Die Soziologie Pierre Bourdieus
1010
2016
978-3-8385-4700-8
978-3-8252-4700-3
UTB
Boike Rehbein
Boike Rehbein zeichnet die Entwicklung der Kerngedanken Pierre Bourdieus nach, von den ersten Schriften über die Situation in Algerien bis hin zur Kritik am Neoliberalismus. Dabei betont er vor allem den inneren Zusammenhang von Bourdieus Lebenswerk, so dass die gemeinsamen Wurzeln Bourdieus Wissenschaftstheorie und seiner empirischen Forschung deutlich werden. Boike Rehbein möchte zur Lektüre Bourdieus anregen und dazu auffordern, mit Bourdieu zu forschen und zu denken.
Für die vorliegende dritte Auflage ist das Buch um ein Kapitel zur Rezeption Bourdieus erweitert worden. Außerdem wurden die Übersichtlichkeit durch Marginalien und die Verständlichkeit durch ein Glossar verbessert.
<?page no="1"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M+Marginalie]__Rehbein__Soziologie_Bourdieus(3)___[Druck-PDF]/ 23.05.2016/ Seite 2 Dr. Boike Rehbein ist Professor für Gesellschaften Asiens und Afrikas an der Humboldt-Universität zu Berlin. Bis 2009 war Rehbein Direktor des Global Studies Programm der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg im Breisgau. Er hatte Gastprofessuren in Bangkok, Buenos Aires, Neu-Delhi, Santiago de Chile, Vientiane und Zürich inne. In Vientiane ist Boike Rehbein maßgeblich am Aufbau der sozialwissenschaftlichen Fakultät der National University of Laos beteiligt. <?page no="2"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M+Marginalie]__Rehbein__Soziologie_Bourdieus(3)___[Druck-PDF]/ 23.05.2016/ Seite 2 www.claudia-wild.de: [UTB-M+Marginalie]__Rehbein__Soziologie_Bourdieus(3)___[Druck-PDF]/ 23.05.2016/ Seite 3 Boike Rehbein Die Soziologie Pierre-Bourdieus 3., überarbeitete Auflage UVK Verlagsgesellschaft mbH · Konstanz mit UVK/ Lucius · München <?page no="3"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M+Marginalie]__Rehbein__Soziologie_Bourdieus(3)___[Druck-PDF]/ 23.05.2016/ Seite 4 Online-Angebote oder elektronische Ausgaben sind erhältlich unter www.utb-shop.de. Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über <http: / / dnb.ddb.de> abrufbar. Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. 1. Auflage: 2006 2. Auflage: 2011 3. Auflage: 2016 © UVK Verlagsgesellschaft mbH, Konstanz und München 2016 Einbandgestaltung: Atelier Reichert, Stuttgart Druck: CPI - Ebner & Spiegel, Ulm UVK Verlagsgesellschaft mbH Schützenstr. 24 · D-78462 Konstanz Tel.: 07531-9053-0 · Fax 07531-9053-98 www.uvk.de UTB-Band Nr. 2778 ISBN 978-3-8252-4700-3 (Print) ISBN 978-3-8463-4700-3 (EPUB) <?page no="4"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M+Marginalie]__Rehbein__Soziologie_Bourdieus(3)___[Druck-PDF]/ 23.05.2016/ Seite 4 www.claudia-wild.de: [UTB-M+Marginalie]__Rehbein__Soziologie_Bourdieus(3)___[Druck-PDF]/ 23.05.2016/ Seite 5 Hermann Schwengel gewidmet <?page no="5"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M+Marginalie]__Rehbein__Soziologie_Bourdieus(3)___[Druck-PDF]/ 23.05.2016/ Seite 6 <?page no="6"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M+Marginalie]__Rehbein__Soziologie_Bourdieus(3)___[Druck-PDF]/ 23.05.2016/ Seite 6 www.claudia-wild.de: [UTB-M+Marginalie]__Rehbein__Soziologie_Bourdieus(3)___[Druck-PDF]/ 23.05.2016/ Seite 7 7 Inhalt Einleitung 9 1 Von der Praxis der Ökonomie zur-Ökonomie der Praxis 19 1.1 Einsicht: Ungleichzeitigkeit 24 1.2 Traditionen 28 1.3 Der Geist des Kapitalismus 39 1.4 Ethno-soziologische Methoden 42 2 Brüche 47 2.1 Der doppelte Bruch 51 2.2 Kritik 56 2.3 Konstruktion des Gegenstands 64 2.4 Emanzipation 69 3 Praxis (Grundbegriffe) 77 3.1 Habitus 84 3.2 Strategie 95 3.3 Feld 101 3.4 Kapital 107 3.5 Konfigurationen 113 4 Reproduktion 121 4.1 Ausbildung 122 4.2 Wissenschaft 132 4.3 Frankreichs Eliten 139 5 Differenz und Distinktion 151 5.1 Geschmack 155 5.2 Sozialer Raum 160 5.3 Klassen 166 5.4 Klassengeschmack und Klassendynamik 171 5.5 Zur Methode 179 <?page no="7"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M+Marginalie]__Rehbein__Soziologie_Bourdieus(3)___[Druck-PDF]/ 23.05.2016/ Seite 8 8 Inhalt 6 Symbolische Gewalt 183 6.1 Sprache 188 6.2 Zwei Felder der Macht 193 6.3 Die männliche Herrschaft 202 7 Eingriffe 209 7.1 Das Elend der Welt 209 7.2 Verstehen 217 7.3 Zurück zur Praxis der Ökonomie 221 8 Rezeption und Weiterentwicklung 231 8.1 Der Beginn der Auseinandersetzung 231 8.2 Die breite Rezeption in der Soziologie 233 8.3 Scholastik und Weiterentwicklungen 236 Schluss 243 Glossar 245 Literatur 251 Sach- und Namensregister 273 <?page no="8"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M+Marginalie]__Rehbein__Soziologie_Bourdieus(3)___[Druck-PDF]/ 23.05.2016/ Seite 8 www.claudia-wild.de: [UTB-M+Marginalie]__Rehbein__Soziologie_Bourdieus(3)___[Druck-PDF]/ 23.05.2016/ Seite 9 9 Einleitung Wozu eine weitere Einführung in Bourdieus Soziologie? Dieses Lehrbuch ist keine Einführung. Zum einen ist es für fortgeschrittene Studierende sowie Interessierte gedacht, die bereits etwas von oder über Bourdieu gelesen haben, sich weiter in seine Soziologie vertiefen möchten und vielleicht mit ihren Mitteln arbeiten wollen. Zum anderen liefert das Buch keinen Überblick über alle Werke und Gedanken Bourdieus, sondern sucht die Entwicklung des Kerns seiner Soziologie nachzuzeichnen. Ein Buch für diese Zielgruppe und mit dieser Zielsetzung gibt es meines Wissens noch nicht, zumindest nicht in deutscher Sprache. Ich hoffe, den inneren Zusammenhang der Werke und Gedanken Bourdieus aufzeigen zu können. Ferner möchte ich zur Lektüre Bourdieus anregen. Schließlich und vor allem soll das Buch dazu auffordern, mit Bourdieu zu forschen und zu denken. Zwei Gründe rechtfertigen die Veröffentlichung von Sekundärliteratur zu Bourdieu. Erstens ist er mittlerweile ein Klassiker der Soziologie und gegenwärtig einer der am häufigsten zitierten Intellektuellen. Zweitens sind seine Schriften nicht leicht zu lesen und zu verstehen. Der bloße Status Bourdieus als Klassiker ist vielleicht noch kein hinreichender Beleg für seine Bedeutung. Ich meine allerdings, dass dieser Status eine sachliche Berechtigung hat. Die Höhe der Reflexion, die Bourdieu erreicht hat, sollte heute nicht mehr unterschritten werden. Man kann durchaus sagen, dass er die Messlatte für die Soziologie höher gehängt hat. Die Reflexionshöhe erschließt sich nicht von selbst. Viele der Werke Bourdieus wirken beim ersten Lesen naiv, als sei er nicht mit dem Wissen seiner Zeit vertraut gewesen und habe Probleme der Logik oder der Methode nicht gesehen. Methodologische Schwierigkeiten, Begriffsklärungen, strategische Überlegungen und Auseinandersetzungen mit der Geistesgeschichte finden in seinen Veröffentlichungen einen vergleichsweise geringen Raum. Die Leserschaft wird in erster Linie mit Ergebnissen konfrontiert, weniger mit Argumentationen und scholastischen Erörterungen. Die Werke verarbeiten schwierige und fundamentale Probleme der Erkenntnistheorie in Verbindung mit zum Teil banal anmutendem empirischen Material. Was beim Lesen begegnet, sind Daten und wenig konsistent gebrauchte, undefinierte Begriffe. Dass eine außergewöhnliche theoretische Arbeit dahinter steckt, fällt nicht ins Auge. So unwahrscheinlich es wirkt, einer der wichtigsten Bezugspunkte Bourdieus ist Immanuel Kant. Bourdieu hat nicht nur an empirischen Gegenständen, sondern auch an einer soziologischen Vernunftkritik gearbeitet. Er wollte das, was bei Kant reine, überzeitliche Erkenntniskategorien sind, auf soziale Verhältnisse <?page no="9"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M+Marginalie]__Rehbein__Soziologie_Bourdieus(3)___[Druck-PDF]/ 23.05.2016/ Seite 10 10 Einleitung zurückführen und gleichzeitig Kants Philosophie als Ausdruck einer bestimmten Zeit und sozialen Position in ihr aufweisen. Er erklärte, seine Arbeit sei »im Grunde immer der Versuch […], die Erkenntniswerkzeuge zum Erkenntnisgegenstand zu machen und die mit den Erkenntniswerkzeugen gegebenen Grenzen der Erkenntnis zu erkennen« (1997e: 221). Die soziologische Vernunftkritik war kein Selbstzweck, sondern als gelerntem Philosophen reichte Bourdieu die unreflektierte Fortführung (irgend) einer soziologischen Tradition nicht aus. Er wollte die Grundlagen der eigenen Erkenntnis kritisch beleuchten und möglichst weit gehend ausweisen. Indem Bourdieu in den Arbeiten der soziologischen Tradition unhinterfragte oder nicht überzeugende Voraussetzungen aufdeckte, vermied er sie und aus ihnen resultierende Unzulänglichkeiten der Forschung. Hieraus hat er eine regelrechte Methode gemacht, die an Gaston Bachelard anschließt. Er kontrastierte zwei einander widersprechende Ansätze der Tradition, um ihre Stärken und Schwächen abzuwägen. Die theoretischen Folgerungen, die er aus der Kontrastierung zog, arbeitete er dann am empirischen Material ab, um dieses und die Theorie zugleich kritisch zu beleuchten und anzureichern. Man könnte sagen, dass Bourdieus Vorgehensweise zu einer Soziologie führte, die auf einer mittleren Ebene anzusiedeln ist. Sie steht zwischen Theorie und Empirie, Universalgeschichte und Momentaufnahme, Ethnologie und Soziologie, Globalem und Lokalem. Und ihre Theoreme haben eine mittlere Reichweite, sowohl örtlich wie zeitlich. Die mittlere Ebene ist mit einer Wissenschaftstheorie verknüpft, die nicht in Ableitungen und Substanzen, sondern in Konfigurationen und Relationen denkt. Der Ansatz scheint mir zukunftsweisend zu sein (vgl. Rehbein 2013). Die hier noch abstrakt wirkenden Bemerkungen zur Bedeutung Bourdieus werden im zweiten und dritten Kapitel ausführlich erläutert. Neben Bourdieus Bedeutung ist der beschwerliche Zugang zu seinen Gedanken eine Rechtfertigung für Sekundärliteratur. Seine Schriften sind keine erholsame Lektüre. Man möchte meinen, dass er sich ständig wiederholt, jede Wiederholung aber leicht variiert. Die Sätze sind lang und komplex aufgebaut, konsistente Erklärungen sind selten. Theoreme und Begriffe werden je nach empirischem Gegenstand und Ort in der Darstellung leicht modifiziert. Bourdieu hat seinen schwierigen Stil mit zwei Argumenten gerechtfertigt. Erstens wolle er sich auf diese Weise gegen böswillige Lesarten schützen, zweitens sei die Komplexität der sozialen Welt nur durch komplexe Sätze und Darstellungen wiederzugeben (1992b: 70ff; 1993b: 14, 37; Leitner 2000: 152). Die Komplexität wird noch dadurch gesteigert, dass Bourdieu versuchte, seine eigene Sichtweise und den jeweiligen Zweck in die Darstellung zu integrieren. Ferner bemühte er sich, soziologische Vernunftkritik Konfigurationen Komplexität <?page no="10"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M+Marginalie]__Rehbein__Soziologie_Bourdieus(3)___[Druck-PDF]/ 23.05.2016/ Seite 10 www.claudia-wild.de: [UTB-M+Marginalie]__Rehbein__Soziologie_Bourdieus(3)___[Druck-PDF]/ 23.05.2016/ Seite 11 Einleitung 11 gegen den Strom zu schwimmen, Elemente herrschender Diskurse zu vermeiden und möglichst schwer greifbare Termini zu verwenden (1993b: 38). Er gestand jedoch zu, dass letztlich nur wohlmeinende Leser und Leserinnen diese Maßnahmen begriffen-- also Menschen, die der Maßnahmen gar nicht bedürften (1993b: 14). Da seine Werke komplex, an die äußeren Umstände angepasst und eng mit der Empirie verwoben sind, ist es einfach, Bourdieu zu kritisieren. Es wimmelt in seinem Werk von Schwächen in der Argumentation, kleineren und größeren Widersprüchen, ungenügend belegten Aussagen. Wer nach der Widerlegung einer Aussage von Bourdieu ablässt oder sich ihm gar überlegen glaubt, wird den ungeheuren Reichtum seiner Werke nicht ergründen können. Er suchte stets, der Sache gerecht zu werden, anstatt auf Konsistenz zu beharren. Wie Jürgen Habermas sah er die soziale Welt auf eine ungeheuer komplexe und differenzierte Weise. Beide entsagten dem soziologischen Denkstil, die Vielfalt auf wenige Gesetze zu reduzieren. Bourdieus Begriffe arbeiten unentwegt, damit ändern sie sich, schillern, lassen sich nicht eindeutig definieren. Aus diesem Grund bringt es wenig, die einschlägigen Zitate anzuführen, um in Stein hauen zu können, was mit dem Begriff des Habitus oder dem des Kapitals gemeint ist. Man wird abweichende Zitate finden, die nicht weniger »richtig« sein müssen. Die Widerlegung und die Definition isolierter Elemente von Bourdieus Soziologie verkennen meines Erachtens die relationale und konfigurationale Denkweise. Vor allem aus diesem Grund möchte ich den Zusammenhang der Kerngedanken nachzeichnen, anstatt einen Überblick oder Definitionen anzubieten. Glücklicherweise sind fast alle Einführungen in Bourdieus Denken sehr gut und auf hohem Niveau. Bei UTB ist unlängst ein Buch für Anfänger erschienen (Fuchs-Heinritz, König 2005), auf das der vorliegende Band aufbaut. Ferner sei auf die großartige Einführung von Markus Schwingel (1995) und das leicht verständliche Werk von Christian Papilloud (2003) hingewiesen. In englischer Sprache sind unter anderem die Einführungen von Derek Robbins (1991), David Swartz (1997) und Deborah Reed- Danahay (2005) zu empfehlen. Schließlich bieten interessante Sammelbände, in denen Bourdieukenner über ihre Spezialgebiete schreiben, einen guten Überblick. Ich denke hier vor allem an die Bände von Klaus Eder (1989a), Gunter Gebauer und Christoph Wulf (1993), Ingo Mörth und Gerhard Fröhlich (1994), Uwe Bittlingmayer et al. (2002), Boike Rehbein, Gernot Saalmann und Hermann Schwengel (2003), Jörg Ebrecht und Frank Hillebrandt (2004), Margareta Steinrücke (2004) sowie Catherine Colliot-Thélène, Etienne François und Gunter Gebauer (2005). Das ist nur eine kleine Auswahl. Einführungen <?page no="11"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M+Marginalie]__Rehbein__Soziologie_Bourdieus(3)___[Druck-PDF]/ 23.05.2016/ Seite 12 12 Einleitung Inzwischen gibt es ein »Bourdieu-Handbuch« (Fröhlich, Rehbein 2009), in dem alle Grundbegriffe und Hauptwerke Bourdieus ausführlich erklärt werden. Das wie ein Lexikon aufgebaute Werk umfasst auch zahlreiche Einträge zu Einflüssen im Denken Bourdieus und zu seiner Rezeption. Als Einführung ist das Handbuch nicht geeignet, aber Anfänger können Erläuterungen von Begriffen und Texten finden, während Fortgeschrittene sich über Details und Zusammenhänge versichern können. Die Einträge im Handbuch wurden von anerkannten Experten und Expertinnen im deutschsprachigen Raum verfasst. Im Folgenden werde ich nicht an jeder Stelle auf die entsprechenden Artikel des Handbuchs hinweisen, denn man kann davon ausgehen, dass zu jedem wichtigen Begriff und Werk Bourdieus ein Artikel vorliegt, den man bei Interesse ergänzend lesen möge. Am besten ist es, Bourdieu selbst zu lesen. Um die genannten Hindernisse abzubauen, möchte ich zum Einstieg einige Texte empfehlen. Wer wenig Zeit hat und lediglich an einem Überblick interessiert ist, möge die Sammlung mit dem Titel »Praktische Vernunft« (1998c) lesen, dann »Die feinen Unterschiede« (1982c) und schließlich »Soziologische Fragen« (1993b). Wer etwas tiefer einsteigen will, kann nach dem Band über Algerien, »Die zwei Gesichter der Arbeit« (2000c), die Bücher »Die Illusion der Chancengleichheit« (1971), »Entwurf einer Theorie der Praxis« (1976), »Die feinen Unterschiede« (1982c), »Vom Gebrauch der Wissenschaft« (1998e) und »Der Staatsadel« (2004a) lesen. Am sinnvollsten ist die chronologische Lektüre, die gleichwohl systematisch orientiert ist und die Schriften chronologisch wie systematisch gruppiert. Das ist auch das Vorgehen, das in diesem Buch gewählt wurde. Der Aufbau des Buches versteht sich nicht von selbst. Zu den wichtigsten Lehren Bourdieus gehört die soziologische Selbstanalyse. Die sozialen Bedingungen der eigenen Sichtweise müssen hinterfragt werden, um nicht blind Vorurteile zu reproduzieren. Die Forderung mündet zwar in einen Zirkel-- weil auch die Selbstanalyse einen Standpunkt und dessen soziale Bedingungen voraussetzt- -, aber der Zirkel kann hermeneutischer, also fruchtbarer, Natur sein. Ich fühle mich durch diese Bemerkungen in die Pflicht genommen, einige der Voraussetzungen darzulegen, die ich in diesem Buch an Bourdieus Soziologie herantrage. Meine Perspektive auf die Soziologie Bourdieus ist zweifellos durch meine Ausbildung und durch meinen eigenen Umgang mit dieser Soziologie bestimmt. Mein Umgang ist nicht rezeptiv und nicht orthodox. Er beschränkt sich nicht auf die Lektüre und auf die Gegenstände, die Bourdieu durch seine eigenen Arbeiten gleichsam legitimiert oder gar geweiht hat. Wenn ich seine Soziologie auf die Grammatik, Südostasien, Aspekte der Globalisierung und globale Un- Bourdieu- Handbuch Selbstanalyse <?page no="12"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M+Marginalie]__Rehbein__Soziologie_Bourdieus(3)___[Druck-PDF]/ 23.05.2016/ Seite 12 www.claudia-wild.de: [UTB-M+Marginalie]__Rehbein__Soziologie_Bourdieus(3)___[Druck-PDF]/ 23.05.2016/ Seite 13 Einleitung 13 gleichheit übertrage, so überdehne ich sie vielleicht (Rehbein 2004, 2007, 2013, 2015; Rehbein, Sayaseng 2004; Rehbein, Souza 2014). Möglicherweise missdeute ich sie, um sie auf Gegenstände anzuwenden, für die sie nicht geschaffen wurde. Diese Möglichkeit sollte man beim Lesen zumindest im Hinterkopf behalten. Ich will gleichsam zu einem ähnlichen, aktiven Umgang mit Bourdieu anregen. Aus diesem Grund weise ich an vielen Stellen möglicherweise zu ausführlich auf Schwächen und Lücken in Bourdieus Werk hin. Die Hinweise sollten nicht als-- ohnehin vermessener-- Versuch einer Widerlegung oder Besserwisserei missverstanden werden, sondern als Aufforderung, an dieser Stelle weiterzudenken. Gleichzeitig nähere ich mich den Werken Bourdieus etwas vorsichtiger, als es die meisten Interpreten tun. In der Philosophie, die noch zur Promotion mein Hauptfach war, interpretiert man Texte auf recht philologische Weise. Das bedeutet beispielsweise, stets den Zusammenhang der Texte zu beachten, Interpretationen abzusichern und auf Mehrdeutigkeit zu achten. Meine Ausbildung nötigt mich dazu, nah am Text zu bleiben und Textstellen nicht eklektisch zusammenzusuchen. Meist werden in der Literatur zu Bourdieu Zitate relativ sorglos aus den verschiedensten Schriften und Perioden nebeneinander gestellt. Auf die orthodoxen Anhänger Bourdieus wird meine Interpretation seines Werks daher zugleich häretisch (oder nicht hinreichend loyal) und pedantisch wirken. Meine Herangehensweise an Bourdieus Schriften wird sicher zumindest unbewusst von meinem Bild des Menschen Bourdieu beeinflusst. Wenn ich hier aus meiner Erinnerung einige Umrisse dieses Bildes skizziere, möchte ich einen Eindruck des Menschen, aber auch meiner Perspektive auf ihn vermitteln, die möglicherweise verzerrend wirkt. Die kritische Aufarbeitung an der eigenen Perspektive lehrte Bourdieu in seiner letzten Vorlesung am Collège de France. In seinem postum veröffentlichten »Soziologischen Selbstversuch« (2002b) führte er die soziologische Selbstanalyse exemplarisch an seiner eigenen Biographie durch. Auch wenn zweifellos manch ein Aspekt der Biographie im Rückblick verfälscht wurde, scheint mir das Werk ihre wichtigsten Konturen nachzuzeichnen. Es bietet nicht nur einen guten Überblick über Bourdieus Lebensgeschichte, sondern auch eine leicht zugängliche Anwendung seiner Soziologie. Bourdieu verkörperte seine Lehre. Er war den wissenschaftlich Interessierten in seiner Umgebung ein Vorbild, indem er seine Forschung mit großem Ernst und außergewöhnlichem Engagement verfolgte. »Pierre Bourdieu war Tag und Nacht Wissenschaftler.« (Jurt 2003b: 170) Dabei war er persönlich bescheiden und uneitel. Stets trug er ein einfaches Oberhemd mit Sakko, durch seine Kleidung fiel er unter keinen Umständen auf. der Mensch Bourdieu <?page no="13"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M+Marginalie]__Rehbein__Soziologie_Bourdieus(3)___[Druck-PDF]/ 23.05.2016/ Seite 14 14 Einleitung Im Gegensatz zu vielen berühmten Pariser Intellektuellen legte er auf eine modische Inszenierung seiner Person keinen Wert. (Und Mode hat in Paris einen anderen Stellenwert als in Gelsenkirchen). Sein Blick war immer wach, seine Ausstrahlung wohlwollend und zurückhaltend. Bei Menschen, die ihn nur kurz trafen, wird er keine nachhaltige Wirkung hinterlassen haben. Das galt umso mehr bei Vorträgen und Vorlesungen, die selten so eindrucksvoll waren wie die von Derrida oder Deleuze. Bourdieu rang oft nach Worten, verhaspelte sich, schweifte ab und war undeutlich. Die mündliche Undeutlichkeit war für ihn teilweise, wie im Schriftlichen, Programm. Er wollte nicht leicht verstanden werden, um weniger leicht missverstanden zu werden. Seine Zuhörer- und Leserschaft sollte sich bemühen müssen, eigene Erkenntnis zu erarbeiten, anstatt leicht zugängliche Resultate zu schlucken: »ich sage meinem Publikum aus Prinzip immer das, was am schwierigsten zu verdauen ist« (2003a: 79). Bourdieus ausgeprägte Selbstreflexivität erwuchs gleichsam aus seinem eigenen Habitus. Man kann vielleicht sogar behaupten, dass sich in ihr die Verwunderung über sich selbst ausdrückte. Ein Landjunge hatte es auf den begehrtesten Soziologie-Lehrstuhl ganz Frankreichs gebracht. Bourdieu betonte immer wieder, dass er sich im akademischen Umfeld fremd fühlte. Die Verhaltens- und Denkweisen seiner Kolleginnen und Kollegen, die ihnen zur zweiten Natur geworden waren, betrachtete er mit innerer Distanz. Die selbstverständlichen Modi wissenschaftlichen Arbeitens, von der passiven Lektüre über die Zitierweise bis hin zur monologischen Forschung, waren ihm gerade nicht selbstverständlich. Er prüfte die Begriffe, Denk- und Verhaltensweisen, die er gelernt hatte, immer wieder mit kritischem Blick und Distanz. Eben das ist mit Selbstreflexivität gemeint. Im Laufe der Zeit wurde die Selbstreflexion theoretischer, indem Bourdieu sie mit seiner soziologischen Theorie auflud. Er betrachtete also sein eigenes Tun, wie er das der anderen sozialen Akteurinnen und Akteure betrachtete-- und in gewisser Weise auch umgekehrt. Einem Menschen wie Bourdieu fliegen nur wenige Herzen zu. Die Zuneigung seiner Umgebung hat er sich im wahrsten Sinne erarbeitet. Wer ihn nämlich bei der Arbeit erlebt hat, musste beeindruckt sein. Es ging ihm um die Sache, nicht um seine eigene Person. Gleichzeitig waren ihm alle Menschen seiner Umgebung in ihren persönlichen Anliegen wichtig. Und schließlich-- um diese fast pathetische Heranführung abzurunden-- konnte man sich seinem moralisch-politischen Impuls kaum entziehen, der sich durchaus in Marx’ Forderung verbalisieren lässt, »alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist« (Marx 1976: 385). Und wer von Bourdieus Feuer erst einmal angesteckt war, konnte es schwerlich wieder ersticken. Es <?page no="14"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M+Marginalie]__Rehbein__Soziologie_Bourdieus(3)___[Druck-PDF]/ 23.05.2016/ Seite 14 www.claudia-wild.de: [UTB-M+Marginalie]__Rehbein__Soziologie_Bourdieus(3)___[Druck-PDF]/ 23.05.2016/ Seite 15 Einleitung 15 kam nur vor, dass die Besessenheit, mit der Bourdieu seine Forschung verfolgte, Menschen in seiner Umgebung die Luft zum Atmen nahm. Die anderen seiner Schülerinnen und Schüler, Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter haben mit seinem Tod 2002 einen »Vater«, ein Vorbild und einen Freund verloren. Die Stelle, die er im Raum einnahm, ist leer geblieben. So scheint es angemessen. Das Buch ist großenteils systematisch aufgebaut, bemüht sich aber darum, die Systematik mit Bourdieus Denkweg zu verknüpfen. Die ersten sieben Kapitel markieren Schritte in Bourdieus Denken, die teilweise gleichzeitig begonnen und teilweise gleichzeitig durchgeführt wurden, wobei das achte Kapitel sich auf die Rezeption seiner Forschung bezieht. Obwohl Bourdieus Werk eine außergewöhnliche Einheit aufweist, werden Grundbegriffe und Theoreme selten in zwei Arbeiten genau gleich vorgebracht, weil die jeweilige Stoßrichtung unterschiedlich war. Das ist ein sachlicher Grund dafür, nicht beliebig Zitate aus verschiedenen Arbeiten miteinander zu kombinieren und zur gegenseitigen Erläuterung heranzuziehen. Einige Missverständnisse in der Sekundärliteratur erwachsen aus dieser philologischen Unbekümmertheit, die durch die Einheitlichkeit von Bourdieus Werk gefördert wird. Im Folgenden soll vorsichtiger operiert werden. Die jeweiligen Denkschritte werden fast ausschließlich an einzelnen Arbeiten oder an Arbeiten aus derselben Periode demonstriert. Das gilt etwas weniger für die Kapitel zwei und drei, in denen die erkenntnistheoretischen und begrifflichen Grundlagen erläutert werden. Aber auch die Abschnitte dieser beiden Kapitel konzentrieren sich jeweils auf ein Buch und ziehen weitere Arbeiten nur heran, um die Weiterentwicklung von Bourdieus Denken darzulegen. Das Vorgehen bringt mit sich, dass einige bedeutende Werke Bourdieus nicht ausführlich diskutiert werden, allen voran »Die Regeln der Kunst« (1999) und die »Meditationen« (2001f ). Das erste Kapitel versucht, die Geburt wesentlicher Gedanken Bourdieus in Algerien nachzuzeichnen, wo er seine ersten Forschungen durchgeführt hat. Das zweite Kapitel beschäftigt sich mit seiner Erkenntnis- und Wissenschaftstheorie, die er in Grundzügen nach seiner Rückkehr aus Algerien ausgearbeitet hat. Im ersten Theorieentwurf Bourdieus sind die meisten der Grundbegriffe enthalten, die im dritten Kapitel skizziert werden. Die folgenden drei Kapitel resümieren Bourdieus Forschungen zu drei wichtigen Themengebieten: zum Bildungswesen, zu den Lebensstilen und zum symbolischen Universum. Das fünfte Kapitel (zu den Lebensstilen) ist hauptsächlich ein Kommentar der »Feinen Unterschiede«. Das siebte Kapitel ist Bourdieus politischer Soziologie (oder soziologischer Politik) gewidmet, die sein letztes Lebensjahrzehnt charakterisiert. Im letzten Kapitel Aufbau <?page no="15"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M+Marginalie]__Rehbein__Soziologie_Bourdieus(3)___[Druck-PDF]/ 23.05.2016/ Seite 16 16 Einleitung wird die Rezeption seiner Werke, insbesondere in Deutschland skizziert. Dabei wird auch gezeigt, wie man mit Bourdieu arbeitet und arbeiten kann. Jedes Kapitel beginnt mit einer Einführung, die in den ersten Kapiteln eher der Lebensgeschichte Bourdieus, danach eher dem Zusammenhang zwischen den Gedanken und Kapiteln gewidmet ist. Der Hauptteil jedes Kapitels gliedert sich in mehrere Abschnitte, die sich auf ein Thema oder ein Werk konzentrieren. Man könnte bildlich sagen, das Buch entfalte sich und ziehe sich wieder zusammen. Es geht aus von Bourdieus Begegnung mit dem Kolonialismus, aus der seine Soziologie erwuchs, und schließt im siebten Kapitel mit seiner Kritik an einer gegenwärtigen Form des Kolonialismus. Die Kapitel zwei und sechs beziehen sich auf den Bereich des Symbolischen, das zweite Kapitel auf die Theorie, das sechste auf die Praxis. In den Kapiteln drei und fünf werden die wichtigsten Begriffe Bourdieus erläutert, im früheren abstrakt, im späteren in Verbindung mit dem empirischen Material. Das vierte Kapitel beschäftigt sich mit dem Angelpunkt der bourdieuschen Soziologie, der Lehre von der Reproduktion sozialer Ungleichheit. Die Kapitel greifen ineinander und kommunizieren gleichsam unterirdisch miteinander, können aber auch unabhängig voneinander gelesen werden. Allerdings sollte-- wie bei Bourdieu-- kein Satz ohne das Ganze des Buches als absolut und uneingeschränkt gültig verstanden werden. Die Bücher Bourdieus werden nach dem Erscheinungsjahr zitiert- - möglichst aus der deutschen Übersetzung. Die Verweise in Klammern enthalten Jahreszahlen (und zumeist Buchstaben), die sich auf die Literaturliste am Ende des Buches beziehen. Zitate sind- - moderat- - der neuen Rechtschreibung angepasst, um den Lesefluss zu erleichtern. Ein »Fn« nach der Seitenzahl bedeutet, dass sich die entsprechende Stelle in einer Fußnote findet. Bourdieus Auffassungen werden um der Lesbarkeit willen nicht durchgehend im Konjunktiv wiedergegeben. Damit hängt auch ein häufiger Zeitenwechsel zusammen. Von der in Vergangenheitsformen referierten Lebensgeschichte wird zur Darstellung der Soziologie im Präsens übergegangen-- und zurück. Die Grenzen sind dabei fließend. Aus stilistischen Gründen habe ich nicht immer neben der männlichen auch die weibliche Form benutzt. Das wird aus dem Zusammenhang ersichtlich. Für die Lektüre des Manuskripts und kritische Anmerkungen danke ich Gerhard Fröhlich, Rolf-Dieter Hepp, Karsten Kumoll, Gernot Saalmann und Kai Thyret. Zahlreiche Aspekte dieses Buches habe ich mit verschiedensten Menschen besprochen, deren Anregungen und Informationen auf die eine oder andere Weise in den Text eingegangen sind. Hierfür danke ich Carina Braun, Patrick Champagne, Gunter Gebauer, Remi Lenoir, Jochen <?page no="16"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M+Marginalie]__Rehbein__Soziologie_Bourdieus(3)___[Druck-PDF]/ 23.05.2016/ Seite 16 www.claudia-wild.de: [UTB-M+Marginalie]__Rehbein__Soziologie_Bourdieus(3)___[Druck-PDF]/ 23.05.2016/ Seite 17 Einleitung 17 Rehbein, Franz Schultheis, Kristina Schulz, Michael Vester, Loïc Wacquant und Anja Weiß. Danken und gedenken will ich an dieser Stelle der 2005 verstorbenen Steffani Engler. Des Weiteren danke ich Joseph Maran und den Teilnehmern und Teilnehmerinnen am Jahresprojekt über »Zeichen der Herrschaft« (Heidelberg/ Freiburg). Auch meine Lehrveranstaltungen waren in dieser Hinsicht förderlich. Mein ganz besonderer Dank gilt allen Studierenden, die im Sommersemester 2005 mein Seminar über Bourdieu an der Universität Freiburg besucht und ihre Auffassungen eingebracht haben. Das Seminar war Grundlage der ersten Auflage dieses Buches. <?page no="17"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M+Marginalie]__Rehbein__Soziologie_Bourdieus(3)___[Druck-PDF]/ 23.05.2016/ Seite 18 <?page no="18"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M+Marginalie]__Rehbein__Soziologie_Bourdieus(3)___[Druck-PDF]/ 23.05.2016/ Seite 18 www.claudia-wild.de: [UTB-M+Marginalie]__Rehbein__Soziologie_Bourdieus(3)___[Druck-PDF]/ 23.05.2016/ Seite 19 19 1 Von der Praxis der Ökonomie zur-Ökonomie der Praxis Das Kapitel zeichnet die Entstehung von Bourdieus Soziologie in Algerien nach. Ohne die Ursprünge dieser Soziologie zu kennen, ist es schwer zu verstehen, warum sie später genau die Gestalt annahm, in der sie heute bekannt ist. Es ist durchaus angemessen, die algerischen Schriften als »Kristallisationskern« der gesamten Theorie Bourdieus zu bezeichnen (Schultheis 2000: 65; 2003a: 26). 1 Die Theorie hat sich, so Schultheis, »spiralförmig« um diesen Kern entwickelt. Tatsächlich weisen die algerischen Schriften selbst eine derartige Entwicklung auf. Um die Entwicklung bildlich zu beschreiben, ist vielleicht ein Terminus passender, der von Bourdieu in seinem ersten Buch verwendet wird und gleichzeitig seine Vorstellung der sozialen Welt gut ausdrückt: der des »Kaleidoskops« (1958: 82). Bereits dieses erste Buch, so könnte man sagen, ist der Kristallisationskern, um den das Kaleidoskop von Bourdieus Theorie heranwuchs. Der Kern umfasst eine Kombination aus soziologischer Begrifflichkeit, Erkenntnistheorie, Instrumenten, quantitativer Empirie und Ethnologie. In Algerien begann Bourdieu mit Ethnographie, die sogleich um theoretische, methodologische und erkenntnistheoretische Erwägungen ergänzt wurde und ihn zu quantitativen Erhebungen führte. In diesem Spannungsfeld prägte Bourdieu seine Begrifflichkeit, deren Kern bereits in seinem ersten Buch (1958) zu verorten ist. Der Rest des Kapitels zeichnet die Ethnologie, theoretische und empirische Soziologie sowie die Methodologie Bourdieus in Algerien nach. Der Erkenntnis- und Wissenschaftstheorie ist das nächste Kapitel gewidmet, das sich allerdings nicht nur auf Algerien beschränkt. Pierre Bourdieu wurde am 1.8.1930 in einem Dorf namens Denguin geboren. Das Dorf liegt in der historischen Landschaft Béarn in den westlichen Pyrenäen. Die Familie des Vaters, Albert Bourdieu, betrieb seit Generationen Landwirtschaft. Albert Bourdieu, dessen Bruder den Hof der Familie erbte, wandte sich von der Landwirtschaft ab und wurde Postbeamter. Alberts Frau, Noémie, war eine gebildete Protestantin, blieb aber Hausfrau. Pierre Bourdieu hätte in dieser Umgebung bestenfalls eine Karriere in der Lokalverwaltung oder als Kaufmann und die Heirat mit der Dorfschönheit erhoffen dürfen. Schlimmstenfalls wäre er zur Landwirtschaft zurückgekehrt. Da er in der Familie intellektuell gefördert wurde und sich als guter Schüler erwies, konnte er auf die bessere Variante des Lebenslaufs hoffen. 1 Siehe auch Neckel (2002: 30). Kristallisationskern Kaleidoskop Familie <?page no="19"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M+Marginalie]__Rehbein__Soziologie_Bourdieus(3)___[Druck-PDF]/ 23.05.2016/ Seite 20 20 1 Von der Praxis der Ökonomie zur-Ökonomie der Praxis Nach der Grundschule rieten die Lehrer, ihn auf das Gymnasium in der nächstgelegenen Stadt zu schicken. Von 1941 bis 1947 war Bourdieu in einem Internat untergebracht, dem Lycée von Pau. Da auch hier seine schulischen Leistungen außergewöhnlich waren, empfahl er sich für eine Laufbahn, die bereits die Hoffnungen überstieg, die er sich auf Grund seiner Herkunft machen durfte. Schon in Pau, so erinnerte sich Bourdieu in seinem »Soziologischen Selbstversuch« (2002b: 100ff ), war er an die Grenzen seiner Herkunft gestoßen. Nur wenige Provinzler wie er schafften den Sprung ins Gymnasium. Eine noch deutlichere Trennlinie in der französischen Gesellschaft als die zwischen Stadt und Land verlief (und verläuft) zwischen der Provinz und Paris. Den entscheidenden Sprung tat Bourdieu, als er 1948 in das Pariser Lycée Louis-le-Grand eintrat. An dieser Institution waren zahlreiche Geistesgrößen der französischen Geschichte, von Voltaire bis Sartre, auf das Studium vorbereitet worden. Hier las Bourdieu die großen Vertreter der zeitgenössischen französischen Phänomenologie, Jean- Paul Sartre und Maurice Merleau-Ponty. Er beschäftigte sich dann auch mit dem Begründer der Phänomenologie, Edmund Husserl, den er auf Deutsch las und in Auszügen übersetzte. 2 Da die französische Phänomenologie von marxistischen Einflüssen geprägt war, beschäftigte sich Bourdieu in dieser Zeit auch mit dem frühen Marx (1992b: 16). Bourdieu schloss die Schule 1951 ab-- als ein Bildungstitel noch die Zugangsberechtigung zu den höheren Sphären der Gesellschaft darstellte. Im Grunde hatte es Bourdieu zu diesem Zeitpunkt geschafft. Er war in der Bildungselite angekommen, die in Frankreich seit Jahrhunderten einen Großteil der gesellschaftlichen Elite insgesamt stellt. 1951 bis 1954 studierte Bourdieu Philosophie an der Faculté des lettres der Sorbonne. Außerdem wurde er zum innersten Heiligtum der französischen Geisteswissenschaften zugelassen, der Ecole normale supérieure (ENS) in Paris. Nahezu gleichzeitig mit Bourdieu besuchte Jacques Derrida die ENS, etwas früher hatte Michel Foucault dort studiert. Die Sorbonne und die ENS befinden sich-- symbolträchtig-- im Zentrum von Paris zwischen dem Panthéon (in dem die Größen Frankreichs beerdigt sind) und der Kirche Notre-Dame. Der Sohn eines Dorfpostlers und einer protestantischen Mutter befand sich im intellektuellen Zentrum der »Grande Nation«. Auch hier hatte er Erfolg. 1954 bestand er mit Auszeichnung die Agrégation in Philosophie, die zum Eintritt in den Staatsdienst berechtigt 2 Bourdieus Deutschkenntnisse sind Gegenstand der Spekulation. Loïc Wacquant bestätigt Bourdieus eigene Behauptung, er habe Husserl auf Deutsch gelesen-- und später für sein Buch über Heidegger (1988b) auch dessen Werke (persönliche Mitteilung). Schule Studium <?page no="20"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M+Marginalie]__Rehbein__Soziologie_Bourdieus(3)___[Druck-PDF]/ 23.05.2016/ Seite 20 www.claudia-wild.de: [UTB-M+Marginalie]__Rehbein__Soziologie_Bourdieus(3)___[Druck-PDF]/ 23.05.2016/ Seite 21 1 Von der Praxis der Ökonomie zur-Ökonomie der Praxis 21 und einen Status verleiht, der dem des chinesischen Mandarins vergleichbar ist. Seine Abschlussarbeit schrieb Bourdieu über »Leibniz als Kritiker von Descartes« (1992b: 17). Gleich nach der Agrégation erhielt er die dem Abschluss entsprechende Anstellung. Ein Jahr lang unterrichtete er an einem Provinzgymnasium in Alliers. Der weitere Aufstieg (der ihn entweder an eine Universität in der Provinz oder ein Gymnasium in Paris geführt hätte) wurde 1955 durch die Einberufung zum Militärdienst unterbrochen. Die Ausbildung zum Reserveoffizier lehnte er ab. Daher sollte er-- was immerhin noch standesgemäß gewesen wäre-- dem psychologischen Dienst zugeordnet werden, aber er wurde nach Algerien geschickt-- vermutlich weil er gleich nach seiner Einberufung Streit mit seinen Vorgesetzten bekam (2002b: 46). Algerien war eine französische Kolonie. Nach dem Zweiten Weltkrieg war die algerische Bevölkerung- - wie die anderer französischer Kolonialgebiete- - nicht bereit, die Rückkehr der Besatzer zu akzeptieren. Eine Besonderheit Algeriens bestand darin, dass hier sehr viele Franzosen lebten, nahezu zehn Prozent der Gesamtbevölkerung, und die Kolonie als sehr wichtig betrachtet wurde. Die Franzosen bildeten die Oberschicht im Land. Sie bekleideten alle Führungspositionen und verdienten im Durchschnitt 20mal mehr als die Einheimischen (2003a: 14). Längst war eine Schicht von Algeriern herangewachsen, die eine europäische Bildung genossen und die europäischen Lehren von der Emanzipation kennen gelernt hatten. Ferner hatte der Zweite Weltkrieg die Besiegbarkeit Frankreichs gezeigt. 1954, kurz nach der Unabhängigkeit Nordvietnams, brach der offene Krieg aus. Wenige Monate später trat Soldat Bourdieu seinen Dienst an. Er musste allerdings nicht in die Kampfhandlungen eingreifen, sondern verrichtete Bürotätigkeiten in der Heeresverwaltung. Die Kolonialkriege hatten Frankreichs Intellektuelle schon seit einem Jahrhundert gespalten. Die Franzosen hatten 1830 Algier besetzt, das Land aber erst 1870 ganz unter ihre Kontrolle gebracht. In der Folge wurde das Kolonialreich ständig vergrößert, auch unter sozialistischen Regierungen. Die linksgerichteten Kolonialisten argumentieren, die französische Herrschaft bringe den »Wilden« Zivilisation, Aufklärung und Freiheit. Diese Position wurde noch zur Zeit von Bourdieus Militärdienst vertreten. Die Mehrheit der französischen Intellektuellen-- allen voran Sartre-- verurteilte den algerischen Kolonialkrieg jedoch entschieden. Zu ihnen zählte auch Bourdieu (1992b: 17f ). Allerdings stellte er sich nicht hinter die Bildungselite, zu der er jetzt ja gehörte. Es gab ihm vielmehr zu denken, dass die Intellektuellen in Paris den Kampf eines Volks unterstützten, von dem sie nichts wussten. Er selbst war nun täglich mit den Schrecken des Krieges und der kolonialen Unterdrückung konfrontiert. Über das, was er sah, war Militärdienst <?page no="21"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M+Marginalie]__Rehbein__Soziologie_Bourdieus(3)___[Druck-PDF]/ 23.05.2016/ Seite 22 22 1 Von der Praxis der Ökonomie zur-Ökonomie der Praxis er zutiefst entsetzt. Eben deshalb schienen ihm die rein theoretisch und/ oder ideologisch begründeten Urteile Sartres und seiner Mitstreiter unangemessen. »Gegenüber dem traditionellen Philosophieren über Gott und die Welt hatte ich das Glück, quasi-metaphysische Probleme und existenzielle Fragen auf sehr dramatische Weise im Konkreten gestellt zu sehen. Daraus erwuchs mir dann eine philosophische Anthropologie, aber im guten Sinne des Wortes, d. h. nicht als irgendeine vage Spekulation, sondern als Reflexion angesichts dramatischer menschlicher Lebensumstände, die mich tief erschütterten.« (Bourdieu, zitiert in Schultheis 2003a: 35) Zu Beginn seines Kriegsdienstes versuchte Bourdieu, innerhalb der Armee gegen den Krieg zu agitieren. Dabei hatte er wenig Erfolg, weil die meisten anderen Soldaten eine rassistische und gleichsam professionelle Einstellung nach Algerien mitgebracht hatten (2002b: 47). Zunehmend wandte er sich von den Franzosen ab und den Algeriern zu. Sein Vorgesetzter gewährte ihm dabei eine gewisse Freiheit, weil er ebenfalls aus dem Béarn stammte (2002b: 48). Der Übergang aus dem französischen Milieu zur empirischen Beschäftigung mit dem Alltag der Menschen in Algerien war vielleicht die entscheidende Wende in Bourdieus intellektueller Laufbahn. Er hatte immer noch vor, nach der Beendigung des Militärdienstes seine Tätigkeit als Philosophielehrer bzw. -professor fortzusetzen (ebd.). Während seiner Beschäftigung mit dem algerischen Alltag rückte er von dem Vorhaben ab und brach, wie er rückblickend schrieb, »mit der gelehrten Sicht der Dinge« (2002b: 45f ). Auf Grund seiner Herkunft hatte er sich in dieser »hochmütigen« Welt ohnehin nie zu Hause gefühlt (2002b: 50). »Wenn es etwas Einzigartiges an meiner Karriere gibt, dann die Tatsache, dass ich mich mit der Universität niemals in dem Maße identifiziert habe wie die meisten der von ihr Verzauberten.« (Bourdieu, zitiert in Jurt 2003b: 8) Nun beschäftigte er sich mit Menschen, die denen seiner Heimat sehr viel ähnlicher waren als die Pariser Intellektuellen. Franz Schultheis charakterisierte das Verhältnis Bourdieus als »Wahlverwandtschaft« (2003b). 3 Mit größtem Eifer stürzte sich Bourdieu in sein neues Tätigkeitsfeld. Er wollte ein allgemeines Werk über Algerien schreiben, um die französischen 3 Gernot Saalmann merkt mit Recht an, dass der ländliche Hintergrund Bourdieus ihn vielleicht so sehr für die Untersuchung algerischer Dorfgemeinschaften prädisponierte, dass der Ausdruck Wahlverwandtschaft möglicherweise zu schwach ist (persönliche Mitteilung). empirische Beschäftigung mit dem Alltag der Menschen in-Algerien <?page no="22"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M+Marginalie]__Rehbein__Soziologie_Bourdieus(3)___[Druck-PDF]/ 23.05.2016/ Seite 22 www.claudia-wild.de: [UTB-M+Marginalie]__Rehbein__Soziologie_Bourdieus(3)___[Druck-PDF]/ 23.05.2016/ Seite 23 1 Von der Praxis der Ökonomie zur-Ökonomie der Praxis 23 Intellektuellen mit der algerischen Wirklichkeit zu konfrontieren. Später meinte er, seine Untersuchung sei eher zivil (im Sinne von staatsbürgerlich) als politisch motiviert gewesen. Die Franzosen hätten damals wenig über Algerien gewusst und für eine politische Meinung eigentlich keine Grundlage gehabt (2003a: 42). Dieser aufklärerische und politische Impetus wissenschaftlicher Arbeit ist ein Grundmerkmal von Bourdieus Soziologie. Er motivierte schon sein erstes Buch. Das Besondere dieser Motivation-- der Unterschied etwa zu Sartre- - besteht eben darin, dass Bourdieu keine Urteile als gegeben oder gar axiomatisch voraussetzen wollte; sondern er war der Meinung, dass wissenschaftliche Tätigkeit das beste Mittel sei, menschliches Leiden zu erkennen und letztlich zu beseitigen. In Bezug auf seine Arbeit in Algerien schrieb er: »Eine anscheinend abstrakte Analyse kann einen Beitrag zur Lösung der dringlichsten politischen Probleme leisten.« (2003a: 45; vgl. Schultheis 2003b) Ich werde im zweiten Kapitel ausführlich darauf eingehen. Das allgemeine Werk erschien 1958, gleich nach Beendigung des Militärdienstes, in der renommierten Reihe »Presses universitaires de France« (PUF-- die UTB in Deutschland vergleichbar ist) unter dem Titel »Sociologie d’Algérie«. Später hielt Bourdieu seinen wissenschaftlichen Anspruch dieser Zeit für vermessen. Das Buch selbst bezeichnete er als »die schlechte Strategie eines outsiders«, der die Regeln der akademischen Welt nicht kennt (1992b: 24). Nach dem Militärdienst blieb Bourdieu in Algier, wo er bis 1960 eine Assistentenstelle an der Universität erhielt. Diese Anstellung verschaffte ihm die Möglichkeit, seine Forschungen fortzuführen und zu einem vorläufigen Abschluss zu bringen. Er begann mit ethnographischen Studien, weitete den Bereich seiner Begriffe, Methoden und Instrumente aber rasch aus. Es entbrannte in ihm ein unstillbarer Wissensdurst (2002b: 55). In den folgenden Jahren arbeitete er täglich vom frühen Morgen bis spät in die Nacht, verschlang unzählige Bücher und versuchte, alle Aspekte der algerischen Gesellschaft zu ergründen. Er sagte sich unentwegt: »Armer Bourdieu, mit den armseligen Instrumenten, die du hast, bist du der Sache nicht gewachsen, man müsste einfach alles wissen und alles verstehen, die Psychoanalyse, die Ökonomie-…« (2003b: 36) Die Mittel der Wissenschaft sollten ihn in die Lage versetzen, die Wirklichkeit zu verstehen. Sie sollten ihn aber auch vor ihr schützen, ihm Halt geben und ihn vor den Versuchungen der Ideologie bewahren. Ein prinzipielles Vertrauen in die Wissenschaft behielt er sein Leben lang bei. Er schloss sich den Mitarbeitern des französischen Statistikamts (INSEE) an, die in Algerien arbeiteten. Mit ihnen führte er eine groß angelegte Fragebogenerhebung über die algerischen Haushalte durch. Mit einem algerischen Intellektuellen, Abdelmayek Sayad, schloss er enge Freundschaft. Gemeinsam wandten sie Algier Assistentenstelle <?page no="23"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M+Marginalie]__Rehbein__Soziologie_Bourdieus(3)___[Druck-PDF]/ 23.05.2016/ Seite 24 24 1 Von der Praxis der Ökonomie zur-Ökonomie der Praxis sich der qualitativen Forschung zu. Ferner beschäftigte sich Bourdieu mit Max Weber, übersetzte Teile seiner »Protestantischen Ethik« (in 1988; zuerst 1920) und übertrug ihre Fragestellung auf Algerien. Er arbeitete gewissermaßen an allen Fronten gleichzeitig. Die Grundzüge seiner Soziologie entwickelten sich im Zusammenhang mit dieser Arbeit. Vom ersten bis zum letzten in Algerien entstandenen Buch ist eine gedankliche Entwicklung und eine thematische Verschiebung festzustellen, obwohl alles Spätere zumindest ansatzweise im ersten Werk enthalten ist. Das ist nicht verwunderlich, weil Bourdieu nahezu gleichzeitig an allen Schriften arbeitete. Die Gleichzeitigkeit zeichnete seine Arbeitsweise aus. Dadurch gewinnen seine Werke nicht nur ihren ungewöhnlichen Reichtum und Tiefgang, sondern auch einen inneren Zusammenhang, der durch Bourdieus ständige wissenschaftstheoretische Reflexion noch verstärkt wird. Hierzu gesellt sich der Umstand, dass Bourdieu fast alle Schriften in Gemeinschaftsarbeit produzierte. Er selbst garantierte ihren inneren Zusammenhang, während die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die in immer wechselnden Kombinationen beteiligt waren, zu ihrer Vielfalt beitrugen (siehe Einführung zum nächsten Kapitel). 1.1 Einsicht: Ungleichzeitigkeit Die Beschäftigung mit der algerischen Gesellschaft führte Bourdieu zur Soziologie. Nach seinen ersten ethnographischen Studien beschäftigte er sich mit Max Webers »Protestantischer Ethik« (in 1988). Die Frage nach den Bedingungen der Entstehung des Kapitalismus, die Weber am historischen Material untersucht hat, konnte Bourdieu an die algerische Gegenwart richten. Damit befand sich Bourdieu im Zentrum der Soziologie. Die Soziologie entwickelte sich als Disziplin großenteils durch das Bemühen, die Entstehung des Kapitalismus und ihre Folgen theoretisch einzuholen. Sie erwuchs gleichsam aus der Entfaltung des Marktes und der Wirtschaftswissenschaften. Der Kapitalismus bildete nicht nur das Kernproblem der frühen soziologischen Klassiker (insbesondere Marx, Durkheim, Simmel und Weber), sondern kann auch heute noch als Horizont der soziologischen Arbeit gelten. Bourdieu reiht sich in dieser Hinsicht nahtlos in die Folge der Klassiker ein. Er wandelte sich vom Philosophen zum Soziologen, als er in Algerien die Ausbreitung des Kapitalismus unmittelbar vor Augen geführt bekam. Er erkannte, dass die sozialen Probleme nicht nur aus dem Kolonialkrieg erwuchsen, sondern auch aus der Konfrontation zweier unvereinbarer Wirtschaftsweisen, besser gesagt: aus der Verdrängung einer »traditiona- Verdrängung einer »traditionalen« Wirtschaft durch eine kapitalistische <?page no="24"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M+Marginalie]__Rehbein__Soziologie_Bourdieus(3)___[Druck-PDF]/ 23.05.2016/ Seite 24 www.claudia-wild.de: [UTB-M+Marginalie]__Rehbein__Soziologie_Bourdieus(3)___[Druck-PDF]/ 23.05.2016/ Seite 25 1.1 Einsicht: Ungleichzeitigkeit 25 len« Wirtschaft durch eine kapitalistische. Aus der Untersuchung dieser Frage wollte er nicht nur etwas über Algerien lernen, sondern auch Erkenntnisse über den Kapitalismus insgesamt gewinnen (2003a: 43). Er erkannte, dass die algerische Gesellschaft höchst unterschiedlich vom Kapitalismus durchdrungen war und die soziale wie ökonomische Ungleichheit mit der Ausbreitung des Kapitalismus zunahm. Bourdieu versuchte nun, alle Aspekte des Phänomens zu untersuchen. Er beschäftigte sich mit Unterschieden in der Arbeitsmoral, im ökonomischen Denken, im Konsumverhalten, mit Klassenstrukturen, Klassenbewusstsein, Lebensführung und vielem mehr. Die zahlreichen Arbeiten, die ab 1958 in rascher Folge erschienen, enthalten seine wichtigsten Forschungsergebnisse. Für sich wären sie wertvolles und höchst interessantes wissenschaftliches Material, höben sich von der Masse soziologischer Literatur jedoch kaum ab. Zwei Aspekte kamen zusammen, um den »Kristallisationskern« zu bilden, der die neuartige und wegweisende soziologische Theorie Bourdieus ermöglichte. Ein Aspekt war Bourdieus Position zwischen den Disziplinen, Ideologien und sozialen Welten, der andere war eine wissenschaftliche Einsicht. In Algerien entwickelte Bourdieu eine eigene Fragestellung. Man kann sie als entwicklungssoziologisch oder wirtschaftssoziologisch bezeichnen. Aber Bourdieu beschäftigte sich kaum mit den Diskussionen, die in diesen Bereichen geführt wurden. Vielmehr übertrug er die ethnologischen Methoden auf die Fragestellung Max Webers, welche gesellschaftlichen Voraussetzungen gegeben sein müssen, damit kapitalistisches Handeln möglich ist. Aus dieser Kombination entwickelte sich Bourdieus Frage. Sie wurde dadurch ermöglicht, dass er nicht den vorgezeichneten Wegen folgte, sondern völlig disparate und unzusammenhängende Bereiche miteinander verband. Er selbst meinte später, die Eigentümlichkeit seines Ansatzes sei dadurch ermöglicht worden, dass die Frage nach der Entstehung des Kapitalismus in Algerien weder von der Ethnologie noch von der Soziologie besetzt gewesen sei (2003a: 45). Ende der Fünfzigerjahre sei die Soziologie für die Industrienationen, die Ethnologie für die anderen zuständig gewesen; Orientalismus und philologische Orientierung prägten die Auseinandersetzung mit Algerien (ebd.: 40). Daher konnte er sich »frei« bewegen. Als Philosoph kam er nach Algerien, um dort als Soldat zu dienen. Als Soldat entdeckte er die Leiden der Algerier unter der Kolonialherrschaft. Um die Leiden zu verstehen, bediente er sich ethnologischer Methoden. Diese Methoden wandte er auf eine soziologische Fragestellung an, die sich in eine kulturtheoretische verwandelte. Daraufhin bediente er sich quantitativer soziologischer Methoden. All diese Momente gingen in sein Denken ein und verbanden sich später zu seiner soziologischen Theorie. <?page no="25"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M+Marginalie]__Rehbein__Soziologie_Bourdieus(3)___[Druck-PDF]/ 23.05.2016/ Seite 26 26 1 Von der Praxis der Ökonomie zur-Ökonomie der Praxis Bourdieu selbst hat immer wieder deutlich gemacht, dass er die ausgetretenen Pfade mied. Ein wenig Ehrgeiz, wissenschaftliches Neuland zu betreten, wird dabei eine Rolle gespielt haben. Ein größeres Gewicht aber dürfte seiner eigentümlichen Laufbahn zukommen, die ihn dazu bestimmte, sich in jeder Umgebung fremd zu fühlen. In seinem »Selbstversuch« (2002b) erklärt er das Phänomen sehr plausibel in Begriffen seiner eigenen Theorie. Seine Denkrichtung, so Bourdieu, habe sich vor allem durch intellektuelle Abneigungen und Verweigerungen ergeben, die er selten benannt habe, beispielsweise gegen de Sade, Bataille und Klossowski (2002b: 10). Die Abneigung gegen einige Denker führte nicht dazu, dass er sich anderen anschloss. Vielmehr fühlte er sich in keiner Schule zu Hause. Sein früh entwickelter Eigensinn zeigt sich beispielsweise darin, dass er bereits in seinem ersten Buch, »Sociologie d’Algérie« (1958) die Unterdrückung der Frau konstatierte, für ein soziologisches Problem hielt und als solches analysierte (1958: 14f, 86). Das Thema war seinerzeit keineswegs in Mode und schon gar nicht mit akademischen Weihen gesegnet. Dennoch widmete ihm Bourdieu 1962 einen eigenen Aufsatz. Und als es später in Mode kam, bewies Bourdieu seinen Eigensinn erneut, indem er sich weigerte, die geläufigen Positionen anzuerkennen. In seinem 1998 veröffentlichten Buch über »La domination masculine« (1998b; dt. 2005b) greift er auf seine Forschungen in Algerien zurück, um standardisierten und vereinfachenden Sichtweisen des Themas entgegenzuwirken. Die eigentümliche Kombination verschiedener Denkweisen, Erkenntnisinteressen und Methoden ermöglichte Bourdieus Einsicht. Eine Einsicht ist weder eine Theorie noch ein empirisches Datum, sondern die Erfassung eines Zusammenhangs zwischen verschiedenen Phänomenen oder Begriffen. Viel mehr als eine Einsicht darf man als Wissenschaftler oder Wissenschaftlerin kaum erhoffen. Auf der Grundlage einer Einsicht lassen sich Phänomene anders deuten und erklären. Ein Beispiel für eine Einsicht ist Thomas Kuhns Erkenntnis, dass wissenschaftlicher Fortschritt keine kumulative Entwicklung ist, sondern Brüche beinhaltet, an denen eine alte Theorie durch eine neue ersetzt wird. Und der Keim eines Bruchs ist eben eine Einsicht. Sie kann in alte Theorien integriert werden, vermag aber auch als Zeitbombe zu fungieren, die langfristig zum Bruch führt. Bourdieus Einsicht kann man mit dem Terminus »Ungleichzeitigkeit« umschreiben. Kapitalismus und traditionale Wirtschaft waren nicht passgenau auf zwei soziale Gruppen verteilt, sondern variierten nach verschiedenen Parametern. Ferner konnten Menschen in einigen Bereichen kapitalistisch handeln, ohne das konsistent zu tun oder entsprechend zu denken. Bourdieu schloss: Das Beharrungsvermögen erlernter Denk-, Handlungs- und Wahrnehmungsmuster hat zur Folge, dass Menschen an sozialen Wandel nicht Ungleichzeitigkeit <?page no="26"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M+Marginalie]__Rehbein__Soziologie_Bourdieus(3)___[Druck-PDF]/ 23.05.2016/ Seite 26 www.claudia-wild.de: [UTB-M+Marginalie]__Rehbein__Soziologie_Bourdieus(3)___[Druck-PDF]/ 23.05.2016/ Seite 27 1.1 Einsicht: Ungleichzeitigkeit 27 hinreichend angepasst sind. Und das gilt natürlich insbesondere für die Menschen, die dem Wandel passiv ausgesetzt sind und ihn nicht beeinflussen können. 1962 schrieb er in einem Aufsatz über die Revolution in Algerien: »Die Durchsetzung einer gemeinsamen Sprache ist nicht gering zu schätzen. Aber man darf dabei nicht vergessen, dass sich Verhaltensweisen, Haltungen und Kategorien des Denkens nicht so leicht verändern lassen.« (2003a: 32f ) Rückblickend meinte er, erkannt zu haben, dass am Schnittpunkt zwischen vorkapitalistischer und kapitalistischer Ökonomie der Habitus nicht aus den Strukturen abgeleitet werden konnte (2000c: 21). Verallgemeinert lautete die Erkenntnis, dass soziale und kulturelle Merkmale keine festgeschriebene Bedeutung und keine konstanten Träger haben, sondern je nach sozialem Kontext, historischem Zeitpunkt und Lebensphase variieren können. Sogar innerhalb der Individuen selbst konnten verschiedene Schichten existieren. 1964 stellte Bourdieu fest, dass in jedem Subjekt die alte und die neue Logik, das alte und das neue Ethos koexistierten, die kulturelle Syntax und Sprache bestehe aus unvereinbaren Fragmenten (1964a: 163). Später konnte Bourdieu die Einsicht durch Ernst Cassirers relationale Wissenschaftstheorie begründen und zu einer konsistenten Theorie ausbauen. Diese Entwicklung wird Gegenstand des zweiten und dritten Kapitels sein. Die Einsicht stellte sich nicht von selbst ein. Sie benötigte wohl gut zehn Jahre, um zu reifen. Obgleich bereits der Anfang des ersten Buchs den Keim zur Einsicht enthält, ist sie noch nicht Grundlage der Untersuchung. Die algerische Gesellschaft lasse sich schwer analysieren, heißt es dort, weil sich die Trennlinien in vielfacher Weise überschnitten (1958: 6). Dann aber folgt eine recht klare und kategorische Gliederung in traditionale und moderne Gesellschaft. Die nächsten Veröffentlichungen hatten einen entweder politischen, ethnologischen oder soziologischen Schwerpunkt und ließen die transdisziplinäre Einsicht nicht zur Geltung kommen. Sie beschäftigten sich in erster Linie mit jeweils einem Widerspruch der Kolonialgesellschaft, mit dem Krieg (1959), mit dem Geschlechterverhältnis (1962a), mit der Klassenstruktur (1963), mit der Migration und dem Stadt-Land-Gegensatz (1964a). Erst in der Untersuchung über die Entstehung eines kalkulierenden Denkens (»Algérie soixante«) ist die Einsicht und damit auch Bourdieus Einsicht voll entfaltet. 4 Im Folgenden werden die wichtigsten Ergebnisse von Bourdieus Veröffentlichungen über Algerien skizziert, die teils Etappen auf dem Weg zur Entfaltung der Einsicht, teils Elemente eines Ganzen markieren. Sie mün- 4 Die Untersuchung gelangte allerdings erst 1977 zur Veröffentlichung (deutsch 2000c). Foucault scheint den revolutionären Charakter der Schrift erkannt zu haben, da er sich schon Mitte der Sechzigerjahre für seine Publikation einsetzte (Schultheis 2000: 184). <?page no="27"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M+Marginalie]__Rehbein__Soziologie_Bourdieus(3)___[Druck-PDF]/ 23.05.2016/ Seite 28 28 1 Von der Praxis der Ökonomie zur-Ökonomie der Praxis den in den Versuch, die Ungleichzeitigkeit strukturalistisch zu erklären. Da Bourdieus Einsicht jedoch nur fruchtbar zu machen war, wenn man an der Differenz zwischen Individuum und Struktur festhielt, war der Versuch von vornherein zum Scheitern verurteilt. Das Scheitern ermöglichte Bourdieu die Entwicklung seiner eigenen Theorie, deren erste Fassung in der »Theorie der Praxis« (1976; 1972) vorgelegt wurde. Sie wird im dritten Kapitel behandelt. 1.2 Traditionen Zunächst hatte Bourdieu die Einsicht in eine Ungleichzeitigkeit innerhalb der algerischen Gesellschaft, die durch die Frage angeregt worden war, warum die Menschen nach westlichen Maßstäben in der Wirtschaft irrational handelten, obwohl sich die westliche Marktwirtschaft bereits ausgebreitet hatte. Er entdeckte, dass eingeübte Verhaltensweisen noch fortbestehen, auch wenn sich die Bedingungen bereits geändert haben. Die Menschen in Algerien handelten nicht irrational, sondern sie folgten den Verhaltensmustern, die sie gelernt hatten und über Jahrhunderte die einzig angemessenen gewesen waren. In dieser Einsicht liegt der Ursprung des Habitusbegriffs, wie auch Bourdieu selbst später meinte (Schultheis 2000: 166; siehe drittes Kapitel). 5 Mit der Einsicht drängte sich darüber hinaus die Erkenntnis auf, dass die Wirtschaft kein selbständiges System ist, das vollständig aus sich heraus erklärbar wäre. Vielmehr müssen auch die jeweiligen soziokulturellen Bedingungen betrachtet werden. Nur so wird beispielsweise das »irrationale« Verhalten der Menschen in Algerien erklärbar. Zu Beginn war Bourdieus Beschäftigung mit Algerien noch stark von einem Dualismus geprägt: »[D]ie Erscheinungen des sozialen, ökonomischen und psychologischen Zerfalls müssen offenbar verstanden werden als Resultat des Zusammenwirkens von ›externen Kräften‹ (Eindringen der westlichen Zivilisation) und von ›internen Kräften‹ (ursprüngliche Strukturen der einheimischen Zivilisation).« (1959: 54; übersetzt von Fuchs-Heinritz, König 2005: 14) 5 Beate Krais (2004a: 99f; 2004b: 189) und Sighard Neckel (2002: 30) siedeln die Entwicklung des Habituskonzepts ebenfalls im Zusammenhang mit der algerischen Erfahrung, mit dem Auseinanderfallen von erworbenen Handlungsmustern und neuen Anforderungen, an. Auch wenn der Begriff in den Schriften dieser Zeit noch nicht in systematischer Absicht auftaucht, ist die Erkenntnis der Sache nach hier gewonnen Habitusbegriff <?page no="28"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M+Marginalie]__Rehbein__Soziologie_Bourdieus(3)___[Druck-PDF]/ 23.05.2016/ Seite 28 www.claudia-wild.de: [UTB-M+Marginalie]__Rehbein__Soziologie_Bourdieus(3)___[Druck-PDF]/ 23.05.2016/ Seite 29 1.2 Traditionen 29 Auf der einen Seite standen die Franzosen, auf der anderen die Algerier. Dem entsprachen zwei Wirtschaftsweisen, eine kapitalistische und eine traditionale. Bourdieu meinte, die koloniale Gesellschaft sei durch einen ökonomischen Dualismus gekennzeichnet (1962 in 2003a: 37). Eine einflussreiche Strömung der gerade entstehenden Entwicklungssoziologie suchte die Kolonialgesellschaften auf genau diese Weise zu verstehen, als duale Gesellschaften, und die Wirtschaftssysteme als duale Ökonomien. Man kann von Glück sagen, dass Bourdieu die Diskussionen in der Entwicklungssoziologie entweder nicht kannte oder sich nicht intensiv mit ihnen beschäftigte. Sonst hätte er vermutlich nicht erkennen können, dass der Dualismus die vielfältigen Verschränkungen von Tradition und Moderne verdeckt. 6 Wenn Algerien in den Fünfzigerjahren nur als Konfrontation von kolonialen und traditionalen Formen zu verstehen war, musste sich Bourdieu auch mit der traditionalen Gesellschaft beschäftigen. Das tat er, wie wir gesehen haben, mit größtem Engagement. Die ersten Ergebnisse veröffentlichte er in der »Sociologie d’Algérie«. Das Werk ist noch stark dualistisch geprägt. Auch in den folgenden Werken bemühte sich Bourdieu noch, die Grundzüge der vorkapitalistischen Gesellschaft herauszuarbeiten-- die es so schon lange nicht mehr geben konnte, war doch die algerische Küste mindestens seit dem antiken Griechenland integraler Bestandteil der Mittelmeerzivilisation und seit 1830 unter französischem Einfluss gewesen. Auch wenn die Ergebnisse einen idealisierten Charakter haben und nicht mehr den Standards der heutigen Ethnologie genügen, sind sie sehr interessant. Die traditionale Gesellschaft untersuchte Bourdieu bei den Kabylen, einer ethnischen Gruppe im Bergland Nordalgeriens. Die Kabylei war wegen ihrer Topographie in den Fünfzigerjahren noch recht isoliert. Seine Bevölkerung lebte vom Anbau von Oliven, Feigen und Gemüse (1958: 9ff ). Nur wenige Menschen waren zum Islam übergetreten. So meinte Bourdieu, bei den Kabylen einen »ursprüngliche Lebensweise« vorzufinden. Seine Beschreibung der Lebensweise erinnert stark an Emile Durkheim, indem die traditionale Gesellschaft als eine Art totale Gemeinschaft mit mechanischer Solidarität gedeutet wird (1958: 22ff ). Durkheim hatte die Auffassung vertreten, dass es in traditionalen Gesellschaften wenig Spielraum für individuelle Abweichungen gebe und die Gesellschaft gleichsam die Substanz der Individuen sei. Selbst wenn Bourdieu für seine »Sociologie d’Algérie« Durkheim nicht gelesen haben sollte-- was unwahrscheinlich ist-- waren seine Gedanken doch so verbreitet, dass sie Bourdieu sicher vertraut waren. Zweifellos bildeten sie den theoretischen Boden, auf 6 Siehe hierzu die immer noch wichtige Diskussion in Evers (1980). ökonomischer Dualismus Sociologie d’Algérie Durkheim <?page no="29"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M+Marginalie]__Rehbein__Soziologie_Bourdieus(3)___[Druck-PDF]/ 23.05.2016/ Seite 30 30 1 Von der Praxis der Ökonomie zur-Ökonomie der Praxis dem seine Einsicht heranwuchs. Denn Bourdieu behielt stets die Auffassung bei, dass die Menschen ihre Denk-, Wahrnehmungs- und Verhaltensmuster durch soziale Einübung erwarben. In diesem Sinne blieb für ihn die Gesellschaft die Substanz der Individuen. Die Existenz ungleichzeitiger Gesellschaften in Algerien führte ihn jedoch zu einer Neubestimmung von Durkheims Konzeption. Die Menschen erwerben Bourdieu zufolge zwar ihre Denk-, Wahrnehmungs- und Verhaltensmuster durch soziale Einübung, aber diese Muster erweisen sich als träge, indem sie sich nicht gleichzeitig mit den sozialen Verhältnissen ändern. Die Gesamtheit der Muster ist eben der Habitus (siehe 3.1). Der Habitus wird von der Gesellschaft »eingepflanzt«, so dass ein Mensch sozial determiniert ist, aber nach seiner Einpflanzung entwickelt er eine eigene Dynamik, die nicht mit der Dynamik der Gesellschaft identisch ist. Der Habitus bestimmt das Denken, Wahrnehmen und Verhalten, aber er beinhaltet nicht die zukünftigen Bedingungen, auf die er reagieren muss. Die Bedingungen sind vielleicht determiniert, und der Habitus ist determiniert, aber ihr Zusammentreffen eröffnet verschiedene Möglichkeiten mit unterschiedlichen statistischen Wahrscheinlichkeiten. Wenn sich die Gesellschaft nicht verändert, wirkt der Habitus determinierend. Denn die Bedingungen der Einübung sind auch die Bedingungen der Anwendung, das gegenwärtige Denken, Wahrnehmen und Verhalten ist mit dem zukünftigen identisch. Genau das behauptet Bourdieu von den Kabylen (1958: 22ff ). Hätte er auf der Basis von Durkheim lediglich ethnologische Feldforschung betrieben, so hätte er den vorangehend skizzierten Gedanken kaum entwickeln können. Es ist wiederum die Vielfalt der Ansätze und Probleme, die ihn über Durkheim hinausführte. Bourdieu kam zum Ergebnis, dass die Familie der Kern und das Modell der gesamten kabylischen Gesellschaft sei (1958: 11, 20f ). Das ist nicht überraschend, denn es gilt für die meisten oder vielleicht alle traditionalen Gesellschaften. In der kabylischen Gesellschaft würden, so Bourdieu, alle Verhältnisse nach dem Vorbild der Verwandtschaftsverhältnisse bestimmt, die Menschen könnten sich Beziehungen sogar nur nach diesem Muster vorstellen (1958: 21). Das Individuum sei zuerst und vor allem Mitglied einer Familie und sodann ein Mitglied der Gruppe (des Dorfes). Daher empfinde es die Regeln der Gemeinschaft nicht als Zwang, sondern als Teil seines eigenen Bewusstseins (1958: 22). Das Gemeinschaftsgefühl mache politische und rechtliche Institutionen überflüssig (1958: 24). Die Angst vor der Gemeinschaft-- insbesondere vor dem Ausschluss aus der Gemeinschaft-- sei bereits eine hinreichende Garantie für Konformität (1958: 22, 86). Mangelnde Konformität beschmutze das eigene Ansehen und sei ein Angriff auf die Gemeinschaft (1958: 25; 2000c: 46). Diese doppelte Siche- Gesellschaft Substanz der Individuen Familie als Kern der kabylischen Gesellschaft <?page no="30"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M+Marginalie]__Rehbein__Soziologie_Bourdieus(3)___[Druck-PDF]/ 23.05.2016/ Seite 30 www.claudia-wild.de: [UTB-M+Marginalie]__Rehbein__Soziologie_Bourdieus(3)___[Druck-PDF]/ 23.05.2016/ Seite 31 1.2 Traditionen 31 rung bezeichnete Bourdieu als »Ehre« (1958: 23). Sie sei der einzige Verhaltenskodex. 7 Tatsächlich aber sei die Ehre auch sozial abgestuft, und diese Hierarchie scheint mir eine wichtige zusätzliche Garantie der Konformität zu sein. Jede Familie habe einen Chef, ebenso jeder Clan und jeder Stamm (1958: 12, 61). Hierbei handelt es sich um die jeweils ältesten Männer. Sicherlich hatten auch die anderen Mitglieder der Gemeinschaft ihre eindeutig festgelegte (niedrigere) soziale Position (Rehbein 2004). Jede kabylische Großfamilie besitze ein Stück Land, meist ein bis zwei Hektar (1958: 11). Durch die Besitzgemeinschaft und die Anpassung des Konsums an den Jahreszyklus gebe es keinen Hunger. Da sich diese Verhältnisse prinzipiell nicht änderten, sei eine Ökonomie im Sinne eines vorausschauenden Kalküls unnötig und sogar sinnlos (1958: 11, 95; 2000c: 45). Diese Strukturen schienen nun auch dort erhalten zu bleiben, wo die Moderne Einzug hielt- - wenn die Gemeinschaften zumindest teilweise fortbestanden. Dort erwarben die Algerier und Algerierinnen weiterhin ihre Denk-, Wahrnehmungs- und Handlungsmuster von ihren Vorfahren, die kulturellen Werte würden mündlich übermittelt (1958: 83). Selbst in den Städten kümmerten sich die Menschen nicht um Produktivität, Effizienz und Gewinn, sie behielten den gewohnten Tagesablauf bei (1958, 55f ). Was aber geschah dort, wo die traditionalen Gemeinschaften zerstört wurden oder wo der Druck zur Anpassung an die Moderne zu groß wurde? Aus den traditionalen Strukturen fielen vor allem die Menschen heraus, die eine Lohnarbeit finden mussten und nur instabile Beschäftigung fanden. Sie waren vereinzelt. »Der Mensch der ländlichen Gemeinschaften, der stark in gemeinschaftliche Bande verwoben ist, eng von den Alten angeleitet und von einer Fülle von Traditionen unterstützt wird, macht dem isolierten und hilflosen Herdenmenschen Platz, der aus den organischen Einheiten herausgerissen ist« (2003a: 26). Die Auswirkungen der Vereinzelung, des Kapitalismus, der Arbeitslosigkeit, der sozialen Differenzierung untersuchte Bourdieu in den Jahren nach dem Erscheinen der »Sociologie d’Algérie« genauer. Besser gesagt, er führte die begonnenen Detailuntersuchungen fort. In ihnen tritt sein Ansatz 7 Interessant ist auch Bourdieus Verallgemeinerung des Ehrbegriffs auf jegliches Verhalten, auch gegenüber der Natur: »Les règles du rapport avec la terre sont les règles même du rapport avec autrui, celles de l’honneur: c’est le même verbe qabal (présenter, offrir, faire face, se présenter) qui sert à dire la bonne attitude, tant à l’égard des hommes qu’à l’égard de la terre.« (1964a: 88f ). Ehre <?page no="31"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M+Marginalie]__Rehbein__Soziologie_Bourdieus(3)___[Druck-PDF]/ 23.05.2016/ Seite 32 32 1 Von der Praxis der Ökonomie zur-Ökonomie der Praxis schon recht deutlich hervor, auch wenn seine Einsicht noch nicht ganz entfaltet ist. Er fand heraus, dass gerade der Wechsel von Arbeit und Arbeitslosigkeit die Traditionen zerstörte (1962b: 1039). Die Angst vor Arbeitslosigkeit bestimmte zunehmend das Denken und Handeln der städtischen Bevölkerung (1963: 268). Die in prekären Verhältnissen lebenden Menschen brachen mit der Tradition, obwohl sich ihre Lebensweise auf den ersten Blick nicht von der traditionalen unterschied: unregelmäßiger Wechsel von Arbeit und »Freizeit«, keine Planung der Zukunft, keine Ersparnisse, keine Reflexion auf die Bedingungen und erst recht keine Bemühung zur Veränderung der Bedingungen (1962b). Unter den oberflächlichen Ähnlichkeiten verbargen sich jedoch grundlegende Differenzen: Die traditional Lebenden waren immer »beschäftigt«, auch wenn sie nicht arbeiteten, sie waren in eine Gemeinschaft integriert, sie mussten für ihren Lebensunterhalt keine Schulden machen, sie brauchten sich nicht um ihre Zukunft zu kümmern, während die Tagelöhner, Arbeitslosen und von Arbeitslosigkeit Bedrohten nicht für ihre Zukunft sorgen konnten, unehrenhaft Schulden machen mussten und vereinzelt waren (ebd.). Da sie nicht für die Zukunft planen konnten, entwickelten sie auch kein kapitalistisches Kalkül. Das war nur den Unternehmern und den stabil Beschäftigten möglich (siehe unten; vgl. Rehbein 2004). Hier sah Bourdieu die entscheidende Trennlinie in der algerischen Gesellschaft, zumindest in der städtischen. Sie ließ sich genauer bestimmen als Differenz zwischen fester Stelle und Gelegenheitsarbeit. Quantitativ ermöglichte erst ein Einkommen über 600 Francs eine rationale Planung der Zukunft und damit ein kapitalistisches Kalkül (1963: 361ff ). Die Trennlinie wird in Abbildung 1 veranschaulicht. Menschen oberhalb der Trennlinie nahmen die kapitalistische Denkweise an und wiesen den geringsten Unterschied zwischen Ideologie und Verhal- Wechsel von Arbeit und Arbeitslosigkeit kein kapitalistisches Kalkül Ökon. Druck maximal minimal Familieneinommen Weniger als 300 F 301- 600F 601- 800 F (Schwelle der Planbarkeit) Mehr als 801 F Arbeitende Personen Maximale Anzahl Minimale Anzahl (eine Person in stabiler Beschäftigung) Maximale Anzahl Ziel der ökon. Tätigkeit Bedürfnisbefriedigung Maximierung Abbildung 1: Ökonomischer Druck und Kalkül (nach 1963: 337). <?page no="32"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M+Marginalie]__Rehbein__Soziologie_Bourdieus(3)___[Druck-PDF]/ 23.05.2016/ Seite 32 www.claudia-wild.de: [UTB-M+Marginalie]__Rehbein__Soziologie_Bourdieus(3)___[Druck-PDF]/ 23.05.2016/ Seite 33 1.2 Traditionen 33 ten auf. Dennoch machte sich auch bei ihnen noch die Trägheit des traditionalen Habitus bemerkbar. Die Menschen kehrten jederzeit zu wirklichen oder vermeintlichen Traditionen zurück, wenn die kapitalistischen Bedingungen und Handlungsmöglichkeiten verschwanden (1963: 366). Der Kapitalismus entwickelte sich also nicht gleichmäßig. Man konnte nicht einmal sagen, dass er auf dem Land langsam und in der Stadt schnell entstand. Eher entwickelte er sich in verschiedenen Klassen unterschiedlich schnell, genauer gesagt: die Entwicklung hing von den Existenzbedingungen der Menschen ab (2000c: 24f ). Bourdieu führte das kapitalistische Denken also nicht auf einen Geist und nicht auf eine Klasse zurück, aber auch nicht auf ein Bündel kultureller Merkmale. Er unterschied mehrere Klassen mit unterschiedlich ausgeprägtem kapitalistischen Denken, das wiederum der individuellen Laufbahn und den jeweiligen Bedingungen entsprechend noch einmal variierte. »Da alles Verhalten das Resultat einer Transaktion zwischen Muster und Situation ist und die Individuen gemäß ihren Fähigkeiten und ihrem Zustand mit sehr unterschiedlichen Situationen konfrontiert sind, wird das System der Verhaltensmuster, das gemeinsame Erbe, tendenziell durch Systeme ersetzt, die für jede Klasse spezifisch sind« (1963: 382; eigene Übersetzung). Als »Faktoren der Differenzierung« wirken sich dabei die ökonomische Notwendigkeit, die unterschiedlichen Arbeitsbedingungen, der Kontakt mit der europäischen Gesellschaft, das Einkommen, das Bildungsniveau und die Ideologie der Klasse aus (ebd.). Diese Gedankenfigur kommt der entfalteten Einsicht und dem Ansatz des reifen Bourdieu schon recht nahe. Auf der Basis seiner »Faktoren der Differenzierung« unterschied Bourdieu in der städtischen Gesellschaft Algeriens vier Klassen: Subproletariat, Proletariat und Semiproletariat (neue Arbeiter und traditionelle Arbeiter), Kleinbürgertum, Bourgeoisie (1963: 365ff ). Die Klassen bestimmten sich also nicht allein-- wie bei Marx-- durch ihren Besitz an Produktionsmitteln, aber auch nicht allein nach ihrem Einkommen. Bourdieu hielt auch nicht an der alten Einteilung in Stadt und Land bzw. westliche und traditionale Gesellschaft fest. Vielmehr überlagerten sich all diese Unterschiede mit weiteren wichtigen Differenzen. Diese differenzierte Betrachtung der Sozialstruktur ist ein wichtiger Beitrag Bourdieus zur Soziologie und hat die Sozialstrukturforschung nachhaltig verändert (siehe 5. Kapitel). Bourdieu stellte, wie wir gesehen haben, nicht beliebige Fragen. Ihn interessierte das Leiden der Menschen in der Kolonialgesellschaft. Das moralische Elend der Menschen schien ihm dabei noch gravierender als das Algeriens vier-Klassen <?page no="33"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M+Marginalie]__Rehbein__Soziologie_Bourdieus(3)___[Druck-PDF]/ 23.05.2016/ Seite 34 34 1 Von der Praxis der Ökonomie zur-Ökonomie der Praxis materielle Elend (2003a: 26). 8 Auch wenn er sich diesem Leiden auf eine innovative, eigensinnige Weise näherte, war er dabei alles andere als naiv. Die Frage nach dem Kapitalismus stellte er in enger Auseinandersetzung mit Max Weber. »Es war eine webersche Frage, die ich allerdings in marxschen Begriffen stellte- …« (Bourdieu, zitiert in Schultheis 2000: 166) Webers Antwort, dass die ethisch-religiöse Orientierung eine wichtige Rolle bei der Entstehung eines kapitalistischen Kalküls spiele, verwarf Bourdieu rasch. Algerien habe viel mit nicht-islamischen Gesellschaften gemeinsam, der Islam sei weder Ursache noch Folge der Sozialstruktur (1958: 96). Und die Sozialstruktur fasste Bourdieu in marxschen Begriffen. Aus heutiger Sicht erscheint der Verweis auf Marx vielleicht etwas irreführend, denn Ausführungen über »Das Kapital«-- also Begriffe wie Wert, Arbeitszeit, Profit-- sucht man in Bourdieus Frühschriften vergeblich. Mit dem Verweis auf Marx konnte nur der Klassenkampf gemeint sein. Während des algerischen Kolonialkriegs bis weit in die Siebzigerjahre hinein war die Frage nach der Revolution das beherrschende Thema der politischen Linken. Und das war keine Spinnerei Pariser Intellektueller, sondern rund um die Welt Realität. Nachdem das geographisch größte Land 1917 eine sozialistische Revolution erlebt hatte, folgte 1949 mit China das bevölkerungsreichste Land. Die französische Kolonie Indochina verlor 1954 Nordvietnam, während die Vereinigten Staaten die Teilung Koreas akzeptieren mussten. Überall in der »Dritten Welt« entstanden sozialistische Befreiungsbewegungen. Die USA, die 1945 Frankreich noch dafür getadelt hatten, seine Kolonialherrschaft wiederherstellen zu wollen, stellten sich wenig später auf die Seite der Kolonialherren. Nun hieß es für sie, Sozialismus oder Freiheit (Kapitalismus). Für die meisten Pariser Intellektuellen war die Frage längst beantwortet. Ihre Fragen lauteten, wo die Revolution stattfinden sollte, ob sie dem chinesischen oder dem sowjetischen Vorbild zu folgen hätte, ob die Bauern oder die Arbeiter sie vollziehen würden. Bourdieu konnte sich dem politischen Diskurs, der ja reale Grundlagen hatte, nicht entziehen. Er wollte nur nicht intuitiv Partei ergreifen, sondern die Fragen wissenschaftlich beantworten: »man musste die Frage beantworten, ob die Bauern oder das Proletariat die revolutionäre Klasse sind. Ich habe versucht, diese fast metaphysischen Fragen in wissenschaftliche Begriffe zu übersetzen.« (2003a: 44) Auch in dieser Hinsicht stand Bourdieu quer zu allen Fronten. Die »fast metaphysischen Fragen« mussten in Paris am Schreibtisch gelöst werden, während sich echte Wissenschaftler mit allem beschäftigten, nur nicht mit der Revolution. Wenn man sich mit der 8 Diese Auffassung verweist unmittelbar auf sein erst Jahrzehnte später verfasstes großes Werk über »Das Elend der Welt« (1997b). Siehe 7. Kapitel. Revolution <?page no="34"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M+Marginalie]__Rehbein__Soziologie_Bourdieus(3)___[Druck-PDF]/ 23.05.2016/ Seite 34 www.claudia-wild.de: [UTB-M+Marginalie]__Rehbein__Soziologie_Bourdieus(3)___[Druck-PDF]/ 23.05.2016/ Seite 35 1.2 Traditionen 35 Entstehung eines kapitalistischen Denkens beschäftigte, so war man Anhänger Max Webers, und wenn es um den Klassenkampf ging, musste man sich hinter Marx stellen. Und in Algerien stand man als Franzose auf der falschen Seite. Bourdieu missachtete diese eindeutigen Zuordnungen. Wenn Bourdieu Webers Frage »in marxschen Begriffen stellte«, so heißt das, dass er eine kapitalistische Wirtschaftsethik nicht in der Religion suchte, sondern in den Klassenkämpfen. Umgekehrt setzte er keineswegs die marxsche Lehre der zwei Klassen voraus, sondern suchte die Klassen empirisch zu bestimmen, und zwar nicht nur ökonomisch. Zu diesem Zweck ergänzte er die Fragebögen der großen statistischen Untersuchung über die algerische Bevölkerung um Fragen nach revolutionären Projekten. »Dabei habe ich festgestellt, dass das Subproletariat zwischen einem großen Veränderungswillen und einer fatalistischen Hinnahme der Welt, so wie sie ist, hin- und herschwankt.« (2003a: 44) Die Erkenntnisse über das algerische Subproletariat hat Bourdieu mit seiner Ethnologie der Kabylen und den Einsichten in die Entstehung des Kapitalismus zu einer vorläufigen Beschreibung der Sozialstruktur Algeriens insgesamt verknüpft, deren Grundzüge oben erwähnt wurden. Im Folgenden sollen die Ergebnisse noch etwas detaillierter betrachtet werden. Sie können unter drei Schlagworten zusammengefasst werden: Zerstörung der ländlichen Strukturen, Perspektivlosigkeit (der Landflüchtigen und der Subproletarier) und Folgen des Kolonialsystems. Die Zerstörung der ländlichen Strukturen kann nicht auf eine Ursache zurückgeführt werden. Viele Aspekte des Kolonialsystems griffen ineinander, die zusammen die Struktur einer Konfiguration oder eines Kaleidoskops bildeten (1958: 82). Bourdieu interessierte sich wenig für die Beschreibung der gesamten Konfiguration, sondern konzentrierte sich-- wie oben ausgeführt-- auf die Entstehung des Kapitalismus und das Klassenbewusstsein. Vor diesem Hintergrund war die Zerstörung ländlicher Strukturen insofern interessant, als sie Menschen aus den traditionalen Netzen befreite und zum Eintritt in kapitalistische Strukturen nötigte. Gleichsam nebenbei beobachtete Bourdieu, wie sich die »traditionale« Lebensweise auf dem Land änderte. Er erkannte beispielsweise, dass die Verwandlung von (zuvor gemeinschaftlichem) Grundbesitz in Eigentum die ländliche Sozialstruktur fundamental veränderte. Die Menschen gerieten in Versuchung, ihr Land, das jetzt ihr Eigentum war, unter dem Marktwert zu verschleudern, um Mittel für den augenblicklichen Konsum zu haben (2000c: 39). Und ehe sie sich’s versahen, standen sie ohne Land und ohne Geld da. Es bleiben die Auswege des-- traditionell verpönten-- Kredits und der Lohnarbeit. Bourdieu betrachtete die Registrierung des Grundbesitzes als eine Strategie der Kolonialverwaltung, das Land auf legalem Weg in den Besitz Zerstörung der-ländlichen Strukturen <?page no="35"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M+Marginalie]__Rehbein__Soziologie_Bourdieus(3)___[Druck-PDF]/ 23.05.2016/ Seite 36 36 1 Von der Praxis der Ökonomie zur-Ökonomie der Praxis der Weißen zu bringen, die über die finanziellen Mittel verfügten, es zu erwerben (1964a: 16). 9 Neben dem »Push-Factor« der legalen Enteignung wirkte Bourdieu zufolge der »Pull-Factor« des Konsums auf die jüngere Landbevölkerung (1963: 371f ). Dieser wurde noch verstärkt durch die westliche Bildung, die ältere Algerier nicht hatten. Dadurch wurde die traditionelle Hierarchie innerhalb der Familie und damit innerhalb der Gemeinschaft aufgeweicht (2000c: 80). Die Autorität und das Wissen der Älteren verloren an Wert. Das galt auch für die soziale Position der Bauern insgesamt, die über die neue Welt nichts wussten (1964a: 92f ). Die Stellung der Frau verbesserte sich durch die Aufweichung nicht unbedingt, weil ihre wirtschaftliche Abhängigkeit zunahm (2000c: 81f ). In traditionalen Gemeinschaften mussten Frauen keinen Schleier tragen, weil die Bereiche von Mann und Frau sozial klar getrennt waren. Da die Trennung in der Welt der Lohnarbeit und der Stadt nicht mehr aufrecht zu erhalten war, mussten die Frauen nun Schleier tragen oder ganz zu Hause bleiben, um der geltenden Deutung des Islam zu entsprechen (1964a: 132ff ). Schließlich wurden die ländlichen Strukturen durch den Krieg zerstört. Bis 1960 war insgesamt etwa ein Viertel der algerischen Bevölkerung umgesiedelt worden (1964a: 13). Ferner verursachten die Kriegshandlungen auch physische Zerstörung, verwandelten Bauern in Soldaten und verlangten nach neuen Organisationsformen. Die meisten Umgesiedelten fanden sich in Städten wieder, wo sie neben Angehörigen anderer Gemeinschaften und Clans wohnten, mit denen sie kein soziales Netz verband (1963). Bei den Menschen, die von ihrer traditionalen Gemeinschaft abgetrennt waren, ohne in neue Strukturen eingebunden zu werden, diagnostizierte Bourdieu eine objektive und subjektive Perspektivlosigkeit. Sie ist es, die er als »moralisches Elend« bezeichnete (siehe oben). Die in prekären Situationen lebenden Stadtbewohner (die Bourdieu als »Subproletariat« klassifizierte) waren am stärksten davon betroffen. Sie hatten weder objektive noch subjektive Möglichkeiten, ihre eigene Zukunft zu gestalten. Traditionales Handeln war entwertet und den Bedingungen nicht angepasst, für kapitalistisches Handeln fehlten die Mittel und die Kenntnisse (1963, insbesondere 347-361). 10 »Traditionalismus der Hoffnungslosigkeit und Mangel an Lebensentwürfen sind zwei Gesichter einer einzigen Wirklich- 9 Auch wenn der Prozess vermutlich etwas komplexer ablief, ist die scheinbar harmlose Verwandlung von Besitz in Eigentum doch ein wichtiger Mechanismus der Zerstörung traditionaler ländlicher Strukturen. (Vgl. hierzu und zum Folgenden Rehbein 2004.) 10 »Für die Angehörigen des Subproletariats steht das gesamte berufliche Dasein unter dem Stern des Zufälligen und Willkürlichen.« (2000c: 67) Perspektivlosigkeit <?page no="36"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M+Marginalie]__Rehbein__Soziologie_Bourdieus(3)___[Druck-PDF]/ 23.05.2016/ Seite 36 www.claudia-wild.de: [UTB-M+Marginalie]__Rehbein__Soziologie_Bourdieus(3)___[Druck-PDF]/ 23.05.2016/ Seite 37 1.2 Traditionen 37 keit.« (2000c: 85) Als virtuellen Fluchtpunkt des Daseins ermittelte Bourdieu die Arbeitslosigkeit (2000c: 95). Das Subproletariat war nicht an einem Aufstieg oder an einer Arbeit orientiert, sondern an der Furcht vor Arbeitslosigkeit. Die Wünsche und Hoffnungen der Menschen aber, die keine realen Möglichkeiten hatten, erwiesen sich in Befragungen als völlig irreal (2000c: 87ff ). Erst bei steigendem Einkommen waren sie erfüllbar. Diese Diagnose ist leider immer noch höchst aktuell. Die Folgen der Konfrontation von kapitalistischer und traditionaler Gesellschaft ergeben sich aus der voranstehend skizzierten Diagnose nahezu von selbst. Die Grundlage der traditionalen Wirtschaft und Gesellschaft, die Familie, wurde gelockert oder gar aufgelöst. Die Mitglieder einer Familie waren nicht mehr in ein klar strukturiertes Ganzes integriert, sondern mussten-- tendenziell allein-- auf dem freien Markt die Mittel zu ihrem Lebensunterhalt zu verdienen suchen (1963: 322f ). Der ökonomische Druck machte alte Verhaltensmuster sinnlos oder unmöglich, aber an ihre Stelle traten nicht unbedingt »rationale« kapitalistische Verhaltensmuster. Denn den meisten Menschen fehlten die subjektiven und objektiven Mittel, sich in der neuen Ordnung rational zu verhalten (1963: 338). Infolgedessen suchten viele Menschen in einem fruchtlosen Traditionalismus- - oder eher: Konservatismus (Saalmann 2005b)-- Zuflucht, während andere absurde Verhaltensweisen entwickelten (1963: 338; 1964a: 19). Eine gewisse Veränderung des traditionalen Habitus gelang in zwei Bereichen. Den ersten bildete der Konsum. Die Algerier kannten von der europäischen Lebensweise in erster Linie den Luxus, den sie in der Folge ebenfalls begehrten. Sie waren »kapitalistische Konsumenten, bevor sie kapitalistische Unternehmer« werden konnten (1963: 372; eigene Übersetzung). Diese Veränderung konnte in allen Klassen geschehen, am ehesten aber natürlich bei Menschen, die engen Kontakt mit der europäischen Bevölkerung hatten. Den zweiten Bereich der Veränderung bildete die europäische Arbeitswelt, insbesondere das Unternehmertum. Hierbei spielten das Militär und die Emigration eine nicht zu vernachlässigende Rolle (2000c: 14). 11 Allerdings gab es kaum algerische Unternehmer, da den Algeriern Kapital, Wissen und Führungsqualitäten fehlten (1963: 375). Im Handel und Handwerk hingegen blieben die traditionalen Verhaltensmuster noch weit gehend erhalten, weil der ökonomische Druck fehlte (1963: 11 In vielen Gesellschaften der globalen Peripherie setzt sich der kapitalistische Habitus über Menschen durch, die in westlichen Diensten stehen. Das Militär und die Arbeitsmigration sind neben internationalen Organisationen und Großunternehmen die treibenden Kräfte (siehe Rehbein 2004.) <?page no="37"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M+Marginalie]__Rehbein__Soziologie_Bourdieus(3)___[Druck-PDF]/ 23.05.2016/ Seite 38 38 1 Von der Praxis der Ökonomie zur-Ökonomie der Praxis 376). Der gesellschaftliche Aufstieg gelang also in erster Linie Menschen mit engem Kontakt zu Europäern, einer gewissen Bildung und Kenntnis der französischen Sprache (2000c: 116f ). Nur diesen Menschen schrieb Bourdieu ein revolutionäres Potenzial zu, weil sie mit den Europäern auf einer Ebene kommunizieren und realistische Forderungen erheben konnten. 12 Das Subproletariat konnte nur mit einer Sprache reagieren, die nicht mit seiner Wirklichkeit verknüpft war und nicht von ihm selbst stammte (2000c: 97f ). Ferner hatten die von ökonomischer Not geprägten Menschen keinen Blick für das Ganze, sondern nur für ihre unmittelbare Not (2000c: 101). »Mit einer Dauerstellung, geregeltem Lohn und mit dem Auftauchen realer Aufstiegsperspektiven kann ein weltliches, offenes und rationales Bewusstsein entstehen. Dann sieht man, wie die Widersprüche zwischen den maßlosen Erwartungen und den verfügbaren Möglichkeiten schwinden, zwischen den auf imaginärer Basis geäußerten Meinungen und den wirklichen Haltungen. Die Handlungen, Wertungen und Erwartungen sind einem Lebensplan untergeordnet. Dann, und nur dann, kann die revolutionäre Haltung die Flucht in den Traum ersetzen, die fatalistische Resignation oder das wütende Ressentiment […] Beschäftigungsstabilität und sicherer Lohn sind die Voraussetzung für den Zugang zu modernen Wohnformen, für die Gewöhnung an diese und für eine Lebensweise mit elementarem Komfort. Weil sie [die dauerhaft Beschäftigten] ihr Berufsleben mit der industriellen Gesellschaft in Kontakt bringt, konnten sie ferner moderne Techniken, Verhaltensmodelle und Ideale annehmen und integrieren« (2003a: 36). Auf dem Land waren die Folgen ähnlich vielfältig wie in der Stadt. In den Tälern, wo sich der Kontakt mit der kapitalistischen Gesellschaft unmittelbar vollzog, wurden die traditionalen Strukturen zerstört. Teilweise aber blieben sie erhalten, und zwar genau dort, wo die Menschen weiterhin als Bauern ihren eigenen Boden bestellten (1964a: 30, 76). Je mehr Familienmitglieder eine Lohnarbeit hatten oder suchten, desto mehr erodierten die alten Strukturen. Im Bergland war der Kontakt mit der kapitalistischen Gesellschaft weniger unmittelbar, so dass die alten Strukturen hier eher fortbestanden. Der traditionelle Gegensatz zwischen Berg- und Talbewoh- 12 »Die Anleitung durch die Alten wird durch die politische Erziehung ersetzt, durchgeführt von denen, die lesen können.« (2003a: 28) <?page no="38"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M+Marginalie]__Rehbein__Soziologie_Bourdieus(3)___[Druck-PDF]/ 23.05.2016/ Seite 38 www.claudia-wild.de: [UTB-M+Marginalie]__Rehbein__Soziologie_Bourdieus(3)___[Druck-PDF]/ 23.05.2016/ Seite 39 1.3 Der Geist des Kapitalismus 39 nern wurde dadurch noch verstärkt (1964a: 30). 13 Eine weitere Folge war die Entstehung des kapitalistischen Denkens, das Max Weber auch als »Geist des Kapitalismus« bezeichnet hat. Bourdieus Untersuchungen dazu ist der folgende Abschnitt gewidmet. 1.3 Der Geist des Kapitalismus Bourdieu hat schnell erkannt, dass sich der »Geist des Kapitalismus« kulturell und sozial nicht einheitlich verbreitete. Wie aber der vorkapitalistische Geist aussah, war weit schwieriger zu ermitteln. Er brauchte viele Jahre, um zu erkennen, dass seine- - auch für uns heute selbstverständlichen- - Vorstellungen von Wirtschaft bei den Kabylen und zahlreichen anderen Algeriern völlig unbekannt waren. Ökonomische Verhaltensweisen, Denkmuster und Akteure sind historisch erst im Laufe einer komplexen Entwicklung entstanden und nicht in der »menschlichen Natur« angelegt (2000c: 7f ). Im Frühstadium der kapitalistischen Entwicklung waren Verhaltensmuster erforderlich, die Max Weber als »asketisch« und »protestantisch« bezeichnete, also Vorsorge, Abstinenz und Sparsamkeit, während im entfalteten Kapitalismus Kredit, Konsum und Genuss an ihre Stelle getreten sind (2003c: 22). Die Wirtschaftswissenschaft setzt einen bestimmten Typ des homo oeconomicus stets voraus, ohne seine historische, soziale und kulturelle Bedingtheit zu untersuchen. Daher bezeichnet Bourdieu sie als »die moralischste der Moralwissenschaften« (ebd.). 14 Ein rationales, kalkulierendes Denken und Verhalten wird von ihr eher gefordert als empirisch aufgewiesen. Wie passte sich nun das Denken, Wahrnehmen und Handeln der Algerier an die kapitalistische Wirtschaft an? Bourdieu wollte diese Frage nicht im Anschluss an Max Weber »subjektivistisch« untersuchen, für den das Verstehen von Motiven und Zielen ein wichtiger Bestandteil der Methode war (1963: 315). Für Bourdieu reichte es, die Entstehung eines rationalen Kalküls als bloße Reaktion auf einen Zwang zu untersuchen. Der Kapitalismus wurde den Algeriern von den Kolonialherren aufgezwungen. Es blieb ihnen gar nichts anderes übrig, als auf ihn zu reagieren. Das schien 13 Dieser Gegensatz ist ein wichtiges Element vorstaatlicher Sozialstruktur-- wo er geographisch möglich ist. Sieh hierzu die bahnbrechende Untersuchung von Edmund Leach 1970; vgl. Rehbein 2004. 14 Die Wirtschaftswissenschaft wurde von den schottischen Moralphilosophen entwickelt, deren gegenwärtig bekanntester Adam Smith ist. homo oeconomicus <?page no="39"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M+Marginalie]__Rehbein__Soziologie_Bourdieus(3)___[Druck-PDF]/ 23.05.2016/ Seite 40 40 1 Von der Praxis der Ökonomie zur-Ökonomie der Praxis Bourdieu eine gute methodische Voraussetzung zu sein, um den »Geist des Kapitalismus« zu untersuchen. »Da sich in unseren Gesellschaften das ökonomische System und die Einstellungen in relativer Harmonie befinden, übersieht man leicht, dass das ökonomische System sich als Feld objektiver Erwartungen darstellt, die von Subjekten nur erfüllt werden können, wenn sie über einen bestimmten Typ ökonomischen, allgemeiner: zeitlichen, Bewusstseins verfügen.« (1963: 316; eigene Übersetzung) Hinter diesem Satz lässt sich erneut Bourdieus Einsicht erahnen. Das Individuum wird in eine soziale Welt eingeübt. Aus diesem Grund ist es an deren Strukturen und Erfordernisse (»objektive Erwartungen«) angepasst. In Algerien war das nicht mehr der Fall. Daher konnte man sowohl die Anpassungsprozesse als auch die Strukturen (die Erwartungen) besonders klar erkennen. Dass auch hierbei eine Form des Verstehens zum Tragen kam, gestand Bourdieu erst in seinem Spätwerk zu (vgl. 1997b). In Algerien meinte er noch, den Gegenstand durch den Einsatz objektivistischer Instrumente erschöpfend bearbeiten zu können. 15 Den Kern von Bourdieus Forschung in Algerien bildete die Einsicht in die Ungleichzeitigkeit gesellschaftlicher Strukturen. In diesem Zusammenhang erlangt der Begriff der Zeit in zweierlei Hinsicht eine zentrale Bedeutung. Erstens enthält die Beobachtung der Ungleichzeitigkeit zwischen kapitalistischen und traditionalen Strukturen den Keim von Bourdieus Einsicht. Zweitens unterscheiden sich kapitalistischer und traditionaler Habitus in erster Linie durch ihre Verfügung über die Zukunft. Der ökonomische Habitus hängt von der objektiven Zukunft seiner Gruppe und der Einschätzung von dieser Zukunft ab (1963: 346, 382). Das Verhältnis zur Zeit untersuchte Bourdieu noch genauer. Er ermittelte eine unterschiedliche Einstellung bei Bauern, Subproletariern, Arbeitern und Kapitalisten. Die Vorstellung eines ökonomischen Werts der Zeit war der algerischen Tradition völlig fremd (1962b: 1031). Alles hatte seine Zeit (2000c: 56ff ). Man war immer beschäftigt, aber man arbeitete nicht: Was getan werden musste, wurde getan, gemäß dem Lauf der Zeit (1964a: 78, 157). Im Frühjahr sät man, im Herbst erntet man, bei Regen hängt man die Wäsche ab usw. »Tatsächlich ist der vorkapitalistischen Wirtschaft nichts fremder als die Vorstellung von einer Zukunft als einem Feld des Mögli- 15 Siehe nächster Abschnitt. Franz Schultheis bezeichnet Bourdieus Haltung als »szientistisch« (2000: 175). Dieser Szientismus wird im nächsten Kapitel genauer beleuchtet werden. Begriff der Zeit <?page no="40"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M+Marginalie]__Rehbein__Soziologie_Bourdieus(3)___[Druck-PDF]/ 23.05.2016/ Seite 40 www.claudia-wild.de: [UTB-M+Marginalie]__Rehbein__Soziologie_Bourdieus(3)___[Druck-PDF]/ 23.05.2016/ Seite 41 1.3 Der Geist des Kapitalismus 41 chen, dessen Erforschung und Beherrschung dem Kalkül anheim gestellt wäre.« (2000c: 32) Genau diese Vorstellung aber ist für kapitalistisches Handeln unerlässlich. Wie verhielten sich nun die verschiedenen Gruppen der algerischen Gesellschaft zu ihr? Die Bauern behielten weit gehend ihre traditionelle Einstellung zur Zeit bei. Die Zeit hatte kein rationales Maß und keinen ökonomischen Wert. Umgekehrt wurde die Arbeit nicht in Zeit und Produktivität gemessen (1964a: 78). Die Bauern folgten dem Rhythmus der Natur und der Tradition (1964a: 157). Ihre Ehre gebot es ihnen zu arbeiten, nicht aber die ökonomische Notwendigkeit (1964a: 163). Der Ertrag der Arbeit hing nicht von der Produktivität der Arbeit ab, sondern von nicht zu beeinflussenden Mächten (2000c: 55). Max Weber hatte Bourdieu zufolge den Unterschied zwischen Tätigkeit und Müßiggang in der traditionalen Gesellschaft durch seine Unterscheidung von rationalem und traditionalem Handeln verwischt (2000c: 54). Diese Unterscheidung ist eine moderne, die den Kapitalismus voraussetzt. Sie wurde auch von der modernisierten Stadtbevölkerung Algeriens vorausgesetzt, die die Bauernschaft als unterbeschäftigt, nicht wertvoll und zurückgeblieben betrachtete (1964a: 81, 157). In der Bauernökonomie waren handwerkliche und kaufmännische Tätigkeiten den landwirtschaftlichen, die den Lebensunterhalt sicherten, untergeordnet. Im Kapitalismus war das umgekehrt (2000c: 12f ). Unterbeschäftigt waren auch die Subproletarier. Sie hatten sich die Definition von Arbeit als produktive und bewertete Arbeitszeit jedoch schon teilweise zu eigen gemacht. Wenn sie nicht oder zu wenig arbeiteten, vergeudeten sie ihre Zeit (1962b: 1032f ). Gleichzeitig aber konnten sie ihre Zeit nicht rational planen und ein kalkulierendes Denken entwickeln, weil sie keine Verfügung über ihre eigene Zukunft hatten (1962b: 1040). Sie konnten nicht einfach arbeiten oder mehr arbeiten, sondern waren von Gelegenheiten abhängig. Unterhalb einer gewissen Einkommensschwelle und Beschäftigungsstabilität war keine Rationalität möglich (2000c: 20). Und erst wer seine Arbeit frei wählen konnte, war in der Lage, eine berufliche Moral (also nach Weber: einer kapitalistischen Wirtschaftsethik) zu entwickeln (1963: 298). Proletariat und Kleinbürgertum vermochten, ihr Leben zu planen, ihre Ziele in eine hierarchische Ordnung zu bringen und utilitaristisch zu handeln (1962b: 1040). Diese beiden Klassen waren in Algerien zahlenmäßig jedoch sehr klein. Noch kleiner war die algerische Bourgeoisie, die allein im engeren Sinne kapitalistisch handeln konnte, indem sie Kapital einsetzte und Mehrwert akkumulierte. Die Mehrheit der algerischen Kapitalbesitzer operierte im Handel, weil hier das eingesetzte Kapital sehr schnell verwertet wurde, während der Zyklus in der Industrie sehr viel länger und unübersichtlicher war (1963: 376f ). Mit dem algeriwww.claudia-wild.de: <?page no="41"?> [UTB-M+Marginalie]__Rehbein__Soziologie_Bourdieus(3)___[Druck-PDF]/ 23.05.2016/ Seite 42 42 1 Von der Praxis der Ökonomie zur-Ökonomie der Praxis schen Unternehmertum hat sich Bourdieu allerdings nicht eingehender beschäftigt. Zusammenfassend charakterisierte Bourdieu die Entstehung eines Geistes des Kapitalismus nicht mehr als Anpassung, sondern als »Konversion« (2000c: 14). Das Weltbild »verkehrte« sich vollständig, wurde nicht nur modifiziert (2000c: 17). Die Menschen mussten ihr Weltbild geradezu neu konstruieren. Darin waren sie den europäischen Frühkapitalisten ähnlicher als den gegenwärtigen Wirtschaftssubjekten (2000c: 26f ). Die Konversion gelang, weil die Menschen den kapitalistischen Geist durch den Kontakt mit der europäischen Wirtschaft »atmeten« (1963: 314). Ähnlich wie Karl Polanyi formulierte Bourdieu: »Alle zentralen Charakteristika vorkapitalistischer ökonomischer Praktiken finden ihren gemeinsamen Nenner darin, dass die von uns als ökonomisch angesehenen Verhaltensweisen noch nicht als solche konstituiert und verselbstständigt sind, d. h. noch nicht als aus einer besonderen Ordnung stammend betrachtet werden, eine Ordnung, welche von Gesetzen anderer Art beherrscht wird als jene, welche gewöhnliche gesellschaftliche Beziehungen, insbesondere zwischen Verwandten, bestimmen.« (2000c: 8) 1.4 Ethno-soziologische Methoden Die ethnologische Situation bietet eine Besonderheit, die zugleich Vorteil und Nachteil ist. Man kennt den Gegenstand nicht aus eigener Erfahrung und hat deshalb Distanz zu ihm. Diese Situation bietet die Möglichkeit, den Erkenntnisprozess zu beobachten und die eigenen Voraussetzungen in den Blick zu bekommen und kritisch zu hinterfragen. Sie zwingt aber auch dazu, die zuvor unbekannten, fremden Menschen zu verstehen, ihre Perspektive kennen zu lernen und zumindest hypothetisch nachzuvollziehen. In dieser Situation befand sich Bourdieu während seiner Forschungen in Algerien. Er hat sie nicht mehr verlassen, sondern mit nach Frankreich zurückgenommen. In Algerien befand er sich in einer besonderen Variante der ethnologischen Situation, denn er war als Soldat einer Kolonialmacht gekommen. Einerseits schien ihm der Kolonialkrieg die Erkenntnis zu begünstigen, denn er offenbarte die wesentlichen Eigenschaften der algerischen Gesellschaft (1962a: 308). Darüber hinaus ermöglichte er die Erkenntnis der Kolonialherrschaft. »Der Krieg bringt mit einem Schlag die wahren Grundlagen der kolonialen Ordnung ans Tageslicht, nämlich das Kräfteverhältnis, Konversion ethnologische Situation <?page no="42"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M+Marginalie]__Rehbein__Soziologie_Bourdieus(3)___[Druck-PDF]/ 23.05.2016/ Seite 42 www.claudia-wild.de: [UTB-M+Marginalie]__Rehbein__Soziologie_Bourdieus(3)___[Druck-PDF]/ 23.05.2016/ Seite 43 1.4 Ethno-soziologische Methoden 43 mit dem die herrschende Kaste die beherrschte Kaste unter Vormundschaft hält.« (2003a: 22) Andererseits aber erschwerte er den Forschungsprozess und die Kommunikation mit den Menschen, die Bourdieu gegenüber misstrauisch waren und stets nur über ihre Leiden sprechen wollten (1963: 260f ). Ferner bedienten sie sich nicht ihrer eigenen Sprache, sondern beschränkten sich auf Worthülsen (1963: 259). Bourdieu beobachtete nun, dass ihre Worte oft von ihren Handlungen abwichen (2003a: 32). Das wurde ihm zur Grundlage der Fragen, die er im Forschungsprozess stellte. Er hatte vor, den Worten und Handlungen der Menschen den Sinn wiederzugeben, den sie vor der Kolonialherrschaft hatten (1963: 259f ). Das erwies sich jedoch als problematisch-- ebenso wie seine strikte Trennung von traditionaler und moderner Gesellschaft. Glücklicherweise konzentrierte er sich darauf, die soziale Wirklichkeit so zu untersuchen, wie sie sich ihm darbot, und den Auswirkungen von Kolonialherrschaft und Krieg nachzuspüren. Bei der Beschäftigung mit den Kabylen kam ihm zu Gute, dass er selbst auf dem Land aufgewachsen war und viele der Aspekte des Bauernlebens kannte. Dem Misstrauen und der Fremdheit begegnete er durch einen folgenreichen Kunstgriff. Er hatte sich mit dem algerischen Wissenschaftler Abdelmayek Sayad angefreundet, der ihn bei der Feldforschung begleitete. 16 Auf diese Weise ergab sich stets ein doppeltes Bild. Einer war vertraut, der andere fremd; einer schrieb, der andere hörte zu und stellte die Fragen; einer beobachtete, der andere handelte. Die Einbeziehung und Ausnutzung verschiedener Perspektiven auf denselben Gegenstand zeichnete Bourdieus Methode bis zuletzt aus. Hierzu gesellt sich eine Vielheit der Instrumente, die er in keiner Weise orthodox und schulmäßig trennte (Schultheis 2003a: 27). Bourdieu kaufte sich eine gute Kamera und machte in Algerien unzählige Photographien (siehe 2003b). Photographie ist auch ein Weg zu den Menschen, sie eröffnet den persönlichen Kontakt, ermöglicht die Aufzeichnung von Details und Vergänglichem, beeinflusst ihn aber wenig und ist wenig selektiv. Bourdieu machte standardisierte und offene Interviews, kontrollierte und zufällige Beobachtungen, sammelte und analysierte Sprichwörter, notierte Haushalts- und Zeitbudgets, fertigte Schemata und Zeichnungen an (Schultheis 2003a: 30). 16 Bourdieu fuhr mit Sayad in einem alten Auto durch Algerien. Er hatte nur ein Papier, in dem es hieß: »Monsieur Bourdieu ist berechtigt, statistische Erhebungen durchzuführen.« Offizielle Anerkennung des Papiers gab es von beiden Seiten nicht (Schultheis 2000: 175f ). Feldforschung <?page no="43"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M+Marginalie]__Rehbein__Soziologie_Bourdieus(3)___[Druck-PDF]/ 23.05.2016/ Seite 44 44 1 Von der Praxis der Ökonomie zur-Ökonomie der Praxis »Ich bin einfach ins kalte Wasser gesprungen, so wie man Kinder ins Wasser stößt, damit sie schwimmen lernen. Ich arbeitete gleichzeitig an tausenderlei Fragen und Themen von der Gabe, über den Kredit bis hin zu Verwandtschaftsbeziehungen und hatte irgendwie schon das Gefühl, auf dem rechten Wege zu sein, ohne dass ich aber genauer hätte sagen können, worin meine Methode denn eigentlich konkret bestand« (zitiert nach Schultheis 2003a: 33). Mit Sayad arbeitete er nach eigener Aussage über Wochen von sechs Uhr morgens bis drei Uhr nachts (2003b: 39). Schließlich befragte er mit seinen Kollegen vom INSEE rund 2000 Personen (von denen er 200 für eine genauere Erhebung mit eigenen Fragen auswählte) (Schultheis 2000: 173). 17 Ein wichtiges ethnologisches Instrument hat Bourdieu allerdings vergessen, was er später sehr bedauerte: das Tagebuch (2003b: 38). Das Bedauern beruht sicher zum Teil darauf, dass das Tagebuch eine besonders gute Grundlage für die Gleichzeitigkeit von Forschung und Selbstreflexion bietet, die Bourdieus Ansatz auszeichnet und schon in Algerien entwickelt war. »Da ich überzeugt bin, dass man sich entfernen muss, um sich anzunähern, dass man sich selbst einbringen muss, um sich auszuschließen, dass man sich objektivieren muss, um die Erkenntnis zu entsubjektivieren, war mein erstes Objekt der anthropologischen Erkenntnis ganz bewusst die anthropologische Erkenntnis selbst, und die Differenz, die sie notwendigerweise von der praktischen Erkenntnis unterscheidet.« (2003a: 45) Erst die Enthüllung des eigenen Vorverständnisses ermöglicht eine verstehende Annäherung an den Gegenstand. Ganz im Geiste Gadamers vermittelte Bourdieu seine Konstruktion des Gegenstands mit seinen Beobachtungen des Gegenstands. Daraus erwuchs seine Erkenntnis der kulturellen Einbettung der Wirtschaft und letztlich auch seine Einsicht in die Ungleichzeitigkeit. »Nichts hatte mich darauf vorbereitet, die Ökonomie, und erst recht nicht die eigene, als ein Glaubenssystem zu denken, und ich musste nach und nach auf dem Wege der ethnographischen Beobachtung und 17 »Die statistischen Erhebungen mit standardisierten Fragebögen standen aber nicht isoliert da, sondern wurden von einer ganzen Batterie weiterer, meist qualitativer Forschungsmethoden ergänzt und umrahmt, die Bourdieu nach dem Prinzip eines intuitiven ›learning by doing‹ entwickelte.« (Schultheis 2000: 174) <?page no="44"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M+Marginalie]__Rehbein__Soziologie_Bourdieus(3)___[Druck-PDF]/ 23.05.2016/ Seite 44 www.claudia-wild.de: [UTB-M+Marginalie]__Rehbein__Soziologie_Bourdieus(3)___[Druck-PDF]/ 23.05.2016/ Seite 45 1.4 Ethno-soziologische Methoden 45 verstärkt durch meine statistischen Untersuchungen die praktische Logik der vorkapitalistischen Ökonomie erlernen, während ich gleichzeitig damit befasst war, deren Grammatik mehr schlecht als recht zu beschreiben.« (2000c: 16) <?page no="45"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M+Marginalie]__Rehbein__Soziologie_Bourdieus(3)___[Druck-PDF]/ 23.05.2016/ Seite 46 <?page no="46"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M+Marginalie]__Rehbein__Soziologie_Bourdieus(3)___[Druck-PDF]/ 23.05.2016/ Seite 46 www.claudia-wild.de: [UTB-M+Marginalie]__Rehbein__Soziologie_Bourdieus(3)___[Druck-PDF]/ 23.05.2016/ Seite 47 47 2 Brüche Gegenstand dieses Kapitels ist Bourdieus Erkenntnistheorie, deren Grundlagen er in Reflexion auf seine Erfahrungen in Algerien und seine Forschungen über das französische Bildungswesen (siehe 4. Kapitel) erarbeitete. Das Kapitel ist zwar weniger empirienah als das vorangehende, aber auch nicht so beängstigend trocken, wie man befürchten könnte. Das liegt an Bourdieus Auffassung von ihr. Sie muss zwar mit dem Alltagsverstand brechen, gleichzeitig aber die eigene Verstrickung in die Welt des Alltags reflektieren. Dieser Bruch ist Thema des ersten Abschnitts. Im zweiten Abschnitt wird erörtert, wie nach Bourdieu die erkenntniskritische Reflexion auf die Verstrickung in den Alltag aussehen kann. Auch hier bemüht sich Bourdieu um Brüche-- mit der Alltagssprache, mit den überkommenen Traditionen und Dichotomien, den eigenen Vorurteilen und der theoretischen Haltung zur Welt zu brechen, indem er sie kritisch aufarbeitet. Die Konsequenzen der kritischen Aufarbeitung für die wissenschaftliche Begriffsbildung werden im dritten Abschnitt thematisiert. An die Stelle eines substanzialistischen und auf absoluter Begründung basierenden Denkens tritt bei Bourdieu ein relationales Denken in Konfigurationen, das eine Begründung und eine Reichweite auf mittlerer Ebene sucht. Die Begründung ist Gegenstand des vierten Abschnitts. Sie besteht in der Kritik zum Zweck der Befreiung von praktischen und theoretischen Zwängen. Da genau so auch der Begründungsanspruch der kritischen Theorie formuliert werden könnte, soll Bourdieus Anspruch etwas genauer mit dem von Jürgen Habermas kontrastiert werden. Einleitend wird Bourdieus Lebenslauf nach seiner Rückkehr aus Algerien kurz skizziert, damit sich die erörterten Gedanken und Schriften besser in ihrem Umfeld verorten lassen. 1960 kehrte Bourdieu endgültig nach Frankreich zurück. Seine Kritik am Existenzialismus wurde unter den Intellektuellen in Paris jetzt immer mehr geteilt. Vorreiter der Kritik war Claude Lévi-Strauss, der im Anschluss an den Linguisten Ferdinand de Saussure den Strukturalismus weiterentwickelte. Lévi-Strauss hatte mit den herkömmlichen Methoden der Ethnologie bei seiner Feldforschung in Brasilien wenig Erfolg gehabt. Über die daraus resultierende Frustration hat er in seinem Buch »Traurige Tropen« (1978) äußerst beredt und anschaulich Zeugnis abgelegt. Eine der wichtigsten Folgerungen, die er daraus zog, war die Unfruchtbarkeit verstehender Methoden. Die Eingeborenen könnten über die Gesetzmäßigkeiten, die ihrem Handeln, Denken und Sprechen zu Grunde liegen, nichts von wissenschaftlichem Wert sagen. Die Wissenschaft müsse die Gesetzmäßigkeiten formal konstruieren. In der Konstruktionsarbeit führte Lévi-Strauss Erkenntnistheorie Rückkehr nach-Frankreich Lévi-Strauss <?page no="47"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M+Marginalie]__Rehbein__Soziologie_Bourdieus(3)___[Druck-PDF]/ 23.05.2016/ Seite 48 48 2 Brüche die sinnhaften Phänomene der sozialen Welt letztlich wie Saussure auf formale, überhistorische Differenzen zurück. Diese Differenzen werden als »diakritische«, dichotomische Gegensätze gefasst, ähnlich wie 0 und 1 in der Computersprache. Der erste Band der kunstvoll komponierten und unterhaltsam zu lesenden »Mythologica« (1971) beruht beispielsweise auf dem Gegensatz zwischen Rohem und Gekochtem. Bourdieu, der nach einem wissenschaftlichen Paradigma suchte, mit dem er sein algerisches Material konsistent interpretieren könnte, war vom Strukturalismus beeindruckt (1987b: 8f ). Er besuchte die Vorlesungen, die Lévi-Strauss als Professor an der renommiertesten französischen Bildungsinstitution, dem Collège de France, hielt. Und er bemühte sich rund zehn Jahre lang, das algerische Material strukturalistisch zu interpretieren. Die im Werk »Sozialer Sinn« abgedruckte Studie über das algerische Haus (zuerst 1969 erschienen) war seine vielleicht reinste, auf jeden Fall seine »letzte Arbeit als unbefangener Strukturalist« (1987b: 23). Die Auseinandersetzung mit dem Strukturalismus war spätestens ab 1960 eine der Konstanten in Bourdieus Denken-- und ist es auch in der Sekundärliteratur. Stets wird gefragt, in welchem Maße Bourdieu Strukturalist war und blieb. Die Frage wird uns noch an mehreren Stellen beschäftigen. Hier sei darauf hingewiesen, dass Bourdieu stets ein Gegengewicht gegen den Objektivismus des strukturalen Denkens hatte. Er war mit Max Weber, der qualitativen Forschung und der Phänomenologie gut vertraut. Im Rückblick müssen die rein strukturalistischen Arbeiten Bourdieus eher als ein weiterer Versuch gelten, ein eigenes wissenschaftliches Paradigma zu entwickeln. Weder der algerische Hintergrund noch der weitere Denkweg Bourdieus machen eine völlige Bekehrung zu Lévi-Strauss wahrscheinlich. Tatsächlich war auch seine Forschung der Sechzigerjahre nur zum Teil mit dem Strukturalismus kompatibel. Er beschritt genau den entgegengesetzten Weg wie Lévi-Strauss in den »Traurigen Tropen«, indem er den ethnologischen Blick des Fremden auf die eigene Gesellschaft richtete (2002b: 71). Bourdieu meinte später, dass die Lektüre von Alfred Schütz ihn dazu inspiriert habe (2002b: 69). 1 Wenn es einen Gegensatz zu Lévi-Strauss gibt, so verkörpert Schütz ihn sicher sehr gut. Noch während der Arbeit an 1 Alfred Schütz wandte Husserls Phänomenologie auf die soziale Welt an und gilt als Vorvater der Ethnomethodologie. Er schrieb einen großartigen Aufsatz über den Heimkehrer (1964: 106-118), der seine eigene Welt plötzlich mit den Augen eines Fremden sieht. Die Schütz-Lektüre Bourdieus ist sicher kein Zufall. Während des Studiums hatte er intensiv Husserl gelesen und wollte seine Dissertation zunächst über die Phänomenologie des Gefühlslebens schreiben (1992b: 16-22). <?page no="48"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M+Marginalie]__Rehbein__Soziologie_Bourdieus(3)___[Druck-PDF]/ 23.05.2016/ Seite 48 www.claudia-wild.de: [UTB-M+Marginalie]__Rehbein__Soziologie_Bourdieus(3)___[Druck-PDF]/ 23.05.2016/ Seite 49 2 Brüche 49 den Texten zu Algerien erforschte Bourdieu in seiner Heimat, dem Béarn, die Heiratsstrategien, also einen Aspekt der sozialen Reproduktion. »Den verstehenden Blick des Ethnologen, mit dem ich Algerien betrachtet habe, konnte ich auch auf mich selbst anwenden, auf die Menschen aus meiner Heimat, auf meine Eltern, die Aussprache meines Vaters und meiner Mutter, und mir das alles so auf eine völlig undramatische Weise wiederaneignen, denn hier liegt eines der großen Probleme entwurzelter Intellektueller, wenn ihnen nur die Alternative zwischen Populismus oder im Gegenteil einer durch Klassenrassismus bedingten Scham für sich selbst bleibt. Ich bin diesen Menschen, die den Kabylen sehr ähnlich sind und mit denen ich meine Kindheit verbracht habe, mit dem Blick des Verstehens begegnet, der für die Ethnologie zwingend ist und sie als Disziplin definiert.« (2003b: 48) Rückblickend sagte Bourdieu, die Forschungsarbeit in ihm vertrauten Umgebungen, dem Béarn und der Universität, habe es ihm ermöglicht, seine »strukturalistischen Vorurteile« abzulegen (1992b: 27). Im heimischen Universum sei es ihm möglich gewesen, den Erkenntnisprozess und das Erkenntnissubjekt mit zu erforschen (1992b: 79f ). Dabei ging es auch um die verdeckten Annahmen, die in einer theoretischen, distanzierten, objektivierenden Haltung impliziert sind. Diese theoretische Analyse der theoretischen Einstellung war eine der Grundlagen für den Bruch mit dem strukturalistischen Paradigma. Aus der theoretischen Perspektive spreche man von Heiratsregeln, in der praktischen Haltung seien es eher Heiratsstrategien. Die theoretische Erklärung des Handelns sei nicht sein Prinzip (1976: 140ff ). Das entdeckte Bourdieu bei der Interpretation des béarnesischen und des algerischen Materials. Dem strukturalistischen Denken zufolge ist die Heirat mit der Parallelkusine die vorherrschende, grundlegende Heiratsform, eine Struktur. Empirisch traf das in Algerien allerdings nur in drei bis sechs Prozent der Fälle zu (1992b: 26f ). Man konnte also die Strenge, Klarheit und Objektivität des Strukturalismus auf Kosten der empirischen Sättigung beibehalten oder man musste mit dem Strukturalismus brechen. Bourdieu wählte letzteren Weg. Ein weiteres Gegengewicht gegen den Strukturalismus bildete Bourdieus berufliche Laufbahn. 1960 bis 1962 war er Assistent bei Raymond Aron an der Faculté des lettres an der Pariser Sorbonne (hierzu Jurt 2003b: 66f ). Aron wird das Verdienst zugeschrieben, Weber in Frankreich populär gemacht zu haben. Ferner besetzte er in der Welt der französischen Intellektuellen eine konservative Position. Bei Aron promovierten viele der heute bekannten französischen Soziologen. Er hatte kurz zuvor den ersten Bruch mit dem-strukturalistischen Paradigma Assistent Sorbonne <?page no="49"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M+Marginalie]__Rehbein__Soziologie_Bourdieus(3)___[Druck-PDF]/ 23.05.2016/ Seite 50 50 2 Brüche eigenständigen Universitätsabschluss in Soziologie eingeführt. Bourdieu war nun also nicht mehr Philosoph und nicht mehr Ethnologe, sondern offiziell Soziologe. Der Vollständigkeit halber seien einige wichtige Etappen seines folgenden Lebenslaufs genannt. 1962 heiratete er Marie-Claire Brizard. 1962 bis 1964 war er Maître de Conférences (Dozent) für Soziologie an der Faculté des lettres in Lille, ab 1964 Generalsekretär des Centre de sociologie européenne, das Raymond Aron 1960 mit finanzieller Unterstützung der Ford Foundation gegründet hatte. 1964 bis 1984 hatte Bourdieu eine Forschungsstelle an der Ecole des hautes études en sciences sociales (EHESS) und eine Professur für Soziologie an der Faculté des lettres (beide in Paris). 1968 bis 1988 war er Direktor des von ihm initiierten Centre de sociologie de l’éducation et de la culture, ein mit dem Centre National de la Recherche Scientifique (CNRS) assoziiertes Forschungsinstitut. 1982 wurde er zum Professor für Soziologie am Collège de France berufen, was den Gipfel einer wissenschaftlichen Laufbahn in Frankreich, eine Art Heiligsprechung, darstellt. In dieser Eigenschaft hält man lediglich Vorlesungen und ist mit keinerlei Betreuungs- und Verwaltungsaufgaben betraut. 1964 bis 1992 war Bourdieu Herausgeber der Schriftenreihe »Le Sens Commun« beim Pariser Verlag Editions de Minuit, ab 1975 gab er eine eigene Zeitschrift heraus, die »Actes de la recherche en sciences sociales«, die heute noch fortgeführt wird. Im selben Jahr wurde er Consulting Editor der Zeitschrift »American Journal of Sociology« (Chicago) und 1989 Herausgeber der Zeitschrift »Liber« (Paris). Seit 1981 fungierte er als Berater der Gewerkschaft Confédération Française Démocratique du Travail (C. F.D.T.). Am Centre de sociologie européenne sammelte sich um Bourdieu eine Forschergruppe, die unter anderem Luc Boltanski, Robert Castel, Jean- Claude Chamboredon, Patrick Champagne, Yvette Delsaut, Remi Lenoir, Jean-Claude Passeron, Louis Pinto und Monique de Saint-Martin umfasste (2003a: 53f ). Viele von ihnen arbeiteten über Jahrzehnte hinweg zusammen-- und tun es zum Teil noch heute. Die Arbeit in der Gruppe war für Bourdieu Programm. Das ist in seiner Theorie selbst begründet. Die Gruppe bildet in sich ein soziales Universum mit verschiedenen Perspektiven und vereint Menschen mit unterschiedlichem sozialen Hintergrund, die einander die blinden Flecken aufzeigen, sich kritisieren und ergänzen können. Das Programm ist in Bourdieus Wissenschaftstheorie verankert und wurde in die Praxis umgesetzt. Dass die Umsetzung nicht ganz demokratisch geschah und sich Bourdieu nicht zuletzt aus diesem Grund mit einigen seiner Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen entzweite, beruht eher auf menschlichen Schwächen als auf der Unzulänglichkeit des Programms. Bourdieu hätte unmöglich den schon fast legendären Reichtum an empi- Lebenslauf Arbeit in der-Gruppe <?page no="50"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M+Marginalie]__Rehbein__Soziologie_Bourdieus(3)___[Druck-PDF]/ 23.05.2016/ Seite 50 www.claudia-wild.de: [UTB-M+Marginalie]__Rehbein__Soziologie_Bourdieus(3)___[Druck-PDF]/ 23.05.2016/ Seite 51 2.1 Der doppelte Bruch 51 rischem Material bearbeiten und es so gut verarbeiten können, hätten nicht seine Kollegen und Kolleginnen ihre eigenen Stärken mit eingebracht. Auch ein Gutteil seiner Wirkung ist darauf zurückzuführen. 2.1 Der doppelte Bruch Das Kapitel stützt sich so weit wie möglich auf die in »Soziologie als Beruf« (1991a; zuerst 1968) entwickelte Wissenschaftstheorie. Leider kann es sich nicht darauf beschränken. Denn das Werk ist eine Gemeinschaftsarbeit, in der Bourdieu (noch) nicht die eindeutige geistige Führungsrolle zukam. Auch die Handschrift der beiden Co-Autoren, Jean-Claude Chamboredon und Jean-Claude Passeron, ist in ihm erkennbar. Ferner sind noch nicht alle Topoi von Bourdieus Ansatz in ihm enthalten, geschweige denn ausgeführt. Schließlich ist das unter dem Titel »Soziologie als Beruf« veröffentlichte Buch nur der erste Band eines auf drei Bände angelegten Werkes. 2 Der erste Band wurde jedoch zu sehr als Handbuch, wie ein Kochbuch, gelesen, als enthalte es eine Methode, die man nur befolgen muss, um gültige Ergebnisse zu erhalten. Das Werk war von den Verfassern als Reflexion auf den Forschungsprozess gedacht. Nur so war Wissenschaftstheorie für Bourdieu gerechtfertigt-- nicht als Gehirngymnastik am Schreibtisch und nicht als Festlegung der Empirie auf eine Methode. Da das Buch nicht in seiner Intention verstanden wurde, ließ Bourdieu die Arbeit an den Nachfolgebänden fallen. Daher bildet der Kommentar des Werks nur gleichsam den Leitfaden durch das Kapitel. An ihm knüpfen zahlreiche Fäden an, die in unterschiedliche Richtungen weisen, aber ein Ganzes bilden sollen. Die Grundbedingung für Wissenschaftlichkeit ist den Autoren von »Soziologie als Beruf« zufolge der Bruch mit dem Alltagsdenken, insbesondere mit der Alltagssprache. In den Sozialwissenschaften gehe man von einer Alltagsbegrifflichkeit aus, deren versteckte Annahmen dann den Erkenntnisprozess beeinflussen oder gar lenken (1991a: 15f, 26). Die Alltagssprache sei nicht für wissenschaftliche Zwecke, also für theoretische Erkenntnis, sondern für die alltägliche Praxis bestimmt. Sie enthalte eine bestimmte, praktische Auffassung der Wirklichkeit. Um sich von ihr zu lösen, müsse der Sozialwissenschaftler oder die Sozialwissenschaftlerin ihr in allen Punkten widersprechen (1991a: 17). An die Stelle der Alltagsbegriffe müssten theoretisch konstruierte provisorische Begriffe treten, wie Durkheim das gefordert hat. Dieser Bruch ist äquivalent mit der Erkennt- 2 Dies und das Folgende beruht auf persönlichen Informationen von Patrick Champagne. Soziologie als-Beruf Bruch <?page no="51"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M+Marginalie]__Rehbein__Soziologie_Bourdieus(3)___[Druck-PDF]/ 23.05.2016/ Seite 52 52 2 Brüche nis des Sokrates, nichts zu wissen. Erst mit dem Nichtwissen beginnt die Wissenschaft. Wissenschaft wird gegen die alltägliche Illusion des Wissens betrieben. Der Bruch mit dem Alltagswissen ist in den Sozialwissenschaften besonders schwer, aber auch besonders notwendig. Man hat sich daran gewöhnt, dass man für Wissenschaften wie Chemie oder Physik eine neue Sprache lernen muss. Man meint jedoch, in der Soziologie mit der Alltagssprache auszukommen. Die alltägliche Sichtweise der sozialen Welt bezeichnet Bourdieu als »Spontansoziologie«. Eben gegen sie richtet sich der Bruch. Jeder Mensch glaubt, auf dem Gebiet der Gesellschaft Experte zu sein. Daher haben die soziologischen Erklärungen die größte Zustimmung, die der Spontansoziologie am nächsten sind (1991a: 29). Aus der Spontansoziologie ergibt sich die Evidenz vieler soziologischer Aussagen, die genau aus diesem Grund keine wissenschaftlichen Aussagen sind. Die Alltagsbegriffe beinhalten nicht nur eine bestimmte Sichtweise der sozialen Welt, sondern sie werden auch realistisch verstanden. Das heißt, es wird von der Existenz des Wortes auf die Existenz der Sache geschlossen. »Im Hinblick auf die soziale Welt macht uns der Alltagsgebrauch der Alltagssprache zu Metaphysikern.« (1992b: 74) Die theoretische Konstruktion der Begriffe stellt den ersten Schritt des Bruchs mit den Alltagsbegriffen und mit ihrem Realismus dar. Bruch und Konstruktion verweisen auf die Wissenschaftstheorie Gaston Bachelards. Mit dieser Tradition war er seit seinem Studium gut vertraut. Modischen Strömungen warf er einen Mangel an Wissenschaftlichkeit, Ernst und Strenge vor (1992b: 17). Aus diesem Grund hatte er beim führenden Vertreter der Tradition Bachelards studiert, Georges Canguilhem. Er entwickelte ein gutes Verhältnis zu ihm und wollte seine Doktorarbeit bei ihm schreiben (2002b: 35). Foucault hatte übrigens denselben Plan-- und setzte ihn in die Tat um. Bourdieu verknüpfte den Bruch im Anschluss an Bachelard und Canguilhem mit Durkheims Objektivierung, die in der berühmten Formel, die sozialen Tatsachen wie Dinge zu behandeln, ihren Ausdruck fand. In den Naturwissenschaften ist Objektivierung eine Selbstverständlichkeit. Aber in den Sozial- und Geisteswissenschaften haben wir es mit einer sinnhaften Welt zu tun, mit der wir vertraut sind und der wir selbst zugehören-- bzw. mit der wir uns vertraut machen müssen, um ihre Sinngehalte zu verstehen. Aus diesem Grund ist Durkheims Formel auf erbitterten Widerstand gestoßen (besonders kurz und klar bei Peter Winch 1958). Noch radikaler als Durkheim ist Lévi-Strauss für die Objektivierung eingetreten. Die Konsequenz lautet: Da die Alltagsbegriffe nichts zur Erkenntnis des Alltags beitragen können, muss man sie über Bord werfen und die sinnhafte Welt wissenschaftlich genauso wie die Natur behandeln. Spontansoziologie Objektivierung <?page no="52"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M+Marginalie]__Rehbein__Soziologie_Bourdieus(3)___[Druck-PDF]/ 23.05.2016/ Seite 52 www.claudia-wild.de: [UTB-M+Marginalie]__Rehbein__Soziologie_Bourdieus(3)___[Druck-PDF]/ 23.05.2016/ Seite 53 2.1 Der doppelte Bruch 53 Diese Position wird als Objektivismus bezeichnet. Bourdieus Erkenntnistheorie vollzieht den Objektivismus in einem ersten Schritt mit: »Wenn sie nicht lediglich Projektion eines Gemütszustands sein will, setzt die Sozialwissenschaft zwangsläufig das Moment der Objektivierung voraus, und es sind eben die Errungenschaften des strukturalistischen Objektivismus, die die von diesem Moment geforderte Grenzüberschreitung ermöglichen.« (1987b: 26) Zuerst muss mit der alltäglichen Sicht der sozialen Welt gebrochen werden. In einem zweiten Schritt muss nun mit dem wissenschaftlichen Objektivismus gebrochen werden, um die alltägliche Sicht wieder einzuführen (siehe Bohn 1991: 53). »Die Soziologie muss eine Soziologie der Perzeption der sozialen Welt umfassen, das heißt eine Soziologie der Konstruktion der unterschiedlichen Weltsichten, die selbst zur Konstruktion dieser Welt beitragen.« (1992b: 143) Aus der Sinnhaftigkeit der sozialen Welt zieht Bourdieu zwei Folgerungen. Erstens muss die alltägliche Sicht rekonstruiert und daher auch verstanden werden. Es gibt »eine objektive Wahrheit des Subjektiven«, die eben in ihrer Existenz besteht (1993b: 31). Alle Menschen haben Vorstellungen und Erfahrung der Realitäten, die von Sozialwissenschaft konstruiert werden. Zweitens bleibt auch der Mensch, der Wissenschaft betreibt, Teil der sozialen Welt. Die Soziologie ist gewissermaßen eine soziale Sicht auf eine soziale Sicht. Soziologen und Soziologinnen kennen ihre Gegenstände auch aus dem Alltag. Daher sind sie zugleich mit ihnen vertraut und durch sie befangen (Krais, Gebauer 2002: 12). Der Objektivismus vernachlässigt seine eigene Perspektive. Er bricht mit den Vorurteilen aller Menschen, nur nicht mit den eigenen. Diese Vorurteile sind zum Teil alltägliche, zum Teil aber spezifisch wissenschaftliche. Sie umfassen erstens die Begrifflichkeit und Perspektive der wissenschaftlichen Tradition, zweitens die soziale Position innerhalb des Wissenschaftsbetriebs und drittens die spezifisch theoretische Einstellung zur Wirklichkeit. Aus diesem Grund fordert Bourdieu, dass der Wissenschaftler oder die Wissenschaftlerin auch mit den eigenen Vorurteilen brechen, die objektivierende Person sich selbst objektivieren muss. Die Selbstobjektivierung solle mit den Mitteln der Soziologie geschehen (Chauviré, Fontaine 2003: 66). Das führt natürlich in einen Zirkel, weil die soziologische Selbstobjektivierung wiederum aus einer Perspektive geschieht und Begriffe voraussetzt. Dieses Problem hat Bourdieu gesehen. In »Soziologie als Beruf« forderte er mit Bachelard Wachsamkeit- - gegenüber den konstruierten Begriffen, gegenüber den Techniken und Methoden, gegenüber den Vorurteilen und gegenüber den Bedingungen ihrer Anwendung (1991a: 4, 13ff ). Bruch mit dem Objektivismus Wachsamkeit <?page no="53"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M+Marginalie]__Rehbein__Soziologie_Bourdieus(3)___[Druck-PDF]/ 23.05.2016/ Seite 54 54 2 Brüche Tatsächlich hat der Zirkel nicht die vitiöse Natur der erkenntnistheoretischen Selbstbegründung, weil er kritisch gemeint ist. Wie Bachelards Wissenschaftstheorie sucht Bourdieus nach Verzerrungen, Vorurteilen und blinden Flecken (1991a: 10). Vom kritischen Rationalismus Karl Poppers unterscheidet sich diese Form der Kritik unter anderem darin, dass sie keine Normen für die Anfertigung und Kontrolle wissenschaftlicher Sätze aufstellt, sondern auch diesen Normen gegenüber kritisch bleibt. »Bourdieu fragt nicht mehr nach den Bedingungen der Wahrheit, sondern nach denen des Irrtums.« (Hepp 2000: 37) Eine Hauptquelle des Irrtums ist fehlende Selbstkritik. Die Selbstkritik darf sich nicht auf die eigenen Vorurteile beschränken, sondern muss, wie erwähnt, auch die eigene soziale Position und die theoretische Haltung umfassen. Die theoretische Haltung hat Bourdieu später als »scholastische Haltung« oder scholé bezeichnet (2001f: 21). Damit ist der blinde Fleck der Theorie selbst gemeint, der jede wissenschaftliche Einstellung charakterisiert, die nicht selbstkritisch verfährt. Die scholastische Haltung betrachtet den wissenschaftlichen Gegenstand so, als sei er für die Wissenschaft gemacht (2001f: 68). Sie stellt und beantwortet Fragen, die sich aus der Perspektive des Gegenstands nicht stellen (1991a: 43). Die soziale Position des Wissenschaftlers oder der Wissenschaftlerin bestimmt dabei die Perspektive. Die Welt sieht aus der Perspektive des Gegenstands anders aus als aus der der Wissenschaft. Und sie sieht für jede wissenschaftliche Schule anders aus, für einen Assistenten anders als für einen Professor, für eine Afrikanerin anders als für eine Deutsche. Die Gefahr der scholastischen Haltung hielt Bourdieu in der Soziologie und Philosophie für besonders groß (1994a: 219). Daher betrachtete er die Soziologie der Soziologie als Hauptvoraussetzung für eine wissenschaftliche Soziologie. Eine der wichtigsten Ursachen für den Irrtum in der Soziologie ist das unkontrollierte Verhältnis zum Gegenstand. Es muss zunächst ermittelt werden, wie die soziale Position den Gegenstand beeinflusst. In der Untersuchung des Gegenstands selbst spielen zwei Faktoren eine wesentliche Rolle: die Nutzung der gesamten soziologischen Tradition (die Begriffe, Methoden und Techniken der Vorgänger) und der kritische Geist (das Interesse, »das in der sozialen Welt Zensierte, Verdrängte aufzudecken«). Die Verstrickung der Soziologie in ihren Gegenstand hat einen weiteren Aspekt, den Bourdieu als »Theorie-Effekt« bezeichnet und als ergänzendes Argument gegen den Objektivismus, mit Vorliebe gegen Marx, ins Feld führt. Die Ergebnisse der Soziologie beeinflussen ihren Gegenstand (2001f: 106). Sie können die Menschen in ihrer alltäglichen Praxis und Sicht bestätigen-- oder zu einer Änderung bewegen. Die auf Marx sich berufenden Revolutionen sind dafür das Paradebeispiel. Das bedeutet auch, dass die Selbstkritik Soziologie der Soziologie Theorie-Effekt <?page no="54"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M+Marginalie]__Rehbein__Soziologie_Bourdieus(3)___[Druck-PDF]/ 23.05.2016/ Seite 54 www.claudia-wild.de: [UTB-M+Marginalie]__Rehbein__Soziologie_Bourdieus(3)___[Druck-PDF]/ 23.05.2016/ Seite 55 2.1 Der doppelte Bruch 55 meisten Ergebnisse der Soziologie eine historisch begrenzte Geltung haben. »Tatsächlich ist das soziale Gesetz ein historisches Gesetz, das so lange fortdauert, wie man es wirken lässt, das heißt solange, wie diejenigen, denen es (manchmal sogar ohne ihr Wissen) dient, in der Lage sind, die Bedingungen seiner Wirksamkeit fortbestehen zu lassen.« (1993b: 44) Und hiermit hängt wiederum zusammen, dass soziologische Ergebnisse nach ihrer politischen Korrektheit beurteilt werden. Das gilt auch für Bourdieus Soziologie. Viele Vorwürfe-- aber auch zustimmende Urteile-- gründen in politischen Überzeugungen, also in der unreflektierten Alltagssicht. Gegen derartige Missverständnisse hat sich Bourdieu stets vehement und frustriert gewehrt. Seine komplexe Schreibweise sollte nicht zuletzt dieser Form von Missverständnis und dem daraus resultierenden Missbrauch vorbeugen. Die genannten Kritikpunkte und Brüche sind nicht neu. Sie wurden nicht von Bourdieu entdeckt. Die deutschsprachige Diskussion über Wissenschaftstheorie von Droysen über Mach bis zu Popper und Adorno hat sie ausgiebig bearbeitet. Bourdieu wird die Diskussion gekannt haben. Er stützte sich jedoch in erster Linie auf Bachelard. Bei Bachelard findet sich ausdrücklich die Forderung nach dem »Bruch« mit dem Alltagswissen. »Das Denken muss den unmittelbaren Empirismus überwinden. Dadurch nimmt das empirische Denken ein System an. Aber das erste System ist falsch.« (Bachelard 1987: 55) Nach Bachelard muss vom Alltagswissen zur Konstruktion übergegangen werden. »Nichts ist gegeben. Alles ist konstruiert.« (Ebd.: 47) Die Konstruktion geschieht rational, muss sich aber an der Empirie abarbeiten, durch die sie allerdings weder bestätigt noch widerlegt werden kann. Kriterien sind vielmehr Konsistenz und Nachvollziehbarkeit (ebd.: 204). Der wissenschaftliche Fortschritt besteht in der Widerlegung des Irrtums (ebd.: 44). Ein großer Irrtum ist beispielsweise das Denken in Substanzen, das aus dem utilitaristischen Denken des Alltags in die Wissenschaft übernommen wurde (ebd.: 151ff ). Bachelard sucht dem Irrtum nicht nur durch eine Kritik der Gegenstandskonstruktion, sondern auch durch eine Kritik der Organisation von Wissenschaft zu begegnen. Nur durch eine selbstkritische Scientific Community könne der Fortschritt der Wissenschaft garantiert werden (ebd.: 351). Als Mittel der Selbstkritik erarbeitet Bachelard eine »Psychoanalyse des wissenschaftlichen Geistes« (so auch der Untertitel des zitierten Werkes; siehe z. B. ebd.: 303). In diesem Punkt weicht Bourdieu von Bachelard ab. Er entwickelt eine Soziologie des wissenschaftlichen Geistes. Die Soziologie der Soziologie steht auch im Gegensatz zu Hegels Dialektik und Gadamers Hermeneutik, die eine ganz ähnliche Verschränkung von Wissenschaftstheorie und Wissenschaftsgeschichte betreiben wie Bachelard und Bourdieu. In »Soziologie als Beruf« wird ausdrücklich eine Konstruktion Dialektik <?page no="55"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M+Marginalie]__Rehbein__Soziologie_Bourdieus(3)___[Druck-PDF]/ 23.05.2016/ Seite 56 56 2 Brüche Dialektik von Alltagssprache und Wissenschaftssprache gefordert (1991a: 50). Die spezifische Ausgestaltung der Dialektik trennt Bourdieu grundlegend von Hegel und Gadamer. Erstens hinterfragt er das Unterfangen der Theorie selbst, die scholastische Haltung. Zweitens wird diese Infragestellung mit einer Wissenschaftssoziologie verknüpft, die auch Selbstanalyse sein muss. Drittens wird die Wissenschaftssoziologie auf alle Bedingungen des Erkennens ausgeweitet, von den Zwängen der Geldgeber über die Grenzziehungen zwischen den Disziplinen bis hin zu den Karrierestrategien. Viertens ist die Dialektik bei Bourdieu fundamental kritisch, also gegen den Irrtum und nicht auf Wahrheit gerichtet. Fünftens-- und das ist vielleicht das Entscheidende-- wird die Dialektik nicht zwischen Geist und Text, sondern zwischen Forscherkollektiv und empirischem Material vollzogen. Zahlreiche von Bourdieus Büchern beschäftigen sich teilweise oder ausschließlich mit diesen Aspekten einer selbstkritischen, dialektischen Soziologie (z. B. 1991a, 1970b, 1971, 1973, 1976, 1987b, 1988c, 1996b, 2001f, 2002b). Allerdings ist die Dialektik nicht konsequent entwickelt und durchgeführt (siehe 3.5). 2.2 Kritik Eine Technik von Bourdieus Kritik und Selbstkritik ist das Denken in »epistemologischen Paaren« (1970b: 8). Diese Denkfigur verknüpft einen Gedanken Bachelards mit der strukturalistischen Differenz und einer dialektischen Konzeption. Zwei einander widersprechende Positionen werden aufeinander bezogen, damit eine »die Wahrheit über die andere« zeigt. Die Paare werden als unterschiedliche Sichtweisen auf die Gesellschaft und Positionen in ihr gefasst, die sich gegenseitig kritisieren und einander die blinden Flecken aufzeigen müssen (Hepp 2000: 12). Vermutlich durch den doppelten Bruch-- erst mit dem Alltagsverstand, dann mit dem Objektivismus--, aber auch durch den Gegensatz zwischen Sartre und Lévi-Strauss angeregt, suchte Bourdieu in den ersten wichtigen theoretischen Büchern seinen Ansatz als Überwindung des epistemologischen Paars Subjektivismus-Objektivismus zu begründen. Anders als viele Interpreten glaube ich nicht, dass sich sein Ansatz in diesem Versuch erschöpft. Sicher spielt die Überwindung des Gegensatzes in Bourdieus Biographie eine wichtige Rolle, aber er konstruierte auch andere bedeutende Probleme und ihre Lösung in Gestalt von epistemologischen Paaren, insbesondere in Gestalt des Gegensatzes zwischen Marx und Weber (siehe 1992b: 51f ). Schon in Algerien thematisierte er diesen Gegensatz am Beispiel des Verhältnisses von Kultur und Wirtschaft und der Frage nach dem Subproletariat (siehe epistemologische Paare Subjektivismus- Objektivismus <?page no="56"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M+Marginalie]__Rehbein__Soziologie_Bourdieus(3)___[Druck-PDF]/ 23.05.2016/ Seite 56 www.claudia-wild.de: [UTB-M+Marginalie]__Rehbein__Soziologie_Bourdieus(3)___[Druck-PDF]/ 23.05.2016/ Seite 57 2.2 Kritik 57 oben). Auch Finalismus und Mechanismus, Rationalismus und Psychoanalyse, Individualismus und Kollektivismus waren für Bourdieu wichtige Gegensatzpaare (Saalmann 2003: 50). Das epistemologische Paar Subjektivismus-Objektivismus stand für Bourdieu zwischen 1965 (1981b: 11ff ) und 1982 (1987b) im Zentrum der Erkenntnistheorie. Es erfüllt dabei auch eine didaktische Funktion, nämlich die, in seinen eigenen Ansatz einzuführen. Der Gegensatz bildet beispielsweise den Ausgangspunkt der »Theorie der Praxis« (1976; zuerst 1972), in der Bourdieu seinen Ansatz zum ersten Mal in theoretisch ausgearbeiteter Form vorlegte. Hier konzipierte er sein Denken als dialektische Überwindung des Gegensatzes. Während der Subjektivismus die Vertrautheit mit der sozialen Welt expliziere, stelle der Objektivismus die vorgängigen Beziehungen dar (1976: 147). Der Subjektivismus könne nichts über die Bedingungen der eigenen Möglichkeit sagen, der Objektivismus nichts über die Bedingungen der Möglichkeit subjektiver Erfahrung. Eine angemessene Erkenntnisweise müsse die Stärken beider Erkenntnisweisen verbinden. Diesen Ansatz bezeichnete Bourdieu als »Praxeologie«. »Wie die objektivistische Erfahrung die Frage nach den Bedingungen der Möglichkeit primärer Erfahrung stellt und darin aufdeckt, wie diese sich grundlegend durch das Fehlen einer derartigen Frage definiert, so stellt wiederum die praxeologische Erkenntnis die objektivistische auf ihre Füße, indem nun sie nach den-- theoretischen und gesellschaftlichen- - Bedingungen der Möglichkeit auch dieser Frage selbst fragt« (1976: 148). Der Objektivismus kann nicht zwischen Normen, praktischen Schemata der Handlungen (Dispositionen) und seinen eigenen Modellen unterscheiden, während der Subjektivismus keine objektiven Regelmäßigkeiten zu erfassen vermag (1976: 159ff ). Die praxeologische Erkenntnis sucht nach den »dialektischen Beziehungen zwischen diesen objektiven Strukturen und den strukturierten Dispositionen« (1976: 147). Den Terminus verwarf er bald nach Veröffentlichung des Buches, weil er die modische Vervielfachung neuer «-logien« unter den Pariser Denkern für philosophische Überheblichkeit hielt, die seinem wissenschaftlichen Impetus zuwiderlief. Die einschlägigen Passagen über das epistemologische Paar Subjektivismus-Objektivismus finden sich im »Sozialen Sinn« (1987b). Bourdieu greift hier exemplarisch die beiden einflussreichsten intellektuellen Strömungen der vorangegangenen Jahrzehnte heraus, den Strukturalismus und die Phänomenologie bzw. den Existenzialismus. Zunächst würdigt er beide Erkenntnisweisen als wissenschaftliche Brüche mit dem Alltagswissen. Strukturalismus und Phänomenologie <?page no="57"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M+Marginalie]__Rehbein__Soziologie_Bourdieus(3)___[Druck-PDF]/ 23.05.2016/ Seite 58 58 2 Brüche Auch der Subjektivismus führe den Bruch durch, indem er auf das unmittelbare Handeln, die Vertrautheit mit der Welt reflektiert, die im Alltag selten thematisiert wird (1987b: 50). Der Objektivismus dagegen verwirft das Alltagswissen, ohne es zu widerlegen oder zu erklären. Auch der Objektivismus untersucht nicht seine eigenen Bedingungen, »den epistemologischen Bruch, der zugleich ein sozialer ist«. Damit kann er auch nicht die Beziehung zwischen objektivem und erlebtem Sinn analysieren, also den Sinn des sozialen Spiels (1987b: 52). Vor allem aber sind beide Erkenntnisweisen unkritisch sich selbst gegenüber. »Unanalysiert bleiben bei jeder (subjektivistischen wie objektivistischen) wissenschaftlichen Analyse das subjektive Verhältnis des Wissenschaftlers zur Sozialwelt und das objektive (soziale) Verhältnis als Voraussetzung dieses subjektiven Verhältnisses.« (1987b: 56) Das birgt die Gefahr, unreflektiert Vorurteile in die Wissenschaft zu tragen. »Der Urheber eines Diskurses über Objekte der Sozialwelt, der es unterlässt, den Standpunkt zu objektivieren, von dem aus er diesen Diskurs hervorbringt, hat gute Aussichten, nichts weiter als diesen Standpunkt zu liefern.« (1987b: 56 Fn) Die Kritik erläutert Bourdieu dann an den beiden großen Gegenspielern, die während seines eigenen wissenschaftlichen Werdegangs das intellektuelle Feld in Frankreich bestimmt haben, Sartre und Lévi-Strauss. In dieser Kritik zeigt sich das hermeneutisch-dialektische Moment des Denkens in epistemologischen Paaren, das über die strukturalistische Differenz hinausgeht. Denn Bourdieu fragt auch, was beiden gemeinsam ist, er fragt nach den unreflektierten Voraussetzungen des Gegensatzes. Er meint, wissenschaftlicher Fortschritt sei oft nur zu erringen, indem man gegensätzliche Theorien miteinander in Verbindung bringt und dabei zur Grundlage ihres Gegensatzes vordringt (1993b: 24). Um zueinander in Gegensatz treten zu können, muss man Bourdieu zufolge etwas gemeinsam haben. Die Gemeinsamkeit zwischen Sartre und Lévi-Strauss besteht zunächst in ihrer theoretischen, scholastischen Haltung, sodann in ihrem uneingestandenen Interesse an der Definition eines Menschenbilds (1987b: 60, 86; siehe auch 1991a: 9). Die eigenen Interessen und Vorurteile werden nicht thematisiert. Indem die Gegner grundlegende Interessen und Vorurteile gemeinsam haben, sind sie daran interessiert, sie nicht zu kritisieren. Den unsichtbaren Hintergrund, die Gesamtheit unhinterfragter gemeinsamer Voraussetzungen, bezeichnet Bourdieu im Anschluss an Husserl als doxa. Die wissenschaftliche Doxa ist das Undenkbare. »Zum Undenkbaren einer Epoche gehört […] alles, was mangels ethischer oder politischer Disposition, es zu berücksichtigen oder einzubeziehen, nicht gedacht werden kann, aber auch alles, was man mangels <?page no="58"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M+Marginalie]__Rehbein__Soziologie_Bourdieus(3)___[Druck-PDF]/ 23.05.2016/ Seite 58 www.claudia-wild.de: [UTB-M+Marginalie]__Rehbein__Soziologie_Bourdieus(3)___[Druck-PDF]/ 23.05.2016/ Seite 59 2.2 Kritik 59 geeigneter Denkwerkzeuge wie Problemstellungen, Begriffe, Methoden, Verfahren nicht denken kann« (1987b: 15). Der Gedanke des Gegensatzes bei geteilten Voraussetzungen (der Doxa) spielt nicht nur in Bourdieus Wissenschaftstheorie, sondern auch in seiner Soziologie eine zentrale Rolle (siehe 3. Kapitel). Die Blindheit gegenüber den geteilten Voraussetzungen und den eigenen Vorurteilen hält Bourdieu auch für ein soziologisches Problem (1993b: 25). Daher könne die Untersuchung der Scientific Community etwas zur Wissenschaftstheorie beitragen. 3 Diesen Gedanken hatte bereits Bachelard, in Deutschland verbindet er sich vor allem mit dem Werk von Thomas Kuhn, weil die französische Wissenschaftstheorie merkwürdigerweise nie besonders einflussreich geworden ist (siehe Lepenies 1987). Wie oben erläutert, ist das Verhältnis zwischen Gegenstand, Vorurteilen und eigener sozialer Position in den Sozialwissenschaften enger und komplizierter als in den Naturwissenschaften. Selbstkritik, vor allem soziologische Kritik, ist hier dringlicher als in den von Bachelard erforschten Naturwissenschaften (1991a: 29ff; 1987b: 7). Ein wesentlicher Aspekt des Verhältnisses der Sozialwissenschaften zu ihrem Gegenstand ist dessen politischer Charakter. Es geht in ihnen nicht nur um das Bild des Menschen, sondern auch um seine gelebte Wirklichkeit. Für einige Gegenstände der Sozialwissenschaften sind Menschen bereit zu sterben. Und wer Soziologie betreibt, hat selbst reale Einsätze in seinen Gegenständen (1993b: 21). Die Politisierung hält Bourdieu für eine formidable Quelle des Irrtums. In der Physik widerlegt man den Gegner durch ein Argument, in der Soziologie durch Denunziation des politischen Gehalts seiner Theorie (1993b: 23). Bourdieu zufolge ist das keine wissenschaftliche Widerlegung. Man geht davon aus, dass Bourdieu ein politischer Denker ist, vielleicht gar der politisch engagierte Intellektuelle schlechthin. Das Politische bildet für ihn jedoch nicht die inhaltliche Begründung der Wissenschaft, sondern den formalen Zweck. Darauf werde ich im letzten Abschnitt des Kapitels genauer eingehen. Auch im Hinblick auf die Politik muss mit der Alltagssicht gebrochen werden. Politisches Engagement ist nicht Voraussetzung, sondern Resultat der wissenschaftlichen Forschung. So meint Bourdieu, die Funktion der Soziologie sei es nicht zuletzt, Prophetie und Terrorismus zu erschweren (1993b: 17, 32). Ferner: »Mein Ziel besteht darin, mit zu verhindern, dass beliebig über 3 »Man ist Empirist, Formalist, Theoretiker oder nichts von alledem sehr viel weniger aus Berufung denn aus Schicksal«, indem man von den sozialen Bedingungen der eigenen Praxis bestimmt wird (1991a: 83). politischer Charakter des Gegenstands <?page no="59"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M+Marginalie]__Rehbein__Soziologie_Bourdieus(3)___[Druck-PDF]/ 23.05.2016/ Seite 60 60 2 Brüche die soziale Welt gesprochen werden kann.« (1993b: 18) Und wie Soziologie oft als Beweis- und Legitimationsinstrument einer aus dem Alltag stammenden politischen Überzeugung benutzt wird, so werden ihre Ergebnisse oft als politische Stellungnahmen verstanden (1993b: 39). Daher will Bourdieu seine Soziologie gleichzeitig verbreiten und gegen Missbrauch schützen. Diese eigentlich unmögliche Kombination ist ihm erstaunlich gut gelungen. Die Technik der epistemologischen Paare beschränkt Bourdieu nicht auf verschiedene Schulen und Denker, er weitet sie auch auf ganze Disziplinen aus (Hepp 2000: 19f ). Objektive Trennungen durch die (wissenschaftliche) Arbeitsteilung führen zu mentalen Trennungen, die wiederum bestimmte Gedanken unmöglich machen. Die Organisation von Wissenschaft hat Auswirkungen auf ihre Ergebnisse und muss daher kritisch hinterfragt werden (1991a: 81). Bourdieus Erkenntnisse in Algerien beruhten auf der Kombination von Ethnologie und Soziologie. Tendenziell diente ja die Soziologie der Untersuchung der eigenen Gesellschaft, die Ethnologie der einer fremden. Die Trennung hat teilweise bis heute Bestand, aber Bourdieu hat viel zu ihrer Überwindung beigetragen. Seines Erachtens war die Grenzziehung zwischen Ethnologie (Fremdes beschreiben und verstehen) und Soziologie (Eigenes erklären) ein Produkt der Kolonialgeschichte ohne logische Begründung (1993b: 29). Die Distanz der Ethnologie zu ihren Gegenständen deutete er in eine Differenz von Theorie und Praxis um, also in eine zugleich notwendige und zu überwindende Objektivierung (1987b: 32f ). Die eigene Gesellschaft sollte man ebenso distanziert, unengagiert und verwundert betrachten wie eine fremde; und man müsse die gleiche Arbeit des Verstehens leisten wie in einer unvertrauten Umgebung. Diese Einstellung hat Bourdieu zeit Lebens beibehalten. Sie kulminierte im »Elend der Welt« (1997b; siehe 7. Kapitel). Schließlich wandte Bourdieu die soziologische Kritik nicht nur auf die Scientific Community an, sondern auch auf sich selbst. Die Soziologie der eigenen Position in der Gesellschaft und in der Scientific Community war für ihn Bestandteil der Wissenschaftstheorie (Krais 1991: X). Das ist einer der Gründe für seine unaufhörliche Beschäftigung mit der Wissenschaft und der Universität. Sein »Homo academicus« (1988c) wurde von vielen seiner Kollegen und Kolleginnen als Diffamierung und als Veröffentlichung interner Angelegenheiten der Wissenschaft aufgefasst. Um dieser Lesart vorzubeugen, hat Bourdieu gleich zu Beginn des Buches den wissenschaftstheoretischen und -soziologischen Impetus des Werks dargelegt: Das objektivierende Subjekt müsse sich selbst objektivieren, um seine Strukturen und Neigungen zu erkennen, die eigene Sichtweise zu objektivieren und damit den Gegenstand besser objektivieren zu können (1988c: 10). Ethnologie und-Soziologie Homo academicus <?page no="60"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M+Marginalie]__Rehbein__Soziologie_Bourdieus(3)___[Druck-PDF]/ 23.05.2016/ Seite 60 www.claudia-wild.de: [UTB-M+Marginalie]__Rehbein__Soziologie_Bourdieus(3)___[Druck-PDF]/ 23.05.2016/ Seite 61 2.2 Kritik 61 Drei Stufen der scholastischen Haltung sollten reflektiert und gleichsam unschädlich gemacht werden: die sozialen Voraussetzungen des Soziologen oder der Soziologin, die Struktur des akademischen Feldes und die theoretische Haltung (Wacquant 1996: 66f ). Bourdieu war zeitweise der Meinung, Wissenschaft auf diese Weise vollständig und angemessen begründen zu können. Durch soziologische Kritik an den eigenen Voraussetzungen sei es möglich, sich von den Verzerrungen und damit vom Irrtum zu befreien (1987b: 52f ). Diese Auffassung widerspricht seinem eigenen Ansatz und leitet sich wahrscheinlich aus seiner philosophischen Ausbildung her. Sie beinhaltet nicht nur einen Zirkel, sondern auch eine Variante des Induktionsproblems: Kritik an einzelnen Voraussetzungen ist ein endliches Unterfangen, von dem aus nicht auf ein Allgemeines geschlossen werden kann. Der Zirkel lautet, dass die soziologische Kritik an der Soziologie bereits eine Soziologie voraussetzt. Bourdieu hat ihn ernst genommen und seinen Begründungsanspruch relativiert. Er hat versucht, den Zirkel fruchtbar zu gestalten, indem er seine Theoreme auf sich selbst anwandte und empirisch überprüfte. Die Scientific Community und die eigene Position in ihr wurden mit den Mitteln untersucht, die Bourdieu in seiner empirischen Erforschung anderer Gegenstände entwickelte. Damit wurde seine Wissenschaftstheorie zunehmend empirisch verankert. Er hat sein eigenes Handeln als Streben nach Anerkennung und nach einer Verbesserung der sozialen Position (vor allem innerhalb der Wissenschaft) gedeutet (2002b; vgl. Saalmann 2003). Und genau diese Konkurrenz zwischen Wissenschaftlern um eine Verbesserung ihrer sozialen Position und um Anerkennung hielt er für den Motor wissenschaftlichen Fortschritts (siehe unten 2.4 und Fröhlich 2003: 119). Konkurrenz generiert neue Sichtweisen und Kritik und hilft damit, den Irrtum zu vermeiden (1992b: 55). Mit dem Fortschritt führt Bourdieu die Geschichte, also Relativität, wieder in das Begründungsproblem ein. Wissenschaftlicher Fortschritt ist ein offener Prozess, Begründung ist nur graduell und relativ möglich (1992b: 44ff ). Diese Auffassung scheint Bourdieu eher vertreten zu haben als den Glauben an eine Letztbegründung. Dennoch beinhaltet auch die Begründung durch Konkurrenz und Kritik (Fröhlich 2003) einen Glauben, nämlich den an wissenschaftlichen Fortschritt. Wenn man einen Irrtum »erkannt« hat, heißt das noch nicht, dass eine Wahrheit an seine Stelle tritt. Trotz seiner teilweise emphatischen Formulierungen zu dieser Frage wird sich Bourdieu der Probleme bewusst gewesen sein. Der genannte Wunsch, Beliebigkeit und Terrorismus zu verhindern, klingt gegenüber dem Universalismus des Begründungsproblems sehr bescheiden. Tatsächlich hat der viel kritisierte »Soziologismus« Bourdieus hier auch eine prak- Zirkel Wissenschaftlicher Fortschritt Soziologismus <?page no="61"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M+Marginalie]__Rehbein__Soziologie_Bourdieus(3)___[Druck-PDF]/ 23.05.2016/ Seite 62 62 2 Brüche tische Seite. Ihn trennt von Hegel und Gadamer nicht nur die Selbstkritik an der theoretischen Haltung, sondern auch die Ablehnung des Überlegenheitsanspruchs der großen Theorie (1987b: 55). Die philosophische Tradition kennt nur die Kommunikation zwischen den (ausschließlich männlichen) Heroen der Geistesgeschichte und lässt sich von ihnen Topoi und Gedanken vorgeben-- die dann eben hermeneutisch-dialektisch bearbeitet werden. Das ist ein wahrhaft hermeneutischer Zirkel. Bourdieu dagegen stellt die Fragen an das empirische Material des Alltags, konfrontiert philosophische Gedanken und alltägliche Topoi. »Eines der Geheimnisse des soziologischen Handwerks liegt darin, die empirischen Gegenstände zu finden, im Hinblick auf die sich tatsächlich sehr allgemeine Probleme stellen lassen.« (1993b: 50) Der Zirkel wird nicht durchbrochen, aber an mehreren Stellen in der Praxis verankert. Ein Anker ist die Rückbindung an die alltägliche Welt. Ein weiterer besteht in der Begrenzung des Gegenstandsbereichs. Das philosophische Begründungsproblem entsteht aus dem Bestreben heraus, die Wissenschaft vollständig und überzeitlich zu begründen. Wird eine Wissenschaft jedoch definiert und abgegrenzt, stellt sich das Problem nicht mehr in absoluten Begriffen. Bourdieus Abgrenzung der Soziologie ist reflexiv begründet. Man kann den Untersuchungsgegenstand willkürlich abgrenzen, indem man beispielsweise beschließt, den Kapitalismus zu erforschen. Die willkürliche Abgrenzung hat zur Folge, dass zahlreiche Zusammenhänge aus dem Gegenstandsbereich ausgeschlossen werden, die für seine Erkenntnis wichtig sind. Der Zufall könnte dem entgegenwirken, so dass genau die zusammengehörigen Phänomene den Gegenstandsbereich bilden. Das kann der willkürlich Entscheidende jedoch nicht wissen und nicht begründen. Die Schwierigkeit lässt sich verdecken, indem der Gegenstandsbereich vollständig und konsistent konstruiert wird. Beispielsweise kann die Gegenwartsgesellschaft vollständig und konsistent aus der kapitalistischen Wirtschaftsweise abgeleitet werden, wie das im Anschluss an Marx geschehen ist. Marx verfiel jedoch nicht zufällig auf diese Abgrenzung des Gegenstandsbereichs, sondern fasste die Geschichte in Umkehrung Hegels als Entwicklung der produktiven Praxis auf. Innerhalb dieser Praxis entdeckte er, dass der technischen Entwicklung und der gesellschaftlichen Verteilung der Produktionsmittel entscheidende Bedeutung zukomme. Daraus entwickelte er die Theorie, dass die moderne Gesellschaft durch den Kapitalismus bestimmt sei, besser gesagt: durch den Gegensatz von Kapital und Arbeit. Auf dieser Ebene ist auch Bourdieus Abgrenzung der Soziologie anzusiedeln. Für Bourdieu spielt soziale Praxis die Rolle, die bei Marx die produktive Praxis innehat. Und für die Praxis hat soziale Ungleichheit die Bedeutung, die in Marx’ Theorie dem <?page no="62"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M+Marginalie]__Rehbein__Soziologie_Bourdieus(3)___[Druck-PDF]/ 23.05.2016/ Seite 62 www.claudia-wild.de: [UTB-M+Marginalie]__Rehbein__Soziologie_Bourdieus(3)___[Druck-PDF]/ 23.05.2016/ Seite 63 2.2 Kritik 63 Besitz an Produktionsmitteln zukommt. Da Bourdieu am Gegenstandsbereich »Gesellschaft« anderes hervorhebt als Marx, ist sein Gegenstandsbereich selbst mit dem von Marx nicht identisch. Phänomene, die für Marx eine wichtige Rolle spielen, fallen aus Bourdieus Soziologie heraus-- und umgekehrt. Die wechselseitige Abhängigkeit von Fragestellung und Gegenstandsbereich war Bourdieu ganz deutlich, weit deutlicher als den Klassikern, die ihre Begriffe noch zu einem gewissen Grad realistisch auffassten-- also der Meinung waren, die Wirklichkeit genau so darzustellen, wie sie ist. Im 20.- Jahrhundert ging man immer mehr von der Konstruiertheit der Wissenschaft aus: Nicht die Wirklichkeit wird in der Wissenschaft dargestellt, sondern unsere Auffassung von Wirklichkeit. Diese These war schon von den Vorsokratikern aufgeworfen worden, aber erst Kant hat sie zur Grundlage einer Wissenschaftstheorie gemacht. Kant zufolge hängt Erkenntnis nicht in erster Linie vom Objekt ab, sondern vom Subjekt. Wissenschaftstheorie müsse sich also mit den Erkenntnisstrukturen beschäftigen, nicht mit der objektiven Wirklichkeit. Kant setzte das Subjekt noch als überzeitliche, eindeutig festgelegte Struktur voraus. Im Anschluss an ihn wurde es zunehmend als biologisches, historisches, soziales, psychologisches-- eben veränderliches-- Wesen begriffen. Für Bourdieu ist die soziale Veränderlichkeit des Erkenntnissubjekts eine zentrale These, die den Kern seiner Wissenschaftstheorie bildet. Damit ist eben jene doppelte Reflexivität, ein doppelter Bruch, gefordert. Denn es ist nicht nur die Fragestellung (und damit der Gegenstandsbereich) vom Erkenntnissubjekt abhängig, sondern dieses wiederum variiert den sozialen Umständen entsprechend. In jeder Gesellschaft und in jeder Phase der gesellschaftlichen Entwicklung wird die soziale Wirklichkeit anders gesehen. Und wenn in der Gesellschaft soziale Ungleichheit herrscht, wird die soziale Wirklichkeit von jedem Ort innerhalb der Gesellschaft anders gesehen. Dementsprechend meinte Bourdieu, »Soziologie als Beruf« müsse je nach Stand der Wissenschaft neu geschrieben werden-- wie jedes Buch über einen soziologischen Gegenstand (1991a: 84, 274). Im Übrigen sagte Marx das Gleiche über sein »Kapital«. Dieser Ansatz ist nun weniger zirkulär als relativistisch. Die Rückbindung an die Praxis und an die Empirie, die Historisierung und die Eingrenzung des Gegenstandsbereichs reagieren auf die menschliche Endlichkeit. Natürlich ist die Behauptung, alles sei relativ, ebenso selbstwidersprüchlich wie die Selbstbegründung-- aber sie wird dem menschlichen Dasein besser gerecht und ermöglicht eine fruchtbare Wissenschaft. Man kann durchaus mit Michael Vester die These aufstellen, Bourdieu habe eine soziologische Relativitätstheorie entwickelt, die der Eingebundenheit des wissenschaftli- Abhängigkeit von Fragestellung und Gegenstandsbereich soziologische Relativitätstheorie <?page no="63"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M+Marginalie]__Rehbein__Soziologie_Bourdieus(3)___[Druck-PDF]/ 23.05.2016/ Seite 64 64 2 Brüche chen Subjekts in seinen Objektbereich angemessen ist (Vester 2002: 63). 4 Die wissenschaftliche Forschung arbeitet sich gleichzeitig am Gegenstand, an der Tradition und an der eigenen Sichtweise ab, weil alle logisch miteinander verknüpft sind und einander beeinflussen. In seinen wissenschaftstheoretischen Ausführungen hat sich Bourdieu um eine hermeneutische und historische Positionierung bemüht. Seit der Entwicklung seines eigenen Ansatzes in der »Theorie der Praxis« bis zum letzten Werk, dem »Soziologischen Selbstversuch«, hat er immer wieder erörtert, wie sein eigener Ansatz sich zu anderen Ansätzen verhält und wie er historisch möglich wurde. 2.3 Konstruktion des Gegenstands Der Bruch mit der Alltagserfahrung und dessen Verknüpfung mit Kritik und Selbstkritik haben Folgen für Bourdieus Konzeption von Soziologie. Die Einheit dieser Soziologie besteht nicht in metaphysischen, theoretischen oder empirischen Sätzen, sondern in ihrer Wissenschaftstheorie. »Die soziologische Wissenschaftstheorie als ein System von Prinzipien und Regeln, das alle wissenschaftlich fundierten Handlungen und Analysen, und nur diese, bestimmt, ist das generative Prinzip aller partiellen Theorien des Sozialen.« (1970b: 9f ) Diese Wissenschaftstheorie ist im Gegensatz zu Poppers kritischem Rationalismus nicht zentral auf Überprüfung, sondern auf Entdeckung gerichtet. Es geht um die Auffindung wissenschaftlicher Begriffe und Sätze, nicht um ihre Bestätigung oder Widerlegung (Krais 1991: VII). Das ist aus Bourdieus Perspektive völlig konsequent, denn mit Begriffen, Sätzen und Fragestellungen werden eben die Vorurteile in die Wissenschaft eingeschmuggelt (1991a: 40ff ). Sind sie einmal akzeptiert, lassen sie sich kaum noch auffinden und hinterfragen. Ferner betreibt Bourdieu im Unterschied zu Popper Wissenschaftstheorie nicht als Selbstzweck, sondern zur Fundierung seiner empirischen Soziologie. Die wissenschaftstheoretische Ausgangslage vor Beginn der soziologischen Forschungsarbeit gründet in der relativen Position des Wissenschaft- 4 Bourdieu hat diese Relativitätstheorie weniger entwickelt als praktiziert. Sie findet sich in den eingestreuten Reflexionen innerhalb seiner empirischen Arbeiten. In »Wissenschaft als Beruf« sind nur ihre Ansätze vorhanden. Ich glaube allerdings nicht, dass Bourdieu seine »Relativitätstheorie« zu Ende gedacht und in Axiomen und Theoremen konsistent gestaltet hat, weil die Theorie der Wissenschaft gegenüber der Praxis der Wissenschaft und später der realen Praxis immer mehr in den Hintergrund geriet. Es ist dennoch interessant, dass Bourdieus »Relativitätstheorie« auf viele Fragen antwortet, die Peter Winch (1958) in einem ganz anderen Zusammenhang gestellt hat und von Habermas aufgegriffen wurden (siehe unten 2.4). Entdeckung <?page no="64"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M+Marginalie]__Rehbein__Soziologie_Bourdieus(3)___[Druck-PDF]/ 23.05.2016/ Seite 64 www.claudia-wild.de: [UTB-M+Marginalie]__Rehbein__Soziologie_Bourdieus(3)___[Druck-PDF]/ 23.05.2016/ Seite 65 2.3 Konstruktion des Gegenstands 65 lers oder der Wissenschaftlerin: der Eingebundenheit in den Gegenstandsbereich und der Unmöglichkeit, einen absoluten, zeitlosen, objektiven Standpunkt einnehmen zu können. Bourdieus Antwort darauf ist der doppelte Bruch: mit dem Gegenstandsbereich und mit der eigenen Position. Sodann beginnt ein hermeneutischer Zirkel von Kritik, Selbstkritik und Abarbeitung am Gegenstand (siehe Abbildung 2). Kritik und Selbstkritik sind notwendige, aber nicht hinreichende Bedingungen von Bourdieus Soziologie. Sie müssen gleichsam mit einer Kritik durch den Gegenstand verbunden werden, die wiederum zirkulär ist, weil sie eine Art Theorie des Gegenstands voraussetzt. 5 Auch diesen Zirkel nimmt Bourdieu ernst (2004a: 161f ). Da die eigene soziale Position den Blick auf den Gegenstand bestimmt, müssen Bearbeitung des Gegenstands und Bearbeitung seiner Sichtweise Hand in Hand gehen. Der Gegenstand muss kontrolliert konstruiert werden (1991a: 37ff; 2004a: 15 Fn). Ein Prinzip hilft Bourdieu beim Versuch, Halt zu finden: Durkheims Forderung, die sozialen Tatsachen wie Dinge zu behandeln, entspricht Galileis Revolution bei der Betrachtung physikalischer Gegenstände (1991a: 38). Damit meint Bourdieu nicht, wie oben erläutert, die Entfernung des Sinns aus der Soziologie und ihre Reduktion auf soziale 5 Diese Erkenntnis gilt als Poppers Errungenschaft, aber sie gehört im Grunde seit den Vorsokratikern zum Stamm philosophischer Argumente. Abbildung 2: Alltag, wissenschaftliches Feld und Wissenschaftler. <?page no="65"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M+Marginalie]__Rehbein__Soziologie_Bourdieus(3)___[Druck-PDF]/ 23.05.2016/ Seite 66 66 2 Brüche Physik (wie in Extremformen des Positivismus von Comte bis Walras), sondern lediglich die Forderung nach Wissenschaftlichkeit: die Soziologie als ein theoretisch konstruiertes, konsistentes System von Begriffen, Axiomen und Erklärungen aufzufassen. Die Konsistenz des Systems wird durch ein weiteres Prinzip Durkheims gewährleistet, das für Bourdieu zentral ist, aber selten ausgesprochen wird. Die Soziologie soll das Soziale (nur) durch das Soziale erklären (1993b: 39). Damit ist gemeint, dass alle Sätze der Soziologie auf andere soziologische Sätze verweisen. Ein soziologischer Satz kann nur durch einen soziologischen Satz widerlegt oder begründet werden. Dazu gilt es, eine Begrifflichkeit zu konstruieren, die auf einer konsistenten, nicht auf andere Wissenschaften zurückgreifenden Axiomatik basieren. Sie ist Thema des folgenden Kapitels. Hier seien nur die wesentlichen Folgerungen erwähnt, die sich aus Bourdieus Wissenschaftstheorie ergeben. Für den Positivismus, so Bourdieu, gibt es eine konstruierende und eine nicht konstruierende Wissenschaft. Tatsächlich aber gebe es nur jene. Der eigentliche Unterschied bestehe zwischen der Wissenschaft, die sich dessen bewusst ist, und der, die es nicht ist (1997b: 781). Mit diesem Ansatz steht Bourdieu ganz in der Tradition Bachelards (1991a: 271). Später sagte er in einem Interview, er habe in »Soziologie als Beruf« immer die Konstruktion des Gegenstands gefordert, aber nirgends erklärt, wie man das macht (1991a: 279). Das scheint mir eher Lob als Tadel zu sein. Denn er gelangte ja selbst erst in der »Theorie der Praxis« zu einer hinreichend konsistenten Begrifflichkeit. Erst dann wäre es möglich gewesen, die Konstruktion zu demonstrieren. Die Erklärung der Konstruktion sind Bourdieus empirische Werke. Ihr Grundmerkmal ist das Denken in Relationen (Wacquant 1996: 34f ). Der Begriff der Relation steht im Gegensatz zu dem der Substanz. In der Kontrastierung beider Begriffe lehnte sich Bourdieu an Ernst Cassirers Werk über »Substanzbegriff und Funktionsbegriff« an (siehe hierzu Bickel 2003; Magerski 2005). Substanzialistisch ist die Betrachtung eines Phänomens als selbständig und seines Verhältnisses zu anderen als mechanische Relation. Soziale Praktiken werden als unwandelbar in ihrem Sinn und selbständig aufgefasst (1998c: 16ff ). Gegen diese Auffassung führt Bourdieu eine historische und relativistische Sichtweise ins Feld: Gegensätzliche Phänomene oder wechselnde Phänomene zu verschiedenen Zeitpunkten können dieselbe soziale Basis und denselben Sinn haben, während ein und dasselbe Phänomen von verschiedenen sozialen Positionen und zu verschiedenen Zeitpunkten einen unterschiedlichen Sinn haben kann. Jeder empirische Satz Bourdieus sollte als Anwendung dieses Prinzips gelesen werden. Hier sei als Beispiel Vivaldis Musik erwähnt, die nach dem Zweiten Weltkrieg wiederentdeckt wurde und dann in den kulturell gebildeten Schichten als Geheimtipp und besonders schick galt, aber Durkheim Konstruktion des Gegenstands Denken in Relationen <?page no="66"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M+Marginalie]__Rehbein__Soziologie_Bourdieus(3)___[Druck-PDF]/ 23.05.2016/ Seite 66 www.claudia-wild.de: [UTB-M+Marginalie]__Rehbein__Soziologie_Bourdieus(3)___[Druck-PDF]/ 23.05.2016/ Seite 67 2.3 Konstruktion des Gegenstands 67 innerhalb weniger Jahre zur Fahrstuhlmusik verkam und dann nur noch in den unteren Schichten als »gute« klassische Musik galt (1992b: 200). 1960 war das Phänomen »Vivaldis Vier Jahreszeiten« in der Oberschicht etwas Wertvolles, 1990 etwas Triviales, 1960 war es in den Unterschichten unbekannt, 1990 Inbegriff gehobener Kultur (1992b: 200). Bourdieu begründete das relationale Denken mit Cassirer (1970b). Er erwarb es jedoch mit dem Strukturalismus, ja er bezeichnete es sogar als die entscheidende Neuerung des Strukturalismus (1970b: 10f; 1987b: 12). Bei Cassirer verbindet sich das relationale Denken mit der Differenzialrechnung und dem Funktionsbegriff, im Strukturalismus mit der Differenz (Saussure 1984: 166). Man könnte sagen, dass der Strukturalismus nur eine einzige Relation kennt, Cassirer aber sehr viele Arten. Bei Bourdieu ist ebenfalls die Differenz die wichtigste Relation, und zwar wie bei Lévi- Strauss als Gegensatz. Zwar hatte auch Hegel im Anschluss an Spinoza alle sinnhaften Phänomene (oder gar alle Phänomene) als Negation verstanden, aber sie musste als logischer Operator inhaltlich durchgearbeitet werden. Bourdieu dagegen schließt Logik und Soziologie kurz, wenn er den Gegensatz als Prinzip von Handlungen fasst. Bei Saussure (und teilweise noch bei Lévi-Strauss) resultiert Sinn aus der Differenz, die der Gegensatz eines Zeichens gegen ein anderes ist. Das setzt die Abtrennung einer zeitlosen (»synchronen«) langue von der parole voraus (Saussure 1984: 27, 112, 124). Bei Bourdieu resultiert Sinn aus der Differenz, die ein sozialer Gegensatz ist. Ganz analog bestimmt Bourdieu den Sinn sozialer Phänomene, beispielsweise als Gegensatz von Golf und Fußball. Das soll die Erklärung des Sozialen durch das Soziale sein, aber das Soziale wird hier zunächst logisch-- strukturalistisch-- bestimmt. Man könnte sagen, dass Bourdieu hier selbst das logische Prinzip der Erklärung mit dem faktischen Prinzip der Praxis identifiziert. Das hatte er ja gerade am Objektivismus kritisiert. Die Vorherrschaft des Gegensatzes ist bei Bourdieu nur eine Tendenz, wenn auch eine sehr starke. Seine Soziologie geht nicht darin auf, sondern beinhaltet mindestens eine Tendenz, die meines Erachtens weiterführt, ja geradezu bahnbrechend sein könnte (siehe Rehbein 2013). Rolf-Dieter Hepp (2000) hat Bourdieus Denken als konfigurational aufgefasst. Da keine universale Theorie vorausgesetzt werden könne, müsse in der Soziologie stets vom Einzelfall ausgegangen werden (ebd.: 128). Im Einzelfall seien die Relationen aus dem Gegenstand zu entwickeln, was aber ein Allgemeines impliziert. In der Entwicklung der Relationen seien Allgemeines und Einzelnes aufeinander zu beziehen (ebd.: 130ff ). Jede entwickelte Hypothese sei in einen Kontext eingebunden, der zur Konstruktion der Hypothese beiträgt und dem Einzelfall seine Unmittelbarkeit nimmt (ebd.: 26). Das klingt sehr nach Hegel, auch ein bisschen nach dem Holismus der Konfiguration <?page no="67"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M+Marginalie]__Rehbein__Soziologie_Bourdieus(3)___[Druck-PDF]/ 23.05.2016/ Seite 68 68 2 Brüche analytischen Wissenschaftstheorie. 6 Der Unterschied besteht darin, dass Bourdieu das Allgemeine nicht voraussetzen will. Es ist zwar im Einzelnen impliziert, ändert sich aber mit jeder Relation. Anders gesagt: Im Anschluss an Max Weber hat Bourdieu entdeckt, dass Gesellschaft keine Totalität ist. Es gibt Konfigurationen von Relationen, die auf andere Relationen außerhalb der Konfiguration verweisen. Aus jeder Perspektive innerhalb und außerhalb der Konfiguration ändert sich diese wie ein Kaleidoskop. Jede Konfiguration wird aus der wissenschaftlich beobachtenden Perspektive konsistent konstruiert, also unter Voraussetzung eines Allgemeinen, aber jede neue Relation, jede Veränderung der Konfiguration und jede Veränderung der Perspektive zwingt zu einer Revision des Allgemeinen. Es ergeben sich Theorien, die auf einer mittleren Ebene angesiedelt sind. Sie sind mehr als Beschreibungen oder empirische Feststellungen und weniger als eine universale Theorie (ebd.; siehe Bourdieu 1992b: 38). Ich werde im Abschnitt 3.5 darauf zurückkommen. Ich glaube, Bourdieu hat versucht, in Kaleidoskopen zu denken, auch wenn er teilweise über Gebühr an einzelnen Begriffen und Axiomen festgehalten hat, insbesondere am sozialen Gegensatz. Seiner eigenen Wissenschaftstheorie zufolge aber müssen Theorie und Empirie ganz aufeinander bezogen sein. Alle Begriffe und Theoreme sollen »falsifizierbar« sein. Bourdieu plädiert auch in dem Sinne für eine mittlere Ebene, dass er sowohl Theorie wie Methodologie um ihrer selbst willen ablehnt (1991a: 2). Jede Methode muss ebenso der jeweiligen Konfiguration angepasst und von ihr modifiziert werden wie jede Theorie (1991a: 6). Auch eine Methode ist soziologisch relativ. Dieselbe soziologische Frage hat in den unterschiedlichen Klassen und Gruppen verschiedene Bedeutungen (1991a: 49). Und man muss sich der Voraussetzungen bewusst werden, die man selbst in die Frage einbringt, mit ihr verbindet (1991a: 54). Soziologische Forschung ist eine soziale Interaktion, die als solche untersucht werden muss (1997b: 780 Fn). Für Bourdieu bilden Empiriker und Theoretiker ein epistemologisches Paar (1970b: 7f ). Sie kämpfen gleichermaßen gegen die theoriedurchdrungene Empirie, trennen Empirie und Methode oder gar Theorie 6 Noch mehr drängt sich diese Assoziation bei folgendem Bourdieu-Zitat auf: »Im Gegensatz zu einer Serie diskontinuierlicher ad-hoc-Hypothesen verdankt ein System von Hypothesen seinen epistemologischen Wert seiner Stimmigkeit und der schlechthinnigen Anfechtbarkeit, die diese ihm verleiht: da nämlich eine einzige Tatsache es als Ganzes in Frage stellen kann und es um den Preis eines Bruches mit dem Erscheinungsbild der Phänomene konstruiert wurde, findet es zu keiner spontanen und leichten Verifikation […] Zu verifizieren ist es vielmehr erst im Falle der völligen Stimmigkeit des vollständigen Systems der Tatsachen, die durch- - und nicht für- - die theoretischen Hypothesen geschaffen wurden.« (1970b: 14) <?page no="68"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M+Marginalie]__Rehbein__Soziologie_Bourdieus(3)___[Druck-PDF]/ 23.05.2016/ Seite 68 www.claudia-wild.de: [UTB-M+Marginalie]__Rehbein__Soziologie_Bourdieus(3)___[Druck-PDF]/ 23.05.2016/ Seite 69 2.4 Emanzipation 69 und Methode und teilen die Illusion einer epistemologischen Neutralität. In der Verbindung von Theorie und Empirie sieht Loïc Wacquant übrigens auch den Gegensatz Bourdieus zu den bekannten deutschen Soziologen (2003c: 108). Ich halte es für wichtig, Bourdieus Soziologie als Forschungsprogramm zu interpretieren, nicht als Corpus von Lehrsätzen. Wenn Bourdieu mit Vehemenz einzelne Sätze vorgebracht und verteidigt hat, so geschah das meist in kritischer Funktion, also in der Absicht, akzeptierte Lehrsätze zu widerlegen. In dieser Hinsicht ist Bourdieus Soziologie eine kritische Theorie, und zwar bis in die wissenschaftstheoretische Begründung hinab. Kritik und Selbstkritik müssen sich auch auf die eigene Wissenschaftstheorie erstrecken, und theoretische Sätze müssen immer auf die Empirie bezogen werden. Man könnte fast behaupten, dass Bourdieu gar keine Lehre hinterlassen hat-- außer der Aufforderung, kritisch und selbstkritisch zu forschen. »Mit meiner Analyse eines historischen Falls liefere ich ein Programm für andere empirische Analysen unter anderen Verhältnissen als den von mir untersuchten. Sie ist eine Aufforderung zur schöpferischen Lektüre und zur theoretischen Induktion, die von einem gut konstruierten besonderen Fall ausgehend verallgemeinert.« (1991a: 278) 2.4 Emanzipation Kritische und selbstkritische Forschung sind die Grundlage von Bourdieus Soziologie. Sie umfasst mehr als die Aufforderung weiterzumachen, weil Bourdieu die Verstrickung der Soziologie in den Alltag wissenschaftstheoretisch ernst genommen hat. Soziologie kritisiert den eigenen Irrtum und den Irrtum der soziologischen Tradition- - aber auch den Irrtum (besser: die Fehler) der sozialen Welt. Damit ist sie kritisch nicht im Sinne des kritischen Rationalismus, sondern im Sinne der kritischen Theorie. Nun ist aber auch der Gebrauch von Wissenschaft zur Kritik (oder Selbstkritik) der Gesellschaft ein zirkuläres Unterfangen. Was soll überhaupt kritisiert werden, und nach welchen Kriterien? Bourdieu betrachtet die Soziologie zunächst wie jeden Bereich der sozialen Welt. Einen Bereich dieser Art hat er später als »Feld« bezeichnet (siehe 5.3). Der einschlägige Text für seine Analyse des wissenschaftlichen Feldes findet sich im Büchlein mit dem Titel »Vom Gebrauch der Wissenschaft« (1998e). Ihm zufolge besteht das vorrangige Ziel auf dem wissenschaftlichen Feld darin, jeweils der oder die Beste in einer Disziplin zu sein (1998e: 28). Dabei gelten zunächst die Kriterien des Feldes, nämlich rein wissen- Soziologie als Forschungsprogramm kritische Theorie wissenschaftliches Feld <?page no="69"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M+Marginalie]__Rehbein__Soziologie_Bourdieus(3)___[Druck-PDF]/ 23.05.2016/ Seite 70 70 2 Brüche schaftliche: Einen Mathematiker kann man nur mathematisch übertrumpfen, nicht mit anderen Mitteln (ebd.). Der Kampf auf dem wissenschaftlichen Feld würde also zu einem ständigen Erkenntnisfortschritt führen, wenn allein die rein wissenschaftlichen Kriterien des Feldes gälten. Bourdieu unterscheidet vor allem zwei Sorten wissenschaftlichen Einflusses, die auf dem wissenschaftlichen Feld die Position verbessern: institutionelle Macht und persönliches Prestige durch Leistung (1998e: 31). 7 Rein wissenschaftliches Prestige wird durch Entdeckungen und Erfindungen (vor allem in Form von Veröffentlichungen in höchst selektiven Medien) erworben, institutionelle Macht durch politische Strategien (Mitgliedschaft in Kommissionen usw.), die vor allem Zeit beanspruchen. Oft ist Letzteres eine Kompensation für den Mangel an wissenschaftlicher Kompetenz (1998e: 32). Die Position von Wissenschaftlern und Wissenschaftlerinnen auf dem Feld ergibt sich aus ihrer jeweiligen Kombination beider Formen wissenschaftlichen Einflusses (1998e: 34). Nun begnügt sich Bourdieu nicht mit der bloßen soziologischen Analyse des wissenschaftlichen Feldes, sondern verbindet sie mit normativen Sätzen. »Alles liefe also bestens in der besten aller möglichen Wissenschaftswelten, wenn die rein wissenschaftliche, in der alleinigen Macht von Begründung und Beweis stehende Logik des Wettbewerbs nicht durch externe Kräfte und Zwänge konterkariert […] würde« (1998e: 30). Der Fortschritt in der Wissenschaft werde vor allem durch größere Autonomie des wissenschaftlichen Feldes gewährleistet (1998e: 37; vgl. Hepp 1999: 462f ). Man könnte meinen, dass Bourdieu in positivistischer Weise auf eine Begründung des wissenschaftlichen Fortschritts selbst verzichtet. In der Tat kommt Bourdieu dieser Position in vielen seiner Schriften nahe, vor allem in »Soziologie als Beruf«. In seiner Schrift über den »Gebrauch von Wissenschaft« dagegen sieht Bourdieu das Problem durchaus, dass Wahrheitskriterien selbst einer Begründung bedürfen. Er scheint zunächst lediglich vorschlagen zu wollen, die positivistische Vorstellung vom Erkenntnisfortschritt durch kritische Selbstreflexion ergänzen zu wollen (1991a: 84). Er meint sogar, dass eine »kollektive Selbstanalyse« von den äußeren und die Erkenntnis verzerrenden Zwängen befreie (1998e: 15). Diese Selbstanalyse fasst er ganz objektivistisch. Für Bourdieu liefert seine eigene Feldtheorie ein objektives Bild der sozialen Wirklichkeit und damit auch der Scientific 7 Zu dieser Unterscheidung und weiteren Formen des Einflusses (»Kapitals«) siehe Fröhlich (2003: 120f ). wissenschaftliches Prestige institutionelle Macht Autonomie des wissenschaftlichen Feldes <?page no="70"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M+Marginalie]__Rehbein__Soziologie_Bourdieus(3)___[Druck-PDF]/ 23.05.2016/ Seite 70 www.claudia-wild.de: [UTB-M+Marginalie]__Rehbein__Soziologie_Bourdieus(3)___[Druck-PDF]/ 23.05.2016/ Seite 71 2.4 Emanzipation 71 Community. Die soziologische Analyse des wissenschaftlichen Feldes erweise die Beschränktheit der unterschiedlichen Standpunkte und biete Einsicht in die Art und die Gründe der Beschränktheit (1998e: 40). Damit gebe die Soziologie den einzelnen Wissenschaftlern und Wissenschaftlerinnen die Mittel an die Hand, die jeweils anderen Positionen zu verstehen, ihre Beschränktheit und Einseitigkeit zu verzeihen und zu einer Verständigung zu gelangen. Bourdieus soziologische Theorie ist zugleich eine Wissenschaftstheorie. Das Feld der Wissenschaft bestimmt sich (objektiv) durch Konkurrenz um Erkenntnis, Kritik und rationale Kommunikation. Die Rolle Bourdieus dabei sei die eines »Aufklärers«, der eine »Realpolitik der Vernunft« betreibe (ebd.). »Nur so lässt sich jenes Ideal verwirklichen, das als Wirklichkeit der Kommunikation auftritt, [indem man] den spezifisch sozialen Widerständen gegen eine vernunftgeleitete Kommunikation, gegen einen aufgeklärten Diskurs« begegnet (1998e: 58f; siehe auch Chauviré, Fontaine 2003: 72f ). Dieser Gedanke könnte im selben Wortlaut von Jürgen Habermas stammen. Den einzigen Unterschied zu Habermas sieht Bourdieu an dieser Stelle darin, dass er selbst die Bedingungen der wirklichen Kommunikation kritisch erforsche, während sich Habermas nur für das Ideal der rationalen Kommunikation interessiere. Faktische Kommunikation steht für Bourdieu im Zeichen symbolischer Gewalt (siehe 6.1). Aber auch er setzt »eine vernunftgeleitete Kommunikation« als Maßstab der kritischen Erforschung der wirklichen Kommunikation voraus. Und der Inbegriff einer vernunftgeleiteten Kommunikation ist für Bourdieu eine völlig autonome Scientific Community. Hier ist ein weiterer Zirkel anzusiedeln, den Bourdieu im Gegensatz zu den bisher aufgeführten nicht sehen wollte. Der Zirkel besteht darin, dass Wissenschaft allein rein wissenschaftlichen Kriterien gehorchen soll, die sich als aufgeklärter Diskurs darstellen, der wiederum nur begründet werden kann, wenn man voraussetzt, dass rein wissenschaftliche Argumentation zu einem Erkenntnisfortschritt führt. Bekanntlich hat Max Weber den Zirkel zu durchbrechen versucht, indem er sagte, Wissenschaft selbst könne man nicht wissenschaftlich begründen, sondern sich nur für sie entscheiden. Bourdieu gibt keine Gründe und Kriterien für die gesellschaftliche Anwendung von Wissenschaft. Und er begründet nicht, warum Verständigung im wissenschaftlichen Feld zu Fortschritt-- und vor allem zu Wahrheit-- führen soll. Habermas hat das Problem ernster genommen als Weber und erst recht ernster als Bourdieu. Er hat sich 20 Jahre lang daran abgearbeitet, nachdem er erkannt hatte, dass die Grundhaltung gegenüber dem Problem die Form von Wissenschaft selbst gestaltet. Konkurrenz um Erkenntnis, Kritik und rationale Kommunikation Erkenntnisfortschritt Habermas <?page no="71"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M+Marginalie]__Rehbein__Soziologie_Bourdieus(3)___[Druck-PDF]/ 23.05.2016/ Seite 72 72 2 Brüche Habermas geht wie Bourdieu (z. B. 1998e: 75) vom hermeneutischen Grundproblem der Sozialwissenschaften aus, dass ein Sozialwissenschaftler oder eine Sozialwissenschaftlerin Teil des eigenen Gegenstandsbereichs ist (Habermas 1970: 120ff, 166f, 191). Es gibt keine Außenperspektive auf die Gesellschaft. Im Gegenteil, erst die Vertrautheit mit dem sozialen Sinn ermöglicht eine Wissenschaft vom Sozialen (Habermas 1970: 199; Bourdieu 1991a: 22ff, 44). Damit werden aber die wissenschaftlichen Kategorien vom Gegenstand beeinflusst. Im Gegensatz etwa zu Gadamer sind Habermas und Bourdieu der Auffassung, dass die kritische Selbstreflexion eine Befreiung von den Zwängen der Gesellschaft und der Geschichte ermögliche. Bourdieu meint, durch den epistemologischen Bruch und die gleichzeitige Reflexion auf die eigenen Bedingungen bis zu einem gewissen Grad aus dem hermeneutischen Zirkel ausbrechen zu können (1991a: 63; 1993b: 52f; vgl. Miller 1989). Er scheint allerdings in der Einschätzung geschwankt zu haben. An einigen Stellen meint er, das Bewusstsein von den Bedingungen hebe diese nicht auf (1976: 177). Das meinte auch Gadamer, dessen hermeneutischer Relativierung Habermas vermutlich näher ist. Horkheimer und Adorno konfrontierten Habermas mit der Einschätzung, dass ein Ausbruch aus der Geschichte, die in der Entfaltung von instrumenteller Vernunft und Herrschaft besteht, unmöglich ist. Die Aporie Horkheimers und Adornos hebelt Habermas aus, indem er ihre Voraussetzungen der »linguistischen Wende« unterzieht. Auf der Basis der Unterscheidung von Erklären und Verstehen gibt Habermas Webers Unterscheidung zwischen Wert- und Zweckrationalität einen neuen analytischen Stellenwert (Habermas 1987, I: 377ff ). Die instrumentelle Vernunft bestimmt demnach nicht mehr die gesamte Gesellschaft, sondern nur einen ihrer Bereiche, nämlich den der Arbeit bzw. des zweckrationalen Handelns. Dem steht die Interaktion von Menschen gegenüber. Wenn wirkliche und wissenschaftliche Zwangszusammenhänge nur durch Selbstreflexion zu überwinden sind und sich zugleich im Medium der Interaktion ausdrücken müssen, kann nur die reflexive Analyse dieses Mediums den Zirkel der Erkenntnis durchbrechen. 8 Letztlich geht es für Habermas’ Soziologie also darum, die soziokulturellen Bedingungen einer »rationalen Lebensführung« zu bestimmen (ebd.: 72). Eine solche Soziologie begründet sich selbst normativ und rati- 8 Dieser Angelpunkt der Begründung stand für Habermas bereits im Aufsatz über »Erkenntnis und Interesse« (1968) fest, nur die konkrete Ausgestaltung änderte sich im Lauf der folgenden 20 Jahre (siehe 1987, I: 511ff; II: 560ff; vgl. Horster 1999: 15ff ). Befreiung von den Zwängen der Gesellschaft <?page no="72"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M+Marginalie]__Rehbein__Soziologie_Bourdieus(3)___[Druck-PDF]/ 23.05.2016/ Seite 72 www.claudia-wild.de: [UTB-M+Marginalie]__Rehbein__Soziologie_Bourdieus(3)___[Druck-PDF]/ 23.05.2016/ Seite 73 2.4 Emanzipation 73 onal aus der Erklärung der Geschichte. Sie kann nicht an der Idee des guten Lebens ausgerichtet sein, sondern nur Bedingungen der Verhinderung von Rationalität kritisieren (ebd.: 112). Genau diesen Gedanken, der Habermas’ Nähe und Distanz zu Adorno belegt, hatte Bourdieu gegen Habermas ins Feld geführt- - offenbar zu Unrecht. Für Habermas ist Sozialwissenschaft ebenso wie für Bourdieu gebunden an die Geschichte und hat die Kritik an den Bedingungen, die rationale Verständigung verhindern, zur wissenschaftstheoretisch vorrangigen Aufgabe. Kommunikationszusammenhänge sind für Habermas in dem Maße rationalisiert, wie sie aus Argumentation begründet sind. »Entsprechend kann eine Lebenswelt in dem Maße als rationalisiert angesehen werden, wie sie Interaktionen gestattet, die nicht über ein normativ zugeschriebenes Einverständnis, sondern […] über eine kommunikativ erzielte Verständigung gesteuert werden.« (Ebd.: 455) Verständigung beruht immer auf Gründen, nicht auf Zwang (ebd.: 525). Die Untersuchung der Bedingungen einer möglichen Einlösung der Gründe, die Habermas als Geltungsansprüche bezeichnet, ist eine Art transzendentale Begründung. »An die Stelle eines Beweises a priori tritt die transzendentale Untersuchung der Bedingungen argumentativer Einlösung der Geltungsansprüche, die auf diskursive Einlösung angelegt sind.« (Habermas 1984: 382) Das transzendentale Subjekt wird als intersubjektives an die Lebenswelt zurückgebunden (vgl. Horster 1999: 18f, 46ff ). Und in dieser Intersubjektivität ist der Anspruch auf wechselseitige Anerkennung, Emanzipation und Versöhnung als Voraussetzung des-- nur im Unendlichen erreichbaren-- Konsensus enthalten. Es gibt also drei Ebenen: die kommunikative Lebenswelt, den Diskurs über die in ihr enthaltenen Geltungsansprüche und die philosophische Reflexion auf die Bedingungen des Diskurses. Und in jeder Ebene ist das Ideal von Verständigung und Emanzipation enthalten. Bei der direkten Gegenüberstellung dürften Parallelen zwischen grundlegenden Zielen von Habermas und Bourdieu ins Auge springen. Die Scientific Community-- der westlichen Demokratie-- wird von beiden als Prototyp einer auf rationale Verständigung abzielenden Gemeinschaft aufgefasst. Wissenschaftstheorie besteht vor allem in der Ermöglichung von Selbstreflexion und Kritik, um gegen Verständigung wirkende Bedingungen kenntlich zu machen. Die Geschichte der Wissenschaft müsste also zu einem Erkenntnisfortschritt führen. Der Fortschrittsoptimismus aber beinhaltet die Weigerung, die eigenen Voraussetzungen explizit auszuweisen. Die Annahme des Erkenntnisfortschritts impliziert zweierlei. Erstens ist die eigene Zeit immer die am höchsten entwickelte und kann höchstens durch sich selbst kritisiert werden. Zweitens erlaubt die wissenschaftliche Betrachtung der Wirklichkeit, deren objektive Entwicklung zu erkennen. <?page no="73"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M+Marginalie]__Rehbein__Soziologie_Bourdieus(3)___[Druck-PDF]/ 23.05.2016/ Seite 74 74 2 Brüche Nach Habermas und Bourdieu muss die Aufklärung vorangetrieben und auch auf sich selbst gerichtet werden. 9 Dabei ist Selbstreflexion das Mittel gegen die hermeneutische Verstricktheit der Sozialwissenschaften in ihren Gegenstand. Sie ist zugleich praktisch und theoretisch orientiert- - und im Projekt einer Scientific Community in höchstem Maße verwirklicht (bei Bourdieu ganz deutlich 1992c: 46). Denn Wissenschaft soll auf einen zwanglos erreichten, nur auf Argumenten beruhenden Konsens abzielen (Habermas 1987, I: 455; Bourdieu 1998e: 58, 79). Bourdieus Darstellung einer idealen wissenschaftlichen Gemeinschaft (1998e: 40) entspricht genau Habermas’ idealer Sprechsituation. Und bei beiden fungiert die ideale Situation als Maßstab von Kritik, nicht als unbedingt zu verwirklichender Zustand. Die Orientierung am Ideal strukturiert die Auswahl des Gegenstands: Beide unterscheiden im Wesentlichen zwei Formen des Handelns: (rationale) Verständigung und (irrationale oder zweckrationale) Herrschaft-- und erklären jene für gut, diese für schlecht. Der wesentliche Unterschied zwischen beiden Ansätzen folgt nun daraus, dass Habermas sein Ideal transzendental begründen möchte, indem er es zugleich in seiner eigenen Tätigkeit und im Gegenstand selbst verortet. 10 Anders gesagt, Habermas sucht den Prototyp einer emanzipierten Gesellschaft als Ideal der tatsächlichen Gesellschaft zu erweisen, während Bourdieu ihn auf die Wissenschaft beschränkt. Nach Habermas folgt der Anspruch auf Verständigung aus sprachlicher Interaktion, die in der Wissenschaft und in der Lebenswelt notwendig stattfindet. Nach Bourdieu dagegen folgt der Anspruch auf Rationalität aus wissenschaftlicher Tätigkeit. Habermas versucht, aus einer empirischen Betrachtung in transzendentaler Einstellung die Norm einer wissenschaftlichen Gemeinschaft zu extrahieren, während Bourdieu die Norm in Gestalt der wissenschaftlichen Tätigkeit einfach voraussetzt. Bourdieu glaubt wie Durkheim an die Wissenschaft und will von hier aus kritisch in die Gesellschaft eingreifen. Die Parteinahme für Wissenschaft wird allenfalls mit Weber als Entscheidung gerechtfertigt. Habermas vereint Webers Wissenschaftskonzeption mit der Forderung nach gesellschaftlicher Kritik, die er wie Adorno und Marx mit einer emanzipierten Gesellschaft rechtfertigt. Bourdieu betreibt einfach die vorausgesetzte Wissenschaft (ohne sie zu begründen), während Habermas sich größtenteils in ihrer Begründung verliert. Es verwundert daher nicht, dass Habermas’ Theorie in den Sozialwissenschaften weit weniger Spuren 9 Das sagt Bourdieu tatsächlich ebenso wie Habermas (z. B. Bourdieu 1998e: 58). 10 Durch die Rückbindung an den Gegenstand und die Geschichte kann das Ideal keinen rein transzendentalen Stellenwert mehr haben, weshalb Habermas es als quasi-transzendental bezeichnet. Aufklärung Parteinahme für Wissenschaft <?page no="74"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M+Marginalie]__Rehbein__Soziologie_Bourdieus(3)___[Druck-PDF]/ 23.05.2016/ Seite 74 www.claudia-wild.de: [UTB-M+Marginalie]__Rehbein__Soziologie_Bourdieus(3)___[Druck-PDF]/ 23.05.2016/ Seite 75 2.4 Emanzipation 75 hinterlassen hat als Bourdieus, dagegen in auf Begründung ausgerichteten Disziplinen wie Jura und Philosophie sehr wirkungsmächtig geworden ist. Aus Habermas’ Perspektive erscheint Bourdieus Ansatz als objektivistisch und philosophisch naiv. Bourdieu möchte die Probleme der Lebenswelt, des Subjekts und der Handlungsregeln aus der Soziologie entfernen, um »objektivistisch«, besser gesagt: relational konstruierend, vorgehen zu können. Seine Werke stellen ein Thema in den Mittelpunkt: soziale Ungleichheit und ihre Reproduktion, vor allem in Gestalt ungleicher Voraussetzungen. Das ist der (unbegründete) Maßstab seiner Kritik. Der Maßstab dient jedoch allein als regulative Idee der eigenen Forschung: zur Auswahl des Gegenstands, der Begrifflichkeit und als Horizont der Beurteilung. Das halte ich für vorbildlich und weit fruchtbarer als Habermas’ Vorgehen. Als Schwäche kann man jedoch die fehlende Begründung des Maßstabs und die fehlende Verbindung zwischen Maßstab und Theorie betrachten. 11 Aus Bourdieus Perspektive erscheint Habermas’ Ansatz als scholastisch und unfruchtbar. Habermas’ vorrangiges Interesse an Begründung führt nicht nur zu einer schwachen empirischen Sättigung und Aussagekraft, sondern auch zu einer Vernachlässigung faktischer sozialer Ungleichheit, die im Zentrum von Bourdieus Interesse steht. Mit Recht kritisiert Bourdieu an Habermas, er schenke den sozialen Bedingungen für einen zwanglosen Diskurs zu wenig Beachtung (1998e: 58f ). »Ich bin nicht der Meinung, dass die Vernunft in der Struktur des menschlichen Geistes oder in der Sprache angelegt ist. Eher ist sie in bestimmten Typen von historischen Bedingungen angesiedelt, in bestimmten gesellschaftlichen Strukturen des Dialogs und der gewaltfreien Kommunikation.« (1996: 225) Zum einen seien nicht alle Menschen in der Lage, sich angemessen zu äußern, zum anderen leisteten die sozialen Strukturen ihrer Veränderung durch einen Diskurs Widerstand. Habermas fordert Verständigung. Verständigung allein kann aber kein Kriterium sein. Es muss mit Verstehen verknüpft sein. Denn viele Menschen beugen sich der herrschenden Meinung, denken nicht nach, können sich nicht artikulieren usw. Genau das 11 Bourdieus Einsichten, dass Ungleichheit nicht auf einem einzigen Faktor (z. B. Eigentum) beruht und soziale Phänomene Teil einer sinnhaften Praxis sind, führten ihn in die begriffliche Nähe Wittgensteins. Im Gegensatz zu Wittgenstein interessierte ihn aber gerade nicht der Sinn sozialer Handlungen, sondern die ungleiche Verteilung der Mittel sozialer Handlungen. Das anders gelagerte Interesse kann man Bourdieu nicht zum Vorwurf machen (z. B. Bouveresse 1993), sondern nur seine fehlende Bereitschaft, es zu begründen. regulative Idee <?page no="75"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M+Marginalie]__Rehbein__Soziologie_Bourdieus(3)___[Druck-PDF]/ 23.05.2016/ Seite 76 76 2 Brüche steht im Mittelpunkt von Bourdieus Untersuchung über »Das Elend der Welt« (1997b; siehe 7. Kapitel). Es geht darum, diejenigen zu Wort kommen zu lassen- - besser gesagt: denen zum Wort zu verhelfen- -, die sich nicht artikulieren können, auf die man nicht hört, die in einem Prozess der Verständigung »nichts zu sagen« haben (siehe auch 1998e: 72f ). Auch in Bezug auf das wissenschaftliche Feld meint Bourdieu, Verstehen sei die Voraussetzung für Verständigung (1998e: 40; vgl. Rehbein 1997; Saalmann 2005c). Aus der Kombination von Verstehen und Verständigung erwächst eine konfigurationale Herangehenswiese, die normativ an Rationalität ausgerichtet ist. Rationalität wiederum bestimmt Bourdieu wie die kritische Theorie als Zwanglosigkeit, Herrschaftsfreiheit oder Emanzipation. Die Vorstellung des herrschaftsfreien Diskurses wird weder von Habermas noch von Bourdieu weiter hinterfragt, und alle Phänomene der sozialen Welt werden so interpretiert, als seien sie auf diesen Diskurs auszurichten. Habermas ist es nicht gelungen, gleichsam den Schritt von Fichte zu Hegel zu vollziehen, also die quasi-transzendentale Begründung mit der Theorie der Wirklichkeit zu vermitteln. Bourdieu wollte das Problem der Begründung von Herrschaftsfreiheit nicht einmal sehen. Mit seiner naiven Annahme der befreienden Wirkung der Selbstreflexion unterstellt er eine ähnliche fichtesche Tathandlung wie Habermas. Beide machen ihr Interesse an Emanzipation nicht explizit, sondern schmuggeln es gleichsam in die Grundstruktur der Theorie ein. In »Erkenntnis und Interesse« (1968) hatte Habermas Emanzipation noch ausdrücklich benannt und als dritte Erkenntnisform neben Erklären und Verstehen diskutiert. Später ließ er sie jedoch in Verständigung aufgehen und machte die Lebenswelt zu einer Wirklichkeit, die seine eigene Norm fordern sollte. Bourdieu dagegen suchte von Anfang an szientistisch nach Bedingungen, die er für ungerecht hielt, ohne seinen Maßstab für Ungerechtigkeit auszuweisen. Nun will ich nicht sagen, man solle sich nicht an Fichte, sondern an Hegel orientieren und die bestehende Gesellschaft rechtfertigen. Das emanzipatorische Erkenntnisinteresse muss vielmehr selbstkritisch thematisiert werden. Eine Verurteilung von Bourdieu oder Habermas beruht sicher nicht selten darauf, dass man ihr Erkenntnisinteresse nicht teilt-- und in der Verurteilung ein anderes voraussetzt. Das ist im Positivismusstreit zwischen Adorno und Popper bzw. Habermas und Albert ganz deutlich geworden. Seither scheint man über diese grundlegende Frage nicht mehr sprechen zu wollen. Emanzipation <?page no="76"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M+Marginalie]__Rehbein__Soziologie_Bourdieus(3)___[Druck-PDF]/ 23.05.2016/ Seite 76 www.claudia-wild.de: [UTB-M+Marginalie]__Rehbein__Soziologie_Bourdieus(3)___[Druck-PDF]/ 23.05.2016/ Seite 77 77 3 Praxis (Grundbegriffe) Gegenstand dieses Kapitels ist die Erläuterung der zentralen Begriffe Bourdieus. Das ist ein zumindest zweifelhaftes Unterfangen. Denn für Bourdieu war die Arbeit an Begriffen zweitrangig. Im Vordergrund stand die Arbeit mit Begriffen, also der Einsatz von Begriffen zur Durchdringung der sozialen Wirklichkeit. In der Sekundärliteratur werden gerne griffige Definitionen angeführt, die Bourdieu an irgendeiner Stelle von Begriffen wie »Habitus« oder »Kapital« gegeben hat. Es ist fast überflüssig, sie hier noch einmal zu wiederholen, da sie der Leserschaft vermutlich ohnehin bekannt sind. Es ist aber wichtig, sie im jeweiligen Zusammenhang zu verorten. Zu jeder Begriffsdefinition Bourdieus lassen sich Parallelstellen finden, die modifizierte, abweichende oder gar gegensätzliche Definitionen liefern. Und obwohl das Werk Bourdieus- - thematisch, begrifflich und methodisch- - bemerkenswert einheitlich ist, lässt sich nur scheinbar ein völlig konsistenter Begriffsapparat herausschälen. Denn nahezu unbemerkt hat Bourdieu zahlreiche Begriffe der soziologischen Tradition bemüht, ohne ihren Status innerhalb der eigenen Begrifflichkeit auszuweisen. Sie sind im Einzelfall fruchtbar oder notwendig, tauchen aber in keinem theoretischen Passus auf. Beispiele für derartige Begriffe sind Institution, Geschichte, Rationalisierung, Technik, Interaktion, Chance. Bourdieu war sich dieses Problems stets bewusst- - wie alle großen Soziologen und Soziologinnen. Er hat einen Weg gewählt, der dem von Habermas genau entgegengesetzt war. Während Habermas sich immer um die Klärung von Begriffen bemüht hat, ohne den Schreibtisch zu verlassen, hat Bourdieu in erster Linie empirische Forschung betrieben und seine Begriffe in ihrem Fortgang geklärt. Das trägt zur Schwierigkeit seiner Schriften bei. Hatte man bei der Lektüre einen Begriff gerade noch auf eine Weise verstanden, so muss er ein paar Seiten weiter auf eine andere Weise verstanden werden. Obgleich im Einzelfall ein Fehler oder eine Unsauberkeit vorliegen mag, sollte man hiervon nicht ausgehen. Zumeist hat Bourdieu auf den Seiten dazwischen den Begriff angereichert, bearbeitet und modifiziert. Das sollte man überprüfen, bevor man den Autor der Inkonsistenz bezichtigt. Und diese Überprüfung bringt den vielleicht größten Lerneffekt bei der Bourdieu-Lektüre. Wenn man sich nun an griffige Definitionen heftet, muss der Lerneffekt ausbleiben, und man wird den Argumentationsgang nur teilweise verstehen. Ferner benutzt Bourdieu Begriffe auch als »Wegweiser«, die auf wichtige Phänomene hinweisen und Suggestivkraft besitzen, aber dunkel bleiben, oder auch im Anschluss an Wittgenstein als offene Begriffe mit heuristischer Kraft fungieren (1992b: 57). Mit der griffigen Definition gegensätzliche Definitionen empirische Forschung und-Begriffe <?page no="77"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M+Marginalie]__Rehbein__Soziologie_Bourdieus(3)___[Druck-PDF]/ 23.05.2016/ Seite 78 78 3 Praxis (Grundbegriffe) dieser Begriffe wird laut Bourdieu eine Klarheit und Abgeschlossenheit suggeriert, die weitere Forschung hemmt. Der Schwierigkeit versuche ich zu begegnen, indem ich wie im letzten Kapitel ein Werk wähle, das den Leitfaden durch die erste Hälfte des Kapitels bildet. Es handelt sich um den »Entwurf zu einer Theorie der Praxis« (1976; zuerst 1972), in dem Bourdieu die meisten seiner Grundbegriffe zum ersten Mal entwickelt hat (zum Werk siehe Flaig 2000). Jedoch tauchen hier noch nicht alle Begriffe auf, die Theorie ist noch nicht vollständig in Auseinandersetzung mit dem empirischen Material abgeschliffen, und die Begriffe behalten in Bourdieus Gesamtwerk nicht exakt denselben Stellenwert und dieselbe Konnotation (1992b: 36). Daher wird im Folgenden immer wieder auf andere Schriften verwiesen oder zurückgegriffen. Die zweite Hälfte des Kapitels muss sich mehr auf spätere Werke stützen, weil Begriffe wie »Feld« oder »kulturelles Kapital« erst in ihnen vollständig entwickelt wurden. Ich werde mich allerdings auch hierbei bemühen, die Diskussion auf ausgewählte Textstellen zu konzentrieren. Allerdings folge ich ein wenig auch Bourdieus eigener Vorgehensweise, indem die Begriffe in diesem Kapitel nur vorläufig erklärt werden und in den folgenden Kapiteln eine schärfere Kontur und mehr Inhalt bekommen. Bourdieus Begrifflichkeit ist fundamental dynamisch. Dieser Satz mag überraschen, wirft man Bourdieu doch oft eine Konzentration auf Reproduktion und die Gegenwart vor (siehe etwa Calhoun 1993: 70). Das ist kein Widerspruch. Tatsächlich ist auch Reproduktion ein dynamischer Prozess und jede Gegenwart hat eine Geschichte. »Die gesellschaftliche Welt ist akkumulierte Geschichte.« (1992c: 49) Bourdieus Erkenntnisinteresse richtet sich auf nicht erkannte soziale Zwänge, insbesondere auf Zwänge, die aus sozialer Ungleichheit resultieren. Im Zentrum seiner Fragestellung steht die Verwunderung darüber, dass sich Strukturen der Ungleichheit trotz beständigen sozialen Wandels durchhalten. Er erkannte, dass sich die Ungleichheit gerade durch den Wandel reproduziert. »Die Soziologie hat die ständige Aufgabe, die Geschichte zu rekonstruieren, die hinter den vermeintlich natürlichen Unterschieden steht.« (2001c: 43) Geschichte und Reproduktion schließen einander also nicht aus, sondern bedingen einander. Bourdieu fragt in erster Linie nach den Strukturen sozialer Ungleichheit und nach den Mechanismen ihrer Reproduktion (vgl. Vester 2002: 68). Vor dem Hintergrund dieser Fragestellung ist der Vorwurf einer Vernachlässigung der Geschichte dennoch nicht ganz unberechtigt. Wir haben bereits gesehen, wie in Algerien die Herrschaft über die Zukunft und der Widerspruch zwischen Vergangenheit und Gegenwart im Mittelpunkt von Bourdieus Interesse standen. Auf diesen Mittelpunkt ist seine Begrifflichkeit ist-fundamental dynamisch Geschichte und Reproduktion <?page no="78"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M+Marginalie]__Rehbein__Soziologie_Bourdieus(3)___[Druck-PDF]/ 23.05.2016/ Seite 78 www.claudia-wild.de: [UTB-M+Marginalie]__Rehbein__Soziologie_Bourdieus(3)___[Druck-PDF]/ 23.05.2016/ Seite 79 3 Praxis (Grundbegriffe) 79 Begrifflichkeit ausgerichtet. Mit der Ausprägung der Begrifflichkeit in Algerien sind einige Besonderheiten und blinde Flecken verknüpft. Es besteht bei Bourdieu eine Tendenz, die vollständige Geschichte des Gegenstands zu vernachlässigen und als bloße »Vorgeschichte« aufzufassen. Da die »traditionale« Gesellschaft keine Geschichte zu haben scheint, war es nicht notwendig, die Geschichte Algeriens, insbesondere der traditionalen kabylischen Gesellschaft, nachzuzeichnen oder gar zu erforschen (vgl. Kröhnert-Othman, Lenz 2002). Als Bourdieu die in Algerien erarbeiteten Instrumente, Methoden und Begriffe auf die französische Gesellschaft übertrug, vernachlässigte er die Geschichte seiner Gegenstände ebenso. Es gab immer nur ein Vorher, ein Nachher und ein Jetzt. Das Vorher wurde als relativ statisch und homogen gedacht-- ganz im Gegensatz zur eigentlich dynamischen Theorie. Hieraus ergeben sich zahlreiche Unstimmigkeiten und empirische Fehler, die allerdings ganz und gar nicht gegen Bourdieus Theorie sprechen. Die Theorie ist, wie gesagt, fundamental dynamisch und auf historische Prozesse zugeschnitten. Aber sie wurde fast ausschließlich auf die Gegenwart angewendet, um die Reproduktion von Strukturen sozialer Ungleichheit aufzuzeigen. Daraus entsteht der Eindruck einer unhistorischen Denkweise. Mit diesem Eindruck verknüpft sich der Vorwurf des Determinismus (siehe z. B. Zander 2003: 112f ). Bourdieus Erklärungen haben jedoch einen statistischen Charakter (vgl. 1996b: 187f ). Sie ist also nicht als deduktive, immer und überall gültige Erklärung gedacht. Das bedeutet, sie ist nicht deterministisch. Den Unterschied zwischen deduktiver und statistischer Erklärung hat Carl Gustav Hempel herausgearbeitet. Hempels Arbeiten gehören zu den Klassikern des Positivismus und bilden einen Gegenpol zur kritischen Theorie. Es ist ein interessantes Detail, dass Bourdieu ein Exemplar seiner Theorie der Praxis Hempel gewidmet und ihm geschickt hat. 1 Er war mit Hempels Wissenschaftstheorie also vertraut. Hempel bestimmt die wissenschaftliche Erklärung als Verknüpfung eines Gesetzes mit der Beschreibung von Randbedingungen (1972: 238ff ). Wenn John Doe (den Hempel immer für seine Beispiele heranzieht) etwa Fieber hat und verschiedene Bedingungen gegeben sind (keine ernsthafte organische Störung usw.), dann sinkt das Fieber bei der Einnahme von ASS. Das allgemeine Gesetz lautet, dass Fieber bei der Einnahme dieses Wirkstoffs sinkt. Ist das immer und notwendig der Fall, handelt es sich um eine deduktive Erklärung, ist es nur meistens und mit einer bestimmten 1 Ich danke Kai Thyret für diese Information. Offenbar gibt es auch eine schriftliche Stellungnahme Hempels zum Werk, aber sie liegt mir leider nicht vor. Determinismus wissenschaftliche Erklärung <?page no="79"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M+Marginalie]__Rehbein__Soziologie_Bourdieus(3)___[Druck-PDF]/ 23.05.2016/ Seite 80 80 3 Praxis (Grundbegriffe) Wahrscheinlichkeit der Fall, ist die Erklärung statistisch (oder probabilistisch) und muss singuläre Faktoren berücksichtigen. Hempels Behauptung, jede wissenschaftliche Erklärung folge diesem Modell der Erklärung, wurde von Geistes- und Sozialwissenschaftlern entschieden bestritten. Auf die Forderung, auch die Motive der Handelnden zu berücksichtigen, antwortete Hempel mit Formulierungen, die so auch von Bourdieu stammen könnten. Ein Motiv könne man auf eine Disposition zurückführen (ebd.: 257). Die Verbindung einer Disposition mit einem Symptom habe Gesetzescharakter. Die meisten Handlungen könne man durch Dispositionen erklären, auch wenn sie rational wirken oder rational erlernt wurden. Und »bei vielen zielgerichteten Handlungen gibt es keine bewussten Überlegungen und keinerlei rationale Kalkulation, die den Handelnden zu seiner Entscheidung führt«; so könne eine derartige Handlung auch nicht durch eine mögliche Überlegung erklärt werden (ebd.: 258). Im nächsten Abschnitt wird sich zeigen, dass Bourdieu Handlungen genau so erklärte. Wie Hempel war er der Meinung, dass die Erklärung historischer Ereignisse singuläre Randbedingungen enthält und eine auf Soziales bezogene Erklärung daher statistischen Charakter hat. Dennoch unterscheidet sich Bourdieus Ansatz in mehrerlei Hinsicht von Hempels Modell. Erstens können nicht einfach soziologische Gesetze aufgestellt werden, weil die soziale Welt veränderbar ist, nicht zuletzt durch Soziologie selbst, durch den Theorie-Effekt. Zweitens gibt es bei Hempel noch keinen Zusammenhang zwischen Beobachtung und Gegenstand, also keine Selbstkritik. Drittens arbeitet Bourdieu viel an und mit Begriffen. Diese Arbeit ist von Erklärungen zu unterscheiden. Viertens interessiert sich Hempel für einzelne Ereignisse, Bourdieu dagegen für Gruppen und Strukturen. Fünftens lässt sich in den Sozialwissenschaften kaum unterscheiden, was Gesetz und was Randbedingung ist. Ist beispielsweise Armut durch die Wirtschaftslage, durch die Sozialstruktur, durch individuelles Versagen oder ein bestimmtes Gesetz zu erklären? Eine Frage wie diese hätte für Bourdieu keinen Sinn. Im Zentrum seines Interesses steht nicht die Erklärung einer einzelnen Handlung, sondern jeweils eine Konfiguration, aus der keine Kausalerklärungen abgeleitet, sondern Relationen ersichtlich werden. Bourdieus statistische Erklärungen entsprechen meist nur dann Hempels Modell, wenn sie mit Dispositionen arbeiten. Aber sowohl Konfigurationen wie auch mit ihr verknüpfte Erklärungen scheinen dem menschlichen Handeln keine nennenswerte Freiheit zuzugestehen. In den Sozialwissenschaften hat der Eindruck des Determinismus eine starke lebenspraktische, alltägliche Komponente. Man will sein Leben selbst gestalten und empfindet die eigenen Entscheidungen ja tatsächlich als frei. Die philosophische Diskussion um diese Frage ist lang und komplex-- und <?page no="80"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M+Marginalie]__Rehbein__Soziologie_Bourdieus(3)___[Druck-PDF]/ 23.05.2016/ Seite 80 www.claudia-wild.de: [UTB-M+Marginalie]__Rehbein__Soziologie_Bourdieus(3)___[Druck-PDF]/ 23.05.2016/ Seite 81 3 Praxis (Grundbegriffe) 81 ungelöst. Für die Soziologie spielt sie eher in politischer Hinsicht eine Rolle, also in der Verknüpfung mit dem Alltag (siehe 2.1). Bourdieu stellte fest, dass man von der Soziologie bestimmte Aussagen, Erklärungsmuster und Grundsätze erwartet, weil sie alltägliche und politische Konsequenzen haben. Mit den Erwartungen zu brechen, ist seines Erachtens eine Grundvoraussetzung für eine wissenschaftliche Soziologie. Soziologische Begriffe und Erklärungen können erst erarbeitet werden, wenn man die des Alltags über Bord geworfen hat (siehe 2.2). Dazu gehört auch die Einstellung zum Determinismus. In der »Theorie der Praxis« schreibt Bourdieu, man tendiere dazu, für sich selbst eine Theorie der freien Entscheidung, für die anderen Menschen einen Determinismus anzunehmen (1976: 139f ). Voraussetzungen dieser Art entdeckt man durch eine selbstreflexive Forschung, die den doppelten Bruch beinhaltet (1976: 140f ). »Die reflexive Wendung auf das Instrumentarium der Untersuchung […] ist […] unabdingbare Voraussetzung jeder wissenschaftlichen Gegenstandserkenntnis. Nur positivistische Faulheit führt dazu, die gänzlich defensive Verifikationsabsicht auf das Problem der Stärke der festgestellten Relation zu konzentrieren, statt das Messen der Relation selbst auf seine Voraussetzungen hin zu hinterfragen, die der relativen Stärke der verschiedenen Relationen möglicherweise zugrundeliegen.« (1982c: 164) Im zweiten Kapitel wurde ausführlich diskutiert, dass Bourdieu versucht hat, Extrempositionen miteinander zu konfrontieren, um ihre Schwächen und Stärken wechselseitig zu beleuchten. Das hat er auch in Bezug auf die Probleme des Determinismus und der Geschichte getan. Er entwickelte eine Position, in der er einen deterministischen Strukturalismus und einen voluntaristischen Konstruktivismus zu kontrastieren und vermittelnd zu überwinden suchte. Die Position bezeichnete er als »konstruktivistischen Strukturalismus« (1992b: 135; 2004a: 13). Die genaue Bedeutung wird sich aus den folgenden Abschnitten ergeben. Ganz allgemein ist der konstruktivistische Strukturalismus auf zwei Ebenen anzusiedeln. Erstens ist die oben erläuterte relationale und konfigurationale Wissenschaftstheorie gemeint. Zweitens ist die gegenstandsbezogene Auffassung gemeint, dass Menschen von den gesellschaftlichen Strukturen geprägt und ihre Handlungsmöglichkeiten von ihnen zugleich bedingt und begrenzt sind, dass die Menschen die gesellschaftlichen Strukturen aber auch gestalten. Eine organische Synthese, die Strukturalismus und Konstruktivismus im hegelschen Sinne aufhebt, scheint mir Bourdieu allerdings nicht erarbeitet zu haben, weil er die Strukturen überwiegend als dichotomische Gegensätze auffasste konstruktivistischer Strukturalismus <?page no="81"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M+Marginalie]__Rehbein__Soziologie_Bourdieus(3)___[Druck-PDF]/ 23.05.2016/ Seite 82 82 3 Praxis (Grundbegriffe) und die symbolischen und inkorporierten Strukturen zumeist als Verdoppelung der sozialen Strukturen dachte. Eine weitere Schwierigkeit, aber zugleich einen Kern der bourdieuschen Soziologie bildet die »Ökonomie der Praxis«. Die Ökonomie der Praxis ist Bourdieus Antwort auf die erkenntnis- und wissenschaftstheoretischen Überlegungen, die im vorangehenden Kapitel referiert wurden. Sie soll theoretisch rekonstruieren, aus welchen Gründen und auf welche Weise die Menschen im Alltag tatsächlich handeln. Nach dem Bruch mit dem Alltagsbewusstsein muss dieses auf der Ebene des Gegenstands wieder eingeführt werden. Das versucht Bourdieu mit seiner Theorie der Praxis. Er hatte bei der Auswertung seiner Arbeit in Algerien und im Béarn entdeckt, dass die Menschen den strukturalistisch konstruierten Regeln nicht folgten, ja dass die strukturalen Modelle nicht einmal die Wirklichkeit korrekt darstellten. Sie schrieben den Menschen eine zu bewusste und rationale Haltung zu. Ferner berücksichtigten sie nicht den Faktor Zeit (hierzu auch Gebauer, Wulf 1993b). Wissenschaft ist tendenziell zeitlos, während Zeit in der Praxis eine entscheidende Rolle spielt (1987b: 148) Das illustrierte Bourdieu im Anschluss an Marcel Mauss am Geschenk (1976: 217ff ). 2 Nach strukturaler Interpretation sollte das Geschenk in traditionalen Gesellschaften die Funktion des Gütertauschs übernehmen. Der »Tausch« funktioniert jedoch nur, wenn das Geschenk nicht sofort erwidert wird, sondern zwischen Gabe und Gegengabe ein der Tradition angemessenes Zeitintervall liegt (vgl. 1987b: 192f; Fuchs-Heinritz, König 2005: 23ff ). Wird der Kabyle um die Hand seiner Tochter gebeten, muss er dagegen sofort antworten, sonst wäre der Werbende beleidigt (1987b: 195). Das richtige Maß ist eine Sache der Erfahrung und der Situation, also des Taktgefühls. Die Alltagspraxis zeichnet sich durch unbewusste Sicherheit, Takt, Fingerspitzengefühl, Improvisation und ständige Innovation aus (1976: 144ff ). Sie ist keine Befolgung theoretisch konstruierter Regeln. »Wo man bisher eine Algebra sah, müsste man in meinen Augen Tanz oder Gymnastik erkennen.« (1992b: 95) Im »Sozialen Sinn«-- aber auch in vielen anderen Schriften-- erläutert Bourdieu die Eigentümlichkeiten der Praxis noch etwas genauer. Praxis findet nicht im luftleeren Raum des Labors statt (1987b: 166). Sie umfasst reale Einsätze, muss ständig neu geschaffen werden und ist nicht umkehrbar (1987b: 192f ). Sie ist nur bedingt logisch, denn sie verträgt nur ein gewisses Maß an Logik. Ein Übermaß würde sie stören oder gar zerstören (1987b: 158). Das gilt auch für die Infragestellung. Während man handelt, kann man nicht über das Handeln nachdenken oder es gar anzweifeln, 2 Zum Verhältnis von Mauss und Bourdieu siehe Kumoll (2005: 58ff ). Ökonomie der-Praxis Faktor Zeit <?page no="82"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M+Marginalie]__Rehbein__Soziologie_Bourdieus(3)___[Druck-PDF]/ 23.05.2016/ Seite 82 www.claudia-wild.de: [UTB-M+Marginalie]__Rehbein__Soziologie_Bourdieus(3)___[Druck-PDF]/ 23.05.2016/ Seite 83 3 Praxis (Grundbegriffe) 83 sonst würde es nicht gelingen (1987b: 165). Daraus folgt auch, dass die Handelnden über ihr Handeln zunächst nicht mehr und nichts Genaueres sagen können als die Beobachter. Die einzig mögliche Antwort, die zunächst gegeben werden kann, lautet: So macht man es eben (1987b: 39). Wie nun kann man die Praxis theoretisch erfassen und dabei sowohl ihre Eigentümlichkeiten bewahren als auch sie wissenschaftlich erklären? Bourdieus um 1970 entwickelte »Theorie der Praxis« oder »Praxeologie« ist zu einem beträchtlichen Teil als Antwort auf diese Frage konzipiert. Die Antwort muss auf die Prinzipien gerichtet sein, die das Handeln (unbewusst) steuern. Welche Kriterien werden angelegt, um so und nicht anders zu handeln? Welche Ziele werden im Handeln verfolgt? Bei den Kabylen meinte er das Grundprinzip des Handelns in der Ehre gefunden zu haben (1958: 12, 23; 1964a: 88ff; 1976: 11ff ). Ziel des Handelns sei die Aufrechterhaltung oder Vermehrung von Ehre. So könnten die einzelnen Handlungen als Strategien in einem komplexen Zusammenhang von Relationen der Ehre erklärt werden. Dieses Modell bezeichnete Bourdieu als eine »Ökonomie«. Das Modell sollte die wirklichen Handlungsgrundlagen besser erfassen als das strukturale Modell und als das Alltagsbewusstsein. Die Auswahl von Heiratspartnern sei beispielsweise nicht durch eine abstrakte Regel wie der Wahl von Kreuzkusinen zu erklären, sondern als Strategie zur Reproduktion der Familie, insbesondere der Familienehre (1992b: 90; 1987b: 183ff ). Diese Erklärung könne auch das Alltagsbewusstsein nicht geben. Denn die Ökonomie der Strategien könne nur funktionieren, wenn sie als solche verleugnet werde (1976: 376). Der Warentausch kann nur dann in Form eines Geschenks vollzogen werden, wenn Gabe und Gegengabe nicht als Tausch, sondern als Schenkung gemäß einem Ehrenkodex gedeutet werden (ebd.; auch 1987b: 203ff ). Die Gesellschaft unterlegt dem Handeln also eine Art Moral, die Wissenschaft ein abstraktes Modell. Beide verstehen und erklären das Handeln-- aber nach Prinzipien, von denen es nicht geleitet wird. Bourdieu schlägt ein Prinzip vor. Alle Handlungen, auch interesselos und zweckfrei erscheinende, sind »auf die Maximierung materiellen oder symbolischen Gewinns ausgerichtet« (1976: 357). Der Gewinn wird akkumuliert und gewinnt den Stellenwert, den die Energie für die Physik hat. Die Energie umfasst alle Formen von Gütern, auf die Strategien ausgerichtet sind, neben ökonomischen Gütern und Ehre auch Wissen, soziale Beziehungen, Kulturgegenstände usw. Die Soziologie, die sich mit den Strategien befasst, ist eine »allgemeine Wissenschaft der Ökonomie praktischer Handlungen« (1976: 356). Von dieser ist die Wissenschaft ökonomischer Praktiken nur ein Teilgebiet. »Die Theorie der eigentlich ökonomischen Praktiken ist ein Sonderfall der allgemeinen Ökonomie der Praktiken.« (1987b: 222) Das Allgemeine ist das »Theorie der Praxis« oder »Praxeologie« Ökonomie der-Strategien <?page no="83"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M+Marginalie]__Rehbein__Soziologie_Bourdieus(3)___[Druck-PDF]/ 23.05.2016/ Seite 84 84 3 Praxis (Grundbegriffe) Interesse, das eine Strategie begründet und seinerseits durch die zeitlich vorgängige Praxis bestimmt wird. Bourdieu behauptet, hierbei nur das von Leibniz als zentral erachtete Prinzip des zureichenden Grundes in Anschlag zu bringen. In der Soziologie soll es heißen: Keine Handlung geschieht ohne Interesse (1987b: 95). Das Interesse aber ist nicht universal, also beispielsweise auf ökonomischen Gewinn ausgerichtet, sondern sucht nach Maximierung des sozial als geltend und wertvoll Bestimmten. Dass Bourdieu die soziale Welt als eine von Konkurrenz beherrschte Ökonomie auffasst, war bereits im vorangehenden Kapitel gesagt worden (siehe 2.3). Die Auffassung wird noch an mehreren Stellen des Buches erwähnt und kritisiert werden. 3.1 Habitus Wenn sich die Menschen nun nicht nach Regeln richten, sondern anpassungsfähige Strategien verfolgen, fragt es sich, wie die Alltagspraxis überhaupt eine Konstanz und Regelmäßigkeit aufweisen kann. »Wie können Verhaltensweisen geregelt sein, ohne dass ihnen eine Befolgung von Regeln zugrunde liegt? « (1992b: 86) Diese Frage bezeichnete Bourdieu als seine »Ausgangsfrage« (ebd.). Auf die Frage antwortete er mit dem Begriff des Habitus. Der Begriff ermöglichte es, die Handelnden nicht nur als strukturalistischen Träger der Struktur zu erfassen, ohne dabei jedoch in den Individualismus zu verfallen (1997c: 61f ). Zahlreiche epistemologische Paare-- wie Bewusstes/ Unbewusstes, Finalismus/ Mechanismus, Strukturalismus/ Phänomenologie-- wurden im Begriff aufgehoben (1997c: 61). Er sollte dem Anspruch genügen, das Wissen der Akteure und den Beitrag dieses Wissens zur Konstruktion des Sozialen in die Sozialwissenschaft zu integrieren und gleichzeitig der Regelmäßigkeit des Handelns gerecht werden (1982c: 728). Gerhard Fröhlich hat wesentliche Charakteristika des Habitusbegriffs zusammengetragen, die eine erste Annäherung an seine Bestimmung ermöglichen: Der Habitus ist Produkt und Produzent von Praktiken, unter anderem »System dauerhafter und übertragbarer Dispositionen zu praktischem Handeln«, »Prinzip beschränkter Erfindung«, »Erzeugungsgrundlage für Praktiken«, »kohärentes System von Handlungsschemata« (Fröhlich 1994: 38). Ein wichtiges epistemologisches Paar, das mit dem Habitusbegriff überwunden werden sollte, war der Gegensatz von Individuum und Gesellschaft. Beate Krais kontrastiert den Begriff des Habitus vor diesem Hintergrund mit dem einflussreichen Konzept der sozialen Rolle (Krais 2004a: 94f ). Es postuliere den Gegensatz von Individuum und Gesellschaft und Ausgangsfrage Individuum und-Gesellschaft <?page no="84"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M+Marginalie]__Rehbein__Soziologie_Bourdieus(3)___[Druck-PDF]/ 23.05.2016/ Seite 84 www.claudia-wild.de: [UTB-M+Marginalie]__Rehbein__Soziologie_Bourdieus(3)___[Druck-PDF]/ 23.05.2016/ Seite 85 3.1 Habitus 85 die Freiheit bzw. Kontextabhängigkeit des Handelns. Demgegenüber sei mit Bourdieus Habitus jedes Individuum immer schon gesellschaftlich (siehe auch Krais, Gebauer 2002: 66). Der Habitus beruht auf der Aneignung sozialer Handlungsformen. Er reproduziert tendenziell diese Formen, setzt sie aber mit den Handlungssituationen in Relation. Da es zahllose unterschiedliche Situationen gibt, die nie vollständig mit der Situation des Habituserwerbs identisch sind, stellen die Handlungen auch selten genaue Kopien früherer Handlungsweisen dar. Der Habitus ist determiniert und schöpferisch zugleich. Es wurde oft darauf hingewiesen, dass er darin Noam Chomskys generativer Grammatik ähnelt (Chauviré, Fontaine 2003: 49). Wie Chomsky meint Bourdieu, dass Menschen über ein »System generativer Strukturen« verfügen, das unbegrenzt viele Handlungen hervorbringen kann. Diese Handlungen sind typisch für den Stil des Menschen und für die Art von Situation. Anders als Chomsky hält Bourdieu den Habitus nicht für angeboren. Menschen folgen zwar keiner äußeren Grammatik, aber sie lernen ihr Verhalten gesellschaftlich, sie sind immer schon in der Gesellschaft (Krais, Gebauer 2002: 32f ). »Nicht das Regelwerk macht die Grammatik aus, sondern die Aktivitäten der Subjekte, ihre Regel-erzeugende Produktion.« (Ebd.) Wie alle Begriffe hat Bourdieu den des Habitus nicht am Schreibtisch erdacht oder axiomatisch vorausgesetzt, sondern im Forschungsprozess entdeckt und verarbeitet (1997c: 63). Das gilt es im Auge zu behalten, bevor man ihn übernimmt oder verurteilt. Das Problem, auf das er reagierte, hat Bourdieu schon in Algerien thematisiert. Er beobachtete die Ungleichzeitigkeit von Handlungsmustern. Trotz der Modernisierung und Ausbreitung des Kapitalismus blieben Handlungsmuster erhalten, die einer Logik der Ehre gehorchten und weder Lohnarbeit noch Kapitalakkumulation verstanden (2000c: 21; siehe oben 1.2). Bourdieu meinte später selbst, der Habitusbegriff sei genau aus dieser Problemstellung hervorgegangen (Schultheis 2000: 166). In seiner vollen Bedeutung scheint er mir zum ersten Mal 1962 in einem Aufsatz über Ehelosigkeit im Béarn aufzutauchen (1962a: 322). Systematisch entwickelt wird er allerdings erst in Bourdieus Nachwort zu Erwin Panofskys Arbeit über gotische Architektur, die Bourdieu 1967 in französischer Übersetzung herausbrachte (deutsch in 1970b: 125-156). Der Begriff des Habitus hat eine lange Geschichte (vgl. zum Folgenden Wacquant 2004). Bourdieu fand ihn bei Panofsky, der sich in seiner Arbeit auf Thomas von Aquin stützte (Krais, Gebauer 2002: 26). Gilbert Rist hat zahlreiche Textstellen Bourdieus entsprechenden Passagen aus Thomas’ »Summa theologiae« gegenübergestellt, die eine direkte Beeinflussung vermuten lassen. Bourdieu leugnete es, jemals vom heiligen Thomas inspiriert worden zu sein (Rist 1984: 212). Es ist auch nicht notwendig, die Vermu- System generativer Strukturen Ungleichzeitigkeit von Handlungsmustern Begriff des Habitus Geschichte <?page no="85"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M+Marginalie]__Rehbein__Soziologie_Bourdieus(3)___[Druck-PDF]/ 23.05.2016/ Seite 86 86 3 Praxis (Grundbegriffe) tung erhärten zu wollen, weil viele Sätze zum Fundus der Geistesgeschichte gehören. Sie gehen auf Aristoteles zurück, der den Begriff in seiner Kategorienschrift einführte. Der aristotelische Begriff der »hexis« wurde mit »habitus« ins Lateinische übersetzt und gelangte über die arabischen Aristoteliker zu Thomas und der scholastischen Philosophie, mit der sich Panofsky beschäftigte. Er wurde allerdings auch von Weber, Mauss, Hegel und vielen anderen Denkern verwendet. Bourdieu zufolge griff man auf den Terminus zurück, um mit dem kantischen Dualismus zu brechen und Dispositionen erfassen zu können (1992b: 30). Aristoteles führte den Begriff der hexis (Haltung oder Disposition) in Absetzung vom Begriff »Zustand« ein (Kategorien 8b-9a). Jede Haltung sei ein Zustand, aber nicht jeder Zustand eine Haltung. Zustände seien leicht veränderbar. Als Beispiele könnten Wärme oder Krankheit gelten. Wenn jedoch die Krankheit lange währe und »zur Natur« werde, könne man nicht mehr von einem Zustand sprechen. Es liege dann eher eine Haltung vor. Als Paradebeispiel für eine Haltung nannte Aristoteles das Wissen. Das Wissen sei bleibend und schwer veränderlich, wer dagegen nichts wisse, sei leicht veränderlich. Auch wenn Bourdieu den Habitusbegriff erst 1967 systematisch einführte, wird er durch sein Philosophiestudium mit den Begriffen des Habitus und der Disposition vertraut gewesen sein. Er hatte seine universitäre Abschlussarbeit in Philosophie über Leibniz geschrieben. Das war die einzige wissenschaftliche Arbeit, die er bis zu seinem Algerienaufenthalt verfasst hatte. Es liegt nahe, dass er zur begrifflichen Durchdringung der sozialen Welt Algeriens gedanklich auf diese Arbeit zurückgriff. Vor diesem Hintergrund ist beispielsweise möglich, dass ihm die Differenzen zwischen Subjektivität und Gesellschaft, zwischen kolonialer Terminologie und traditionalem Alltag, zwischen Bewusstsein der Zukunft und Leben in der Gegenwart auf der Basis von Leibniz’ Monadenlehre ins Auge sprangen. Diese Vermutung wird dadurch gestützt, dass Bourdieu die »Harmonie« zwischen Subjekt und Gesellschaft verschiedentlich auf eine »lex insita« zurückführte, einen Begriff von Leibniz (z. B. 1982a: 134; 1992c: 49). Das dem Subjekt bzw. der Monade innewohnende Gesetz kann zur Differenz von Subjekt und Gesellschaft führen, wenn diese sich gleichsam unverhofft ändert. Von dieser Vorstellung ist es nur einen kleinen Schritt bis zum Begriff des Habitus, in dem die lex insita ihren Ort hat. Zwischen 1962 und 1965 hat Bourdieu anstelle des Habitusbegriffs im Anschluss an Weber von »Ethos« gesprochen, um eine bleibende Haltung begrifflich zu fassen (Rist 1984: 203). Den Begriff behielt er lange bei, um eine spezifische Haltung zu bezeichnen, nämlich eine geistig-moralische. Später hielt er den Begriff des Ethos jedoch für redundant, da er vollständig im Habitus aufgehe (1993b: 126). Nach der Auseinandersetzung mit Leibniz Ethos <?page no="86"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M+Marginalie]__Rehbein__Soziologie_Bourdieus(3)___[Druck-PDF]/ 23.05.2016/ Seite 86 www.claudia-wild.de: [UTB-M+Marginalie]__Rehbein__Soziologie_Bourdieus(3)___[Druck-PDF]/ 23.05.2016/ Seite 87 3.1 Habitus 87 Panofsky führte Bourdieu den Habitusbegriff 1968 in »Soziologie als Beruf« (1991a) mit Verweisen auf Panofsky ein (siehe Rist 1984: 203). Danach wurde er in der endgültigen Funktion benutzt, aber ständig weiter ausgearbeitet und den jeweiligen Forschungsprojekten angepasst. Markus Schwingel verweist darauf, dass der Begriff des Ethos bei Bourdieu auch gemeinsam mit den Begriffen Eidos (Idee, Vorstellung) und Geschmack als Fortsetzung der drei Kritiken Kants gelesen werden kann (Schwingel 1995: 63). Kant hatte eine Kritik der reinen Vernunft, der praktischen Vernunft und der Urteilskraft geschrieben, sie aber nicht an die soziale Welt zurückgebunden-- was bereits Hegel kritisierte. Bei Bourdieu spielen Kants drei Kritiken an vielen Stellen implizit und explizit eine wichtige Rolle, meist eine negative. »Die feinen Unterschiede«, deren Untertitel »Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft« lautet, können als soziologische Antwort auf Kants dritte Kritik gelten. Allerdings geht Bourdieus Habitusbegriff über die Reichweite der drei Kritiken hinaus und erschöpft sich nicht in den Begriffen Eidos, Ethos und Geschmack. Er umfasst neben dem Wahrnehmen, Denken, Handeln und Urteilen auch das Unbewusste, die Psyche und den sozialisierten Körper. Im Folgenden werde ich der Einfachheit halber stets vom Handeln sprechen, zumeist aber die gesamte Praxis des Habitus meinen. Kern des Habitusbegriffs ist die Tendenz, ähnlich zu handeln (vgl. zum Folgenden Lenger et al. 2013). Der Habitus ist eine Art psychosomatisches Gedächtnis. In ihm sind frühere Handlungsweisen gespeichert, die in ähnlichen Situationen abgerufen werden. Das heißt, der Habitus ist eine Tendenz, so zu handeln, wie man es einmal- - insbesondere beim ersten Mal-- gelernt hat. Beim Lernen orientiert man sich nicht an Modellen, sondern an Handlungen anderer Menschen (1976: 189). Mit dem Lernen übernimmt man ein Muster, das für die Wiederholung parat bleibt (1976: 190). 3 Durch mehrfache Wiederholung prägt sich das Muster ein, es wird habitualisiert. In der Habitualisierung wird eine Handlung zur Gewohnheit (siehe Fröhlich 1999, 2005). Das beinhaltet eine Typisierung der Anwendungsfälle und Somatisierung der Handlungsabschnitte. Gerhard Fröhlich unterscheidet drei Arten von Habitualisierung: unmerkliches Vertrautwerden, ausdrückliche Überlieferung und strukturale Übungen in 3 Im Anschluss an Bourdieu haben Christoph Wulf und Gunter Gebauer die Habitualisierung unter dem Begriff der Mimesis untersucht (siehe z. B. 1995 und 1998). Habitualisierung geschieht demnach durch Formen des probierenden Mitmachens und Nachahmens. Ganz ähnlich skizzierte sie Bourdieu, der ebenfalls von Mimesis sprach (1987b: 134ff ). Zum Begriff der Mimesis bei Bourdieu siehe v. a. Kalinowski (2007). Kern des Habitusbegriffs <?page no="87"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M+Marginalie]__Rehbein__Soziologie_Bourdieus(3)___[Druck-PDF]/ 23.05.2016/ Seite 88 88 3 Praxis (Grundbegriffe) Spielform (Fröhlich 1994: 39). Bourdieu zufolge wird die letzte Art von der Gesellschaft am stärksten unterstützt (1976: 192). Was Bourdieu zur Ausbildung des Habitus schreibt, scheint eine äußerst knappe Skizze einer Sozialisationstheorie zu sein. Da jedoch im Habitus, wie in den nächsten Absätzen genauer erläutert wird, lediglich die sozialen Strukturen verkörpert sind, bedarf es für Bourdieu keiner gesonderten Sozialisationstheorie. Die Untersuchung der sozialen Strukturen reicht für die Analyse des Habitus im Wesentlichen aus (1993b: 29). »Eine Soziologie, die Sozialisation als Ausbildung des Habitus sieht, braucht auch keine Sozialisationstheorie im strengen Sinne«, denn alles Lernen ist gesellschaftlich vermittelte Auseinandersetzung mit der Welt. »Man wird nicht Mitglied einer Gesellschaft, sondern ist es von Geburt an.« (Krais, Gebauer 2002: 61). Orthodoxe Anhänger Bourdieus reagieren auf Versuche, seine Theorie um eine Sozialisationstheorie zu ergänzen, geradezu allergisch, weil die Genese des Habitus nur als soziale interessiert, nicht als psychologische oder individuelle. Der Begriff des Habitus ist für sie operational und braucht nicht weiter bestimmt zu werden. Das ist zwar aus der Perspektive von Bourdieus Theorie richtig, tatsächlich aber hat sich Bourdieu sehr für Sozialisationstheorien interessiert. Gewährsmann war ihm hierbei vor allem sein guter Freund und theoretischer Gegenspieler, Aron Cicourel, einer der bedeutendsten Vertreter der Ethnomethodologie. Bourdieu hatte einfach zu viele Interessen und Forschungsprojekte, um sich mit der Genese des Habitus zu befassen. Es ist daher nicht ganz fair, Bourdieu für das Fehlen einer Sozialisationstheorie zu tadeln (siehe Knoblauch 2003; Wagner 2003). Der Habitus umfasst eine kleine Zahl von Schemata, die eine unendliche Zahl, an neue Situationen angepasste Praktiken ermöglichen (1976: 204). Die Schemata zeigen sich nur in der Praxis, sie sind als solche nicht beobachtbar. Bourdieu schreibt auch, der modus operandi sei nur als opus operatum zu beobachten (1976: 209). Als Beispiel führt er an, dass man zwar Tennis spielen könne, es aber deshalb noch nicht unbedingt lehren kann. Man kann etwas, weiß aber nicht, wie man es macht. Das Können beruht auf den internalisierten Schemata, die Bourdieu auch als Dispositionen bezeichnet. Die Dispositionen deutet er nun im Gegensatz zum thomistischen Begriff des Habitus nicht als Eigenschaften, sondern als Relationen (Chauviré, Fontaine 2003: 30). Die Dispositionen sind gleichsam die durch Wiederholung eingeprägten psychosomatischen Erinnerungen. Bourdieu zufolge beruhen die meisten Handlungen nicht auf einer (bewussten) Intention, sondern auf einer (unbewussten) Disposition (1994a: 183f ). Sie dienen den Interessen des Menschen ebenso wie bewusste Intentionen, ohne an ihnen orientiert zu sein. Sozialisation modus operandi opus operatum <?page no="88"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M+Marginalie]__Rehbein__Soziologie_Bourdieus(3)___[Druck-PDF]/ 23.05.2016/ Seite 88 www.claudia-wild.de: [UTB-M+Marginalie]__Rehbein__Soziologie_Bourdieus(3)___[Druck-PDF]/ 23.05.2016/ Seite 89 3.1 Habitus 89 Bourdieus Betonung des Unbewussten gegenüber der Intention beruht auf seiner Vorstellung vom menschlichen Körper, die eng mit der von Maurice Merleau-Ponty verwandt und von ihr vielleicht beeinflusst ist (Chauviré, Fontaine 2003: 26). Nach Merleau-Ponty haben wir keinen Körper, sondern wir sind Körper, wir sehen nicht mit dem Auge, sondern wir sind sehend bei den Dingen, wir führen nicht die Hand, sondern die Hand hat ein eigenes Gedächtnis (Merleau-Ponty 1964: 150f, 183f ). Als Menschen sind wir Körper, die sich in der Welt bewegen (ebd.: 54f ). Bourdieu fasst die alltägliche Praxis ganz ähnlich wie Merleau-Ponty. 4 Die soziale Ordnung ist auch eine Ordnung der Körper und ihrer Haltung. Sie drückt sich beispielsweise im aufrechten Gang des Stolzen und im geduckten des Beherrschten aus. Die Handlungsmuster prägen sich Bourdieu zufolge nicht so sehr dem Bewusstsein wie dem Körper ein (1976: 194). Der Körper ist sozialisiert, die soziale Vergangenheit lebt in ihm fort (1997c: 156). Ja, die soziale Welt prägt in den Körper ein regelrechtes Programm ein, einen Charakter im wahren Sinn des Wortes, also wie der Griffel etwas in die Schreibtafel graviert (1997d: 168). Und wie die Schreibtafel ist auch der Körper eine Art Gedächtnisstütze- - für die Handelnden wie für die Beobachtenden (1976: 199). Im »Sozialen Sinn« erläutert das Bourdieu mit Worten, die so von Merleau-Ponty kommen könnten: »Was der Leib gelernt hat, das besitzt man nicht wie ein wiederbetrachtbares Wissen, sondern das ist man.« (1987b: 135) Für die Haltung des Körpers, genauer gesagt: für das leibliche Bewegen in der sozialen Welt, greift Bourdieu auf den Begriff der Hexis zurück, der ja der griechische Originalbegriff für den Habitus ist. In der Hexis sind die Vorstellungen der Gesellschaft zugleich verwirklicht und symbolisiert (1976: 195). Die sozialen Haltungen des Menschen und die Haltung der Gesellschaft zu ihm drücken sich in seiner Hexis aus, die seiner sozialen Laufbahn und Position entspricht (siehe auch Fröhlich 1999). Letztlich ist allerdings auch die Hexis wie der Ethos nur ein Aspekt des Habitus. 5 Der Habitus setzt sich aus Dispositionen zusammen. Die Disposition kommt in einer Anzahl ähnlicher Situationen zur Anwendung. In diesen Situationen tendiert man zu einer bestimmten Handlungsweise. Aber keine 4 So schreibt Charles Taylor, der sich in dieser Hinsicht als Schüler Merleau-Pontys über Bourdieu äußert: Der intellektualistischen Tradition zufolge sei das Individuum etwas Inneres, Geist. Durch diese Konzeption werde zweierlei vernachlässigt, der Leib und der Andere (Taylor 1993: 49). Der Leib rehabilitiert beide (vgl. auch Wacquant 2003e). 5 Der Habitus umfasst im Übrigen neben den Denk-, Handlungs- und Wahrnehmungsmustern auch die Muster der Empfindungen und Emotionen. Er bezeichnet weder ausschließlich Körperliches noch ausschließlich Geistiges oder Seelisches, sondern all das, insofern es sozial ist (Krais, Gebauer 2002: 75). Unbewusstes Hexis Dispositionen <?page no="89"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M+Marginalie]__Rehbein__Soziologie_Bourdieus(3)___[Druck-PDF]/ 23.05.2016/ Seite 90 90 3 Praxis (Grundbegriffe) einzelne Situation ist deduktiv mit einer bestimmten Disposition verknüpft, und keine Disposition legt eine Handlungsweise bzw. Handlungskette exakt fest. Die Disposition ist vielmehr eine negative Freiheit, eine Grenze, die Eröffnung einer Möglichkeit (1976: 166). So sagt Bourdieu auch, der Habitus sei ein System von Grenzen (1992c: 33). Anders ausgedrückt: Der Habitus ermöglicht eine freie Tätigkeit, die durch die Grenzen der Bedingungen des Habitus selbst eingegrenzt ist (1987b: 102f ). Die Bedingungen des Habitus zerfallen in die der Entstehung und die der Anwendung. Beide sind soziale Strukturen. Da im Habitus soziale Strukturen eingeprägt sind, tendiert er zur Reproduktion dieser Strukturen, insbesondere wenn die Bedingungen zum Zeitpunkt der Anwendung noch mit den Entstehungsbedingungen identisch sind. Der Habitus organisiert das Handeln so, dass es dazu tendiert, die Bedingungen, unter denen er geschaffen wurde, zu reproduzieren (1976: 165). »Deshalb, weil die von den objektiven Bedingungen […] dauerhaft eingeprägten Dispositionen gleichermaßen Aspirationen wie Praxisformen erzeugen, die mit den objektiven Bedingungen in Einklang stehen und gleichsam vorgängig deren objektiven Erfordernissen und Anforderungen angepasst sind, werden die unwahrscheinlichsten Ereignisse ausgeschlossen« (1976: 167f ). Nur wenn man von der Relation von sozialen Strukturen der Entstehung, Habitus und sozialen Strukturen der Anwendung absieht, kann man dem Subjekt mit Sartre eine völlige Freiheit zuschreiben und die Wirklichkeit durch jede beliebige revolutionäre Aktion für veränderbar halten (1976: 173ff ). Der Habitus ist träge, wenn er einmal konstituiert ist (1987b: 113f ). Die Trägheit bezeichnet Bourdieu als Hysteresis. Sie ist beispielsweise für den Generationenkonflikt verantwortlich. Während den Jüngeren die Bedingungen, unter denen ihr Habitus sich entwickelte, vernünftig und sinnvoll erscheinen, finden die Älteren sowohl die Bedingungen wie auch das Verhalten der Jüngeren abstoßend (1976: 170). Bourdieu hebt die Dichotomie von Individuum und Gesellschaft (sowie von Körper und Geist, Subjekt und Objekt, Determinismus und Freiheit) in die Dichotomie von Habitus und sozialer Welt auf. Viele Probleme, die aus der Entgegensetzung von Individuum und Gesellschaft resultieren, sind damit gelöst-- auch wenn andere Probleme die Folge sind. Insbesondere ist Bourdieus Ausgangsfrage nach der Regelmäßigkeit des Handelns beantwortet, die ihrerseits eng mit der Frage nach der Reproduktion von Herrschaft verknüpft ist. Diese Reproduktion ist aus Bourdieus Perspektive ebenso erklärungsbedürftig und verwunderlich wie die Reproduktion Hysteresis <?page no="90"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M+Marginalie]__Rehbein__Soziologie_Bourdieus(3)___[Druck-PDF]/ 23.05.2016/ Seite 90 www.claudia-wild.de: [UTB-M+Marginalie]__Rehbein__Soziologie_Bourdieus(3)___[Druck-PDF]/ 23.05.2016/ Seite 91 3.1 Habitus 91 Regelmäßigkeit des Handelns. Wenn man die Annahme überzeitlicher Strukturen aufgibt, gerät plötzlich alles in Fluss. Wie kann es sein, dass trotz ständigen historischen Wandels soziale Strukturen unverändert bleiben? Noch schärfer formuliert: Wie ist es möglich, dass Menschen die soziale Welt bewusst verändern können und die Strukturen der Herrschaft sich trotzdem nicht verändern? Diese Fragen liegen Bourdieus großen empirischen Untersuchungen zu Grunde, die in den nächsten Kapiteln diskutiert werden. Die begriffliche Antwort auf die Fragen ist der Habitus. Auf der Basis des Habitus ist Handeln weder spontan noch determiniert, sondern Ergebnis einer notwendigen Verbindung von Disposition und objektivem Ereignis (1976: 182). Beide beruhen auf ähnlichen und im Grenzfall identischen Strukturen. Der Habitus tendiert nicht nur zur Reproduktion früheren Verhaltens, sondern er sucht auch nach Bedingungen, die denen seiner Erzeugung entsprechen-- eben weil er für sie gerüstet ist. Die inkorporierten Bedingungen sind den Entstehungs- und Anwendungsbedingungen nicht entgegengesetzt, sondern sie entsprechen ihnen. Das Individuum ist bis ins Innerste gesellschaftlich, wie Adorno stets wiederholt hat. »Wer die Wahrheit übers unmittelbare Leben erfahren will, muss dessen entfremdeter Gestalt nachforschen, den objektiven Mächten, die die individuelle Existenz bis ins Verborgenste bestimmen […] die Gesellschaft ist wesentlich die Substanz des Individuums« (Adorno 1979: 7, 10). In Bourdieus Worten: Die Dispositionen sind Teil der objektiven Bedingungen und erzeugen daher subjektive Erwartungen, die mit den Bedingungen übereinstimmen (1987b: 100). Die Erklärung einer Handlung ist die Rekonstruktion genau des Zusammenhangs von Entstehung und Anwendung des Habitus (1976: 170). Dabei ist die Anwendung auch ein Eingriff in die Bedingungen. Sie kann zumindest die sozialen Strukturen verändern, wenn der Habitus nicht vollständig mit ihnen übereinstimmt. »Die für einen spezifischen Typus von Umgebung konstitutiven Strukturen (etwa die eine Klasse charakterisierenden Existenzbedingungen), die empirisch unter der Form von mit einer sozial strukturierten Umgebung verbundenen Regelmäßigkeiten gefasst werden können, erzeugen Habitusformen, d. h. Systeme dauerhafter Dispositionen, strukturierte Strukturen, die geeignet sind, als strukturierende Strukturen zu wirken« (1976: 164f ) Gemeinhin geht man von Individuen aus. Daneben stellt man sich noch Strukturen und Institutionen vor, die über das Individuum hinausgehen. Für Bourdieu sind beide soziale Strukturen. Gesellschaft besteht einerseits Disposition und-objektives Ereignis <?page no="91"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M+Marginalie]__Rehbein__Soziologie_Bourdieus(3)___[Druck-PDF]/ 23.05.2016/ Seite 92 92 3 Praxis (Grundbegriffe) in der Form von materiellen und ideellen Institutionen, andererseits in Form von Dispositionen (1993b: 28). An anderen Stellen fasst er die Begriffe als objektive Strukturen und inkorporierte Strukturen (1987b: 106). Noch klarer ist Loïc Wacquants Trennung der Strukturen in zwei Ebenen: »Die Soziologie hat laut Bourdieu die Aufgabe, die verborgensten Strukturen der sozialen Welt aufzudecken, aus denen das soziale Universum besteht, sowie die Strukturen der Mechanismen, die auf die Reproduktion oder Transformation dieser Welten hinarbeiten […] Dieses Universum weist die Besonderheit auf, dass die Strukturen, aus denen es besteht, sozusagen ein Doppelleben führen. Sie existieren zweimal, einmal in der ›Objektivität erster Ordnung‹, die durch die Distribution der materiellen Ressourcen und der Möglichkeiten der Aneignung von gesellschaftlich seltenen Gütern und Werten (Kapitalsorten in Bourdieus Sprache) gegeben ist, und ein zweites Mal in der ›Objektivität zweiter Ordnung‹, die aus den mentalen und körperlichen Schemata besteht, die als symbolische Matrix des praktischen Handelns fungieren, also der Verhaltensweisen, Gedanken, Gefühle und Urteile der sozialen Akteure.« (Wacquant 1996: 24) Bourdieu spricht nach Möglichkeit nicht von Subjekten oder Individuen, sondern von Akteuren. Das soll die Doppelung der sozialen Strukturen ausdrücken. Das Konzept des Akteurs (französisch »agent«) zeigt klar die Anwesenheit des Sozialen in den intimsten Regungen. In ihm verschränken sich objektive Zwänge der sozialen Strukturen und subjektive Determinationen des Habitus (Chauviré, Fontaine 2003: 10). 6 Ein Akteur ist eine handlungsfähige Verkörperung sozialer Strukturen, so könnte man sagen. Woher sollen die Handlungsmuster stammen, wenn nicht aus der Gesellschaft? 7 Sie könnten natürlich biologisch vererbt oder von Gott übertragen werden. Bourdieu wird das für unwahrscheinlich gehalten haben, vor allem aber widerspräche eine derartige Annahme seiner Wissenschaftstheorie, nach der das Soziale durch das Soziale erklärt werden soll. Und vor dem Hintergrund der genannten epistemologischen Paare oder Dichotomien ist die (dauerhafte) Inkorporierung von sozialen Strukturen in den Habitus eine äußerst elegante und effiziente Lösung (siehe Saalmann 2003: 6 Akteure können für Bourdieu allerdings auch Gruppen sein. Der Begriff ersetzt also nicht trennscharf den des Individuums, eher schon den des Subjekts. 7 Siehe hierzu auch Taylor (1993: 50); Wacquant (1996: 31f ). objektive Strukturen und inkorporierte Strukturen Akteure <?page no="92"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M+Marginalie]__Rehbein__Soziologie_Bourdieus(3)___[Druck-PDF]/ 23.05.2016/ Seite 92 www.claudia-wild.de: [UTB-M+Marginalie]__Rehbein__Soziologie_Bourdieus(3)___[Druck-PDF]/ 23.05.2016/ Seite 93 3.1 Habitus 93 50). Nun sei auch der am häufigsten zitierte Passus zum Habitusbegriff angeführt, weil er auf der Basis der vorangehenden Ausführungen verständlich wird: »Die Konditionierungen, die mit einer bestimmten Klasse von Existenzbedingungen verknüpft sind, erzeugen die Habitusformen als Systeme dauerhafter und übertragbarer Dispositionen, als strukturierte Strukturen, die wie geschaffen sind, als strukturierende Strukturen zu fungieren […], die objektiv ›geregelt‹ und ›regelmäßig‹ sind, ohne irgendwie das Ergebnis der Einhaltung von Regeln zu sein, und genau deswegen kollektiv aufeinander abgestimmt sind« (1987b: 98f ). Die Erzeugungs- und Anwendungsbedingungen von Habitus sind in vieler Hinsicht nicht singulär, sondern gelten für mehrere Menschen, für Gruppen und Klassen. Zum einen wird der Habitus von Angehörigen einer Gruppe unter ähnlichen Bedingungen ausgebildet, zum anderen kommt er unter ähnlichen Bedingungen zur Anwendung, so dass die Handlungen (sowie Wahrnehmungen, Urteile und Äußerungen) den Eindruck vermitteln, magisch aufeinander abgestimmt zu sein (1976: 177, 187). In jeder Interaktion treten nicht nur Individuen, sondern ganze Dispositionssysteme und die Bedingungen, unter denen sie erzeugt wurden, einander gegenüber (1976: 180). Das bedeutet auch, dass Sinn nicht subjektiv und singulär zu erforschen ist wie in der Ethnomethodologie, sondern eine Analyse der sozialen Voraussetzungen beinhalten muss (1976: 181). Diese Analyse umfasst auch die Konstruktion von Gruppen oder Klassen, die einen ähnlichen Habitus haben. Die »Geschichte des Individuums [ist] nie etwas anderes als eine gewisse Spezifizierung der kollektiven Geschichte seiner Gruppe« (1976: 189). Bourdieus Soziologie interessiert sich für die Gruppe, nicht für das Individuum (Schwingel 1995: 71). Die Beziehungen zwischen Klasse, Habitus und Individualität sind subjektiv, aber nicht individuell, weil sie bis zu einem gewissen Grad austauschbar sind (1976: 187f ). Innerhalb der Klasse herrschen homologe Bedingungen, deshalb sind auch die Habitus homolog- - und damit die Individuen einander ähnlich. Damit zerstört Bourdieu weiter unsere alltägliche Vorstellung von Individualität und Willensfreiheit, was zunächst empörend wirkt und viel zum Determinismusvorwurf beigetragen hat. Mindestens zwei Punkte gilt es jedoch zu bedenken, bevor man der Empörung freien Lauf lässt. Erstens tritt Bourdieus Soziologie nicht mit dem Anspruch auf, jede menschliche Regung zu erklären (1976: 206f ). Er verwies gerne auf den Leibniz zugeschriebenen Spruch, dass wir in Dreiviertel Klasse, Habitus und Individualität <?page no="93"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M+Marginalie]__Rehbein__Soziologie_Bourdieus(3)___[Druck-PDF]/ 23.05.2016/ Seite 94 94 3 Praxis (Grundbegriffe) unserer Handlungen Automaten seien. 8 Vor allem auf diese Handlungen bezog er den Habitusbegriff. Allerdings fragt sich dann natürlich, wie die anderen Handlungen zu erklären sind. Gilt für das letzte Viertel der Voluntarismus? Zweitens- - und das ist überzeugender- - sind Bourdieus Erklärungen, wie erwähnt, statistischen Charakters, ein Handeln wird also nicht mit logischer Notwendigkeit aus dem Habitus abgeleitet, sondern nur mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit erklärt. Im Übrigen sollte man sich einmal fragen, was am scheinbar Individuellen mit Gewissheit individuell, also singulär ist: Was tue ich, das kein anderer Mensch tut? Was tue ich, das ich nirgendwo erfahren oder gelernt habe? Ferner interessiert sich Bourdieu zwar nicht für Individualität, wohl aber für Subjektivität. »Die Soziologie behandelt alle biologischen Individuen als identisch, die als Erzeugnisse derselben objektiven Bedingungen mit denselben Habitusformen ausgestattet sind.« (1987b: 111) Die Beziehungen zwischen Klasse, Habitus und Individualität haben keine individuelle Seite, weil sie bis zu einem gewissen Grad austauschbar sind. Aber sie haben eine subjektive Seite der Erfahrung. Diese subjektive Seite hat Bourdieu sehr wohl interessiert. Das kiloschwere Werk über das »Elend der Welt« (1997b; siehe 7.1) besteht nur aus Einblicken in die Subjektivität, in die Erfahrung von Menschen, sozialer Akteure. Auch in Bourdieus anderen Werken kommen reale Menschen häufiger und mit stärkerer Intensität zum Ausdruck, als das in der Soziologie gewöhnlich der Fall ist. Wer ihm Objektivismus und Strukturalismus vorwirft, sollte wenigstens auch diese Passagen zur Kenntnis nehmen. Es ist richtig, dass die subjektive Erfahrung stets aus den sozialen Strukturen erklärt wird. Innerhalb statistischer Grenzen und wissenschaftlicher Hypothesenbildung ist das Subjektive dann tatsächlich durch das Objektive determiniert. (Und Bourdieu tendiert dazu, die Determinierung über das statistisch Zulässige auszudehnen.) Aber der Habitus ist ein System von Grenzen, er enthält notwendige, nicht hinreichende Bedingungen. Und die subjektive Erfahrung wird durch den Habitus erklärt, jedoch nicht ausradiert. Bourdieu tritt mit dem Anspruch auf, das Subjektive in seine Soziologie zu integrieren (1996b: 161). Es soll zwar im ersten Schritt mit den Vorstellungen des Alltags gebrochen werden, aber in einem zweiten Schritt sind diese Vorstellungen wieder einzuführen (siehe 2. Kapitel). Sie sind einzuführen, weil sie die soziale Welt mitgestalten. Der Habitus ist nicht nur eine »strukturierte Struktur«, sondern auch eine »strukturierende Struktur«. Über das Handeln wird die Welt verändert. Ferner wird die Welt und in 8 Oben war Hempels ähnliche Formulierung angeführt worden, dass die meisten Handlungen auf Dispositionen zurückzuführen seien (Hempel 1972: 257). Subjektivität <?page no="94"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M+Marginalie]__Rehbein__Soziologie_Bourdieus(3)___[Druck-PDF]/ 23.05.2016/ Seite 94 www.claudia-wild.de: [UTB-M+Marginalie]__Rehbein__Soziologie_Bourdieus(3)___[Druck-PDF]/ 23.05.2016/ Seite 95 3.2 Strategie 95 Vorstellungen (im Wahrnehmen und Denken) verarbeitet. Das Interesse hieran hat Bourdieu im Studium und durch die Beschäftigung mit der Phänomenologie entwickelt. Er wollte über die (subjektive) Erfahrung der Zeit seine Abschlussarbeit schreiben. Dabei stützte er sich auf Husserl. Bourdieus Nähe zu Husserls Schüler Merleau-Ponty wurde oben hervorgehoben. Ohne die Situierung in der phänomenologischen Tradition wäre der Habitusbegriff gar nicht verständlich, zumindest nicht in seiner endgültigen Form als Oberbegriff von Hexis und Ethos. Er setzt die phänomenologische Perspektive auf die Erfahrung, das In-der-Welt-sein, voraus. Leider hat sich Bourdieu mit den Besonderheiten subjektiver Erfahrung ebenso wenig auf theoretische Weise beschäftigt wie mit der Sozialisation. 9 3.2 Strategie Der Begriff des Habitus soll in erster Linie auf die Fragen nach der Regelmäßigkeit des Handelns und der Reproduktion der Sozialstruktur antworten. Auf welche Weise sorgt der Habitus nun für Regelmäßigkeit? Zunächst sorgt er für eine Wiederholung alter Handlungsmuster, für eine Einheitlichkeit des Handelns in einer Klasse (mit ähnlichen Existenzbedingungen) und für eine Übertragbarkeit von Handlungsmustern auf verschiedene Situationstypen. Die Wiederholung ist ein Aspekt der Reproduktion von Handlungsmustern, die Einheitlichkeit einer Klasse ist ein Aspekt der Reproduktion von Sozialstruktur. Weitere Aspekte werden in den folgenden Abschnitten erläutert. Wichtig ist es, den Status des Habitusbegriffs in der Reproduktionstheorie Bourdieus deutlich zu erkennen. Der Habitus wird unter Bedingungen ausgebildet, die sich historisch verändern und sich zwischen Gesellschaften und innerhalb von Gesellschaften unterscheiden. Man kann den Habitus nicht beliebig an neue Bedingungen anpassen (Krais, Gebauer 2002: 46). Allerdings ist er nicht auf Bedingungen im Sinne von Situationen fixiert. Er hat gegenüber der jeweiligen sozialen Gegenwart eine gewisse Unabhängigkeit. Wenn man beispielsweise alle gegenwärtigen Arbeiter und Arbeiterinnen unter eine Arbeiterklasse subsumiert, so wäre mit Bourdieu zu fragen, ob neben dem aktuellen Beruf und der gegenwärtigen Situation auch die Habitus der Betreffenden unter ähnlichen Umständen gebildet wurden (1982c: 686). Da das nicht unbedingt der Fall ist, unterscheidet Bourdieu die objektive Klasse von der Klasse der Habitus. 9 Zur subjektiven Erfahrung siehe auch Rehbein (1997: 118ff ). Reproduktion <?page no="95"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M+Marginalie]__Rehbein__Soziologie_Bourdieus(3)___[Druck-PDF]/ 23.05.2016/ Seite 96 96 3 Praxis (Grundbegriffe) Im Normalfall bleiben die Existenzbedingungen einer Gruppe ähnlich und der Klassenhabitus entspricht der objektiven Klasse (Krais, Gebauer 2002: 37). Die gegenwärtige soziale Welt erscheint selbstverständlich. Die Welt ist, wie sie ist, und sie stimmt mit den eigenen Wünschen, Gedanken und Urteilen überein. Diese Sichtweise, die eine vollständige Reproduktion der sozialen Bedingungen und deren Bestand bedeutet, ist die Doxa (1976: 325; siehe 2.2). »Der Umfang des Feldes der Doxa, also dessen, was stillschweigend als selbstverständlich hingenommen wird, ist desto größer, je stabiler die objektiven Strukturen einer jeweiligen Gesellschaftsformation sind und je vollständiger sie sich in den Dispositionen der Handlungssubjekte reproduzieren.« (1976: 327) Der Habitus entspricht dem eigenen sozialen Umfeld. Und er bewirkt, dass man dieses Umfeld schätzt, für das richtige und einzig mögliche hält-- aus der Not eine Tugend macht (Krais, Gebauer 2002: 43; siehe auch 5. Kapitel). Gerade unter diesen Bedingungen der Selbstverständlichkeit empfindet man sich als frei und autonom, weil man dem eigenen Habitus nur freien Lauf zu lassen braucht, um perfekt an alle Situationen angepasst zu handeln (1976: 325f; 2004a: 276). Des Weiteren wird unter diesen Bedingungen die Sozialordnung ständig bestätigt und ihr willkürlicher, historischer Charakter geleugnet. »Die praktischen Taxonomien, die eine umgewandelte und unkenntlich gemachte Form der realen Unterschiede der Sozialordnung darstellen, tragen zu deren Reproduktion bei, indem sie zum einen an diese Unterschiede angepasste und objektiv in Einklang stehende Praxisformen erzeugen und zum anderen den sozialen Klassifikationen, die sie durchsetzen, den Schein logischer Klassifikation vermitteln.« (1976: 318) Die Handlungsmuster des Habitus sind nicht nur Wiederholungen in denselben Situationen, sondern auch auf neue Situationen übertragbar (1976: 169). Sie sind »generative Formeln« (1982c: 332f ) oder »generative Schemata« (1976: 253). Aus diesem Grund ist jede Handlung eines Akteurs »eine Metapher« aller- - oder zumindest einiger- - anderer Handlungen desselben Akteurs (1982c: 281f ). Später illustrierte Bourdieu das gerne am Beispiel der Handschrift, die überall und unter allen Umständen ähnlich sei, einen einheitlichen Stil aufweise (2004a: 330). Diese Gleichheit in der Vielfalt nennt Bourdieu »Homologie«. Die Annahme der Homologie ist bestechend und überzeugt auf den ersten Blick. Bei näherem Hinsehen offenbart sich jedoch, dass sie möglicherweise Unschärfen im Habitusbegriff und im gesamten Theoriegebäude Bourdieus verdeckt. In unterschiedlichen Situationstypen kommen höchst unterschiedliche Dispositionen zur Anwendung, die nicht unbedingt einen einheitlichen Stil aufweisen. So Doxa Selbstverständlichkeit generative Schemata <?page no="96"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M+Marginalie]__Rehbein__Soziologie_Bourdieus(3)___[Druck-PDF]/ 23.05.2016/ Seite 96 www.claudia-wild.de: [UTB-M+Marginalie]__Rehbein__Soziologie_Bourdieus(3)___[Druck-PDF]/ 23.05.2016/ Seite 97 3.2 Strategie 97 brüllt jemand wie ein Wilder im Fußballstadion, ist aber gegenüber seiner Ehefrau verklemmt, bei der Arbeit streng und gewissenhaft, in Gegenwart der Eltern ein Muttersöhnchen usw. Daraus kann man einen »autoritären Charakter« zimmern, dessen Kern Unterdrückung ist. Ich glaube, einen Kern dieser Art hat Bourdieu im Blick, wenn er von Homologie und Übertragbarkeit spricht. Dann stellt sich allerdings die methodologische Frage, wie man solch eine Einheit konstruiert. Vor diesem Hintergrund kritisiert Jacques Bouveresse (1993: 54ff ), dass der Begriff des Habitus kaum eine Erklärungskraft habe, sondern an die »einschläfernde Kraft« (als Ursache des Schlafs) bei Molière erinnere. Der Begriff sei nur eine Beschreibung für erlernte praktische Fähigkeiten. Wie diese bewirken, dass in verschiedenen Situationen gleich oder in ähnlichen Situationen unterschiedlich gehandelt wird, bleibe unklar. Das aber sei das eigentliche Problem bei der Erklärung regelhaften Verhaltens, für das Ludwig Wittgenstein sich interessiert habe. Die Kritik scheint eine wesentliche Eigenschaft des Habitusbegriffs zu übersehen. Es handelt sich bei ihm nicht um einen konkreten, empirischen oder erklärenden Begriff, sondern um eine Kategorie (so wie etwa »Äußerung« oder »Satz« in der Grammatik) (vgl. Janning 1991: 70). Dennoch ist die Kritik nicht leichtfertig abzutun. Bourdieu könnte erwidern, es seien prinzipiell alle Situationen gleich, wenn sie nicht als verschieden erkannt würden. Aber er geht ja von der Übertragbarkeit und Homologie von Handlungsmustern aus. Wie so etwas möglich ist und in der Praxis geschieht, scheint für Bourdieu eine empirische Frage zu sein. Das führt dazu, dass seine Interpretationen der Praxis oft etwas willkürlich und unzureichend fundiert wirken. Der Zusammenhang zwischen allgemeinen gesellschaftlichen Strukturen und konkretem individuellen Verhalten bleibt stets dunkel. Bourdieu scheint das Konkrete aus den (konstruierten) Strukturen abzuleiten oder auf schwammige Erläuterungen (der Habitus sei »unscharf«, nur eine »allgemeine Tendenz«) zurückzugreifen. Tatsächlich begründet Bourdieu Homologie und Übertragbarkeit in den sozialen Strukturen selbst. Die sozialen Strukturen zeichnen sich durch Ungleichheit aus. Die Ungleichheit bewirkt, dass die Menschen nicht die gleichen Handlungsmöglichkeiten (und nicht die gleichen Habitus) haben. Die Annahme der Ungleichheit ist wahrscheinlich unstrittig. Mit ihr ist die weitere Annahme verbunden, dass alle Menschen nach dem Erhalt oder der Verbesserung ihrer sozialen Position streben. Ihre Handlungen seien als Strategien zur Verfolgung dieses Ziels zu erklären. Die Strategien implizieren wiederum Kampf und Konkurrenz. Das war im zweiten Kapitel am Beispiel der Wissenschaft bereits erläutert worden. Der Begriff der Strategie ersetzt den Begriff der Regel (1976: 216f; 1987b: 261). Letztlich ist Regel- Übertragbarkeit und Homologie Strategien <?page no="97"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M+Marginalie]__Rehbein__Soziologie_Bourdieus(3)___[Druck-PDF]/ 23.05.2016/ Seite 98 98 3 Praxis (Grundbegriffe) mäßigkeit also auf Strategien zurückzuführen, die wiederum auf (ungleichen) sozialen Positionen beruhen. Mit »Strategie« meint Bourdieu kein bewusstes Kalkül (1976: 215f ). Sie ist vielmehr die Verfolgung von Interessen, die mit dem Habitus erworben werden. Man macht nicht nur das, was man gelernt hat, sondern man verfolgt damit auch die Ziele, die man als verfolgenswert gelernt hat. Es scheint mir, als habe Bourdieu den Begriff der Strategie erst auf Klassen bezogen, dann auf Individuen, und hier zunächst auf bewusstes Kalkül. In den frühen Schriften über das Bildungswesen benutzt er den Begriff für die Bemühungen von Klassen und Klassenfraktionen, ihre soziale Position zu erhalten oder zu verbessern. Als Eigenschaft einer Gruppe kann eine Strategie natürlich nur in Grenzfällen bewusst verfolgt werden. Die Gefahr des Intellektualismus war in diesem Zusammenhang also nicht sehr groß. Später aber dehnte Bourdieu den Begriff auch auf die Individuen aus. 1975 hat er individuelle und kollektive Strategien unterschieden (1981a: 98). Bezeichnenderweise wurde die Unterscheidung in Bezug auf das Verhältnis von Bildungstiteln und Arbeitsstellen getroffen. Beide sind sicherlich Gegenstand besonders ausgeprägter bewusster Überlegung. Hier ist der Begriff der Strategie zweifellos angemessen. Das scheint er in Anlehnung an Erving Goffman getan zu haben, auf den er sich oft beruft. Das theoretische Paradigma, in dem sich Goffman bewegt, ist dem Bourdieus jedoch diametral entgegengesetzt. (Bourdieu kritisiert es unter anderem in genau dem eben zitierten Aufsatz, 1981a: 104f ) Während Goffman in der Tradition von Alfred Schütz die Gesellschaft aus dem Bewusstsein entwickeln möchte, geht Bourdieu den umgekehrten Weg. Goffman betrachtet vor allem Interaktionen- - im Idealfall zwischen zwei Menschen- -, Bourdieu betrachtet vor allem Strukturen. Sie treffen sich nur in einem Punkt: Die beobachtbare Handlung gewinnt ihren Sinn aus nichtbeobachtbaren Zusammenhängen. Goffman findet diese Zusammenhänge im Bild, das man von sich vermitteln möchte-- in der Rolle, die man im Theater des Alltags spielt, in die man gleichsam hineinwächst. Erhaltung und Verwandlung der Rolle müssen vom Individuum aktiv geleistet werden, das sich zu diesem Zweck bestimmter Strategien bedient. Die Erklärung einer bestimmten Handlung besteht für Goffman nun darin, sie auf die jeweils angewandte Strategie zurückzuführen. Dieses Modell baut Bourdieu in seine eigene Theorie der Praxis ein. Damit übernimmt er Aspekte des Modells, die seiner Theorie widersprechen: Individualismus, Intellektualismus, Kalkül. Auch wenn er sie auszulöschen sucht, gehören sie so sehr zum semantischen Kern des Begriffs der Strategie, dass sie Bourdieus Theorie zu verzerren scheinen. Wir werden in den nächsten Kapiteln anhand konkreter Beispiele darauf zurückkommen. Goffman <?page no="98"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M+Marginalie]__Rehbein__Soziologie_Bourdieus(3)___[Druck-PDF]/ 23.05.2016/ Seite 98 www.claudia-wild.de: [UTB-M+Marginalie]__Rehbein__Soziologie_Bourdieus(3)___[Druck-PDF]/ 23.05.2016/ Seite 99 3.2 Strategie 99 Während die genannten Aspekte des Strategiebegriffs Bourdieus Soziologie an einigen Stellen etwas verzerren, führt der Begriff einen Ökonomismus in sie ein, der durchaus gewollt ist (1992b: 114f ). Die Soziologie soll ja eine Ökonomie der Praxis sein und sich durch ihre Berücksichtigung der Akteursperspektive vom Strukturalismus abheben. Die Ersetzung des Regelbegriffs durch den Strategiebegriff entfernt Bourdieu allerdings nicht nur von Lévi-Strauss, sondern auch von Wittgenstein. Dieser hat Bourdieu nachhaltig und in vieler Hinsicht beeinflusst. »Er verkörpert eine Art Retter in intellektueller Not« (1992b: 28). Für Wittgensteins Deutung der sprachlichen Praxis hatte der Begriff der Regel eine zentrale Bedeutung. Wie Bourdieu unterscheidet er mindestens drei Bedeutungen von Regel: eine Art juristisches Prinzip (oder Norm), objektive Regelmäßigkeit, wissenschaftliches Modell (1992b: 81). Für Wittgenstein hat der Begriff aber noch eine weitere Bedeutung, nämlich den des Handlungsmusters. Im »Sozialen Sinn«, dessen erstes Buch mit einem Zitat aus Wittgensteins »Philosophischen Untersuchungen« eingeleitet wird, benutzt Bourdieu den Terminus des praktischen Schemas zunächst ähnlich wie Wittgenstein den der Regel. Im Handeln folge man praktischen Schemata, »die für sich selbst undurchsichtig und je nach der Logik der Situation und dem von dieser geforderten, fast stets voreingenommenen Standpunkt Schwankungen unterworfen« sind (1987b: 28). Handlungsschemata können- - an dieser Stelle-- den unterschiedlichsten Zielen dienen. Und genau das ist Wittgensteins Punkt. Wittgenstein polemisiert in den »Philosophischen Untersuchungen« gegen die Auffassung, sprachliche Äußerungen dienten der Übermittlung von (theoretischer) Information, seien also nur Propositionen, die Benennungen verknüpfen (# 1ff, 304). Das erscheine nur aus der Perspektive theoretisierender Beobachter so. Wie Bourdieu ist er der Ansicht, dass die theoretische Haltung die praktische Haltung nicht angemessen erfasse. Sprache sei in erster Linie ein Handeln. Bedeutungen seien dabei weniger so etwas wie Namen oder Benennungen, sondern in den meisten Fällen der praktische Gebrauch (# 40ff ). In seinem »Tractatus logico-philosophicus« hatte Wittgenstein die Sprache als logisches System gedeutet, in dem Benennungen verknüpft werden. Äußerungen, die nicht in wahrheitsfähige Sätze analysierbar sind, hielt er darin für sinnlos und überflüssig. Dann erkannte er, dass Sprache nicht zum Zweck von Theorie und Logik geschaffen wurde, sondern Bestandteil des menschlichen Lebens ist. In der »Philosophischen Grammatik« versuchte er, Bedeutung nicht mehr auf die Benennung, sondern auf den Gebrauch zurückzuführen. Diese Auffassung herrscht auch in den »Philosophischen Untersuchungen« vor. Wittgenstein deutet den Gebrauch von Sprache als »Sprachspiel« (# 6f ). »Das Ökonomismus Begriff der Regel Wittgenstein <?page no="99"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M+Marginalie]__Rehbein__Soziologie_Bourdieus(3)___[Druck-PDF]/ 23.05.2016/ Seite 100 100 3 Praxis (Grundbegriffe) Wort ›Sprachspiel‹ soll hier hervorheben, dass das Sprechen der Sprache ein Teil ist einer Tätigkeit oder einer Lebensform.« (# 23) Kinder lernten die Bedeutung von Wörtern nur durch ihren Gebrauch, sie müssten lernen, in welchem Zusammenhang welches Wort gebraucht wird und welche Konsequenzen daraus folgen (# 9). Sodann versucht Wittgenstein zu zeigen, dass ein Sprachspiel keine Grundform hat, sondern in zahllosen Arten von Sprachen und Sätzen existiert. Man könne sich Sprachen mit unterschiedlichsten Satz- und Wortarten vorstellen (# 19, 65). »Und eine Sprache vorstellen heißt, sich eine Lebensform vorstellen.« (# 19) Auch in einer bestimmten Sprache gebe es zahllose Arten von Sätzen und Sprachspielen: Dank, Bitte, Befehl, Gebet, Beschreibung, Vermutung, Theaterspiel, Erzählen eines Witzes, Übersetzung (# 23). Ja, man könne die Bedeutung nicht einmal unter den Gebrauch subsumieren, sondern das gilt laut den »Philosophischen Untersuchungen« nur für »die meisten Klassen von Fällen« (# 43). Hinter der Definition von Bedeutung als Gebrauch steht in den »Philosophischen Untersuchungen« die Konzeption des Sprachspiels. Eine sprachliche Äußerung wird ähnlich wie eine Aktion in einem Spiel aufgefasst (beispielsweise ein Zug mit dem Läufer im Schachspiel). Es gibt allerdings keinen Prototyp des Spiels. Die Zahl der Spieler kann ebenso variieren wie das Ziel des Spiels, die Art des Handelns, das Regelwerk und das Ziel. Die Spiele haben eben nur das gemeinsam, Spiele zu sein, sie sind ähnlich, aber nicht unter einen Oberbegriff subsumierbar. Wittgenstein spricht hier von »Familienähnlichkeit« (# 65). Das jeweilige Spiel legt fest, wie man sich in ihm korrekt zu verhalten hat. Genau das gilt laut Wittgenstein auch für die Sprache und erklärt ihre Regelmäßigkeit. Um zu funktionieren, müsse die Sprache eine gewisse Konstanz, also Regelmäßigkeit aufweisen (# 207f ). Sie wird dadurch gewährleistet, dass sich die »Lebensform« einer Gesellschaft nicht beliebig ändert und die Sprachspiele dementsprechend auch nicht willkürlich verändert werden können oder müssen (# 206, 241). Wer die Teilnahme an einem Sprachspiel lernt, erlernt eine Form von Praxis, so etwas wie die Beherrschung von Spielregeln, die nicht bewusst sein muss (# 202). »Einen Satz verstehen, heißt, eine Sprache verstehen. Eine Sprache verstehen, heißt, eine Technik beherrschen.« (# 199). Und die Technik deutet Wittgenstein als Regel. Die Regelmäßigkeit im sprachlichen Handeln beruht auf der Befolgung von Regeln, besser gesagt, auf der Verinnerlichung von Regeln des jeweiligen Sprachspiels. Die Befolgung einer Regel ist »eine Praxis«, die nicht mit der bewussten Anwendung einer Regel verwechselt werden darf (# 202). Man muss lediglich wissen, wie man an eine sprachliche Handlung mit der korrekten Art von Handlung anschließt (# 1ff ). <?page no="100"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M+Marginalie]__Rehbein__Soziologie_Bourdieus(3)___[Druck-PDF]/ 23.05.2016/ Seite 100 www.claudia-wild.de: [UTB-M+Marginalie]__Rehbein__Soziologie_Bourdieus(3)___[Druck-PDF]/ 23.05.2016/ Seite 101 3.3 Feld 101 Nicht anders deutet Bourdieu den Habitus (Bohn 1991: 65). Und er ist ebenso der Meinung, dass die Korrektheit des Handelns durch das jeweilige Spiel festgelegt wird, das er als »Feld« bezeichnet. Der wichtigste Unterschied zu Wittgenstein besteht darin, dass er die Befolgung von Regeln durch die Verfolgung von Strategien ersetzt. Es ist jedoch interessant, dass das erwähnte Wittgenstein-Zitat im »Sozialen Sinn« (1987b: 49) explizit den Begriff der Regel enthält. Als Motto stellt Bourdieu seinem Werk also einen Begriff voran, gegen den er polemisiert. Das Zitat lautet: »›Wie kann ich einer Regel folgen? ‹-- wenn das nicht eine Frage nach den Ursachen ist, so ist es eine nach der Rechtfertigung dafür, dass ich so nach ihr handle. Habe ich die Begründungen erschöpft, so bin ich nun auf dem harten Felsen angelangt, und mein Spaten biegt sich zurück. Ich bin dann geneigt zu sagen: ›So handle ich eben.‹« (Wittgenstein 1984: # 217) Wie ist es nun möglich, dass Bourdieu von derselben Konzeption von Praxis auszugehen scheint wie Wittgenstein, aber einen zentralen Begriff Wittgensteins-- den der Regel-- durch einen völlig anderen ersetzt-- den der Strategie? Der Grund hierfür wird deutlich, wenn man die Differenzen zwischen den Begriffen »Feld« und »Sprachspiel« genauer betrachtet. 3.3 Feld Trotz der auffälligen Verwandtschaft der Begriffe »Feld« und »Sprachspiel« hat Bourdieu den Begriff des Feldes nicht aus der Lektüre Wittgensteins entwickelt. Er erinnerte sich später, dass sich der Begriff aus der Überlagerung der Forschungen zur Kunst mit der Lektüre von Webers Religionssoziologie um 1970 ergab (1992b: 36). Auch wenn der Begriff in der Folge wiederholt und stets in einer ähnlichen Bedeutung auftauchte, hat ihn Bourdieu erst spät systematisch verwendet und zum unerlässlichen Grundbegriff gemacht. In der »Theorie der Praxis« spielt er noch keine wesentliche Rolle, nicht einmal im »Sozialen Sinn«, auch wenn er dazwischen, in den »Feinen Unterschieden«, bereits unverzichtbar geworden ist. 10 Michael Vester weist darauf hin, dass Cassirers Schüler Kurt Lewin den Begriff des Feldes von der modernen Physik auf die Sozialwissenschaften übertragen hat (Vester 2002: 62). Bourdieu hat sich mit Lewin beschäftigt, 10 Der erste Teil des »Sozialen Sinns« sollte ursprünglich den Schluss der »Feinen Unterschiede« bilden (1992b: 97). Webers Religionssoziologie <?page no="101"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M+Marginalie]__Rehbein__Soziologie_Bourdieus(3)___[Druck-PDF]/ 23.05.2016/ Seite 102 102 3 Praxis (Grundbegriffe) aber den Ursprung seines eigenen Gebrauchs des Begriffs setzt er, wie erwähnt, mit der Lektüre von Webers Aufsätzen zur Religionssoziologie an. 11 Sachlich hat der Begriff seinen Ursprung im Problem, das zum Ende des letzten Abschnitts angeführt wurde: Wenn die Praxis keine bewusste Befolgung von Regeln bzw. Modellen ist, wie kann sie dann regelmäßig und einheitlich sein? Da Bourdieu die Praxis im Gegenzug auch nicht für ein Resultat spontaner und willkürlicher Schöpfung hält, sondern für ein Produkt des Habitus, führt die Regelmäßigkeit auf die Erzeugungs- und Anwendungsbedingungen des Habitus zurück. Diese Bedingungen sind selbst strukturiert, und zwar ähnlich wie Sprachspiele. Bourdieu führt den Begriff des Feldes tatsächlich oft in Analogie zum Spiel ein und erläutert sein Funktionieren am Beispiel von Mannschaftssportarten wie Fußball oder Spielen, bei denen Chips eingesetzt werden (siehe etwa 1996b: 127; 2001c: 44). In den Beispielen ist der Habitus dann der Sinn für das Spiel, den man im Alltag meist als »Talent« bezeichnet (1992b: 84f ). Ein guter Fußballspieler ist immer dort, wo der Ball im nächsten Augenblick hinkommt. Er weiß, wie er sich zu bewegen hat, er kennt die zahllosen Tricks und Kniffe, die gerade noch erlaubt sind und den entscheidenden Vorteil gegenüber dem Gegenspieler verschaffen. All das beherrscht er unbewusst und körperlich, weiß, so zu handeln, das Handeln aber nicht unbedingt zu erklären. Und wie der Fußballspieler nicht unbedingt gut Hockey oder Volleyball und schon gar nicht Schach oder Halma spielt, so bildet sich jeder Habitus in Relation zu bestimmten Feldern aus (1982c: 164). Die dort erworbenen Fähigkeiten sind übertragbar, aber auf anderen Feldern nicht notwendig genauso wertvoll und praktikabel. Die Felder haben in Bezug auf die Habitus und die Funktionsweise eine gewisse Unabhängigkeit voneinander. Jedes Feld hat eine eigene Logik (1998e: 19). Das ähnelt Wittgensteins Konzeption »zahlloser Sprachspiele«, die gleichzeitig oder nacheinander, jedenfalls aber unabhängig voneinander und auf unterschiedliche Weise vollzogen werden. Wie Wittgenstein nicht mehr von einer einzigen formalen Sprache hinter den realen Erscheinungsformen der Sprache ausgeht, so löst Bourdieu die gesellschaftliche Totalität in relativ unabhängige Felder (oder Spiel-Räume) auf (Wacquant 1996: 37). Wie in Sprach- und anderen Spielen unterscheiden sich nicht nur die »Regeln« und erforderlichen Fähigkeiten voneinander, sondern auch die Ziele und Einsätze der Felder. Ein Feld definiert Einsätze und Interessen. »Der Kern des Feldbegriffs besteht darin, dass dort ›etwas‹, ein Einsatz, im 11 An der meines Wissens ersten Verknüpfung des Feldbegriffs mit der Physik bezieht sich Bourdieu auf Bachelard, nicht auf Lewin (1982c: 164). Analogie zum-Spiel Sinn für das-Spiel Jedes Feld hat -eine eigene-Logik Einsätze und Interessen <?page no="102"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M+Marginalie]__Rehbein__Soziologie_Bourdieus(3)___[Druck-PDF]/ 23.05.2016/ Seite 102 www.claudia-wild.de: [UTB-M+Marginalie]__Rehbein__Soziologie_Bourdieus(3)___[Druck-PDF]/ 23.05.2016/ Seite 103 3.3 Feld 103 Spiel ist.« (Papilloud 2003: 36) Die Menschen müssen den Glauben an den Einsatz haben und über einen Habitus verfügen, der die Einsätze und Regeln kennt (1993b: 107f ). Sie müssen in das Feld eingeübt sein. Mit der Einübung werden die Regeln und Einsätze sowie die Ziele des Spiels übernommen. Bourdieu bezeichnet den von allen auf den Feld Agierenden geteilten Glauben als Illusio. Jedes Feld hat seine eigene Illusio und seine eigenen Einsätze, die von außen unsinnig, illusorisch erscheinen (1994a: 152f ). Die Illusio ist eng verwandt mit der Doxa. Bourdieu differenziert nicht immer präzise zwischen beiden Termini, doch bezeichnet er mit Doxa eher das allgemeine, gesellschaftliche Vorverständnis, während die Illusio immer mit dem Begriff des Feldes verknüpft zu sein scheint. Die Illusio bestimmt auch die Interessen und Strategien. »Es gibt nicht ein Interesse, sondern es gibt Interessen, die je nach Zeit und Ort nahezu endlos variabel sind. In meiner Terminologie würde ich sagen, dass es so viele Interessen gibt wie Felder« (1992b: 111). Diese Vorstellungen ähneln Wittgensteins Konzeption sehr. Ein wichtiger Unterschied zwischen einem Feld und einem Spiel ist Bourdieu zufolge nun, dass der Spielbegriff die Existenz von Regeln und deren vorgängige Festlegung suggeriert (1992b: 85). Die Analogie müsse beinhalten, dass die Regeln ständig neu geschaffen, umkämpft und revidiert werden. Und sie sind im Allgemeinen nirgends fixiert. Das hat Wittgenstein in den »Philosophischen Untersuchungen« nicht anders gesehen. Wie Bourdieu suchte er Dichotomien wie Determinismus und Freiheit, externer und interner Deutung, Formalismus und Reduktionismus zu überwinden (1997c: 66; Krais, Gebauer 2002: 54f ). Tatsächlich ist nicht Bourdieus Polemik gegen den Regelbegriff die entscheidende Differenz zu Wittgenstein. 12 Es ist vielmehr seine Ersetzung durch den Begriff der Strategie. Die durch das Feld eingeprägten Interessen werden trotz des zitierten »So handle ich eben« nicht einfach übernommen, sondern sie verknüpfen sich mit Strategien. Den »harten Felsen« löst Bourdieu in soziale Kämpfe auf. In den Kämpfen verfolgen die Akteure Strategien zur Bewahrung oder Verbesserung ihrer sozialen Position. »Bourdieu begreift soziale Felder als Kräftefelder, die geprägt sind von der Konkurrenz unter den Akteuren.« (Krais, Gebauer 2002: 55f ) Er denkt dabei keineswegs an ein kindliches Spiel, sondern in der sozialen Welt geht es geradezu um Leben und Tod. Einige Felder sind weniger ernst, aber auch sie funktionieren nur, wenn ihre Einsätze ernst genommen werden. 12 Auch für Bourdieu gibt es auf dem Feld so etwas wie Regeln, aber sie sind-- nach Schwingel (1995: 83)- - nicht regulative, sondern konstitutive Regeln. Das sind sie allerdings auch für Wittgenstein. Darauf werde ich am Ende des Kapitels zurückkommen. Illusio soziale Kämpfe <?page no="103"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M+Marginalie]__Rehbein__Soziologie_Bourdieus(3)___[Druck-PDF]/ 23.05.2016/ Seite 104 104 3 Praxis (Grundbegriffe) Die Akteure streben nach den bestmöglichen Positionen auf dem Feld. Zu diesem Zweck setzen sie alles ein, worüber sie verfügen und was auf dem Feld zählt. Gleichzeitig versuchen sie die »Regeln« so zu verändern, dass das, worüber sie verfügen, am besten zur Geltung kommt. »Jedes Feld […] ist ein Kräftefeld und ein Feld der Kämpfe um die Bewahrung oder Veränderung dieses Kräftefeldes.« (1998e: 20; auch 2001c: 49) Die Akteure sind in unterschiedlicher Weise befähigt, auf das Feld Einfluss zu nehmen und ihre Interessen geltend zu machen. Eben das ist mit ihrer sozialen Position gemeint. Die Position in der Struktur des Feldes schließt Möglichkeiten aus und bedingt die Stellungnahmen auf dem Feld (1998e: 20f ). »Analytisch gesprochen wäre ein Feld als ein Netz oder eine Konfiguration von objektiven Relationen zwischen Positionen zu definieren.« Diese sind definiert durch die »Struktur der Distribution der verschiedenen Arten von Macht« (1996b: 127). Aufgabe der Soziologie ist es, diese Struktur zu analysieren (1988c: 54; 1997c: 68). Mit Macht ist dabei soziale Ungleichheit oder auch Herrschaft gemeint. Andere Konnotationen von Macht, beispielsweise Vermögen im Sinne eines Könnens, Autorität oder Technik vernachlässigt Bourdieu (Kröhnert-Othman, Lenz 2002: 168). Prinzipiell sind alle Felder ähnlich strukturiert, nämlich nach Kämpfen, nach Graden der Macht, nach Illusio und Interessen, nach Ausschluss und Usurpation (siehe Swartz 1997: 123ff ). In diesem Sinne sind sie homolog. Ihre Struktur ist nicht singulär, aber sie lässt sich auch nicht aus einem universalen Prinzip ableiten (1996b: 195). Sie unterscheiden sich in der konkreten Ausgestaltung der Homologien. In jedem Feld steht anderes auf dem Spiel, treten sich unterschiedliche Akteure gegenüber, gelten andere Regeln. »Eine Eigenschaft der Felder ist, dass die Kräfteverhältnisse in ihnen jeweils besondere Formen annehmen. In jedem Feld ist die Kraft […], die im Spiel ist, eine andere.« (2001c: 35) Die allgemeinen Begriffe der Soziologie, wie sie Bourdieu seit den »Feinen Unterschieden« erarbeitet hat, sind letztlich Kategorien für die Untersuchung des Zusammenspiels von Habitus und Feld. Die empirischen Untersuchungen wenden die Kategorien auf konkrete Felder an. Bourdieu zufolge sind relativ unabhängige Felder mit eigener Logik ein Phänomen, das historisch entstanden ist (2004a: 162). Die Theorie der sozialen Felder »bezieht sich auf das in der Moderne auffällige Phänomen der relativen Autonomie […] abgegrenzter sozialer Sektoren«, das auch als Ausdifferenzierung bezeichnet wird (Krais, Gebauer 2002: 55). Ein Feld ist also etwas Ähnliches wie ein System bei Niklas Luhmann. Von Luhmanns Konzeption grenzt sich Bourdieu explizit ab: Das Feld ist nicht funktional, kohärent und selbstregulierend, vor allem aber ist es ein Kräftefeld, eine Machtstruktur (1996b: 133f ). Wie Luhmann nimmt er jedoch an, dass die Macht Autonomie <?page no="104"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M+Marginalie]__Rehbein__Soziologie_Bourdieus(3)___[Druck-PDF]/ 23.05.2016/ Seite 104 www.claudia-wild.de: [UTB-M+Marginalie]__Rehbein__Soziologie_Bourdieus(3)___[Druck-PDF]/ 23.05.2016/ Seite 105 3.3 Feld 105 Ausdifferenzierung durch die Arbeitsteilung im Sinne Durkheims vorangetrieben wurde, die zugleich eine stärkere Spezialisierung und einen größeren Zusammenhang umfasst. Man kann nun fragen, wo die Grenze eines Feldes ist. Ganz allgemein gesprochen endet ein Feld dort, wo die Feldeffekte aufhören, wo also die Einsätze, die »Regeln« und die Illusio des speziellen Feldes nicht mehr gelten (2001c: 50). Die Grenzen sind variabel und hängen von den Kräfteverhältnissen auf dem Feld und zwischen den Feldern ab. Man muss jedoch bedenken, dass das Feld ein wissenschaftliches Konstrukt ist. Es soll zwar die soziale Welt erklären, wie sie objektiv strukturiert ist und subjektiv erfahren wird, aber es existiert nicht wie ein Ding, auf das man zeigen kann. Es ist in ähnlicher Weise ein Kräftefeld wie das der Physik. Die Abgrenzung von Feldern mittels des Fehlens von Feldeffekten hat also eher einen heuristischen als einen definitorischen Stellenwert. Meines Erachtens bewegt man sich in der Praxis zumeist auf mehreren Feldern gleichzeitig (wie man beispielsweise während eines Gesellschaftsspiels mit einer Person flirten, mit einer anderen eine alte Rechnung begleichen und mit einer dritten telefonieren kann) (siehe auch Bohn 1991: 138). Eine eindeutige Bestimmung der Grenze wird die Erkenntnis vermutlich einschränken. Vielmehr durchdringen die Felder einander, jedes Feld enthält Elemente anderer Felder. Gehören beispielsweise die Zuschauer (der »zwölfte Mann«) nicht zum Fußballspiel? Wie ist es mit dem Trainerstab, mit der Reservebank und den Linienrichtern, die außerhalb des Spielsfelds situiert sind? Und müssen Doping oder Medienberichte in die Analyse einbezogen werden? Es scheint mir nicht sinnvoll, diese Fragen vor der Analyse beantworten zu wollen. Durch den Vergleich verschiedener Felder sind Eigenschaften zu ermitteln, die allen Feldern gemeinsam sind. Die oben genannten Kategorien sind dabei gleichsam die Grundlage des Vergleichs. Einige Eigenschaften des Feldes, die Bourdieu ermittelt hat, sind die Struktur von Zentrum und Peripherie, die zunehmende Abschließung, eine wachsende Autonomie (die jedoch stets durch Bemühungen der Heteronomisierung von außen bedroht ist) sowie eine Dialektik von Orthodoxie und Häresie. Die Gruppe im Zentrum des Feldes tendiert zur Orthodoxie, während Neulinge mit Ambitionen und Fähigkeiten zur Subversion tendieren (1993b: 109; siehe auch Jurt 2001: 45f ). Da Felder aus Kämpfen resultieren, verändern sie sich unaufhörlich. Ihre Analyse muss also historisch vorgehen, zumindest aber die Dynamik der Kämpfe erfassen. »Die soziale Genese eines Feldes zu erfassen und zu begreifen, was die spezifische Notwendigkeit des dieses stützenden Glaubens, des in ihm wissenschaftliches Konstrukt Eigenschaften des Feldes <?page no="105"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M+Marginalie]__Rehbein__Soziologie_Bourdieus(3)___[Druck-PDF]/ 23.05.2016/ Seite 106 106 3 Praxis (Grundbegriffe) geübten Sprachspiels und der materiellen und symbolischen Einsätze, um die es ihm geht, ausmacht, bedeutet, die Aktionen der Produzenten und die Werke, die sie schaffen, zu erklären.« (1997c: 73) Mit dieser Erklärung erkennt man auch die spezifische Weltsicht der einzelnen Akteure, die aus ihrer Position resultiert. Bourdieu erläutert das oft am Beispiel eines Theaters oder eines Stadions, in denen man von den »besseren Plätzen« einen anderen und besseren Blick hat. Man sieht anders, in gewisser Weise sieht man sogar etwas anderes. Mit der Erklärung der Blickwinkel gelangt die Sichtweise und die Erfahrung der Akteure wieder in die Soziologie. Die Feldtheorie versachlicht die isolierten Blickwinkel und liefert »ein umfassendes und nachsichtiges Bild der verschiedenen Stellungen und Stellungnahmen, ein ›Verstehen heißt Verzeihen‹ gegen das polemische, ausschnitthafte und einseitige Bild der Akteure selbst« (1998e: 40). Dadurch kann sie zum gegenseitigen Verständnis der Inhaber verschiedener Positionen beitragen, auch wenn die unterschiedlichen Perspektiven dadurch nicht verschwinden. Im Fortgang seiner Arbeit hat Bourdieu die Analyse von Feldern zunehmend in den Vordergrund gerückt. Als exemplarische Analyse eines Feldes gilt sein Werk über das Feld der Literatur zu Flauberts Zeit (1999). Der Begriff des Feldes trat immer häufiger auf, die Anzahl der Felder wurde ständig vermehrt. Es bleibt jedoch unklar, ob er die Gesellschaft völlig in Felder auflösen wollte, wie Wacquant schreibt (Wacquant 1996: 37), oder ob er daneben ein beherrschendes Feld, ein Feld der Gesellschaft oder einen umfassenden »sozialen Raum« annahm (z. B. 1982c: 212f; 1996b: 136; 2001c: 41). Unklar bleibt auch das Verhältnis zwischen Institution, Organisation und Feld, ebenso wie das Verhältnis zwischen Feldern als Kampffeldern und nicht als Kämpfen funktionierenden Bereichen von Gesellschaft (wie einige Typen von Freundschaft, Spiel, Kommunikation). 13 Für diese Fragen hat sich Bourdieu nicht vorrangig interessiert, weil die konkreten sozialen Ungleichheiten im Zentrum seiner Arbeit standen. 13 Zu diesen Fragen siehe auch Rehbein (2003).-- Kai Thyret weist darauf hin, dass Spiele nicht unbedingt das Gegenteil von Kämpfen sind, betreiben doch viele Akteure sie ernster und kämpferischer als beispielsweise wirtschaftliches Handeln (persönliche Mitteilung). Blickwinkel <?page no="106"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M+Marginalie]__Rehbein__Soziologie_Bourdieus(3)___[Druck-PDF]/ 23.05.2016/ Seite 106 www.claudia-wild.de: [UTB-M+Marginalie]__Rehbein__Soziologie_Bourdieus(3)___[Druck-PDF]/ 23.05.2016/ Seite 107 3.4 Kapital 107 3.4 Kapital Die Frage nach dem Verhältnis zwischen den Feldern und »der Gesellschaft« ist für die Frage nach sozialen Ungleichheiten nicht ohne Bedeutung. Ich vermute, dass Bourdieu hier einfach nicht zu einer abschließenden Antwort gelangt ist. Nachdem er vom Modell eines Nationalstaats mit Klassenstruktur ausgegangen war, wurde seine Auffassung von Sozialstruktur immer differenzierter. Homologien, Unterschiede und Verhältnisse zwischen Feldern rückten an die erste Stelle der Forschungsagenda. Dennoch behielt Bourdieu die Konzeption einer einheitlichen Sozial- oder gar Klassenstruktur bei. Ein abschließendes theoretisches Wort zum Zusammenhang zwischen Arbeitsteilung, Feldern und Klassen hat er meiner Ansicht nach nicht gesprochen. Daher sollte man die folgenden Absätze mit einer gewissen Vorsicht und in einer kritischen Haltung lesen. In seinen späteren Arbeiten beschäftigte sich Bourdieu mit dem Verhältnis von Habitus, Feld und Sozialstruktur. Gegenstand seiner Soziologie war die Strukturierung des Habitus durch das Feld und seine Rückwirkung auf das Feld aus einer bestimmten Position heraus (1996b: 160). Anders gesagt, Strukturen und Kräfte des Feldes stehen der Trägheit und den Eigenschaften des Habitus gegenüber (1996b: 188). Die Strukturen und Kräfte bestimmen das »Spiel«, die Praxis. Sie legen fest, was wertvoll ist »und daher als Erklärungsfaktor« fungiert (1996b: 194). Wertvoll sind Dinge, die auf dem Feld Handlungsmöglichkeiten eröffnen und eine Bewahrung oder Verbesserung der Position ermöglichen. Oben hatte ich diese Dinge als »Fähigkeiten« bezeichnet. Das ist irreführend, denn es handelt sich nicht um persön liche, individuelle Dinge, sondern um soziale Eigenschaften. Soziale Fähigkeiten, die im Habitus inkorporiert sind, gehören auch dazu, aber sie reichen nicht aus. Wer beispielsweise über herausragendes ökonomisches Geschick verfügt, ist nicht automatisch ein Großunternehmer oder führender Manager. Für das Unternehmertum ist Kapital erforderlich, für einen Managerposten ein Hochschulabschluss. Alle sozial erforderlichen Handlungsressourcen subsumiert Bourdieu unter dem Begriff des Kapitals. Bei einem Fußballspieler sagen wir, sein Körper (oder sein Geschick) sei sein Kapital. Auch einen Doktortitel oder wohlhabende Familienmitglieder bezeichnen wir als Kapital. So umfassend verwendet auch Bourdieu den Begriff. Selbst der Habitus ist eine Art von Kapital, eben inkorporiertes Kapital (1993b: 127f ). Mit dem Kapitalbegriff der Wirtschaft hat Bourdieus Begriff gemeinsam, dass er akkumulierte Arbeit bedeutet. »Die universelle Wertgrundlage, das Maß aller Äquivalenzen, ist dabei nichts anderes als die Arbeitszeit im weitesten Sinne des Wortes.« (1992c: 71) Bourdieus Kapitalbegriff unterscheidet sich vom ökonomischen durch Nationalstaat Habitus, Feld und Sozialstruktur Handlungsressourcen Bourdieus Kapitalbegriff <?page no="107"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M+Marginalie]__Rehbein__Soziologie_Bourdieus(3)___[Druck-PDF]/ 23.05.2016/ Seite 108 108 3 Praxis (Grundbegriffe) seine Allgemeinheit. Jede Form von Arbeit kann der Kapitalakkumulation dienen, und jede für soziales Handeln erforderliche Ressource kann als Kapital fungieren. Selbst das Erlernen der Muttersprache deutet Bourdieu als Akkumulation von Kapital (siehe 6. Kapitel). In seiner allgemeinen Bedeutung ist der Kapitalbegriff die Verbindung zwischen den Begriffen des Feldes und des Habitus. Der Habitus ist abhängig vom Kapital, das ihm auf einem Feld zur Verfügung steht. 14 »Kapital ist akkumulierte Arbeit, entweder in Form von Material oder in verinnerlichter, ›inkorporierter‹ Form […] Als vis insita ist Kapital eine Kraft, die den objektiven und subjektiven Strukturen innewohnt; gleichzeitig ist das Kapital-- als lex insita-- auch grundlegendes Prinzip der inneren Regelmäßigkeit der sozialen Welt.« (1992c: 49) Bourdieu spricht sogar davon, dass Kapital die »Energie der sozialen Physik« sei (1976: 357). Allerdings erfordert jedes Feld unterschiedliche Arten von Kapital. Oben war die Rede davon, dass ein guter Fußballspieler nicht unbedingt im Hockey oder Schach herausrage. Er hat eben spielspezifisches Kapital erworben. Analog ist das bourdieusche Kapital feldspezifisch. Die Rolle und die Arten des Kapitals hat Bourdieu im Lauf der Jahrzehnte schrittweise erarbeitet. In Algerien entdeckte er, dass die »Ehre« für die Gesellschaftsstruktur eine besondere Rolle spielte. Er kam zum Ergebnis, dass Ehre als wichtigste Form von Kapital in der traditionalen algerischen Gesellschaft gelten könne (1958: 23; 1976: 11ff ). Diese Form bezeichnete er später auch als symbolisches Kapital. Alter und Geschlecht sind vielleicht Kategorien, die mit unterschiedlichen Stufen von Ehre einhergehen, zumindest aber mit unterschiedlichen Handlungsmöglichkeiten. Versuchsweise fasste er sie ebenfalls als symbolisches Kapital (siehe 6.3). Bei seinen Untersuchungen zum französischen Bildungswesen ermittelte er die wichtige Rolle der Vertrautheit mit der herrschenden Kultur. Dass Kinder aus gutem Hause gute Schulabschlüsse machten und die höchsten Titel erwarben, war nicht durch das ökonomische Kapital ihrer Eltern zu erklären, sondern durch ihr kulturelles Kapital (siehe 4.1). Die Entdeckung des kulturellen Kapitals gehört sicher zu den größten und bleibenden Leistungen Bourdieus und legte den Grundstein für sein einflussreichstes Werk, »Die feinen Unterschiede« (siehe 5. Kapitel). Die folgenden Kapitel werden die verschiedenen Kapitalarten und ihren Zusammenhang mit Feld und Habitus genauer am Material erläutern. Hier seien vorweg einige allgemeine Eigenschaften des Kapitals genannt. 14 Da Kapital dinglich oder einverleibt existieren kann, ist es für Bourdieu ein weiterer Versuch, die Dichotomie von Subjektivismus und Objektivismus zu überwinden (Fröhlich 1994: 34). symbolisches Kapital kulturelles Kapital <?page no="108"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M+Marginalie]__Rehbein__Soziologie_Bourdieus(3)___[Druck-PDF]/ 23.05.2016/ Seite 108 www.claudia-wild.de: [UTB-M+Marginalie]__Rehbein__Soziologie_Bourdieus(3)___[Druck-PDF]/ 23.05.2016/ Seite 109 3.4 Kapital 109 In der Sekundärliteratur zu Bourdieu werden drei oder vier Arten von Kapital unterschieden. Man stützt sich dabei auf eine einschlägige Stelle in der »Reflexiven Anthropologie« (1996b) und einen Aufsatz, der in der Sammlung »Die verborgenen Mechanismen der Macht« (1992c) abgedruckt ist. Dort spricht Bourdieu von drei grundlegenden Arten des Kapitals: ökonomisches, kulturelles und soziales. »Zu diesen drei Sorten kommt noch das symbolische Kapital hinzu, das die Form ist, die eine dieser Kapitalsorten annimmt, wenn sie über Wahrnehmungskategorien wahrgenommen wird, die seine spezifische Logik anerkennen« (1996b: 151). Das ökonomische Kapital umfasst neben den marxschen Produktionsmitteln jede Art von Tauschwert (1992c: 50). Es hat eine Affinität zu Geld und wird vor allem im Eigentumsrecht institutionalisiert (1992c: 50ff ). Kulturelles Kapital ist Informationskapital. Es existiert inkorporiert (als Bildung, Fähigkeiten), objektiviert (als Kunstgegenstände, Bücher, Instrumente) und institutionalisiert (vor allem als Bildungstitel) (1992c: 52ff ). »Das Sozialkapital ist die Gesamtheit der aktuellen und potentiellen Ressourcen, die mit dem Besitz eines dauerhaften Netzes von mehr oder weniger institutionalisierten Beziehungen gegenseitigen Kennens oder Anerkennens verbunden sind; oder, anders ausgedrückt, es handelt sich dabei um Ressourcen, die auf der Zugehörigkeit zu einer Gruppe beruhen.« (1992c: 63) Jede Art von Kapital kann Gegenstand der Akzeptanz oder Wertschätzung und zur symbolischen Durchsetzung von Machtansprüchen eingesetzt werden. In dieser Funktion wird Kapital zu symbolischem Kapital, also zu etwas wie Ehre (1992c: 77). Die Arten von Kapital können ineinander konvertiert werden, beispielsweise indem man für Geld ein teures Gemälde (kulturelles Kapital) oder die Mitgliedschaft in einem Golfklub (soziales Kapital) oder ein Waisenhaus (symbolisches Kapital) erwirbt. Die Wechselkurse sind umkämpft, weil jeder Großbesitzer von Kapital den Wert seiner vorherrschenden Kapitalsorte bewahren oder steigern möchte. So reicht der Einsatz von Geld in den genannten Beispielen für eine ertragreiche Konvertierung nicht aus. Das Gemälde muss auf dem Feld der Kunst anerkannt sein, wozu man ein entsprechendes Wissen benötigt (1992c: 59). »Für die Reproduktion von Sozialkapital ist die unaufhörliche Beziehungsarbeit in Form von ständigen Austauschakten erforderlich, durch die sich die gegenseitige Anerkennung immer wieder neu bestätigt.« (1992c: 67) Und der Erwerb des Waisenhauses muss von der Öffentlichkeit-- als Akt der Wohltätigkeit- - wahrgenommen werden. Jede Art von Kapital hat ihre drei grundlegende Arten des Kapitals Sozialkapital <?page no="109"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M+Marginalie]__Rehbein__Soziologie_Bourdieus(3)___[Druck-PDF]/ 23.05.2016/ Seite 110 110 3 Praxis (Grundbegriffe) eigenen Gesetze und Funktionsweisen, die Bourdieu vor allem im Bereich der Kultur detailliert untersucht hat. 15 Der große Unterschied zwischen den Kapitalsorten hat Bourdieu viel Kritik eingebracht. Beispielsweise wird kulturelles Kapital im Gegensatz zu ökonomischem Kapital meist angewendet, ohne verausgabt zu werden (Zander 2003: 114), und im Kapitalismus hat ökonomisches Kapital eine andere Bedeutung als in nichtkapitalistischen Gesellschaften (Swartz 1997: 74f ). Ferner hat Bourdieu die Anzahl der Kapitalarten ständig vermehrt und die Oberbegriffe kaum einheitlich gebraucht. So schreibt er an einer Stelle Unternehmen finanzielles, technologisches, rechtliches, organisatorisches und kommerzielles Kapital zu (2000a: 235f ). Können diese Arten unter die drei oder vier Oberbegriffe subsumiert werden? An einer anderen Stelle führt er als weiteren Oberbegriff für den früheren Ostblock das politische Kapital ein (1994a: 33). Mir scheinen all diese Ambivalenzen eher fruchtbarer als aporetischer Natur zu sein. Man sollte sie nicht ausbügeln, indem man jedem Feld eine Kapitalsorte zuschreibt oder die Arten des Kapitals auf eine bestimmte Anzahl begrenzt. Dass es unterschiedliche Arten von-- umkämpften-- Handlungsressourcen gibt, ist eine interessante und wichtige Entdeckung für die Soziologie. Um die Ambivalenzen weniger äquivok zu gestalten, habe ich vorgeschlagen, den Begriff des Kapitals auf das ökonomische zu beschränken und die anderen Arten als Ressourcen zu bezeichnen (Rehbein 2003). Das würde die Streitereien um Worte auf Streitigkeiten um Sachen zurückführen. Wenn man bei Bourdieu bleiben will, so sind die Sachen in der Relation von Feldern, Kapital (Ressourcen) und Habitus anzusiedeln. Auf den Feldern entstehen unterschiedliche Arten von Kapital und kommen unterschiedliche Arten zum Einsatz (1998e: 22). Wie viele Arten es gibt, wäre damit eine empirische Frage. Die Struktur eines Feldes wird großenteils durch die Verteilung des relevanten Kapitals festgelegt (1998e: 21). Der Umfang des Kapitals bestimmt grundlegend das Gewicht, das dem Akteur bei der Gestaltung des Feldes zukommt. Jeder Akteur handelt gemäß den Zwängen der Struktur des Feldes. Je geringer sein Gewicht auf dem Feld, desto größer der Zwang der Struktur. Je größer sein Gewicht, desto mehr Einfluss hat er auf die Gestaltung des Feldes-- auf die »Regeln«, die Einsätze, die Verteilung der Gewinne 15 Beate Krais (2004b: 196) schreibt, Bourdieus Kapitalbegriff sei im Gegensatz zum marxschen nicht relational, weil er kein soziales Verhältnis ausdrückt. Die Kritik scheint mir weit mehr auf das ökonomische Kapital zuzutreffen, als auf die anderen Kapitalsorten, und hier auch in unterschiedlichem Maße. Ich glaube, das Thema bedarf einer genaueren Untersuchung. Unterschied zwischen den Kapitalsorten Verteilung des-relevanten Kapitals <?page no="110"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M+Marginalie]__Rehbein__Soziologie_Bourdieus(3)___[Druck-PDF]/ 23.05.2016/ Seite 110 www.claudia-wild.de: [UTB-M+Marginalie]__Rehbein__Soziologie_Bourdieus(3)___[Druck-PDF]/ 23.05.2016/ Seite 111 3.4 Kapital 111 (1998e: 23). Er ist so etwas wie der Kapitän oder der Trainer im Fußballspiel. Das Gewicht eines Akteurs auf dem Feld, das sich durch sein Kapital bestimmt, bezeichnet Bourdieu als soziale Position. Der oben verfrüht eingeführte Begriff der sozialen Position kann jetzt erst präzise gefasst werden. Das Kapital muss wie der Habitus auf seine Erwerbs- und Anwendungsbedingungen bezogen werden, auf das Feld. Es muss gefragt werden, welche Handlungsmöglichkeiten ein Akteur hat. Die Möglichkeiten bemessen sich nach Gesamtumfang, Zusammensetzung und Geschichte des Erwerbs seines Kapitals (1994a: 20f; Fröhlich 1994: 41). Zu den Möglichkeiten muss die Geschichte des Feldes in Beziehung gesetzt werden, die ein Kampf um Kapital sowie um die Bedingungen des Erwerbs und der Anwendung von Kapital ist (1996b: 129; 1998e: 25). Die Position eines Akteurs in diesem Kampf ist eben seine soziale Position. Zu einem gegebenen Zeitpunkt ist nur ein Spielstand, eine Momentaufnahme des Kampfes, zu erkennen. Eine Momentaufnahme liefert die Statistik (1993b: 57f ). Sie muss mit der Geschichte der Kämpfe und der Kämpfenden verknüpft werden. Das kann am Beispiel der Spielmetapher erläutert werden. Der künftige Spielverlauf hängt vom früheren ab. Die Spieler richten ihre Strategie nach ihren Spielmarken-- wie viele sie insgesamt haben und welche Farbe diese haben. Je größer der Stapel ihrer Spielmarken ist, desto waghalsiger spielen sie. Ihr Handeln richtet sich auch nach der Inkorporierung der Gesetzmäßigkeiten des Spiels, nach ihrem Habitus, nach ihrem Spiel-Sinn. Alle Aspekte des Kapitals und des Habitus sind zu berücksichtigen, um die Dynamik eines Feldes zu erfassen. Das Verhältnis der sozialen Positionen zueinander hat Bourdieu graphisch veranschaulicht und ihre Gesamtheit in Analogie zu räumlichen Positionen als sozialen Raum bezeichnet (siehe hierzu ausführlich 5.2). Die Positionen sind relativ zueinander, keine absoluten Örter. Eine Position existiert nur durch Differenz zu anderen Positionen (1994: 19f ). Hauptfaktoren der Differenzierung sind verschiedene Kapitalformen, die im Kampf zum Einsatz gebracht werden. »Das besagt, dass die Struktur dieses Raumes durch die Verteilung der verschiedenen Kapitalformen, d. h. die Verteilung der Eigenschaften, gegeben ist, die in dem untersuchten Universum wirksam sind, jene Eigenschaften, die ihrem Besitzer zu Stärke, Macht und damit zu Gewinn verhelfen.« (1997c: 107) Der soziale Raum veranschaulicht den Stand der Kämpfe und die Relationen der Kämpfenden. Er soll gerade dazu dienen, den relationalen Charakter der sozialen Positionen zu verdeutlichen (1994a: 53). Bourdieu organisoziale Position sozialer Raum <?page no="111"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M+Marginalie]__Rehbein__Soziologie_Bourdieus(3)___[Druck-PDF]/ 23.05.2016/ Seite 112 112 3 Praxis (Grundbegriffe) siert den sozialen Raum nach drei Dimensionen: nach dem Gesamtbesitz an Kapital, nach der Struktur des Kapitals (und der der Wichtigkeit der entsprechenden Komponenten in der jeweiligen Gesellschaft) und nach der Entwicklung des Kapitals im Laufe der Zeit. Die klassische Darstellung des sozialen Raums ist das Schaubild in den »Feinen Unterschieden« (1982c: 212f; siehe Abb. 6 in 5.2). Im sozialen Raum werden nicht jedem personalen Substrat gleichbleibende Eigenschaften zugeordnet, sondern die Eigenschaften dargestellt, die ein Mensch (wahrscheinlich) annimmt, wenn er sich an einem bestimmten Ort im sozialen Raum befindet. Der gesellschaftliche Akteur siedelt sich sozusagen im Vollzug an einem bestimmten Ort an-- und das heißt auch: auf einer bestimmten Ebene mit bestimmten Voraussetzungen, Verknüpfungen, Anforderungen. Wo er sich überhaupt je ansiedeln kann, beruht auf seinem Kapital. Da die Darstellung des sozialen Raums den Charakter einer Momentaufnahme hat, birgt sie die Gefahr, nicht dynamisch verstanden zu werden. Der wandelbare Charakter der Zuordnung und die ständige Veränderung der kulturellen Inhalte, die Bourdieu durch die Begriffe des Feldes, der Kämpfe und des Kapitals hervorhebt, geraten leicht aus dem Blick. Obgleich Bourdieu einzelne Felder nach dem Vorbild des sozialen Raums darstellt, bezieht sich der Begriff des sozialen Raums zunächst und zumeist auf die gesamte Gesellschaft. Er bildet eine Sozialstruktur ab. Das Verhältnis von Feld und Raum erläutert Bourdieu nicht weiter. 16 Ob die Felder nun in diesem Raum enthalten sind, als Replikationen des Raums vorzustellen sind oder sich auf einer anderen analytischen Ebene ansiedeln, bleibt unklar. Sind die Felder im Raum enthalten, so müssen die Verhältnisse der sozialen Positionen auf ihnen der Struktur des Raumes entsprechen. Die Felder müssten sozusagen in den Raum einzuzeichnen sein. Als Replikationen wären die Felder Mikrokosmen (2001c: 41). Damit werden zwei Wirklichkeiten suggeriert, eine große und eine kleine. Wären beide Begriffe auf verschiedenen Ebenen anzusiedeln, so müsste analytisch klar sein, worin der Unterschied besteht. Edward LiPuma hat einen Vorschlag gemacht, der eine analytische Unterscheidung zuließe (LiPuma 1993: 16). Für Bourdieu gebe es Felder, Klassen (ein Feld der Macht) und ein Feld der Klassenkämpfe. Das Feld der Macht wäre demnach der soziale Raum (und das Feld der Klassenkämpfe der symbolische Raum). Diese Konzeption legt Bourdieu im »Staatsadel« nahe (2004a: 321f ). Selbst wenn man sie akzeptiert, hilft das nicht weiter. Denn es wäre dann zu fragen, ob die Klassen auf den Feldern kämpfen oder ob die Felder nur Aspekte des einen Klas- 16 Gelegentlich scheint er die Begriffe austauschbar zu verwenden. Das gilt auch für Michael Vester (2002: 63, 65), der von einem sozialen Raum und einem sozialen Feld spricht. Feld und Raum <?page no="112"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M+Marginalie]__Rehbein__Soziologie_Bourdieus(3)___[Druck-PDF]/ 23.05.2016/ Seite 112 www.claudia-wild.de: [UTB-M+Marginalie]__Rehbein__Soziologie_Bourdieus(3)___[Druck-PDF]/ 23.05.2016/ Seite 113 3.5 Konfigurationen 113 senkampfs sind (zu Klassen siehe ausführlich 5.3). Das heißt, man würde wieder wissen wollen, ob die Felder im Raum enthalten oder seine Replikationen sind. Tatsächlich scheint Bourdieu eine Vorstellung gehabt zu haben, die LiPumas Vorschlag plausibel macht. Er ist immer von der Existenz von Klassen ausgegangen. Da es Differenzen in Form von sozialer Ungleichheit gebe, müsse es auch Klassen geben (1994a: 27f ). Allerdings existierten die Klassen nicht unbedingt als abgrenzbare Entitäten oder als Vorstellungen, aber sie seien zumindest konstruierbar. Und die Konstruktion von Klassen werde eben durch die Konstruktion des sozialen Raums möglich (1994a: 25). Bourdieu geht also davon aus, dass es eine abgrenzbare Gesellschaft mit einer einheitlichen Sozialstruktur gibt. Das heißt, die Felder replizieren die Sozialstruktur oder bieten Ausschnitte von ihr. Dieser Alternative lässt sich nur entgehen, wenn man Bourdieus Hinweis ernst nimmt, dass in der Moderne das ökonomische Feld (und damit das ökonomische Kapital) beherrschend sei (1985: 11). Es könnte also eine Hierarchie der Felder geben, die als Ganze den sozialen Raum bildet. Auch dieser Konzeption würden zahlreiche Aspekte des sozialen Lebens entgehen, beispielsweise Subkulturen, Glaubensgemeinschaften, Selbsthilfegruppen. Hier kommen Menschen mit unterschiedlichsten Kapitalkombinationen zusammen. Meines Erachtens bietet die Lehre von den Feldern ein größeres Potenzial als die Vorstellung des sozialen Raums (Rehbein 2003, 2004). Insoweit der soziale Raum die Sozialstruktur eines Nationalstaats abbilden soll, ist er nicht nur angesichts der beschleunigten Globalisierung veraltet. Er überlagert auch die großartigen Errungenschaften von Bourdieus Soziologie, die auf der Kombination eines extrem einfachen und flexiblen Begriffsapparats mit einer äußerst differenzierten empirischen Argumentation beruhen. Es ist möglich, den Begriff des sozialen Raums als Darstellung der momentanen Struktur von Feldern zu deuten. So hat Bourdieu ihn in späteren Schriften oft benutzt. An mindestens einer Stelle spricht er auch von mehreren »sozialen Räumen« und stellt ihnen »mentale Räume« zur Seite (1998b: 51). So bliebe das Potenzial des Feldbegriffs bewahrt. 3.5 Konfigurationen Bourdieus Sozialstruktur ist nicht auf ein Schicht- oder Klassenmodell reduzierbar. Gesellschaft ist nicht nur nach »oben« und »unten« differenziert, sondern auch entlang der »horizontalen« Achse. Bourdieu untersucht neben der Gesamtmenge an Kapital die Zusammensetzung der Kapitalarten, ihre Entwicklung in der Zeit und die Habitus. Michael Vester hat Sozialstruktur <?page no="113"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M+Marginalie]__Rehbein__Soziologie_Bourdieus(3)___[Druck-PDF]/ 23.05.2016/ Seite 114 114 3 Praxis (Grundbegriffe) daraus ein vierdimensionales Modell der Sozialstruktur entwickelt (Vester et al. 2001). Vielleicht greifen sogar die vier Dimensionen zu kurz, weil sie nicht die Vielfalt der Felder und ihre Relationen zueinander berücksichtigen. Bourdieu und Vester fordern allerdings ausdrücklich zu ihrer Berücksichtigung auf. Wie ein Feld eine Konfiguration oder Konfiguration von sozialen Positionen (mit unterschiedlicher Menge, Zusammensetzung und Geschichte von Kapital) und Habitus ist, so bilden die Felder untereinander stets eine bestimmte Konfiguration. Die sozialen Phänomene hängen netzartig miteinander zusammen, jede Veränderung im Einzelnen ändert die gesamte Konfiguration. Und jede Einzelanalyse zwingt zur Revision des Gesamtbilds (1992b: 62). Die Methode Bourdieus zur Erforschung sozialer Konfigurationen ist zunächst die Überlagerung verschiedener Felder, um Homologien in den Habitus zu entdecken-- also der Versuch, Ähnlichkeiten in Handlungen in verschiedenen Bereichen zu enthüllen, um die Ähnlichkeiten auf dieselben Quellen zurückzuführen. Es gibt aber nicht einfach eine Homologie, sondern Homologie wird gemacht, und zwar durch Kämpfe auf den Feldern und zwischen den Feldern. Homologien werden also durch Momentaufnahmen kaum erkennbar. Es muss auch die Dynamik der einzelnen Elemente der Konfiguration betrachtet werden, die wiederum mit der Dynamik der Gesamtkonfiguration verwoben sind. Die Dynamik der Gesamtkonfiguration ist die Ausdifferenzierung von Feldern. Den Begriff der Ausdifferenzierung verbinden wir meist mit Niklas Luhmanns Systemtheorie. Luhmanns Systeme sind wie Bourdieus Felder relativ unabhängige soziale Universen mit jeweils eigener Logik. Luhmann erklärt die Ausdifferenzierung von Systemen über ihre funktionalen Eigenschaften, die er aus der allgemeinen Systemtheorie gewinnt: Selbstregulierung, Anpassung an Umwelt, Reflexivität, Komplexitätsreduktion usw. Bourdieu will dagegen das Soziale durch das Soziale erklären. Ausdifferenzierung ist ein anderes Wort für die Kämpfe, deren genauere Analyse es verdeckt. Daher spricht Bourdieu selten von Ausdifferenzierung. Er bezeichnet denselben Prozess als Autonomisierung von Feldern (2001f: 28ff; 2004a: 321f ). Die Geschichte ist eine Entstehung und Vermehrung von Feldern mit eigener Logik, die zunehmend abgeschlossener gegeneinander werden. Mit der Abgeschlossenheit entwickelt sich eine hierarchische Struktur von Zentrum und Peripherie, von Einschluss und Ausschluss, von Herrschaft und Unterwerfung (2001c: 76). Den Prozess konzipiert Bourdieu an einigen Stellen als unumkehrbar. Eine Begründung liefert er dafür nicht (Calhoun 1993: 77). Die Konzeption leuchtet zwar unmittelbar ein, lässt sich empirisch aber kaum bestätigen. An einer Stelle schreibt er jedoch ganz deutlich, »dass dieser Prozess keineswegs einer geradlinigen und ziel- Konfiguration Ausdifferenzierung Autonomisierung von Feldern <?page no="114"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M+Marginalie]__Rehbein__Soziologie_Bourdieus(3)___[Druck-PDF]/ 23.05.2016/ Seite 114 www.claudia-wild.de: [UTB-M+Marginalie]__Rehbein__Soziologie_Bourdieus(3)___[Druck-PDF]/ 23.05.2016/ Seite 115 3.5 Konfigurationen 115 gerichteten Entwicklung hegelianischen Typs gleicht« (2001g: 83). Die lineare Konzeption würde Bourdieus Grundansatz meines Erachtens auch zu sehr widersprechen. Neuere Untersuchungen bestätigen, dass der historische Prozess wellenförmig verläuft und sich langfristig am ehesten als politische Integration zu deuten ist, die immer wieder zerfällt. Das ist beispielsweise das Ergebnis der großartigen Studie Victor Liebermans, der die politische Entwicklung Südostasiens in der Neuzeit mit der Europas vergleicht (Lieberman 2003). Roland Robertson spricht hierbei von einem »Zusammenwachsen der Welt« (Robertson 1998). Geschichte kann heute nicht mehr ohne dieses Zusammenwachsen gedacht werden, das mit dem Terminus Globalisierung bezeichnet wird. Konzeptionen wie der soziale Raum oder die Autonomisierung von Feldern scheinen nicht geeignet, das Problem der Globalisierung zu erfassen (siehe Schwengel 1993: 143). Bourdieu blieb hier eigentümlich provinziell. Mit der Globalisierung beschäftigte er sich nur polemisch (siehe 7.3). Der Nationalstaat war stets sein Bezugsrahmen. Ulrich Beck hat ausgeführt, inwiefern dieses »Container-Modell« der Gesellschaft die gegenwärtige Dynamik nicht mehr erfassen kann (Beck 1997). Globale, transnationale und regionale Prozesse sind-- auch soziologisch-- nicht in den Blick zu bekommen, wenn man die Analyse der Sozialstruktur in die Grenzen eines Nationalstaats zwängt. Leider ist auch die auf Bourdieu folgende Generation der Sozialstrukturanalytiker über diese Grenzen nicht hinausgelangt. Selbst wo man bereits den Schritt über die Grenzen des eigenen Landes hinaus gewagt hat, vergleicht man doch die Sozialstrukturen von Nationalstaaten (siehe Haller 1989; Vester et al. 2001; Hradil 2004; vgl. dagegen jetzt Berger, Weiß 2008). Inzwischen sind Bourdieus Begriffe gleichsam globalisiert und über den Nationalstaat hinaus ausgedehnt worden. Insbesondere den Begriff des Feldes bezieht man gegenwärtig auf transnationale Zusammenhänge und selten auf rein nationalstaatliche. Die Transnationalisierung von Bourdieus Begriffen hat meines Wissens in den Literaturwissenschaften begonnen. Bourdieu selbst hat die Erforschung der internationalen Zirkulation von Ideen und ihre nationale oder lokale Anpassung angeregt. Die Forschung wird als internationales Projekt fortgesetzt. Ein an dieser Forschung beteiligter Romanist, Joseph Jurt, hat darauf hingewiesen, dass sich der Feldbegriff sehr gut dazu eignet, die Grenzen des Nationalstaats zu überwinden (2001: 52). Er ermögliche es, supranationale Strukturen nach dem Gegensatz von Zentrum und Peripherie zu untersuchen. An dieser Stelle kann man mit Bourdieu hervorragend an die Globalisierungsdiskussion anknüpfen, insbesondere natürlich an die Weltsystemtheorie Immanuel Wallersteins. Ich habe das bereits versucht (Rehbein 2004, 2007). Globalisierung <?page no="115"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M+Marginalie]__Rehbein__Soziologie_Bourdieus(3)___[Druck-PDF]/ 23.05.2016/ Seite 116 116 3 Praxis (Grundbegriffe) Motor der historischen Dynamik ist Bourdieu zufolge der Kampf (Schwingel 1995). Dieses Theorem ist grundlegender, als es die Konzeptionen des sozialen Raums und der Autonomisierung der Felder sind. Wer Bourdieus Soziologie widerlegen oder aufheben will, muss sich auf das Theorem des Kampfes beziehen. Es bildet die Grundlage der Ökonomie der Praxis und sorgt für die Einheit von Bourdieus Soziologie (Dreyfus, Rabinow 1993: 42). Nur durch Abgrenzung des Untersuchungsgegenstands der Soziologie ist es möglich, eine einheitliche Theorie zu konzipieren. Bourdieu grenzt den Gegenstand zunächst mit Durkheim ab: Das Soziale ist nur durch das Soziale zu erklären. Durch die Vielgestaltigkeit der Praxis würde man mit dieser Abgrenzung jedoch letztlich in eine Aporie nach dem Vorbild Wittgensteins geraten, die darauf hinausläuft, dass es unzählige Arten von Praxis gibt, die nicht allgemein, sondern nur im Einzelfall bestimmt werden können und sich unaufhörlich ändern. Daher begrenzt Bourdieu die Praxis auf eine Kategorie, den Kampf um die Bewahrung oder Verbesserung der sozialen Position. Somit kann das Soziale nach einer einheitlichen Ökonomie der Praxis untersucht werden (vgl. 1976: 356f ). Die Eingrenzung des Gegenstands der Soziologie auf den Kampf (um die Bewahrung oder Verbesserung der sozialen Position) hat Bourdieu viel Kritik eingebracht, die meines Erachtens nicht unberechtigt ist (Dreyfus, Rabinow 1993: 40ff; Swartz 1997: 68ff; Papilloud 2003: 90ff; Rehbein 2003: 80ff ). Die Eingrenzung hat man auch als utilitaristische Orientierung charakterisiert (Swartz 1997: 68). So fragt Axel Honneth (in Bourdieu 1992b: 29), ob Bourdieu nicht den Strukturalismus nur durch neuerliche Einführung der utilitaristischen Nutzenmaximierung überwunden habe. Mit dieser Charakterisierung wird eine individualistische Hypothese eingeführt, die Bourdieu keinesfalls aufgestellt hätte. Vom Utilitarismus der Rational Choice-Theorie hat er sich an mehreren Stellen abgegrenzt (v. a. 2000a: 11ff ). 17 Die wichtigsten Unterschiede sieht er in seiner Leugnung des bewussten Kalküls und in der individuellen Nutzenverfolgung. Er führt das Streben nach einer Bewahrung oder Verbesserung der sozialen Position auf den Habitus zurück, der wiederum die Strukturen des Feldes verinnerlicht. Das Streben ist eine weit gehend unbewusste Strategie. Man kann den Begriff der Strategie so weit dehnen, dass er die Verfolgung jedes beliebigen Ziels umfasst, das durch das Feld vorgegeben wird. Der Begriff wäre dann im Wesentlichen identisch mit Wittgensteins Regelbegriff. Diese Möglichkeit versperrt Bourdieu jedoch, indem er behauptet, jede Strategie sei auf die Bewahrung oder Verbesserung der sozialen Posi- 17 Zum Verhältnis Bourdieus zur Rational Choice-Theorie siehe auch Kumoll (2005: 56ff ). Kampf Rational Choice <?page no="116"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M+Marginalie]__Rehbein__Soziologie_Bourdieus(3)___[Druck-PDF]/ 23.05.2016/ Seite 116 www.claudia-wild.de: [UTB-M+Marginalie]__Rehbein__Soziologie_Bourdieus(3)___[Druck-PDF]/ 23.05.2016/ Seite 117 3.5 Konfigurationen 117 tion ausgerichtet. Die Behauptung dient, wie gesagt, als Axiom für die Ökonomie der Praxis. Damit werden meines Erachtens viele Handlungen und Regungen aus der Soziologie ausgeschlossen (oder missdeutet). Ist es sinnvoll, Akte der Freundschaft, Liebe, Höflichkeit, Muße, Ruhe nur unter dem Aspekt der Kapitalsteigerung zu sehen? Da man diese Frage kaum bejahen kann, wurde verschiedentlich kritisiert, dass Bourdieu keine Theorie des Sinns liefern könne (siehe insbesondere Papilloud 2003: 90ff ). 18 Die Kritik ist auch in dieser Hinsicht nur in Gänze angemessen, wenn man Bourdieu einen umfassenden Erklärungsanspruch unterstellt. Ich denke, man sollte auf die Aspekte hinweisen, die man mit seiner Soziologie nicht erfassen oder auch gar nicht sehen kann, aber man sollte ihr nicht den umfassenden Anspruch unterstellen. Bourdieu grenzt eine Soziologie ab, um zu einer wissenschaftlichen Axiomatik und Methodik gelangen zu können. Sein Gegenstand ist soziale Ungleichheit- - oder auch Macht, Herrschaft, Sozialstruktur, Ressourcenverteilung. Das beruht vielleicht auf der Tatsache, dass der Gegenstand sich in Algerien herausbildete, wo der Krieg und die zerstörerische Gewalt des Kapitalismus die einschneidenden Erfahrungen waren. Die Konzeption der Soziologie als Wissenschaft sozialer Kämpfe bzw. sozialer Ungleichheit steht in engem Zusammenhang mit Bourdieus Wissenschaftstheorie. Gegenstand der Soziologie sollen ja Relationen sein, die Bourdieu zumeist als Differenzen oder Gegensätze konzipiert (1988a: 33; 1993b: 228; siehe 2.3). Dem Kampf liegt der soziale Unterschied zu Grunde, die strukturale Differenz. Gleichzeitig behauptet er wiederholt, als einziges Postulat der Wissenschaftstheorie seiner Ökonomie der Praxis das Prinzip des zureichenden Grundes aufzustellen (1987b: 95). »Tatsächlich bringe ich, wenn ich sage, dass jeder Institution und jeder Praktik eine Form von Interesse oder Funktion zugrunde liegt, nichts anderes als das Prinzip des zureichenden Grundes zur Geltung, das, im Projekt der Erklärung selbst impliziert, für Wissenschaft konstitutiv ist.« (1993b: 33) Das Prinzip des zureichenden Grundes stammt von Leibniz, der damit das aristotelische Prinzip der Identität ergänzte: Nichts geschieht ohne Grund, alles ist mit sich selbst identisch. Auf dieser Basis könne Wissenschaft nach den Ursachen der Dinge forschen. Das relationale Denken des Strukturalismus zeichnet sich gerade dadurch aus, auf ursächliche Erklärungen zu 18 Aufschlussreich ist Papillouds Anmerkung, Bourdieu erkläre, warum man unterschiedlich grüßt, aber nicht, warum man überhaupt grüßt (ebd.: 98). soziale Ungleichheit Prinzip des zureichenden Grundes <?page no="117"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M+Marginalie]__Rehbein__Soziologie_Bourdieus(3)___[Druck-PDF]/ 23.05.2016/ Seite 118 118 3 Praxis (Grundbegriffe) verzichten. Wenn Bourdieu nun das relationale Denken zu einem kausalen Denken umdeutet, vereint er möglicherweise Unvereinbares. Das ist kein abstraktes Problem, das nur für die Philosophie interessant wäre. Vielmehr ergeben sich meines Erachtens hieraus viele Ambivalenzen in Bourdieus Soziologie, die diese unnötig angreifbar machen. Die Vorwürfe des Determinismus und der Ungeschichtlichkeit wurden bereits erörtert. Sie scheinen mir auf Stellen zu verweisen, an denen Bourdieu die Struktur unmittelbar zur Erklärung heranzieht. Wenn der Habitus nur eine Verkörperung der sozialen Struktur ist, wenn das Symbolische nur eine Darstellung der sozialen Struktur ist und wenn jedes Feld nur eine Kopie des sozialen Raums ist, wird Geschichte tatsächlich überflüssig-- und wir sind wieder bei Lévi-Strauss (vgl. z. B. 2004a: 24). Auf der anderen Seite betont Bourdieu unablässig das Historische, Gemachte, Empirische der soziologischen Gegenstände (ebd.! ). Die Begriffe des Habitus und des Feldes sollten zwischen den Gliedern dieser Dichotomie vermitteln. Die Vermittlung scheint mir nicht völlig geglückt, weil Bourdieu am Gegensatz als einziger Relation festhielt, vor allem aber, weil er die Vermittlung von Struktur und Geschichte nicht bis zum Ende durchdacht hat. Dieser Eindruck drängt sich mir zumindest auf, wenn ich Bourdieus Ansatz mit dem von Marx im »Kapital« vergleiche. Auch Marx unterscheidet zwischen Sein und Bewusstsein (realer und symbolischer Ebene), denkt in Gegensätzen, geht von einer Klassenstruktur der Gesellschaft aus und versucht, das Handeln materialistisch zu erklären. Bourdieu kritisiert an Marx, den Materialismus nicht weit genug getrieben, sondern im Wesentlichen auf die Wirtschaft beschränkt zu haben. Das Verdienst Max Webers sieht er darin, den Materialismus auf die Kultur ausgeweitet zu haben. Hierin wolle er Weber folgen. So wurden einige der größten Entdeckungen Bourdieus möglich. Allerdings folgte er Marx und Weber nicht in ihrem Erklärungsmodell. Für Marx gibt es keine einfachen Erklärungen, sondern Einzelnes und Allgemeines setzen einander voraus. Nur die Erklärung der Totalität ist die Erklärung des Einzelnen. Bei Marx ist das Verhältnis zwischen Totalität und Einzelnem das einer Vermittlung, ein dialektisches Verhältnis. Wie Hegel geht Marx von der Unvollständigkeit der Erscheinungsformen aus. Sie können jedoch nicht einfach als Oberfläche ignoriert oder auf einen Grund zurückgeführt werden, sondern erst die Entwicklung der Totalität, der gesamten Geschichte, löst sie auf und erklärt sie. Bourdieu folgt Marx in den meisten Punkten. Er tendiert jedoch dazu, das Einzelne aus einer (unveränderten) Grundstruktur abzuleiten, insofern es Inkorporierung, Verdoppelung, Mikrokosmos ist. Das gilt auch für grundlegende Begriffe wie die Strategie. Die Strategie bleibt bei Bourdieu Marx <?page no="118"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M+Marginalie]__Rehbein__Soziologie_Bourdieus(3)___[Druck-PDF]/ 23.05.2016/ Seite 118 www.claudia-wild.de: [UTB-M+Marginalie]__Rehbein__Soziologie_Bourdieus(3)___[Druck-PDF]/ 23.05.2016/ Seite 119 3.5 Konfigurationen 119 unvermittelt auf die Verbesserung der sozialen Position gerichtet, bei Marx dagegen ändert sie sich auf jeder Stufe des Begriffs, der historischen Entwicklung und der sozialen Struktur. Bourdieu entwickelt die Strukturen nicht dialektisch und in Zusammenhang mit der Geschichte einer Totalität, obwohl er beides verschiedentlich einfordert: »Alle Einzelkenntnisse müssen also zugleich als Teil einer Konstellation und als Moment des Bildungsgangs in seiner Totalität betrachtet werden, da jeder Punkt der Bahn die ganze Bahn voraussetzt.« (1971: 38) Und Gegenstand der Ökonomie der Praxis seien vor allem »die dialektischen Beziehungen zwischen diesen objektiven Strukturen und den strukturierten Dispositionen« (1976: 147; siehe auch 1991a: 50). Tatsächlich aber gewinnt Bourdieu die Totalität meist durch eine eher willkürliche Abgrenzung (beispielsweise in Gestalt des Nationalstaats) und beschränkt die Dialektik auf das Verhältnis von Erwerbsbedingungen und Anwendungsbedingungen des Habitus. Dabei eröffnet Bourdieus Konzeption die Möglichkeit einer offenen, hermeneutischen Dialektik, die nicht behauptet, die »Naturgesetze« zu verkünden, die der gesamten Geschichte zu Grunde liegen (Marx 1962, I: 12ff, 360). Dialektisch ist zumindest die Erkenntnismethode Bourdieus: »Das Recht auf Eintritt in ein Feld wird durch den Besitz einer besonderen Konfiguration von Eigenschaften legitimiert. Die Erforschung des Feldes hat unter anderem die Bestimmung dieser aktiven Eigenschaften zum Ziel […], das heißt dieser Formen von spezifischem Kapital. Damit steht man vor einer Art hermeneutischem Zirkel« (1996b: 139). Denn die Erforschung des Feldes setzt die der Kapitalverteilung voraus und umgekehrt. Diese Aufgabe lässt sich Bourdieu zufolge nur durch ein Hin und Her lösen. Auch über die Erkenntnismethode hinaus ermöglicht Bourdieus Ansatz eine Dialektik, die interessanter sein könnte als die von Hegel und Marx, die im eindimensionalen Dreischritt der Höherentwicklung dachten. Wo Bourdieu nicht von einer Totalität ausgeht und die Wirklichkeit nicht auf strukturale Gegensätze reduziert, untersucht er seinen Gegenstand als Konstellation oder Konfiguration (1971: 110; siehe auch 2.3 und die beiden Zitate hierzu in den vorangehenden Absätzen.) Die Bedeutung der beiden Begriffe bei Bourdieu hat vor allem Rolf-Dieter Hepp hervorgehoben (Hepp 1999; 2003: 26ff ). »Der Begriff der Konstellationen bei Pierre Bourdieu verweist auf die Komplexität eines Beziehungsgefüges, in das die sozialen Fakten eingebunden sind und dessen immanente Bezüge und Prämissen als Abstraktionsstufen und -dimensionen herangezogen werden.« (Hepp 1999, 120) Auch Michael Vester versucht, die soziale Welt als Kon- Totalität Dialektik <?page no="119"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M+Marginalie]__Rehbein__Soziologie_Bourdieus(3)___[Druck-PDF]/ 23.05.2016/ Seite 120 120 3 Praxis (Grundbegriffe) figuration aufzufassen (Vester 2002: 82), orientiert sich aber meines Erachtens zu stark am Konzept des sozialen Raums. Entgegen dem Schein ist der soziale Raum nicht als Konfiguration zu deuten, weil er nicht rein relational ist. Auch wenn für jedes Feld ein eigener sozialer Raum konstruiert wird, bleibt die Struktur doch immer gleich (homolog). Die Konfiguration darf nicht als Totalität und nicht als Struktur von Differenzen gedeutet werden-- sondern dialektisch und relational. Schon in seinem ersten Buch verglich Bourdieu die soziale Welt (in Erkenntnis und Wirklichkeit) mit einem Kaleidoskop (1958: 82). Das Bild verweist auf eine konsistente und relationale Begrifflichkeit und ständige Veränderung durch die Abarbeitung an der Empirie. Die soziologischen Gegenstände werden nicht im Rahmen der Weltgeschichte, aber auch nicht einzeln interpretiert, sondern auf einer »mittleren Ebene« (Rehbein 2004: 11, 270ff ). Das ist die Soziologie, die Bourdieu zu praktizieren und theoretisch einzuholen versucht hat. Es ist noch kein konsistentes Gebäude daraus erwachsen, und man sollte sich hüten, ihm-- affirmativ oder ablehnend-- eines zu unterstellen. <?page no="120"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M+Marginalie]__Rehbein__Soziologie_Bourdieus(3)___[Druck-PDF]/ 23.05.2016/ Seite 120 www.claudia-wild.de: [UTB-M+Marginalie]__Rehbein__Soziologie_Bourdieus(3)___[Druck-PDF]/ 23.05.2016/ Seite 121 121 4 Reproduktion Das Kapitel bietet gleichsam einen Längsschnitt durch das Zentrum der empirischen Soziologie Bourdieus, die Untersuchung der Reproduktion sozialer Ungleichheit durch das Bildungswesen. Die im ersten Abschnitt erläuterten Arbeiten entstanden unmittelbar nach Bourdieus Rückkehr aus Algerien und kamen noch großenteils ohne die im dritten Kapitel erläuterten Grundbegriffe aus. Die im zweiten und dritten Abschnitt referierten Arbeiten haben das Hochschulwesen zum Gegenstand, das sie mit der entwickelten Feldtheorie untersuchen. Bourdieus Texte zum Bildungswesen bilden in sich ein Kaleidoskop mit Grundstrukturen, die durch neue Begriffe angereichert werden und sich dadurch immer wieder leicht verschieben. Nach seiner Rückkehr aus Algerien wandte Bourdieu die von ihm entwickelten Begriffe, Methoden und Instrumente auf die französische Gesellschaft an. Der ohnehin schon eigentümliche zugleich soziologische und ethnologische Blick auf die algerische Gesellschaft wurde nun auf die eigene Gesellschaft gerichtet. Dadurch konnte Bourdieu Phänomene erkennen, die aus anderen Perspektiven nicht sichtbar waren. Seine grundlegende Einsicht in Algerien mündete in den Habitusbegriff: Formen des Denkens und Handelns bestehen auch unter Bedingungen fort, die gegenüber den Bedingungen ihres Erwerbs verändert sind. Mit dieser Einsicht hatte er die Erkenntnis verknüpft, dass Kapitalismus weder allein im Geist noch allein in der Produktionsweise besteht, sondern überdies einen entsprechenden Habitus erfordert. Allgemeiner gesprochen: Für die Ausschöpfung sozialer Handlungsmöglichkeiten sind neben ökonomischen Ressourcen auch eingeübte Verhaltensweisen und kulturelle Ressourcen erforderlich. Diese Erkenntnis übertrug Bourdieu auf das französische Bildungswesen. Man könnte sagen, dass er dabei in gewisser Weise seine eigene Vergangenheit wissenschaftlich aufarbeitete. Nach den ethnologischen Untersuchungen im Béarn erforschte Bourdieu die soziale Reproduktion im Bildungswesen, insbesondere im Bereich der Hochschule. Im Anschluss an Algerien und Béarn standen dabei zwei Fragen im Vordergrund, die gleichsam zwei Seiten derselben Medaille bilden: Wie und warum reproduziert sich strukturelle soziale Ungleichheit in der Gesellschaft? Wie kommt es zur Anpassung an soziale Bedingungen, die sich fortwährend ändern? Beide Fragen wurden durch die Einsicht in die Ungleichzeitigkeit und den Begriff des Habitus erklärbar. französische Gesellschaft Bildungswesen <?page no="121"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M+Marginalie]__Rehbein__Soziologie_Bourdieus(3)___[Druck-PDF]/ 23.05.2016/ Seite 122 122 4 Reproduktion 4.1 Ausbildung Die Erklärung der Reproduktion sozialer Ungleichheit ermöglichte Bourdieu den Aufbau einer neuen Wissenschaft, einer neuen Soziologie. Die Ökonomie der Praxis war aus einer Einsicht in die soziokulturelle Einbettung der Wirtschaft erwachsen. Bourdieu konnte sie mit Durkheims Abgrenzung des soziologischen Gegenstandsbereichs verknüpfen. Gegenstand der Soziologie sind für Durkheim und Bourdieu soziale Tatsachen, also menschliches Handeln oder Phänomene, die mit menschlichem Handeln verknüpft sind, insofern das Handeln Sinn innerhalb eines Kollektivs hat. Die Abgrenzung des Gegenstandsbereichs konstituiert aber noch keine Wissenschaft, sondern es bedarf noch eines Erkenntnisinteresses: Was soll eigentlich erklärt werden? Das Erkenntnisinteresse ergab sich für Bourdieu aus der Übertragung der algerischen Problematik auf die französische Gesellschaft seiner Zeit: die Reproduktion sozialer Ungleichheit. 1 Bourdieu entwickelte die These, dass das Bildungssystem in der Gegenwartsgesellschaft bei der Reproduktion der Sozialstruktur eine wichtige Rolle spielte, wenn nicht gar die wichtigste (1973: 20, 71). Mit dem Habitusbegriff konnte er erklären, warum trotz formal gleicher Bildungschancen letztlich doch diejenigen die besten Schulen besuchten, die aus den besten Elternhäusern kamen. In dieser These zeigen sich Bourdieus wissenschaftlicher Ernst und seine Reflexivität. Als Provinzler ohne Beziehungen und häusliche Hochkultur hatte er die beste Universität Frankreichs mit Auszeichnung abgeschlossen. Um das zu begründen, wäre die geläufige These, die den Studienerfolg mit einer außerordentlichen Begabung erklärt, für Bourdieu schmeichelhaft und durchaus plausibel gewesen. Voller Stolz hätte er auf seine großartige Leistung verweisen und sich auf ihren Früchten ausruhen können. Statt dessen versuchte er in seinen Untersuchungen über das Bildungswesen, gerade den Begriff der Begabung zu demontieren und auf soziale Verhältnisse zurückzuführen- - und das, obwohl seine eigene Laufbahn gerade das beste Beispiel gegen eine soziale Determination des Schulerfolgs hätte sein müssen. Bourdieu musste nun auch noch erklären, warum das Bildungswesen an den Habitus der Oberschichten angepasst ist. Hierbei konnte er sich ebenfalls auf seine Untersuchungen in Algerien stützen. Webers Frage nach den Bedingungen der sozialen Rationalisierung führte Bourdieu zur Frage nach 1 So schreibt Michael Zander (2003: 102) nicht zu Unrecht: »Der rote Faden, der sich durch Bourdieus sehr verschiedene Forschungsgegenstände zieht, sind die ungleichen, klassenspezifischen Voraussetzungen des Zugangs zu materiellen und kulturellen Gütern, insbesondere zu gesellschaftlich legitimierter Bildung.« Bildungssystem Reproduktion der Sozialstruktur Habitus der Oberschichten <?page no="122"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M+Marginalie]__Rehbein__Soziologie_Bourdieus(3)___[Druck-PDF]/ 23.05.2016/ Seite 122 www.claudia-wild.de: [UTB-M+Marginalie]__Rehbein__Soziologie_Bourdieus(3)___[Druck-PDF]/ 23.05.2016/ Seite 123 4.1 Ausbildung 123 den Bedingungen eines kalkulierenden Denkens in Algerien. Er fand unter anderem heraus, dass für diese Form des Denkens eine subjektive und objektive Beherrschbarkeit der Zukunft erforderlich ist- - die in Algerien auf die höheren Schichten beschränkt war. Auf das französische Bildungswesen übertragen zeigte sich, dass auch in diesem Fall nur die Oberschichten strategisch handeln konnten, indem sie das Bildungswesen für ihre Zwecke zu nutzen verstanden. Während die Oberschichten die legitime Kultur bestimmten, an der sich das Bildungswesen orientiert, und dementsprechend nur ihrem Habitus zu folgen brauchten, um im Bildungswesen erfolgreich zu sein, mussten die Unterschichten sich an eine Kultur anpassen, mit der sie nicht vertraut waren und die ihrem Habitus widersprach. Auf diesen Gedanken fußen übrigens auch »Die feinen Unterschiede« (siehe 5. Kapitel). Ihr erster Teil, der mit dem Rest nicht recht zusammenzuhängen scheint, beschäftigt sich mit dem Erwerb der legitimen Kultur in der Familie und im Bildungswesen. Er wiederholt und revidiert die Ergebnisse aus Bourdieus Untersuchungen zum Bildungswesen, die im Folgenden referiert werden. Ohne den Bezug zu diesen Untersuchungen werden der Ansatz und die Stoßrichtung der »Feinen Unterschiede« nicht verständlich. Rolf-Dieter Hepp hat mit Recht moniert, dass die Arbeiten zum Bildungswesen in Deutschland lange Zeit zu Gunsten einer ausschließlichen Beschäftigung mit dem späteren Werk ignoriert wurden (Hepp 1999: 116). Bourdieus Arbeiten zum Bildungswesen beziehen eine doppelte Frontstellung. Sie greifen nicht nur die konservative Ideologie der Chancengleichheit an, der zufolge allein individuelle Begabung über den Erfolg im Bildungssystem entscheidet. Sie wenden sich auch gegen eine einflussreiche revolutionäre Strömung der Sechzigerjahre, die egalitäre Studienbedingungen forderte. Nach Bourdieus Forschungsergebnissen setzt die soziale Determination des Bildungserfolgs so tief an, dass sie später kaum noch ausgeglichen werden kann. Erstens verfügen Kinder aus unteren Gesellschaftsschichten nicht über ein hinreichendes Vorwissen, über das richtige Auftreten, über das notwendige soziale Umfeld und die angemessene Sprache-- selbst wenn sie die finanziellen Mittel für eine höhere Bildung durch ein Stipendium erhalten (1971: 39ff ). Zweitens wirken diese Faktoren bei den Lernenden wie bei den Lehrenden so unbewusst, dass sie sich kaum rational verarbeiten lassen und damit umso stärker ins Gewicht fallen (1971: 44). Drittens erfüllen die Faktoren und die Bildungseinrichtungen eine soziale Funktion, nämlich die der Reproduktion (1981a: 23ff ). Neben den Arbeitskräften soll auch die Sozialstruktur reproduziert werden, genauer gesagt: die herrschende Position der Elite (vgl. Hepp 1999: 123). Das Bildungssystem soll daher die Eigenschaften, die ein innerhalb der legitime Kultur Ideologie der Chancengleichheit <?page no="123"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M+Marginalie]__Rehbein__Soziologie_Bourdieus(3)___[Druck-PDF]/ 23.05.2016/ Seite 124 124 4 Reproduktion Elite ausgebildeter Habitus gleichsam automatisch erwirbt, belohnen und Kindern, die anders sozialisiert sind, den Aufstieg in die Elite verbauen oder erschweren. Zu diesen Ergebnissen gelangte Bourdieu, indem er die tatsächliche soziale Struktur der Hochschulstudentenschaft untersuchte. Mit Jean- Claude Passeron führte er Befragungen und statistische Erhebungen an französischen Hochschulen durch. Die Forschung barg zahlreiche Fallstricke, die den beiden Statistikern nicht entgingen. Zuerst wurde gefragt, welcher sozialen Schicht die Studierenden entstammten. Dazu wurde der Beruf des Vaters als Variable gewählt. »Die soziale Herkunft ist zweifellos unter allen Differenzierungsfaktoren derjenige, der sich im Studentenmilieu am stärksten auswirkt, stärker jedenfalls als Geschlecht und Alter, vor allem aber stärker als ein so manifester Faktor wie die Religion beispielsweise.« (1971: 28) Die soziale Herkunft bedinge die bedeutsamen Variablen des Studentenlebens, von der Zulassung über die Fächerwahl bis hin zu Wohnung und Lebensführung (1971: 29f ). Diese wiederum überlagerten später die unmittelbare Wirkung der sozialen Herkunft. 2 Bourdieu und Passeron ermittelten nun nicht nur die Prozentzahlen der Studierenden, deren Väter einer bestimmten Berufsgruppe zugehörten. Sie setzten die Prozentzahlen der (Studierenden-)Väter auch mit der prozentualen Verteilung der Berufe in der Gesamtbevölkerung in Relation. So studierten in absoluten Zahlen 1961/ 62 fast ebenso viele Arbeiterkinder wie Kinder von Angestellten. Da in der Gesamtbevölkerung jedoch die Arbeiter weit zahlreicher waren als die Angestellten, war die Zahl der Arbeiterkinder in der Studentenschaft in Relation zur Gesamtbevölkerung weit geringer als die der Angestelltenkinder. Anders ausgedrückt, die Chance eines Arbeiterkinds, ein Hochschulstudium zu absolvieren, war statistisch geringer als die eines Angestelltenkinds, obwohl ihre Gesamtzahl unter den Studierenden nahezu gleich war. Auf 1000 Berufstätige kamen in der Berufsgruppe der Arbeiter 1,9 Studierende, in der Berufsgruppe der Angestellten 6,8- - und in der Gruppe der Freiberufler und hohen Manager betrug die Zahl 79,3 (1971: 23). Bourdieu und Passeron fanden auch heraus, dass die Arbeiterkinder für ihr Studium im Durchschnitt länger brauchten. Daher waren statistisch mehr Arbeiterkinder unter den Studierenden zu finden als unter den Absolventen. So wählten die Forscher als Erhebungspopulation die neu immatrikulierten Studierenden. Vor diesem 2 In den »Feinen Unterschieden« schrieb Bourdieu diesen Variablen übrigens eine größere Bedeutung für die spätere soziale Position zu als der sozialen Herkunft (1982c: 18). Siehe weiter unten in diesem Abschnitt. soziale Herkunft <?page no="124"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M+Marginalie]__Rehbein__Soziologie_Bourdieus(3)___[Druck-PDF]/ 23.05.2016/ Seite 124 www.claudia-wild.de: [UTB-M+Marginalie]__Rehbein__Soziologie_Bourdieus(3)___[Druck-PDF]/ 23.05.2016/ Seite 125 4.1 Ausbildung 125 Hintergrund ermittelten Bourdieu und Passeron, dass die Chance für einen Hochschulbesuch bei Kindern von Landarbeitern rund 1 Prozent, bei denen von Industriellen 70 Prozent und bei denen von Freiberuflern über 80 Prozent betrug (1971: 20). 3 Nun zeigte diese Statistik den Autoren zufolge nur die Spitze des Eisbergs. Es war offensichtlich, dass das Bildungssystem sozial selektiv verfährt. Es »eliminiert« die Kinder aus den unteren Schichten zu Gunsten der Kinder aus höheren Schichten (1971: 20ff ). Die Statistik zeigte jedoch weder die verborgenen Formen der Ungleichheit noch die Gründe für soziale Ungleichheit unter den Studierenden. Beide Aspekte haben Bourdieu bis in seine letzten Schriften beschäftigt. In den frühen Untersuchungen zum Bildungswesen entdeckte er die wichtige Rolle kultureller Faktoren als Ursache der Auslese. Eine künstlich erzeugte finanzielle Gleichheit durch Stipendien, Begabtenförderung, studentische Sozialprogramme, wie sie in den Sechzigerjahre von linksgerichteten Kräften gefordert und in den Siebzigerjahren teilweise durchgesetzt wurde, konnte Bourdieu zufolge die kulturelle Ungleichheit keinesfalls ausgleichen. Die »Tragweite der sozialen Ungleichheitsfaktoren ist so groß, dass auch eine wirtschaftliche Angleichung nicht viel ändern würde, da das Bildungssystem immer weiter soziales Privileg in Begabung oder individuelles Verdienst umdeuten und die Ungleichheit dadurch legitimieren würde« (1971: 45). 4 Denn die an der Universität geprüften Fähigkeiten beruhen auf einer Affinität zwischen der Kultur der Oberschichten und den Anforderungen des Bildungswesens (1971: 40). Die Anforderungen und Erfolgskriterien enthalten sogar viele Wertvorstellungen, die im Gegensatz zu denen der Unterschichten stehen. Den ersten Grund für Ungleichheit bildet der Anspruch einer Schicht. Je nach sozialer Schicht wird in einer Familie ein Hochschulstudium als normal, möglich oder unerreichbar bzw. sinnlos empfunden (1971: 22). An dieser Empfindung richten Eltern und Kinder ihre Erwartungen aus. Sie werden noch durch die soziale Umgebung der Familie verstärkt, die in 3 Es ist interessant, dass die Zahlen in der heutigen Bundesrepublik kaum anders aussehen (Keller, Schöller 2002). 4 Die Faktoren gelten prinzipiell auch für andere Bildungseinrichtungen, wirken aber am stärksten an der Spitze bei der Auslese der Elite, auf die sich Bourdieus Untersuchungen konzentrieren. Und die Faktoren lassen sich-- zumindest tendenziell-- auch auf andere Länder und die heutige Zeit übertragen (vgl. Geißler 1992: 220ff ). Chance für einen Hochschulbesuch Anspruch <?page no="125"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M+Marginalie]__Rehbein__Soziologie_Bourdieus(3)___[Druck-PDF]/ 23.05.2016/ Seite 126 126 4 Reproduktion den unteren Schichten kaum Akademiker umfasst. Die Sozialisation in einer unteren Schicht unterscheidet sich übrigens auch in ihren geschlechtsbezogenen Erwartungen von anderen Schichten. Während in allen Schichten die Gesamtzahl von männlichen und weiblichen Studierenden etwa gleich ist, werden in den unteren Schichten eher die Söhne als die Töchter auf die Universität geschickt (1971: 22). Sollte ein Kind aus einer unteren Schicht doch auf eine Hochschule gelangen, so bildet der Mangel an notwendigen kulturellen Kenntnissen und Fähigkeiten einen weiteren Grund. An der Hochschule werden bestimmte Arbeits- und Schreibtechniken, eine bestimmte Sprache, kulturelle Kenntnisse (etwa von klassischen Autoren und Kunstwerken) und ein bestimmtes Auftreten als selbstverständlich vorausgesetzt, die allesamt in den Familien der Oberschichten zur Erziehung gehören (1971: 35ff ). Die Studierenden aus den unteren Schichten müssen die für den Bildungserfolg notwendigen Fähigkeiten mühsam erwerben. Selbst wenn ihnen das gelingt, sind sie mit ihnen weniger vertraut und damit weniger selbstsicher als diejenigen, für die sie seit Kindesbeinen integraler Bestandteil des Habitus und damit zweite Natur sind (vgl. 1982c: 124f ). Die frühe Gewöhnung an die legitime Kultur, schrieb Bourdieu in den »Feinen Unterschieden«, verleihe nicht unbedingt mehr Tiefe und Dauer, sondern vor allem Selbstsicherheit und Ungezwungenheit. An ihnen erkenne man die »herausragende Persönlichkeit«, die Ignoranz und Vertrautheit paart (1982c: 121). Die Ungezwungenheit stehe im Gegensatz zum pedantisch wirkenden Umgang mit Kultur, der diejenigen auszeichnet, die sich den Umgang mit der legitimen Kultur hart erarbeiten mussten (1982c: 18ff ). Die Anstrengung des Erwerbs ist noch im späteren Umgang zu spüren-- ebenso wie die Leichtigkeit des spielerischen Erwerbs. Die frühe Vertrautheit mit der legitimen Kultur führt Bourdieu zufolge dazu, dass sich Kinder aus den Oberschichten an der Hochschule mit Recht zu Hause fühlen können (1971: 31). Als Indikatoren für das Wohlfühlen, das schwer zu messen ist, wählten Bourdieu und Passeron unter anderem die Größe des studentischen Bekanntenkreises und die Wahl der vorderen Plätze im Hörsaal. Tatsächlich ließ sich eine positive Korrelation zwischen diesen beiden Variablen und der sozialen Herkunft ermitteln (1971: 260). Zur kulturellen Ungleichheit gesellt sich meist noch die finanzielle als eine weitere Ursache der Ungleichheit, die im Frankreich der Sechzigerjahre beispielsweise dadurch verschärft wurde, dass 50-60 Prozent der Studierenden aus den Oberschichten bei ihren Eltern wohnen konnten (sich also selbst weder um den Lebensunterhalt noch um Hausarbeit kümmern mussten), aber nur 10-20 Prozent der Arbeiterkinder (1971: 30). Das wiederum beruht auf einer geographischen Differenzierung, die auch als ein kulturelle Kenntnisse und Fähigkeiten finanzielle Ungleichheit <?page no="126"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M+Marginalie]__Rehbein__Soziologie_Bourdieus(3)___[Druck-PDF]/ 23.05.2016/ Seite 126 www.claudia-wild.de: [UTB-M+Marginalie]__Rehbein__Soziologie_Bourdieus(3)___[Druck-PDF]/ 23.05.2016/ Seite 127 4.1 Ausbildung 127 Grund für Ungleichheit gelten kann. Die französischen Oberschichten waren (und sind) großenteils im Pariser Raum ansässig, wo sich auch die bedeutenden Hochschulen befinden. Dieser Umstand verschärft übrigens noch die kulturelle Differenzierung, weil sich auch das Kulturleben in Paris konzentriert und die in Paris aufgewachsenen Studierenden mit ihm viel besser vertraut sind als die aus der Provinz (1971: 42). Bourdieu und Passeron suchten neben den Gründen auch nach verborgeneren Formen der Ungleichheit. Sie fanden heraus, dass die Kinder aus den Unterschichten, die nicht frühzeitig aus dem Bildungssystem eliminiert werden, einerseits länger (und mit weniger Sicherheit) studieren, andererseits in die weniger zukunftsträchtigen Fächer und Hochschulen abgedrängt werden. An den Spitzenuniversitäten ermittelten Bourdieu und Passeron, dass die Väter von über 50 Prozent der Studierenden führende Manager und Freiberufler waren (1971: 25). Innerhalb der Hochschule war der Anteil von Kindern aus den Unterschichten an der medizinischen und der juristischen Fakultät besonders niedrig, viel höher dagegen in den Geistes- und Naturwissenschaften, die weniger direkt zu Spitzenpositionen führten (1971: 24f; siehe Abb. 3). Dass umgekehrt Kinder aus den Oberschichten in allen Fakultäten zu finden waren, führten die Forscher auf die Normalität des Studiums in diesen Schichten zurück. Die weniger ehrgeizigen Sprösslinge fanden an der philosophischen Fakultät ein Refugium, innerhalb dessen sie ihren Interessen nachgehen oder ohne Überanstrengung das von den Eltern geforderte Studium absolvieren konnten (1971: 25). Die Verlängerung des Studiums in den Unterschichten wurde hingegen auf die finanzielle Situation zurückgeführt, also auf den Zwang, sich nicht ausschließlich auf das Studium konzentrieren zu können (1971: 25). Die bisher genannten Beobachtungen und Korrelationen der Eliminierung, Abdrängung und Unsicherheit haben einen statistischen, keinen deduktiven Charakter. Das heißt, aus der Zugehörigkeit eines Individuums zu einer bestimmten Schicht lassen sich sein Studienfach oder seine Studiendauer nicht mit Gewissheit, sondern nur mit einer bestimmten Wahrscheinlichkeit schließen. Eine gute »Anpassungsfähigkeit« oder ein »günstiges Familienmilieu« können beispielsweise ein Kind aus der Arbeiterschicht in ein Hochschulstudium führen (1971: 28). Dann sind seine Chancen auf einen guten Studienabschluss beträchtlich, denn prozentual zur jeweiligen Gruppe schließen mehr Studierende aus den Unterschichten mit einem Prädikat ab als Studierende aus den Oberschichten-- auch wenn diese sich selbst besser einschätzen (1971: 34 Fn). So kann eine nachteilige soziale Herkunft ausgeglichen werden. Der Beruf des Vaters ermöglicht daher keine deduktive Erklärung der sozialen Position und des Spitzenuniversitäten Eliminierung, Abdrängung und Unsicherheit Anpassungsfähigkeit <?page no="127"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M+Marginalie]__Rehbein__Soziologie_Bourdieus(3)___[Druck-PDF]/ 23.05.2016/ Seite 128 128 4 Reproduktion Berufs eines Menschen, sondern auch sein Lebensweg ist zu berücksichtigen, insbesondere seine Ausbildung. Bourdieu ermittelte allerdings, dass die unteren und mittleren Schichten auf eine gute Bildung angewiesen sind, um ihre soziale Herkunft zu kompensieren. Aber gerade die unteren Schichten haben geringe Chancen auf einen wertvollen Bildungstitel, so dass sie statistisch besonders stark dazu tendieren, in ihrer sozialen Schicht zu verbleiben (1982c: 34). Wenn jemand allerdings eine Spitzenuniversität besucht und mit Auszeichnung abgeschlossen hat, treten Laufbahn und Herkunft in den Hintergrund (1982c: 115). Das sind zum überwiegenden Teil Kinder aus den Oberschichten, gelegentlich aber auch Individuen wie Bourdieu selbst, die durch die genannten Faktoren der »Anpassungsfähigkeit« und des »günstigen Familienmilieus« aufzusteigen vermochten. Wer sozial aufsteigt, verfolgt seine Ziele meist gewissenhaft und strategisch. Bei den Studierenden aus der Oberschicht besteht dagegen die Gefahr, dass sie ihr Erbe vergeuden, dass sie also ihre Möglichkeiten nicht »rational« nutzen (1971: 43). Der Begriff der Rationalität deutet auf jenen versteckten Szientismus hin (siehe 2.4, 3.2). Rationalität bestimmt sowohl den Gegenstand als auch dessen Konstitution. Bourdieu schreibt hier den Studierenden eine rationale Verfolgung ihrer Ziele zu, die er ökonomistisch bestimmt. Ziel ist jeweils die bestmögliche soziale Position oder der größtmögliche Ertrag aus jeder Handlung (der allerdings selbst nicht ökonomischen Charakter haben muss, sondern im weitesten Sinne sozial ist, also auch kulturell, politisch oder symbolisch sein kann). Ferner beurteilt Bourdieu das von ihm untersuchte Bildungswesen nach einem »Idealtypus der ›rationalen‹ Ausbildung« (1971: 81). Er strebe eine rationale Pädagogik an. Leider hat er sie nicht weiter erläutert. Er forderte lediglich ein möglichst geringes Gefälle zwischen Lehrenden und Lernenden, ferner ein möglichst hohes Maß an Reflexivität (1971: 93ff ). Das gelänge, indem die Kriterien der Lehre nicht einfach vorausgesetzt, sondern auch gelehrt würden. Später hat sich Bourdieu intensiver mit den Kriterien der Lehre befasst und ihre Normen wie auch seine eigenen reflektiert (siehe nächster Abschnitt). Gleichzeitig mit seinen frühen Untersuchungen zum Bildungssystem hat er in die politischen Diskussionen über die Hochschulen eingegriffen, die 1968 in der Studentenrevolte kulminierten. Gegen den formalen Egalitarismus vieler Protestierender richteten sich bereits seine vor 1968 erschienenen Texte. Er wiederholte sie inmitten der Proteste und machte sich dadurch-- wie immer-- auf beiden Seiten unbeliebt. Ein Bildungssystem werde nur dann grundlegend verändert, wenn sich die Rekrutierungsprozesse von Lernenden und Lehrenden änderten (2003: 69f ). Die rein schulischen Mechanismen der Auslese müssten durchbrochen werden, weil Rationalität 1968 <?page no="128"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M+Marginalie]__Rehbein__Soziologie_Bourdieus(3)___[Druck-PDF]/ 23.05.2016/ Seite 128 www.claudia-wild.de: [UTB-M+Marginalie]__Rehbein__Soziologie_Bourdieus(3)___[Druck-PDF]/ 23.05.2016/ Seite 129 4.1 Ausbildung 129 ihr demokratischer Charakter fiktiv sei. Die Effekte des (geringen oder fehlenden) sozialen Erbes müssten minimiert werden. Eine gewisse Form von Rationalität hat Bourdieu auch dem herrschenden Bildungssystem attestiert, indem es die Reproduktion der Sozialstruktur gewährleistet. Und es leistet die Reproduktion effizient sowie scheinbar demokratisch. Wie in der aristokratischen Gesellschaft beinhaltet die hohe Geburt ein gewisses Anrecht auf eine Führungsposition. Das ist in der demokratischen Gesellschaft jedoch nicht mehr offensichtlich. Unter »all den Lösungen, die im Laufe der Geschichte für das Problem der Übermittlung der Macht und der Privilegien gefunden worden sind, gibt es zweifellos keine einzige, die besser verschleiert ist und daher solchen Gesellschaften, die dazu neigen, die offenkundigsten Formen der traditionellen Übermittlung der Macht und der Privilegien zu verweigern, gerechter wird als diejenige, die das Unterrichtssystem garantiert, indem es dazu beiträgt, die Struktur der Klassenverhältnisse zu reproduzieren, und indem es hinter dem Mantel der Neutralität verbirgt, dass es diese Funktion erfüllt« (1973: 93). Vor allem ist es auf den Arbeitsmarkt zugeschnitten, dessen Versorgung eben die Ratio des modernen Bildungssystems ist. Zunehmend dient Bildung dazu, einen bestimmten Beruf zu ermöglichen, für eine bestimmte Stelle zu qualifizieren (1981a: 53; vgl. Hepp 1999: 120). Während das herkömmliche kulturelle Kapital die sozialen Unterschiede unmittelbar anzeigte, so ist in modernen Gesellschaften zwischen die soziale Herkunft und die spätere soziale Position das Bildungssystem geschaltet. Es verleiht einen Titel, der für eine bestimmte Berufsgruppe und damit für eine soziale Position berechtigen soll. Bourdieu untersuchte daher nicht nur die Relation zwischen sozialer Herkunft und Bildungserfolg, sondern auch zwischen Bildungserfolg bzw. Titel und Beruf. Er ging in beiden Fällen von derselben These aus: Das Bildungswesen soll die Sozialstruktur reproduzieren (1981a: 91). Durch die ungleichen Voraussetzungen, die Schüler und Studierende mitbringen, erwerben sie statistisch gesehen genau den Bildungstitel, der einen Beruf ermöglicht, mit dem die Position der Eltern, also die soziale Herkunft, reproduziert wird. Der Titel der demokratischen Gesellschaft ersetzt gleichsam das Familienwappen der aristokratischen Gesellschaft. Er bürgt für Kompetenz und eröffnet den Zugang zu den ihm entsprechenden sozialen Positionen (1982c: 49ff ). Die Wirtschaft gibt dem Bildungssystem über den Arbeitsmarkt vor, welche Titel und Bildungswege benötigt werden. Da die Titel jedoch nicht innerhalb der Wirtschaft, sondern innerhalb des Bildungssystems erwor- Arbeitsmarkt <?page no="129"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M+Marginalie]__Rehbein__Soziologie_Bourdieus(3)___[Druck-PDF]/ 23.05.2016/ Seite 130 130 4 Reproduktion ben werden, hat die Bildung gegenüber der Wirtschaft eine gewisse Autonomie (1981a: 90ff ). Man könnte sogar sagen, dass der wachsende Bedarf des Arbeitsmarkts nach differenzierten Ausbildungsgängen und Titeln die Autonomie des Bildungssystems fördert (Hepp 1999: 125f ). Die Autonomie wird dadurch vergrößert, dass die Titel einen universellen und zeitlich wenig beschränkten Wert haben. Aus diesem Grund misstrauen Unternehmer dem Bildungssystem, bemühen sich um Beeinflussung der Bildungswege und schaffen betriebsinterne Ausbildungen (1981a: 94f ). Die Oberschichten beeinflussen das Bildungssystem also nicht nur über die legitime Kultur, sondern auch über den Arbeitsmarkt. Die Beeinflussung ist notwendig, seit sich die Oberschicht nicht mehr intern reproduziert, sondern den Umweg über das Bildungswesen nehmen muss. »Der gleichzeitige Wandel des Systems der Reproduktionsinstrumente […] einerseits und des Modus der wirtschaftlichen Profitaneignung andererseits liegt der Tatsache zugrunde, dass diejenigen Fraktionen der herrschenden Klasse und der Mittelklassen, die zuvor ihre Position durch unmittelbare Übertragung ökonomischen Kapitals zu reproduzieren pflegten, nun intensiver das Bildungssystem in Anspruch nehmen.« (1981a: 24) Damit geht eine Inflation der Titel und Titelträger einher. Das bedeutet eine Entwertung des Titels insgesamt und eine verstärkte Differenzierung zwischen den Titeln. Als weitere Differenzierungsfaktoren wirken Komponenten des kulturellen Kapitals, die nicht durch das Bildungswesen erworben werden (siehe auch 4.3). Spitzenpositionen werden nur noch von Menschen besetzt, die sowohl einen Titel an einer Eliteuniversität erworben haben als auch über wertvolle soziale Verbindungen und kulturelle Fähigkeiten verfügen (1981a: 30ff ). Bourdieu verbindet diese Beobachtung mit dem Übergang von personaler zu struktureller Herrschaft, wie sie von Weber und insbesondere von Foucault untersucht und als charakteristisch für moderne Gesellschaften erklärt wurde (1981: 25ff, 38). Moderne Großunternehmen sind keine Familienunternehmen mehr. Die Spitzenpositionen in ihnen werden nicht mehr direkt vom Vater an den Sohn weitergegeben, sondern vermittelt über das Bildungssystem. Das Bildungssystem soll die notwenigen technologischen und ökonomischen Kenntnisse vermitteln, die für den Erfolg eines Unternehmens im entfalteten Kapitalismus erforderlich sind. Gleichzeitig soll es gewährleisten, dass die Spitzenpositionen in den führenden Familien bleiben, wenn schon nicht in der Familie. Das gelingt durch die soziale Auslese innerhalb des Bildungssystems Damit geht der Inflation der Titel Spitzenpositionen <?page no="130"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M+Marginalie]__Rehbein__Soziologie_Bourdieus(3)___[Druck-PDF]/ 23.05.2016/ Seite 130 www.claudia-wild.de: [UTB-M+Marginalie]__Rehbein__Soziologie_Bourdieus(3)___[Druck-PDF]/ 23.05.2016/ Seite 131 4.1 Ausbildung 131 soziale Abstieg aller Gruppen einher, die das Bildungssystem nicht nutzen oder nicht zu nutzen verstehen, von den Unterschichten bis hin zu den alten Familienunternehmern (1981a: 54ff ). Die Oberschichten bestehen heute nicht mehr nur aus Selbständigen. Sie beziehen ihre Gewinne nicht mehr durch offenkundige, direkte Ausbeutung, sondern aus Gehältern und Wertpapieren. »Dieser neue Kapitalvergütungsmodus ist nicht zuletzt dank seiner Verschleierungswirkung vorteilhaft.« (1981a: 37) Das bei Marx vorherrschende Feindbild des ausbeuterischen Kapitalisten ist heute nicht mehr zu finden. Wir alle sind Arbeitnehmer. Und die Arbeitnehmer, die den höchsten Titel an der besten Universität erworben haben, bekleiden die Spitzenpositionen. Damit berechtigt nicht mehr das gleichsam aristokratische Erbe zu Herrschaft und Reichtum, sondern der Erfolg in einem scheinbar egalitären Bildungssystem (1981a: 37f ). Die herrschenden Klassen haben früher das öffentliche Bildungswesen wenig genutzt. Die mittleren Klassen hatten in ihm eine Möglichkeit zum Aufstieg. Mit der zunehmenden Nutzung durch die Oberschichten und die Vermehrung der Bildungstitel ist der Aufstieg für die Mittelschichten schwieriger geworden. »Damit wird der Bildungsmarkt zu einem Hauptschlachtfeld im Klassenkampf, auf dem die Logik des Überbietens die Bildungsnachfrage allgemein und immer weiter in die Höhe treibt oder, wenn man so will, zur Titelinflation führt.« (1981a: 68) Die Sozialstruktur wird dadurch erhalten, dass jede Schicht ihr Bildungsniveau steigert (1981a: 71). Tatsächlich werden immer mehr Ausbildungsberufe zu Studienfächern, insbesondere in den USA. Mit der Einführung des Bachelor of Arts (BA) in Deutschland wird sich die Zahl der Studierenden noch erhöhen-- aber der Wert des einfachen Studienabschlusses wird sinken. Diese Entwicklung kann man auch positiv deuten: Sie erhöht das Bildungsniveau der Gesamtbevölkerung. Und da die Wirtschaft über den Arbeitsmarkt die Bildungswege zu bestimmen sucht, steigt die Qualifikation der Arbeitskräfte und damit das wirtschaftliche Leistungsvermögen. Die empirischen Befunde stützen diese positive Deutung allerdings nicht. Bourdieu hat festgestellt, dass die soziale Auslese an den französischen Spitzenuniversitäten bis in die Achtzigerjahre eher zuals abgenommen hat (2004: 231; siehe unten 4.3). In den USA gelang um die Jahrtausendwende 10 Prozent der Kinder aus Haushalten mit einem Jahreseinkommen unter 15 000 Dollar der Eintritt in eine Universität-- im Vergleich zu 94 Prozent der Kinder aus Haushalten mit einem Jahreseinkommen bis 100 000 Dollar (2003c: 74). In Deutschland begannen zur selben Zeit 6 Prozent der Arbeiterkinder ein Studium, dagegen 54 Prozent der Beamtenkinder (Keller, Schöller 2002: 399). Die Vervielfältigung der Titel und Studiengänge sorgt <?page no="131"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M+Marginalie]__Rehbein__Soziologie_Bourdieus(3)___[Druck-PDF]/ 23.05.2016/ Seite 132 132 4 Reproduktion für eine horizontale Differenzierung, lässt die Einheit der herrschenden Klasse aber intakt, ja stabilisiert sie noch. 5 »Das alte Schulsystem hat weniger Unklarheiten produziert als das heutige System mit seinen komplizierten Verzweigungen, die zur Folge haben, dass die Leute Karriereerwartungen entwickeln, die nicht zu ihren realen Chancen passen.« (1993b: 140) 4.2 Wissenschaft In den frühen Studien zum Bildungswesen verfügte Bourdieu zwar schon über seine Einsicht in die Ungleichzeitigkeit, also über eine Art Habitusbegriff, hatte aber daraus noch keine Theorie entwickelt. Er verknüpfte die soziologische und die ethnologische Sichtweise. Soziologisch war die Erklärung des Bildungssystems aus seiner gesellschaftlichen Funktion heraus und die Klassifikation der Individuen nach sozialer Herkunft, Kapital und sozialer Position. Ethnologisch war die Betrachtung der Bildung als Kultur und die Berücksichtigung von Lebenswegen zur Erklärung sozialer Positionen. Das bedeutete allerdings eine logische Unterordnung der Ethnologie unter die Soziologie. Kultur und Habitus waren für den Bereich des Individuellen zuständig, Sozialstruktur und Klassen für den Bereich der Gesellschaft. Diese klare Zuordnung hatte Bourdieu bereits gesprengt, als er die wichtige soziale Rolle der Kultur und des Habitus entwickelt hatte. Gerade diese Erkenntnis bildet die Substanz der Untersuchungen in Algerien, im Béarn und zum Bildungswesen. Aber sie war noch nicht systematisiert und bildete nicht die theoretische Grundlage der frühen Arbeiten. Die frühen Arbeiten setzen den Klassenkampf als Ursache aller sozialen Dynamik voraus. Mit den »Feinen Unterschieden« wurde die eindimensionale Ursächlichkeit aufgegeben und die Konzeption der Ursächlichkeit überhaupt in den Hintergrund gerückt. 6 Ab Mitte der Siebzigerjahre fußen alle Arbeiten auf der Ökonomie der Praxis. Schon die frühen Schriften setzen die Ökonomie der Praxis implizit voraus, konzentrieren sich explizit aber auf den Klassenkampf. In den späteren Schriften ist es umgekehrt: Erklärungsprinzip ist der Habitus der Konkurrenz, also die Suche nach Profiten durch 5 Michael Vester verfolgt seit Jahrzehnten die Entwicklung der Sozialstruktur. In seinen Erhebungsgruppen (siehe Vester et al. 2001) hat es so gut wie keine Mobilität in die herrschende Klasse gegeben (persönliche Mitteilung). 6 Genaueres hierzu im 5. Kapitel. Den Wendepunkt bilden die Ausführungen zum Bildungswesen zu Beginn der »Feinen Unterschiede«. Hier werden die Kämpfe zwischen den sozialen Gruppen und die Struktur der Felder gleichwertig abgehandelt, aber im Zentrum steht der Markt, der wiederum den Kern der Ökonomie der Praxis bildet (1982c: 32f ). Ökonomie der-Praxis <?page no="132"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M+Marginalie]__Rehbein__Soziologie_Bourdieus(3)___[Druck-PDF]/ 23.05.2016/ Seite 132 www.claudia-wild.de: [UTB-M+Marginalie]__Rehbein__Soziologie_Bourdieus(3)___[Druck-PDF]/ 23.05.2016/ Seite 133 4.2 Wissenschaft 133 strategisches Handeln. Die Profite, die Einsätze und die Formen des Handelns sind zwar je nach sozialer Position, also nach Klasse, unterschiedlich, aber sie werden in erster Linie durch die Logik des Feldes bestimmt. Der Begriff des Feldes hat im Aufbau der Erklärung nun den Vorrang vor dem der Klasse und der Sozialstruktur. Klassifikationen, soziale Schichtung (objektive Klassen) und Mobilisierung von Klassen (subjektive Klassen) erklären sich aus der Struktur von Feldern, auch wenn sie diese beeinflussen. Anders gesagt: Die Konjunktur auf den Feldern wird durch die soziale Schichtung bestimmt, um aber deren Dynamik zu begreifen, muss zuerst die Logik des Feldes erfasst werden. Man könnte diese Gedankenfigur auch dadurch rechtfertigen, dass die Theorie der Felder stärker relational ist als die der Klassen. Daher beschäftigen sich Bourdieus spätere Schriften mit einzelnen Feldern. Sie grenzen zunächst ein bestimmtes soziales Feld ab, erläutern dann die Logik des Feldes, um schließlich die soziale Ungleichheit auf diesem Feld zu behandeln und aus ihr die Dynamik des Feldes zu erklären. Im Fall der Wissenschaft hat das Vorgehen eine besondere Brisanz, weil die Analyse des Feldes aus dem Feld selbst erwächst. Daher muss Bourdieus Soziologie sich selbst im Feld positionieren, diese Position erforschen und rechtfertigen. Sie darf nicht nur verkünden, wie die Welt-- vom eigenen Standpunkt her- - aussieht, sondern muss auch erklären, warum sie so aussieht und warum man von diesem Standpunkt aus mehr oder besser sieht als von anderen Standpunkten aus (1998c: 38). Nur die doppelte Analyse des wissenschaftlichen Feldes und der eigenen Position auf ihm ermöglicht ein gewisses Maß an Objektivität (1996b: 97f; siehe 2. Kapitel). Ein Feld zeichnet sich durch Konkurrenz aus. Konkurrenz ist jedoch nur möglich, wenn sich die Konkurrierenden über das Ziel und einige Grundregeln einig sind. Sie müssen das Spiel als Spiel anerkennen, um mitzuspielen. Die geteilten Voraussetzungen sind die Illusio. Die »Regeln« und Ziele des Spiels werden größtenteils vorausgesetzt, einige aber werden thematisiert und sind Gegenstand von Kämpfen. Jeder Akteur versucht, »Regeln« und Ziele so zu beeinflussen, dass die eigenen Voraussetzungen am besten zum Tragen kommen. Das Feld der Wissenschaft unterscheidet sich in dieser Hinsicht nicht von anderen Feldern (1998e: 29). Mit anderen Feldern, auf denen es um Repräsentationen geht (auf denen also die Praxis dargestellt und reflektiert, nicht nur praktisch gehandelt wird), hat das wissenschaftliche Feld gemeinsam, dass die Ökonomie der Praxis geleugnet wird (1998e: 27). Die spezifische Illusio dieser Felder beinhaltet die Überzeugung, es werde aus uneigennützigen Motiven und nicht in der Weise der Konkurrenz gehandelt. Diese Überzeugung versucht Bourdieu als illusorisch zu erweisen. Feld Konkurrenz <?page no="133"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M+Marginalie]__Rehbein__Soziologie_Bourdieus(3)___[Druck-PDF]/ 23.05.2016/ Seite 134 134 4 Reproduktion Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler sind Bourdieu zufolge nicht minder durch Konkurrenz geprägt als beispielsweise Unternehmer. Sie wollen die besten Positionen auf dem Feld erreichen, also die Konkurrenten übertrumpfen. Die Positionen werden auf dem wissenschaftlichen Feld allerdings nach anderen Kriterien bestimmt als auf dem ökonomischen Feld. Es zählen vor allem wissenschaftliche Kriterien. »Alles liefe also bestens in der besten aller möglichen Wissenschaftswelten, wenn die rein wissenschaftliche, in der alleinigen Macht von Begründung und Beweis stehende Logik des Wettbewerbs nicht durch externe Kräfte und Zwänge konterkariert […] würde« (1998c: 30). Das Ziel des wissenschaftlichen Feldes ist die Auffindung von Wahrheiten nach Regeln, die bessere Theorien und Methoden von schlechteren unterscheiden. Je ausschließlicher das Handeln auf dem wissenschaftlichen Feld an diesem Ziel und diesen Regeln ausgerichtet sei, desto autonomer und normativ richtiger sei das Feld. Nichts sei unheilvoller als die Politisierung des wissenschaftlichen Feldes. Sie werde meist nur von denen betrieben, die auf dem Feld selbst die schwächsten Positionen bekleiden und daher nach seiner Heteronomie streben (1998e: 59). Auf zahlreichen Wegen gelangen wissenschaftsfremde Elemente in das Feld, denn die auf ihm Handelnden sind zugleich Menschen, die in einer umfassenderen sozialen Welt leben und handeln. Um die Struktur des wissenschaftlichen Feldes zu ermitteln, müssen Regeln und Positionen miteinander in Relation gesetzt werden. Hierbei spielt zunächst die Rekrutierung der Stelleninhaber eine wichtige Rolle. In einer frühen Arbeit hat Bourdieu die Rekrutierungsmechanismen untersucht. Die Arbeit beruht zwar noch nicht auf der Feldtheorie, ist aber als Vorstudie für die spätere Analyse des akademischen Feldes bedeutsam. Da Bourdieu die Universität zunächst im Rahmen der Gesamtgesellschaft und der Klassenverhältnisse situierte, fragte er nach dem Ort der Lehrenden in der Sozialstruktur und nach den sozialen Funktionen der Universität, die oben referiert wurden. Die Hochschullehrer sind eindeutig der ökonomischen Elite untergeordnet, auch wenn sie über das relativ größte kulturelle Kapital verfügen. Sie sind unselbständig beschäftigt und auf ökonomische Zuteilungen angewiesen, »sie sind Besitzer eines Kapitals, das nur in Unterordnung unter ökonomischen Kapitalbesitz arbeiten und nur dann einen Profit abwerfen kann, wenn es sich als Arbeitskraft verkauft« (1981a: 51). Daher müssen sie sich an die Bedürfnisse eines Arbeitsmarkts anpassen. Dieser, die Universität, verfügt allerdings über eine gewisse Autonomie. Ferner ist er uneinheitlich, die verschiedenen Fachbereiche haben eigene Anforderungen und Mechanismen (1981a: 129f ). Am stärksten fällt die Tatsache ins Gewicht, dass der Arbeitsmarkt von denen kontrolliert wird, die bereits eine Arbeitsstelle haben. Professoren und Professorinnen entwissenschaftliches Feld Struktur des wissenschaftlichen Feldes Universität <?page no="134"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M+Marginalie]__Rehbein__Soziologie_Bourdieus(3)___[Druck-PDF]/ 23.05.2016/ Seite 134 www.claudia-wild.de: [UTB-M+Marginalie]__Rehbein__Soziologie_Bourdieus(3)___[Druck-PDF]/ 23.05.2016/ Seite 135 4.2 Wissenschaft 135 scheiden über die Besetzung von Stellen. Dabei haben sie zum einen ein Interesse daran, den Standard möglichst hoch zu halten, um ihre eigenen Stellen aufzuwerten, zum anderen bringen sie Kriterien in Anschlag, denen sie selbst als Stellensuchende genügen mussten (1981a: 130ff ). Um eine Chance zu haben, müssen die Bewerber also die Regeln des Feldes vollkommen verinnerlichen. Habitus und Erwartungen müssen sich dem normalen Lebenslauf anpassen und als lex insita wirken (1981a: 134; siehe 3. Kapitel). Hier gelten Auslesemechanismen und soziale Ungleichheiten, die Bourdieu bei den Studierenden untersucht hat (siehe 4.1). Sie verschärfen sich noch, je höher man die akademische Leiter erklimmt. Auf diese Weise werden die universitären Strukturen und Habitus reproduziert, von der Sprechweise bis zum Eintrittsalter in eine bestimmte Position. 7 Man könne von einer universitären Gerontokratie sprechen, »bei der nichts die Neigung der Laufbahn zu verändern vermag, eines Weges, der bereits vor dem Eintritt in die Universitätslaufbahn durch das geregelte Verfahren von Examen […] bestimmt wird« (1981a: 147). So gliedert Bourdieu die Lehrenden in zwei Gruppen, die Alten und die Jungen, Professoren und Assistenten (1981a: 146). Letztere konkurrieren um die Positionen ersterer, können aber nicht unmittelbar mit ihnen konkurrieren, sondern müssen sich ihnen unterordnen. Die Sätze, die sich auf das Frankreich der Sechzigerjahre beziehen, haben durchaus noch im Deutschland nach der Jahrtausendwende Gültigkeit, auch wenn durch die Abwertung der kulturellen Elite die Professorenschaft künftig sicher mit mehr Konkurrenz zu rechnen hat. In den Zeiten geburtenstarker Jahrgänge und expansiver Bildungspolitik hat Bourdieu erforscht, ob sich die Struktur des universitären Feldes änderte-- wie er zuvor gefragt hatte, ob Bildungsexpansion und Stipendien die Sozialstruktur änderten. Es mussten mehr Lehrkräfte eingestellt werden, besonders in den Sozial- und Wirtschaftswissenschaften (1981a: 121). Die Zahl der Professoren und Professorinnen stieg allerdings langsamer als die der Assistenten und Assistentinnen. Wegen des großen Bedarfs mussten auch Lehrkräfte eingestellt werden, die nicht mit allen Weihen des Systems ausgezeichnet waren. Es wurden jedoch diejenigen mit dem angepasstesten Habitus ausgewählt, so dass die Regeln des Feldes und der vorherrschende Habitus sich nicht änderten. Ferner waren-- wie bei den Studierenden-- die Lehrkräfte, die den Kriterien des Feldes weniger entsprachen (also auch Frauen), vor allem in den neuen und untergeordneten Fächern zu finden. In den alten geisteswissenschaftlichen Fächern dagegen, beispielsweise in 7 Steffani Engler (2001) hat die Normierung des Lebenslaufs deutscher Akademiker in Anlehnung an Bourdieu nachgezeichnet. Ihre Untersuchungen sind weit detaillierter als die kurzen Andeutungen Bourdieus und können gut als Ergänzung gelesen werden. universitäre Gerontokratie Bildungsexpansion <?page no="135"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M+Marginalie]__Rehbein__Soziologie_Bourdieus(3)___[Druck-PDF]/ 23.05.2016/ Seite 136 136 4 Reproduktion Philosophie und klassischer Philologie, blieb die Zusammensetzung des Lehrkörpers unverändert. »Das Personal der neuen Disziplinen verdankt seine wichtigsten Charakteristika der Tatsache, dass es das Produkt der Anwendung alter Rekrutierungsregeln in einer Konjunktur ist, in der die Bedingungen ihrer Gültigkeit nicht mehr erfüllt sind. […] Überdies beruht die extreme Homogenität des Lehrkörpers auf der Harmonie des Habitus, der aus identischen Selektions- und Ausbildungsbedingungen entstanden ist und zugleich objektiv harmonisierte Praxen und insbesondere Selektionsverfahren hervorbringt« (1981a: 143). Interessanterweise ließen sich die Beziehungen zwischen den Lehrenden der verschiedenen Fächer und innerhalb der Fächer auch bei den Studierenden wiederfinden (1981a: 138). In seinem Buch über den »Homo academicus« (1988; zuerst 1984) führte Bourdieu die Untersuchung der Universität auf der Basis der Feldtheorie fort. Das Werk verschaffte ihm den Ruf eines Nestbeschmutzers, zumal er sich auf Menschen bezog, die man in der Wirklichkeit identifizieren konnte, seine französischen Kolleginnen und Kollegen nämlich. Bourdieu hatte die innersten Geheimnisse der Zunft ausgeplaudert, die stillschweigende Übereinkunft innerhalb der Professorenschaft hinterfragt und die Machtstrukturen angegriffen. Alles sollte man wissenschaftlich untersuchen dürfen, nur nicht die Wissenschaft selbst. Die Betrachtung der Wissenschaftler als wirkliche, gesellschaftliche Menschen diskreditierte den Kritikern zufolge die Wissenschaft als geistiges, idealistisches Unterfangen. Zumindest bezweifelte Bourdieu die idealistischen Motive der Menschen, die Wissenschaft betrieben. Und er betrachtete das wissenschaftliche Feld wie jedes andere Feld. Die Betrachtung sollte eine-- durch seine Wissenschaftstheorie begründete- - Selbstanalyse der Wissenschaft ermöglichen und teilweise vorexerzieren (1992b: 222f ). Bourdieu ging erneut davon aus, dass die Professorenschaft zur beherrschten Fraktion der herrschenden Klasse gehörte (1988c: 85). Innerhalb ihrer seien die medizinische und die juristische Fakultät am engsten mit der herrschenden Fraktion verbunden, die naturwissenschaftliche und die philosophische dagegen weniger (siehe Abb. 3). Die Universität reproduziert damit nicht nur die Sozialstruktur, sondern spiegelt sie auch wider. Das zeigt sich auch in der sozialen Herkunft der Professorinnen und Professoren: In naturwissenschaftlichen und philosophischen Fakultäten stammen etwa 60 Prozent aus der herrschenden Klasse, in der juristischen 77 Prozent, in der medizinischen 86 Prozent. Dagegen sind 23 Prozent der Homo academicus Professorenschaft <?page no="136"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M+Marginalie]__Rehbein__Soziologie_Bourdieus(3)___[Druck-PDF]/ 23.05.2016/ Seite 136 www.claudia-wild.de: [UTB-M+Marginalie]__Rehbein__Soziologie_Bourdieus(3)___[Druck-PDF]/ 23.05.2016/ Seite 137 4.2 Wissenschaft 137 Professoren in der philosophischen Fakultät Professorensöhne, in der medizinischen nur 10 Prozent (letztere stammen eher von Freiberuflern ab) (1988c: 90f ). Insgesamt weisen Professoren wie andere hohe Beamte Merkmale starker sozialer Integration auf: Sie sind verheiratet, haben viele Kinder und Auszeichnungen (1988c: 83). Indikatoren für die Zugehörigkeit zu den herrschenden Fraktionen des universitären Feldes (wie auch der Gesellschaft insgesamt) sind darüber hinaus die Zugehörigkeit zur Ehrenlegion, zu rechten Parteien, zum Katholizismus, der Besuch einer Privatschule, ein schickes Wohnviertel, das Studium an einer Elitehochschule, eine bürgerliche Herkunft und die Mitarbeit in öffentlichen Organen (1988c: 102). Diese Merkmale sind in der medizinischen und juristischen Fakultät weit häufiger als in der philosophischen und naturwissenschaftlichen, wo dagegen die gewerkschaftliche Organisation stärker ist (1988c: 130). Eine ähnliche Rangordnung gibt es innerhalb der Fakultäten. Die »Unterordnung des Grundlagenmediziners unter die Kliniker bringt diese Unterordnung der Wissenschaft unter eine soziale Macht zum Ausdruck, die ihr Funktionen und Grenzen zuweist« (1988c: 122). Die Struktur bleibt dadurch erhalten, dass die Meisterschüler jedes Faches ähnliche Eigenschaften aufweisen wie die jeweils mächtigsten Ordinarien (1988c: 162). Ihre Habitus wurden unter ähnlichen Bedingungen gebildet. Sie erkennen und verstehen einander auf Grund der Ähnlichkeit ihrer Herkunft und sozialen Laufbahn. Die Universität strukturiert sich Bourdieu zufolge ähnlich wie die Gesellschaft entlang zweier Achsen, die nicht aufeinander reduzierbar sind Fakultäten Beruf des Vaters Naturwiss. Fakultät Philos. Fak. Jurist. Fak. Mediz. Fak. Arbeiter 8,6 % 10,0 % 3,5 % 6,7 % Angestellter, Lehrer 33,6 % 30,0 % 19,5 % 11,4 % Ingenieur, Manager 25,8 % 23,4 % 27,6 % 32,8 % Freier Beruf Hoher Beamter 12,5 % 13,3 % 37,9 % 42,8 % Professor, Intellektueller 19,5 % 23,3 % 11,5 % 10,0 % Abbildung 3: Herkunft der Professoren verschiedener Fakultäten (nach 1988c: 95). <?page no="137"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M+Marginalie]__Rehbein__Soziologie_Bourdieus(3)___[Druck-PDF]/ 23.05.2016/ Seite 138 138 4 Reproduktion und einander teilweise widersprechen (siehe Abb. 6 in 5.2). Das wissenschaftliche Feld strukturiert sich ihm zufolge durch institutionelle Macht und persönliches Prestige auf der Basis von Leistung (1998e: 31; 1988c: 142). Die herrschenden Fraktionen verfügen über mehr institutionelles Kapital, die beherrschten über mehr feldspezifisches Kapital. Rein wissenschaftliches Kapital wird durch Entdeckungen und Erfindungen (vor allem in Form von Veröffentlichungen in höchst selektiven Medien) erworben, institutionelles Kapital durch politische Strategien (Mitgliedschaft in Kommissionen usw.), die vor allem Zeit beanspruchen (1998e: 32). Oft ist letzteres eine Kompensation für den Mangel an wissenschaftlicher Kompetenz. Diejenigen, die sich mit Forschung beschäftigen, stehen denen, die auf Reproduktion und Macht ausgerichtet sind, diametral gegenüber (1988c: 180). In Frankreich sind beide Pole zum Teil sogar institutionell voneinander getrennt, da es einige Hochschulen gibt, die ausschließlich Wissenschaft betreiben (z. B. Collège de France, Ecole pratique), ähnlich den deutschen Max-Planck-Instituten (1988c: 181). Ein Individuum kann schwerlich beide Formen von Kapital miteinander verbinden, da Zeit und Strategien eine Vereinbarung kaum zulassen. Dennoch haben die Strategien jedes Wissenschaftlers und jeder Wissenschaftlerin stets eine hochschulpolitische und eine wissenschaftliche Seite, indem neben Erkenntnis auch die Verbesserung der eigenen sozialen Position auf dem Feld angestrebt wird (1998e: 36f ). Die Position auf dem Feld ergibt sich aus der jeweiligen Kombination beider Kapitalarten (1998e: 34). Je autonomer das Feld ist, desto mehr steigt der Wert feldspezifischen Kapitals, während umgekehrt die äußere Herrschaft über das Feld zur Entwicklung einer universitären Bürokratie führt, die als ganze und in den jeweiligen Habitus den Interessen der Forschung widerspricht (1998e: 36). Bourdieu plädiert, wie erwähnt, für eine größtmögliche Autonomie des wissenschaftlichen Feldes. Die eingesetzten Kommissionen und Bürokraten kommen ihm zufolge meist nur zu höchst dürftigen Ergebnissen, obwohl sie hohe Kosten verursachen (1998e: 55f ). Man müsste ihre Mitglieder und die für sie Verantwortlichen ihren eigenen Kriterien unterwerfen. Dadurch würde man nicht nur Aufsteiger in die verantwortlichen Stellen locken, sondern »spezifische Unternehmer«, die für ihre Aufgabe geschaffen sind. In internationalem Maßstab hätten sie ebenso wie die universitären Seilschaften ohnehin nur eine geringe Bedeutung (1998e: 80). Ob nicht auch Kommissionen und Seilschaften globalisiert werden können, scheint mir allerdings keine ausgemachte Sache zu sein. Bourdieu forderte, öffentliche Eingriffe reflexiv zu begründen. Sie seien in einer Gesellschaft, die zur Reproduktion sozialer Ungleichheit struktuinstitutionelle Macht und persönliches Prestige Autonomie des wissenschaftlichen Feldes <?page no="138"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M+Marginalie]__Rehbein__Soziologie_Bourdieus(3)___[Druck-PDF]/ 23.05.2016/ Seite 138 www.claudia-wild.de: [UTB-M+Marginalie]__Rehbein__Soziologie_Bourdieus(3)___[Druck-PDF]/ 23.05.2016/ Seite 139 4.3 Frankreichs Eliten 139 riert ist, jedoch geradezu verpflichtend. Wenn Wissenschaft der Legitimation von Herrschaft diene, sei Soziologie vielleicht die einzige kritische Gegenmacht (1998e: 83). Umgekehrt sei blindes politisches Engagement ebenso wenig gerechtfertigt wie die Politisierung von Wissenschaft. 1968 hätten sich viele marginalisierte Wissenschaftler nur deshalb den studentischen Protesten angeschlossen, weil sie innerhalb des Feldes nur über ein geringes wissenschaftliches Kapital verfügten (1988c: 20). Die Richtungskämpfe unter den Protestierenden seien ihrerseits auf unterschiedliche Einstellungen zum Bildungssystem und damit auf Differenzen im Habitus zurückzuführen (1993b: 16). Die Proteste insgesamt beruhten unter anderem darauf, dass die Reproduktion nicht mehr reibungslos funktionierte. Die Bildungstitel berechtigten nicht mehr automatisch zu den Positionen, deren automatische Erlangung man zuvor hatte erhoffen dürfen (1988c: 264). Der Protest gegen das wissenschaftliche Feld 1968 war also teilweise persönlich motiviert und nicht wissenschaftlich begründet. Oben wurde bereits ausgeführt, dass daher Bourdieu zufolge die falschen Forderungen gestellt wurden, nämlich nach formaler Gleichheit statt nach Beseitigung der Reproduktionsmechanismen. 4.3 Frankreichs Eliten Die Erforschung des Bildungssystems bildet die Grundlage von Bourdieus gesamter Soziologie. Sie zieht sich aber auch durch sein ganzes Werk, durch seinen Werdegang. Schließlich markiert sie einen der Höhepunkte und eine wichtige Schranke seines Werkes. Den Höhepunkt kann man mit dem großartigen, teilweise mit Monique de Saint-Martin verfassten Buch über den »Staatsadel« (2004a; zuerst 1989) ansetzen. Hier kulminieren viele der Instrumente, Methoden, Begriffe und Theoreme, die Bourdieu im Laufe seines langen Forscherlebens entwickelt hat. Das Meisterwerk ist ohne die Kenntnis der früheren Schriften, insbesondere der »Feinen Unterschiede« kaum verständlich. Daher ist es didaktisch nicht einwandfrei, es an dieser Stelle zu diskutieren. Ich habe mich dazu entschieden, weil die Bildungssoziologie Bourdieus eine Einheit und einen Strang in seinem Denken bildet. Es erscheint mir nicht abwegig, diese Einheit hier zu reproduzieren. Ich werde allerdings im 6. Kapitel, nach der Diskussion der »Feinen Unterschiede« im 5. Kapitel, noch einmal auf die Theorie des Machtfeldes zurückkommen, die im »Staatsadel« entwickelt wird. Hier ist eine wichtige Schranke von Bourdieus Soziologie anzusetzen. Sie ist vielleicht ein Grund dafür, dass Bourdieu nach dem »Staatsadel« sich mehr auf die Kritik am Neoliberalismus konzentriert hat (siehe 7.3). Denn mit diesem Werk hat Staatsadel <?page no="139"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M+Marginalie]__Rehbein__Soziologie_Bourdieus(3)___[Druck-PDF]/ 23.05.2016/ Seite 140 140 4 Reproduktion er gezeigt, was seine Soziologie zu leisten vermag-- und eine Schranke angedeutet, jenseits derer sie nicht mehr so leistungsfähig ist. »Der Staatsadel« ist auch in dem Sinne eine Summe, dass die Arbeit an ihm über 20 Jahre dauerte (2004a: 23, 75, 227). Sie verlief parallel zu den frühen Untersuchungen, die in Abschnitt 4.1 diskutiert wurden. Genauer gesagt hat sie ihren Ursprung in der Reaktion der Studierenden auf die Veröffentlichung von »Les héritiers« (1964c; 2007). Studierende der ENS traten mit der Bitte an Bourdieu heran, eine ähnliche Studie über ihre Schule zu machen (2004a: 281). Als Absolvent dieser Institution war Bourdieu der Idee nicht abgeneigt. Er begann die Arbeit mit der Gruppe, die er am Centre de sociologie européenne um sich gesammelt hatte. Im Zusammenhang mit dieser Tätigkeit entstanden viele Schriften, die als die bedeutendsten seiner Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen gelten können. Nicht zuletzt liegt in ihr die Wurzel des einflussreichen Buches von Luc Boltanski und Eve Chiapello über den »Neuen Geist des Kapitalismus« (2003). Die lange Arbeit am »Staatsadel« ermöglichte den Einbezug der Geschichte in die Empirie. Bourdieu wird mit Recht vorgeworfen, lediglich Momentaufnahmen der sozialen Welt zu liefern. Dieser Mangel beruht allerdings auch auf Rechtschaffenheit. Denn Bourdieu hat sich stets darum bemüht, das empirische Material für seine Untersuchungen selbst zu sammeln, nach von ihm konstruierten Kriterien und Methoden. Beim »Staatsadel« zog sich die Datenerhebung über einen derartig langen Zeitraum hin, dass eine »strukturelle Geschichte« (2004a: 226ff ) geschrieben werden konnte. Das Werk ist noch komplexer aufgebaut und vermutlich noch schwieriger zu lesen als das über »Die feinen Unterschiede«. Die Komplexität verkörpert auf bewundernswert kunstvolle Weise das Denken in Relationen und Konfigurationen-- allerdings auch in ihrer Reduktion auf Gegensätze. Das Buch besteht aus fünf Teilen. Bereits der erste Teil ist in sich komplex. Er sucht aufzuweisen, warum die Fächerwahl der Studierenden ihrer sozialen Herkunft entspricht und diese wiederum der Bewertung durch die Lehrenden. Im zweiten Teil wird untersucht, wie die Eliteschulen den Studierenden genau den Habitus einimpfen und mit genau dem Titel versehen, für die sie von Haus aus bestimmt sind. Der dritte Teil zeigt, dass die Institutionen höherer Bildung im gleichen Verhältnis zueinander stehen wie ihre Zöglinge und deren soziale Herkunft. Er thematisiert auch die rasche Veränderung des Bildungswesens seit den Sechzigerjahren, um aufzuweisen, dass die Transformationen von Schulen, Fächern, Titeln und Rekrutierung die Struktur des gesamten Bildungssystems gerade nicht ändern, sondern erhalten. Alle Veränderungen dienen der Reproduktion der herrschenden Klasse, genauer gesagt: der ihrer Herrschaft und ihrer internen Struktur. Verschiebungen innerhalb der Struktur des Bildungswewww.claudia-wild.de: <?page no="140"?> [UTB-M+Marginalie]__Rehbein__Soziologie_Bourdieus(3)___[Druck-PDF]/ 23.05.2016/ Seite 140 www.claudia-wild.de: [UTB-M+Marginalie]__Rehbein__Soziologie_Bourdieus(3)___[Druck-PDF]/ 23.05.2016/ Seite 141 4.3 Frankreichs Eliten 141 sens sind auf Verschiebungen innerhalb der Struktur der herrschenden Klasse zurückzuführen. Damit beschäftigt sich der vierte Teil. Der fünfte Teil ist eher eine Art Ausblick. Er beschäftigt sich mit dem Verhältnis von herrschender Klasse, Bildungssystem und Staat, der ja die formale Hoheit über das Bildungssystem hat. Prinzipiell bestätigt »Der Staatsadel« die Ergebnisse der frühen Untersuchungen zum Bildungssystem Es dient der Reproduktion der herrschenden Ordnung (2004a: 176f ). Aber der Zusammenhang zwischen Individuen, Bildungsinstitutionen und Sozialstruktur wird nun etwas differenzierter und vor allem begrifflich konturierter gefasst. 8 Das Bildungssystem ist jetzt nicht mehr bloße Maschine zur Reproduktion der Sozialstruktur, sondern ein höchst komplexes Zusammenwirken zahlreicher Faktoren (2004a: 13f ). Die Komplexität wird detailliert analysiert und nachgezeichnet, insbesondere über den Begriff des Habitus. Die ererbte Kapitalstruktur wird durch die Sozialisation im Habitus inkorporiert. Daraus erwächst eine Matrix ethischer, ästhetischer und politischer Präferenzen. Sie leitet sowohl die Wahl einer bestimmten Schule wie auch die verschiedenen Stellungnahmen. Beide entsprechen der sozialen Position und der sozialen Herkunft (2004a: 205). Die Beobachtung, dass die sozialen Positionen der Menschen, die Bildungstitel ihrer Kinder und die von ihnen besuchten Schulen einander strukturell entsprechen, wird Schritt für Schritt erklärt. Die Schüler bewerben sich an den Institutionen, auf die sie von Haus aus am besten vorbereitet sind (2004a: 167). Damit werden die Unterschiede zwischen den Elternhäusern (also Unterschiede der Geburt) in Unterschiede zwischen Bildungstiteln (also Unterschiede der Kompetenz) verwandelt (2004a: 182f ). Auf diese Weise können soziale Unterschiede besser legitimiert werden. Die wenigen Studierenden, denen es gelingt, durch Leistung in die höchsten Bildungsinstitutionen aufzusteigen und dort hervorragende Abschlüsse zu machen, stoßen danach an die Schranken ihrer Herkunft, weil ihnen der Habitus und das soziale Kapital fehlen (2004a: 183). Das hat sich auch durch die Bildungsreformen nach 1968 nicht geändert. Bourdieu hat sogar entdeckt, dass in den Hochschulen an der Spitze der Hierarchie der Anteil der Studierenden aus den besten Familien noch zugenommen hat (2004a: 231) und dass kaum einem Kind aus den unteren und mittleren Schichten der Aufstieg in die Führung bedeutender Unter- 8 Dem entspricht eine ausgefeiltere Methodik und die Erweiterung des Datensatzes. Neben dem Beruf des Vaters wurde beispielsweise nach Möglichkeit auch der der Mutter ermittelt, ferner Aspekte ihrer Laufbahn, Berufe ihrer Geschwister und am besten ihrer Vorfahren (2004a: 129 Fn). Habitus und das soziale Kapital <?page no="141"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M+Marginalie]__Rehbein__Soziologie_Bourdieus(3)___[Druck-PDF]/ 23.05.2016/ Seite 142 142 4 Reproduktion nehmen gelungen ist (2004a: 367f ). Die Ergebnisse konnte Michael Hartmann für die gegenwärtige Bundesrepublik bestätigen (Hartmann 2002). Den ersten Schritt der Untersuchung bildet die Frage, ob Studienfächer gleich bewertet und von allen Schülern gleichmäßig gewählt werden. In Übereinstimmung mit seinen anderen Arbeiten und seiner Wissenschaftstheorie ermittelte Bourdieu einen Gegensatz, und zwar zwischen angesehenen Fächern wie Französisch und Philosophie auf der einen Seite, Naturwissenschaften und Geographie auf der anderen (2004a: 23ff ). Jene sind undeutlich definiert und setzen viel kulturelles Kapital voraus. Die besten Studierenden dieser Fächer streben den Beruf des Professors an, erwarten von diesem Kreativität, halten Begabung für den Grund ihres Erfolgs und schätzen die Geographie gering ein. Sie kennen sich besonders gut auf kulturellen Gebieten aus, die nicht Bestandteil der schulischen Ausbildung sind. Das kulturelle Erbe, über das sie von Haus aus verfügen, übersetzt sich innerhalb der schulischen Institutionen als Frühreife. Die Preisträger der angesehenen Fächer sind besonders jung (2004a: 36). Die weniger angesehenen Fächer setzen weniger kulturelles Kapital voraus und bieten den Strebsamen einen garantierten Studienerfolg. Die Schüler der weniger angesehenen Fächer und die mittelmäßigen Schüler werden von den Professoren besonders häufig als ernsthaft charakterisiert. Sie haben nicht das freie Verhältnis zur Bildung (2004a: 38). Dem Gegensatz zwischen den Fächern entspricht also ein Gegensatz im kulturellen Kapital der Studierenden-- und ein Gegensatz in den politischen Einstellungen. In den angesehenen Fächern schätzen sich über 50 Prozent der Studierenden politisch links ein, in Geographie sind es nur 24 Prozent (2004a: 30f ). Jene haben für die Zukunft visionäre Vorstellungen, diese geben Antworten, die nur auf ihre eigene Zukunft gerichtet sind. Bourdieu schreibt nun allgemeiner, im Bildungssystem herrsche eine Spannung zwischen kleinbürgerlichen und bürgerlichen Werten (2004a: 39f ). Einerseits sind nur die bürgerlichen Eigenschaften besonders wertvoll, die außerhalb der Schule erworben werden. Andererseits müssen auch die kleinbürgerlichen Eigenschaften anerkannt werden, die die Schule selbst vermittelt. Tatsächlich kann fehlendes kulturelles Kapital durch besonderen Respekt vor der Schule aufgewogen werden. Die Lehrenden selbst verkörpern den Widerspruch. Sie grenzen sich gleichzeitig von den Herrschenden im herrschenden Feld wie auch von den Beherrschten, der kulturellen Avantgarde, ab. Das wird am Beispiel der Aufzeichnungen eines Lehrers der Vorbeitungsklassen (für Eliteschulen) über seine Schülerinnen verdeutlicht. Es wurde ausgewertet, welche Eigenschaften er ihnen zuschrieb. Diese wurden mit der sozialen Herkunft zum einen und den im Examen erworbenen Noten zum anderen in Beziehung gesetzt. In einem Studienfächer Spannung zwischen kleinbürgerlichen und bürgerlichen Werten <?page no="142"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M+Marginalie]__Rehbein__Soziologie_Bourdieus(3)___[Druck-PDF]/ 23.05.2016/ Seite 142 www.claudia-wild.de: [UTB-M+Marginalie]__Rehbein__Soziologie_Bourdieus(3)___[Druck-PDF]/ 23.05.2016/ Seite 143 4.3 Frankreichs Eliten 143 höchst aufschlussreichen und intelligent konzipierten Schaubild wurden die Eigenschaften geordnet (2004a: 49; auch 62). Das Schaubild wird in Abbildung 4 als einfache Tabelle reproduziert, die gegenüber dem Original um 90 Grad gedreht ist. Oben sind die kleinbürgerlichen, unten die großbürgerlichen Eigenschaften, oben die Eigenschaften der Strebsamkeit und der Mittelmäßigkeit, unten die des Herausragenden und des schulischen Erfolgs. Es ergibt sich das Bild, dass sich die weniger guten Eigenschaften bei den schlechteren Schülerinnen konzentrieren, die aus einem schlechteren Elternhaus und aus der Provinz kommen, die besten bei Professoren- und Ingenieurstöchtern aus Paris. Die Relationierung wurde durch das Datenmaterial ermöglicht. Die Eigenschaften, die der Lehrer vermerkte, beziehen sich kaum auf die spezifische Bildung, sondern meist auf persönliche Eigenschaften (2004a: 52). Er beurteilt Dispositionen, nicht Leistung. Die kleinbürgerlichen Eigenschaften werden als die von Beherrschten gefasst, beispielsweise Verzicht, Bescheidenheit, Rechtschaffenheit. Sie qualifizieren dafür, eine beherrschte Position zu besetzen (2004a: 68). Diese Gegensätze beziehen sich auf die Sechzigerjahre, sehen in den Achtzigerjahren aber kaum anders aus (2004a: 76ff ). Der Lernprozess wird in sozialen Strukturen durchlaufen (2004a: 57ff ). Er umfasst eine Sprache, die gemäß den sozialen Strukturen organisiert ist. Die schulischen Taxonomien (Schemata der Beurteilung) sind ebenso Produkt dieser Strukturen wie die Gegenstände, auf die sie angewendet werden. Im sozialen Universum, das genauso organisiert ist, werden sie unablässig bestätigt. Die schulischen Urteile beruhen auf dieser Logik, ohne sich dessen bewusst zu sein. Lehrer und Schüler glauben, sich ausschließlich auf der Lehrer beurteilt Dispositionen Beruf des Vaters: Geburtsort: Postler Paris Unternehmer Provinz Professor Paris unterwürfig × korrekt × vorsichtig × klar, einfach × interessant × meisterhaft × Abschlussnote befr. gut sehr gut Abbildung 4: Beurteilungen eines Lehrers in Relation zu Herkunft und Erfolg seiner Schülerinnen (nach 2004a: 49). <?page no="143"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M+Marginalie]__Rehbein__Soziologie_Bourdieus(3)___[Druck-PDF]/ 23.05.2016/ Seite 144 144 4 Reproduktion die geistige Person zu beziehen-- und euphemisieren damit nur ein soziales Urteil. Um das schulische Urteil zu erfassen, muss man es auf die sozialen Produktions- und Verwendungsbedingungen rückbeziehen. Das Urteil wirkt nur auf diejenigen eine uneingeschränkte Macht aus, die zu seiner uneingeschränkten Anerkennung prädisponiert sind. Wer in eine französische (oder englische) Eliteschule aufgenommen wird, verfügt über den Habitus der herrschenden Klasse. Er oder sie traut es sich zu, den Kriterien der Elite zu entsprechen, und erkennt sie an. Tatsächlich entspricht nur eine solche Person den Kriterien und wird zur Institution zugelassen. Allerdings gibt es auch zwischen den Eliteinstitutionen einen Gegensatz. Am einen Pol werden die Führungskräfte für Staat und Wirtschaft ausgebildet, am anderen Pol die intellektuellen Führungskräfte. Hier reproduziert sich auf höherer Ebene der Gegensatz zwischen Herrschenden und Beherrschten. An den »Schulen« wird die Welt der realen Konkurrenz simuliert, die Betreuung ist intensiv und gruppenorientiert, Sport und effiziente Nutzung der Zeit spielen eine wichtige Rolle (2004a: 104ff ). An den »Universitäten« studiert man dagegen eher individuell und ohne Orientierung, man schwankt zwischen Verweigerung und intellektueller Exaltiertheit (2004a: 123). Die Eliteschulen sind damit echte Schulen für Führungskräfte: Dringlichkeit, Arbeitsplanung und Allgemeinbildung stehen im Zentrum (2004a: 107). Man lernt ein souveränes Verhältnis zur Kultur, keine Kunst oder Wissenschaft. Das souveräne Verhältnis zeichnet sich dadurch aus, dass man auf alles die passende Antwort weiß, die weder pedantisch noch banausisch wirkt. Der Zeitplan schafft eine Art symbolische Einschließung, ein freiwilliges Gefängnis, das seine Insassen zusammenschweißt. Es beherbergt die Privilegiertesten, die fast allesamt männlich sind (2004a: 123). Prinzipiell vergleicht Bourdieu die Bildungsinstitutionen mit Inselgesellschaften, die in der Ethnologie so gerne untersucht werden bzw. wurden (2004a: 217). Die Bildungsinstitution wird mit dem Erwerb eines Titels abgeschlossen. Die Prüfung ist ein Initiationsritus, eine Art Ritterschlag (2004a: 126). Mit der Prüfung nimmt die Schule den Individuen den Wert, den sie sich selbst zuschreiben, und verleiht ihnen einen patentierten Titel, auf den sie das Monopol hat (2004a: 135). Das Bildungssystem muss heute Weihehandlungen vornehmen, die in anderen Gesellschaften die Religion übernimmt: im sozialen Kontinuum nahezu willkürliche Schnitte machen (2004a: 143). Der Titel fasst eine statistische zu einer konstituierten Klasse zusammen, deren Mitglieder sich alle für gleich erwählt halten, obwohl nur die wenigsten von ihnen die Laufbahnen bekommen, für die sie formal bestimmt sind (2004a: 140). Die Verleihung des Titels ist ein juristischer Akt legitimer Kategorisierung, durch den das wichtigste Merkmal der sozi- Habitus einer Eliteschule die Prüfung ist-ein Initiationsritus <?page no="144"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M+Marginalie]__Rehbein__Soziologie_Bourdieus(3)___[Druck-PDF]/ 23.05.2016/ Seite 144 www.claudia-wild.de: [UTB-M+Marginalie]__Rehbein__Soziologie_Bourdieus(3)___[Druck-PDF]/ 23.05.2016/ Seite 145 4.3 Frankreichs Eliten 145 alen Identität vergeben wird. Von ihm hängt der Beruf ab, der wiederum zu einem Großteil die soziale Position bestimmt (2004a: 144). Damit beginnt die oben beschriebene Dialektik von Titel und Stelle (2004a: 150ff ). Die Bildungsinstitutionen normieren zunehmend die Titel und damit die Berufs- und Stellenbezeichnungen. Dadurch werden die Beherrschten immerhin gegen schrankenlose Ausbeutung geschützt (2004a: 458). Und sie können sich auf ihren nominellen Titel zurückziehen, um ihre Identität aufrecht zu erhalten. Wer sich mit einer niedrigeren Laufbahn als der erhofften zufrieden geben muss, wird nie völlig desillusioniert, weil das symbolische Kapital des Titels immer bleibt und ihn von titellosen Leuten trennt (2004a: 141). Die weniger wertvollen Titel verbürgen eine technische Kompetenz, die im Berufsleben immer wieder unter Beweis gestellt werden muss, während die höheren Titel eher wie Adelstitel funktionieren. Sie altern nicht, werden nicht auf ihren Gehalt geprüft und sind eine Art rechtlich garantiertes Monopol (2004a: 146, 456). Auf die Vergabe dieser Monopole haben die Bildungsinstitutionen das Monopol. Dadurch entstehen bürokratische Machtpositionen, die vom Geburtsadel relativ unabhängig sind, aber in ähnlicher Weise --nämlich über das kulturelle Kapital- - vererbt werden (2004a: 460). Der Schuladel verfügt wie der Klerus über kulturelles Kapital und vererbt seine Position wie der alte Adel. Ämter werden jetzt nicht mehr gekauft, sondern schulisch erworben. Dabei wird alles Wesentliche des alten Adels beibehalten (2004a: 462f ). Für die Eliteinstitutionen konstruiert Bourdieu einen überkreuzten Gegensatz (2004a: 163, 184). Zum einen stehen sich die angesehensten Pariser Schulen (ENS, Ecole nationale d’administration und Ecole polytechnique) und die kleinen, wenig prestigeträchtigen Schulen der Provinz gegenüber. Zum anderen bilden der herrschende Pol (ENA) und der beherrschte, intellektuelle (ENS) einen Gegensatz. Die Studierenden verkörpern diese Gegensätze. Die Kinder aus den herrschenden Gruppen der herrschenden Klasse stammen aus Paris, besuchen die besten Pariser Schulen des herrschenden Pols und konzentrieren das soziale Kapital so, wie es ihre Eltern getan haben (2004a: 242). Diese Schulen sind weniger schulisch als sozial selektiv. Über die Aufnahme in die ENA entschieden im Erhebungszeitraum vier bis sechs unbedeutende Professoren (meist Juristen), ebenso viele hohe Staatsbeamte und dieselbe Anzahl Aufsichtsräte von Unternehmen (2004a: 249 Fn). Die intellektuellen Institutionen wie die ENS legen strengere schulische Kriterien an, sind aber sozial weniger selektiv. Der Gegensatz zwischen ENS und ENA spiegelt sich in den politischen Einstellungen, im Kulturkonsum und in sportlicher Betätigung wider (2004a: 190). Nur 13-20 Prozent der Intellektuellen sind für eine stärkere Dialektik von Titel und Stelle Eliteinstitutionen <?page no="145"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M+Marginalie]__Rehbein__Soziologie_Bourdieus(3)___[Druck-PDF]/ 23.05.2016/ Seite 146 146 4 Reproduktion Berufsorientierung des Unterrichts, dagegen über 40 Prozent der Unternehmer (dazwischen die Freiberufler) (2004a: 200). Bourdieu warnt davor, die Verteilung der Institutionen und ihrer Studenten substanzialistisch zu deuten. Die Momentaufnahme verführt dazu, die Phänomene dauerhaft bestimmten Polen und Eigenschaften zuzuordnen. Statt dessen müssen die Dynamik der Institutionen und die ihr zu Grunde liegenden Mechanismen sowie die gesamte Sozialstruktur betrachtet werden (2004a: 226). Als Beispiel für den Wandel einer Institution führt Bourdieu die Ecole des hautes études commerciales (HEC) an (2004a: 238). Sie wurde 1881 von der Pariser Handelskammer gegründet und genoss zunächst keinerlei schulisches Ansehen. Sie bot jedoch schlechten Schülern aus guten Familien eine Ausbildung. Kollektive Strategien vermochten der Schule den Ruf als zweitrangiger Institution zu nehmen (Ehrenlegion, Auszeichnungen, Presse). Heute zählt sie zu den Eliteinstitutionen des herrschenden Pols. Wenn von Demokratisierung des Bildungswesens die Rede ist und nur Leistung den Erfolg zu begründen scheint, wird die Dynamik übersehen. Die Demokratisierung führt zu steigenden Studentenzahlen. Wo die Zahl der Studierenden steigt, wird die Ausbildung für Kinder aus der herrschenden Klasse weniger attraktiv, weil der Wert des entsprechenden Bildungstitels gesamtgesellschaftlich sinkt. Bevor die Inflation eintritt, haben die Herrschenden bereits die Institution gewechselt. Sie schicken ihre Kinder stets auf die rentabelsten Schulen, weil sie aus ihrem Umfeld (durch ihr soziales Kapital und ihre berufliche Erfahrung) am besten wissen, welche Abschlüsse gefragt sind (2004a: 264). Je weiter man sozial vom herrschenden Pol der herrschenden Klasse entfernt ist, desto weiter hinkt man der Entwicklung hinterher (2004a: 266). In den Achtzigerjahren erlebten die Business Schools einen rasanten Aufstieg. Besonderes Ansehen genoss in Frankreich die European Business School. Die Mehrheit der Studierenden, die diese Schule besuchten, hatte über unmittelbare Kontakte (Freunde und Familie) von der Existenz dieser Schule gehört (2004a: 265). Bis sich die Kenntnis allgemein verbreitet, ist der Zugang beschränkt. Wenn oder sobald er das nicht mehr ist, hat der entsprechende Abschluss seinen Wert verloren. Die Herrschenden passen sich Bourdieu zufolge der Konjunktur auf dem Bildungsmarkt am schnellsten an und gestalten sie maßgeblich. Der Habitus ihrer Kinder ist dem der anderen Kinder immer einen Schritt voraus, weil er sich in dem Umfeld ausbildet, das den größten Einfluss auf die Konjunktur hat. Allerdings bildet die herrschende Klasse keine Einheit mit einheitlichen Zielen und Strategien. Sie instrumentalisiert das Bildungswesen auch nicht einheitlich und bewusst. Vielmehr besteht zwischen der Konfiguration der herrschenden Klasse und der Konfiguration der Bildungsinstitutionen eine strukturelle Ähnlichkeit. Beide Felder sind Dynamik der Institutionen die Herrschenden passen sich am schnellsten an <?page no="146"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M+Marginalie]__Rehbein__Soziologie_Bourdieus(3)___[Druck-PDF]/ 23.05.2016/ Seite 146 www.claudia-wild.de: [UTB-M+Marginalie]__Rehbein__Soziologie_Bourdieus(3)___[Druck-PDF]/ 23.05.2016/ Seite 147 4.3 Frankreichs Eliten 147 »autonom und zugleich durch die organische Solidarität einer wirklichen Arbeitsteilung der Herrschaft miteinander verbunden« (2004a: 319. Ursprünglich wollte Bourdieu im »Staatsadel« ihre Homologie aufweisen (2004a: 319). Später hielt er den Anspruch für vermessen. Daher beschränkte er sich auf einen Ausschnitt, der die Entwicklung des Verhältnisses zwischen zwei zentralen Gegensätzen exemplifizieren sollte: Schulische Titel werden gegenüber rein ökonomischen Eigentumstiteln wichtiger, bürokratische Titel werden gegenüber technischen wichtiger (2004a: 330). Beide Tendenzen suchte er am Beispiel einer Entsprechung der Entwicklung der Unternehmensführungen und der der herrschenden Schulen aufzuweisen. Im herrschenden Bereich des ökonomischen Feldes, d. h. im Bereich des Großkapitals, wurden während des Untersuchungszeitraums von Managern geleitete Großunternehmen gegenüber Familienunternehmen immer dominanter. Unter diesen Großunternehmen wiederum übten zunehmend die Finanzorganisationen eine herrschende Funktion aus (2004a: 397; siehe unten 6.2). Darauf müssen die Herrschenden reagieren- - wobei Bourdieu die Kausalität des Prozesses offen lässt. Die Familienunternehmen suchten die Herrschaft vom Vater auf den Sohn zu übertragen und ihre Position durch Vermehrung des sozialen Kapitals zu stärken, insbesondere durch die Größe ihrer Familien und strategische Heiraten (2004a: 339ff ). 9 Die Strategien der Absolventen von Eliteschulen gleichen denen der Unternehmerfamilien (2004a: 346ff ). Allerdings ersetzt die Schule die unmittelbare Übertragung durch eine statistische. Die Gruppe wird auf Kosten von scheiternden Einzelfällen reproduziert. Der statistische Charakter und die Wirkung des familiären kulturellen Kapitals der schulischen Reproduktion verschleiern die Reproduktion effektiver und können besser auf Veränderungen der Sozialstruktur reagieren als die familiäre Reproduktion. Aber sie setzen eben kulturelles Kapital in der Familie und den Besuch von Eliteschulen voraus. Die erste Generation der Familienunternehmer verfügte meist über ein geringes kulturelles Kapital und kaum Bildungskapital. Das wurde in den folgenden Generationen nachgeholt. Die kleinen Bildungsunternehmen boten einen Hort für die Nachkommen der alten 9 Bourdieu schreibt, die Heiratsstrategien der Industriellenfamilien entsprächen denen der Bauern im Béarn, die er nach seiner Rückkehr aus Algerien untersucht hatte (2004a: 337 Fn). Der Umweg über das Bildungswesen, den die herrschende Klasse jetzt nehmen muss, hat auch Folgen für die Wahl der Heiratspartner. Je mehr Mädchen höhere Schulen besuchen, desto weniger müssen die Eltern in die Wahl der Ehepartner eingreifen (332f ). Denn an den Schulen lernen die Schüler genau die Leute kennen, die ihrer sozialen Herkunft entsprechen. Die bürgerlichen Eltern werden immer liberaler, interessieren sich nicht mehr für Mitgift und Jungfräulichkeit, greifen also weit weniger in Geschlechtsleben und Partnerwahl ihrer Kinder ein als mittlere und untere Schichten. Großunternehmen <?page no="147"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M+Marginalie]__Rehbein__Soziologie_Bourdieus(3)___[Druck-PDF]/ 23.05.2016/ Seite 148 148 4 Reproduktion Unternehmer und ermöglichten ihnen den Einstieg in die Großunternehmen (2004a: 274). Abbildung 5 illustriert die Tendenz zu höheren Bildungstiteln. Zwar spielt ökonomisches Kapital im ökonomischen Feld die beherrschende Rolle, während kulturelles Kapital entbehrlich ist. Maximalen Profit aber kann es nur abwerfen, wenn es mit sozialem Kapital verknüpft ist, insbesondere in Anbetracht der steigenden Vernetzung zwischen den Großunternehmen und der Zirkulation ihrer Manager (2004a: 335). Die Reproduktion der herrschenden Klasse wird durch die steigende Bedeutung des Bildungstitels zwar anonymer und eher statistisch als individuell, dafür aber umso effizienter. Unter den Leitern der 216 größten Unternehmern stammten im Frankreich der Achtzigerjahre nur sieben aus den Unterschichten und etwa 16 aus den Mittelschichten (2004a: 367). Und sie leiteten wiederum die weniger bedeutenden dieser Unternehmen. In den Zeiten der Familienunternehmen war der Aufstieg vom Tellerwäscher zum Millionär Bourdieu zufolge noch weit häufiger. Die führenden Manager werden an den herrschenden Schulen ausgebildet, insbesondere an der ENA (2004a: 399). Diese Schule ist, wie gesagt, weniger an schulischer Leistung orientiert. Sie bildet weder Techniker noch Intellektuelle aus, also weder Strebsame noch geistige Virtuosen, sondern Technokraten, technisch Herrschende. Die Studierenden stammen größtenteils aus den herrschenden Pariser Familien. Die Unternehmer, die am stärksten an der familiären Reproduktion interessiert sind, haben Wege gefunden, die schulische Reproduktion nicht als Hindernis aufzufassen. Sie schicken ihre Kinder auf Schulen, deren Titel als bloße Legitimationsinstrumente dienen (2004a: 396). Das sind eben die Titel, die Kompetenz Reproduktion der-herrschenden Klasse Gründer Erbe Nachfolger Keine Beziehungen Manager Vorstand Weniger als-Abitur 81 % 50 % 26 % 19 % 15 % Weniger als Hochschule 9 % 28 % 26 % 10 % 9 % Hochschulstudium 9 % 17 % 39 % 67 % 73 % Doppelstudium 0 % 6 % 9 % 5 % 3 % Abbildung 5: Art der Unternehmensführung in Relation zum Bildungstitel (nach 2004a: 344). <?page no="148"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M+Marginalie]__Rehbein__Soziologie_Bourdieus(3)___[Druck-PDF]/ 23.05.2016/ Seite 148 www.claudia-wild.de: [UTB-M+Marginalie]__Rehbein__Soziologie_Bourdieus(3)___[Druck-PDF]/ 23.05.2016/ Seite 149 4.3 Frankreichs Eliten 149 verbürgen, ohne dass diese im Beruf unter Beweis gestellt werden müsste. Den Angelpunkt zwischen ökonomischem Feld und Bildungswesen erblickt Bourdieu im sozialen Kapital. Die großen Familien könnten Krisen vermutlich vor allem dadurch überleben, dass sie herrschende Positionen auf verschiedenen Feldern besetzen und durch ihre sozialen Netze die Reproduktion der herrschenden Gruppe an die erste Stelle setzen (2004a: 474). Es lohnt sich übrigens, an dieser Stelle ergänzend Michael Hartmanns Studie (1996) über gegenwärtige »Leistungseliten« in Deutschland zu lesen. Bourdieus Analyse der veränderten Rolle des Bildungswesens hat mehrere interessante Pointen. Hierzu gehört das auf der Basis seiner Theorie und Empirie gewonnene Ergebnis einer veränderten Struktur der herrschenden Klasse. Die neuen Führungspersönlichkeiten auf dem ökonomischen Feld stützen ihre Position weder auf ihre Herkunft noch auf ihre schulische Kompetenz, aber sie verdanken sie ihrer Herkunft und ihrem schulischen Titel. Sie sind weder Techniker noch Intellektuelle, weder Geburtsadel noch Klerus. Bourdieu bezeichnet sie als Staatsadel (2004a: 463). Ihre höchste Position, der Ort der Macht, befindet sich genau an der Schnittstelle zwischen Banken, Industrie und Staat (2004a: 400). Er wird besetzt von Leuten mit den prestigereichsten schulischen Titeln, großem symbolischen Kapital (oft adelig, öffentliche Ehrungen, vornehme Clubs), großem sozialen Kapital (ererbt und/ oder durch Eheschließung), mit Tätigkeit in Kabinetten und Aufsichtsräten und mit Herkunft aus Pariser Bürgertum oder Adel (2004a: 404). Aber er ist eben ein Ort, der die statistische Verteilung durch das Bildungssystem, den Erwerb von Titeln und die unsichere, kündbare Beschäftigung voraussetzt. Die intermediäre, geradezu widersprüchliche Position dieser Elite kommt am besten darin zum Ausdruck, dass sie zwar das ökonomische Feld beherrscht, aber eine Arbeitnehmerschaft ist (2004a: 409). Als solche ist sie gleichzeitig beherrscht. Dass es noch rein Herrschende gibt, die in keiner Hinsicht beherrscht werden, scheint Bourdieu zu bezweifeln. <?page no="149"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M+Marginalie]__Rehbein__Soziologie_Bourdieus(3)___[Druck-PDF]/ 23.05.2016/ Seite 150 <?page no="150"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M+Marginalie]__Rehbein__Soziologie_Bourdieus(3)___[Druck-PDF]/ 23.05.2016/ Seite 150 www.claudia-wild.de: [UTB-M+Marginalie]__Rehbein__Soziologie_Bourdieus(3)___[Druck-PDF]/ 23.05.2016/ Seite 151 151 5 Differenz und Distinktion In den »Feinen Unterschieden« wendet Bourdieu seine Ökonomie der Praxis auf einen Gegenstandsbereich an, der sich einer soziologischen Betrachtung zu entziehen scheint, auf den Geschmack. Bourdieu fordert, den Geschmack und die herrschenden Standards des Schönen und Angemessenen wie alle anderen Formen der Kultur zu betrachten (1982c: 26). Damit werden die Standards zu Phänomenen, deren soziokulturelle Grundlagen erforschbar sind. Der Schein des per se Gültigen und Heiligen wird ihnen genommen. Diese Betrachtungsweise des Geschmacks ist der philosophischen Ästhetik ebenso entgegengesetzt wie den Wirtschaftswissenschaften. 1 Beide gehen von einem zeitlosen und nicht weiter hinterfragbaren Subjekt aus. Die Ökonomen setzen voraus, dass Gegenstände objektive Eigenschaften hätten, die für alle gleich seien, während die Ästheten die ästhetische Bewertung der Gegenstände für eine interesselose Leistung halten (1982c: 17, 172). Demgegenüber möchte Bourdieu die ästhetische Bewertung von Gegenständen an die ethnologisch verstandene Kultur und die soziologisch verstandene Gesellschaft zurückbinden. Welche sozialen Bedingungen führen zu bestimmten ästhetischen Bewertungen, zur Erklärung bestimmter Bewertungen als legitim und zur Fähigkeit der Anwendung dieser legitimen Bewertungen? Bourdieu geht davon aus, dass ästhetische Bedürfnisse und Fähigkeiten durch die Sozialisation und die soziale Laufbahn erworben werden. Seine These lautet, sie beruhten primär auf dem Ausbildungsgrad, sekundär auf der sozialen Herkunft (1982c: 18). Damit schreibt er der sozialen Laufbahn eine größere Unabhängigkeit von der sozialen Herkunft zu als noch in den Arbeiten zum Bildungssystem. Wie in diesen Arbeiten erkennt Bourdieu allerdings eine hierarchische Differenzierung der kulturellen Bedürfnisse und Fähigkeiten. Die Oberklassen bestimmen den legitimen Geschmack. Genauer gesagt, die Hierarchie der ästhetischen Einstellungen entspricht der Hierarchie der Klassen. Auch die unterschiedlichen Künste lassen sich Bourdieu zufolge in eine soziale Hierarchie einordnen, indem gesellschaftlich weniger anerkannte Künste von den niederen Klassen kon- 1 Hier wie an vielen Stellen konzipiert Bourdieu die Philosophie etwas zu einheitlich, um ein epistemologisches Paar zu konstruieren. Die Ästhetik von Denkern wie Nietzsche, Benjamin oder Deleuze erwähnt er beispielsweise nicht, denn das würde den Gegensatz zu kompliziert und uneindeutig gestalten. Diese Einseitigkeit sollte man nicht unbedingt und sofort gegen Bourdieu ins Feld führen, sondern zunächst ihre Funktion verstehen. Geschmack ästhetische Bewertung <?page no="151"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M+Marginalie]__Rehbein__Soziologie_Bourdieus(3)___[Druck-PDF]/ 23.05.2016/ Seite 152 152 5 Differenz und Distinktion sumiert werden. Aus diesem Grund sei der Geschmack ein guter Indikator für die Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Klasse. Das Verhältnis von sozialer Klasse und Geschmack unterliegt insofern einer Ökonomie der Praxis, als die verschiedenen sozialen Gruppen versuchen, ihren Geschmack als den legitimen durchzusetzen und ihn gleichzeitig so einsetzen, dass er mit Bezug zum gegenwärtig legitimen Geschmack die bestmögliche Bewertung erfährt. Soziale Herkunft und Bildung verschaffen ein bestimmtes kulturelles Kapital, das einen bestimmten Geschmack mit sich bringt. Der Geschmack entspricht letztlich der sozialen Position, die wiederum auf der Verfügung über ökonomisches und kulturelles Kapital beruht. Innerhalb jeder Klasse gibt es unterschiedliche Strategien, unterschiedliche Ansprüche und unterschiedliche Laufbahnen. Trotz identischer sozialer Klasse sind damit die Ausprägungen des Geschmacks nicht identisch. Aber sie entsprechen der sozialen Position, indem jede Klasse nur bestimmte Lebensstile ermöglicht, und zwar kulturell wie ökonomisch (1982c: 12). »Nicht alles ist mit allem vereinbar, vielmehr erstellen die klassen- oder fraktionsspezifischen Präferenzen unterschiedliche und in sich kohärente Systeme.« (1982c: 13) Das Feld der Kultur und die Definitionen des Geschmacks sind Bourdieu zufolge Gegenstand sozialer Kämpfe. Einigkeit herrscht nur darüber, die sozialen Bedingungen des Kampfs, also die geteilte Illusio, nicht zu thematisieren (1982c: 33). Und Einigkeit herrscht über das Ziel, die eigene soziale Position zu erhalten oder zu verbessern (1982c: 210). Im Kampf geht es um die Macht über die Klassifikationssysteme, die den Vorstellungen, Bewertungen und Definitionen zu Grunde liegen (1982c: 748). Es geht auch um die Mobilisierung der einzelnen sozialen Gruppen. Und es geht um die Macht über die symbolische Darstellung und Bewertung der Klassifikationssysteme, in erster Linie um sprachliche Ausdrucksweisen und Bedeutungen, die mit ihnen verbunden werden. Jede Gruppe versucht, das Feld so zu verändern, dass die eigenen Bewertungen, der eigene Lebensstil und das eigene Kapital im Wert steigen. Zugleich versucht jede Gruppe und jedes Individuum, innerhalb des geltenden Systems das Beste aus den eigenen Voraussetzungen zu machen. So ändern sich die Konfigurationen auf dem Feld ständig, und zwar auf ökonomische Weise. Eine höhere Zahl an Menschen mit einem bestimmten Kapital senkt den Wert dieses Kapitals, mächtige Gruppen schaffen neue Zugangsbedingungen und verwandeln ihr altes Kapital in neue, jetzt seltenere Formen von Kapital usw. In den »Feinen Unterschieden« wird nicht die Geschichte des Geschmacks untersucht, also nicht die Dynamik der Kämpfe, sondern nur ein momentaner Ausschnitt, nämlich die Situation im Frankreich der Sechzigerjahre (1982c: 381), auch wenn Bourdieu im Vorwort zur deutschen soziale Klasse und Geschmack Kultur Gegenstand sozialer Kämpfe <?page no="152"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M+Marginalie]__Rehbein__Soziologie_Bourdieus(3)___[Druck-PDF]/ 23.05.2016/ Seite 152 www.claudia-wild.de: [UTB-M+Marginalie]__Rehbein__Soziologie_Bourdieus(3)___[Druck-PDF]/ 23.05.2016/ Seite 153 5 Differenz und Distinktion 153 Übersetzung schreibt, die Untersuchung lasse sich prinzipiell auf andere geschichtete Gesellschaften übertragen (siehe 5.3). Die Analyse ist also zeitlich und nationalstaatlich beschränkt. Ferner konzentriert sie sich auf einige beobachtbare Merkmale des Geschmacks. Diese letztere Beschränkung ist methodologisch begründet. »Lässt sich der gesamte Lebensstil einer Klasse bereits aus deren Mobiliar und Kleidungsstil ablesen, dann nicht allein deshalb, weil in diesen Merkmalen sich die ihre Auswahl beherrschenden ökonomischen und kulturellen Zwänge objektivieren; vielmehr auch, weil die gesellschaftlichen Verhältnisse, die in diesen vertrauten Dingen gegenständliche Gestalt gewinnen […] sich vermittels zutiefst unbewusster körperlicher Empfindungen und Erfahrungen aufzwingen.« (1982c: 137; vgl. 45) Bourdieu geht hier wie an anderen Orten von der Einheitlichkeit des Habitus aus (siehe 3.1). Es ist nicht notwenig, alle Ausprägungen des Habitus zu untersuchen, sondern er kann an wenigen Beispielen exemplifiziert werden. Die Formen der Praxis eines Individuums sind einander stilistisch ähnlich, weil sie denselben Bedingungen entspringen, also auf derselben strukturierten und strukturierenden Struktur beruhen (1982c: 281). Jede Handlung eines Individuums ist gleichsam eine Metapher jeder anderen. »Das opus operatum weist systematischen Charakter auf, weil dieser bereits im modus operandi steckt« (1982c: 282; vgl. 1992c: 31). Ferner ist der Habitus innerhalb einer sozialen Gruppe ähnlich, weil die Existenzbedingungen innerhalb der Gruppe ähnlich sind. Und sie unterscheiden sich von denen anderer Gruppen (1982c: 278). Damit ist der Ansatz benannt, der dem Werk im französischen Original den Namen gab, die Distinktion. 2 Die Klassen unterschieden sich in ihren Existenzbedingungen und in ihren Lebensstilen voneinander. Diese Unterscheidung ist passiv, indem die Menschen durch soziale Herkunft und Laufbahn nun einmal so geworden sind, dass sie sich unterschiedlichen Klassen zuordnen lassen. Hierzu gesellt sich eine aktive Unterscheidung, die Bestandteil der Kämpfe und Strategien der unterschiedlichen sozialen Gruppen ist. Jede Gruppe sucht sich von den sozial benachbarten Gruppen aktiv zu unterscheiden. Sie verwandelt den zwangsläufig vorhandenen Unterschied in eine symbolisch bekräftigte Unterscheidung, die innerhalb der Gruppe stets positiv gedeutet wird und in den anderen Gruppen, insbesondere in den benachbarten, negativ. Unterscheidung ist für Bourdieu 2 Die Distinktion nimmt Papilloud (2003) zum Ausgangspunkt seiner Bourdieu-Interpretation (siehe 5.3). Einheitlichkeit des Habitus Distinktion <?page no="153"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M+Marginalie]__Rehbein__Soziologie_Bourdieus(3)___[Druck-PDF]/ 23.05.2016/ Seite 154 154 5 Differenz und Distinktion die wichtigste Leistung des Habitus. Er setzt Unterschiede und bewertet diese gemäß den objektiven Unterschieden, die zwischen ihm und anderen Habitus bestehen. Der »Habitus ist Erzeugungsprinzip objektiv klassifizierbarer Formen von Praxis und Klassifikationssystem (principium divisionis) dieser Formen« (1982c: 137). »Die feinen Unterschiede« gelten als allgemeines soziologisches Werk, weil sie anhand des Geschmacks die Gesamtheit der Habitus eines Nationalstaats zueinander in Relation setzen (1992c: 31). Sie führen die aktiven Unterscheidungen auf die passiven Unterschiede und diese auf unterschiedliche Lebensbedingungen zurück, insbesondere auf Unterschiede in der sozialen Herkunft und Laufbahn. Die Rückführung geschieht in drei Schritten. Im ersten Teil des Werks wird aufgewiesen, dass nicht in allen Gruppen dasselbe Verhältnis zum legitimen Geschmack besteht und dass die Unterschiede auf Differenzen in der sozialen Herkunft, der Ausbildung und der Beziehung zwischen Herkunft und Ausbildung beruhen. Der zweite Teil skizziert die Gesamtheit der Unterschiede im Geschmack und setzt sie zur Gesamtheit der Unterschiede in den Existenzbedingungen und Laufbahnen in Beziehung, genauer gesagt: er zeigt die Bedingungen und die Praxisformen des Habitus verschiedener sozialer Gruppen in einem relationalen Schema. Im dritten Teil werden die Gruppen drei Klassen zugeordnet. Innerhalb der Klassen werden Habitus, Kapital, relative Position im sozialen Raum, Laufbahn und Verhältnis zueinander genauer untersucht, um auf- und absteigende Fraktionen innerhalb der Klassen zu unterscheiden. »Die feinen Unterschiede« sind aus mehreren Gründen nicht leicht zu verdauen. 3 Erstens ist bereits das Vorhaben anstößig, den Geschmack auf gesellschaftliche Verhältnisse zurückzuführen- - zumal es sich dabei auch um den eigenen Geschmack handelt. Insbesondere für Intellektuelle haben Kulturgüter die Aura des Heiligen, vielleicht gar des einzig Reinen und Hehren in einer ansonsten schmutzigen sozialen Welt. Die Aura scheint ihnen in den »Feinen Unterschieden« genommen zu werden. Der Intellektuelle Bourdieu wird damit zum Nestbeschmutzer. Er hat jedoch wiederholt betont, die Rückführung der Kultur auf soziale Bedingungen entwerte sie nicht, ähnlich wie Wissenschaft durch den »Homo academicus« nicht zur Ideologie erklärt wird. Dennoch bleiben beide Werke anstößig. »Die feinen Unterschiede« sind zweitens schwierig, weil sich höchst anschauliche Passagen über den Alltag mit abstrakten wissenschaftstheoretischen Überlegungen in scheinbar beliebiger Folge abwechseln. Daneben finden sich Ausführungen zur Politik, zur Wissenschaftsgeschichte, zur Kunsttheorie, 3 Eine genaue Erläuterung des Werkes und seines Aufbaus liefern Bremer et al. (2009). unterschiedliche Lebensbedingungen <?page no="154"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M+Marginalie]__Rehbein__Soziologie_Bourdieus(3)___[Druck-PDF]/ 23.05.2016/ Seite 154 www.claudia-wild.de: [UTB-M+Marginalie]__Rehbein__Soziologie_Bourdieus(3)___[Druck-PDF]/ 23.05.2016/ Seite 155 5.1 Geschmack 155 zur Begrifflichkeit, zu Ethnologie, Sport, Familie usw. Die Komplexität wird nicht durch eine klare Trennung der verschiedenen Ebenen reduziert. Sie scheint mir sowohl strategisch wie systematisch begründet zu sein (vgl. 1982c: 784f ). Wie zu Beginn des Buches erwähnt, wollte Bourdieu mit seinem komplizierten Stil der Gefahr begegnen, vereinfacht und missverstanden zu werden. Gleichzeitig sollen komplexe Zusammenhänge der Wirklichkeit auch in der schriftlichen Darstellung komplex erscheinen. Darüber hinaus lässt sich in den »Feinen Unterschieden« eine Systematik erkennen. Das Werk zerfällt, wie gesagt, in drei Teile, die aufeinander aufbauen. Wie in Marx’ »Kapital« werden dieselben Begriffe auf jeder Ebene angereichert und damit komplexer. Sie haben nicht mehr exakt dieselbe Bedeutung und nicht mehr exakt denselben Bezug. Es ist daher nicht möglich, in der Exegese unreflektiert Passagen aus einem Teil des Werks durch Textstellen aus anderen Teilen zu erläutern. Man muss beim Lesen jeden Begriff stets neu interpretieren und einer Ebene-- oft auch mehreren Ebenen- - zuordnen. Etwas Verwirrung wird sicher daraus erwachsen, dass Bourdieu Begriffe nicht immer konsistent und dem jeweiligen Kontext entsprechend verwendet. Seine eigene Systematik durchbricht er ständig durch Vor- und Rückgriffe. »Die feinen Unterschiede« sind nicht so sorgfältig durchkomponiert wie die ersten beiden Bände des »Kapitals«. 5.1 Geschmack Gegenstand der »Feinen Unterschiede« ist der Geschmack, den Bourdieu (etwa im Untertitel des Werkes) auch als »gesellschaftliche Urteilskraft« bezeichnet. Der Begriff des Geschmacks wird also sehr umfassend gebraucht. Er bezeichnet alle Formen des gesellschaftlichen Einordnens, Wahrnehmens und Beurteilens (1982c: 104). Die leibliche Konnotation des Begriffs, das Schmecken, ist ausdrücklich mitgemeint. Der Geschmack hat seine Wurzel in der Leiblichkeit, wird durch die Kultur ausgebildet und gesellschaftlich differenziert. Ethnologie und Soziologie müssen daher- - wie stets bei Bourdieu-- Hand in Hand gehen (1982c: 171). Mittels des Geschmacks nimmt man Gegenstände und Handlungen wahr, beurteilt sie als gut oder schlecht, schön oder hässlich und ordnet sie bestimmten sozialen Universen und Gruppen zu. Damit umfasst der Geschmack mehr als das subjektive Gefallen und mehr als die Ästhetik. Er beinhaltet auch die sozialen und kulturellen Unterschiede zwischen den Menschen. Der Geschmack ist die »Erzeugungsformel«, die dem Lebensstil zu Grunde liegt (1982c: 283). Und er ist die Grundlage dessen, »womit man sich selbst einordnet und von den anderen eingeordnet wird« (1982c: 104). gesellschaftliche Urteilskraft Lebensstil <?page no="155"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M+Marginalie]__Rehbein__Soziologie_Bourdieus(3)___[Druck-PDF]/ 23.05.2016/ Seite 156 156 5 Differenz und Distinktion Der Geschmack ist für Bourdieu im Anschluss an die Untersuchungen zum Bildungssystem aus mehreren Gründen ein geeigneter Gegenstand. Erstens hat Bourdieu entdeckt, dass neben dem ökonomischen Kapital der Eltern auch das kulturelle Kapital für die Erlangung einer sozialen Position von Bedeutung ist. Und das kulturelle Kapital eines Menschen entspricht meist ebenso der sozialen Herkunft wie das ökonomische Kapital. Daher ist der Geschmack ein guter Indikator der sozialen Position wie auch der sozialen Laufbahn. Zweitens bietet der Geschmacksbegriff eine gute Möglichkeit, den Habitusbegriff zu veranschaulichen. Der Geschmack ist durch die soziale Herkunft und Laufbahn bedingt, gleichsam geeicht (1982c: 756). Aber er ist keine passive Größe, sondern-- wie Kants Urteilskraft- - ein aktives Vermögen. Er ist zugleich bedingt und bedingend, indem er die Wirklichkeit be- und verurteilt, die Urteile nicht nur zur Wahrnehmung nutzt, sondern auch zur Einordnung anderer und zur Absetzung von ihnen. »Er verwandelt objektiv klassifizierte Praxisformen, worin eine soziale Lage sich (über seine Vermittlung) selbst Bedeutung gibt, in klassifizierende, d. h. in einen symbolischen Ausdruck der Klassenstellung dadurch, dass er sie in ihren wechselseitigen Beziehungen und unter sozialen Klassifikationsschemata sieht.« (1982c: 284) Das wichtigste Merkmal des Geschmacks ist für Bourdieu die Unterscheidung, die Distinktion, die auf sozialen Unterschieden beruht und sich zu einer wechselseitigen Unterscheidung auswachsen kann. Die Unterscheidung konzipiert Bourdieu als Gegensatz (1982c: 286). Bourdieu bezieht sich-- wie andere aus seiner Generation-- auch gerne auf Spinozas Prinzip, dass alle Bestimmung Negation sei. Beim Geschmack gelte in besonderem Maße, dass alle Bestimmung Verneinung ist (1982c: 105f ). Er ist zuerst Ekel und Widerwille gegenüber dem Geschmack der anderen. Bourdieu will nicht behaupten, das Streben nach Distinktion sei das Prinzip menschlichen Handelns schlechthin (vgl. aber auch 1997d: 173; 2001f: 172). In der Tat sind wohl nicht alle Lebensstile und Elemente eines Lebensstils auf Distinktion ausgerichtet. Es dürfte aber auch nicht ganz zutreffen, dass sich jeder Lebensstil der modernen Gesellschaft an einem sozial höher stehenden orientiert oder gegen einen niedrigeren abgrenzt, wie Bourdieu behauptet (1997d: 211). Das sind zwar die häufigsten Fälle, aber nicht die einzigen. Andere Lebensstile (oder deren Elemente) stiften Identität (grenzen gegen ein Außen ab), geben Sinn oder bereiten einfach nur Genuss. Heute gibt es sogar ein gutes Beispiel für die Übernahme eines Elements der Unterklassen durch die oberen: Fußball. Vielleicht wären kulturelles Kapital Distinktion <?page no="156"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M+Marginalie]__Rehbein__Soziologie_Bourdieus(3)___[Druck-PDF]/ 23.05.2016/ Seite 156 www.claudia-wild.de: [UTB-M+Marginalie]__Rehbein__Soziologie_Bourdieus(3)___[Druck-PDF]/ 23.05.2016/ Seite 157 5.1 Geschmack 157 auch Aspekte des Nationalismus so zu deuten. Diese Form der Kritik bezeichnet Hermann Schwengel als »empirische Kritik« an Bourdieu (1993: 137). Er argumentiert, dass sie bei Bourdieu selbst schon angelegt sei-- dass Bourdieus Ansatz nicht in den empirischen Begriffen aufgehe. Das ist zweifellos richtig. Die Kritik kann Bourdieus Ansatz insgesamt nicht treffen, sondern nur verhindern, dass man »Die feinen Unterschiede« unreflektiert auf die Gegenwart überträgt. Der fundamentale Gegensatz im Bereich des Geschmacks besteht laut Bourdieu zwischen distinguiert und vulgär bzw. legitim und illegitim (1982c: 286). Diesen Gegensatz führt Bourdieu auf einen sozialen Gegensatz zwischen Herrschenden und Beherrschten zurück (siehe 5.4). Der distinguierte Lebensstil beinhaltet den legitimen Anspruch auf Überlegenheit gegenüber den Lebensweisen, die von den Zwängen und Interessen des Alltags beherrscht werden (1982c: 103f ). Da die legitime Ästhetik umfassend anerkannt wird, vergisst man, dass die Definition von Kunst auch Gegenstand von Klassenkämpfen ist (1982c: 91). Bourdieu sieht eine soziale und konzeptuelle Verwandtschaft zwischen dem legitimen Geschmack und Kants »Kritik der Urteilskraft«. Während der vulgäre Geschmack Schönheit und Güte im Gegenstand suche, lägen sie für den legitimen Geschmack in der Darstellungsweise, im Bewusstsein (1982c: 85). Kant habe seine Ästhetik im Gegensatz zum Naturalismus des Volks und zum Luxus des Adels entwickelt und damit den legitimen Geschmack des Bürgertums begründet (1982c: 773). Gleichzeitig mit Bourdieu arbeitete sich Derrida an dieser Begründung ab (1982c: 783). Laut Bourdieu hatte Derrida mit Kant gemeinsam, dass die sozialen Bedingungen der eigenen Ästhetik nicht thematisiert wurden. »Die von der Philosophie verkündete radikale Infragestellung findet ihre faktischen Schranken an den Interessen, die sich aus der Zugehörigkeit zum Feld der philosophischen Produktion ergeben« (1982c: 776). Die Begründung und Bestimmung des legitimen Geschmacks ist von primärer Bedeutung, weil sich alle Spielarten des illegitimen Geschmacks an ihm orientieren und von ihm beherrscht werden. Der legitime Geschmack hat gleichsam das Monopol über die allgemeine Geltung. Wer den legitimen Geschmack entwickelt hat, braucht nur seinem Habitus-- seiner Natur-- freien Lauf zu lassen, um sich positiv von der Masse zu unterscheiden und den größtmöglichen Profit im Bereich der Kultur zu erzielen. Die Ausbildung eines legitimen Geschmacks beruht auf der sozialen Herkunft und Laufbahn, zunächst auf dem ökonomischen Kapital, das die Beschäftigung mit Kultur erlaubt. Ökonomisches Kapital finanziert Kultur und schafft Distanz zu den ökonomischen Zwängen, also zu einem ökonomisch erzwungenen Geschmack. Die Herrschenden können ihrem Geschmack legitime Ästhetik Bestimmung des-legitimen Geschmacks <?page no="157"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M+Marginalie]__Rehbein__Soziologie_Bourdieus(3)___[Druck-PDF]/ 23.05.2016/ Seite 158 158 5 Differenz und Distinktion freien Lauf lassen, mit den Gegenständen spielen, während der vulgäre Geschmack äußeren Diktaten unterliegt. Dabei unterscheiden sich die Unterschichten, die über kein nennenswertes Kapital verfügen, von den Mittelschichten darin, dass diese ihre Not als Tugend deuten und keinerlei Ansprüche erheben. Die Ablehnung der Prätention haben sie mit den Oberschichten gemeinsam (1982c: 115). Gleichzeitig bilden sie die negative Kontrastfolie für alle Ausprägungen des Geschmacks, die nicht ausschließlich von der ökonomischen Not erzwungen sind (1982c: 107). Dass die Unterschichten zugleich Kontrastfolie sind und sich mit den Oberschichten berühren, kann man als Widerspruch lesen. Ich meine jedoch, dass es sich hierbei um einen dialektischen Widerspruch handelt. Jeder geschmackliche Gegensatz ermöglicht neue Gegensätze, die den früheren Gegensatz nicht beseitigen, sondern voraussetzen und modifizieren, weil sie spezieller sind. Der fundamentale Gegensatz zwischen legitimem und illegitimem Geschmack hat den Gegensatz zwischen Prätention und Vulgarität innerhalb des letzteren zur Folge. Hieraus ergeben sich weitere Gegensätze, die auch den legitimen Geschmack nicht unberührt lassen, weil die Prätention auch in die Oberschichten eindringt und zu neuen Unterscheidungen führt. Alle Unterscheidungen werden von Gruppen als Strategien eingesetzt, ihre soziale Position kulturell zu verarbeiten, eine ihr angemessene Distinktion zu erzielen und ihr Kapital zu größtmöglichen Gewinnen einzusetzen. Bourdieu behandelt den legitimen Geschmack nicht anders als den vulgären. Er fasst jede Form des Geschmacks als eine Distinktionsstrategie auf, die der sozialen Position entspricht. Jeder Geschmack meint, in der Natur verankert zu sein, und empfindet jeden anderen als willkürlich (1982c: 105f ). Bei Streitigkeiten um Ästhetik und Geschmack geht es Bourdieu zufolge darum, den eigenen (willkürlichen) Geschmack als legitim durchzusetzen und den anderen Geschmack als willkürlich darzustellen. Der legitime Geschmack gilt gesellschaftlich als natürlich und normierend, jeder andere als Abweichung. Innerhalb der dominierten sozialen Gruppen gelten andere Formen des Geschmacks als richtig. Menschen aus ähnlichen Verhältnissen mit einer ähnlichen Laufbahn haben Bourdieu zufolge einen ähnlichen Geschmack und verhalten sich ähnlich. Sie erkennen einander und sind einander sympathisch (1982c: 374f ). 4 Noch die kleinsten Regungen des Körpers werden als soziale und moralische Physiognomie gelesen, als Ausdruck eines ähnlichen oder abweichenden, also widernatürlichen, Geschmacks (1982c: 310). 4 »Liebe ist auch eine Weise, im anderen das eigene Schicksal zu lieben, sich auch in seinem eigenen Schicksal geliebt zu fühlen.« (1982c: 377) vulgärer Geschmack Prätention Distinktionsstrategie <?page no="158"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M+Marginalie]__Rehbein__Soziologie_Bourdieus(3)___[Druck-PDF]/ 23.05.2016/ Seite 158 www.claudia-wild.de: [UTB-M+Marginalie]__Rehbein__Soziologie_Bourdieus(3)___[Druck-PDF]/ 23.05.2016/ Seite 159 5.1 Geschmack 159 Im Frankreich der Sechzigerjahre war weit mehr als heute deutlich, welcher Geschmack als legitim gelten konnte. Der Geschmack des Großbürgertums wurde von Menschen geprägt, die selbst dem Großbürgertum entstammten und die Eliteschulen besucht hatten. Wie Bourdieu in den Untersuchungen zum Bildungssystem immer wieder betont hat, verfügten diese Menschen über einen distinguierten Habitus, der für den Zugang zur herrschenden Klasse erforderlich war (siehe 4.1). Ohne »Statur, Haltung, angenehmes Äußeres, Auftreten, Diktion und Aussprache, Umgangsform und Lebensart« hatte auch ein Bildungstitel keinen Wert (1982c: 159). Der Habitus der Herrschenden zeichnet sich durch Ungezwungenheit aus. Das ist methodologisch insofern ein Problem, als sich Ungezwungenheit schlecht durch Fragebögen ermitteln und messen lässt. In den Vorüberlegungen und Pretests kristallisierten sich jedoch einige einfache Fragen heraus, mit denen weniger Wissen von als ein prinzipielles Verhältnis zu der legitimen Kultur ermittelt werden sollte (siehe 5.5). Bourdieus Untersuchungen ergaben beispielsweise, dass die herrschenden Gruppen mit der klassischen Musik besonders gut vertraut waren, aktiv wie passiv (1982c: 41). »Die Musik verkörpert die radikalste, die umfassendste Gestalt jener Verleugnung der Welt, zumal der gesellschaftlichen, welche das bürgerliche Ethos allen Kunstformen abverlangt.« (1982c: 42) 5 Am Verhältnis zur klassischen Musik ließen sich die Klassen deutlich voneinander unterscheiden. Das galt weniger für die Kenntnis anerkannter Maler. Aber auch hier war das Verhältnis zu ihnen ein guter Indikator. Die Unterschichten nannten nur die bekanntesten und anerkanntesten Maler, deren Anerkennung sie für sicher hielten. Sie nannten sehr häufig auch Henri Rousseau (der in den höheren Schichten nie genannt wurde), wahrscheinlich weil sie ihn mit Jean-Jacques Rousseau verwechselten (1982c: 157). So unterschieden sich die Klassen und Gruppen in ihren Antworten deutlich voneinander, wenn nur die Fragen richtig gestellt waren. Den Zusammenhang zwischen sozialer Herkunft, Laufbahn und sozialer Position fasst Bourdieu in den »Feinen Unterschieden« etwas lockerer als in den Arbeiten zum Bildungssystem (1982c: 39). Gleichzeitig fasst er ihn begrifflich und methodisch strenger. Inzwischen verfügt er über die Begriffe des Habitus, des Kapitals und der Praxis; und er deutet die Praxis als Resultat einer Ökonomie. Weiterhin meint er, es bestehe eine enge Beziehung 5 Musik sei die reinste und spirituellste Kunst, gleichzeitig aber auch die körperlichste. Mit Stimmungen verknüpft, »die nicht minder Körperzustände sind, entzückt sie, trägt sie mit sich fort, bewegt und erregt sie: sie ist weniger jenseits als diesseits des Sagbaren aufzufinden, in jenen körperlichen Gesten und Bewegungen«. Daher werde über Musik ähnlich gesprochen wie in der Mystik über Gott (1982c: 142). Geschmack des Großbürgertums Musik Maler soziale Herkunft, Laufbahn und soziale Position <?page no="159"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M+Marginalie]__Rehbein__Soziologie_Bourdieus(3)___[Druck-PDF]/ 23.05.2016/ Seite 160 160 5 Differenz und Distinktion zwischen Praxis und der sozialen Herkunft, die sich im Beruf des Vaters fokussiert (1982c: 32). Er kann nun hinzufügen, dass die soziale Herkunft sich umso stärker auswirkt, je weiter man von den Bereichen der legitimen Kultur entfernt ist (1982c: 39). Im Bereich der legitimen Kultur kann der Bildungstitel Mängel der sozialen Herkunft stärker ausgleichen. Das gilt vor allem für die höchsten Stufen des Bildungssystems (1982c: 115). Gemäß der Ökonomie der Praxis bestimmt Bourdieu den Wert von Bildung und Geschmack nun durch eine Analyse des Marktes (1982c: 120). Und wie der Makler dem Kleinanleger an der Börse nicht nur Information, sondern auch Instinkt voraushat, so wissen die Großbürger ihr kulturelles Kapital effizienter einzusetzen als die Nachholenden und erst recht als die Ungebildeten. »Der Erwerb der kulturellen Kompetenz ist […] nicht zu trennen vom unmerklichen Erwerb eines Gespürs für das richtige Anlegen kultureller Investitionen«, eines »Anlage-Sinns« (1982c: 151). Der Anlagesinn verschafft Gewinne, ohne sie zu suchen-- und er lässt die Profiteure noch dazu als völlig uneigennützig dastehen, weil die Gewinne nicht gesucht werden. Damit steigt der Profit proportional zum Kapital (und dessen Qualität), anstatt sich an einer durchschnittlichen Profitrate zu orientieren (1982c: 154). Darüber hinaus erkennen die Herrschenden Marktbewegungen schneller und besser als die Beherrschten-- und können auf sie reagieren, indem sie eine Sorte von Kapital in eine andere transformieren. Am Beispiel von »Titel und Stelle« (siehe 4.1) hat Bourdieu die Anpassung des Großbürgertums an die Veränderung der Unternehmensstrukturen und des Bildungssystems durch Transformation von ökonomischem in kulturelles Kapital bereits untersucht. Hierauf greift er in den »Feinen Unterschieden« an zentraler Stelle zurück (1982c: 225ff ). 5.2 Sozialer Raum Die Gegensätze zwischen den Geschmäckern und ihre soziale Grundlage versucht Bourdieu im zweiten Teil der »Feinen Unterschiede« als Totalität zu erfassen. Er liefert einen Überblick über die französische Sozialstruktur der Sechzigerjahre und die sozial unterschiedlichen Ausprägungen des Geschmacks. Die Sozialstruktur wird nicht als Pyramide, Zwiebel oder Schichtung konzipiert, sondern als sozialer Raum, den man wie in der Geographie als Landkarte darstellen kann (siehe 3.4). Die Position in der Sozialstruktur wird durch das Kapital bestimmt, über das ein Mensch verfügt. Bourdieu hat allerdings entdeckt, dass hierbei nicht nur ökonomisches Kapital und nicht nur der aktuelle Besitz von Bedeutung sind. Die soziale Herkunft und die Laufbahn bestimmen die Fähigkeit, das Kapital Analyse des Marktes Anlagesinn Überblick über die französische Sozialstruktur <?page no="160"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M+Marginalie]__Rehbein__Soziologie_Bourdieus(3)___[Druck-PDF]/ 23.05.2016/ Seite 160 www.claudia-wild.de: [UTB-M+Marginalie]__Rehbein__Soziologie_Bourdieus(3)___[Druck-PDF]/ 23.05.2016/ Seite 161 5.2 Sozialer Raum 161 effizient einzusetzen, auf die Marktkonjunktur reagieren zu können und mit der gesellschaftlichen Entwicklung Schritt zu halten oder sie gar zu beeinflussen. Das ökonomische Kapital allein bestimmt zwar die vertikale Position, aber noch nicht die horizontale. Eine gewisse Menge ist für jede soziale Position erforderlich, aber man muss es auch einzusetzen wissen, und zwar in mehrerlei Hinsicht. Zunächst muss man den ökonomischen Markt kennen, um ökonomisches Kapital zu vermehren. Sodann muss man den Lebensstil einer sozialen Gruppe beherrschen, um von ihr akzeptiert zu werden. Schließlich muss sich der Lebensstil von dem anderer Gruppen positiv abheben. Diese Fähigkeiten sind Bestandteil des kulturellen Kapitals. Nur wenn kulturelles und ökonomisches Kapital einander entsprechen, kann man sie effizient einsetzen. Beide Arten des Kapitals erwirbt man durch die soziale Herkunft und die Laufbahn. Mit der Geburt werden bereits zahlreiche Laufbahnen ausgeschlossen. Einem ererbten Kapital entspricht ein Bündel möglicher Lebensläufe (1982c: 188). Mit jedem Abschnitt der Laufbahn werden weitere Möglichkeiten ausgeschlossen. Der Eintritt ins Berufsleben legt die soziale Position und den Lebensstil grundsätzlich fest. Zunehmend findet man sich mit der eigenen Position ab, passt die Wünsche und Erwartungen an die objektiven Möglichkeiten an. Diese Anpassung bezeichnet Bourdieu als »soziales Altern« (1982c: 189). Soziales Altern ist für Bourdieu nicht biologisch, aber auch nicht substanziell-- etwa als konservativ oder weise werden-- bestimmt. Vielmehr gibt es so viele Arten des sozialen Alterns wie soziale Klassen und Klassenfraktionen (vgl. 1982c: 554). Der Zusammenhang zwischen Herkunft, Laufbahn und Position sowie Lebensstil ist nicht deterministisch und deduktiv zu verstehen. Erstens hat die wissenschaftliche Analyse statistischen Charakter (1982c: 187f ). Zweitens bezieht sie sich auf Gruppen, weniger auf Individuen. Das heißt, jedes Individuum wird in einzelnen Merkmalen von den Charakteristika einer Gruppe abweichen. Drittens bewirkt das Zusammentreffen von Habitus und Wirklichkeit stets neue Konjunkturen und Merkmale, die nicht deduzierbar sind. Deduktiven Charakter hat nicht die Erklärung eines konkreten Falls, sondern der Zusammenhang der Begriffe in Bourdieus Theorie. Bourdieu fasst ihn sogar in einer Formel zusammen: Habitus x Kapital + Feld =-Praxis (1982c: 174). Damit ist gemeint, dass die in der Lebensgeschichte erworbenen Handlungsressourcen und Handlungsmuster (Kapital und Habitus) die gegenwärtigen Handlungen eines Menschen bestimmen. Aber sie finden nicht im luftleeren Raum statt, sondern in einer stets sich ändernden Wirklichkeit (Felder), die wiederum determiniert, welche Ressourcen und Dispositionen zu einem gegebenen Zeitpunkt eingesetzt werden können und sollen (Praxis). Man könnte sagen, dass zwei verschiedene soziales Altern Habitus x Kapital + Feld =-Praxis <?page no="161"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M+Marginalie]__Rehbein__Soziologie_Bourdieus(3)___[Druck-PDF]/ 23.05.2016/ Seite 162 162 5 Differenz und Distinktion Reihen aleatorisch miteinander kombiniert werden, ganz ähnlich, wie Deleuze es in der »Logik des Sinnes« (1993) beschrieben hat. Allerdings sind in der sozialen Wirklichkeit-- anders als in der Logik-- beide Reihen nicht ganz unabhängig voneinander, sondern die gegenwärtige Konjunktur des Feldes determiniert spätere Eigenschaften des Habitus und des Kapitals, während diese wiederum die Konjunktur des Feldes zu beeinflussen suchen (siehe 6.1). Daher ist die soziale Praxis vielfältig und komplex. Die Vielfalt der Praxis wird durch ein Faktorengeflecht hervorgebracht, das weder auf einen Faktor noch auf ein Zusammenwirken voneinander zu isolierender Faktoren zurückgeführt werden kann (1982c: 184f ). Vielmehr geht jeder Faktor in jeden anderen Faktor ein. Durch die Überlagerung aller Faktoren entsteht eine Überdetermination sozialer Praktiken. Innerhalb der Konfiguration schreibt Bourdieu Umfang und Struktur des Kapitals das größte funktionale Gewicht zu. Alle anderen Faktoren werden dadurch stärker geprägt, als sie ihrerseits das Kapital prägen. Diese Aussage ist nicht mehr deduktiv, sondern empirisch und daher statistisch. Nun hat Bourdieu ermittelt, dass sich Umfang und Struktur des Kapitals am deutlichsten im Beruf äußern. Daher wählt er den Beruf als Indikator der Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe. Damit fallen Menschen, die aus Altersgründen keinen Beruf haben (in Ausbildung Befindliche und Alte), sowie Marginalisierte (Arbeitslose, informell Beschäftigte, Migranten, Hausfrauen usw.) aus Bourdieus Untersuchung heraus (vgl. Blasius, Winkler 1989: 84ff ). In einem an Vollbeschäftigung orientierten Nationalstaat mag das Kriterium des Berufs plausibel gewirkt haben, heute würde es die Mehrheit der Bevölkerung aus der Erhebungspopulation ausschließen. Meines Erachtens ist allerdings auch der Status des Berufs nicht der eines deduktiven Axioms, das überzeitliche Geltung hätte, sondern eines empirisch aufgefundenen Prinzips, das für die Gegenwartsgesellschaft bestimmend war. Prinzipien dieser Art sind mit dem gesellschaftlichen Sinn verwoben, sie entsprechen genau dem, was in der Gesellschaft wichtig ist, was zählt. Eine soziale Gruppe ist für Bourdieu zunächst eine Klasse. Ganz allgemein und aus der Beobachterperspektive bestimmen sich Klassen durch unterschiedliche Lebensbedingungen (1982c: 175). Die Lebensbedingungen lassen sich analysieren nach den genannten Kriterien Kapital, Habitus und Feld. Bourdieu unterscheidet drei Klassen, die sich in erster Linie durch das Gesamtvolumen ihres Kapitals bestimmen (1982c: 196). Innerhalb der Klassen differenziert er zwischen Unterschieden in der Verfügung über kulturelles Kapital und zwischen absteigenden und aufsteigenden Fraktionen. In letzterer Unterscheidung kommt die Wirkung des Feldes zum Ausdruck. Schließlich haben die Klassen verschiedene Lebensstile, je einen anderen Habitus. Eine Klasse bestimmt sich nicht nur durch die Faktorengeflecht Umfang und Struktur des Kapitals Klasse <?page no="162"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M+Marginalie]__Rehbein__Soziologie_Bourdieus(3)___[Druck-PDF]/ 23.05.2016/ Seite 162 www.claudia-wild.de: [UTB-M+Marginalie]__Rehbein__Soziologie_Bourdieus(3)___[Druck-PDF]/ 23.05.2016/ Seite 163 5.2 Sozialer Raum 163 Stellung in den Produktionsverhältnissen, sondern auch durch den Klassenhabitus. Dieser beruht nach Bourdieu allerdings mit einer hohen statistischen Wahrscheinlichkeit auf der Stellung in den Produktionsverhältnissen (1982c: 585). Die Formulierung erinnert an die von Friedrich Engels, die Ökonomie bestimme »in letzter Instanz« den Überbau. Wichtig für Bourdieu ist jedoch der statistische Charakter des Zusammenhangs, der damit einen empirischen und keinen theoretischen Stellenwert erlangt. Durch die Vielschichtigkeit des Klassenbegriffs und den statistischen Charakter der Merkmalszuordnungen wird Bourdieus Sozialstruktur sehr komplex. Er versucht, die Komplexität zu reduzieren, indem er die Merkmale in einem Schaubild darstellt, das er als einen dreidimensionalen sozialen Raum bezeichnet (1982c: 212f; siehe Abbildung 6). Das Schaubild zeigt die Totalität der sozialen Positionen und Lebensstile. Bourdieu zufolge verhält es sich zur sozialen Wirklichkeit wie der geometrische Raum zum lebensweltlichen (1982c: 277). Es stellt Abstände, Rangordnungen, Affinitäten so dar, wie sie sich in der Alltagserfahrung offenbaren (1988c: 64). Die y-Achse des Schaubilds misst das Gesamtvolumen des Kapitals, die x-Achse das Übergewicht an ökonomischem oder kulturellem Kapital. Durch Pfeile wird angedeutet, ob die Gruppe, die eine soziale Position einnimmt, in der jüngsten Vergangenheit zu- oder abgenommen hat Vielschichtigkeit des Klassenbegriffs dreidimensionaler sozialer Raum Abbildung 6: Der soziale Raum (nach 1982c: 212f ). <?page no="163"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M+Marginalie]__Rehbein__Soziologie_Bourdieus(3)___[Druck-PDF]/ 23.05.2016/ Seite 164 164 5 Differenz und Distinktion (1982c: 216). Man ersieht beispielsweise, dass die Berufsgruppe der Landwirte ab- und die der Spitzenmanager zugenommen hat. Schließlich geben Balkendiagramme Auskunft über die soziale Herkunft jeder Gruppe. Das Diagramm in der Abbildung zeigt, dass der überwiegende Teil der Arbeiter aus den Unterschichten stammt, nur ein kleiner Teil dagegen aus dem Mittel- und Oberschichten. Entlang der Horizontalen verfügen alle Positionen über eine ähnliche Gesamtmenge an Kapital, aber die Zusammensetzung kann höchst unterschiedlich sein, damit auch der Lebensstil (1982c: 198f ). Je näher eine Position der y-Achse ist, desto mehr entsprechen kulturelles und ökonomisches Kapital einander. Je weiter links im Schema eine Position angesiedelt ist, desto größer ist das relative Übergewicht an kulturellem Kapital. So verfügen Arbeiter über mehr kulturelles Kapital als Bauern, Hochschullehrer über mehr als Handelsunternehmer, die auf derselben sozialen Stufe stehen können, aber eine ganz andere Kapitalzusammensetzung haben. Sozial am höchsten sind die Spitzenmanager angesiedelt. Die Ausübenden freier Berufe rekrutieren sich zu einem hohen Prozentsatz aus der herrschenden Klasse, oft haben die Männer sogar denselben Beruf wie der Vater (1982c: 202). Nach unten, aber auch nach links und rechts im Schaubild nimmt dieser Prozentsatz deutlich ab. Am entgegengesetzten Ende des Schaubilds ist die Klassenreproduktion noch vollkommener, rund 80 Prozent der Arbeiter stammen aus der Arbeiterklasse. Bourdieu schreibt, das Schaubild stelle die Erzeugungsbedingungen des Habitus dar, indem es Kapitalvolumen, Kapitalstruktur und zeitliche Entwicklung beider veranschaulicht (1982c: 195). 6 Über die zeitliche Entwicklung im Sinne der Laufbahn ist aus dem Schaubild jedoch wenig abzulesen. Auch die Veränderungen der Konjunktur und ihr zu Grunde liegenden Kämpfe finden keinen Eingang ins Schaubild. Es fragt sich daher, ob die 6 Heiko Geiling (2004: 38ff ) erklärt das Schaubild des sozialen Raums als Überlagerung dreier Ebenen: soziale Positionen, Lebensstile und Habitus. Mir scheint eine Ebene der Habitus im Schaubild jedoch nicht enthalten zu sein, vielmehr ist bei Bourdieu selbst eben von »Erzeugungsbedingungen des Habitus« die Rede. Auch in Geilings schematischer Erklärung des Schaubilds (2004: 39) taucht kein Begriff auf, den man mit einem Habitus in Verbindung bringen könnte. Dafür verbindet Geiling die Positionen mit politischen Einstellungen. Das ist sehr aufschlussreich für die Bourdieu-Deutung des Kreises um Michael Vester, dem Geiling zugehört (siehe 7.2). In diesem Kreis wurden »Die feinen Unterschiede« für das Verständnis des Zusammenhangs von sozialer Position, Lebensstil und Wahlverhalten fruchtbar gemacht (siehe Vester et al. 2001). Neben der Neuentdeckung des Milieubegriffs ist das sicher eine der herausragenden Leistungen des Kreises. Geiling verlegt die äußerst fruchtbare Weiterentwicklung von Bourdieus Ansatz bereits in diesen selbst. Dennoch ist seine Deutung der »Feinen Unterschiede« zur Einführung und zur Gewinnung eines Überblicks sehr hilfreich. <?page no="164"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M+Marginalie]__Rehbein__Soziologie_Bourdieus(3)___[Druck-PDF]/ 23.05.2016/ Seite 164 www.claudia-wild.de: [UTB-M+Marginalie]__Rehbein__Soziologie_Bourdieus(3)___[Druck-PDF]/ 23.05.2016/ Seite 165 5.2 Sozialer Raum 165 Darstellung des sozialen Raums durch das mittlerweile klassisch gewordene Schaubild der komplexen Argumentation des Textes gerecht wird. Bourdieu sieht denn auch die Gefahr, die dynamischen Relationen als mechanische Beziehungen zu lesen (1982c: 211). Hundert Seiten später, nach der Erläuterung der Kämpfe um den Geschmack und der Habitus, fügt er hinzu, was über sein Schaubild hinaus erforderlich wäre, um die von ihm ermittelten Relationen angemessen zu erfassen (1982c: 332f ). Zur Konstruktion des Raums der Lebensstile wäre für jede Klassenfraktion, also für jede Kapitalzusammensetzung, die generative Formel des Habitus zu ermitteln. Dann wäre zu ermitteln, wie sich die Habitus in jedem Bereich der Praxis spezifizieren, dass sie die angebotenen stilistischen Möglichkeiten verwirklichen. Durch Überlagerung der einzelnen Räume könnte man das System der Möglichkeiten eines Bereichs mit den Merkmalen eines besonderen Lebensstils in Beziehung setzen. Der soziale Raum bildet den Zusammenhang des Kapitals mit den sozialen Positionen sowie in erweiterter Form mit den Dispositionen des Handelns ab. Man sieht auf einen Blick, wie unterschiedliche Verfügungen über Kapital mit unterschiedlichen Dispositionen einhergehen. In Abbildung 6 erfasst man sofort die Affinität von Landwirten zu Anisschnaps und von Spitzenmanagern zu (teurem) Whisky. Die sozialen Positionen und Dispositionen markieren Punkte in einem Raum, der Bourdieu zufolge dem physischen Raum analog ist (2001c: 128). Dieser Vergleich suggeriert eindeutige Positionen und Abstände. Sicher unterscheiden sich die Positionen durch unterschiedliches Kapital deutlich voneinander, aber sie lassen sich nicht als eindeutige Anordnung definieren. Menschen, die durch die meisten Dimensionen des Kapitals voneinander getrennt sind, können einander (etwa durch die gemeinsame Zugehörigkeit zu einer Subkultur, durch eine gemeinsame Krankheit, durch ähnliche Vorstellungen) sehr nahe sein. So ist es zwar nicht wahrscheinlich, dass Landwirte teuren Whisky trinken, aber sie werden Fußball ebenso mögen können wie die Arbeiter. Das lässt sich mit der räumlichen Vorstellung nicht erfassen. Man kann Bourdieus sozialen Raum auch so lesen, dass er aufzeigt, welche Dispositionen durch welche Vorgaben an Kapital wahrscheinlich werden. Allerdings wird dadurch die Dynamik, die Gegenstand des gesamten Buchs nach dem Raumschema ist, vollständig verdeckt. Bourdieu schreibt nun, man könne weder alle Felder aus einem ableiten, noch müsse man für jedes Feld ein eigenes Erklärungssystem entwerfen. Selbst wenn dem zuzustimmen wäre, bleibt Bourdieu die Erläuterung der Transformation schuldig. Es ist noch die Frage, ob die herrschende Klasse auf jedem Feld den legitimen Geschmack vorgibt, ob eine Klassenfraktion auf jedem Feld gleichmäßig absteigt, ob kulturelles Kapital auf jedem Feld Raum der Lebensstile Zusammenhang des Kapitals mit den sozialen Positionen <?page no="165"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M+Marginalie]__Rehbein__Soziologie_Bourdieus(3)___[Druck-PDF]/ 23.05.2016/ Seite 166 166 5 Differenz und Distinktion gleich wertvoll ist. In seinen späteren Analysen einzelner Felder verneint Bourdieu diese Fragen, ohne allerdings das reduktive Raumschema explizit aufzugeben. In den »Feinen Unterschieden« wäre das vielleicht hilfreich gewesen, weil das Verhältnis zwischen Raum- und Feldbegriff ganz unklar bleibt (Blasius, Winkler 1989: 73). Der Begriff des Feldes wird nach der Darstellung des sozialen Raums eingeführt, aber nicht erklärt. Und er wird danach nicht einheitlich benutzt. Eine Pointe von Bourdieus späterem Feldbegriff besteht gerade darin, dass Handlungen oder Eigenschaften auf verschiedenen Feldern, zu verschiedenen Zeiten und gegenüber verschiedenen Adressaten einen unterschiedlichen Sinn haben können. Das Raumschema kann diese Pointe nicht ausdrücken. Es scheint mir zwar kaum zu bestreiten, dass das Trinken von teurem Whisky ein Distinktionsversuch sein kann, aber die Zuordnung des Whiskytrinkens zu einer bestimmten sozialen Position verfehlt meines Erachtens gerade das Entscheidende an Bourdieus eigener Sichtweise: dass sich der Sinn des Whiskytrinkens in der Relation zu anderen Menschen erst bestimmt, also auf einem Feld mit einer momentan geltenden Konjunktur (vgl. Abb.). Joseph Jurt hebt in einem Aufsatz über das literarische Feld hervor, dass das symbolische Kapital, das auf einem und für ein Feld erworben wurde, schwer auf ein anderes Feld zu übertragen sei, es habe seinen Wert fast ausschließlich auf einem bestimmten Feld (Jurt 2001: 46). Daher tendierten Individuen dazu, nach Möglichkeit auf dem Feld zu verbleiben, für das ihr Kapital erworben wurde, und dort um die Vermehrung oder eine verstärkte Anerkennung ihres Kapitals zu kämpfen. Dieses Argument sollte allein schon hinreichen, die räumliche und homologe Vorstellung der Felder zu widerlegen. Eine weitere Reduktion des Argumentationsgangs im Schaubild ist das Fehlen des sozialen und symbolischen Kapitals. Man könnte erwidern, dass sich beide ganz einfach aus dem Ort im Schaubild ergeben. Das ist sicher im Wesentlichen der Fall. In anderen Gesellschaften mögen jedoch andere Kapitalarten ins Spiel kommen und sich nicht in der gleichen Weise zueinander verhalten wie kulturelles und ökonomisches Kapital. Anders gesagt: Das zweidimensionale Schaubild müsste auch aus diesem Grund um weitere Dimensionen ergänzt werden. 5.3 Klassen Die Konstruktion des sozialen Raums macht Bourdieu zufolge die Klassenstruktur der Gesellschaft sichtbar (1998c: 25). Je genauer die Konstruktion ist, desto eher entsprechen die konstruierten Klassen den realen Klassen, Verhältnis zwischen Raum- und Feldbegriff Klassenstruktur der Gesellschaft <?page no="166"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M+Marginalie]__Rehbein__Soziologie_Bourdieus(3)___[Druck-PDF]/ 23.05.2016/ Seite 166 www.claudia-wild.de: [UTB-M+Marginalie]__Rehbein__Soziologie_Bourdieus(3)___[Druck-PDF]/ 23.05.2016/ Seite 167 5.3 Klassen 167 weil sie reale Differenzen und Ähnlichkeiten erfassen (1997c: 108). Bourdieu betont allerdings den konstruierten Charakter des sozialen Raums und der aus ihm abgeleiteten Klassen. Eine konstruierte Klasse sei gleichsam eine wahrscheinliche reale Klasse (1997c: 112f ). Ferner können reale und konstruierte Klassen aus verschiedenen Perspektiven konstituiert und betrachtet werden. Klassen sind mindestens nach den verschiedenen Ebenen der Untersuchung zu bestimmen, die den Ebenen des Bewusstseins bzw. der Klassifikation entsprechen: der unreflektierten Praxis, in der Gruppen unterschiedlich sind, die klassifizierende Praxis und die klassifizierend-handelnde Praxis. Die grundlegende Bestimmung einer realen Klasse beruht auf den sozialen Positionen, sie wird von Bourdieu als objektive Klasse bezeichnet. Eine objektive Klasse ist eine Gruppe von »Akteuren, die homogenen Lebensbedingungen unterworfen sind« (1982c: 175). Hiervon sind Klassen zu unterscheiden, die sich durch den Lebensstil bestimmen, also Klassen des Habitus. Die Unterschiede im Habitus gründen zwar in den Unterschieden der sozialen Position, sind aber nicht auf sie reduzierbar, weil die Habitus sich aktiv unterscheiden, nicht nur passiv wie die sozialen Positionen. Daher unterscheidet Bourdieu den Raum der sozialen Positionen von dem der Lebensstile. Allerdings enthält der Lebensstil in sich selbst die Doppelung von aktiv-passiv, weil das Unterscheiden auch ein Unterschieden-werden impliziert. Eine klassifizierende Klasse klassifiziert andere Klassen, die damit zu klassifizierten werden. Schließlich können reale Klassen auch als mobilisierte auftreten, als aktive Zusammenschlüsse von Menschen (1982c: 175 Fn). Diese Zusammenschlüsse beruhen zwar auf Ähnlichkeiten in den sozialen Positionen und Habitus, entsprechen aber nicht unbedingt den realen oder konstruierten Trennlinien in der Gesellschaft. Diese Form der Klasse verweist auf den revolutionären Klassenbegriff, auf die handelnde Klasse mit Klassenbewusstsein. Von diesen drei Formen der realen Klasse (oder auch vier Formen, wenn man klassifizierende und klassifizierte unterscheidet) ist die wissenschaftlich konstruierte Klasse zu unterscheiden, die selbst nur einen Sonderfall der klassifizierten Klasse bildet. Das bedeutet gleichzeitig, dass das wissenschaftliche Klassifizieren nur ein besonderer Fall des Klassifizierens ist. Die aktiven Unterscheidungen des Habitus werden nicht nur im Lebensstil und nicht nur im reflektierten Handeln vorgenommen, sondern auch im Denken. Sie stimmen allerdings nicht unbedingt überein. Die reflektierte gedankliche Unterscheidung ist die wissenschaftliche Klassifikation, wie sie beispielsweise in den »Feinen Unterschieden« vorgeführt wird. Bourdieu kritisiert an den philosophischen Untersuchungen über den Geschmack von Kant bis Derrida die Vernachlässigung der eigenen sozialen Position, also der Tatsache, dass wissenschaftliche Klassifikationen von einem soziakonstruierte Klasse objektive Klasse klassifizierende Klasse mobilisierte Klasse Klassifizieren <?page no="167"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M+Marginalie]__Rehbein__Soziologie_Bourdieus(3)___[Druck-PDF]/ 23.05.2016/ Seite 168 168 5 Differenz und Distinktion len Standpunkt aus konstruiert werden, der meist dem des legitimen Geschmacks entspricht (siehe 5.1). Genauer gesagt, der Blickwinkel der wissenschaftlichen Konstruktion beruht auf einer sozialen Position mit großem kulturellen und mittlerem ökonomischen Kapital. Diese Konstruktion sucht sich vom illegitimen Geschmack und von der ökonomischen Herrschaft abzusetzen-- ohne sich dessen bewusst zu sein. Bourdieu zufolge bestimmt die Klassenzugehörigkeit zu einem hohen Maß die möglichen Laufbahnen und individuellen Merkmale (1982c: 182, 713). Jede Klasse hat ihren eigenen Lebensstil und ihre eigenen Möglichkeiten zur Ausprägung des Habitus (1982c: 175, auch 277ff ). Alle Klassen teilen einen gemeinsamen Horizont, indem sie einer Gesellschaft angehören. Diese Gemeinsamkeit ist Grundlage des sozialen Raums- - und der möglichen Unterschiede. Denn jede Klasse und Klassenfraktion nimmt einen anderen Ort im Raum ein und nimmt daher den gesamten Raum sowie die benachbarten Fraktionen anders wahr (1982c: 738). »Die von den sozialen Akteuren im praktischen Erkennen der sozialen Welt eingesetzten kognitiven Strukturen sind inkorporierte soziale Strukturen. Wer sich in dieser Welt ›vernünftig‹ verhalten will, muss über ein praktisches Wissen von dieser verfügen, damit über Klassifikationsschemata […], mit anderen Worten über geschichtlich ausgebildete Wahrnehmungs- und Bewertungsschemata, die aus der objektiven Trennung von ›Klassen‹ hervorgegangen (Alters-, Geschlechts-, Gesellschaftsklassen), jenseits von Bewusstsein und diskursivem Denken arbeiten. Resultat der Inkorporierung der Grundstrukturen einer Gesellschaft und allen Mitgliedern derselben gemeinsam, ermöglichen diese Teilungs- und Gliederungsprinzipien den Aufbau einer gemeinsamen sinnhaften Welt, einer Welt des sensus communis.« (1982c: 730) Bourdieu geht von drei Klassen aus. Diese Dreiteilung begründet er nirgends explizit (Blasius, Winkler 1989: 75). Aber sie lässt sich aus seiner Argumentation ableiten, wenngleich sie auch dann nicht ganz so klar und bündig ist. Bourdieus wissenschaftliche Konstruktion der Klassen kreist um zwei Kriterien. Der grundlegende Gegensatz innerhalb einer Gesellschaft sei der zwischen Herrschenden und Beherrschten (1982c: 731). Hierauf ließen sich alle anderen Gegensätze zurückführen. Der Gegensatz beruht auf dem Kampf, auf der Konkurrenz um Kapital und soziale Positionen. Der Kampf führt auch zur Differenzierung des Gegensatzes in feinste Unterschiede. Zunächst setzen sich innerhalb der beherrschten Klasse Gruppen mit größerem Kapital von den Chancenlosen ab. Daraus entsteht eine Mittelklasse, welche alle Positionen vereint, die weder den Klassenzugehörigkeit drei Klassen <?page no="168"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M+Marginalie]__Rehbein__Soziologie_Bourdieus(3)___[Druck-PDF]/ 23.05.2016/ Seite 168 www.claudia-wild.de: [UTB-M+Marginalie]__Rehbein__Soziologie_Bourdieus(3)___[Druck-PDF]/ 23.05.2016/ Seite 169 5.3 Klassen 169 Beherrschenden noch den Chancenlosen zuzurechnen sind. Sodann steigen einige Gruppen auf, andere ab. Diese Gruppen sammeln sich natürlich vor allem in der Mittelklasse, die daher trotz ähnlichem Kapitalvolumen sehr uneinheitlich ist (1982c: 192). Die Unterschiede werden nur durch die Betrachtung der Kapitalstruktur und des Lebensstils sichtbar, die sich für Bourdieu im kulturellen Kapital ausdrücken. Die Verfügung über kulturelles Kapital ist sein zweites Kriterium für die Konstruktion von Klassen. Die beherrschenden Fraktionen einer Klasse verfügen ihm zufolge über mehr ökonomisches Kapital als die beherrschten Fraktionen, die über relativ mehr kulturelles Kapital verfügen. Diesen Gegensatz verknüpft Bourdieu mit dem historischen Gegensatz zwischen Kriegern und Rednern, Starken und Schwachen. Heute habe sich dieser Gegensatz in den zwischen Unternehmern und Intellektuellen transformiert (1982c: 733f ). Die Konzeption der Klassenstruktur in die binären Gegensätze zwischen oben-unten und stark-schwach erinnert sehr an Lévi-Strauss. (Man denke etwa an seinen Versuch, den mythischen Geschmack auf den Gegensatz zwischen Rohem und Gekochtem zurückzuführen (Lévi- Strauss 1971, I).) Meines Erachtens wird durch diese Reduktion die Vielschichtigkeit des Klassenbegriffs und der polyzentrische Charakter von Unterscheidungen verdeckt. Und natürlich wird die Untersuchung durch überzeitliche strukturale Gegensätze unhistorisch. Bourdieu nahm für sich ja gerade in Anspruch, Geschichte und Subjektivität in den Strukturalismus eingeführt zu haben. Läge den »Feinen Unterschieden« nur die binäre Differenz als strukturales Prinzip zu Grunde, hätte das Buch kaum seine anhaltende starke Wirkung entfaltet. Erklärungsprinzip ist für Bourdieu die Konkurrenz, die auf Differenz beruht und Differenz erzeugt (1982c: 272, 362). Papilloud (2003) hat die Differenz zur Grundlage seiner Bourdieu-Deutung gemacht, Schwingel (1995) die Konkurrenz. Beide Deutungen sind sehr fruchtbar und decken einen Großteil von Bourdieus Soziologie ab. Aber sie sind vielleicht etwas zu reduktiv, weil Bourdieus Ansatz durchaus an andere soziokulturelle Bedingungen angepasst werden kann, in denen Konkurrenz und Differenz nicht die beherrschenden Prinzipien sind (siehe Rehbein 2007; Rehbein/ Souza 2014). In den »Feinen Unterschieden« verfährt Bourdieu teilweise so reduktiv, wie die Interpreten es nahe legen, aber er verbindet Differenz und Kampf zu einer Ökonomie der Praxis, die selbst nicht auf eines der Prinzipien reduzierbar ist. Die Sozialstruktur sei das Resultat fortwährender Kämpfe (1982c: 380). Durch den Konkurrenzkampf würde die Differenz sozialer Positionen verewigt, und eben als differierendes und differenzierendes System müsse man die Sozialstruktur auffassen (1982c: 261, 272). binäre Gegensätze <?page no="169"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M+Marginalie]__Rehbein__Soziologie_Bourdieus(3)___[Druck-PDF]/ 23.05.2016/ Seite 170 170 5 Differenz und Distinktion Hinter dieser Auffassung steht Bourdieus relationale Wissenschaftstheorie, die selbst noch allgemeiner ist als die Konzepte der Konkurrenzkämpfe und des unterscheidenden Unterschieds. Allgemein ist der soziale Perspektivismus, die Auflösung der gesellschaftlichen Totalität in aufeinander bezogene Positionen (1982c: 261). Bourdieu scheint Konkurrenz und Unterscheidung für ein Spezifikum moderner Gesellschaften zu halten. Zumindest schreibt er, es gebe Gesellschaften, die nicht nach Klassen differenziert sind und in denen Kultur allen zugänglich ist, so dass es keinen Kampf um kulturelles Kapital geben kann (1982c: 359). Das verweist auf seine frühen Arbeiten in Algerien. An anderen Stellen scheint er nahe zu legen, dass es auch in der Ständegesellschaft nur sehr eingeschränkt Konkurrenz um soziale Positionen und ein Streben nach Distinktion gegeben habe, weil die Rollen klar verteilt und damit sicher gewesen seien (1982c: 255ff ). Für diese Deutung spricht, dass Bourdieu die Ständegesellschaft im Großbürgertum fortwirken sieht. Zwar toben die Kämpfe um die Definition der legitimen Kultur und die Verwandlung von symbolischer in verbindliche Macht zwischen den Angehörigen der herrschenden Klasse stets am erbittertsten (1982c: 391). Aber die Herrschenden müssen gesamtgesellschaftlich nicht nach Distinktion streben, weil das für sie Selbstverständliche sozial selten und das sozial Seltene für sie selbstverständlich ist (1982c: 383ff ). 7 Durch die Verallgemeinerung der Konkurrenz und die Bedrohung der sozialen Position der Herrschenden in der Demokratie ändert sich das. Zunehmend müssen auch die Herrschenden aktiv nach Distinktion streben. Gleichzeitig bewirkt die Verallgemeinerung der Konkurrenz auch die Verallgemeinerung der Ziele und Standards, so dass die Herrschenden nicht mehr auf Gewalt zurückgreifen müssen, um ihre Position zu sichern: Verführung ersetzt Zwang, Öffentlichkeitsarbeit ersetzt Staatsgewalt, aufgenötigte Bedürfnisse ersetzen eingebläute Normen (1982c: 255). Alle können auf Luxus, Aufstieg und Anerkennung hoffen, insbesondere durch das Bildungssystem, faktisch aber reproduziert sich die herrschende Klasse weiterhin selbst-- weil sie Regeln, Ziele und Einsätze des Spiels bestimmt (1982c: 258). 7 Und das verweist wiederum auf das Herr-Knecht-Kapitel in Hegels »Phänomenologie des Geistes«. Durch den fehlenden Widerstand muss der Herrschende nicht nach Distinktion und Erkenntnis streben: »jedes Kind beginnt sein Leben wie ein Bourgeois: in einem Verhältnis magischer Gewalt über die anderen und vermittels ihrer über die Welt« (1982c: 101). Konkurrenzkämpfe <?page no="170"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M+Marginalie]__Rehbein__Soziologie_Bourdieus(3)___[Druck-PDF]/ 23.05.2016/ Seite 170 www.claudia-wild.de: [UTB-M+Marginalie]__Rehbein__Soziologie_Bourdieus(3)___[Druck-PDF]/ 23.05.2016/ Seite 171 5.4 Klassengeschmack und Klassendynamik 171 5.4 Klassengeschmack und Klassendynamik Der Bereich des Geschmacks unterliegt Bourdieu zufolge einer Ökonomie. Allerdings konkurrieren nicht verschiedene Anbieter oder verschiedene Konsumenten. Das Angebot an Kulturgütern bestimmt nicht die Nachfrage, sondern Produktion und Konsumtion tendieren zu einer Harmonisierung: Die Produktionsfelder entsprechen den »Feldern« der sozialen Klassen (zumindest der herrschenden), so dass die im Konkurrenzkampf ständig wechselnden Produkte immer auf eine Nachfrage stoßen, die durch die Konkurrenz der Lebensstile bestimmt wird (1982c: 362). Die Produzenten werden »durch die Logik der Konkurrenz, in der sie zu anderen Produzenten stehen, und durch die mit ihrer Position im Produktionsfeld verbundenen Interessen […] dazu gebracht, unterschiedliche Produkte herzustellen, die mit den nach Klassenlage und Klassenposition unterschiedlichen kulturellen Interessen der Konsumenten übereinstimmen« (1982c: 365). Und auch die Konsumenten konkurrieren miteinander. Ratio ihrer Konkurrenz ist der Distinktionswert von Lebensstilen. Konkurrenz der Konsumenten und der Produzenten finden ihre einheitliche Wurzel im Klassenhabitus, der wiederum auf den Unterschieden im Kapital beruht. Aus diesem Grund wird die Ökonomie des Geschmacks weniger von den Gesetzen des freien Markts bestimmt, sondern größtenteils vom Verhältnis der Klassen zueinander. Wir treffen hier wieder die drei Ebenen der Differenz, Differenzierung und symbolisch bekräftigten Distinktion an, die jeweils auf eine Vereinheitlichung des Klassengeschmacks hinwirken und den Markt so vorstrukturieren, dass die Kräfte nicht frei, sondern auf bestimmte Klassen zugeschnitten wirken (1982c: 362f ). Die Interessen der Kulturproduzenten bilden sich unter denselben Bedingungen (einer Klasse bzw. sozialen Position) heraus wie die der Konsumenten, so dass sie mit ihnen übereinstimmen (1982c: 365). Einen Überblick über Kapitalverteilung und Lebensstile im Frankreich der Sechzigerjahre bietet die Darstellung und Diskussion des »sozialen Raums« (siehe 5.2). Die Darstellung ist auf einen Querschnitt beschränkt, dessen statischer Charakter in Abschnitt 5.2 kritisiert wurde. »Die Struktur der Klassenbeziehungen erhält man, indem man durch synchronen Schnitt den- - wie immer stabilen- - Zustand des Kräftefeldes der Klassenkämpfe fixiert.« (1982c: 381) Die Prinzipien der Dynamik, die dem synchronen Schnitt zu Grunde liegen, werden in den »Feinen Unterschieden« im Anschluss an das Schaubild erläutert. Der dritte Teil des Buchs konkretisiert Produktion und Konsumtion Prinzipien der-Dynamik <?page no="171"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M+Marginalie]__Rehbein__Soziologie_Bourdieus(3)___[Druck-PDF]/ 23.05.2016/ Seite 172 172 5 Differenz und Distinktion die Prinzipien am empirischen Material. Grundprinzip der Dynamik ist die Vorgabe des Geschmacks durch die herrschende Klasse, die über das sozial Seltene verfügt. Die Dynamik impliziert, dass alle Gruppen dieselben Ziele im Blick haben, nämlich die, die von der Gruppe an der Spitze vorgegeben werden, für die anderen Gruppen aber unerreichbar sind, weil sie sich durch ihre Seltenheit definieren (1982c: 270). Wenn sich Merkmale der Spitzengruppe verbreiten, haben sie nicht mehr denselben Wert. Sie sind allgemein und dadurch wertlos. Die Herrschenden aber verfügen nicht nur über das Allgemeine, sondern stets auch über das Seltene, indem sie das seltenste und wertvollste Kapital besitzen. Sie verwandeln ihr Kapital in neue Merkmale des Lebensstils, ändern die Kriterien des Zugangs zu den Merkmalen und/ oder entwickeln neue Ziele und Kriterien. Der Wechsel der substanziellen Eigenschaften garantiert die Stabilität der Ordnungsrelationen. Der Gegensatz zwischen Herrschenden und Beherrschten ist für Bourdieu, wie erwähnt, die fundamentale Eigenschaft der Sozialstruktur (1982c: 731). Der Gegensatz äußert sich im Widerspruch zwischen Qualität und Quantität-- oder auch zwischen Distinktion und Notwendigkeit (1982c: 287f ). Bourdieu zeichnet ihn bis in die Geschmacksnerven nach. Die herrschende Klasse, die Bourdieu den Gepflogenheiten seiner Zeit entsprechend als Bourgeoisie (oder auch Großbürgertum) bezeichnet, bevorzugt leichte und teure Kost, die beherrschte Klasse, die so genannte Arbeiterschaft, mag billige und sättigende Speisen (1982c: 288f ). Der Geschmack des Arbeiters bildet sich in der Not und ist an sie angepasst. Genau diese Not soll im Geschmack verschwinden, was auf Grund der ökonomischen Zwänge eben nur durch Quantität gelingt. Die Arbeiterschaft will sich nicht auch noch zu Hause Zwängen unterwerfen (1982c: 315). Die Bourgeoisie dagegen will in erster Linie die Form wahren, den Alltag ästhetisieren, Distanz herstellen. Der Arbeitergeschmack ist auf die Funktion gerichtet, auf das Nützliche und Notwendige (1982c: 322). »Was der reine Geschmack verwirft, das ist die Gewalt, der sich das populäre Publikum unterwirft […]; dagegen fordert er Respekt und jene Distanz, die zugleich Distanz zu halten erlaubt.« (1982c: 761) Wo der herrschende Geschmack die Tendenz zu Funktion und Notwendigkeit hat, wird er kaschiert (z. B. in Form von »Erotik« statt Pornographie). Die nicht-funktionale Einstellung, die in der »Kritik der Urteilskraft« zum Prinzip der philosophischen Ästhetik gemacht wird, ist für Bourdieu vielleicht das entscheidende Merkmal der herrschenden Klassen. »Nichts unterscheidet die Klassen […] strenger voneinander als die zur legitimen Konsumtion legitimer Werke objektiv geforderte Einstellung, die Fähigkeit also, gegenüber bereits ästhetisch konstituierten Gegensatz zwischen Herrschenden und Beherrschten Distinktion und Notwendigkeit herrschende Klassen <?page no="172"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M+Marginalie]__Rehbein__Soziologie_Bourdieus(3)___[Druck-PDF]/ 23.05.2016/ Seite 172 www.claudia-wild.de: [UTB-M+Marginalie]__Rehbein__Soziologie_Bourdieus(3)___[Druck-PDF]/ 23.05.2016/ Seite 173 5.4 Klassengeschmack und Klassendynamik 173 Objekten […] eine rein ästhetische Betrachtungsweise einzunehmen und, noch seltener vertreten, das Vermögen, beliebige oder gar ›vulgäre‹ […] Gegenstände zu ästhetischen zu stilisieren« (1982c: 80). Die herrschende Klasse hat die Macht, ihren eigenen Lebensstil als vollkommen geltend durchzusetzen, also als notwendig und natürlich (1982c: 398). Sie selbst braucht sich nur zwanglos und ungezwungen zu verhalten, um der Norm zu entsprechen (1982c: 166). Meist erhalten die Herrschenden zu Hause ein großes kulturelles Kapital, das durch die höchsten Bildungstitel noch aufgewertet und legitimiert wird. »Der Bildungstitel bildet eine Art Folie, auf der sich bestimmte Existenzbedingungen abzeichnen […] Weil sie entweder direkt an eine bürgerliche Herkunft oder doch an eine durch den verlängerten Bildungsgang fast naturwüchsig sich einstellende bürgerliche Lebensweise gebunden sind, oder, wie es am häufigsten der Fall ist, weil sie beide Bedingungen gleichzeitig erfüllen, erscheinen die Bildungsprädikate als Gewähr dafür, sich eine ästhetische Einstellung zu eigen machen zu können.« (1982c: 57) Und die gleichsam schlafwandlerische Vertrautheit mit der legitimen Kultur, über die das Großbürgertum verfügt, kann man schwerlich durch nachholende Bildung erwerben (1982c: 116). Objektive Chancen, Lebensstile und subjektive Erwartungen entsprechen einander. Das liegt daran, dass man das mag, was man kennt, und nur das kennt, was sozial möglich ist. »Die Angehörigen der unterschiedlichen gesellschaftlichen Klassen unterscheiden sich weniger darin von einander, wieweit sie die Welt der Bildung anerkennen, als darin, wieweit sie sie kennen« (1982c: 500). An der Selbstsicherheit erkennt man die »herausragende Persönlichkeit«, die Ignoranz mit Vertrautheit paart und es sich leisten kann, über jedes der Merkmale, die dem Nachholenden unabdingbar erscheinen, großzügig hinwegzugehen. Im Gegensatz zum »Kultivierten« steht der »Pedant«, der die Kultur in der Schule kennen lernen musste und Kenntnis der Kultur mit der Kenntnis des Codes beurteilt (1982c: 18f ). Die Merkmale der Prätention, des Nachholenden und des Emporblickenden sind typisch für die meisten Fraktionen der Mittelschichten. 8 Das ist von höchstem Distinktionsvermögen, was auf die Qualität der Aneignung und damit des Besitzers schließen lässt (1982c: 440f ). Deut- 8 Zu den Unterschieden im Geschmack siehe auch Blasius/ Winkler 1989; Geiling (2004: 42f ); Fuchs-Heinritz/ König (2005: 62ff ). Distinktionsvermögen <?page no="173"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M+Marginalie]__Rehbein__Soziologie_Bourdieus(3)___[Druck-PDF]/ 23.05.2016/ Seite 174 174 5 Differenz und Distinktion lichstes Symbol dafür sind alte Gegenstände-- aber auch alte Familien und alte Traditionen. In der Herrschaft über alte Dinge, in denen sich Geschichte kristallisiert, kommt Herrschaft über das Ungreifbarste zum Ausdruck, die Zeit. Herrschaft über das Alte lässt sich nur durch die Zeit und mit viel Zeit erwerben. »Ihren Wert verdanken die Formen des legitimen Lebensstils dem Umstand, dass sie Illustrationen höchst seltener Erwerbsbedingungen darstellen, d. h. eine gesellschaftliche Macht über die Zeit dokumentieren, die stillschweigend als die Form des Excellenten anerkannt ist.« (1982c: 129) Dabei schenkt man bereitwillig sein Geld und seine Zeit, die auf dieser Stufe besonders wertvoll ist- - nämlich an den oder das, die es wert sind. Es wird die Fähigkeit zu interesselosem Handeln denen gegenüber demonstriert, die dazu nicht fähig sind. Die weniger dominierenden Fraktionen eifern dem nach, ohne die Mittel zu haben: Sie lieben dieselben Gegenstände auf eine andere Weise oder ähnliche (aber weniger exklusive) Gegenstände auf die gleiche Weise. Zur Bourgeoisie rechnet Bourdieu Unternehmer, höhere Lehrer und Professoren, Freiberufler, Kunstproduzenten sowie private und staatliche Führungskräfte. Auf den Geschmack dieser Berufsgruppen konzentrierte sich die Untersuchung. Innerhalb der herrschenden Klasse ergibt sich der schärfste Gegensatz zwischen Handelsunternehmern und Hochschullehrern sowie Künstlern (1982c: 408). Diese haben viel kulturelles Kapital, aber innerhalb der herrschenden Klasse am wenigsten ökonomisches. Die herrschenden Bourgeois, die das größte ökonomische Kapital in der Gesellschaft haben, verfügen nicht über die Kompetenz und Disposition, die aus ihrem kulturellen Kapital erwachsenden Profite in die Wirtschaft zu reinvestieren (1982c: 448). Ihr Geschmack reicht meist nicht so weit wie ihre Mittel, während die Mittel der Lehrkräfte nicht so weit reichen wie ihr Geschmack (1982c: 449). In den Lehrberufen ist die Kompetenz größer als das Gespür für die richtige Antwort, bei den Aufsteigenden und Kunstschaffenden dagegen umgekehrt (1982c: 158). »Die dominanten Fraktionen denken ihr Verhältnis zu den dominierten tendenziell immer in Gestalt von Gegensätzen zwischen männlich und weiblich, ernst und frivol, nützlich und nutzlos, verantwortlich und unverantwortlich, zwischen Realismus und Irrealismus.« (1982c: 163) Der Gegensatz spiegelt sich im Frauenbild wider. Bei den Führungskräften beschäftigen sich Männer mit Politik und Wirtschaft, Frauen mit Kultur (1982c: 496). Je höher das kulturelle Kapital einer Gruppe ist, desto weniger Zeit verbringt die Frau in der Küche (1982c: 304f ). Jede Fraktion innerhalb der herrschenden Klasse versucht, ihre Vorteile möglichst gewinnbringend einzusetzen. Die künstlerische Avantgarde bestimmt sich vor allem negativ: gegen den mittleren Geschmack, gegen den Bourgeoisie Gegensatz zwischen Handelsunternehmern und Hochschullehrern Fraktionen <?page no="174"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M+Marginalie]__Rehbein__Soziologie_Bourdieus(3)___[Druck-PDF]/ 23.05.2016/ Seite 174 www.claudia-wild.de: [UTB-M+Marginalie]__Rehbein__Soziologie_Bourdieus(3)___[Druck-PDF]/ 23.05.2016/ Seite 175 5.4 Klassengeschmack und Klassendynamik 175 bürgerlichen Geschmack und gegen den pedantischen (1982c: 460f ). Daher assoziiert sie sich manchmal (wenngleich nur äußerlich) mit den Unterschichten. Die Strategien der Intellektuellen sind gegen jede Unterwerfung unter materielle Interessen gewendet (1982c: 396). Die herrschenden Fraktionen der herrschenden Klasse demonstrieren dagegen entweder Luxus oder das Alter ihres Erbes. Stets wählt der Habitus intuitiv das Seltene, er vermag das Legitime und Wichtige zu erkennen. Aber der an ökonomischem Kapital Reiche wählt das Teure, Anerkannte, Alte, während der an kulturellem Kapital Reiche das weniger Teure, Innovative und Neue wählt. So treiben die Führungskräfte Sport in der exklusiven abgezäunten Natur, während die Intellektuellen sich in der wilden Natur betätigen (1982c: 351). Prozentual geben Hochschullehrer weniger für Nahrung und mehr für Kultur aus, während es bei Führungskräften und Freiberuflern umgekehrt ist (1982c: 299f ). Alle drei Berufsgruppen haben überdurchschnittliche Ausgaben für Repräsentation, prozentual sind sie aber bei den Freiberuflern am höchsten. Schließlich erwarten die herrschenden Fraktionen von Kultur eine Bestätigung ihrer selbst und eine positive Darstellung der sozialen Wirklichkeit, während es bei der künstlerischen Avantgarde eher umgekehrt ist (1982c: 459). Innerhalb der herrschenden Klasse herrscht ein fortwährender Streit um die Definition des Menschenbilds, genauer: um die Eigenschaften und Titel, die zur Ausübung von Herrschaft berechtigen sollen. An einem Pol stehen Ecole normale supérieure und polytechnique, am anderen die Ecole nationale d’administration und das Institut d’études politiques (Sciences po). Große Differenzen innerhalb der herrschenden Fraktionen bestehen zwischen Alten und Jungen sowie zwischen Emporkömmlingen und Leuten, die aus derselben Klasse stammen (1982c: 462). Sie entsprechen dem Gegensatz zwischen Führungskräften, die eine Eliteschule besucht haben, und denen, die sich emporarbeiten mussten (1982c: 478). In beiden Fällen stehen sich Alter und Leistung oder auch Konservatismus und Innovation gegenüber. Die aufstrebenden Führungskräfte stehen zu den Intellektuellen ebenso im Gegensatz wie zur alten Bourgeoisie. Sie verbinden Luxus und intellektuelle Attribute (1982c: 486). Häufig arbeiten sie in großen und modernen Unternehmen. Die neue Bourgeoisie versucht, eine ethische Umwertung durchzusetzen (1982c: 489). Sie bezieht ihre Macht aus der neuen Ökonomie, deren Funktionieren von der Produktion der Bedürfnisse ebenso abhängt wie von der Produktion der Produkte. An die Stelle der Akkumulation wird Konsum gesetzt, der einzelne wird an seiner Konsumfähigkeit (an seinem Lebensstil) ebenso gemessen wie an seiner Produktivität. Wer nicht die erforderlichen Mittel hat, fühlt sich moralisch unvollkommen. Definition des Menschenbilds <?page no="175"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M+Marginalie]__Rehbein__Soziologie_Bourdieus(3)___[Druck-PDF]/ 23.05.2016/ Seite 176 176 5 Differenz und Distinktion Die mittleren Klassen bezeichnet Bourdieu als Kleinbürgertum. »Der Kleinbürger ist ein Proletarier, der sich klein macht, um Bürger zu werden.« (1982c: 530) Alles, was Kleinbürger sind und tun, kann mit dem Attribut »klein« belegt werden. Sie versuchen besonders eifrig, die herrschende Kultur zu imitieren, haben dazu aber weder Mittel noch Kriterien (1982c: 502). Daher wählen sie schlechte, kleine und billige Kopien des herrschenden Geschmacks, besser gesagt: ihres Bildes vom herrschenden Geschmack. Bourdieu charakterisiert den Geschmack der Kleinbürger daher als Prätention. Die legitime Kultur ist nicht für sie geschaffen, sie wählen an ihr meist die Aspekte, die nicht mehr legitim sind (1982c: 513). Kleinbürgerliche Berufsgruppen sind neue Dienstleistungen, technische Berufe, Verwaltungs- und Bürotätigkeiten, Volksschullehrer, Kleinkaufleute und Handwerk. Die zentralen Berufe innerhalb der Klasse sind die mittleren Angestellten und Beamten, die der Bildung ihre Position verdanken und sich durch Sachkompetenz auszeichnen (1982c: 549f ). Absteigende Berufe sind diejenigen, die in einer modernen Gesellschaft an Wert verlieren, insbesondere kleine Kaufleute und Landwirte. Sie tendieren zu repressiven Einstellungen, heften sich an eine überholte Vergangenheit (1982c: 541). Die Lebensstile des Kleinbürgertums zeichnen sich durch Planung und Kalkulation, durch Orientierung an medialen Bildern und moralische Gewissenhaftigkeit aus. Die tatsächlichen Lebensstile der herrschenden Klasse sind ihm verdächtig, beispielsweise die ethische Gleichgültigkeit der Künstler und der Luxus der Herrschenden (1982c: 91, 296). Die an Entsagung gewöhnten Aufsteiger betreiben weder teure noch intellektuell verbrämte Sportarten, sondern setzen auf wissenschaftlich kalkulierbare Anstrengung wie Jogging und Gymnastik (1982c: 341). Vor allem im Kleinbürgertum sollen Frauen gut aussehen. Sie orientieren sich am herrschenden Körperbild, fühlen sich aber durch geringe Herkunft und Mittel benachteiligt und hässlich (1982c: 328f ). Bürgerliche Frauen treten dagegen ebenso ungezwungen auf wie Arbeiterinnen, weil jene aus ihrem Aussehen kein Kapital schlagen können und diese es nicht müssen. Das Kleinbürgertum betrachtet Bildung als einen zu akkumulierenden Schatz, während die Bourgeoisie, die beliebig Zugang zu Bildung hat, sie nur als eine bestimmte Beziehung betrachtet (1982c: 518). Da Kleinbürger sparen müssen, um zu akkumulieren, können sie für Repräsentation und soziales Kapital kein Geld ausgeben. Daher haben sie wenige Kinder, eine kleine Familie und ein kleines Netz sozialer Beziehungen, die allesamt mehr als Belastungen und weniger als Kapital empfunden werden (1982c: 519, 529). Im Alter erkennen die Kleinbürger, dass ihr Ziel unerreichbar ist, und sie tendieren zu Ressentiment und Konservatismus (1982c: 533f ). Kleinbürgertum Prätention Planung und Kalkulation <?page no="176"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M+Marginalie]__Rehbein__Soziologie_Bourdieus(3)___[Druck-PDF]/ 23.05.2016/ Seite 176 www.claudia-wild.de: [UTB-M+Marginalie]__Rehbein__Soziologie_Bourdieus(3)___[Druck-PDF]/ 23.05.2016/ Seite 177 5.4 Klassengeschmack und Klassendynamik 177 Das System der kleinbürgerlichen Einstellungen hat so viele Spielarten, wie es Möglichkeiten gibt, in die mittlere Position zu gelangen oder sie zu verlassen (1982c: 531f ). Diesen Gegensatz hält Bourdieu für den bestimmenden innerhalb des Kleinbürgertums. In den mittleren Positionen begegnen sich auf- und absteigende Gruppen, die in Herkunft und Kapital sehr stark differieren. Auch ihr Lebensstil ist sehr heterogen. Er findet seine Einheit in der Orientierung am legitimen Geschmack und in der Ablehnung des beherrschten Geschmacks. Innerhalb des Kleinbürgertums hebt Bourdieu zwei Gruppen hervor: diejenige, die relativ zu ihrer Herkunft aufsteigt, und die, die in Verbindung mit ihrem Beruf aufsteigt. Herkunft, Beruf und Aufstieg sind nicht deckungsgleich. Viele der aufsteigenden, neuen Berufe werden von Absteigern aus der herrschenden Klasse gewählt (1982c: 561f ). Hierzu zählen vor allem Tätigkeiten im Dienstleistungsbereich. Die neuen Berufe werden von Leuten ergriffen, deren Titel nicht zum erwünschten Erfolg führt. Diese Berufe sind riskant, aber aussichtsreich. Sie vereinen absteigende Bürger (mit zu geringen Bildungstiteln) und aufsteigende Kleinbürger (mit zu geringem Gesamtkapital). Die neuen Kleinbürger, die aus dem Bürgertum stammen, verfügen über ein viel ererbtes soziales Kapital und über ein großes kulturelles Kapital (1982c: 566f ). Da ihre Bildungstitel zu gering sind, versuchen sie sich durch die Aufwertung neuer kultureller Strömungen und durch ihren Beruf zu rehabilitieren. Sie haben im Gegensatz zu anderen Kleinbürgern durch ihre Herkunft ein Gespür für Kultur (den lohnenden Einsatz) und für Bluff. Die neuen Berufssparten sind versiert darin, denen Sprüche zu verkaufen, die sich Echtes nicht leisten können und sich daher mit Sprüchen zufrieden geben (1982c: 573ff ). Sie verkaufen ihren eigenen Lebensstil an die, von denen sich ihr Lebensstil abheben soll, und beziehen damit alle in Konkurrenz und Konsum ein. Das neue Kleinbürgertum verbündet sich in Ansichten und Lebensstil mit dem neuen Bürgertum, in dem es sein Vorbild erblickt: »dynamische Führungskraft« und »Pflicht zum Genuss« (have fun). An die Stelle von Ethik treten Psychoanalyse und Gesundheit mit demselben Pflichtcharakter. Das neue Kleinbürgertum will nicht mehr klassifiziert werden: Es negiert alle Klassen durch »alternative« Formen. In diesem Sinn lebt es einen »praktischen Utopismus«, den Traum, der Gesellschaft zu entfliehen. Dieses Privileg war bislang dem Bürgertum vorbehalten. Das neue Kleinbürger- und Bürgertum schaffen den idealen Verbraucher vielleicht nicht nur dadurch, dass sie ständig zu Konsum antreiben, sondern auch durch die Befreiung des Konsumenten, d. h. durch seine Vereinzelung (1982c: 584 Fn). Von den aufsteigenden Berufen sind die Kleinbürger zu unterscheiden, die selbst Aufsteiger sind, also aus den auf- und absteigende Gruppen <?page no="177"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M+Marginalie]__Rehbein__Soziologie_Bourdieus(3)___[Druck-PDF]/ 23.05.2016/ Seite 178 178 5 Differenz und Distinktion untersten Klassen der Gesellschaft stammen. Die Aufsteiger besetzen im neuen Kleinbürgertum nur Randpositionen und übernehmen nur die prestigelosesten Aspekte des neuen Lebensstils. Sie werden aus ihren Positionen in dem Maße vertrieben, wie diese durch die Absteiger aus dem Großbürgertum aufgewertet werden (1982c: 572). Die untere Klasse bezeichnet Bourdieu als Arbeiterschaft, die in den Sechzigerjahren noch einen beträchtlichen Teil der Bevölkerung umfasste und das marxsche Proletariat verkörperte. Die Grundthese, dass der Habitus eine aus der Not geborene Tugend sei, spiegelt sich am deutlichsten im Lebensstil der Arbeiter wider: Alles ist bei ihnen eine Anpassung an die Not (1982c: 585). Der Arbeiter will mit dem geringsten Einsatz von Mitteln die größte Wirkung erzielen-- für den Bürger der Inbegriff des Trivialen (1982c: 595). Die Arbeiter stehen damit dem Kleinbürgertum ebenso entgegen wie dem Großbürgertum. Die Arbeiterklasse hat anderen Klassen nichts entgegenzusetzen außer ihrer Muskelkraft. Daher wird alles in diesem Zusammenhang sehr hoch bewertet. Wenn man der Arbeiterklasse die Möglichkeit raubt, sich mit den Männlichkeitswerten zu identifizieren, bleibt ihr nur noch Scham oder individuelle Flucht nach oben (1982c: 600). Alles soll männlich sein und kräftig, die erzwungene körperliche Arbeit wird zur Tugend erklärt, zum einzig Anständigen. Man isst sättigende Speisen, mag kräftige Getränke und ebensolche Scherze (1982c: 305ff ). Fisch wird mit der Zungenspitze gegessen und ist daher nichts für Männer (aus den unteren Schichten), die mit vollem Mund essen. Ähnlich auch die Einschätzung des Sprechens, und zwar hinsichtlich des Geschlechts- und des Klassengegensatzes (1982c: 308). Bourdieu warnt davor, diese Charakteristika direkt aus dem Mangel an ökonomischem Kapital abzuleiten. Statistisch bestimmt das Einkommen den Geschmack nur, weil die Erwerbs- und die Anwendungsbedingungen des Habitus meist identisch sind (1982c: 590). Am zu Geld gekommenen Arbeiter zeige sich die Kausalität des Habitus, er wisse nämlich nicht, wie er es einzusetzen hat (1982c: 588). Und wie sich die kleinen Angestellten von den Arbeitern abzugrenzen suchen, so verachten die Arbeiter diejenigen, die in materieller Unsicherheit leben müssen (1982c: 617). Sie halten eben die Werte der Arbeit und der Kraft hoch. Die Schule hat den Arbeitern Anerkennung der herrschenden Werte, aber nicht deren Kenntnis beigebracht (1982c: 619). Die Massenkultur bietet den Arbeitern billigen Ersatz für das Bürgerliche, drückt ihnen also ebenso wie den Kleinbürgern eine Welt auf, die nicht von ihnen und für sie geschaffen ist (1982c: 602). Die Kultur der Beherrschten insgesamt kann sich bestenfalls negativ definieren (1982c: 616f ). Arbeiterschaft Anpassung an-die Not <?page no="178"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M+Marginalie]__Rehbein__Soziologie_Bourdieus(3)___[Druck-PDF]/ 23.05.2016/ Seite 178 www.claudia-wild.de: [UTB-M+Marginalie]__Rehbein__Soziologie_Bourdieus(3)___[Druck-PDF]/ 23.05.2016/ Seite 179 5.5 Zur Methode 179 5.5 Zur Methode Das empirische Material für »Die feinen Unterschiede« bildet eine Erhebung mit 692 Fragebögen in einer großen, einer mittleren und einer kleinen Stadt, die 1963 durchgeführt wurde. Sie wurden durch offene Interviews und Feldstudien vorbereitet und 1967/ 68 durch weitere 525 Fragebögen ergänzt. Selbstverständlich hat Bourdieu möglichst viele weitere Quellen herangezogen, von den Daten des französischen Statistikamts bis zu Kants »Kritik der Urteilskraft«. Der Auswahl der Stichprobe für die eigene Erhebung lagen die Ergebnisse der Volkszählung zu Grunde (1982c: 787). Die höheren Schichten waren zahlenmäßig überrepräsentiert, um die Struktur des (legitimen) Geschmacks genauer zu fassen (1982c: 785f ). Da sich die unteren Klassen-- so Hypothese und Ergebnis der »Feinen Unterschiede«-- nur negativ definieren, wurden sie weniger berücksichtigt. 9 Ihre Darstellung nimmt auch im Werk selbst weniger Raum ein als die der anderen Klassen, kaum mehr als ein Drittel der Seiten, die der herrschenden Klasse gewidmet sind. Der im späteren Test eingesetzte Fragebogen wird im Anhang zu den »Feinen Unterschieden« genauer vorgestellt und diskutiert. Er zielte darauf ab, soziale Herkunft und Laufbahn mit drei Aspekten des Geschmacks in Beziehung setzen zu können: Kenntnis, Praktiken und Einstellungen (siehe Fuchs-Heinritz, König 2005: 48f ). Vom tatsächlichen Geschmack wurden die-- nicht realisierten und realisierbaren-- Wünsche unterschieden. Mit dem Fragebogen erhielten die Interviewer und Interviewerinnen einen Beobachtungsbogen, in dem sie zahlreiche Aspekte des sichtbar vergegenständlichten Geschmacks festhielten, beispielsweise Wohnungseinrichtung, Auftreten und Kleidung der Interviewten. So etwas wie die Nahrungsmittelpräferenzen zu untersuchen, erwies sich dabei als schwierig, weil Präsentation, Genussweise und Qualität mit zu untersuchen gewesen wären (1982c: 312). Ferner waren die Präferenzen nur relativ zu begreifen, als Negation anderer. Das komplizierte den Fragebogen: Dieselben Begriffe haben in unterschiedlichen Klassen verschiedene Bedeutungen-- und selbst wenn sie die gleiche Bedeutung haben, wird ihnen ein unterschiedlicher Wert beigemessen, je nachdem, ob man sich damit identifiziert oder nicht. Da Bourdieu jedoch von der Einheitlichkeit des Habitus ausging, war es möglich, die Befragung auf einige Aspekte, beispielsweise Mobiliar und Kenntnis anerkannter Kunst, zu konzentrieren. Diese Aspekte waren leicht 9 Bourdieu sagte später sogar, es gäbe keine populäre Kultur (1993b: 15). Diese Aussage ist sicher zum Teil Ergebnis der Voraussetzung des strukturalen Gegensatzes. Quellen Fragebogen <?page no="179"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M+Marginalie]__Rehbein__Soziologie_Bourdieus(3)___[Druck-PDF]/ 23.05.2016/ Seite 180 180 5 Differenz und Distinktion abfragbar, zumal die Hypothese letztlich auf die Einstellung zum legitimen Geschmack abzielte, der als schulmäßiger definiert wurde. Andere Merkmale dagegen, auf die es Bourdieu besonders ankam, nämlich die Feinheiten des Habitus wie Auftreten oder Manier, ließen sich mit dem Fragebogen schlecht erfassen (1982c: 166). Das beruhte nicht allein auf der gewählten Methode, sondern auch auf dem Gegenstand, der Praxis. Formen der Praxis sind eben auf ihre reale Performanz angewiesen und sind selten losgelöst von ihr reproduzierbar. Bourdieu zufolge verhält sich die soziale Beziehung der Befragung mittels Fragebogen zur Praxis wie die ökonomische Theorie zum wirklichen Markt (1982c: 165). Da aber Theorie ebenso wenig vorgeben kann, Praxis zu sein, wie diese losgelöst von praktischen Situationen funktioniert, bleibt Reflexivität erneut Bourdieus Mittel der Wahl. Er hinterfragte stets die Situation der Erhebung und das eingelassene Vorverständnis beider Seiten (vgl. 1993b: 216ff ). Das eigene Vorverständnis sollte sogar als empirisches Material betrachtet und ausgewertet werden. Die lückenhaften Daten wurden durch die Einbeziehung des Soziologen selbst ergänzt- - damit wurde das ungeschriebene Gesetz verletzt, den Soziologen nicht als gesellschaftliches Subjekt zu betrachten (1982c: 794). Es ist allerdings zweifelhaft, ob Bourdieu sein eigenes Vorverständnis tatsächlich kritisch reflektiert und offen geäußert hat. Aus der Darstellung lässt sich das kaum ersehen, schon gar nicht in Form kritischer Einstellung. Für die Auswertung wählte Bourdieu die multiple Korrespondenzanalyse (1982c: 403). Diese Methode wird kurz und verständlich bei Fuchs-Heinritz und König (2005: 50ff ) erklärt (ausführlicher siehe Blasius 2001). Die durch sie aufgefundenen Einheiten müssen mit denen konfrontiert werden, die sich durch die Einteilungsprinzipien konstruieren lassen, nach denen die Hauptklassen von Lebensbedingungen objektiv definiert sind. Damit geht man genau umgekehrt vor wie das alltägliche Bewusstsein, wenn es gesellschaftlich konstituierte Schemata auf Handlungen und Merkmale anwendet und diese dann zu unterschiedlichen Lebensstilen erklärt. Die Korrespondenzanalyse ist von Bourdieu weder exakt und vollständig durchgeführt noch genau belegt worden (Blasius, Winkler 1989). In den ersten beiden Teilen der »Feinen Unterschiede« verzichtet er sogar ganz auf diese Methode und bietet nur einfache Tabellen. Aus keiner einzelnen empirischen Methode oder Datensammlung ließen sich seine Ergebnisse belegen. Das beruht auf der Durchdringung von Empirie und Theorie sowie der verschiedenen Analyseebenen, die Bourdieu anstrebt. Blasius und Winkler (1989) kritisieren ganz präzise die verschiedenen Mängel von Bourdieus Empirie, ohne ihr Ergebnis abzulehnen, weil sie sich jener Durchdringung bewusst sind. Bourdieu versucht, auf der mittleren Ebene zu bleiben (siehe multiple Korrespondenzanalyse <?page no="180"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M+Marginalie]__Rehbein__Soziologie_Bourdieus(3)___[Druck-PDF]/ 23.05.2016/ Seite 180 www.claudia-wild.de: [UTB-M+Marginalie]__Rehbein__Soziologie_Bourdieus(3)___[Druck-PDF]/ 23.05.2016/ Seite 181 5.5 Zur Methode 181 2. Kapitel). Die Deutung der Lebensstile, seiner Merkmale und der Daten hat Bourdieu allerdings nicht erläutert. Das gilt auch für die Theoreme und Begriffe. Anders gesagt, aus hermeneutischer Perspektive sind »Die feinen Unterschiede« nicht ganz befriedigend. Ursprünglich sollte die Darstellung des Werks dem tatsächlichen Forschungs- und Erkenntnisprozess folgen (1982c: 784). Dann wäre das Begründungsproblem der Begriffe, Theoreme und Deutungen offenkundiger gewesen. Das gesteht Bourdieu freimütig ein (ebd.). Und er bemüht sich, zumindest den Forschungsprozess im Anhang nachvollziehbar zu machen. In diesem Zusammenhang äußert er auch, beim Schreiben vor allem zwei Schwierigkeiten begegnet zu sein (1982c: 797): Erstens sollte der Sprache abverlangt werden, was sie eigentlich zu leugnen hat; zweitens musste man Fragen stellen, die im Gegenstandsbereich selbst als banausisch abqualifiziert würden. Außerdem musste das Geschriebene »vulgär und terroristisch« wirken, weil es dem legitimen Geschmack widersprach (ebd.). <?page no="181"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M+Marginalie]__Rehbein__Soziologie_Bourdieus(3)___[Druck-PDF]/ 23.05.2016/ Seite 182 <?page no="182"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M+Marginalie]__Rehbein__Soziologie_Bourdieus(3)___[Druck-PDF]/ 23.05.2016/ Seite 182 www.claudia-wild.de: [UTB-M+Marginalie]__Rehbein__Soziologie_Bourdieus(3)___[Druck-PDF]/ 23.05.2016/ Seite 183 183 6 Symbolische Gewalt In Algerien entdeckte Bourdieu die Differenz zwischen offizieller, vor allem sprachlich demonstrierter, und alltäglicher Wirklichkeit. Es gab einen Bereich der Kolonialherrschaft, der für Franzosen der einzig existierende war. Daneben aber gab es die algerische Gesellschaft, die Bourdieu als eine traditionale analysierte. Beide Gesellschaften existierten gleichzeitig und äußerlich als eine Gesellschaft, waren aber doch fundamental verschieden. Diese Entdeckung eröffnete ihm die Differenzierung zwischen Klasse und Klassifikation, Wort und Sache, Feld und Habitus, zwischen verschiedenen sozialen Feldern, Gruppen und Habitus. Die Differenzen fand er im französischen Bildungssystem wieder, insbesondere in der Differenz zwischen dem nominellen und realen Wert eines Titels (vgl. 1981a: 90ff, 2004a: 151). Das Bildungssystem spielt eine wichtige Rolle bei Konflikten über die Definition des Arbeitsplatzes, den Zugangsvoraussetzungen zum Arbeitsplatz, die Vergütung und die Bezeichnung des Arbeitsplatzes. In den Kämpfen um die Klassifizierung geht es um die Differenz von Name und Wirklichkeit (1981a: 103f ). Die Differenz trug sicher dazu bei, Bourdieu zur Beschäftigung mit Cassirers Begriff des Symbols zu bewegen (explizit 1970b). Cassirers symbolische Formen umfassen ganz grob die Welt menschlicher Repräsentationen, das, was durch Zeichen oder Abbildungen vermittelt ist. Bourdieu wollte die symbolische Welt soziologisch untersuchen. Er fasste die symbolischen Formen als einen Aspekt der sozialen Welt auf, der nur durch Soziales zu erklären sei. Das »nur« ist durchaus doppeldeutig gemeint. Bourdieu schwankte auch in Bezug auf das Symbolische zwischen einem soziologischen Reduktionismus und einer relativistischen Auffassung seiner Wissenschaft. Das Schwanken beruht auf seinem Erkenntnisinteresse. Wie am Bildungswesen und an den Lebensstilen interessierte ihn am Symbolischen die Reproduktion sozialer Ungleichheit, genauer: die Erkenntnis ihrer Mechanismen zum Zweck der Emanzipation von Zwängen. Am Symbolischen war in erster Linie das von Bedeutung, was Bourdieu als symbolische Gewalt bezeichnete. Das Kapitel skizziert, wie Bourdieu die symbolische Gewalt in verschiedenen Bereichen analysierte. Nach einer allgemeinen Einführung in den Begriff der symbolischen Gewalt wird ihr zentrales Medium betrachtet, die Sprache. Sodann werden Bereiche thematisiert, in denen sich die Gewalt besonders auswirkt, die Politik, die führenden Wirtschaftsunternehmen und das Geschlechterverhältnis. Politik und Wirtschaft werden in einem gemeinsamen Abschnitt betrachtet, weil ihr Verhältnis zum Staat genauer bestimmt werden soll. Der Staat ist nach Bourdieu die Instanz, die in der Gesellschaft symbolische Formen symbolische Gewalt <?page no="183"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M+Marginalie]__Rehbein__Soziologie_Bourdieus(3)___[Druck-PDF]/ 23.05.2016/ Seite 184 184 6 Symbolische Gewalt letztlich über die symbolische Macht verfügt. Das ist eine eigenartige Auffassung vom Staat, die vielfältig und scharf kritisiert worden ist. Obgleich die Kritik berechtigt ist, weist die Auffassung doch neue Wege aus einem substanzialistischen und kategorisierenden Verständnis des Staates. Bourdieu betrachtet das Symbolische als eine eigene Wirklichkeit, als eine Dimension der menschlichen Welt und des Handelns (1992b: 41). Sprechen kann Handeln sein oder sich auf das Handeln beziehen, also eigenständig vorkommen. Aber das Handeln hat stets auch eine symbolische Komponente, einen Sinn. »Das Handeln hängt zu einem Großteil von den Worten ab, mit denen man darüber spricht.« (1993b: 62) Die Worte selbst können soziale Folgen haben (2004a: 151f Fn): Eine Bescheinigung über Krankheit verleiht das Recht auf Krankheitsurlaub. Ein falsches Wort im Arbeitsvertrag kann den Charakter der Tätigkeit (oder die Bezahlung) völlig ändern. Die Sprache eines Verantwortlichen hat Autorität. Sie kann wirklich werden lassen, was sie ausspricht (1993: 64). Die Differenz zwischen Wort und Sache bzw. Struktur entgeht den Ethnomethodologen, die nur die Worte des Alltags aufzeichnen. Sie sind dem Positivismus näher als der Phänomenologie (2004a: 151f Fn). Der Kampf um Worte ist ein wesentlicher Bestandteil des Klassenkampfs (1993b: 61). Die Klassifikationen, also die sozialen Trennungen zwischen Menschen und zwischen Phänomenen, sind symbolische Formen. Der Streit um eine Benennung ist ein Streit um eine soziale Differenz und damit auch um soziale Macht (Fröhlich 1994: 48). Die Macht tritt genau dann in Kraft, wenn die Differenz anerkannt ist. Axel Honneth hat aus der Mehrdeutigkeit des Terminus »Anerkennung« eine interessante und wirkungsmächtige Theorie entwickelt (Honneth 1992). Er schöpft jedoch nicht alle Konnotationen aus. Bei ihm umfasst die Bedeutung in erster Linie Akzeptanz und Prestige (siehe Honneth in Bourdieu 1992b: 36). Der französische Terminus »reconnaissance« bedeutet jedoch auch ganz einfach »Erkenntnis«. Diese drei Bedeutungen sind bei Bourdieu zweifellos gemeint. Die soziale Differenz wird erkannt, akzeptiert und zur Distinktion eingesetzt. Der Dreischritt läuft nicht bewusst ab, sondern ist in den meisten Fällen durch die Sozialisation im Habitus inkorporiert (1990: 28). Das Fehlen von Bewusstsein ermöglicht den Fortbestand der sozialen Differenz und ihre Nutzung zur Distinktion. Die Verkennung der Willkür, die den sozialen Trennlinien und Bedeutungen zu Grunde liegt, ist der Ursprung symbolischer Gewalt (siehe hierzu Swartz 1997: 88f ). Die Beherrschten werden nicht nur durch physische Gewalt, ökonomische Not, rechtlichen Zwang oder Ressourcenungleichheit beherrscht, sondern auch durch soziale Klassifikation, durch Bedeutungen. das Symbolische Differenz zwischen Wort und Sache reconnaissance <?page no="184"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M+Marginalie]__Rehbein__Soziologie_Bourdieus(3)___[Druck-PDF]/ 23.05.2016/ Seite 184 www.claudia-wild.de: [UTB-M+Marginalie]__Rehbein__Soziologie_Bourdieus(3)___[Druck-PDF]/ 23.05.2016/ Seite 185 6 Symbolische Gewalt 185 »Alle Macht hat eine symbolische Dimension: Sie muss von den Beherrschten eine Form von Zustimmung erhalten, die nicht auf der freiwilligen Entscheidung eines aufgeklärten Bewusstseins beruht, sondern auf der unmittelbaren und vorreflexiven Unterwerfung der sozialisierten Körper.« (1997d: 165) Genau darauf verweist das Begriffspaar von Anerkennung und Verkennung (1992b: 59). »Wäre […] die soziale Welt auf ihre Wahrheit als Kräfteverhältnis reduziert, wäre sie nicht auch als legitim anerkannt, würde das Ganze nicht funktionieren.« (1993b: 25) Die Kräfteverhältnisse, also die realen sozialen Differenzen, werden nicht als Grundlage der symbolischen Differenzen erkannt. Und da die symbolischen Differenzen die realen reproduzieren und legitimieren, werden diese nicht mehr hinterfragt. Jene hingegen funktionieren unbewusst und werden in ihrer Funktionsweise verkannt. Die symbolischen Differenzen sind zugleich eine Verdoppelung und eine zusätzliche Dimension realer Differenzen. Symbolische Gewalt ist die Durchsetzung von Bedeutungen und ihrer Legitimität bei gleichzeitiger Verschleierung der Kräfteverhältnisse, die der Gewalt zu Grunde liegen. Auf diese Weise wird den Kräfteverhältnissen noch eine symbolische Kraft hinzugefügt (1973: 12). Die symbolische Gewalt gewinnt historisch gegenüber anderen Formen der Gewalt immer mehr an Bedeutung. 1 Die Demokratisierung der Gesellschaften nötigt zur Legitimation sozialer Ungleichheit. In den symbolischen Formen-- in ihren Differenzen, Ungleichheiten-- ist die Legitimation bereits enthalten, insofern ihr Ursprung verkannt wird. Die »sanfte Tour« ist die demokratische Form von Gewalt (1973: 28). Bourdieu führt ein interessantes Argument für diese These an. Er verweist darauf, dass sich im Bereich der Kultur, insbesondere im Hinblick auf symbolisch vermittelten Konsum, noch keine Interessenverbände gegründet haben, die für die Durchsetzung von Bedeutungen kämpfen (1993b: 66). Selbstverständlich wird um Bedeutungen gekämpft (1973: 29). Aber der Kampf findet größtenteils innerhalb der herrschenden Klasse statt. Die Sprache, mit der über die soziale Welt gesprochen wird, ordnet Menschen, Ereignisse und Eigenschaften sozial ein, definiert damit die Gestalt der sozialen Welt. Die Möglichkeit, diese Sprache zu gestalten, entspricht der Verteilung des Gesamtkapitals innerhalb einer Gesellschaft, insofern die Verteilung als Grundlage der symbolischen Formen verkannt wird. Denn 1 Lothar Peter (2004: 50f ) weist auf die Nähe des Grundprinzips symbolischer Gewalt zu Marx’ Warenfetisch und Webers Charisma hin. Es wäre sicher lohnenswert, diesen aufmerksamen und interessanten Hinweis zu einem epistemologischen Paar auszuarbeiten. Anerkennung und Verkennung symbolische Gewalt <?page no="185"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M+Marginalie]__Rehbein__Soziologie_Bourdieus(3)___[Druck-PDF]/ 23.05.2016/ Seite 186 186 6 Symbolische Gewalt die herrschende soziale Terminologie weist den herrschenden Menschen, Ereignissen und Eigenschaften die herrschenden Positionen innerhalb der sozialen Welt zu. Der herrschenden Sprache zufolge sind die Herrschenden zur Ausübung von Herrschaft berechtigt. Und zur Herrschaft gehört die Ausübung symbolischer Gewalt. Diese Möglichkeit bezeichnet Bourdieu als symbolische Macht. Sie ist für Bourdieu Inbegriff politischer Macht, denn sie schafft Trennlinien und Gruppen, zementiert oder verändert soziale Relationen (1992b: 153). Egon Christian Leitner bringt hierfür das Beispiel eines Papstes oder Präsidenten. Sie unterscheiden sich nur von Größenwahnsinnigen, weil man sie ernst nimmt und ihnen Legitimität zuschreibt (nach Leitner das »Recht auf legitimen Betrug«; 2000: 9). Die Legitimität-- also schlicht und einfach die anerkannte Bekleidung einer sozialen Position oder Verfügung über Kapital-- bildet eine spezifische Form von Kapital, das symbolische Kapital. Bourdieu sagt, symbolisches Kapital sei nichts anderes als ökonomisches oder kulturelles Kapital, insofern es nach den von ihm durchgesetzten Wahrnehmungskategorien erkannt und anerkannt ist. Daher reproduzierten sich die objektiven Machtbeziehungen tendenziell in den symbolischen Machtbeziehungen (1992b: 155). Das symbolische Kapital resultiert aus einer Umwandlung eines Machtverhältnisses in ein Sinnverhältnis und bezeichnet die immaterielle Gewalt, die andere Kapitalformen auf das Bewusstsein ausüben (Chauviré, Fontaine 2003: 14). Es liegt der Schluss nahe, den Begriff des symbolischen Kapitals für überflüssig zu halten, weil er die anderen Kapitalbegriffe lediglich verdoppelt. Man hat auch versucht, den Begriff auf soziales oder kulturelles Kapital zu reduzieren-- zumal Bourdieu selbst die Unterschiede erst im Laufe seiner Forschung präzisiert hat und Ambivalenzen nie ganz beseitigen konnte. In der Tat ist es vielleicht problematisch, den Begriff des Kapitals auf zwei Ebenen, der realen und der symbolischen, anzusiedeln (Swartz 1997: 92). Aber gerade die Existenz dieser zwei Ebenen zeigt, dass ein Begriff des symbolischen Kapitals ganz und gar nicht überflüssig ist und nicht auf eine andere Kapitalsorte reduziert werden kann. Das kann nur behaupten, wer sich noch nie mit der Soziologie symbolischer Formen beschäftigt hat. Die Sprache zeichnet sich durch einen eigentümlichen Doppelcharakter aus, einerseits Handlung, andererseits Reflexion, einerseits eine eigene Wirklichkeit, andererseits die Verdoppelung der Wirklichkeit zu sein (siehe Rehbein, Sayaseng 2004). Genau das hat Bourdieu erkannt. Und diese Erkenntnis gehört nicht zu den Schwächen, sondern zu den Stärken seiner Soziologie, auch wenn er das Potenzial nicht voll ausgeschöpft, sondern oft versucht hat, das Symbolische auf das Soziale zu reduzieren. Hieraus folgen die Ambivalenzen, auf die David Swartz hingewiesen hat (Swartz 1997: 92). symbolische Macht symbolisches Kapital <?page no="186"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M+Marginalie]__Rehbein__Soziologie_Bourdieus(3)___[Druck-PDF]/ 23.05.2016/ Seite 186 www.claudia-wild.de: [UTB-M+Marginalie]__Rehbein__Soziologie_Bourdieus(3)___[Druck-PDF]/ 23.05.2016/ Seite 187 6 Symbolische Gewalt 187 Das symbolische Kapital verschafft einen spezifischen Profit, nämlich in erster Linie Distinktion. Aber bereits die Übereinstimmung des Handelns oder einer Eigenschaft mit den herrschenden Klassifikationen wirft einen Profit ab: das zu tun, was sich gehört (1992b: 100). Die sozialen Klassifikationen sind im Habitus inkorporiert. Wer über den Habitus der Herrschenden verfügt, streicht Gewinne der Distinktion ein und verfügt über symbolische Macht. Wer über den Habitus der Beherrschten verfügt, kann immer noch den Profit aus Legitimität einstreichen. Die Verkörperung der symbolischen Gewalt in der eigenen Person und ihre Verbindung mit symbolischen Profiten führt dazu, dass Denk- und Handlungsmuster auch dann fortbestehen, wenn die ihnen zu Grunde liegenden Machtverhältnisse verschwinden (1997d: 170). Genau an dieser Stelle vermag Bourdieu einen Zirkel zu durchbrechen, der seine emanzipatorische Begründung charakterisiert (siehe oben 2.4). Da symbolische und reale Ebene einander entsprechen, aber nicht identisch sind, ist eine symbolische Revolution möglich. Besser gesagt: Es ist möglich, die realen Zwänge kritisch zu erkennen. Wenn ihnen das gelingt, sind die Beherrschten der symbolischen Gewalt nicht mehr unterworfen (2004a: 17). Die Soziologie soll die Zwangszusammenhänge erkennen, damit sie den von ihnen Beherrschten bewusst werden und sie sich von ihnen befreien können. Leider bestehen auch nach der Erkenntnis der Zwangszusammenhänge zwei Zirkel fort. Erstens können die Zusammenhänge nur mit einem Habitus erkannt werden, der selbst innerhalb dieser Zusammenhänge gebildet wurde. Zweitens sind die realen Klassifikationen mit der Erkenntnis noch nicht aufgehoben; dazu bedarf es eines Kampfes, der von Positionen innerhalb der Zusammenhänge geführt wird. Beide Zirkel sind gleichsam hermeneutischer Art, was Bourdieu deutlich gesehen hat. Sie müssen durch erkennende und praktische Tätigkeit fruchtbar gemacht werden. Es gibt allerdings kein logisches Argument, dass die Tätigkeit zu einer Verbesserung und nicht zu einer Verschlechterung führt, ja es ist sogar die Frage, ob nicht stets eine Art von symbolischer Gewalt durch eine andere ersetzt wird. Bourdieus öffentliches Wirken scheint mir der Versuch gewesen zu sein, den hermeneutischen Zirkel durch die Praxis fruchtbar zu machen (siehe 7.3). Er fußt auf der Differenz von Realem und Symbolischem. »Die Konstruktion einer allgemeinen Theorie der symbolischen Herrschaft ist heute vielleicht das politisch Allerdringlichste.« (1997e, 220) Profit aus Legitimität symbolische Revolution <?page no="187"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M+Marginalie]__Rehbein__Soziologie_Bourdieus(3)___[Druck-PDF]/ 23.05.2016/ Seite 188 188 6 Symbolische Gewalt 6.1 Sprache Die wichtigste Form des Symbolischen ist die Sprache. Bourdieu hat zahlreiche Aufsätze und einen Essay (1990) über die soziologische Analyse der Sprache geschrieben. Etwas früher als Bourdieu hat Habermas die Analyse der Sprache in die Soziologie eingeführt, wenn auch mit einem anderen Stellenwert (siehe oben 2.4). Man könnte vereinfachend sagen, dass Sprache bei Habermas Anfang und Ziel bildet, während sie bei Bourdieu einen intermediären Status hat. Ihre Analyse wurzelt in der Sozialstruktur und soll die Befreiung von ihren Zwängen ermöglichen. Dementsprechend sagt Bourdieu wenig über Grammatik und Semantik, über Kommunikation und Ausdruck (Bohn 1991: 87). Er unterscheidet eine grammatische und eine soziale Dimension. »Die Eigenschaften, die die perfekte Sprachbeherrschung ausmachen, lassen sich mit zwei Wörtern zusammenfassen: Distinktion und Korrektheit.« (1990: 38) Die Fähigkeit, richtige Sätze zu bilden, reicht soziologisch zum Sprechen noch nicht aus. Man muss Sätze bilden können, auf die gehört wird, die also sozial akzeptabel sind (1990: 32). Die formale Korrektheit ist Gegenstand der Grammatik, der soziale Sinn, den Bourdieu auch als objektiven Sinn bezeichnet, ist Gegenstand der Soziologie (1990: 12). Die Linguisten, auf die sich Bourdieu bezieht (Chomsky und Saussure), beschränken ihre Analyse auf die Grammatik. Im Anschluss an Saussure hat man Bourdieu zufolge die innere von der äußeren Sprachwissenschaft abgetrennt und jener den Status einer Naturwissenschaft verliehen (1990: 8ff ). Beziehungen zur Ethnologie, Geschichte und Geographie sowie zur Gesellschaft gingen damit verloren. Nicht zuletzt die Ethnologie ist diesem Vorbild gefolgt. Die Soziologie kann sich diesem Vorbild nur dann entziehen, wenn sie die sozialen Bedingungen der Bildung von Äußerungen in den Sprachwissenschaften selbst aufdeckt. Saussure reduziert alle Handlungen auf symbolischen Tausch. Gleichzeitig aber sind sie auch Machtbeziehungen. Die Alternative zwischen Kulturalismus und Ökonomismus will Bourdieu überwinden, um eine Ökonomie des symbolischen Tauschs zu entwickeln. Er will die Sprache nicht als formales System untersuchen, sondern als einen Typus soziokultueller Handlungen. Tatsächlich sagt er über Kultur und Kulturen recht wenig, umso mehr jedoch über soziale Differenzen. Das formale Regelsystem von Saussures Linguistik suggeriert eine Einheit der Sprache, die Saussure im Begriff der »langue« fasst. Die Einheit unterstellt, dass der Schatz an grammatischen Regeln und lexikalischen Ausdrücken allen Mitgliedern einer Gesellschaft im selben Maß zur Verfügung steht und sich alle in gleicher Weise des Schatzes bedienen dürfen. Selbstverständlich ist sich Saussure der Vielheit von Dialekten und Soziolekten bewusst, aber sie versucht er aus seiner Grammatik zu verbansoziologische Analyse der Sprache Saussure <?page no="188"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M+Marginalie]__Rehbein__Soziologie_Bourdieus(3)___[Druck-PDF]/ 23.05.2016/ Seite 188 www.claudia-wild.de: [UTB-M+Marginalie]__Rehbein__Soziologie_Bourdieus(3)___[Druck-PDF]/ 23.05.2016/ Seite 189 6.1 Sprache 189 nen. Die »parole« ist ein individuelles, kontingentes Phänomen und gehört nicht in die strukturale Linguistik (Saussure 1984: 30ff ). Bourdieu greift die Trennung von langue und parole an. Für ihn ist sie sinnlos, denn jedes symbolische System setzt ein soziales System voraus, mit dem es verknüpft ist. Rolf-Dieter Hepp (2000: 55) hat darauf hingewiesen, dass Bourdieu seine Theoreme an Mannschaftsspielen exemplifiziert, Saussure dagegen gerne am Schachspiel. Damit verbinden sich Unterschiede in der Deutungsweise der Phänomene. Ein grundlegender Unterschied ist die individualistische, sprecherzentrierte Deutung der Sprache bei Saussure, die er mit Chomsky gemeinsam hat. Im Gegensatz zu Saussure fasst Chomsky Sprache als historisch auf und leugnet die grundlegende Trennung von langue und parole. Es gebe vielmehr verschiedene Schichten der Spracherzeugung, deren fundamentale ein generatives, biologisch fundiertes Prinzip sei, über das alle Menschen verfügen. Bourdieu widerspricht nicht dieser Vorstellung, hält sie aber für unzureichend (siehe oben 3.1). Das generative Prinzip sei selbst historisch-- nämlich der Habitus-- und werde in Entstehung und Anwendung sozial strukturiert (1990: 115; siehe auch Bohn 1991: 66f ). Zum Verständnis von Sprache kann die Soziologie also mehr beitragen als die Biologie. Bourdieus Soziologie ist eine Ökonomie der Praxis. Die Ökonomie der sprachlichen Güter ist nur ein Sonderfall der sozialen Ökonomie. Sie hat die Strategien der Akkumulation, Reproduktion und Umwandlung von Kapital zum Gegenstand, die allesamt dazu dienen, die soziale Position zu erhalten oder zu verbessern (Chauviré, Fontaine 2003: 15). Mit ihren Mitteln wird auch die Sprache untersucht. »Jede Sprachsituation fungiert […] als ein Markt, auf dem der Sprecher seine Produkte absetzt, und das von ihm produzierte Produkt ist abhängig von seiner Antizipation der Preise, die seine Produkte erzielen werden.« (1993b: 94) Beim Sprechen herrscht nicht nur ein Kommunikationsverhältnis, sondern auch ein ökonomisches Verhältnis, in dem es um den sozialen Wert der Sprechenden und ihrer Produkte geht. Im sprachlichen Handeln treffen zwei unabhängige Kausalreihen aufeinander: der sprachliche Habitus (Neigungen des Ausdrucks, sprachliche Fähigkeiten und soziale Fähigkeit der Anwendung) und die »Strukturen des sprachlichen Marktes« (1990: 11f ). Die Unabhängigkeit ist allerdings erst durch die Ausdifferenzierung der Felder gewährleistet (1992b: 95; siehe 5.2). Auf dieser Basis entwickelt Bourdieu wie in den »Feinen Unterschieden« eine-- mathematisch unsinnige aber begrifflich klare- - Formel: Sprachlicher Habitus + sprachlicher Markt =- sprachlicher Ausdruck (1993b: 115). Der Wert einer sprachlichen Äußerung hängt von der Konjunktur der Bedeutungen auf dem Markt ab. Für die Reproduktion der Marktstrukturen sorgt das Bildungssystem Chomsky Ökonomie der-sprachlichen Güter Sprachlicher Habitus + sprachlicher Markt =-sprachlicher Ausdruck <?page no="189"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M+Marginalie]__Rehbein__Soziologie_Bourdieus(3)___[Druck-PDF]/ 23.05.2016/ Seite 190 190 6 Symbolische Gewalt (1990: 34). Auch die Bedeutungen hängen vom Markt ab. »Es gibt so viele Bedeutungen eines Wortes, wie es entsprechende Verwendungsweisen und Märkte gibt.« (1988b: 95). Und es gibt ebenso viele Rhetoriken (1998b: 96). »Die verschiedenen Bedeutungen eines Wortes werden über die Beziehung seines unveränderlichen Kerns zu der spezifischen Logik der verschiedenen Märkte definiert, deren eigene Stellung sich objektiv über ihr Verhältnis zu demjenigen Markt bestimmt, auf dem die allgemeinste Bedeutung definiert wird.« (1990: 14) Die Märkte entsprechen tendenziell den Feldern (Rehbein, Sayaseng 2004: 97ff ). Am Beispiel des Béarnais erläutert Bourdieu etwas genauer, wie er sich die Analyse der Märkte vorstellt (1989b: 6f ). Im Wahlkampf spricht der Politiker im Béarn die Lokalsprache, im Amt wird Französisch gesprochen, im Alltag vor Ort ist es mit Spanisch oder Baskisch vermischt. Daher ist es sinnlos, eine allgemeine, zeitlose Grammatik dieser Sprache (der langue des Béarnais) zu schreiben: Wo existiert sie? Die Ökonomie der sprachlichen Güter basiert auf den sozialen Differenzen, sie übersetzt diese in das symbolische Universum. Das Verhältnis zwischen beiden Systemen soll für Bourdieu Gegenstand einer strukturalen Sprachsoziologie werden. »Sprechen heißt, sich einen der Sprachstile anzueignen, die es bereits im Gebrauch und durch den Gebrauch gibt und die objektiv von ihrer Position in der Hierarchie der Sprachstile geprägt sind, deren Ordnung ein Abbild der Hierarchie der entsprechenden sozialen Gruppen ist.« (1990: 31) In dieser Hinsicht ist Sprache nur ein Aspekt des Lebensstils-- und symbolisches Kapital ein Sonderfall des kulturellen Kapitals. Bourdieu schreibt, Diskurse seien nicht nur Kommunikation, sondern auch Zeichen des Reichtums und der Autorität, »und der hierbei implizierte rein instrumentelle Gebrauch der Sprache steht gewöhnlich im Widerspruch zum- - oft unbewußten- - Streben nach symbolischem Profit. Möglich ist dies, weil in der Praxis des Sprechens außer der Information, die als solche deklariert wird, ganz unvermeidlich auch noch eine Information zu der (differenzierenden) Art und Weise des Kommunizierens übermittelt wird, das heißt zum Sprachstil« (1990: 45). <?page no="190"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M+Marginalie]__Rehbein__Soziologie_Bourdieus(3)___[Druck-PDF]/ 23.05.2016/ Seite 190 www.claudia-wild.de: [UTB-M+Marginalie]__Rehbein__Soziologie_Bourdieus(3)___[Druck-PDF]/ 23.05.2016/ Seite 191 6.1 Sprache 191 Man könnte sagen, dass die sozialen Differenzen erst durch ihre sprachliche Darstellung einen Sinn bekommen (Hepp 2000: 117). Die sprachliche Darstellung gilt auch für die Aspekte des Lebensstils, die keine symbolischen Formen sind. Darin besteht ein Unterschied zwischen kulturellen und symbolischen Formen, auch wenn sie überlappen. Für Bourdieu ist die Produktion von sprachlichen Äußerungen nicht von ihrer Rezeption zu trennen. Das ist ein Aspekt der Betrachtung von Sprache als Markt. Die Produzenten richten sich an den »Gesetzen der Maximierung des symbolischen Profits« aus (1990: 57). Es gibt viele gleichbedeutende Ausdrucksformen. Welche gewählt wird, ist ein Kompromiss zwischen Ausdruck und Zensur. Der Habitus umfasst einen Sinn für das Verhältnis von Kompetenz und Markt. An der (unbewussten) Einschätzung richtet sich die Wahl der sprachlichen Form aus. »In der Form und der von ihr geformten Information verdichtet und symbolisiert sich die ganze Struktur des sozialen Verhältnisses, dem sie ihre Existenz und ihre Wirkung verdankt (die berühmte illocutionary force).« (1990: 60) Bourdieu verweist hier auf John L. Austins Theorie der Sprechakte. Beide fassen die Produktion sprachlicher Äußerungen nicht als formale Angelegenheit der Grammatik, sondern als soziales Handeln auf. Die sprachliche Äußerung, der »Sprechakt«, umfasst Austin zufolge nicht nur semantische Aspekte, also die Bedeutung, sondern auch soziale (Austin 1972: 26f ): Welchen Status hat die Äußerung (beispielsweise Bitte, Befehl, Wunsch), und was soll sie bewirken? Für das Gelingen einer bestimmten Klasse von Äußerungen, nämlich den performativen, muss es sogar Hörer geben, die auf diese Fragen reagieren (ebd.: 42). Den Status bezeichnet Austin als illokutionären Bestandteil des Sprechakts, die außersprachliche Wirkung als perlokutionär (ebd.: 115f ). Beide Aspekte werden von Bourdieu nicht unterschieden. Er führt sie auf das soziale Verhältnis zwischen Sprecher und Hörer und dieses auf ihre Positionen im Feld, also auf dem jeweiligen Markt, zurück. Austin hält er entgegen: »Die Macht der Wörter ist nichts anderes als die delegierte Macht des Sprechers« (1990: 73). Das ist zweifellos keine Widerlegung von Austins Theorie, aber durchaus eine mögliche Erweiterung. Die sozialen Aspekte von Sprachverwendung werden gewöhnlich als Pragmatik bezeichnet. Bourdieu führt Kräfteverhältnisse und soziale Unterschiede in die Pragmatik ein und verknüpft sie so mit der Soziologie (vgl. Rehbein, Sayaseng 2004: 15ff ). Austins Paradebeispiel eines performativen Sprechakts, auf das Bourdieu sich gerne bezieht, ist das einer Schiffstaufe. Indem die Benennung ausgesprochen wird, ist das Schiff tatsächlich benannt. Bourdieu fügt hinzu, das sei nur der Fall, wenn die benennende Person dazu befugt ist (1990: 52). Nun kann man nicht nur zur Definition von Objekten befugt sein, son- Produktion Rezeption Austin <?page no="191"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M+Marginalie]__Rehbein__Soziologie_Bourdieus(3)___[Druck-PDF]/ 23.05.2016/ Seite 192 192 6 Symbolische Gewalt dern auch die Sprache selbst wird von Befugten definiert. Zunächst ist die Definition einer bestimmten Sprache eine politische Handlung. Wer beispielsweise vom Béarnais spricht, kann es als Dialekt oder als Sprache, als Einheit oder als Vielheit, als Sonderfall des Französischen oder als Mischform betrachten (1989b: 5). In Frankreich hat Bourdieu zufolge die Revolution einen einheitlichen Markt, einen einheitlichen Nationalstaat und eben auch eine einheitliche Sprache herbeigeführt (1990: 24ff ). Damit wurden die Märkte für kulturelle und symbolische Güter vereinheitlicht und unter die Kontrolle staatlicher Institutionen gestellt. Es entstand eine legitime Sprache. »Wer wie die Sprachwissenschaftler von der Sprache spricht, ohne sie näher zu bestimmen, übernimmt unausgesprochen die offizielle Definition der offiziellen Sprache einer bestimmten politischen Einheit« (1990: 20). 2 Die legitime Sprache ist keine demokratische Sprache. Nicht alle Bewohner Frankreichs haben die gleichen Möglichkeiten zu ihrer Erlernung und Anwendung. Die Kinder der herrschenden Klasse lernen sie zu Hause, die aus den beherrschten Klassen müssen sie verspätet in der Schule lernen (1990: 40f ). Ihre Anwendung verschafft in den unteren Klassen keine Distinktionsgewinne, wohl aber in den oberen. Die Definition der legitimen Sprache ist Gegenstand von Kämpfen, ganz ähnlich wie die in den »Feinen Unterschieden« geschilderten. Je offizieller der sprachliche Markt ist, desto mehr wird er von den Herrschenden beherrscht (1990: 48). Und je vollständiger der Markt von den offiziellen Bedingungen beherrscht wird, »desto mehr nähern sich die praktisch ermittelten Werte der Sprachprodukte […] ihrer Position in einem vollständigen System der Sprachstile auf einem hypothetischen einheitlichen Markt entsprechenden Wert an« (1990: 49). Die Sprache von Saussures und Chomskys Grammatik ist also Resultat eines sozialen Kampfes zwischen Inhabern unterschiedlichen Kapitals. Wer diese Sprache beherrscht, fährt symbolische Profite ein. Er oder sie spricht nicht nur die legitime Sprache und bekleidet damit eine hohe Position auf dem sprachlichen Markt, sondern demonstriert auch noch diese Übereinstimmung (1990: 100). Und wer die legitime Sprache definieren kann, beherrscht das sprachliche Universum. Auch in der Sprachanalyse scheint mir der Ökonomismus Bourdieus dort in eine falsche Richtung zu deuten, wo er reduktiv wird. Es ist vielleicht möglich, eine Theorie symbolischer Systeme aus dem binären Gegensatz zu entwickeln, und es könnte möglich sein, eine Theorie sozialer Systeme aus dem Gegensatz der Konkurrenz zu entwickeln. Problema- 2 Vgl. hierzu die ganz ähnlichen Gedanken von Deleuze (1980: 31ff ). Siehe auch Settekorn (1990). Definition der-legitimen Sprache <?page no="192"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M+Marginalie]__Rehbein__Soziologie_Bourdieus(3)___[Druck-PDF]/ 23.05.2016/ Seite 192 www.claudia-wild.de: [UTB-M+Marginalie]__Rehbein__Soziologie_Bourdieus(3)___[Druck-PDF]/ 23.05.2016/ Seite 193 6.2 Zwei Felder der Macht 193 tisch ist es, dann eine Theorie auf die andere zu reduzieren (Swartz 1997: 84ff ). Wenn Bourdieu sagt, eine Theorie der Sprache müsse Grammatik und Soziologie umfassen, so wird man ihm sicher nicht widersprechen. An vielen Stellen geht er jedoch über den schon in sich nicht sehr bescheidenen Ansatz hinaus und reduziert die Grammatik auf das Resultat sozialer Kämpfe und Sprechakte auf Strategien der Distinktion. Das bedeutet auch eine Reduktion von Kommunikation auf Macht. Grammatische Formen können jedoch nicht unmittelbar auf soziale Verhältnisse zurückgeführt werden. Und Sprechakte dienen nicht nur der Distinktion. Nur in der modernen Gesellschaft, die von Konkurrenz beherrscht und nationalstaatlich vereinheitlicht ist, spielt Distinktion eine wichtige Rolle (1997d: 211)- - aber nicht die ausschließliche, vielleicht nicht einmal die beherrschende, schon gar nicht in der Sprache. In diesem Punkt steht Bourdieu in krassem Widerspruch zu Wittgenstein, an dem er sich sonst so gerne orientiert. Zwar besteht auch für den späten Wittgenstein die Bedeutung sprachlicher Äußerungen größtenteils in ihrem (sozialen) Gebrauch (1984: # 43). Aber seine »Philosophischen Untersuchungen« dienen nicht zuletzt dem Aufweis, dass es »zahllose Arten« des Gebrauchs gibt (# 23). Um Bourdieus Sprachanalyse fruchtbar zu machen, muss man sie meines Erachtens nicht als Theorie der Sprache insgesamt, sondern als Theorie symbolischer Gewalt lesen. Sie erklärt den Kampf um Sprachstile, um Legitimität, symbolische Trennlinien und symbolische Macht (vgl. Bohn 1991: 72, 124). 6.2 Zwei Felder der Macht Im Folgenden sollen zwei Felder etwas genauer betrachtet werden, die ein besonderes Verhältnis zur symbolischen Gewalt haben. Es handelt sich nicht um symbolische Universen, und es geht auf ihnen auch nicht nur um symbolische Gewalt. Aber aus ihnen werden Bourdieus Begriffe der symbolischen Gewalt und des Staates etwas verständlicher. Und sein spezifischer Blick auf das Symbolische, der sich für den Kampf um symbolische Macht interessiert, ist dort besonders fruchtbar, wo es vorrangig und explizit um Macht geht. Das politische Feld ist die Arena, in der um die Herrschaft über den Staat gekämpft wird. Daneben hat jedes bourdieusche Feld ein Machtfeld, also einen Bereich, in dem es um die Herrschaft über das jeweilige Feld geht. Das politische Feld ist ein besonderes Feld, weil es mit der Öffentlichkeit verwoben ist (2001c: 34) und weil es um die Herrschaft über den Staat, also zumindest über die symbolische Dimension der Gesellschaft geht, wenn nicht über die Gesellschaft insgesamt. Reduktion von Kommunikation auf Macht <?page no="193"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M+Marginalie]__Rehbein__Soziologie_Bourdieus(3)___[Druck-PDF]/ 23.05.2016/ Seite 194 194 6 Symbolische Gewalt In einigen kurzen Texten hat sich Bourdieu über die Struktur des politischen Feldes geäußert (gesammelt in 2001c). Wir gehen meist davon aus, dass Politik in einer Demokratie Sache aller Bürgerinnen und Bürger sei, die bestimmen, wer ihre Interessen wie vertritt. Bourdieu analysiert die Politik dagegen als ein zunehmend autonomes Feld, dessen einzige Besonderheit eben die Verbindung zu den Bürgerinnen und Bürgern ist (2001c: 34, 76). Die Welt der Professionellen der Politik-- die sich vor allem aus Politikern, Beratern und Journalisten zusammensetzt-- ist von der Welt der Laien getrennt (2001c: 29). Eine beschränkte Zahl von Personen, die die Zugangsbedingungen erfüllen, spielen ein Spiel, von dem die anderen ausgeschlossen sind. »Je mehr sich das politische Feld konstituiert, desto mehr verselbständigt es sich, professionalisiert es sich, desto mehr haben die Professionellen die Tendenz, auf die Laien herabzusehen.« (2001c: 44) Und je autonomer das Feld wird, desto schwieriger wird der Zugang zu ihm. Wer sich nicht für Politik interessiert oder sich nicht am Spiel beteiligt, ist meist nicht selbst daran schuld. Vielmehr sind die Zugangschancen zum Spiel und vor allem die Einflussmöglichkeiten ganz unterschiedlich verteilt, bei Frauen sind sie geringer als bei Männern, in den unteren Klassen geringer als in den oberen usw. (2001c: 30). Die unterschiedliche Verteilung der Ressourcen führt zur Differenzierung in Professionelle und Laien, zur Entstehung eines Marktes (2001c: 68). Die am Spiel Beteiligten kämpfen um das Monopol über die Ressourcenverteilung und um die symbolische Macht (2001c: 83). »Der Kampf, den die Professionellen untereinander ausfechten, ist zweifellos die Form par excellence des symbolischen Kampfs um die Bewahrung oder Veränderung der sozialen Welt durch die Bewahrung oder Veränderung der Sicht- und Teilungsprinzipien«, also des Kampfes um Klassifizierungssysteme (2001c: 81). Auf dem politischen Feld geht es um Legitimation von Klassifikationen und um Macht, insbesondere um die Macht, Klassifikationen durchzusetzen (2001c: 55). Wer den Status der Legitimität erlangt hat, dessen Meinungen und Vorhersagen sind gültig und wahr, alle abweichenden Äußerungen werden eben dadurch unwahr (2001c: 98). Das gilt für Journalisten ebenso wie für Politiker. Auf dem politischen Feld kämpfen einerseits Individuen auf eigene Rechnung um die Macht, andererseits sind die Individuen Interessenvertreter, Delegierte sozialer Gruppen (2001c: 118f ). Die politischen Fachleute besetzen im politischen Feld Positionen, die denen analog sind, die im sozialen Raum die Gruppen einnehmen, für die sie sprechen (2001c: 130). Auch das gilt für Politiker wie für Journalisten. Politiker sind Würdenträger, die ihr berufliches Kapital in politisches konvertieren konnten (2001c: 34). Dazu müssen sie sich die für das Handeln auf dem Feld not- Struktur des-politischen Feldes Professionelle und Laien <?page no="194"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M+Marginalie]__Rehbein__Soziologie_Bourdieus(3)___[Druck-PDF]/ 23.05.2016/ Seite 194 www.claudia-wild.de: [UTB-M+Marginalie]__Rehbein__Soziologie_Bourdieus(3)___[Druck-PDF]/ 23.05.2016/ Seite 195 6.2 Zwei Felder der Macht 195 wendigen Fähigkeiten aneignen und Initiationsriten durchlaufen (2001c: 74f ). Schließlich müssen sie sich Prestige erwerben. Prestige bestimmt Bourdieu als ein symbolisches Kapital, das an die Art und Weise gebunden ist, in der jemand wahrgenommen wird (2001c: 52f, 98). Der Erwerb und Einsatz von Prestige gehorcht einer eigenen Logik, die eben das Politische als ein eigenes Feld konstituiert. Eine Illusio, einen Sinn für das politische Spiel und ein Interesse an seinen Einsätzen und Profiten, haben alle auf dem Feld Agierenden gemeinsam (2001c: 47). In dieser Gemeinsamkeit stehen sie anderen Institutionen und Gruppen der sozialen Welt im Kampf um die Grenzen des politischen Feldes gegenüber (2001c: 60). Die Illusio des politischen Feldes wird auch von Beratern und Journalisten geteilt, die durch persönliche Kontakte mit den Politikern verbunden sind (2001c: 32). Das Prestige von Politikern ist von der Berichterstattung in den Medien abhängig, während die Medien von den Informationen abhängig sind, über die Berater und Politiker verfügen (2001c: 33). Durch die spezifische Konkurrenz zwischen den wenigen herrschenden Medien sind nur wenige Informationen und Meinungen für die Berichterstattung tauglich (siehe 7. Kapitel). Die politischen Berichterstatter müssen herrschende Themen und Meinungen reproduzieren, um ihren Job nicht zu verlieren und um ihr Medium konkurrenzfähig zu halten (2001c: 63). Und eben diese Themen müssen wiederum von den Politikern aufgegriffen und zur Steigerung ihres Prestiges genutzt werden. Hierbei handelt es sich meist um Themen, die leicht zu verstehen und letztlich unwichtig sind, denn nur sie zeitigen eine Wirkung in der Öffentlichkeit (2001c: 31). Intellektuelle haben keine Chance, ihre Themen von außen in das Feld einzubringen. Sie müssen entweder in das Spiel eintreten oder auf politischen Einfluss verzichten (2001c: 56). Wer über kein berufliches Kapital verfügt, wer also ökonomisch und kulturell unterprivilegiert ist, kann in der Demokratie nur über eine Partei Zutritt zum politischen Feld erlangen (2001c: 72). Die Parteien sind Akteure auf dem politischen Feld und bilden tendenziell in sich selbst eigene Felder. »Das politische Kapital eines politischen Akteurs ist zum einen abhängig vom politischen Gewicht seiner Partei und zum anderen von seinem eigenen Gewicht innerhalb der Partei.« (2001c: 53) Die sozial Unterprivilegierten verdanken normalerweise der Partei alles und sind ihr besonders treu. Ihre Position innerhalb des Parteiapparats hängt stark von ihrem kulturellen Kapital ab (2001c: 92). Daraus wiederum leiten sich grundlegende politische Haltungen ab. In den »Feinen Unterschieden« hat Bourdieu den Zusammenhang von Klasse, Position auf dem politischen Feld und politischer Meinung etwas genauer untersucht (siehe Vester 2002: 105f ). Das politische Feld wird nicht von den Beherrschten und nicht für sie gemacht. Auf ihm versuchen Berater und Journalisten Parteien Klasse, Position auf dem politischen Feld und politische Meinung <?page no="195"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M+Marginalie]__Rehbein__Soziologie_Bourdieus(3)___[Druck-PDF]/ 23.05.2016/ Seite 196 196 6 Symbolische Gewalt die Herrschenden, ihr symbolisches Kapital in symbolische Macht zu verwandeln. Im politischen Diskurs widersprechen die Beherrschten sich selbst und ihrer Praxis, weil sie politisch sprechen müssen, ohne im Besitz einer eigenen Sprache zu sein: Sie können das Sprachspiel der Herrschenden weder spielen noch durchbrechen (1982c: 722f ). Und wenn sie politische Kompetenzen erhalten, verfügen sie nicht über die Mittel zu ihrer Anwendung. Bei den Herrschenden dagegen- - und denen, die sich mit ihnen assoziieren-- besteht dagegen eine Übereinstimmung von Sprache, Habitus, politischer Meinung und sozialer Position (1982c: 668). Für sie ist die Informationspresse gemacht, für die Beherrschten die Sensationspresse (1982c: 699). Die ihnen zu Grunde liegenden Klassifikationen sind identisch, aber der Gehalt ist verschieden. 3 Die politische Meinung ist zunächst keine bewusste Überlegung, sondern Resultat des fortschreitenden Vertrautwerdens mit objektiv systematischen Denk- und Handlungsschemata, die mit der sozialen Position in engem Zusammenhang stehen (1982c: 656ff ). Mit der Position verknüpft sich ein bestimmter Lebensstil, auf den bestimmte Medien und Parteien zugeschnitten sind. Auf diese Weise entsteht die Sichtweise auf die soziale Welt und die Position in ihr. In die politische Entscheidung geht besonders stark die Vorstellung ein, die man sich von der sozialen Welt und der eigenen Stellung darin macht (1982c: 710). Die Position bestimmt wiederum, wie man die Medien und Parteien auffasst, welchen man sich verwandt fühlt, worin man sich wiedererkennt (1982c: 690f ). Beispielsweise steigt die Wahrscheinlichkeit, konservativ zu wählen, mit dem Gesamtkapital und dem Anteil des ökonomischen Kapitals in ihm (1982c: 687). In vielen Fragen sind die Auffassungen der Herrschenden jedoch liberaler als die der unteren Schichten-- solange ihre soziale Position nicht bedroht ist (1982c: 677f ). Auf diese Weise können soziologisch Spielräume des politisch möglichen Verhaltens ermittelt werden. Michael Vester hat das im Anschluss an Bourdieu und sehr viel detaillierter durchgeführt (siehe Vester et al. 2001, Vester 2002). Im »Staatsadel« (2004a) hat Bourdieu ein Feld konstruiert, das hinter dem politischen Feld und gleichsam inkommensurabel zu ihm steht, das »Feld der Macht«. »Das Feld der Macht ist ein Schauplatz von Kämpfen, deren Einsatz unter anderem die Hierarchie der ethischen Bewertungsprinzipien ist.« (2004a: 63) Das politische Feld ist eine Arena, in der um die 3 Michael Vester kritisiert, dass Bourdieus Theorie der politischen Repräsentation zu statisch sei, was mit den Besonderheiten Frankreichs zusammenhängen könne. Ferner schaue er letztlich nur auf den Staat. »Wie die meisten Theoretiker der öffentlichen Meinung berücksichtigt auch Bourdieu nicht systematisch die mittlere Machtebene, die zwischen der großen Politik und den einzelnen Individuen vermittelt.« (Vester 2002: 106). Feld der Macht <?page no="196"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M+Marginalie]__Rehbein__Soziologie_Bourdieus(3)___[Druck-PDF]/ 23.05.2016/ Seite 196 www.claudia-wild.de: [UTB-M+Marginalie]__Rehbein__Soziologie_Bourdieus(3)___[Druck-PDF]/ 23.05.2016/ Seite 197 6.2 Zwei Felder der Macht 197 Macht über die Öffentlichkeit gekämpft wird. Auf dem Feld der Macht geht es nun um die Macht im Ganzen, um die Kriterien zur Ausübung von Herrschaft, auch um die Spielregeln des politischen Feldes. Das Feld der Macht ist das Feld, auf dem Akteure und Institutionen mit hinreichend Kapital um die Bewertung unterschiedlicher Machtformen bzw. Kapitalsorten kämpfen (2004a: 321f ). Es geht um den Wechselkurs der Kapitalsorten und um die Legitimität der Sorten. Die Kapitalsorten sind Machtformen, die auf den einzelnen Feldern wirken. Die Felder sind aus einem Prozess der Differenzierung und Autonomisierung hervorgegangen. »Das Aufkommen eines Feldes der Macht ist eng verbunden mit dem Aufkommen einer Vielzahl relativ autonomer Felder, also mit einer Differenzierung der sozialen Welt« (2004a: 322 Fn). Auf den Feldern fungieren die Kapitalsorten als Einsätze und Trümpfe, und es geht in den Kämpfen um Akkumulation und Monopolisierung des Kapitals. Im Machtfeld geht es nicht mehr hierum, sondern um den relativen Wert der auf den Feldern erworbenen Kapitalsorten. Der Kampf um die Durchsetzung eines legitimen Herrschaftsprinzips resultiert in einer Arbeitsteilung der Herrschaft. Etwas äquivok spricht Bourdieu auch von Machtfeldern als den Bereichen innerhalb jedes Feldes, in denen um die Macht und die Bewertungskriterien des jeweiligen Feldes gekämpft wird. Man könnte sagen, dass jedes Feld ein Machtfeld hat und darüber hinaus die Gesellschaft insgesamt. Bourdieu zufolge weist jedes Machtfeld unveränderliche Züge auf, insbesondere den Gegensatz zwischen weltlichen und kulturellen Mächten (2004a: 323). In den »Feinen Unterschieden« konstruiert Bourdieu das Machtfeld dementsprechend wie im »Staatsadel«, entlang der vertikalen Achse des Gesamtkapitals und der horizontalen des relativen Anteils von ökonomischem und kulturellem Kapital. An der Spitze sind jeweils Positionen angesiedelt, die maximales ökonomisches mit großem kulturellen Kapital verbinden. Denn nur diese Kombination schwächt die ökonomische Konkurrenz so weit ab, um ein Maximum an sozialem Kapital erwerben zu können (2004a: 353). Nur wer über diese Kombination verfügt, kann sich an der Spitze halten-- und vor allem diese Position vererben. Im »Staatsadel« untersucht Bourdieu die Funktionsweise am Beispiel des ökonomischen Machtfelds im Frankreich der Achtzigerjahre. Wie im »Homo academicus« ordnet er die Namen der realen Individuen in sein Koordinatensystem ein und zeichnet die Relationen zwischen ihnen nach. Es war bereits im Abschnitt 4.3 erläutert worden, dass die Gruppe der Herrschenden sich zunehmend über das Bildungssystem reproduzieren muss. Eliten demokratischer Gesellschaften reproduzieren sich nicht mehr über das persönliche Erbe, sondern statistisch als Gruppe (2004a: 383). Mit der edlen Herkunft muss ein edler Titel einhergehen. Die französischen Groß- Macht und die-Bewertungskriterien <?page no="197"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M+Marginalie]__Rehbein__Soziologie_Bourdieus(3)___[Druck-PDF]/ 23.05.2016/ Seite 198 198 6 Symbolische Gewalt unternehmen werden fast nur noch von Menschen geführt, die die Pariser Eliteschulen besucht haben (2004a: 391f ). Dieser »Geschäftsadel« lebt im Bewusstsein, die eigene Position nicht mehr Reichtum und Geburt zu verdanken, sondern Intelligenz und Kompetenz (2004a: 389). Tatsächlich muss er über Titel verfügen, die den alten Familienunternehmern noch gleichgültig sein konnten. Diese werden zunehmend zu Lokalgrößen degradiert, deren politische Macht und soziales Kapital geographisch beschränkt sind (2004a: 368). Das soziale Kapital der Manager von Großunternehmen wurde dagegen von ihren Familien auf die Mitschüler in den Eliteschulen ausgeweitet, die die wichtigsten Führungspositionen in Wirtschaft und Politik besetzen (2004a: 220). Die gesamte Gruppe bildet den »Staatsadel«. Ihm stehen die Familienunternehmer ebenso gegenüber wie die technischen Führungskräfte und die Intellektuellen. Die Spitze des Staatsadels bilden die Erben der besten, oft adligen Pariser Familien. Sie haben die besten Schulen besucht, sind Mitglieder in den edelsten Clubs, verfügen über offizielle Ehrentitel, sind in Aufsichtsräten und politischen Vertretungen tätig und leiten Großunternehmen, allen voran die großen Banken (2004a: 377ff ). Die Banken kontrollieren zunehmend ganze Industriezweige, damit beherrschen ihre Vorstände das ökonomische Feld (2004a: 397). Gleichzeitig ist ihre Macht begrenzt, weil sie nur als Angestellte fungieren und auf den Wert ihrer Titel angewiesen sind. Sie können nur eine beherrschende Position auf dem Machtfeld erringen, wenn sie sich als Gruppe in den Dienst des Allgemeinen stellen und behaupten, die Interessen des Staates zu vertreten (2004a: 466). Das Zentrum der Macht befindet sich heute genau an der Schnittstelle von Banken, Industrie und Staat (2004a: 400). Diese Argumentation legt den Schluss nahe, dass Herrschaft früher autokratischer und reiner ausgeübt werden konnte. Aber Bourdieus Gedankengang ist komplexer. Macht scheint für ihn immer Gegenstand von Kämpfen gewesen zu sein, zunächst zwischen Gruppen mit mehr kulturellem und Gruppen mit mehr weltlichem Kapital. Zwischen dem Geburtsadel und dem Klerus stehend hat Bourdieu zufolge der Amtsadel für die Instanz eines Allgemeinen gekämpft, in denen die Interessen aller Bürgerinnen und Bürger vertreten und ihre Rechte geschützt werden, den Staat. Mit dem Staat hat der Amtsadel sich selbst und seine Machtposition geschaffen (2004a: 463). Es ist nur konsequent, dass der Amtsadel sich über ein Allgemeines, das Bildungswesen, reproduziert und über ein Allgemeines, den Staat, herrscht. Er ist ein Staats- und Schuladel geworden (ebd.). Vielleicht ist damit auch Bourdieus Auffassung der verschiedenen Machtfelder als Polarisierung von kulturellem und weltlichem Kapital hinfällig geworden, weil der Staatsadel beides vereint- - auf verschiedenen Ebenen: adlige und kultivierte Herkunft, teure Schulen und höchste schu- Zentrum der-Macht Amtsadel <?page no="198"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M+Marginalie]__Rehbein__Soziologie_Bourdieus(3)___[Druck-PDF]/ 23.05.2016/ Seite 198 www.claudia-wild.de: [UTB-M+Marginalie]__Rehbein__Soziologie_Bourdieus(3)___[Druck-PDF]/ 23.05.2016/ Seite 199 6.2 Zwei Felder der Macht 199 lische Titel, ökonomisches Kapital und kulturelles Kapital, politisches Prestige und fachliche Kompetenz. Ein Indiz dafür könnte sein, dass nach Geburtsadel und Klerus nun Familienunternehmer und Intellektuelle sozial absteigen. Bourdieu weist selbst darauf hin, dass technische Experten und Akademiker im Vergleich zum Staatsadel unterbezahlt sind und eine beherrschte Position einnehmen (2004a: 252f, 412). Es ist nur fraglich, ob diese beherrschte Stellung noch auf dem Machtfeld anzusiedeln ist. Lediglich über die symbolische Gewalt, über die Definition von Bedeutungen und über Klassifikation, greifen sie noch ein. 4 Diese Funktion müssen sie jedoch zunehmend an das von Politikern und Medien beherrschte politische Feld abgeben. Nicht zuletzt aus diesem Grund hält Bourdieu die Theorie der symbolischen Gewalt für eine derart wichtige Aufgabe. Gegen den puren Kampf der Interessen um die Macht müsse Wissenschaft im Dienst der Wahrheit-- oder zumindest der Kritik und des Allgemeinen-- in die Politik eingreifen (2004a: 412). Dieser Forderung ist er nachgekommen. Damit wird sich das folgende Kapitel beschäftigen. Der Gegensatz zwischen Kulturellem und Weltlichem führt vermutlich ebenso in eine Sackgasse wie die reduktive Tendenz beim Gebrauch des Gegensatzes insgesamt. Das legen Bourdieus eigene Gedanken zum Machtfeld nahe. Er begnügt sich nicht damit, dem Amts- und Staatsadel eine Zwischenstellung zuzuschreiben, sondern versucht, das Machtfeld als Konfiguration von Feldern, Gruppen, Positionen und Akteuren zu betrachten. »An die Stelle der einfachen Beziehungen zwischen antagonistischen und komplementären Machtpaaren, wie den oratores und den bellatores treten komplexe Beziehungen zwischen Feldern« (2004a: 472). Die Komplexität führt er auf eine Veränderung der Arbeitsteilung zurück. Sie ist nicht mehr mechanisch, sondern organisch (2004a: 399, 471f ). Die Entgegensetzung von mechanischer und organischer Solidarität stammt von Durkheim. In der mechanischen Solidarität der undifferenzierten Gesellschaften hängen die Menschen Durkheim zufolge über das Kollektivbewusstsein zusammen: Alle Menschen haben in etwa die gleichen Vorstellungen, weil sie die Tradition völlig verinnerlicht haben (Durkheim 1986: 52). Je mehr die Arbeitsteilung zunimmt, desto mehr nimmt der Einfluss des Kollektivbewusstseins ab und die Menschen werden freier (ebd.: 99, 285). Sie arbeiten immer mehr entsprechend ihren Neigungen und zum sozialen Nutzen in 4 So schreibt Lothar Peter (2004: 55) ganz im Sinne des früheren Bourdieu: Im Kampf zwischen intellektuellem und ökonomisch-politischem Pol der herrschenden Klasse geht es auch um das Definitionsmonopol über die symbolischen Güter. Gegensatz zwischen Kulturellem und-Weltlichem <?page no="199"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M+Marginalie]__Rehbein__Soziologie_Bourdieus(3)___[Druck-PDF]/ 23.05.2016/ Seite 200 200 6 Symbolische Gewalt kooperativer Weise zusammen und tun nicht mehr unreflektiert das, was die Tradition verordnet (ebd.: 99, 124f ). 5 Bourdieu beobachtete eine Arbeitsteilung der Herrschaft. Die Konkurrenz innerhalb der Felder und zwischen den Feldern sowie zwischen den Akteuren auf dem Feld der Macht als Individuen und Interessenvertreter führt zu einer komplexen Aufteilung der Arbeitsbereiche, Aufgaben und Kampffelder. Die Macht ist immer weniger Sache von Personen und mechanischer Solidarität, sondern äußert sich nur in der Gesamtheit von Feldern und Mächten, die durch organische Solidarität miteinander verbunden sind. Sie wird unsichtbar und anonym ausgeübt, reproduziert sich in Netzen von Akteuren und Institutionen, die gleichzeitig miteinander konkurrieren und sich ergänzen (2004a: 471f ). »Die Existenz einer Vielzahl partiell unabhängiger Hierarchisierungsprinzipien begrenzt den Kampf aller gegen alle innerhalb des Feldes der Macht und fördert eine Form von Komplementarität in der Konkurrenz, welche die Basis für eine wahrhaft organische Solidarität bei der Arbeitsteilung der Herrschaft bildet.« (2004a: 224) In dieser Organisation von Arbeitsteilung gibt es keine absolut Herrschenden mehr. Ich habe oben vermutet, dass es nie absolut Herrschende gab. Mit dem Begriff der mechanischen Solidarität lässt sich das präzisieren. In Dorfgemeinschaften und feudal organisierten Gesellschaften ist Herrschaft meist personal, und zwei Menschen haben auf allen Feldern die gleiche hierarchische Relation, aber keiner herrscht über alle und alles. In einer organischen Arbeitsteilung treffen zwei Menschen möglicherweise nur auf einem einzigen Feld aufeinander. Wenn sie einander auf verschiedenen Feldern begegnen, so haben sie jeweils unterschiedliche Relationen zueinander. Ihre Positionen verhalten sich nicht absolut zueinander, und ihre Eigenschaften sind nicht an ihre Person, sondern an ihre Funktion innerhalb der Arbeitsteilung gebunden. In diesem Sinne ist auch die herrschende Klasse keine einheitliche Gruppe, weil die Akteure auf verschiedenen Feldern agieren und durch organische Solidarität miteinander verwoben sind und durch Konkurrenz um Kapital und Wechselkurse voneinander getrennt sind; »jeder Akteur ist in einer Hinsicht herrschend und in einer anderen beherrscht« (2004a: 474). Bourdieu fügt an dieser Stelle hinzu, der Prozess der Rationalisierung vollziehe sich eher im Sinne Freuds (Verdrängung und Sublimierung) als im Sinne Webers (Zweckrationalität) (2004a: 473). Durch die organische 5 Siehe hierzu auch Saalmann (2000: 166f ). Arbeitsteilung der Herrschaft Rationalisierung <?page no="200"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M+Marginalie]__Rehbein__Soziologie_Bourdieus(3)___[Druck-PDF]/ 23.05.2016/ Seite 200 www.claudia-wild.de: [UTB-M+Marginalie]__Rehbein__Soziologie_Bourdieus(3)___[Druck-PDF]/ 23.05.2016/ Seite 201 6.2 Zwei Felder der Macht 201 Solidarität bei der Arbeitsteilung der Herrschaft werden die Quellen der Herrschaft unsichtbar. Symbolische Gewalt kann nicht mehr erkannt und erst recht nicht auf soziale Unterschiede zurückgeführt werden. Der Staatsadel herrscht auf der Basis von Leistung und Kompetenz, ist auf Abruf angestellt und muss seine Funktionen erfüllen. Alle haben die gleichen Möglichkeiten, die gleichen Rechte und die gleiche demokratische Mitbestimmung. So zumindest hat es den Anschein. Und der Anschein kann dadurch verstärkt werden, dass die Herrschenden ihn symbolisch verdoppeln und zementieren können. Scott Lash kritisiert, dass Bourdieu die Rolle des Symbolischen bei der Herrschaft zu sehr in den Vordergrund rücke und physische Gewalt vernachlässige (Lash 1993: 200). Die Kritik ist sicher berechtigt, aber wieder einmal falsifiziert sie Bourdieus Thesen nicht, sondern ergänzt sie nur. Bourdieu hat sicher nicht übersehen, dass der Staat und die Herrschenden auch physische Gewalt ausüben, hatte doch Max Webers Definition des Staates sich auf dessen Monopol über die physische Gewalt konzentriert (siehe 1994a: 107ff ). Aber symbolische Gewalt war kaum in Webers Blick gekommen. Sie war im Marxismus als Überbau und bei Foucault als Macht diskutiert worden; Bourdieu hielt diese Ansätze jedoch für verfehlt, weil sie nicht aus der Sozialstruktur und sozialen Kämpfen heraus argumentierten. 6 Mit der organischen Arbeitsteilung der Herrschaft wird symbolische Gewalt zweifellos immer wichtiger. Der Staat fungiert dabei als eine Art Zentralbank für symbolisches Kapital (Bourdieu 1993c: 268; 2004a: 459f ). Er herrscht nicht nur über die legitime Sprache, sondern auch über die Definition von Titeln und das Bildungssystem, also über die laut Bourdieu derzeit wichtigsten Instrumente zur Reproduktion der Sozialstruktur. Der Staat hat das letzte Wort (1994a: 123). Diese Formulierung wird von Hermann Schwengel kritisiert. Er merkt an, Bourdieu lasse die Frage offen, ob die Kämpfe um die symbolische Macht innerhalb der Felder oder über den Feldern (im politischen Feld) entschieden würden (Schwengel 1993: 145f ). Vielleicht also sei der Staat doch nicht die höchste symbolische Macht (ebd.: 147). In der Tat schießt Bourdieu mit der Formulierung über das Ziel hinaus. Im »Staatsadel« bleibt offen, wo die höchste symbolische Macht genau angesiedelt ist, am 6 Siehe den interessanten Eintrag von Chauviré und Fontaine (2003: 47f ): Der Staat zeichnet sich durch die Macht aus, innerhalb der Grenzen einer Nation verbindliche Normen zu errichten. Dazu braucht er keine physische Gewalt, sondern nur die stillschweigende Unterwerfung. Diese drückt sich dadurch aus, dass die Wahrnehmungen und Strebungen der Menschen den Interessen der Herrschenden entsprechen. Gewalt brauchen immer nur die Beherrschten (Revolutionäre). Konkret besteht der Staat lediglich aus bürokratischen Feldern, auf denen Akteure um Gesetze und Maßnahmen kämpfen. Zentralbank für-symbolisches Kapital <?page no="201"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M+Marginalie]__Rehbein__Soziologie_Bourdieus(3)___[Druck-PDF]/ 23.05.2016/ Seite 202 202 6 Symbolische Gewalt ehesten sei sie im Schnittfeld zwischen Staat und Wirtschaft, eben an der sozialen Position des Staatsadels. Die Frage offen zu lassen, scheint mir kein Mangel von Bourdieus Theorie zu sein, sondern den Status Quo zu beschreiben, wie er sich insbesondere im Rahmen der Globalisierung darstellt. Wo die Kämpfe um symbolische Macht entschieden werden, ist derzeit selbst ein offener Kampf, der allerdings verdeckt geführt wird. Es erwächst eine neue Arbeitsteilung der Herrschaft. Die Ersetzung der Dichotomie von Kulturellem und Weltlichen durch eine Konfiguration und deren Verknüpfung mit einer Theorie der Arbeitsteilung scheint mir ein großer Schritt voran innerhalb von Bourdieus Denken. Er führt an die Grenzen dieses Denkens, wobei noch offen ist, ob er es nur erweitert oder sprengt. Michael Vester hat die Dichotomie in der Horizontale von Bourdieus Raumschema einfach durch den Begriff der Arbeitsteilung ersetzt. Ob er dabei orthodox dem Denken Bourdieus folgt oder es eben sprengt, kann ich noch nicht beurteilen. Jedenfalls hat er damit den großen Schritt Bourdieus nachvollzogen, den einige der orthodoxen Anhänger vermutlich gar nicht bemerkt haben. Er scheint mir allerdings auch zu verlangen, das Schema des zwei- oder dreidimensionalen Raums zu Gunsten einer Konfiguration von Feldern und auf Feldern aufzugeben (Rehbein 2003). 6.3 Die männliche Herrschaft In den »Feinen Unterschieden« hat Bourdieu den Geschlechtergegensatz noch den Klassenunterschieden untergeordnet. Angeregt durch die Beschäftigung mit dem Feminismus (1997d: 218f ) besann er sich jedoch auf seine Gedanken zum Geschlechterverhältnis in der Kabylei und im Béarn (1962a). Seine Notizen arbeitete er zu einem Essay (1997d) und einem Buch (1998b) aus. Lothar Peter scheint mir auf einen zentralen Punkt hinzuweisen, wenn er meint, die frühere Deutung des Geschlechtergegensatzes sei von der »strukturalistisch gefärbten Polarität« beherrscht gewesen (2004a: 58). Das trifft vermutlich auf »Die feinen Unterschiede« zu. Aber es gilt ebenso für die späteren Arbeiten. In beiden Fällen wird der Gegensatz zugleich als sozialer Gegensatz, als Ungleichheit gedacht. In den Arbeiten zur »männlichen Herrschaft« ändert sich lediglich der Stellenwert des Gegensatzes. Er ist nicht mehr dem Klassengegensatz untergeordnet, sondern beherrscht das gesamte symbolische Universum. Die männliche Herrschaft wird zum Paradigma aller Herrschaft (und oft auch Modell und Gegenstand) (1997d: 216). In einem Gespräch zu den Arbeiten wollte Bourdieu das Verhältnis zwischen Klasse und Geschlecht jedoch offen laswww.claudia-wild.de: <?page no="202"?> [UTB-M+Marginalie]__Rehbein__Soziologie_Bourdieus(3)___[Druck-PDF]/ 23.05.2016/ Seite 202 www.claudia-wild.de: [UTB-M+Marginalie]__Rehbein__Soziologie_Bourdieus(3)___[Druck-PDF]/ 23.05.2016/ Seite 203 6.3 Die männliche Herrschaft 203 sen (1997e: 224f ). Das dürfte einem abschließenden Ergebnis am nächsten kommen, hängt das Verhältnis doch von historischen Umständen und Konfigurationen ab. Entscheidend ist, dass Bourdieu das Geschlechterverhältnis auf der Basis seiner Theorie der symbolischen Gewalt untersucht. Das war sicher eine Bereicherung der feministischen Diskussion. Es ist bemerkenswert, dass seine Sichtweise auf die soziale Welt ihn für das Problem der männlichen Herrschaft empfänglich gemacht hat, und zwar schon in einer Zeit, in der die Befreiungsbewegungen der Kolonialgebiete, die proletarische Revolution und die antiautoritäre Erziehung die wichtigsten Topoi der sozialkritischen Diskussion im Westen bildeten. Schon 1962 veröffentlichte er einen Aufsatz über das Geschlechterverhältnis im Béarn (1962a). Hier stand die Frage im Zentrum, welche Auswirkungen Modernisierung und Kapitalismus auf das Verhältnis zwischen den Geschlechtern hatten. Es ging nicht um die männliche Herrschaft. Aber in den frühen Texten zur Kabylei hat sich Bourdieu mit dem Problem befasst, wenn auch nur am Rande (z. B. 1958: 14ff ). Es war klar, dass Frauen von Männern beherrscht wurden, aber Bourdieu fehlte noch das theoretische Instrumentarium, um das Phänomen befriedigend zu untersuchen-- und auch um seine Relevanz zu erkennen. 7 Erst in den Neunzigerjahren erschienen die wichtigen Texte über die männliche Herrschaft (1997d, 2005b). In ihnen liefert die Kabylei den Referenzpunkt und das empirische Material. In Deutschland lag der Essay (1997d) zuerst in allgemein zugänglicher Form vor und bildete daher den Ausgangspunkt der Rezeption. Er wurde von Irene Dölling und Beate Krais (1997) im Rahmen der feministischen Diskussion veröffentlicht und hat darüber hinaus leider nicht die gebührende Wirkung entfaltet. Nun erschien die Übersetzung des umfangreicheren Buchs in einer Zeit der abflauenden Intensität der Diskussion und wurde bislang ebenfalls nicht hinreichend rezipiert. (Sind das Symptome männlicher Herrschaft? ) Die Grundlage männlicher Herrschaft ist Bourdieu zufolge das herrschende System der Klassifikation. Mit der Sprache wird eine bestimmte Sichtweise von Mann und Frau übernommen (1997d: 153ff ). Parallel dazu werden bestimmte Verhaltensweisen inkorporiert, die der Sichtweise entsprechen. Die Sichtweise teilt die Welt in zwei Bereiche bzw. in zwei Prinzipien, die einander zugleich ausschließen und ergänzen (siehe Krais 1993: 159f ). Der Gegensatz wird durch jede sprachliche und körperliche Hand- 7 Neben der feministischen Diskussion scheint Virginia Woolf für Bourdieu eine wichtige Rolle gespielt zu haben. Wenn es um das Geschlechterverhältnis geht, fehlt nie ein Zitat aus ihren Werken. Geschlechterverhältnis herrschendes System der Klassifikation <?page no="203"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M+Marginalie]__Rehbein__Soziologie_Bourdieus(3)___[Druck-PDF]/ 23.05.2016/ Seite 204 204 6 Symbolische Gewalt lung wiederholt, weil er Grundlage des Handelns ist (1997d: 164, 206). Mann und Frau sehen die Welt auf die gleiche Weise, nämlich nach dem Gegensatz der Geschlechter. In diesem Gegensatz kommt dem Mann die beherrschende Rolle zu, der Frau die beherrschte. Oft geht die Dichotomie sogar noch darüber hinaus, indem sie den Mann zum Vollständigen und Wesentlichen erklärt, die Frau dagegen als Schwundform. »Der Mann (vir) ist ein besonderes Wesen, das sich als allgemeines Wesen (homo) erlebt, das faktisch und rechtlich das Monopol auf das Menschliche, d. h. das Allgemeine, hat; das gesellschaftlich autorisiert ist, sich als Träger des menschlichen Daseins schlechthin zu fühlen.« (1997d: 160) Bourdieu geht davon aus, dass der symbolische Geschlechtergegensatz und die männliche Herrschaft weltweit verbreitet sind (1997d: 160 Fn). Wenn »man« vom Menschen redet, wird seines Wissens überall die männliche Form verwendet. Dem entspricht die Sozialisation, die beim weiblichen Kind auf Verneinung, beim männlichen auf Bestätigung zielt (1997d: 187). Beide inkorporieren die herrschenden Klassifikationsschemata sowie die ihnen entsprechenden Rede- und Verhaltensweisen. Die unzureichend reflektierte Übernahme der Schemata illustriert Bourdieu (einmal mehr) an Kant. Dieser schreibt der Frau die Attribute Fürsorglichkeit und fehlende Mündigkeit, vor allem in der Politik, zu (1997d: 200ff ). Allerdings geht er über die herrschende Auffassung hinaus, indem er die Attribute nicht in der biologischen, sondern in der sozialisierten Natur verankert. Die herrschende Sichtweise gewinnt ihre Plausibilität nicht zuletzt daraus, dass sie mit biologischen Merkmalen in Verbindung gebracht werden kann (Krais 1993: 161). Ferner kann die Dichotomie männlich-weiblich an einer Vielzahl homologer Gegensätze exemplifiziert werden, die-- wie im Fall des Gegensatzes von Yin und Yang-- letztlich die ganze Welt zu strukturieren vermögen (1997d: 161, 181). Bourdieu zufolge verfährt auch die Psychoanalyse Lacans nicht anders, wenn sie-- wie die Kabylen-- dem Phallus eine zentrale interpretatorische Rolle zuweist. Nicht der Phallus ist das generative Prinzip der männlichen Weltsicht, sondern diese kann die homologen Gegensätze auf den Phallus projizieren und damit naturalisieren (1997d: 175). Wenn man sich auf den Phallus konzentriert, vermag man den sozialen Ursprung der männlichen Herrschaft nicht zu erkennen (1997d: 180). Durch die Verbindung von Biologie, Kosmologie und sozialer Ungleichheit kann die männliche Herrschaft in Gestalt eines Sexismus überzeugend gerechtfertigt werden. Bourdieu stellt hier eine Verwandtschaft mit dem Rassismus fest. Wie der Rassismus wolle der Sexismus gesellschaftlich produzierte Unterdie männliche Form Verbindung von-Biologie, Kosmologie und-sozialer Ungleichheit <?page no="204"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M+Marginalie]__Rehbein__Soziologie_Bourdieus(3)___[Druck-PDF]/ 23.05.2016/ Seite 204 www.claudia-wild.de: [UTB-M+Marginalie]__Rehbein__Soziologie_Bourdieus(3)___[Druck-PDF]/ 23.05.2016/ Seite 205 6.3 Die männliche Herrschaft 205 schiede der biologischen Natur zuschreiben, um aus ihr alles Dasein abzuleiten (1997d: 169; vgl. auch Weiß 2001b). Bourdieus Deutung der männlichen Herrschaft verbindet den Begriff des Habitus mit der Theorie symbolischer Gewalt. Herrschende und Beherrschende haben das Herrschaftsverhältnis inkorporiert, das auf der symbolischen Ebene seinen Ursprung und seine Rechtfertigung hat (1997d: 164). Männer sind ebenso von der männlichen Herrschaft beherrscht wie Frauen, weil sie die Welt nach diesem Muster sehen und nach ihm handeln, genauer: handeln müssen (1997d: 187; siehe Dölling 2004: 87). Die Einteilung der Welt in oder nach männlich und weiblich ist stets objektiviert und inkorporiert präsent. Im Habitus wirkt sie als universelles Prinzip des Wahrnehmens. In der doxischen Erfahrung stimmen objektive und kognitive Strukturen überein. »Jeder häretischen Infragestellung enthoben, ist diese Erfahrung die uneingeschränkteste Form von Anerkennung der Legitimität: sie fasst die soziale Welt und ihre willkürlichen Einteilungen, angefangen bei der gesellschaftlich konstruierten Einteilung der Geschlechter, als natürlich gegeben, evident und unabwendbar auf.« (1997d: 159) Die grundlegende doxische Erfahrung ist die des Körpers. In der körperlichen Hexis sind die Möglichkeiten und Unmöglichkeiten des Habitus eingeschrieben. »Die Somatisierung des Kulturellen ist Konstruktion des Unbewussten.« (1997d: 187) Der Gegensatz der Geschlechter wird in den Umgang mit dem eigenen Körper und in die Wahrnehmung anderer Körper eingeschrieben. Die Verwendungsweisen des Körpers werden sozial vorgeschrieben, insbesondere werden die Verhaltensweisen und Vorstellungen, die zur anderen Kategorie gehören, verboten (1997d: 186). Verbotene Handlungsweisen rufen habituell bestimmte negative Emotionen wie Scham oder Schüchternheit hervor (1997d: 171). Dazu wird der Körper in der Sozialisation erzogen. »Die soziale Welt behandelt den Körper wie eine Gedächtnisstütze.« (1997d: 167) Der sozialisierte Körper erinnert gleichsam an den Unterschied der Geschlechter. Warum aber kommt dem Mann die herrschende Position zu, der Frau die beherrschte? Bourdieus Prinzip lautet, das Soziale nur durch das Soziale zu erklären, und so findet er auf die Frage eine soziologische Antwort, die auf seiner Feldforschung in der Kabylei beruht, aber in theoretischer Hinsicht vielleicht nicht ganz vollständig ist. Er führt den Primat des Männlichen auf die Ökonomie des symbolischen Tauschs zurück (1997d: 205). Sie weist den Frauen universell den Status der Tauschobjekte zu. Frauen sind symbolische Instrumente, dienen der Produktion und Reproduktion Herrschaftsverhältnis inkorporiert Ökonomie des symbolischen Tauschs <?page no="205"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M+Marginalie]__Rehbein__Soziologie_Bourdieus(3)___[Druck-PDF]/ 23.05.2016/ Seite 206 206 6 Symbolische Gewalt von symbolischem Kapital. Frauen können investiert werden, um Bündnisse herzustellen (soziales Kapital) und Verbündete mit Prestige zu gewinnen (symbolisches Kapital). Das Geschlechterverhältnis wird Bourdieu zufolge dadurch zementiert, dass diese beiden Kapitalformen bei den Kabylen wohl die beiden einzigen Arten von Kapital darstellen (1997d: 175f ). Mechanismen zu ihrer Gewinnung und Vermehrung kommt daher eine beherrschende Bedeutung zu. Es liegt vor allem in Form von Verwandtschaft vor (1997d: 164). Das Verhältnis zwischen Verwandten und die Ökonomie der Partnersuche stehen im Zentrum der soziologisch relevanten Aktivitäten. Bourdieu meint dementsprechend, die Klassifikationsformen in der Kabylei ließen sich letztlich auf die Arbeitsteilung zwischen den Geschlechtern zurückführen (1992b: 38). Ein Beleg dafür ist die Omnipräsenz des Geschlechtergegensatzes. Bei den Kabylen bildet Sexualität keine abgetrennte Realität (1997d: 183 Fn). Daher ist in gewisser Weise alles und nichts sexualisiert, weil Sexualität alle Mythen durchwebt. Die geschlechtliche Arbeitsteilung weist bekanntlich Frauen das Haus, Männern die weite Welt zu. Frauen sind Gegenstand der Ökonomie des symbolischen Tauschs, Männer die Ausführenden (1997d: 204). Männer lieben Machtspiele, Frauen lieben die Männer, die in den Machtspielen erfolgreich sind (1997d: 201). Der Mann ist auf die Spiele getrimmt, in denen es um Herrschaft geht (1997d: 196). Daher hat er hier gegenüber der Frau das Monopol. Die Frau dagegen nimmt den ernsten Spielen gegenüber einen distanzierten Standpunkt ein. Dadurch ist sie aber auch dazu verurteilt, an diesen Spielen nur durch die Vermittlung eines Mannes teilnehmen zu können. »Das ursprüngliche Teilungsprinzip, das die menschlichen Wesen in Männer und Frauen unterteilt, weist den ersteren die Spiele zu, die einzig es wert sind, gespielt zu werden, und hält sie zum Erwerb der Disposition an, die sie die Spiele ernst nehmen lässt, die die soziale Welt als ernste konstituiert.« (1997d: 189) Bourdieus Deutung der männlichen Herrschaft ist von Wissenschaftlerinnen kritisiert worden, die ihm ansonsten sehr positiv gegenüberstehen. Zunächst wurde bezweifelt, dass Frauen bei den Kabylen ausschließlich (oder auch nur vorrangig) die Funktion des symbolischen Tauschguts haben (Rademacher 2002; Kröhnert-Ohmann, Lenz 2002). Diese Auffassung sei auf der Basis der neueren Ethnologie unhaltbar und bleibe bei Lévi-Strauss stehen. Sie reproduziere die westlichen Denkschemata des Orientalismus. Dieser Kritik muss ich mit Bezug auf meine Feldforschung in Laos zustimmen (Rehbein 2004: 192ff ). Auch das duale Klassifikationsgeschlechtliche Arbeitsteilung <?page no="206"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M+Marginalie]__Rehbein__Soziologie_Bourdieus(3)___[Druck-PDF]/ 23.05.2016/ Seite 206 www.claudia-wild.de: [UTB-M+Marginalie]__Rehbein__Soziologie_Bourdieus(3)___[Druck-PDF]/ 23.05.2016/ Seite 207 6.3 Die männliche Herrschaft 207 und Herrschaftsverhältnis scheint ethnologisch kaum haltbar zu sein (Lenz, Luig 1990: 5ff; vgl. Peter 2004a: 58). Ferner kritisieren Susanne Kröhnert-Othman und Ilse Lenz (2002: 162, 177), Bourdieu übersehe materielle Ungleichheiten und institutionell festgeschriebene Diskriminierungen. In allen Untersuchungen gehe er von den Strukturen sozialer Ungleichheit aus, argumentiere also als Materialist, nur die Geschlechterbeziehung interpretiere er konstruktivistisch: Die Ungleichheit der Geschlechter sei nur eine Frage des Bewusstseins. Claudia Rademacher hat die Kritik durch ein treffliches Beispiel untermauert. Bourdieu zufolge schließen Frauen sich durch symbolische Anerkennung und Verkennung von den besten sozialen Positionen selbst aus. Das treffe aber auf qualifizierte Akademikerinnen nicht zu. Sie kennten die Einsätze, beherrschten die Spielregeln und investierten ebenso viel wie die Männer, dennoch liege der prozentuale Anteil der Frauen an den C4-Professuren immer noch im einstelligen Bereich (Rademacher 2002: 152; siehe hierzu auch Engler 2001, 2003; Zimmermann 2004). Die Kritik macht deutlich, dass Bourdieus Analyse nicht erschöpfend ist. Gleichzeitig erkennt sie den wichtigen Stellenwert des Symbolischen an, der gerade gegenwärtig nicht unterschätzt werden sollte. Gegenüber dem Geschlechterverhältnis in der Kabylei-- und im viktorianischen Zeitalter- - hat sich heute etwas geändert. Die Veränderung betrifft aber zum Teil nur die Oberfläche, in den Tiefen des Habitus und der sozialen Welt wirkt die Klassifikation von männlich und weiblich fort (1997d: 204 Fn). Auch heute noch ist die symbolische Zirkulation Aufgabe der Frauen, insbesondere in der herrschenden Klasse verwandeln sie das ökonomische Kapital ihrer Männer in soziales und symbolisches Kapital (1997d: 210f ). Auf der eigentlichen Bühne des Geschehens agieren dagegen die Männer. Noch entscheidender ist der gleichzeitig anerkannte und verkannte Charakter des Geschlechtergegensatzes. Im Anschluss an Bourdieu hat Irene Dölling die symbolischen Formen untersucht, in denen das Geschlechterverhältnis heute offiziell erscheint (Dölling 2004: 79ff ). Der »universalistische Code«, der sich heute durchgesetzt zu haben scheint, leugne den Primat des Geschlechtergegensatzes und gehe davon aus, dass alle Menschen zunächst gleich sind. Gerade auf diese Weise übe er symbolische Gewalt aus. Denn faktisch seien Männer und Frauen nicht gleich (berechtigt). Durch die symbolische Darstellung des Gegenteils werde die Wirklichkeit verdeckt, gleichsam euphemisiert. Und Abweichungen von der universalistischen Norm würden dem Individuum angelastet: Wenn allgemeine Gleichheit herrscht, muss Ungleichheit ein (selbst verschuldeter) Einzelfall sein. Aus diesem Grund fordert Bourdieu zu einem »symbolischen Kampf« auf, der die stillschweigenden Voraussetzungen der »phallo-narzisstischen symbolischer Kampf <?page no="207"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M+Marginalie]__Rehbein__Soziologie_Bourdieus(3)___[Druck-PDF]/ 23.05.2016/ Seite 208 208 6 Symbolische Gewalt Weltsicht« in Frage stellt und so einen Bruch zwischen den inkorporierten und den objektiven Strukturen herbeiführt (1997d: 215). Der Kampf habe in Form von Sozioanalyse, die im nächsten Kapitel erörtert wird, bei den Frauen selbst zu beginnen. Sie müssen die im Habitus, im Denken und Handeln, inkorporierte symbolische Gewalt erkennen, um sich von ihr zu befreien. »Alles veranlasst in der Tat zu der Annahme, dass die Befreiung der Frau eine wirkliche kollektive Kontrolle jener gesellschaftlichen Herrschaftsmechanismen zur unabdingbaren Voraussetzung hat, die verhindern, dass die Kultur […] anders begriffen wird denn als soziales Distinktionsverhältnis, behauptet gegen eine Natur, die nie etwas anderes ist als das naturalisierte Schicksal beherrschter Gruppen«. (1997d: 217) <?page no="208"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M+Marginalie]__Rehbein__Soziologie_Bourdieus(3)___[Druck-PDF]/ 23.05.2016/ Seite 208 www.claudia-wild.de: [UTB-M+Marginalie]__Rehbein__Soziologie_Bourdieus(3)___[Druck-PDF]/ 23.05.2016/ Seite 209 209 7 Eingriffe Nach seinen Untersuchungen und Vorlesungen zum Staat Ende der Achtzigerjahre griff Bourdieu verstärkt in öffentliche Diskussionen ein, sei es in Vorträgen, sei es in Zeitungsartikeln. Er beobachtete, dass viele der Errungenschaften seiner Generation- - die Expansion des Bildungswesens, die Diskussionen um Chancengleichheit und Emanzipation, Mitbestimmung-- sowie der vorangegangenen Jahrzehnte, insbesondere der Sozialstaat, bedroht waren. Die Bedrohung sah er von einer neoliberalen Politik ausgehen. Die Auswirkungen der neoliberalen Politik erforschte er in einem Meisterwerk qualitativer Sozialforschung, das als (notwendige) Ergänzung zu den »Feinen Unterschieden« gelesen werden sollte. Es handelt sich um »Das Elend der Welt« (1997b; zuerst 1993a). Die soziale Wirklichkeit, die sich aus diesem Werk nach und nach entfaltet, hat tatsächlich Züge dessen, was Adorno »das Grauen« nannte. Bourdieu fühlte sich verpflichtet, gegen das Grauen und seine Ursachen öffentlich Stellung zu beziehen. 7.1 Das Elend der Welt »Das Elend der Welt« kann nach den »Feinen Unterschieden« als Bourdieus zweites Hauptwerk gelten. 1 Noch mehr als bei den »Feinen Unterschieden« handelt es sich um eine Gemeinschaftsproduktion unter theoretischer und organisatorischer Anleitung Bourdieus. Im »Elend der Welt«, das ebenso umfangreich ist wie das frühere Werk, sind die Autoren und Autorinnen der einzelnen Kapitel namentlich aufgeführt. Bei ihnen handelt sich größtenteils um langjährige Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen, die mit Bourdieus Ansatz vertraut waren und einen Teil seiner Entwicklung begleitet hatten. Sie nahmen auch auf die Konzeption des Buches Einfluss, wenngleich Bourdieu federführend war. Anlass für das Buch war der 1989 von der französischen Bank Caisse des Dépôts an Bourdieu herangetragene Auftrag, zeitgenössische Spannungen 1 Die folgenden Seiten stützen sich großenteils auf persönliche Informationen einiger Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen Bourdieus, insbesondere von Gabrielle Balazs, Patrick Champagne, Remi Lenoir und Franz Schultheis. Für wichtige zusätzliche Informationen siehe auch das Nachwort zur deutschen Übersetzung von Franz Schultheis: »Deutsche Zustände im Spiegel französischer Verhältnisse« (S. 827-838). neoliberale Politik <?page no="209"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M+Marginalie]__Rehbein__Soziologie_Bourdieus(3)___[Druck-PDF]/ 23.05.2016/ Seite 210 210 7 Eingriffe in der französischen Gesellschaft zu untersuchen. In dieser Zeit waren der soziale und der Bildungssektor in Frankreich von massiven Kürzungen bedroht. Millionen von Menschen demonstrierten dagegen. Gleichzeitig machten die Zustände in den Hochhaussiedlungen, in denen hauptsächlich Migranten und andere Marginalisierte wohnten, Schlagzeilen in den französischen Medien. Man sprach allenthalben von einer gesellschaftlichen »Misere« und befürchtete (oder erhoffte) neue soziale Bewegungen wie 1968. Bourdieu griff den Vorschlag der Caisse des Dépôts auf, passte ihn aber sogleich an seine eigenen Forschungsinteressen an. Seit Jahren hatte er sich bereits mit dem Gedanken getragen, ein Werk zu verfassen, das zugleich politisch, wissenschaftlich und allgemein verständlich wäre. Den Arbeitstitel »malaise social« und damit das Thema hatte die Bank nun selbst vorgegeben. Sie verband damit aber die Vorstellung einer quantitativen und möglichst deskriptiven Forschung. Das Thema nahm in den französischen Medien eine zentrale Position ein. Bourdieu lehnte zwar die Sichtweise der Medien und die von der Caisse des Dépôts vorgeschlagene Fragebogenmethode ab, sah aber im großen öffentlichen Interesse die Chance, einem breiten Publikum sozialwissenschaftliche Ergebnisse nahe zu bringen. Diese Stoßrichtung bestimmt die Form des Werks. Es besteht größtenteils aus Interviews, die durch kurze Einleitungstexte erläutert werden. Theoretische Überlegungen sind fast ausschließlich in das letzte Kapitel über »Verstehen« verbannt. Bourdieu war der Meinung, dass ein so komplex auftretendes Werk wie die »Feinen Unterschiede« einen zu kleinen Leserkreis ansprechen würde. Das Buch sollte auch von denen verstanden werden können, die in den Interviews zu Wort kamen. Daher konnte es auch als reine Dokumentation gelesen werden. Tatsächlich ist es zugleich Literatur, Reportage und Soziologie, und man kann es in einer dieser Dimensionen lesen, ohne die anderen zu berücksichtigen. Der Erfolg des Werks gab Bourdieu Recht. Es verkaufte sich in Frankreich mit rund 100 000 Exemplaren innerhalb des ersten Jahres nach Erscheinen so gut wie kaum ein anderes soziologisches Buch (Schultheis, Schulz 2005: 9). Sogar die deutsche Übersetzung musste nach wenigen Monaten ein zweites Mal aufgelegt werden. Das ist verwunderlich, weil die Interviews und ihre Themen sehr stark auf die französische Gesellschaft der späten 1980er und frühen 1990er Jahre zugeschnitten sind- - zumindest wenn man das Werk als Reportage oder Literatur liest. Der soziologische Anspruch reicht weiter und verweist letztlich auf Bourdieus gesamte Theorie. Im Gegensatz zu den meisten anderen Intellektuellen waren Bourdieu und seine Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen von den Protesten gegen den neue soziale Bewegungen malaise social <?page no="210"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M+Marginalie]__Rehbein__Soziologie_Bourdieus(3)___[Druck-PDF]/ 23.05.2016/ Seite 210 www.claudia-wild.de: [UTB-M+Marginalie]__Rehbein__Soziologie_Bourdieus(3)___[Druck-PDF]/ 23.05.2016/ Seite 211 7.1 Das Elend der Welt 211 »malaise social« nicht begeistert. Sie betrachteten sie teilweise als eine Inszenierung der Medien, besser gesagt, sie befürchteten die vollständige Verzerrung der zu Grunde liegenden Unzufriedenheit der Menschen durch die Inszenierung in den Medien, in der die Misere erst zum Gegenstand der Öffentlichkeit wurde. »Gesellschaftliche Miseren haben nur dann eine sichtbare Existenz, wenn die Medien darüber berichten«, schreibt Patrick Champagne im »Elend der Welt« (1997b: 75). Die meisten der Miseren kamen nicht in den Blick, und diejenigen, die doch in die Medien gelangten, wurden verzerrt dargestellt (ebd.; 1998f: 23ff ). Gleichzeitig mit der Arbeit am »Elend der Welt« beschäftigten sich Bourdieu und seine Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen, insbesondere Patrick Champagne (z. B. 1990), mit der Wirkungsweise der Medien. Das Werk sollte ein breites Publikum finden, sich zur Erreichung dieses Ziels aber nicht der Strategie der Medien bedienen. Was hatte Bourdieu eigentlich am Auswahlprinzip der Medien auszusetzen? In zwei Fernsehvorträgen analysierte er 1996 die Funktionsweise des Fernsehens (1998f ). Im Fernsehen werden ihm zufolge vorrangig Meldungen gebracht, die alle interessieren, aber niemanden schockieren und nichts Wichtiges oder Strittiges berühren (1998f: 22). Das Interesse wiederum werde geschaffen, indem über Sensationen berichtet wird, die strukturell allen anderen Sensationen gleichen, aber von den anderen Sendern nicht oder erst später gebracht werden (1997b: 76; 1998f: 25). Die Journalisten sind gezwungen, in den Morgennachrichten an die Nachrichten des Vorabends anzuschließen und die Mittagsmeldungen der anderen Sender vorwegzunehmen (1997b: 75f; 1998f: 32). Damit unterliegen die Medien keiner rationalen Orientierung, geschweige denn wissenschaftlichen Kriterien (1997b: 79). Nun zeigte sich Ende der 1980er Jahre ganz deutlich, dass die öffentliche Meinung vorrangig durch die Medien bestimmt wurde, unter denen das Fernsehen die eindeutige Hegemonie innehatte (1997b: 76). »Das Fernsehen entscheidet zunehmend darüber, wer und was sozial und praktisch existiert«, meinte Bourdieu (1998f: 28; vgl. 67). Das Fernsehen müsse die Vorurteile artikulieren, die das Publikum hegt; dadurch würden dessen Vorurteile verstärkt, die wiederum die Basis für das Publikumsinteresse bildeten. Dabei unterlägen die Fernsehmacher letztlich den gleichen Zwängen wie die -zuschauer, nämlich denen der Aktualität und der Einschaltquote. In diesen Zirkel einzudringen, habe das sozial Marginale die geringsten Chancen. Es verfüge nicht über die Sprache, die Existenzweise und den Horizont des herrschenden Diskurses (1998f: 79). Ferner würden die Marginalisierten durch das Fernsehen depolitisiert, weil es die falschen Probleme aufwirft und das Handeln lähmt. Seine Wirkung ist bei Frauen stärker als bei Männern, bei Armen stärker als bei Reichen, bei Menschen mit Inszenierung der-Medien Funktionsweise des Fernsehens <?page no="211"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M+Marginalie]__Rehbein__Soziologie_Bourdieus(3)___[Druck-PDF]/ 23.05.2016/ Seite 212 212 7 Eingriffe geringer Schulbildung stärker als bei denen mit hoher Schulbildung (1998d: 89f ). Also gerade die Leute, die ohnehin geringere Zugangschancen zur Politik haben, werden durch das Fernsehen am stärksten depolitisiert (siehe 6.2). Das Problem der Medien beschäftigte Bourdieu, weil die öffentliche Meinung, insbesondere die Wahrnehmung sozialer Missstände, seines Erachtens durch Wissenschaft bestimmt werden sollte, nicht durch Sensationsgier und Profitinteresse. Das Problem hat zwei Seiten. Zum einen droht sich die Wissenschaft zu kompromittieren, wenn sie sich in die Reichweite des Fernsehens begibt (1998f: 16, 85). Die Gefahr ist sogar bereits gegeben, wenn überhaupt eine Öffentlichkeit gesucht wird (1998f: 89), also auch beim Projekt des »Elends der Welt«. Zum anderen ist die Ablösung der Medien von jeglichen Wahrheitsansprüchen unmoralisch (1998f: 77f ). Die wissenschaftliche Untersuchung der Medien kann Bourdieu zufolge bewirken, dass Journalisten und Publikum die Zwänge erkennen, in denen sie gefangen sind, und sich von ihnen befreien. 2 Er behauptet, »dass ein Bewusstsein von den strukturellen Mechanismen, aus denen unmoralisches Verhalten hervorgeht, es ermöglichen würde, etwas zu ihrer Kontrolle zu unternehmen« (1998f: 79). Hier zeigt sich erneut Bourdieus optimistische und szientistische Auffassung des Verhältnisses von Wissenschaft und Gesellschaft. Er spricht sie deutlich aus. »Ich bin wirklich der Überzeugung, dass Untersuchungen wie diese […] vielleicht zum Teil dazu beitragen können, die Dinge zu ändern. Alle Wissenschaften erheben diesen Anspruch. Auguste Comte sagte: ›Aus Wissenschaft folgt Prognose, aus Prognose folgt Handlung.‹ Die Sozialwissenschaft darf diesen Ehrgeiz ebenso hegen wie alle anderen.« (1998f: 78) Diese Auffassung verbietet es, den politischen Bourdieu vollständig vom wissenschaftlichen trennen zu wollen. Denn wenn sozialwissenschaftliche Erkenntnisse in die Praxis umgesetzt werden, haben sie notwendig gesellschaftliche (bzw. politische) Folgen-- wie naturwissenschaftliche Erkenntnisse in der Praxis notwendig technische Folgen haben. Bourdieu hat es sich stets erlaubt, diese Folgen zu berücksichtigen. Wo Sozialwissenschaft das nicht tut, verfährt sie unreflektiert und affirmativ, also unkritisch in 2 Interessant ist ein Vorschlag, den Bourdieu an anderer Stelle macht: Man müsste Wittgenstein in der Praxis betreiben und Einsatztruppen in die Medien schicken, die die falschen Fragen zertrümmern (1998e: 69). Wahrnehmung sozialer Missstände <?page no="212"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M+Marginalie]__Rehbein__Soziologie_Bourdieus(3)___[Druck-PDF]/ 23.05.2016/ Seite 212 www.claudia-wild.de: [UTB-M+Marginalie]__Rehbein__Soziologie_Bourdieus(3)___[Druck-PDF]/ 23.05.2016/ Seite 213 7.1 Das Elend der Welt 213 jeder Hinsicht. Das Verhältnis von sozialwissenschaftlicher Erklärung und sozialer Praxis sieht Bourdieu genauso wie Habermas. Wie dieser fordert er eine kritische Haltung gegenüber den eigenen Voraussetzungen und der sozialen Welt. Ferner sind beide der Meinung, dass die Einsicht in die sozialen Zwänge von ihnen befreien kann (siehe 2. Kapitel). Im Gegensatz zu Habermas glaubt Bourdieu jedoch, dass Wissenschaft allein ausreicht, um moralisches soziales Handeln anzuleiten. Adorno hat eine nahezu identische Analyse der Medien mit einer anderen Bewertung verbunden als Bourdieu. 3 Adorno ist nicht der Meinung, dass sich die Medien prinzipiell an Wissenschaft orientieren könnten. Er glaubt auch nicht, dass eine Einsicht in ihre Mechanismen den Beteiligten dazu verhelfen könnte, sich anders oder gar moralischer zu verhalten. Und er tut sich schwer, jenseits des herrschenden Diskurses noch etwas Marginales zu finden, das authentisch und wissenschaftlich als solches erkennbar wäre. Bourdieu schreibt: »Das Fernsehen hat eine Art faktisches Monopol bei der Bildung der Hirne eines Großteils der Menschen.« (1998f: 23) Verbindet man diese Diagnose mit seiner Habitus-Konzeption, wird seine Auffassung von Wissenschaft als reiner Wahrheitsliebe ebenso fragwürdig wie die Möglichkeit der Anleitung sozialer Praxis durch reine wissenschaftliche Erkenntnis. Die Autonomie der Felder erscheint illusionär (siehe 2. Kapitel; vgl. Fröhlich 2003). Die kritische Haltung kommt nicht nur bei der Konstruktion der Grundbegriffe in Anschlag, sondern auch bei der Wahl des Gegenstands. Während im Diskurs der Medien der Gegenstand durch das zirkuläre Verhältnis zum Publikum und das Diktat der Einschaltquote im Wesentlichen vorgegeben ist, muss Sozialwissenschaft den Gegenstand konstruieren, ihn geradezu suchen. Im »Elend der Welt« sollte der Gegenstand in den Blick kommen, der gleichsam die Kehrseite des herrschenden Diskurses bildete. Es waren genau die Gettobewohner und Streikenden, um die es in den Medien ging, die aber eben nicht selbst zu Wort kamen. Sie kamen nicht zu Wort, weil sie in den Medien nicht für sich selbst sprechen durften und weil die Medien ihnen eine Sprache verliehen, die nicht ihre Alltagssprache war. Das methodologische Problem des »Elends der Welt« besteht nun darin, Marginalisierte in ihrer eigenen Sprache ihre eigene Sichtweise der Welt vorbringen zu lassen. 3 Vgl. Minima Moralia, Nr. 129 (1979: 267f ): »Nicht sowohl passt Kulturindustrie sich den Reaktionen der Kunden an, als dass sie jene fingiert. Sie übt sich ihnen ein, indem sie sich benimmt, als wäre sie selber ein Kunde […] Ihr Produkt ist gar kein Stimulus, sondern ein Modell für Reaktionsweisen auf nicht vorhandene Reize.« kritische Haltung gegenüber Voraussetzungen und-der sozialen-Welt <?page no="213"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M+Marginalie]__Rehbein__Soziologie_Bourdieus(3)___[Druck-PDF]/ 23.05.2016/ Seite 214 214 7 Eingriffe Auch wenn Bourdieu hier authentische Selbstdarstellung und verzerrte Mediendarstellung etwas zu sehr trennt, bildet das Problem doch eine der Grundschwierigkeiten empirischer sozialwissenschaftlicher Forschung. Man ist auf symbolische Handlungen von Menschen angewiesen, weiß dabei aber nie, inwieweit diese Handlungen nur auf die Situation zugeschnitten und beschränkt sind. Die Schwierigkeit spitzt sich in der Situation der Befragung und des Interviews noch zu. Denn hier befinden sich die Menschen außerhalb des Alltags in einer »künstlichen« Situation. Ihre Antworten sind speziell auf die interviewende Person und ihre Fragen zugeschnitten und haben möglicherweise nichts mit dem Alltag zu tun. Beobachtung und Statistik zählen zu den Mitteln, die Ergebnisse von Befragungen und Interviews zu kontrollieren, aber sie liefern stets nur vermittelte (bereits interpretierte) Daten. Das methodologische Problem wird im »Elend der Welt« an einigen Stellen angesprochen, wenn auch nur sehr verkürzt. Tatsächlich bildet die gesamte Soziologie Bourdieus den Hintergrund des Werks und die zu Grunde gelegte Antwort auf das Problem. Zumindest ohne die Kenntnis der »Feinen Unterschiede« bleibt das »Elend der Welt« unklar oder missverständlich. Die Interviews setzen die soziologische Konstruktion der französischen Gesellschaft voraus, wie sie im früheren Werk vorgelegt wurde (siehe v. a. 1982c: 212f ). Die Sozialstruktur wird als ein Ensemble sozialer Positionen gefasst, die wiederum durch die Verfügung über jeweils spezifisches Kapital bestimmt werden (siehe 3.4 und 5.2). Von jeder Position aus erscheint der Rest der Gesellschaft verschieden, ja es kommen meist nur die nächst gelegenen Positionen in den Blick. Jedes konkrete Individuum ist an seine soziale Position zum gegebenen Zeitpunkt gebunden und betrachtet die Gesellschaft aus dieser Perspektive-- die nur in der reflektierten Soziologie überwunden werden kann. Eben das sollen die beiden genannten Werke Bourdieus leisten. »Die durch ihre kaleidoskopische Anlage fast spielerisch eingelöste Pluriperspektivität eröffnet der Gesellschaftsdiagnose den Weg zu einer relationalen, zugleich sozio-genetisch und makrostrukturell verankerten verstehenden Soziologie.« (Schultheis 1997: 832; vgl. ebd. 835) Daraus folgt methodologisch ein hermeneutischer Zirkel zwischen der Konstruktion, die den Interviewten eine soziale Position und eine ihr entsprechende Perspektive (also die Sicht auf die Welt, wie diese aus der jeweiligen Position erscheint) zuweist, und dem Nachvollzug der im Interview zur Sprache gebrachten Perspektive. »Die gesellschaftlichen Akteure, die als solche immer durch die Beziehung zu einem Sozialraum (oder besser: zu Feldern) herausgebildet werden, und ebenso die Dinge, insofern sie von den Akteuren angeeig- Situation der Befragung soziale Position und Perspektive <?page no="214"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M+Marginalie]__Rehbein__Soziologie_Bourdieus(3)___[Druck-PDF]/ 23.05.2016/ Seite 214 www.claudia-wild.de: [UTB-M+Marginalie]__Rehbein__Soziologie_Bourdieus(3)___[Druck-PDF]/ 23.05.2016/ Seite 215 7.1 Das Elend der Welt 215 net, also zu Eigentum gemacht werden, sind immer an einem konkreten Ort des Sozialraums angesiedelt, den man hinsichtlich seiner relativen Position gegenüber anderen Orten […] und hinsichtlich seiner Distanz zu anderen definieren kann.« (1997b: 160) Dahinter steht die Vorstellung, dass individuelle Lebensgeschichten allgemeinen Gesetzen unterliegen und eine bestimmte Perspektive nur dann unverständlich erscheint, wenn man nicht genügend über ihre Geschichte und die zu Grunde liegenden Gesetze weiß. So ist jedes konkrete Interview eher eine Illustration typischer Positionen als die Darstellung eines Einzelfalls- - wie in den »Feinen Unterschieden« der soziale Raum sich an bestimmten Örtern zu typischen Positionen verdichtet. Der Lebenslauf ist für Bourdieu keine Abfolge von Ereignissen, sondern eine Kombination von Herkunft, Habitus und sozialer Struktur, die an sich keinen individuellen Charakter hat (1997b: 788). Zumindest teilweise konnte die französische Leserschaft diesen Ansatz bestätigen, indem die Leserschaft sich selbst oder Bekannte in den Interviews wiederzuerkennen vermochte. 4 Die Wahrnehmung der Akteure der sozialen Welt und ihrer eigenen Position darin ist relativ zur unmittelbaren sozialen Umgebung und eben zur eigenen Position. Die soziologische Arbeit verlangt also eine hypothetische Konstruktion der sozialen Umgebung eines Menschen und seiner Position darin. Aus der Hypothese lässt sich seine Perspektive gleichsam ableiten. Das Interview dient zur Überprüfung der Hypothese und der Ableitungen. Im »Elend der Welt« geht es darum, »ein generelles und genetisches Verständnis der Existenz des anderen anzustreben, das auf der praktischen und theoretischen Einsicht in die sozialen Bedingungen basiert, deren Produkt er ist« (1997b: 786). Verstehen und Erklären werden nicht als Gegensätze gefasst (wie in vielen soziologischen Theorien), sondern als zwei Seiten derselben Medaille. Auf der Basis der soziologischen Erklärung ist es möglich, die Perspektive der interviewten Person hypothetisch vorwegzunehmen. Die Vorwegnahme mag jedoch falsch sein, sie ist eben nur hypothetisch. Im Interview muss genügend Raum bleiben, die andere Person zu verstehen und die eigenen Hypothesen zu falsifizieren. Bourdieu spricht von einer »Konversion des Blicks«, den man im Alltag auf andere Menschen hat (1997b: 788). Das alltägliche Handeln verlangt die Einordnung der anderen Person in praktische Kategorien und die Unterordnung der eigenen Erkenntnisfunktionen unter das jeweilige praktische Interesse. Man versteht den anderen Menschen nicht, sondern behandelt ihn als 4 Remi Lenoir, persönliche Mitteilung. Wahrnehmung der Akteure Verstehen und-Erklären <?page no="215"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M+Marginalie]__Rehbein__Soziologie_Bourdieus(3)___[Druck-PDF]/ 23.05.2016/ Seite 216 216 7 Eingriffe Bestandteil der Welt praktischer Zwecke. Im Interview muss man sowohl die eigene Perspektive zu verlassen suchen als auch den Suggestionen des Alltagsverstands entgegenwirken (1997b: 795). Gleichzeitig sollte man sich den Suggestionen unterwerfen, denen die interviewte Person unterliegt, um eine Kommunikation und ein Verstehen zu ermöglichen (1997b: 793). Die Interviews im »Elend der Welt« sollen nicht alle sozialen Positionen und Perspektiven illustrieren, die in den »Feinen Unterschieden« ermittelt wurden, sondern »gesellschaftliches Leiden« (souffrance sociale) zum Ausdruck bringen. Damit ist ein Leiden gemeint, das aus dem Verhältnis der eigenen Position zur unmittelbaren sozialen Umgebung resultiert. Absolute Armut wird in ihrer Bedeutung also der relativen untergeordnet, auch wenn jene im »Elend der Welt« nicht völlig ignoriert wird (siehe Schultheis 1997: 830). Bourdieu zufolge bestand die französische »Misere« um 1990 darin, dass sich die Sozialstruktur an bestimmten Stellen bewegte und damit bestimmte Positionen relativ zu den nächstgelegenen abwertete (1997b: 17, 656). Vertreter dieser Positionen sollten soziologisch ermittelt und für »Das Elend der Welt« interviewt werden. Menschen, die sich in derartigen Positionen befinden, seien von Widersprüchen durchdrungen und daher zur Reflexion gezwungen. Daher tendierten sie dazu, den Widersprüchen Ausdruck zu verleihen (1997b: 656). Die Interviews müssten daher zugleich eine Einsicht in die Bewegung der Sozialstruktur und in das Leiden der Betroffenen ermöglichen. Bourdieu und seine Mitarbeiter haben fünf Themen ermittelt, die Orte repräsentieren, an denen die französische Sozialstruktur um 1990 arbeitete: die Stadtrandsiedlungen für Marginalisierte, der Rückzug des Staates aus dem sozialen Bereich, der soziale Niedergang einiger Berufszweige, das Bildungswesen und den Generationenkonflikt. Nach diesen Themen und in dieser Abfolge ist das Werk gegliedert, wobei nach dem ersten Kapitel zum Vergleich zwei Interviews aus amerikanischen Gettos eingeschoben sind. Zweifellos verschaffen die Interviews eine Einsicht in das, was Bourdieu als soziales Leiden bezeichnet, und in die Bedingungen seiner Entstehung. Die Interviewten beziehen sich größtenteils auf ihre unmittelbare soziale Umgebung und Veränderungen darin, die von ihnen als negativ bewertet werden, weil ihre eigene soziale Position dadurch gefährdet wird. Der Zusammenhang von Position und Perspektive wird im »Elend der Welt« illustriert, indem Vertreter mehrerer Positionen innerhalb derselben sozialen Umgebung zu Wort kommen. »Dieser Perspektivismus hat nichts von einem subjektivistischen Relativismus an sich […] Denn er gründet in der Realität der sozialen Welt selbst und trägt dazu bei, einen Großteil des Geschehens in dieser Welt fünf Themen soziales Leiden <?page no="216"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M+Marginalie]__Rehbein__Soziologie_Bourdieus(3)___[Druck-PDF]/ 23.05.2016/ Seite 216 www.claudia-wild.de: [UTB-M+Marginalie]__Rehbein__Soziologie_Bourdieus(3)___[Druck-PDF]/ 23.05.2016/ Seite 217 7.2 Verstehen 217 zu erklären, nicht zuletzt vieles von den Leiden, die aus dem Aufeinanderprallen der unterschiedlichen Interessen, Dispositionen und Lebensstile erwachsen« (1997b: 18). Zur Verdeutlichung sind Interviews, die aufeinanderprallende Positionen repräsentieren, nach Möglichkeit auch im Text nebeneinandergestellt. Es ist sicher kein Zufall, dass gerade die ersten beiden Interviews das beste Beispiel dafür sind. Interviewt werden tatsächliche Nachbarn, ein französisches Ehepaar und eine algerische Familie, die in einem kleinbürgerlichen, »herunterkommenden« Vorort von Paris leben. Sie schimpfen aufeinander, die Algerier hätten zu viele Kinder und verbreiteten zuviel Gestank und Lärm, während die Französin zu intolerant sei und einen schlechten Geschmack habe. Der Franzose äußert etwas mehr Verständnis für die Gegenseite, weil er als Fabrikarbeiter täglich unmittelbaren Kontakt mit Algeriern hatte. Aus den Interviews wird deutlich, dass beide Seiten in erster Linie unzufrieden mit ihren Lebensbedingungen und dem Zustand ihres Stadtviertels sind. Damit verknüpft ist (oder gar: daraus erwächst) die Intoleranz gegenüber den unmittelbaren Nachbarn und der Versuch, sich ihnen gegenüber aufzuwerten (vgl. Weiß 2001a). Ferner verdeutlichen die Interviews Bourdieus Hypothese über den Ursprung sozialen Leidens: Es prallen »Interessen, Dispositionen und Lebensstile« aufeinander, die in ihrer Geschichte und Gegenwart nichts miteinander gemeinsam haben außer den unmittelbaren Ort-- an dem sie sich begegnen. Ein anspruchsvoller Prozess wäre erforderlich, um das Gegenüber zu verstehen und zu tolerieren. Wo die Umgebung aber von vornherein als feindselig wahrgenommen wird und wo die Begegnung zu keiner Beziehung wachsen kann, ist es unmöglich, diesen Prozess überhaupt in Gang zu bringen. Ein Anliegen Bourdieus mit dem »Elend der Welt« war es zweifellos, den Prozess vor den Augen eines Publikums zu vollziehen, dessen Meinungen durch die Medien produziert worden waren. 7.2 Verstehen Das soziologische Interview im »Elend der Welt« ist weder offen noch geschlossen, weder qualitativ noch quantitativ, weder Erzählung noch Befragung. Die interviewende Person verhält sich eher wie ein Arzt, der die Krankheiten und ihre Symptome kennt und im Gespräch mit dem Patienten die Quelle des Leidens ausfindig zu machen sucht. Der Patient kennt weder die Diagnose noch die Heilung, schimpft und mutmaßt aber trotzdem. Mit seiner unmittelbaren Beschreibung kann sich der Arzt meist aufeinanderprallende Positionen das soziologische Interview <?page no="217"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M+Marginalie]__Rehbein__Soziologie_Bourdieus(3)___[Druck-PDF]/ 23.05.2016/ Seite 218 218 7 Eingriffe nicht zufrieden geben, sondern muss gezielte Fragen stellen, um Hypothesen über die Diagnose bestätigen oder verwerfen zu können. Der Arzt ist auf die Beschreibung des Patienten angewiesen, um überhaupt eine Diagnose stellen zu können und um etwas über die subjektiven Zustände des Patienten zu erfahren. Noch mehr als im medizinischen Bereich meinen die Laien, sich in der Soziologie auszukennen. Sie bringen die erlernten sozialen Klassifikationen in Anschlag, um ihr Leiden zu klassifizieren, und versuchen, die interviewende Person zu beeinflussen. Dem muss man beim Interview entgegensteuern (1997b: 795). Das geschieht in erster Linie durch die soziologische Konstruktion, die dem Interview vorausgeht. Ein weiteres Mittel, zu dem Bourdieu und seine Mitarbeiter griffen, um Täuschungen und Beeinflussungen entgegenzuwirken, war die Vertrautheit mit den Interviewten. Den meisten der abgedruckten Interviews ging eine lange Bekanntschaft voraus. Über das Verhältnis von Herkunft, Lebensgeschichte und sozialer Struktur sollte vor dem abschließenden Interview eine konstruierte Hypothese vorliegen. Die Interviewten wurden nicht nur auf der Basis der »Feinen Unterschiede« und der Hypothesen über die Brüche in der Sozialstruktur Frankreichs um 1990 ausgewählt, sondern auch nach persönlichen Kriterien. Einige der Interviewten sind tatsächlich mit den Interviewenden befreundet gewesen (und nicht alle sind es nach Veröffentlichung der Interviews geblieben, obgleich alle die Publikation genehmigt hatten). Ein weiteres wichtiges Merkmal der Interviews ist ihre Einbettung in den kollektiven Arbeitsprozess. Auch beim »Elend der Welt« war die gemeinsame Arbeit und Diskussion ein unverzichtbarer Bestandteil der Forschungsmethode. Es wurden sowohl die soziologischen Konstruktionen wie auch die Auswahl und die Durchführung der Interviews besprochen. Alle Interviewenden sollten ein Forschungstagebuch führen, in das Begegnungen, Überlegungen, Schwierigkeiten und Beobachtungen notiert wurden. Die Aufzeichnungen wurden mit den aufgenommenen Interviews gemeinsam diskutiert. Dabei ergaben sich starke synergetische Effekte, auf die es Bourdieu ankam. In die Diskussionen gingen die unterschiedlichen sozialen Positionen, Lebensgeschichten und Perspektiven der Interviewenden selbst ein. Dadurch konnte am Gegenstand mehr gesehen werden, als es eine einzelne Person vermocht hätte. Das Interview beruhte auf einer soziologischen Konstruktion und sich daraus ergebenden Hypothesen. Es war jedoch nicht als einzelne Überprüfung der Hypothesen angelegt, sondern als hermeneutischer Lernprozess. Zum Prozess gehört die Konstruktion ebenso wie das Interview selbst. Bourdieu warnte wiederholt davor, das Material als Fetisch zu behandeln. Er betrachtete die Rede der Interviewten als Inszenierung, Idesoziologische Konstruktion Vertrautheit kollektiver Arbeitsprozess <?page no="218"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M+Marginalie]__Rehbein__Soziologie_Bourdieus(3)___[Druck-PDF]/ 23.05.2016/ Seite 218 www.claudia-wild.de: [UTB-M+Marginalie]__Rehbein__Soziologie_Bourdieus(3)___[Druck-PDF]/ 23.05.2016/ Seite 219 7.2 Verstehen 219 alisierung und teilweise sogar bewusste Täuschung (1997b: 790f ). Sie sei voller Widersprüche und Suggestionen. Erstere riefen nach einer Auflösung, bedürften dessen aber nicht unbedingt, während es sich mit letzteren umgekehrt verhielte. In vielen Interviews, die für »Das Elend der Welt« geführt wurden, gelang es nicht, die soziologisch relevanten Verhältnisse hinter der Rede aufscheinen zu lassen. Sie wurden als gescheitert betrachtet und nicht in das Werk aufgenommen. Um ihr Erkenntnisziel zu erreichen, hielten sich die Interviewenden nach der gründlichen Vorbereitung an einige methodische Richtlinien. Ihre Interviews konnten zwar keine Anwendung einer Methode sein, waren aber dennoch methodisch (1997b: 780). Im Gespräch selbst sollten die Extreme der Aushorchung und der ungehemmten Rede vermieden werden. Auch das war nur möglich durch die Vertrautheit mit den Interviewten und ihrer Umgebung. So konnten die Einwürfe der Interviewenden an das jeweils Gesagte sinnvoll anschließen. Dieser Anschluss in Gestalt von Nachfragen, Ergänzungen und Anregungen ist die eigentliche »Technik« der Interviews im »Elend der Welt«. Dadurch kann aus den Interviewten herausgekitzelt werden, was die interviewende Person bereits als Hypothese schweigend vorformuliert hat-- oder eben nicht. Bei der Lektüre des Werks wird man feststellen, dass die ergiebigsten Passagen tatsächlich auf den Anschluss an Gesagtes reagieren. Der Anschluss muss jedoch, wie gesagt, für die interviewte Person sinnvoll sein. Wo er künstlich oder abwegig erscheint, wird der Redefluss gestört, und eine Entfremdung wird spürbar. Auch hier kann Vertrautheit mit der Person und ihrer Umgebung förderlich wirken. Es ist offensichtlich, dass Menschen, die einander sozial fern sind, gekünstelter und weniger aufrichtig miteinander kommunizieren als enge Freunde oder Freundinnen, die aus dem selben Milieu stammen. Soziale Nähe ermöglicht sinnvollere Fragen, Ungezwungenheit, treffendere Hypothesen über die Perspektive und geringere Täuschung. Ist der Interviewer der interviewten Person nahe, »entspringen seine Fragen seinen Dispositionen, die objektiv mit denen des Befragten in Einklang stehen« (1997b: 784). Allerdings birgt das gemeinsame Vorverständnis die Gefahr, dass Selbstverständliches nicht mehr zur Sprache kommt (1997b: 785 Fn). Fehlende soziale Nähe und geringe Vorarbeit scheint sich beispielsweise im Interview mit dem Titel »Der Lauf der Dinge« zu zeigen, das auf die beiden ersten, oben erwähnten Interviews bezogen ist. Bourdieu interviewte zwei junge Männer in einer maroden Hochhaussiedlung am Rand einer nordfranzösischen Stadt. Die beiden Interviewpartner wurden durch einen jungen Algerier vermittelt, mit dem Bourdieu bekannt war (1997b: 88). Es handelt sich um einen Franzosen und einen Algerier, die durch ihren Wohn- Richtlinien der Lauf der-Dinge <?page no="219"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M+Marginalie]__Rehbein__Soziologie_Bourdieus(3)___[Druck-PDF]/ 23.05.2016/ Seite 220 220 7 Eingriffe ort benachteiligt sind und sich das Image junger Delinquenten geben (1997b: 90). Bourdieu zufolge fühlen sich beide im Interview verstanden und können eines ihrer wahren, aber in der Gruppe verborgenen Gesichter zeigen (1997b: 91). Diesen Eindruck gewinnt man bei der Lektüre nicht. Die Sprache des Interviewers wirkt aufgesetzt, und die Interviewten vermitteln den Eindruck, als nähmen sie ihn nicht unbedingt ernst. Die Anpassung seitens des Interviewers betrachtet Bourdieu eigentlich als einen Fehler, weil eine Selbstinszenierung der Interviewten fast unausweichlich die Folge ist (1997b: 788ff ). Diese kontrollieren dann jenen und das Interview selbst. In der Einführung bemerkt Bourdieu selbst, die beiden wollten sich in Szene setzen, aber im Interview wirkt er dem nicht entgegen. Beispielsweise behaupten sie, die Drogendealer in der Gegend kämen aus anderen Vierteln-- sie selbst seien also nur die Opfer (1997b: 97). Das ist unwahrscheinlich, wird aber im Interview nicht hinterfragt. Vielleicht sollte bei den Interviewten kein Misstrauen und keine Ablehnung erzeugt werden, aber ein fehlender Einwand an dieser Stelle hat sie sicher nicht zur Aufrichtigkeit ermuntert. Ferner führt Bourdieu den Algerier als sozialen »Grenzfall« des Franzosen ein, während im Interview deutlich wird, dass letzterer das Viertel bald verlassen und eine kleinbürgerliche Karriere einschlagen könnte, während der Algerier gesteht, die soziale Umgebung wohl nie verlassen zu können (1997b: 102f ). Auf diese aus der Herkunft resultierende Kluft hätte Bourdieu eigentlich abheben müssen. Die Kritik an diesem Interview bestätigt Bourdieus methodologische Gesamtkonzeption. Die Schwächen des Interviews resultieren aus der mangelnden Vertrautheit mit den Personen und ihrer sozialen Umgebung, aus den für die Interviewten nicht sinnvollen Äußerungen des Interviewers, aus der mangelhaften Anleitung des Redeflusses und aus der fehlenden Vorbereitung. Schließlich weist das Interview eine Schwäche auf, die Bourdieu stets unbedingt vermeiden wollte, nämlich eine geringe Selbstreflexion. Der enorme soziale Abstand (hinsichtlich Alter, Beruf, Einkommen, Wohnort, Lebensgeschichte, Sprache; kurz Habitus und Position) wird nicht hinterfragt, zumindest nicht explizit. Für Bourdieu ist das jedoch eine weitere Bedingung für ein Gelingen des Interviews. Es seien die Effekte zu erkunden, die man auslöst, wenn man als Interviewer oder Interviewerin auftritt, insbesondere die Effekte, die aus dem sozialen Gefälle zwischen den Interviewpartnern resultieren (1997b: 781). Ziel der interviewenden Person müsse es sein, die symbolische Gewalt zu reduzieren, die im Interview- - eben auf Grund des sozialen Gefälles- - ausgeübt wird (1997b: 782f ). Entscheidend sei es, das Interview selbst als eine soziale Beziehung aufzufassen, die sich vom Alltag nur dadurch unterscheidet, dass sie auf Erkenntnis gerichtet ist (1997b: 780). Wie in jede soziale Beziehung gehen <?page no="220"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M+Marginalie]__Rehbein__Soziologie_Bourdieus(3)___[Druck-PDF]/ 23.05.2016/ Seite 220 www.claudia-wild.de: [UTB-M+Marginalie]__Rehbein__Soziologie_Bourdieus(3)___[Druck-PDF]/ 23.05.2016/ Seite 221 7.3 Zurück zur Praxis der Ökonomie 221 in das Interview Unterschiede der Position, der Perspektive und des Habitus ein, die bei der Durchführung und Auswertung des Interviews zu berücksichtigen sind. Das Interview ist nicht als ein klinisches, kontrolliertes Experiment, sondern als eine spezielle Form sozialer Praxis zu deuten (1997b: 779). Und zu dieser Praxis gehört eben auch die interviewende Person, die sich in ihren sozialen Voraussetzungen und Wirkungen selbst analysieren muss. Probleme dieser Art stellen sich auch bei der Auswertung des Interviews, die schon mit der Transkription beginnt. Auch eine vollständig wortgetreue Transkription ist eine Interpretation, weil Zeichensetzung, Aussprache, Pausen, Gestik und Mimik im Interview nicht selbstverständlich gegeben sind (1997b: 797f ). Ferner müssen einige Stellen ausgewählt, andere gestrichen werden, auch eine Erklärung der Umstände und eine Einführung der Person sind notwendig. Im »Elend der Welt« ging es vor allem darum, die Perspektive der Interviewten zu verstehen, also für die Leserschaft verständlich zu machen. Bourdieu schrieb, die Interviewten sollten in ihrem »Daseinsgrund plausibel« erscheinen (1997b: 801). Die Arbeit Bourdieus unterscheidet sich von der klassischen Hermeneutik, bei der es nur um das Verstehen geht. Auch Bourdieu fordert, nicht zu bewerten oder zu beurteilen, sondern zu verstehen, Verständnis zu haben, aber hinter der Darbietung des zu Verstehenden steht eine soziologische Konstruktion, die als Erklärung fungieren soll. 7.3 Zurück zur Praxis der Ökonomie Die im »Elend der Welt« und im »Staatsadel« erarbeiteten Diagnosen sowie die Beobachtung der zeitgenössischen Gesellschaftsentwicklung bewegten Bourdieu dazu, es nicht bei der Veröffentlichung rein wissenschaftlicher Texte zu belassen. Nach der Veröffentlichung beider Werke betrat er zunehmend öffentliche Räume, um in die Politik einzugreifen. In diesem Rahmen sind auch seine Vorträge über das Fernsehen anzusiedeln. Die politischen Eingriffe lassen sich mit Bourdieus Wissenschaftstheorie plausibel begründen. Seine Wissenschaft sei »ein Forschungsprogramm[…], das gleichzeitig ein politisches Programm für eine Realpolitik der Vernunft sein soll« (2004b: 95). Wie die Soziologie auf mehreren Ebenen in die Praxis verstrickt ist und mit ihr brechen muss, so muss sie die Praxis auf allen Ebenen wieder einführen, allerdings auf kritische und reflektierte Weise. Erstens muss Wissenschaft ihre Autonomie schützen (1998e: 65). Ein politischer Eingriff für die Sicherung wissenschaftlicher Autonomie ist nicht nur legitim, sondern notwendig, wenn die Autonomie bedroht ist. Auswertung des-Interviews politische Eingriffe Autonomie der Wissenschaft <?page no="221"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M+Marginalie]__Rehbein__Soziologie_Bourdieus(3)___[Druck-PDF]/ 23.05.2016/ Seite 222 222 7 Eingriffe Diese Gefahr sah Bourdieu mit der zunehmenden Ökonomisierung von Wissenschaft. Zweitens muss Wissenschaft ihre Erkenntnisse in die Praxis einbringen. Wenn sie journalistisch verzerrt oder verkürzt übermittelt würden, müsste sie sich selbst darum kümmern. Von den Ergebnissen der Sozialwissenschaften wird sozialer Gebrauch gemacht, ganz gleich ob die Wissenschaftler das wollen oder nicht. Sie sollten daher selbst mit über den Gebrauch bestimmen, sich in die Praxis einmischen, um ihr Wissen auf wissenschaftlich anspruchsvollem Niveau einzubringen (1998e: 100f ). Drittens sind Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen Bourdieu zufolge an Wahrheit und Wahrhaftigkeit orientiert (1998e: 65). Sie haben ein Ethos, das sie vor den Akteuren auf dem politischen Feld auszeichnet. Als Vertreter dieses Ethos dürfen und sollen sie in die Politik eingreifen. Bourdieus Eingriffe in die Politik sind von allen Seiten- - zum Teil heftig- - kritisiert worden (z. B. Schwingel 1995: 8ff; siehe hierzu auch Eickelpasch 2002: 49f; Neckel 2002: 33; Egger, Pfeuffer 2002: 183). Er hat sich gegen die Kritik immer wieder verteidigt. Verpönt sei nur das kritische Engagement der Intellektuellen, während man im Namen der Herrschenden jederzeit in die öffentliche Diskussion eingreifen dürfe, ohne dass das als Grenzüberschreitung oder Verstoß gegen die Neutralität der Wissenschaft empfunden würde (2004b: 96). Sein Eingreifen beruhe nur auf seinem soziologischen Wissen und Ethos (2001g: 34f; 2004b: 100). Er bleibe weiterhin Soziologe, auch wenn er sich öffentlich äußere (1998e: 65). Er habe den akademischen Elfenbeinturm nur verlassen, weil die Erkenntnisse der Wissenschaft (insbesondere natürlich der Soziologie Bourdieus) in den öffentlichen Diskursen gar nicht zur Sprache gebracht würden (2001g: 8f ). Bei denen, die Bourdieu wohlwollend gegenüberstanden, verursachten weniger seine Eingriffe selbst Unbehagen als ihre wissenschaftlichen Begründungen. Er hat die Phänomene, die er kritisierte, nicht mit der Akribie untersucht, die seine großen Werke auszeichnet (Neckel 2002: 33). 5 In der Tat bleiben viele seiner Vorträge der letzten Jahre eigentümlich undifferenziert und beruhen nicht auf Erklärungen aus Feld- und Habitusstrukturen. Die Dringlichkeit der Probleme und Bourdieus fortgeschrittenes Alter könnten hierfür eine Erklärung sein. Letztlich ging es um nichts weniger als die neu entstehende globale Weltordnung. Eine Untersuchung, die Bourdieus Ansprüchen gerecht geworden wäre, hätte Jahre oder gar Jahrzehnte in Anspruch genommen. Die Lage der Dinge gab Bourdieu diese Zeit nicht. Außerdem hätte die globale Weltordnung eine Revision seiner Grundbe- 5 Aufschlussreich ist auch die marxistische Kritik von Sebastian Herkommer (2004). neu entstehende globale Weltordnung <?page no="222"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M+Marginalie]__Rehbein__Soziologie_Bourdieus(3)___[Druck-PDF]/ 23.05.2016/ Seite 222 www.claudia-wild.de: [UTB-M+Marginalie]__Rehbein__Soziologie_Bourdieus(3)___[Druck-PDF]/ 23.05.2016/ Seite 223 7.3 Zurück zur Praxis der Ökonomie 223 griffe erfordert. Meines Erachtens ist Bourdieu mit dem »Staatsadel« an diese Schwelle gekommen. Schließlich scheint mir die Kritik an Bourdieu-- wie immer- - etwas zu pauschal und vereinfachend. Erstens hat er sich durchaus um eine wissenschaftliche Begründung seiner Eingriffe bemüht. Zweitens, und das halte ich für besonders wichtig, ist eine inhaltliche Entwicklung seiner Eingriffe erkennbar. Die Entwicklung ist durch die beiden Bände mit dem Titel »Gegenfeuer« gut dokumentiert (1998d, 2001g). Anfangs hat Bourdieu lediglich Missstände angeklagt, die er in der Arbeit am »Elend der Welt« entdeckt hat. Dann hat er sie übermäßig vereinfachend auf den Neoliberalismus und die (geradezu voluntaristisch und verschwörungstheoretisch konzipierten) Strategien der herrschenden Klasse zurückgeführt, bevor er seine Erkenntnisse über die herrschende Klasse vom »Staatsadel« auf die Weltbühne übertrug. Schließlich scheint er mir die Grenzen des Container-Modells, von dem dieses Buch noch geprägt war, zu Gunsten eines differenzierten Blicks auf die Globalisierung gesprengt zu haben. An dieser Stelle müsste heute eine empirische Untersuchung der Globalisierung, die sich auf Bourdieu stützt, ansetzen-- auch wenn sie Jahrzehnte in Anspruch nimmt. Bourdieus Eingriffe sind eine Kritik an sozialer Ungleichheit: Die Ungleichheit ermögliche eine Machtkonzentration in den Händen der Herrschenden, die ihre Herrschaft durch eine neoliberale Politik fördern und rechtfertigen. Zunächst wies Bourdieu auf einige Auswirkungen dieser Politik hin, die im »Elend der Welt« ausführlich thematisiert wurden. Durch die sozialen Kämpfe der letzten Jahrhunderte hat der Staat soziale Aufgaben übernommen, die bestimmte seiner Organe ausführen, von seinen wirtschaftspolitischen und fiskalischen Organen aber nicht bezahlt werden wollen (1998d: 12f ). Heute haben Letztere die Oberhand bekommen. Politiker und Politikerinnen, die von Wirtschaft nur wenig verstehen, predigen einen wirtschaftspolitischen Sermon, der vor allem vom Internationalen Währungsfonds vertreten wird (1998d: 16f ). Der Sermon fordert einen Rückzug des Staates, vor allem eine drastische Beschneidung seiner sozialen Aufgaben, die zu teuer seien (vgl. auch Opielka 2004). Kurzfristig spare der Staat (und die Gesellschaft) dadurch Geld, die langfristigen Folgen seien jedoch unermesslich teuer: Kriminalität, Drogenmissbrauch, Selbstmord, Terrorismus (1998d: 16f, 29f, 49). »Was wir in den USA sehen und sich auch in Europa herauszuschälen beginnt, ist ein Prozess der Rückbildung des Staates.« (1998d: 42; vgl. Pelizzari 2001) Der Aufstieg des Staates ist durch eine Konzentration von Kapital gekennzeichnet: physische Gewalt, ökonomisches Kapital, kulturelles Kapital. Es entsteht eine gewisse Unabhängigkeit von gesellschaftlichen Kräften. Die Unabhängigkeit hat totalitäre, aber auch soziale Aspekte. Gegenfeuer Kritik an sozialer Ungleichheit Rückzug des-Staates <?page no="223"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M+Marginalie]__Rehbein__Soziologie_Bourdieus(3)___[Druck-PDF]/ 23.05.2016/ Seite 224 224 7 Eingriffe Diese werden, so sagt Bourdieu Anfang der Neunzigerjahre, heute abgebaut, indem der Staatsadel sich des Staates bemächtigt und für seine partikularen Interessen missbraucht (1998d: 14f, 35). Eine Clique teilt alle Pfründe unter sich auf und streicht alle Ausgaben für das Gemeinwohl und die sozial Benachteiligten. Diese Deutung greift zwar auf den Begriff des Staatsadels zurück, wird der Komplexität der Argumentation im gleichnamigen Buch jedoch nicht gerecht. Eine der Pointen des Buches war ja gerade die Arbeitsteilung der Herrschaft, die Konkurrenz auf dem Feld der Macht. Jetzt geht Bourdieu von einer einheitlichen Gruppe aus. Die Einheit der Gruppe besteht auf der symbolischen Ebene. Alle Herrschenden und ihre öffentlichen Repräsentanten sind sich darin einig, dass sie neoliberale Thesen vertreten. Den Kern des Neoliberalismus bildet Bourdieu zufolge der »Mythos der Globalisierung« (1998d: 43). Mit diesem Mythos wird eine Weltsicht transportiert, die alle sozialen Phänomene auf ökonomische Gesetze und diese auf Mathematik reduziert. Zuerst wird die Ökonomie als ein eigenes Universum ausgegeben, das von Naturgesetzen beherrscht wird, die nicht zu verändern, aber zu berechnen sind (1998d: 59). Sodann wird gefordert, dass alle gesellschaftlichen Instanzen sich diesen Gesetzen unterordnen, damit das »Vertrauen der Märkte« gewährleistet ist und die jeweilige Gesellschaft unter den Bedingungen des freien Markts konkurrenzfähig bleibt (1998d: 58ff ). Der neoliberale Diskurs, der diese Postulate aufstellt, beherrscht derzeit die wichtigsten Institutionen und Diskussionen. Der dadurch ausgedrückte Konsens ist gleichsam der beste Beweis für die Wahrheit des Diskurses. Ferner ist er nicht angreifbar, weil er sich auf die unangreifbarste aller Wissenschaften, die Mathematik, stützt (1998d: 62). Tatsächlich wird der neoliberale Diskurs von den Herrschenden vertreten und nutzt ihren Interessen. Bourdieu führt einen empirischen Beleg dafür an: Während die Kapitaleinkünfte in jenem Jahrzehnt weltweit um 60 Prozent stiegen, sind die Einkünfte aus bezahlter Arbeit gleich geblieben (1998d: 73). Die Arbeitnehmer müssen den Gürtel enger schnallen, das Großkapital dagegen wächst. Von den Arbeitern wird Flexibilität (also Mehrarbeit und Unsicherheit) gefordert, nicht aber vom Kapital. Die Arbeiter sollen ihre sozialen Errungenschaften zugunsten eines Wachstums aufgeben, das nur dem Kapital zu Gute kommt (1998d: 56). Immer breitere Schichten werden vom sozialen Leiden erfasst, das kulturelle Leben wird dem Profit untergeordnet, kollektive Instanzen werden zerstört, ein Sozialdarwinismus wird zur Weltsicht (1998d: 116). Menschen, die nicht unmittelbar an den Quellen der Herrschaft sitzen, geraten unter Druck und in eine dauerhafte Prekarität (vgl. Hepp 2003; Vogel 2004). Die Arbeitnehmerschaft ist prekarisiert und daher kaum für einen Widerstand Mythos der Globalisierung <?page no="224"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M+Marginalie]__Rehbein__Soziologie_Bourdieus(3)___[Druck-PDF]/ 23.05.2016/ Seite 224 www.claudia-wild.de: [UTB-M+Marginalie]__Rehbein__Soziologie_Bourdieus(3)___[Druck-PDF]/ 23.05.2016/ Seite 225 7.3 Zurück zur Praxis der Ökonomie 225 gegen den Neoliberalismus zu mobilisieren. Genau das hatte Bourdieu im »Elend der Welt« diagnostiziert. Daher kehrte er zur Praxis der Ökonomie zurück, die er in Algerien untersucht hatte. »Paradoxerweise muss man- - wie ich in meinem frühesten und vielleicht zugleich aktuellsten Buch über Arbeit und Arbeiter in Algerien gezeigt habe-- wenigstens ein Minimum an Gestaltungsmacht über die Gegenwart haben, um ein revolutionäres Projekt entwerfen zu können« (1998d: 98). Vierzig Jahre nach seiner Rückkehr aus Algerien kommt Bourdieu auf seine ökonomischen Analysen zurück. Neue Aktualität gewinnt nicht nur die Unterscheidung von Proletariat und Subproletariat, sondern auch das Konzept einer dualen Ökonomie und die soziale Einbettung der Wirtschaft. Bourdieu diagnostiziert die Entstehung einer dualen Ökonomie, die der Algeriens sehr ähnlich sei: Einer kleinen Zahl Professioneller mit guter Bezahlung steht eine riesige Reservearmee gegenüber, die nur prekäre Zeitverträge mit geringer Bezahlung erhält (2001g: 55). Ferner sei die angeblich mathematisch erfassbare neoliberale Ökonomie in eine besondere, historisch gewachsene Gesellschaftsform eingebettet und keineswegs von ihr als eigenes Universum getrennt (2001g: 28). Die Anknüpfung an Karl Polanyis Einbettung der Ökonomie in die Gesellschaft zieht sich durch Bourdieus Werk. Die in den »Gegenfeuern« verkürzt vorgebrachten Argumente hat er noch einmal in den 2000 erschienenen »Structures sociales de l’économie« entwickelt (2000a: 9ff ). Das beeindruckende Werk enthält nicht nur mehrere Verweise auf Polanyi, sondern es schließt auch mit der Forderung, vom nationalstaatlichen Feld der Ökonomie zum internationalen überzugehen. In den »Gegenfeuern« fragt Bourdieu, mit welcher Gesellschaftsform die neoliberale Ökonomie verwoben ist. Er fasst den neoliberalen Diskurs in drei Behauptungen zusammen: Die Ökonomie sei ein unabhängiges Universum, das von universellen Naturgesetzen beherrscht wird. Der Markt ist die beste Organisationsform der Wirtschaft. Die Globalisierung erfordert die Rückbildung des Staates. Diese Wahrheiten sind in eine historisch gewachsene Gesellschaft eingebettet, nämlich der USA (2001g: 29). Die alleinige Supermacht weist folgende Merkmale auf: Abbau des Sozialstaats und damit verknüpftes Anwachsen des strafenden Staats, Ausschaltung der Gewerkschaften, Orientierung am shareholder value, ungesicherte Arbeitsverhältnisse, soziale Unsicherheit (2003c: 73). Mit dieser Überlegung hat Bourdieu die Grenzen des Nationalstaats überschritten und die Verantwortung für die neoliberale Politik vom nationalen Staatsadel auf die imperiale Rückkehr auf-Algerien neoliberaler Diskurs <?page no="225"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M+Marginalie]__Rehbein__Soziologie_Bourdieus(3)___[Druck-PDF]/ 23.05.2016/ Seite 226 226 7 Eingriffe Vereinigten Staaten übertragen. Auch das ist selbstverständlich simplifizierend. 6 Bourdieu fragt weiter. Die Frage wird zunehmend in Termini der Feldtheorie gefasst. Am Anfang steht die Behauptung: »Das neoliberale Programm bezieht seine soziale Macht aus der politisch-ökonomischen Macht eben jener, deren Interessen es ausdrückt«: Aktionäre, Bankiers, Industrielle, bekehrte Politiker, hohe Finanzbeamte (1998d: 111). Nun gibt es aber zahlreiche Felder, auf denen diese Akteure interagieren und konkurrieren. Die USA sind ebenso wenig ein einheitlicher Akteur wie die Aktionäre. Im Rahmen der internationalen Organisationen und der Kultur treten die Vereinigten Staaten als Akteur auf. Dort haben sie eine Monopolstellung (2001g: 33), sie sind die symbolischen Herrscher der Welt, wie die Staaten im Rahmen nationaler Grenzen (2001g: 109; 2003c: 71f ). Das Feld, auf dem (Vertreter der) Nationalstaaten als Akteure auftreten, betrachtet Bourdieu wie jedes andere Feld. Im Rahmen der internationalen Ordnung werden Länder nach ihrer Position »in der Struktur der Kapitalverteilung« behandelt (2001g: 114). Die USA können auf der Basis ihres feldspezifischen Kapitals stets eine Sonderbehandlung durchsetzen. Neben den Feldern internationaler Organisationen und der internationalen Ordnung entsteht ein globales ökonomisches Feld, das sich wiederum in verschiedene Unterfelder gliedert, hauptsächlich in Industriezweige. Die Unterfelder des globalen ökonomischen Feldes haben eine oligopolistische Struktur, die der Verteilung des Kapitals unter den Großunternehmen entspricht (2001g: 110). »Diese unterschiedlichen industriellen Felder sind heute strukturell dem globalen Feld der Finanzen untergeordnet«, das von den Verwaltern der großen Fonds beherrscht wird (2001g: 111). Ähnlich wie innerhalb Frankreichs stellt Bourdieu eine Vorherrschaft des Finanzkapitals fest. Die Verwalter der großen Anlagegesellschaften, denen Besitzer großen kulturellen Kapitals zur Seite stehen, beherrschen heute die Finanzmärkte. Sie können Druck auf die Manager ausüben, höhere Profitraten zu erzeugen, die nur durch Entlassungen zu bewerkstelligen sind (2001g: 52). Und sie üben Druck auf die Nationalstaaten und die internationalen Organisationen aus. »Ebenso wie in den alten Nationalstaaten sind die herrschenden ökonomischen Kräfte dabei, sich das (internationale) Rechtswesen und die wichtigen internationalen Organisationen dienstbar zu machen.« (2001g: 109) Auch die Kultur wird dem Kreislauf des Kapitals integriert. Einige Medienkonzerne beherrschen weltweit die Kulturproduktion. Die großen Handelsabkommen öffnen den Dienstleis- 6 Für eine kurze und klare Darstellung des Aufstiegs der neoliberalen Politik in den USA siehe Nederveen Pieterse (2004: 1-15). globales ökonomisches Feld <?page no="226"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M+Marginalie]__Rehbein__Soziologie_Bourdieus(3)___[Druck-PDF]/ 23.05.2016/ Seite 226 www.claudia-wild.de: [UTB-M+Marginalie]__Rehbein__Soziologie_Bourdieus(3)___[Druck-PDF]/ 23.05.2016/ Seite 227 7.3 Zurück zur Praxis der Ökonomie 227 tungsbereich und machen alle Kulturprodukte zu Waren (2001g: 93f ). Damit wird Kultur vereinheitlicht, da sich die Großunternehmen am Durchschnittskonsumenten orientieren müssen (2001g: 85). Die Autonomie der Kunst verschwindet. Die führenden Unternehmen im Bereich der Finanz und der Kultur sowie der militärisch, ökonomisch und politisch mächtigste Staat sind amerikanisch. Alle Arten des Kapitals sind zunehmend global in wenigen Händen konzentriert. In den Spitzenpositionen befinden sich, wie Bourdieu am Beispiel von Frankreich gezeigt hat, nur die Kompetentesten, also Menschen mit den höchsten Bildungstiteln der besten Schulen (siehe Groh 2002: 206). Sie fordern von der Ökonomie und insbesondere von der Mathematik eine »epistemokratische« Rechtfertigung des Bestehenden (2001g: 58). Die Rechtfertigung vermögen sie zunehmend selbst zu liefern. Früher waren Unternehmer ungebildet, heute haben sie die besten Schulen besucht und fühlen sich berechtigt, in jeden Diskurs einzugreifen, ja sie betrachten sich teilweise als Philosophen und treten als solche auf (1995: 36, 47). Ihre Position können sie rechtfertigen, weil sie durch ihren Bildungsabschluss ja als die für sie geeignetsten Personen ausgewiesen sind. Sie machen den Diskurs, der ihre Position gleichzeitig rechtfertigt und stärkt. Vieles deutet darauf hin, dass diese Elite tatsächlich immer geschlossener wird (Bourdieu 2004a; Hartmann 1996). 7 Die Herrschenden stehen der Wissenschaft heute nicht mehr diametral gegenüber, sondern stützen ihre Herrschaft auf sie. Ihre Politik ist durch eine universelle, mathematische Vernunft begründet. Bourdieu argumentiert, dass es sich hierbei um eine historisch gewachsene Vernunft handelt, die eng mit den sozialen Verhältnissen in den USA verwoben ist. Daher richte sich der Hass der Beherrschten gegen die Vereinigten Staaten. Die islamischen Länder stellen gegenwärtig den Universalismus des Abendlandes in Frage, der im Namen des Universellen partikulare Interessen verfolgt. Die selbsternannten Hüter des Vernunftmonopols setzen das von ihnen selbst bestimmte Universelle zur Not mit Waffengewalt durch. Dagegen können die Unterdrückten nur mit Irrationalismus und Terrorismus reagieren (1998d: 29f ). Zweifellos deutete Bourdieu auch das Universelle bei Habermas so- - und war sich darin mit den Poststrukturalisten einig. Habermas strebte eine universale Begründung der Vernunft an. Das Unternehmen musste für 7 Und auch unterhalb der Elite haben Menschen die besten Karten, die auf die besten Schulen gegangen sind und die höchsten Titel erworben haben. Uwe Bittlingmayer (2002: 235f ) schreibt, dass sich statistisch eindeutig diejenigen am besten an flexible Arbeitszeiten anpassen können, die über das größte kulturelle Kapital verfügen. Rechtfertigung des Bestehenden Universalismus <?page no="227"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M+Marginalie]__Rehbein__Soziologie_Bourdieus(3)___[Druck-PDF]/ 23.05.2016/ Seite 228 228 7 Eingriffe Bourdieu dem Verdacht des abendländischen Imperialismus unterliegen (siehe 2.4). Im Gegensatz zu den meisten Poststrukturalisten hielt er jedoch am Begriff der Vernunft fest, die allerdings empirisch verankert und auf den jeweiligen Gegenstandsbereich beschränkt bleiben sollte. Dem Neoliberalismus warf Bourdieu vor, den Gegenstandsbereich zu überschreiten. Zwar kritisierte er den Neoliberalismus auch inhaltlich, aber fast ausschließlich in seiner politischen, unreflektierten, unkritischen Gestalt zum Zweck der Legitimation von Herrschaft. Meines Wissens hat er sich in volkswirtschaftliche Diskussionen nicht eingemischt und seine Eingriffe auch nicht als wirtschaftspolitische Vorschläge verstanden. Seine wichtigste Zielscheibe ist Gary Beckers Rational Choice-Theorie, die eine neoliberale Wirtschaftswissenschaft auf alle menschlichen Handlungen und sodann über die Politik auf die reale Gesellschaft ausdehnt. Gegen die »neoliberale Invasion« führte Bourdieu zunächst nur seine Wissenschaft ins Feld. »Wirklich kritisches Denken muss mit der Kritik der ökonomischen und sozialen Grundlagen kritischen Denkens beginnen.« (1995: 79) Wissenschaft müsse sich einmischen und Fragen stellen, die sonst nicht gestellt würden (1998e: 72). Bourdieu erkannte, dass man gegen den Neoliberalismus nicht vorgehen kann, indem man wissenschaftliche Texte schreibt. Man muss auf dem politischen Feld Position beziehen. Seinen Analysen entsprechend trat er anfangs vor allem für den Sozialstaat ein. Die sozialen Errungenschaften, die über Jahrhunderte erkämpft wurden, müssten erhalten bleiben. Bourdieu forderte ein »Regressionsverbot« (1998d: 50). Das Ziel könne nur von sozialen Bewegungen verfolgt werden (2001g: 18). Die treibende Kraft erblickte der Gewerkschaftsberater Bourdieu lange in den Gewerkschaften (1998d: 37, 118). Die Grundlage für eine neue Gewerkschaftsbewegung schienen ihm die europäischen Traditionen zu bieten. Denn die amerikanischen Traditionen waren ja für Bourdieu mit dem Neoliberalismus verwoben-- was so pauschal sicher falsch ist. Heute müsse die europäischste aller Traditionen wiederbelebt werden, eine kritische soziale Bewegung (2001g: 50f ). 8 Bourdieu sah die Gefahr, als Gegner des Neoliberalismus automatisch als Gegner Europas zu gelten. Diese falsche Alternative gelte es zu durchbrechen. »Man kann durchaus gegen das Europa eines Herrn Tietmeyer sein, das als Stützpunkt für die Finanzmärkte dient, und gleichzeitig für ein Europa, das mittels konzertierter Politik der ungebremsten Gewalt dieser Märkte Einhalt gebietet.« (1998d: 69) Die Monopolisierung von kulturellem und ökonomischem Kapital in den Händen der Herrschenden war für Bourdieu das größte Hindernis. Erstens müssten die sozialen Bewegungen lernen, auf der Klaviatur der Medien zu 8 Vgl. das ähnliche Programm von Hermann Schwengel (1999). soziale Bewegungen <?page no="228"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M+Marginalie]__Rehbein__Soziologie_Bourdieus(3)___[Druck-PDF]/ 23.05.2016/ Seite 228 www.claudia-wild.de: [UTB-M+Marginalie]__Rehbein__Soziologie_Bourdieus(3)___[Druck-PDF]/ 23.05.2016/ Seite 229 7.3 Zurück zur Praxis der Ökonomie 229 spielen. In dieser Hinsicht hätten soziale Bewegungen gegenüber dem Neoliberalismus einen Rückstand von mehreren symbolischen Revolutionen (1998d: 61; 1995: 26f ). Zweitens müssten die Bewegungen sich der Wissenschaft bedienen. »Wir haben es mit Gegnern zu tun, die sich mit Theorien wappnen, und es geht meines Erachtens nun darum, ihnen geistige und kulturelle Waffen entgegenzusetzen.« (1998d: 61) <?page no="229"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M+Marginalie]__Rehbein__Soziologie_Bourdieus(3)___[Druck-PDF]/ 23.05.2016/ Seite 230 <?page no="230"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M+Marginalie]__Rehbein__Soziologie_Bourdieus(3)___[Druck-PDF]/ 23.05.2016/ Seite 230 www.claudia-wild.de: [UTB-M+Marginalie]__Rehbein__Soziologie_Bourdieus(3)___[Druck-PDF]/ 23.05.2016/ Seite 231 231 8 Rezeption und Weiterentwicklung Das Kapitel zeichnet die Geschichte der Rezeption von Bourdieus Werken nach. Der Schwerpunkt liegt dabei auf seiner Verwandlung von einem Außenseiter in einen Klassiker innerhalb des deutschsprachigen Raums. Die Rezeption Bourdieus in anderen Sprachräumen wird nur kurz erwähnt. Abschließend ist ein längerer Abschnitt der Weiterentwicklung von Bourdieus Theorie in Deutschland gewidmet. Der Abschnitt dient der Inspiration, mit Bourdieus Ansatz empirisch und theoretisch zu arbeiten. Hiervon ist die Scholastik abzugrenzen, die kein eigenes Erkenntnisinteresse verfolgt, sondern das Werk selbst zum Gegenstand der Erkenntnis macht und auf eine Lehrmeinung zu verpflichten sucht. Die Rezeption lässt sich in drei Phasen gliedern, denen jeweils ein Abschnitt des Kapitels gewidmet ist. In der ersten Phase wurden Bourdieus Werke nur marginal wahrgenommen. Er war gleichsam ein gewöhnlicher Soziologe, der in einigen Kreisen diskutiert wurde, aber im Mainstream keine Anerkennung fand. Das änderte sich in der zweiten Phase, in der sich Bourdieu innerhalb der Soziologie durchsetzte und als bedeutender Vertreter des Fachs anerkannt wurde. In seinen letzten Lebensjahren erlangte er auch über die Fachgrenzen hinaus weltweite Bedeutung und wurde zum Klassiker. Damit begann die dritte Rezeptionsphase. Die Rezeptionsgeschichte Bourdieus nach seinem Tod wird im Kapitel kaum weiter ausgeführt, da sonst nahezu jeder sozialwissenschaftliche Text Erwähnung finden müsste. Heute gehört Bourdieu zu den meistzitierten Soziologen der Welt. Er wird weit über die Grenzen der Disziplin hinaus gelesen und verwendet, von der Ökonomie bis in die Religionswissenschaften und die Politik. Eine Liste der Arbeiten, die Bourdieu ausführlich zitieren, hätte etwa den Umfang dieses Buches. Daher werden nur einige wichtige Texte erwähnt, die Anlass zur Beschäftigung mit Bourdieu und zur Weiterentwicklung seiner Theorie gegeben haben. 8.1 Der Beginn der Auseinandersetzung Die ersten Werke Bourdieus beschäftigen sich fast ausschließlich mit Algerien (siehe oben Kapitel 1). Wegen des Kolonialkriegs und seiner Bedeutung für die französische Linke wurden Schriften zu Algerien in der Zeit um 1960 breit rezipiert. Erstaunlicherweise gilt das nicht für Bourdieus Arbeiten. Er wurde sowohl innerhalb der Regionalwissenschaften als auch in den politisch orientierten Sozialwissenschaften weitgehend vom Außenseiter zum Klassiker Bourdieus Arbeiten weitgehend ignoriert <?page no="231"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M+Marginalie]__Rehbein__Soziologie_Bourdieus(3)___[Druck-PDF]/ 23.05.2016/ Seite 232 232 8 Rezeption und Weiterentwicklung ignoriert. Zu seinen frühen Arbeiten über Algerien meinte Bourdieu später, sie seien das Resultat der »schlechte[n] Strategie eines outsiders« (1992b: 23f ). Damit ist gemeint, dass er als Philosoph sozialwissenschaftliche Forschung auf einem Gebiet der Ethnologie betrieben hatte, ohne den Stallgeruch des Ethnologen zu haben. Seine Schriften waren auch nicht unmittelbar politisch orientiert und fanden daher in linken Kreisen wenig Beachtung. Den Durchbruch in Frankreich erzielte Bourdieu mit seinen Schriften zur Bildungssoziologie, die mitten in der Bildungsexpansion den Mythos der Chancengleichheit angriffen (siehe Kapitel 4.1). Die Bücher »Les étudiants et leurs études« (1964b) und »Les héritiers« (1964c; deutsche Übersetzung 2007) zeigten auf, dass sowohl die Zugangsals auch die Erfolgschancen auf höheren Bildungsinstitutionen stark mit der sozialen Herkunft korrelierten. Empirische Untersuchungen zum Thema, insbesondere mit einem derartig klaren Ergebnis, waren damals neu und widersprachen der vom gesamten politischen Spektrum geteilten Meinung, dass Bildung einen sozialen Aufstieg ermögliche. Die Arbeiten Bourdieus zur Bildungssoziologie wurden auch von einigen deutschen Pädagogen wahrgenommen. Eine nennenswerte Rezeption Bourdieus blieb im deutschsprachigen Raum bis weit in die 1980er Jahre jedoch aus. Ein Grund dafür ist die Tatsache, dass nur wenige deutsche Soziologen die französische Sprache beherrschten und Bourdieus Bücher erst ab Mitte der 1970er Jahre übersetzt wurden. Auszüge aus den Werken zur Bildungssoziologie wurden 1971 unter dem Titel »Die Illusion der Chancengleichheit« (1971) ins Deutsche übersetzt, nach der »Soziologie der symbolischen Formen« (1970b) die zweite Übersetzung. Diese Bücher wurden jedoch nur marginal rezipiert. Ein weiterer Grund für die geringe Verbreitung Bourdieus war neben den sprachlichen Hürden der Unterschied zwischen den Wissenschaftskulturen Frankreichs und Deutschlands. Nur wenige Franzosen wurden in Deutschland breit rezipiert, und das häufig erst spät in ihrem Leben oder gar erst nach dem Tod. Ferner spielte die politische Situation der 1970er Jahre eine wichtige Rolle, die vom Konflikt zwischen Konservatismus und Marxismus geprägt war, in dem Bourdieu keiner Seite klar zuzuordnen war. Das erschwerte im Übrigen auch seine Rezeption in Frankreich. Waren die frühe Bildungssoziologie und der »Entwurf einer Theorie der Praxis« (1972/ 1976) in Frankreich zumindest wahrgenommen worden, so beschränkte sich die Rezeption im deutschsprachigen Raum zunächst auf Rezensionen in der Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie. Charlotte Busch (1967a, b) hat die französischen Originalausgaben »Les héritiers« (1964c) und »Un art moyen« (1965a) im Lauf des Jahres 1967 Bildungssoziologie französische Sprache Wissenschaftskulturen Rezensionen <?page no="232"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M+Marginalie]__Rehbein__Soziologie_Bourdieus(3)___[Druck-PDF]/ 23.05.2016/ Seite 232 www.claudia-wild.de: [UTB-M+Marginalie]__Rehbein__Soziologie_Bourdieus(3)___[Druck-PDF]/ 23.05.2016/ Seite 233 8.2 Die breite Rezeption in der Soziologie 233 vorgestellt. Die Besprechungen sind ausführlich, sachlich und distanziert gehalten. Die Rezension des früheren Werks vergleicht die Untersuchung Bourdieus und Passerons mit dem Werk Ralf Dahrendorfs. Es lässt sich nicht nachweisen, dass die Rezensionen Diskussionen oder eine intensive Rezeption nach sich gezogen hätten. Nur wenige Geistes- und Sozialwissenschaftler begannen bereits in den 1970er Jahren mit Bourdieu zu arbeiten, darunter insbesondere Michael Vester (1976; siehe unten). Bei ihnen handelte es sich um Forscher, die ihre Arbeit auf eigene Interpretationen von Marx stützten, also ebenfalls nicht klar dem Marxismus zuzuordnen waren. Besonders früh wurde Bourdieu in der Bildungsforschung rezipiert. 1978 druckte die Zeitschrift »erziehung« ein Gespräch mit Bourdieu über seine Bildungssoziologie, eine Übersetzung aus dem Französischen (Bourdieu 1978). Die Arbeit mit seinem Werk begann in der Pädagogik also bereits vor der Veröffentlichung der Feinen Unterschiede. Dem Sammelband von Eckart Liebau und Müller-Rolli (1985) kam dabei eine Schlüsselrolle zu. Wenige Jahre später veröffentlichte Liebau die vermutlich erste Monographie zu Bourdieu auf Deutsch, einen Vergleich zwischen Bourdieu und Oevermann (Liebau 1987). Von großer Bedeutung für die Verbreitung Bourdieus im deutschsprachigen Raum war auch Axel Honneth. Ein früher einflussreicher Artikel wurde 1984 veröffentlicht. Der Artikel (Honneth 1984) interpretiert Bourdieu aus Habermas’ Perspektive. Honneth kritisiert, dass Bourdieu die soziale Welt auf soziale Positionen reduziere, auf deren Basis die Menschen in ökonomischer Weise den größtmöglichen Nutzen suchten. Trotz der Kritik blieb Honneth Bourdieus Theorie gegenüber offen und verfolgte ihre Weiterentwicklung mit aktivem Interesse. Seine eigenen Schriften können als eine durch Bourdieu informierte Interpretation von Habermas gelten (etwa Honneth 1990, 1992). 8.2 Die breite Rezeption in der Soziologie Die breite Rezeption Bourdieus im deutschsprachigen Raum begann mit der Veröffentlichung von Bourdieus Werk »Die feinen Unterschiede« in deutscher Übersetzung (1982), wobei das Original (1979) in Deutschland bereits als Erneuerung der Kultursoziologie zur Kenntnis genommen worden war (Lipp, Tenbruck 1979; Burkart 1984). Auch die Rezeption durch Honneth und Liebau ist in diesem Zusammenhang zu sehen. Es vergingen allerdings einige Jahre von der Veröffentlichung bis zur allgemeinen Verbreitung des Werks. Damit wurde die zweite Phase der Rezeption Bourdieus eingeleitet, die über begrenzte Fachkreise hinausging und die Arbeit mit Bourdieu in-den-1970er Jahren Die feinen Unterschiede <?page no="233"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M+Marginalie]__Rehbein__Soziologie_Bourdieus(3)___[Druck-PDF]/ 23.05.2016/ Seite 234 234 8 Rezeption und Weiterentwicklung gesamten Sozialwissenschaften erfasste, aber innerhalb des wissenschaftlichen Feldes verblieb. Den Beginn der zweiten Rezeptionsphase markiert der von Klaus Eder herausgegebene Sammelband »Klassenlage, Lebensstil und kulturelle Praxis« (1989), insbesondere innerhalb der Soziologie. Die Autoren des Buches beschäftigen sich vorrangig mit den »Feinen Unterschieden« und der Parallelisierung von sozialen Positionen und Lebensstilen. Der Band schließt mit einer Erwiderung Bourdieus auf die vorgebrachte Kritik. Die Kritik richtet sich vor allem gegen die Einteilung der Gesellschaft in klare Klassen, gegen die Determination des Habitus durch Herkunft und soziale Position sowie gegen die Einheitlichkeit von Lebensstilen. An Eders Sammelband schloss sich eine regelrechte Welle von Veröffentlichungen an, die ähnliche Gedanken vorbrachten. Die frühe konstruktive, empirisch informierte Kritik an dem Buch »Die feinen Unterschiede« fand vor allem innerhalb der deutschen Sozialstrukturanalyse statt. Hier sind die Arbeiten Stefan Hradils und Peter A. Bergers zu nennen (Hardil 1987; Berger, Hradil 1990). Bekannter ist das Buch »Die Erlebnisgesellschaft« (1992) von Gerhard Schulze geworden, das sich als empirischer Gegenentwurf zu den »Feinen Unterschieden« versteht. Im Anschluss an Ulrich Beck geht Schulze von einer »Individualisierung« von Lebensläufen und Lebensstilen aus. Soziale Ungleichheiten verschwinden ihm zufolge zwar nicht, verknüpfen sich aber mit immer weniger vorhersehbaren beruflichen Laufbahnen, Freizeitaktivitäten, kulturellen Präferenzen und Machtpositionen. Damit hinterfragt Schulze auch Bourdieus Gliederung der Gesellschaft in Klassen. Soziale Milieus würden nicht mehr durch sozioökonomische Trennlinien bestimmt, sondern zunehmend durch Alter, Bildung und alltagsästhetischer Präferenz. Die Rezeption der späten 1990er Jahre ist geprägt von Bourdieus politischem Engagement, das in der Wissenschaft vielfach auf Ablehnung gestoßen ist, aber weite Kreise der intellektuellen Öffentlichkeit auf sein Werk aufmerksam gemacht hat. Die sich zuspitzenden Polemiken wurden durch Bourdieus Krankheit und seinen Tod im Januar 2002 beendet. Nahezu gleichzeitig erschienen drei Sammelbände, die das Auftreten einer neuen Generation markieren (Bittlingmayer et al. 2002; Rehbein et al. 2003; Ebrecht, Hillebrandt 2004). Die neue Generation betrachtete Bourdieu nicht mehr als Kollegen oder einen Wissenschaftler unter vielen, sondern bereits als Klassiker. Diese Einstellung markiert den Beginn der dritten Rezeptionsphase. An die Stelle von scharfer Grundsatzkritik ist in den 1990er Jahren eine prinzipielle Akzeptanz von Bourdieus Paradigma und ein Respekt gegenüber dem Klassiker getreten. Ein Großteil der Kritik wird weniger von deutsche Sozialstrukturanalyse politisches Engagement prinzipielle Akzeptanz <?page no="234"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M+Marginalie]__Rehbein__Soziologie_Bourdieus(3)___[Druck-PDF]/ 23.05.2016/ Seite 234 www.claudia-wild.de: [UTB-M+Marginalie]__Rehbein__Soziologie_Bourdieus(3)___[Druck-PDF]/ 23.05.2016/ Seite 235 8.2 Die breite Rezeption in der Soziologie 235 außen an das Paradigma herangetragen, sondern sucht es eher produktiv weiterzuentwickeln. Die oberflächliche Kritik trat bis zu Bourdieus Tod gegenüber der konstruktiven Auseinandersetzung in den Hintergrund, weil das Ende der Lebensstildebatten auf der einen und Bourdieus politisches Engagement auf der anderen Seite dazu geführt hatten, dass Bourdieu im Mainstream der deutschen Soziologie wenig rezipiert wurde. Die Rezeption fand an den Rändern des Feldes statt, großenteils unter wissenschaftlichen Mitarbeitern, Privatdozenten und marginalisierten Professoren. In der DDR war die Soziologie der Philosophie und der Politik untergeordnet. Als Soziologe aus dem Westen wurde Bourdieu kaum zur Kenntnis genommen. Die Rezeption seiner Schriften erfolgte erst kurz vor Zusammenbruch der Republik in der »Deutschen Zeitschrift für Philosophie«. Sie begann spätestens mit einer Rezension des »Homo Academicus« (1988c). Bourdieus Name wird sowohl im Inhaltsverzeichnis als auch in der Rezension mit einem Akzent versehen, im Text wird der Name gar zu »Bordieú«. Der Rezensent, Helmut Steiner, erklärt zur zentralen Stärke des Werks die Forschungsfrage Bourdieus, »warum und wie sich innerhalb gegebener kapitalistischer Gesellschaften […] immer wieder aufs neue ›Bürgerlichkeit‹ reproduziert« (1989: 94). Bourdieu gelinge es, die Funktionsweisen und Mechanismen der Reproduktion kapitalistischer Gesellschaften zu beleuchten. Nach 1989 setzte sich die von der SED inspirierte Rezeption Bourdieus noch einige Jahre fort, bis sie nach und nach durch die Rezeption im Westen verdrängt wurde. Ein Pionier der Rezeption Bourdieus in Österreich war Michael Pollak, der 1973 bei Bourdieu zu studieren begann (Mörth 2002). 1984 gab Ingo Mörth ein Themenheft der »Österreichischen Zeitschrift für Soziologie« zu Kunst und Kultur heraus, in dem Pollak (1984) eine Rezension der »Feinen Unterschiede« veröffentlichte. Diese Rezension kann als Beginn der Rezeptionsgeschichte in Österreich gelten. Mörth machte Linz zum Schwerpunkt der Rezeption. Er veranstaltete mehrere Tagungen und gab mit Gerhard Fröhlich einen der frühen Sammelbände zu Bourdieu heraus (Mörth, Fröhlich 1994). Gemeinsam bauten sie außerdem die einschlägige und umfassendste Bibliographie seiner Werke auf, die im Internet frei zugänglich ist (www.hyperbourdieu.jku.at). In Graz und Wien entstanden ebenfalls Schwerpunkte der Bourdieu-Forschung (Elisabeth Nemeth, Egon Leitner). Die Grazer »Camera Austria« (Christine Frisinghelli) organisierte gemeinsam mit Bourdieu eine Ausstellung seiner Photographien aus Algerien. Bourdieu war auch mehrmals in Österreich zu Gast und pflegte eine konfliktreiche Beziehung zur dortigen Rezeption (Mörth 2002). In der Schweiz begann die Rezeption in der mehrsprachigen »Schweizerischen Zeitschrift für Soziologie«. Wohl aufgrund sprachlicher und räum- DDR Österreich Schweiz <?page no="235"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M+Marginalie]__Rehbein__Soziologie_Bourdieus(3)___[Druck-PDF]/ 23.05.2016/ Seite 236 236 8 Rezeption und Weiterentwicklung licher Nähe wurde Bourdieu hier als Vertreter der französischen Soziologie kontinuierlich wahrgenommen, wenn auch vergleichsweise spät (Staub-Bernasconi 1988; Chazel 1992). Einige Aufsätze befassten sich mit Bourdieu im Kontext des Sports (Defrance 1995, Gisler 1995) sowie mit den Gründen für die geringe Resonanz Bourdieus in der Wissenschaftsforschung (Burri 2008). Joseph Jurt und Franz Schultheis haben bis heute wichtige Rollen bei der Verbreitung Bourdieus in der Schweiz eingenommen. Genf ist auch Sitz der Stiftung Pierre Bourdieu (deren Präsident Schultheis ist), die gleichsam das Erbe verwaltet. Allerdings hat sich in der Schweiz kein Zentrum der Bourdieu-Forschung wie in Österreich entwickelt. 8.3 Scholastik und Weiterentwicklungen Die Debatten um Lebensstile und Klassen wichen in den 1990er Jahren nach und nach der Würdigung Bourdieus als lebendem Klassiker. Der Sammelband von Gunter Gebauer und Christoph Wulf (1993) ist gleichsam der Vorläufer dieser Rezeptionsphase. Im Sammelband kommen neben den Herausgebern und mit Bourdieu sympathisierenden Autoren alte Freunde Bourdieus, Jacques Bouveresse und Aaron Cicourel, zu Wort. Auch dieser Band schließt mit Erwiderungen von Bourdieu selbst. Gebauer und Wulf haben in ihren eigenen Büchern (1995, 1998) Bourdieus Ansatz weiterentwickelt und arbeiten noch heute mit seiner Theorie. Mit Bourdieus Tod ist sein Werk in den Mainstream eingegangen, wenn auch auf andere Weise als in den Diskussionen um »Die feinen Unterschiede«. Etwa gleichzeitig differenzierte sich die Aneignung Bourdieus stark aus. Einerseits wird seine Theorie kaum noch als Gesamtwerk rezipiert und interpretiert, andererseits entwickeln sich Spezialisten für einzelne Aspekte der Theorie. Die jüngere Generation, die diese Aufgaben übernimmt, hat Bourdieu nicht mehr als Lehrer und Forscher kennen gelernt. Für sie steht er mit Weber und Marx in einer Reihe (vgl. Tipp 2004). Heute ist Bourdieu ein Klassiker, er gehört zum Bestand. Das Werk wird als Steinbruch für beliebige Zwecke genutzt, und Streitigkeiten über die Auslegung jedes Details sind keine Seltenheit mehr. Man kann nicht mehr an ihm vorbei. Zwischen Inventarisierung und Scholastik erstreckt sich jedoch ein weites Feld, in dem auf unterschiedliche Weise mit Bourdieu gearbeitet wird. Selbst in Traditionen, die seiner Theorie fern stehen, setzt man sich mit seinen Gedanken auseinander (z. B. Nassehi, Nollmann 2004). Ein untrügliches Zeichen für die Aufnahme in die Ahnenreihe der Klassiker ist die Veröffentlichung eines Handbuchs im Metzler-Verlag. Zu Bourdieu ist ein derartiges Handbuch 2009 erschienen (Fröhlich, Rehbein Klassiker <?page no="236"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M+Marginalie]__Rehbein__Soziologie_Bourdieus(3)___[Druck-PDF]/ 23.05.2016/ Seite 236 www.claudia-wild.de: [UTB-M+Marginalie]__Rehbein__Soziologie_Bourdieus(3)___[Druck-PDF]/ 23.05.2016/ Seite 237 8.3 Scholastik und Weiterentwicklungen 237 2009). Es enthält Erläuterungen aller wichtigen Begriffe und Werke sowie Artikel zur Rezeption anderer Klassiker durch Bourdieu und zur Wirkung, darunter auch Beiträge zur internationalen Rezeption. Ein weiteres Kennzeichen der Scholastik ist das Erscheinen von Lehrbüchern. Das erste einschlägige Lehrbuch zu Bourdieu hat Markus Schwingel (1995) noch zu Lebzeiten Bourdieus veröffentlicht. Es ist noch heute eine sehr gute Einführung für Menschen, die noch nichts von Bourdieu gelesen haben. Neuere, zur Einführung in Bourdieus Denken geeignete Bücher sind Papilloud (2003), Fuchs-Heinritz, König (2005) und Barlösius (2008). Neben die allgemeinen Einführungen und Überblickswerke treten zunehmend Auseinandersetzungen mit einzelnen Aspekten und Begriffen Bourdieus. Zwei wichtige Bücher zum zentralen Begriff Bourdieus, dem Habitus, sind Krais, Gebauer (2002) und Lenger et al. (2013). Das erstgenannte Werk kann auch als Einführung in Bourdieus Denken gelesen werden, während das andere ein Sammelband mit sehr differenzierten Beiträgen zu einzelnen Aspekten des Begriffs ist. Der Unterschied zwischen beiden markiert auch die Verwandlung Bourdieus von einem bekannten lebenden Professor und Kollegen in einen Klassiker. In der deutschsprachigen Soziologie werden nicht nur Elemente von Bourdieus Theorie rezipiert, sondern es wird auch mit seiner Theorie gearbeitet. Viele Wissenschaftler entwickeln die Theorie dabei weiter, wenden sie auf neue Gegenstände an oder arbeiten sie zu neuen Teiltheorien aus. Das Feld ist mittlerweile kaum noch zu überschauen, aber einige wichtige Schulen und Arbeitsbereiche sollen im Folgenden angeführt werden. Bei ihnen handelt es sich um Strömungen, die direkt im Werk Bourdieus wurzeln und sich vorrangig auf ihn beziehen. Eine Vorreiterrolle bei der empirischen Arbeit mit Bourdieu kommt zweifellos Michael Vester zu, der den Ansatz der »Feinen Unterschiede« unter Bezugnahme auf Karl Marx und Edward P. Thompson zu einer eigenen Schule der Sozialstrukturanalyse weiterentwickelte. Sie nahm die frühe Kritik an Bourdieu auf und setzte an die Stelle von beruflich bestimmten Klassenfraktionen durch Habitus bestimmte Milieus (Vester et al. 2001). Die Schule Michael Vesters hat im Anschluss an Bourdieu eine empirische Methode zur Erforschung des Habitus entwickelt, die Typen bildende Habitusanalyse oder »Habitushermeutik« (Bremer 2004). Darüber hinaus bedient sich die Schule einer ähnlichen Kombination quantitativer und qualitativer Methoden wie Bourdieu. Einen guten Überblick bietet der Sammelband von Brake, Bremer und Lange-Vester (2013), der die Forschung der Vester-Schule in einem breiteren Umfeld verortet. Auch heute noch ist die Sozialstrukturanalyse und Ungleichheitsforschung in Deutschland ohne Bourdieu undenkbar. Das hat sich seit Veröf- Auseinandersetzungen mit-einzelnen Aspekten und-Begriffen Weiterentwicklung Ungleichheitsforschung <?page no="237"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M+Marginalie]__Rehbein__Soziologie_Bourdieus(3)___[Druck-PDF]/ 23.05.2016/ Seite 238 238 8 Rezeption und Weiterentwicklung fentlichung der »Feinen Unterschiede« nicht geändert. Die Untersuchung der deutschen Sozialstruktur von Rehbein et al. (2015), die parallel auch in anderen Ländern durchgeführt wurde (vgl. Rehbein/ Souza 2014), ist großenteils eine Weiterentwicklung der Begriffe und Methoden Bourdieus. Sie wurden vor dem Hintergrund der Forschung in Asien und Lateinamerika kritisch hinterfragt und verbessert. Die methodologische Bedeutung Bourdieus wird oft übersehen. Seine spezifische Verbindung von Selbstreflexion, verstehenden Methoden und Statistik ist für die Sozialwissenschaften jedoch wegweisend (siehe Sommer 2014). Ferner gehörte Bourdieu zu den ersten Soziologen, die eine in den 1950er Jahren entwickelte statistische Methode zum Einsatz gebracht haben, die multiple Korrespondenzanalyse. Sie ist geradezu geschaffen für die vieldimensionale Soziologie Bourdieus (Rehbein et al. 2015). Jörg Blasius hat die Methode in die deutsche Soziologie importiert und sie sowohl angewendet (zuerst Blasius 1987) als auch ihre Anwendung durch Bourdieu kritisch beleuchtet (zuerst Blasius/ Winkler 1989). Ferner hat er das deutsche Standardwerk zur Methode verfasst (Blasius 2001). Neben der Sozialstrukturanalyse ist vermutlich die Kultursoziologie das Gebiet, in dem Bourdieu am breitesten rezipiert wurde. Hans-Peter Müller (1989) hat die Kritik an Bourdieus Lebensstilkonzeption im Rahmen der Diskussionen um Individualisierung eher kulturtheoretisch als sozialstrukturell interpretiert. Heute beschäftigen sich zahlreiche Forscher mit Aspekten der Kultur auf der Basis von Bourdieus Theorie. Manfred Russo (2000) hat ein Werk zur Alltagskultur vorgelegt und Andreas Gebesmair (2001) zur Musik. In der AG Musiksoziologie der Deutschen Gesellschaft für Soziologie arbeiten neben Gebesmair auch Gernot Saalmann und Rainer Diaz-Bone mit Bourdieu. Werner Georg (1998) hat sich mit verschiedenen Aspekten von Lebensstilen beschäftigt. Zentral für die Kulturtheorie sind die Arbeiten von Gerhard Fröhlich, der gemeinsam mit Ingo Mörth in Linz eines der europäischen Zentren der Bourdieu-Forschung aufgebaut hat (vgl. Mörth, Fröhlich 1994). Einschlägig für die Kulturwissenschaften ist neuerdings der Sammelband von Suber, Schäfer, Prinz (2013). Ulf Wuggenig ist der Pionier der Bourdieu-Rezeption im Bereich der Kunstsoziologie. Von seinen zahlreichen Publikationen ist ein neues Überblickswerk hervorzuheben, das er gemeinsam mit Bismarck und Kaufmann (2013) veröffentlicht hat. Darüber sind die Bücher von Jens Kastner (2009) und Florian Schumacher (2011) als Meilensteine in der Rezeption Bourdieus für die soziologische Erforschung der Kunst zu nennen. Aus der Bildungsforschung ist Bourdieu heute nicht mehr wegzudenken, auch wenn Pädagogik und Psychologie Bourdieu großenteils ablehnend gegenüberstehen. Beate Krais hat mit ihrer Verbreitung der Schriften methodologische Bedeutung Kultursoziologie Kunstsoziologie Bildungsforschung <?page no="238"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M+Marginalie]__Rehbein__Soziologie_Bourdieus(3)___[Druck-PDF]/ 23.05.2016/ Seite 238 www.claudia-wild.de: [UTB-M+Marginalie]__Rehbein__Soziologie_Bourdieus(3)___[Druck-PDF]/ 23.05.2016/ Seite 239 8.3 Scholastik und Weiterentwicklungen 239 und Gedanken Bourdieus für die Verankerung seiner Theorie in der Bildungssoziologie gesorgt. Wichtige Arbeiten zur Bildungssoziologie haben seither beispielsweise Karin Zimmermann (2000) und Steffani Engler (2001) vorgelegt. Seither hat Alexander Lenger (2008) den Zusammenhang zwischen sozialer Herkunft und Promotion untersucht, Christian Schneickert (2014) hat die Relation zwischen Herkunft und wissenschaftlichen Hilfskräften erforscht. In der Stadt- und Raumsoziologie hat Bourdieus Begriff des sozialen Raums natürlich Interesse erregt. Besonders einflussreich sind hier die Arbeiten von Martina Löw (2001) geworden. Enger an Bourdieu schließt sich das Werk von Heiko Geiling (2006) an, aber die Wirkung Bourdieus in diesem Bereich der Forschung ist insgesamt kaum zu überblicken (siehe beispielsweise Dangschat, Hamedinger 2007). Eine große Rolle spielt Bourdieu in der deutschen Geschlechterforschung. Auch hier hat Beate Krais eine kaum zu überschätzende Bedeutung für die Rezeption. Sodann haben sehr viele Forscherinnen sich mit Bourdieus Theorie der männlichen Herrschaft auseinandergesetzt und fruchtbar weiterentwickelt (z. B. Frerichs, Steinrücke 1993; Dölling, Krais 1997; Rademacher, Wiechens 2001). Fest verankert ist die Theorie Bourdieus in der politisch orientierten Soziologie, wobei es hier keine einheitlichen Schulen oder Zusammenhänge gibt. Originelle Arbeiten haben in diesem Bereich beispielsweise Rolf-Dieter Hepp (2000), Berthold Vogel (2007), Egon Christian Leitner (2000) und Anja Weiß (2001a) vorgelegt. Sie stellen zumeist eine Relation zwischen den sozialen Strukturen, symbolischen Kämpfen und politischem Handeln her. Vor diesem Hintergrund sind die Arbeiten im Allgemeinen weitaus komplexer als politikwissenschaftliche Untersuchungen. Im »Staatsadel« (1998a) hat Bourdieu das Machtfeld genauer erforscht. Dieser Ansatz ist in der Elitenforschung international sehr einflussreich geworden. In diesem Zusammenhang ist die Koryphäe der deutschen Elitenforschung, Michael Hartmann (1996, 2002a), zu nennen, dessen Gedanken tief im Werk Bourdieus verwurzelt sind. Neuere Werke stammen von Elisabeth Nöstlinger und Ulrike Schmitzer (2007) zu den Eliten im deutschsprachigen Raum und von Christian Schneickert (2015) zu einem internationalen Vergleich von Eliten. Bourdieus Ansatz ist nicht nur in der Soziologie, sondern auch in-- vermutlich allen- - Nachbardisziplinen rezipiert worden. Sogar Philosophen arbeiten mit Bourdieu. Gunter Gebauer hat ihn für verschiedene Aspekte der Handlungstheorie fruchtbar gemacht. Gerhard Fröhlich zieht ihn für seine Forschung zur Wissenschaftsgeschichte und -theorie heran. Noch erstaunlicher ist vielleicht die Rezeption Bourdieus in der Archäologie- - Stadt- und Raumsoziologie Geschlechterforschung politische Soziologie Elitenforschung Nachbardisziplinen <?page no="239"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M+Marginalie]__Rehbein__Soziologie_Bourdieus(3)___[Druck-PDF]/ 23.05.2016/ Seite 240 240 8 Rezeption und Weiterentwicklung aber auch die Archäologie interessiert sich ja letztlich für soziale Welten. Dass Bourdieu in der Romanistik präsent ist, verwundert hingegen weniger. Hier sei vor allem auf die Arbeiten von Joseph Jurt und Wolfgang Settekorn hingewiesen. Bourdieus Werke fanden ungewöhnlich engagierte Übersetzer und Übersetzerinnen, die sich zum Teil an der Interpretation seiner Werke beteiligt haben, beispielsweise Bernd Schwibs, Andreas Pfeuffer, Stephan Egger und andere. Es ist nicht einfach, die Schriften Bourdieus zu übersetzen, die ja-- teilweise absichtlich-- kompliziert und komplex geschrieben sind (siehe Einleitung). Die französischen Partizipialkonstruktionen und Appositionen sind im Deutschen nicht originalgetreu wiederzugeben. Und die Begriffe ändern ständig ihre Konnotation. Daher muss beim Übersetzen Bourdieus eine große gedankliche Leistung erbracht werden, weshalb ich meine, man sollte über gelegentliche Schwächen hinwegsehen. Von allen Werken Bourdieus hat »Elend der Welt« nicht nur die höchste Auflagenzahl erreicht, sondern auch die breiteste Wirkung gehabt. Es wurde in den Medien und auf der Straße diskutiert, für das Theater adaptiert und aufgeführt (auch jetzt sind noch Aufführungen in deutscher Sprache zu sehen). Die Theateraufführung wurde im Fernsehen übertragen und kommentiert. Das Buch hat jedoch auch zahlreiche ähnliche Untersuchungen angeregt, zunächst in der Schweiz, dann in Österreich und Deutschland. Die deutsche, von Franz Schultheis und Kristina Schulz geleitete Untersuchung folgt dem Original am engsten (Schultheis, Schulz 2005). Sie ist im selben Verlag erschienen wie die deutsche Übersetzung des »Elends der Welt«, kommt in ähnlicher Ausstattung und hat beinahe den gleichen Umfang. Das Werk ist im Spätsommer 2005 unter dem Titel »Gesellschaft mit begrenzter Haftung. Zumutungen und Leiden im deutschen Alltag« erschienen. Auch in ihm konzentrieren sich die Interviews auf einige Zentralthemen, die Positionen repräsentieren, an denen die Sozialstruktur arbeitet: die Umstrukturierung der Arbeitswelt, die Ost-West-Differenz, Veränderung der Familie, Entwertung von Bildung und Marginalisierung. Das deutsche Werk wurde von einer Gruppe von Forschern und Forscherinnen erarbeitet, die sich oft trafen, ihre Ergebnisse diskutierten und sich gegenseitig anregten. Fast alle von ihnen arbeiten auch sonst mit und über Bourdieu. Die Vorgeschichte der deutschen Untersuchung wird in der Einführung erzählt (Schultheis, Schulz 2005: 9ff ). Das Werk wurde durch ein Radiogespräch zwischen Bourdieu und Günter Grass 1999 angeregt. Einige der Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen des Originals beteiligten sich an den Diskussionen der deutschen Gruppe. Die Diskussionen führten zur Entwicklung eines Ansatzes, der dem Original ähnlich, aber den deutschen Übersetzer und Übersetzerinnen Elend der Welt <?page no="240"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M+Marginalie]__Rehbein__Soziologie_Bourdieus(3)___[Druck-PDF]/ 23.05.2016/ Seite 240 www.claudia-wild.de: [UTB-M+Marginalie]__Rehbein__Soziologie_Bourdieus(3)___[Druck-PDF]/ 23.05.2016/ Seite 241 8.3 Scholastik und Weiterentwicklungen 241 Verhältnissen angepasst war (Schulz 2003). Es wurden mehr als 100 Interviews durchgeführt, von denen nur ein Teil Eingang in das Druckwerk fand. Resultat ist ein »Kaleidoskop […], in dem eine breite, aber begrenzte Zahl an unterschiedlichen Bildern, basierend auf einer je spezifischen Konfiguration von farbigen Grundbausteinen, durch Drehen einer Rolle abgerufen werden können« (Schultheis, Schulz 2005: 12). Die Schweizer Untersuchung (Honegger et al. 2002) ließ sich in Methode und Darstellung von der objektiven Hermeneutik inspirieren (2002: 15f ). Im Buch sind keine Interviews dargeboten, sondern Interpretationen in Abhandlungsform. Die Autoren und Autorinnen haben zwar auch in einer Gruppe gearbeitet, um Interviews mit Menschen durchzuführen, deren soziale Positionen sich an Bruchstellen der Gesellschaft befinden; aber sie waren der Meinung, die Interpretationsarbeit explizit machen zu müssen, damit die Leserschaft sie nachvollziehen kann. Ferner sollten die Interviews nicht als-- gleichsam beliebig zu deutende-- Dokumente dastehen, es sollte also dem Interviewprozess nicht die Selbstanalyse aufgebürdet werden. Sie wurde von den Schweizer Wissenschaftlern und Wissenschaftlerinnen selbst geleistet und im Druckwerk zusammenfassend dargestellt. Die Unterschiede beruhen nicht auf pragmatischen oder zufälligen Entscheidungen, sondern auf einem prinzipiell von Bourdieu abweichenden Ansatz. Die objektive Hermeneutik wurde von Ulrich Oevermann begründet und entwickelte sich in Abgrenzung von Bourdieu, ja geradezu als alternativer Ansatz (vgl. Wagner 2001, 2003). Wichtige Unterschiede zwischen beiden Ansätzen spiegeln sich in den Differenzen zwischen der Schweizer und der französischen Untersuchung wider. Die österreichische Untersuchung unter der Leitung von Elisabeth Katschnig-Fasch (2003) folgt wie die deutsche dem Original recht eng, unterscheidet sich von diesen aber durch die regionale Beschränkung auf die Stadt Graz (siehe Timm 2004). Alle Interviewten lebten in dieser Stadt und sollten im Idealfall ein Bild der sozialen Dynamik in ihr vermitteln. Auch hier ging es nicht darum, alle Typen und Schichten zu repräsentieren, sondern sozialem Leiden Ausdruck zu verleihen. Zweifellos werden noch weitere Untersuchungen folgen, die sich ans »Elend der Welt« anlehnen und seinen Ansatz variieren. <?page no="241"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M+Marginalie]__Rehbein__Soziologie_Bourdieus(3)___[Druck-PDF]/ 23.05.2016/ Seite 242 <?page no="242"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M+Marginalie]__Rehbein__Soziologie_Bourdieus(3)___[Druck-PDF]/ 23.05.2016/ Seite 242 www.claudia-wild.de: [UTB-M+Marginalie]__Rehbein__Soziologie_Bourdieus(3)___[Druck-PDF]/ 23.05.2016/ Seite 243 243 Schluss Wer heute damit beginnt, sich mit der Soziologie Pierre Bourdieus zu beschäftigen, sieht sich einer kaum zu überblickenden Menge von Veröffentlichungen und Meinungen gegenüber. Die Verwandlung Bourdieus in einen Klassiker hat die Differenzierung und Vertiefung der Auseinandersetzung mit seinem Werk zur Folge. Das hat den Vorteil, dass man sehr viele Aspekte des Werkes heute besser verstehen kann als zu Bourdieus Lebzeiten. Der Nachteil besteht darin, dass man den Überblick verliert. Vor diesem Hintergrund kam es dem vorliegenden Lehrbuch darauf an, den inneren Zusammenhang der Schriften Bourdieus aufzuzeigen und auf diese Weise einen Überblick zu ermöglichen. Selbstverständlich ist die im Lehrbuch vorgelegte Interpretation nicht objektiv und neutral, sondern durch meine Interaktion mit Bourdieu und meine spätere Arbeit mit seiner Soziologie geleitet. Ich habe jedoch versucht, meine persönlichen Vorannahmen im Text deutlich zu machen und gleichzeitig die aus ihnen resultierenden Verzerrungen zu reduzieren. Somit schlage ich eine bestimmte »Konfiguration« der Interpretation vor (Rehbein 2013), die der Leserschaft als Orientierung dienen kann, aber durch eigene Arbeit angereichert werden muss. Die hier vorgeschlagene Konfiguration ist allerdings mehr als eine mögliche Meinung unter vielen gleichwertigen Ansichten. Das Lehrbuch erscheint in der dritten Auflage und wurde auf der Basis von Kritik aus Seminaren, von Kollegen und durch die eigene Lektüre verbessert. Bereits die erste Auflage basierte auf einer intensiven Beschäftigung mit Bourdieu, die nicht nur am Schreibtisch stattfand, sondern seine Soziologie so interpretierte, wie er sie selber entwickelt hat, nämlich als »fieldwork in philosophy«, als theoretisch reflektierte empirische Forschung. Jede andere Interpretation seiner Soziologie ist fehlgeleitet, wie alle Menschen bestätigen werden, die bei und mit Bourdieu gearbeitet haben. Neben dem hermeneutischen Verhältnis zwischen Theorie und Empirie ist die politische Relevanz der Soziologie die zentrale Eigenschaft von Bourdieus Ansatz. Eine politische Neutralität und Folgenlosigkeit soziologischer Arbeit ist Bourdieu zufolge eine Selbsttäuschung. Auch die blutleeren Messungen von Einstellungen oder Präferenzen, die in Tabellen oder Diagrammen dargestellt werden und vollkommen deskriptiv daherkommen, haben eine politische Wirkung-- und wenn sie in der Abkehr von Politik oder der Blindheit gegenüber der eigenen Verstrickung in die soziale Welt besteht. Das Bewusstsein der Verstrickung in die Gesellschaft und damit der politischen Relevanz des eigenen Denkens hat Bourdieus Soziologie von Beginn <?page no="243"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M+Marginalie]__Rehbein__Soziologie_Bourdieus(3)___[Druck-PDF]/ 23.05.2016/ Seite 244 244 Schluss an begleitet. Sie ist keine Verirrung des späten Bourdieu. Vielmehr hatte die Beschäftigung mit Algerien einen politischen Anlass und einen politischen Anspruch. Das gilt auch für die folgenden Schriften zur Bildungssoziologie und zur Sozialstruktur. Die politische Relevanz von Bourdieus Werk zu ignorieren, wäre es grobes Missverständnis. Sie ist letztlich jedoch nicht in einer persönlichen Eigenart Bourdieus begründet, sondern beruht auf der wissenschaftstheoretischen Einsicht in die unauflösliche Verstrickung von soziologischer Erkenntnis und Gesellschaft (Adorno 1979). In der politischen Diskussion ist Bourdieu nicht mehr so präsent wie zu Lebzeiten. Dennoch hat er Bewegungen wie attac seinen Stempel aufgedrückt (siehe Leitner 2000; Pelizzari 2001). Er wirkt auch hier vorrangig als ein Theoretiker, mit dem und auf dessen Basis man arbeitet. Man könnte sogar sagen, dass das Verständnis des Politischen sich durch Bourdieu ein wenig verändert hat, zumindest in den Bereichen der Gesellschaft, die den bestehenden Verhältnissen kritisch begegnen. <?page no="244"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M+Marginalie]__Rehbein__Soziologie_Bourdieus(3)___[Druck-PDF]/ 23.05.2016/ Seite 244 www.claudia-wild.de: [UTB-M+Marginalie]__Rehbein__Soziologie_Bourdieus(3)___[Druck-PDF]/ 23.05.2016/ Seite 245 245 Glossar Das Glossar dient einer ersten Orientierung durch den Begriffsdschungel von Bourdieus Soziologie. Stößt man beim Lesen auf einen Ausdruck, der technisch erscheint, aber unverständlich ist, kann man hier einen ersten Rat suchen. Dann aber sollte man die hier angeführte Erläuterung wieder vergessen. Unter keinen Umständen sollte man aus dem Glossar zitieren. Es ist vollkommen verfehlt, Bourdieus Begriffe griffig definieren zu wollen, da gerade die Entwicklung des Begriffs als Konfiguration das entscheidende Merkmal dieser Soziologie ist. Die Komplexität und Entwicklungsgeschichte der begrifflichen Zusammenhänge geht in einer Definition verloren-- also der Gedanke. Autonomie-- Den Begriff der Autonomie oder Selbstbestimmtheit bezieht Bourdieu meist auf den Begriff des Feldes. Die Regeln eines Feldes erreichen in der Moderne eine zunehmende Autonomie von denen anderer Felder. Insbesondere auf dem wissenschaftlichen Feld hält Bourdieu diese Autonomie auch für normativ erstrebenswert. Determinismus-- Bourdieu geht von einem »methodologischen Determinismus« aus (1991a: 18), der zunächst annimmt, dass alle sozialen Phänomene vollkommen erklärbar sind. In der Sekundärliteratur wird Bourdieus Theorie häufig für deterministisch gehalten, da Bourdieu alle Handlungen auf Strukturen zurückführe und damit keine Freiheit annehme. Disposition- - Ein inkorporiertes Handlungsmuster, das zur Wiederholung einmal erlernter Praktiken tendiert. Doxa-- Die geteilte Überzeugung-- oder das in einer Klasse, Gruppe oder Gesellschaft unbewusst geltende Vorurteil. Die Doxa ist die für wahr gehaltene und gegen Kritik verteidigte überlieferte Meinung. Einverleibung-- Soziale Praktiken werden durch Einverleibung angeeignet und in Dispositionen verwandelt. Für Bourdieu ist weder das Bewusstsein noch eine Struktur das grundlegende Subjekt sozialen Handelns, sondern vor allem ein Leib, der Handlungen ausübt, und zwar zumeist unbewusst. Ethos-- Das Ethos ist eine Einstellung, die mit dem Habitus verknüpft ist und von diesem Begriff nicht scharf unterschieden werden kann. Tendenziell verwendet Bourdieu den Begriff des Ethos im Sinne einer Weltsicht. <?page no="245"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M+Marginalie]__Rehbein__Soziologie_Bourdieus(3)___[Druck-PDF]/ 23.05.2016/ Seite 246 246 Glossar Feld- - Das Feld ist ein Bereich der Gesellschaft, der sich durch eigene Handlungsmuster, einen bestimmten Sinn (oder eine Illusio) sowie eine besondere Struktur auszeichnet. Der Begriff hat Ähnlichkeit mit dem des sozialen Systems, ist aber mindestens ebenso durch Macht wie durch Funktionen definiert. Großbürgertum-- Die oberste Klasse, auch Bürgertum oder Bourgeoisie genannt. Neben dem Bürgertum unterscheidet Bourdieu in Frankreich Kleinbürgertum und Arbeiterschaft oder Volksklassen, im kolonialen Algerien darüber hinaus das Subproletariat. Habitus-- Die Gesamtheit der kohärenten Dispositionen. Der Habitus ist die inkorporierte (einverleibte) Tradition einer Gesellschaft, Klasse und Gruppe. Man könnte auch sagen, es handelt sich um die einverleibte Existenzform von Gesellschaft. Der Habitus ist zugleich durch die gesellschaftlichen Strukturen determiniert und bringt diese Strukturen hervor. Herkunft, soziale Herkunft-- Die soziale Position der früheren Generation der Familie, insbesondere des Vaters. Die soziale Herkunft legt die grundlegende soziale Position eines Akteurs fest, da sie sich mit einem bestimmten Erbe verknüpft. Heterodoxie-- Gegenteil der Orthodoxie: Marginalisierte entwickeln eine häretische Alternative zur herrschenden Doxa, um ihr eigenes Kapital aufzuwerten. Hexis-- Die griechische Übersetzung des lateinischen Wortes Habitus verwendet Bourdieu meist, um die eher körperlichen Aspekte des Habitus zu kennzeichnen, während das Ethos eher auf die symbolische Ebene verweist. Eine klare Abgrenzung der Begriffe fehlt jedoch. Hysteresis-- Das Beharrungsvermögen einmal erlernter Handlungsmuster oder Dispositionen. Die erlernten Praktiken ändern sich langsamer als die gesellschaftlich geltenden Gewohnheiten. Illusio-- Glauben an den Sinn des Feldes-- oder auch des Spiels. Kapital-- Der Begriff des Kapitals umfasst alle materiellen und immateriellen Ressourcen, die zur Ausführung gesellschaftlich relevanter Handlungen, zur Erlangung relevanter Positionen und zum Erwerb relevanter <?page no="246"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M+Marginalie]__Rehbein__Soziologie_Bourdieus(3)___[Druck-PDF]/ 23.05.2016/ Seite 246 www.claudia-wild.de: [UTB-M+Marginalie]__Rehbein__Soziologie_Bourdieus(3)___[Druck-PDF]/ 23.05.2016/ Seite 247 Glossar 247 Güter erforderlich sind. Die Verfügung über Kapital definiert die soziale Position, weil es die Möglichkeiten bestimmt. Klasse- - Bourdieu unterscheidet mehrere Klassenbegriffe. Die objektive Klasse wird durch die faktischen Existenzbedingungen definiert. Die Soziologie ermittelt durch Forschung konstruierte Klassen. Im Alltag grenzen sich Klassen aktiv oder passiv voneinander ab und bilden somit klassifizierende oder klassifizierte Klassen. Schließlich kann eine Klasse auch gemeinsam handeln und eine mobilisierte Klasse bilden. Keiner dieser Klassenbegriff ist real oder theoretisch mit dem anderen deckungsgleich. Klassenfraktion-- Die Klassen zerfallen in auf- und absteigende Klassenfraktionen, die sich vor allem durch ihre Verfügung über kulturelles Kapital unterscheiden. Eine Klassenfraktion kann sich entweder durch das Erbe reproduzieren oder durch die Umwandlung ihrer Strategien und Instrumente. Kleinbürgertum-- Die mittlere der drei Klassen. Die Kleinbürger versuchen, die herrschende Kultur zu imitieren, haben dazu aber weder Mittel noch Kriterien. Konversion-- Wechsel der Einstellung oder auch Umwandlung von Kapital in eine andere Kapitalsorte. Kulturelles Kapital- - Bourdieu unterscheidet drei Arten oder Existenzformen des kulturellen Kapitals: inkorporiertes oder einverleibtes, institutionalisiertes und objektiviertes oder materielles. Inkorporierung ist Bildung. Sie kostet Zeit. Sie kann nicht kurzfristig weitergegeben werden. Kulturelles Kapital kann auch materiell angeeignet werden, was ökonomisches Kapital voraussetzt. Sie können auch symbolisch angeeignet werden, was inkorporiertes Kulturkapital voraussetzt. Institutionalisierung bedeutet offizielle Anerkennung und Ablösung von hier und jetzt existierenden Individuen. Laufbahn, soziale Laufbahn-- Der Lebenslauf, wie er über die durchlaufenen Institutionen definiert wird. Die Laufbahn beginnt auf einer durch die soziale Herkunft bestimmten hierarchischen Ebene und führt durch Institutionen wie Schule, Fortbildung, Beruf und soziale Felder. Mit zunehmendem Alter schränken sich die Möglichkeiten immer mehr ein, und man gibt sich mit dem Erreichten zufrieden. <?page no="247"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M+Marginalie]__Rehbein__Soziologie_Bourdieus(3)___[Druck-PDF]/ 23.05.2016/ Seite 248 248 Glossar Mimesis- - Der Erwerb des Habitus gelingt durch unbewusste, größtenteils leibliche Angleichung an die Umgebung. Bourdieu verwendet hierfür den philosophischen Begriff der Mimesis, der bei Platon eine wichtige Rolle im Erkenntnisprozess spielte. Mobilisierung-- Den Kern des Begriffs der Mobilisierung bildet die Verwandlung einer konstruierten oder objektiven Klasse in eine handelnde Klasse. modus operandi-- Das Prinzip sozialer Praktiken, in erster Linie Dispositionen, auch der Habitus. Das Prinzip zeigt sich nur in seinen Äußerungen, im opus operatum. Notwendigkeit, Geschmack der Notwendigkeit-- Geschmack der Arbeiter- oder Volksklasse. Der Lebensstil der untersten Klasse zeichnet sich dadurch aus, dass er die Praxis und die Vorlieben an die materielle Not und die ideellen Mängel anpasst. Objektivierung- - Vergegenständlichung. Damit ist entweder die Verwandlung in eine materielle Seinsweise gemeint (z. B. in objektiviertes kulturelles Kapital) oder die Verwandlung in einen wissenschaftlichen Gegenstand. opus operatum- - Beobachtbare Praktiken und ihre Resultate, die auf einem Habitus oder einem modus operandi beruhen Orthodoxie- - Die Gruppe, die das spezifische Kapital monopolisiert, bestimmt die Regeln des Feldes und die herrschende Doxa, die dementsprechend im Feld als orthodox gilt Politisches Kapital-- Ein Posten, ein Titel oder eine Anerkennung im politischen Feld, insbesondere ein Parteirang in einem sozialistischen Staat. Position, soziale Position- - Die Relation des eigenen Ortes der Gesellschaft zu anderen, insbesondere die Zusammensetzung des eigenen Kapitals im Verhältnis zu anderen. Prätention, Anspruch-- Aufstiegsstreben. Das ist zum einen der Versuch, einen Geschmack zu entwickeln, der nicht der eigenen sozialen Position entspricht, vor allem der Lebensstil des Kleinbürgertums. Zum anderen <?page no="248"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M+Marginalie]__Rehbein__Soziologie_Bourdieus(3)___[Druck-PDF]/ 23.05.2016/ Seite 248 www.claudia-wild.de: [UTB-M+Marginalie]__Rehbein__Soziologie_Bourdieus(3)___[Druck-PDF]/ 23.05.2016/ Seite 249 Glossar 249 handelt es sich bei der Prätention auch um den Versuch, schwächerer Akteure, eine bessere oder gar herrschende Position im Feld zu erlangen. Praktischer Sinn-- Die inkorporierte Fähigkeit, sich in der Welt zurechtzufinden. Vor allem ist hiermit die Einverleibung der Handlungsmuster eines Feldes gemeint. Praxeologie-- Bourdieu bezeichnete den theoretischen Kern seiner Soziologie auch als Theorie der Praxis oder Praxeologie. Sie geht davon aus, dass einverleibte und großenteils unbewusste Handlungsmuster die Grundlage des Sozialen und daher auch der vorrangige Gegenstand der Soziologie sind. Repräsentation, Vorstellung- - Eine symbolische Darstellung sozialer Verhältnisse. Die Repräsentationen entsprechen den sozialen Positionen und den sozialen Kräfteverhältnissen. Reproduktion- - Die Einverleibung der sozialen Strukturen führt dazu, dass diese Strukturen im Handeln wiederholt und gestärkt werden. Das Handeln, Denken und Wahrnehmen ist grundsätzlich konservativ. Bourdieu wird oft ein Determinismus vorgeworfen, was ein Missverständnis der These von der Reproduktion als Widerspiegelung bedeutet. Sozialer Raum-- Die Gesamtheit der sozialen Positionen innerhalb einer Gesellschaft, die bei Bourdieu als Nationalstaat verstanden wird. Sozialkapital- - »Das Sozialkapital ist die Gesamtheit der aktuellen und potentiellen Ressourcen, die mit dem Besitz eines dauerhaften Netzes von mehr oder weniger institutionalisierten Beziehungen gegenseitigen Kennens oder Anerkennens verbunden sind; oder, anders ausgedrückt, es handelt sich dabei um Ressourcen, die auf der Zugehörigkeit zu einer Gruppe beruhen.« (1997c, 63) Sozioanalyse- - Die Befreiung sozial auferlegter Zwänge durch ihre selbstreflexive soziologische Untersuchung. Soziodizee-- Die euphemistische Rechtfertigung der herrschenden sozialen Verhältnisse, insbesondere durch die herrschende Klasse. Spontansoziologie- - Erklärungen, deren sich Handelnde bedienen, um ihr soziales Handeln so, wie sie es erleben, zu rechtfertigen. <?page no="249"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M+Marginalie]__Rehbein__Soziologie_Bourdieus(3)___[Druck-PDF]/ 23.05.2016/ Seite 250 250 Glossar Symbol- - Die Begriffe des Bewusstseins, des Geistes, der Ideologie und der geistigen Welt werden von Bourdieu in der Folge Ernst Cassirers meist durch den Begriff des Symbols ersetzt. Das Symbolische umfasst alle Äußerungen des Menschen, sofern ihnen ein Sinn zukommt. Symbolische Gewalt-- Die Übereinstimmung des Symbolischen mit der Herrschaftsordnung. Die Einverleibung der sozialen Strukturen beinhaltet die Übernahme von Denk- und Handlungsmustern, die an die bestehenden Hierarchien angepasst sind und diese reproduzieren. Die Herrschaftsordnung wird daher als natürlich und selbstverständlich wahrgenommen. Man kann die soziale Welt gar nicht anders denken, als sie ist. Symbolisches Kapital-- Symbolisches Kapital ist Autorität und Legitimität der Weisung, die durch Anerkennung und Verkennung von Menschen verliehen wird, die Gläubigen gleichen und von transzendentalen Mächten beherrscht werden. Titel-- Eine Form institutionalisierten kulturellen Kapitals, das in modernen Gesellschaften meist vom Staat verliehen wird. Inbegriff des modernen Titels ist ein Bildungsdiplom. Verkennung-- Die soziale Welt kann nur funktionieren, weil die Akteure ihre grundlegenden Strukturen und Mechanismen verkennen und gleichzeitig anerkennen. <?page no="250"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M+Marginalie]__Rehbein__Soziologie_Bourdieus(3)___[Druck-PDF]/ 23.05.2016/ Seite 250 www.claudia-wild.de: [UTB-M+Marginalie]__Rehbein__Soziologie_Bourdieus(3)___[Druck-PDF]/ 23.05.2016/ Seite 251 251 Literatur Die Bibliographie umfasst zwei Teile, die keinen vollständigen Überblick über die Literatur von und über Bourdieu liefern, sondern hauptsächlich die zitierten Werke anführen. Die zweifellos vollständigste Bourdieu-Bibliographie ist im Internet unter dem Namen »Hyperbourdieu« zu finden (http: / / HyperBourdieu.jku.at). Sie wurde von den beiden Bourdieukennern Ingo Mörth und Gerhard Fröhlich von der Universität Linz zusammengestellt und listet nicht nur Titel auf, sondern verweist auch auf Übersetzungen, Teilausgaben, Raubdrucke usw. Auf diese Weise erkennt man die Wege der Textzirkulation. Die einschlägige Bibliographie in gedruckter Form ist Yvette Delsaut, Marie-Christine Rivière: Bibliographie des travaux de Pierre Bourdieu, Paris 2002. Eine Anspruch auf Vollständigkeit erhebende Bibliographie der- - ständig wachsenden- - Sekundärliteratur zu Bourdieu gibt es meines Wissens noch nicht. Wer sich dafür interessiert, muss sich wohl von Buch zu Buch vorantasten. Liste der zitierten Werke Bourdieus Die folgende chronologische Auflistung ordnet die zitierten Werke Bourdieus den Kürzeln zu. Die Jahreszahl steht für das Erscheinungsjahr, der folgende Buchstabe dient zur Unterscheidung, falls mehrere Arbeiten aus demselben Jahr zitiert werden. Bei den deutschen Übersetzungen wird in Klammern das Kürzel des französischen Originals hinzugefügt. Allerdings sind zahlreiche der Übersetzungen Aufsatzsammlungen. Gegebenenfalls werden in Klammern Mitautoren, Übersetzer und Herausgeber genannt. Nach Möglichkeit habe ich den Zitaten die deutschen Übersetzungen zu Grunde gelegt, damit alle Leser und Leserinnen sie nachschlagen können. Der Suhrkamp Verlag und der Universitätsverlag Konstanz (UVK) arbeiten gemeinsam an einer thematisch gegliederten Sammlung der Schriften Bourdieus. Die ersten Bände sind bereits erschienen. In naher Zukunft dürften alle wesentlichen Texte Bourdieus in einer einheitlichen Form vorliegen. <?page no="251"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M+Marginalie]__Rehbein__Soziologie_Bourdieus(3)___[Druck-PDF]/ 23.05.2016/ Seite 252 252 Literatur 1958-- Sociologie de l’Algérie. Paris. 1959-- »Le choc des civilisations«, in Secrétariat social (Hg.): Le sous-développement en Algérie. Algier (40-51). 1962a-- »Les relations entre les sexes dans la société paysanne«, in Les Temps Modernes, 18.-Jahrgang, 1962, Nr. 195, (307-331). 1962b-- »Les sous-prolétaires algériens«, in Les Temps Modernes, 18.- Jahrgang, 1962, Nr. 199, (1030-1051). 1963-- Travail et Travailleurs en Algérie (mit Alain Darbel, Jean-Paul Rivet, Claude Seibel). Paris/ Den Haag. 1964a-- Le déracinement. La crise de l’agriculture traditionnelle en Algérie (mit-Abdelmalek Sayad). Paris. 1964b-- Les étudiants et leurs études (mit Jean-Claude Passeron und Michel Eliard). Paris/ Den Haag. 1964c-- Les héritiers. 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197, 199- 202, 206, 224 Aristoteles 86 Aron, Raymond 49-50 Asien 12, 115 Attac 244 Austin, John L. 191, 257 Autonomie 70, 104-105, 130, 134, 138, 213, 221, 227, 264 Autonomisierung 114-116, 197 B Bachelard, Gaston 10, 52-53, 55, 59, 102, 257, 266 Barlösius, Eva 237 Béarn 19, 22, 49, 82, 85, 121, 132, 147, 190, 202-203, 253, 255 Becker, Gary 228 Beck, Ulrich 115, 234, 257, 268 Begriff 9-11, 14, 16, 23, 26, 28, 34-35, 51-54, 59, 62-64, 66, 68, 77-81, 84-89, 92, 95, 97-99, 101-104, 106-108, 110- 114, 116, 118-119, 121-122, 128, 133, 139, 141, 155, 157, 159, 161, 164, 166, 179, 181, 183, 186, 188, 193, 200, 202, 205, 224, 228, 240, 261 Berger, Peter A. 234 Bildungswesen 15, 47, 98, 108, 121-123, 125, 127-132, 139-142, 144, 146-147, 149, 151, 156, 159-160, 170, 183, 189, 197-198, 201, 209, 216 Bismarck, Beatrice von 238 Bittlingmayer, Uwe 11, 227, 257, 260, 262- 263, 265, 267, 271 Blasius, Jörg 162, 166, 168, 173, 180, 238, 258 Bohn, Cornelia 53, 101, 105, 188-189, 193, 258 Boltanski, Luc 50, 140, 252-253, 258 Bouveresse, Jacques 75, 97, 236, 258 Brake, Anna 237 Bremer, Helmut 237 Bürgertum 33, 41, 149, 157, 172, 174-178, 194, 198 C Calhoun, Craig 78, 114, 253, 259, 264-266, 270 Canguilhem, Georges 52 Cassirer, Ernst 27, 66-67, 101, 183, 257, 266 Chamboredon, Jean-Claude 50-51, 252- 253 Champagne, Patrick 16, 50-51, 209, 211, 259 Chomsky, Noam 85, 188-189, 192 Cicourel, Aron 88, 236 Comte, Auguste 66, 212 D Dahrendorf, Ralf 233 Deleuze, Gilles 14, 151, 162, 192, 259 Derrida, Jacques 14, 20, 157, 167 Descartes, René 21 Determinismus 79-81, 90, 103, 118 <?page no="273"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M+Marginalie]__Rehbein__Soziologie_Bourdieus(3)___[Druck-PDF]/ 23.05.2016/ Seite 274 274 Sach- und Namensregister Dialektik 55-58, 62, 105, 119-120, 145, 158 Diaz-Bone, Rainer 238 Differenz 28, 32-33, 44, 48, 56, 58, 60, 67, 86, 101, 103, 111, 113, 117, 120, 139, 151, 154, 167, 169, 171, 175, 183-185, 187-188, 190-191, 240-241, 269 Differenzierung 31, 33, 111, 126, 130, 132, 151, 168, 171, 183, 194, 197, 271 Disposition 57-58, 80, 84, 86, 88-94, 96, 119, 143, 161, 165, 174, 206, 217, 219, 263 Distinktion 151, 153, 156, 158, 170-172, 184, 187-188, 193, 208, 266 Dölling, Irene 203, 205, 207, 254, 259 Doxa 58-59, 96, 103 Droysen, Johann Gustav 55 Durkheim, Emile 24, 29-30, 51-52, 65-66, 74, 105, 116, 122, 199, 259 E Eder, Klaus 11, 234, 260, 263-264, 266- 267 Egger, Stephan 240 Ehre 31, 41, 83, 85, 108-109 Emanzipation 21, 69, 73, 76, 183, 209 Empirie 10-11, 19, 51, 55, 63, 68-69, 120, 140, 149, 180, 262 Engler, Steffani 17, 135, 207, 239, 260 Ethnologie 10, 19, 25, 27, 29-30, 35, 42, 47-49, 60, 121, 132, 144, 155, 188, 206, 252 Ethnomethodologie 48, 88, 93, 184 Ethos 27, 86-87, 89, 95, 159, 222 F Feld 40, 54, 58, 61, 66, 69-71, 73, 76, 78, 96, 101-116, 118-120, 132-139, 142, 146-149, 151-152, 157, 161-162, 165- 166, 171, 183, 189-191, 193-202, 213- 214, 222, 224-226, 228, 254, 258, 260- 261, 264, 267-268, 271-272 Foucault, Michel 20, 27, 52, 130, 201 Fraktion 237 Frisinghelli, Christine 235 Fröhlich, Gerhard 11, 16, 61, 70, 84, 87-89, 108, 111, 184, 213, 235, 238-239, 251, 261, 266, 268 Fuchs-Heinritz, Werner 237 G Gadamer, Hans-Georg 44, 55-56, 62, 72 Gebauer, Gunter 11, 16, 53, 82, 85, 87-89, 95-96, 103-104, 236-237, 239, 258-259, 261, 265, 269 Gebesmair, Andreas 238 Gegensatz 14, 27, 38-39, 48, 55-58, 62, 64, 66-68, 71-72, 75, 79, 81, 84, 88, 110, 115, 117-119, 125-126, 140, 142-145, 151, 156-158, 160, 168-169, 172-175, 177, 189, 192, 197, 199, 202-205, 210, 213, 215, 228, 253 Geiling, Heiko 239 Geißler, Rainer 125, 262 Georg, Werner 238 Geschlecht 108, 124, 202, 204-205, 207, 261, 265, 267 Geschlechterverhältnis 27, 183, 202-204, 206-207, 265 Geschmack 87, 151-160, 165, 167-169, 171-174, 176-179, 181, 217, 258, 266 Globalisierung 13, 113, 115, 202, 223-225, 257-258, 265, 268-270 Goffman, Erving 98 Grass 240 H Habermas, Jürgen 11, 47, 64, 71-77, 188, 213, 227, 233, 262-264 Habitus 11, 14, 27, 30, 33, 37, 40, 77, 84-98, 101-104, 107-108, 110-111, 113- 114, 116, 118-119, 121-122, 124, 126, 132, 135-141, 144, 146, 153-154, 157, 159, 161-162, 164, 167-168, 175, 178- 180, 183-184, 187, 189, 191, 196, 205, 207-208, 213, 215, 220, 257-265, 271 Haltung 27, 38, 40, 47, 49, 54, 56, 58, 61-62, 82, 86, 89, 99, 107, 159, 195, 213 <?page no="274"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M+Marginalie]__Rehbein__Soziologie_Bourdieus(3)___[Druck-PDF]/ 23.05.2016/ Seite 274 www.claudia-wild.de: [UTB-M+Marginalie]__Rehbein__Soziologie_Bourdieus(3)___[Druck-PDF]/ 23.05.2016/ Seite 275 Sach- und Namensregister 275 Hartmann, Michael 142, 227, 239, 262-263 Hegel, G. W. F. 55-56, 62, 67, 76, 86-87, 118-119, 170 Hempel, Carl Gustav 79-80, 94, 263 Hepp, Rolf-Dieter 16, 54, 56, 60, 67, 70, 119, 123, 129-130, 189, 191, 224, 239, 263 Herkunft 234 Hermeneutik 55, 58, 62, 221, 241, 271 Herrschaft 17, 21, 72, 74, 78, 90, 104, 114, 117, 130-131, 138-140, 147, 168, 174- 175, 186-187, 193, 197-198, 200-206, 223-224, 227-228, 254, 259, 265, 267, 270 Hexis 89, 95, 205, 261 Homologie 93, 96-97, 104, 107, 114, 120, 147 Honneth, Axel 116, 184, 233, 263 Horkheimer, Max 72 Hradil, Stefan 115, 234, 263-264, 269 Husserl, Edmund 20, 48, 58, 95 I Illusio 103-105, 133, 152, 195 Individuum 27-30, 33, 40, 84, 89-94, 98, 128, 132, 138, 141, 144, 152, 161, 166, 194, 196-197, 200, 207, 214 Interesse 233, 239 J Jurt, Joseph 13, 22, 49, 105, 115, 166, 236, 240, 255, 264 K Kabylei 29-30, 35, 39, 43, 49, 83, 202-207 Kaleidoskop 19, 35, 68, 120-121, 241 Kalkül 32, 41, 98 Kant, Immanuel 9-10, 63, 87, 156-157, 167, 179, 204 Kapital 11, 34, 37, 41, 62-63, 70, 77-78, 107-113, 118-119, 129-130, 132, 134, 138-139, 141-142, 145-149, 152, 154- 166, 168, 170-178, 186-187, 189-190, 192, 194-198, 200-201, 206-207, 214, 223-224, 226-228, 257, 260-264, 266, 272 Kapitalismus 24-26, 31, 33-35, 39, 41-42, 62, 85, 110, 117, 121, 130, 140, 203, 258 Kastner, Jens 238 Kategorie 27, 72, 86, 97, 104-105, 108, 116, 205, 215 Katschnig-Fasch, Elisabeth 241 Kaufmann, Therese 238 Klasse 33, 35, 37, 41, 68, 91, 93-96, 98, 100, 107, 112-113, 130-133, 136, 140, 144-149, 151-154, 159, 161-162, 164- 179, 183, 185, 191-192, 194-195, 199- 200, 202, 207, 223, 253-254, 258, 261, 267, 271-272 Klassenhabitus 96, 163, 171 Klassenkampf 34-35, 112-113, 131-132, 171, 184, 267 Klassifikation 96, 133, 167, 183-184, 187, 194, 196, 199, 203, 207, 218, 272 Kleinbürger 33, 41, 176-178 Klossowski, Pierre 26 Konfiguration 10, 35, 47, 68, 80, 104, 113- 114, 119-120, 140, 146, 152, 162, 199, 202-203, 241 König, Alexandra 237 Konkurrenz 61, 71, 84, 97, 103, 132-135, 144, 168-171, 177, 192, 195, 197, 200, 224, 261 Konstruktion 42, 44, 47, 51-53, 55-56, 62, 64-68, 84, 93, 97, 113, 120, 145, 151, 165-168, 180, 187, 196-197, 205, 213- 215, 218, 221, 260, 268 Krais, Beate 28, 53, 60, 64, 84-85, 88-89, 95-96, 103-104, 110, 203-204, 237-239, 253-254, 259-260, 264-265 Kritik 10, 16, 42, 47, 54-56, 58-61, 64-65, 69, 71, 73-75, 87, 97, 110, 116-117, 139, 157, 172, 179-180, 184, 187, 199, 201, 206, 220, 222-223, 228, 253-255, 260- 261, 263-264, 267 Kuhn, Thomas 26, 59 <?page no="275"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M+Marginalie]__Rehbein__Soziologie_Bourdieus(3)___[Druck-PDF]/ 23.05.2016/ Seite 276 276 Sach- und Namensregister L Lange-Vester, Andrea 237 Laufbahn 20, 22, 26, 33, 49-50, 89, 122, 128, 135, 137, 141, 144-145, 151-154, 156-161, 164, 168, 179 Leach, Edmund 39, 265 Lebensstil 152-153, 155-157, 161-165, 167-168, 171, 173, 175-178, 181, 196, 217, 258-260, 266 Leibniz, Gottfried Wilhelm 21, 86, 93, 117 Leiden 23, 25, 33, 43, 216-218, 224, 240- 241, 269 Leitner, Egon Christian 10, 186, 235, 239, 244, 265 Lenger, Alexander 237, 239 Lenoir, Remi 16, 50, 209, 215 Lenz, Ilse 79, 104, 206-207, 265 Lepenies, Wolf 59, 266 Lévi-Strauss, Claude 47-48, 52, 56, 58, 67, 99, 118, 169, 206, 266, 270 Liebau, Eckart 233 LiPuma, Edward 112, 259, 266 Löw, Martina 239, 266 Luhmann, Niklas 104, 114, 260, 267 M Markt 24, 37, 132, 160-161, 171, 180, 189-192, 194, 224-225, 228 Marx, Karl 14, 24, 33-35, 54, 56, 62-63, 74, 118-119, 131, 155, 185, 233, 236- 237, 263, 266 Mauss, Marcel 82, 86 Merleau-Ponty, Maurice 20, 89, 95, 266, 270 Methode 9-10, 19, 23, 25-26, 39, 42-44, 47, 51, 53-54, 59, 68, 79, 114, 121, 134, 139-140, 179-180, 219, 241 Moderne 27, 38, 41, 62, 101, 129-130, 156, 175-176, 193, 267 Mörth, Ingo 11, 235, 238, 251, 261, 266 Müller, Hans-Peter 233, 238 Müller-Rolli, Sebastian 233 N Nassehi, Armin 267 Nationalstaat 107, 113, 115, 119, 154, 162, 192, 225-226 Neckel, Sighard 19, 28, 222, 267 Nemeth, Elisabeth 235 Neoliberalismus 139, 223-226, 228, 257, 262-263, 269-270 Nöstlinger, Elisabeth 239 O Oevermann, Ulrich 233, 241, 266-267 Ökonomie 19, 24-28, 31, 33, 35, 37, 39-42, 44, 56, 82-83, 99, 107-110, 113, 116-119, 122, 129-134, 144, 149, 151- 152, 156-157, 159-161, 163, 169, 171, 174-175, 180, 183-184, 188-190, 195, 197-199, 202, 205-207, 221, 223-225, 227, 254, 264 Ökonomismus 99, 128, 188, 192 Orientalismus 25, 206 P Panofsky, Erwin 85-87 Papilloud, Christian 11, 103, 116-117, 153, 169, 237, 267, 271 Paris 14, 20-21, 34, 47, 50, 127, 143, 145, 217, 251-255, 257-259, 266, 268 Passeron, Jean-Claude 50-51, 124-127, 233, 252-253 Pfeuffer, Andreas 240 Phänomenologie 20, 48, 57, 84, 95, 170, 184 Philosophie 10, 13, 20, 54, 75, 86, 118, 136, 142, 151, 157, 266, 271 Polanyi, Karl 42, 225 Pollak, Michael 235 Popper, Karl 54-55, 64-65, 76 Position 233-234 Position, soziale 10, 21, 25-26, 31, 36, 49, 53-54, 56, 59-61, 64-66, 70-71, 81, 89, 97-98, 103-104, 106-107, 111-112, 114, 116-117, 119, 123-124, 127-130, 132- 135, 138-139, 141, 143, 145, 147, 149, <?page no="276"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M+Marginalie]__Rehbein__Soziologie_Bourdieus(3)___[Druck-PDF]/ 23.05.2016/ Seite 276 www.claudia-wild.de: [UTB-M+Marginalie]__Rehbein__Soziologie_Bourdieus(3)___[Druck-PDF]/ 23.05.2016/ Seite 277 Sach- und Namensregister 277 152, 154, 156, 158-161, 163-171, 176- 178, 186-187, 189-192, 194-200, 202, 205, 207, 210, 214-218, 220-221, 226- 228, 240-241, 263 Positivismus 66, 79, 184 Präferenz 234 Prätention 158, 173 Praxis 12, 16, 19, 28, 50-51, 54, 57, 59-60, 62-64, 66-67, 75, 77-79, 81-84, 87-89, 97-102, 105, 107, 116-117, 119, 122, 132-133, 151-154, 159-162, 165, 167, 169, 180, 187, 189-190, 196, 212-213, 221-222, 225, 252, 259-261, 263-265, 270-271 Prekarität 32, 36, 224-225, 271 Prinz, Sophia 238 Proletariat 33-34, 41, 178, 225 Psychoanalyse 23, 55, 57, 177, 204 R Rademacher, Claudia 206-207, 257, 267 Rationalismus 54, 57, 64, 69 Rationalität 32, 37, 41, 55, 71, 73-74, 76, 80, 82, 123, 128-129 Regel 15, 30, 64, 82-85, 93, 97, 99-105, 110, 133-135, 170, 188, 254, 258 Rehbein, Boike 238 Relation 10, 66-68, 80-81, 83, 85, 88, 90, 102, 104, 110-111, 114, 117-118, 124, 129, 134, 140, 154, 165-166, 186, 197, 200, 272 Reproduktion 16, 49, 75, 78-79, 83, 90-92, 95-96, 109, 121-123, 129, 138, 140-141, 147-148, 183, 189, 201, 205, 252-253, 257, 264-265 Revolution 27, 34, 65, 187, 192, 203 Russo, Manfred 238 S Saalmann, Gernot 11, 16, 22, 37, 57, 61, 76, 92, 200, 238, 260-261, 263-264, 268- 272 Saint-Martin, Monique de 50, 139 Sartre, Jean-Paul 20-21, 23, 56, 58, 90 Saussure, Ferdinand de 47-48, 67, 188-189, 192, 268 Sayad, Abdelmayek 23, 43-44, 252 Schäfer, Hilmar 238 Schmitzer, Ulrike 239 Schneickert, Christian 239 Scholastische Haltung 9, 54, 56, 58, 61, 86, 255 Schultheis 240 Schultheis, Franz 17, 19, 22-23, 27-28, 34, 40, 43-44, 85, 209-210, 214, 216, 236, 240-241, 254-255, 260, 267, 269 Schulze, Gerhard 234, 269 Schulz, Kristina 240 Schumacher, Florian 238 Schütz, Alfred 48, 98, 269 Schwengel, Hermann 5, 11, 115, 157, 201, 228, 260-261, 263-264, 268-272 Schwibs, Bernd 240 Schwingel, Markus 11, 87, 93, 103, 116, 169, 222, 237, 270 Selbstanalyse 12-13, 56, 70, 136, 241 Selbstkritik 54-56, 59, 62, 64-65, 69, 80 Selbstreflexion 14, 44, 70, 72-74, 76, 220 Settekorn, Wolfgang 240 Smith, Adam 39 Sozialisation 88, 95, 126, 141, 151, 184, 204-205 Sozialstruktur 33-35, 39, 80, 95, 107, 112- 113, 115, 117, 122-123, 129, 131-132, 134-136, 141, 146-147, 160, 163, 169, 172, 188, 201, 214, 216, 218, 240, 262, 264, 266, 268 Spinoza, Baruch de 67, 156 Sprache 9, 11, 27, 38, 43, 52, 75, 92, 99-100, 102, 123, 126, 143, 181, 183- 186, 188-193, 196, 201, 203, 211, 213- 214, 219-220, 222, 240, 272 Sprachspiel 99-102, 196 Staat 141, 144, 149, 183-184, 193, 196, 198, 201, 209, 216, 223-225, 227 Staatsadel 12, 112, 139-141, 147, 149, 196- 199, 201, 221, 223-225, 255 Steiner, Helmut 235 <?page no="277"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M+Marginalie]__Rehbein__Soziologie_Bourdieus(3)___[Druck-PDF]/ 23.05.2016/ Seite 278 278 Sach- und Namensregister Strategie 23, 35, 70, 83-84, 97-98, 101, 103, 111, 116, 118, 138, 146-147, 152- 153, 158, 175, 189, 193, 211, 223 Struktur 27-28, 31, 35-36, 38, 40, 49, 57, 60, 63, 75, 78-82, 84-85, 88, 90-94, 96-98, 104-105, 107-108, 110-116, 118- 120, 124, 129, 132-133, 135, 137, 140, 143, 149, 153, 162, 168, 171, 179, 184, 189, 191, 194, 205, 207-208, 215, 218, 226, 254, 260, 262, 272 Strukturalismus 28, 47-49, 57, 67, 81-82, 84, 94, 99, 116-117, 169, 202, 267 Suber, Daniel 238 Subproletariat 33, 35-36, 38, 41, 56, 225 Swartz, David 11, 104, 110, 116, 184, 186, 193, 270 Symbolisches 92, 108-109, 112, 128, 144- 145, 152-153, 166, 171, 183-187, 189- 190, 192-196, 199, 201-202, 204-208, 214, 220, 265-266, 272 Szientismus 40, 76, 128, 212 T Taylor, Charles 89, 92, 270 Theorie 10, 12, 14, 16, 19, 25-28, 47, 50, 54, 56-60, 62, 64-69, 71, 74-76, 78-83, 88, 98-99, 101, 104, 116-117, 132, 134, 139, 149, 161, 180, 184, 187, 191-193, 196, 199, 202-203, 205, 210, 215, 228- 229, 252, 254, 257-258, 260, 262-264, 267-269 Thomas von Aquin 85 Thompson, Edward P. 237 Titel 12, 23, 51, 69, 108, 129-131, 140, 144-145, 147-149, 160, 175, 177, 183, 197, 199, 219, 223, 227, 240, 251, 253 Tradition 10, 28-29, 31-33, 40-41, 47, 52-54, 62, 64, 66, 69, 77, 82, 89, 95, 98, 174, 199, 228 U Ungleichheit 16, 25, 62-63, 75, 78-79, 97, 104, 113, 117, 121-122, 125-127, 133, 138, 183, 185, 202, 204, 207, 223, 261- 262, 266-267, 271-272 Ungleichzeitigkeit 24, 26, 28, 40, 44, 85, 121, 132 Universität 17, 21-23, 49, 60, 122, 125- 126, 131, 134, 136-137, 144, 251, 255 V Vernunft 12, 71-72, 75, 87, 90, 168, 221, 227, 253-255 Verstehen 39-40, 49, 60, 72, 75-76, 106, 210, 215, 217, 221, 264, 267-268 Vester, Michael 17, 63-64, 78, 101, 112- 115, 119-120, 132, 164, 195-196, 202, 237, 265, 269-271 Vogel, Berthold 239 W Wacquant, Loïc 17, 20, 61, 66, 69, 85, 89, 92, 102, 106, 254-255, 271 Wallerstein, Immanuel 115 Walras, Léon 66 Weber, Max 24-25, 34-35, 39, 41, 48-49, 56, 68, 71-72, 74, 86, 101-102, 118, 122, 130, 185, 200-201, 236, 260, 271 Weiß, Anja 239 Winch, Peter 52, 64, 272 Wissenschaftstheorie 10, 15, 19, 27, 50-52, 54-55, 59-61, 63-64, 66, 68-69, 71, 73, 79, 81, 92, 117, 136, 142, 170, 221 Wittgenstein, Ludwig 75, 77, 97, 99-103, 116, 193, 212, 272 Wuggenig, Ulf 238 Wulf, Christoph 236 Z Zimmermann, Karin 239 Zirkel 12, 53-54, 61-62, 65, 71-72, 119, 187, 211, 214 <?page no="278"?> Klicken + Blättern Leseproben und Inhaltsverzeichnisse unter Erhältlich auch in Ihrer Buchhandlung. www.uvk.de : Weiterlesen Pierre Bourdieu Das Elend der Welt Gekürzte Studienausgabe Mit einem Vorwort von Franz Schultheis 2. Auflage 2009, 452 Seiten, Broschur ISBN 978-3-8252-8315-5 »Nicht bemitleiden, nicht auslachen, nicht verabscheuen, sondern verstehen! « - so lautet das Credo dieser außergewöhnlichen Studie unter der Leitung Pierre Bourdieus. Dieses umfassende soziologische liegt nun als gekürzte Studienausgabe vor. Ergänzt wird die zweite Auflage durch ein Interview mit Pierre Bourdieu über die Hintergründe der Entstehung. »Das Buch ist damit auch ein Stück Gegenwartsanalyse und Gesellschaftskritik, das seinesgleichen sucht und auch der deutschen Sozialstrukturanalyse neue Impulse geben könnte.« Soziologische Revue Der Klassiker als Studienausgabe <?page no="279"?> Klicken + Blättern Leseproben und Inhaltsverzeichnisse unter Erhältlich auch in Ihrer Buchhandlung. www.uvk.de : Weiterlesen Werner Fuchs-Heinritz, Alexandra König Pierre Bourdieu Eine Einführung 3., überarbeitete Auflage 2014, 328 Seiten, Broschur ISBN 978-3-8252-4233-6 Pierre Bourdieu (1930-2002) war ein sehr vielseitiger Soziologe, dessen Werk nicht leicht überblickt werden kann. Diese Einführung stellt seine wichtigsten Forschungslinien vor: die frühen Studien über Algerien, die Beiträge zur Bildungssoziologie, die zentrale Studie »Die feinen Unterschiede«, die Untersuchungen zum Eigenheim sowie »Das Elend der Welt«. Es werden theoretische Konzepte wie Habitus, Lebensstil, Kapital erörtert sowie Leitlinien seiner Denk- und Arbeitsweise dargelegt. Skizzen zu seinen politischen Schriften sowie zu seiner Biografie schließen sich an. Werner Fuchs-Heinritz war Professor für Soziologie an der FernUniversität Hagen; Dr. Alexandra König ist Akademische Rätin an der Universität Wuppertal im Fach Soziologie. Die Einführung
