse sind räumlich und / oder zeitlich gemeint. Damit wird ein wenn auch niemals vollständiger und endgültiger, höchst provisorischer Abschluss vollzogen, der das Fremde in gewisser Weise integriert, aneignet, zum Eigenen macht. Er lässt das Fremde nur insofern zu, als dieses-- als Stereotyp ( → -Kapitel 8), als Beschreibung, Erzählung, als Wissensbestand-- in der jeweiligen Kultur vorhanden ist. Der dritte Raum, in dem sprachliche Transferprozesse stattfinden, ist provisorisch, fragil, liminal beweglich und temporär, Teil der Begegnung von Kulturen. Kontextualisierung bedeutet: Das fremde Werk von Außen existiert im Inneren der jeweils ‚heimischen‘ Kultur vornehmlich als eigenes, es wird in den Kontext der zunächst fremden, inkompatiblen Kultur integriert. Damit sind wir bei einer Problematik angelangt, die die literaturwissenschaftliche Transfer-Forschung in ihren Anfängen systematisch ausgeschlossen hat: die Macht-Frage. Macht scheint keine Kategorie für Textwissenschaften zu sein. Sie scheint mir aber für alle Transfer-Prozesse maßgeblich zu sein, in denen sich die Ungleichheit von Herrschaftsverhältnissen, Anerkennung und Wertschätzung manifestiert. Zwar hebt Doris Bachmann-Medick in ihrer überaus informativen Einführung in den gegenwärtigen kulturwissenschaftlichen Diskurs über das Übersetzen auch die Bedeutung der postkolonialen Theorieansätze hervor, erweckt aber zugleich den Eindruck, als ob die Asymmetrien, auf die diese Theorien abstellen, Ausnahmen von der Regel darstellten. Eine solche Einschätzung ist indes verwegen, lässt sich doch zeigen, dass es im Hinblick auf politische und ökonomische Parameter erhebliche Ungleichheiten gibt. Solche Diskrepanzen und Missverhältnisse können die Machtstellung oder auch Größe einer Kultur sowie politische, ökonomische und kulturelle Zentralität bzw. Peripherisierung betreffen. Gerade die Differenz der Kulturen, wie sie in der Übersetzung manifest wird, verweist auf die erschreckende wie eindrucksvolle Ungleichheit in so genannten Transfer-Prozessen. 20 Wichtige Fragen sind in diesem Zusammenhang: Wer übersetzt? Wer wird übersetzt? Was wird übersetzt? Was darf übersetzt werden? Und vor allem: Was wird nicht übersetzt? 20 Diese Asymmetrie lässt sich sehr anschaulich an den Vergabepraktiken des Nobelpreises illustrieren, die die hegemonialen Konstellationen der westlichen Sprachen, voran des Englischen, widerspiegeln, vgl. hierzu auch die Studie von: Schörkhuber, Eva Gabriela: Alles umsonst-- oder: warum man sich um den Nobelpreis nichts kaufen kann. Der Literaturnobelpreis als höchst dotiertes Konsekrationszeichen in den Feldern der Literatur. Wien: Dipl. Arbeit, 2007. 323 13.2. Nach Benjamin Das vielsprachige kontinentale Europa ist grosso modo eine Kultur des Übersetzens und diese wird sogar von der Europäischen Union subventioniert. 21 Diese Tatsache findet ihren Niederschlag z. B. in einer österreichischen oder deutschen Buchhandlung, in der ein stattliches Sortiment von geschätzt 40 Prozent aus übersetzten Werken besteht. 2014 erschienen 87 134 Titel auf dem deutschen Buchmarkt, davon waren 14 111 belletristische Werke. Die Zahl der Übersetzungen belief sich auf insgesamt 10 812 Werke aus anderen Sprachen, die ins Deutsche übersetzt oder als solche neu aufgesetzt wurden. Der Anteil von übersetzten Büchern (Erst- und Neuauflagen) an der Gesamtzahl beträgt 12,4 Prozent. Herkunftssprachen der Übersetzungen 2014: Englisch (6 527 Titel), Französisch (1 008 Titel), Japanisch (673 Titel), Schwedisch (283 Titel) und Italienisch (280 Titel). Leider weist die Statistik keine Übersetzungszahlen für literarische Bücher auf und enthält auch keine Liste der am meisten verkauften Buchtitel. 22 Geht man hingegen in England oder den USA in eine Buchhandlung, so wird man internationale Bücher finden, sofern deren Autorinnen und Autoren auf Englisch schreiben. Alle anderen Schriftsteller / innen muss man hingegen mit der Lupe suchen und dann handelt es sich zumeist um die erlesene Auswahl an Nobelpreisträger / innen und potentiellen Kandidat / innen. In den USA lehnen es, wie mir eine Verlegerin eines kleinen Verlages berichtete, die sich auf österreichische Literatur konzentriert, große Verlage mittlerweile ab, Bücher zu publizieren, die Übersetzungen sind. 23 Die Geringschätzung der Übersetzung in einem Land mit unverkennbar multiethnischen Beständen verweist auf eine selbstgenügsame und hegemoniale Haltung, die von der unausgesprochenen Prämisse ausgeht, dass es alles an relevanter Literatur ohnehin in den USA und 21 Vgl. Müller-Funk, Wolfgang: „Benjamin und der translational turn. Thesen und Anmerkungen“, in: Peter Hanenberg / Isabel Capeloa Gil / Filomena Viana Guarda / Fernando Clara (Hg.), Rahmenwechsel Kulturwissenschaften, Würzburg: Königshausen & Neumann 2010, S. 33-47. 22 http: / / www.boersenverein.de / de / 182 716, heruntergeladen am 08. 03. 2016. 23 Einschlägige Kenner der deutschsprachigen Verlagsszene nennen in diesem Zusammenhang Relationen in der Größe von 100: 1, das heißt konkret im Bereich der Belletristik 4000: 40. Auf ein ins Englische übersetzte deutsche Buch kommen hundert englischsprachige. Die Relation hat sich insofern ‚verbessert‘, als die Zahl der Übersetzungen aus dem Englischen wegen der hohen Verlagsforderungen amerikanischer Verlage stark gesunken ist, von knapp 8000 auf eben 4000. Die Information stammt aus einem Gespräch mit dem Cheflektor des Zsolnay-Verlages, Herbert Ohrlinger, Februar 2008. 324 13. Übersetzung als Agentur von Fremdheit und Differenz ihren englischsprachigen Peripherien gibt. So weist der Londoner Buchmarkt gerade 4 Prozent an übersetzten Büchern auf. 24 Während also kleine Länder emsig übersetzen-- so hat mir ein spanisch-baskischer Kollege berichtet, dass er nach Österreich kommen möchte, um Bernhards Untergeher ins Baskische zu übersetzen (schon der Titel des Buches dürfte ihm Kopfzerbrechen bereiten)- - gibt es Länder, die sich von anderen Kulturen abschotten, indem sie nichts oder wenig übersetzen. Die dritte Sprache, auf die alles im Einklang mit den globalen Machtverhältnissen bezogen wird, ist unter den Gegebenheiten einer globalisierten massenkulturellen Zivilisation nicht mehr die mystische und reine Sprache Mallarmés und Benjamins, sondern das amerikanische Englisch, das seiner ganzen Genese nach selbst das Produkt mehrerer Einwanderungskulturen ist. Dieses Englisch ist also hybrid und zugleich doch nach außen geschlossen. Was in dieser Sprache nicht existiert, hat global kaum eine Chance auf Repräsentation. Der ungleiche symbolische Tausch im Kulturtransfer führt im Kontext der Globalisierung beinahe zwangsläufig dazu, dass die meisten sog. Hochsprachen auf den Status von regionalen Globalsprachen gedrückt werden. Das bedeutet, dass sie Sprachen werden, die nur in bestimmten alltäglichen Kontexten Verwendung finden und nicht mehr die gesamte Lebenswelt, von Bereichen wie Wissenschaft, Technik bis hin zu Wirtschaft oder Recht, symbolisch zu konstruieren imstande sind. Anders als es die viel zitierte kosmopolitische Utopie von der Weltliteratur etwa im Stile Goethes nahelegt, wird die meiste Literatur dieser Welt zur Regionalliteratur, während das Fremde allenfalls in jenen Werken aufscheint, die das Thema der Übersetzbarkeit, der symbolischen Mischung, der Alterität und der nicht-englischen dialektalen Welten in sich tragen. Damit komme ich zu meinem letzten Punkt. Benjamins Parameter war: Es gibt kein objektiv Drittes, das darüber entscheiden könnte, in welchem Verhältnis ‚Original‘ und ‚Übersetzung‘ zueinander stehen, wohl aber die Dimension einer Meta-Sprache, die zwar fremd und verschlossen ist wie die sieben Siegel des Johannes von Patmos, auf die sich jedoch jedwede Dichtung beruft und die gleichzeitig in der Übersetzung manifest ist. Lässt man indes diese mystische Hypothese einer verloren gegangenen Sprache fallen, dann wird Kontextualisierung, und das heißt eine Form von Assimilierung der Herkunftskultur, die in einem Akt verschwiegenen symbolischen Aushandelns zugleich die ‚Hinkunftskultur‘ ver- 24 Translation Statistics von LAF . In: http: / / www.lit-across-frontiers.org / new-translationstatistics-from-laf/ , heruntergeladen am 08. 03. 2016. 325 13.2. Nach Benjamin ändert, zum alleinigen Kriterium für das Gelingen eines Kulturtransfers. Dies ist ähnlich wie bei der Stereotypisierung: Verständnis und Missverständnis sind unauflösbar. Oder um zu einer Analogie zu greifen: Ob die Pizza in Wien dem neapolitanischen ‚Original‘ entspricht und das japanische Sushi dem Angebot in Berlin, wird vollkommen irrelevant, entscheidend ist nur, dass beide kulturell angenommen werden. Es ist frappierend, Adorno mit postgraduierten Studenten auf Englisch zu lesen, wobei nur der / die Lehrende sich im Dritten Raum befindet, während den meisten Studierenden der Text nur auf Englisch zugänglich ist. In dieser nicht nur in sprachlicher Hinsicht adaptierten Form sind der ursprüngliche Kontext, die dialektische Denkfigur, die idealistischen Narrative und der verschwiegene religiöse Hintergrund unvermeidlich ausgeblendet. Gegen den Mystizismus Benjamins lässt sich füglich behaupten, dass die meisten Texte, die wir lesen, genauso unseren kulturellen Gepflogenheiten angepasst sind wie chinesisches Essen oder die Lehren des Buddhas. Das Missverständnis einer anderen Kultur bildet gerade unter den Bedingungen wahrscheinlicher Asymmetrie die Voraussetzung dafür, dass wir sie in unserem kulturellen Kontext begreifen können. Die Heterogenität, die im Akt literarischen Übersetzens und auch in Texten, die selbst fremde Sprachmaterialien in sich tragen, aufblitzt, ist niemals von Dauer. Kulturen schließen sich und generieren damit Homogenität, eine Geschlossenheit, die womöglich illusorisch, aber überaus wirksam ist. Die Vorstellung, dass Kultur nur flüssig, prozessual und hybrid sein könnte, diese gegen den alten Differenz- Kulturalismus aufgestellte Utopie einer permanenten Revolution der Kultur, die unterschwellig in den heutigen Kulturwissenschaften herumgeistert, ist letztlich unhaltbar. Es macht einen elementaren Unterschied aus, ob man das Übersetzen aus der Perspektive der Übersetzenden oder jener Majorität von Lesenden analysiert, die nur mehr den übersetzten, das heißt kulturell normalisierten Text rezipieren, dessen kulturelle Fremdheit letztendlich dadurch neutralisiert ist, dass er in einer fremden Kultur präsentierbar wird. Das Übersetzen lässt sich gewiss als ein Akt der Öffnung für das Fremde begreifen, aber es hat-- aus einer Binnenperspektive-- die kulturelle Aneignung dieses Fremden zur unerbittlichen Konsequenz. Immerhin bewahrt das wenn auch halbherzige Festhalten Europas an seiner Vielsprachigkeit die Benjaminsche Erkenntnis, die er aus der Tätigkeit des Übersetzens gewinnt: die Einsicht in die prinzipielle Fremdheit der Sprache, wie sie nur durch die Mehrsprachigkeit der Bevölkerung-- und nicht allein durch Übersetzungsbüros-- offenbar wird. 326 13. Übersetzung als Agentur von Fremdheit und Differenz Das eigentlich Fremde liegt, wie uns die Phänomenologie nach Husserl und die Psychoanalyse nach Freud lehrt, jenseits dessen, wo wir es suchen: abseits der sprachlichen, ethnischen, religiösen oder geschlechtlichen Differenzen. Diese müssen wir gleichsam durchstoßen, um zu der Fremdheit zu gelangen, die die Sprache der Dichtung zum Thema macht: das „Unfassbare“, das nur dort ins Blickfeld rückt, wo die Sprache an ihre Grenze gerät-- in der Poesie. 13.3. Im Turm zu Babel: George Steiner Das zuerst 1975 auf Englisch erschienene Buch After Babel. Aspects of Language and Tradition George Steiners (Jg. 1929), eines renommierten Komparatisten an den Universitäten Cambridge und Genf mit Wiener Familienwurzeln, ist bis zum heutigen Tage ein unverzichtbares Buch, das in das Phänomen des Übersetzens, das durch die Pole des Fremden und des Eigenen bestimmt ist, einführt. Es versucht, die klassische Hermeneutik mit dem lingustic turn, der mit dem Namen Saussures verbunden ist, und mit modernen Kommunikationstheorien zu verbinden und dadurch zu erneuern: Nach Babel postuliert die These, daß das Übersetzen formal ebenso wie praktisch Teil eines jeglichen Kommunikationsaktes ist, beim Senden wie beim Empfangen jedweder Form von ‚Bedeutung‘, sei es im umfassenden semiotischen Sinne oder im engeren des sprachlichen Austauschs. Verstehen bedeutet dechiffrieren. Bedeutungen zu hören, heißt übersetzen. 25 Das Zitat zeigt, dass der Begriff des Übersetzens bei Steiner weit gefasst ist. Er umschließt nämlich nicht nur die Übertragung von Texten in andere Sprachen. Vielmehr betrifft er jeglichen Kommunikationsakt, bei dem es sich um das Senden und Empfangen von Mitteilungen und damit von Bedeutungen handelt. Mit dem Titel verweist Steiner auf die biblische Geschichte, auf ein mythisches Ursprungsnarrativ, das die Zerstreuung der Menschen und die Verwirrung der Sprache erzählt. ‚Nach Babel‘ meint wohl zweierlei: dass wir diesen Mythos hinter uns gelassen haben und zugleich in einer Welt leben, die noch immer von einer verwirrenden sprachlichen Vielfalt geprägt ist. 25 Steiner, George: Nach Babel. Aspekte der Sprache und des Übersetzens. Deutsch von Monika Plessner. Frankfurt / Main: Suhrkamp, 1994. S. V. 327 13.3. Im Turm zu Babel: George Steiner An anderer Stelle formuliert der Philosoph, dass „jedes Kommunikationsmodell“ „gleichzeitig ein Modell der Übersetzung, also der vertikalen oder horizontalen Übertragung von Bedeutung“ sei. 26 Die Kommunikation bildet die Voraussetzung für das Übersetzen. Bewusstes Übersetzen ist demnach ein Akt, der sich Kommunikationsschwierigkeiten gegenübersieht: So vollzieht also jeder Mensch immer dann einen Akt des Übersetzens-- und zwar im vollen Wortsinn--, wenn er eine Sprachbotschaft von einem anderen entgegennimmt. Zeit, Abstand, äußere oder vermeintlich innere Ungereimtheiten machen diesen Akt mehr oder minder schwierig. Sind die Schwierigkeiten entsprechend groß, so wird der Übersetzungsakt vom unbewußten Reflex zur bewußten Technik. Jegliche Intimität, sei es Haß oder Liebe, bringt dagegen ein vertrautes, quasi-unmittelbares Übersetzen mit sich. 27 Wie sich bald zeigt, gebraucht Steiner ganz absichtsvoll den Begriff des Aktes, weil er auch den „sexuellen Akt“ als ein semantisches und kommunikatives Phänomen betrachtet, das der „Lebensnotwendigkeit für das Ich“ entspringt, „über sich selbst hinauszugreifen und zu begreifen-- nämlich ein anderes Ich“. 28 Steiners mäandrierendes, in seinem Gestus unverkennbares essayistisches Werk, das Opus eines belesenen homme des lettres, sperrt sich einer systematischen intensiven Lektüre, die darauf abzielt, die stringenten Argumentationsstränge einer Theorie freizulegen, sichtbar zu machen und zu diskutieren. Keines der Kapitel dieses Buches enthält eine systematische und programmatische Darlegung von Steiners Übersetzungstheorie. Daher sollen im Folgenden zwei seiner Grundüberlegungen näher betrachtet werden: seine Darstellung der Übersetzung als eines Sonderfalls des Verstehensprozesses (Kapitel 1, „Verstehen als Übersetzen“) sowie sein Vierphasenmodell des hermeneutischen Prozesses (Kapitel 5, „Der hermeneutische Prozess“). Bekanntlich setzt das Verstehen, wenn es als eine anstrengende Prozedur begriffen wird, stets voraus, dass wir etwas nicht verstehen. Wenn dieses Verstehen (scheinbar) mühelos ist, dann deshalb, weil wir uns zum Beispiel im gleichen Zeitschnitt und im gleichen kulturellen Kontext befinden oder einander in Liebe oder Hass verbunden sind. In seinen Überlegungen zum Übersetzen nähert sich der Philosoph seinem Thema auf einem Umweg. Indem er die Lesbarkeit früherer Texte in unserer jeweiligen Sprachkultur diskutiert, weitet er den Begriff der 26 Steiner, Nach Babel, S. 45. 27 Steiner, Nach Babel, S. 47. 28 Steiner, Nach Babel, S. 35. 328 13. Übersetzung als Agentur von Fremdheit und Differenz Übersetzung von der ‚räumlichen‘ auf die zeitliche, von der fremdsprachlichen auf die ‚eigensprachliche‘ Dimension aus. Dies tut er nicht zuletzt, um seiner Leserschaft vorzuführen, dass auch die vermeintlich eigene Sprache immer wieder fremde, irritierende Momente hervorbringt. Bevor wir auf das Problem der Übersetzung im engeren Sinne stoßen, dass ein betreffender Text nicht in unserer Sprache verfasst wird, sind wir also damit konfrontiert, dass wir einen englischen oder deutschen Prosatext vor und um 1800 nicht ohne weiteres verstehen. Das kulturelle Nicht-Verstehen früherer Epochen, die Tatsache, dass sich hinter der formal verständlichen altmodischen Sprache kulturelle Differenzen auftun, kommt in Steiners Text nicht in Betracht. Das Unverständnis hängt nicht nur damit zusammen, dass darin Ausdrücke vorkommen, die uns heute nicht mehr geläufig sind, sondern ergibt sich aus dem Umstand, dass sich die Sprache, wie Steiner selbst schreibt, generell und insgesamt wandelt: „Sprache ist unaufhörlich im Wandel begriffen.“ 29 Und er fügt hinzu: Die Gesamtheit sprachlicher Ereignisse wird durch jedes neue Sprachereignis nicht nur vergrößert, sondern auch differenziert: Zwei Aussagen, die zeitlich aufeinander folgen, sind niemals vollkommen identisch. Obwohl sie homolog sind, beeinflussen sie einander. Während wir über Sprache nachdenken, verändert sich der Gegenstand unseres Nachdenkens (weshalb Fachsprachen oder Meta-Sprachen die Umgangssprache ganz erheblich beeinflussen können). Kurzum: Zeit und Sprache sind, sofern wir sie in linearem Verlauf erleben und wahrnehmen, innigst miteinander verknüpft. Sie sind in Bewegung, und der Richtungspfeil weist niemals auf dieselbe Stelle. 30 Das Phänomen, auf das Steiner abzielt, ist jenes, das in der Literaturtheorie als Intertextualität gefasst wird. Dabei geht es darum, dass die Produktion von Texten sich auf das Verständnis des vorhandenen Bestandes von Texten auswirkt. Jeder Metatext eines literarischen Textes, jede Inszenierung eines Theaterstücks verändert potentiell dessen Bedeutung. Bedeutung ist nicht fixierbar, weil Sprache sich verändert. Die These vom sprachlichen Wandel illustriert der Literaturwissenschaftler am Beispiel der Innovation, die der post festum zum Klassiker erklärte Dichter erzeugt: Der Klassiker ist der einzige totale Revolutionär. Er ist der erste, der aufbricht, nicht etwa in jenen stillen Ozean, in dem Mensch und Sprache eines und alles sind, sondern in die Terra incognita des symbolischen Ausdrucks, der Analogie, der Anspielung, 29 Steiner, Nach Babel, S. 7. 30 Steiner, Nach Babel, S. 8. 329 13.3. Im Turm zu Babel: George Steiner des Gleichnisses und ironischen Kontrapunkts. Wir besitzen eine Historiographie des Blutvergießens und der Täuschungen, aber keine der Metapher. Wir machen uns keine Vorstellung davon, was es bedeutet haben muß, als erster die Farbe des Meeres mit dem Traubendunkel des Weins verglichen oder den Herbst in einem Menschenantlitz erkannt zu haben. Solche Figuren sind neue Landkarten der Welt, sie verändern unser Wohnen in der Wirklichkeit. 31 Ob sich Sprachen schneller oder langsamer verändern, hängt von den jeweiligen kulturellen Rahmenbedingungen ab. Aber Sprachen verändern sich auch, weil sie kulturelle Konstrukte sind, wie Steiner mit Blick auf die moderne Sprachwissenschaft meint: „Sprachen sind rein arbiträre Systeme aus Signalen und konventionalisierten Schaltungen.“ 32 Das klingt einigermaßen unauratisch und bedeutet natürlich auch eine Entzauberung all der magischen Restbestände, die noch im Modernismus eine programmatische Rolle spielten. Man denke nur an die Idee von der ursprünglichen poetischen Sprache bei den deutschen Frühromantikern, beim jungen Benjamin und noch bei Octavio Paz. 33 Aus der temporalen Bedingtheit ergibt sich die Tatsache, dass „keine semantische Form-[…] zeitlos“ ist. Aber ganz offenkundig geht dieses Argument über die Tatsache des sprachlichen Wandels hinaus: Wenn wir ein Wort sagen, bringen wir seine gesamte Geschichte mit zum Erklingen. Ein Text ist in eine spezifische Zeit eingebettet. Er hat das, was die Linguistik als ‚diachrone Struktur‘ bezeichnet. Lesen in der ganzen Fülle der Möglichkeiten bedeutet, soweit als möglich, die Unmittelbarkeit von Gehalt und Wert zurückzuholen, darin die Rede ursprünglich stattfindet. 34 Steiners Modell ist an dieser Stelle durchaus einem sehr traditionellen Verständnis von Hermeneutik verpflichtet, etwa wenn er die Figur der „ursprünglichen Wiederholung“ empfiehlt oder davon spricht, dass „wahre Kennerschaft“ ein Stück Mimesis sei. 35 An diesem Punkt unterscheidet sich seine Position markant von der Benjamins. Während letzterer nämlich darauf insistiert, dass die Wiederholung einen Unterschied produziert, geht der Autor von Nach Babel davon aus, dass die 31 Steiner, Nach Babel, S. 14. 32 Steiner, Nach Babel, S. 11. 33 Nicht umsonst bezeichnet Benjamin in seinem frühen Aufsatz über die Sprache die zeitgenössischen konventionalistischen Sprachtheorien als ‚bürgerlich‘, Benjamin, „Über die Sprache überhaupt und über die Sprache des Menschen“, S. 9-26. 34 Steiner, Nach Babel, S. 15. 35 Steiner, Nach Babel, S. 18. 330 13. Übersetzung als Agentur von Fremdheit und Differenz Wiederholung sich dem Original möglichst anzugleichen hat. Dafür steht der Begriff der Mimesis, der Nachahmung. Im Nachwort von 1991 formuliert Steiner das auch unmissverständlich und polemisch, wenn er über das moralische Problem des Übersetzens schreibt: „Dieses Dilemma scheint für mich um so mehr von Bedeutung zu sein in einer Zeit, da eine dekonstruktivistische Literaturwissenschaft und eine selbstverliebte Gelehrtenzunft Texte als auszuschlachtende ‚Prä- Texte‘ für den eigenen Trödelladen gebrauchen.“ 36 Wenn der Literaturtheoretiker seine Leserschaft auf eine zeitgetreue Lesart zu verpflichten trachtet, dann ist damit nur eine Möglichkeit des ‚Übersetzens‘ im diachronen Modell beschrieben, die andere Option wäre doch den zeitlich fernen und fremden Text in den heutigen Kontext einzufügen. Es ließe sich auch sagen, dass das Übersetzen den polaren Gegensatz von Fremdem und Eigenem tendenziell auflöst. Was in dem vergleichsweise traditionellen Text- und Literaturverständnis gleichfalls verlorengeht, ist die Tatsache, dass gerade literarische Texte oftmals eine Vielfalt von möglichen Bedeutungen enthalten, so dass die Redeweise von einem ‚ursprünglichen‘ Stattfinden einer Rede einigermaßen missverständlich ist. Polysemie schreibt Steiner indes in kritischer Absicht der „Sprache der Ideologie“ zu, die dadurch politische Verwirrung stifte. Literarische Texte sind schon allein deshalb mehrdeutig, weil ihr Gegenstand immer auch die Sprache selbst ist, die niemals eindeutig ist und sein kann. Mittels dieser Mehrdeutigkeit erzeugen sie jenen Effekt, den man als semantische Verdichtung beschreiben kann. Der Übersetzungsprozess, wie ihn Steiner beschreibt, enthält vier Phasen: Diese sind das Thema des fünften Kapitels. Für ihre Beschreibung bedient er sich metaphorischer Ausdrücke: 1. Anfängliches Vertrauen, 2. Aggression, 3. Einverleibung, 4. Reziprozität oder Wiederherstellung. 37 Die erste Phase, das Vertrauen, beinhaltet „eine Vorleistung von Glauben an die Bedeutungshaltigkeit des Textes, den der Übersetzer vor sich oder, strenggenommen, ‚gegen sich‘ hat“. Wer übersetzt, geht davon aus, dass der fremde und fremdsprachige Texte eine Bedeutung hat und damit sprachlich ist. Alles Ver- 36 Steiner, Nach Babel, S. XI . 37 Steiner, Nach Babel, S. XI . 331 13.3. Im Turm zu Babel: George Steiner stehen besteht „normalerweise aus spontane[m], ungeprüften Glauben, dessen Grundlagen allerdings höchst komplex sind“. 38 Wer sich einem in einer fremden Sprache verfassten Text gegenübersieht, der geht davon aus, dass der Text eine Bedeutung hat, die sich ihm noch nicht völlig erschließt. Steiner schließt auch den Fall nicht aus, dass der Übersetzer dem Text sein Vertrauen entzieht und den fehlenden Sinn nicht einer geringen Übersetzungskompetenz, sondern der mangelnden Kohäsion zuschreibt, die wiederum wie bei avantgardistischen Texten auf eine Bedeutung auf einer Meta-Ebene verweisen kann. In jedem Fall bildet das Vertrauen in den vorliegenden ‚fremden‘ Text die Voraussetzung für den hermeneutischen Prozess. Die zweite Phase nennt Steiner unter Berufung auf Hegel und Heidegger Aggression. Die Vorstellung, wonach alle Erkenntnisse aktiv und aggressiv sind, gehe auf Hegel zurück. Heidegger habe diesen Gedanken insofern pointiert, als sich für ihn das Verstehen als eine „gewaltsame Aneignung von Da-Sein durch Erkenntnis“ darstellt. Der Übersetzer wäre demnach ein „siegreicher Eroberer“, der mittels eines „Einkreisungsmanövers“ „die fremde Bedeutung als Gefangenen nach Hause bringt“. Der Philosoph erinnert an Ausdrücke wie einen Code „knacken“ oder „brechen“. Bellizistische und aggressive sexuelle Konnotationen sind in diesen Vergleichen unübersehbar: „Der Übersetzer dringt ein, raubt und heimst ein.“ 39 Steiners Metaphorik provoziert geradezu die Frage nach ihrer Angemessenheit. Ohne das Moment des Widerstreits in Abrede zu stellen, setzt doch der Übersetzungsprozess in diesem Stadium womöglich auch ganz gegenläufige Momente in Gang. Ein Beispiel dafür ist das Sich-Öffnen für das Andere, das mit der Erfahrung Hand in Hand geht, dass sich einem der Text auch ohne Gewaltsamkeit erschließt. Eine andere Möglichkeit ist die Tatsache, dass hinter dem Text eine Stimme vernehmbar wird, zu der ich in einem Verhältnis einer gewiss schwierigen reziproken Anerkennung stehe. Ich muss darum kämpfen, dass-- im Falle etwa einer literarischen Übersetzung-- meine Übersetzung mit dem fremden Original mithalten kann. Die dritte Phase bezeichnet Steiner als Einverleibung. Sie besteht darin, dass das fremde „Beutegut“ in das „semantische Feld des Übersetzers“ „inkorporiert“ wird. Weniger metaphorisch gesprochen handelt es sich um einen Prozess der Assimilierung und Lokalisierung. In der Terminologie der kulturellen Wende würden wir wohl eher davon sprechen, dass der fremde Text einen neuen ‚ei- 38 Steiner, Nach Babel, S. 311. 39 Steiner, Nach Babel, S. 313. 332 13. Übersetzung als Agentur von Fremdheit und Differenz genen‘ Kontext bekommt, was aber das Ideal der mimetischen Herstellung der ursprünglichen Bedeutung, die Georg Steiner im ersten Kapitel so betont hat, außer Kraft setzt. Mehr noch, dieser kontextualistische Zugang führt dazu, die Idee einer wahren, eben kontextfreien Bedeutung letztendlich zu verwerfen. Dass dem so ist, zeigt sich auch bei Steiner, wenn er verschiedene Formen der Einverleibung unterscheidet. Die Bandbreite der Assimilierung und Lokalisierung des fremden Textes reicht „von der totalen Domestizierung, dem totalen Aufgehoben-Sein im Kern des neuen Sprachzusammenhangs-[…] bis zu permanenter Fremdheit, der Randexistenz eines kunstvollen Produkts“. 40 Als Beispiel für das eine Extrem nennt Steiner Luthers Bibelübersetzung, während Nabokovs englische Version von Eugen Onegin das andere repräsentiert. Diese beiden Extreme sind im Wesentlichen ein Widerhall der Übersetzungstheorie Schleiermachers, die rigoros zwei Strategien unterscheidet. 41 Im ersten Fall passt sich der fremde Text bedingungslos der je eigenen Sprache des Übersetzers an, im anderen Fall passt sich der Übersetzer ebenso einschränkungslos dem zu übersetzenden Text an. Die vierte Phase bezeichnet der Philosoph durchaus in Anknüpfung an Benjamin ( → -Kapitel 13.1.) und an Broch 42 ( → -Kapitel 13.4.) mit dem Terminus einer Reziprozität: Der Übersetzer muss das „gestörte Gleichgewicht“ 43 , das infolge seiner Übersetzung entstanden ist, wiederherstellen. Bei dem Akt ist ein „dialektisch-enigmatischer Rest“ 44 geblieben bzw. entstanden. Das Original hat durch seine Übersetzung einen „Bruch“ erfahren-- diese Furcht vor dem Bruch durch Übersetzung sei ein treibendes Motiv bei der Ablehnung der Übersetzung sakraler Schriften. Einer konservativen Auffassung zufolge, die sich vor derlei Bruch fürchtet, bedeutet die menschliche Übersetzung einer göttlichen Selbstoffenbarung eine Zerstörung der Aura des Heiligen. 45 Aber der durch Übersetzung freigelegte Rest lässt sich indes als ein Plus begreifen. Die Beschädigung ist zugleich Bereicherung: 40 Steiner, Nach Babel, S. 314. 41 Frey, Hans-Jost: Der unendliche Text. Frankfurt / Main: Suhrkamp, 1990, S. 24-32. 42 Broch, Hermann: „Einige Bemerkungen zur Philosophie und Technik des Übersetzens“. In: Ders.: Schriften zur Literatur 2: Theorie. Herausgegeben von Paul Michael Lützeler. Frankfurt / Main: Suhrkamp, 1975. S. 61-86. 43 Steiner, Nach Babel, S. 316. 44 Steiner, Nach Babel, S. 316. 45 Steiner, Nach Babel, S. 316. 333 13.4. Boris Buden: Kulturelle Übersetzung und ‚dritter Raum‘ Der Originaltext gewinnt durch verschiedene Verhältnisse und Abstände zwischen ihm und seinen Übersetzungen. Die Reziprozität ist dialektisch: Abstand und Nähe verändern das ‚Format‘ der Signifikanz. Manche Übersetzungen lassen uns von der Leinwand zurücktreten, andere stellen uns dicht vor sie hin. 46 Der Philosoph räumt indes ein, dass der Übersetzer, der Agent der „Hermeneutik des Vertrauens“ 47 , dem „Original zu viel oder zu wenig entnommen“ hat: „[…]-er hat ausgestopft, ausgeschmückt, in es ‚hineingelesen‘ oder weggelassen, beschnitten, Unebenheiten geglättet.“ 48 Von Benjamins Konzept aus betrachtet, kreist Steiners Theorie der Übersetzung im Wesentlichen um den philologisch-sprachlichen Aspekt der Übersetzung als einer Form intensiver Auseinandersetzung mit dem Fremden. Sie hält an einem Universalismus fest, der davon ausgeht, dass Übersetzung deshalb möglich ist, weil, wie der Literaturwissenschaftler unter Berufung auf Broch konstatiert, ein tertium comparationis in Gestalt eines universalistischen Geistes gegeben ist. 49 Steiner weitet den Begriff der Übersetzung insofern aus, als er ihn als Spezialfall des hermeneutischen Interpretierens versteht. Heutige kulturwissenschaftlich orientierte Ansätze greifen indes jene Aspekte in Benjamins kursorischer entfalteter Theorie auf, die man als Vorverweis auf eine Auffassung des Übersetzens begreifen kann, in denen die rein sprachliche Übersetzung als integraler Bestandteil kulturellen Transfers verstanden wird. 13.4. Boris Buden: Kulturelle Übersetzung und ‚dritter Raum‘ In seinem Aufsatz Kulturelle Übersetzung als Problem (2008) setzt sich der österreichische Philosoph Boris Buden mit der These auseinander, dass die sprachliche Übersetzung immer auch etwas Kulturelles mit überträgt. Was ist nun dieses Kulturelle, fragt Buden mit Blick auf das, was er die „angewandte Übersetzungstheorie“ nennt? Ist es vielleicht jener „dialektisch-enigmatische Rest“, von dem Steiner in seiner Übersetzungstheorie spricht (→-Kapitel 13.3.), jenes unaufhebbare Moment der Fremde zwischen Sprachen, das sich auch nicht durch den Verweis auf die universalen Gemeinsamkeiten von Sprachen beseitigen lässt? Denn das 46 Steiner, Nach Babel, S. 317. 47 Steiner, Nach Babel, S. 320. 48 Steiner, Nach Babel, S. 318. 49 Steiner, Nach Babel, S. 325: „Dieses dritte Element, das den Tausch zwischen zwei Sprachen gleichsam legalisiert, nennt Broch das ‚tertium comparationis‘.“ 334 13. Übersetzung als Agentur von Fremdheit und Differenz gemeinsame Dritte, von dem Broch in seiner universalistischen Übersetzungstheorie spricht, ist niemals als eine explizite Metasprache zu verstehen, an der sich etwa die Adäquatheit der Übersetzung des fremden Textes in die eigene Sprache messen ließe. Ist dieses Kulturelle eine dem Sprachlichen anhaftende Qualität? Eine dem Sprachlichen anhaftende Qualität, die den durch Übersetzungen zu vermittelnden Sinn entscheidend beeinflusst? ‚Kultur‘ würde dann eine Art Sinngebung bedeuten, in das das sprachliche so eng eingeflochten ist, dass man beide kaum noch voneinander trennen kann. Somit wäre jede sprachliche Übersetzung immer schon auch eine kulturelle Übersetzung. 50 Buden führt Beispiele aus der Übersetzungspraxis an, in der diese Frage als völlig irrelevant angesehen wird. Gemeint sind damit die alltäglichen, unzähligen Übersetzungen von Gebrauchstexten, ohne die unsere global gewordene Kultur überhaupt nicht funktionieren würde. Das sind all jene Textsorten, die Benjamin in seinen theoretischen Überlegungen nicht interessieren. Es sind Texte, die aus pragmatischen Gründen übersetzt werden, die aber nicht das Kriterium der Übersetzbarkeit bzw. Übersetzungsbedürftigkeit im Sinne Benjamins erfüllen, das die Voraussetzung für ihr Nachreifen darstellt ( → -Kapitel 13.1.). Aus philosophischer wie kulturtheoretischer Perspektive ist diese von Buden aufgeworfene Frage höchst relevant. In den gegenwärtigen Kulturtheorien wie den angelsächsischen Cultural Studies wird ein Kulturbegriff bevorzugt, der sich zum einen auf den linguistic turn bezieht und damit die aktive und ‚konstruktive‘ Funktion der Sprache bei der Hervorbringung von Bedeutung herausstreicht. Zum anderen wird ‚Kultur‘ als ein entscheidender Rahmen von Politik verstanden. Dieses Verständnis von Kultur, das Sprache und Kultur eng führt, ist konstruktivistisch, transdisziplinär, heterogen und politisch. Diesem Ansatz folgend wird danach gefragt, welche Bedeutungen ‚Kultur‘ generiert und repräsentiert, welche Texte in diesem breiteren Sinn ‚übersetzt‘ werden. Im Hinblick auf das Thema dieses Buches hat das eine einschneidende Konsequenz, löst sich doch dadurch die Bipolarität von Eigenem und Fremden auf. Die beiden Begriffe sind nicht mehr fixiert und unterliegen stetem Wandel. Das hat aber auch gravierende theoretische Folgen: Die Trennung von Übersetzungswissenschaft und Kulturtheorie ist heute nicht länger möglich. 50 Buden, Boris: „Kulturelle Übersetzung. Einige Worte zur Einführung in das Problem“. In: Buden, Boris / Nowotny, Stefan: Übersetzen, das Versprechen eines Begriffs. Wien: Turia-+ Kant, 2008. S. 9-28. Hier: S. 9. 335 13.4. Boris Buden: Kulturelle Übersetzung und ‚dritter Raum‘ Von Benjamin stammt die Reflexion, wonach die Übersetzung das Überleben eines Textes gewährleistet. Aus heutiger kulturwissenschaftliche Perspektive muss der Begriff des Überlebens jedoch anders und weiter gefasst werden: „Im Prozess einer kulturellen Übersetzung-[…] sehen wir heute konkrete Menschen in ihrem historisch bestimmten sozialen, politischen und existenziellen Überlebenskampf.“ 51 Bezüglich der Übersetzung, die man im Hinblick auf das Thema dieses Buches als Mediation des Fremden verstehen kann, lassen sich historisch drei theoretische Positionen unterscheiden. Die erste bezeichnet der dekonstruktivistische Kultur- und Übersetzungstheoretiker als „modernistischen Universalismus“, von dessen „epochalem Untergang“ er-- vielleicht etwas voreilig-- spricht. 52 Diese Position wird nicht eigens diskutiert, aber sie lässt sich vielleicht mit einem kurzen Blick auf Hermann Brochs Überlegungen zum Übersetzen veranschaulichen, wie er sie im Hinblick auf die Übersetzung seines letzten großen Romans Der Tod des Vergil entwickelt hat. Der Universalismus geht davon aus, dass es so etwas wie einen gemeinsamen ‚Geist‘ ‚hinter‘ der Verschiedenheit der Sprachen gibt. Die Divergenz etwa zwischen dem Deutschen, das immens lange Satzkonstruktionen wie die Brochschen gestattet, und dem Englischen, das solche eigentlich ausschließt, ist somit eine rein sprachliche Differenz. 53 In diesem Sinn ist die Entscheidung von Brochs Übersetzerin Starr-Untermeyer eine rein sprachliche: Sie hat die Möglichkeit, die deutschen Originalsätze in kürzere Formate aufzuspalten. Damit würde sie zwar den Roman in einen verständlichen englischsprachigen Kontext einbetten, aber eine Grundeigenschaft des Textes missachten, nämlich die mimetische Darstellung eines endlosen Erinnerungsstroms des todkranken römischen Dichters. Die andere Variante ist, in Nachahmung des Originals englische Sätze zu erfinden, die zumindest in diesem Kontext ungewöhnlich, wenn nicht sogar inkorrekt sind. Starr-Untermeyer hat sich für die zweite Option entschieden. Damit ist ein Thema benannt, das spätestens seit Friedrich Schleiermacher zum Standardrepertoire des Übersetzens wie der Übersetzungstheorie gehört, 54 wie Buden an einer Stelle anmerkt: Für Schleiermacher- […] hat eine Übersetzung zwei Hauptmöglichkeiten. Sie kann entweder den / die LeserIn dem / der AutorIn näherbringen, das heißt treu dem Original 51 Buden, „Kulturelle Übersetzung“, S. 11. 52 Buden, „Kulturelle Übersetzung“, S. 10. 53 Broch „Philosophie und Technik des Übersetzens“, S. 69. 54 Frey, Der unendliche Text, S. 24 ff. 336 13. Übersetzung als Agentur von Fremdheit und Differenz folgen, oder den / die AutorIn dem / der LeserIn näherbringen, das heißt originalen Text in der Übersetzung so verständlich wie möglich machen. Schleiermacher zog die erste Option vor, was impliziert, das Übersetzen auf der Seite des / der LeserIn ein gewisses ‚Gefühl des Fremden‘ provoziert, oder wie Schleiermacher schreib: ‚das Gefühl, das sie Ausländisches vor sich haben‘. 55 Die romantische Xenophilie führt dann schon zur zweiten Position, die Buden mit dem heute politisch wie theoretisch umstrittenen Begriff des Multikulturalismus verknüpft. Dieser basiert darauf, dass er verschiedene Kulturen als fixe und stabile Größen begreift, die einander als jeweils eigenes und fremdes gegenüberstehen. Insofern der Multikulturalismus die Weltliteratur national, geschlechtlich und sozial in diverse Kulturen aufspaltet, liegt ihm ein dezidierter Anti-Universalismus zugrunde. Denn bestenfalls lässt sich Weltliteratur als eine unmögliche Summe inkompatibler aber gewissermaßen stabiler Literaturen, etwa der englisch- und der deutschsprachigen, begreifen. Übrigens lässt sich Brochs Beispiel von der Differenz zwischen englischer und deutscher Sprache auch kulturell wenden. Broch tut dies auch im zweiten Teil seines Aufsatzes, wenn er bestimmte Eigenheiten der deutschen Sprache, und dazu zählt er auch die Mehrdeutigkeit, einer Mentalität deutschsprachiger Menschen zuschreibt, die möglicherweise dem Nationalsozialismus den Boden bereitet habe. Mehrdeutigkeit interpretiert er in diesem Zusammenhang negativ, als eine Zweideutigkeit und als Hang zum Irrationalen und zugleich als künstlichen Logizismus: „[…]-neben der Tiefsinnigkeit und Weitdeutigkeit der deutschen Sprache steht die gefährliche Verlockung ihrer schillernden Vagheit und Scheinpräzision.“ 56 Buden hält den Multikulturalismus für theoretisch unhaltbar und auch politisch, ungeachtet seines liberalen und toleranten Credos, für inakzeptabel. Obschon sich dieses multikulturelle Konzept gegen den Nationalismus und die Xenophobie richtet, hat es mit diesen Ideologien eine überraschende Gemeinsamkeit: Multikulturalismus ist Buden zufolge essentialistisch und identitätspolitisch: Der Multikulturalismus ist die eigentliche Basis dessen, was wir identitäre Politik nennen-- eine politische Praxis, die unsere Welt immer noch entscheidend prägt. Obwohl er die Rechte von Minderheiten und marginalisierten Gemeinschaften innerhalb eines homogenisierten Nationalstaats hervorhebt, legitimiert er zur selben Zeit das Recht 55 Vgl. Buden, „Kulturelle Übersetzung“, S. 17. 56 Broch „Philosophie und Technik des Übersetzens“, S. 85. 337 13.4. Boris Buden: Kulturelle Übersetzung und ‚dritter Raum‘ einer spezifischen nationalen oder ethnischen Gemeinschaft (als Mehrheit innerhalb des politischen Rahmens des Nationalstaats), ihre angeblich einzigartige und originale Kultur zu beschützen. 57 Dieser Kulturalismus, der in der europäischen Neuzeit mindestens bis auf Vico und Herder zurückgeht, 58 schreibt kulturellen Komplexen wie National-, Regional- und Subkulturen bestimmte Eigenschaften und Eigenheiten zu, die als mehr oder minder unverrückbar und quasi-natürlich gelten. Er formuliert über bestimmte symbolisch fixierte Entitäten (die Frau, der Mann, die europäische Kultur, der Islam, die Homosexuellen) also Sätze, die ein Prädikat und das Wort sein (lateinisch: esse) beinhalten. Es sind Sätze mit folgender Struktur: x(a): Es gibt ein x und das ist a (und nicht b). Damit geraten multikulturelle Konzepte rein strukturell in die Nähe jener Bildkonstruktionen, mit denen sich unterschiedliche imagologische Theorien beschäftigen ( → -Kapitel 8). Diese Sätze und ‚Bilder‘ sind es denn auch, die auf scheinbar ‚natürliche‘ Weise Identitäten hervorbringen, wie z. B. Österreicher, Deutscher, Pole, Mann oder Frau, Muslim oder Christ zu sein. Buden bezieht sich in diesem Zusammenhang auf Benedict Andersons einflussreiches Buch und die darin enthaltene Formel von den ‚imagined communities‘. Diese imaginierten Gemeinschaften verweisen darauf, dass solche scheinbar ‚natürlichen‘ und stabilen Identitäten die Folgen von medial gesteuerten symbolischen Konstruktionsformen sind, die nationale Identitäten ‚erfunden‘ bzw. konstruiert haben. Mit Blick auf diese Theorie skizziert Buden eine dritte Position. Sie ist im Hinblick auf Multikulturalismus und Universalismus dekonstruktiv. Sprach- und kulturtheoretisch betrachtet ist sie insofern konstruktivistisch, als sie nicht von der konstanten Existenz von unveränderlichen Kulturen ausgeht. Aus diesem Grund sind Budens Ansatz zufolge Begriffe wie Ursprung oder Identität nicht mehr Kategorien des eigenen Denkens, sondern Gegenstand kritischer Hinterfragung. Dies formuliert der österreichische Philosoph programmatisch und in der Nachfolge Derridas, wie die Kategorie der „Spur“ es nahelegt ( → -Kapitel 9): Die Dekonstruktion fordert das Konzept des Multikulturalismus in seinem Innersten heraus, das heißt in Bezug auf die Idee, dass jede Identität ihren Ursprung in einer Art vorgegebenen Essenz hat. Eine Kultur ist für DekonstruktivIstinnen ein System von Zeichen, eine Erzählung ohne irgendeinen historischen oder materiellen Ursprung. 57 Buden, „Kulturelle Übersetzung“, S. 15. 58 Vgl. Müller-Funk, Wolfgang: Kulturtheorie. 2. erweiterte und korrigierte Auflage. Tübingen: Francke / UTB , 2010, S. 67-93. 338 13. Übersetzung als Agentur von Fremdheit und Differenz Zeichen beziehen sich nur aufeinander.-[…] Diesem Ansatz zufolge gibt es gar keine Ursprünge, sondern nur ihre Spuren, nur ihre Kopien, und es gibt kein Ende in der Progression oder Regression der Zeichen in Raum und Zeit. Dies bedeutet, dass auch Kulturen niemals Reflexion eines natürlichen Zustands sind, sondern eher ihren eigenen Ursprung konstituieren oder konstruieren, jenseits jeder ‚rassischen‘, sexuellen, ethnischen oder genetischen Essenz. Demzufolge ist ‚deutsch‘ zu sein oder ‚schwarz‘, ‚weiblich‘ oder ‚schwul‘ nur das Produkt einer spezifischen Art von kultureller Konstruktion. Für die Dekonstruktion ist jede Identität vom Beginn an kulturell konstruiert. 59 Indem die Dekonstruktion die Figur des ‚Eigenen‘ dekonstruiert, löst sie tendenziell auch die des Fremden auf. ‚Fremd‘ sind allemal die verschiedenen kulturellen Konstruktionen, die aus dieser Perspektive Differenz und ex negativo Identität hervorbringen. Wie jene Konstrukteure ‚beschaffen‘ sind, die sich selbst erschaffen haben, bleibt dabei genauso im Dunkel wie die Frage, unter welchen ‚materialen‘ Bedingungen solche symbolischen Setzungen stattfinden, ob unter Zwang oder aus freien Stücken. Zum einen sind Konstruktionen wie auch Phantasmen, Gefühle und Affekte ernstzunehmende Phänomene einer bestimmten Kultur, und zum andern sind sie ja ganz offenkundig mit Formen von Macht und Herrschaft verbunden. Das sind zwei Einsichten, die eine Grenze der Dekonstruktion markieren. Die Differenz zwischen multikulturalistischen und dekonstruktivistischen Konzepten wirkt sich natürlich auch auf das Verständnis von Übersetzung als kultureller Mediation aus. Aus der Perspektive des Multikulturalismus ist jedwede Übersetzung ein interkultureller Akt, der zwei Pole hat: die fremde (Sprach-)Kultur und die eigene Kultur, in die der Text zu übersetzen und damit kulturell zu integrieren ist. In dieser Perspektive kommt die von Schleiermacher so ausdrücklich formulierte Alternative zum Tragen, ob sich die Übersetzung des fremdsprachigen Textes der ‚eigenen‘ Leserschaft annähern soll oder diese aufgefordert wird, sich an eine Übersetzung anzupassen, die ganz bewusst Momente des Fremden und Unverständlichen erhält. Eine solche Übertragung macht die eigene Sprache fremd, z. B. das Deutsche ‚indischer‘, wie Benjamin schreibt ( → -Kapitel 13.1.), oder das Englische ‚deutscher‘, wie im Fall der englischen Übersetzung von Brochs Roman Der Tod des Vergil. Aber, wie Buden betont, enthält Benjamins „bahnbrechender“ Aufsatz insofern noch ein ganz anderes, proto-dekonstruktivistisches Element, als dort das Ver- 59 Buden, „Kulturelle Übersetzung“, S. 15 f. 339 13.4. Boris Buden: Kulturelle Übersetzung und ‚dritter Raum‘ hältnis von ‚Original‘ und ‚Übersetzung‘ ganz neu gefasst wird. Benjamin durchbricht die Idee der Priorität und Ursprünglichkeit des Originals, in der die Übersetzung immer als eine problematische Kopie bzw. als notwendiges verzerrtes Spiegelbild, in jedem Fall als etwas Nachgeordnetes erscheint. Der Kulturwissenschaftler betont, dass Benjamin Übersetzung und Übersetzen wie schon zuvor Humboldt nicht als einen Kommunikationsakt begreift (wie zum Beispiel George Steiner, vgl. Kapitel 13.3.), sondern als ein Mittel und Beitrag zum Aufbau der eigenen Sprache. Und Benjamins Konzept begreift er, wenigstens in diesem Punkt, als eine entschiedene Absage an jegliche Idee des Kulturtransfers. Benjamin „entledigt“ sich, so folgert Buden, der klassischen Idee des Originals und damit auch des gesamten Binarismus der traditionellen Übersetzungstheorie. Eine Übersetzung bezieht sich für Benjamin nicht auf den originalen Text, sie hat nichts (! ) mit Kommunikation zu tun, ihr Ziel ist nicht die Übermittlung von Bedeutung usw. Er illustriert die Beziehung zwischen dem sogenannten Original und der Übersetzung, indem er die Metapher der Tangente verwendet: Eine Übersetzung ist wie eine Tangente, die den Kreis (das Original) nur an einem einzigen Punkt berührt und danach ihrem eigenen Weg folgt. Weder das Original noch die Sprache der Übersetzung sind fixierte und dauerhafte Kategorien. Sie haben keine essenzielle Qualität und werden in Raum und Zeit ständig verwandelt. 60 In dieser Passage wird nicht wirklich klar, welche Funktion die Übertragung von Texten überhaupt hat, wenn sie nicht Bedeutung übermittelt oder Kommunikation etabliert. Vielleicht hat das auch damit zu tun, dass hier das Phänomen ausschließlich aus dem Fokus des Übersetzers als einer hybriden Figur, der durch sein Tun beide partikularen Kulturen verändert und potentiell auflöst, verstanden wird. Aber womöglich entspricht das, wie Buden zu Eingang des Aufsatzes dargelegt hat, gar nicht dem Selbstverständnis des Übersetzers. Es handelt sich hier um eine Theorie, bei der der dekonstruktivistische Philosoph diesem gleichsam über die Schulter schaut. Dass bei der Translation jedoch kein Moment von Intersubjektivität und Kommunikation im Spiel sein soll, ist einigermaßen unwahrscheinlich. Undenkbar ist auch, dass ‚Übersetzung‘ und ‚Original‘ sich (nur) zufällig an einem Punkt überschneiden. Vielmehr bleibt die Frage der Angemessenheit einer Übersetzung in allen Debatten, in denen über Übersetzung gestritten wird, relevant. 60 Buden, „Kulturelle Übersetzung“, S. 17. 340 13. Übersetzung als Agentur von Fremdheit und Differenz Buden stellt in weiterer Folge dem „interkulturellen“ Modell des Multikulturalismus das dekonstruktivische Konzept des Dritten Raums gegenüber. Gemeinsam ist beiden, dass sie Übersetzung nicht mehr nur literarisch-sprachlich verstehen, sondern als kulturelle Übertragung. Der multikulturalistische Ansatz, der von der Existenz getrennter und prinzipiell stabiler Sprachkulturen ausgeht, ist, wie die Präposition ‚inter‘ verrät, kommunikationstheoretisch. So wie im Rahmen eines Nationalstaates verschiedene kulturelle Gruppen, Mehrheit und Minderheiten symbolisch intra-kulturell interagieren, so stellt Übersetzung einen Kommunikationsakt und einen Dialog dar, der auch die Bedingung der Möglichkeit von ‚Weltliteratur‘ darstellt. Politisch handelt es sich Buden zufolge um ein Modell illusorischer kultureller Kohabitation. Demgegenüber steht positiv das alternative Modell eines ‚hybriden‘ Trans-Kulturalismus, wie es insbesondere Homi K. Bhabha entwickelt hat. Dieses widersetzt sich der Idee des kulturellen Pluralismus und Liberalismus und damit der „Idee von einheitlichen, ursprünglichen und authentischen Identitäten, welche in der kulturellen der heutigen Welt nach gegenseitiger Anerkennung streben“. Dieses Konzept verschleiere Buden zufolge die asymmetrischen Herrschaftsverhältnisse und ziele auf die Kontrolle über die jeweiligen Kulturen und führe am Ende zur „Eindämmung der kulturellen Differenz“. 61 Übersetzung im engeren Sinne bedeutet für Buden von daher die Herstellung von ‚Hybridität‘: Der hybride Raum der Übersetzung ist also gleichzeitig der Schauplatz einer neuen Politik, einer Politik, die sich nicht länger durch den antagonistischen Binarismus zwischen den Herrschenden und den Beherrschten konstruiert. Was diesen Raum bestimmt, ist nicht mehr die essenzialistische Gegenüberstellung von im Voraus gegebenen progressiven oder konservativen Positionen-- sei es der Klasse, des Geschlechts oder der Nation. Und es ist wie gesagt nicht mehr die Negation (negation), sondern vielmehr die Verhandlung (negotiation) zwischen den schon immer in Beziehung zueinander stehenden Positionen, die politische Identitäten in diesem Raum konstituiert. 62 Das Konzept, das Buden unter Berufung auf Bhabha vorlegt, versteht sich als post-universal. Das bedeutet, dass es Momente des überwundenen „modernistischen Universalismus“ in sich trägt. Sein utopisches ‚hybrides‘ Subjekt ist nämlich nicht im traditionellen Sinne kulturell verortbar, sondern nomadisch, auf Wanderschaft. Das utopische Moment ist dabei auch das problematische. Denn der ‚Dritte Raum‘ ist kein stabiler Ort, sondern ein Durchgangsstadium, eine 61 Buden, „Kulturelle Übersetzung“, S. 21. 62 Buden, „Kulturelle Übersetzung“, S. 22. 341 13.4. Boris Buden: Kulturelle Übersetzung und ‚dritter Raum‘ Passage. Die Utopie besteht darin, Menschen mit heterogenen Bezügen auf eine Schwellensituation fixieren zu wollen. Dieses Subjekt im Doppelsinn des Wortes, handelnd und unterworfen, definiert seine ‚Identität‘ nicht unter Berufung auf eine traditionelle Kultur, sondern durch Negation bzw. Durchkreuzung. Insofern wird dieses neue utopische Subjekt ex negativo ein essentialistisches Moment nicht los, nämlich jenes, zu keiner der beiden oder auch zu keiner von mehreren Kulturen dazuzugehören. Wie Buden einräumt, ist der dekonstruktivistische Ansatz- - und das ist unzweifelhaft sein Verdienst-- imstande, traditionelle Kulturvorstellungen und die damit einhergehenden Identitätspolitiken grundsätzlich in Frage zu stellen und deren Selbstverständlichkeiten zu erschüttern. Aber das bedeutet wie gesagt nicht, dass diese nicht nach wie vor funktionieren. Dies hat nicht zuletzt auch damit zu tun, dass Kultur nicht nur der Öffnung und Mischung bedarf, sondern immer, wie Simmel in seinen Mikroanalysen etwa von Tür, Fenster und Brücke gezeigt hat, zugleich Homogenisierung und Schließung bewirken. Dieser Aspekt bleibt bei Buden wie bei Bhabha völlig unterbelichtet. Simmel bestimmt Kultur als eine Dynamik, die durch diese beiden Pole bestimmt ist. Fremde und ‚Heimat‘ erweisen sich als komplementäre und nicht als binäre Schlüsselbegriffe, ohne die das Verständnis dessen, was ‚Kultur‘ bedeutet, undenkbar ist. Trotz aller Modifikationen der durch sie bezeichneten kulturellen Relationen bleiben sie Vektoren in einer flüssigen ‚Moderne‘. Für diese Situation steht das Graffito unten, an dem ich wöchentlich von meinem Büro in den Seminarraum des Instituts für Komparatistik der Universität Wien vorbeigehe. Es beschwört mit deutlichem Blick auf den gegenwärtigen politischen Kontext die Phantasie einer grenzenlosen Welt, die letztendlich a-kulturell wäre. Die Dynamik des Organischen, der grüne Wildwuchs, droht seine Sichtbarkeit zum Verschwinden zu bringen. Grenzen werden gesetzt und sie ändern sich sogar, wenn sie scheinbar gleich bleiben. Aber sie verschwinden nicht, weil sie ein konstituierendes Moment menschlicher Kultur darstellen: 342 13. Übersetzung als Agentur von Fremdheit und Differenz Abb. 5 „No border - no nation“, Graffito Bibliographie Agamben, Giorgio: Ausnahmezustand. Frankfurt / Main: Suhrkamp, 2004. Agamben, Giorgio: Das Offene. Der Mensch und das Tier. Frankfurt / Main: Suhrkamp, 2003. Althusser, Louis / Balibar, Etienne: Das Kapital lesen. 2 Bände. Reinbek: Rowohlt, 1962. Anders, Günther: Mensch ohne Welt. München: C. H. Beck, 1984. Anderson, Benedict: Die Erfindung der Nation. Zur Karriere eines folgenreichen Konzepts. Aus dem Englischen von Christoph Münz und Benedikt Burkhard. 2. erweiterte Ausgabe. Frankfurt / Main: Campus, 1996. Appadurai, Arjun: Modernity at Large. Cultural Dimensions of Globalization. Minneapolis: Univ. of Minnesota Press, 1996. Arendt, Hannah: Vita activa oder Vom tätigen Leben. München: Piper, 1967. Aristoteles: Politik. Schriften zur Staatstheorie. Deutsch von Franz F. 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Monologe und Dialoge. München: Piper, 1983. S. 165-160. Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Piper Verlages, München. Abbildungen Abb. 1: Johann Heinrich Füssli: „Der Nachtmahr“ (1790). ©-akg-images / Erich Lessing. Abb. 2: Zerrspiegel der globalisierten Welt. ©-Roger Schmidt, www.karikatur-cartoon.de. Abb. 3: Borromäischer Knoten. Von: Jim.belk-- eigenes Werk, gemeinfrei, https: / / commons.wikimedia.org / w/ index.php? curid=9 838 316 (13. 06. 2016). Abb. 4: Fernand Khnopff, Liebkosungen (Die Zärtlichkeit der Sphinx) (1896). ©-akg-images. Abb. 5: „No border-- no nation“, Graffito, Sensengasse, Wien-Alsergrund (privat). Personenregister Adorno, Theodor W. 32, 60, 223 ff., 284, 287, 325 Aischylos 197 Alighieri, Dante 196 f. Althusser, Louis 39 Anders, Günther 32, 280, 284, 287-294 Arendt, Hannah 60, 122, 286, 288 Artaud, Antonin 241 Augé, Marc 27, 241 Averroës 196 Avicenna 196 Aydın, Yaşar 30, 118, 121, 207, 275 Babka, Anna 208, 210 f. Bachelard, Gaston 182 Bachmann-Medick, Doris 272, 311 f., 322 Bachtin, Michail 127 f., 132, 207, 212 Barthes, Roland 38, 96, 125, 311 f. Baudelaire, Charles 230, 314 Beauvoir, Simone de 248 f., 252 f. Beller, Manfred 191-196, 199 Benjamin, Walter 32, 197, 212, 225, 232, 280, 287, 296, 311, 313-321, 323 ff., 329, 332-335, 338 f. Bentham, Jeremy 233 Bhabha, Homi K. 32, 189, 205-220, 239, 319 ff., 340 f. Bloch, Ernst 42, 56, 273 f., 318 Blumenberg, Hans 50, 53, 121 f., 232, 299 Bodor, Adam 304 Bonstetten, Karl Victor von 192 Borges, Jorge Luis 304 Bosch, Hieronymus 185 Brecht, Bertolt 289 Brentano, Clemens von 72 Brittnacher, Hans Richard 304 f. Buber, Martin 28, 108, 230 f. Buden, Boris 33, 311, 319, 333-341 Butler, Judith 32, 248, 252 f., 257 f., 265, 268-271 Cacciari, Massimo 24, 308 Camus, Albert 37, 122, 129 Caroll, Lewis 230 Cassirer, Ernst 101, 183, 306, 317 Castoriadis, Cornelius 35, 43, 182 Cazotte, Jacques 296, 300 Cervantes, Miguel de 62 Chamisso, Adalbert von 75 Chouraqui, André 231 Deleuze, Gilles 27, 40 Derrida, Jacques 32, 37 f., 40 ff., 101-104, 112 ff., 118, 126, 128, 155, 206, 212, 221-238, 240, 305, 308, 313, 337 Descartes, René 50, 69, 176, 223 f., 231, 244 Descombes, Vincent 38-42, 48 Diderot, Denis 61 Dinev, Dimitre 321 Disraeli, Benjamin 197 Döblin, Alfred 289 Düttmann, Alexander García 240 f. Dyserinck, Hugo 190 Euripides 197 Fanon, Franz 208, 212 Feuerbach, Ludwig 39, 273 ff., 280 Fichte, Johann Gottlieb 43 Fiore, Joachim von 56 Flaubert, Gustave 198, 200 Fontaine, Jean de la 230, 238 Foucault, Michel 33, 36, 38, 40, 198 ff., 202 ff., 212, 214 f., 219, 224, 235, 252, 308 Fourier, Charles 115, 276 360 Personenregister Freud, Anna 76, 185 Freud, Sigmund 28, 38, 74 ff., 84, 115, 142 Füssli, Johann Heinrich 44, 74 Garcìa Marquez, Gabriel 304 Gehlen, Arnold 291 Gennep, Arnold van 309 Gide, André 70 Girard, René 97 f., 141 f., 247 Gobineau, Joseph-Arthur de 198 Goethe, Johann Wolfgang von 46, 61, 198, 324 Goya, Francisco de 44 Gramsci, Antonio 200 f., 203 f., 219, 248 Grosz, George 289 Habermas, Jürgen 101, 125, 132 Hahn, Alois 166 Haverkamp, Anselm 311 Heartfield, John 289 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 30 f., 35-40, 42-62, 65 f., 69, 73 f., 106, 108, 127, 212, 249, 273-276, 281, 290, 331 Heidegger, Martin 35, 38 f., 69, 100-103, 105, 121 f., 221, 231, 235 f., 287-290, 331 Hellmann, Kai-Uwe 134, 165-173 Herder, Johann Gottfried 337 Hillmann, Günther 274 f., 279, 283 Hippolyte, Jean 36, 38 f. Hoffmann, E. T. A. 31, 43, 74 ff., 83, 92, 224, 300 Homer 127, 197 Honneth, Axel 30 Horkheimer, Max 60, 223 ff. Horney, Karen 249, 253 f. Husserl, Edmund 38, 67, 69, 101, 103, 121 f., 326 Irigaray, Luce 32, 248 f., 252-266, 268, 270 Jabés, Edmond 317 Jackson, Rosemary 305 Jaspers, Karl 122 Jelinek, Elfriede 258 Jentsch, Ernst 76, 83 Julien, Philipp 174, 180 ff., 187 f. Jullien, François 16 f. Kafka, Franz 70, 220, 241, 289, 296, 298, 300, 302, 304, 308, 315 Kant, Immanuel 17, 43, 53, 66, 197, 208, 211, 231, 334 Khnopff, Fernand 250, 271 Kissinger, Henry A. 198 Klein, Melanie 128, 187, 253 Kleist, Heinrich von 62, 251 Kofman, Sarah 224 f. Kojève, Alexandre 35, 37-40, 42, 48-65, 101, 104, 106 Korsch, Karl 284 Kristeva, Julia 21, 31, 73, 75 f., 88-91, 99, 109, 155, 181, 188, 252 Kubin, Alfred 304 Lacan, Jacques 32, 73, 75, 89, 91, 128, 132, 174-188, 212, 231, 254 ff., 265, 268, 270 f., 300 Lacoue-Labarthe, Philippe 226 Lagache, Daniel 128 Lane, Edward William 198 Lévinas, Emmanuel 21, 30 f., 38, 42, 92, 100-112, 114-120, 122, 128, 143, 188, 222, 225, 228 f., 313 Lewis, Matthew Gregory 230, 300 Liessmann, Konrad Paul 288 Luhmann, Niklas 32, 34, 161, 165, 168, 171 Lukács, György 32, 39, 284, 287 f. Lyotard, Jean-François 51, 61 361 Personenregister Man, Paul de 34, 41, 44, 50, 83, 98, 101, 105, 155 f., 172, 177, 179, 193, 223 f., 299, 329 Marcel, Gabriel 28, 108 Marx, Karl 28, 30, 32, 35 f., 38 f., 50, 58, 60, 70, 135, 197, 217, 273-287, 289 ff., 294 Mead, Gerorge Herbert 128 Merleau-Ponty, Maurice 38 ff., 42, 69, 122, 126, 128 Metz, Christian 188, 295, 297 Mill, James 275 Mohammed 196 Molière 61 Montaigne 230 Moreau, Gustave 250 Mörike, Eduard 122, 129 Müller-Funk, Wolfgang 19, 26, 38, 47, 62, 115, 130, 142, 146, 169, 183, 208, 220, 224, 228, 239, 250 f., 284, 308, 311, 314, 323, 337 Müller, Robert 250 Musil, Robert 123, 126, 130, 250, 301 Nancy, Jean-Luc 32, 207, 221, 226, 240-247 Napoleon 50 f., 57 f., 197 Nassehi, Armin 166 Nerval, Gérard de 198, 296 Nietzsche, Friedrich 36, 38 f., 55, 149, 221, 226 f., 267, 271, 287 f., 291 Novalis 42, 74 Park, Robert Ezra 135, 161, 163 f., 208 Parmenides 65, 106 Patočka, Jan 122 Platon 39, 104, 110, 121, 181, 183, 185, 235, 251 Posselt, Gerald 208, 210 f. Proudhon, Pierre-Joseph 277 Radcliffe, Ann 300 f. Rank, Otto 77, 92 f. Reeves, Clara 300 Renan, Ernest 198 Rezzoris, Gregor von 304 Ricardo David 275 Ricœur, Paul 22 f., 30 f., 35, 96, 118 Rilke, Rainer Maria 230 Riviere, Joan 255, 265-270 Roth, Joseph 91, 304 Rubin, Gayle 252 f. Rushdie, Salman 207, 321 Ruthner, Clemens 9, 78, 189, 205, 207, 239, 300, 304-310 Sacy, Silvestre de 197 Said, Edward 32, 189, 195-206, 212, 214, 216, 219 f. Saladin 196 Sartre, Jean-Paul 35, 37 f., 40, 64, 66-72, 101, 104 f., 108 f., 122, 186, 274, 284, 288 Saussure, Ferdinand de 175, 270, 317, 326 Say, Jean Baptiste 275 Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph 43, 45, 74, 78, 84, 177 Schleiermacher, Friedrich 332, 335, 338 Schmitt, Carl 98, 134, 147-150 Scholem, Gershom 317, 319 Schütz, Alfred 19, 32, 129, 134 f., 153-163, 166, 169, 172 f. Simmel, Georg 15 f., 19, 24, 29, 31, 68, 134-144, 146 f., 150, 152, 161-165, 167, 173, 229, 308, 341 Sinatra, Frank 17 Soja, Edward 210 Sombart, Werner 134 f., 149-153, 163 Sonnemann, Ulrich 184, 238, 291 Spence, Louise 213 Spinoza, Baruch de 181 Spitz, René 128 Stam, Robert 213 362 Personenregister Steiner, George 33, 311, 326-333, 339 Stenger, Horst 135 Stichweh, Rudolf 33 f., 134, 161-166, 168 Tieck, Ludwig 115, 230, 300 Todorov, Tzvetan 25, 295-304 Turner, Victor 305, 309 Valentin, Karl 7, 24 Vico, Giambattista 200, 337 Wagner, Richard 95, 292 Waldenfels, Bernhard 21, 30 f., 121-133, 157, 188, 289, 313 Walpole, Horace 300 Weber, Samuel 135, 174, 176, 184 Weininger, Otto 119, 251 Weissberg, Liliane 254 f., 265 ff. Williams, Raymond 200, 248 Winnicott, Donald Woods 128 Wittig, Monique 257, 265 Žižek, Slavoj 183, 188 Sachregister Aachener Schule 32, 189 f., 194 Abhängigkeit 21, 47, 71, 109, 126, 133, 258 Abweichung 18, 142, 195 Abwesenheit 65, 108, 120, 255, 270 Aggression 88, 97 f., 141 f., 186 ff., 219 f., 269, 330 f. Agon 305 Agorá 249 Alea 305 Alterität 16 f., 19-24, 26, 29 ff., 33 f., 38, 43, 53, 59, 61, 63, 66, 69, 74, 100, 102, 105, 107 f., 110 f., 113 f., 116-119, 123, 185, 211 f., 214, 222 f., 225, 236, 252 f., 255, 264, 272, 285, 294, 312, 324 Ambivalenz 34, 78, 85, 146, 170 f., 173, 187, 205, 212 ff., 219, 242, 298 Analogie 80, 86, 181, 183, 192 f., 199, 209, 243, 246 f., 249, 270, 280, 312, 325, 328 Andersheit 15-18, 20-25, 28, 35, 39, 41 f., 62 f., 65, 69, 75, 81, 87, 90, 100, 108, 111, 117 ff., 121 f., 125-128, 130, 132, 134, 138, 149, 159, 182 f., 201 f., 210, 218, 221, 225, 228 f., 240, 249, 255, 262 f., 269, 271, 284, 298 ff., 304, 314, 335 Androgynie 268 Aneignung 108, 127, 130 f., 222, 238, 244, 278 f., 281, 313, 325, 331 Anerkennung 20 f., 47, 51-54, 56 f., 59 f., 62 ff., 117, 124, 155, 157, 209, 215, 218, 229, 237, 239, 256, 264, 266, 302, 322, 331, 340 Angliederung 309 Angst 18, 22, 29, 81, 84, 87 f., 95, 98, 120, 138, 144, 173, 203, 213, 216, 220, 233, 243, 247, 266, 269, 271, 294, 299, 302, 310 anti-dialektisch 40 Antisemitismus 95, 101, 141, 145, 149 f., 287 Antithese 39, 55, 192 f. Antlitz 89, 112 ff., 117 ff., 228 Antwort 44, 49, 101, 109, 123, 125, 127, 132 f., 230, 234, 237, 276, 297 Anwesenheit 28, 37, 65, 67 f., 108, 112, 116, 126, 138, 158, 178, 210, 229, 270, 313 Arbeit 33 f., 49, 51, 54 f., 57-61, 63 f., 70, 84, 87, 89, 107, 115, 202, 223, 232, 236, 274-283, 285 f., 290, 299, 322 Arbeiter 60, 145, 275, 277-281, 283, 286, 290 Arbeitslohn 146, 275, 279 Archäologie 103, 198, 228 Artefakt 311, 320 Ästhetik 24, 45, 76, 148, 190, 213, 248, 263, 300, 307, 313 f. Ästhetizismus 132 Asymmetrie 18, 25, 37, 53, 109, 118, 120, 123, 126, 170, 192, 197, 201, 204, 206, 209, 213, 220, 249, 255, 264, 313, 322, 325, 340 Aufenthaltsrecht 241 Aufklärung 41, 60 f., 87, 90, 103, 190, 200, 223 ff., 276 Auflösung 71, 83, 106, 132, 252, 259, 269, 298, 301 f. Aura 332 Ausland 19, 21, 23 Ausländer 17 ff., 30, 91, 98 ausländisch 15, 19 f., 88 Ausschluss 16, 21, 94, 97, 114, 116, 134, 144, 147, 306, 322 Ausschlussmechanismus 18, 115 Aussehen 18 Außen 26, 68, 93, 131, 135, 139, 141 f., 146, 157, 188, 241, 257, 261, 264, 322, 324 Außenseiter 30, 94, 150, 163 Außerhalb 19, 21, 117, 136-139, 144, 147 f., 180, 210, 284 364 Sachregister Austausch 16, 326 Autobiographie 46, 51, 127, 226, 233 f., 236-240 Auto-Erotik 256, 258 Automat 80, 82, 86, 89, 130 Autonomie 42, 103, 118, 132, 143, 161, 176, 186, 257 Autopraxis 132 Avantgardismus 221 Babel 319, 326-333 Balkanismus 205 Barbar 144 Begierde 36, 51-54, 57, 59, 63 f., 69, 71, 95, 115, 125, 143, 177, 179 f., 187 f., 213, 215 ff., 219, 252, 254 f., 258 ff., 263 f., 268 ff., 303 Behältnis 262 Behinderung 18, 123 Beichte 91, 141 Bekanntheitswissen 155 Berührung 71, 110, 256-260 Beseitigung 45, 53, 273 Besitzaufgabe 103 Besitzen 36, 98, 100, 110, 155 f., 168, 181, 238, 256 f., 329 Bewahrung 45, 53 Bewegung 41, 45, 74, 117, 137, 140, 159, 165, 177, 207, 274, 293, 312, 328 Bibel 231 Bild 43 f., 48, 73, 75, 89, 169, 176 f., 179 f., 183 ff., 188 ff., 194 ff., 202, 212, 219 f., 224, 226, 231, 250 f., 263, 272, 310, 314, 337 Bildkonstruktion 32, 190, 195, 197, 220, 250 f., 337 Bildung 46, 58, 60 f., 73, 193, 276 Bildungsroman 46 Bipolarität 192, 270, 334 Bisexualität 267, 269 Boden 25, 82, 140, 229, 267, 336 Bodenbesitzer 140, 165 Borromäischer Knoten 180 f. Buchdruck 25 Bürgertum 61, 150 Camouflage 266 Christentum 55 f., 112, 148, 223, 231, 236, 239, 271, 280, 287, 293, 309 Computer 25 conditio humana 29 Cultural Studies 9, 15, 200, 334 Dekonstruktion 32 f., 41, 102, 126, 206, 212, 221, 223, 235, 240, 246, 253, 268, 308, 337 f. Demokratie 63, 149, 273 deutsch 16, 24, 27, 36, 38, 43, 45, 61, 63, 66 f., 77, 102 f., 112, 122, 130, 134 f., 145, 149, 154, 176, 188, 193 f., 198, 210, 243, 256, 282, 295, 312 f., 319 f., 323, 328 f., 335 f., 338 Deutscher Idealismus 35, 287 Deutschland 23, 35, 63, 101 f., 149, 174, 190 f., 193 f., 196, 210, 284, 286 Dialekt 160 Dialektik 16, 23, 36 f., 39-42, 45 ff., 53-57, 59 ff., 64 ff., 68 f., 106, 108, 124, 179, 223 ff., 270, 275 ff., 286, 325, 332 f. Dialog 24, 29, 39, 45, 63, 79, 116, 123 f., 126, 128, 132 f., 316, 340 Diaspora 77, 139, 161 différance 40, 211 f., 221, 236 différence 40, 221, 236 Differenz 16, 18, 20 f., 30 f., 40, 42, 63, 65, 69, 92, 98, 100, 103 f., 108, 110, 112 ff., 118, 123 f., 126, 137, 155, 169, 171, 173, 205, 210, 215-218, 221, 227 f., 230, 236, 248 f., 251-257, 259 ff., 264, 282, 311, 318 f., 322, 325, 335 f., 338, 340 Differenz-Feminismus 252, 259 Diplomat 20, 192 365 Sachregister Diskurs 15, 20, 22, 28, 30 f., 33, 36, 38, 40, 48, 61 f., 66, 70, 73, 87, 90, 117 f., 122, 134, 150 f., 153, 161, 173 f., 187, 198 ff., 202 f., 210, 212, 214-220, 223, 231, 233, 238 f., 242, 244, 251-254, 265, 267, 269, 272 f., 276, 287, 303, 305, 320, 322 Diskursanalyse 33, 200, 202, 212, 221, 235 Dislokation 103, 112 Distanz 16, 66, 81, 119, 138, 148, 152, 159, 163, 308 Dominanz 38, 96, 119, 161, 173, 200, 252, 258, 305, 307 Doppelgänger 43, 77, 84, 86, 89, 91 ff. Double 93, 321 Drache 295 Dritter Raum 96, 206, 210, 212, 325, 340 Dualismus 74 Dualität 20, 33, 111, 173, 176 Dunkelheit 18, 249 Dynamik 15, 23, 50, 160, 162, 208, 243, 341 Egozentrismus 131 Eigenheit 16 f., 30, 33, 246, 273, 293, 314, 317, 336 f. Eigentum 15, 18, 26, 28, 39, 47, 50 f., 57, 59, 69 f., 77, 79 ff., 83 f., 89-93, 98, 110, 120, 128, 141, 143 f., 146 f., 150, 153-156, 158, 160, 165, 167 ff., 176 f., 179, 182, 188, 190-194, 199, 204 f., 209, 220, 222, 226 f., 234, 238, 240, 243-246, 255 f., 258, 260, 273 f., 276, 279, 281-284, 287, 291, 294, 297, 310, 315, 319, 322, 328, 330 f., 334, 336-339 Einbildungskraft 72, 182, 189, 295, 297 Eindringen 242 f., 245, 264 Eindringling 240-247 Einfluss 26, 35, 201, 222 Einheimischer 155 Einheit 45, 65, 96, 106, 108, 110 f., 124, 137 f., 160, 196, 247, 254, 288, 318, 320 Einladung 19, 74, 250, 308 Einreiseberechtigung 241 Einsamkeit 27, 59, 94, 105 f., 108, 115, 120, 241, 258 Einschluss 16, 21, 65, 134, 290 Einverleibung 167, 330 f. Eiserner Vorhang 26 Ekstase 74, 106, 108, 110 Emigrant 93, 152, 160 Emotion 256 Empathie 60, 92, 131, 148, 228, 233, 263 Engel 35, 39, 197, 277 Entaneignung 313 Enteignung 31, 127, 130 f., 169, 273, 279, 283, 286, 294, 313 Entfremdung 28, 30, 32, 35, 42, 48, 70 ff., 97, 169, 180, 186, 244, 246, 267, 273-287, 289, 319 Entmächtigung 72, 103 Entmotivierung 103 Entwirklichung 278 Epiphanie 105, 107, 112 f., 117 f. Episteme 131, 223 Erfahrung 17, 26, 38, 52, 67, 93, 110, 121, 124, 129, 131 f., 135, 143, 151 f., 154, 159 f., 166-173, 176, 180, 182, 186, 194 f., 206, 211, 243 ff., 247, 257, 285, 287, 289, 300 f., 313 f., 318, 331 Erkennen 105, 110, 120, 177 f. Erkenntnis 46, 75, 106 ff., 202, 212, 214, 219, 314, 325, 331 Eros 18, 108, 285 Erotik 59, 74 f., 107 f., 114 f., 120, 143, 187, 200, 217, 256, 258 Erzählen 23, 96, 287, 301 Es 37 f., 297 Eskapismus 302 essentialistisch 22, 136, 207, 248, 252, 257, 267, 336, 341 366 Sachregister Ethik 21 f., 29, 40, 58, 60, 73, 90, 92, 100, 103 f., 114-118, 124, 142, 190, 206, 218, 224, 229, 234, 240, 257, 260 f., 264 Ethnie 16, 21, 26, 41 f., 56, 97, 129, 136, 143, 145, 150, 189, 214 ff., 225, 239, 248 f., 251, 286, 294, 314, 321, 326, 337 f. Ethnoscape 161 Ethnozentrik 131 Europa 72, 141, 148, 190, 199, 205, 323 Evolution 166 Exil 77, 146, 154, 284, 319 Exklusion 119, 199, 224, 235 f. Exogamie 144 Expansion 25, 37 Exterritorialität 20-23, 33, 98, 139 Familialismus 28 Faschismus 60, 149 Fata Morgana 180 Fee 295 Feind 29, 126, 138 f., 145, 147 ff., 169, 203, 240 Feminismus 21 f., 32, 248, 265 Festung 123 f., 126 Fetisch 212, 216-219, 268 Fetischismus 216 f., 219 Film 85, 183, 191, 199, 249, 295, 297, 307, 310 Fixierung 18, 86, 213 f., 217, 249, 309 Flüchtling 19, 139 Flüchtlingskrise 26 Form 17, 21, 23 f., 32 ff., 39 f., 42, 46, 50, 58, 64, 67 f., 71, 75, 84, 87, 90, 100 f., 104 f., 111 f., 119, 121, 123-130, 132, 135-138, 146, 148, 159-162, 164, 171 f., 174, 179 f., 183 f., 191 f., 199 ff., 204, 207, 209, 212 ff., 216-219, 223, 239, 253, 258, 263 f., 272, 276 f., 279, 285, 287, 292, 294, 299 f., 303, 305 ff., 314-317, 324 ff., 329, 332 f., 338 Frage 23 f., 29, 32, 38, 41, 49, 56, 59, 61 ff., 72, 98, 103, 107, 111, 117 f., 123-126, 133, 139, 143, 147, 149, 157, 160, 166, 178, 195, 197, 202 f., 212, 214, 225, 227, 229, 235 ff., 244, 249, 253, 261, 266, 268, 275, 279, 282, 300, 302, 310, 312, 314 f., 322, 331, 334, 338 f., 341 Fragment 250, 319 f. Fragmentierung 29, 109, 118, 211 Frankreich 35, 37 f., 41, 88, 93, 102, 122, 175, 191, 196, 210, 242, 274, 284 Französische Nachkriegsphilosophie 29, 35, 37-40, 42, 53, 73, 122, 211 Französische Revolution 55, 58 Frau 28, 44, 62, 64, 74, 79, 86, 96 f., 100, 105, 107, 110, 117, 119, 130, 158, 173, 189, 201, 221, 223, 228, 231, 239, 245, 248-260, 262-272, 296 f., 337 Freiheit 47, 54, 57, 64, 70, 96, 109, 127, 133, 141, 186, 288, 294 fremd 16-21, 28 f., 31 f., 36 f., 44 f., 69, 71 f., 74, 76 ff., 84, 89 f., 92, 94 f., 97 f., 101, 104, 108, 110, 113, 117, 119, 123, 127, 132, 137 f., 140 f., 143 f., 146, 149, 151 f., 154, 157-160, 168 f., 172 f., 179, 184, 191 ff., 195, 199 ff., 204, 220 ff., 236, 238, 240 f., 243-247, 250 f., 255, 259, 267, 274 ff., 278 ff., 283 f., 288-291, 294 f., 297 f., 302, 307-312, 315, 317 f., 322, 324 f., 328, 330 f., 334, 336, 338 Fremdbild 159, 162, 190, 228, 303 Fremdheit 15-18, 20-23, 26, 28-31, 33, 73, 75 f., 89 f., 92, 97, 121 ff., 129 f., 132, 134 f., 138, 143 f., 148 f., 151 f., 154, 157, 161 ff., 165-173, 189, 208, 218, 221, 226, 232, 240-249, 253, 273, 288, 294, 299, 307 f., 310 ff., 317, 320 f., 325 f., 332 Fremdheitserfahrung 135, 211, 274 Freund 36, 49, 79, 87, 102, 116, 147 ff., 224, 226, 250, 319 367 Sachregister Fundamentalismus 202, 293 Funktionalismus 30, 162, 173 Für-Andere-Sein 66 f. Furcht 18, 58, 332 Für-sich-Sein 67, 71 Gast 19, 82, 94, 154 f. Gastfreundschaft 19, 124, 154 f., 167, 222 Gattung 51, 207, 221, 223, 233, 276, 282, 296, 300 Gattungswesen 276, 281 ff. Gebärmutter 261 Gebräuche 155, 160, 192 Gefäß 260, 263, 319 Gegenwart 22, 81, 106, 128, 152, 222, 299, 301 Geist 35 f., 39, 42, 45-49, 51, 56, 61, 127, 274, 281, 296, 333, 335 Geld 19, 25, 95, 97, 140, 144, 146, 152, 156, 165, 217 f., 283 f., 293 Gemeinschaft 19, 107, 115 f., 139 f., 142, 144, 147, 159, 172, 217, 247 f., 286, 336 f. Gemeinschaftsgefühl 142 gender 252 f. Generation 36, 38, 53, 56, 122, 206, 253 Genozid 62, 97 Genuss 108 germanisch 17 Geschenk 19, 154 Geschichte 9, 22, 36 f., 46, 48-51, 54-61, 72, 79 f., 87 f., 92 f., 106, 141, 150, 158, 174, 177, 182, 211, 223, 232, 238, 249 f., 273 f., 276 f., 282, 287, 289, 314, 326, 329 Geschlecht 21, 32, 42, 56, 62 ff., 89, 107, 110 f., 119, 135, 139, 227 f., 239, 248 f., 251 ff., 255-272, 300, 340 Geschlechterdifferenz 32, 107, 263 Geschlechtszugehörigkeit 64 Gesellschaft 22, 35, 43, 60 f., 63, 70 f., 94, 97 f., 105, 115 f., 126, 136, 138-141, 144, 147, 150, 159, 161 ff., 165-168, 170, 182, 193, 197, 201, 203, 248, 252, 273, 277 ff., 283-287, 292, 305 Gesetze 155, 160, 181, 223, 241, 247, 297, 302, 307 f. Gesicht 18, 90, 112 ff., 119, 164, 178, 180, 188, 200, 225, 229, 251, 265 Gespaltenheit 29, 73, 89, 128, 176, 179, 186, 254 f., 319 Geste 113, 117, 125, 177, 271, 308 Gestell 289 Gesundheit 32, 185 Gewalt 44, 97 f., 102, 111, 118, 141 f., 146, 233, 240 Gleichnis 64, 106, 300, 329 Globalisierung 15, 25-29, 37, 144, 146, 149, 324 Gnosis 280 f., 289 Gott 48, 101, 112, 114, 261 f., 274 f., 280 Grenze 16, 18 f., 24, 26 f., 32, 41 f., 89 f., 109 f., 122 f., 128 f., 137, 146, 163, 191, 193, 207, 209 f., 221, 226, 232, 234 f., 237, 241, 252, 264 f., 268 f., 295 f., 303 ff., 307-310, 314, 317, 321, 326, 338, 341 Grenzprozeduren 16 Grenzüberschreitung 18, 315 Grenzziehung 19, 68 griechisch 87, 98, 103 ff., 109, 112 f., 144, 150, 182, 197, 205 f., 236, 260 Grimmsches Wörterbuch 78 Groteske 307 Grund 36, 39, 57, 69, 76, 78, 94, 97, 103, 110, 115, 136, 140 f., 163, 167, 217, 221, 228 f., 235, 260, 283, 285, 301, 337 Gruppe 116, 136, 138 ff., 142 f., 145, 147, 149, 151, 153-161, 172 f., 197, 210, 284, 309, 340 Gruppenleben 155, 161 Güter 25, 312 368 Sachregister Haarfarbe 18 Handel 91, 96, 139 f. Händler 95, 97, 139 f., 146, 150, 165, 167 Handwerker 51, 140 Hass 71, 78, 219, 327 Hautfarbe 21, 64, 117, 139, 208, 217 f., 225, 239 Hegemonie 199 ff., 203 ff., 219 f., 248 Heilige 56, 97, 332 Heimat 15, 18, 27, 46, 75, 77, 93-96, 98, 127, 137, 140 f., 144, 151 f., 160, 163 f., 169, 208, 273 f., 277, 315, 341 Heimatlosigkeit 29, 98, 287 heimlich 58, 76 ff., 293, 308 Held 46, 92, 95, 129, 250, 295, 297 f. Herkules 295 Herr 31, 36 f., 42, 45, 47 f., 53-62, 64, 70, 72, 212, 274 Herrschaft 22, 46, 48, 54, 57, 59-62, 71, 118, 147, 197, 199, 203, 205, 215, 236, 239, 264, 275, 279 f., 283, 289, 338 Herz 240 f., 243, 245 Hetero-Erotik 258 Heterogenität 26, 34, 109, 136, 149, 167, 205, 207 f., 218, 234, 247, 253, 255, 312, 320, 325, 334, 341 Heteronomie 103, 118, 120, 133, 176 Heteronomisierung 103 Heterosexualität 69, 252 ff., 266, 269, 271 Hexe 295 Hochkultur 166 f., 170 Holismus 134 Homogenisierung 26, 196, 286, 341 Homosexualität 252, 267, 303 Humanismus 40, 48, 57, 72, 92, 101, 103, 122, 147, 203, 235, 273, 285 Humanität 282 Hungersnot 141 Hybrid 21, 96, 109, 164, 206 f., 212, 253, 255, 312, 321, 324 f., 339 f. Hybridität 33, 153, 164, 206 ff., 211, 253 f., 340 Hybris 206 hypermodern 28, 139, 146, 247 Hysterie 81, 185 Ich-Teilung 89 Ich-Verdopplung 89 Idee 25, 30, 37, 58, 67, 91, 100 f., 103, 106, 108, 111, 132, 149, 157, 183, 186, 201, 207, 222 f., 232, 244, 251, 261, 265, 268, 277, 294, 305, 317 f., 320, 329, 332, 337, 339 f. Identifizierung 128, 164, 213 Identität 22 f., 27, 40 f., 48, 65, 74, 86 f., 95 f., 103, 112, 122, 124, 144, 153, 164, 168, 184 f., 191, 199, 210, 218, 235, 245 ff., 252-256, 264 f., 267 f., 270, 272, 275, 286, 310 f., 337 f., 340 f. Ilinx 305 Images 189 Imaginäre 73, 175, 180-183, 243, 300, 302 ff. Imagination 189, 303 Imago 183, 189, 192 Imagologie 29, 32, 150, 189, 191-197, 200, 204, 219, 251, 267, 307 Imperialismus 148 Implantation 32, 244 Individualismus 131, 136, 151 Individuum 17, 24, 49, 156, 159, 177 Industrialisierung 146 Information 15, 18, 25, 170-173, 323 Innen 69, 131, 188, 261 Instanz 43, 54, 70, 72 f., 91, 101, 109, 112, 114, 118, 175, 179, 225, 279 Inszenierung 188, 191, 249, 304 f., 316, 328 Integration 27, 39, 89, 131, 163, 172, 184, 190, 222, 239, 298, 318 Interdiskursivität 132 369 Sachregister interkulturell 19, 191, 207, 239, 311, 316, 338, 340 Intersubjektivität 132, 339 Intertextualität 84, 304, 328 intim 16, 29, 67, 69, 71, 115 f., 143, 163, 225, 248 Intimität 16, 18, 67, 114, 143, 226, 327 Intrasubjektivität 132 Inversion 185 Inzest 303 Irrationale 41, 336 Irrfahrt 46, 274 Irritation 18, 224, 229 f., 245, 296, 302 Islam 148, 196, 202, 206, 337 Isolation 185 Italien 193, 196, 274, 284 Je 72 f., 89, 142, 175 f., 179, 280 Journalismus 191, 314 Juden 95, 97 f., 140, 145 f., 150 f., 154, 164, 169, 190, 223, 251 Judensteuer 144 Judentum 112 Jugoslawien 274, 284 Junge 256, 259 Kakanien revisited 9, 205, 239 Kampf 35, 37, 46 f., 49, 51-60, 62 ff., 101, 108, 124, 148 f., 162, 203, 221 Kapital 39, 62, 144, 279 Kapitalismus 71, 141, 149-152, 233, 279 Katastrophengemeinschaft 25 Katze 224, 226-230, 232, 237 ff. Kind 79, 81 f., 85, 89, 128, 130, 177, 181, 185, 214, 216, 254, 256, 259, 262 Klarheit 156 Klassenantagonismus 42 Klassenkampf 35 Klassiker 135, 328 Kleinkind 128, 178 f. Klitoris 255 f., 259, 265 Knecht 31, 36 f., 42, 45, 47 f., 53-62, 64, 71, 119, 212, 274 Knechtschaft 46, 57, 176, 187, 210, 278 Kohärenz 156 Koitus 110, 256-259, 264 Kollektivität 105, 108 Kolonialismus 37, 41, 119, 131, 199, 201, 209 f., 216, 295 Kolonien 206, 209 f. Kommunikation 15, 25, 113, 146, 170 ff., 178, 239, 285, 311, 314, 327, 339 Kommunikationsmodell 327 Kommunismus 141, 274, 276, 279, 284, 294 Komparatistik 189, 191, 194, 312, 341 Komplementarität 111 Konnotation 18, 20, 42, 46, 77, 112, 160, 170, 181, 189, 207 f., 226, 233, 260, 312, 331 Konsistenz 59, 156 Konstitution 17, 42, 64, 142, 167, 305, 321 Konstruktion 17, 23, 30 ff., 35, 139, 144, 148, 153, 161, 165 f., 169 ff., 173, 186, 191, 196, 212 f., 215, 217, 219, 221, 223 f., 247, 251 f., 256 f., 269, 294 ff., 306 f., 310, 338 Kontingenz 69, 161 Kontinuität 23, 196, 205 Konversation 124 Konzentrationslager 119 Körper 18, 69-72, 87, 91, 93, 178 ff., 184 f., 188, 215, 243-247, 254, 258-265, 268 Kosmopolit 98 Kosmopolitismus 89 f., 98 Krankheit 18, 32, 80, 82 f., 123, 185, 243 f., 247 Krebs 243, 246 Krieg 26, 60, 137, 141, 147, 149, 162, 169, 234 Krise 103, 116, 141, 143, 154, 157 f., 171, 173, 309, 319 370 Sachregister Kroatisch 18, 20 Kultur 15 ff., 19-22, 25, 27-31, 37, 58, 60, 62, 72, 91, 93, 101, 115 f., 122, 130 f., 136, 139-142, 144, 146, 149, 152, 157 f., 160 f., 163 f., 167-170, 178, 182, 190 ff., 195 ff., 199 ff., 203 ff., 207-220, 239, 245, 253, 259, 282, 287, 291, 296, 299, 303, 305, 308 f., 311 f., 315, 319-325, 334-341 Kulturalisation 136, 285 Kulturalismus 272, 325, 337, 340 Kulturanalyse 9, 17, 136, 168, 204, 206, 312 Kulturtransfer 15, 35, 175, 210, 312, 316, 324 lateinisch 17, 22, 90, 109, 189, 261, 312, 337 Leben 46 f., 49, 52 ff., 56 f., 59, 61 f., 71, 74, 93, 96, 100, 108, 115 f., 130, 137, 147, 149, 152, 156 f., 163, 204, 206, 224 f., 232, 234, 237, 241, 243 f., 251, 264, 274, 276, 279 f., 282, 285 f., 294, 296, 306 Leere 44, 243 Leiden 18, 107, 234 Leinwand 183, 333 Leninismus 35, 39, 274, 277 Leser 94, 128, 230 f., 265, 296 ff., 310, 314 Liberalismus 147, 149, 340 libidinöser Dynamismus 179 Libido 107, 115, 179, 186 Liebe 17, 59, 71, 74 f., 78, 86, 99, 109 ff., 115 f., 142 f., 148, 187, 218, 251, 256, 264, 303, 327 Liebespaar 17, 115 Liminalität 16, 24, 32, 303, 305-310 Literarisierung 304 Literatur 45, 73, 75, 84, 87, 127, 160, 191, 198, 203, 248, 250, 289, 295-308, 310, 313 f., 321-324, 332 Literaturtheorie 320, 328 Loch 64 f., 256, 262 Logik 19, 27, 41, 45 f., 55, 65, 70, 78, 86, 114 f., 117, 123, 159, 161, 182, 209, 212, 265, 270, 273, 293, 301 f. Logos 103, 105, 112 Logozentrik 131 Logozentrismus 131, 224 f. longue durée 25 Luftschiff 25 Luhmannsche Systemtheorie 35, 134 Lust 29, 72, 215 f., 256, 258 ff., 264 Macht 32, 37, 43 f., 60 f., 63, 80, 95, 105, 114, 118, 125, 165, 180, 187, 194, 197, 199 f., 202, 212, 214, 216 f., 219 f., 228, 270 f., 275, 278, 280, 283, 293, 322, 338 Magie 84, 142 Mangel 116, 185, 251, 254 ff., 263, 268 f., 292 Mann 28, 62, 64, 80 f., 90, 96, 100, 107, 110, 117, 119, 130, 158, 189, 201, 204, 221, 223, 228, 231, 239, 241, 245, 248-260, 262 ff., 266 ff., 270 ff., 298, 308, 337 männlich 17, 20 f., 61, 63, 107, 117, 119, 173, 248 ff., 252, 255 f., 258 ff., 264, 266 f., 269, 271 Männlichkeit 20, 63, 107, 267, 269 Märchen 295, 306 Marginalisierung 18, 53, 164, 304 Marxismus 35, 39, 49, 71, 274, 277, 284, 294 Maske 265, 272, 305 Maskerade 254 f., 265-271 Masochismus 71 Masturbation 257 Matrix 127, 179, 220, 261, 264 Medialität 15 Medien 25 ff., 156, 168, 193, 208 f., 290, 293, 295, 306, 311, 314 Medizin 240, 244 Melange 211 371 Sachregister Mensch 16, 18 ff., 22, 25-29, 31 f., 42 f., 46, 48-54, 57 f., 60 ff., 64 ff., 70 ff., 74, 77, 80, 83 f., 88, 90 f., 93-101, 104-107, 109 f., 114-121, 126, 130, 133, 136-144, 146, 151, 153 ff., 158 f., 161-165, 167, 169 f., 172 f., 177 f., 180, 182 f., 185, 187, 189-192, 200, 202, 204, 206 ff., 211, 213 f., 217, 221-227, 229-239, 244 f., 267, 273-277, 279-283, 285-297, 299, 303, 305 f., 308, 310, 312, 314, 318, 320, 326-329, 335 f., 341 Menschheit 51, 107, 143 f., 183, 244, 286 Messianismus 50, 319 Metropolen 26 Migration 15, 72, 146, 151, 153 f., 162, 209 f., 247, 312 Mimikry 212, 305 Misstrauen 140 modern 19, 27 ff., 32, 45, 50, 61, 97, 115 f., 132, 134, 136, 142, 147, 149-152, 157, 161, 164, 166, 168 f., 174, 183, 206 f., 217, 233, 244, 246 ff., 250, 287-290, 292 f., 296 f., 307, 326, 329 Moderne 29 f., 43, 121, 130, 157, 161, 166, 168, 170, 206, 217, 287, 289, 307, 321, 341 Modernismus 90, 221, 249, 329 moi 73, 89, 175 f., 179, 186, 241, 246 Monolog 124 Moral 34, 104, 116, 242 Multikulturalismus 253, 336 ff., 340 Muster 127, 155-161, 191 Mutter 81, 105, 116, 128, 178, 181, 187, 216, 254, 262 f. Mutterleib 261 Mystizismus 325 Mythos 21 f., 129, 177, 186, 216, 232, 236, 251, 295, 299, 326 Nacht 17, 43 ff., 73 f., 91, 96 nackt 113, 218, 225, 227-231, 239 Nacktheit 107, 225 f., 228, 232, 237, 240 Nähe 16, 58, 72, 88, 137 f., 140, 143 f., 161, 207, 226, 229, 236, 239, 250, 308, 333, 337 Naher Osten 146, 196 f., 200, 202, 204, 210 Narrativ 22 f., 32, 40, 45, 50 f., 59 ff., 72, 90, 127, 146, 184, 221, 259, 274, 289, 299, 320, 325 Narziss 177 f., 184, 186 Narzissmus 174, 177, 186, 219 f. Nation 28, 42, 193, 195, 286, 340 national 19, 91, 143, 168, 193, 207, 210, 286, 336 f. Nationalismus 27 f., 63, 190, 209, 286, 336 Nationalökonomie 275, 278 Nationalsozialismus 101 f., 144, 284, 336 Nationalstaat 26, 336 nationalstaatlich 18 Natur 23, 43, 45, 49, 60, 74, 92, 107, 214, 224, 244, 261, 265, 281, 283 Naturbeherrschung 60 Naturphilosophie 282 Negation 40, 42, 48, 55, 63 f., 66 ff., 78, 100, 115, 147, 218, 235, 238, 302, 340 f. Neid 140, 152 Nekrophilie 303 Neuplatonismus 45 Neutralität 140 Neuzeit 15, 25, 141, 150 f., 198, 223, 286, 337 Nichts 15, 43, 53, 58, 64-72, 106, 186, 271, 293, 317 Nicht-Verstehen 172 f., 318, 328 Nihilismus 55 Nomaden 27 Nomos 98 Norm 18, 22, 98, 123, 309 normal 18, 130, 266 f., 303, 305 Normalität 125, 129, 168, 185, 248, 302 Nürnberger Rassengesetze 144 372 Sachregister Objekt 19, 28, 48, 52 f., 59, 64, 66 f., 70, 104 ff., 108 f., 111, 118 f., 178, 213 f., 218, 223, 225, 244 f., 249, 254, 258, 281 Obszönität 62, 227 Ödipus 143, 177, 184, 266 Ödipus-Komplex 177, 266 Odyssee 45, 48, 51, 127 Öffnung 16 f., 24, 26, 107, 109, 246, 258, 262, 308, 325, 341 Oikos 63, 249 Ökonomie 15, 27, 139, 150, 215 f., 256, 258 f., 270, 277, 280, 285, 291 Okzident 196, 199 f., 237 Ontogenese 84 Ontologie 21 f., 65 ff., 100, 105, 110, 174, 179 f., 198, 257, 270, 288, 290 f., 307 Opposition 23, 28, 79, 88, 115, 126, 133, 147, 179 f., 193, 199, 208 f., 235, 252, 255 Ordnung 33, 36, 40, 60, 62, 65, 97 f., 122, 129 f., 132, 138, 147, 149, 152, 155, 157, 181, 199, 213, 221, 264, 266 f., 270 f., 309 f. Organ 243 ff., 256 Orient 195 f., 198-202, 205 Orientalismus 32, 195-198, 200-205, 216 Ort 18 f., 21, 27, 82, 99, 104 f., 116, 132, 137, 140, 159, 163, 195, 210, 218, 225, 241, 253 ff., 260-264, 270, 302, 311, 313, 340 Osmanisches Reich 140, 205 Österreich 23, 88, 121, 149, 210, 250, 284, 286, 324, 337 Paar 83, 96, 107, 114 ff. Paranoia 179 Pathos 144 Pazifismus 147 Penis 216, 254 ff., 258, 271 Penisneid 256 Performanz 272 Pessimismus 184, 186 Pest 97, 141 Phallomorphismus 259 Phallus 254 ff., 268-271 Phänomen 15 f., 19, 21 f., 24, 28, 31, 33, 67, 73, 75 f., 79, 93, 107, 113 f., 118, 121, 128, 135 ff., 154, 158, 165 f., 168, 171, 173, 177, 188, 199, 208, 211, 218, 220, 225, 241, 243, 256, 261, 265, 271, 280, 298, 301, 304 f., 309, 311, 316, 326 ff., 338 f. Phänomenologie 15, 31, 33, 35 f., 39, 42, 45-48, 51, 55 f., 62, 67, 69, 110, 121 ff., 127, 188, 247, 252, 263, 274, 276, 321, 326 Phantasie 80, 82, 87, 89, 180, 195, 216 ff., 295, 302, 341 Phantastik 32, 296, 303-310 Pinocchio 280 Pluralismus 106, 292 ff., 340 Pogrom 98 Polen 64, 191, 274 Politik 27, 50, 90, 125, 147 ff., 203 ff., 207, 213, 216, 223, 248 f., 284, 334, 336, 340 politische Gesellschaft 201 Polylog 132 Polysexualität 253 Polytheismus 292 Positionierung 136, 139 postkolonial 41, 206, 208-212, 322 postmodern 26, 51, 61, 207, 209, 211, 273 Prätext 84 Produkt 26, 49, 67, 70, 137, 139 ff., 204, 277 f., 280 f., 283, 297, 316, 324, 338 Produktion 32, 169, 219, 275, 278 f., 281, 328 Produktionsmittel 290 Produzent 55, 214, 278, 281 Profit 275 Progression 261, 338 Projektion 89, 91 f., 176, 182, 219 Proletariat 279, 290 Promiskuität 292, 294 Prostitution 258, 264 373 Sachregister Psychoanalyse 15, 17, 30 f., 73, 75 f., 86, 88, 90 f., 118, 174-177, 179, 186 f., 212, 214 f., 219, 248, 251 f., 254, 301, 303, 326 Psychologie 76, 88, 100, 105, 153, 176 f., 249 Publikum 214, 225 f., 230, 297 f., 305, 307, 321 Puppe 79 f., 82 f. Radio 25, 292 Rahmen 9, 24, 28, 90, 100, 128, 136, 155, 285, 299, 308, 312, 334, 337, 340 Rand 136 f., 147, 158, 161, 234, 280, 294, 304 f., 321 Rassismus 18, 120, 174, 187, 204, 208, 251 Rationale 41 Rationalismus 39, 41, 88, 224 Rationalität 41, 131, 223 Raum (imaginär) 24 Raum (kulturell) 19 f., 247 Raumpunkt 137 Raum (sozial) 36, 154, 211 Raum (symbolisch) 97, 125, 129, 136, 155, 308 f. Reale 175, 180 f., 297, 300, 302 Realismus 66, 68 Realität 47, 63, 85, 88, 178, 180, 182-185, 202, 217, 261, 296, 300, 302 f., 306 Receptaculum 262 Rechtsphilosophie 42 Rechtspopulismus 28 Regel 63, 76, 168, 322 regional 19, 324 Regression 132, 264, 338 Reiseliteratur 192, 249 Relation 15, 21 f., 28, 36, 42, 53, 59, 62, 65, 68, 86, 103, 105 f., 110, 118, 126, 138, 142, 162, 179, 183, 220, 244, 246, 254 f., 268, 270, 308, 317 f., 323, 341 Religion 21, 50, 56, 64, 89, 112, 116, 139, 206, 275, 280, 292 f. Repräsentation 162, 176, 179, 182, 197, 211, 213, 217, 252, 255, 271, 305, 310, 324 Rezept 156 f., 159 f. Rezeption 35, 262 Reziprozität 30, 108, 170, 193, 213, 330, 332 f. Rhetorik 219, 247, 304 Ring 64 Ritual 124, 154, 167, 309 f., 312 Roman 46, 49, 70, 127 f., 130, 201, 207, 287 f., 296, 298 ff., 315, 335, 338 romanisch 17 Romantik 31, 43, 45, 72-75, 84, 95, 175, 198, 224, 247, 268, 296, 320 Rückkehr 39, 174, 176, 183 f., 224 Ruf 113 Russland 194, 196, 284 Sadismus 71 Säkularisierung 28 Sandmann 75 f., 79-87, 90, 140, 298, 301 Scham 67 f., 70, 227-230, 232, 239, 288 Schamlippen 257 f. Schatten 35 ff., 51, 92, 95-98, 111, 122, 183 Schiedsrichter 19, 29, 167 Schimpanse 177 Schließung 16, 26, 308, 341 Schöpfer 231, 280 Schöpfung 231, 280, 289, 296, 319 Schrift 31, 45, 66, 76, 103 ff., 112 ff., 163, 174, 196, 223, 232, 268, 274, 282, 284, 289, 296, 313 f., 317, 332 Schuld 114, 219 Schwelle 211, 241 f. Schwellenphase 309 Seele 93, 95 f. Sehnsucht 169, 213, 251, 261, 285, 318 374 Sachregister Sein 21 f., 33, 39, 41, 44, 53 f., 58, 62, 64-72, 92, 101, 103-106, 108, 111, 113 ff., 117 f., 126, 132, 140, 161, 166, 168, 186, 203, 226, 230, 238, 254 f., 266, 270, 273, 276 f., 280, 287, 290, 294, 319, 321, 331 f., 340 Selbigkeit 22 f. Selbst 17, 20-24, 28, 35, 41-44, 48, 52, 60, 68, 72 f., 90, 92, 96, 103, 109, 112, 116, 119 f., 123, 131, 147, 162, 176, 179, 191, 197, 213, 222, 226, 233, 246, 277, 280, 298, 303 Selbstaufgabe 103 Selbstbewusstsein 35, 37, 45 ff., 49, 52-60, 62 ff., 108, 117, 128 Selbstbild 27, 63, 220 Selbstenteignung 71 f. Selbstentfremdung 70 f., 245, 282 Selbstheit 22 f. Selbstschutz 126, 266 f. Selbsttäuschung 182 Sesshaftigkeit 27 sex 252, 265 Sexualität 119, 214, 216, 218, 228, 235, 239, 248 f., 251, 253-260, 263, 265, 268, 271 Sicherheit 16, 72, 143, 157, 221, 301 Sigmund-Freud-Museum 203 Signifikant 188, 217 f., 236, 254 f., 268, 270 f., 317 Signifikat 270, 318 Sitten 93, 144, 155, 160, 247 Skeptizismus 55 f., 184 Sklaverei 29, 210 slawisch 17, 239 Solidarität 59, 90, 139 Solipsismus 59, 66 f., 72 Sozialisation 136, 285 Sozialismus 26, 55, 276, 278 f., 284 Soziologe 16, 33, 134, 137, 194 Soziologie 33 f., 68, 100, 134 ff., 138, 140 f., 143, 153, 161 ff., 165, 168, 173, 189, 198, 209, 229 spectant nations 195 spected nation 195 Sphinx 250 Spiegel 73, 93, 176-181, 183, 185, 188, 203, 220, 237, 257 Spiegelbild 128, 176-179, 184, 188, 339 Spiegelstadium 32, 128, 174 ff., 178-187 Spiel 20, 23, 47, 52 f., 59, 61, 69, 71 f., 84, 86, 90, 106 f., 110, 119 f., 127 f., 141, 155, 158, 170, 183, 189 f., 195, 199, 214, 217, 219, 227, 229, 236 f., 240, 244 f., 256 f., 271 f., 299, 301 f., 304 f., 307, 309, 314, 317, 339 Spielfeld 305 Sprache 17 ff., 21, 30 f., 33, 42, 56, 60, 63 f., 70-73, 85, 93, 113, 117, 121, 123, 128, 132, 134 f., 139, 155, 160, 172, 175, 178, 181, 198, 207 f., 211, 221, 226, 232, 234, 237, 251, 257, 285 f., 290, 303 f., 311, 313-326, 328-336, 338 f. Sprachgemeinschaft 311 Spur 37, 73, 75, 82, 91, 215, 245 f., 272, 312, 320, 337 f. Stalinismus 40, 60 Stammesgesellschaft 166, 170 Ständestaat 149 Stereotyp 32, 95, 97, 189, 193, 212 ff., 216 f., 219 f., 250, 322 Stiege 211 Stigmatisierung 134 Stimme 94, 105, 113 f., 117 ff., 132, 225, 234, 331 Stoff 263 Stoizismus 54, 56 Stolz 108, 144 Strukturalismus 36, 121, 175 Subjekt 22, 28, 33, 44 f., 48, 58 f., 61 f., 65, 68-71, 100, 104-109, 117 f., 123, 126, 128, 132, 176, 178 ff., 184, 186, 199, 207, 211, 215, 217 ff., 222, 225, 234, 243 ff., 249, 252, 254 f., 269, 281, 286, 340 375 Sachregister Subordination 256 Substanzialisierung 16 Sündenbock 19, 29, 97 f., 141 f., 219, 247 Surrealismus 175 Sylphide 296 Symbol 137 Symbolische 175, 180-183, 243, 300 Symbolismus 168, 175, 178 f., 182, 208, 228 Synthese 39, 45, 55, 57 f., 64 f., 111, 124 System 16, 19, 27 f., 36, 45, 149, 156 ff., 161, 164, 167, 170, 173, 201, 203, 205, 208, 215, 219, 277, 279, 286, 312, 329, 337 Systemtheorie 32, 118, 161, 163, 166, 168 ff., 172 f., 191 Tausch 96, 140, 165, 324, 333 Technik 51, 60, 131, 191-195, 232, 236, 289 ff., 324, 327, 332, 335 f. teilen 24, 42, 234, 265, 292 Teilung 24, 34 Telefon 25, 156 Territorium 72, 266 Teufel 70, 85, 94 ff., 196, 219 These 32, 39, 46, 55, 83, 89, 98, 101, 129, 135, 174, 178, 213, 216, 234, 253 f., 268, 274, 287, 326, 328, 333 Theseus 295 Thora 231 Tier 32, 51, 58, 118 f., 130, 221-240, 250, 282, 288, 291, 295 ff. Tod 46-49, 56-59, 62, 71, 81 f., 85, 89, 100 f., 108, 132, 147, 149, 177, 232, 243 f., 335, 338 Toleranz 292 Topos 30, 196 Totalität 102, 114 f., 117 Tourist 19, 159 Tradition 28, 30, 33, 64 f., 84, 100, 103, 112, 119, 121, 123, 155, 157 f., 162 f., 177, 181, 208 f., 211 f., 221, 223, 231 f., 237 f., 281, 320, 326 Transfer 15, 25, 39, 122, 311 f., 321 f., 333 transgender 21 Transgression 307, 309 transkulturell 15, 90, 124, 154, 166, 190, 202, 316 Transplantation 243-246 Transzendenz 103 f., 114 Traum 45, 73, 75, 103, 175, 182 Trennen 16 Trennung 24, 45, 69, 126, 131, 175, 203, 208, 214, 216, 248, 262, 305, 308 f., 334 Tribüne 305 Tschechisch 18, 20 Tschechoslowakei 274 Turmbau zu Babel 319 Übergang 24, 41, 66, 137, 241, 257 f., 284, 286, 309 Über-Ich 118, 175, 181 Übernatürliche 300, 303 Übersetzbarkeit 314 f., 324, 334 Übersetzen 316, 318, 321 f., 325 ff., 330, 334 ff., 339 Übersetzer 314 f., 330-333, 335 Übersetzung 32, 36, 39, 67, 102, 160, 208, 210 f., 240, 261, 295, 311-324, 327 f., 331-340 Übersetzungstheorie 313, 327, 332 f., 335, 339 Umgangssprache 164, 328 Unabhängigkeit 64, 118, 216 unbekannt 17 f., 20 f., 25, 75, 250, 275, 295, 301, 307 Unbekanntheit 21 f., 29, 33, 170 unbewusst 44, 72 f., 91, 176, 216 Unbewusste 17, 21, 28, 31, 45, 73 f., 90 ff., 175, 295 Unbewusstsein 109 376 Sachregister Unfassbare 181, 314, 326 unheimlich 18, 44, 76-79, 83 ff., 87 ff., 91 f., 95, 97, 242, 250, 298, 301 Unheimliche, das 18, 43, 74 ff., 78 ff., 83-86, 88 ff., 92 f., 95, 123, 130, 188, 295, 297, 300 ff. Universalismus 64, 251, 333, 335 ff., 340 Unschuld 114 Ursprache 319 Ursprung 39, 45, 48, 57, 60, 68, 99, 103 f., 111, 115, 216, 218, 221, 337 Utopie 22, 247, 273, 324 f., 341 Vagina 250, 255, 265 Vampir 295 Vater 56, 79-82, 84-87, 116, 177, 181, 184, 187, 254, 256, 266, 270 Vater-Imago 85 f., 266 Verbinden 15 Verbindung 16, 24, 26, 38, 53, 95, 107, 117, 144, 153, 216, 236, 274, 308 Verbundenheit 142 Verdichtung 138, 298, 330 Verdinglichung 67, 284 Verdopplung 91, 178, 185, 265 Verdrängte 86 Verfolgung 137, 142, 146, 169 Vergangenheit 152, 163, 210, 222, 299, 301 Vergegenständlichung 276 ff., 280 ff. Vergesellschaftung 68, 136, 138, 146 Vergleichende Literaturwissenschaften 29 Verleumdung 315 Verliebtheit 143 Vernunft 36 f., 39, 41-45, 47 f., 50, 52, 56, 72 ff., 79, 113, 127, 131, 199, 223, 233, 275 Verschiebung 80, 87, 105, 112, 185 Verschleierung 265 Verstehen 156, 160, 171 f., 191, 317, 326 f., 330 f. Vertrauen 157, 159, 170, 214, 330, 333 Vertrautheit 92, 129, 144, 170, 172, 244, 273, 282 Vertrautheitswissen 155 f., 158 Verwandlung 179, 252, 302 Verwirklichung 278 f. Virginität 258 Visualisierung 304 Vokativ 113, 117 Vorgängigkeit 21, 92, 100 f., 104, 110 ff., 118, 126 Vorsokratiker 104 Vorurteil 163, 205 Voyeurismus 186, 215 Wandel 15, 22 f., 40, 124, 162, 193 f., 219, 328 f., 334 Wanderer 30, 94, 150 Wandernde 137, 207 Warenwelt 293 Wechselwirkung 144 Wechselwirkungsform 138 f. weiblich 20 ff., 86, 89, 100, 107, 119, 228, 231, 245, 248 ff., 252-271, 296 f., 338 Weiblichkeit 20, 107, 254 f., 265-268 Welt 15, 20, 22, 25 f., 28, 37, 43, 47, 49 f., 53, 55, 58, 60, 63 ff., 69-72, 74, 86, 88, 90 f., 95, 110 f., 115, 117, 131, 140, 145, 148, 156, 165 f., 171 f., 174, 178 f., 182 ff., 195, 203, 206 f., 209 f., 232, 258, 267, 273 f., 280, 284, 287-293, 295-302, 304-307, 310 f., 317 f., 320 f., 324, 326, 329, 336, 340 f. Weltfremdheit 287 f., 290 f. Weltgeschichte 50 f., 55 f., 58 Weltliteratur 296, 324, 336, 340 Weltmarkt 26 Weltverlorenheit 70, 287 377 Sachregister Weltvertrautheit 288 Wert 55, 114, 156, 293, 329 Widerspruch 40, 47, 219, 276 Wiederherstellung 27, 45, 174, 222, 319, 330 Wiederholung 40, 84, 174, 222, 238, 272, 329 Wir-Gefühl 142 Wirklichkeit 47, 55, 57, 80, 88 f., 130, 151, 153, 195, 200, 278, 283, 297, 299 f., 306 f., 317, 329 Wirtschaftskrise 141 Wunderbare 295, 297 f., 300 ff. Xenophobie 72, 91, 158, 168, 204, 247, 286, 336 Zeichen 64, 207, 209, 270, 306, 317, 337 Zeichensystem 27, 317 Zeit 19, 22, 25, 27, 39, 44 f., 56, 77, 99-102, 105-108, 110 ff., 114-117, 119 f., 127, 151, 153, 159, 175, 177, 186, 202, 211, 214, 216, 227, 231 f., 265, 278, 305, 309, 321, 327-330, 336, 338 f. Zentrum 29, 35, 40, 51, 61, 79, 85, 113, 128 f., 154, 159, 168, 182, 198, 206, 240, 254 f., 266, 276, 284, 305 Zivilgesellschaft 63, 149, 201, 203 Zugehörigkeit 96, 144, 172, 225 Zukunft 48, 50, 101, 106, 152, 299 Zusammengehörigkeitsgefühl 25, 138 Zuwanderer 30 Zwang 40, 151, 275 f., 283, 285 f., 293, 338 Zwangsherrschaft 275 Zwangsneurose 185 Zweiheit 20 ff., 29, 107 Zweiter Weltkrieg 26, 66, 190, 194 Zwischenraum 47, 211, 224, 260-264 Das Buch versammelt fünfzehn theoretische Ansätze aus dem deutsch sprachigen, englischsprachigen und frankophonen Raum, die zentrale Diskurse für die heutige Kulturtheorie begründet haben. Im Rahmen eines close reading der Originaltexte werden unterschiedliche Kulturbegriffe, aber auch zentrale Termini wie z.B. Lebensstil, symbolische Formen, Diskurs, Text, dichte Beschreibung oder mimetisches Begehren vorgestellt. Jedes Kapitel schließt mit kritischen Anfragen und Anmer kungen sowie weiterführenden Literaturhinweisen zu den betreffenden Theorien.Die 2. Auflage wurde um zwei neue Kapitel zu den Arbeiten von Michail Bachtin und Mieke Bal erweitert, außerdem wurden sämtliche Bibliographien aktualisiert. Wolfgang Müller-Funk Kulturtheorie 2. überarbeitete und erweiterte Auflage 2010 XVIII, 381 Seiten €[D] 19,90 ISBN 978-3-8252-2828-6 Narr Francke Attempto Verlag GmbH+Co. KG \ Dischingerweg 5 \ 72070 Tübingen \ Germany Tel. +49 (07071) 9797-0 \ Fax +49 (07071) 97 97-11 \ info@narr.de \ www.narr.de KULTUR - HERRSCHAFT - DIFFERENZ Herausgegeben von Moritz Csáky, Wolfgang Müller-Funk und Klaus R. Scherpe Bisher sind erschienen: Band 1 Wolfgang Müller-Funk / Peter Plener / Clemens Ruthner (Hrsg.) Kakanien revisited Das Eigene und das Fremde (in) der österreichisch-ungarischen Monarchie 2002, VIII, 362 Seiten €[D] 39,- ISBN 978-3-7720-3210-3 Band 2 Alexander Honold / Oliver Simons (Hrsg.) Kolonialismus als Kultur Literatur, Medien, Wissenschaft in der deutschen Gründerzeit des Fremden 2002, 291 Seiten €[D] 39,- ISBN 978-3-7720-3211-0 Band 3 Helene Zand Identität und Gedächtnis Die Ausdifferenzierung von repräsentativen Diskursen in den Tagebüchern Hermann Bahrs 2003, 207 Seiten €[D] 39,- ISBN 978-3-7720-3212-7 Band 4 Helga Mitterbauer Die Netzwerke des Franz Blei Kulturvermittlung im frühen 20. Jahrhundert 2003, 165 Seiten €[D] 38,- ISBN 978-3-7720-3213-4 Band 5 Klaus R. Scherpe / Thomas Weitin (Hrsg.) Eskalationen Die Gewalt von Kultur, Recht und Politik 2003, XV, 215 Seiten €[D] 49,- ISBN 978-3-7720-8006-7 Band 6 Amália Kerekes / Alexandra Millner / Peter Plener / Béla Rásky (Hrsg.) Leitha und Lethe Symbolische Räume und Zeiten in der Kultur Österreich-Ungarns 2004, X, 297 Seiten €[D] 39,90 ISBN 978-3-7720-8063-0 Band 7 Vera Viehöver Diskurse der Erneuerung nach dem Ersten Weltkrieg Konstruktionen kultureller Identität in der Zeitschrift Die Neue Rundschau 2004, 352 Seiten €[D] 58,- ISBN 978-3-7720-8072-2 Band 8 Waltraud Heindl / Edit Király / Alexandra Millner (Hrsg.) Frauenbilder, feministische Praxis und nationales Bewusstsein in Österreich-Ungarn 1867-1918 2006, VIII, 273 Seiten €[D] 39,- ISBN 978-3-7720-8131-6 Band 9 Endre Hárs / Wolfgang Müller-Funk / Ursula Reber / Clemens Ruthner (Hrsg.) Zentren, Peripherien und kollektive Identitäten in Österreich-Ungarn 2006, VI, 295 Seiten €[D] 58,- ISBN 978-3-7720-8133-0 Band 10 Telse Hartmann Kultur und Identität Szenarien der Deplatzierung im Werk Joseph Roths 2006, XI, 213 Seiten €[D] 39,- ISBN 978-3-7720-8170-5 Band 11 Wladimir Fischer / Waltraud Heindl / Alexandra Millner / Wolfgang Müller-Funk (Hrsg.) Räume und Grenzen in Österreich-Ungarn 1867-1918 Kulturwissenschaftliche Annäherungen 2010, 409 Seiten €[D] 58,- ISBN 978-3-7720-8239-9 Band 12 Marijan Bobinac / Wolfgang Müller-Funk (Hrsg.) Gedächtnis - Identität - Differenz Zur kulturellen Konstruktion des südosteuropäischen Raumes und ihrem deutschsprachigen Kontext 2008, VIII, 293 Seiten €[D] 58,- ISBN 978-3-7720-8301-3 Band 13 Gerald Lind Das Gedächtnis des „Mikrokosmos“ Gerhard Roths Landläufiger Tod und Die Archive des Schweigens 2011, 447 Seiten €[D] 58,- ISBN 978-3-7720-8366-2 Band 14 Daniela Finzi / Ingo Lauggas / Wolfgang Müller-Funk / Marijan Bobinac/ Oto Luthar / Frank Stern (Hrsg.) Kulturanalyse im zentraleuropäischen Kontext 2011, 257 Seiten €[D] 49,- ISBN 978-3-7720-8434-8 Band 15 Emilija Man č i ć Umbruch und Identitätszerfall Narrative Jugoslawiens im europäischen Kontext 2012, 198 Seiten €[D] 45,- ISBN 978-3-7720-8466-9 Band 16 Angelika Baier „Ich muss meinen Namen in den Himmel schreiben“ Narration und Selbstkonstitution im deutschsprachigen Rap 2012, 348 Seiten €[D] 58,- ISBN 978-3-7720-8467-6 Band 17 Daniela Finzi Unterwegs zum Anderen? Literarische Er-Fahrungen der kriegerischen Auflösung Jugoslawiens aus deutschsprachiger Perspektive 2013, 326 Seiten €[D] 59,- ISBN 978-3-7720-8475-1 Band 18 Thomas Grob / Boris Previ š i ć / Andrea Zink (Hrsg.) Erzählte Mobilität im östlichen Europa (Post-)Imperiale Räume zwischen Erfahrung und Imagination 2013, 308 Seiten €[D] 54,- ISBN 978-3-7720-8484-3 Band 19 Daniel Romuald Bitouh Ästhetik der Marginalität im Werk Joseph Roths Ein postkolonialer Blick auf die Verschränkung von Binnen- und Außerkolonialismus 2016, 354 Seiten €[D] 58,- ISBN 978-3-7720-8520-8 Band 20 Boris Previ š i ć / Svjetlan Lacko Viduli ć (Hrsg.) Traumata der Transition Erfahrung und Reflexion des jugoslawischen Zerfalls 2015, 230 Seiten €[D] 52,- ISBN 978-3-7720-8526-0 Band 21 Matthias Schmidt / Daniela Finzi / Milka Car / Wolfgang Müller-Funk / Marijan Bobinac (Hrsg.) Narrative im (post)imperialen Kontext Literarische Identitätsbildung als Potential im regionalen Spannungsfeld zwischen Habsburg und Hoher Pforte in Zentral- und Südosteuropa 2015, 264 Seiten €[D] 64,99 ISBN 978-3-7720-8547-5 Band 22 Vahidin Preljevi ć / Clemens Ruthner (Hrsg.) „The Long Shots of Sarajevo“ 1914 Ereignis - Narrativ - Gedächtnis 2016, 702 Seiten €[D] 98,- ISBN 978-3-7720-8578-9 Peter V. Zima Entfremdung Pathologien der postmodernen Gesellschaft 2014, VIII, 204 Seiten €[D] 19,99 ISBN 978-3-8252-4305-0 Der Begriff Entfremdung, bisher vorwiegend auf die Arbeitswelt angewandt, wird hier mit verwandten soziologischen Begriffen wie Differenzierung, Anomie, Anonymität und Tauschwert verknüpft und als gesellschaftskritischer Begriff auf Bereiche angewandt, die jenseits der Produktionsprozesse liegen: Freizeit, Konsumverhalten und Medien. Durch diese Erweiterung des Terminus und seines Anwendungsbereichs trägt das Buch der Tatsache Rechnung, dass Entfremdung in der Postmoderne so allgegenwärtig ist, dass sie trotz des Unbehagens, welches sie - in Stress, Burnout oder Depression - bewirkt, kaum noch wahrgenommen und beim Namen genannt wird. Dass es sie gibt, lassen indessen die vielen Varianten der ästhetischen Verfremdung erkennen, die im letzten Kapitel als Reaktionen auf die soziale Entfremdung kommentiert werden. Peter V. Zima Die Dekonstruktion Einführung und Kritik utb S 2., überarbeitete und erweiterte Au age 2016 280 Seiten €[D] 22,99 ISBN 978-3-8252-4689-1 eISBN 978-3-8385-4689-6 Der Autor stellt die Theorien von Jacques Derrida, Paul de Man, J. Hillis Miller, Geoffrey Hartman und Harold Bloom in ihrem philosophischen und ästhetischen Kontext dar. Seine Kommentare zu konkreten Textanalysen - etwa zu Derridas Kritik der Sprechakttheorie oder zu seiner Interpretation von Baudelaires „La Fausse monnaie“ - schlagen eine Brücke von der Theorie zur Praxis der Dekonstruktion. Die Kritik der Dekonstruktion aus der Sicht der Kritischen Theorie mündet weder in Ablehnung noch in Vereinnahmung, sondern in einen offenen Dialog, in dem die Dialektik von Konsens und Dissens sowohl die Verwandtschaft als auch die Heterogenität der beiden Ansätze erkennen lässt. In der vorliegenden Neuau age, in der die Subjektproblematik bei Derrida und Deleuze im zweiten Kapitel ausführlicher kommentiert wird, wird der Dialog im letzten Kapitel auf feministische Theorien ausgedehnt, von denen sich einige an der Dekonstruktion orientieren, um den Subjektbegriff in Frage zu stellen, während andere an diesem Begriff festhalten. NEUAUFLAGE + alle wichtigen Vertreter der Dekonstruktion werden behandelt und kommentiert + ergänzt um ein Kapitel zur Subjektproblematik und zur feministischen Theorie Narr Francke Attempto Verlag GmbH+Co. KG \ Dischingerweg 5 \ 72070 Tübingen \ Germany Tel. +49 (07071) 9797-0 \ Fax +49 (07071) 97 97-11 \ info@narr.de \ www.narr.de NEU Was heißt es, fremd zu sein, sich fremd zu fühlen, als Fremder gesehen zu werden? In 13 transdisziplinären Zugängen spannt sich der Bogen von sozialwissenschaftlichen Ansätzen über klassische Konzepte der Psychoanalyse, philosophische Denkfiguren von Alterität bis hin zur Dekonstruktion. Berücksichtigung finden zudem Theorien des Phantastischen, die Imagologie, postkoloniale Beiträge sowie differenzfeministische Annäherungen. Damit bietet dieses Buch eine verlässliche Orientierung auf einem Feld, das in Zeiten der Globalisierung, forcierter trans- und interkultureller Prozesse sowie von Migrations- und Flüchtlingsbewegungen von immer größerer Bedeutung ist. Philosophie Dies ist ein utb-Band aus dem A. Francke Verlag. utb ist eine Kooperation von Verlagen mit einem gemeinsamen Ziel: Lehrbücher und Lernmedien für das erfolgreiche Studium zu veröffentlichen. utb-shop.de QR-Code für mehr Infos und Bewertungen zu diesem Titel ,! 7ID8C5-cefgjg! ISBN 978-3-8252-4569-6