Soziologie der Gesundheit
0813
2018
978-3-8385-4741-1
978-3-8252-4741-6
UTB
Thomas Hehlmann
Henning Schmidt-Semisch
Friedrich Schorb
Haben Sie sich auch schon gefragt, warum Gesundheit heute eine so große Rolle spielt? Welche Ängste, Wünsche, Interessen und Machtverhältnisse hinter dem Bedeutungsgewinn von Gesundheit stehen? Thomas Hehlmann, Henning Schmidt-Semisch und Friedrich Schorb regen zum Nachdenken an:
Sie skizzieren, wie Gesundheit zur Wissenschaft wurde und wie soziale und gesundheitliche Ungleichheit zusammenhängen. Sie fragen, welche Folgen es hat, wenn immer mehr Phänomene zu Krankheiten erklärt werden und wenn die Frage "gesund oder ungesund" zur moralischen Leitfrage wird.
Darüber hinaus beschreiben sie, welche Auswirkungen Normen und Werte auf unser Verständnis von Gesundheit haben und wie unsere Vorstellung von Zweigeschlechtlichkeit die Wahrnehmung von Gesundheit und Körperempfinden beeinflusst.
Das Lehrbuch richtet sich an Studierende der Gesundheitswissenschaften und Public Health sowie der Medizin und der Soziologie.
UVK Verlag München Thomas Hehlmann, Henning Schmidt-Semisch, Friedrich Schorb Soziologie der Gesundheit Dr. Thomas Hehlmann ist Lektor am Fachbereich Human- und Gesundheitswissenschaften der Universität Bremen. Prof. Dr. Henning Schmidt-Semisch lehrt am Fachbereich Human- und Gesundheitswissenschaften der Universität Bremen. Dr. Friedrich Schorb ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Fachbereich Human- und Gesundheitswissenschaften der Universität Bremen. Online-Angebote oder elektronische Ausgaben sind erhältlich unter www.utb-shop.de. Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über <http: / / dnb.ddb.de> abrufbar. Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. © UVK Verlag 2018 - ein Unternehmen der Narr Francke Attempto Verlag GmbH & Co. KG Lektorat: Rainer Berger, München Einbandgestaltung: Atelier Reichert, Stuttgart Einbandmotiv: © pappamaart, iStock Druck und Bindung: CPI - Clausen & Bosse, Leck UVK Verlag Nymphenburger Str. 48 80335 München Telefon: 089/ 452174-66 www.uvk.de UTB-Nr. 4741 ISBN 978-3-8252-4741-6 Narr Francke Attempto Verlag GmbH & Co. KG Dischingerweg 5 72070 Tübingen Telefon: 07071/ 9797-0 www.narr.de Vorwort Soziologische Aspekte von Gesundheit und Krankheit werden zumeist unter Begriffen wie Medizinsoziologie, medizinische Soziologie oder Gesundheitssoziologie thematisiert. In dieser Hinsicht existieren auch bereits mehrere Lehrbücher, die allerdings in der Regel einer inhaltlichen Ausrichtung folgen, die sich mit Robert Strauss (1957) als ‚Soziologie in der Medizin‘ kategorisieren lässt: Diese geht von einem bio-psychosozialen Modell von Gesundheit und Krankheit aus und richtet ihr Interesse auf Erkenntnisse, die für die Medizin von Nutzen sind. Komplementär zu dieser ‚Soziologie in der Medizin‘ positioniert Strauss eine ‚Soziologie der Medizin‘, die ihr Erkenntnisinteresse nicht innerhalb der Medizin verortet, sondern die Medizin selbst zum Forschungsgegenstand macht. Analog dazu unterscheiden wir ‚Gesundheitssoziologie‘ von einer ‚Soziologie der Gesundheit‘: Erstere untersucht eher gesellschaftliche Einflüsse auf Entstehung, Verlauf sowie Bearbeitung von Krankheiten und zielt auf die Beeinflussung von Gesundheitsverhalten oder die bessere Wirkung von medizinischen Behandlungen oder sonstiger gesundheitlicher Interventionen. Eine ‚Soziologie der Gesundheit‘ analysiert dagegen eher die Strukturen, Funktionen und Akteure des Gesundheitshandelns aus soziologischer Sicht und nimmt z.B. Macht und Herrschaftsverhältnisse oder ganz grundsätzlich die sozialen, kulturellen und gesellschaftlichen Bedeutungen von Gesundheit und Krankheit sowie deren Entstehung in den Blick. Das vorliegende Buch versteht sich im Sinne einer ‚Soziologie der Gesundheit‘. Es wurde angeregt durch unterschiedliche Lehrveranstaltungen, welche die drei beteiligten Autoren an der Universität Bremen in den dort angesiedelten Public-Health-Studiengängen seit vielen Jahren anbieten. Dabei ist für uns ein grundlegendes Verständnis von sozialen und psychosozialen Wechselwirkungen von Gesundheit und Gesellschaft leitend, das Gesundheit und Krankheit als Ergebnis gesellschaftlicher bzw. diskursiver Aushandlungsprozesse versteht. Gleichzeitig ist es für uns selbstverständlich, dass wir hier nicht eine systematische Einfüh- 6 Vorwort rung in alle nur denkbaren Ansätze einer Soziologie der Gesundheit leisten können. Im Gegenteil: Wir beschränken uns auf eine bestimmte Auswahl an Perspektiven, die uns entweder besonders wichtig erscheinen oder die im Kontext der Gesundheitswissenschaften und Public Health unserer Ansicht nach bislang zu wenig Beachtung gefunden haben. Das vorliegende Buch führt daher nicht in die ‚Soziologie der Gesundheit‘ ein, sondern in eine Auswahl an soziologischen Perspektiven auf Gesundheit, die wir getroffen haben. Neben dieser inhaltlichen Festlegung haben wir noch eine weitere, formale Entscheidung getroffen: Weil uns unsere eigene Erfahrung lehrt, dass ‚gegenderte‘ Texte mit ihren Sternchen und Unterstrichen das Lesen häufig erschweren, und weil wir uns aber auch nicht auf ein generisches Maskulinum oder Femininum beschränken wollten, haben wir uns entschlossen, die männliche und weibliche Form jeweils abwechselnd zu benutzen. Schließlich sei noch darauf hingewiesen, dass an den meisten Texten nicht nur die Schreibenden selbst beteiligt sind, sondern in der Regel weitere Personen, welche die Texte auf Verständlichkeit und inhaltliche Konsistenz gegenlesen, Rechtschreibfehler korrigieren, für formale Vollständigkeit sorgen usw. Das gilt natürlich auch für das vorliegende Buch: Für Kritik und Unterstützung der unterschiedlichsten Art möchten wir uns bei Susanne Fleckinger, Sophie Rubscheit, Fabienne Schnepf und Monika Urban bedanken. Bremen, im Mai 2018 Thomas Hehlmann Henning Schmidt-Semisch Friedrich Schorb Inhalt Vorwort ..............................................................................................................5 - 1 Einführung: Der soziologische Blick auf Gesundheit ..........................13 - Lehrziele ........................................................................................................13 - 1.1 - Die Anfänge der Soziologie im 19. Jahrhundert .......................13 - 1.2 - Die doppelte Herkunft der soziologischen Beschäftigung mit Gesundheit.....................................................19 - 1.3 - Gesundheitssoziologie vs. Soziologie der Gesundheit ............24 - 1.3.1 - Soziologie in der Medizin/ Gesundheitssoziologie ...................25 - 1.3.2 - Soziologie der Medizin/ Soziologie der Gesundheit.................27 - 1.4 - Soziologie der Gesundheit als Reflexionswissenschaft............30 - Zusammenfassung ......................................................................................33 - Literatur .........................................................................................................34 - 2 Gesundheit wird zur Wissenschaft ....................................37 - Lehrziele ........................................................................................................37 - 2.1 - Das Problem mit dem Gesundheitsbegriff ................................37 - 2.2 - Krankheit wird zur sozialen Frage ..............................................40 - 2.3 - Die ‚Wieder‘-Einführung der Gesundheitswissenschaften .....50 - 2.3.1 - Das Krankheitsspektrum ändert sich..........................................51 - 2.3.2 - Die Kritik des biomedizinischen Denkens ................................53 - 2.3.3 - Die WHO drängt auf Gesundheitsförderung ...........................58 - Zusammenfassung ......................................................................................61 - Literatur .........................................................................................................62 - 8 Inhalt 3 Ungleiche Gesundheit .............................................................65 - Lehrziele ........................................................................................................65 - 3.1 - Freiheit und Ungleichheit .............................................................66 - 3.2 - Sozialstaat und Ungleichheit ........................................................69 - 3.3 - Der Sozialstaat in der Krise ..........................................................74 - 3.4 - Soziale Ungleichheit und ungleiche Gesundheit.......................76 - 3.5 - Ursachen für ungleiche Gesundheit im Wohlstand .................82 - 3.6 - Habitus und ungleiche Gesundheit.............................................85 - 3.7 - Intersektionalität und ungleiche Gesundheit.............................89 - Zusammenfassung ......................................................................................92 - Literatur .........................................................................................................93 - 4 Normativität und Gesundheit ..............................................97 - Lehrziele ........................................................................................................97 - 4.1 - Werte, Normen, Normativität .....................................................97 - 4.2 - Gesundheit und Krankheit als soziale Kontrolle................... 100 - 4.3 - Gesundheit und Gerechtigkeit.................................................. 106 - 4.4 - Normativität in Gesundheitsförderung und Prävention ...... 113 - Zusammenfassung ................................................................................... 118 - Literatur ...................................................................................................... 119 - 5 Medikalisierung und Healthismus .................................. 123 - Lehrziele ..................................................................................................... 123 - 5.1 - Definition von Medikalisierung ................................................ 123 - 5.2 - Medikalisierung der Prävention ................................................ 126 - 5.3 - Medikalisierung im Lebenslauf ................................................. 132 - 5.4 - Medikalisierung sozialer und rechtlicher Fragen.................... 134 - Inhalt 9 5.5 - Medikalisierung abweichenden Verhaltens ............................. 138 - 5.6 - Healthismus ................................................................................. 142 - 5.7 - Ent-Medikalisierung und Normalisierung............................... 148 - Zusammenfassung ................................................................................... 151 - Literatur ...................................................................................................... 152 - 6 Soziologie gesundheitlicher Risiken und Probleme .......................................................... 157 - Lehrziele ..................................................................................................... 157 - 6.1 - Risiken, Risikologiken, Risikokonflikte ................................... 157 - 6.2 - Gesundheitliche Risiken als Problematisierung ..................... 161 - 6.3 - Akteure und Strategien der Problematisierung ...................... 165 - 6.3.1 - Akteurs-Typen und ihre Motive und Interessen.................... 167 - 6.3.2 - Problemmuster ............................................................................ 171 - 6.3.3 - Diskursstrategien......................................................................... 173 - 6.3.4 - Massenmedien ............................................................................. 176 - 6.4 - Doing Health Problems ............................................................. 177 - Zusammenfassung ................................................................................... 180 - Literatur ...................................................................................................... 181 - 7 Biomacht - Gouvernementalität - Neoliberalismus ................................................................... 185 - Lehrziele ..................................................................................................... 185 - 7.1 - Biomacht ...................................................................................... 186 - 7.2 - Gouvernementalität .................................................................... 189 - 7.3 - Das unternehmerische Selbst .................................................... 194 - 10 Inhalt 7.4 - Gesundheit und Selbstverantwortung im Neoliberalismus.. 197 - Zusammenfassung ................................................................................... 204 - Literatur ...................................................................................................... 205 - 8 Gesundheit und Krankheit als Diskurs .......................... 209 - Lehrziele ..................................................................................................... 209 - 8.1 - Was ist ein Diskurs? .................................................................... 210 - 8.1.1 - Das Verbot................................................................................... 212 - 8.1.2 - Die Grenzziehung....................................................................... 212 - 8.1.3 - Der Wille zur Wahrheit .............................................................. 214 - 8.2 - Diskurse - Macht - Wissen....................................................... 215 - 8.3 - Krankheit als soziale Konstruktion von Wirklichkeit ........... 219 - 8.4 - Der Gesundheitsdiskurs............................................................. 228 - Zusammenfassung ................................................................................... 231 - Literatur ...................................................................................................... 232 - 9 Körper- und geschlechtersoziologische Perspektiven auf Gesundheit ............................................ 237 - Lehrziele ..................................................................................................... 237 - 9.1 - Körper sein und Körper haben ................................................ 238 - 9.2 - Wissen über den Körper und Wissen des Körpers ............... 240 - 9.3 - Körperbilder - Köperideale - Körperkult.............................. 245 - 9.4 - Sex und Gender........................................................................... 251 - 9.5 - Gesundheit und Geschlecht ...................................................... 254 - Zusammenfassung ................................................................................... 258 - Literatur ...................................................................................................... 260 - Inhalt 11 10 Resümee: Bei Risiken und Nebenwirkungen fragen Sie ruhig auch mal die Soziologie .................... 263 - Lehrziele ..................................................................................................... 263 - 10.1 - Resümee........................................................................................ 263 - 10.2 - Was ist denn nun Gesundheit? ................................................. 268 - 10.3 - Vom Nutzen einer Soziologie der Gesundheit ...................... 272 - Zusammenfassung ................................................................................... 274 - Literatur ...................................................................................................... 275 - Stichwortverzeichnis ............................................................................... 277 - 1 Einführung: Der soziologische Blick auf Gesundheit Lehrziele In diesem Kapitel erfahren Sie … wann und warum die wissenschaftliche Disziplin der Soziologie entstanden ist; was es mit der doppelten Herkunft der soziologischen Beschäftigung mit Gesundheit auf sich hat; was der Unterschied zwischen ‚Soziologie in der Medizin‘ und einer ‚Soziologie der Medizin‘ ist; was wir unter Soziologie der Gesundheit verstehen und warum auch anwendungsorientierte Gesundheitswissenschaften von einem soziologischen Blick profitieren können. 1.1 Die Anfänge der Soziologie im 19. Jahrhundert Die Frage, was Soziologie ist, kennt sehr verschiedene Antworten, und es macht daher nur wenig Sinn, alle diese unterschiedlichen Antworten oder Definitionen hier aufzuzählen. Stattdessen werden wir uns dieser sich im 19. Jahrhundert neu entwickelnden Wissenschaftsdisziplin zunächst über die historischen Umstände ihrer Entstehung nähern. Dies bietet den Vorteil, dass nachvollziehbar wird, auf welche gesellschaftlichen Wissensbedürfnisse diese neue Wissenschaft von der Gesellschaft seinerzeit reagierte. Dabei gehen wir mit Armin Nassehi (2011: 19f.) von der Hypothese aus, dass neue wissenschaftliche Disziplinen in jenen historischen Momenten entstehen, in denen sich neuartige gesellschaftliche Problemlagen ergeben, die mit den jeweils bestehenden Wissenschaften nicht oder nur (noch) unzureichend gelöst werden können. Drei Beispiele sollen dies verdeutlichen: 14 Einführung: Der soziologische Blick auf Gesundheit [1] eine ingenieurswissenschaftliche Disziplin entsteht in dem Moment, in dem die Produktionsweise einen Grad von Kompliziertheit und Spezialisierung erreicht hat, der es unmöglich macht, das entsprechende Wissen weiterhin innerhalb des Produktionsprozesses selbst zu erwerben und zu erforschen; [2] die ökonomische Wissenschaft hat sich erst etabliert, nachdem sich ein kapitalistischer Wirtschaftsverkehr entwickelt hatte, in dem die Komplexität der wirtschaftlichen Prozesse auf eine Weise zugenommen hatte, dass sie durch bislang bestehende Traditionen immer weniger gesichert werden konnten; [3] und auch die sich (zumindest in Deutschland) seit den späten 1980er-Jahren etablierende neue Disziplin der Pflegewissenschaft reagiert offensichtlich auf mindestens zwei relevante gesellschaftliche Entwicklungen: Einerseits gibt es u.a. aufgrund des so genannten demographischen Wandels immer mehr Pflegebedürftige, die allerdings weniger selbstverständlich in familiären und vergleichbaren sozialen Bezügen versorgt werden; andererseits haben sich aufgrund der steten Weiterentwicklung der medizinischen Technologien und Wissensbestände auch die Anforderungen an die Pflegenden erhöht, weshalb von vielen Berufsvertreterinnen und -vertretern nun eine Akademisierung der Pflegeberufe gefordert wird. Die Entstehung und Etablierung wissenschaftlicher Disziplinen, so fasst Nassehi (2011: 20) zusammen, reagiere also stets auf einen gesellschaftlichen Problemlösungsbedarf, der sich durch die bisher verfügbaren Wissensformen nicht mehr befriedigen lasse. Mit Blick auf die Entstehung der Soziologie stellt sich daher die Frage: Welche Phänomene oder Problemlagen wurden mit dem Heraufziehen des 19. Jahrhunderts so drängend, dass sie die Entstehung dieser gesellschaftswissenschaftlichen Disziplin notwendig machten? Die Antwort auf diese Frage bezieht sich auf eine Vielzahl an Phänomenen, Entwicklungen und Problemen, die zudem ganz unterschiedliche Ebenen der Gesellschaft umfassen. Sehr allgemein kann man zunächst sagen, dass sich spätestens im 19. Jahrhundert die Gesellschaft gewissermaßen selbst zum Problem wurde - und zwar deshalb, weil man mehr und mehr erkannte, dass diese Gesellschaft in einem umfassenden Sinne gestaltbar (geworden) war. Zwar hätten, so formuliert Schwietring (2011: 126), Die Anfänge der Soziologie im 19. Jahrhundert 15 auch die Menschen in den Jahrhunderten zuvor sicherlich unter der Armut, der Gewalt, den Kriegen und der Leibeigenschaft gelitten. Aber alles das seien moderne Bezeichnungen für Erfahrungen, die für die damaligen Menschen eine völlig andere Bedeutung gehabt hätten: „So mochten die Bauern die Last der Abgaben, die ein Gutsherr ihnen auferlegte, als zu hoch und drückend empfinden; und in manchen Fällen begehrten sie gegen überhöhte Abgaben und ungerechte Pflichten auf. Aber einen grundsätzlichen Zweifel daran, dass die Welt aus Grundherren und Bauern besteht, hatten sie ganz überwiegend nicht“ (Schwietring 2011: 26). Gleiches habe auch für den Glauben an einen Gott als Schöpfer der Welt und der Menschen gegolten. Man habe zwar durchaus über theologische Fragen streiten und auch gegen göttliche Gebote sündigen können, aber dass es einen Gott gab, stand nicht zur Debatte. Diese und andere bis dahin unumstößliche Gewissheiten gerieten nun ins Rutschen: Seit dem Ende des 18. Jahrhunderts begann sich das Verständnis der Welt radikal und im Verlauf des 19. Jahrhunderts zugleich immer schneller zu verändern. Die Erfindung (und stete Weiterentwicklung) der Dampfmaschine und später der Elektrizität machte eine Industrialisierung ungeahnten Ausmaßes möglich, die ihre Produktivität zunehmend steigern konnte. Es entstanden riesige Fabrikanlagen, die es auch erforderlich machten, die entsprechende Infrastruktur an Straßen- und Eisenbahnverbindungen zu schaffen; es mussten Telegraphenleitungen gebaut werden und insbesondere auch neue, große Siedlungen für jene Arbeiter und Arbeiterinnen, die im Zuge der sich verändernden sozialen und wirtschaftlichen Verhältnisse gezwungen waren, „dorthin zu ziehen, wo sie Arbeit fanden, oft unter Zurücklassung ihrer Familien“ (Rosa et al. 2013: 25). Damit gingen nicht nur neue Formen der Arbeitsteilung sowie der Zerfall der feudalen und der Aufstieg der bürgerlichen Gesellschaft einher, sondern zugleich drängten auch immer größere Bevölkerungsteile vom Land in die stetig wachsenden Städte (Urbanisierung). In der Folge kam es zu neuen Ausprägungen von Ungleichheit: Während es die Entfesselung der Produktivkräfte einerseits einigen wenigen erlaubte, riesige Kapitalvermögen anzuhäufen, führte die Entwicklung des Industriekapitalismus andererseits zu einer Verarmung und Verelendung großer Bevölkerungsteile in den Städten (Pauperisierung). Die so entstandenen neuen und veränderten Formen des Arbeitens, 16 Einführung: Der soziologische Blick auf Gesundheit Wohnens und Lebens stellten die traditionellen Lebensformen und Bindungen, vor allem aber auch die traditionellen moralischen Instanzen der Kirche und der Religion zunehmend infrage (Enttraditionalisierung, Säkularisierung). Diese tiefgreifenden sozialen Veränderungen des gesellschaftlichen Zusammenlebens bewirkten eine ebenso tiefgreifende Verunsicherung der Menschen. In der bis dahin vorherrschenden Anschauung der Welt, so formuliert Armin Nassehi (2011: 24), habe sich alles einer gewissen Ordnung gefügt, die in einer quasi überzeitlich legitimierten und religiös vermittelten Sinnwelt gründete. In der neuen, modernen Welt hingegen waren die Bedingungen bzw. der Grund ihrer Ordnung nicht mehr problemlos zu erkennen: „Einerseits ging die Sicherheit spendende Kraft vorheriger überzeitlicher Weltbilder verloren, andererseits gewann man einen nie zuvor da gewesenen Gestaltungsspielraum […] Pathetisch ausgedrückt: Was vormals das Resultat einer fremden Schöpfung war, unveränderlich und gültig, muss nun permanent neu erschaffen werden“ (Nassehi 2011: 24). Thomas Schwietring (2011: 129) sieht in diesen Entwicklungen vor allem einen intellektuellen Umbruch, mit dem eine neue Sicht auf die vertraute Wirklichkeit und damit auch ein neues Menschenbild entstand, also eine neue Vorstellung vom Menschen und seinem Verhältnis zur Welt: Von nun an ist es nicht mehr Gott, der die Welt und die in ihr herrschende Ordnung erschaffen hat, sondern es ist der Mensch, der die Welt immer wieder neu erschaffen und gestalten muss. In dieser historischen Situation stellte sich unweigerlich die Frage nach dem Wie und Warum der geschichtlichen Entwicklung sowie des Wandels von Gesellschaften - und damit zugleich auch die Frage, an welchen Prinzipien sich die Menschen bei der (Um-)Gestaltung der sozialen Welt ausrichten sollten. Es sind diese Fragen, die im 19. Jahrhundert die Soziologie als wissenschaftliche Disziplin begründen. Stellvertretend für viele, seien im Folgenden die Arbeiten zweier Persönlichkeiten kurz skizziert: [1] Dabei ist an erster Stelle Auguste Comte (1798-1857) zu nennen, dem die Soziologie nach allgemeiner Auffassung auch ihren Namen verdankt. Comte sieht in der zunehmenden Erkenntnis und dem sich zugleich akkumulierenden Wissen der Menschheit den Grund für die Die Anfänge der Soziologie im 19. Jahrhundert 17 Entwicklung von Gesellschaften, die nach seiner Überzeugung in drei Stadien (,Drei-Stadien-Gesetz‘) unterteilt werden kann: [a] Das erste, theologische Stadium ist dadurch gekennzeichnet, dass das menschliche System des Denkens, Erkennens und Erklärens vorwiegend von übernatürlichen Kräften und Wesen geprägt wird. Dabei entwickele sich die Gesellschaft (fortschreitend) vom Fetischismus (z.B. der Glaube an übernatürliche Mächte, die in bestimmten ‚heiligen‘ Gegenständen wohnen) über den Polytheismus (die Verehrung einer Vielzahl von Göttern) bis hin zum Monotheismus (der Glaube an einen allumfassenden Gott). [b] Im zweiten, metaphysischen Stadium wird der Monotheismus durch abstrakte Wesenheiten bzw. Naturrechtsvorstellungen abgelöst, indem dem Götterglauben etwa die Eigengesetzlichkeit der Natur gegenübergestellt wird. [c] Im positiven Stadium schließlich wird der Mensch nicht mehr durch einen Glauben an Gott und eine entsprechend vorgegebene Wirklichkeit geleitet, sondern begreift sich nun selbst als rationalen, wissenschaftlichen Gestalter seiner Welt. Und weil Comte diese Welt als eine gesellschaftliche Welt konzipiert hat, war er davon überzeugt, dass der Soziologie - als der Wissenschaft von der Gesellschaft - eine Leitfunktion innerhalb der Wissenschaften zukommen müsste. Zugleich wies Comte der Soziologie auch eine zentrale Rolle bei der Planung und Steuerung gesellschaftlicher Prozesse zu, „ja die soziologische Vernunft sollte gar Züge einer positivistischen Zivilreligion annehmen und damit durch die positivistische Versöhnung von Ordnung und Fortschritt geschichtspraktische Relevanz haben“ (Nassehi 2011: 23). [2] Auch Karl Marx (1818-1883) ist der Überzeugung, dass die Entwicklung der Gesellschaft in gleichsam naturgesetzlichen Phasen erfolgt, wobei die wirtschaftlich-sozialen und technischen Strukturen für ihn die Basis der Überlegungen zu seinem Konzept des historischen Materialismus bilden. Zentral sind dabei einerseits die historisch jeweils verfügbaren Kenntnisse, Werkzeuge, Maschinen und Technologien, mit denen die Menschen die jeweiligen Güter produzieren (Produktivkräfte), und andererseits die Arbeits- und Besitzverhältnisse, unter denen die Produktion erfolgt (Produktionsverhältnisse). Da die Produktivkräfte stetig anwüchsen, so die Annahme von Karl Marx, müssten die Produktionsverhältnisse diesen immer wieder angepasst werden: 18 Einführung: Der soziologische Blick auf Gesundheit So sei das kapitalistische Wirtschaftssystem zwar in der Lage, mit relativ wenigen Arbeitenden viele Güter zu produzieren. Da aber zugleich die Kaufkraft der Arbeitenden aufgrund zu niedriger Löhne zu gering sei, würden die produzierten Güter nicht konsumiert. Und „weil die kapitalistische Ordnung nicht in der Lage ist, die Arbeit und den gesellschaftlichen Reichtum angemessen zu verteilen, muss sie in einer neuerlichen Revolution einer kommunistischen Gesellschaftsordnung weichen“ (Rosa et al. 2013: 37). Dieses „ökonomische Bewegungsgesetz der modernen Gesellschaft zu enthüllen“, so schreibt Marx (1982: 15f.) im Vorwort zur ersten Auflage des Kapitals, „ist der letzte Endzweck dieses Werks“, wobei es ihm aber zugleich auch darum ging, die mit der Entstehung der neuen Gesellschaftsordnung verbundenen „Geburtswehen abzukürzen und zu mildern“ (ebd.). Versteht man die beiden skizzierten Ansätze als exemplarisch für die Anfänge der Soziologie um die Mitte des 19. Jahrhunderts, dann wird deutlich, dass dieser neuen Gesellschaftswissenschaft zu jener Zeit eine, wenn nicht die zentrale Rolle bei der Entstehung einer neuen, modernen Gesellschaft angetragen wurde. Auch wenn wohl die wenigsten der Gründungspersonen der Soziologie so weit gingen, ihr einen quasireligiösen Status verleihen zu wollen, so waren ihre gemeinsamen Bezugspunkte doch einerseits die oben beschriebenen, tiefgreifenden sozialen Veränderungen und andererseits die neue Erfahrung der Gestaltbarkeit der sozialen Welt. Und diese Fragen des sozialen Wandels, der gesellschaftlichen Ordnung und der Gestaltbarkeit der sozialen Welt sind auch heute noch wichtige Bezugspunkte der Soziologie. Zwar erwarte, so Armin Nassehi, heute niemand mehr von der Soziologie und ihren Erkenntnissen, dass sie eine zentrale Rolle bei der Planung und Steuerung gesellschaftlicher Prozesse spielten. „Doch was die akademische Soziologie auch heute noch ausmacht, ist ihr beharrlicher Hinweis darauf, dass gesellschaftliche Verhältnisse, wie starr, unauflöslich, selbstverständlich und indiskutabel sie erscheinen mögen, stets nur Ergebnisse gesellschaftlicher Konstitutions- und Konstruktionsprozesse sind und dass Gesellschaft nach wie vor ein Gestaltungsraum bleibt, der nicht nur aktiv veränderbar ist, sondern der sich auch ohne unser Zutun ständig verändert“ (Nassehi 2011: 27f.). Die doppelte Herkunft der soziologischen Beschäftigung mit Gesundheit 19 1.2 Die doppelte Herkunft der soziologischen Beschäftigung mit Gesundheit Die Annahme, dass soziale und gesellschaftliche Strukturen und Zusammenhänge einen Einfluss auf Gesundheit und Krankheit ausüben, reicht in der Geschichte weit zurück (hierzu ausführlicher z.B. Labisch 1992). Dabei wurden diese Wechselwirkungen von Gesundheit und Gesellschaft aus zwei unterschiedlichen Perspektiven in den Blick genommen, die auf die doppelte Herkunft der soziologischen Beschäftigung mit Gesundheit verweisen: Einerseits gab es medizinische Wissenschaftler und Ärzte, die sich für die sozialen und gesellschaftlichen Ursachen von Gesundheit und Krankheit interessierten; andererseits gab es sozialpolitisch und später soziologisch orientierte Persönlichkeiten, die sich u.a. auch für gesundheitliche Aspekte interessierten. Einige dieser Personen und ihre Arbeiten sollen im Folgenden kurz vorgestellt werden. [a] Die medizinische Beschäftigung mit Gesellschaft Zu den frühen medizinischen Wissenschaftlern gehört z.B. der im 17. Jahrhundert tätige italienische Arzt Bernardino Ramazzini (1633- 1714), der epidemiologische Untersuchungen hinsichtlich der Krankheiten unterschiedlicher Berufsgruppen (u.a. der Handwerker und Künstlerinnen) durchführte. Indem er eine Beziehung zwischen den (sozialen) Arbeitsbedingungen unterschiedlicher Berufsgruppen und der mit den jeweiligen Berufen in Verbindung stehenden Krankheiten erkannte, schaffte er die Grundlagen für die sich in der Folge entwickelnde Arbeits- und Gewerbemedizin. Für die weiteren Entwicklungen in Deutschland stehen exemplarisch die beiden Ärzte Salomon Neumann (1819-1908) und Rudolf Virchow (1821-1902). Beide waren im 19. Jahrhundert einerseits mit den großen sozialen Herausforderungen durch Epidemien wie Cholera und Typhus, andererseits mit der bitteren Armut weiter Bevölkerungskreise in Stadt und Land konfrontiert. Zugleich zeigte sich in der ärztlichen Praxis, dass die Lebensbedingungen einen erheblichen Einfluss auf den Gesundheitszustand der Menschen hatten: Eine Person, die einen höheren Wohlstand, die also eine bessere Wohnung, wärmere Kleidung und in Menge und Qualität ausreichende Nahrungsmittel hatte, war (zumindest 20 Einführung: Der soziologische Blick auf Gesundheit in der Regel) gesünder als Menschen, die in Bezug auf diese Grundbedürfnisse schlechter gestellt waren. Und dieselben gesundheitsabträglichen Wirkungen erkannte man auch mit Blick auf eine schlechte Bildung. Axel Flügel formuliert in seiner historischen Betrachtung der öffentlichen Gesundheitspflege: „Armut und Unbildung ist die nahezu untrennbare Paarung, welche für aufmerksame medizinische Beobachter der sozialen Verhältnisse dem materiellen und geistigen Elend im 19. Jahrhundert zugrunde lag. Armut und Unbildung, also fehlendes Einkommen und mangelhaftes Wissen, erzwangen eine der Gesundheit schädliche Lebensweise“ (Flügel 2012: 93). Salomon Neumann, Rudolf Virchow und einige andere Ärzte der damaligen Zeit wollen sich angesichts dieser Erkenntnis nicht mehr auf die Behandlung und Hilfe für akut Erkrankte beschränken, sondern verweisen auf die Notwendigkeit, Armut und Unbildung zu bekämpfen. Und hierbei sehen sie sich zunehmend selbst als Experten an, die der Politik zeigen können, wie die Gesellschaft zu reformieren und zu gestalten sei. Dieser Expertenstatus wird etwa von Salomon Neumann direkt aus der ärztlichen bzw. medizinischen Kompetenz abgeleitet, denn immerhin sei ja gerade die Medizin jene Wissenschaft, „die sich mit Leben und Gesundheit der Menschen beschäftigt, denn die medizinische Wissenschaft ist in ihrem Kern und Wesen eine sociale Wissenschaft“ (Neumann 1847: 64f.). Sehr ähnlich beurteilt auch der Berliner Pathologe Rudolf Virchow die soziale Lage der Armen und ihre Ursachen. Als er 1848 sein Gutachten zu der in Oberschlesien seit Längerem grassierenden Typhusepidemie und die dagegen zu ergreifenden Maßnahmen vorlegt, fasst er gegen Ende des Buches zusammen: „Die logische Antwort auf die Frage, wie man in Zukunft ähnliche Zustände, wie sie in Oberschlesien vor unsern Augen gestanden haben, vorbeugen könne, ist also sehr leicht und einfach: Bildung mit ihren Töchtern Freiheit und Wohlstand“ (Virchow 1848: 169). Auch Virchow ist politisch interessiert und involviert: Er engagiert sich im Kontext der Deutschen Revolution 1848 (der so genannten Märzrevolution), betätigt sich als linksliberaler Politiker und Abgeordneter und ist tätig als Stadtverordneter und Gesundheitspolitiker in Berlin sowie als Die doppelte Herkunft der soziologischen Beschäftigung mit Gesundheit 21 Krankenhausplaner und Anthropologe (vgl. ausführlicher Flügel 2012: 96ff.). Und auch Virchow glaubt, dass die soziale Frage in die Zuständigkeit der Medizin falle, weil diese eben eine soziale Wissenschaft sei: „Wer kann sich darüber wundern, dass die Demokratie und der Socialismus nirgend mehr Anhänger fand, als unter den Aerzten? dass überall auf der äussersten Linken, zum Theil an der Spitze der Bewegung, Aerzte stehen? die Medicin ist eine sociale Wissenschaft, und die Politik ist weiter nichts, als Medicin im Grossen“ (Virchow 1848a: 125). Insgesamt zeigt sich, wie sehr auch die Ärzte der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts von den immensen gesellschaftlichen Umwälzungen, insbesondere aber auch von der großen Armut und der verbreiteten ‚Unbildung‘ sowie dem damit verbundenen schlechten Gesundheitszustand der Menschen beeindruckt waren. Die sociale Medizin, von der Salomon Neumann, Rudolf Virchow und einige andere Ärzte zu jener Zeit sprechen, ist aber (noch) keine medizinische Fachdisziplin (wie es heute die Sozialmedizin ist), „sondern eine von Ärzten betriebene Sozialpolitik“ (Flügel 2012: 101; vgl. ausführlich zur Profession der Medizin im 19. Jahrhundert auch Weidner 2012). [b] Die soziologische Beschäftigung mit Gesundheit Während die Ärzte des 19. Jahrhunderts auf Gesundheit und Krankheit schauten und ihnen dabei die Gesellschaft in den Blick kam, schauten andere vor allem auf die gesellschaftlichen Verhältnisse und Umwälzungen und erkannten, dass diese relevante und zum Teil verheerende Auswirkungen auf die Gesundheit hatten. Einer der ersten, der seinen sozialen Blick auch auf Gesundheit lenkte, war der Philosoph und Gesellschaftstheoretiker Friedrich Engels (1820-1895). In seinem Buch „Die Lage der arbeitenden Klasse in England“, das 1845 in erster Auflage erscheint, berichtet Engels über die Eindrücke, die er selbst während seines Aufenthalts in England gesammelt hatte: Er berichtet von der materiellen Verarmung breiter Bevölkerungsgruppen, von den skandalösen hygienischen Lebensbedingungen der Arbeiterklasse Englands und von den dramatischen Folgen der Kinderarbeit. Und er macht immer wieder deutlich, dass die Lebens- und Arbeitsbedingungen einen engen Zusammenhang zur gesundheitlichen Lage und zur Lebenserwartung der Arbeiter aufweisen. 22 Einführung: Der soziologische Blick auf Gesundheit Als einer der ersten Soziologen, der sich explizit mit einem Gesundheitsthema beschäftigt, gilt Emile Durkheim (1858-1917). In seinem Buch „Der Selbstmord“, das 1897 in erster Auflage erscheint, untersucht Durkheim den Zusammenhang von (regionalen) Suizidraten mit unterschiedlichen sozialen Parametern: Diese reichen von der Konfessionszugehörigkeit und dem Familienstand über die Berufsausübung und den Vermögensstand bis hin zur wirtschaftlichen Situation eines Landes. So findet er z.B. heraus, dass Protestanten eine höhere Selbstmordrate aufweisen als Menschen katholischen oder jüdischen Glaubens, dass die Selbstmordrate mit dem Bildungsgrad wächst, dass sich Singles und Männer häufiger selber töten als Verheiratete und Frauen und dass Soldaten eine höhere Selbstmordrate haben als Zivilisten. Mit diesen Befunden kann er belegen, dass Selbstmordhandlungen nicht (allein) das Ergebnis privater und individueller Entscheidungen oder Erkrankungen sind, sondern das Ergebnis bestimmter gesellschaftlicher Bedingungen und Entwicklungen - dass Selbstmordhandlungen also sozialen Mustern folgen. Für Badura und Strodtholz (1998: 147) gilt Durkheim mit seinen Forschungen zum Selbstmord denn auch als Begründer der modernen Sozialepidemiologie. Als der eigentliche Begründer der modernen Gesundheits- oder besser: Medizinsoziologie gilt hingegen der US-amerikanische Soziologie Talcott Parsons (1902-1979), dessen Buch „The Social System“ 1951 auf dem amerikanischen Markt erscheint. In dessen 10. Kapitel, das 1958 unter dem Titel „Struktur und Funktion der modernen Medizin“ auch in deutscher Übersetzung veröffentlicht wird, verdeutlicht Parsons seine Vorstellungen zu Gesundheit, Krankheit und Medizin im Kontext sozialer Systeme. Da soziale Systeme in den Vorstellungen des von Parsons vertretenen Strukturfunktionalismus stets nach Stabilität streben, ist Gesundheit für ihn eine Frage des Funktionierens eines sozialen Systems: Sie ist eine funktionale Voraussetzung von sozialen Systemen, weil sie es erlaubt, dass die Mitglieder dieses Systems (also der Gesellschaft) als Träger sozialer Rollen die an sie gerichteten Erwartungen erfüllen können. Kranke Personen hingegen sind an der Erfüllung ihrer üblichen sozialen Rollen gehindert, weshalb Parsons in der Krankheit nur die „Störung des ‚normalen‘ Funktionierens des Menschen“ (Parsons 1958: 12) sehen kann, die schnellstmöglich abzustellen ist. Um dies wiederum sicherzustellen, wurde die moderne Medizin als ein „Mechanismus“ institutionalisiert, „welcher der Bekämpfung von Krankheiten der Mitglieder dient“ (ebd.). In der oben be- Die doppelte Herkunft der soziologischen Beschäftigung mit Gesundheit 23 zeichneten Publikation widmet sich Parsons der sozialen Struktur dieser modernen Medizin, die wesentlich durch die Rollen des Arztes sowie des Kranken bzw. des Patienten geprägt sei, wobei die konkrete Ausformung dieser Rollen kulturell variieren könne. Mit seinen Überlegungen zur Rolle der Ärztin und der Kranken lieferte Parsons u.a. wichtige theoriegeleitete Anregungen zum Verständnis und zur Reflexion der Arzt-Patienten- Beziehung in modernen Gesellschaften. Wie deutlich geworden ist, hat die Gesundheits- oder Medizinsoziologie gewissermaßen eine ‚doppelte Geschichte‘, die sowohl von sozial (-politisch) orientierten Medizinern wie auch von gesundheitlich interessierten Soziologen geschrieben wurde. Und diese doppelte Herkunft spiegelt sich auch heute noch in den verschiedenen wissenschaftlichen Fachgesellschaften wider, die die soziologische Beschäftigung mit Fragen hinsichtlich Gesundheit und Krankheit repräsentieren: Einerseits gibt es die Sektion ‚Medizin- und Gesundheitssoziologie‘ innerhalb der Deutschen Gesellschaft für Soziologie (DGS), in der vor allem Soziologinnen organisiert sind, die sich mit Gesundheitsthemen beschäftigen. Andererseits gibt es die Deutsche Gesellschaft für medizinische Soziologie (DGMS), in der vorrangig an medizinischen Fakultäten tätige Soziologen organisiert sind. Seit einigen Jahren gibt es allerdings zunehmend gemeinsame, interdisziplinär angelegte Arbeitsgruppen dieser beiden wissenschaftlichen Gesellschaften, z.B. die ‚AG Gesundheitssoziologie und medizinische Soziologie‘ (seit 2014) oder die ‚AG Sozialepidemiologie‘, an der zudem die ‚Deutsche Gesellschaft für Sozialmedizin und Prävention‘ (DGSMP) sowie die ‚Deutsche Gesellschaft für Epidemiologie‘ (DGEpi) beteiligt sind. Von zunehmender Bedeutung im Kontext der wissenschaftlichen Beschäftigung mit den Wechselwirkungen zwischen Gesundheit und Gesellschaft ist heute v.a. auch die Multidisziplin Public Health, welche die Expertise verschiedener wissenschaftlicher Disziplinen (z.B. der Soziologie, der Ökonomie, der Psychologie, der Medizin, der Epidemiologie) vereint und im Sinne von Interdisziplinarität nutzbar machen will. Ihre Vertreter und Vertreterinnen sind in der ‚Deutschen Gesellschaft für Public Health‘ (DGPH) organisiert (die Entstehung von Public Health als Wissenschaft wird in → Kap. 2 ausführlicher behandelt). 24 Einführung: Der soziologische Blick auf Gesundheit 1.3 Gesundheitssoziologie vs. Soziologie der Gesundheit Bis hierher haben wir es unterlassen, den Titel dieses Buches, also ‚Soziologie der Gesundheit‘, näher zu erläutern. Stattdessen haben wir sehr allgemein von dem soziologischen Blick auf Gesundheit und Krankheit gesprochen und Bezeichnungen benutzt wie etwa: Medizinsoziologie, medizinische Soziologie, Gesundheitssoziologie, Sozialepidemiologie oder Public Health. Auch wenn alle diese Begriffe Ähnliches zu bezeichnen scheinen, so sind doch die Vorstellungen davon, welche Forschungsgegenstände und Fragenstellungen sich mit den jeweiligen Begriffen verbinden, höchst verschieden. Gleichwohl aber kann man als verbindende Idee sehr allgemein formulieren, dass die Medizin- oder Gesundheitssoziologie Theorien, Methoden und Wissensbestände der Soziologie auf den Gegenstand Gesundheit anwendet. Dabei beschreibt und analysiert sie, so Thomas Gerlinger (2016: 89), soziale Phänomene, die für den Erhalt, die Gefährdung und die Wiederherstellung von Gesundheit sowie für die individuelle, kulturelle und gesellschaftliche Bewältigung gesundheitlicher Beeinträchtigungen von Bedeutung sind. Vor diesem Hintergrund wendet sie sich sowohl der Wahrnehmung und dem Handeln individueller Akteure (also der gesellschaftlichen Mikroebene) zu als auch den von diesen Individuen geschaffenen (überindividuellen) Institutionen und (gesellschaftlichen) Strukturen (also der gesellschaftlichen Meso- und Makroebene), welche die Gesundheit von Individuen und Populationen beeinflussen. Eine wichtige und u.E. sinnvolle Differenzierung des soziologischen Blicks auf Gesundheit stammt von Robert Straus, der die Medizinsoziologie im Jahre 1957 in eine Soziologie in der Medizin (Sociology in Medicine) und eine Soziologie der Medizin (Sociology of Medicine) unterteilte. Im Sinne dieser Unterscheidung widmet sich die ‚Soziologie in der Medizin‘ (i.d.R. in enger Zusammenarbeit mit der medizinischen Wissenschaft) den soziokulturellen Bedingungen von Erkrankungen und Krankheitsverläufen sowie den (subjektiven) Prozessen der Krankheitsbewältigung (für diesen Teil der Medizinsoziologie wird im deutschsprachigen Raum auch der Begriff ‚Gesundheitssoziologie‘ verwendet; vgl. Graumann & Lindemann 2010: 296). Die ‚Soziologie der Medizin‘ hingegen wendet Gesundheitssoziologie vs. Soziologie der Gesundheit 25 sich der medizinischen Profession selbst zu, also ihren Praktiken und Ritualen, ihrer organisationalen Struktur, ihren Rollenbeziehungen und Werthaltungen etc. Robert Straus bringt dies folgendermaßen auf den Punkt: „Auf der einen Seite steht der Soziologe abseits und analysiert die Medizin als Institution oder Verhaltenssystem; auf der anderen Seite kollaboriert er mit dem medizinischen Spezialisten, um ihn bei seinen erzieherischen und therapeutischen Aufgaben zu unterstützen“ (Straus 1957: 203). Dieser Unterscheidung, die vor allem eine idealtypische Unterscheidung ist und in der forschenden Praxis nicht immer trennscharf getroffen werden kann, werden wir uns im Folgenden etwas eingehender widmen. 1.3.1 Soziologie in der Medizin/ Gesundheitssoziologie Die ‚Soziologie in der Medizin‘, so formuliert Sarah Nettleton (2013: 7), bedient die Bedarfe und Interessen der Medizin und widmet sich so gesehen der Lösung von medizinisch definierten Problemen. Dabei geht sie auf der Basis eines bio-psycho-sozialen Modells davon aus, dass biologische, psychische und soziale Faktoren gleichermaßen die Entstehung von Krankheiten und den Erhalt von Gesundheit beeinflussen. Ein zentrales Thema der ‚Soziologie in der Medizin‘ ist z.B. die gesundheitliche Ungleichheit, die sich u.a. darin zeigt, dass Krankheiten und gesundheitliche Risiken, aber auch die Lebenserwartung sozial ungleich verteilt sind. So leiden in den westlichen Gesellschaften die so genannten ‚unteren Schichten‘ häufiger an chronischen Krankheiten und sterben früher als die Mitglieder der ‚höheren‘, finanziell besser gestellten Schichten (→ hierzu auch ausführlich Kap. 3). Aber auch unabhängig von der Schichtzugehörigkeit bzw. unabhängig vom sozioökonomischen Status interessiert die ‚Soziologie in der Medizin‘, wie sich Krankheiten und Krankheitsverläufe in der Bevölkerung verteilen und in welchen Bevölkerungsgruppen bestimmte Krankheiten oder Gesundheitsrisiken häufiger auftreten als in anderen. Deshalb untersucht sie mit Blick auf die Krankheitsentstehung und den Krankheitsverlauf auch den Einfluss sozialer Determinanten, wie etwa Migrationshintergrund, Geschlechtszugehörigkeit, Einkommen, Erwerbsarbeit, Arbeitslosigkeit, Armut, Alter etc., um daraus z.B. Erkenntnisse für eine zielgruppenorientierte 26 Einführung: Der soziologische Blick auf Gesundheit Gesundheitsförderung oder Prävention abzuleiten (etwa Hurrelmann & Richter 2013). Ein weiteres wichtiges Thema einer ‚Soziologie in der Medizin‘ sind die Interaktionen zwischen dem medizinischen und pflegenden Personal und den Patienten bzw. Patientinnen. Untersuchungen zu diesen Interaktionen haben gezeigt, dass z.B. die Qualität der Arzt-Patienten- Kommunikation erhebliche Auswirkungen hat, und zwar keineswegs nur auf die Zusammenarbeit der Patienten mit der Ärztin (also die so genannte Compliance), sondern insbesondere auch auf die Befindlichkeit der Patienten und den Heilungsprozess sowie den Krankheitsverlauf im Allgemeinen. Zugleich musste man allerdings erkennen, dass Kommunikation deutlich mehr umfasst, als die Übertragung einer Information von einem Sender A zu einem Empfänger B: Denn häufig kommt es vor, dass bei Patienten andere Inhalte ankommen, als z.B. mit ärztlichen Aufklärungsgesprächen bezweckt werden. Diese Diskrepanz, so Graumann & Lindemann (2012: 97), führte z.B. dazu, „dass auch das medizinische Konzept der freien und informierten Einwilligung als Voraussetzung für die Zulässigkeit medizinischer Eingriffe erschüttert wurde.“ Ein dritter wichtiger Bereich einer ‚Soziologie in der Medizin‘ ist die so genannte Gesundheitssystemforschung, der es v.a. um die Struktur und die Steuerung der Gesundheitsversorgung geht, die in unterschiedlichen Ländern ganz unterschiedlich angelegt und organisiert ist. Von Interesse sind dabei die unterschiedlichen Funktionsbereiche (Kuration, Rehabilitation, Pflege, Arzneimittelversorgung, Selbsthilfe, Gesundheitsförderung und Prävention) und Versorgungssektoren (ambulante vs. stationäre Versorgung): Diese folgen jeweils eigenen Logiken und Leitbildern und sind überdies durch rechtliche und v.a. auch (gesundheits-) ökonomische Vorgaben und Wissensbestände strukturiert. Von besonderer Bedeutung sind diese Themen v.a. auch in der Wissenschaftsdisziplin Public Health. Wie bereits oben erwähnt, handelt es sich bei Public Health um eine Multidisziplin, zu deren Bezugsdisziplinen neben etlichen anderen auch die Soziologie zählt. Matthias Leanza (2010: 249) hat darauf hingewiesen, dass es analog zur Medizinsoziologie sinnvoll sein könnte, auch im Kontext von Public Health zwischen einer Sociology in Public Health und einer Sociology of Public Health zu unterscheiden. Welche Probleme sich einer ‚Soziologie der Medizin‘ oder auch einer ‚Sociology of Public Health‘ stellen, dieser Frage wenden wir uns nun im Folgenden zu. Gesundheitssoziologie vs. Soziologie der Gesundheit 27 1.3.2 Soziologie der Medizin/ Soziologie der Gesundheit Die ‚Soziologie der Medizin‘ widmet sich medizinischen Aspekten nicht in erster Linie deshalb, um zur Lösung entsprechender Problematiken beizutragen, sondern sie macht die Medizin selbst (als einen relevanten Bestandteil moderner Gesellschaften) zum Gegenstand ihrer soziologischen Betrachtung. Es geht also weniger darum, Defizite in der medizinischen oder auch pflegerischen Versorgung aufzudecken, um diese Versorgung zu verbessern oder effizienter zu gestalten. Vermehr zielt eine ‚Soziologie der Medizin‘ darauf, die ärztliche oder pflegerische Rolle, vor allem aber auch die (sich ständig wandelnden) Strukturen, Funktionen und Institutionen des Gesundheitswesens insgesamt zu vermessen und in ihrer Ausgestaltung zu hinterfragen. Insofern gehört zu einer ‚Soziologie der Medizin‘ z.B. die Beobachtung und Analyse der Entstehung neuer Gesundheitsberufe sowie entsprechender Prozesse der Professionalisierung und Deprofessionalisierung. Zugleich stellt sich seit einigen Jahren die Frage, wie sich die Beziehung zwischen (Gesundheits-)Professionellen und Patienten durch die Informationsfluten des Internet sowie die übrigen neuen Medien verändert. Damit eng verbunden sind zudem Beobachtungen einer zunehmenden Vermarktung und Ökonomisierung von Gesundheit bzw. Gesundheitsdienstleistungen und Gesundheitsprodukten. Zu fragen wäre diesbezüglich z.B.: In was für einer Gesellschaft leben wir, wenn Gesundheit zum zentralen Bezugspunkt industrieller Vermarktungsstrategien wird? An welche Vorstellungen von Gesundheit schließen entsprechende Werbebotschaften an? Und wie verändern diese Botschaften wiederum unsere Vorstellungen und Wahrnehmungen von Gesundheit und Krankheit? Ein weiterer Bereich einer ‚Soziologie der Medizin‘ ist die Frage danach, wie Wissen über Krankheit, Gesundheit oder Gesundheitsrisiken erzeugt wird. Wenn die medizinische Forschung aufzeigt, dass bestimmte Verhaltensweisen oder Umweltfaktoren gesundheitsschädlich sind, ist damit noch keineswegs verbunden, dass auch die Gesellschaftsmitglieder in nennenswerter Anzahl von den jeweiligen Risiken wissen. Hierzu ist es u.a. erforderlich, dass diese Risiken breit in den Medien sowie durch einschlägige Organisationen kommuniziert werden. Allerdings ist mediale Aufmerksamkeit ein knappes Gut, so dass das jeweilige Gesundheitsrisiko in Konkurrenz zu anderen Inhalten tritt, deren Protagonisten eben- 28 Einführung: Der soziologische Blick auf Gesundheit falls ein Interesse daran haben, dass ihre Anliegen mediale Öffentlichkeit erlangen. Es ist für eine ‚Soziologie der Medizin‘ daher z.B. interessant zu fragen: Warum werden bestimmte Risiken zu einem bestimmten Zeitpunkt und an einem spezifischen Ort problematisiert und als veränderungsbedürftig betrachtet, viele andere hingegen nicht? Welche Akteure sind mit welchen Interessen an dieser Thematisierung bzw. Problematisierung beteiligt? Mit welchen Kommunikationsstrategien operieren diese Akteure und unter welchen Bedingungen sind sie erfolgreich? Solchen und ähnlichen Fragen wenden wir uns in → Kap. 6 ausführlicher zu. In den Blick geraten bei solchen Überlegungen freilich auch Fragen nach den Macht- und Herrschaftsverhältnissen einer Gesellschaft sowie den Positionierungen der Medizin oder auch des medizinischen Wissens in hierarchisch organisierten, gesellschaftlichen Strukturen. Die ‚Soziologie der Medizin‘ fragt hier z.B. danach, wie es zu erklären ist, dass die Medizin - zumindest in den modernen westlichen Gesellschaften - eine so dominante Rolle einnehmen und zu einer zentralen Institution sozialer Kontrolle werden konnte. Irving Kenneth Zola (1935-1994) hat diese Entwicklung als Medikalisierung bezeichnet und damit Prozesse beschrieben, die genuin soziale Phänomene oder Devianzen (Abweichungen) in medizinische Problematiken und damit in die Zuständigkeit der Medizin überführen. Diese ‚Medikalisierung der Gesellschaft‘ (Zola 1986: 382ff.) sei zwar weniger das Resultat der politischen Macht von Ärzten, sondern zugleich vor allem auch die Folge eines gesellschaftlichen Trends, immer mehr Dinge des täglichen Lebens mit den Etiketten ‚gesund‘ oder ‚krank‘ zu versehen. Dies ändere allerdings nichts daran, dass dadurch medizinischen Normen und einer medizinischen Denk- und Bearbeitungsweise von sozialen Problemen immer mehr Raum gegeben werde. Und dieses medizinische Denken betreffe keineswegs nur die Diagnose und Behandlung organischer Krankheiten, sondern greife zugleich auf vielfältige gesellschaftliche Bereiche zu. In diesem Sinne kann man z.B. fragen: Wie verändert die Selektionslogik der pränatalen (vorgeburtlichen) Diagnostik unsere Vorstellungen von einem lebenswerten Leben? Welchen Einfluss hat die Transplantationsmedizin auf unsere Vorstellungen von Leben und Tod? Wie und warum unterstützen oder generieren Schönheitsoperationen die Schönheitsideale einer Gesellschaft? Welche gesellschaftlichen und individuellen Konsequenzen haben diese Schönheitsideale - Gesundheitssoziologie vs. Soziologie der Gesundheit 29 insbesondere auch dann, wenn körperliche Schönheit zu einer Ware gemacht (kommodifiziert) wird? Um Fragen der Medikalisierung geht es ausführlicher in → Kap. 5. Wie deutlich geworden ist, geht es einer ‚Soziologie der Medizin‘ nicht in erster Linie darum, mit ihren Erkenntnissen die Medizin bei ihren diagnostischen, kurativen, rehabilitativen und präventiven Aufgaben und Tätigkeiten zu unterstützen, sondern sie nimmt gerade umgekehrt dieses Feld medizinischen Agierens in den Blick. Für Robert Straus waren diese beiden Seiten der medizinsoziologischen Medaille in gewissem Sinne unvereinbar; er glaubte „dass der Soziologe der Medizin seine Objektivität verlieren könnte, wenn er sich zu sehr mit der medizinischen Lehre und der klinischen Forschung identifiziert; während der Soziologe in der Medizin seine guten Beziehungen zu den Kollegen riskiert, wenn er versucht, diese zum Gegenstand seiner Untersuchungen zu machen“ (Straus 1957: 203). Auch wenn diese Befürchtung bis heute eine gewisse Berechtigung hat, so steht doch außer Frage, dass beide Bereiche der Medizinsoziologie in modernen Gesellschaften von hoher und wahrscheinlich weiter wachsender Bedeutung sind. Gleichwohl wollen wir einen Schritt weiter gehen und nicht nur die Medizin, sondern in erster Linie die Gesundheit zum Gegenstand unserer Betrachtungen machen. Drei Gründe, die sich aus den vorangegangenen Ausführungen ergeben, führen wir dafür an: Erstens geht es bei der soziologischen Betrachtung von ‚Gesundheit‘ keineswegs nur um den Handlungsbereich der Medizin, sondern ‚Gesundheit‘ ist stets auch für vielfältige andere gesellschaftliche Felder relevant und wird in ihnen verhandelt. Zweitens greift es u.E. zu kurz, die Analyse des Einflusses der Medizin auf das Gesundheitssystem und auf die Diagnose und Behandlung von Krankheiten zu beschränken: Denn das medizinische Denken und Reden über Gesundheit und Krankheit (also der medizinische Diskurs) greift immer wieder auch auf die vielfältigen anderen Bereiche der Gesellschaft zu, prägt unsere Vorstellungen von Gesundheit und Krankheit und dient auf unterschiedlichen gesellschaftlichen Ebenen der Legitimation und Delegitimation bestimmter Verhaltensweisen, Normen, Maßnahmen etc. Und drittens ist der medizinische Diskurs keineswegs 30 Einführung: Der soziologische Blick auf Gesundheit der einzige, der sich mit Fragen der Gesundheit befasst, vielmehr ist Gesundheit Gegenstand unterschiedlichster diskursiver Aushandlungen in ganz verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen. Um diese Komplexität und Verwobenheit von Gesundheit und Gesellschaft (die nicht auf die Verbindung ‚Gesellschaft und Medizin‘ beschränkt werden kann) zum Ausdruck zu bringen, sprechen wir von ‚Soziologie der Gesundheit‘. Was aber macht eine ‚Soziologie der Gesundheit‘ lohnend? 1.4 Soziologie der Gesundheit als Reflexionswissenschaft Wir hatten oben gesagt, dass die Soziologie als Reaktion auf die großen Umwälzungen des 19. Jahrhunderts entstanden ist: Sie sollte die neuen, brennenden Fragen des sozialen Wandels, der sozialen Ordnung und der Gestaltbarkeit der sozialen Welt nicht nur reflektieren, sondern nach Möglichkeit auch beantworten. Auguste Comte ging so weit, sie als Zivilreligion, als ‚Religion der Menschheit‘ zu überhöhen und zu überschätzen. Allerdings ist dieser überbordende Optimismus der Anfänge der Disziplin inzwischen deutlich abgeklungen, und es wäre sicherlich nicht leicht, heute noch Soziologen oder Soziologinnen zu finden, welche die Soziologie in der Lage sehen, gesellschaftliche Prozesse im Großen planen und steuern zu können. Die Botschaft der Soziologie, so Armin Nassehi (2011: 28), sei heute vielmehr dreierlei: Erstens lehre sie, wie widerständig und stabil sich die sozialen Strukturen gegen Veränderungen wehren (können). Zweitens lehre sie, dass geplante Veränderungen zu paradoxen Folgen führen können, die so weder geplant noch vorhersehbar waren. Und drittens sei die Soziologie von heute vor allem eine Wissenschaft der Kontingenz. Kontingent ist dabei - allgemein gesprochen - zunächst einmal das, was auch anders möglich ist. Dabei umschließt die Kontingenz zwei ganz unterschiedliche Prinzipien gleichermaßen, und zwar Unsicherheit und Handlungsoffenheit. Einerseits bezeichnet Kontingenz alles das, was sich der Planung entzieht, was aber zugleich auch erst mit dem Versuch der Planung als unplanbar erkennbar wird; es kann immer auch anders kommen: Das ist der Unsicherheitsbereich der Kontingenz. Andererseits ist aber auch das kontingent, was Produkt menschlichen Handelns ist. Soziologie der Gesundheit als Reflexionswissenschaft 31 Denn Handeln bedeutet immer auch sich zu entscheiden, eine Wahl aus verschiedenen Möglichkeiten zu treffen. In diesem Falle bedeutet die Kontingenz des Handelns die Möglichkeit, stets auch anders handeln zu können bzw. über eine andere Handlungsoption zu verfügen. Diese Handlungsoffenheit, sich stets auch für eine andere Option entscheiden zu können, konturiert den Handlungsbzw. Gestaltungsbereich der Kontingenz. Vor diesem Hintergrund, so Nassehi (2011: 29), rufe die Soziologie nicht mehr zur hemdsärmeligen Tat auf, sondern verbreite vor allem auch Skepsis und Nachdenklichkeit. Dies wiederum sei angesichts einer Inflation einfacher oder einfach scheinender Lösungen, die in der Politik und in der medialen Öffentlichkeit für komplexe Probleme angeboten würden, auch nur angemessen: Es bleibe die Stärke der Soziologie, die Gesellschaft auf ihre Schwächen und auf ihre blinden Flecken aufmerksam zu machen. Insofern gibt es viele Gründe und Anlässe, den (kritischen) soziologischen Blick auf die unterschiedlichsten Vorstellungen und Wahrnehmungen von Gesundheit und ihrer Wechselwirkungen mit sozialen und gesellschaftlichen Strukturen, Institutionen und Funktionen zu richten. In diesem Zusammenhang auf die Schwächen und blinden Flecken hinzuweisen sollte dabei nicht als Besserwisserei im Sinne eines „Die-Gesellschaft-ist-an-allem-Schuld“ missverstanden werden, sondern vielmehr als eine notwendige und hilfreiche (Selbst-)Reflexion gesellschaftlicher Verhältnisse. In diesem Sinne können Ansätze einer ‚Soziologie der Gesundheit‘ insbesondere auch für Public Health und jene anwendungsorientierten Therapiewissenschaften gewinnbringend sein, die sich in den vergangenen zwei bis drei Jahrzehnten an den Hochschulen und Universitäten mit vielfältigen Studienprogrammen etabliert haben. Dabei wird immer wieder betont, dass insbesondere die sozialwissenschaftliche bzw. soziologische Theorieentwicklung in diesem Bereich nach wie vor sehr zu wünschen übrig lasse (vgl. Badura & Knesebeck 2012: 193). Erst jüngst hat Uwe Bittlingmayer (2016: 34) darauf hingewiesen, dass gerade auch im Bereich Public Health mit theoretisch relativ unbestimmten Grundbegriffen und auch insgesamt mit einer schwachen sozialwissenschaftlichen Theoriebasis gearbeitet würde. Dieses Phänomen ist zumindest insoweit erstaunlich, weil sich diese Disziplin als ein in hohem Maße anwendungsorientierter Wissenschaftsbereich versteht: Gerade eine solche 32 Einführung: Der soziologische Blick auf Gesundheit Disziplin, die sehr schnell mit verschiedensten Interventionen (z.B. im Rahmen von Prävention und Gesundheitsförderung) in die sozialen Strukturen und damit auch in das Leben und die Lebenswelten, ggf. auch in den individuellen und intimen Nahraum von Menschen eingreift, sollte diese Eingriffe und insbesondere auch das eigene Tun und die eigene Position theoretisch fundiert und auch reflektiert haben. Insofern können die Gesundheitswissenschaften/ Public Health in vielfacher Weise von einer ‚Soziologie der Gesundheit‘ profitieren: So kann es in dem politisch und ökonomisch stark umkämpften Bereich der Gesundheit durchaus hilfreich sein, sich immer wieder darüber zu verständigen, dass auch die Konzepte Gesundheit und Krankheit (nur) Ergebnisse gesellschaftlicher Konstitutions- und Konstruktionsprozesse sind, die auch anders ausfallen könnten. Dies ist z.B. für Maßnahmen der Gesundheitsförderung und Krankheitsprävention von enormer Bedeutung, denn je nachdem, was ich unter ‚Gesundheit‘ oder ‚Krankheit‘ verstehen will, ändern sich die konkreten Interventionen ggf. erheblich - sowohl in ihren konkreten Praktiken als auch in ihren Zielen. Eine ‚Soziologie der Gesundheit‘ ermöglicht aber nicht nur einen gewinnbringenden Blick auf die (kontingenten) Konzepte von Gesundheit und Krankheit sowie die damit verbundenen Praktiken, sondern auch auf die Interessen, das Grundverständnis und die Verstrickungen der eigenen Profession: Welche Rolle spielt z.B. Public Health im komplexen Zusammenspiel der Gesundheits- und Sozialberufe? In welche Machtstrukturen sind die Gesundheitswissenschaften verstrickt und wie lassen sich diese ggf. verändern? Auf der Basis welcher theoretischer Grundlagen und welcher Normen handelt eine Profession wie z.B. Public Health? Wie verändern gesellschaftliche oder politische Rahmenbedingungen die Konzepte von Gesundheitsförderung und Prävention sowie die Wirkungen entsprechender Maßnahmen? Wo verläuft die Grenze zwischen Empowerment und Bevormundung, und wann wird Gesundheitsschutz zu Disziplinierung? Wie verhalten sich die Gesundheitswissenschaften zur Ökonomisierung von Gesundheit? Und nicht zuletzt: Was eigentlich ist ‚Gesundheit‘ und welchen Stellenwert hat sie - im Kontext der Gesundheitswissenschaften und einer Public Health, aber auch in der Gesellschaft als Ganzer? Diese und ähnliche Fragen zu stellen, ist nicht immer bequem und häufig wird es nicht einmal eindeutige Antworten auf sie geben. Gleichwohl ist Zusammenfassung ・ 33 die Beschäftigung mit solchen Fragen notwendig, denn sie ist die Basis einer (selbst-)reflexiven Professionalität und damit zugleich eine zentrale Grundlage für die Erhöhung von Handlungsoptionen und die Ermöglichung von Innovation. Zusammenfassung Die Soziologie entstand als Reaktion auf die großen Umwälzungen des 19. Jahrhunderts. Vor allem sollte sie die damit verbundenen Fragen des sozialen Wandels, der sozialen Ordnung und der Gestaltbarkeit der sozialen Welt beantworten. Die soziologische Beschäftigung mit Gesundheit hat eine doppelte Herkunft: Einerseits gab es medizinische Wissenschaftler und Ärzte, die erkannten, dass Gesundheit und Krankheit vor allem auch soziale und gesellschaftliche Ursachen haben; andererseits gab es sozialpolitisch und später soziologisch orientierte Wissenschaftler, die sich u.a. auch für gesundheitliche Aspekte interessierten. Eine gängige idealtypische Unterscheidung unterteilt die Medizinsoziologie in eine ‚Soziologie in der Medizin‘ und eine ‚Soziologie der Medizin‘. Die ‚Soziologie in der Medizin‘ widmet sich (in enger Zusammenarbeit mit der medizinischen Wissenschaft) den soziokulturellen Bedingungen von Erkrankungen und Krankheitsverläufen sowie den (subjektiven) Prozessen der Krankheitsbewältigung. Die ‚Soziologie der Medizin‘ hingegen macht die medizinische Profession selbst zu ihrem Forschungsgegenstand und untersucht ihre Praktiken und Rituale, ihre organisationale Struktur, ihre Rollenbeziehungen und Werthaltungen etc. 34 Einführung: Der soziologische Blick auf Gesundheit Auch die anwendungsorientierten Gesundheitswissenschaften/ Public Health können von einem breiteren soziologischen Blick auf Gesundheit profitieren. Er ermöglicht ihnen einerseits eine breite sozialwissenschaftliche Theoriebasis und andererseits eine Selbstbeobachtung im Sinne einer (selbst-)reflexiven Professionalisierung, was zugleich ihre Handlungsoptionen erhöht. Literatur Badura, B. & Knesebeck, O.v.d. (2012). Soziologische Grundlagen der Gesundheitswissenschaften. In: K. Hurrelmann, & O. Razum (Hrsg.), Handbuch Gesundheitswissenschaften (S. 187-220). Weinheim: Beltz Juventa. Badura, B. & Strodtholz, P. (1998). Soziologische Grundlagen der Gesundheitswissenschaften. In: K. Hurrelmann & U. Laaser (Hrsg.), Handbuch Gesundheitswissenschaften (S. 145-174). Weinheim und München: Juventa Verlag. Bittlingmayer, U. (2016). Strukturorientierte Perspektiven auf Gesundheit und Krankheit. In: M. Richter & K. Hurrelmann (Hrsg.), Soziologie von Gesundheit und Krankheit (S. 23-40). Wiesbaden: Springer VS. Flügel, A. (2012). Public Health und Geschichte. Historischer Kontext, politische und soziale Implikationen der öffentlichen Gesundheitspflege im 19. Jahrhundert. Weinheim und Basel: Beltz Juventa. Gerlinger, T. (2016). Geschichte der Soziologie von Gesundheit und Krankheit. In M. Richter & K. Hurrelmann (Hrsg.), Soziologie von Gesundheit und Krankheit (S. 89-106). Wiesbaden: Springer VS. Graumann, S. & Lindemann, G. (2010). Medizinsoziologie. In: G. Kneer & M. Schroer (Hrsg.), Handbuch Spezielle Soziologien (S. 295-307). Wiesbaden: VS Verlag. Hurrelmann, K. & Richter, M. (2013). Gesundheits- und Medizinsoziologie: Eine Einführung in sozialwissenschaftliche Gesundheitsforschung. Weinheim und Basel: Beltz Juventa. Labisch, A. (1992). Homo Hygienicus. Gesundheit und Medizin in der Neuzeit. Frankfurt a.M. und New York: Campus Verlag Marx, K. (1867/ 1982). Das Kapital. Erster Band. Berlin: Dietz Verlag. ・ Literatur 35 Nassehi, A. (2011). Soziologie. Zehn einführende Vorlesungen. Wiesbaden: VS Verlag. Nettleton, S. (2013). The Sociology of Health and Illness. Third Edition. Cambridge: Polity Press. Neumann, S. (1847). Die öffentliche Gesundheitspflege und das Eigenthum. Kritisches und Positives mit Bezug auf die preußische Medizinalverfassungs-Frage. Berlin: Adolph Rick. Parsons, T. (1958). Struktur und Funktion der modernen Medizin. Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, Sonderheft 3, S. 10-57. Rosa, H., Strecker, D. & Kottmann, A. (2013). Soziologische Theorien. 2., überarb. Aufl. Konstanz und München: UVK/ Lucius. Schwietring, T. (2011). Was ist Gesellschaft? Einführung in soziologische Grundbegriffe. Konstanz: UVK. Straus, R. (1957). The Nature and Status of Medical Sociology. American Sociological Review, Vol. 22, S. 200-202. Virchow, R. (1848). Mittheilungen über die in Oberschlesien herrschende Typhus- Epidemie. Berlin: Verlag von G. Reimer. Virchow, R. (1848a). Der Armenarzt. Medicinische Reform Nr. 18, S. 125. Weidner, T. (2012). Die unpolitische Profession. Deutsche Mediziner im langen 19. Jahrhundert. Frankfurt a.M.: Campus Verlag. Zola, I.K. (1986). Medicine as an institution of social control. In: P. Conrad & R. Kern (Hrsg.), The Sociology of Health and Illness (S. 379-390). New York: St. Martin’s Press. 2 Gesundheit wird zur Wissenschaft Lehrziele In diesem Kapitel erfahren Sie … warum die Wissenschaft von der Gesundheit in Deutschland zweimal eingeführt werden musste; warum wir, wenn von Gesundheit die Rede ist, eigentlich immer über Krankheit sprechen; warum die Steigerung der Lebenserwartung keineswegs nur auf den medizinischen Fortschritt zurückgeführt werden kann; was der Unterschied zwischen pathogenetischem und salutogenetischem Denken und Handeln ist. 2.1 Das Problem mit dem Gesundheitsbegriff Im vorangegangenen Kapitel haben wir betrachtet, welche sozialen Entwicklungen dazu geführt haben, dass die Soziologie als wissenschaftliche Disziplin entstanden ist, und auf welche Weise sie sich auch den Bereichen der Medizin und damit auch den Themen Krankheit und Gesundheit zugewendet hat. In gewissem Sinne war dies eine soziologische Analyse der Entstehung der soziologischen Beschäftigung mit Gesundheit. In diesem Kapitel wird es nun - im Sinne einer Soziologie der Gesundheit - darum gehen zu fragen, wann, warum und wie die Wissenschaft von der Gesundheit bzw. wie die Gesundheitswissenschaften oder moderner noch Public Health entstanden sind. Dabei erweist sich der Rückblick auf die Entwicklung dieser ganz speziellen Wissenschaft, die Gesundheit zu ihrem Gegenstand gemacht hat, als ein nicht ganz einfaches Unterfangen. Das hat vor allem zwei Gründe: 38 Gesundheit wird zur Wissenschaft [1] Wenn wir von Gesundheit sprechen oder in den Gesundheitswissenschaften darüber geforscht wird, dann ist der Gegenstand in aller Regel weniger die Gesundheit selbst, sondern vielmehr jene Bedingungen, die zum Zustand ihrer Abwesenheit geführt haben. Und schauen wir etwas genauer hin, dann ist selbst das, was wir in unserem Sprachgebrauch als ‚Gesundheitssystem‘ bezeichnen, doch eher ein System der Krankenbehandlung (Luhmann 2005), das darum bemüht ist, Gesundheit wiederherzustellen. Und obgleich die Weltgesundheitsorganisation 1946 so vehement dafür einstand, dass Gesundheit doch mehr sein sollte, als nur die Abwesenheit von Krankheit, kommen wir nicht umhin festzustellen, dass sich die modernen Gesundheitswissenschaften im Grunde mehr mit Krankheit und ihrer Bekämpfung beschäftigen, als dass sie bislang ein umfassendes und zugleich tragfähiges Konzept von Gesundheit vorstellen können, in dem Krankheit nicht ständig als der notwendige, erzählerische Referenzwert vorkommt. Keine andere akademische Disziplin leistet sich in ihrer Bezeichnung ein derart kurios anmutendes Paradox: Der modernen akademischen Disziplin der Gesundheitswissenschaften ebenso wie auch ihren historischen Vorgängerinnen ging und geht es streng genommen gar nicht um eine Beschäftigung mit dem Thema Gesundheit, sondern eher um wissenschaftliche Beschreibungen von Krankheiten, um Modelle ihrer Entstehung und um akademische Auseinandersetzungen darüber, wie sich Krankheiten bestmöglich verhindern und behandeln lassen. Damit könnte sich per Definition jede Person, die sich in irgendeiner Weise wissenschaftlich mit irgendeiner Widerherstellung von Gesundheit beschäftigt, im Grunde als Gesundheitswissenschaftlerin bezeichnen. Doch schaut man sich die Begriffe Krankheit und Gesundheit etwas genauer an, dann wird schnell deutlich, dass beide ja nicht etwa das Gleiche, sondern etwas Grundverschiedenes bezeichnen wollen. Was aber genau ist eigentlich Gesundheit? Auf diese Frage gibt es viele Antworten, denen wir uns in diesem Buch immer wieder und insbesondere in → Kap. 8 eingehender zuwenden werden. Bis dahin allerdings müssen wir uns in diesem Kapitel damit begnügen, dass immer dann, wenn im ausgehenden 19. Jahrhundert von Gesundheit oder besser von Hygiene die Rede war, eher eine Sorge um Gesundheit gemeint war, die die Bekämpfung von zumeist lebensbedrohli- Das Problem mit dem Gesundheitsbegriff 39 chen Krankheiten im Sinn hatte. Dieser Blick zurück führt uns zu der zweiten Schwierigkeit, vor der wir stehen, sobald wir danach fragen, wie sich diese Sorge um die Gesundheit zu einer eigenständigen Wissenschaft entwickeln konnte. [2] Beschränken wir uns in unserer historischen Betrachtung nur auf Deutschland, dann fällt auf, dass sich zwei unterschiedliche Zeitpunkte ausmachen lassen, zu denen über Gesundheit und Krankheit mehr als leidenschaftlich und weit über die Grenzen der Medizin hinaus diskutiert wurde. Da haben wir zum einen ungefähr die Zeit zwischen 1875 und 1925, die man heute zurecht als die Gründungsphase gesundheitswissenschaftlichen Denkens bezeichnen könnte. In diesem Zeitabschnitt verzeichnete nicht nur der naturwissenschaftliche Blick auf Krankheit immer größere Erfolge, sondern auch die Frage nach den sozialen Krankheitsursachen i.S. einer Erweiterung des naturwissenschaftlichen Blicks erhielt eine immer größere Bedeutung. In diesem Kontext benutzte Dietrich (1925: 26) in dem von Gottstein et al. (1925) herausgegeben „Handbuch der Sozialen Hygiene und Gesundheitsfürsorge“ das erste Mal den Begriff der ‚Gesundheitswissenschaft‘, der aber von Dietrich damals noch sehr unscharf definiert wurde und sich in der Folgezeit als eigenständiger Begriff noch nicht durchsetzen konnte. Dafür gab es zu dem damaligen Zeitpunkt bereits zu viele eigenständige und seit Langem etablierte akademische Disziplinen, die alle für sich in Anspruch nahmen, nicht allein Krankheiten zu behandeln oder zu verhindern, sondern Krankheitsbekämpfung immer auch als eine Sorge um die Gesundheit der Bevölkerung zu verstehen. Diese historisch gewachsene Betonung des Zusammenhangs zwischen Krankheitsbekämpfung und Gesundheitsfürsorge ist ein wichtiger Grund dafür, dass ‚Gesundheit‘ innerhalb der Gesundheitswissenschaften bis heute kaum als ein eigenständiger Begriff benutzt wird, ohne dabei Krankheit und ihre Bekämpfung in irgendeiner Art und Weise mitthematisieren zu müssen. Der zweite und zugleich wichtigste Zeitpunkt betrifft das Jahr 1989, als die Gesundheitswissenschaften jetzt als eigenständige akademische Disziplin in Deutschland wieder eingeführt wurden und sich dabei an dem internationalen Vorbild des Faches ‚Public Health‘ orientierten. Diese Wiedereinführung war notwendig geworden, weil sich nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges sowohl in West- 40 Gesundheit wird zur Wissenschaft deutschland als auch in der damaligen DDR niemand wirklich traute, an die sozial- und gesundheitspolitischen Ideen der Sozialen Hygiene, wie sie sich bis 1933 entwickelt hatte, wieder anzuknüpfen. Und das hatte einen ganz besonderen Grund, denn im Fahrwasser der Sozialen Hygiene hatte sich nämlich etwa um die Jahrhundertwende eine Denkfigur entwickelt, die sich als „planvolle Eugenik“ bezeichnete. Unter dem Begriff dieser „guten Genetik“ wurde zur damaligen Zeit eine hoch gehandelte, sozialdarwinistische Theorie verstanden, die den Anteil positiv bewerteter Erbanlagen innerhalb einer Bevölkerung zu vergrößern suchte (positive Eugenik) und andererseits den Anteil negativ bewerteter Erbanlagen verringern wollte (negative Eugenik). Insgesamt verfolgten ihre Anhänger damit das Ziel, innerhalb einer Gesellschaft durch eine gezielte ‚Zuchtwahl‘ die menschliche Rasse zu verbessern. Aus heutiger Sicht ist diese Theorie, die seit ihrer Entstehung immer zugleich auch sozialpolitische Ziele verfolgte, mitverantwortlich für die „Menschen verachtende politische Ideologie“ der nationalsozialistischen Rassenhygiene nach 1933 (Hurrelmann et al. 2006: 12). Vor diesem historischen Hintergrund blieb es für die gesundheitspolitischen Akteure der beiden deutschen Staaten nach 1945 zunächst einmal undenkbar, an den Begriff und die Idee der Sozialen Hygiene anzuknüpfen. 2.2 Krankheit wird zur sozialen Frage Da Gesundheit historisch betrachtet zu keinem Zeitpunkt irgendeinen erzählerischen Eigenwert hatte und die systematische Entdeckung und Bekämpfung unterschiedlicher Krankheiten die Sensationen des 19. Jahrhundert waren, geht es im folgenden Abschnitt erst einmal um jene naturwissenschaftlichen Theorien von Krankheit, in die sich die Fragen nach den sozialen Bedingungen allmählich einzumischen begannen. Im historischen Rückblick hatte die Sorge um die Gesundheit einer bestimmten Bevölkerung in Form einer staatlich gelenkten, öffentlichen Gesundheitsfürsorge eine lange Tradition. Medizinhistoriker verweisen darauf, dass sie bereits in der antiken griechischen und römischen Kultur fest verankert war (Labisch & Woelk 2012) und im römischen Staatswesen sogar als allgemeine Vorstellung von der Ordnung und Sicherung der Krankheit wird zur sozialen Frage 41 öffentlichen Gesundheit dokumentiert war. Bemühungen, die sich auf eine eher individuumsbezogene, organisierte Krankenversorgung bezogen, konnten hingegen erst am Ende des Mittelalters für einzelne europäischen Städte und Herrschaftsgebiete nachgewiesen werden. Im deutschsprachigen Raum etablierte sich dann zu Beginn des 18. Jahrhunderts der Begriff der ‚Medicinischen Policey‘, das heißt einer von der Obrigkeit gelenkten, umfassenden Daseinsfürsorge mit weitreichenden Ordnungs- und Kontrollabsichten. Die ‚Medicinische Policey‘ griff einerseits reglementierend in das Gesundheitsverhalten der Bevölkerung ein und regelte auf der anderen Seite aber z.B. auch den Markt für medizinische Dienstleistungen und Medikamente (Flügel 2012). Ende des 18. Jahrhunderts legte der Mediziner Johann Peter Frank bereits ein mehrbändiges Werk mit dem Titel „System einer vollständigen medizinischen Polizey“ (Frank 1784) vor, das u.a. die Mediziner- und Hebammenausbildung regelte, Vorgaben für die Stadtreinigung machte, die Idee einer Krankenhausaufsicht entwarf und sich mit Belangen des Arbeitsschutzes auseinandersetzte. In allen diesen Bereichen versuchte der Staat stets das vorhandene medizinische Know-how - so schwach es auch in Fragen der Krankheitsursachen noch bis weit in die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts entwickelt war - direkt in gesetzliche Vorgaben umzusetzen. Damit wurde die Frage nach einer Krankheit, die sich an dem einzelnen Menschen zeigte und eine individuelle Zuwendung verlangte, immer mehr zu einer Frage, die von öffentlichem Interesse war und die ggf. ein eher paternalistisches, das heißt ein wohlwollendes, aber zugleich autoritäres, staatliches Eingreifen erforderlich machte. Diese neue Art der systematischen paternalistischen Gesundheitsfürsorge richtete sich dabei nicht mehr in erster Linie auf die Gesundheit des einzelnen Menschen, sondern vielmehr auf eine Bevölkerungsgesundheit, die dem Interesse des Staates dienen sollte. Verdeutlichen lässt sich dies z.B. an der Einführung des Gesetzes zur Einschränkung der Kinderarbeit von 1839, die sich auf zweierlei Art und Weise interpretieren lässt: Man kann dieses Gesetz einerseits als Folge der vehementen ärztlichen Kritik interpretieren, die immer wieder darauf hingewiesen hatte, dass die schlechte gesundheitliche Konstitution der Kinder und ihre geringe Lebenserwartung unmittelbar mit der harten Arbeit in Bergwerken und Fabriken zusammenhing. Andererseits deutet vieles darauf hin, dass eher die recht pragmatischen Passagen des „Landwehrgeschäftsberichts“ von 42 Gesundheit wird zur Wissenschaft 1828 für die Einführung des Gesetzes zur Einschränkung der Kinderarbeit ausschlaggebend waren. Der Landwehrgeschäftsbericht beklagte nämlich den erbärmlichen körperlichen Zustand der jungen Männer, die als Rekruten für den Kriegsdienst eingezogen werden sollten. Somit ging es dem preußischen Staat damals weniger um eine vom Humanismus bewegte Einsicht in die Notwendigkeit, die heranwachsenden Kinder vor der Industriearbeit zu schützen, als vielmehr darum, die Wehrfähigkeit des Staates sicherzustellen. Neben der Kinderarbeit im Besonderen geriet zugleich aber auch die Industriearbeit im Allgemeinen immer mehr in den Verdacht, mit der Gesundheit der Arbeiterinnen und Arbeiter eher fahrlässig als fürsorglich umzugehen. War diese Kausalität erst einmal angesprochen, dann war es nur noch ein kleiner Schritt, auch die Wohnsituation der Arbeiterinnen und Arbeiter in den Blick zu nehmen. Während sich die Industrialisierung in Deutschland im 19. Jahrhundert gerade erst zu entwickeln begann, berichtete Friedrich Engels bereits Mitte des 19. Jahrhunderts über die katastrophalen Lebensbedingungen der arbeitenden Klasse in England (Engels 1845). In England hatte die frühkapitalistische Entwicklung zu dieser Zeit gerade ihren Höhepunkt erreicht und zeigte dramatische Auswirkungen auf die Lebenserwartung und die Gesundheit insbesondere der Menschen, die damals den niedrigsten sozioökonomischen Status innehatten. Engels äußerte dabei die Vermutung, dass die Krankheitslast und die geringe Lebenserwartung der Arbeiter u.U. direkt etwas mit den unhygienischen Lebensbedingungen zu tun haben könnte. In dieselbe Richtung gingen auch die Vorwürfe, die der deutsche Mediziner Rudolph Virchow 1848 gegen den Staat erhob, den er für eben jene menschenunwürdigen Lebensbedingungen mitverantwortlich machte, die die Krankheiten überhaupt erst entstehen ließen. Dabei war es für Virchow selbstverständlich, dass gerade Mediziner für die neue revolutionäre Idee demokratischen Denkens und damit für die ‚sociale‘ Sache eintreten müssten. Für Virchow war Medizin, wie wir bereits in → Kap. 1 ausgeführt haben, in erster Linie „eine sociale Wissenschaft“ und Politik „nichts anderes als Medicin im Grossen“ (Virchow 1848a: 125). An dieser Stelle war die Idee der ‚Sozialen Frage‘ und ihr Einfluss auf das Krankheitsgeschehen das erste Mal in der Medizin direkt angesprochen worden: Und für Virchow stand dabei nicht irgendetwas, sondern die „europäische Civilisation“ selbst auf dem Spiel. Seine Untersuchungen der Typhus- Krankheit wird zur sozialen Frage 43 Epidemie in Oberschlesien hatten ihn zu einer wichtigen Erkenntnis gebracht: „Aller Wahrscheinlichkeit nach sind es die localen Verhältnisse der Gesellschaft, welche die Form der Krankheit bestimmen, und wir können bis jetzt als ein ziemlich allgemeines Resultat hinstellen, dass die einfache Form umso häufiger ist, je armseliger und einseitiger die Nahrungsmittel und je schlechter die Wohnungen sind“ (Virchow 1848d: 108). Für Virchow hörte ein Staat auf, rechtlich Staat zu sein, wenn er zuließ, „dass Menschen unter so elenden Verhältnissen leben mussten, wie die oberschlesischen Weber“ (Virchow zit. n. Bleker 1994: 167). Nur eine freie Demokratie konnte seiner Meinung nach einen Ausweg aus dieser unhaltbaren Situation bieten. In diesem Zusammenhang wollte Virchow auch die Beziehung zwischen Staat und Medizin neu organisiert wissen: Mediziner sollten nicht länger nur die medicinal-polizeilichen Handlanger des Staates sein. Virchow forderte eine „öffentliche Gesundheitspflege“, die eine radikale Veränderung in der „Anschauung von dem Verhältniss zwischen Staat und Medicin“ einleiten sollte (Virchow 1848b: 21). Den neuen, demokratischen Staat sah Virchow als eine „solidarisch verpflichtete, sittliche Einheit aller gleich Berechtigten“, die alle eine „Berechtigung auf eine gesundheitsgemäße Existenz“ haben sollten (Virchow 1848c: 37). Auch wenn die Revolution von 1848, für die sich auch Virchow engagiert hatte, scheiterte und er um seiner Karriere willen gebeten wurde, von solch staatsfeindlichen Agitationen doch besser Abstand zu nehmen, so konnte sich doch von da ab auch die Medizin der Frage nach den sozialen Bedingungen von Gesundheit und Krankheit nicht länger verschließen. In ganz Europa begannen Mediziner Daten zu sammeln, die zumindest statistische Zusammenhänge zwischen bestimmten Bedingungen in der Umwelt der Menschen und der Ausbreitung von Krankheiten aufzeigen konnten. Damit gehörte die statistische Arbeitsweise zu den ersten wissenschaftlichen Methoden, die sowohl die Epidemiologie als ein wesentliches Teilgebiet medizinischen Denkens etablierten als auch von Beginn an gesundheitswissenschaftliches Denken stets als eine interdisziplinäre Aufgabe verstanden. Dabei war es für die Methode der Statistik erst einmal unerheblich, dass bis weit in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts für viele Krankheiten wie z.B. die Cholera oder die 44 Gesundheit wird zur Wissenschaft Tuberkulose weiterhin jene ätiologischen Modelle fehlten, die die biologischen Mechanismen der Krankheitsentstehung im Detail erklären konnten. Unabhängig davon gelang es dem Chemiker und Mediziner Max von Pettenkofer 1865, den ersten deutschen Lehrstuhl für das Fach „Hygiene“ in München zu besetzen. Und wenn man nach einer Geburtsstunde für die akademische Beschäftigung mit Gesundheit sucht, könnte man durchaus auf die Einrichtung dieses Lehrstuhls verweisen. Entgegen unserem heutigen, alltagssprachlichen Verständnis von Hygiene als einem übermäßigen Streben nach Sauberkeit und Sterilität, hatte die damals neu gegründete, medizinische Hygiene (gr. hygieiné) ihrer etymologischen Bedeutung nach eher „Techniken zum Erhalt der Gesundheit“ im Blick. Unter Max von Pettenkofer entwickelte sich so eine medizinische Wissenschaft eben jener materiellen Umweltbedingungen, die für die Gesunderhaltung des Menschen wesentlich waren. Dies schloss die Wasser- und Abwasserversorgung ebenso ein, wie Maßnahmen zur Stadtreinigung und die Formulierung von Vorschriften für die Verarbeitung von Tieren in den Schlachthöfen. Allerdings war damit die soziale Frage mit ihrem damals starken gesellschaftspolitischen Anspruch auf die Gestaltung einer Gesellschaft, in der - wie Rudolph Virchow es formulierte - alle Menschen eine Berechtigung auf eine gesundheitsgemäße Existenz haben sollten, nur indirekt angesprochen. Die medizinische Hygiene wendete sich also vornehmlich der materiellen, sichtbaren Umwelt des Menschen zu, die es mit naturwissenschaftlichen Methoden zu identifizieren, zu berechnen und zu verändern galt. Für die Entwicklung einer Krankheitstheorie, die sich mit den direkten biologischen Wirkmechanismen im Körper beschäftigte, war dann das Jahr 1882 ausschlaggebend. Mit der Entdeckung von Bakterien als Verursacher von Krankheiten begründete Robert Koch nicht nur die Bakteriologie als eine neue Krankheitslehre, sondern die Bakteriologie verhalf auch genau jenem technischen Fortschritt zu einem enormen Aufschwung, der innerhalb der Optik und in der Chemie die Entdeckung von Bakterien überhaupt erst möglich machte (im Detail dazu Sarasin et al. 2007). Damit erschien einigen Medizinern die Bakteriologie damals als das neue, alles erklärende Ätiologiemodell, weil damit Ursache und Wirkung so einleuchtend monokausal aufeinander bezogen werden konnten. Der enorme Erfolg dieser Theorie lag praktisch auf der Hand: Die tradi- Krankheit wird zur sozialen Frage 45 tionelle Krankheitslehre hatte es bis zum Beginn des 19. Jahrhundert zwar geschafft, sich aus religiösen und mythologischen Verstrickungen zu befreien, indem sie den Menschen nicht länger als ohnmächtiges (von Gott, Schicksal oder Zauberei gelenktes), sondern handlungsfähiges Wesen beschrieb, das seine materielle Umwelt zu seinem gesundheitlichen Vorteil verändern konnte. Dennoch fehlten vor allem für die im 19. Jahrhundert vorherrschenden Infektionskrankheiten Modelle, die die Entstehung und Ausbreitung dieser Krankheiten biologisch plausibel erklären konnten. Dies war in der Tat erst mit der Verbesserung der technischen Mittel möglich, die in der Lage waren, jene „kleinsten Teilchen“ zu identifizieren, die bereits lange vor 1882 als Krankheitsverursacher vermutet worden waren. So sehr die junge Bakteriologie nach 1882 aber auch der Medizin in Deutschland zu einem enormen Zuwachs an Ansehen und Popularität verhalf und ihr damit in ihrem Wettkampf um gesellschaftliche Macht und Anerkennung einen bedeutenden Vorteil verschaffte, so sehr wiesen die Kritiker bereits damals schon auf die beschränkte Reichweite dieses Ansatzes hin. Der eindeutige, monokausale Zusammenhang zwischen Ursache und Wirkung galt nämlich nicht für alle Erkrankungen gleichermaßen und er konnte nicht erklären, warum nicht alle Menschen von ein und derselben Infektionskrankheit gleichermaßen und in gleichem Ausmaß betroffen waren. Bereits 1865 hatten Uhle & Wagner (1865) in ihrem Handbuch der allgemeinen Pathologie auf einen umfassenderen Kausalbegriff hingewiesen: „Für sehr wenige Krankheiten können wir aber eine einzelne Einwirkung anführen, welche dieselben mit Notwendigkeit hervorbrächte […]. Was wir von den ursächlichen Verhältnissen der inneren Krankheiten wissen, bezieht sich größtenteils nicht auf Ursachen im strengen Sinn der Logik […], welche allein jederzeit die und die Wirkung hervorbringen müssen, sondern auf komplexe Verhältnisse, unter deren Einfluss manchmal, bald sehr häufig, bald seltener gewisse Krankheiten zum Ausbruch kommen“ (Uhle & Wagner 1865: 62f). Dieses Zitat ist insofern bemerkenswert, weil es gleich zwei Sachverhalte in sich vereint, die bis heute für ein modernes, gesundheitswissenschaftliches Verständnis von Gesundheit und Krankheit grundlegend geblieben sind. Zum einen wurde hier bereits mit dem Begriff der „komplexen Verhältnisse“ gearbeitet und zum anderen ist das, was diese komplexen 46 Gesundheit wird zur Wissenschaft Verhältnisse bewirken, im statistischen Sinne nicht einfach vorhersagbar, sondern eben nur mehr oder weniger wahrscheinlich. Der enorme Aufschwung der Bakteriologie verlor dagegen etwa um die Jahrhundertwende immer mehr an Bedeutung. Dies lag vor allem auch daran, dass die monokausalen Theorien der Bakteriologie den damals offenkundigen Unterschied in der Erkrankungshäufigkeit der unterschiedlichen sozialen Schichten nicht erklären konnten. Immer häufiger konnten medizinische Statistiken belegen, dass Menschen mit niedrigem Einkommen oder Menschen in ärmeren Wohngegenden von den vorherrschenden Infektionskrankheiten bis zu fünfmal häufiger betroffen waren als die wohlhabenderen Schichten. Damit hatte sich die soziale Frage Rudoph Virchows am Ende des 19. Jahrhunderts immer mehr zu einer Frage entwickelt, die jetzt ganz direkt nach den nicht sichtbaren, sozialen Bedingungen fragte, die für diese höhere Krankheitslast der ärmeren Bevölkerungsschicht verantwortlich sein sollte. Wir hatten im ersten Kapitel beschrieben, dass die Gründung des akademischen Fachs der Soziologie ebenfalls in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts stattfand und ihre Theorieentwicklung maßgeblich dazu beigetragen hat, dass sich jetzt neben der medizinischen Hygiene die Idee einer Sozialen Hygiene entwickelte, die Dietrich 1925 aus der Rückschau folgendermaßen beschrieb: „Je mehr erkannt wurde, welche schwerwiegenden Einflüsse die sozialen Verhältnisse auf die öffentliche Gesundheit und damit auch auf die Volkswirtschaft ausüben, umso mehr bildete sich aus der Gesundheitswissenschaft, der Hygiene, und aus der Wissenschaft der Volkswirtschaft eine Arbeitsgemeinschaft, ein neues Fach, die soziale Hygiene, heraus, die den schädlichen Einwirkungen der sozialen Einflüsse auf die Volksgesundheit nachzugehen suchte und sie zum Gegenstand ihrer besonderen Arbeit und Forschung machte“ (Dietrich 1925: 401). Einen ausgezeichneten Überblick über den Stand der damals sehr lebhaften Diskussion zum Verhältnis von „Krankheit und Sozialer Lage“ bietet das Werk von Mosse & Tugendreich, die 1913 die Geschichte eines Theorienstreits nachzeichneten, der letztendlich auch Public Health als Wissenschaft mit hervorgebracht hatte (Mosse & Tugendreich 1913). Dabei legten Mosse & Tugendreich empirische Belege für den Einfluss der Schicht auf das Mortalitätsgeschehen in ausreichender Zahl in Form von Statistiken vor und hielten die Beweislast für den Zusammenhang Krankheit wird zur sozialen Frage 47 von Krankheit, Mortalität und sozialer Lage damals für so erdrückend, dass sie ihre Einleitung mit einem für die damalige Zeit erstaunlichem Appell beschlossen: „Der Nachweis der engen Beziehung zwischen Armut und Krankheit bedeutet eine schwere Anklage gegen die Kultur, gegen die Gesellschaft. Die Armut verurteilt den größten Teil der zivilisierten Menschheit zu einer unhygienischen Lebensweise mit ihren tödlichen Folgen. Das ist jetzt eine gesicherte, klare Erkenntnis. […] Heute ist dieser Zusammenhang dem Sozialpolitiker, dem Volkswirt, dem Arzt geläufig. Diese Erkenntnis legt der Gesellschaft grosse und ernste Pflichten auf. Das Ziel ist, auch dem Armen ein hygienisch befriedigendes Dasein zu verschaffen und so die gewaltigen Unterschiede allmählich auszugleichen, welche die Lebenserwartung des Reichen und des Armen trennen“ (Mosse & Tugendreich 1913: 21). Der Ausgleich der gewaltigen Unterschiede in den Lebenserwartungen sollte zu einem interdisziplinären Projekt werden. Allerdings war 1913 bereits eine andere Theorie auf dem Vormarsch, die ebenfalls um die Jahrhundertwende in aller Ernsthaftigkeit nicht nur in akademischen Kreisen diskutiert wurde. Mosse und Tugendreich versuchten noch in ihrer Einleitung klarzustellen, dass sie mit dieser neu aufkommenden ‚Eugenik‘ nichts gemein hatten. Doch erlaubten sie einem der wichtigsten Vertreter dieser ‚planvollen Fortpflanzungslehre‘ einen Beitrag am Ende ihres Buches zu veröffentlichen. Die Eugeniker sahen in der Idee einer sozialen Fürsorge, die Menschen mit niedrigem sozioökonomischem Status aus ihrer Armut heraus und zu einem besseren hygienischen Dasein verhelfen wollte, einen ungerechtfertigten Eingriff in die sogenannte ‚natürliche‘ Konstitutionsvererbung, die ohne diesen Eingriff den „kranke[n] und schwache[n] Erbanlagen eine[n] frühzeitigen Tod ihrer Träger“ ermöglicht hätte (Schallmayer 1913). Ein solches Verständnis von Gesundheit und Krankheit brachte eine ganz andere Art von theoretischer Debatte auf den Plan, die nichts mehr gemein hatte mit Virchows Idee von ‚gleich Berechtigten‘, die das gleiche Recht auf Zugang zu einer gesundheitsgemäßen Existenz besitzen sollten. Denn genau das Gegenteil traf ein, als rund 20 Jahre später diese Art der menschenverachtenden ‚politischen Medizin im Großen‘ dazu beitrug, dass mehrere Millionen Menschen - teilweise auch im Namen der Medizin - auf grausame Weise ermordet wurden. 48 Gesundheit wird zur Wissenschaft Dabei wird in der modernen gesundheitswissenschaftlichen Erzähltradition häufig davon gesprochen, dass sich erst nach 1933 durch die Nationalsozialisten aus der Sozialhygiene die Idee der Rassenhygiene entwickelt hätte. Das trifft möglicherweise für den Begriff der Rassenhygiene selbst zu. Schaut man sich die Veröffentlichungen der Eugeniker aber etwas genauer an, dann ist die Idee der Rassenhygiene in Deutschland von einer nicht unbedeutenden Anzahl von Medizinern bereits seit dem Beginn des 20. Jahrhunderts ideologisch durch unzählige Veröffentlichungen vorangetrieben worden. Die Mediziner taten dies mit einem enormen Selbstbewusstsein, denn bis zum Ende des 19. Jahrhunderts hatte sich die Medizin bereits zu einer privilegierten Leitfigur des deutschen Bildungsbürgertums entwickelt. Der Medizinhistoriker Richard Toellner erinnert in einem Aufsatz von 1988 daran, wie diese damals „elitäre, nationale und imperiale Gesinnung der deutschen Medizin“ (Toellner 1988: 195) ihren wissenschaftlichen Führungsanspruch durch Männer wie Theodor Billroth in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts geistig vorbereitete: „Die Bildung ist immer etwas Aristokratisches; der Arzt, der Schullehrer, der Richter, der Geistliche, sie sollen die ἄριστοι [gr. die Besten, d.A.] ihres Dorfes, ihrer Stadt, des Menschenkreises überhaupt sein […]. Ich meine also, die höchst mögliche wissenschaftliche Ausbildung des Arztes ist eine wichtige nationale Culturfrage“ (Billroth 1876: 64). Billroth ließ damals keinen Zweifel daran, dass der Fortschritt der medizinischen Wissenschaften seine Quelle und seine Triebkraft vorwiegend in den Naturwissenschaften zu suchen habe (ebenda S. 67). Für ihn bedeutete medizinische Forschung Wahrheitssuche, so sehr diese auch „in Conflict mit unseren sozialen, ethischen und politischen Verhältnissen kommen“ (ebenda S. 364). Für Toellner hingegen ist der Aufstieg der Ärzte am Ende des 19. Jahrhunderts von einem gelehrten Stand hin zu autonomen, professionellen Experten eng verbunden mit dem Verlust jeglicher Kontrolle durch die sogenannten Laien. Eine weitere zentrale Rolle spielte in diesem Kontext der Mediziner und einstige Mitbegründer der Sozialhygiene, Alfred Grotjahn, der sich zu einem der wortstärksten Verfechter „eine[r] planvolle Eugenik“ (Grotjahn 1926: 90) entwickelte: Krankheit wird zur sozialen Frage 49 „Was nützt auf die Dauer jede individuelle und soziale Hygiene, was alles hygienisch einwandfreie persönliche Verhalten und die Assanierung der Wohnplätze, wenn die Bevölkerung als Ganzes sich vermindert und zugleich verschlechtert. Nur die stete Berücksichtigung der eugenischen Belange bei allen sozialhygienischen Bestrebungen kann die kulturell führenden Völker vor einer allmählich fortschreitenden Entartung des physischen Substrats ihrer Kultur bewahren. Soziale Hygiene kann und darf nicht ohne die engste Verbindung mit praktischer Eugenik betrieben werden“ (Grotjahn 1926: 90). Das Distinktionsbestreben der Medizin, das fünfzig Jahre zuvor noch bei Billroth den Stand der Mediziner an die Spitze der bürgerlichen Gesellschaft bringen sollte, bekommt bei Grotjahn eine ganz andere Intension: Für ihn sollte die Medizin dem Staat durch die Eugenik dabei helfen, sein Distinktionsbemühen um den Rang eines führenden Kulturvolks aktiv zu unterstützen. Diese Absichten wurden durch eine Theorie der medizinischen Krankheitslehre im ausgehenden 19. Jahrhundert begünstigt, die einem naturwissenschaftlichen Wahrheitsanspruch folgte und den menschlichen Körper ohne jeden lebendigen Eigensinn konzipierte. Diese ‚Ver-Objektivierung‘ des Lebendigen als wissenschaftliches Programm machte es u.a. möglich, die vermeintlich ‚objektive‘ Erkenntnis der Evolutionsbiologie für das ‚höhere‘ Ziel der eugenischen Rassenhygiene zu verwenden. Der individuell einzigartige und lebendige Mensch selbst war den Eugenikern dabei aber irgendwie immer im Wege. Der französische Chirurg René Leriche brachte 1936 diese Haltung stellvertretend für die gesamten hundert Jahre vorausgegangener Medizingeschichte auf den Punkt: „Will man die Krankheit definieren, muss man den Menschen aus ihr verbannen. […] Bei der Krankheit ist der Mensch im Grunde das Unwichtigste“ (Leriche 1936: 22). Krankheiten zeigten sich für die Medizin an biologisch identifizierbaren Merkmalen, die mechanistisch und funktional erklärbar waren. Dabei war das Vertrauen in dieses biomedizinische Denken zu Beginn des vergangenen Jahrhunderts so groß, dass alternative Denkfiguren, die z.B. auf psychologische oder soziale Kausalmodelle oder gar auf eine Kombination aus biologischen, psychologischen und sozialen Faktoren (Engel 50 Gesundheit wird zur Wissenschaft 1977) setzten, vom Medizinsystem bis zum Ende des 20. Jahrhunderts systematisch diskreditiert wurden. 2.3 Die ‚Wieder‘-Einführung der Gesundheitswissenschaften Folgt man den Ausführungen der Politikwissenschaftlerin Ilona Kickbusch, dann war die (Wieder-)Einführung der akademischen Disziplin der Gesundheitswissenschaften an deutschen Hochschulen im Jahre 1989 die Folge einer ‚dritten Gesundheitsrevolution‘ (Kickbusch 2006 & Hartung 2014), der zwei andere vorausgegangen waren. Die erste Gesundheitsrevolution ereignete sich nach Kickbusch etwa zu der Zeit, als viele europäische Staaten am Ende des 19. und zu Beginn der 20. Jahrhunderts versuchten, durch „solidarische Finanzierungssysteme den Zugang zur medizinischen Versorgung“ zu sichern (Kickbusch & Hartung 2014). Diesem Bestreben war die Verbesserung der staatlich organisierten Trink- und Abwasserversorgung, die Etablierung umfassender Arbeitsschutzgesetzte und die Einführung der allgemeinen Schulpflicht vorausgegangen. Die ‚zweite Gesundheitsrevolution‘, die um die Mitte des 20. Jahrhunderts Raum griff, umfasste nach Kickbusch die Einrichtung und Etablierung eines umfassenden medizinischen Versorgungssystems sowie die Ausweitung der Sozialversicherung, das heißt der Absicherung des „Einzelnen bei Krankheit, Invalidität und Alter“ (Kickbusch & Hartung 2014), auf nahezu alle Bevölkerungsgruppen: Es etablierte sich ein umfassendes staatliches Wohlfahrtssystem. Seit den 80er-Jahren des 20. Jahrhunderts vollziehe sich nun die ‚dritte Gesundheitsrevolution‘, bei der die Förderung der Gesundheit in den vielfältigen Lebenswelten des modernen Alltags im Zentrum stehe. Die - um im Duktus von Kickbusch zu bleiben - ‚revolutionären Subjekte‘ sind dabei nicht mehr (in erster Linie) die Mediziner, sondern die Vertreterinnen einer neuen multidisziplinären und anwendungsbezogenen Gesundheitswissenschaft oder (New) Public Health, die nicht mehr nach Art der Medizin ‚kranke‘ Individuen in den Blick nehmen, sondern die sich in gesundheitsfördernder Absicht auf Bevölkerungsgruppen, das Gesundheitssystem oder seine Teile konzentrieren. Die ‚Wieder‘-Einführung der Gesundheitswissenschaften 51 Diese ‚dritte Gesundheitsrevolution‘ war das Ergebnis mehrerer gesellschaftlicher Entwicklungen, die im Folgenden kurz nachgezeichnet werden sollen: Erstens änderte sich das Krankheitsspektrum (→ 2.2.1), zweitens geriet das biomedizinische Denken zunehmend in die Kritik, weil eine selbstbewusst auftretende Nachkriegsgeneration kritische Fragen an die Gesellschaft und damit auch an das Medizinsystem stellte (→ 2.2.2), und drittens drängte schließlich die Weltgesundheitsorganisation auf das neue Paradigma der ‚Gesundheitsförderung‘ (→ 2.2.3). 2.3.1 Das Krankheitsspektrum ändert sich Die auffälligste Veränderung, die im Verlauf des 20. Jahrhunderts in Sachen Gesundheit und Krankheit zu beobachten war, bezieht sich auf den deutlichen Rückgang der Infektionskrankheiten in den westlichen Industrienationen und damit auch auf die Todesfälle, denen Infektionskrankheiten vorausgingen. Die → Abb. 1 zeigt die Sterblichkeit an Infektionskrankheiten (gestrichelte Linie) und an chronischen Krankheiten (graue Linie) jeweils bezogen auf 100.000 Einwohner. Abb. 1: Sterblichkeitsrate pro 100.000 Einwohner in den USA; Infektionskrankheiten (gestrichelte Linie) chronische Krankheiten (graue Linie) nach Dever 1991: 8. Wie man sieht, fällt die Zahl der Infektionskrankheiten kontinuierlich ab (abgesehen von einem kurzen, heftigen Anstieg zur Zeit des Ersten 1900 1920 1940 1960 1980 2000 200 400 600 800 1000 Sterblichkeitsrate/ 100.000 Einwohner Jahr 52 Gesundheit wird zur Wissenschaft Weltkrieges), während die Zahl der so genannten Zivilisationskrankheiten kontinuierlich ansteigt. Fragt man danach, wie es zu diesem kontinuierlichen Abfall der Infektionskrankheiten gekommen ist, so liegt es nahe, dies dem medizinischen Fortschritt und insbesondere der Entdeckung des Tuberkel-Bazillus durch Robert Koch im Jahre 1882 zuzuschreiben. Aber auch wenn diese Darstellung naheliegt und auch heute noch gerne erzählt wird, so handelt es sich doch nach Ansicht z.B. von Rolf Rosenbrock (2010) um einen „Mythos“, mit dem eine naturwissenschaftliche Entwicklung in eine erfolgreiche Fortschrittsgeschichte verwandelt wird (Hagner 2001). Denn bei näherer Betrachtung kann die Medizin nicht wirklich als Urheberin des aufgezeigten Rückgangs ausgemacht werden. So hat Thomas McKeown in seinem 1979 erschienenen Buch „The Role of Medicine. Dream, Mirage, or Nemesis? “ sehr anschaulich gezeigt, dass der kontinuierliche Rückgang der Sterblichkeit für Tuberkulose in England und Wales seit den ersten Aufzeichnungen von 1838 bereits eingesetzt hatte, also lange bevor Robert Koch 1882 den Erreger der Tuberkulose identifizieren konnte (→ Abb. 2). Abb. 2: Tuberkulose-Todesfälle pro 1 Millionen Einwohner in England und Wales 1838-1970, n. McKeown 1979: 93. 1838 1860 1880 1900 1920 1960 500 1000 2000 3000 3500 Death-rate (per Million) Year 1500 2500 4000 1940 Tubercle bacillus identified Chemotherapy BCG Vaccination Die ‚Wieder‘-Einführung der Gesundheitswissenschaften 53 Effektive klinische Interventionen, so McKeown (1979: 95), seien erst spät in der Geschichte dieser Erkrankung entwickelt worden, wobei aber ihre Effekte über den gesamten Zeitraum des Rückganges dieser Erkrankung im Vergleich zu anderen Einflüssen gering gewesen seien. Mit diesen anderen Einflüssen waren genau diejenigen gemeint, die das biomedizinische Krankheitsmodell im 20. Jahrhundert so vehement bestritt: eine Reihe von biologischen, psychologischen und sozialen Faktoren, die erst durch ihre komplexen Wechselwirkungen miteinander im Verlauf des 19. Jahrhunderts zu dem Rückgang der Infektionskrankheiten geführt haben. Dabei spielte die Verbesserung jener hygienischen Bedingungen, die Friedrich Engels in seinem Werk von 1845 angeprangert hatte, durchaus eine mitentscheidende Rolle. Allerdings wird heute neben den hygienischen Bedingungen vor allem auch die allgemeine Verbesserung der Qualität der Lebensbedingungen insgesamt als ausschlaggebend dafür angesehen, ob Infektionskrankheiten überhaupt die Chance auf eine epidemische Ausbreitung besitzen. Es waren also wesentlich komplexere Modelle der Entstehung von Gesundheit und Krankheit notwendig, und das vor allem auch deshalb, weil sich in den westlichen Industrienationen innerhalb des 20. Jahrhunderts das gesamte Krankheitsgeschehen grundlegend änderte und die vorherrschenden sogenannten Zivilisationskrankheiten mit den biomedizinischen Modellen allein nicht mehr hinreichend erklärt werden konnten. Zudem musste mit dem Aufkommen dieser Zivilisations- oder ‚Wohlstandskrankheiten‘ auch neu verhandelt werden, was im Zusammenhang mit diesen neuen, chronischen Erkrankungen überhaupt als ‚gesund‘ oder ‚krank‘ bezeichnet werden sollte. Vor allem aber fügten sich diese chronischen Erkrankungen so ganz und gar nicht in die Erzählweise des Erfolgsprojekts der Moderne ein: Bei näherer Betrachtung musste man sich nämlich eingestehen, dass Herz-Kreislauf- und Krebserkrankungen in den so genannten ‚Entwicklungsländern‘ nicht nur deutlich seltener vorkommen, sondern beide Erkrankungsformen in den meisten Fällen sogar direkt etwas mit der Lebensweise der ‚entwickelten‘ Länder zu tun haben. 2.3.2 Die Kritik des biomedizinischen Denkens Aus diesem neuen Nachdenken über Gesundheit und Krankheit heraus, das sich nach dem Zweiten Weltkrieg erst allmählich unter der Federfüh- 54 Gesundheit wird zur Wissenschaft rung der WHO etablierte, entstand etwa seit Ende der 1960er-Jahren eine ‚Gesundheitsbewegung‘, die Teil einer breiteren Politisierung gesellschaftlicher Probleme (z.B. durch die Studentenbewegung, Frauenbewegung oder Friedensbewegung) war. In diesem Kontext ging es allgemein und umfassend um den Abbau von Hierarchien, um Demokratisierung, um die Gleichstellung der Frau, um die Kritik an der Leistungsgesellschaft und an der Entmündigung durch Experten usw. Diese und ähnliche Kritik- und Diskussionspunkte wurden auch auf das biomedizinische Denken im Besonderen und das Medizinsystem im Allgemeinen bezogen: Dabei stellte man nicht nur den medizinischtechnischen Fortschritt infrage, sondern entdeckte in weiten Teilen des öffentlichen und privaten Lebens Formen von Diskriminierungen und Bevormundungen, die bis hin zur Exklusion von besonders vulnerablen Personengruppen gingen. Auch der Arzt als alleiniger Experte für das, was die Kranken als Individuen unmittelbar anging und sie durch die Zuschreibungen des Medizinsystems zum Objekt der medizinischen Behandlung machte, wurde das erste Mal grundlegend infrage gestellt. Auch forderte man mehr Mitsprache der Patienteninnen und Patienten in Behandlungsfragen: Die ‚geduldige‘ Patientin (engl.: patient) sollte nicht länger passive Leistungsempfängerin in einem System der Krankenversorgung sein, das ihr eine Rolle zuwies, die sie nur allzu leicht zu einer obrigkeitshörigen Befehlsempfängerin machte wollte. Zudem sah sich das Medizinsystem aufgefordert zu erklären, warum sozialmedizinische Themen, die im ausgehenden 19. Jahrhundert unter der Bezeichnung der Sozialhygiene einen enorm wichtigen Raum innerhalb der gesundheitswissenschaftlichen Debatte in Deutschland eingenommen hatten, nach dem Zweiten Weltkrieg eine nur noch marginale Rolle in der Ausbildung der Mediziner einnahmen. Zwar hatte die Bundesministerin für das Gesundheitswesen, Elisabeth Schwarzhaupt, 1963 in ihrem Vorwort zu einem ersten, umfassenden sozialepidemiologischen Statistikband geschrieben: „Zwischen Mensch, Krankheit und Umwelt bestehen vielfache Wechselwirkungen soziologischer Art“ (Schwarzhaupt 1963: 3). Aber die ehemals heftigen Diskussionen um die gesellschaftlichen Ursachen sozial bedingter gesundheitlicher Ungleichheit vom Beginn des Jahrhunderts (s. dazu Mosse & Tugendreich 1913) wurden erst durch die Veröffentlichung „Krankheit und soziale Lage“ von Heinz-Harald Abholz (1976) wieder ins Gespräch gebracht. Insgesamt Die ‚Wieder‘-Einführung der Gesundheitswissenschaften 55 kann man sagen, dass das Ausblenden der sozialen Einflüsse und Verhältnisse aus den theoretischen Überlegungen der Medizin in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts immer mehr in die Kritik geriet. Daher forderte Georg L. Engel (1977) ein grundlegendes Umdenken ein, und zwar hin zur einem biopsychosozialen Krankheitsmodel: „The dominant model of disease today is biomedical, and it leaves no room within this framework for the social, psychological, and behavioral dimensions of illness. A biopsychosocial model is proposed that provides a blueprint for research, a framework for teaching, and a design for action in the real world of health care” (Engel 1977: 135). Aus diesen Entwicklungen und Debatten entstanden in der Folge die prominenten Konzepte der Prävention und Gesundheitsförderung, und zu guter Letzt wurde weltweit auch die alte Diskussion um den Zusammenhang von sozialer und gesundheitlicher Ungleichheit wieder aufgenommen. Neu hinzugekommen ist dann aber auch noch eine ganz andere Frage, die so bislang niemand gestellt hatte, und die letztendlich auch die oben angesprochene, eklatante Theorielosigkeit von Gesundheitswissenschaften und Public Health offenlegte: Warum können wir über Gesundheit immer nur so sprechen, als ob Krankheit der dafür entscheidende, erzählerische Referenzwert ist? Dahinter verbarg sich zwar indirekt auch der Vorwurf an das Medizinsystem, im Laufe von 150 Jahren eine enorme Diskurs- und Definitionsmacht über Krankheiten und ihr Zustandekommen an sich gerissen zu haben. Doch ging diese neue Art, explizit nach Gesundheit zu fragen, weit über diesen Vorwurf hinaus. Denn wie wirkmächtig und dominierend Krankheitsdiskurse sein können, gerade wenn eigentlich von Gesundheit die Rede sein sollte, können wir uns leicht vor Augen führen, wenn wir uns bewusst machen, wie schwer es uns fällt, auf die Frage nach unserer Gesundheit eben nicht mit Erzählungen über Krankheit aufzuwarten. Krankheiten und ihre manchmal recht eigentümlich anmutenden Heilungen erscheinen uns als die Sensationen, die sich unserem Erzählen förmlich von alleine aufdrängen. Dabei wird jedweder Gesundheitsdiskurs von Krankheitserzählungen förmlich ‚unterlaufen‘, sodass Gesundheit als eigenständiger Begriff ohne Krankheitsbezug gar nicht oder nur unzureichend gedacht werden kann. Krankheitsdiskurse 56 Gesundheit wird zur Wissenschaft lassen sich eben einfach besser ‚verkaufen‘, denn sie haben den Nimbus des Bedrohlichen, das heldenhaft überwunden wird: Derjenige, der von Krankheit zu erzählen weiß, erweckt manchmal zumindest den Anschein, als könne er diese undurchschaubare Bedrohung wenigstens für den Augenblick des Erzählens durch seine Worte bändigen. Über Gesundheit lässt sich dagegen nichts Sensationelles erzählen, sie drängt sich nicht auf, und sie kommt uns manches Mal vor wie ein „Leben im Schweigen der Organe“ (Leriche 1936: 16). Niklas Luhmann stellte fest, dass dieses Schweigen der Organe für Medizinerinnen dann auch gar nicht anschlussfähig ist, denn für sie „[gibt] Gesundheit […] nichts zu tun, sie reflektiert allenfalls das, was fehlt, wenn man krank ist. Entsprechend gibt es viele Krankheiten, aber nur eine Gesundheit. Von Gesundheit zu sprechen wirkt aus der Krankheitsperspektive eher problematisch und inhaltsleer“ (Luhmann 2005: 179). Mitverantwortlich dafür, dass etwa ab der Mitte der 70er-Jahre des 20. Jahrhunderts dann doch eher von Gesundheit als von Krankheit gesprochen wurde, war v.a. Aaron Antonovsky. In der gesundheitswissenschaftlichen Erzähltradition wird Antonovsky (1987) zitiert als jemand, der mit seiner simplen und zugleich richtungsweisenden Frage danach, „was die Menschen eigentlich gesund hält“, weltweit für eine neue Ausrichtung des gesundheitswissenschaftlichen Denkens gesorgt hat. Antonovsky fragte nämlich mit seinem Konzept der Salutogenese nicht so sehr nach lebensweltlichen, sozialen oder materiellen Verhältnissen, die uns krank machen, sondern vielmehr nach dem inneren Konzept eines Menschen, das ihn trotz einer widrigen Lebenswirklichkeit bei guter Gesundheit hält. Einen zentralen Aspekt bildet in diesem Konzept der so genannte Sense of Coherence, das Kohärenzgefühl, das nach Antonovsky „der entscheidende Parameter für die Platzierung auf dem Gesundheits- Krankheits-Kontinuum, also für ein Weniger oder Mehr an Gesundheit“ (Franke 2006: 162) ist. Das Kohärenzgefühl hat die drei zentralen Bestandteile Verstehbarkeit, Handhabbarkeit und Bedeutsamkeit und bezeichnet eine umfassende Art, die Welt und sich selbst wahrzunehmen: [1] Verstehbarkeit (Sense of Comprehensibility) meint das Ausmaß, in dem eine Person die Welt und die aus ihr kommenden Stimuli als sinnhafte und konsistente wahrnehmen und einordnen kann: „Personen mit einem hohen Ausmaß an Verstehbarkeit gehen davon aus, dass Sti- Die ‚Wieder‘-Einführung der Gesundheitswissenschaften 57 muli, denen sie in Zukunft begegnen, in gewisser Weise vorhersagbar sein werden oder dass sie zumindest, sollten sie völlig überraschend auftreten, eingeordnet und erklärt werden können“ (Franke 2006: 163). [2] Handhabbarkeit (Sense of Managability) beschreibt das Ausmaß, in dem man über geeignete Ressourcen verfügt, um Anforderungen handhaben und mit ihnen umgehen zu können. Dabei kann es sich durchaus auch um die Ressourcen nahestehender Menschen handeln, auf die man zurückgreifen kann: „Ein hohes Maß an Handhabbarkeit bewirkt, dass Menschen sich durch Ereignisse nicht in die Opferrolle gedrängt und vom Leben ungerecht behandelt fühlen“ (ebd.). [3] Bedeutsamkeit (Sense of Meaningfulness) bezeichnet schließlich jenes Maß, in dem eine Person seinem eigenen Leben Sinn zu geben vermag, das heißt ob es Probleme und Anforderungen gibt, die es lohnen, dass man sich einsetzt - ob also das eigene Handeln so bedeutsam ist, „dass es einen Unterschied macht, ob man da ist oder nicht“ (ebd.). Vor diesem Hintergrund bleiben Menschen nach Rosenbrock (1993: 129) dann eher gesund, wenn sie die Anforderungen, die ihnen begegnen, einordnen und verstehen können (Verstehbarkeit), wenn sie das Gefühl und auch Möglichkeiten haben, auf die sie betreffenden Ereignisse Einfluss zu nehmen (Handhabbarkeit), und wenn „die Möglichkeit besteht, unter diesen Bedingungen individuelle oder kollektive Ziele anzustreben und auch zu erreichen“ (Bedeutsamkeit). Mit dem Konzept des Kohärenzgefühls tauchte zum ersten Mal die Frage nach gesundheitsfördernden Faktoren auf, die Krankheit und die Konzepte ihrer Entstehung vorerst unberücksichtigt ließ. So war zwar immer noch keine wissenschaftlich verwertbare, theoretische ‚Definition‘ von Gesundheit entstanden, aber die Gesundheitswissenschaften unterscheiden seitdem sehr akribisch zwischen einem pathogenetischen Denken und Handeln, das sich an Krankheit und ihrer Entstehung orientiert, und seinem salutogenetischen Gegenpart, bei dem Krankheit eben nicht mehr als Referenzwert auftritt. Damit war die Unterwanderung des Gesundheitsbegriffs durch die dominierenden pathogenetischen Diskurse 58 Gesundheit wird zur Wissenschaft der Medizin zwar immer noch nicht aufgehoben, doch Public Health machte mit dem Konzept der Salutogenese zumindest einen ersten Schritt, um dem Medizinsystem und dessen Anspruch auf die alleinige Bearbeitung des Problems der Zivilisationskrankheiten entgegenzutreten. Für die Bearbeitung dieses Problems rief die WHO dann 1986 zu neuen Maßnahmen auf. 2.3.3 Die WHO drängt auf Gesundheitsförderung Die WHO musste sich Mitte der 1980er-Jahre eingestehen, dass der Umgang mit den sogenannten Zivilisationskrankheiten in eine Sackgasse geraten war. Die hohen Mortalitätsraten im Bereich der Krebs- und Herzkreislauferkrankungen wurden von dem Medizinsystem in den westlichen Industrienationen mit einem enormen finanziellen Aufwand zwar behandelt, aber nicht verhindert. Dabei zeigten epidemiologische Studien bereits Ende der 1960er-Jahre, dass die Entwicklung einer Herz- Kreislauf- oder Krebserkrankung nur unzureichend mit den gängigen monokausalen Ätiologie-, also Erklärungsmodellen der Infektionskrankheiten erfasst werden konnte und neue, multikausale Theorien notwendig waren, um das Zustandekommen dieser Erkrankungen zu erklären. Die so genannte Risikofaktorenforschung entdeckte nämlich neben biologischen Ursachen auch solche, die im Bereich des Verhaltens lagen, und andere wiederum, die sich auf die Ausgestaltung des sozialen Miteinanders (also der sozialen Verhältnisse) bezogen. Biologische Erklärungsmodelle allein reichten hier nicht mehr aus, um die vielfältigen Wechselwirkungen zu erklären, die sich zwischen dem biologischen Körper und seinem Verhalten in einer komplexen materiellen und sozialen Umwelt abspielten. Dabei hatte die WHO mit ihrer Gesundheitsdefinition von 1946 bereits darauf aufmerksam gemacht, dass es mit Blick auf den bestmöglichen Gesundheitszustand darum zu gehen habe, „körperliches, geistiges und soziales Wohlbefinden“ gleichermaßen im Blick zu haben (WHO 1946). Vor diesem Hintergrund hätte die Zuständigkeit für die wissenschaftliche Bearbeitung des Verhaltens und auch der sozialen Verhältnisse sowie die Erarbeitung angemessener Interventionsstrategien nicht länger allein in der Zuständigkeit der Medizin liegen dürfen. Diese Zuständigkeit forderte die Ärzteschaft aber vehement ein und entwickelte eigens dafür den Begriff der Verhaltensbzw. Präventivmedizin, die sich ausschließ- Die ‚Wieder‘-Einführung der Gesundheitswissenschaften 59 lich mit Verhaltensänderungen beschäftigte und die Verhältnisse, in denen sich dieses Verhalten ereignete, erst einmal außer Acht ließ. Die Interventionsstrategien der Verhaltensmedizin waren dabei weit entfernt von jenem oben angesprochenen biopsychosozialen Krankheitsmodel (Engel 1977). Dafür hätten nach der Vorstellung Georg Engels Mediziner, Psychologinnen und Soziologen zusammen mit vielen weiteren Professionen gemeinsam und gleichberechtigt an Interventionskonzepten arbeiten müssen, in denen Verhaltensänderungen nur ein Teil eines umfassenderen Interventionskonzepts gewesen wären. Aus dieser gesamten Debatte heraus entwickelte die WHO 1986 ein Konzept, dass sich deutlich von der einseitigen, pathogenetischen Idee der Behandlung und Verhütung von Krankheit unterscheiden sollte. Die WHO formulierte mit der Ottawa-Charta zur Gesundheitsförderung ein Programm, das ganz im salutogenetisch orientiertem Sinne zu allererst Gesundheit und nicht Krankheit im Fokus hatte. Mit der Ottawa-Charta zur Gesundheitsförderung rief die WHO dazu auf, die Entwicklung gesünderer Lebensweisen und die Verantwortung für die Förderung der Gesundheit als eine Aufgabe zu betrachten, für die sich alle Bereiche der Politik und nicht nur die des Gesundheitssektors engagieren sollten (Health in all Policies). Die WHO betonte dabei, dass Gesundheitsförderung auf einen Prozess abzielt, der den Menschen ein höheres Maß an Selbstbestimmung über ihre Gesundheit ermöglicht und sie so überhaupt erst zur Stärkung ihrer eigenen Gesundheit befähigt. Die WHO verstand Gesundheit damit als einen wesentlichen Bestandteil des alltäglichen Lebens, der in diesem alltäglichen Leben seine Verwirklichung finden und nicht so sehr als ein Lebensziel irgendwo in die Zukunft hinein projiziert werden sollte. Gesundheitsförderung war damit auch als ein Konzept formuliert, das sich an alle Menschen richtete, unabhängig davon, ob der- oder diejenige von der Gesellschaft als krank oder gesund bezeichnet wurde. Damit unterschied sich dieser Ansatz grundlegend vom Konzept der Prävention. Das Präventionskonzept der Medizin stellte alle Menschen gleichermaßen unter den Generalverdacht, potenziell Trägerin irgendwelcher Risikofaktoren zu sein, die vielleicht nur noch nicht identifiziert waren, und gegen die man bei Bedarf auch schon mal flächendeckend und vorsorglich vorgehen könne, um dem Ausbruch einer Erkrankung zuvorzukommen. Gesundheitsförderung dagegen hatte die Lebenswelt der Menschen im Blick, in der Krankheit und ihre Behand- 60 Gesundheit wird zur Wissenschaft lung zwar nach wie vor eine Rolle spielten, nur sollte das Bemühen um Gesundheit eben nicht durch einen ständigen, ängstlichen Blick auf eine vielleicht nur noch nicht identifizierte Erkrankung bestimmt sein. Dieser neue, salutogenetische Blick verlangte ein gänzlich anderes Nachdenken über Gesundheit, und die WHO sah ihr Programm 1986 auch tatsächlich als eine Art Herausforderung, der sich alle Mitgliedsstaaten gleichermaßen stellen sollten. Und genau in diesem Zusammenhang fiel in Deutschland auf, dass andere Länder - vor allem im angloamerikanischen Sprachraum - zur Bearbeitung derartiger Aufgabenstellungen auf die wissenschaftliche Expertise einer akademischen Disziplin zurückgreifen konnten, die es so in Deutschland nicht mehr gab. Da zu dem Zeitpunkt auch in Deutschland die Diskussionen um die starke Dominanz des Medizinsystems in Gesundheitsfragen äußerst heftig und kontrovers geführt wurden, eröffnete das Programm der Ottawa-Charta für Deutschland zugleich auch die Chance auf eine grundlegend neue, akademische Beschäftigung mit einer interdisziplinär ausgerichteten Gesundheitswissenschaft. Doch auch rund dreißig Jahre nach der Ottawa-Charta und der Wiedereinführung der Gesundheitswissenschaften in Deutschland müssen sich die WHO und Public-Health-Expertinnen weltweit allerdings eingestehen, dass die Umsetzung der Ottawa-Charta nicht einmal in Ansätzen gelungen ist. Die Gesundheitsförderung in Deutschland erreicht - abgesehen davon, dass sie kaum nachhaltige Effekte erzielt - fast keine Menschen mit niedrigem sozioökonomischen Status. Zudem muss heute davon ausgegangen werden, dass ihre auf Bildung und Wissensvermittlung gegründeten Aufklärungsideen die Wissenslücken zwischen den einzelnen Bildungsschichten nicht etwa schließen konnte, sondern sie teilweise sogar noch vergrößert hat. Damit wird heute die simple Frage nach dem Zusammenhang von sozialer Lage und Gesundheit und Krankheit, die bereits vor 150 Jahren die Gemüter in Deutschland bewegt hatte und die heute zu den grundlegenden Fragen von Public Health gehört, zu eben jener scharfen Messlatte, mit der wir heute den Erfolg all unserer Bemühungen um ein Mehr an Gesundheit für alle Menschen messen müssten. Das Problem der sozial bedingten gesundheitlichen Ungleichheit ist bis heute weder vom Medizinsystem noch von den Gesundheitswissenschaften noch von irgendwelchen anderen gesellschaftlichen Kräften erfolgreich bearbeitet worden. Nach wie vor kann dieses ungelöste gesund- Zusammenfassung ・ 61 heitswissenschaftliche Problem auch gut hundert Jahre nach Mosse & Tugendreich (1913) mit ihren Worten als „eine schwere Anklage gegen die Kultur [und] gegen die Gesellschaft“ bezeichnet werden, denn Männer und Frauen mit dem niedrigsten Einkommen, mit der niedrigsten Schulbildung und der niedrigsten beruflichen Stellung erreichen die Durchschnittswerte der Lebenserwartung gar nicht, sondern versterben in Deutschland acht bis elf Jahre früher als Männer und Frauen mit hohem Einkommen, mit hoher Schulbildung und mit einer hohen beruflichen Position. Wie Sozial- und Gesundheitswissenschaften dieses Phänomen zu erklären versuchen, sehen wir uns im folgenden Kapitel genauer an. Zusammenfassung In Deutschland hatte sich bereits in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts unter dem Schlagwort ‚Soziale Hygiene‘ eine interdisziplinär angelegte Gesundheitswissenschaft entwickelt. Diese geriet seit Beginn des 20. Jahrhunderts in Konkurrenz zu eugenischen und rassenhygienischen Vorstellungen, die im Nationalsozialismus schließlich dazu führten, dass mehrere Millionen Menschen - teilweise auch im Namen der Medizin - auf grausame Weise ermordet wurden. Dies führte dazu, dass es für die gesundheitspolitischen Akteure der beiden deutschen Staaten nach 1945 zunächst einmal undenkbar war, an den Begriff und die Idee der Sozialen Hygiene anzuknüpfen. Sowohl im Alltag als auch in der Wissenschaft fällt es uns schwer, auf die Frage nach Gesundheit nicht mit Erzählungen über Krankheit aufzuwarten. Das liegt daran, dass uns Krankheiten und ihre manchmal recht eigentümlich anmutenden Heilungen als Sensationen erscheinen, die sich unserem Erzählen förmlich von alleine aufdrängen. Über Gesundheit lässt sich dagegen nichts Sensationelles erzählen. Zudem ist sie aber auch für Mediziner und Medizinerinnen nicht wirklich anschlussfähig, weil sie ihnen - anders als Krankheiten - nichts zu tun gibt. 62 Gesundheit wird zur Wissenschaft Die deutliche Steigerung der Lebenserwartung in den entwickelten Ländern in den zurückliegenden ca. 150 Jahren kann keineswegs nur auf den medizinischen Fortschritt zurückgeführt werden. Vielmehr spielt eine ganze Reihe von biologischen, psychologischen und sozialen Faktoren eine Rolle, die erst durch ihre komplexen Wechselwirkungen zu der erheblichen Steigerung der Lebenserwartung geführt haben. Seit den 1980er-Jahren orientiert man sich daher nicht mehr ausschließlich an einem bio-medizinischen, sondern auch am bio-psycho-sozialen Modell. Zudem fragt man nicht mehr nur in pathogenetischer Manier danach, was krank macht, sondern stellt vor allem auch die salutogenetische Frage: Was hält den Menschen gesund? Literatur Abholz, H.-H. (1976). Krankheit und soziale Lage. Befunde der Sozialepidemiologie. 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Die Organisation der Gesundheitsfürsorge insbesondere die Aufgabe von Reich, Ländern, Landesteilen und Gemeinden auf dem Gebiete der Gesundheitsfürsorge und die damit betrauten Stellen. In: A. Gottstein, A. Schlossmann & L. Teleky (Hrsg.), Handbuch der Sozialen Hygiene und Gesund- ・ Literatur 63 heitsfürsorge. Erster Band. Grundlagen und Methoden (S. 401-438). Berlin: Springer-Verlag. Engel, G.L. (1977). The need for a new medical model: a challenge for biomedicine. Science 196(4286), S. 129-136. Engels, F. (1845). Die Lage der arbeitenden Klasse in England. Leipzig. Flügel, A. (2012). Public Health und Geschichte. Historischer Kontext, politische und soziale Implikationen der öffentlichen Gesundheitspflege im 19. Jahrhundert. Weinheim: Beltz Juventa. Frank, J.P. (1784). System einer vollständigen medizinischen Polizey. Erster Band. Zwote, verbesserte Auflage. Mannheim: Schwan. Franke, A. (2006). Modelle von Gesundheit und Krankheit. Bern: Huber. 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Reimer. 3 Ungleiche Gesundheit Lehrziele In diesem Kapitel erfahren Sie … warum soziale Ungleichheit in einer kapitalistischen Gesellschaft unvermeidbar ist; wie der Sozialstaat soziale Ungleichheit verwaltet und warum die Krise des Sozialstaats die Gesundheit gefährdet; wie soziale Ungleichheit und ungleiche Gesundheit zusammenhängen und warum soziale Ungleichheit auch in reichen Ländern zu ungleicher Gesundheit führt; was der Habitus ist und was er mit sozialer und gesundheitlicher Ungleichheit zu tun hat; was Intersektionalität bedeutet und wie sie sich auf die Gesundheit auswirkt. Im folgenden Kapitel geht es um ungleiche Gesundheit. Ungleiche Gesundheit wird dabei auf der Ebene von Großgruppen betrachtet. Es geht also nicht darum, ob einzelne Personen in einer Gesellschaft weniger gesund sind als andere, sondern welche gesellschaftlichen Großgruppen (z.B. Migrantinnen und Migranten oder Geringverdiener) häufiger krank sind bzw. früher sterben als der Durchschnitt der Gesamtbevölkerung. Wenn wir über gesundheitliche Ungleichheit in einer Gesellschaft sprechen und uns dabei nicht auf Einzelschicksale beziehen, dann kommen wir nicht umhin, über soziale Ungleichheit zu sprechen. Denn soziale Ungleichheit und gesundheitliche Ungleichheit bedingen einander. Soziale Ungleichheit bedeutet zunächst, dass Menschen z.B. unterschiedliche Vorlieben, Geschmäcker und Angewohnheiten haben, was auf der individuellen Ebene aber noch nicht zu einer gesellschaftlichen Debatte um die Probleme und Risiken sozialer Ungleichheit führt. Dazu kommt 66 Ungleiche Gesundheit es erst in dem Moment, wenn diese unterschiedlichen Geschmäcker, Vorlieben und Angewohnheiten zu Zeichen der Zugehörigkeit zu einer gesellschaftlichen Großgruppe werden, die mit ungleichen Zugängen zu gesellschaftlichen Ressourcen ausgestattet ist. Denn in diesem Moment beschreibt soziale Ungleichheit den ungleich verteilten Zugang zu Einkommen, Besitz, Bildung, Arbeitsplätzen, medizinischer Versorgung und vielem mehr. Und dieser sozial ungleich verteilte Zugang führt mit großer Wahrscheinlichkeit zu gesundheitlicher Ungleichheit. Um also den Ursachen und Folgen gesundheitlicher Ungleichheit auf die Spur zu kommen, müssen wir uns zunächst mit den Ursachen und Folgen des ungleichen Zugangs zu gesellschaftlichen Ressourcen beschäftigen 3.1 Freiheit und Ungleichheit Wie wir bereits gesehen haben, ist Ungleichheit in modernen Gesellschaften nicht länger gottgegeben und damit erklärungsbedürftig. Liberale Gesellschaften beruhen auf der Vorstellung der Freiheit und Gleichheit aller Menschen. Angeborene Privilegien werden abgeschafft. Alle Menschen sind dem Ideal nach frei und gleich an Rechten und Pflichten. Zwar galt diese Freiheit zunächst z.B. nur für Männer und auch für diese nur eingeschränkt: Verwiesen sei beispielsweise auf das Dreiklassenwahlrecht im 19. Jahrhundert, in dem die Stimmen nach Einkommen und Besitz gewichtet wurden. Doch anders als in feudalistischen Gesellschaften sollte es in liberalen Gesellschaften von Beginn an keine angeborenen Privilegien mehr geben. Für die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung bedeutete diese neue Freiheit jedoch auch, dass sie, mit Karl Marx gesprochen, im doppelten Sinne frei waren: frei von personalen Abhängigkeiten, frei von Leibeigenschaft und Sklaverei, aber eben auch frei von eigenen Produktionsmitteln, frei von Besitz und damit ohne Existenzgrundlage. Genau diese doppelte Freiheit führte zu einer neuen Abhängigkeit, die sich seither im Lohnarbeitsverhältnis ausdrückt. Wer keine andere Form der Existenzgrundlage als die eigene Arbeitskraft hat, ist auf ihren Verkauf unter allen Umständen angewiesen. Dies führt spätestens dann zu existenziellen Problemen, wenn der Wert der Arbeitskraft durch Überangebot unter das Existenzminimum gedrückt oder wenn die eigene Arbeitskraft auf- Freiheit und Ungleichheit 67 grund von mangelnder Qualifikation, Krankheit, Behinderung oder Altersschwäche nicht länger nachgefragt wird. In einem System, in dem die Nichtbesitzer von Geldvermögen und Produktionsmitteln zum Überleben auf den Verkauf ihrer Arbeitskraft angewiesen sind, ist Arbeitskraft vollständig kommodifiziert, das heißt zur Ware geworden: Nichtbesitzer von Produktionsmitteln, also Arbeiterinnen und Arbeiter, haben außerhalb des Arbeitsmarktes keine Möglichkeit, ihre Existenz zu sichern. Soziale Ungleichheiten sind zumindest dort, wo sie ganze Bevölkerungsgruppen umfassen und sich über mehrere Generationen verfestigten und nicht als individuelle Schicksale bezeichnet werden können, auch in liberalen Gesellschaften erklärungsbedürftig. Das liberale Narrativ - ein Narrativ ist eine kulturspezifische, sinnstiftende Erzählung - hierzu lautet, dass sich soziale Unterschiede durch Leistungsunterschiede erklären lassen. Demnach würden in einer liberalen Gesellschaft alle die gleichen Chancen haben ihr Glück zu machen. Doch besteht wirklich Chancengleichheit für alle? Bis heute bildet die Idealvorstellung der Meritokratie, dass nämlich soziale Unterschiede in Einkommen und Vermögen, Berufsprestige und Bildungstiteln das Ergebnis von Leistungsunterschieden und damit notwendig und gerecht sind, das weltanschauliche Fundament kapitalistischer Gesellschaften. Doch diese Erzählung lässt sich empirisch leicht widerlegen. Schon Karl Marx untersuchte im ersten Band des Kapitals, wie ungleich Reichtümer und Ressourcen und damit Startchancen bereits verteilt waren, als die prinzipielle Gleichheit aller Menschen zum liberalen Prinzip erhoben wurde. Dabei bezog er sich gleichermaßen auf die globale wie auch auf die nationale Ebene. Die industrielle Revolution, die in England ihren Anfang nahm und später in weitere europäische Länder und Nordamerika expandierte, sei nur möglich gewesen durch die Kolonialisierung und Ausplünderung von Bodenschätzen und Plantagen mit Hilfe von Sklavinnen und Sklaven. 68 Ungleiche Gesundheit „Die Entdeckung der Gold- und Silberländer in Amerika, die Ausrottung, Versklavung und Vergrabung der eingeborenen Bevölkerung in die Bergwerke, die beginnende Eroberung und Ausplünderung von Ostindien, die Verwandlung von Afrika in ein Gehege zur Handelsjagd auf Schwarzhäute bezeichnen die Morgenröte der kapitalistischen Produktionsära“ (Marx 1867/ 1968: 779). Dies erklärt auch, warum die Menschenrechte zunächst nicht für alle, sondern nur für weiße Männer galten und es macht deutlich, warum es eines biologisch begründeten Rassismus und Sexismus bedurfte, um diese Einschränkung der Menschenrechte auf weiße Männer, die ja nun nicht mehr als gottgegeben begründet werden konnte, scheinbar rational zu rechtfertigen. Auch unter der Bevölkerung der Länder, in denen die industrielle Revolution ihren Anfang nahm, waren die Startchancen für das Streben nach Wohlstand und Glück ungleich verteilt. Die Bauernbefreiung gab den Leibeigenen und Hörigen ihre Freiheit, beraubte sie aber zugleich allzu oft ihrer Existenzgrundlage. Die auf die eine oder andere Weise von ihrem Land vertriebenen Menschen bildeten das Arbeitskräftereservoir für die entstehenden Industrien. Durch die Privatisierung von Gemeinde-, Kirchen- und Staatsland entstand eine Klasse von Besitzenden, die große Mengen Kapital in ihren Händen ansammelten. Ihr ökonomisches Kapital auf der einen Seite und die große Zahl besitzloser Arbeitskräfte auf der anderen Seite bildeten die gesellschaftlichen Voraussetzungen für die Entstehung der kapitalistischen Klassengesellschaft. Durch den Prozess der Vererbung von materiellen und nichtmateriellen Vorteilen werden die ungleichen Startchancen von Generation zu Generation weitergegeben. Die Anfänge des Kapitalismus und der liberalen Gesellschaft waren, wie wir gesehen haben, geprägt durch große soziale Umwälzungen. Die damit einhergehende Massenverarmung verlangte nach Lösungen. Das Ergebnis ist die Ergänzung des liberalen Rechtstaates durch den Sozialstaat, der Antwort auch auf die prekäre gesundheitliche Lage großer Teile der Bevölkerung geben sollte. Sozialstaat und Ungleichheit 69 3.2 Sozialstaat und Ungleichheit „Es gibt viele Arten zu töten. Man kann einem ein Messer in den Bauch stechen, einem das Brot entziehen, einen von einer Krankheit nicht heilen, einen in eine schlechte Wohnung stecken, einen durch Arbeit zu Tode schinden, einen zum Suizid treiben, einen in den Krieg führen usw. Nur weniges davon ist in unserem Staat verboten“ (Brecht 1967: 466). Kapitalistische Gesellschaften basieren auf sozialer Ungleichheit. In einem System, das im freien Spiel der Konkurrenz, in dem jedes Gesellschaftsmitglied zu seinem persönlichen Vorteil handelt, den größtmöglichen Vorteil für alle Gesellschaftsmitglieder sieht, hält man soziale Ungleichheit für notwendig - als Belohnung für die Erfolgreichen und als Ansporn für die weniger Erfolgreichen, es ihnen gleich zu tun. Allerdings funktioniert dieses Spiel der freien Konkurrenz nicht ohne Regeln. Dem bürgerlichen Staat fällt dabei die Aufgabe zu, die Rahmenbedingungen der Konkurrenz zu organisieren und die Interessen der verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen miteinander in Einklang zu bringen. Dazu zählen nicht nur der Schutz des Eigentums und der Schutz vor unmittelbarer Gewalt („Man kann einem ein Messer in den Bauch stechen“), sondern auch der Schutz vor tödlichen Gefahren, die aus sozialen Notlagen resultieren, („einem das Brot entziehen, einen von einer Krankheit nicht heilen, einen in eine schlechte Wohnung stecken, einen durch Arbeit zu Tode schinden, einen zum Suizid treiben“). Auch diese Möglichkeiten „zu töten“ sind in einem funktionierenden Sozialstaat weitgehend eingeschränkt. Die Abwehr von Gesundheitsgefährdungen durch Hygiene- und Arbeitsschutzmaßnahmen, aber auch durch eine umfassende Gesundheitsversorgung folgte der Einsicht, dass Gesundheit und Krankheiten wesentlich durch soziale Faktoren bedingt werden. Wie im vorangegangenen Kapitel ausgeführt, hatte der Rückgang der großen Infektionskrankheiten schon vor der Entdeckung ihrer Erreger und der Entwicklung entsprechender Impfstoffe durch Maßnahmen, wie z.B. die Einführung der Kanalisation in den großen Städten, begonnen. Diese Maßnahmen gingen über den reinen Schutz des Eigentums bereits hinaus und schützten den ‚Volkskörper‘, der gleichermaßen für die Produktion wie auch 70 Ungleiche Gesundheit für die militärische Verteidigung benötigt wurde. Der Staat sichert über die Gesundheit der Bürgerinnen und Bürger gleichzeitig den Fortbestand der kapitalistischen Produktion und sein eigenes Fortbestehen. Allerdings wäre es verkürzt, die Einführung sozialstaatlicher und gesundheitspolitischer Reformen nur auf staatliche Interessen zurückzuführen. Vielmehr überschneiden sich drei verschiedene Motive. [1] Die Lohnabhängigen hatten ein naheliegendes Interesse an der Einführung sozialer Absicherungen. Arbeitskämpfe wurden nicht nur für Lohnerhöhungen und kürzere Arbeitszeiten, sondern auch für Absicherungen im Fall von Krankheit, Alter und Arbeitslosigkeit geführt. [2] Auch von staatlicher Seite gab es ein starkes Bestreben, den Kapitalismus zu regulieren. Sozialpolitik ist immer auch Ordnungspolitik und der Erhalt des sozialen Friedens liegt im staatlichen Interesse. [3] Es gab auch ein unternehmerisches Motiv für die Einführung des Sozialstaats, auch wenn dies zunächst widersprüchlich erscheinen mag. Doch auch aus wirtschaftlicher Sicht ist staatliche Regulierung von Vorteil. Ein geregelter Wettbewerb verhindert ruinöse Preiskämpfe. Durch zunehmende Mechanisierung in den industriellen Zentren stieg auch das Anforderungsprofil an die Arbeitskräfte. Arbeitskräfte mussten länger ausgebildet werden, eine zu hohe Fluktuation wurde kontraproduktiv. Auch und gerade in Bezug auf die Gesunderhaltung der Bevölkerung wurden die unternehmerischen Motive für einen Sozialstaat bereits im 19. Jahrhundert deutlich. Denn als potenzielle Träger von Infektionskrankheiten gefährdete die Bevölkerung die politische und ökonomische Stabilität der jungen liberalen Staaten. Die Aufgaben des liberalen Staates wuchsen demnach parallel zur Entwicklung des Kapitalismus und sie schlossen schon frühzeitig Aufgaben des Sozialstaates mit ein. Das liberale Ideal des ‚Nachtwächterstaates‘, der sich nur um den Schutz des Eigentums und des freien Wettbewerbs kümmert und darüber hinaus keinen aktiven Beitrag zur Gestaltung der Gesellschaft leistet, aufrechtzuerhalten, wurde mit der fortschreitenden Entwicklung des Kapitalismus unmöglich. Sozialstaat und Ungleichheit 71 Aus den genannten Motiven entstanden drei verschiedene Sozialstaatstypen (Esping-Andersen 1990). Sozialdemokratischer Sozialstaat Der sozialdemokratische Sozialbzw. Wohlfahrtsstaat basiert auf der Vorstellung eines universalen sozialen Rechts aller Gesellschaftsmitglieder auf Existenzsicherung und materielle Teilhabe, das sich aus der Staatsbürgerschaft ergibt. Es wird davon ausgegangen, dass Menschen erst dann ihrer existenziellen Sorgen ledig sind, wenn sie an der Gesellschaft teilhaben (partizipieren) können. Wer hingegen mit ständigem Überlebenskampf beschäftigt sei, für den oder die bleibe Demokratie eine abstrakte Vorstellung. Eine wahrhaft demokratische Gesellschaft brauche daher ein Mindestmaß an sozialer Sicherheit, um Teilhabe garantieren zu können. Dazu zählen eine universale steuerfinanzierte Gesundheitsversorgung sowie eine Mindestrente. Zu den sozialdemokratischen Wohlfahrtsstaaten werden vor allem die skandinavischen Länder gezählt. In jüngerer Vergangenheit wurden auch in sozialdemokratischen Wohlfahrtsstaaten Sozialleistungen gekürzt und verstärkt Eigenleistungen verlangt. Konservativer Sozialstaat Ein konservativer Wohlfahrtsstaat folgt zwei Prinzipien: dem der Subsidiarität und dem der Sozialversicherung. Subsidiarität bedeutet, dass zunächst die Familie einspringt bevor staatliche Instanzen zur Verantwortung gezogen werden. Leistungen bekommen nur diejenigen, die Bedürftigkeit nachweisen können. In Deutschland, das zur Gruppe der konservativen Sozialstaaten zählt, ist z.B. das BAföG abhängig vom Einkommen der Eltern. Aber auch Kinder werden für die Versorgung ihrer Eltern im Alter finanziell herangezogen. Sozialstaatliche Leistungen wie Rente und Arbeitslosengeld sowie Leistungen im Krankheits- und Pflegefall werden über Sozialversicherungen abgewickelt. Diese sind zwar nicht privatwirtschaftlich organisiert, orientieren sich aber am Modell der Versicherung - also einer individuellen Absicherung von Lebensrisiken über Beiträge im Unterschied zur kollektiven Absicherung über Steuern, wie sie im sozialdemokratischen Modell vorherrscht. Abgesehen von der Kranken- und Pflegeversiche- 72 Ungleiche Gesundheit rung funktionieren diese Sozialversicherungen nach der Idee des Statuserhalts. Die Summen, die man erhält, orientieren sich daran, wie viel vorab eingezahlt wurde. Transfers nach dem Solidaritätsprinzip finden zwischen Jungen und Alten, zwischen Gesunden und Kranken sowie zwischen Beschäftigen und Arbeitslosen statt, nicht aber zwischen Reichen und Armen. Denn wer viel verdient, kann sich der Sozialversicherung entziehen, indem sie oder er sich privat versichert. Genau dieser Mechanismus trägt zu den Finanzierungsproblemen der Sozialversicherungen bei. Und aufgrund dieser Probleme sollen die Sozialversicherungen durch privat erbrachte Leistungen ergänzt werden. Dazu zählen etwa private Rentenversicherungen oder Zusatzversicherungen und privat finanzierte Zusatzleistungen im Gesundheitsbereich. Die private Vorsorge für die Alterssicherung (z.B. die Riester-Rente) wird durch Steuermittel subventioniert und zwar gleichermaßen für die Anbieter (Banken und Versicherungen) als auch für die Versicherten. Da sich aber Zusatzversicherungen nur diejenigen leisten können, deren Einkommen deutlich über dem Existenzminimum liegt, profitieren auch nur sie von der staatlichen Subventionierung - während von den gleichzeitigen Kürzungen bei der Rentenversicherung alle betroffen sind. Eine Besonderheit des konservativen Wohlfahrtsstaats ist der hohe Anteil an Berufsbeamten, die dem Staat zu besonderer Treue verpflichtet sind und dafür mit großzügiger sozialer Absicherung aus Steuermitteln im Alter und im Krankheitsfall belohnt werden. Der konservative Wohlfahrtstaat setzte lange Zeit auf das Modell des männlichen Alleinverdieners (Male Breadwinner). Haushalt und Kindererziehung waren traditionell Aufgaben der Frauen, ihr Anteil an den Arbeitskräften war entsprechend gering und überwiegend auf Teilzeitarbeit beschränkt. In jüngerer Zeit hat sich das Modell des männlichen Alleinverdieners auch in den konservativen Wohlfahrtsstaaten überlebt. Zum einen reichen die Löhne dafür nicht mehr aus, zum anderen wollen Frauen mehrheitlich nicht länger auf die Rolle der Hausfrau und Mutter beschränkt bleiben. Dementsprechend wird auch in konservativen Wohlfahrtsstaaten die soziale Infrastruktur weiter ausgebaut. Die Unabhängigkeit vom Arbeitsmarkt in Notlagen ist im konservativen Wohlfahrtsstaat sehr viel stärker abhängig von der Unterstützung durch die Familie als im sozialdemokratischen Wohlfahrtsstaat. Zu den konservativen Sozialstaat und Ungleichheit 73 Wohlfahrtsstaaten zählen neben Deutschland unter anderem Österreich, Frankreich und Italien. Liberaler Sozialstaat Der liberale Wohlfahrtsstaat setzt auf marktwirtschaftliche Lösungen zur Befriedung sozialer Konflikte und zur Absicherung von Lebensrisiken. Rente und Krankenversorgung sollen individuell organisiert werden, indem auf dem Versicherungsmarkt entsprechende Produkte erworben werden. Für diejenigen, die sich diese private Absicherung nicht leisten können, werden sie durch Steuermittel subventioniert. Damit profitieren neben den Empfängern der Leistungen immer auch die profitwirtschaftlichen Versicherungen von den staatlichen Subventionen. Nach diesem Prinzip funktioniert auch der Affordable Care Act (besser bekannt als Obamacare) in den USA, der den Anteil der krankenversicherten US- Bürgerinnen deutlich erhöht hat. Auch Unterstützung für Geringverdiener funktioniert nach diesem Subventionsprinzip. Dabei werden geringe Einkommen durch eine negative Einkommenssteuer ergänzt, um das Existenzminimum zu sichern. Wer hingegen keine Arbeit hat, verliert nach kurzer Zeit jegliche Ansprüche auf finanzielle Kompensation. Sozialleistungen erhalten den Charakter von Almosen, auf die kein Rechtsanspruch besteht. In den USA werden sie zudem überwiegend in Naturalien erstattet: etwa mit den weitverbreiteten Essensmarken (Food Stamps). Das Niveau der Leistungen ist gering. Die Abhängigkeit des materiellen Überlebens von der Nachfrage nach der eigenen Arbeitskraft ist hier von allen Sozialstaatstypen die höchste. Zu den liberalen Wohlfahrtsstaaten zählen u.a. die USA, Kanada und Australien. Die Sozialstaaten in Großbritannien und den Niederlanden sind Mischformen aus liberalen und sozialdemokratischen Elementen. Die genannten Sozialstaatsmodelle sind allesamt idealtypische Darstellungen. Unter Idealtypus wird ein zielgerichtet konstruierter Begriff verstanden, der Teile der sozialen Wirklichkeit zusammenfasst und zuspitzt, um sie besser beschreiben und verstehen zu können. Idealtypen sind daher keine exakten empirischen Beschreibungen der Realität, da sich in der Realität die Eigenschaften des Idealtypus stets mit anderen Eigenschaften und Phänomenen vermischen. Das gilt auch für die Sozialstaatsmodelle, wie sie hier in Anlehnung an Esping-Andersen (1990) 74 Ungleiche Gesundheit beschrieben wurden. Im konkreten Fall sind die Sozialstaaten immer Mischformen, die mal mehr, mal weniger Kriterien eines der genannten Modelle aufweisen. Und alle Sozialstaaten, gleich welchem Modell sie hier zugeordnet wurden, sind aktuell von existenziellen Krisen betroffen, die ihre Finanzierung nachhaltig infrage stellen. 3.3 Der Sozialstaat in der Krise Alle sozialstaatlichen Maßnahmen stehen unter Finanzierungsvorbehalt. Das ist nicht einfach nur Rhetorik in der Auseinandersetzung um die Verteilung von gesellschaftlich produzierten Reichtümern, sondern hat einen realen Hintergrund. Gewinne müssen erwirtschaftet werden, bevor sie verteilt werden können. Wirtschaftswachstum ist dafür nicht Mittel zum Zweck der Bedürfnisbefriedigung, sondern Selbstzweck für den Erhalt des Systems. Denn nur Wirtschaftswachstum ersetzt - im Idealfall - die Arbeitsplätze, die durch den Produktivitätsfortschritt unweigerlich verloren gehen. Wenn das Wirtschaftswachstum ausbleibt, wird hingegen eine Abwärtsspirale aus rückläufiger Kaufkraft und rückläufigen Löhnen sowie weiter rückläufigen Beschäftigungszahlen ausgelöst. Deshalb funktioniert der Sozialstaat genau dann am Wenigsten, wenn er am meisten gebraucht wird. Denn in wirtschaftlichen Krisenzeiten sinkt die finanzielle Basis zur Abfederung dieser Krisen. Armut im Kapitalismus ist keine Folge eines absoluten Mangels. Menschen verhungern - und das unterscheidet kapitalistische Gesellschaften von ihren historischen Vorgängerinnen - trotz guter Ernten, Fabriken stehen trotz Bedarf an ihren Produkten still, Krankheiten werden nicht behandelt, obwohl Medikamente im Überfluss zur Verfügung stehen und vor leerstehenden Häusern campieren Obdachlose. Ursache für diesen scheinbaren Widerspruch ist, dass in kapitalistischen Gesellschaften zwar sehr effizient produziert wird, die Befriedigung der Bedürfnisse ihrer Mitglieder sich aber nur über den Umweg des individuellen Profits realisieren lässt. Das heißt: Nur dort, wo ein Unternehmen Produkte und Dienstleistungen gewinnbringend verkaufen kann, wird es diese Produkte und Dienstleistungen auch bereitstellen. Es interessiert also nicht der Bedarf, sondern die Kaufkraft. Im Idealfall fällt beides zusammen: Was benötigt wird, wird auch gekauft. Werden Der Sozialstaat in der Krise 75 Produkte günstiger hergestellt, also auch unter geringerem Einsatz von Arbeitskraft, erwirtschaften ihre Produzenten Extraprofite. Wendet die Konkurrenz dieselben oder ähnliche Techniken an, sinkt der Preis der Ware oder der Dienstleistung und ihr Absatz erhöht sich. Gleichzeitig steigt aber auch die Zahl der freigesetzten Arbeitskräfte und es sinken Löhne und Kaufkraft. Immer neue Produkte und Dienstleistungen können diese Lücke theoretisch wieder schließen. Die freigesetzten Arbeitskräfte wandern dann in neue Branchen ab. Faktisch kommt es aber regelmäßig zu sogenannten Überproduktionskrisen. In den frühzeitig industrialisierten Ländern Westeuropas und Nordamerikas kam es ab den 1970er-Jahren zu einem dauerhaften Rückgang der Wachstumsraten. Folge war das Phänomen der sogenannten konjunkturunabhängigen Sockelarbeitslosigkeit. Viele derjenigen, die in Krisenzeiten arbeitslos wurden, fanden in der darauffolgenden Konjunkturphase auch keine Beschäftigung mehr - in Schwellen- und Entwicklungsländern war und ist ohnehin ein Großteil der Bevölkerung von chronischer Unterbeschäftigung betroffen. In Krisenzeiten steigt auch in Industrieländern die Gefahr, dass Menschen getötet werden, indem ihnen „das Brot entzogen“, sie „von einer Krankheit nicht geheilt“, sie „in eine schlechte Wohnung gesteckt“ oder „in den Suizid getrieben“ werden, wieder an. Beispiele hierfür finden sich in jüngerer Vergangenheit einige: So ging etwa in Russland nach dem Ende der Sowjetunion und dem damit einhergehenden Zusammenbruch des Wirtschafts- und Sozialsystems die Lebenserwartung zwischen 1989 und 1994 von 70 auf 64 Jahre zurück (Stuckler & Basu 2013: 38). Einen so starken Rückgang der Lebenserwartung in so kurzer Zeit gab es historisch nur infolge von Kriegen oder dem Ausbrauch von Epidemien wie der Spanischen Grippe Anfang des 20. Jahrhunderts. Vor allem in Griechenland wirkten sich die Sparmaßnahmen massiv auf die Gesundheit der Bevölkerung aus. Infolge des von Europäischer Kommission, Europäischer Zentralbank und Internationalem Währungsfonds verordneten Sparkurses sollten die Ausgaben im Gesundheitswesen auf 6 Prozent der gesamten Wirtschaftsleistung beschränkt werden - zum Vergleich: In Deutschland liegt der Anteil bei 11 Prozent, in den USA sogar bei 17 Prozent, der Durchschnitt der entwickelten Länder liegt bei rund 9 Prozent (vgl. OECD 2018: 135). Die Folgen dieser Poli- 76 Ungleiche Gesundheit tik waren ein Rückgang der Arztbesuche um 15 Prozent und dies obwohl der Anteil der griechischen Bevölkerung, der angab, dass ihr Gesundheitszustand schlecht oder sehr schlecht sei, im selben Zeitraum um 15 Prozent anstieg (Stuckler & Basu 2013: 85). Suizidraten stiegen in Griechenland zwischen 2007 und 2009 um 20 Prozent (Stuckler & Basu 2013: 85). Diese Entwicklung setzte sich in den folgenden Jahren weiter fort (Branas et al. 2015). Dass eine solche Politik selbst in Krisenzeiten nicht alternativlos ist, zeigt das Beispiel Großbritanniens nach dem Zweiten Weltkrieg. Damals entschloss sich die Regierung, trotz massiver Staatsschulden in Höhe von fast 250 Prozent der Wirtschaftsleistung und damit mehr als jedes andere Industrieland zuvor und danach je hatte (Stuckler & Basu 2013), zur Einführung eines für alle zugänglichen steuerfinanzierten Gesundheitssystems, des National Health Service (NHS). Dies geschah vor dem Hintergrund, dass soziale Teilhabe gerade im Bereich Gesundheit aus politischen und ethischen Überlegungen für wichtiger befunden wurde als ein kurzfristiger Abbau der Staatsschulden. Es folgte aber auch einer ökonomischen Logik. Denn Investitionen in Gesundheit und Bildung tragen auch und gerade in Krisenzeiten langfristig zu einer wirtschaftlichen Stabilisierung bei, da gesündere und besser ausgebildete Arbeitskräfte auch produktiver sind. 3.4 Soziale Ungleichheit und ungleiche Gesundheit Ungleiche Gesundheit aus einer soziologischen Sicht betrachtet zeichnet sich nicht durch den Vergleich von Einzelschicksalen aus, sondern durch den Vergleich von Großgruppen (Arme, Reiche, Männer, Frauen, ethnische und religiöse Bevölkerungsgruppen usw.). Aus einer globalen Perspektive lässt sich zudem die Gesundheit der Bevölkerung in verschiedenen Ländern miteinander vergleichen. Häufigster Indikator zum Vergleich des Gesundheitszustandes der Bevölkerung verschiedener Ländern oder zwischen Großgruppen innerhalb eines Landes ist die Lebenserwartung. Dies hängt damit zusammen, dass die Zahlen zur Lebenserwartung als sehr zuverlässig gelten, da sie im Idealfall lückenlos erhoben werden. Zudem besteht zwischen der Lebenserwartung und dem Gesundheitszustand von Bevölkerungsgruppen ein direkter Zusammen- Soziale Ungleichheit und ungleiche Gesundheit 77 hang. Der Unterschied in der Lebenserwartung zwischen verschiedenen Staaten verläuft zwar weitgehend parallel zur Höhe des Bruttosozialprodukts. Das heißt: umso höher die wirtschaftliche Leistung eines Landes, umso höher die Lebenserwartung. Allerdings lässt sich beim Vergleich der reichen Staaten untereinander zwischen dem Bruttosozialprodukt und der Lebenserwartung kein direkter Zusammenhang mehr feststellen (Wilkinson & Pickett 2010: 12; → Abb. 3). Das gilt zum Teil auch für ärmere Länder, denn nicht alle Staaten mit niedrigem Bruttosozialprodukt haben auch eine niedrige Lebenserwartung. Die durchschnittliche Lebenserwartung in Kuba im Jahr 2015 (79,1 Jahre) war vergleichbar mit der durchschnittlichen Lebenserwartung der Vereinigten Staaten von Amerika (79,3) und lag damit höher als die von ökonomisch deutlich stärkeren Ländern wie Brasilien (75), China (76,1) oder Russland (70,5) (WHO 2018). Abb. 3: Lebenserwartung bei Geburt und Bruttoinlandsprodukt pro Einwohner 2015, nach OECD 2018 Austria China Germany Greece India Japan Russia Switzerland United Kingdom USA R² = 0,68 65 70 75 80 85 0 20000 40000 60000 80000 100000 GDP per capita (USD PPP) Life expectancy in years 78 Ungleiche Gesundheit Der Graph zeigt den Zusammenhang zwischen dem kaufkraftbereinigten BIP und der Lebenserwartung an. Länder, deren Werte unterhalb des Graphen liegen, haben eine im Vergleich zur Kaufkraft geringe Lebenserwartung. Länder, deren Werte oberhalb des Graphen liegen, haben eine im Vergleich zur Kaufkraft hohe Lebenserwartung. Ab einem gewissen Wohlstandsniveau spielt die Verteilung des gesellschaftlichen Wohlstandes eine größere Rolle als die Höhe des gesamtgesellschaftlichen Reichtums. Länder, in denen die Schere zwischen Arm und Reich besonders groß ist und demnach viele Menschen nicht am hohen Wohlstandsniveau teilhaben, haben eine niedrigere Lebenserwartung als Länder, bei denen die Einkommensungleichheit weniger stark ausgeprägt ist (Wilkinson & Pickett 2010: 82; siehe Abb. 4). Abb. 4: Zusammenhang zwischen Lebenserwartung und Einkommensungleichverteilung nach Wilkinson & Pickett 2010: 82. Auch die Höhe der Gesundheitsausgaben hat ab einem gewissen Niveau keinen Einfluss mehr auf die Lebenserwartung (Wilkinson & Pickett 2010: 80). Hier sind insbesondere die USA ein gutes Beispiel dafür, dass es nicht so sehr auf die Höhe der Gesundheitsausgaben ankommt als auf den universalen Zugang zu Gesundheitsleistungen (→ Abb. 5). Die 76 78 80 82 niedrig hoch Lebenserwartung (Jahre) Einkommensungleichverteilung • Japan • Sweden Norway • • Finland • Denmark Belgium • Austria • Germany • • Netherlands • Greece • Portugal • UK Singapore • • New Zealand • Italy • Australia • Israel • Canada • Switzerland France • Spain • • USA • Ireland Soziale Ungleichheit und ungleiche Gesundheit 79 Summe der Gelder im System allein ist kein ausreichender Maßstab für eine gute Gesundheitsversorgung. Es kommt auf die Effizienz und die Verteilung an. Anders gesagt: Wenn Pharmakonzerne und private Versicherungskonzerne große Summen für die Gesundheitsversorgung in Anspruch nehmen und gleichzeitig viele Menschen keinen oder nur eingeschränkten Zugang zu Gesundheitsleistungen haben, ist das trotz hoher Ausgaben für den Gesundheitszustand der Bevölkerung insgesamt nachteilig (Stuckler & Basu 2013: 101; → Abb. 5). Abb. 5: Lebenserwartung bei Geburt und Gesundheitsausgaben pro Einwohner 2015, nach OECD 2018 Der Graph zeigt den Zusammenhang zwischen den kaufkraftbereinigten Aufwendungen für das Gesundheitswesen und der Lebenserwartung an. Länder, deren Werte unterhalb des Graphen liegen, haben eine im Vergleich zu den Aufwendungen für das Gesundheitswesen geringe Lebenserwartung. Länder, deren Werte oberhalb des Graphen liegen, haben eine im Vergleich zu den Ausgaben für das Gesundheitswesen hohe Lebenserwartung. Austria China Germany Greece India Japan Russia Switzerland UK USA R² = 0,69 65 70 75 80 85 0 2000 4000 6000 8000 10000 Life expectancy in years Health spending per capita (USD PPP) 80 Ungleiche Gesundheit Vergleicht man nicht Staaten miteinander, sondern sieht sich die Entwicklung innerhalb einer Gesellschaft an, auch dann hängen ungleiches Einkommen und ungleiche Gesundheit eng zusammen. „Bisher konnte für jedes Land, aus dem Daten vorliegen, nachgewiesen werden, dass die frühzeitige Sterblichkeit und gesundheitliche Beeinträchtigungen in Gruppen mit niedrigem beruflichen Status, Ausbildungsstand und Einkommen häufiger auftreten“ (Richter & Hurrelmann 2007: 5). In Deutschland zieht sich das Phänomen durch alle sozialen Schichten. Die Lebenserwartung der Oberschicht ist höher als die der Mittelschicht, und deren Lebenserwartung wiederum ist höher als die der unteren sozialen Schichten. Es handelt sich also um ein Kontinuum, das sich bei Männern wie Frauen gleichermaßen findet, wenn auch auf unterschiedlichem Niveau (→ Abb. 6). Abb. 6: Anteil der Frauen und Männer, die mindestens 65 Jahre alt werden, nach Netto-Äquivalenzeinkommen (n=32.000), nach RKI 2014: 2 0% 10% 20% 30% 40% 50% 60% 70% 80% 90% 100% Einkommen <60% 60-79% 80-99%100-149% ≥150% <60% 60-79% 80-99%100-149%≥150% Männer Frauen Soziale Ungleichheit und ungleiche Gesundheit 81 Abb. 7: Entwicklung der ferneren Lebenserwartung ab 65 Jahre von männlichen Rentenversicherten zwischen 1995 und 2008, nach RKI 2014: 7 Ein Vergleich mit Daten aus den 1990er-Jahren zeigt zudem, dass die Lebenserwartung in Deutschland weiter angestiegen ist. Profitiert haben davon aber vor allem die Bezieher überdurchschnittlicher Einkommen (→ Abb. 7). Das heißt, absolut verbessert sich die Situation auch für diejenigen mit geringem Einkommen, relativ verschlechtert sie sich aber. Der Abstand in der Lebenserwartung zwischen Unter-, Mittel- und Oberschicht steigt. Die gesundheitliche Ungleichheit nimmt zu. Diese Entwicklung beschränkt sich nicht allein auf Deutschland. In ganz Europa hat die gesundheitliche Ungleichheit seit den 1990er-Jahren weiter zugenommen (Richter & Hurrelmann 2007: 5). Noch stärker zeigt sich dieser Zusammenhang, wenn nicht allein die Lebenserwartung, sondern auch die gesunden Lebensjahre berücksichtigt werden (→ Tab. 1). 5 7 9 11 13 15 17 19 21 23 gesamt Alte Bundesländer Neue Bundesländer 1995/ 96 2007/ 08 1995/ 96 2007/ 08 1995/ 96 2007/ 08 Einkommen: - --- niedrig- ------- hoch +2,8 Jahre +3,8 Jahre +2,4 Jahre +1,1 Jahre +1,7 Jahre +1,0 Jahre 82 Ungleiche Gesundheit Tab. 1: Mittlere Lebenserwartung (in Jahren) nach Netto-Äquivalenz-Einkommen (n = 32.500), nach RKI 2014: 3 Frauen Männer Einkommen in Prozent Lebenserwartung bei Geburt gesunde Lebenserwartung bei Geburt Lebenserwartung bei Geburt gesunde Lebenserwartung bei Geburt unter 60 76,9 60,8 70,1 56,8 60 bis unter 80 81,9 66,2 73,4 61,2 80 bis unter 100 82,0 67,1 75,2 64,5 100 bis unter 150 84,4 69,1 77,2 66,8 150 und mehr 85,3 71,0 80,9 71,1 Gesamt 81,3 66,6 75,3 64,8 Unter gesunden Lebensjahren wird die Lebenszeit ohne Aktivitätseinschränkungen verstanden. Bedacht werden sollte hierbei aber, dass gesunde Lebensjahre schwerer zu definieren sind als die Lebenserwartung, da sie auf Selbstangaben beruhen, bei der der soziale und kulturelle Hintergrund der Befragten eine entscheidende Rolle spielt. 3.5 Ursachen für ungleiche Gesundheit im Wohlstand Die Zahlen zur Lebenserwartung sind eindeutig: Wer arm ist, wird mit einiger Wahrscheinlichkeit früher sterben. Doch wie lässt sich dieses Phänomen erklären? Die Soziologen Richter und Hurrelmann argumentieren, dass gesundheitliche Ungleichheit, anders als soziale Ungleichheit, vermeidbar sei. „Soziale Ungleichheiten sind bis zu einem gewissen Grad sicher unvermeidbar. Anders verhält es sich aber mit den Folgen der Ungleichheit. Sie sind vermeidbar. Personen, die in vielen Bereichen des Lebens ohnehin schon benachteiligt sind, dürfen nicht früher sterben und häufiger unter Krankheiten und Behinderung leiden“ (Hurrelmann & Richter 2009: 30). Ursachen für ungleiche Gesundheit im Wohlstand 83 Aber warum ist ungleiche Gesundheit vermeidbar und illegitim, wie Richter und Hurrelmann schreiben, wenn soziale Ungleichheit, definiert als ungleicher Zugang zu gesellschaftlichen Ressourcen, doch offenbar unvermeidbar und damit auch legitim ist? Ist ungleiche Gesundheit nicht eine logische Folge eines ungleichen Zugangs zu gesellschaftlichen Ressourcen? Vor diesem Hintergrund ist es wichtig festzuhalten, dass wir es, wenn wir von Armut in reichen Ländern wie Deutschland sprechen, in den meisten Fällen nicht mit absoluter Armut, sondern mit relativer Armut zu tun haben. Absolute Armut bedeutet, dass Menschen dauerhaft keinen Zugang zu elementaren Grundbedürfnisse wie Nahrung, Kleidung, Obdach und einer grundlegenden medizinischen Versorgung haben. Absolut arm sind beispielsweise die weltweit mehr als 800 Millionen Menschen, die nach Angaben der Welternährungsorganisation (FAO) unter chronischem Hunger leiden. In Industrieländern hingegen haben wir es vorrangig mit relativer Armut zu tun. Diese bemisst sich nicht in absoluten Zahlen, sondern im Abstand zum gesellschaftlichen Durchschnitt. Das bedeutet, wenn die Gesellschaft als Ganzes reicher wird, dann steigt auch die Armutsschwelle. Im Vergleich zum gesellschaftlichen Durchschnitt aber bleibt der Abstand erhalten. In der Europäischen Union wird üblicherweise 60 Prozent des Medianeinkommens als Armutsschwelle definiert. Der Median beschreibt den Mittelwert einer Verteilung, den jeweils 50 Prozent unterbzw. überschreiten. 60 Prozent des Medians entspricht 60 Prozent des Einkommens, das 50 Prozent unterschreiten und 50 Prozent überschreiten. In Deutschland waren das im Jahr 2015 für einen Single 942 Euro und für eine Familie mit zwei Kindern 1978 Euro Nettoeinkommen. Anders als das arithmetische Mittel, das den Durchschnitt aller Werte bildet, liegt der Einkommensmedian deutlich niedriger, da das arithmetische Mittel durch Spitzeneinkommen nach oben verschoben wird. Umso größer der Unterschied zwischen Median und arithmetischem Mittel, umso größer die Einkommensungleichheit. Zurück zur Frage nach den Gründen, warum soziale Ungleichheit auch auf hohem Niveau zu gesundheitlicher Ungleichheit führt. Die sozialwissenschaftliche Forschung zu gesundheitlicher Ungleichheit findet dafür eine Vielzahl an Ursachen, deren wichtigste im Folgenden vorgestellt 84 Ungleiche Gesundheit werden sollen. Dabei stellt sich die Frage nach dem Zusammenhang zwischen Ursache und Wirkung. Oder anders gesagt: Was war zuerst da, die Armut oder die Krankheit? In der Forschung wird zwischen sozialen Selektionsprozessen und sozialen Verursachungsprozessen unterschieden. Soziale Selektionsprozesse bedeuten, dass z.B. Menschen mit chronischen gesundheitlichen Problemen mit großer Wahrscheinlichkeit arm werden. Sie können ihren Beruf nicht länger oder nur noch eingeschränkt ausüben, Ausbildung und Studium verzögern sich oder müssen abgebrochen werden. Wer aufgrund chronischer Krankheiten oder Behinderung von der Erwerbsarbeit ausgeschlossen wird, ist auf Transferzahlungen angewiesen und hat auch weniger Rentenansprüche. Zudem haben viele chronische Krankheiten genetische Komponenten. Das heißt, die Kinder chronisch Kranker erben womöglich die Krankheit. Doch selbst wenn sie von den Krankheiten ihrer Eltern verschont bleiben, führt die krankheitsbedingte Armut ihrer Eltern dazu, dass auch sie mit höherer Wahrscheinlichkeit arm werden. Soziale Verursachungsprozesse bedeuten hingegen, dass Armut krank machen kann. Dies gilt auch für relative Armut. Die Ursachen für diesen Prozess sind vielfältig. Sie können in stärkeren Umweltbelastungen am Arbeitsplatz oder am Wohnort - Feinstaub und Lärmbelastung durch Straßenverkehr, Schimmelbefall der Wohnung, räumliche Enge (Bolte & Kohlhuber 2009) - in Stress und Schlafmangel aufgrund finanzieller Probleme, aber auch in ungleicher gesundheitlicher Versorgung gefunden werden (Tiesmeyer et al. 2008). Solchen strukturellen Ursachen wird in der öffentlichen Debatte und auch in der Politik wenig Aufmerksamkeit geschenkt. Hier geraten regelmäßig zuerst individuumsbezogene medizinische Interventionen ins Visier der Gesundheitspolitik. Wenn diese aber, wie bei chronischen Krankheiten häufig der Fall, erfolglos bleiben, stehen als nächstes individuelle Verhaltensmodifikationen im Mittelpunkt und erst an letzter Stelle stehen Veränderungen sozialer und ökonomischer Rahmenbedingungen (Kühn & Rosenbrock 2009). Während Faktoren wie Belastungen am Arbeitsplatz, im Wohnumfeld oder Ungleichheiten in der Gesundheitsversorgung kaum untersucht werden, entsprechend wenig Aufmerksamkeit in Public Health erhalten und fast keine Reaktionen in Öffentlichkeit und Politik hervorrufen, Habitus und ungleiche Gesundheit 85 richtet sich ein Großteil der Forschung und mehr noch der gesellschaftlichen Diskussion auf Verhaltensweisen wie einseitige Ernährung, Rauchen und Alkoholkonsum. Dabei wird, gerade in der öffentlichen Debatte, die Schuld für ungleiche Gesundheit häufig bei den Betroffenen gesucht und gefunden: Gesundheitliche Ungleichheit sei kein materielles Problem, es ginge nicht um eine Frage der gerechten Verteilung gesellschaftlicher Ressourcen, sondern um die Frage des Verhaltens bzw. der Verhaltenssteuerung. Relative Armut habe mit Armut, wie sie landläufig verstanden werde, nichts zu tun. Relative Armut sei nichts anderes als der Ausdruck von Einkommensunterschieden. Absolut gesehen stünden Geringverdienerinnen und Sozialhilfeempfänger heute materiell besser da als ein Facharbeiter in den 1950er- oder 1960er-Jahren. So oder so ähnlich äußerten sich nach der Jahrtausendwende eine Reihe politisch einflussreicher Persönlichkeiten aus Wissenschaft, Politik und Publizistik (Nolte 2004; Wüllenweber 2004; Schulze 2005). Besonders stark gemacht hat dieses Argument Thilo Sarrazin. Sarrazin, ehemaliger Berliner Finanzsenator und ehemaliges Vorstandsmitglied der Deutschen Bundesbank, hat sich in Interviews und in verschiedenen Publikationen mit den Themen Migration und Armut auseinandergesetzt. Sarrazin sieht Ungleichheiten allein als Folge der inneren Einstellung und damit als Ausdruck eines Verlustes an Eigenverantwortung und Eigeninitiative von Arbeitslosen und Geringverdienerinnen. So schreibt er in seinem bekanntesten und erfolgreichsten Buch „Deutschland schafft sich ab“ (Sarrazin 2010) zum Zusammenhang von gesundheitlicher Ungleichheit und Armut Folgendes: „Nicht die materielle, sondern die geistige und moralische Armut ist das Problem. Diese wirkt sich auf das Verhalten und das wiederum auf die Gesundheit aus“ (Sarrazin 2010: 123). 3.6 Habitus und ungleiche Gesundheit Die oftmals polemisch geführte Diskussion darum, wer Schuld hat an sozialer Deklassierung und ungleicher Gesundheit wirft eine Grundsatzfrage der Soziologie auf: und zwar die nach dem Verhältnis von gesellschaftlichen Strukturen und individuellen Handlungsmöglichkeiten. Bestimmen die gesellschaftlichen Gegebenheiten das Handeln der Menschen oder ist ihr Handeln unabhängig von gesellschaftlichen Vorausset- 86 Ungleiche Gesundheit zungen? Daran schließt sich die für Public Health zentrale Frage an, wie am besten interveniert werden kann, um die Gesundheit der Bevölkerung zu verbessern. Sollen in erster Linie die gesellschaftlichen Verhältnisse verändert werden (Verhältnisprävention) oder soll vorrangig das Verhalten der Bevölkerung beeinflusst werden (Verhaltensprävention). Zur Frage, wie gesellschaftliche Strukturen das Verhalten von Individuen und Gruppen beeinflussen, hat der französische Soziologe Pierre Bourdieu geforscht. Ein zentrales Ergebnis dieser Forschung ist der Habitus und seine Auswirkungen auf soziale Ungleichheit. Bourdieu beschreibt den Habitus als Ergebnis einer klassenspezifischen Sozialisation: Sozialisation oder Vergesellschaftung ist der Prozess, durch den ein Mensch eine handlungsfähige Person innerhalb einer Gesellschaft wird (→ Kap. 4). Die Sozialisation findet zunächst in der Familie statt, später kommen weitere sogenannte Sozialisationsinstanzen hinzu und gewinnen an Einfluss. Dies sind Bildungseinrichtungen wie Kindergärten, Schulen und Universitäten, der Arbeitsplatz, die Gruppe der Gleichaltrigen (Peers), die Massenmedien, die sozialen Medien und die Wohnumgebung. Beeinflusst werden diese Sozialisationsinstanzen durch gesamtgesellschaftliche Rahmenbedingungen wie Politik, Kultur, Wirtschaft und Umwelt (Tillmann 2011). Während der Sozialisation werden bestimmte Verhaltensmuster erlernt, doch geschieht dies in der Regel nicht bewusst. Anders als Erziehung, die einen Teilbereich der Sozialisation darstellt, ist die Sozialisation insgesamt nicht zielgerichtet. Aber auch die zielgerichtete Erziehung hat ungeplante und manchmal auch ungewollte Lerneffekte. Das Ergebnis der Sozialisation ist gesellschaftliche Handlungsfähigkeit. Die erfolgreich sozialisierte Person findet sich in der Gesellschaft zurecht und kann ihr materielles Überleben sichern und darüber hinaus an der Gesellschaft teilhaben. Die Sozialisation prägt zudem Geschmäcker und Verhaltensweisen, die dem Menschen zur zweiten Natur werden. Das heißt, dass sie reflexhaft abgerufen werden, weil sie fast genauso fühlbar und erfahrbar sind wie Schmerz, Kälte oder Hitze. Die Summe aus diesen im Laufe der Sozialisation erworbenen Verhaltensweisen und Prägungen ergibt den Habitus. Er umfasst unter anderem Umgangsformen, Vorlieben, Lebensstil, Sprechweise, Geschmack, Gewohnheiten im Denken, Fühlen und Handeln. Habitus und ungleiche Gesundheit 87 Weil der Habitus überwiegend vor- und unterbewusst wirksam ist, ist er auch nur schwer veränderbar. Ein angesehener Habitus lässt sich allenfalls bruchstückhaft trainieren. Die Selbstverständlichkeit des Habitus einer Person aus privilegierten Kreisen ist für jemanden, der nicht aus diesen Kreisen stammt, kaum erreichbar. Bourdieu spricht in diesem Zusammenhang von Inkorporation. Damit meint er, dass der schichtspezifische Habitus bzw. der ‚Klassengeschmack‘ in die Körper eingeschrieben ist (Bourdieu 1982: 307). Um dieser nicht quantifizierbaren Form sozialer Ungleichheit ihren Platz im Ungleichheitsgeschehen zuzuweisen, hat Bourdieu den Marx’schen Kapitalbegriff erweitert. Dem ökonomischen Kapital, das bei Marx den Besitz von Produktionsmitteln beschreibt, in einem weitergefassten Sinn aber auch Einkommen und Vermögen umfasst, hat Bourdieu das kulturelle Kapital zur Seite gestellt. Dieses kulturelle Kapital hat er wiederum unterteilt in institutionalisiertes, objektiviertes und inkorporiertes kulturelles Kapital. Das institutionalisierte kulturelle Kapital umfasst Bildungstitel und Abschlüsse. Das objektivierte kulturelle Kapital umfasst Kulturgüter wie Bücher, Gemälde und Musik. Das inkorporierte kulturelle Kapital hingegen beschreibt einen Habitus, der sich gesellschaftlich verwerten lässt, weil er gesellschaftliche Anerkennung garantiert und damit Erfolg ermöglicht. Allerdings lässt der Habitus gesellschaftliche Schicht- und Klassengrenzen noch schwerer überwinden, vor allem deshalb, weil er, anders als Geldvermögen oder Bildungstitel nicht greifbar ist. Insbesondere Bemühungen zur Herstellung von Chancengleichheit im Bildungswesen werden durch das inkorporierte Kulturkapital erschwert, wie Bourdieu et al. in ihrem Buch „Illusion der Chancengleichheit“ anschaulich ausführen. „Sobald jedoch kleinbürgerliches Ethos den Kriterien der Elite standhalten muß und am Dilettantismus des kultivierten Sohns aus gutem Hause gemessen wird, der sein Wissen mühelos erworben hat und, seines Heute und Morgen gewiß, mit distanzierter Eleganz auftreten und das Risiko der Virtuosität eingehen kann, kehrt sich das Wertsystem um, indem es durch eine Bedeutungsverschiebung Ernsthaftigkeit in Sturheit und Arbeitsethos in spitzfindige und kleinliche Strebsamkeit abwertet“ (Bourdieu et al. 1971: 42). 88 Ungleiche Gesundheit Gemeint ist mit diesem Zitat, dass diejenigen, die souverän im Umgang mit der Hochkultur und ihren Wissensbeständen sind, weil sie daran von Kindesbeinen an gewöhnt wurden, denjenigen, die sich den Zugang zur Hochkultur mühsam erarbeitet haben, im Auftreten immer überlegen sein werden. Das heißt, auch wer trotz dieser Hürden hohe Bildungstitel erlangt, wird ohne über soziales Kapital (persönliche Netzwerke) und ohne über inkorporiertes kulturelles Kapital zu verfügen, weniger Chancen haben, zur Elite aufzuschließen (Hartmann 2002). Insofern verschärfen Habitus und inkorporiertes Kulturkapital die zunehmende soziale Ungleichheit weiter, tun dies aber auf eine intransparente Art und Weise, die die Illusion nährt, gesellschaftliche Unterschiede seien in erster Linie gerechte Folge von Leistungsunterschieden. Man darf sich den Habitus allerdings nicht so vorstellen, dass er bestimmte Verhaltensweisen unmöglich macht. Der Habitus determiniert Verhaltensweisen nicht, er verneint nicht die menschliche Autonomie, sich in einem Feld von Möglichkeiten auf die eine oder andere Weise zu entscheiden. Aber er erklärt, warum bestimmte Verhaltensweisen in Abhängigkeit von der jeweiligen Sozialisation wahrscheinlicher sind als andere. Bezogen auf die oft geäußerte Kritik, Menschen mit geringem Einkommen und niedrigen Bildungstiteln interessierten sich nicht für gesundheitsförderliche Lebensweisen, hilft das Konzept des Habitus dabei zu verstehen, warum sich scheinbar gesundheitsförderliches Verhalten nicht isoliert vom Lebensstil betrachten lässt. Deswegen hat es auch nicht vorrangig mit mangelndem Wissen oder Willen zu tun, wenn Menschen sich nicht so verhalten wie es aus gesundheitswissenschaftlicher Sicht optimal erscheint. Vielmehr lassen sich Verhaltensweisen und Geschmäcker nicht einfach isolieren und austauschen, weil sie in einen Lebensstil eingebunden sind und emotionale und unterbewusste Bestandteile haben. Auch die als gesund geltenden Ernährungsstile, wie etwa der Verzehr von Vollkornstatt Weißbrot oder die Vermeidung von Zucker und Fett, sind oft kurzfristigen Konjunkturen unterworfen und wissenschaftlich umstritten. Gerne wird dabei vergessen, dass diese Empfehlungen selbst wiederum durch den Habitus ihrer Protagonistinnen und Protagonisten Intersektionalität und ungleiche Gesundheit 89 in Wissenschaft, Journalismus und Beratung/ Coaching geprägt sind. Das heißt, diese Menschen vertreten in ihren scheinbar neutralen Ratschlägen immer auch ihren eigenen Lebensstil, der wiederum durch ihre meist mittelständische Sozialisation geprägt ist. Und das erklärt auch, warum insbesondere die Ernährungsberatung in den unteren sozialen Schichten so wenig Erfolg hat (Barlösius 2011). 3.7 Intersektionalität und ungleiche Gesundheit Wenn von gesellschaftlichen Unterschieden die Rede ist, muss zunächst unterschieden werden, ob es sich bei dem beobachteten Phänomen um eine Differenz oder um Ungleichheit handelt. Eine Differenz beschreibt Unterschiede zwischen Individuen, die keine negativen Konsequenzen für die Betroffenen haben. Das heißt: Sie führen nicht zu einem ungleichen Zugang zu finanziellen, gesundheitlichen oder rechtlichen Ressourcen innerhalb einer Gesellschaft. Beispiele für eine Differenz im Unterschied zu Ungleichheit sind die Haarfarbe im Unterschied zur Hautfarbe. Während unterschiedliche Haarfarben zwar wahrgenommen und benannt werden, haben sie, anders als die Hautfärbung, in der Regel keine negativen bzw. positiven Zuschreibungen zur Folge. Ungleichheit beschreibt hingegen Unterscheide zwischen gesellschaftlichen Gruppen, die zu einem ungleichen Zugang zu u.a. den Bereichen Bildung, Einkommen, Vermögen, Arbeits- und Wohnungsmarkt sowie dem Rechtswesen führen. Das Allgemeine Gleichstellungsgesetz (AGG) von 2006, besser bekannt als Antidiskriminierungsgesetz, listet die folgenden Kategorien auf, die es rechtlich vor Diskriminierung zu schützen gilt: Alter, Geschlecht, sexuelle Orientierung, Ethnie/ „Rasse“, Weltanschauung/ Religion, Behinderung/ chronische Erkrankung. Die Auflistung des AGG enthält aber längst nicht alle der gesellschaftlich relevanten Diskriminierungskategorien. Nicht berücksichtigt sind etwa Diskriminierungen aufgrund des Aussehens oder des Körpergewichts. Aber auch die Diskriminierung aufgrund der sozialen Herkunft wird nicht erwähnt (Beigang et al. 2017). Wohl vor allem deshalb, weil Klassenunterschiede in einer Leistungsgesellschaft als unvermeidbar gelten und in gewisser Weise sogar gewollt sind (Kemper & Weinbach 2009: 111ff.). 90 Ungleiche Gesundheit Grundsätzlich sind die potenziellen Diskriminierungskategorien in einer Gesellschaft unendlich. Ein Versuch, dem gerecht zu werden und gleichzeitig Mehrfachdiskriminierungen bzw. die Gleichzeitigkeit von Diskriminierung und Privilegierung zu berücksichtigen, stellt das Konzept der Intersektionalität dar. „Sucht man nach historischen Wurzeln der Intersektionalitätsdebatte, waren es zunächst einmal die Erfahrungen Schwarzer Frauen, die sich im Feminismus westlicher Weißer Mittelschichtsfrauen nicht wieder fanden. […] Entsprechend kritisierten in den 1970er Jahren in den USA Schwarze Feministinnen das zu enge Verständnis von ‚global sisterhood‘ ihrer Weißen Kolleginnen“ (Winker & Degele 2009: 11). Konzentrierte sich das Konzept der Intersektionalität, also der Kreuzung verschiedener Unterdrückungsformen, zunächst im Sinne einer Triple Oppression auf die Kategorien Geschlecht, Ethnie und Klasse, so wurde es in der jüngeren Vergangenheit um weitere Merkmale ergänzt. Winker und Degele (2009) heben in ihrer Darstellung insgesamt vier Kategorien hervor, die alle relevanten sozialen Ungleichheiten abbilden sollen. Dies sind Klasse/ Schicht, Geschlecht (einschließlich der sexuellen Identität), Ethnizität (einschließlich der Religionszugehörigkeit bzw. Weltanschauung) und Körper. Wobei sich unter der Kategorie Körper sowohl Diskriminierung aufgrund des Alters oder einer Behinderung als auch Phänomene wie Lookismus (Rhode 2010) fassen lassen. Das Besondere am Konzept der Intersektionalität ist, dass es sich dabei nicht einfach um eine Addition dieser Kategorien handelt, sondern dass auch ihre Wechselwirkungen berücksichtigt werden. „Statt die Wirkung von zwei, drei oder mehr Unterdrückungen lediglich zu addieren […], betonen die ProtagonistInnen des Konzepts, dass die Kategorien in verwobener Weise auftreten und sich wechselseitig verstärken, abschwächen oder auch verändern können“ (Winker & Degele 2009: 8). Bei der Beschäftigung mit Unterdrückung und Diskriminierung wird zwischen informeller und formeller Ungleichbehandlung unterschieden. Informelle Ungleichbehandlung beschreibt Diskriminierung im Alltag. Dazu zählen Beschimpfungen oder Beleidigungen, strafende Blicke oder offene Gewalt ebenso wie die rechtlich nicht sanktionierte Benachteiligung beim Zugang zu Ressourcen wie Arbeitsgelegenheiten, Wohnraum Intersektionalität und ungleiche Gesundheit 91 oder Kreditvergabe. Formelle Diskriminierung hingegen meint eine Benachteiligung auf Gesetzesbasis: etwa wenn Frauen vom Wahlrecht ausgeschlossen werden, weniger erben als Männer oder für eine Arbeitsaufnahme die Zustimmung des Ehemannes benötigen; wenn Menschen mit dunkler Hautfarbe nicht dieselben Schulen besuchen dürfen wie hellhäutige, im Bus hinten sitzen müssen oder ihnen der Zugang zu bestimmten Einrichtungen komplett verweigert wird; wenn Homosexuelle verfolgt und für einvernehmlichen Sex bestraft oder zu Therapien gezwungen werden, nicht zusammenleben, heiraten oder Kinder adoptieren dürfen. Diese Formen der gesetzlichen Diskriminierung sind, jedenfalls in den westlichen Demokratien, mittlerweile weitgehend aufgehoben. Aber selbst Errungenschaften, die uns heute selbstverständlich erscheinen, wie das Wahlrecht für Frauen oder die Nichtverfolgung von Homosexuellen, liegen auch in Ländern wie Deutschland oder der Schweiz zum Teil erst wenige Jahrzehnte zurück. So z.B. das Frauenwahlrecht, das in der Schweiz auf Bundesebene 1971, auf Kantonsebene vollständig erst 1990 eingeführt wurde, oder der Paragraph 175 Strafgesetzbuch (StGB) in Deutschland, der sexuelle Handlungen zwischen Personen männlichen Geschlechts unter Strafe stellte und erst im Jahr 1994 vollständig abgeschafft wurde. Eine Form von formeller Benachteiligung besteht jedoch in allen Nationalstaaten fort. Die formale und systematische Ungleichbehandlung von Menschen aufgrund ihrer Staatsbürgerschaft bzw. ihres Aufenthaltsstatus. Das Wahlrecht etwa ist an die Staatsbürgerschaft gebunden und nicht an den Wohnort, unabhängig davon, wie lange die Person schon dort lebt oder ob sie sogar dort geboren wurde. Aber auch andere formale Rechte wie der Zugang zum Arbeitsmarkt, zu Sozialleistungen und zur Gesundheitsversorgung sind abhängig vom Aufenthaltstitel. Solcherlei formale Diskriminierungen, die den Zugang zum Arbeitsmarkt, zu Sozialleistungen oder die Aufenthaltsberechtigung selbst betreffen, wirken sich negativ auf die Gesundheit aus. Aber auch die informelle Diskriminierung hat zahlreiche gesundheitsrelevante Auswirkungen, denn Diskriminierungserfahrungen können Auslöser psychischer Erkrankungen wie Depressionen oder Angststörungen sein und haben Einfluss auf physische Parameter wie den Blutdruck oder den Kortisolspiegel (Ziegler & Beelmann 2009; Schvey et al. 2014). Zudem haben sie negative Auswirkungen auf die Nutzung und die Qualität 92 Ungleiche Gesundheit von medizinischen (Vorsorge-)Untersuchungen und damit direkten Einfluss auf den Gesundheitszustand der Betroffenen (Drury & Louis 2002; Cohen et al. 2008). Zusammenfassung Liberale Gesellschaften betonen die Gleichheit aller Menschen. Gleichzeitig ist soziale Ungleichheit eine unvermeidbare Folge kapitalistischer Konkurrenzgesellschaften. Zu ihrer Rechtfertigung wird angeführt, dass soziale Ungleichheit auf Leistungsunterschiede zurückzuführen ist. Durch ungleiche Startchancen ist der Wettbewerb aber von Anfang an verzerrt. Zu große soziale Ungleichheit, vor allem aber auch gesundheitliche Ungleichheit destabilisiert das kapitalistische System ökonomisch und politisch. Die Motive für die Einführung eines Sozialstaats sind gewerkschaftlich, staatlich und unternehmerisch. Je nachdem, welches Motiv bei der Einführung überwiegt, ist der Sozialstaat eher sozialdemokratisch, konservativ oder liberal ausgerichtet. Sozialstaatliche Krisen führen zu Kürzungen im Gesundheitsbereich mit unmittelbaren Folgen für die Gesundheit der Bevölkerung, vor allem für die Bevölkerungsgruppen, die ohnehin sozial schlechter gestellt sind. Allerdings ist diese Politik nicht alternativlos. Gesundheitliche Ungleichheit ist ein Phänomen, das sich durch alle sozialen Schichten zieht. Die Lebenserwartung der Oberschicht ist höher als die der Mittelschicht, und deren Lebenserwartung wiederum ist höher als die der unteren sozialen Schichten. Die Ursachen für gesundheitliche Ungleichheit liegen in sozialen Selektionsprozessen und sozialen Verursachungsprozessen. Wer krank ist, ist mit höherer Wahrscheinlichkeit auch arm; wer arm ist, wird mit größerer Wahrscheinlichkeit krank. ・ Literatur 93 Der Habitus ist das Ergebnis einer schichtspezifischen Sozialisation. Er beinhaltet Umgangsformen, Vorlieben, Lebensstil, Sprechweise, Geschmack, Gewohnheiten im Denken, Fühlen und Handeln. Der Habitus wirkt sich auch auf gesundheitsrelevante Verhaltensweisen aus, weil auch diese durch Sozialisation erworben und damit Teil eines Lebensstils werden. Gesundheitsrelevante Verhaltensweisen können daher auch nicht ohne Weiteres verändert werden. Die Empfehlungen für einen gesundheitsförderlichen Lebensstil sind zudem häufig weit weniger durch scheinbar wissenschaftlich-neutrales Wissen als durch den Habitus und damit die soziale Herkunft derjenigen geprägt ist, die für diesen Lebensstil werben. Intersektionalität beschreibt die Betroffenheit von sozialer Ungleichheit in unterschiedlichen Kategorien wie Geschlecht, Ethnie, Klasse und Körper. Die einzelnen Faktoren hängen eng miteinander zusammen, können einander ergänzen, aber auch wechselseitig kompensieren. Stigmatisierung und Diskriminierung aufgrund jeglicher Formen sozialer Ungleichheit haben direkt und indirekt negativen Einfluss auf die Gesundheit der Betroffenen. Literatur Barlösius, E. (2011). Soziologie des Essens: eine sozial- und kulturwissenschaftliche Einführung in die Ernährungsforschung. Weinheim: Juventa. Beigang, S., Fetz, K., Foroutan, N., Kalkum, D. & Otto, M. (2017). Diskriminierungserfahrungen in Deutschland. Baden-Baden: Nomos. Bolte, G. & Kohlhuber, M. 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Dabei wurde deutlich, dass soziale Ungleichheit in einer kapitalistischen Gesellschaft regelhaft vorkommt, weil diese Ungleichheit hier gleichermaßen als Ansporn und (gerechter) Ausdruck für Leistung angesehen wird. Zugleich aber betrachten wir gesundheitliche Ungleichheit - zumindest dann, wenn wir sie nicht dem individuellen Verschulden oder den Genen zurechnen - als ungerecht, und dies vor allem dann, wenn „Personen, die in vielen Bereichen des Lebens ohnehin schon benachteiligt sind, […] früher sterben und häufiger unter Krankheiten und Behinderung leiden“ (Hurrelmann & Richter 2009: 30). Wenn wir sagen, dass es ungerecht ist, dass Arme früher sterben, dann 98 Normativität und Gesundheit argumentieren wir normativ, weil wir uns auf soziale Werte und Normen beziehen, mit Hilfe derer wir die Dinge in gut und schlecht, richtig und falsch, abweichend und konform, gerecht und ungerecht usw. unterscheiden. Soziale Werte bezeichnen dabei das, was einer bestimmten Gesellschaft oder Kultur als erstrebenswert, wünschbar und wertvoll gilt. Sie fungieren als Maßstab, der unser Handeln lenkt und uns Entscheidungen über Handlungsweisen ermöglicht. Damit geben sie unserem Handeln zwar eine (gemeinsame) Orientierung, aber sie lassen dabei einen gewissen Spielraum und legen das konkrete Handeln nicht fest. Wichtige soziale Wertorientierungen sind z.B.: die Unantastbarkeit der Würde des Menschen, Gerechtigkeit, Freiheit, Rechtsstaatlichkeit, Meinungs- und Pressefreiheit, Sicherheit, Frieden oder auch Gesundheit. Gesellschaften tendieren dazu, diese und ähnliche Wertorientierungen als unterschiedlich wichtig zu interpretieren, das heißt sie bilden ein durchgegliedertes System dieser Werte aus, so dass kulturspezifische Wertehierarchien entstehen. Allerdings können auch Wertkonflikte auftreten, wenn durch eine bestimmte Maßnahme z.B. die Gesundheit (der Bevölkerung) verbessert, ein anderer Wert dadurch aber verletzt wird: So kann man z.B. der Auffassung sein, die Gesundheit (der Bevölkerung) sei ein so wichtiges Gut, dass das Tabakrauchen aufgrund seiner erwiesenen Gesundheitsschädlichkeit verboten und mit Sanktionen belegt werden solle; man kann aber auch argumentieren, die Freiheit des Einzelnen sei höher zu bewerten, weshalb jeder selbst entscheiden können müsse, ob er sich durch das Rauchen schädigt oder nicht. Gerade in modernen Gesellschaften, in denen Menschen mit sehr verschiedenen Grundüberzeugungen und Lebenszielen zusammenleben, kann es so zu erheblichen Konflikten kommen. Denn bestimmte gruppenspezifische Werte besonders zu betonen, kann zwar helfen die jeweilige Gruppe zusammenzuhalten, „zugleich aber Abgrenzungen und Konflikte auslösen. Und zwar gerade deshalb, weil sie den Zusammenhalt einer Gruppe befördern, indem sie den Ausschluss anderer Auffassungen erzwingen. Die Wirkung von Wertorientierungen in modernen Gesellschaften ist also durchaus ambivalent“ (Schwietring 201: 160). Von den Werten sind die sozialen Normen zu unterscheiden, die im Gegensatz zu diesen konkrete Verhaltensanforderungen oder Verhaltenserwartungen beinhalten und uns vorgeben, wie wir uns verhalten sollen. Werte, Normen, Normativität 99 Normen können uns dabei in Form von technischen Richtlinien oder als einklagbares Recht begegnen, aber auch als eine gruppenspezifisch ausgehandelte Übereinkunft oder als eine entstandene Routine, als ein staatliches Verbot oder eine Hausordnung, als eine Richtlinie für gesunde Ernährung usw. Insgesamt handelt es sich bei Normen also um mehr oder weniger verbindliche, formelle oder informelle Forderungen, sich auf eine bestimmte Weise (konform) zu verhalten. Insofern zielen Normen auf eine soziale Ordnung, die auf Verlässlichkeit und Vertrauen basiert: „Ohne das Setzen von Normen […] wäre individuelles und gesellschaftliches Überleben unter dem Aspekt der Normalität als dem Inbegriff des allgemein Erwartbaren nicht zu organisieren“ (Schnabel u.a. 2009: 13). So betrachtet sind Normen ein fester und unausweichlicher Bestandteil von Gesellschaft. Aber auch wenn an Normen kein Weg vorbeiführt, so bedeutet das doch nicht, dass die jeweils konkrete Norm unhintergehbar oder gar etwas Objektives wäre. Im Gegenteil: Normen werden von Menschen ausgehandelt und festgelegt und sind insoweit immer eine Setzung, die grundsätzlich auch anders hätte ausfallen können - sie sind kontingent (→ Kap. 1). Dass z.B. das Übergewicht heute bei einem Body-Mass-Index (BMI) von 25 und nicht bei 35 beginnt, ist keine objektive Tatsache, sondern eine normative Setzung, die Menschen aufgrund bestimmter Interessen und vor dem Hintergrund für sie wichtiger Werte zu einer bestimmten Zeit vorgenommen haben. In Niger hingegen entspricht ein BMI von 35 und mehr dem dort erwünschten Erscheinungsbild der Frauen; die Frauen werden sogar gezielt mit hochkalorischen Lebensmitteln versorgt, man könnte vielleicht sogar sagen ‚gemästet‘, um ein entsprechendes Gewicht zu erreichen (Popenoe 2005: 11f.). Dies verweist darauf, dass soziale Normen kulturell bedingt sind und zugleich auch dem sozialen Wandel unterliegen. Im Alltag vergessen wir allerdings häufig den Sachverhalt, das Normen etwas Wandelbares und von Menschen Gemachtes bzw. Gesetztes sind. Wir vergessen gewissermaßen den normativen Charakter der entsprechenden Aussagen und behandeln sie wie vermeintlich objektive Tatsachen. In diesem Fall wird dann die Aussage: „Sie haben einen BMI von 33 und sind deshalb stark übergewichtig! “ wie die objektive Beschreibung eines Sachverhalts angesehen, obwohl die Aussage (lediglich) auf einer von Menschen gesetzten Norm beruht. Sie ist also keine objektive 100 Normativität und Gesundheit oder (bloß) deskriptive (beschreibende), sondern eine askriptive (zuschreibende) und normative Aussage: „Sie sind zu dick! “ Normative Aussagen sind solche, in denen eine Bewertung ausgedrückt wird (z.B. richtig oder falsch; über-, unter- oder normalgewichtig; gesundheitsförderlich oder -abträglich), wobei die Zuhörenden gleichzeitig dazu aufgefordert sind, sich dieser Bewertung anzuschließen. Diese Normativität ist nun keineswegs etwas grundsätzlich Schlechtes, sondern sie ermöglicht eine verbindliche soziale Ordnung, die auf Verlässlichkeit und Vertrauen gründet und ‚Normalität‘ wahrnehmbar und möglich macht. Indem normative Aussagen aber ‚Normalität‘ herstellen, treffen sie zugleich immer auch Unterscheidungen: zwischen ‚erwünscht‘ und ‚unerwünscht‘, ‚richtig‘ und ‚falsch‘, ‚normal‘ und ‚abweichend‘ usw. Das heißt, neben der Normalität wird stets auch das produziert, was von ihr abweicht, also abweichendes Verhalten - und damit auch die abweichende Person oder gar der Außenseiter (Becker 1973). An diesem Punkt stellt sich dann die Frage, wie mit diesen Abweichungen umgegangen und wie Normalität und damit das Einhalten der Normen abgesichert wird. Dies geschieht, wie wir gleich sehen werden, über die unterschiedlichen Formen von sozialer Kontrolle. 4.2 Gesundheit und Krankheit als soziale Kontrolle Versteht man unter ‚Normalität‘ das ‚Leben in geordneten Verhältnissen‘ (Luckmann 1973: XI) und setzt sie gleich mit dem im Alltag ‚allgemein Erwartbaren‘ (Schnabel u.a. 2009: 13), dann ist soziales Verhalten, das der jeweiligen Vorstellung von Normalität nicht entspricht, abweichendes Verhalten. Zwar werden unter abweichendem Verhalten häufig vor allem deviante und ‚kriminelle‘ Verhaltensweisen subsummiert, aber schon der Begründer der modernen Gesundheits- und Medizinsoziologie, Talcott Parsons, hatte keinen Zweifel daran gelassen, dass auch die Krankheit dazu zu zählen sei: „Unsere Grundannahme […] geht davon aus, dass Kranksein in einer wesentlichen Hinsicht als eine Form abweichenden Verhaltens aufzufassen ist […]. In dieser Perspektive gewinnen die Rolle des Kranken und die des Arztes eine Bedeutung als Mechanismus der sozialen Kontrolle“ (Parsons 1958: 52). Gesundheit und Krankheit als soziale Kontrolle 101 Bevor allerdings diese Rollen des Kranken und der Ärztin genauer erläutert werden, soll zunächst der Begriff der ‚sozialen Kontrolle‘ eingehender betrachtet werden. Sehr allgemein gesprochen handelt es sich bei sozialer Kontrolle um jene Prozesse und Mechanismen, die in einer Gesellschaft eingesetzt werden, um ihre Mitglieder zu Verhaltensweisen zu bewegen, die in dieser Gesellschaft als erwünscht bewertet werden. Zu unterscheiden ist dabei zwischen [a] einer aktiven und [b] einer reaktiven sozialen Kontrolle. [a] Aktive soziale Kontrolle: Bei der aktiven sozialen Kontrolle handelt es sich um solche Mechanismen, die unerwünschtes Verhalten präventiv auszuschließen suchen. Dies können ganz konkrete Anwendungsfelder sein: So kann man z.B. einen Verkehrsraum durch künstliche Bodenwellen oder Barrieren so gestalten, dass ein zu schnelles Fahren und damit entsprechende Unfälle gar nicht erst möglich sind; man kann vermeintlich ungesunde Lebensmittel (wie z.B. solche mit viel Fett oder Zucker) oder Genussmittel (etwa Zigaretten) mit hohen Steuern belasten, um deren Konsum unattraktiver zu machen; oder man kann, wie es einige Krankenkassen gegenwärtig versuchen, Personen mit so genannten Gesundheits-Apps ausstatten, um sie z.B. zu mehr Bewegung zu ermutigen. Diese drei Maßnahmen können als sehr konkrete Formen aktiver sozialer Kontrolle verstanden werden, was im Übrigen für die meisten Interventionen im Sinne von Gesundheitsförderung und Prävention gilt. Auf übergeordneter Ebene wirkt die aktive soziale Kontrolle aber vor allem dadurch, „dass den Akteuren die Konformität selbst wünschbar gemacht wird, wobei die beiden wichtigsten Mechanismen dieses Aufbaus innerer Kontrollen die Sozialisation des einzelnen […] und die Legitimierung von Institutionen sind“ (Hess 2015: 25). Unter ersterer ist dabei jener Prozess zu verstehen, mit dem ein Individuum in einer Gruppe oder Gesellschaft sozialisiert wird: Dabei erlernt das Individuum die in der Gruppe geltenden Normen und die damit verbundenen Erwartungen, z.B. an die Inhaber unterschiedlicher sozialer Rollen und Positionen. Die wichtigsten Sozialisationsinstanzen, die die entsprechenden Lernprozesse von Kindern und Jugendlichen, aber auch von Erwachsenen prägen, sind: Familie, Kindergarten, Schule, Freundeskreis (die so genannte Peer-Group), Beruf, Kollegen etc. In diesen Kontexten erlernt das Individuum, 102 Normativität und Gesundheit was von ihm in der Gesellschaft erwartet wird, aber auch wie es sich z.B. mit Blick auf Gesundheit und Krankheit zu verhalten hat. Als Bestandteil dieser Inhalte der Sozialisation werden auch Aspekte vermittelt, die die jeweilige Sozialstruktur der Gesellschaft legitimieren: Für eine kapitalistische Gesellschaft bedeutet das beispielswiese, es als legitim anzuerkennen, dass es soziale Ungleichheit und damit arme und reiche Menschen gibt und dass unterschiedliche Berufe höchst unterschiedlich bezahlt werden und zudem mit unterschiedlichen Gesundheitsrisiken verbunden sind. Dem Individuum wird nahegelegt, sich mit der von ihm erreichten Position innerhalb der Gesellschaft zufrieden zu geben oder legitime (und legale) soziale Mittel zu nutzen, um seine Position in der Gesellschaft zu verändern. Auf diese Weise bringen Sozialisation und Legitimation als Endprodukt ‚gewolltes Sollen‘ oder auch eine ‚gewollte Konformität‘ hervor, indem die aktive soziale Kontrolle in die Motivation und Selbstinterpretation der Individuen eingeht. Hierzu gehört auch die Akzeptanz sozialer Ungleichheit, also jenes Phänomens, das in einem engen Bedingungsverhältnis zur gesundheitlichen Ungleichheit steht. Allerdings, so Hess (2015: 26), bleibe die Wirkung der aktiven soziale Kontrolle begrenzt, vor allem auch deshalb, weil Sozialisation und Legitimierung stets unvollständig bleiben müssten, denn: „Der Mensch bleibt ein im Prinzip freies und das ihm Vorgegebene durch eigene Sinngebung interpretierendes und damit überschreitendes Wesen.“ Dies gilt umso mehr, wenn man bedenkt, dass der sozialisierende Einfluss auf das Individuum nicht eindimensional, sondern im Gegenteil höchst vielgestaltig ist, dass der Mensch also im Schnittpunkt vieler sozialer Einflüsse steht und viele unterschiedliche Rollen zu spielen und viele (ggf. gegenläufige) normative Erwartungen zu erfüllen hat. Die über Sozialisation und Legitimation verinnerlichte Kontrolle entfalte so betrachtet sogar widerstreitende normative Orientierungen und sei daher, so Hess (2015: 26), „mit einer gewissen Skepsis zu betrachten“. Was es daher braucht, ist so etwas wie eine zweite Ebene der sozialen Kontrolle, die dann zum Einsatz kommt, wenn die aktive soziale Kontrolle nicht zum Erfolg geführt hat. Diese zweite Ebene ist die reaktive soziale Kontrolle. [b] Reaktive soziale Kontrolle: Von reaktiver sozialer Kontrolle spricht man dann, wenn (gewissermaßen trotz aktiver sozialer Kontrolle) ein un- Gesundheit und Krankheit als soziale Kontrolle 103 erwünschtes Verhalten stattgefunden hat, auf das nun mit Sanktionen reagiert wird. Unterschieden wird dabei gemeinhin zwischen einer formellen und einer informellen sozialen Kontrolle. Die ‚informelle Kontrolle‘ wird von Akteuren oder Interaktionspartnern ausgeübt, deren primärer Zweck nicht die Ausübung von Kontrolle, sondern eher das Zusammen-Leben oder Zusammen-Arbeiten ist, das heißt es geht um Sanktionierungen in der Familie oder im Freundeskreis, in der Schule oder im Betrieb, in Kirche, Partei etc. Dabei können sowohl psychische Sanktionen (z.B. Spott, Missbilligung, Rüge, Statusverlust oder Beendigung von Beziehungen) zum Einsatz kommen als auch physische (also gewaltförmige) oder ökonomische Sanktionen (etwa Verlust von Einkommen oder des Arbeitsplatzes). ‚Formelle Kontrolle‘ hingegen findet dann statt, wenn sie von eigens für diesen Zweck bereitgehaltenen Stäben ausgeübt wird, also von der Polizei, vom Jugendamt, vor Gericht, im Strafvollzug usw. Das Handeln dieser Akteure wird zwar auch von informellen Normen geprägt, es ist aber vor allem durch das formelle Recht geleitet und bestimmt, das je nach Anwendungsbereich eine Vielzahl unterschiedlicher Sanktionen und Maßnahmen als Reaktion auf Abweichung vorsehen kann (vgl. hierzu ausführlicher Hess 2015: 29f.; Schmidt-Semisch 2016). Wichtig für unseren Zusammenhang ist, dass die konkreten Kontrollreaktionen, die im Einzelfall zur Anwendung kommen, weitgehend davon abhängig sind, welche Diagnose das infrage stehende, abweichende Verhalten erhält. So ist z.B. gut nachvollziehbar, dass ‚Kriminalität‘ und ‚Krankheit‘ als unterschiedliche Diagnosemuster zu verstehen sind, die sehr verschiedene Reaktionen nach sich ziehen: „Der wichtigste Unterschied zwischen Kriminalisierung und Pathologisierung liegt im Grad der Zuschreibung von Verantwortung. Der Kriminelle wird für ein gewolltes Handeln zur Rechenschaft gezogen, dem Kranken aus einem ungewollten Zustand, an dem er selbst leidet und aufgrund dessen ihm sein abweichendes Verhalten für eine gewisse Zeit nachgesehen wird, herausgeholfen; der Kriminelle wird bestraft, der Kranke behandelt“ (Hess 2015: 31). Aber so einfach und einleuchtend diese idealtypische Unterscheidung zwischen Kriminalität und Krankheit, zwischen Bestrafung und Behand- 104 Normativität und Gesundheit lung, zunächst erscheint, so schwierig gestaltet sie sich auf den zweiten Blick. Wir wollen dies an zwei Beispielen deutlich machen: [1] der sozialen Kontrolle, die in der Rolle des Kranken angelegt ist, und [2] den jüngeren gesundheitspolitischen Entwicklungen, die die Bestrafung von Kranken in greifbare Nähe rücken lassen. [1] Für Talcott Parsons (1967: 71) ist Gesundheit ein Zustand optimaler Leistungsfähigkeit, der es einer Person erlaubt, ihre gesellschaftlichen Aufgaben und Rollen zu erfüllen. Aus diesem Gesundheitsverständnis heraus hatte er konstatiert, dass der Kranke, auch wenn er nicht bestraft, sondern behandelt werde, doch gleichwohl unterschiedlichen Mechanismen der sozialen Kontrolle unterworfen sei (Pasons 1958: 16f.). Der Grund dafür sei, dass die Kranke qua ihrer Rolle von allerlei sozialen Verpflichtungen (z.B. zur Arbeit oder zum Schulbesuch) freigestellt werde, was als ein sekundärer Krankheitsgewinn anzusehen sei, den der Patient erlangen und sichern sowie - „normalerweise unbewusst“ - erhalten wolle. Die Kontrolle des Kranken bestehe daher zunächst einmal darin, dass der Status des Krankseins sowie die damit verbundenen Privilegien und Freistellungen legitimiert werden müssten, wobei als legitimierende Instanz die Ärztin fungiere: Sie allein entscheidet darüber, ob und wie lange der Patient krank ist und von welchen Rollenverpflichtungen er entbunden wird. Die weiteren Kontrollmechanismen, so Parsons (1958: 17), ergäben sich sodann aus der Rolle des Kranken selbst: Zwar sei der Kranke einerseits von der Verantwortlichkeit für seine Krankheit entbunden; andererseits gehöre es aber zweifellos zu seiner Rolle, dass er auch selbst sein Kranksein als unerwünscht bewertet, verbunden mit der entsprechenden Verpflichtung, ‚gesund werden zu wollen‘. Hierzu gehöre schließlich auch, dass der Kranke verpflichtet sei, mit dem Arzt im Rahmen seiner Behandlung zu kooperieren. Insofern sei das Gegenstück zur Verpflichtung des Arztes, sich ausschließlich vom Wohle der Patientin leiten zu lassen, die Verpflichtung der Patientin, nach bestem Vermögen das ihre zur Genesung beizutragen (Parsons 1958: 18). Auf diese Weise werde verhindert, dass es sich der Kranke in seiner Rolle einrichtet und die damit verbundenen Entpflichtungen dauerhaft legitimieren kann. Soziale Kontrolle existiert aber Gesundheit und Krankheit als soziale Kontrolle 105 nicht nur mit Blick auf die Rolle des Patienten, sondern ebenso hinsichtlich der Rolle der Ärztin, insbesondere was den Zugang der Ärztin zum Körper des Patienten angeht (vgl. hierzu ausführlicher Parsons 1958: 26-32). [2] Dass man Kranke nicht für ihre Krankheit verantwortlich macht, dass man sie nicht bestrafen, sondern behandeln soll, dieser gesellschaftliche (normative) Konsens bekommt seit einigen Jahren Risse: Die reaktive soziale Kontrolle in Form von Sanktionen steht zunehmend auch mit Blick auf gesundheitlich relevante Verhaltensweisen zur Debatte. Denn mit der Zunahme des medizinischen und gesundheitswissenschaftlichen Wissens sind nicht nur die Optionen gewachsen, (allen) Menschen eine bessere Gesundheit zukommen zu lassen, sondern vor allem auch die Anforderungen an die Individuen, dieses Wissen adäquat und eigenverantwortlich umzusetzen. Es entwickele sich, so Schmidt (2008: 10), eine ‚Pflicht zur Gesundheit‘. Zentraler Bezugspunkt dieser Debatte über den ‚richtigen‘ Umgang mit Gesundheit ist dabei seit einiger Zeit die Frage der Finanzierbarkeit der gesundheitlichen Versorgung. Die damit zugleich kommunizierte ‚Knappheit‘ der finanziellen Mittel lässt es folgerichtig erscheinen, „auch in der Gesundheitspolitik die Eigenverantwortung und Eigenvorsorge des Bürgers zu einer immer gewichtigeren Forderung“ (Dahme & Wohlfahrt 2007: 80) zu machen. Dabei verweist die individuelle Pflicht zur Gesundheit nicht nur auf das Wohlbefinden des Individuums selbst, sondern vor allem auch auf die moralischsoziale Verantwortung der Subjekte gegenüber den knappen Ressourcen der Gemeinschaft: Wer sich gesundheitsabträglich verhält, wer sich nicht gesundheitsförderlich betätigt oder bestimmte Vorsorgemaßnahmen nicht ergreift, schadet nun, so die dahinterliegende Logik, nicht mehr nur sich selbst und seiner Gesundheit, sondern schädigt wissentlich die Ressourcen der Gemeinschaft (vgl. Lessenich 2009: 83). In der Konsequenz werden all diejenigen, die sich nicht an die Normen der „Gesundheitsgesellschaft“ (Kickbusch) halten wollen oder halten können - also die Übergewichtigen und die ‚Softdrink-Junkies‘, die Raucher und die ‚Bewegungsmuffel‘ usw. - zu Präventionsverweigerern, die ihre verhaltensbedingten und daher vermeidbaren Krankheiten selbst verursacht haben. Kranke, so 106 Normativität und Gesundheit Schmidt (2010a: 31), seien in dieser Logik nicht mehr Opfer von Pech oder gesundheitsriskanten Lebensbedingungen, sondern vor allem „tatverdächtig aufgrund ihrer mangelnden Anstrengungen zur gesundheitlichen Selbstoptimierung“. Vor diesem Hintergrund greift die reaktive soziale Kontrolle im Form von Sanktionen zunehmend auch auf gesundheitlich relevante Verhaltensweisen zu. Da diese Debatten in aller Regel mit Verweis auf die vermeintlich knappen Ressourcen in der Gesundheitsversorgung geführt werden, sind sie Teil der Auseinandersetzungen darüber, wie die vorhandenen Ressourcen ‚gerecht‘ verteilt werden (sollen). 4.3 Gesundheit und Gerechtigkeit Der Zusammenhang von Gesundheit und Gerechtigkeit ist vielfältig und komplex. Dabei ist zunächst festzustellen, dass die beiden Begrifflichkeiten in hohem Maße normativ bestimmt sind, da sie stets auf einen Bewertungsmaßstab rekurrieren, dessen Anwendung sich zwischen gesund und ungesund (oder krank) bzw. zwischen gerecht und ungerecht bewegt. Zugleich sind Gesundheit und Gerechtigkeit aber auch hochrangige gesellschaftliche Werte, die moralisch stark aufgeladen sind, wobei vor allem aber Gesundheit einen besonderen Stellenwert einzunehmen scheint. Zwar sollte man Gesundheit u.E. keineswegs verabsolutieren, etwa im Sinne des sprichwörtlich gewordenen Schopenhauer-Zitates: „Gesundheit ist nicht alles, aber ohne Gesundheit ist alles nichts“; dies würde ja allen erkrankten oder gehandicapten sowie vielen alten Menschen grundsätzlich die Möglichkeit absprechen, ein erfülltes und tätiges Leben führen zu können. Gleichwohl aber muss man in Rechnung stellen, dass Gesundheit (ähnlich wie Freiheit und Sicherheit) eine wichtige Voraussetzung für die Realisierung vieler Aktivitäten und Lebenspläne ist: Die allermeisten Mitglieder unserer Gesellschaft würden wohl zustimmen, dass Gesundheit „von wesentlicher Bedeutung für die Dauer, Qualität und Gestaltungsmöglichkeiten des Lebens ist“ (Rauprich 2010: 267). Diese große Bedeutung, die der Gesundheit zugeschrieben wird, erklärt (zumindest teilweise), dass im Krankheitsfall vor allem die medizinische Versorgung für uns einen sehr hohen ethischen Stellenwert hat. Daher Gesundheit und Gerechtigkeit 107 geht es, wenn vom Zusammenhang von Gesundheit und Gerechtigkeit oder auch von ‚Gesundheitsgerechtigkeit‘ die Rede ist, in aller Regel um die Frage nach der gerechten Verteilung (oder ‚Allokation‘) der Ressourcen der Gesundheitsversorgung. Dabei wird der Anspruch erhoben, dass alle Menschen alle medizinisch notwendigen Behandlungen erhalten sollen, wenn und insoweit sie dieser bedürfen. Eine grundsätzlich ungleiche gesundheitliche Versorgung unterschiedlicher Bevölkerungsgruppen erscheint zumindest in Deutschland undenkbar: Die meisten Menschen sehen zwar kein ernsthaftes Problem sozialer Gerechtigkeit darin, dass man besser wohnen, exquisiter essen, bequemer reisen und sich ausgesuchter kleiden kann, wenn man mehr Geld zur Verfügung hat; und sie sehen auch kein Gerechtigkeitsproblem darin, dass manche Menschen ein Vielfaches des Einkommens anderer verdienen. Gleichzeitig jedoch stellen wir sicher, dass auch die finanziell schwachen Bevölkerungsschichten die gleiche Gesundheitsversorgung erhalten wie alle anderen (gesetzlich) Versicherten auch (vgl. Rauprich 2010: 267; Huster 2011: 9f.). Oliver Rauprich verweist vor diesem Hintergrund auf die Bedeutung, welche die medizinische Versorgung für die soziale Anerkennung von Menschen habe: „Medizin hat in modernen Gesellschaften einen so hohen Stellenwert erhalten, dass es nicht nur gesundheitsgefährdend, sondern auch erniedrigend wäre, von der Versorgung ganz oder in wesentlichen Teilen ausgeschlossen zu werden […]. Nicht wenige sehen in der Gesundheitsversorgung ein Menschenrecht“ (Rauprich 2010: 268). In Deutschland schreibt man der gleichen und daher gerechten Versorgung (fast) aller Bürger einen so hohen Wert zu, dass der Abschluss einer Krankenversicherung für alle Bürger zur Pflicht gemacht wurde: Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen, deren Bruttoarbeitsentgelt die aktuelle Jahresarbeitsentgeltgrenze (im Jahr 2017 lag diese bei 57.600 Euro) nicht übersteigt, sind pflichtversichert in der gesetzlichen Krankenkasse (GKV); Personen, die nicht pflichtversichert sind, müssen sich freiwillig in der gesetzlichen oder aber in der privaten Krankenversicherung (PKV) versichern. Interessant ist an dieser Kombination aus GKV und PKV, dass beide Versicherungssparten zwar einer gerechten Gesundheitsversorgung dienen sollen, dass sie dabei aber zwei völlig unterschiedlichen Gerechtigkeitsprinzipien folgen: Die PKV versucht durch 108 Normativität und Gesundheit Gesundheitsprüfungen herauszubekommen, wie hoch das Erkrankungsrisiko ihrer jeweiligen Versicherten ist und welche Vorerkrankungen sie ggf. aufweisen. Danach errechnet sich der zu zahlende Tarif: Wer hohe Risiken (etwa Rauchen, Übergewicht, Bluthochdruck) oder Vorerkrankungen (z.B. Diabetes) aufweist, bezahlt mehr als jemand, der diese Risiken nicht hat. Über die gestaffelte Versicherungsprämie sollen Risikounterschiede ausgeglichen und ‚Risikogleichheit‘ hergestellt werden: Auf diese Weise wird das Versichertenkollektiv homogenisiert und eine über Versicherungsmathematik vermittelte ‚Gerechtigkeit‘ erzeugt: die über den Markt vermittelte Solidarität von Risikogleichen. Ganz anders verhält es sich dagegen bei der GKV. Sie knüpft ihre Leistung nicht an die Idee der Risikogleichheit der Versicherten, sondern vielmehr werden Risikounterschiede - gerade umgekehrt - systematisch nicht berücksichtigt: Die Versicherungsprämie orientiert sich nicht am Risiko, sondern am Einkommen des Versicherten. In diesem Sinne handelt es sich bei der GKV nicht um ein homogenes, sondern um ein heterogenes Versicherungskollektiv: Es ist eine erzwungene Solidarität von ‚Risikoungleichen‘ (vgl. Schmidt-Semisch 2000). Wir haben es also mit zwei unterschiedlichen Logiken von Solidarität und Gerechtigkeit zu tun: Die erste ist die über den Markt vermittelte Solidarität des Versichertenkollektivs, die entsprechend der versicherungsmathematischen Gerechtigkeit hohe Risiken mit hohen und geringe Risiken mit geringen Tarifen belegt; die zweite ist die vom Staat erzwungene Solidarität des Sozialversicherungskollektivs, die entsprechend einer ‚sozialen Gerechtigkeit‘ die Tarife an das Einkommen knüpft. Obwohl sie also ganz unterschiedlichen Gerechtigkeitsprinzipien folgen, gewährleisten beide Versicherungsarten auf ihre Weise, dass jeder und jede die jeweils medizinisch gebotene Behandlung erhält. Kritik rankt sich allerdings darum, dass die PKV (je nach Tarif) mehr Leistungen bezahlt als die GKV (z.B. Chefarztbehandlung, Einzelzimmer, bestimmte Behandlungsformen) und auch die ärztlichen Leistungen besser vergütet. Dabei ist es umstritten, ob die Qualität der Versorgung für PKV-Versicherte immer besser ist oder ob es sich vor allem um Komfortunterschiede oder sogar um Formen der Überversorgung handelt. Seit einiger Zeit wird in diesem Zusammenhang auch über die ‚Bürgerversicherung‘ diskutiert, die die Trennung in PKV und GKV langfristig aufheben und alle Bürger gleichermaßen versichern soll. Ob die unterschiedlichen Formen Gesundheit und Gerechtigkeit 109 der Krankenversicherung ‚gerecht‘ sind und ob eine Versicherungsform gerechter ist als eine andere: Dies sind Fragen, die (auch von der Wissenschaft) nicht objektiv, sondern nur normativ beantwortet werden können. Die Frage der gerechten Verteilung stellt sich im System der Gesundheitsversorgung aber auch unabhängig von der Art und Organisationform der Krankenversicherung. Weil die verfügbaren Mittel innerhalb des Systems begrenzt sind, muss man fragen, nach welchen Kriterien die begrenzten Mittel (gerecht) verteilt werden sollen. Dabei wird seit einigen Jahren auch über Priorisierungen nachgedacht: Priorisierung ist ein Verfahren, in dem als Prioritäten z.B. der Nutzen oder die Effizienz medizinischer Maßnahmen festgelegt werden, um diese Maßnahmen so in eine Rangordnung zu bringen: Die nützlichen oder effizienten Maßnahmen der oberen Ränge werden dann z.B. von der Krankenversicherung übernommen, die weniger nützlichen oder effizienten Maßnahmen der unteren Ränge dagegen nicht. Es werden aber durchaus auch Priorisierungskriterien diskutiert, die sich auf bestimmte Personenmerkmale beziehen, etwa auf das Alter oder das Gesundheitsverhalten. Fragen, die sich dann stellen können, sind z.B: Ist es mit Blick auf die begrenzten Ressourcen gerecht, Menschen, die älter als 80 Jahre sind, (noch) ein künstliches Knie- oder Hüftgelenk einzusetzen? Ist es gerecht, dass die Krankenversicherung die Lebertransplantation bei einem alkoholkranken Patienten übernimmt, also bei einer Person, die sich durch ihr Konsumverhalten vermeintlich selbst geschädigt hat? Wäre es überdies nicht gerechter, die ohnehin knappen Spenderorgane für diejenigen Patienten zu reservieren, die sich ‚gesundheitskonform‘ verhalten haben und weiterhin verhalten? Ist es gerecht, dass das Versichertenkollektiv für Krankheiten aufkommen muss, die Menschen aufgrund ihrer riskanten oder verletzungsträchtigen Sportarten erleiden? Und wenn schon jeder die Freiheit hat und haben soll, solche Sportarten zu betreiben, aber auch Zigaretten zu rauchen, Alkohol zu trinken und übergewichtig zu sein, wäre es dann nicht gerecht, wenn die jeweiligen Personen ihre Risiken selbst tragen und für etwaige Erkrankungen selbst aufkommen oder zumindest Risikozuschläge zur Krankenversicherung entrichten müssten? Auch hier zeigt sich, dass es keine wissenschaftlich objektiven Antworten auf diese Fragen geben kann. Vielmehr erfordern Überlegungen zu Prio- 110 Normativität und Gesundheit risierungen oder auch Rationierungen die explizite Formulierung und Diskussion von Werten und stellen insofern eine originär politische Aufgabe dar. Menschen notwendige medizinische Behandlungen zu versagen, erscheint dabei möglicherweise ebenso so ungerecht, wie eine ungebremste Erhöhung der Gesundheitsausgaben, die die Ressourcen in anderen gesellschaftlichen Bereichen reduziert: „Eine konkrete Obergrenze der Gesundheitsausgaben lässt sich aus diesen Argumenten […] nicht ableiten, sondern muss vielmehr normativ festgelegt werden. Die Mittelknappheit im Gesundheitswesen ist folglich kein von Natur aus vorgegebener, sich unserer Verfügungsgewalt entziehender Zustand. Sie beruht vielmehr auf Wertsetzungen, die zum einen vom medizinischen Entwicklungsstand und der ökomischen Leistungsfähigkeit der Gesellschaft abhängen, zum anderen aber auf die grundlegende Frage verweisen, wie viel wir bereit sind, für die Gesundheitsversorgung im Vergleich zu anderen Gütern auszugeben“ (Marckmann 2008: 891). Vor diesem Hintergrund stellt sich zudem die Frage, was man alles zu den Gesundheitsausgaben zählen will: Bezieht man diese Ausgaben auf das engere System der gesundheitlichen Versorgung, also insbesondere die kurativen, rehabilitativen, palliativen und präventiven Leistungen der Medizin und der Gesundheitsberufe? Oder fasst man den Bereich der Gesundheitsausgaben weiter und bezieht hier auch Bereiche mit ein, die zwar nicht zum engeren Gesundheitssystem gehören, die aber gleichwohl erheblichen Einfluss auf die Gesundheit haben? Diese Fragen verweisen auf das oben (→ Kap. 3) bereits ausführlich dargestellte Problem der gesundheitlichen Ungleichheit, die mit sozialer Ungleichheit korreliert und mit unterschiedlichen sozialen Determinanten assoziiert ist. Nach Lampert & Kroll (2014: 3) ergibt sich für Deutschland zwischen den Haushalten im niedrigsten und im obersten Einkommensviertel ein Unterschied in der Lebenserwartung von ca. elf Jahren bei Männern und rund acht Jahren bei Frauen: „Dabei haben nicht nur die Ärmsten und Schwächsten einer Gesellschaft gesundheitliche Nachteile, sondern die gesundheitlichen Ungleichheiten ziehen sich entlang eines sozioökonomischen Gradienten durch die gesamte Gesellschaft bis hinauf zu den privilegiertesten Gruppen“ (Rauprich 2016: 95f.). Daraus folgt, dass allein ein Mehr an gesellschaftlichem Wohlstand gesundheitliche Ungleichheit nicht reduziert, solange dieser Wohlstand Gesundheit und Gerechtigkeit 111 ungleich verteilt ist. Auch wenn die ‚unteren Bevölkerungsschichten‘ über ausreichend Ressourcen verfügen würden, um ein gesundes Leben führen zu können, so führte deren ungleiche Verteilung gleichwohl zu sozioökonomischen Hierarchien und den damit verbundenen psychosozialen Stressoren. Für Richard Wilkinson und Kate Pickett (2010: 101) sind die epidemiologischen Befunde eindeutig: Die Ungleichverteilung von Einkommen, Bildung und Status führe zu einer geringeren Lebenserwartung, zu geringerem Geburtsgewicht und höherer Säuglingssterblichkeit; die Menschen erreichten eine geringere Körpergröße und seien anfälliger für Infektionskrankheiten und Depressionen. Insofern habe die Ungleichverteilung Konsequenzen, die über die materielle Ebene hinausreichen: So führten z.B. „Einkommensunterschiede über soziale Vergleiche mit Nachbarn, Kollegen und anderen Personen zu Über- und Unterlegenheitsverhältnissen, die zum Auseinanderdriften der Gesellschaft führen. Dies wiederum führt zu größer werdender sozialer Distanz, zur Abgrenzung sozialer Gruppen gegeneinander und zur Entsolidarisierung“ (Geyer 2016: 107). Vor diesem Hintergrund müsse man zugleich feststellen, dass gesundheitliche Ungleichheit nicht durch das Gesundheitssystem oder eine weiter gesteigerte gesundheitliche Versorgung reduziert werden könne: Da steigende Ausgaben des Gesundheitssystems einen sinkenden Grenznutzen hätten und ab einer bestimmten Höhe nicht zu einer weiteren Erhöhung der Lebenserwartung beitrügen, sei nicht zu erwarten, „dass zusätzliche Mittel für das Gesundheitswesen zu einer signifikanten Verringerung gesundheitlicher Ungleichheiten führen würden“ (Rauprich 2010: 266). Stattdessen müsse man in Rechnung stellen, dass eine Reduzierung gesundheitlicher Ungleichheiten letztlich nur durch eine Verringerung der Einkommens-, Bildungs- und Statusunterschiede in einer Gesellschaft erreicht werden könne. Vor diesem Hintergrund stelle sich die Frage der Priorisierung dann gänzlich anders: Zu fragen sei nicht mehr ausschließlich, welche medizinischen Versorgungsmaßnahmen nützlicher oder effizienter seien, und auch nicht, wer die jeweiligen Maßnahmen z.B. aufgrund seines Verhaltens gerechterweise verdient habe und wer nicht. Nun müsse vielmehr nach den Grenzen der medizinischen Versorgung selbst gefragt werden und danach, ob die Investition der finanziellen Ressourcen nicht in ande- 112 Normativität und Gesundheit ren sozialen Bereichen der Gesundheit zuträglicher wäre. Überlegungen dieser Art fielen wiederum eher in die Zuständigkeit der Disziplin Public Health, die im Vergleich zur Medizin allerdings ein Schattendasein führe, weil ihre sozialpräventiven Maßnahmen eine wesentlich geringere technische Faszination entwickelten als jene der Medizin. Dies erscheine vielen inzwischen allerdings als irrational, so Rauprich, weil „die medizinische Versorgung, so entscheidend sie für Patienten im Einzelfall sein mag, von geringerer Bedeutung für die öffentliche Gesundheit ist, als andere soziale Faktoren. Wenn es wirklich um die Gesundheit der Bevölkerung geht und um den Abbau von gesundheitlichen Ungleichheiten, dann sollten die Prioritäten genau umgekehrt gesetzt werden und Public Health Vorrang vor der Medizin gegeben werden“ (Rauprich 2010: 268). In ähnlicher Weise argumentiert auch Norman Daniels (2008), dessen Buch „Just Health. Meeting Health Needs Fairly“ zu den einflussreichsten Arbeiten im Feld der Gesundheitsgerechtigkeit zählt. Auch für Daniels sind keineswegs nur die Medizin und das Gesundheitswesen von gesundheitlicher Bedeutung, sondern ebenso die sozioökonomischen Faktoren Einkommen, Bildung und sozialer Status. Sein zentraler Gedanke ist dabei: „Wenn Public Health und Medizin eine besondere Bedeutung für die soziale Gerechtigkeit haben, weil Gesundheit eine wesentliche Voraussetzung für normale Lebensmöglichkeiten ist, dann sollten die sozialen Einflussfaktoren auf die Gesundheit ethisch ebenso bedeutend sein. Einkommen, Bildung und soziale Anerkennung sind für Daniels Gesundheitsbedürfnisse (health needs), die genau wie Public Health und Medizin notwendig für den Schutz der normalen Funktionsfähigkeit von Menschen sind“ (Rauprich 2016: 96). Insoweit sind für Daniels, wenn denn von Gesundheitsgerechtigkeit gesprochen werden soll, neben der medizinischen Versorgung auch Public-Health-Maßnahmen und zudem ein faires Maß an Einkommens- und Bildungschancen sowie an sozialer Anerkennung notwendig. Aber wie werden Einkommen, Bildung und soziale Anerkennung fair und gerecht verteilt? Und wann sind soziale Ungleichheiten, die in einer kapitalistischen Gesellschaft unhintergehbar scheinen, ungerecht? Wir können diese und ähnliche Fragen hier nicht ausführlich und schon gar nicht erschöpfend oder abschließend diskutieren. Dies ist vielmehr die selbst- Normativität in Gesundheitsförderung und Prävention 113 gestellte Aufgabe von Gerechtigkeitstheorien: Von besonderer Bedeutung sind dabei einerseits die Arbeiten zu einer „Theorie der Gerechtigkeit“ von John Rawls (1979), an dessen Überlegungen z.B. auch Norman Daniels (2008) anknüpft, und andererseits die Ausführungen von Amartya Sen z.B. zu einer „Ökonomie für den Menschen. Wege zu Gerechtigkeit und Solidarität in der Marktwirtschaft“ (2002) sowie von Martha Nussbaum etwa zu „Creating Capabilities. The Human Development Approach“ (2011). Aber auch wenn diese großen Gerechtigkeitsfragen (der gesellschaftlichen Verhältnisse) in den Gesundheitswissenschaften und Public Health inzwischen vermehrt diskutiert werden (vgl. z.B. Bittlingmayer & Ziegler 2012 sowie die Beiträge in Huster & Schramme 2016), so setzen die konkreten Public-Health-Maßnahmen der Gesundheitsförderung und Prävention häufig vor allem auf der Ebene des Verhaltens und dessen Veränderung an. Auch und gerade auf dieser Ebene scheint es daher geboten, sich der normativen Gegebenheiten zu vergewissern und diese zu reflektieren. 4.4 Normativität in Gesundheitsförderung und Prävention Wir hatten oben festgestellt, dass Normen zwar einerseits als ein fester und unausweichlicher Bestandteil von Gesellschaft verstanden werden müssen, dass sie aber andererseits nie etwas objektiv Gegebenes, sondern stets kulturell (das heißt von Menschen) ausgehandelte und festgelegte (normative) Setzungen sind, die grundsätzlich auch anders hätten ausfallen können. Im Alltag vergessen wir allerdings meist den normativen Charakter entsprechender Aussagen oder Sachverhalte und behandeln sie ganz selbstverständlich wie vermeintlich ‚objektive‘ Tatsachen. Dies wiederum ist im Alltag wohl auch unvermeidlich, weil wir uns unsere ‚Normalität‘ nicht permanent als kontingent bewusst machen können. Im professionellen Alltag allerdings, wenn z.B. die anwendungsorientierte Wissenschaft Public Health ganz offensiv in die außerwissenschaftliche, gesellschaftliche Praxis hineinwirken will, um die Menschen gesünder zu machen, sollte die normative Einbettung dieser Interventionen Beachtung finden. 114 Normativität und Gesundheit Dabei stellt sich zunächst die sehr grundsätzliche Frage nach der normativen Ausrichtung des Gesundheitsbegriffs, die sehr unterschiedlich ausfallen kann. Wir wollen das an zwei Beispielen verdeutlichen: [a] So ist z.B. für die WHO „Gesundheit […] der Zustand des vollständigen körperlichen, geistigen und sozialen Wohlbefindens und nicht nur das Freisein von Krankheit und Gebrechen.“ Abgesehen davon, dass hier die Anforderungen an Gesundheit sehr hoch sind, handelt es sich um eine Definition, die unterschiedliche Dimensionen (physisch, psychisch und sozial) von Gesundheit benennt und die mit dem Begriff des Wohlbefindens vor allem auch das subjektive Erleben der jeweiligen Menschen in den Blick nimmt. [b] Für Talcott Parsons (1967: 71) hingegen gilt: „Gesundheit ist der Zustand optimaler Leistungsfähigkeit, um diejenigen Aufgaben und Rollen zu erfüllen, für die ein Individuum sozialisiert worden ist.“ Parsons geht es also vor allem um die Funktion, welche die Gesundheit des Einzelnen für die Gesellschaft als Ganzes hat: Gesundheit hat weniger mit Wohlbefinden zu tun, als vielmehr mit der Leistungsfähigkeit, gesellschaftliche Aufgaben zu erfüllen. Gesundheit wird hier also eher aus der Perspektive der Sicherung sozialer Strukturen definiert, was auch dazu führen könnte, dass eine Person, die sich weigert, ihre gesellschaftlichen Rollen und Aufgaben zu erfüllen, unabhängig von ihrem eigenen Empfinden als nicht gesund bezeichnet wird. Was an diesen beiden Definitionen von Gesundheit exemplarisch deutlich wird, ist, dass alle Gesundheitsdefinitionen auf eine je bestimmte normative Ordnung verweisen. Der Gesundheitsbegriff, so formuliert es Alfons Labisch (1992: 16), ist „grundsätzlich nicht von Wertvorstellungen zu trennen […]. Die Normalität des Körpers geht unmerklich in eine Normativität, eine Wertbezogenheit des Körpers über.“ Und diese Normativität von Gesundheit kann, wie bereits gesagt, höchst unterschiedliche Ausprägungen annehmen: Sie unterscheidet sich nach Kulturen, Organisationen, Milieus, Lebensstilen, Szenen usw. Und darüber hinaus wird die Wertigkeit von Gesundheit auch von den Individuen selbst höchst unterschiedlich gedeutet. Normativität in Gesundheitsförderung und Prävention 115 „Schließlich gehen Menschen häufig Gesundheitsrisiken ganz bewusst ein, um andere Ziele zu verfolgen. Eine Schwierigkeit einer allzu eingeschränkten Public Health-Perspektive, die in erster Linie und vielleicht ausschließlich Gesundheit in den Fokus nimmt, besteht entsprechend in der Verkennung der Komplexität individueller Wertorientierungen“ (Huster & Schramm 2016: 41f.). Insofern sind Health Professionals, wenn sie mit ihren gesundheitlichen Interventionen in gesellschaftliche Zusammenhänge hineinwirken wollen, stets mit ganz unterschiedlichen kollektiven und individuellen Deutungen von Gesundheit konfrontiert. Zudem sind in den meisten gesellschaftlichen Zusammenhängen neben Gesundheit noch weitere normative Orientierungen wirksam, die uns aber oft als so selbstverständlich und gleichsam ‚objektiv gegeben‘ erscheinen, dass wir ihre Normativität vergessen. Das kann dazu führen, dass wir versuchen, die Gesundheit von Menschen mit bestimmten Maßnahmen zu verbessern, und dabei übersehen, dass konkurrierende Normativitäten den Erfolg unserer Interventionen deutlich begrenzen, wenn nicht gar konterkarieren. Man kann dies gut am Beispiel der schulischen Gesundheitsförderung deutlich machen, wobei es sich dabei in der Regel um Interventionen im Sinne des ‚Setting-Ansatzes‘ handelt. Ein Setting kann dabei mit Rosenbrock & Gerlinger (2014: 91f.) verstanden werden als „ein relativ dauerhafter und den Nutzern bzw. Akteuren auch bewusster Sozialzusammenhang“, der z.B. durch eine formale Organisation (z.B. Schule, Betrieb) oder auch durch einen gemeinsamen sozialräumlichen Bezug (z.B. Stadtteil, Dorf, Quartier) begründet ist. Beim Setting-Ansatz wird zwischen Gesundheitsförderung im Setting und einem gesundheitsfördernden Setting unterschieden: Gesundheitsförderung im Setting beinhaltet die Durchführung von Gesundheitsförderungsaktivitäten etwa in einer Schule, wobei das Setting Schule vor allem zur Erreichung einer bestimmten Zielgruppe (Schüler und Schülerinnen) genutzt wird, um mit dieser klassische Interventionen der Gesundheitserziehung oder -aufklärung (meist zu den Themenbereichen Ernährung, Bewegung, Stressbewältigung, Stärkung des Selbstwertgefühls und Suchtprävention) durchzuführen. Bei Projekten zur Schaffung eines gesundheitsförderlichen Settings stehen hingegen die Partizipation der Mitglieder des Settings (bei der Schule also die Einbeziehung der Eltern und Schüler) und 116 Normativität und Gesundheit der Prozess der systemischen Organisationsentwicklung konzeptionell im Mittelpunkt (Hartung & Rosenbrock 2015). Was allerdings bei dieser schulischen Gesundheitsförderung regelhaft nicht in den Blick gerät, ist die gesellschaftliche und normative Funktion der Schule, die Schüler und Schülerinnen in gute und schlechte scheidet: in solche mit und ohne Abschluss, in jene mit Haupt- oder Realschulabschluss, in die mit und ohne Abitur, in die mit guter und mit schlechter Abiturnote usw. Insofern ist die Schule nicht nur Produzentin der als besonders gesundheitsförderlich angesehenen Bildung, sondern weist zugleich immer auch soziale Platzierungen zu, welche die soziale und damit auch die gesundheitliche Ungleichheit reproduzieren. Und selbst dann, so Bittlingmayer & Ziegler, wenn Schüler, Schülerinnen und Eltern partizipativ miteinbezogen würden, endeten deren Gestaltungsmöglichkeiten in der Regel „genau an der Schwelle, wo es um die Definitionsmacht der schulischen Urteile und Beurteilungen, also um das Monopol der Lehrkräfte geht“ (Bittlingmayer & Ziegler 2012: 8f.). Die schulische Gesundheitsförderung steht daher vor dem Dilemma, die Institution Schule mit ihren Programmen und Projekten in gesundheitlicher Hinsicht zwar durchaus aufzuwerten, damit zugleich aber umso mehr die (unhinterfragte) selektierende Funktion der Institution zu legitimieren: Auch wenn Gesundheit durchaus als ein hohes Gut angesehen wird, so wird das Schulsystem gleichwohl dominiert vom Prinzip der ‚Leistungsgerechtigkeit‘, das Bildungstitel, Status und Einkommen und damit in der Konsequenz auch Gesundheit ungleich verteilt. Normative Dilemmata dieser Art finden sich auch in vielen anderen Settings, die zum Ort gesundheitsförderlicher Interventionen werden. So geht es etwa der Betrieblichen Gesundheitsförderung (BGF) zwar auch um die Gesundheit der Mitarbeitenden, aber diese Gesundheit wird im betrieblichen Kontext nicht um ihrer selbst willen angestrebt und gefördert (etwa um ein gutes und selbstbestimmtes Leben zu leben oder um die Lebensqualität zu steigern), sondern vor allem als ‚vernutzbare‘ Ressource und Fähigkeit betrachtet, die dem Profit und der Produktivität des jeweiligen Unternehmens zugutekommen soll (vgl. Gerlinger & Stegmüller 2009: 154). Ein weiteres, für Gesundheitsförderung ambivalentes Setting ist z.B. der Strafvollzug, also ein Setting, das gleichsam per Definition antipartizipativ und fremdbestimmt strukturiert ist und inso- Normativität in Gesundheitsförderung und Prävention 117 weit eher gesundheitsabträgliche Wirkungen entfaltet: Hier konkurriert die gleichwohl stattfindende Förderung der Gesundheit mit den für den Strafvollzug zentralen Werten der Sicherheit und Ordnung. Zugleich gilt gerade auch für den Strafvollzug, dass gesundheitsförderliche Angebote und Projekte der Institution Legitimität zuführen, indem gesagt werden kann, dass man die gesundheitsabträglichen Wirkungen des Gefängnisses erkannt habe und man dem nun entgegenwirke. Was dabei allerdings regelhaft aus dem Blick gerät, ist die Frage, welche alternativen und innovativen Möglichkeiten (neben Freiheitsstrafen) es geben könnte, um mit Konflikten umzugehen und diese zu bearbeiten. Das allerdings würde bedeuten, das Strafjustizsystem ganz grundsätzlich und unter gesundheitlichem Vorzeichen auf den Prüfstand zu stellen (vgl. ausführlicher die Beiträge in Ochmann et al. 2016). Allerdings ist ein solches grundsätzliches Infragestellen etablierter und institutionalisierter gesellschaftlicher Systeme stets schwierig. Zum einen, weil wir ihren normativen Charakter in der Regel ausblenden und sie daher für unveränderlich ansehen; und zum anderen, weil ihre Veränderung aufwendig und entsprechende Unterstützung schwierig zu akquirieren ist. Kühn & Rosenbrock haben dieses Phänomen 2009 (erstmalig bereits 1994) in ihrem Aufsatz „Präventionspolitik und Gesundheitswissenschaften. Eine Problemskizze“ beschrieben: Ihre These ist, dass sich stets nur diejenigen Präventions- und Gesundheitsförderungskonzepte durchzusetzen pflegen und (vorrangig) zur Anwendung kommen, die am besten an die normativen und strukturellen Bedingungen des jeweiligen Handlungsbereichs angepasst sind - „also die bestehenden Verhältnisse am wenigsten antasten“ (Bittlingmayer et al. 2009a: 29). Im Rahmen von Gesundheitsförderung und Prävention sind damit diejenigen Konzepte und Maßnahmen angesprochen, die es erlauben, die infrage stehenden Probleme als individuelles Fehlverhalten in den Blick zu nehmen: „Die pathogenen Ursachen verbleiben beim Individuum, befinden sich dort auf der Verhaltensebene, die in der dominierenden Sichtweise wiederum auf Faktoren des so genannten ‚Lebensstils‘ reduziert werden“ (Kühn & Rosenbrock 2009: 58). Während also die typischen Schwerpunkte von Gesundheitsförderung und Prävention individuell veränderbare Verhaltensweisen seien, wie etwa Rauchen, Alkoholgenuss, Bewegungsmangel, Übergewicht, Fehlernährung und Stress, würden strukturelle Interven- 118 Normativität und Gesundheit tionen in Bereichen wie etwa Armut und soziale Ungleichheit, Erwerbs- oder Machtlosigkeit weitgehend fehlen. Auch wenn also alle wissenschaftlichen Ergebnisse dafür zu sprechen scheinen, dass es im Sinne der Gesundheit erfolgversprechender wäre, nicht nur die Verhaltensebene, sondern vor allem auch die Verhältnisse in den Fokus gesundheitlicher Interventionen zu nehmen, findet die Veränderung der Verhältnisse nur wenig Unterstützung. Dies spricht dafür, dass (zumindest jenseits der medizinischen Versorgung) Gesundheit keineswegs das höchste Gut ist, sondern je nach Bereich das Interesse an der Reproduktion sozialer Ungleichheit, an Wirtschaftlichkeit und Profit, an Sicherheit und Ordnung usw. deutlich höher bewertet wird. Insofern kann es für die Gesundheitswissenschaften und Public Health durchaus gewinnbringend sein, das eigene professionelle Handeln auch mit Blick auf die dieses Handeln umgebenden gesellschaftlichen Werte und Debatten zu reflektieren und zumindest damit zu rechnen, „dass die Gesundheitswissenschaften selbst Teil des gesellschaftlichen Herrschaftszusammenhangs sind und deshalb stets Gefahr laufen, sich an der Aufrechterhaltung der kritisierten Verhältnisse zu beteiligen“ (Schnabel u.a. 2009: 15). Zusammenfassung Normen und Werte sind feste und unhintergehbare Bestandteile von Gesellschaft. Das bedeutet aber nicht, dass sie etwas Objektives wären. Im Gegenteil: Normen werden von Menschen ausgehandelt und festgelegt und sind insoweit immer eine Setzung, die abgeändert werden kann und grundsätzlich auch anders hätte ausfallen können. Normativität ermöglicht eine verbindliche soziale Ordnung, die auf Verlässlichkeit und Vertrauen gründet und ‚Normalität‘ wahrnehmbar und möglich macht. Dabei wird neben der ‚Normalität‘ aber stets auch das produziert, was von ihr abweicht, also abweichendes Verhalten. ・ Literatur 119 Auch Krankheit kann als abweichendes Verhalten verstanden werden, das unterschiedlichen Formen sozialer Kontrolle unterworfen ist. Seit einigen Jahren werden die Menschen zunehmend für gesundheitsabträgliches Verhalten verantwortlich gemacht. Die Zuschreibung von Verantwortung erfolgt zunehmend mit Verweis auf eine ‚gerechte‘ Verteilung knapper Ressourcen im Gesundheitswesen. Allerdings kann die Wissenschaft auf die damit verbundenen Gerechtigkeitsfragen keine objektiven Antworten geben, weil es viele verschiedene Deutungen von Gerechtigkeit gibt und diese Fragen daher nur politisch und damit normativ zu beantworten sind. Wie der Gesundheitsbegriff selbst, so sind auch die Maßnahmen der Gesundheitsförderung und Prävention stets normativ eingebettet. Das kann dazu führen, dass manchmal andere Werte dominanter sind als der der Gesundheit, wodurch Maßnahmen von Gesundheitsförderung und Prävention konterkariert werden können. Literatur Becker, H.S. (1973). Außenseiter. Zur Soziologie abweichenden Verhaltens. Frankfurt a.M.: S. Fischer Verlag. Bittlingmayer, U.H., Sahrai, D. & Schnabel, P.-E. (Hrsg.) (2009). Normativität und Public Health. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften. Bittlingmayer, U. & Ziegler, H. (2012). Public Health und das gute Leben. Der Capability-Approach als normatives Fundament interventionsbezogener Gesundheitswissenschaften? 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München: dtv. 5 Medikalisierung und Healthismus Lehrziele In diesem Kapitel erfahren Sie … was Medikalisierung bedeutet und in welchen gesellschaftlichen Bereichen Medikalisierung stattfindet; wer die gesellschaftlichen Akteure sind, die hinter dem Trend zur Medikalisierung stehen, und was ihre Motive sind; welche gesellschaftlichen Entwicklungen hinter dem Trend zur Medikalisierung stehen; was Healthismus bedeutet und wie er von unterschiedlichen Soziologinnen eingeordnet wird; welche Bespiele sich für Formen der Ent-Medikalisierung und Ent-Pathologisierung finden lassen. 5.1 Definition von Medikalisierung Unter Medikalisierung wird in erster Linie die Ausweitung von medizinischen und psychologischen Diagnosen verstanden: Eine steigende Zahl an Phänomenen wird als Krankheit bzw. psychische Störung definiert, registriert, katalogisiert und therapiert. Als Beispiel für Medikalisierung nennt der Medizinsoziologe Irving Kenneth Zola unter anderem das Phänomen, dass immer mehr eigentlich ‚normale‘ Lebensphasen in die Zuständigkeit der Medizin fallen, etwa Geburt und Schwangerschaft oder auch Alterungsprozesse (Zola 1977). Ganz offensichtlich, so der Medizinsoziologie Peter Conrad (2007), steige die Zahl der individuellen und sozialen Problemlagen, die als Thema der Medizin aufgefasst werden. Weniger eindeutig sei hingegen die Deutung dieses Befundes. Heißt das, so fragt Conrad, dass es in modernen 124 Medikalisierung und Healthismus Gesellschaften mehr medizinische Problemlagen gibt oder dass die Medizin besser als früher in der Lage ist, individuelle und soziale Probleme zu identifizieren und zu behandeln? Oder bedeutet es, dass es immer mehr soziale und individuelle Probleme gibt, denen eine medizinische Diagnose zugewiesen wird und die mit medizinischen Methoden bekämpft werden (Conrad 2007). Die von Conrad aufgeworfenen Fragen verweisen auf den zweiten wesentlichen Aspekt von Medikalisierung, dass diese nämlich nicht einfach nur auf bislang unentdeckte Probleme reagiert, sondern sie überhaupt erst schafft. Das heißt zum einen, dass die Medizin als Teilgebiet der Gesundheitsversorgung Krankheiten gewissermaßen erfindet. Zum anderen bedeutet es, dass gesellschaftliche Akteure der Medizin von sich aus die Verantwortung für die Lösung von Problemen übertragen, die zuvor nicht als medizinische definiert waren. Dieser Lesart folgend versteht Zola unter Medikalisierung eine gesellschaftliche Entwicklung, in deren Folge die Medizin zu einer immer dominanteren Instanz der Beurteilung gesellschaftlicher Problemstellungen und moralischer Fragestellungen wird. Die Medizin werde zur wichtigsten Institution sozialer Kontrolle in modernen Gegenwartsgesellschaften, konstatierte er bereits Anfang der 1970er-Jahre. Sie verdränge bzw. vereinnahme traditionelle und etablierte Institutionen und werde so zu jener Institution, die in der Lage sei, anerkannte gesellschaftliche Wahrheiten zu definieren - eine Rolle, die früher traditionell der Religion und später dem Rechtswesen zufiel (Zola 1972). In modernen Gesellschaften aber seien akzeptierte Werturteile nicht länger an Fragen von Tugend oder Moral orientiert, sondern würden unter dem Aspekt der Gesundheit gefällt, also anhand der Frage, ob Verhaltensweisen und Einstellungen gesundheitsförderlich sind oder nicht. Dies wiederum sei nicht so sehr die Folge einer wachsenden politischen Macht medizinischer Expertinnen und Experten, als vielmehr die Folge einer gesellschaftlichen Entwicklung hin zur Medikalisierung des täglichen Lebens, bei dem die Zuschreibungen gesund oder krank für immer weitere Bereiche und Fragen der menschlichen Existenz Relevanz erhielten (Zola 1972). Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage: Was verstehen wir eigentlich unter einer Krankheit und noch wichtiger, wer definiert das? Eine Krankheit kann durch Symptome wie Schmerzen, Unwohlsein, eingeschränkte körperliche Funktionen oder das Fehlen von Körperteilen Definition von Medikalisierung 125 definiert sein. Häufig suchen Menschen aber auch nach einer medizinischen Erklärung und in deren Folge idealerweise auch nach einer medizinischen Lösung für Auffälligkeiten wie z.B. ihre exzessiven Konsummuster, ihr Dickleibigkeit, ihre Kleinwüchsigkeit, ihren Haarausfall, ihre mangelnde körperliche und sexuelle Leistungsfähigkeit, ihren Konzentrationsmangel, ihre Müdigkeit, ihre Schüchternheit, ihre Traurigkeit oder ihre Ängste. Den genannten Beispielen ist gemeinsam, dass ihre Wahrnehmung als Problem respektive Krankheit stark von gesellschaftlichen Werten und Normen abhängt, und dass sie subjektiv höchst unterschiedlich empfunden werden können. Dass immer mehr dieser Phänomen unter medizinischem Vorzeichen behandelt und beschrieben werden, ist auch darauf zurückzuführen, dass der Trend zur Medikalisierung von vielen verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen vorangetrieben wird - von betroffenen Laien ebenso wie von medizinischen Expertinnen und Experten und ökonomischen Akteuren. Die beiden Letztgenannten sind maßgeblich dafür verantwortlich, dass der medizinische Apparat auch Menschen für krank erklärt, denen das selbst noch gar nicht aufgefallen ist. Um festzustellen, dass jemand krank ist, auch wenn er oder sie sich nicht so fühlt, verfügt die Medizin über eine Vielzahl messbarer Kriterien. Und umso mehr dieser Kriterien definiert und vor allem möglichst flächendeckend erhoben werden, umso geringer ist die Wahrscheinlichkeit, dass sich noch jemand finden lässt, der dann nicht zumindest nach einem dieser Kriterien auch tatsächlich als krank gilt. Folge dieser Entwicklung ist, dass sich allein zwischen 1975 und 2005 die Zahl der offiziell registrierten Krankheiten verdoppelt und die Zahl der Therapien sogar verdreifacht hat (Trojan 2007: 118). Im → Kap. 5.2 werden wir daher zunächst beschreiben, welches Ausmaß und welche Folgen die Medikalisierung der Prävention auf das Gesundheitswesen hat. Im → Kap. 5.3 steht dann die Medikalisierung des Alltags - im Wortsinn von der Wiege bis zur Bahre - im Mittelpunkt, dargestellt an typischen Ereignissen im Lebenslauf, die unter medizinischem Vorzeichen diagnostiziert und therapiert werden. Die Weltgesundheitsorganisation WHO definiert Gesundheit als einen Zustand des vollständigen körperlichen, geistigen und sozialen Wohlergehens und nicht nur als das Fehlen von Krankheit oder Gebrechen 126 Medikalisierung und Healthismus (WHO 1946). Die Idee dahinter ist, dass Gesundheit und Wohlbefinden nicht zu trennen sind von sozialen Faktoren, und dass nicht nur das Medizinsystem, sondern die ganze Gesellschaft so organisiert werden muss, dass Menschen ihre Potenziale entfalten und selbstbestimmt nach ihren Wünschen und Vorstellungen leben können. Tatsächlich hat diese Definition der WHO, wenn auch ungewollt, die Medikalisierung sozialer Probleme eher bestärkt. Denn das Leiden an gesellschaftlichen Zuständen, das Scheitern an gesellschaftlichen Erwartungen wird immer häufiger zu einer Frage medizinisch-psychologischer Definitionen und Behandlungsstrategien erklärt und damit individualisiert und entpolitisiert. In den → Kap. 5.4 und 5.5 werden dementsprechend die Medikalisierung sozialer und rechtlicher Fragestellungen sowie die Medikalisierung abweichenden Verhaltens behandelt. → Kap. 5.6 befasst sich mit Healthismus als einer extremen Form der Gesundheitsorientierung, die ideologische Züge aufweist und dazu führt, dass Vorstellungen von Gesundheit in dominanter Weise das Denken und Verhalten von Menschen prägen. Der gesellschaftliche Trend zur Medikalisierung bleibt aber nicht unwidersprochen. Deshalb beschäftigen wir uns im → Kap. 5.7 mit zwei Beispielen einer Ent-Medikalisierung: Der Normalisierung von verschiedenen Spielarten der menschlichen Sexualität und der teilweisen Legalisierung von Marihuana. 5.2 Medikalisierung der Prävention Der augenscheinlichste Beleg für das Ausmaß der Medikalisierung ist der steigende Anteil der Ausgaben für Gesundheit an der Volkswirtschaft. In den USA hat sich seit den 1970er-Jahren der Anteil der Gesundheitsausgaben am Bruttoinlandsprodukt (BIP) von 6 auf 17 Prozent im Jahr 2015 fast verdreifacht. Fast jeder 6. Dollar, der in den USA erwirtschaftet wird, wird mittlerweile im Gesundheitssektor ausgegeben. In anderen Industriestaaten ist ebenfalls ein deutlicher Anstieg auf Werte oberhalb von 10 Prozent des BIP festzustellen. In Deutschland wird derzeit jeder 9. Euro für Gesundheitsleistungen ausgegeben, Tendenz steigend (→ Abb. 8) Medikalisierung der Prävention 127 Abb. 8: Prozentualer Anteil der Gesundheitskosten (1970-2015) am Bruttoinlandsprodukt (BIP), nach OECD 2018 Gewöhnlich wird dieser Ausgabenanstieg dem demographischen Wandel und dem medizinischen Fortschritt zugeschrieben. Wenn die Menschen immer älter würden, stiegen eben auch die Kosten für ihre medizinische Versorgung. Doch wie viel der medizinische Fortschritt wirklich zur Verlängerung der Lebenserwartung beigetragen hat, ist umstritten. Allerdings besteht in den Gesundheitswissenschaften weitgehende Einigkeit darüber, dass in erster Linie soziale Faktoren für den spektakulären Anstieg der Lebenserwartung in den letzten 200 Jahren verantwortlich sind und weniger der medizinische Fortschritt (→ Kap. 2). Infektionskrankheiten gingen schon vor der Entwicklung entsprechender Impfstoffe zurück und gegen nichtinfektiöse chronische Krankheiten haben neuartige Interventionen trotz gigantischer Investitionen allenfalls bescheidene Erfolge erzielen können. Das zeigt sich nicht zuletzt daran, dass nicht nur die Zahl der Krebserkrankungen, sondern auch die Sterblichkeit aufgrund bösartiger Geschwulste weltweit ungebremst ansteigt (McGuire 2015). Obwohl die Menschen statistisch gesehen immer älter werden und auch die schweren Krankheiten im Lebenslauf immer später auftreten, steigt 0,0 2,0 4,0 6,0 8,0 10,0 12,0 14,0 16,0 18,0 20,0 1970 1975 1980 1985 1990 1995 2000 2005 2010 2015 Germany Japan UK USA 128 Medikalisierung und Healthismus die Zahl derjenigen unaufhörlich an, die als krank oder zumindest als Risikopersonen für eine Krankheit gelten. Dahinter stehen zwei parallele Entwicklungen: die Etablierung und anschließende Absenkung von Grenzwerten und das regelmäßige bevölkerungsweite Screening dieser Werte. Häufig zitierte Beispiele sind die Grenzwerte für Cholesterin, Blutdruck, Blutzucker, das relative Körpergewicht und die Osteoporose. Die Grenzwerte für die genannten Risikofaktoren respektive Krankheiten wurden in den letzten Jahrzehnten allesamt mehrfach abgesenkt, die Zahl der Betroffenen dadurch erheblich erhöht. Bis in die 1980er-Jahre galt für den Blutdruck ein Grenzwert von 160/ 100mmHg. Heute gilt in Deutschland ein maximaler Wert von 140/ 90 mmHg. Hinter dieser Absenkung steht die unermüdliche Lobbyarbeit der Hochdruckliga, früher Deutsche Liga zur Bekämpfung des hohen Blutdrucks. Die Intervention der Blutdruckbekämpfer hat die Zahl der von Hypertonie Betroffenen über Nacht verdreifacht (Blech 2003: 87). Im November 2017 wurde die Definition von Bluthochdruck in den USA ein weiteres Mal auf 130/ 80 mmHg gesenkt. Damit wurden von einem Tag auf den anderen fast 30 Millionen Menschen in den USA zu Trägern eines Risikofaktors. Ähnlich ist die Entwicklung beim Cholesterin verlaufen. Der Grenzwert für Gesamtcholesterin wurde schrittweise von 260 mg/ dl auf 200 mg/ dl abgesenkt. Im Jahr 2005 empfahl die europäische Kardiologenvereinigung sogar einen Wert von 193 mg/ dl, stieß damit allerdings auf Gegenwehr (Bartens 2013). Doch auch mit dem Grenzwert von 200mg/ dl haben heute bereits 70 Prozent der deutschen Bevölkerung im Alter zwischen 40 und 60 Jahren einen erhöhten Cholesterinwert. Vier Millionen Menschen nehmen in Deutschland Statine zur Senkung des Cholesterinspiegels, in Frankreich sind es fünf und in England acht Millionen. In den USA sind sogar 120 Millionen Menschen in Statinbehandlung, das entspricht 40 Prozent der erwachsenen Bevölkerung (Irmer 2013). 1980 galt als Diabetikerin, wer einen Nüchtern-Blutzucker von 144 Milligramm (mg) pro Deziliter Blut (dl) aufwies, 1985 setzte die WHO die Grenze zur Zuckerkrankheit bei 140 mg/ dl an. 1997 wurde dieser Wert durch die US-amerikanische Diabetes Gesellschaft auf 126 mg/ dl herabgesetzt. Außerdem hat die US-amerikanische Diabetes Gesellschaft den WHO-Grenzwert für den sogenannten Prädiabetes von 110 mg/ dl auf 100 mg/ dl gesenkt (Welch et al. 2011). Medikalisierung der Prävention 129 Der BMI, also das Maß für das relative Körpergewicht, misst zwar nicht das Körperfett und kann auch nichts über die aus medizinischer Sicht relevante Fettverteilung aussagen, dennoch ist er bis heute das mit Abstand am häufigsten angewandte Messinstrument zur Feststellung einer krankhaften Fettleibigkeit (Adipositas). Die aktuell gültigen Grenzwerte für Übergewicht (BMI 25-30) und Adipositas (BMI > 30) wurden 1995 von der WHO global festgelegt (WHO 1995, 2000). Vorher gab es in vielen Ländern nur Faustformeln zur Bestimmung von Übergewicht und Adipositas. Die USA hatten bis Ende der 1990er-Jahre eigene Grenzwerte für Übergewicht und Adipositas. Im Jahr 1998 wurden die USamerikanischen Grenzwerte schließlich an die niedrigeren WHO-Werte angepasst. Die Zahl der übergewichtigen US-Amerikanerinnen und US- Amerikaner stieg damit über Nacht um mehr als 35 Millionen (Kuczmarski & Flegal 2000). Zahlreiche neuere Studien, die darauf hindeuten, dass das so bezeichnete Übergewicht wahrscheinlich das Gewicht mit der höchsten Lebenserwartung ist, konnten der Gültigkeit der niedrigen Grenzwerte bislang nichts anhaben (Flegal et al. 2005; Flegal et al. 2013). In fast allen Industrie- und in vielen Schwellenländern gilt heute mehr als die Hälfte der Bevölkerung als ‚übergewichtig‘ (Schorb 2015). Im höheren Lebensalter sind es z.B. in Deutschland bis zu 80 Prozent (Max Rubner Institut 2008). Die Osteoporose, ein vor allem bei älteren Frauen auftretendes Phänomen abnehmender Knochendichte, das zu Brüchen führen kann, wurde 1993 durch die WHO in die ICD, die Liste der klassifizierten Krankheiten und Symptome, aufgenommen. Die WHO legte damals fest, dass Osteoporose diagnostiziert werden soll, sobald die Knochendichte um 2,5 SD (Standardabweichungen) unterhalb des Normwertes liegt, und zwar unabhängig davon, ob Knochenbrüche oder andere Beschwerden aufgetreten waren. Daraufhin galten in Deutschland 31 Prozent der Frauen im Alter von 70 bis 79 Jahren und 36 Prozent der Frauen im Alter über 80 Jahren als an Osteoporose erkrankt (Blech 2003). In den USA plädierten verschiedene Fachorganisationen dafür, den Grenzwert auf 2 SD abzusenken (Kanis et al. 1994; Watts et al. 2011), woraufhin sich die Zahl der Betroffenen dort fast verdoppelt hat (Welch et al. 2011) (→ Tab. 2). 130 Medikalisierung und Healthismus Tab. 2: Zusammenhang zwischen Normabsenkungen und Patientenzahlen in den USA, nach Welch et al. 2011: 23; Kuczmarski & Flegal 2000 alter Wert neuer Wert Patientenzahl bei altem Wert Patientenzahl bei neuem Wert neue Patienten Zuwachs in % Blutzucker (mg/ dl) 140 126 11.687.000 13.378.000 1.684.000 14 % Blutdruck (mmHg) 160/ 100 140/ 90 38.690.000 52.180.000 13.490.000 35 % Cholesterin (mg/ dl) 240 200 49.480.000 92.127.000 42.647.000 86 % Osteoporose T-Score 2,5 2 8.010.000 14.791.000 6.781.000 85 % Übergewicht (BMI) 27,3-27,8 25 61.700.000 97.100.000 35.400.000 57 % Alltagsrelevant werden die diversen Grenzwertsenkungen aber erst durch die Ausweitung von Screenings und Reihenuntersuchungen. Krankenkassen fordern ihre Mitglieder spätestens ab einem Alter von 35 Jahren zu regelmäßigen Check-ups auf und fördern die Teilnahme daran durch Bonusprogramme. Bei diesen Untersuchungen, die standardmäßig aus einer körperlichen Untersuchung einschließlich der Bestimmung des BMIs, einer Blutdruckmessung sowie der Ermittlung der Cholesterinwerte und des Blutzuckerspiegels bestehen, werden fast immer ‚kritische Werte‘ gefunden. Im Internet sind die alltäglichen Gesundheitsgefahren ebenfalls präsent. BMI-Rechner gibt es dort in vielfachen Ausführungen. Oft sind sie eingebunden in allgemeine Artikel zu allen möglichen gesundheitsrelevanten Themen oder Ernährungsfragen. Aber auch auf Diabetes kann man sich unverbindlich per Fragebogen im Internet testen lassen, ganz ohne Blut- oder Urinprobe. Zusätzlich zu den Check-ups, die allgemeine Gesundheitsrisiken entdecken helfen sollen, werden, abhängig von Geschlecht und Lebensalter, regelmäßige Untersuchungen zur Krebsvorsorge empfohlen. Nur wenige dieser Verfahren scheinen aber tatsächlich einen verbesserten Schutz vor Krebserkrankungen zu bewirken. Ein in der Literatur häufig genanntes Beispiel für eine effektive Vorsorgeuntersuchung ist der „Pap-Test“ zur Medikalisierung der Prävention 131 Früherkennung eines Gebärmutterhalskrebses. Die Mammographie, eine Röntgenuntersuchung der weiblichen Brust, ist dagegen höchst umstritten. Nicht nur, weil nur wenige Fälle von Brustkrebs gefunden werden, die nicht anderweitig entdeckt worden wären, sondern auch, weil die dabei eingesetzte Röntgenstrahlung selbst schädlich ist. Zudem werden bei der Mammographie und auch bei der zur Erkennung von Brustkrebs häufig eingesetzten Magnetresonanztomographie (MRT) viele falsch positive Befunde ermittelt, die zu unnötigen Operationen führen und bei den Betroffenen unnötige Ängste auslösen und somit der psychischen und physischen Gesundheit der Betroffenen eher schaden als nutzen (Illich 1995: 23; Schmacke 2005: 35ff.). Was aber ist die Motivation hinter diesen niedrigen Grenzwerten für diverse Risikofaktoren und den zahlreichen Vorsorgeuntersuchungen, wenn sie doch ab einem gewissen Niveau mehr schaden als nutzen? Von den niedrigen Grenzwerten profitieren vor allem die Anbieter pharmakologischer Lösungen. An den Vorsorgeuntersuchungen wiederum verdient die Gerätemedizin, die ein Interesse daran hat, möglichst viele Einsatzmöglichkeiten für ihre Geräte zu finden. Aber auch Hausärztinnen und -ärzte profitieren davon, wenn ihre Kundschaft ohne konkreten Anlass regelmäßig zu Untersuchungen erscheint. Der Gesundheitswissenschaftler Alf Trojan spricht im Anschluss an Ivan Illich dann von einer ‚Medikalisierung der Prävention‘, wenn die Präventionsanstrengungen selbst aus medizinischen Maßnahmen bestehen. Dazu zählt er etwa die prophylaktische Einnahme von Medikamenten gegen Krankheiten, die noch gar nicht diagnostiziert wurden und vielleicht auch nie diagnostiziert werden (Trojan 2007). Im Kontext der Genetik kann Medikalisierung der Prävention auch bedeuten, vorbeugend gegen potenzielle Gendefekte vorzugehen. Bekanntestes Beispiel dafür ist die Schauspielerin Angelina Jolie, die sich sowohl Brustdrüsen als auch Eierstöcke prophylaktisch entfernen ließ, weil sie unter einem Gendefekt leidet, der mit hoher Wahrscheinlichkeit zum Ausbruch einer Krebserkrankung geführt hätte (Stockrahm 2015). Nachdem hier zunächst die Medikalisierung der Prävention im Mittelpunkt stand, wird im folgenden Kapitel die Medikalisierung einer zunehmenden Zahl von Ereignissen im Lebenslauf vorgestellt, die heute wie selbstverständlich von medizinischen Autoritäten überwacht werden. 132 Medikalisierung und Healthismus 5.3 Medikalisierung im Lebenslauf Von den 717.565 Kindern, die 2014 in Deutschland zur Welt kamen, wurden nur 11.391 nicht im Krankenhaus geboren (Ärzteblatt 2015). Fast jedes Dritte der 2014 geborenen Kinder kam per Kaiserschnitt zur Welt. Anfang der 1980er-Jahre wurden in Deutschland erst 6 Prozent per Sectio entbunden, zur Jahrtausendwende war es bereits eines von fünf Kindern (Blech 2003: 140ff.). Für die steigende Zahl der Kaiserschnittgeburten gibt es keine medizinischen Gründe. Neben der besseren Planbarkeit der Geburt spielen ästhetische Gründe wie der Wunsch nach dem Erhalt einer ‚juvenilen Vagina‘ eine Rolle. In manchen brasilianischen Städten, in denen der Schönheits- und Jugendkult besondere Blüten treibt, liegt die Kaiserschnittrate daher bei über 80 Prozent (Blech 2003: 140ff.). Auch die Schwangerschaft wird von einer Vielzahl von Routineuntersuchungen begleitet, vor allem Ultraschalluntersuchungen und Bluttests, zu denen, anlassbezogen bzw. auf Wunsch der Eltern, weitere Verfahren wie die Fruchtwasseruntersuchung hinzukommen können. Wie aussagekräftig die Untersuchungen tatsächlich sind, spielt praktisch keine Rolle mehr, wenn sie sich erst einmal in der gynäkologischen Praxis etabliert haben. Die ärztlich empfohlenen Untersuchungen abzulehnen ist moralisch schwierig in einem gesellschaftlichen Klima, in dem die Verantwortung für die eigene Gesundheit bzw. für die des (ungeborenen) Kindes auf die Mütter übertragen wird. Welche Mutter möchte sich da schon vorwerfen lassen, das Leben oder die Gesundheit ihres Kindes riskiert zu haben? Nach der Geburt werden Eltern durch Gesundheitsämter und Krankenkassen zu regelmäßigen Vorsorge- und Entwicklungsuntersuchungen in die kinderärztlichen Praxen einbestellt. Wenn diese Aufforderungen durch die Eltern ignoriert werden, werden in manchen Bundesländern Mitarbeiterinnen des Jugendamtes persönlich vorstellig. Diese Untersuchungen setzen sich mit wachsenden zeitlichen Intervallen bis ins Teenageralter fort. Mädchen werden nach ihrer ersten Periode aufgefordert, zur „Teenie-Sprechstunde“ ihrer Frauenärztin bzw. ihres Frauenarztes zu gehen und Fragen zu Veränderungen ihres Körpers und ihrer Sexualität zu stellen. Medikalisierung im Lebenslauf 133 Insgesamt bilden die Themen Verhütung und Fortpflanzung einen Schwerpunkt des gesellschaftlichen Trends zur Medikalisierung. Noch vor dem ersten Geschlechtsverkehr sollen sich Mädchen gegen Gebärmutterhalskrebs impfen lassen. Es folgen zahllose medizinische Angebote zur Empfängnisverhütung. Diese Hilfsmittel, allen voran die Antibabypille, haben den Geschlechtsverkehr von der Fortpflanzung abgekoppelt und damit einen entscheidenden Beitrag zur gesellschaftlichen Liberalisierung der menschlichen Sexualität geleistet. Doch die neue Freiheit der Sexualität ging auch mit einer Leistungsorientierung in diesem Bereich einher. Spätestens seit der Entwicklung von Viagra gibt es einen wachsenden Markt für Potenzmittel für Männer und damit zunehmend die gesellschaftliche Erwartung, bis ins hohe Lebensalter regelmäßigen Geschlechtsverkehr zu haben. Mittlerweile werden die Libido fördernde Arzneimittel auch für Frauen bereitgestellt. Seit Herbst 2015 ist der Wirkstoff Flibanserin in den USA zugelassen (Kock 2015). Neben der Verhinderung von Schwangerschaften ist die Behandlung von Unfruchtbarkeit zum Geschäftsmodell der Medizin geworden. Die WHO definiert Unfruchtbarkeit als ‚Behinderung‘ und verlangt den Zugang zu künstlicher Befruchtung für die Betroffenen. Bisher wurde Unfruchtbarkeit diagnostiziert, wenn heterosexuelle Paare nach mindestens 12 Monaten ungeschütztem Geschlechtsverkehr nicht schwanger werden konnten. In Zukunft soll die Definition so erweitert werden, dass alle Menschen, also auch homosexuelle Paare und Singles Anspruch auf Zugang zu künstlicher Befruchtung per In-vitro-Fertilisation bekommen (Bodkin 2016). Nicht nur Empfängnisverhütung und Fortpflanzung, auch das höhere Lebensalter ist ein nichtversiegender Quell der Medikalisierung. Das bekannteste Beispiel dafür ist das Klimakterium, umgangssprachlich als Wechseljahre bezeichnet. Im höheren Lebensalter verändert sich der weibliche Hormonhaushalt. Die Eierstöcke bilden weniger Östrogen, die Monatsblutung findet unregelmäßig statt. Am Ende des Prozesses bleibt die Periode vollständig aus, die Frau ist nicht länger fruchtbar. Diese Entwicklung hat unterschiedliche Folgen. Manche Frauen leiden unter Schlafstörungen, depressiven Verstimmungen und verringerter Libido. Dazu können Herzprobleme, Gelenkschmerzen und Hitzewallungen kommen. Nur eines dieser Symptome aber, nämlich die Hitzewallungen, tritt exklusiv bei Frauen im Alter zwischen 40 und 58 Jahren auf, wenn 134 Medikalisierung und Healthismus auch längst nicht bei allen Frauen im entsprechenden Alter. In Japan ist nicht nur das Konzept der Wechseljahre weitgehend unbekannt, auch über Hitzewallungen berichten japanische Frauen so gut wie nie (Blech 2003: 148f.). Alle anderen Symptome finden sich hingegen auch bei älteren und jüngeren Frauen: Ihre Ursachen liegen im sozialen und psychischen Bereich und sind keine automatische Folge der Hormonumstellung im höheren Lebensalter. Trotzdem wurde Frauen mit „Wechseljahresbeschwerden“ eine jahrelange Hormontherapie empfohlen, obwohl diese nachweisbar gravierende Nebenwirkungen haben kann (Collaborative Group on Epidemiological Studies of Ovarian Cancer 2015). Parallel zur Medikalisierung des Klimakteriums bei Frauen wird seit einigen Jahren die Andropause bzw. das Klimakterium virile problematisiert. Auch bei Männern verändert sich im Alter der Hormonhaushalt. Die Produktion des Sexualhormons Testosteron geht etwa ab dem 40. Lebensjahr um ein bis 2 Prozent pro Jahr zurück. Auch das Klimakterium virile wurde in den vergangen Jahren als Wechseljahre des Mannes bezeichnet und entsprechend problematisiert und genau wie bei den Frauen wird eine Hormontherapie zur Behandlung empfohlen (Blech 2003: 157ff.). Schließlich findet auch das Lebensende heute fast immer in medizinischen Einrichtungen statt: 80 Prozent der deutschen Bevölkerung sterben im Krankenhaus oder Pflegeheim, obwohl sich ebenso viele der Pflegebedürftigen eigentlich wünschen, zu Hause zu sterben (Klie 2016). 5.4 Medikalisierung sozialer und rechtlicher Fragen Jeder und jede kennt die befreiende Wirkung eines ärztlichen Attests, das einem ein paar Tage Auszeit von der Arbeit, die Chance, eine Prüfung zu einem späteren als dem vorgesehenen Zeitpunkt abzulegen, oder die Verlängerung einer ‚Deadline‘, also einer andernfalls ‚tödlichen‘ Abgabefrist ermöglicht. Medizinische Autoritäten sind in westlichen Gesellschaften Gnadeninstanzen, die fast jede juristische, ökonomische und moralische Regel zumindest temporär außer Kraft setzen können. Medizinische und psychologische Gutachten garantieren Sozial- und Versicherungs- Medikalisierung sozialer und rechtlicher Fragen 135 leistungen, bewahren vor Strafen und vor moralischen Sanktionen und gewähren Aufenthaltsrechte. Eine medizinische oder psychologische Lösung für soziale Probleme ist beliebt, weil sie allen Seiten ermöglicht, das Gesicht zu wahren. Gesetzgebung und Gerichtsbarkeit können Gnade walten lassen, ohne dem Grundsatz der Gleichheit vor dem Gesetz zu widersprechen. Eine medizinisch oder psychologisch begründete Transfer- oder Versicherungsleistung befriedet soziale Konflikte. Unternehmen müssen niemanden auf die Straße setzen, Gewerkschaften können auf die gute Absicherung und Staat und Sozialbürokratie auf niedrige Arbeitslosenquoten verweisen. Im Umgang mit Ausreisepflichtigen ermöglicht das ärztliche Attest im Einzelfall das Ignorieren der Bestimmungen des Aufenthaltsrechts und neutralisiert damit die mit dem Gesetz einhergehenden menschlichen Härten und den gegen diese gerichteten Protest. Diese Form der Medikalisierung des Sozialen findet heute in jenem modernen Wirtschaftssystem statt, in dem eine existenzsichernde Vollbeschäftigung längst nicht mehr für alle Gesellschaftsmitglieder garantiert werden kann (→ Kap. 3). Seit den 1970er-Jahren hatte sich nicht nur die Konkurrenz zwischen den Arbeitsplatzsuchenden zugespitzt, sondern auch die Frage, was mit der steigenden Zahl derjenigen, für die sich auf einem hochspezialisierten und flexiblen Arbeitsmarkt keine Verwendung mehr finden lässt, geschehen sollte. Als eine sozial verträgliche medizinisch-technische Lösung für diese gesellschaftlichen Probleme wurde in vielen Ländern auf die Ausdehnung der Invalidenbzw. Arbeitsunfähigkeitsversicherung gesetzt. Eine gelockerte Anerkennung einer Berufsunfähigkeit durch medizinische und psychologische Autoritäten erlaubt es, die Existenz einer großen Zahl von Menschen dauerhaft zu subventionieren, für die auf dem Arbeitsmarkt keine Nachfrage besteht, ohne den Verkauf der eigenen Arbeitskraft als einzig legitime Form der Existenzsicherung grundsätzlich infrage zu stellen. In den Niederlanden wurden zeitweise bis zu 10 Prozent der Bevölkerung im arbeitsfähigen Alter für arbeitsunfähig erklärt. Das war für den Staat und die Sozialpartner gleichermaßen von Vorteil: Es entschärfte soziale Konflikte und half dabei, die Arbeitslosenquote offiziell niedrig zu halten (Schmid 1991). Selbst in den USA, in denen staatliche Leistungen für Menschen ohne Arbeit selten sind und meist auf die Ausgabe 136 Medikalisierung und Healthismus von Naturalien wie Essensmarken beschränkt werden, erhalten mittlerweile mehr als 4 Prozent der Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter Bezüge aus der Invalidenversicherung. Das entspricht in etwa der Zahl der offiziell arbeitslos gemeldeten Personen (Buchter 2016). Doch auch die Medikalisierung sozialer Fragen ist konfliktbehaftet. Ein massenhafter Freispruch vom Arbeitszwang ist für die Sozialversicherungen teuer und er erschwert die Einführung eines prekären Niedriglohnsektors, weil er das materielle Überleben außerhalb des Arbeitsmarktes garantiert. Zu viel soziale Absicherung nämlich steht der ‚Bereitschaft‘, ungesichert und für wenig Geld zu arbeiten, im Wege. Dementsprechend gerieten die großzügigen Invalidenversicherungen unter Sparzwang und wurden Kürzungen und Privatisierungen unterworfen. In den Niederlanden begann dieser Prozess bereits in den 1980er-Jahren, in Großbritannien verschärften sich die Voraussetzungen für den Erhalt von Bezügen aus der Invalidenversicherung in der Folge der Finanzkrise von 2008. Im Vereinigten Königreich müssen sich die Bezieher von Leistungen der Invalidenversicherung seitdem einer regelmäßig zu wiederholenden Evaluation durch Mitarbeiterinnen von zwei privaten Firmen unterziehen (Atos und Capita), die daran zwischen 2013 und 2016 insgesamt rund 500 Millionen Pfund verdienten. In der Folge wurden hunderttausende Bezieher nachträglich als arbeitsfähig eingestuft. Fast 60 Prozent derjenigen, die dagegen vor Gericht klagten, bekamen aber im Nachhinein Recht und erhielten ihren alten Status zurück (Butler 2015). Bei den Betroffenen führte die Überprüfung und die damit zusammenhängende existenzielle Unsicherheit zu einem massiven Anstieg der Verschreibung von Antidepressiva und zu einem Anstieg der Suizide (Barr et al. 2015). Allein zwischen Januar und November 2011 starben 10.600 Menschen mit Behinderung und chronischen Krankheiten innerhalb von sechs Wochen, nachdem sie für arbeitsfähig erklärt und ihre Bezüge gestrichen worden waren (Davies 2015: 110). Das britische ‚Experiment‘ unter Realbedingungen hat damit zumindest eines deutlich gezeigt, nämlich dass der Entzug sozialer Sicherheit Menschen in existenzielle Ängste versetzt und damit krank machen und töten kann. Die Medikalisierung rechtlicher Fragen wiederum ist auch bei denjenigen, die von ihr vermeintlich profitieren, nicht unumstritten. Denn sie schützt ihre Klientel nicht nur, sie entmündigt sie auch. Sie nimmt ihnen die Möglichkeit, selbst für ihr Anliegen zu sprechen. Schließlich geht es Medikalisierung sozialer und rechtlicher Fragen 137 aus medizinisch-psychologischer Expertensicht nicht darum, ob die Betroffenen aus moralischen oder politischen Gründen Recht bekommen sollten. Es zählen allein fachliche Erkenntnisse, die dann eventuell einen Anspruch auf Gnade vor dem Gesetz begründen können. Der Medizinsoziologe Zola deutete die Medikalisierung sozialer und rechtlicher Fragen als Beleg dafür, dass sich die Medizin auf Kosten der Religion und des Rechts gesellschaftliche Definitionsmacht über soziale Probleme gesichert habe (Zola 1972). Unterschiede im gesellschaftlichen Umgang mit Kranken und dem Umgang mit Sündern bzw. Kriminellen sah Zola vor allem in der Frage der persönlichen Verantwortung. Zwar würde Kranken keine persönliche Verantwortung für ihr Verhalten zugeschrieben, sehr wohl aber Verantwortung dafür, sich bei der Behandlung des beanstandeten Verhaltens kooperativ zu verhalten. Wo dies nicht geschieht, könne die Medizin Begründungen für Straf- und Zwangsmaßnahmen liefern (Zola 1972: 490). Zwar kann ein psychologisches Gutachten vor Strafe bewahren, doch Schutz vor Gefängnis bedeutet nicht Schutz vor Freiheitsentzug. Ein Gutachten kann auch zu einer prinzipiell unbegrenzten Einweisung in die Psychiatrie oder zu einer theoretisch ebenfalls unbegrenzten Sicherungsverwahrung nach Verbüßung einer Freiheitsstrafe führen. Anders als bei einem juristischen Urteil zählt nicht in erster Linie die tatsächlich begangene Tat und ihre Umstände, sondern die theoretische Möglichkeit eines Rückfalls bzw. die Wahrscheinlichkeit der Begehung einer Tat in der Zukunft. Ein Gerichtsurteil ist für die Verurteilten daher berechenbarer als ein psychologisches Gutachten. Ein weiteres Problem dieser Form der Medikalisierung aus Sicht der Betroffenen ist, dass es sie an ihre Krankheit bzw. an ihre psychische Störung bindet, was eine Verbesserung ihres Zustandes erschwert oder sogar verunmöglicht. Denn diese Verbesserung wäre dann gleichbedeutend mit dem Wegfall des Schutzstatus. Wenn z.B. einer abgelehnten Asylbewerberin aufgrund einer posttraumatischen Belastungsstörung ein zeitlich begrenzter Aufenthaltsstatus zugesprochen wird, dann ist die Heilung ihrer Beschwerden praktisch ausgeschlossen, weil die gemachten Erfahrungen in und die Angst vor den Zuständen im Herkunftsland der Hauptgrund für die Belastungsstörung sind. 138 Medikalisierung und Healthismus Umso mehr Einfluss die humanitäre Medikalisierung in einem Bereich wie dem Sozial- oder Aufenthaltsrecht gewinnt, umso schneller erfolgt der Ruf nach ihrer Eindämmung. Zur Illustration soll hier wiederum ein Beispiel aus dem Ausländerrecht dienen: Im Zuge der Asylrechtsverschärfung nach dem Anstieg der Flüchtlingszahlen 2015 in Deutschland wurden im Frühjahr 2016 die Möglichkeiten mit ärztlichen Attesten eine Abschiebung zu verhindern und einen humanitären Aufenthaltsstatus zu erhalten, stark eingeschränkt. Insbesondere psychische Beschwerden wie die Posttraumatische Belastungsstörung (PTBS) werden seither im Regelfall nicht mehr als Abschiebehindernis anerkannt. Zudem wurde festgelegt, dass die medizinische Versorgung im Zielstaat nicht der in Deutschland entsprechen muss, um eine Abschiebung trotz Krankheitsdiagnose durchführen zu können (Bühring & Korzilius 2016). In diesem Beispiel wird die Medikalisierung sozialer Fragen zwar scheinbar zurückgedrängt, tatsächlich aber bleibt der Referenzrahmen medizinisch definiert. Eine Krankheit oder eine psychische Störung wird lediglich als nicht gravierend genug klassifiziert, um eine Abschiebung auszusetzen. Es werden jedoch keine rechtlichen, moralischen oder politischen Erwägungen darüber angestellt, unter welchen Voraussetzungen Menschen das Recht haben sollten in Deutschland zu leben und angemessen versorgt zu werden. Die medizinische Diagnose bildet weiterhin die Grundlage für diese Entscheidung. 5.5 Medikalisierung abweichenden Verhaltens Medikalisierung beschränkt sich nicht nur auf messbare Abweichungen von einem Durchschnitts- oder Idealwert. Medikalisierung beinhaltet auch die Deutung sozialer Probleme als psychische Störungen oder Krankheiten. Der Druck, immer mehr Verhaltensauffälligkeiten oder Einschränkungen der Leistungsfähigkeit zu medikalisieren, kommt gleichermaßen von Seiten der Betroffenen wie von Seiten der Anbieter pharmakologischer und therapeutischer Lösungsansätze. Den Betroffenen ermöglicht die Krankenrolle (Parsons 1958) eine an Bedingungen geknüpfte Entstigmatisierung ihres Verhaltens. Durch die Diagnose Sucht etwa, gleich ob es sich um Alkohol, Drogen oder andere Substanzen bzw. Verhaltensweisen handelt, werden die Betroffenen von Tätern Medikalisierung abweichenden Verhaltens 139 zu Opfern ihres Zustandes. Ähnliches gilt für Menschen, die an Angststörungen oder Depressionen leiden. Auch ihnen ermöglicht ihre Diagnose eine Auszeit vom Leistungsgebot. Die wichtigste Forderung der Gesellschaft für einen solchen temporären Freispruch von gesellschaftlichen Erwartungshaltungen aber ist es, selbst an einer Veränderung der problematisierten Verhaltensweise zu arbeiten, was wiederum Pharmaindustrie und Verhaltenstherapie ein breites Geschäftsfeld offeriert. 320 Millionen Menschen waren nach Angaben der WHO im Jahr 2016 weltweit von Depressionen, weitere 264 Millionen von Angststörungen betroffen. In Deutschland leben nach Angaben der WHO derzeit 4,1 Millionen Menschen, die an Depressionen und 4,6 Millionen Menschen, die an Angststörungen leiden; viele davon an beiden gleichzeitig (WHO 2017). Die hohe Bevölkerungsprävalenz bei Depressionen und Angststörungen hängt auch mit ihrer Klassifizierung zusammen. Ähnlich wie bei physiologischen Parametern wurden auch bei psychischen Störungen die Kriterien so angepasst, dass in der Folge immer mehr Menschen als behandlungsbedürftig kategorisiert werden konnten. Die psychologische Herangehensweise an Depressionen änderte sich in den 1970er-Jahren grundlegend. Seither bedurfte es keines Konzepts, keiner Theorie mehr, um zu erklären, woher die Depression bzw. die Angststörung rührte: Es genügte das Vorhandensein von Symptomen. Und diese Symptome mussten bald auch nur noch einen kürzeren Zeitraum andauern (zwei Wochen statt wie zuvor ein Monat). Selbst die Trauer über den Verlust eines nahen Angehörigen gilt laut der Amerikanischen Psychologischen Gesellschaft seit 2013 nur noch für einen Zeitraum von zwei Wochen als „normal“ (Davies 2015: 178). Gründe für diese gelockerten Kriterien sind nicht zuletzt ökonomischer Art. Einerseits werden 50 Prozent des Haushalts der Amerikanischen Psychologischen Gesellschaft durch Pharmafirmen finanziert, die immer neue Mittel gegen Depressionen und Angststörungen auf den Markt bringen (Davies 2015: 177). Andererseits sorgen aus Sicht von Ökonominnen und Ökonomen schon milde Formen von Depressionen und Angststörungen für eine Einschränkung der Leistungsfähigkeit und damit für volkswirtschaftliche Verluste in Milliardenhöhe. Dementsprechend machen mangelnde Motivation und mangelnder Enthusiasmus bei der Arbeit und beim Konsum nicht nur den Betroffenen Sorgen, sie 140 Medikalisierung und Healthismus werden auch zum Problem für Unternehmen und Volkswirtschaften erklärt. Große Finanzinstitute wie die Barclays Bank sehen Depressionen daher als konkrete Gefahr für die Anlagemöglichkeiten ihrer Kundinnen und Kunden: „Today’s brain-based economy puts a premium on cerebral skills, in which cognition is the ignition of productivity and innovation. Depression attacks that vital asset“ (Barclays Bank zit. nach Davies 2015: 178). Neben Depression und Trauer gilt auch abweichendes Verhalten als ökonomisches Risiko, das die Leistungsfähigkeit einschränkt, für Unruhe an Schulen sorgt und den Betroffenen die Chancen auf dem Arbeits- und Bildungsmarkt erschwert. Das Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom ist eine psychische Störung, die erst seit den 1970er-Jahren diagnostiziert wird. In den USA wurde in den 1990er-Jahren bereits bei geschätzt 3 bis 5 Prozent der Schülerinnen und Schüler ADHS diagnostiziert, bis 2013 war dieser Wert auf 11 Prozent angestiegen (Schwartz 2016). In Deutschland war zwischen 2008 und 2011 für Kinder und Jugendliche zwischen 5 und 14 Jahren ein Anstieg der ADHS-Diagnoseprävalenz von 3,7 auf 4,4 Prozent zu beobachten (Hering et al. 2014). Die Zahl der ausgestellten Ritalinrezepte war hierzulande aufgrund strengerer Verschreibungskriterien zuletzt zwar rückläufig (DAK 2015), weltweit hingegen stieg der Gebrauch der Substanz Methylphenidat laut UN Drogenkontrollrat aber allein zwischen 2012 und 2013 um 66 Prozent (Jiménez 2015). Methylphenidat ist der Wirkstoff, der dem Medikament Ritalin zugrunde liegt, das weltweit am häufigsten zur Behandlung von ADHS eingesetzt wird. Anders als Ritalin ist Adderall ein Amphetamin, das aber ebenfalls für die Förderung der Konzentrationsfähigkeit eingesetzt wird. Adderall hilft nicht nur dabei sich zu konzentrieren, es hält auch lange wach und senkt den Appetit. Adderall ist in Deutschland und vielen anderen Ländern nicht zugelassen. In den USA dagegen wird es millionenfach an Erwachsene verschrieben. Daneben existiert ein großer Schwarzmarkt für diese ‚Wunderpillen‘. Denn ohne Adderall würden viele Studierende, Wissenschaftlerinnen, Anwälte, Managerinnen und Börsenmakler ihrer Tätigkeit nicht so intensiv nachgehen können, wie es von ihnen erwartet wird. Deswegen wird die Substanz, mehr noch als Ritalin, auch von Menschen eingenommen, deren Verhalten unauffällig ist. Die Einnahme von leis- Medikalisierung abweichenden Verhaltens 141 tungssteigernden Mitteln durch Menschen, deren Konzentrationsfähigkeit nicht auffällig vom Durchschnitt abweicht, schafft einen zusätzlichen Leistungsdruck und verschärft damit das Problem, dass schon scheinbar kleine Einschränkungen wie Konzentrationsschwächen, chronische Müdigkeit, Schüchternheit, Ängste und Stimmungsschwankungen zu entscheidenden Nachteilen werden, die den Zugang zu gesellschaftlichem Aufstieg und Wohlstand erschweren oder sogar verunmöglichen. Der Druck, entsprechende Diagnosen zu stellen und entsprechende Medikamente zu verschreiben, kommt daher gleichermaßen von der Nachfragewie der Anbieterseite. Die Medikalisierung abweichenden Verhaltens wird durch gesellschaftliche Einflussfaktoren befördert. Dazu zählt der Medizinsoziologe Peter Conrad unter anderem die Vorliebe für individuelle Lösungsansätze, die abnehmende Rolle der Religion, den Glauben an die Macht der Naturwissenschaft, an technische Lösungen, an Rationalität und Fortschritt und ganz allgemein das hohe Sozialprestige der Medizindisziplin und ihrer Fachorganisationen (Conrad 2007: 8). Dabei ist es grundsätzlich keine neue Entwicklung, dass sozial unerwünschtes Verhalten pathologisiert und auch therapiert wird. Was sich hingegen verändert hat, ist die Definition davon, welche Verhaltensweisen als krankhaft angesehen werden und dies wiederum ist von den dominierenden Wert- und Normvorstellungen einer Gesellschaft abhängig: „It is only in a society that makes generalized, personalized growth the ultimate virtue that a disorder of generalized, personalized collapse will become inevitable. And so a culture which values only optimism will produce pathologies of pessimism; an economy built around competitiveness will turn defeatism into a disease“ (Davies 2015: 177). Die Krankheit unserer Zeit ist die Erschöpfungsdepression, schreibt Alain Ehrenberg in seinem Werk „Das erschöpfte Selbst“ (Ehrenberg 2004). Bis in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts litten viele Menschen unter einem rigiden gesellschaftlichen Konformismus, der sie in ihrer Lebensplanung zur Anpassung an die Mehrheit zwang. Heute hingegen sind die Menschen scheinbar befreit von allen gesellschaftlichen Zwängen und zur Selbstverwirklichung, ja zur individuellen ‚Markenbildung‘ geradezu aufgefordert, um nicht in der ‚grauen Masse‘ unterzugehen. Diese Entwicklung, die von sozialer Unsicherheit, dem Verlust an Plan- 142 Medikalisierung und Healthismus barkeit von Lebensläufen und der Verantwortungsübertragung für den individuellen Erfolg begleitet wird, führt zu einer massenhaften Überforderung der Subjekte, die sich am augenscheinlichsten in der Zunahme von Depressionen und Angststörungen äußert, so Ehrenbergs Analyse. Dass das offensichtliche Leiden vieler Menschen an dieser Situation nicht als gesellschaftliches Problem aufgefasst, sondern als individuelles Problem mit therapeutischen und pharmakologischen Interventionen behandelt wird, ist Ausdruck von Medikalisierung. 5.6 Healthismus Irving Kenneth Zola gilt gleichermaßen für die Begriffe Medikalisierung und Healthismus als Wortschöpfer. Zola definiert Healthismus wie folgt: Im Zuge des Trends zur Medikalisierung werde Gesundheit nicht länger einfach nur als eine wesentliche Bedingung für ein gelingendes gutes Leben gesehen, sondern mit einem guten Leben gleichgesetzt. Gesundheit sei nicht länger Mittel zum Zweck, es werde zum einzig legitimen Lebensziel. Die gesellschaftlichen Vorstellungen von Gesundheit werden zur Definition dafür, was ein gutes Leben in einer medikalisierten Gesellschaft ausmacht. Healthismus, so sein Fazit in seinem paradigmatischen Aufsatz „Healthism and disabling medicalization“, sei die neue Moral, die in einer medikalisierten Gesellschaft andere religiöse und politischweltanschauliche Moralvorstellungen ablöse (Zola 1977). Zola beobachtete als einer der ersten Theoretiker von Medikalisierung und Healthismus die Moralisierung von Gesundheit und Krankheit in unserem Alltag und in unserer Sprache. Er stellte fest, dass Menschen, wenn sie über die Entstehung und Heilung von Krankheiten oder über potenzielle Risikofaktoren für Krankheiten sprechen, dies fast immer in Kategorien von Gut und Böse tun. Nicht selten geben sie sich dabei selbst die Schuld für den Ausbruch der Krankheit bzw. machen die Heilung ihrer Krankheit vom eigenen ‚guten Verhalten‘ abhängig (Zola 1972). Auch der US-amerikanische Soziologe Robert Crawford sprach mit Blick auf diese gesellschaftlichen Tendenzen von Healthismus. Ähnlich wie Zola subsumiert Crawford die Moralvorstellungen einer medikalisierten Gesellschaft unter dem Begriff Healthismus. Anders als Zola aber be- Healthismus 143 greift Crawford Healthismus nicht als bloßes Anhängsel der Medikalisierung, sondern als ein eigenständiges Konzept, das sich nicht auf die Ausdehnung der Machtfülle von Medizinerinnen oder medizinischen Institutionen beschränkt. Seine Definition von Healthismus bezieht sich auch auf die Ausbreitung von auf Gesundheit bezogenen Sichtweisen und Ideologien unter Laien, die die Vorrechte der medizinischen Experten zum Teil offen hinterfragen und eine aktivere Rolle bei Herstellung und Erhalt von Gesundheit einfordern. Beim von Crawford präsentierten Verständnis von Healthismus geht es also nicht in erster Linie um medizinische Praktiken. Der Fokus liegt viel mehr auf Lebensstilen, Einstellungen, Verhaltensweisen und Emotionen mit Bezug auf Gesundheit (Crawford 1980). Crawford bezeichnet Healthismus zwar auch als Teil einer Medikalisierung des Alltags. Allerdings unterscheiden sich ihm zufolge wesentliche Aspekte von Healthismus deutlich von klassischen Vorstellungen der Schulmedizin. Dazu zählt Crawford u.a. die Ablehnung der Trennung von Körper und Geist, wie sie die westliche Medizin prägt sowie die Orientierung an nichtwestlichen, spirituellen Heilverfahren. Healthismus könne zudem, anders als die Befolgung medizinischer Maßnahmen, nicht verordnet, sondern müsse eigenständig erarbeitet werden. Die individuelle Verantwortung für die Herstellung und den Erhalt von Gesundheit gilt dabei als entscheidende Bedingung für persönliche Autonomie und bürgerliche Tugenden (Crawford 2006: 402). Healthismus setze Eigeninitiative sowie die strikte aber eigenverantwortliche Befolgung healthistischer Moralvorstellungen voraus (Crawford 2006; Turrini 2015). 1992 definierte auch der Medizinsoziologe Peter Conrad Healthismus in Anlehnung, aber auch in Abgrenzung von Medikalisierung. Während bei Medikalisierung soziale Probleme und als unmoralisch empfundene Verhaltensweisen als medizinische Probleme redefiniert und medizinischen Lösungen zugeführt werden, suche Healthismus bzw. Healthicization nach moralischen und sozialen Ursachen für medizinische Probleme. Am Beispiel von Risikofaktoren für Herzkreislauferkrankungen lässt sich das erläutern. So werden durch Medikalisierung soziale Ursachen für Herzkreislauferkrankungen wie z.B. negativer Stress am Arbeitsplatz oder Stress infolge gesellschaftlicher Marginalisierung und Diskriminierung in medizinische Vokabeln gefasst und mit medizinischen Lösungsansätzen wie der Vergabe von Arzneimitteln behandelt. Umgekehrt wer- 144 Medikalisierung und Healthismus den im Zuge von Healthicization respektive Healthismus medizinische Diagnosen wie Bluthochdruck mit moralisch fragwürdigen Verhaltensweisen wie falschen Strategien gegen Stress (z.B. Rauchen statt Joggen) erklärt und damit der Risikofaktor sowie die damit korrespondierende Erkrankung zum Zeichen moralischen Versagens gemacht (Conrad 1992). Während für Conrad also Medikalisierung im Wesentlichen darauf hinausläuft, dass soziale Probleme als individuelle medizinische oder psychologische Probleme betrachtet und mit medizinischen oder psychologischen Mitteln und Methoden behandelt werden, zielt Healthismus darauf ab, denjenigen mit medizinischen und psychologischen Problemen die moralische Verantwortung für ihre Krankheiten bzw. Störungen zuzuschreiben. Medikalisierung macht aus moralischen Problemen medizinische, Healthismus macht aus medizinischen Problemen moralische, so Conrad. Medikalisierung beinhaltet zwar auch moralische Werturteile über individuelles Verhalten, bezieht diese aber vor allem auf die Compliance der Patientinnen und Patienten, also auf die Befolgung der medizinischen und psychologischen Therapievorschläge und weniger auf die proaktive Vermeidung von Krankheiten und die Optimierung von Gesundheit. Auch wenn Zola, Crawford und Conrad darin übereinstimmen, Healthismus als Moralvorstellung einer medikalisierten Gesellschaft zu beschreiben, zeigen sich in ihrer Analyse doch auch deutliche Unterschiede. Zola begreift Healthismus uneingeschränkt als Teil des allgemeinen Trends der Medikalisierung. Conrad hingegen sieht Healthismus in erster Linie als eine Remoralisierung zuvor medikalisierter Verhaltensweisen. Crawford wiederum begreift Healthismus als eigenständiges gesellschaftliches Erklärungsmodell, das schulmedizinische Ätiologie- und Therapiemodelle zum Teil infrage stellt. Die unterschiedlichen Definitionen von Healthismus sind auch auf die widersprüchlichen Ursprünge von Healthismus zurückzuführen. Denn anfänglich waren für die Gesundheitsbewegung der 1960er- und 1970er- Jahre, die Healthismus - wenn auch ungewollt - vorantrieb, nicht private Verhaltensweisen, sondern die negativen Folgen des technischen Fortschritts die wichtigsten Themen. Hierzu zählten unter anderem die gesundheitlichen Auswirkungen des Einsatzes von Pestiziden in der Land- Healthismus 145 wirtschaft, die Folgen der Automobilisierung, Kraftwerksemissionen, Umweltverschmutzungen der chemischen Industrie und die Kernenergie. Ab den 1980er-Jahren orientierte sich diese Gesundheitsbewegung dann verstärkt an den Auswirkungen des individuellen Lebensstils, auch wenn Gesundheitsgefährdungen durch fragwürdige Praktiken der Pharmaindustrie, Umweltgifte oder Umweltzerstörung nie ganz aus der öffentlichen Debatte verschwanden. Die Angst vor Umweltzerstörungen und die Angst vor lebensstilbezogenen Gesundheitsgefahren ergänzten sich vielmehr wechselseitig, wie Crawford im Jahr 2006 rückschauend analysierte. Das vermehrte Reden über Luftverschmutzung habe die Menschen auch für die Gefahren des Rauchens sensibilisiert. Neue medizinische Erkenntnisse über die Ursachen von Herzkreislauferkrankungen hätten ebenso Einfluss auf die Ernährungsweise vieler Menschen gehabt wie die Diskussion um den Einsatz von Pestiziden in der Landwirtschaft oder um Zusatzstoffe in Lebensmitteln (Crawford 2006: 408). Vom Impuls einer kollektiven Gesundheitsbewegung ist wenig geblieben. Selbsthilfegruppen z.B. werden heute häufig von Pharmafirmen unterstützt bzw. überhaupt erst initiiert (Glaeske & Schubert 2006). Aus alternativen Konzepten wie Naturheilkunde, traditioneller Medizin, Spiritualität und Achtsamkeit sind erfolgreiche Geschäftsmodelle und aus kleinen Bioläden sind große Supermarktketten geworden. Die Herstellung und Aufrechterhaltung der eigenen Gesundheit geschieht heute weitgehend individuell, allerdings unterstützt durch staatliche Maßnahmen und Kampagnen der Gesundheitsförderung. Diese Aktivitäten dienen vielen als Argument dafür, dass Healthismus heute maßgeblich durch den Staat vorangetrieben wird. Der Mediziner Petr Skrabanek etwa sieht Healthismus in seinem Buch „The Death of Humane Medicine and the Rise of Coercive Healthism“ aus dem Jahr 1994 vor allem als eine feindliche Übernahme medizinischen Wissens durch den Staat. Der verfolge das Ziel, dieses Wissen zur Unterdrückung der Staatsbürgerinnen und -bürger einzusetzen, um einen als gesund definierten Lebensstil zu erzwingen. Jede menschliche Aktivität werde danach beurteilt, ob sie gesund oder ungesund, durch medizinische Autoritäten verordnet oder nicht verordnet sei (Skrabanek 1994). Ganz ähnlich argumentiert Michael Fitzpatrick in seinem Buch „The 146 Medikalisierung und Healthismus Tyranny of Health“. Auch er sieht den Staat bzw. im konkreten Fall das staatliche Gesundheitssystem Großbritanniens als eine Organisation, die Unmengen an Daten sammelt und auf Grundlage dieser Daten Menschen ihre intimsten Verhaltensweisen bis ins Detail vorschreibt (Fitzpatrick 2001). Skrabanek und Fitzpatrick sind Ärzte und mit ihrer Kritik an Healthismus verteidigen sie auch ihre Autonomie in der Behandlung ihrer Patientinnen. Sie sehen ihre berufliche Unabhängigkeit durch die zahlreichen Public-Health-Kampagnen in Gefahr. Sie werden, so empfinden sie es, mit tendenziösen ‚Informationen‘ überhäuft, die ihnen vorschreiben, wie sie ihre Patienten zu behandeln und zu beraten haben. Beide plädieren für die Autonomie von Ärztinnen in der Kommunikation mit ihren Klienten und insbesondere Fitzpatrick sieht die Medizin ohnehin als unabhängige Dienstleisterin, die es Menschen ermöglichen soll, mit ihren Lastern so gut und so lange wie möglich zu leben, statt ihnen ihr Verhalten in allen Einzelheiten vorzuschreiben. Der Medizinsoziologe Robert Crawford betont hingegen die Rolle nichtstaatlicher Akteure bei der Verbreitung healthistischer Denkweisen. In Crawfords Darstellung von Healthismus zieht sich der Staat von der Bereitstellung einer universalen Gesundheitsversorgung zurück und fordert im Gegenzug Eigeninitiative von den Bürgerinnen und Bürgern, um ihren Gesundheitszustand zu verbessern. Crawfords Healthismusverständnis, das, anders als das von Skrabanek und Fitzpatrick, vor dem Hintergrund von Erfahrungen mit dem privaten US-amerikanischen Gesundheitssystem formuliert wurde, basiert weniger auf der Idee eines staatlichen Zwangs zur Gesundheit als auf der Vorstellung, dass Menschen auf freiwilliger Basis zu gesundheitsförderlichem Verhalten motiviert werden sollen. Tatsächlich klingen viele der Tätigkeiten, die mit Healthismus in Zusammenhang gebracht werden, nach Selbstverwirklichung. Dazu zählen etwa Joggen, Fitnesstraining, Wellnessurlaub, Achtsamkeitsübungen und Meditation oder Kochen mit biologischen Lebensmitteln: alles positiv besetzte und tendenziell lustvolle Aktivitäten, die zudem mit der Konsumgesellschaft kompatibel sind. Sie versöhnen die ökonomischen Forderungen nach Schonung und Optimierung der eigenen Ressourcen mit der nach dem Konsum immer neuer Dienstleistungen und Produkte. Healthismus 147 Hedonismus und Gesundheitsförderung gehen im Healthismus erstmalig eine Einheit ein. Gesundheit wird hier nicht länger mit Verzicht assoziiert, sondern als potenziell durchaus lustvolle Investition in die eigene Leistungsfähigkeit verstanden (Greco 2004). Dem gegenüber steht die repressive Seite von Healthismus. Denn wer sich nicht an diesen Aktivitäten beteiligt oder den symbolischen Gesundheitstest nicht besteht, weil er oder sie z.B. zu dick ist oder raucht, muss damit rechnen, öffentlich kritisiert und durch die Gesellschaft sanktioniert zu werden. Ausweis des Scheiterns an den gesellschaftlichen Vorstellungen von Gesundheit sind dabei längst nicht mehr nur diagnostizierbare Krankheiten, sondern ein Sammelsurium an Risikofaktoren mit fließendem Übergang zu rein ästhetischen Merkmalen - angefangen bei mangelnder Muskelmasse und Fettansammlungen an den ‚falschen‘ Körperteilen über zu viel oder zu wenig Körperbräunung bis hin zu Alterserscheinungen wie Falten, Haarausfall oder Graufärbung der Haare. Äußerlichkeiten entscheiden letztlich darüber, ob eine Person als gesund, leistungsfähig und attraktiv angesehen wird, wobei sich Gesundheit von Attraktivität und Leistungsfähigkeit im Alltagsbewusstsein kaum noch unterscheiden lässt. Gesundheit, schreibt Jonathan Metzl, ist ein erwünschter, aber auch ein verordneter Zustand und eine weltanschauliche Haltung. Wir realisieren diese Doppeldeutigkeit jedes Mal, wenn wir jemanden rauchen sehen und reflexhaft kommentieren: „Rauchen ist schlecht für deine Gesundheit“, wenn wir in Wirklichkeit sagen wollen: „Du bist ein schlechter Mensch, weil du rauchst“. Das gleiche passiere, so Metzl, wenn wir jemanden mit hohem Körpergewicht sehen oder eine Mutter, die ihr Kind mit der Flasche füttert, statt es zu stillen. Wir sagen dann: „Adipositas ist ungesund“ oder „Stillen ist besser für das Kind“ und denken: „Du bist undiszipliniert, sonst würdest du nicht so viel essen und dich mehr bewegen“, oder „Du bist eine schlechte Mutter, sonst würdest du dich mehr bemühen, dein Kind zu stillen“ (Metzl 2010: 2). Angesichts derart hoher Erwartungen scheitern häufig genug auch Angehörige der Mittelschicht an Healthismus. Denn auch das eifrigste Streben nach Gesundheit kann niemals das Sicherheitsgefühl garantieren, das die Ideologie der Selbstverantwortung verlangt (Crawford 2006: 416). Gesundheitsförderung ist nie abgeschlossen, man kann nie wirklich si- 148 Medikalisierung und Healthismus cher sein, nicht doch krank zu werden. Irgendein Biomarker lässt sich immer noch optimieren, irgendein ästhetisches Ideal oder eine Zahl auf der Waage lässt sich nie ganz erreichen. Der letzte Zweifel daran, ob man wirklich genug für seine Gesundheit getan hat, bleibt immer. Diese perfektionistische Haltung gegenüber Gesundheit kann selbst wieder krank machen - das jüngste Beispiel hierfür ist die ‚Orthorexie‘, also die krankhafte Angst vor ‚ungesundem Essen‘ (Koven & Abry 2015). 5.7 Ent-Medikalisierung und Normalisierung Wie deutlich geworden ist, ist Medikalisierung ein so starker Trend, dass ihn manche als eine der markantesten Entwicklungstendenzen in westlichen Gesellschaften seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts bezeichnen (Conrad 2007: 4). Trotzdem oder gerade deshalb besteht immer auch die Möglichkeit, dass medikalisierte Phänomene den Zuständigkeitsbereich der Medizin wieder verlassen. Zugleich aber bildet die Pathologisierung häufig eine Art Zwischenstation auf dem Weg zur Normalisierung eines Verhaltens: So galt z.B. die Masturbation lange Zeit als Sünde und moralische Schwäche. Im viktorianischen Zeitalter wurde sie dann zur Geisteskrankheit erklärt. Es wurden zahlreiche Apparaturen und Verfahren entwickelt, um vor allem den Jungen das Onanieren zu verunmöglichen. Die Psychoanalyse unter Freud schließlich betrachtete nur noch die zwanghafte Masturbation als Geisteskrankheit und ab den 1960er-Jahren wurde Selbstbefriedigung durch die psychologischen Fachgesellschaften als normales und gesundes Verhalten neu definiert (Conrad 2007: 97ff.). Zugleich gab es immer wieder Fälle, bei denen eine bestehende Kriminalisierung durch Pathologisierung eines Verhaltens ablöst wurde, bevor man dieses dann schließlich vollständig normalisierte bzw. legalisierte: Kriminalisierung Pathologisierung Normalisierung/ Legalisierung Auch wenn der Schritt von der Pathologisierung zur Normalisierung rekativ selten zu finden ist, sollen im Folgenden zwei Beispiele vorgestellt werden, bei denen dies dennoch der Fall war. Dabei geht es um [a] Ent-Medikalisierung und Normalisierung 149 die Normalisierung verschiedener Formen der menschlichen Sexualität und [b] die teilweise Legalisierung von Marihuana. [a] Der gesellschaftliche Umgang mit Homosexualität hat sich in den vergangenen fünf Jahrzehnten dramatisch gewandelt: In fast allen westlichen Ländern standen homosexuelle Handlungen bis weit in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts unter Strafandrohung. Auch wurden teilweise mehrjährige Haftstrafen für einvernehmlichen Geschlechtsverkehr unter Männern verhängt. Der entsprechende § 175 des deutschen Strafgesetzbuches (StGB) wurde erst am 11. Juni 1994 endgültig gestrichen. Zugleich aber wurde Homosexualität seit Ende des 19. Jahrhunderts auch als psychische Störung bzw. als Geisteskrankheit betrachtet und mit umstrittenen Methoden wie Elektroschocks behandelt. Daneben kamen psychoanalytische Ansätze zur Behandlung von Homo- und Bisexualität zum Einsatz. 1974 wurde in den USA und bald darauf in anderen westlichen Staaten die Streichung von Homosexualität als psychischer Störung aus den entsprechenden Manualen der psychologischen Gesellschaften beschlossen. Fast 20 Jahre später, im Jahr 1992, schloss sich auch die WHO dieser Deutung an. Weiterhin als psychische Störung gelistet wurde allerdings die sogenannte Gender Identity Disorder (GID), also die ‚Störung der Geschlechteridentität‘. Auch hieran äußerte sich wiederholt Kritik, da bei der Definition der GID wie selbstverständlich davon ausgegangen wird, dass es zwei natürliche Geschlechter gibt und dass sich jede gesunde Person jederzeit mit dem ihm biologisch scheinbar eindeutig zugewiesenen Geschlecht identifiziert. Dagegen wird argumentiert, dass schon die Trennung zwischen den biologischen Geschlechtern weniger eindeutig sei als unterstellt und der Aufrechterhaltung der Vorstellung einer biologischen Zweigeschlechtlichkeit nicht selten durch ärztliche Eingriffe wie Operationen und/ oder die Vergabe von Hormonen nachgeholfen werde (Butler 1991; Foucault 1998; Villa 2011). Medizinisches Fachpersonal ‚korrigiert‘ seither nicht mehr ungefragt unmittelbar nach der Geburt ‚uneindeutige‘ Sexualorgane. 2017 entschied zudem das Bundesverfassungsgericht, dass zukünftig ein drittes Geschlecht im Geburtenregister aufgenommen werden muss. Die Idee, aus vermeintlich eindeutigen biologischen Unterschieden ließen sich gleichsam automatisch soziale Verhaltensweisen ableiten, 150 Medikalisierung und Healthismus wird von der zunehmend einflussreicheren Genderforschung entschieden zurückgewiesen (→ ausführlicher Kap. 9.4). Die Forderung, Transsexualität nicht länger als psychische Störung zu definieren, wird daher immer populärer. Die WHO hat 2018 Transsexualität von der Liste psychischer Störung gestrichen. Unklar ist allerdings, welche Folgen das für die Finanzierung kostspieliger Geschlechtsumwandlungen hat. Denn bisher wurden Geschlechtsumwandlungen in vielen Ländern durch die Krankenkassen bzw. das öffentliche Gesundheitswesen finanziert. Voraussetzung war, dass psychologische Gutachten eine transsexuelle Störung attestiert hatten. Und genau aus diesem Grund sind auch nicht alle Mitglieder der transsexuellen Community über die Ent-Medikalisierung ihres Status begeistert (Conrad 2007: 103). [b] Nach seinem globalen Verbot in den 1920er- und 1930er-Jahren waren die Niederlande lange Zeit das einzige Land, in dem zumindest der Verkauf von Marihuana unter strengen Auflagen toleriert wurde. Seit den 1990er-Jahren gerät Marihuana in Nordamerika allerdings als Medikament mit zahlreichen Anwendungen in den Blick. 1996 erlaubte der US-Bundesstaat Kalifornien erstmals, Marihuana zu medizinischen Zwecken zu erwerben und zu verwenden. Weitere Bundessstaaten folgten dem Beispiel Kaliforniens und auch in Kanada wurde im Jahr 2001 Cannabis für medizinische Anwendungen zugelassen. Ende der 2000er-Jahre erlaubten die ersten US- Bundesstaaten Cannabis dann auch als Genussmittel. In Uruguay und Kanada ist Cannabis seit 2017 bzw. 2018 auch ohne Rezept legal erhältlich. Auch in einigen europäischen Ländern gibt es mittlerweile legale Wege des Cannabiserwerbs oder zumindest eine Ausweitung der medizinischen Nutzung. Seit März 2017 gibt es auch in Deutschland Marihuana auf Rezept. Vieles deutet also darauf hin, dass der Cannabisgebrauch in einigen Jahren nicht mehr kriminalisiert und auch nicht mehr pathologisiert, sondern Cannabis zu einem ‚normalen‘ Genussmittel (vergleichbar dem Alkohol) geworden sein könnte. Die Medikalisierung des Cannabis wäre dann der letzte Schritt vor der Normalisierung gewesen. Zusammenfassung ・ 151 Zusammenfassung Medikalisierung beschreibt den wachsenden gesellschaftlichen Einfluss medizinischer Denk- und Deutungsweisen. Am deutlichsten wird der Einfluss der Medikalisierung im Gesundheitsbereich. Die Ausdehnung und Übernahme medizinischer Denkweisen und medizinischer Expertise findet sich auch im Sozial-, Arbeits-, Straf- und Ausländerrecht. Es sind nicht nur Ärztinnen und Ärzte und ihre Interessensverbände sowie die Pharmaindustrie an der Medikalisierung beteiligt, sondern auch Patientinnen und Patienten und Soziale Bewegungen. Partikulare finanzielle Interessen und gesellschaftliche Entwicklungen tragen dazu bei, dass bestimmte Verhaltensweisen medikalisiert werden. Der Wunsch, soziale Probleme individuell mit pharmakologischen und therapeutischen Mittel zu lösen, ist so stark ausgeprägt, weil er finanzielle Interessen befriedigt und dazu beiträgt, politische Konflikte zu vermeiden. Darüber hinaus werden auch gesellschaftliche Konflikte um die Frage, wer Anspruch auf soziale Leistungen und gesellschaftliche Wohlfahrt oder das Recht auf Aufenthalt haben soll, in der Sprache der Medizin und über Diskurse der Medikalisierung geführt und damit entpolitisiert. Healthismus beschreibt die Überhöhung von Gesundheit zu einer Ideologie und wird auch als die Moral einer medikalisierten Gesellschaft bezeichnet. Während manche Beobachter Healthismus als Teil von Medikalisierung verstehen, sehen andere Healthismus als eigenständiges Konzept, das sich teilweise auch in Opposition zur wachsenden Macht medizinischen Wissens gebildet hat. 152 Medikalisierung und Healthismus Healthismus hat sich auch aus der Gesundheitsbewegung heraus entwickelt. Die Gesundheitsbewegung setzte sich zunächst mit Umweltverschmutzungen auseinander, kritisierte die Schulmedizin, stand aber auch individuellen gesundheitsschädlichen Verhaltensweisen negativ gegenüber. Viele ihrer Anhänger und Anhängerinnen konzentrierten sich später maßgeblich auf eine individuelle Verbesserung der eigenen Gesundheit. Die Liberalisierung vieler Spielarten der Sexualität und Geschlechterrollen sowie die partielle Legalisierung von Marihuana sind Beispiele für eine Ent-Medikalisierung. Literatur Ärzteblatt (2015). Fast jede dritte Geburt ein Kaiserschnitt. 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London: Marion Boyars. 6 Soziologie gesundheitlicher Risiken und Probleme Lehrziele In diesem Kapitel erfahren Sie … was man unter Risiko versteht und welche unterschiedlichen Risikologiken es gibt; was der Unterschied zwischen Risiko und Gefahr ist; welchen Prozess gesundheitliche Risiken und Probleme durchlaufen müssen, um von der Öffentlichkeit auch als solche wahrgenommen zu werden; welche Akteure mit welchen Interessen an diesem Prozess beteiligt sind und welche Strategien sie dabei einsetzen; wie sich dieser Prozess der Problematisierung in der konkreten professionellen Arbeit fortsetzt. 6.1 Risiken, Risikologiken, Risikokonflikte Im vorangegangenen Kapitel haben wir uns einerseits damit beschäftigt, dass Gesundheit zu einem immer dominanteren Wert unserer Gesellschaft wird, was dazu führt, dass sich die Menschen ständig mit der eigenen Gesundheit befassen, aber auch befassen sollen (Healthismus); andererseits haben wir über das Phänomen gesprochen, dass soziale oder Alltagsprobleme in medizinische Problematiken überführt, also einer medizinischen Bearbeitungslogik unterworfen werden (Medikalisierung). Im Folgenden wollen wir uns damit beschäftigen, wie gesundheitliche Probleme und Risiken entstehen, die von einer breiten Öffentlichkeit auch als solche wahrgenommen werden. Zunächst werden wir allerdings klären, was man 158 Soziologie gesundheitlicher Risiken und Probleme überhaupt unter Risiko versteht, welche unterschiedlichen Risikologiken es gibt und warum Risiken in aller Regel umstritten sind. Der Risikobegriff entstammt ursprünglich dem Kontext des entstehenden Fern- und Seehandels in den italienischen Städten und Stadtstaaten des 12. und 13. Jahrhunderts: Risiko bezeichnete hier die Unternehmung eines Kaufmannes, der sich den Unsicherheiten ferner und fremder Gegenden nicht mehr unterwarf, sondern der diese kalkulierend herausforderte. „Zwar wusste er nicht, ob die Kalkulation richtig und das Glück ihm hold sein würde. Aber im Erfolgsfall konnte er sich mit Reichtümern schmücken; bei einem Misserfolg hingegen ging er pleite“ (Bonß 1995, S. 50). Auch heute noch kennen wir dieses Risikoverständnis, wenn wir etwas riskieren, um einen Nutzen zu erlangen: Wir investieren z.B. in Aktien und hoffen auf eine hohe Rendite, riskieren aber zugleich erhebliche Verluste für den Fall, dass die Aktienkurse fallen. Risiko ist in dieser Perspektive also ein spezifisches Verhältnis von Nutzen und Gefahr. Anders gelagert ist das mathematisch-statistische oder auch probabilistische Risikoverständnis, bei dem es um die Wahrscheinlichkeit des Eintritts eines Schadens geht. Dieser Risikologik folgt auch die Epidemiologie, wenn sie anhand von Gesundheitsdaten aus der Vergangenheit berechnet, wie hoch die Wahrscheinlichkeit des zukünftigen Eintritts einer Erkrankung für eine bestimmte Personen- oder Bevölkerungsgruppe ist: Sie fragt z.B. wie hoch die Wahrscheinlichkeit ist, an Lungenkrebs zu erkranken und unterscheidet dabei z.B. Raucher und Nichtraucher. Die Wahrscheinlichkeit bezieht sich dabei stets auf ein Kollektiv, also auf eine definierte Gruppe von Personen: Da sich in diesem Kollektiv aber eine Vielzahl an Personen mit ganz unterschiedlichen Einzelrisiken befinden und sich die Wahrscheinlichkeit auf das Kollektiv bezieht, können für die konkreten einzelnen Personen im Grunde keine Aussagen getroffen werden. In den Technik- und Ingenieurswissenschaften spielt neben der Wahrscheinlichkeit des Schadeneintrittes auch noch die Höhe des Schadens eine Rolle. Das konkrete Risiko (R) errechnet sich aus dem Produkt aus Schadenshöhe (S) und Eintrittswahrscheinlichkeit (E): R = S · E Risiken, Risikologiken, Risikokonflikte 159 Diese beiden Variablen interessieren auch die Versicherungen, die daraus ableiten, ob ihre jeweiligen Versicherten ‚gute‘ oder ‚schlechte‘ Risiken sind. So ist z.B. ein Raucher aufgrund seiner erhöhten Krankeitswahrscheinlichkeit (und damit erhöhter Kosten) für die Krankenversicherungen ein ‚schlechtes Risiko‘. Das gleiche gilt z.B. auch für alte Menschen oder solche mit bestimmten Vorerkrankungen, genetischen Dispositionen usw. Andererseits könnte die geringere Lebenserwartung von Rauchern dazu beitragen, dass sie von den Rentenversicherungen als ‚gutes Risiko‘ betrachtet werden, da sie (statistisch betrachtet) weniger Rentenleistungen in Anspruch nehmen als Nichtraucher. Demgegenüber trifft Niklas Luhmann eine gänzlich andere Unterscheidung: Er unterscheidet Gefahren, für die gewissermaßen niemand die Verantwortung trägt, von Risiken, die auf Entscheidungen zurückgeführt werden können: „Von Gefahr kann man sprechen, wenn der etwaige Schaden durch die Umwelt verursacht werden wird, zum Beispiel als Naturkatastrophe […], von Risiko dagegen, wenn er auf eigenes vorheriges Verhalten (einschließlich: Unterlassen) zurückgeführt werden kann“ (Luhmann 1990: 662). „Risiken werden auf Entscheidungen zugerechnet, Gefahren werden extern zugerechnet“ (Luhmann 1991: 117). Dabei ist mit Luhmann (1991: 54) davon auszugehen, dass das Anwachsen des medizinischen und epidemiologischen Wissens sowie entsprechender Informationen zugleich zu einem Anwachsen der Entscheidungsmöglichkeiten wie auch -notwendigkeiten geführt hat - und damit zu einem Mehr an Risiken, sich mit Blick auf (die eigene) Gesundheit ‚richtig‘ oder ‚falsch‘ zu verhalten. Wir sind heute nicht nur aufgefordert zu entscheiden, wie wir uns (gesund) ernähren, ob wir rauchen oder Alkohol trinken wollen, wie und wieviel wir uns bewegen, ob wir uns in die Sonne legen und wenn ja, mit welchem Sonnenschutzfaktor wir uns schützen. Vielmehr betreffen die Entscheidungsnotwendigkeiten immer mehr Bereiche des täglichen Lebens: Auch mit Blick auf die ärztliche Versorgung stehen wir seit einiger Zeit immer deutlicher in der Verantwortung, die (riskanten) Entscheidungen für Behandlungen und Therapien selbst zu treffen. 160 Soziologie gesundheitlicher Risiken und Probleme Die Wahrnehmungsform des Risikos ist so gesehen keine grundsätzlich neue Form des Umgangs mit Unsicherheit in heutigen Gesellschaften, sondern „das Neue liegt einzig und allein in der Ausdehnung der Entscheidungspotenziale, in ihrer stärkeren Verzweigtheit, in ihrem größeren Alternativenreichtum“ (Luhmann 1991: 54). Franz-Xaver Kaufmann (1987: 38) hat dies folgendermaßen auf den Punkt gebracht: Auch wenn die Menschen im Laufe ihrer Geschichte noch nie so sicher gelebt hätten, wie in modernen Gesellschaften, was man u.a. an der weiterhin steigenden Lebenserwartung ablesen könne, so werde das Leben doch immer riskanter. Das starke Anwachsen des Wissens über mögliche Gesundheitsgefährdungen und Risikofaktoren bringt es zudem mit sich, dass unmöglich allen diesen Risiken die gleiche gesellschaftliche, politische und mediale Aufmerksamkeit zuteilwerden kann. Aus diesem Grund ist es interessant zu untersuchen, welche gesundheitlichen Risiken in der gesellschaftlichen Öffentlichkeit thematisiert werden und auf welche Weise dies geschieht, denn „was als Gesundheitsrisiken und Risikoverhalten in der Epidemiologie, in der Öffentlichkeit und in der Gesundheitsförderung thematisiert und akzeptiert wird, ist immer Ausdruck einer auch normativ geprägten Risikokultur“ (Groenemeyer 2001: 36). Mehr noch: Mit der Art der Thematisierung werden nicht nur Annahmen, sondern auch Bewertungen über die Ursachen der jeweiligen gesundheitlichen Risiken und Gefährdungen kommuniziert, die immer auch Verantwortung zuschreiben und damit wiederum bestimmte Lösungen und Interventionen nahelegen. Daraus wiederum folgt, dass gesundheitliche Risiken in aller Regel umstritten sind. ‚Risikokonflikte‘ drehen sich um Fragen der Relevanz und Größe eines Risikos sowie darum, was eigentlich riskiert wird (Gesundheit, Autonomie, Geld etc.), wer das Risiko messen darf, was die Ursachen sind und wer verantwortlich ist. An den Antworten auf diese und ähnliche Fragen entscheidet sich dann, was unternommen werden soll, wer für die Bearbeitung zuständig ist und wer die entsprechenden Maßnahmen bezahlt. Die Zuschreibung von Verantwortung für gesundheitliche Risiken kann dabei auf ganz unterschiedlichen Ebenen ansetzen: Es können grundlegende gesellschaftliche Missstände oder Strukturen als Schuldige ausgemacht werden, die Organisation des Gesundheitssystems, ökonomische Akteure oder auch die Individuen selbst, weil sie unter Gesundheitliche Risiken als Problematisierung 161 bestimmten gesundheitlichen Problemen leiden oder bestimmte Risiken eingehen. Die jeweilige Verantwortungszuschreibung ist dabei stets geprägt und durchdrungen von den Interessen jener gesellschaftlichen Akteure, die die jeweiligen Problematisierungen betreiben bzw. denen es gelingt, ihre Deutung des Risikos zur dominanten Deutung zu machen (Schorb & Schmidt-Semisch 2012: 53f.). Das führt zu der Frage, wie es den beteiligten Akteuren gelingt, ihre Sicht der Dinge durchzusetzen. Damit wiederum ist eine theoretische Kontroverse angesprochen, auf die wir kurz eingehen wollen. 6.2 Gesundheitliche Risiken als Problematisierung Die angesprochene Kontroverse betrifft einen klassischen Teilbereich der Soziologie, nämlich die Soziologie sozialer Probleme. Gesundheitliche Probleme und Risiken verstehen wir dabei als eine spezifische Form oder auch Teilmenge sozialer Probleme, weshalb die Perspektive der Soziologie sozialer Probleme auch auf diese angewendet werden kann. Wichtig ist uns, noch einmal zu betonen, dass es im Folgenden nur um solche gesundheitlichen Probleme und Risiken geht, die von der Öffentlichkeit, dem (Wohlfahrts-)Staat und von den Massenmedien auch als solche wahrgenommen werden und die insoweit Teil eines breiten öffentlichen Bewusstseins sind. Eine der zentralen Debatten innerhalb der Soziologie sozialer Probleme bzw. gesundheitlicher Risiken kreist um die Frage, inwieweit diese Probleme und Risiken unabhängig von ihrer Problematisierung existieren. Bei der Beantwortung dieser Frage konkurrieren zwei idealtypisch zu unterscheidende Theorietraditionen: eine (eher) objektivistische Theorietradition und eine (eher) konstruktivistische Theorietradition. Vereinfacht gesprochen versteht dabei die objektivistische Richtung dieser Soziologie soziale Probleme in der Regel „als ‚Diskrepanz‘ zwischen den Wertvorstellungen einer Gesellschaft und den konkreten Lebensbedingungen einzelner sozialer Gruppen“ (Schetsche 2014: 15): Durch den Vergleich etwa von empirisch gewonnenen Daten mit der gesellschaftlich dominierenden Wertordnung könne die Soziologie objektiv feststellen, ob ein soziales Problem vorliegt und dieses gegebenenfalls einer gesellschaftlichen Lösung zuführen. 162 Soziologie gesundheitlicher Risiken und Probleme Der (sozial-)konstruktivistische Gegenpart dieser Richtung bezweifelt hingegen eine so verstandene Objektivität der Soziologie und versteht (öffentlich anerkannte) soziale Probleme bzw. gesundheitliche Risiken vor allem als Ausdruck und Ergebnis diskursiver Prozesse innerhalb einer Gesellschaft. Dadurch verändert sich allerdings auch der Gegenstand der Soziologie sozialer Probleme: Denn „da als Problem in diesem Sinne nur gelten kann, was von der Gesellschaft […] als solches behandelt wird, kann es von der Problemsoziologie auch nur in Form des Prozesses analysiert werden, der es konstituiert“ (Schetsche 2014: 21). Wenn das Problem nämlich in der Öffentlichkeit behandelt wird, hat es immer schon einen Prozess der Problematisierung durchlaufen, der den ursprünglichen Sachverhalt verändert hat. Schetsche (2014: 43) verdeutlicht diesen Prozess der Problematisierung, indem er unterscheidet zwischen [a] sozialen Sachverhalten, [b] deren Deutung als Problem bzw. gesundheitliches Risiko und [c] dem Prozess, in dem diese Deutung soziale Anerkennung erlangt. Die Idee des sozialen Sachverhaltes ist es dabei, dass es jenseits der unterschiedlichen und umstrittenen Möglichkeiten der Problematisierung ein Wissen über diesen Sachverhalt gibt, das von allen Akteuren konsensual, also übereinstimmend geteilt und anerkannt wird. Ein solcher ‚konsensualer Sachverhalt‘ könnte z.B. sein: „Menschen haben unterschiedliche Körperformen. Sie unterscheiden sich nach Größe, Umfang und Gewicht.“ Stilisiert könnte das folgendermaßen aussehen: Abb. 9: Unterschiedliche menschliche Körperformen Seit etlichen Jahren allerdings sind zumindest die beiden in der Abbildung rechts angesiedelten Körperformen kaum noch ohne entsprechende Problemdeutungen thematisierbar. Personen mit entsprechenden Gesundheitliche Risiken als Problematisierung 163 Körperformen gelten vielmehr als ‚zu dick‘ und als übermäßiger Kostenfaktor für die Krankenkasse, als übermäßige Esser oder ‚bewegungsfaule‘ Fernsehgucker, als willensschwache Menschen, die insgesamt die Kontrolle über ihr Leben verloren haben. Die Problematisierung war also so erfolgreich und die verschiedenen Problemdeutungen und Vorurteile haben sich so sehr verdichtet, dass diese beiden Körperformen nur noch im Kontext dieser Deutungen wahrgenommen werden können. Nach einer solch erfolgreichen Problematisierung eines sozialen Sachverhalts, so Schetsche (2014: 44), werde sowohl von den individuellen Gesellschaftsmitgliedern wie auch von der Öffentlichkeit nicht mehr der Sachverhalt selbst wahrgenommen, sondern nur noch die betreffende Problemdeutung. Schetsche benutzt in diesem Kontext die Metapher des ‚Kokons‘, um zu verdeutlichen, dass die Problemdeutungen den von ihnen thematisierten Sachverhalt mit einer Art ideellem Gespinst umgeben, das sich umso stärker verdichtet, je länger die öffentlichen Debatten über das betreffende Problem anhalten. „In der Folge orientieren sich kollektive Akteure wie Individuen in ihrem Denken und Handeln nicht mehr am Sachverhalt selbst, sondern an der zu einem Wahrnehmungskokon verdichteten Problemwahrnehmung, in welchen der Sachverhalt gleichsam eingesponnen ist“ (Schetsche 2014: 44). Gerade für die Gesundheitswissenschaften ist es u.E. gewinnbringend, eine solche Problematisierungsperspektive hinsichtlich der Konstituierung gesundheitlicher Probleme und Risiken einzunehmen, denn schließlich drehen sich die Auseinandersetzungen im Bereich der Gesundheit in der Regel um die ‚richtige‘ (vermeintlich objektive) Einschätzung gesundheitlicher Risiken, mithin um statistische Wahrscheinlichkeiten, epidemiologische Erkenntnisse, Grenzwertfestlegungen usw. Groenemeyer (2001: 59) konstatiert in diesem Zusammenhang wohl zu Recht, dass sich die auf diese Weise geführten Risikodiskurse durch eine spezifische Form der Rationalität auszeichneten, die den rhetorischen Effekt von wissenschaftlicher Neutralität und Dignität erzeugten und so deren Charakter, nämlich das Ergebnis von Konflikten und politischen Aushandlungsprozessen zu sein, zurücktreten ließen. Allerdings wird bereits auf der Ebene der Auswahl der zu problematisierenden Sachverhalte unzweifelhaft deutlich, dass es zu Selektionen und 164 Soziologie gesundheitlicher Risiken und Probleme mithin zu konflikthaften Auseinandersetzungen kommt bzw. kommen muss. Denn wie bereits gesagt, gibt es eine unüberschaubare Vielzahl von Umständen und Sachverhalten, die potenziell als gesundheitlich problematisch oder riskant thematisiert werden könnten: Sie reichen von Unfällen im eigenen Haushalt, der Dichte von Fast-Food-Lokalen in Städten und mangelnder Bewegung über die Teilnahme am Straßenverkehr, übermäßigen Obstkonsum und die Einnahme von Medikamenten bis hin zu Umweltverschmutzungen oder gar atomaren Kontaminationen. Gleichwohl aber wird nur eine äußerst begrenzte Anzahl dieser Sachverhalte in der gesellschaftlichen Öffentlichkeit als gesundheitliches Risiko thematisiert. So gesehen kann man konstatieren, dass es sich auch bei gesundheitlichen Risiken und Risikoverhaltensweisen um eine spezifische Form von sozialen Problemen handelt, die einer entsprechenden Problematisierung bedürfen, um öffentliche Aufmerksamkeit zu erlangen. In diesem Prozess sind die Gesundheitswissenschaftlerinnen nicht die einzigen Akteure, die an dem Spiel um die Menge und Art dieser Aufmerksamkeit teilnehmen und auf diese Weise den Prozess der Problematisierung und damit das Problem selbst bzw. die gesundheitlichen Risiken gestalten: Auch Ärztinnen, Krankenkassen, ökonomisch orientierte Akteure, Verbände, Politiker, Rechtsanwältinnen, staatliche Instanzen usw. sind an den gesellschaftlichen Aushandlungsprozessen hinsichtlich des Ob und Wie der jeweiligen Problematisierung beteiligt, bringen ihre Interessen ein und nutzen bestimmte Diskursstrategien, um ihre Deutungen des Problems durchzusetzen. Und nicht zuletzt sind es dann schließlich die Medien, die mit einer wiederum ganz eigenen professionellen Logik Nachrichten und Themen selektieren, aufbereiten und auf die gesellschaftliche Agenda setzen. Lässt man sich also auf die Perspektive der Problematisierung ein, so tritt man gewissermaßen einen Schritt zurück: Man wird vom Akteur des Risikodiskurses, der für seine Sicht der Dinge streitet, zum Beobachter desselben. Dementsprechend geht es nicht mehr darum, zu untersuchen, was ‚objektiv‘ betrachtet ein gesundheitliches Risiko oder Problem ist. In den Mittelpunkt des Interesses tritt vielmehr die Frage, wie bestimmte Sachverhalte zu einem bestimmten Zeitpunkt und an einem spezifischen Ort als gesundheitliche Risiken problematisiert und als veränderungsbedürftig konstruiert werden. Die Fragen einer Soziologie gesundheitlicher Probleme und Risiken wären dann: Wie gelingt es Akteuren (bzw. wie ist Akteure und Strategien der Problematisierung 165 es ihnen gelungen), einen bestimmten sozialen Sachverhalt zu einem gesellschaftlich anerkannten gesundheitlichen Problem oder Risiko zu machen? Welche Interessen verfolgen die jeweiligen Akteure? Wie werden die gesundheitlichen Problematiken präsentiert? Warum sind einige dieser Präsentationen erfolgreich und andere eben nicht? 6.3 Akteure und Strategien der Problematisierung Wie bereits gesagt, versteht das oben skizzierte Kokon-Modell soziale und gesundheitliche Probleme und Risiken vor allem als Problematisierung, das heißt als einen sozialen Prozess der gesellschaftlichen Durchsetzung einer bestimmten Problemdeutung. Wie man sich diesen Prozess konkret vorzustellen hat, wie also soziale und gesundheitliche Probleme zum Bestandteil unserer anerkannten sozialen Wirklichkeit werden, veranschaulicht Michael Schetsche (2014: 49) anhand der auf der folgenden Seite abgebildeten Graphik. Bei dieser Graphik handelt es sich um einen schematisierten Ablaufplan, in dem die zentralen Bestandteile des Problematisierungsprozesses benannt und ihr funktionales Zusammenwirken im Laufe der Problemkarriere erfasst werden: Dabei trägt ein kollektiver Akteur (also eine Gruppe mit gemeinsamen Motiven und Zielen) ein bestimmtes Problemmuster an einen sozialen Sachverhalt heran und begründet auf diese Weise eine spezifische Problemdeutung. Durch die massenmediale Verbreitung dieser Problemdeutung wird in der Öffentlichkeit und bei den staatlichen Instanzen eine entsprechende Problemwahrnehmung erzeugt, die sich mit der Zeit wie ein Gespinst um den ursprünglichen Sachverhalt legt (Wahrnehmungskokon). Wichtig ist dabei, dass der Ablauf von Problematisierungsprozessen meist weniger linear verläuft, als es in der Graphik erscheint: Nicht alle (vielleicht die wenigsten) Problematisierungsversuche führen dazu, dass die entsprechenden Problemdeutungen von den Medien aufgegriffen werden. Und nicht immer führt ein Aufgreifen durch die Medien dazu, dass die staatlichen Instanzen ihrerseits sich des Problems annehmen. Insofern scheitern Akteure auch mit ihren Problematisierungsversuchen, nehmen neue Anläufe, nutzen andere Problemdeutungen usw. (vgl. hierzu ausführlicher Schetsche 2014: 65-70). 166 Soziologie gesundheitlicher Risiken und Probleme Abb. 10: Entstehung eines sozialen Problems (Schetsche 2014: 50) Im Folgenden werden wir nun kurz auf einige wichtige Bestandteile der Graphik (Akteure, Problemmuster, Diskursstrategien und Massenmedien) eingehen. Problemkarriere kollektive Akteure Massenmedien Problemmuster Diskursstrategien Bevölkerung staatliche Instanzen Problemdeutung andere Deutung Sach‐ verhalt Sachverhalt Problemwahrnehmung Sach‐ verhalt Wahrnehmungskokon Akteure und Strategien der Problematisierung 167 6.3.1 Akteurs-Typen und ihre Motive und Interessen Für Schetsche (2014: 85ff.) sind insbesondere fünf, als idealtypisch zu verstehende Akteurs-Typen an den beschriebenen Problematisierungsprozessen beteiligt: [a] (Aktiv) Betroffene, [b] Advokaten, [c] Experten, [d] Problemnutzer und [e] soziale Bewegungen. Alle diese Akteure haben selbstverständlich immer auch die Bearbeitung des infrage stehenden Problems oder Risikos mehr oder weniger im Blick; zugleich aber verfolgen sie stets auch ganz eigene Interessen und Motive, die die Bearbeitung oder gar Lösung des entsprechenden Problems manchmal in den Hintergrund treten lassen. In diesem Sinne werden wir im Folgenden auf die ersten vier der genannten Akteure [a-d] kurz eingehen: [a] Betroffene Betroffene spielen häufig eine allenfalls passive Rolle im Kontext der Problematisierung. Gerade mit Blick auf Gesundheitsverhalten ist dies oft der Fall: Hochgewichtige Personen, Raucherinnen, Drogenkonsumierende, ‚Bewegungsmuffel‘ usw. beteiligen sich in der Regel nicht an der Problematisierung des eigenen Verhaltens. Aktiv hingegen werden jene ‚Betroffenen‘, die sich selbst im Sinne der jeweiligen Problemdeutung als Opfer betrachten und auf eine Lösung ihres Problems hoffen. Die Verbesserung der eigenen Lebenssituation kann dabei gelegentlich auch über Formen der medialen Selbstinszenierung erfolgen: „Vor dem Hintergrund der heute die Öffentlichkeit beherrschenden ‚Ökonomie der Aufmerksamkeit‘ können die mit medialer Präsenz verbundenen psychischen und sozialen Gratifikationen ein starkes zusätzliches Motiv für die Aktivitäten von Betroffenen sein“ (Schetsche 2014: 88). [b] Advokatinnen und Advokaten Ein zweiter Akteurs-Typ sind die so genannten Advokatinnen und Advokaten, die in der Regel soziale, religiöse oder individuelle Motive für ihr Engagement haben; gelegentlich stehen bei ihnen aber auch die öffentliche Aufmerksamkeit für die eigene Berufsgruppe oder Person im Vordergrund. Advokatinnen und Advokaten handeln als Unterstützung Betroffener bzw. in deren Namen, sind aber selber nicht betroffen. Im Gegensatz zu selbst Betroffenen bedürfen die Aktivitäten der Advokaten 168 Soziologie gesundheitlicher Risiken und Probleme daher der Legitimierung. Man kann z.B. fragen: Erfolgt ihre Unterstützung auf Bitten der Betroffenen selbst oder lediglich aufgrund der eigenen Einschätzung, dass den Betroffenen die Fähigkeiten zur eigenständigen Durchsetzung ihrer Interessen fehlen? „Im ersten Fall speist sich die Legitimität des Engagements aus den Wünschen der selbstdeklarierten Problemopfer nach Unterstützung - im zweiten Fall hingegen basiert sie auf der Feststellung Dritter über die Notwendigkeit des Handelns für diejenigen, die sich (vermeintlich oder tatsächlich) nicht selbst helfen können“ (Schetsche 2014: 90). Ähnliche Problematiken finden wir im Bereich der Gesundheitsförderung, in dem ‚Anwaltschaft‘ nach dem Verständnis der Ottawa-Charta der WHO eine von drei Handlungsstrategien ist: „Politische, ökonomische, soziale, kulturelle, biologische sowie Umwelt und Verhaltensfaktoren können alle entweder der Gesundheit zuträglich sein oder auch sie schädigen. Gesundheitsförderndes Handeln zielt darauf ab, durch aktives anwaltschaftliches Eintreten diese Faktoren positiv zu beeinflussen und der Gesundheit zuträglich zu machen“ (WHO 1986: 97). Anwaltschaft zielt nach Lehmann et al. (2015) entweder auf die ‚Interessenvertretung für Betroffene‘ oder auf die ‚Anwaltschaft für die Gesundheit‘: Im Rahmen der ‚Interessenvertretung für Betroffene‘ geht es darum, für die Interessen jener Gruppen einzutreten, „denen es allein (noch) an Artikulations- und Durchsetzungsfähigkeiten mangelt“, oder um das „Eintreten für ‚latente Gesundheitsbedürfnisse‘ der Bevölkerung“ (Lehmann et al. 2015: 1). Da die ‚mangelnde Artikulationsfähigkeit‘ ebenso wie die ‚latenten Gesundheitsbedürfnisse‘ in der Regel von den Advokaten selbst eingeschätzt werden, besteht hier grundsätzlich das Problem der ‚selbsternannten‘ Anwältinnen: „Gesundheitsförderinnen und förderer, die vorgeben, die Interessen einer Klientel oder Betroffenengruppe zu vertreten, ohne dafür die entsprechende Legitimation zu haben“ (Lehmann et al. 2015: 1). Insofern kann dieses Verhalten von den Betroffenen wiederum leicht als Bevormundung empfunden und daher abgelehnt werden. Akteure und Strategien der Problematisierung 169 Die allgemeiner verstandene ‚Anwaltschaft für die Gesundheit‘ meint weniger das Eintreten für bestimmte Personen oder Gruppen, sondern eine Gesundheitsförderung im Sinne einer ‚gesundheitsförderlichen Gesamtpolitik‘. Damit sollen ökonomische, politische, kulturelle, soziale etc. Faktoren im Sinne von Gesundheit positiv beeinflusst werden. Anwaltschaft, so Lehmann et al. (2015: 2), werde „immer dann nötig, wenn eine Betroffenengruppe oder ein gesellschaftspolitisches Ziel wie Gesundheit als nicht genügend artikulations- und durchsetzungsfähig angesehen wird.“ Wenn man allerdings diejenigen, die man erreichen wolle, nicht intensiv an dem eigenen anwaltschaftlichen Verhalten im Sinne von Partizipation beteilige, bestehe die Gefahr, dass man an den eigentlichen Interessen der Betroffenen vorbeihandele. Dies ist vor allem auch dann der Fall, wenn Advokatinnen unter dem Etikett der Gesundheitsförderung vor allem die eigenen Professionsinteressen (etwa die Ausweitung des eigenen Zuständigkeitsbereichs) verfolgen. [c] Experten und Expertinnen Eine dritte Akteurs-Kategorie bilden die Experten und Expertinnen, die allerdings vielfache Überschneidungen zur Gruppe der Advokaten haben. Für Schetsche (2014: 92) sind Expertinnen Personen, die eine nichtalltägliche Kompetenz für den Umgang mit den jeweiligen Problemen und Risiken haben. Diese Gruppe setzt sich in erster Linie aus klassischen wissenschaftlichen Experten zusammen sowie aus Mitgliedern „eher praktisch orientierter Professionen, die ihre Qualifikation für die Beurteilung sozialer Probleme im Rahmen einer systematischen, auch formal geregelten Ausbildung erworben haben.“ Dazu zählen etwa: Sozialarbeiter, Psychologinnen, Juristen, Medizinerinnen und inzwischen sicherlich auch Gesundheitswissenschaftlerinnen. Schetsche (2014: 93) geht davon aus, dass die Motive aller dieser Experten für ein Engagement im Bereich sozialer Probleme und gesundheitlicher Risiken in erster Linie berufsständische Eigeninteressen sind: Es geht ihnen darum, öffentliche Aufmerksamkeit für die eigene Profession zu erzeugen und dadurch zugleich ihre Zuständigkeit für das infrage stehende Problem abzusichern. Dies geschieht vor allem auch unter dem Gesichtspunkt, bei der Verteilung finanzieller Mittel berücksichtigt zu werden und damit auch die langfristige Verteilung gesellschaftlicher Ressourcen im eigenen Interesse zu gestalten. Wie bereits unter [b] thematisiert, sind gerade 170 Soziologie gesundheitlicher Risiken und Probleme auch die Vertreter und Vertreterinnen von Public Health, Gesundheitsförderung und Prävention gefordert, im Sinne der eigenen, noch jungen Profession plausibel zu machen, dass bestimmte gesundheitliche Probleme und Risiken in ihren Zuständigkeitsbereich fallen und von ihnen besser und angemessener bearbeitet oder erforscht werden können als von anderen Disziplinen. Dafür steht exemplarisch auch das von Public- Health-Expertinnen und -Experten seit einigen Jahren verfolgte Konzept der ‚Gesundheit in allen Politikbereichen‘: Diese ‚Health in All Policies‘ (HiAP) zielt darauf ab, Gesundheitsaspekte in allen Bereichen der Politik zu berücksichtigen und damit gewissermaßen zu einem universellen Querschnittsthema zu machen: Neben einer hoffentlich verbesserten Gesundheit der Menschen zielt dieses Vorgehen zugleich auf eine expandierende Zuständigkeit der Disziplin Public Health. Man könnte hier mit Schmidt (2016) und analog zur Medikalisierung (→ Kap. 5) von ‚Vergesundheitlichung‘ sprechen. [d] ‚Problemnutzer‘ Die vierte Akteurs-Kategorie bilden nach Schetsche (2014: 94ff.) die so genannten ‚Problemnutzer‘: Sei der Wunsch nach Linderung einer angenommenen Problemlage für Advokatinnen das primäre und für Experten immerhin noch das sekundäre Motiv, so gehe es Problemnutzerinnen ausschließlich darum, die öffentliche Problematisierung für ihre eigenen Interessen zu funktionalisieren. Man müsse sogar davon ausgehen, dass die Lösung des jeweiligen Problems den Interessen dieser Akteure zuwiderlaufe. Dabei handelt es sich z.B. um politisch orientierte Akteure, denen es um die Erlangung von Machtpositionen geht, das heißt um Sitze in Parlamenten und ihren Gremien, um Positionen im politischadministrativen System etc. - Dabei ist die Instrumentalisierung von Problemen „strategisches Mittel zur Erlangungen politischer Machtpositionen, welche die Kontrolle der Instanzen einschließt, die wiederum für die sozialstaatliche Bekämpfung jener Problemlagen zuständig sind. Erfolgreiche Problemnutzer können auf diesem Wege ihren politischen Einfluss langfristig sicherstellen“ (Schetsche 2015: 95). Eine weitere Spielart des Problemnutzers ist sicherlich auch der ökonomisch interessierte Akteur, der gesundheitliche Probleme und Risiken nicht in erster Linie zum Verschwinden, sondern - ganz im Gegenteil - Akteure und Strategien der Problematisierung 171 überhaupt erst in die Welt bringen will. Gemeint ist damit das unter der Bezeichnung Disease Mongering gefasste Phänomen der Erfindung von Krankheiten. Für Moynihan et al. (2002) geht das ‚Disease Mongering‘ über ‚Medikalisierung‘ hinaus, weil hier neue Krankheiten offensiv z.B. von der Pharmaindustrie lanciert werden, etwa indem sie entsprechende Selbsthilfegruppen ‚sponsert‘. Disease Mongering kann erfolgen, indem z.B. alltägliche Beschwerden in Krankheiten umgemünzt oder leichte zu schweren Symptomen umgedeutet werden, indem persönliche zu medizinischen Problemen gemacht oder Risiken als Krankheiten gedeutet werden usw. Ziel ist es dabei, die Zahl der Therapien oder medikamentösen Behandlungen aus rein ökonomischem Interesse zu maximieren (→ Kap. 5). Wie erfolgreich die jeweiligen Akteure dabei sind, ihre Sicht der Dinge im öffentlichen Diskurs durchzusetzen, hängt vor allem auch von den gewählten Problemmustern und Diskursstrategien ab. 6.3.2 Problemmuster Es gibt immer eine große Zahl unterschiedlicher Möglichkeiten, soziale Sachverhalte zu thematisieren und zu problematisieren. Wenn Akteure andere Personen von der Relevanz und Dringlichkeit eines Problems und vor allem von ihrer eigenen Position überzeugen wollen, dann brauchen sie gute Argumente, um ihren Standpunkt beim ‚Publikum‘ plausibel zu machen. Sie bedienen sich daher in der Regel bereits bestehender Deutungsbzw. Problemmuster, die schon in anderen Problematisierungszusammenhängen genutzt wurden und die sie nun auf den neuen Fall übertragen. Dabei können solche Problemmuster verstanden werden als der Bevölkerung bekannte Interpretationen der Umwelt und des Selbst, die immer auch Anleitungen für das konkrete Handeln enthalten und unter die bestimmte Situationen und Sachverhalte subsumiert werden können. Insofern handelt es sich bei Deutungsbzw. Problemmustern um von den Subjekten ‚gewusste‘ kollektive Interpretations- und Handlungsanleitungen, die im Rahmen der Sozialisation an die nächste Generation weitergegeben werden. Es handelt sich also um ein Wissen, dass immer schon da ist und durch den sozialen Kontext geprägt und in ihm verankert ist. Nach Ansicht von Schetsche (2014: 111ff.) bestehen Problem- 172 Soziologie gesundheitlicher Risiken und Probleme muster idealtypisch aus sieben miteinander verknüpften Wissenselementen: Man braucht, erstens, einen eingängigen Namen, der die Problembehauptung auf den Punkt bringt, und der, zweitens, als ein Erkennungsschema fungieren kann, das bereits auf die Dringlichkeit eines Eingreifens verweist. Beliebt sind dabei z.B. das Suffix ‚-sucht‘, das an allerlei Verhaltensweisen angehängt werden kann (jüngst etwa im Sinne von ‚Internet- oder Onlinesucht‘), sowie weitere auf die Dringlichkeit des Eingreifens verweisende Bezeichnungen: ‚Drogen-‘ oder ‚Adipositasepidemien‘ (Schorb 2015), die eine infektiöse Ausbreitung suggerieren, aber auch etwa ‚Grippewellen‘, ‚Flüchtlingsfluten‘, die ‚AIDS-Seuche‘ oder auch die ‚medizinische Versorgungskatastrophe im ländlichen Raum‘. Problemmuster enthalten drittens eine Beschreibung des Problems, die es von anderen Problemen abgrenzt und zugleich auf Ursachen und Verbreitung des Problems verweist. Zudem sind sie, viertens, stets mit einem Unwerturteil verbunden, das auf die Verletzung eines wichtigen gesellschaftlichen Wertes verweist und nach Möglichkeit auch einen Schuldigen benennen kann. Damit verbunden sind sodann, fünftens, Vorschläge zur generellen Problembekämpfung. Diese Vorschläge sind abhängig von den Interessen der jeweils dominanten Akteure, wobei für die Bekämpfung vor allem dreierlei Ressourcen infrage kommen bzw. gefordert werden: Geld (z.B. für Personal und Maßnahmen), Informationen (etwa in Form von Broschüren, Beratung oder Kampagnen) und Recht (i.S. neuer oder veränderter gesetzlicher Regelungen). Sechstens sind Problemmuster immer auch mit konkreten Handlungsanleitungen für den Umgang mit dem Problem im Alltag verknüpft sowie siebtens mit affektiven Bestandteilen, die das Problem emotionalisieren und beim ‚Publikum‘ Empörung auslösen: „Zum Zwecke der Emotionalisierung des Denkens und Handelns enthalten Problemmuster affektive Bestandteile: Textpassagen, rhetorische Figuren und Metaphern, aber auch Fallbeispiele und Bilder (im direkten wie im übertragenen Sinne) sind so gestaltet, dass sie beim durchschnittlichen Rezipienten über die kognitive Beschäftigung mit dem Thema hinaus auch eine emotionale ‚Betroffenheit‘ auslösen“ (Schetsche 2014: 118). - Je mehr dieser sieben Punkte erfüllt sind, desto wahrscheinlicher ist es, dass das entsprechende gesundheitliche oder soziale Problem die entsprechende gesellschaftliche und mediale Aufmerksamkeit erhält. Im Akteure und Strategien der Problematisierung 173 Kontext von Public Health werden diese Aspekte unter dem Stichwort Medienanwaltschaft (Media Advocacy) thematisiert (Dorfman & Daffner Krasnow 2014), einer Strategie, die beabsichtigt, „die öffentlichen und privaten Medien als Informationsträger und Ressource gezielt(er) für soziale bzw. gesundheitliche Anliegen zu nutzen“ (Seibt & Franzkowiak 2016: 13). Hier geht es z.B. explizit darum, soziale Sachverhalte im Sinne bestimmter Problemmuster zu deuten, um auf diese Weise einen neuen ‚Verständnis-‘ oder ‚Deutungsrahmen‘ (Groenemeyer 2010: 25) zu setzten‘ (Framing): „Es ist von entscheidender Bedeutung, den Verständnisrahmen für ein Thema umzugewichten oder eigenständig zu setzen. Wer dies schafft, kann die primären Diskussionsinhalte vorgeben und v.a. alternative, gesundheitsförderliche Problemlösungen in den Vordergrund rücken (‚shaping the debate‘)“ (Seibt & Franzkowiak 2016: 14). Um die Wahrscheinlichkeit zu erhöhen, dass sich ein bestimmtes Problemmuster bzw. ein bestimmtes Framing in der öffentlichen Debatte durchsetzt, bedienen sich die Akteure so genannter Diskursstrategien. 6.3.3 Diskursstrategien Bei Diskusstrategien handelt es sich um bestimmte Techniken der Darstellung, die das jeweilige Problemmuster rhetorisch auf eine Weise absichern, dass die beteiligten Subjekte das Problem gar nicht erst infrage stellen. Es geht darum, „die gesellschaftlichen Subjekte moralisch und auch emotional so zu adressieren, dass ihre Aufmerksamkeit und die Bereitschaft zum Handeln gleichsam erzwungen werden“ (Schetsche 2014: 128). Diskursstrategien werden eingesetzt, damit das jeweilige Problem im Kampf um die alltägliche und mediale Aufmerksamkeit möglichst prominent wahrgenommen wird. Im Folgenden sollen drei dieser Strategien exemplarisch vorgestellt werde: [a] Dramatisierende Statistik Um ein gesundheitliches Problem oder Risiko als besonders schwerwiegend darzustellen, bietet es sich an, die Zahl der Opfer oder Betroffenen als besonders groß erscheinen zu lassen. Um dies zu erreichen, kann man z.B. die Definition der Betroffenen möglichst weit fassen, um möglichst 174 Soziologie gesundheitlicher Risiken und Probleme viele Personen einzuschließen, oder man kann über ein entsprechendes ‚Dunkelfeld‘ spekulieren: „Da über das Dunkelfeld per Definition keine verlässlichen Angaben vorliegen, wird diese Relation regelmäßig von Experten geschätzt. Dabei gibt es […] erhebliche Spielräume und damit auch eine entsprechende Spannweite der Schätzwerte“ (Schetsche 2014: 130). Ein Beispiel für die Strategie der geschätzten großen Zahl ist die Anti- Tabak-Kampagne der WHO, in deren Verlauf die Zahl der Todesopfer durch Tabakkonsum einen rasanten Anstieg erfuhr: 1986 schätzte die WHO die Zahl der jährlichen Todesopfer auf 1 Mio., die sie 1989 auf 2 Mio., 1999 auf 3,5 Mio., 2002 auf 4 Mio. und 2004 auf 4,9 Mio. erhöhte. Zugleich schätzte die WHO (2004) für 2025 jährlich 10 Mio. vorzeitige Todesfälle aufgrund von Tabakkonsum (vgl. ausführlicher Schmidt- Semisch 2005: 130f.). Aber es sind nicht nur hohe Zahlen, die überzeugen (sollen), sondern vor allem auch ihre kreative ‚Verpackung‘. [b] Kreative Epidemiologie Mit der Strategie der kreativen Epidemiologie werden wissenschaftlich generierte Zahlen und Daten so aufbereitet, dass sie für Laien interessant werden und Aufmerksamkeit erregen. Die Amerikanische Krebsgesellschaft benutzte z.B. in den 1990er-Jahren den Slogan: „Eintausend Menschen hören täglich auf zu rauchen - indem sie sterben. Dies entspricht dem Absturz von zwei voll besetzten Jumbos ohne Überlebende“ (zit. n. Seibt & Franzkowiak 2016: 13). Die Intention war es dabei, vermeintlich trockenes Zahlenmaterial in drastische Bilder zu übersetzen: „Flugzeugunglücke erwecken Assoziationen von Feuer und Rauch in Verbindung mit Leiden und Tod. Diese affektiven Assoziationen sind gewollt. Sie setzen die Aura des Zigarettenrauchens in einen unangenehmen und anderen Kontext als den von Freiheit, Sex oder Abenteuer“ (Seibt & Franzkowiak 2016: 13f.). Dieses in den vergangen drei Jahrzehnten unter anderem mit solchen Strategien bewirkte, schlechte Image des Rauchens, das unmittelbar mit dessen Gesundheitsschädlichkeit verknüpft ist, wird inzwischen wiederum zur Veranschaulichung und Plausibilisierung anderer Gesundheitsrisiken benutzt: So wurde z.B. die Einsetzung einer ‚Ministerin für Ein- Akteure und Strategien der Problematisierung 175 samkeit‘ in Großbritannien im Januar 2018 immer wieder mit dem Bild in Verbindung gebracht, dass Einsamkeit schlimmer für die Gesundheit sei, als 15 Zigaretten am Tag zu rauchen (z.B. im Weser-Kurier am 19.01.2018, S. 7, oder in der Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung am 21.01.2018, S. 20) [c] Selektive Auswahl von Fallbeispielen Das kreative ‚Jonglieren‘ mit Zahlen wird dabei häufig ergänzt durch die Darstellung ausgesuchter Fallbeispiele. Diese Beispiele sollen exemplarisch etwas über den jeweiligen Verstoß gegen die Wertordnung und vor allem über die Schädigungen der Problemopfer aussagen, was auch bedeutet, dass sie in der Regel einen dokumentarischen Anspruch erheben. Aber unabhängig davon, „wie realitätsgerecht dieser Anspruch auch immer sein mag, zeichnen sich die in öffentlichen Quellen vorfindbaren Fallbeispiele fast durchgehend dadurch aus, dass sie zwar exemplarisch für die Gesamtheit des kritisierten Sachverhalts stehen sollen, tatsächlich aber dem Bereich extremer Einzelfälle entnommen sind, die […] gerade nicht die Masse der angesprochenen Fälle repräsentieren“ (Schetsche 2014: 130f.). Geschildert würden stattdessen vor allem solche Fälle, von denen man annehme, dass sie bei den Medien und deren Rezipienten und Rezipientinnen besondere Aufmerksamkeit erzeugen, indem sie an Affekte wie Mitgefühl, Entsetzen und Empörung appellieren. Als Beispiel kann hier der Konsum von Cannabis herangezogen werden. So kann man sagen, dass ungefähr 5 Prozent der deutschen Bevölkerung Cannabis konsumieren: Die 12-Monats-Prävalenz beträgt bei den 12bis 17-Jährigen 7,3 Prozent und bei den 18bis 64-Jährigen 6,1 Prozent (Piontek et al. 2017: 14). Die grob geschätzten 5 Prozent entsprechen ca. 4 Millionen Cannabiskonsumierenden, die zum weit überwiegenden Teil keinerlei Probleme bei und mit dem Konsum entwickeln. Über diesen Großteil der unproblematischen Fälle wird allerdings in den Medien praktisch nicht berichtet. Stattdessen finden sich dort drastische Einzelfälle von Personen, bei denen Cannabis vermeintlich zu einer Vielzahl von psychischen, physischen und/ oder sozialen Problemen geführt hat - womit ein spezifisches Bild der Bedrohung durch Cannabiskonsum verfestigt wird. 176 Soziologie gesundheitlicher Risiken und Probleme Auch wenn durch die in diesem Kapitel dargestellten Beispiele der Eindruck entstehen könnte, dass es sich beim Einsatz von Diskurstrategien um Manipulationen oder Verzerrungen der Wirklichkeit handelt, so muss dem doch zugleich widersprochen werden. Denn diese Strategien verweisen im Grunde nur auf die Systemlogik der Massenmedien und damit auf einen durchaus legitimen Kampf um Aufmerksamkeit. 6.3.4 Massenmedien Der Kampf um die Aufmerksamkeit der Massenmedien und damit zugleich der Öffentlichkeit unterliegt unter anderem zwei Funktionslogiken: Zum einen bestimmen die Massenmedien die öffentliche Meinung, zum anderen bestimmt aber auch das, was die Bevölkerung interessiert, das Themenspektrum der Massenmedien. [a] Die Massenmedien nehmen entscheidenden Einfluss auf die öffentliche Meinung, weil Dinge erst dadurch öffentlich bedeutsam werden, wenn sie entsprechend kommuniziert werden. Sie bestimmen zu einem Gutteil, über was geredet wird: Die so genannte Agenda- Setting-Theorie geht davon aus, dass Medien den Blick der Rezipienten lenken und damit maßgeblich beeinflussen, über welche sozialen und gesundheitlichen Probleme in der Öffentlichkeit gesprochen wird. Da Medienberichte aber immer auch Deutungen, Wertungen etc. enthalten, beeinflussen sie nicht nur, über was geredet wird, sondern auch wie dies erfolgt. Für Problemakteure ist es daher besonders wichtig, ‚ihr Problem‘ und nach Möglichkeit auch ihre Problemdeutung in die Medien zu bekommen, um im ‚Kampf‘ um die mediale Aufmerksamkeit zu bestehen. Allerdings, so Bonfadelli & Friemel, stelle sich „vor dem Hintergrund der rasanten Verbreitung des Internets und der damit zusammenhängenden Erweiterung und Diversifizierung des medialen Angebots […] die Frage, inwiefern in Zukunft noch von einer mehr oder weniger homogenen Medien-Agenda ausgegangen werden kann, bzw. welche gesellschaftlichen Konsequenzen sich aus dem stärker fragmentierten Medienpublikum ergeben werden“ (Bonfadelli & Friemel 2017: 195). [b] Zugleich bestimmt aber auch das Publikum, worüber die Medien berichten. Der Grund dafür ist, dass es sich bei den Massenmedien Doing Health Problems 177 um Wirtschaftsbetriebe handelt, die nach den gleichen Prinzipien agieren, wie andere Wirtschaftsunternehmen auch: „Es ist ihr alles andere dominierendes Ziel, Gewinne für die Kapitalgeber bzw. Anteilseigner zu erwirtschaften“ (Schetsche 2014: 138). So verkaufen z.B. Presseverlage nicht nur Zeitungen und Zeitschriften, sondern verdienen ihr Geld vor allem auch mit den darin geschalteten (Werbe-)Anzeigen. Wieviel Geld mit den jeweiligen Anzeigen erwirtschaftet werden kann, hängt dabei weitgehend von der Anzahl der Rezipienten, das heißt von der Auflagenhöhe ab: „Je mehr Rezipienten es gibt, desto höher sind die zu realisierenden Anzeigenpreise. Jeder Presseverlag ist daher bemüht, die Auflagenhöhe seiner Zeitungen und Zeitschriften zu maximieren“ (ebd.). Wenn aber die Zahl der Rezipienten der zentrale Faktor für wirtschaftlichen Erfolg ist, dann geht es weniger um die Qualität des Programmes, sondern das Programm wird zum Mittel der Produktion von Publizität, also hoher Leserinnen- oder Zuschauerzahlen und damit hoher Werbeeinnahmen. Insofern werden die Medien bzw. die jeweiligen Redakteurinnen und Redakteure vor allem über solche (gesundheitlichen) Themen berichten, von denen sie annehmen, dass sie beim Publikum auf großes Interesse stoßen. Als besonders berichtenswert gelten den Redakteurinnen Themen dann, wenn sie bestimmte ‚Publizitätsfaktoren‘ erfüllen, z.B. wenn sie einen hohen Neuigkeitswert haben, wenn sie sich gut zur Dramatisierung und zur Erzeugung von Empörung eignen, wenn sie im jeweiligen Medium gut darstellbar sind oder wenn sich ein unmittelbarer Bezug zu den Rezipienten herstellen lässt (vgl. ausführlicher Schetsche 2014: 140-146). 6.4 Doing Health Problems Wenn es Problemakteuren gelungen ist, ihr Problem in die Öffentlichkeit zu tragen und mit der entsprechenden Aufmerksamkeit auszustatten, kann es dazu kommen, dass das Problem auch zum Gegenstand politischer Entscheidungsprozesse wird. Erkennt die Politik die staatliche Zuständigkeit für die Bearbeitung des Problems an, wird sie im Anschluss entsprechende Bearbeitungs- und Bekämpfungsmaßnahmen beschließen, die von bestimmten Organisationen durchgeführt werden: Im Laufe der Zeit entstehen Einrichtungen und Institutionen, 178 Soziologie gesundheitlicher Risiken und Probleme „die zeitstabil für die Beobachtung des Problems zuständig sind. Dies können kleine Referate innerhalb von Ministerien oder nachgeordneten Behörden sein, aber auch große bürokratische Einheiten, die umfangreiche Bekämpfungsmaßnahmen […] auf Dauer organisieren“ (Schetsche 2014: 167). Eine solche Institutionalisierung eines sozialen und gesundheitlichen Problems lässt sich gut am Beispiel Sucht und Drogen verdeutlichen. In den vergangenen vier Jahrzehnten hat sich diese Problematisierung in immer mehr gesellschaftliche Bereiche verästelt: Neben den zahlreichen Drogenberatungs-, Drogentherapie- und Drogenhilfeeinrichtungen hat jede Regierung auf Bundes-, Landessowie kommunaler Ebene ein entsprechendes Drogenreferat mit einer Drogenbeauftragten; es gibt unterschiedlichste staatliche und semistaatliche Einrichtungen, die sich z.B. als ‚Landesstellen für Suchtfragen‘ oder ‚Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung‘ mit Suchtprävention beschäftigen; in den allermeisten Schulen gibt es schulische Suchtberater, die entsprechende Projektwochen, Präventionsprojekte, Elternabende, Lehrerfortbildungen etc. organisieren; in allen größeren Betrieben ist ‚ betriebliche Suchtberatung‘ mittlerweile Standard; es gibt Suchtmedizin, Suchtambulanzen, Suchtkliniken, Suchtzentren, Suchtrehabilitation, Suchtforschung, Suchtkongresse, Suchtzeitschriften, ein ‚Jahrbuch Sucht‘, Suchtforen usw. Wie deutlich wird, entstehen mit der Institutionalisierung eines gesundheitlichen Problems oder Risikos Organisationen und Institutionen der Problembearbeitung, die dieses Problem nun gewissermaßen verkörpern. Zugleich erfolgt die Problematisierung nicht mehr nur auf einer allgemeinen, eher abstrakten Ebene, sondern das Problem wird nun von dem dort arbeitenden, spezifisch geschulten Personal auf konkrete Personen und Situationen angewendet: „Über die konkrete Fallbearbeitung im Alltag von Institutionen der Problembearbeitung werden also abstrakte Kategorien sozialer Probleme zu konkreten Betroffenheiten gemacht“ (Groenemeyer 2010: 15). Dabei wenden die jeweiligen Organisationen aber die politischen Programme nicht eins zu eins an, sondern entwickeln ihre je eigene ‚organisationale Kultur‘ der Interpretation und Bearbeitung der Problemkategorien. So gesehen sind Organisationen der Problembearbeitung keineswegs ‚neutrale‘ Instrumente der Implementation und Umsetzung politischer Programme, sondern sie Doing Health Problems 179 „sind immer auch Systeme der Herstellung einer spezifischen eigenständigen organisationsadäquaten Konstruktion sozialer Probleme mit spezifischen Regelsystemen und einem spezifisch geschulten Personal. Damit werden die Organisationen der Problembearbeitung zu eigenständigen Akteuren im politischen Prozess“ (Groenemeyer 2010: 37). Dieses ‚Prozessieren‘ sozialer oder gesundheitlicher Probleme im institutionellen und organisationalen Alltag wird als Doing Social Problems oder auch Social Problems Work bezeichnet: Auf den vorliegenden Kontext gewendet kann man entsprechend von Doing Health Problems sprechen, denn wenn ein Problem im Feld der Gesundheitspolitik angesiedelt werde, so Groenemeyer (2010: 32f.), dann würden auch einschlägige gesellschaftliche Akteure damit betraut, die vorgesehenen Maßnahmen zu implementieren und durchzuführen. Dabei wird davon ausgegangen, dass soziale Problemarbeit untrennbar mit kulturellen Repräsentationen und Verständnissen verbunden ist, durch welche die konkreten Probleme, Ereignisse und Personen immer schon interpretativ vorgeprägt sind (Holstein & Miller 1997: XIV). Hervorgehoben wird dabei, etwa von Schmidt (2008: 39), dass Problemarbeit gerade auch für Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen in sozialen und gesundheitlichen Einrichtungen zum Tagesgeschäft und zur Alltagsroutine gehöre, da sich diese Einrichtungen qua Aufgabenstellung mit Problemfällen und -lagen befassten und sie in gewisser Weise eben erst als solche konstituierten: „Dies insofern, als mit den vor Ort verwendeten Beschreibungen von Personen und Umständen spezifische Realitäten weniger abgebildet als vielmehr konstruiert bzw. ‚erarbeitet‘ werden“ (Schmidt 2008: 39). Dabei ist mit dieser professionellen Kategorisierung immer auch eine Zuschreibung von Verantwortung und Schuld, mithin also ein normatives bzw. moralisches Urteil verbunden. Die Kategorisierungen und moralischen Bewertungen sind in gesundheitlichen Versorgungseinrichtungen allerdings in der Regel nicht als Gegenstand expliziter Entscheidungen durch Mitarbeiterinnen oder Mitarbeiter, Ärztinnen oder Ärzte zu verstehen, sondern als Bestandteil eines institutionalisierten Doing Health Problems: 180 Soziologie gesundheitlicher Risiken und Probleme „Hinter professionellen Fachsprachen und formalisierten Diagnosesystemen, die nur Professionellen zugänglich sind, erscheinen Entscheidungen über die Verteilung von Ressourcen, die Definition der Probleme und Behandlungsnotwendigkeiten sowie die Reaktions- und Behandlungsform und ihr Verlauf als rein technische Angelegenheit. Die Bedeutung kultureller Zuschreibungen, Symbole, Normen und Werte für den Prozess der Kategorisierung, d.h. sein Charakter als soziale Konstruktion in einem institutionellen Kontext verschwindet hinter den unhinterfragten Routinen der praktischen Arbeit“ (Groenemeyer 2010: 47). Der Prozess der Problematisierung endet also keineswegs mit der Etablierung und Institutionalisierung eines gesundheitlichen Problems oder Risikos, sondern er setzt sich permanent im alltäglichen, aber auch im professionellen Kontext fort: Dadurch wiederum wird die entsprechende Problemdeutung fortwährend reproduziert und der Vorgang der sozialen Konstruktion unsichtbar: Das gesundheitliche Problem oder Risiko tritt uns als so selbstverständlich entgegen, dass häufig allein schon die Einnahme der Problematisierungsperspektive Irritationen auslöst. Gleichwohl kann für die Gesundheitswissenschaften und Public Health gerade diese Perspektive gewinnbringend sein: Einerseits um zu verstehen, welche Interessen mit konkreten Problematisierungsversuchen verbunden sind; andererseits kann sie Handlungshilfen bieten, wenn es darum geht, die eigenen, normativ für richtig befundenen Problematisierungen zu lancieren. Zusammenfassung Wenn Menschen sich gesundheitsriskant verhalten, tun sie das meist, weil sie sich einen Nutzen davon versprechen. Die Epidemiologie fragt allerdings nur nach dem statistischen Zusammenhang zwischen dem riskanten Verhalten und dem Eintritt bestimmter Krankheiten. ・ Literatur 181 Für Niklas Luhmann sind Gefahren etwas, das man nicht selbst zu verantworten hat. Risiken hingegen können auf eigene Entscheidungen zurückgeführt werden. Da wir immer mehr Informationen haben, wachsen auch unsere Entscheidungsmöglichkeiten, was das Leben immer riskanter erscheinen lässt. Gesundheitliche Probleme und Risiken werden nur dann von der Öffentlichkeit auch als solche wahrgenommen, wenn Akteuren ein erfolgreicher Prozess der Problematisierung gelingt. Die Soziologie kann vor allem diesen Prozess der Problematisierung untersuchen. Am Problematisierungsprozess sind unterschiedliche Akteure (Betroffene, Advokaten, Expertinnen, Problemnutzer etc.) beteiligt, für die die Lösung des Problems nicht immer erste Priorität hat. Sie setzten u.a. Diskursstrategien ein, um die Aufmerksamkeit der Medien auf sich zu lenken und so ihre Sicht der Dinge durchzusetzen. Der Prozess der Problematisierung endet nicht mit der Etablierung eines gesundheitlichen Problems oder Risikos, sondern setzt sich im Rahmen eines ‚Doing Health Problems‘ im alltäglichen und professionellen Kontext fort. Auf diese Weise wird die jeweilige Problemdeutung fortwährend reproduziert und es wird immer schwerer, sie als ‚problematisiert‘, also als Konstrukt wahrzunehmen. Literatur Bonfadelli, H., Friemel, T.N. (2017). Medienwirkungsforschung. 6. Auflage. Konstanz: UVK. Bonß, W. (1995). Vom Risiko. Unsicherheit und Ungewißheit in der Moderne. Hamburg: Hamburger Edition. Dorfman, L. & Daffner Krasnow, I. (2014). Public Health and Media Advocacy. Annual Review of Public Health 25, S. 293-306. Groenemeyer, A. (2001). Risikosoziologie und gesundheitsbezogenes Risikoverhalten - Zwischen „Empowerment“ und „Lifestyle Correctness“. In: J. Raithel 182 Soziologie gesundheitlicher Risiken und Probleme (Hrsg.), Risikoverhalten Jugendlicher. Formen, Erklärungen und Prävention (S.31-57). Opladen: Leske + Budrich. Groenemeyer, A. (2010). Doing Social Problems - Doing Social Control. In: A. Groenemeyer (Hrsg.), Doing Social Problems - Doing Social Control. Mikroanalysen der Konstruktion sozialer Probleme und sozialer Kontrolle in institutionellen Kontexten (S. 13-56). Wiesbaden: VS Verlag. Holstein, J.A. & Miller, G. (1997). Introduction: Social Problems as Work. In: G. Miller & J.A. Holstein (Hrsg.), Social Problems in Everyday Life: Studies of Social Problems Work (S. IX-XXI). Greenwich: Jai Press. Lehmann, F., Sobiech, C. & Trojan, A. (2015). Anwaltschaft - Vertretung und Durchsetzung gesundheitlicher Interessen. 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Realitäten, Repräsentationen und Politik (S. 35-47). Wiesbaden: VS Verlag. Schmidt, V.H. (2016). Ausweitung der Gesundheitszone: Medizin- und Gesundheitssystem als Agenten von Medikalisierungs- und Versundheitlichungsprozessen. In: S. Huster & T. Schramme (Hrsg.), Normative Aspekte von Public Health. Interdisziplinäre Perspektiven (S. 11-35). Baden-Baden: Nomos. Schmidt-Semisch, H. (2004). Risiko. In: U. Bröckling, S. Krasmann & T. Lemke (Hrsg.), Glossar der Gegenwart (S. 216-221). Frankfurt a.M.: Suhrkamp Verlag. Schmidt-Semisch, H. (2005). Vom Laster zur Modellsucht. Einige Anmerkungen zur Karriere des Tabakproblems. In: B. Dollinger & W. Schneider (Hrsg.), Sucht als Prozess. Sozialwissenschaftliche Perspektiven für Forschung und Praxis (S. 123- 142). Berlin: VWB-Verlag. Schorb, F. (2015): Die Adipositas-Epidemie als politisches Problem. Gesellschaftliche Wahrnehmung und staatliche Intervention. Wiesbaden: Springer VS. ・ Literatur 183 Schorb, F. & Schmidt-Semisch, H. (2012). Die Problematisierung gesundheitlicher Risiken. In: A. Hanses & K. Sander (Hrsg.), Interaktionsordnungen: Gesundheit als soziale Praxis (S. 53-70). Wiesbaden: Springer VS. Seibt, A.C. & Franzkowiak, P. (2016). Erklärungs- und Veränderungs-modelle III: Kommunikation, Diffusion, Marketing und Interessenvertretung. In: BzgA (Hrsg.), Leitbegriffe der Gesundheitsförderung. Verfügbar unter: https: / / www.leitbegriffe.bzga.de [30.06.2018]. World Health Organisation (WHO) (1986). Charta der 1. Internationalen Konferenz zur Gesundheitsförderung, Ottawa. In: P. Franzkowiak & P. Sabo (1998) (Hrsg.), Dokumente der Gesundheitsförderung (S. 96-101). Mainz: Peter Sabo Verlag. World Health Organisation (WHO) (2004). The World Health Organization says that tobacco is bad economics all around. 31 May- World No Tobacco Day 2004: the vicious circle of tobacco and poverty. Verfügbar unter: www.who.int/ mediacentre/ releases/ 2004/ pr36/ en/ [30.06.2018]. 7 Biomacht - Gouvernementalität - Neoliberalismus Lehrziele In diesem Kapitel erfahren Sie … was Biomacht bedeutet und mit welchen Machtformen sie agiert; was Gouvernementalität bedeutet und welche Rolle das unternehmerische Selbst darin spielt; wie uns neoliberale Politik anleitet, unsere Gesundheit zu optimieren; welche Auswirkungen die Zuweisung von Eigenverantwortung für Gesundheit und Krankheit auf die Individuen hat. Der Philosoph Michel Foucault (1926-1984) hat sich zeitlebens dafür interessiert, nach welchen Regeln Machtausübung in modernen Gesellschaften funktioniert. Er hat versucht, diese Fragen anhand der historischen Entwicklung von Institutionen wie der Klinik, dem Gefängnis oder der Psychiatrie nachzuvollziehen. In seinen Arbeiten mit Titeln wie „Die Geburt der Klinik. Eine Archäologie des ärztlichen Blicks“ (1972), „Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses“ (1976b) oder „Wahnsinn und Gesellschaft. Eine Geschichte des Zeitalters der Vernunft“ (1969) hat er Fragen nach der Funktion, der inneren Logik und der Wirkungsweise von Macht untersucht. Dabei stand in den unterschiedlichen gesellschaftlichen Sphären stets die Unterscheidung zwischen ‚normal‘ und ‚abweichend‘ im Zentrum: In der Medizin war es das Gegensatzpaar ‚gesund‘ und ‚krank‘, in der Psychologie war es die Unterscheidung von ‚vernünftig‘ und ‚wahnsinnig‘ und in der Kriminologie jene in ‚gesetzestreu‘ und ‚delinquent‘. Damit hat er immer wieder Themen angesprochen, die auch und gerade für eine Soziologie der Gesundheit von Bedeutung sind. 186 Biomacht - Gouvernementalität - Neoliberalismus Foucault hat sich in seiner Analytik von Machtverhältnissen nicht auf repressive Apparate beschränkt, sondern der Macht insbesondere auch dort nachgespürt, wo sie karitativ, wohlwollend, helfend und heilend auftritt. Denn Macht zeichne sich in der Moderne nur in Grenz- oder Extremfällen durch Gewalt und Zwang aus. Im Regelfall sei Macht hingegen daran ausgerichtet, den Menschen zu bessern: gesundheitlich, geistig, moralisch etc. Sie basiere auf der Idee, Menschen dazu anzuleiten, dass sie das, was sie tun sollen, aus innerer Einsicht tun. Foucault zeigt in seinen Arbeiten, wie moderne Gesellschaften psychische und physische Abweichungen im Körper verorten, katalogisieren und zielgerichtet behandeln. Mit diesem neuen säkularen Umgang, der Krankheiten und psychische Störungen als biologische Fehlfunktionen analysiert und behandelt und sie nicht länger mit übernatürlichen Kräften und Ereignissen erklärt, findet aber auch eine neue Zentralisierung von Macht statt: Diese Macht entscheidet anhand formaler Kriterien effektiver als je zuvor zwischen ‚gesund‘ und ‚krank‘, ‚normal‘ und ‚gestört‘ und teilt Menschen damit in Kategorien ein, die für sie schwerwiegende Konsequenzen haben. Dieser Einteilung in ‚normal‘ und ‚pathologisch‘ folgen alle Entscheidungen mit Bezug auf Gesundheit. Sie prägt unser Denken, unsere Werturteile und strukturiert unsere Handlungen. Für alle, die sich in irgendeiner Weise professionell mit Fragen von Gesundheit und Krankheit auseinandersetzen, sei es in Gesundheitsförderung und Prävention, der medizinischen und psychologischen Behandlung, der Forschung in den Gesundheits- und Humanwissenschaften oder der Ausbildung von Menschen, die im Gesundheitssystem arbeiten, ist die Machtanalyse, die Foucault in seinen Arbeiten betrieben hat, daher von Relevanz. 7.1 Biomacht Im vorangegangenen Kapitel zur Soziologie sozialer und gesundheitlicher Probleme und Risiken haben wir gezeigt, welche gesellschaftlichen Prozesse dazu führen, dass spezifische Phänomene als soziale oder gesundheitliche Probleme klassifiziert und wahrgenommen werden und andere nicht. Das folgende Kapitel fragt danach, wie mit den Phänome- Biomacht 187 nen, die als soziale oder gesundheitliche Probleme definiert wurden, gesellschaftspolitisch umgegangen wird. Foucault beschreibt die Transformation der staatlichen Machttechniken der Neuzeit von der Souveränitätsmacht zur Biomacht als eine Entwicklung, die im Ergebnis einen Machttyp hervorbringt, der Menschen dazu anhält, ihr produktives Potenzial zum Nutzen der Gemeinschaft auszuschöpfen. Macht in modernen Gesellschaften zeichnet sich demnach dadurch aus, dass sie auf die inszenierte Zurschaustellung von Gewalt weitgehend verzichten kann. Statt Exempel zu statuieren, wie es der frühneuzeitliche Staat durch das Zelebrieren besonders grausamer Strafen tat, dienten Sanktionen in der Moderne vor allem dazu, das gewünschte Verhalten der Menschen zu garantieren und die sich davon abweichend verhaltenden Menschen zu resozialisieren. Um diese These zu illustrieren, beschreibt Foucault in seinem Buch „Überwachen und Strafen“ ausführlich, wie der Körper eines des versuchten Königsmordes überführten Verurteilten im Paris des Jahres 1757 vor Publikum von insgesamt sechs Pferden in Stücke gerissen wurde, nachdem er zuvor bereits auf besonders grausame Weise öffentlich gefoltert worden war. Es sollte eine der letzten öffentlichen Inszenierungen dieser Art in Frankreich gewesen sein, denn die Praktik der brutalen Zerstörung eines Körpers als Ausdruck staatlicher Macht verlor zu dieser Zeit gleichermaßen an Akzeptanz wie an Wirksamkeit. Die Kritik daran artikulierte sich, so Foucault, als ein ‚Diskurs der Herzen‘, als ein „Aufschrei des Körpers, der sich gegen den Anblick und die Vorstellung allzu großer Grausamkeiten empört“ (Foucault 1976b: 115). Aber die ‚peinlichen Strafen‘, das öffentliche Foltern und Matern wurden nicht nur als grausam kritisiert, es galt alsbald auch als unökonomisch. Statt exemplarischer Abschreckung sollte nun eine transparente und allumfassende Justiz genau taxierte Strafen verhängen, sie sollte aber vor allem nicht mehr (nur) strafen, sondern aus den Straftätern ‚bessere‘ Menschen machen. Die Ablösung des Kerkers durch die ‚Besserungsanstalt‘ (in den USA ist der Begriff ‚Correctional Facility‘ bzw. ‚Correctional Center‘ für Gefängnisse nach wie vor weitverbreitet) verlief im 19. Jahrhundert parallel zur Ersetzung des ‚Irrenhauses‘ durch die ‚Nervenheilanstalt‘. Auch in diesen Einrichtungen wurden die Körper zwar systematisch überwacht und diszipliniert, aber nicht länger zerstört: Vielmehr sollten sie nun - im Gegenteil - ‚geheilt‘, also produktiv gemacht werden (Foucault 188 Biomacht - Gouvernementalität - Neoliberalismus 1976b, 2015). Im Unterschied zur Souveränitätsmacht, die über Leben und Tod der Körper verfügt, ist die Biomacht als eine Macht konzipiert, die nur im Ausnahmefall tötet und dann auch nicht aus dem Motiv der Rache, sondern aus dem des Schutzes der Bevölkerung. Im Allgemeinen sei Biomacht bemüht, Leben zu ‚machen‘, also dafür zu sorgen, dass Menschen möglichst lange produktive Gesellschaftsmitglieder sein können. Biomacht versteht Foucault als eine Macht, die aus ebendieser Motivation heraus Einfluss nimmt auf die Zahl der Menschen, ihre regionale Verteilung, ihren körperlichen und gesundheitlichen Zustand und ihre geistigen Fähigkeiten. „Der abendländische Mensch lernt allmählich was es ist, eine lebende Spezies in einer lebenden Welt zu sein, einen Körper zu haben, sowie Existenzbedingungen, Lebenserwartungen, eine individuelle und eine kollektive Gesundheit, die man modifizieren kann, und einen Raum, in dem man sie optimal verteilen kann“ (Foucault 1977: 137f.). Biomacht hat nicht länger „die singuläre Existenz von Menschen, sondern deren biologische Eigenschaften, die auf der Ebene von Bevölkerungen erhoben werden“ (Lemke 2008: 81), zum Gegenstand. So gesehen ist die heutige Multidisziplin Public Health ein mustergültiges Beispiel für angewandte Biopolitik. Denn nach der Definition der Deutschen Gesellschaft für Public Health (DGPH) ist Public Health „die Wissenschaft und Praxis zur Vermeidung von Krankheiten, zur Verlängerung des Lebens und zur Förderung von physischer und psychischer Gesundheit“, deren Maßnahmen im Unterschied zur individuumszentrierten Medizin „primär auf eine Gesunderhaltung der Bevölkerung und einzelner Bevölkerungsgruppen“ zielen. Um diese physische und psychische Gesundheit sowie die Produktivität der Bevölkerung zu optimieren, setzt Biomacht auf eine Vielzahl ermöglichender Maßnahmen. Dies schloss vor allem im 19. und im frühen 20. Jahrhundert die Durchführung unterschiedlicher Interventionen ein: Dazu gehörten die Einführung der Trinkwasserversorgung und der Kanalisation, eine umfassende Hygieneerziehung, Impfprogramme, die Einführung einer flächendeckenden und repräsentativen Gesundheitsberichterstattung, die Kontrolle und Vermeidung bzw. Begrenzung von Schadstoffemissionen sowie Maßnahmen des Arbeitsschutzes. Hinzu kam auch die Einführung einer Schulpflicht, die gleichermaßen der geis- Gouvernementalität 189 tigen Bildung wie auch der Gesunderhaltung zukünftiger Arbeitskräfte und Soldaten dienen sollte (→ hierzu auch Kap. 2). Neben diesen produktiven und ermöglichenden Bestandteilen beinhaltete Biomacht allerdings immer auch disziplinierende und repressive Maßnahmen. Dazu zählte die Einsperrung einer stetig steigenden Zahl von ,Vagabunden‘ in Armenhäusern, in denen sie zu ‚produktiver Arbeit‘ gezwungen wurden, die Unterbringung von ‚Irren‘ in Nervenheilanstalten und von ‚Verbrechern‘ in Gefängnissen, wo sie ‚resozialisiert‘ und damit wieder zu ‚wertvollen‘, also produktiven Mitgliedern der Gesellschaft gemacht werden sollten (Foucault 2015). Zu den repressiven und im Extremfall eliminierenden Effekten von Biomacht und Biopolitik gehören insbesondere auch die Eugenik und die Euthanasie. Auch hier steht die Optimierungslogik im Vordergrund. Es geht nicht um die Zerstörung von Leben als Ausdruck der Macht, sondern um die Verhinderung der Fortpflanzung ‚minderwertigen‘ Erbguts bzw. um die erzwungene Sterilisation körperlich behinderter und psychisch oder sozial auffälliger Mütter. Durch solche Maßnahmen sollte der ‚Volkskörper‘ produktiver und im Wettbewerb zwischen den Nationalstaaten konkurrenzfähiger werden (→ hierzu auch Kap. 2). Die Euthanasie, also die systematische Vernichtung von Menschen mit psychischen und körperlichen Abweichungen wie sie im Nationalsozialismus vollzogen wurde, bleibt dabei historisch die Ausnahme, weil dem religiöse und humanistisch begründete Diskurse und Rationalitäten entgegenstehen. Dennoch zeigt sich die fortwährende Dominanz biopolitischer Denkweisen noch immer im modernen Abtreibungsrecht: Während die Abtreibung ‚gesunder‘ Föten mit Rücksicht auf christlich geprägte Moralvorstellungen in Deutschland maximal bis zur zwölften Schwangerschaftswoche legal möglich ist, können ‚behinderte‘ Föten noch bis unmittelbar vor der Geburt abgetrieben werden, auch wenn das Wohlergehen der Mutter selbst nicht gefährdet ist. 7.2 Gouvernementalität In den 1970er-Jahren gingen die Gefangenenzahlen in vielen westlichen Ländern zurück. Zugleich etablierte sich die ‚Antipsychiatriebewegung‘ und erreichte, dass immer weniger Menschen mit psychologischen Diag- 190 Biomacht - Gouvernementalität - Neoliberalismus nosen ungefragt in Nervenheilanstalten festgehalten und gegen ihren Willen behandelt wurden. Auch wurden Arme und Arbeitslose schon lange nicht mehr in Armen- oder Arbeitshäuser gesperrt, sondern erhielten immer häufiger Sozialleistungen, von denen sich auf bescheidenem Niveau leben ließ. Nicht zuletzt vor diesem Hintergrund richtete sich Foucaults Interesse nicht mehr allein auf die invasiven und direkten (herrschaftlichen) Formen der Machtausübung, sondern sein Augenmerk galt zunehmend auch den indirekten Einflussnahmen auf menschliches Verhalten (Foucault 2004a, 2004b). Es ging ihm dabei vor allem um das Zusammenspiel und das Ineinandergreifen von Wissen und Macht, wofür er den neuen Begriff der ‚Gouvernementalität‘ prägte, „der Regieren (‚gouverner‘) und Denkweise (‚mentalité‘) semantisch miteinander verbindet“ (Lemke et al. 2000: 8). Gouvernementalität lässt sich frei mit ‚Regierungsmentalität‘ oder ‚Regierungsweise‘ übersetzen. Unter Regierung versteht Foucault dabei die unterschiedlichen Formen der Führung von Menschen, wobei die Foucaultsche Konzeption der Regierung sich keineswegs nur auf das Handeln staatlicher Akteure und Institutionen bzw. auf das Politische im engeren Sinne bezieht. Vielmehr meint Regierung hier jede Form der Menschenführung, also auch die Führung in Schulen, Betrieben oder Vereinen: „Unter Regierung verstehe ich die Gesamtheit der Institutionen und Praktiken, mittels derer man die Menschen lenkt, von der Verwaltung bis zur Erziehung“ (Foucault zit. nach Lemke 1997: 240). Des Weiteren werden darunter indirekte Formen der Verhaltenslenkung, wie sie etwa durch Ratgeberliteratur und Infokampagnen erfolgen, zusammengefasst, aber auch z.B. die Präsentation und die Preispolitik der Kantinenverpflegung oder die Konzeption eines betrieblichen Gesundheitsmanagements. „Jenseits einer exklusiven politischen Bedeutung verweist Regierung also auf zahlreiche und unterschiedliche Handlungsformen und Praxisfelder, die in vielfältiger Weise auf die Lenkung, Kontrolle, Leitung von Individuen und Kollektiven zielen und gleichermaßen Formen der Selbstführung wie Techniken der Fremdführung umfassen“ (Lemke et al. 2000: 10). Gouvernementalität 191 Macht ist in diesem Zusammenhang also insbesondere durch die Anleitung oder Führung zur Selbstführung charakterisiert: Studien zur Gouvernementalität geht es darum zu zeigen, wie Formen der Fremdführung und der Selbstführung verknüpft werden. Sie fragen danach, wie es Regierungen in modernen Gesellschaften gelingt, Menschen dazu zu bringen und davon zu überzeugen, dass sie das, was als richtig angesehen wird, freiwillig tun. „Die entscheidende Pointe dieses Konzeptes liegt im Fokus auf die Verschränkungen der ‚Führung anderer‘ und der ‚Führung des Selbst‘. Regierung in diesem Sinne meint die ‚Führung der Führung‘ und zielt darauf, die Kontaktpunkte ausfindig zu machen, herzustellen und auszubauen, in denen sich Selbst- und Fremdführung verbinden (lassen)“ (Duttweiler 2016: 28). Insofern unterscheidet Foucault auch zwischen Herrschaftstechnologien und Technologien des Selbst. Dabei zielen Herrschaftstechnologien auf die Unterwerfung des Verhaltens von Individuen unter die von der jeweiligen Herrschaft verfolgten Zwecke. Technologien des Selbst hingegen sind Praktiken, mit denen sich das Individuum selbst verbessern oder optimieren kann und die z.B. durch staatliche Maßnahmen vorgeschlagen, angeleitet oder erleichtert und damit wahrscheinlicher gemacht werden. Technologien des Selbst ermöglichten es den Individuen, „mit eigenen Mitteln bestimmte Operationen mit ihren Körpern, mit ihren eigenen Seelen, mit ihrer eigenen Lebensführung zu vollziehen, und zwar so, dass sie sich selber transformieren, sich selber modifizieren und einen bestimmten Zustand von Vollkommenheit, Glück, Reinheit, übernatürlicher Kraft erlangen“ (Foucault zit. nach Lemke 1997: 262). Den Gouvernementalitätsstudien geht es also darum, die Wechselwirkungen zwischen Herrschaftstechnologien und Technologien des Selbst zu analysieren. Der Begriff Regierung bezieht sich in diesen Studien in der Regel nicht auf die Unterdrückung von Subjektivität, „sondern vor allem auf ihre ‚(Selbst-)Produktion‘, oder genauer: auf die Erfindung und Förderung von Selbsttechnologien, die an Regierungsziele gekoppelt werden können“ (Lemke et al. 2000: 29). Regierung in diesem Sinne verstanden, schränkt also individuelle Freiheiten und Gestaltungsspielräume nicht nur deshalb nicht ein, weil dies auf weniger Widerstand stößt als repressive Maßnahmen, sondern auch weil es sich als ökonomi- 192 Biomacht - Gouvernementalität - Neoliberalismus scher erwiesen hat. Menschen sollen weder zu etwas gezwungen noch soll ihnen ihr Verhalten in allen Einzelheiten vorgeschrieben werden. Es geht vielmehr um ein ‚Regieren auf Distanz‘, also um eine indirekte Anleitung, die durch vielfältige Maßnahmen bestimmte Verhaltensweisen und Denkmuster wahrscheinlicher, einfacher, naheliegender, attraktiver und gewinnversprechender werden lässt als andere. Ein solches Vorgehen kommt exemplarisch in der WHO-Forderung zum Ausdruck, die gesunde Wahl in allen denkbaren Kontexten zur einfacheren, sprich attraktiveren Wahl werden zu lassen. Regierungen und Regierungsprogramme folgen dabei stets spezifischen ‚Rationalitäten‘, das heißt bestimmten Denk- und Bearbeitungsweisen des Sozialen bzw. spezifischen Logiken der Betrachtung der Welt: „Die Problemdefinitionen, die sich darin finden, verknüpfen sich mit Vorstellungen und Vorschlägen, wie die Realität verändert werden könnte und sollte“ (Krasmann 2003: 310). Programme des Regierens wiederum sind auf Technologien des Regierens angewiesen, die an diese Problemdiagnose anschlussfähig sein müssen. Wenn wir davon ausgehen, dass die gegenwärtige Machtausübung im Regelfall darauf hinauslaufen soll, dass Menschen das von ihnen gewünschte Verhalten freiwillig und proaktiv aus innerer Einsicht heraus befolgen, dann stellen sich drei zentrale Fragen: Wie kann dieses gewünschte Verhalten indirekt angeleitet und garantiert werden, ohne direkten Zwang auszuüben? Wer bzw. welches Subjekt wird da angesprochen? Und schließlich: Von wem wird es angesprochen? Bleiben wir zunächst beim Wie. Regieren im Sinne der Gouvernementalität bedeutet, die Wünsche und die Gefühle sowie das Begehren von Menschen in einer Weise zu lenken, dass sie das Gesollte von sich aus wollen. Es bedeutet aber auch, das dafür notwendige Wissen bereitzustellen. Macht und Wissen sind dabei als untrennbare Einheit anzusehen, denn Wissen und Macht sind in dieser Konzeption keine widerstreitenden Pole: Es gibt „keine Machtbeziehung […], ohne dass sich ein entsprechendes Wissensfeld konstituiert, und kein Wissen, das nicht gleichzeitig Machtbeziehungen voraussetzt und konstituiert“ (Foucault 1976a: 39). Dabei geht Foucault davon aus, dass humanwissenschaftliche Erkenntnisse gesellschaftliche Machtbeziehungen abbilden, was er allerdings nicht so verstanden wissen will, dass es eine unbefleckte Wahrheit Gouvernementalität 193 außerhalb des machtvollen Zugriffs gebe. Vielmehr beruhen seine Überlegungen auf der Annahme, dass Wahrheiten und dominierende Weltanschauungen immer nur das temporäre Resultat gesellschaftlicher Aushandlungsprozesse sind (vgl. Althusser 1977). Eine besondere Bedeutung kommt in dieser Machttheorie dem Begriff der Subjektivität zu. Foucault spielt in seinen Arbeiten dabei wiederholt auf die Doppeldeutigkeit des Subjektbegriffs an: Einerseits jemandem unterworfen zu sein, sich andererseits aber selbst als Subjekt wahrzunehmen und durch eigenes Handeln zu einem Subjekt zu werden. Dabei werden die Menschen angeleitet, mit Hilfe von Wissensbeständen, aber auch unter dem Einsatz emotionaler Botschaften sich in spezifischer Weise selbst zu erkennen, das heißt es werden ihnen bestimmte Arten und Weisen des Denkens, des Fühlens und des Handelns nahegelegt, die bestimmen, wie die Menschen sich selbst sehen, verstehen und analysieren sollen. Im Kontext der Gouvernementalität wird Macht daher nicht länger in erster Linie als ein gesellschaftliches Kräfteverhältnis, sondern „als (Vor)Strukturierung eines Möglichkeitsfeldes verschiedener Handlungen“ (Brunnett 2007: 177) konzipiert. Diese Vorstrukturierung zeichnet sich in der Praxis dadurch aus, dass sie auf einem Feld von Möglichkeiten Handlungen wahrscheinlicher oder unwahrscheinlicher werden lässt, indem sie diese erleichtert, ermöglicht, erschwert oder behindert. Das Besondere an der Idee der Technologien des Selbst ist, dass sich damit analysieren lässt, wie wissenschaftliche Erkenntnisse, politische Maßnahmen und öffentliche Diskurse das Verhalten des Einzelnen beeinflussen und verändern und wie Menschen lernen, andere Bedürfnisse bzw. alternative Vorstellungen ihrer Individualität zu entwickeln. So haben in den vergangenen Jahren viele Menschen nicht nur oder nicht vorrangig deshalb mit dem Rauchen aufgehört, weil es immer teurer wurde oder weil es an immer mehr Orten verboten wurde, sondern weil es nicht länger mit einem erfolgreichen Lebensstil in Verbindung gebracht werden konnte. Auch haben viele Menschen nicht in erster Linie oder jedenfalls nicht ausschließlich deshalb mit dem Rauchen aufgehört, weil sich herausgestellt hat, dass der Zigarettenrauch so viele Schadstoffe enthält, sondern weil der Zigarettenrauch nicht länger den Geschmack und Geruch von Freiheit und Abenteuer, von Erfolg, Rebellion und Emanzipation verströmt hat. Die erfolgreiche Kampagne gegen das Tabakrauchen hat also nicht nur Wissen generiert, sondern auch spezifische 194 Biomacht - Gouvernementalität - Neoliberalismus Wünsche und Gefühle sowie ein bestimmtes Begehren erzeugt. Damit hat sie zugleich eine Subjektivierung hervorgebracht, die Menschen dazu veranlasst hat, das Rauchen aufzugeben oder gar nicht erst damit anzufangen: Weil sie das Gefühl haben, es passt nicht (mehr) zu ihrer Persönlichkeit oder es schadet ihnen dabei, erfolgreich zu sein, unabhängig davon, ob sie die Entscheidung individuell vorrangig mit dem eingesparten Geld, ihren verbesserten Gesundheitszustand oder der besseren Atemluft begründet haben. Damit haben sie sich einerseits dem gesundheitspolitischen Imperativ unterworfen, sie haben das getan, was sie tun sollen, sie haben das aber nicht aus blindem Gehorsam und - zumindest nicht ausschließlich - aus Angst vor gesundheitlichen Gefahren getan: Vielmehr ist die Entscheidung, den eigenen Lebensstil in Bezug auf das Rauchen zu ändern, Teil ihrer Persönlichkeit, ihrer Individualität, ihres Selbstbildes geworden. Das Beispiel zeigt zudem, warum Machtausübung, die auf absolute Verbote und strafrechtliche Sanktionen verzichtet, die also das Gesollte nicht erzwingt, sondern stattdessen die subjektiven Empfindungen so beeinflusst, dass das Gesollte von selbst gewollt wird, oft effektiver ist als eine rigide Prohibitionspolitik. Man denke nur an den vergeblichen Versuch, mit Strafen und Verboten den Konsum von illegalen Betäubungsmitteln zu reduzieren. Mit dem Rauchen aufhören sollen Menschen dagegen nicht deshalb, weil sie deswegen riskieren ins Gefängnis gesperrt zu werden oder ihre Arbeit zu verlieren, sondern weil sie selbst einsehen, dass es für sie besser ist. Auf den Zigarettenpackungen steht nicht: „Wer raucht ist ein schlechter Mensch und kommt ins Gefängnis“. Auf den Zigarettenpackungen steht: „Wer raucht wird impotent, verliert das Augenlicht, gefährdet seine Kinder und stirbt einen qualvollen Tod“. Es geht also nicht um die Vermeidung einer Strafe, sondern um die verpassten Chancen und die verlorene Lebensqualität, aber auch um den gesellschaftlichen Status, der durch das Rauchen, anders als früher, abgewertet wird. 7.3 Das unternehmerische Selbst Das Beispiel der Nichtraucherkampagne zeigt, wie sich in Maßnahmen der Gesundheitsförderung Fremd- und Selbstführung aufeinander bezie- Das unternehmerische Selbst 195 hen. Damit ist aber noch nichts über die politische Rationalität gesagt, die diesen und ähnlichen Kampagnen der Gesundheitsförderung zugrunde liegt. Eine politische Rationalität ist dabei nicht als ein neutrales Wissen, das die Wirklichkeit repräsentiert, zu verstehen, sondern stellt selbst „bereits eine intellektuelle Bearbeitung der Realität dar“ (Lemke et al. 2000: 20f.): „Was jeweils als rational gilt, hängt davon ab, welche Annahmen über Ansatzpunkte, Wirkmechanismen und Zielsetzungen des Handelns Plausibilität beanspruchen können, welche Legitimitäts- und Plausibilitätskriterien aufgestellt, welche Autoritäten und Wissensbestände aufgerufen werden, um Aussagen als wahr und Handlungen als vernünftig anzuerkennen“ (Bröckling & Krasmann 2010: 25). Die Frage, die sich daran anschließt lautet also: Welche Verhaltens- und Denkmuster, welche Arten und Weisen, den Menschen zu imaginieren, prägen die gegenwärtige Gesellschaft? Mit Blick auf unser Themenfeld der Gesundheit können wir zunächst feststellen, dass hier recht unterschiedliche Rationalitäten am Werke sind, die mit jeweils unterschiedlichen Wissensbeständen, Legitimitäts- und Plausibilitätskriterien unser Bild von Gesundheit und Krankheit prägen. So macht es z.B. einen erheblichen Unterschied, ob ich mit einer biomedizinischen oder bio-psycho-sozialen Rationalität auf bestimmte Symptome oder Verhaltensweisen blicke: Wo die bio-medizinische Rationalität im Zigarettenrauchen nur ein den Körper schädigendes Verhalten erkennen kann, hat die bio-psycho-soziale Rationalität das Potenzial, auch genussvolle oder soziale Aspekte des Rauchens zu erkennen. Allerdings entscheidet sich der Blick auf Gesundheit und Krankheit nicht nur daran, ob wir einer bio-medizinischen oder einer bio-psychosozialen Rationalität folgen, sondern vor allem auch daran, welche Denk- und Bearbeitungsweisen sozialer Phänomene in der Gesellschaft insgesamt vorkommen und dominieren. So wird seit einigen Jahren darauf hingewiesen, dass gegenwärtig eine ökonomische Rationalität ganz besondere Wirkmächtigkeit entfaltet. Diese spezifische Denk- und Bearbeitungsweise gesellschaftlicher Problematiken konzipiert den Menschen als unternehmerisches Selbst oder, um in unserem Beispiel zu bleiben, als Unternehmerin der eigenen Gesundheit. Das Menschenbild des ‚Homo 196 Biomacht - Gouvernementalität - Neoliberalismus oeconomicus‘ ist dabei nicht länger das eines wirtschaftlichen Akteurs, der auf einem Markt Dinge tauscht, um seine Bedürfnisse zu befriedigen, sondern das eines Unternehmers „der für sich selbst sein eigenes Kapital, sein eigener Produzent, seine eigene Einkommensquelle ist“ (Foucault 2004b: 314). Entscheidend dabei sei, dass sich eine ‚autonome‘ Subjektivität als gesellschaftliches Leitbild durchsetze, wobei die Selbstverantwortung in der Ausrichtung des eigenen Lebens an betriebswirtschaftlichen Effizienzkriterien und unternehmerischen Kalkülen bestehe (Lemke et al. 2000: 30). „Die aktuelle Kunst der Menschenführung“, schreibt Stefanie Duttweiler (2016: 29), „bezieht sich unter anderem auf dieses Wissen über den Menschen als Homo oeconomicus, der sich selbst und dabei auch seine Psyche und seinen Körper managt.“ Daraus erwachse eine Menschenführung, die den Menschen als ‚Unternehmer seiner selbst‘ adressiere. Das unternehmerische Selbst organisiert seinen Körper, seine Gesundheit, seine Psyche, sein Berufs- und Privatleben maximal effizient. Das heißt, es erzielt größtmöglichen Erfolg bei geringstmöglichem Einsatz von Ressourcen. Es definiert sich zudem darüber, dass es sich in einem steten Wettbewerb befindet, und dass alles, was es tut, eine Investition in sein Unternehmen, seine Ich-AG darstellt. Weiter- und Fortbildungen, Achtsamkeits- und Konzentrationsübungen, Sport und die Selbstvermessung des Körpers mit Hilfe von Tracking Devices, gesunde Ernährung, Vorsorgeuntersuchungen, ausreichender Schlaf: Das alles sind Investitionen in die eigene Gesundheit, in Leistungsfähigkeit und Beschäftigungschancen auf dem Arbeitsmarkt. Zudem sollen sie zu körperlicher Attraktivität verhelfen, die wiederum bessere Chancen auf dem Beziehungsmarkt verspricht. Gleichzeitig konkurrieren diese Investitionen mit anderen gesellschaftlichen Anforderungen: z.B. der Beziehungsarbeit, der Kontaktpflege und anderweitigen sozialen Verpflichtungen. Auch das Bedürfnis nach Entspannung, Erholung, Belohnung und Genuss sollte nicht dauerhaft vernachlässigt werden, auch wenn es mit der geforderten Leistungsorientierung in Konflikt gerät. Eine mögliche Antwort auf dieses Dilemma ist Wellness, denn diese sei, so Brunnett (2007: 178), eine Technologie des Selbst, die nicht dem „disziplinären Modell der Strenge, sondern der Selbst-Fürsorge und Verwöhnung, nicht der Kontrolle, sondern der Erweiterung des Selbst“ folge. Gleichzeitig stelle Wellness aber eine Investition in die eigene Leistungsfähigkeit dar, da der Gesundheit und Selbstverantwortung im Neoliberalismus 197 dabei empfundene Genuss in erster Linie dazu diene, die Leistungsfähigkeit zu regenerieren, zur Ruhe zu kommen, ‚Energie zu tanken‘ und die ‚Batterien wieder aufzuladen‘. Nicht vergessen werden sollte dabei, dass das hier beschriebene unternehmerische Selbst kein Abbild der empirischen Realität darstellt, sondern eine Denkfigur oder ein bestimmtes Menschenbild und damit eine von vielen potenziellen Möglichkeiten, sich das Wesen des Menschen vorzustellen. Allerdings ist diese Vorstellung die derzeit dominierende und prägt damit entscheidend die Art und Weise, wie Menschen in Programmen des Regierens angesprochen werden. Als unternehmerisches Selbst werde das Individuum überhaupt erst „gouvernementalisierbar“, erklärt Duttweiler (2016: 28) den großen Erfolg dieser Subjektivierungsform: Das unternehmerische Selbst fungiere als Problematisierungsformel für menschliches Verhalten und diene so als Ausgangspunkt der politischen und ökonomischen Verhaltenssteuerung. „Aktuelle Regierungstechnologien schaffen Anreizstrukturen, Aktivierungs- und Ermächtigungsprogramme und stellen so lediglich Spielräume, Rahmenbedingungen und Möglichkeitshorizonte bereit, damit die Einzelnen unternehmerisches Handeln dies- und jenseits des Ökonomischen entfalten und sich zugleich selbst verwirklichen können. Dabei setzen sie an der Freiheit und Selbstverantwortung der Einzelnen, ihrem Fähigkeits- und Motivationspotential ebenso an wie an ihrem Wunsch nach Selbstverwirklichung, Gesundheit und Wohlergehen […]. Damit werden die Menschen im doppelten Wortsinne verantwortlich gemacht für ihre Lebensführung: Sie werden ermächtigt, ihre Handlungsmöglichkeiten auch tatsächlich auszuschöpfen, und sie werden sowohl sich selbst als auch der ‚Gesellschaft‘ gegenüber moralisch verantwortlich gemacht, sich um die eigene Gesundheit, Sicherheit, Risikominimierung, Armutsvermeidung sowie Leistungs- und Arbeitsfähigkeit zu sorgen“ (Duttweiler 2016: 29). 7.4 Gesundheit und Selbstverantwortung im Neoliberalismus Ein Spezifikum neoliberaler Gouvernementalität ist, dass sie immer schon das voraussetzt, was sie schaffen möchte, das heißt sie will einerseits erreichen, dass alle zu Unternehmerinnen ihrer Selbst und zu Un- 198 Biomacht - Gouvernementalität - Neoliberalismus ternehmern ihrer Gesundheit werden, andererseits gehen aber alle ihre Maßnahmen und Anreize immer schon davon aus, dass die Menschen wie Unternehmerinnen handeln. Aber woher kommt die Idee, Menschen würden von Natur aus unternehmerisch handeln und verhielten sich immer marktkonform, wenn man sie denn nur ließe? In der Ideenwelt des Liberalismus des 19. Jahrhunderts beschränkte sich die Rolle des Staates darauf, das Recht auf körperliche Unversehrtheit sowie die Garantie des Privateigentums zu gewährleisten. Staatliche Organe sollten nur dann eingreifen, wenn es galt das Eigentum zu schützen und den ‚Naturzustand‘ der freien und gleichen Konkurrenz wiederherzustellen. Dementsprechend sind in der konventionellen liberalen Vorstellung Staat und Ökonomie zwei voneinander getrennte Sphären, wobei der Staat als Grenze bzw. Feind der ökonomischen Freiheit gilt. Daraus resultiere eine Fehleinschätzung der Rolle des Staates, argumentieren Autorinnen und Autoren der Gouvernementalitätsstudien, die sich in zahlreichen Untersuchungen damit beschäftigt haben, wie ökonomische Denkweisen im modernen Wohlfahrtsstaat zum Organisationsprinzip staatlichen, zivilgesellschaftlichen und individuellen Handelns erklärt wurden. Sie denken dieses Verhältnis nicht als eine Dichotomie zwischen Staat und Regierung auf der einen Seite und der freien Ökonomie auf der anderen Seite. Die Ökonomisierung des Sozialen zeigt sich für sie nicht in der Höhe der Staatsquote und der Steuern oder im Umfang der Sozialausgaben. Auch werde der Markt im Neoliberalismus nicht wirklich von ‚überbordender Regulierung‘ und ‚unfairer Konkurrenz‘ befreit, wie es die neoliberalen Verlautbarungen nahelegen. Stattdessen wird betont, dass das Prinzip der Marktwirtschaft, also der ökonomische Wettbewerb zur Richtschnur der Organisation des Staates werde, aber auch zu Richtschnur für zivilgesellschaftliche Akteure und die Organisation innerhalb großer Unternehmen. Das Marktprinzip bildet zudem die Basis von individuellen Handlungsempfehlungen, wie sie häufig z.B. in der boomenden Ratgeberliteratur zu finden sind, die Menschen dazu befähigen will, ihr Leben selbst effektiv und marktkonform zu organisieren. Neoliberale Politik strebt nicht nach der Wiederherstellung eines verlorengegangenen liberalen Ideals des 19. Jahrhundert, nach ökonomischem Laissez-faire und weitgehender Abwesenheit des Staates sowie echter Konkurrenz zwischen einer Vielzahl von potenten Wettbewerbern auf einem freien Markt. Dafür ist der hochentwickelte Kapitalismus viel zu Gesundheit und Selbstverantwortung im Neoliberalismus 199 komplex und krisenanfällig geworden. Neoliberale Politik arrangiert sich daher stillschweigend mit bürokratischen staatlichen Strukturen und mit monopolistischen bzw. oligopolistischen Großunternehmen, solange nur deren innere Organisation und deren Handlungsprinzipien nach Marktmechanismen organisiert sind (Davies 2014). Die Allgegenwart von Märkten wird durch die Allgegenwart des Marktprinzips ersetzt. Und dieses Marktprinzip gilt auch und gerade in Bereichen, in denen gar keine Märkte im volkswirtschaftlichen Sinne existieren. Unsere Sprache ist mittlerweile vom Marktprinzip geradezu durchdrungen: Wir finden es nicht nur dort, wo auf dem Arbeits- und Beziehungsmarkt z.B. mit Bezug auf formale Fähigkeiten und soziale Eigenschaften der Menschen von Portfolios und Assets gesprochen wird, sondern das Marktprinzip regelt auch die Beziehungen in Pseudomärkten: Es lässt z.B. aus Antragsstellern auf Arbeitslosengeld ‚Kunden‘ des Jobcenters werden, die wechselseitig Verträge mit Zielvereinbarungen abschließen. Oder es lässt aus Kranken, die stationär oder ambulant behandelt werden müssen, ‚Kundeninnen‘ eines internationalen Gesundheitsdienstleisters werden. Das klingt weniger nach Abhängigkeit von einer übermächtigen Bürokratie als nach einem Verhältnis von gleichen Vertragspartnern, ändert aber am realen Machtgefälle zwischen diesen ‚Vertragspartnern‘ nichts. Die Ursache für die Marktfixierung im Neoliberalismus ist die Vorstellung, dass Märkte immer zu einem Gleichgewicht tendierten und damit gesellschaftliche Stabilität und größtmögliche Effizienz garantierten. In seinem Buch „Der Weg zur Knechtschaft“ (Hayek 2004), das bereits in den 1940er-Jahren auf Englisch veröffentlicht wurde, argumentierte der Ökonom und bekannte Vordenker des Neoliberalismus, Friedrich August von Hayek, dass jeder Versuch, den Markt durch politische Willensbildung zu korrigieren und die Güterverteilung demokratisch zu organisieren, automatisch in wirtschaftlichen Katastrophen und totalitärer Unterdrückung enden würde. Das bedeutet aber nicht, dass aus Sicht von neoliberalen Vordenkern wie Hayek auf einen starken Staat verzichtet werden kann: im Gegenteil. Nur muss dieser eben marktwirtschaftlichen Prinzipien folgen und diese zur Not auch gegen den Willen der Bevölkerungsmehrheit durchsetzen. Hayek und andere Neoliberale sehen das Prinzip der demokratischen 200 Biomacht - Gouvernementalität - Neoliberalismus Willensbildung prinzipiell als problematisch an, da die Befriedigung des Willens unterschiedlicher Interessensgruppen unweigerlich zur Aushebelung von Marktmechanismen und damit langfristig in die Willkürherrschaft führen würde. Entsprechend resümierte Hayek in den 1970er- Jahren mit Blick auf das diktatorisch, aber neoliberal regierte Chile unter General Pinochet: „Ich persönlich würde einen liberalen Diktator gegenüber einer demokratischen Regierung, der es an Liberalismus mangelt, bevorzugen“ (Hayek zit. nach Biebricher 2014). Auch in Demokratien, die sich neoliberalen Reformen verschrieben haben, sieht sich Politik zunehmend Sachzwängen ausgesetzt, bezeichnet ihre Handlungen als alternativlos und stellt damit die Idee der demokratischen Willensbildung infrage. Entscheidungen über zentrale gesellschaftliche Probleme sowie über die Ausrichtung politischer Reformen werden immer häufiger demokratisch nicht legitimierten Expertengremien übertragen: wie z.B. im Deutschland der 2000er-Jahre, als die Reform des Arbeitsmarktes und des Arbeitslosengeldes in die Hände einer Expertenkommission unter Leitung des früheren VW-Managers Peter Hartz gelegt wurde. Dort, wo soziale Problem auftreten, werden sie im Neoliberalismus als Folge falscher Anreize und damit einer falschen Verhaltenssteuerung beschrieben. Zum Beispiel wurde vor der Einführung der Hartz- Reformen 2004 immer wieder darauf verwiesen, dass das Arbeitslosengeld zu hoch und der Bezug zu einfach sei. Auf diese Weise würde Menschen die Chance genommen, für sich selbst zu sorgen. Sie würden entmündigt und ihrer unternehmerischen Instinkte beraubt. Ähnlich wird auch mit Blick auf Gesundheit für eine (Teil-)Privatisierung der Krankenversicherung geworben. So argumentierte Friedrich von Hayek, dass in einer konkurrenzfähigen Markwirtschaft insbesondere jene Ausgaben für Gesundheit überflüssig und problematisch seien, die keinen Return on Investment versprächen. „Es mag hart klingen, aber es ist wahrscheinlich im Interesse aller, dass in einem freiheitlichen System die voll Erwerbstätigen oft schnell von einer vorübergehenden und nicht gefährlichen Erkrankung geheilt werden, um den Preis einer gewissen Vernachlässigung der Alten und Sterbenskranken“ (Hayek 1983: 397). Gesundheit und Selbstverantwortung im Neoliberalismus 201 Heute werden Argumente für eine (Teil-)Privatisierung der Kosten der Gesundheitsversorgung nicht mehr vorrangig mit einem ökonomischen Kosten-Nutzen-Kalkül begründet. Im Vordergrund steht vielmehr der Versuch, die Reformen als einen Vorteil für die von der Reform Betroffenen zu kommunizieren, da diese dank dieser Maßnahmen endlich wieder mit ihrem unternehmerischen Selbst versöhnt würden. „Mit der Beitragszahlung entsteht ein Anspruch auf weitgehend unentgeltliche ärztliche und medizinische Versorgung (Sachleistungsprinzip). Damit wird auf jede Nachfragesteuerung über den Preis verzichtet. Niemand soll von den Gesundheitsleistungen ausgeschlossen werden. Dadurch wird eine ‚Null-Kosten- Mentalitätʻ gefördert, die zu übermäßiger Inanspruchnahme von Gesundheitsleistungen führt. Dieses Verhalten wird durch fehlende Transparenz hinsichtlich Höhe und Verteilung der entstandenen Kosten noch verstärkt. Die Versicherten führen tendenziell ein weniger gesundheitsbewusstes Leben, weil die Risiken sie finanziell nicht belasten“ (Managerkreis der Friedrich-Ebert-Stiftung 2006: 3). Dieser Logik folgend leben Versicherte gesünder, wenn sie nicht nur pauschal über die Lohnnebenkosten, sondern individuell für ihre Gesundheitsversorgung bezahlen müssen. Weil das Versichertenkollektiv als eine Ansammlung von Unternehmerinnen und Unternehmern gedacht wird, wird daraus geschlussfolgert, dass sich selbstschädigendes Verhalten für sie aus unternehmerischer Sicht lohne, da sie auf diese Weise für ihre Investition (Sozialversicherungsbeiträge) möglichst viel Return on Investment (Gesundheitsdienstleistungen) erhielten. Aus neoliberaler Sicht vertritt der Mensch, der, wie im oben genannten Beispiel, stets rational auf den eigenen Vorteil bedacht ist und nach den Gesetzen des Marktes handelt, den Naturzustand. Die Gesellschaft und ihre Institutionen, müssen demnach so gestaltet werden, dass Menschen ihre unternehmerische Natur frei entfalten können. Sind diese Rahmenbedingungen erst einmal gegeben, kann das Scheitern an gesellschaftlichen Anforderungen den Betroffenen auch persönlich zur Last gelegt werden. 202 Biomacht - Gouvernementalität - Neoliberalismus „Wer es an Initiative, Anpassungsfähigkeit, Dynamik, Mobilität und Flexibilität fehlen lässt, zeigt objektiv seine oder ihre Unfähigkeit, ein freies und rationales Subjekt zu sein. Der Abbau wohlfahrtsstaatlicher Interventionsformen ist begleitet von einer Restrukturierung der Regierungstechniken, welche die Führungskapazität von staatlichen Apparaten und Instanzen weg auf ‚verantwortliche‘, ‚umsichtige‘ und ‚rationale‘ Individuen verlegt“ (Lemke et al. 2000: 30). An dieser Konzeption der Wirklichkeit wird kritisiert, dass die Wahrnehmung des Menschen als unternehmerisches Selbst nicht das Ergebnis einer natürlichen Entwicklung, sondern Folge von gesellschaftlichen Umweltbedingungen sei. Nicht die gesellschaftliche Umgebung passe sich demnach an den Menschen an, sondern der Mensch passe sich an seine gesellschaftliche Umwelt an. Menschen handelten wie konkurrierende Unternehmen, weil sie die gesellschaftliche Umwelt dazu anhalte, nicht umgekehrt. „Strenges und hartes Nutzenkalkül, Rücksichtslosigkeit und Gier sind nicht die Haupttriebkräfte des Menschen, sondern das Ergebnis einer gezielten Züchtung. ‚Den Ursprung des Egoismus durch kapitalistische Zuchtwahl‘ könnte man diesen Prozess nennen in Anlehnung an das berühmte Hauptwerk von Charles Darwin“ (Precht 2010: 394). Der ökonomisch stets rational handelnde, dabei immer auf seinen Vorteil bedachte Mensch existiert allerdings nur im Modell. Menschen handeln ökonomisch gesehen durchaus auch irrational und - entgegen der Theorie des ‚Homo oeconomicus‘ - oft auch altruistisch. Das zeigen unter anderem Beispiele aus der Spieltheorie, die ja eigentlich die unternehmerische Natur des Menschen beweisen sollten (Habermann 2012). Die Vorstellung vom Menschen als Unternehmer seiner Selbst bzw. seiner Gesundheit zeichnet sich dadurch aus, dass sie die strukturellen Ursachen für gesundheitliche Ungleichheit ausblendet und allein auf das sichtbare Verhalten als Erklärung für den Gesundheitszustand zurückgreift. Die Frage: ‚gesund‘ oder ‚krank‘, ‚gefährdet‘ oder ‚gewappnet‘, ist dann nur noch eine des eigenen Verhaltens und der eigenen Einstellung: Die vorgefundenen gesellschaftlichen Verhältnisse, etwa auf dem Arbeits- oder Wohnungsmarkt, sind hingegen etwas, woran man sich pro- Gesundheit und Selbstverantwortung im Neoliberalismus 203 aktiv anzupassen hat. Auf diese Weise werde Gesundheit zum Inbegriff einer individuellen Identität, die Crawford folgendermaßen beschreibt. „I am who I am because I am healthy/ I am healthy because of who I am: you are who you are because you are unhealthy/ you are unhealthy because of who you are“ (Crawford 2006: 414). Kühn erklärt in seiner Fallstudie zu Healthismus in den USA, warum diese Identifikation mit der eigenen Gesundheit für alle Schichten, also nicht nur für Führungs-, sondern auch für einfache Arbeitskräfte gilt: „In Zeiten und Verhältnissen, in denen die Zwecke (Leben) von den Mitteln (Ökonomie) beherrscht werden, ist es kein Widerspruch, wenn gesagt wird, die Menschen verstünden ihre Gesundheit als ‚höchstes Gut‘. Als ideologisierte Realerfahrung der Arbeitnehmer bildet sich im Alltagsbewußtsein ein individualistisches ‚Ich-Ideal‘ heraus, in dem das Selbstbild der ökonomischen Oberklasse ‚anthropologisiert‘, d.h. zur ‚Natur des Menschen‘ schlechthin verallgemeinert wird. Es ist dies die Idealisierung des auf den Märkten agierenden Einzelunternehmers. Was diesem seine Firma und die Bilanz, ist jenen das Arbeitsvermögen und der ‚Check-up‘ beim Hausarzt“ (Kühn 1993: 27). Umso weniger Einfluss die Menschen auf globale politische, ökonomische und technische Entwicklungen haben, die für ihre Beschäftigungschancen auf dem Arbeitsmarkt entscheidend sind, umso stärker konzentrierten sie sich auf die Optimierung ihrer Körper als dem letzten Refugium, von dem sie glauben, dass sie es noch eigenständig kontrollieren können (→ Kap. 9). Gesundheit unter dem Vorzeichen des unternehmerischen Selbst gibt uns der Illusion hin, dass wir als Individuum absolute Kontrolle über unser Leben und unsere Körper haben können. Folge dieser Konzeption sei eine neue Form des Sozialdarwinismus, der soziale Ungleichheit mit biologischen und angenommenen gesundheitlichen Unterschieden rechtfertige. Diese Entwicklung aber führe zwangsläufig zu einer Stigmatisierung der weniger Gesunden (Turrini 2015: 16). Insgesamt, so Brunnett, bedeute die neoliberale Programmatik für die Vorstellungen von Gesundheit und Krankheit, dass für alle Individuen davon ausgegangenen werde, dass sie die Fähigkeit besäßen, sich rational für Gesundheit zu entscheiden, das heißt auf riskante oder gesundheitsabträgliche Gewohnheiten zu verzichten und zugleich medizinische Vor- 204 Biomacht - Gouvernementalität - Neoliberalismus sorge- und Kontrolluntersuchungen wahrzunehmen. Das wiederum verschiebe Krankheit in den individuellen Verantwortungsbereich: „Sie ist entweder schon im (fehlenden) subjektiven Willen verankert oder ein Ausdruck der freien Wahl von Individuen, aus der dann Selbstverantwortung mit allen Konsequenzen folgt. […]. Dadurch verliert Krankheit entlastende Aspekte, wie sie mit der Rolle des passiven Patienten verknüpft war, der durch die Medizin bevormundet wurde, der aber auch durch die mit der Krankheit verknüpften Unfähigkeit, seine Rollen und Aufgaben zu erfüllen, entlastet war. Stattdessen rückt nun das stets aktive, selbst verantwortliche Subjekt paradigmatisch in den Vordergrund“ (Brunnett 2007: 179). Gesellschaften definieren sich darüber, welche Subjektformen in ihnen vorkommen bzw. welche zugelassen werden, wie sie ihre Mitglieder beschreiben, verwalten und leben lassen und schließlich darüber, was sie als innere Wahrheit dieser Subjekte behaupten. Gegenwärtig wird diese innere Wahrheit ihrer Subjekt maßgeblich über das Leitbild des unternehmerischen Selbst bzw. das der Unternehmerin der eigenen Gesundheit definiert. Die Rolle, die an die Gesundheitswissenschaften und insbesondere an Public Health herangetragen wird, ist es, diese spezifische Form der Subjektivität, diese behauptete ‚innere Wahrheit der Subjekte‘ im Feld der Gesundheit zu reproduzieren. Sie kann sie aber auch aufbrechen und verändern. Zusammenfassung Biomacht beschreibt eine Form der Macht, die Menschen produktiv machen soll, bei der die optimale Verteilung des Lebendigen und nicht die Herrschaft über Leben und Tod im Mittelpunkt steht. Gouvernementalität leitet Menschen an, das gesellschaftlich Erwartete freiwillig und aus eigener Überzeugung zu leisten. ・ Literatur 205 Neoliberalismus beschreibt die Allgegenwart des Marktprinzips und die Sichtweise, dass die Durchsetzung von Marktmechanismen der Natur der Menschen entspricht und ihnen ermöglicht, sich optimal zu entfalten. Bezogen auf Gesundheit versucht neoliberale Politik, Menschen durch ökonomische Anreizsysteme zu gesundheitsförderlichen Verhaltensweisen anzuleiten. Die neoliberale Idealvorstellung einer Gesellschaft eigenverantwortlicher Subjekte unterschlägt, dass die Wahrnehmung dieser Eigenverantwortung an strukturelle Bedingungen geknüpft ist. Dort, wo diese Voraussetzungen nicht vorliegen, reagiert neoliberale Politik repressiv. Bezogen auf Gesundheit bedeutet dies mehr Eigenleistungen und Kürzungen bei der Gesundheitsversorgung sowie Besteuerung und Verbote von gesundheitsschädlichem Konsum und Verhalten. Literatur Althusser, L. (1977). Ideologie und ideologische Staatsapparate. Aufsätze zur marxistischen Theorie. Hamburg: VSA. Biebricher, T. (2014). Demokratie als Problem. Verfügbar unter: http: / / www.zeit.de/ 2014/ 2038/ neoliberalismus-august-von-hayek-kapitalismus [30.06.2008]. Bröckling, U. & Krasmann, S. (2010). Ni méthode, ni approche. Zur Forschungsperspektive der Gouvernementalitätsstudien mit einem Seitenblick auf Konvergenzen und Divergenzen zur Diskursforschung. In: J. Angermüller & S. Dyk (Hrsg.), Diskursanalyse meets Gouvernementalitätsforschung - Perspektiven auf das Verhältnis von Subjekt, Sprache, Macht und Wissen (S. 23-43). Frankfurt/ New York: Campus. Brunnett, R. (2007). Foucaults Beitrag zur Analyse der neuen Kultur von Gesundheit. In: R. Anhorn, F. Bettinger & J. Stehr (Hrsg.), Foucaults Machtanalytik und Soziale Arbeit (S. 169-184). Wiesbaden: VS Springer. Crawford, R. (2006). Health as a meaningful social practice. Health 10 (4), S. 401- 420. 206 Biomacht - Gouvernementalität - Neoliberalismus Davies, W. (2014). The limits of neoliberalism: Authority, sovereignty and the logic of competition. New York: Sage. Duttweiler, S. (2016). Alltägliche (Selbst)optimierung in neoliberalen Gesellschaften. APuZ 66 (37-38), S. 27-32. Foucault, M. (1969). Wahnsinn und Gesellschaft: Eine Geschichte des Wahnsinns im Zeitalter der Vernunft. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Foucault, M. (1972). Die Geburt der Klinik. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Foucault, M. (1976a). Mikrophysik der Macht. Berlin: Merve Verlag. Foucault, M. (1976b). Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Foucault, M. (1977). Sexualität und Wahrheit Bd. I. Der Wille zum Wissen. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Foucault, M. (2004a). Geschichte der Gouvernementalität I: Sicherheit, Territorium, Bevölkerung, Vorlesung am College de France 1977-1978. Frankfurt a.M.: Suhrkamp Verlag. Foucault, M. (2004b). Geschichte der Gouvernementalität II: Die Geburt der Biopolitik. Vorlesung am Collège de France 1978-1979. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Foucault, M. (2015). Die Strafgesellschaft: Vorlesungen am Collège de France 1972- 1973. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Habermann, F. (2012). Wir werden nicht als Egoisten geboren. In: S. Helfrich (Hrsg.), Commons - Für eine neue Politik jenseits von Markt und Staat (S. 39- 44). Bielefeld: transcript. Hayek, F. (1983). Die Verfassung der Freiheit. Tübingen: Mohr Siebeck. Hayek, F. (2004). Der Weg zur Knechtschaft. Tübingen: Mohr Siebeck. Krasmann, S. (2003). Die Kriminalität der Gesellschaft. Zur Gouvernementalität der Gegenwart. Konstanz: UVK. Kühn, H. (1993). Healthismus: eine Analyse der Präventionspolitik und Gesundheitsförderung in den USA. Berlin: Sigma. Lemke, T. (1997). Eine Kritik der politischen Vernunft. Foucaults Analyse der modernen Gouvernementalität. Berlin und Hamburg: Argument Verlag. Lemke, T. (2008). Eine Analytik der Biopolitik. Überlegungen zu Geschichte und Gegenwart eines umstrittenen Begriffs. BEHEMOTH - A Journal on Civilisation 1 (1), S. 72-89. Lemke, T., Krasmann, S. & Bröckling, U. (2000). Gouvernementalität, Neoliberalismus und Selbsttechnologie. Eine Einleitung. In: U. Bröckling, S. Krasmann & T. Lemke (Hrsg.), Gouvernementalität der Gegenwart. Studien zur Ökonomisierung des Sozialen (S. 7-40). Frankfurt a.M.: Suhrkamp. ・ Literatur 207 Managerkreis der Friedrich-Ebert-Stiftung (2006). Empfehlung an die große Koalition: Eine Gesundheitsreform auf dem größten gemeinsamen Nenner! Berlin: library.fes.de/ pdf-files/ stabsabteilung/ 03640.pdf. Precht, R.D. (2010). Die Kunst, kein Egoist zu sein. München: Heyne. Turrini, M. (2015). A genealogy of „healthism“. E-Journal of Medical Humanities & Social Studies of Science and Technology 7 (1), S. 11-27. 8 Gesundheit und Krankheit als Diskurs Lehrziele In diesem Kapitel erfahren Sie … was ein Diskurs ist und was es mit dem ‚Willen zur Wahrheit‘ auf sich hat; wie Diskurse unsere Wahrnehmung, unser Denken und unser Handeln beeinflussen; wie Krankheitsdefinitionen von sich wandelnden Diskursen geprägt werden; warum sich Gesundheit nicht so einfach definieren lässt. In den vorangegangenen Kapiteln haben wir unter anderem dreierlei herausgearbeitet: Erstens hatten wir davon gesprochen, dass soziale Sachverhalte von einzelnen oder mehreren Akteuren manches Mal zu Problemen ‚gemacht‘ werden. Wir haben zweitens aufgezeigt, dass Krankheiten aus unterschiedlichen Motiven in einigen Fällen sogar ‚erfunden‘ werden (Disease Mongering, → Kap. 6). Und wir haben drittens darauf hingewiesen, dass wir im Alltag gerne vergessen, dass selbst die Normen und Regeln unseres Zusammenlebens im Grunde etwas Wandelbares und von Menschen Gemachtes bzw. Gesetztes sind. Aber können wir von einer Krankheit sagen, dass sie ‚gemacht‘ wird? Sind Krankheit und Gesundheit etwas, das einfach ‚erfunden‘ wird? Bei der Beantwortung dieser und ähnlicher Fragen taucht unweigerlich der Begriff des Diskurses auf, den wir hier etwas genauer untersuchen wollen. Diskurse sind oft recht kreativ und produktiv: Sie bringen nicht nur Werte und Normen hervor, sie schaffen auch Gemälde, Gebäude, Bücher und Musik und sie füllen ganze Enzyklopädien gemeinschaftlich geteilten Wissens. Sie schaffen aber auch Annahmen darüber, was wir als Krankheit oder Gesundheit, Gerechtigkeit oder Freiheit, Schönheit oder Weisheit 210 Gesundheit und Krankheit als Diskurs bezeichnen. Und in der Folge beeinflussen diese Diskurse immer auch unser Denken und unser Handeln. Auf diese Weise entsteht das, was von einigen Vertretern innerhalb der Soziologie als ‚sozial konstruierte Wirklichkeit‘ bezeichnet wird. Um genau diese sozial konstruierte Wirklichkeit mit ihrem Einfluss auf Gesundheit und Krankheit soll es in diesem Kapitel gehen. Damit ist hier weniger der sozialepidemiologische bzw. statistische Zusammenhang zwischen dem ‚Sozialen‘ auf der einen und ‚Krankheit und Gesundheit‘ auf der anderen Seite gemeint. In diesem Kapitel geht es vielmehr um die Beschreibung jener sozialen Mechanismen, die „Gesundheit und Krankheit als sozio-kulturell erzeugte und politisch umkämpfte Konstruktionen“ (Brunnett 2007: 169) hervorbringen. 8.1 Was ist ein Diskurs? Dass soziale Prozesse einen Einfluss auf Krankheit und Gesundheit haben, ist innerhalb der Gesundheitswissenschaften seit den 1970er- Jahren eine gut belegte sozialepidemiologische Tatsache. Anders verhält es sich allerdings mit dem Einfluss der Sprache: Auch in Theorien, für die soziale Einflüsse selbstverständlich sind, wie etwa die Theorie der „sozialen Unterstützung“ (Berkman 1995) oder die „Sozialkapital- Theorie“ (Badura et al. 2013), kommt die Idee einer Sprache, die etwas bewirken kann, nicht vor. Diese Idee einer durch die Sprache konstruierten sozialen Wirklichkeit wird im deutschsprachigen Raum innerhalb der Gesundheitswissenschaften erst seit wenigen Jahren diskutiert. Sie kommt dabei allerdings über die bloße Feststellung, dass Gesundheit und Krankheit eben auch sozial konstruiert sein können, meist nicht hinaus (Schnabel 2015; Bär 2016; Bittlingmayer 2016; Richter & Hurrelmann 2016). Innerhalb der Soziologie hingegen sprachen Lachmund & Stollberg (1992) sowie Jost Bauch (2004) schon früh von einer sozialen Konstruktion von Krankheit und Gesundheit. Im Gegensatz zum deutschsprachigen Raum haben diskurstheoretische Ansätze im angloamerikanischen Sprachraum bereits seit Längerem ihren Einzug in die theoretischen Konzeptualisierungen von Public Health gefunden (Lupton 1995; Peterson & Lupton 2000; Nettleton 2013). Was ist ein Diskurs? 211 Wenn im soziologischen Kontext von der gesellschaftlichen Konstruktion von Wirklichkeit gesprochen wird, dann liegen dieser Denkfigur entweder systemtheoretische, konstruktivistische oder auch diskurstheoretische Theorien zugrunde. Aber auch wenn sich diese Theorien und ihre historischen Entwicklungen deutlich unterscheiden, so teilen sie doch die Vorstellung, dass Kommunikation produktiv ist, dass sie mithin soziale Wirklichkeit konstruiert: Während der Konstruktivismus diese Vorstellung des Konstruierens im Namen selbst trägt, werden innerhalb der Systemtheorie soziale Systeme durch Kommunikation hervorgebracht; Kommunikation definiert dabei sowohl die Grenzen eines Systems als auch seine Strukturen und Arbeitsweisen. In der Diskurstheorie dagegen sind es Diskurse, die wirkmächtig sind: Diskurse können verstanden werden als Systeme des Denkens und Sprechens, die das Was und Wie unserer Wahrnehmung prägen und damit den Bereich des Sag-, Denk-, und Lebbaren abstecken. Auf diese Weise ‚produzieren‘ Diskurse nicht nur materielle Tatsachen, abstrakte Begriffe und bestimmte Handlungen, sondern sie schaffen auch gesellschaftliche Verhältnisse: „Nun ist mit der Produktivität von Diskursen nicht gemeint, dass es ohne einen bestimmten Diskurs die Phänomene, die er bezeichnet, nicht gäbe. Selbstverständlich gibt es auch ohne den biologischen Diskurs der Gegenwart Viren oder Krankheiten. Aber, und das ist die Pointe der Diskurstheorie, die Phänomene, um die es geht (Viren, Gesundheit, Rückenschmerzen etc.), sind immer in einer bestimmten Weise durch das diskursive Feld, in denen sie bedeutet werden, geformt […]. Jeder Blick auf die Welt ist diskursiv gerahmt und trägt damit eine je nach historischem Zeitpunkt und soziokulturellem politischem Kontext spezifische Brille“ (Villa 2012: 23). Wie aber kann eine so abstrakte Sache wie ein Diskurs eine so machtvolle Wirkkraft entwickeln, dass er gesellschaftliche Verhältnisse hervorbringen, stabilisieren oder sogar verändern kann? Als Michel Foucault seine Vorstellung von dem, was ein Diskurs ist und was er anzurichten vermag, im Dezember 1970 im Rahmen seiner Antrittsvorlesung am Collège de France vortrug, vermutete er, dass von einem Diskurs in seiner „alltäglichen und unscheinbaren Tätigkeit“ (Foucault 2012: 10) etwas unvorstellbar Mächtiges und manchmal auch Gefährliches ausgeht. Seine Vermutungen brachten ihn zu folgender Annahme: 212 Gesundheit und Krankheit als Diskurs „Ich setze voraus, daß in jeder Gesellschaft die Produktion des Diskurses zugleich kontrolliert, selektiert, organisiert und kanalisiert wird - und zwar durch gewisse Prozeduren, deren Aufgabe es ist, die Kräfte und die Gefahren des Diskurses zu bändigen, sein unberechenbar Ereignishaftes zu bannen, seine schwere und bedrohliche Materialität zu umgehen“ (Foucault 2012: 10f.). Ein Diskurs - so nahm Foucault an - kann eine Ordnung erzeugen und er kann seine Steuerungs- und Kontrollfunktion nur dadurch realisieren, dass er dazu in der Lage ist, alternative Diskurse praktisch auszuschließen. Solche Ausschließungen realisieren sich durch Verbote, Grenzziehungen und den ‚Willen zur Wahrheit‘, wie im Folgenden gezeigt werden wird. 8.1.1 Das Verbot Das Verbot ist die uns wohl vertrauteste Ausschließung: Wir wissen, dass wir nicht bei allen Gelegenheiten alles an- und aussprechen dürfen. Sprechverbote kommen in allen Kulturen, Organisationen, Parteien, Betrieben oder Familien vor. Sie regeln autoritär das, was innerhalb eines bestimmten Kontextes als sagbar gilt und was auf keinen Fall aus- oder angesprochen werden darf. Das Verbot kann ganz bestimmte Themen betreffen, die innerhalb einer Gemeinschaft als tabuisiert gelten (z.B. Sexualität oder Tod). Auf der anderen Seite kann das Verbot aber auch Personen von vornherein das Recht ‚mit‘-zusprechen einfach versagen. So hatten Kranke noch vor wenigen Jahrzehnten nicht unbedingt das Recht, bei der Anamnese oder überhaupt im Kontext der Arzt- Patienten-Kommunikation ihre ganz eigene, subjektive Geschichte zu erzählen. Sprechverbote finden wir aber auch in kulturell stark ritualisierten Situationen, die es uns fast unmöglich erscheinen lassen, sich z.B. dem Thema Tod und Sterben mit Witz, Spott, Ironie oder Humor zu nähern. 8.1.2 Die Grenzziehung Weitere Ausschlüsse produzieren Diskurse dadurch, dass sie Grenzen festlegen zwischen dem, was innerhalb einer Gesellschaft z.B. als „wissenschaftlich, vernünftig, kriminell, richtig oder falsch, wahnsinnig oder krank [zu gelten hat]“ (Ruffing 2007: 263) und was jenseits dieser Grenze Was ist ein Diskurs? 213 genau das Gegenteil bedeutet. Speziell an dem Begriff des Wahnsinns verdeutlichte Foucault, dass dieser Begriff durch eine Grenzziehung ‚hergestellt‘ wurde und keinesfalls ‚natürlich‘ ist: „Den Wahnsinn findet man nicht im Naturzustand. Der Wahnsinn existiert nur in einer Gesellschaft, er existiert nicht außerhalb der Formen der Empfindsamkeit, die ihn isolieren, und der Form der Zurückweisung, die ihn ausschließen oder gefangen nehmen“ (Foucault 2001: 236). Am Beispiel des Wahnsinns zeigte Foucault, wie die Gesellschaft zu unterschiedlichen Zeiten auf eine jeweils unterschiedliche Art und Weise mit dem Begriff des Wahnsinns selbst und mit den als wahnsinnig bezeichneten Menschen umgegangen war: So verlief die entsprechende Grenzziehung z.B. im Mittelalter anders als am Ende des 19. Jahrhunderts. Die neue medizinische Zuwendung zu den ‚Wahnsinngen‘ begann nämlich damit, nur ‚über‘ und nicht ‚mit‘ den ‚Wahnsinnigen‘ zu sprechen. Die ‚Wahnsinnigen‘ wurden damit zu Objekten einer Wissenschaft, die sie aber nicht nur kontrollieren wollte, sondern sie zusätzlich auf eine Art und Weise ausschloss, wie sie zuvor bereits die Leprakranken weggesperrt hatte. Erst in den 70er-Jahren des 20. Jahrhunderts entwickelte sich durch die sogenannte ‚Psychiatrie-Reform‘ ein breiter gesellschaftlicher Widerstand gegen die teilweise menschenunwürdigen Verhältnisse, in denen psychisch kranke Menschen leben mussten. Deutlich wurde in diesem Zusammenhang auch, dass den ‚Wahnsinnigen‘ durch die autoritären Zuschreibungen der Psychiatrie jedwede Möglichkeit von sich selbst zu sprechen, genommen worden war. Dieser ganz spezielle Diskurs schuf eine harte Grenze zwischen der Ärztin, die das Recht und die Macht besaß, derartige Zuschreibungen vornehmen zu dürfen, und den ‚Wahnsinnigen‘, die - wenn überhaupt - sich selbst nur noch im Rahmen dieser Zuschreibungen definieren konnten. Wo immer Foucault solche diskursiv erzeugten Grenzziehungen auch antraf, stets konnte er neben der sprachlichen Verfasstheit dieser Grenzziehungen eine historisch gewachsene und verfestige Redeweise erkennen, die wie selbstverständlich das Denken und Handeln in der Gegenwart zu rechtfertigen versuchte. Und diese verfestigten Redeweisen, so begann er zu verstehen, waren immer schon da: In einen Diskurs werden wir demnach förmlich ‚hineingeboren‘ und können zu keiner Zeit ‚außerhalb‘ irgendeines Diskurses stehen. Dieses grundsätzliche Verstrickt- 214 Gesundheit und Krankheit als Diskurs Sein in die diskursive Welt der verfestigten Redeweisen geht zurück auf eine sprachphilosophische Denkfigur, die mit Ludwig Wittgenstein (1889-1951) zu Beginn des 20. Jahrhunderts die sogenannte ‚linguistische Wende‘ (Linguistic Turn) innerhalb der Geisteswissenschaften einleitete. Für Wittgenstein kann sich der Mensch der Welt der realen Dinge ebenso wie der Welt der abstrakten Begriffe immer nur durch die Sprache und unter Zuhilfenahme von Wörtern und Zeichen nähern (Wittgenstein 1984). Einer Sprache allerdings, die mit ihren Redeweisen immer schon anwesend ist und der Welt eine Ordnung gegeben hat, die wir nur noch nachzusprechen brauchen. Die Welt ist von unseren Vorfahren sprechenderweise immer schon mit Bedeutung und Sinn und daher auch mit den entsprechenden Grenzen versehen worden. Insofern ist es nicht verwunderlich, dass diese Art der Grenzziehung in der Geschichte zu keinem Zeitpunkt ohne ‚Grenzstreitigkeiten‘ ausgekommen ist. Immer wieder hat diejenige Redeweise, die verboten, tabuisiert, unterdrückt, diskreditiert und ausgegrenzt werden sollte, versucht, sich wieder auf irgendeine Art und Weise Gehör zu verschaffen, um sich in die eine ‚offizielle‘ Redeweise einzuschleichen. Der britische Soziologe Zygmunt Bauman bezeichnet es als eine der großen Schwächen des modernen Menschen, dass er nicht in der Lage ist zu erkennen, dass mehrere vereinbarte Redeweisen ebenso wie unterschiedliche gesellschaftliche Gepflogenheiten und kulturell gewachsene Praktiken im Grunde die gleiche Berechtigung haben könnten, gehört und gegebenenfalls auch gelebt zu werden. Dieses Nicht-Aushalten-Können von ‚Ambivalenz‘ nennt Bauman eine der größten Gefahren der Moderne (Bauman 2005). 8.1.3 Der Wille zur Wahrheit Was oben über gesellschaftliche Gepflogenheiten und kulturell gewachsene Praktiken gesagt wurde, gilt in besonderem Maße auch für das, was die Menschen als wissenschaftliches Wissen bezeichnen. Durch eine Methode, die er selbst als „Archäologie des Wissens“ (Foucault 1981) bezeichnete, konnte Foucault zeigen, dass die Art der wissenschaftlichen Grenzziehung ein eigenes Ausschließungssystem produziert. Dieses Ausschließungssystem, das stets versucht, sich mit der Vorstellung einer unabhängigen Objektivität gegen alles ‚Unwissenschaftliche‘ zur Wehr zu Diskurse - Macht - Wissen 215 setzen, nennt Foucault den Willen zur Wahrheit. Es handelt sich dabei um den steten Versuch, ein bestimmtes gegenwärtiges Wissen mit dem Nimbus einer unumstößlichen Objektivität zu versehen und dieses Wissen dann als ‚unumstößliche Wahrheit‘ zu bezeichnen. Es ist dieser Wille zur Wahrheit, der sich anmaßt zu bestimmen, was das Subjekt zu denken hat. Er weist mit seiner Art der Ausschließung dem „erkennenden Subjekt (vor aller Erfahrung) eine bestimmte Position, einen bestimmten Blick und eine bestimmte Funktion“ zu, wie es diese Wahrheit „zu sehen anstatt zu lesen, zu verifizieren anstatt zu kommentieren [hat]“ (Foucault 2012: 15). „Dieser Wille zur Wahrheit stützt sich, ebenso wie die übrigen Ausschließungssysteme, auf eine institutionelle Basis: er wird zugleich verstärkt und ständig erneuert von einem ganzen Geflecht von Praktiken wie vor allem natürlich der Pädagogik, dem System der Bücher, der Verlage und der Bibliotheken, den gelehrten Gesellschaften einstmals und den Laboratorien heute“ (Foucault 2012: 15). Der Wille zur Wahrheit, der sich selbst diskursiv die Systeme erschafft, die ihn am Leben halten, bleibt aber nicht ohne Folgen, denn er versucht sich nicht nur abzusichern und zu etablieren, sondern er beginnt auch damit, auf „andere Diskurse Druck und Zwang auszuüben“ (ebenda S. 16). Dieser autoritäre Umgang ist aber nur möglich, weil der Wille zur Wahrheit mit einer Grenzziehung arbeitet, die ihr sprachliches Zustandekommen strikt zu verleugnen versucht. 8.2 Diskurse - Macht - Wissen Wann immer man damit beginnt, die herrschenden Diskurse zu ‚kritisieren‘ oder zu „problematisieren, indem man sie analysiert und ihre Widersprüche und ihr Verschweigen bzw. die Grenzen der durch sie abgesteckten Sag- und Machbarkeitsfelder aufzeigt“ (Jäger 2011: 93), trifft man unweigerlich auf den Begriff der Macht, der für Foucault unmittelbar mit dem Diskurs verbunden ist. Dabei ist Macht für ihn keineswegs ein negativer Begriff, sondern ein universelles Phänomen, das auf allen gesellschaftlichen Ebenen zu finden ist. Wir finden Macht sowohl auf der Makroebene beim Staat oder bei einem Unternehmen, als auch auf der Mikroebene in der Rolle der Ärztin oder des Apothekers, des Patriarchen 216 Gesundheit und Krankheit als Diskurs einer Familie, der Vorgesetzten im Betrieb oder des Lehrers in der Schule. Macht ist für Foucault aber nicht etwas, das jemand ‚besitzt‘, sondern Macht ist etwas, das uns in die Lage versetzt, etwas zu bewirken. Macht kommt somit immer nur relational in der Beziehung zu etwas anderem vor, da Macht nicht von selbst einfach da ist, sondern sich erst zwischen den Menschen innerhalb einer konkreten diskursiven Praxis realisiert, indem sie z.B. bestimmte Praxen möglich macht und andere wiederum unterdrückt. Foucault wendet sich vor allem in seinen späteren Arbeiten gegen die Annahme, Macht würde immer nur negative Folgen haben, als ob sie immer nur „ausschließen, unterdrücken, verdrängen, zensieren, abstrahieren, maskieren, verschleiern würde“ (Foucault 1994: 250). Für ihn ist Macht etwas Produktives, das dazu in der Lage ist Wirklichkeit zu produzieren. Eine Wirklichkeit voller „Gegenstandsbereiche und Wahrheitsrituale“ (ebenda S. 250). Damit diese Macht aber überhaupt produktiv werden kann, müssen Menschen eine machtvolle Sprecherposition einnehmen. Macht ist für Foucault damit immer an Diskurse gebunden, die dadurch erst wirkmächtig werden, denn Diskurse bilden „systematisch die Gegenstände […] von denen sie sprechen“ (Foucault 1981: 74). Foucault führt uns hier vor Augen, dass wir im Grunde alles, was wir in unserer Welt vorfinden, auf irgendeine Art und Weise diskursiv erzeugt haben. Alles muss irgendwie ‚durch‘ die Sprache hindurch und ist ‚verstrickt‘ mit bereits vorausgegangenen Diskursen: Egal ob wir uns der Architektur einer Schule, eines Gefängnisses oder eines Krankenhauses zuwenden, ob wir die rituellen Handlungen einer Chefarzt-Visite in einem Krankenhaus betrachten oder ob wir uns die Art und Weise ansehen, wie die Mitteilung einer Diagnose oder die einer Schulnote erfolgt, immer haben wir es mit einer diskursiv erzeugten Realität zu tun. Dabei reicht es allerdings für Foucault nicht aus, sich nur den Diskurs selbst in seiner historisch gewachsenen Struktur anzusehen, sondern für ihn ist es ebenso wichtig, all das mit zu berücksichtigen, was dieser Diskurs aus irgendwelchen Gründen ausblendet. Foucault formulierte sein Vorhaben einmal folgendermaßen: Diskurse - Macht - Wissen 217 „Will man z.B. verstehen, was die Gesellschaft unter geistiger Gesundheit versteht, muss man untersuchen, was auf dem Gebiet der Geisteskrankheit geschieht. […]. Und wenn wir wissen möchten, was Machtbeziehungen sind, müssen wir vielleicht die Widerstände dagegen untersuchen und die Bemühungen dagegen, diese Beziehungen aufzulösen. Ich schlage daher vor, eine Reihe von Widerständen zu nehmen, die sich in den letzten Jahren entwickelt haben: Den Widerstand der Macht der Männer über die Frauen, der Eltern über die Kinder, der Psychiatrie über die Geisteskrankheit, der Medizin über die Bevölkerung, der staatlichen Verwaltung über die Lebensweise der Menschen“ (Foucault 2005: 243f.). Wie man sieht, spricht Foucault hier im Grunde aktuelle gesundheitswissenschaftliche Themen an: Für die Untersuchung dieser Themen schlägt er eine Methode vor, die innerhalb der Gesundheitswissenschaften bislang nur in Ansätzen zur Anwendung kommt. Untersucht man die von Foucault genannten Widerstände, dann entdeckt man nämlich keine natürlich gegebenen Objekte, keine (natur-)wissenschaftlich begründbaren Tatsachen und schon gar keine Welt voller erklärbarer Kausalitäten. Alles was wir finden, sind Diskurse, die die entsprechende Realität diskursiv erzeugt haben und dann im Nachhinein behaupten, sie würden naturgegebene Fakten beschreiben und diese Beschreibungen seien alternativlos. Dass der Akt des Beschreibens und Bezeichnens aber immer eine Differenz erzeugt, die erstens eben nicht alternativlos war und ist und die zweitens nicht ohne Folgen bleibt, erläutert Paula-Irene Villa: „Kämen Kartoffeln mit einer Gravur aus der Erde, auf der ‚Kartoffel‘ stünde oder kämen Frauen mit einem Etikett ‚Frau‘ auf der Stirn zur Welt, so wüssten wir mit Sicherheit, dass es sich um naturgegebene, vielleicht sogar objektive und vom Menschen nicht zu verändernde Entitäten handelte. So aber kommen weder Kartoffeln noch Menschen zur Welt - so kommt nichts und niemand in die Welt. Denn zwischen den Dingen und uns stehen immer, unausweichlich und sozusagen in einem totalen Sinne, Diskurse. Mehr noch, Diskurse bringen aufgrund ihrer produktiven Fähigkeit die Dinge, die wir betrachten, in gewisser Weise selbst hervor. Sie tun dies, indem sie die Welt kodieren, und damit das Feld des Denk-, Sag- und […] Lebbaren abstecken“ (Villa 2012: 22). Gerade an der diskursiv erzeugten Differenz zwischen ‚Mann‘ und ‚Frau‘ wird seit einigen Jahrzehnten thematisiert, dass diese Eingruppierung willkürlich sei und wie wenig dieser für natürlich gehaltene Sachverhalt 218 Gesundheit und Krankheit als Diskurs den Lebensentwürfen vieler Menschen entspräche. Im Sinne Foucaults könnte man hier vermuten, dass die Grenze, die hier gezogen wurde, gewissermaßen auf einen starken Willen zur ‚biologischen Wahrheit‘ verweist, der an einer ganz bestimmten Form von Ausgrenzung interessiert war. Denn ganz offensichtlich wurde hier der diskursiv erzeugte Mythos einer ‚biologischen‘ Ungleichwertigkeit dazu benutzt, die eine Hälfte der Weltbevölkerung von der Teilhabe an gesellschaftlicher Gestaltungsmacht auszuschließen. Deutlich wird in diesem Zusammenhang, dass es sich hier um einen von Menschen geführten Diskurs handelt und nicht irgendein biologisches Merkmal von und für sich selbst zu sprechen begonnen hat. Der biologistisch geführte Geschlechterdiskurs hatte also zur Folge, eine Ordnung hervorgebracht zu haben, die für jeweils eine Hälfte der Weltbevölkerung das Feld dessen absteckte, was für diese Hälfte von nun an denk-, sag- und damit lebbar zu sein hatte. An dieser gesellschaftlichen Konstruktion von Wirklichkeit, die auch heute noch Menschen als ‚Mann‘ und ‚Frau‘ bezeichnet, wird die existenzielle Bedeutung eines Diskurses besonders deutlich, der auch für die Gesundheit der Menschen, die hier bezeichnet werden, nicht folgenlos bleibt (→ hierauf wird in Kap. 9 noch ausführlicher eingegangen). Foucault spricht davon, dass dem Subjekt, das in diese diskursiv erzeugte Logik hineingeboren wird, erst einmal nichts anderes übrigbleibt, als sich diesem Diskurs zu ‚unterwerfen‘. Doch dem Diskurs steht immer - und das ist vielleicht die salutogene Botschaft Foucaults - ein eigensinniges Subjekt gegenüber, dass eben nicht machtlos, sondern in der Lage ist, sich zu wundern und zu fragen, ob es zu diesem diskursiv erzeugten binären Zuschreibungsversuch nicht auch eine ganz andere Meinung geben könnte. Denn der Diskurs determiniert nicht einfach das, was das Subjekt zu sein und zu denken hat. Vielmehr kann das Subjekt zu einem äußeren Diskurs immer auch eine ganz eigene, innere Sprechweise entwickeln, durch die es in der Lage ist, sich selbst auf mannigfaltige Weise kreativ hervorzubringen. Hier offenbart sich für Foucault die Macht des Subjekts, von sich selbst in einer Art und Weise erzählen zu können, die zwar nie ganz außerhalb des Diskurses erfolgen kann - dafür sind wir viel zu sehr in die uns umgebenden Diskurse verstrickt - die aber immer auch eine selbstbestimmte und eigensinnige Erzählweise ist (Maturana & Varela 1991). Krankheit als soziale Konstruktion von Wirklichkeit 219 Diese Autonomie des Subjekts zu betonen und sie bei aller - oft nur schwer auszuhaltenden - Ambivalenz trotzdem immer wieder gegen jede autoritäre Bevormundung einzufordern und zu schützen, ist eines der wesentlichen Motive gewesen, die das kritische gesundheitswissenschaftliche Denken in der zweiten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts geprägt haben. Allerdings gibt es auch heute noch Ärztinnen, die zu ihren Patienten ein eher paternalistisches als ein partnerschaftliches Verhältnis pflegen, in dessen Kontext immer noch überwiegend mit biologistischen und mechanistischen Krankheitszuschreibungen gearbeitet wird. Diese Krankheitszuschreibungen lassen oft wenig Platz für alternative biopsycho-soziale Krankheitsdiskurse und sind in der Regel nicht an den ganz individuellen subjektiven Erzählungen der Patientinnen interessiert. Allerdings gibt es auch viele Hilfesuchende, die mit einer solchen autoritären oder paternalistischen Gestaltung der Beziehung zwischen Arzt und Patientin sehr zufrieden sind und gewissermaßen klare Ansagen nicht nur begrüßen, sondern regelrecht einfordern. 8.3 Krankheit als soziale Konstruktion von Wirklichkeit Damit sind wir mitten drin in dem, was die Gesundheitswissenschaften unmittelbar angeht: Es stellt sich nämlich die Frage, ob nicht auch Krankheit und Gesundheit diskursiv erzeugte Begrifflichkeiten sind, die als vermeintlich natürliche Gegebenheiten nur deshalb zu existieren scheinen, weil sie diskursiv hervorgebracht werden. Um es noch einmal zu betonen: die meisten konstruktivistischen und diskurstheoretischen Positionen bestreiten gar nicht, dass es irgendwo in der Realität ‚da draußen‘ so etwas wie naturgegebene Unterschiede gibt. Aber sie versuchen, unsere Aufmerksamkeit darauf zu lenken, was an Unterschieden gesetzt ist, welche Normen und Regeln bezüglich dieser Unterschiede gelten und wie diese Unterschiede Menschen ausgrenzen, beleidigen und demütigen. Die primären oder sekundären Geschlechtsmerkmale sind dabei nur eine mögliche, diskursiv erzeugte Differenz, die die Gesundheitswissenschaften schon seit Längerem nach ihrem Einfluss auf Gesundheit und Wohlbefinden befragen (→ ausführlicher Kap. 9). Andere vermeintlich ‚naturgegebene‘ Unterschiede wären z.B. die Hautfarbe, die Haarfarbe, die Körpergröße oder das Körpergewicht. Alle diese Unterscheidungen und 220 Gesundheit und Krankheit als Diskurs die damit verbundenen Diskurse bergen das Potenzial, Gesundheit oder Krankheit hervorzubringen. Wenn nun Diskurse in der Lage sind, all das, was unser gesamtes Leben als individuelles, einzigartiges Wesen ausmacht, mitzugestalten, und „Gesundheit und Krankheit Grundphänomene des menschlichen Lebens [sind]“ (Borck 2016: 46), dann ergeben sich aus diskurstheoretischer Perspektive zwei Fragen: [1] Wie sehr sind Diskurse am Entstehen und Vergehen von dem beteiligt, was wir gemeinhin als Krankheit oder Gesundheit bezeichnen? [2] Sind Krankheit und Gesundheit nicht selbst wiederum das Ergebnis ganz bestimmter gesellschaftlich für bedeutsam erachteter Diskurse? Die erste Frage ist im Grunde eine klassische gesundheitswissenschaftliche Fragestellung, die nach sozial-epidemiologischen Studien verlangt, die diesen Zusammenhang klären müssten. Man könnte eine ganze Reihe von Studien zur Erforschung der sozial bedingten gesundheitlichen Ungleichheit anführen. Am Ende würde man wahrscheinlich Diskurse als ‚neu‘ entdeckte Risikofaktoren identifizieren, und die Gesundheitswissenschaften würden dabei helfen, Präventionsprogramme zu entwerfen, die uns raten bestimmte Diskurse zu vermeiden und andere vielleicht gleich fünfmal am Tag zu führen. Zweifellos wäre dies ein durchaus innovatives Vorgehen, das zum ersten Mal die vielschichtigen Wechselwirkungen zwischen Diskursen und unserem Verhalten einerseits und den Diskursen und unseren Lebensverhältnissen andererseits untersuchen würde. Doch insgesamt hält dieses Vorgehen an einer Forschungstradition fest, die immer schon davon ausgeht, dass sie in der Lage ist zu sagen, was Krankheit und Gesundheit eigentlich sind. Dabei bemerken wir gerade an den Grenzen des menschlichen Lebens (bei Geburt oder Tod), wie kontingent diese Begriffe sind und mal durch ökonomische, mal durch biologistische und ein anderes Mal durch eugenische Diskurse ‚gefüllt‘ werden. Derzeit ist es üblich, auf diesen ‚Erklärungsnotstand‘ mit der Einrichtung von Kommissionen der unterschiedlichsten Art zu reagieren. Allerdings haben es die dort geführten medizinisch-ethischen Debatten bislang eher vermieden, sich ernsthaft mit der zweiten Frage auseinanderzusetzten, also damit, ob Krankheit und Gesundheit nicht selbst das Ergebnis ganz bestimmter, gesellschaftlich für bedeutsam erachteter Diskurse sind? Krankheit als soziale Konstruktion von Wirklichkeit 221 Erst diese zweite Frage macht uns nämlich darauf aufmerksam, dass die Begriffe Krankheit, Tod, Geburt oder Gesundheit vielleicht doch nicht so einfach zu definieren sind. Vor allem der Gesundheitsbegriff stellt uns auch heute noch - wie wir im folgenden Abschnitt sehen werden - vor ganz erhebliche Definitionsprobleme. Doch gilt das Gleiche auch für die immense Summe an unterschiedlichen Krankheiten, die die Medizin seit ca. 150 Jahren akribisch untersucht und klassifiziert hat? Handelt es sich bei Krankheiten nicht um objektive, wissenschaftliche Fakten? Um diese Frage beantworten zu können, müsste sich die Medizin als Naturwissenschaft auf eben diese zweite, erkenntnistheoretische Frage einlassen. Doch „medizinische Lehrbücher verzichten gewöhnlich auf eine theoretische Einführung. Sie kommen gleich zur Sache“ (Uexküll & Wesiack 1998, S. 13). Die Medizin übergeht nämlich in der Regel das Problem des lebenden, erkennenden Beobachters, der seine Umwelt im Grunde nur mit anderen zusammen interpretieren kann. Zum Problem wird uns dabei aber nicht so sehr der durchaus berechtigte und überlebensnotwendige Versuch, die Welt nach wissenschaftlichen Methoden zu beschreiben. Zum Problem wird uns hier das normative Vorgehen der Medizin, diese Beschreibungsversuche als wissenschaftliche Fakten mit universellem Wahrheitsgehalt zu präsentieren. Der historisch vielleicht deutlichste Hinweis darauf, dass das, was wir gemeinhin als Krankheit bezeichnen, v.a. eine Begriffsbildung im Dienste unserer gegenseitigen Verständigung ist, wurde von Rudolph Virchow 1854 veröffentlicht: „Was wir Krankheit nennen, ist nur eine Abstraction, ein Begriff, womit wir gewisse Erscheinungscomplexe des Lebens aus der Summe der übrigen heraussondern, ohne dass in der Natur selbst eine solche Sonderung bestünde. Für die Darstellung und die Sprache sind solche Abstractionen eine Nothwendigkeit, weil durch sie allein das gegenseitige Verständnis ermöglicht wird; für die Praxis, für die Auffassung des einzelnen Falles müssen sie aufgegeben werden, weil sie die Gefahr mit sich bringen, über die Krankheit den Kranken, über den Begriff die Wirklichkeit zu versäumen“ (Virchow 1854: 1f.). Virchow entwarf hier in der Mitte des 19. Jahrhunderts eine erkenntnistheoretische Position innerhalb der Medizin, die das sprachliche Zustandekommen der Begriffe mit bedenken wollte. Interessant ist in diesem Zusammenhang die Sorge, die Virchow in Bezug auf die Beziehung zwi- 222 Gesundheit und Krankheit als Diskurs schen dem Arzt und seiner Patientin zum Ausdruck bringt: Vergisst die Ärztin, dass es sich bei dem Begriff der Krankheit eigentlich nur um eine diskursiv vereinbarte Verständigungsnotwendigkeit handelt, dann läuft sie Gefahr, die menschliche Wirklichkeit der Kranken darüber zu ‚versäumen‘. Innerhalb der Medizin wird dieser Gedanke erst etwa 100 Jahre nach Virchow von dem französischen Mediziner und Philosophen Georges Canguilhem mit seinen Untersuchungen des „Normalen“ und des „Pathologischen“ wieder aufgenommen (Canguilhem 2013). Für Canguilhem kommt der Mensch in seinen Bemühungen um wissenschaftliche Erkenntnis gar nicht um die Bildung von Begriffen herum. Doch geht das Leben selbst diesen Begriffsbildungen immer voraus; es ist im Grunde erst die Möglichkeit dafür, dass wir überhaupt Begriffe bilden können. Wenn nun aber das Leben - wie Canguilhem es formuliert - stets gekennzeichnet ist durch Irrtümer, Diskontinuitäten und Krisen, dann muss das Gleiche auch für das vermutet werden, was das Leben an diskursiven Erzeugnissen hervorbringt. Insofern fallen diese diskursiven Aussagen zu unterschiedlichen Zeitpunkten immer unterschiedlich aus, was die französische Soziologin Claudine Herzlich bereits in den 70er-Jahren des vergangenen Jahrhunderts folgendermaßen auf den Punkt brachte: „Gerade die unterschiedliche Art der jeweils vorherrschenden Krankheiten einer bestimmten Epoche, die Entwicklung der Medizin mit all ihren Irrwegen, mit ihren Erfolgen und mit ihrem explosionsartigen Fortschritt in den letzten hundert Jahren, […] zeigen uns, dass Kranke und Krankheit in jeder Gesellschaft unterschiedlich existieren, definiert und versorgt werden“ (Herzlich & Pierret 1991: 10). In der Tat haben wir es bei dem, was die Menschen durch die letzten 2500 Jahre hindurch alles als Krankheit bezeichnetet haben, mit einer bisweilen recht lebhaften Welt von Bildern und Metaphern zu tun. Bereits um das fünfte vorchristliche Jahrhundert herum hatten die antiken griechischen Gelehrten versucht, Krankheit nicht länger als mythologisch-schicksalhaftes Zeichen der Götter zu deuten. So wollte z.B. der griechische Arzt Hippokrates (ca. 470-360 v. Chr.) das, was in der heutigen Medizin als Epilepsie verstanden wird, nicht länger als eine Krankheit bezeichnen, die in irgendeiner „Beziehung göttlicher oder heiliger als die anderen Krankheiten [sei]“ (Hippokrates 1994: 169). Die gesamte Krankheit als soziale Konstruktion von Wirklichkeit 223 Entwicklung der Wissenschaften der damaligen Zeit war stark daran interessiert, die Erklärung der Welt aus ihrem mythologischen Überbau zu befreien. In der Folge setzten sich als Ersatz für den Diskurs, der Krankheit noch als ‚schicksalhaftes göttliches‘ Zeichen verstand, andere Diskurse durch, die teilweise bis heute in unseren Vorstellungen von Krankheit und Gesundheit erhalten geblieben sind. Gleichgewichtsdiskurs Hippokrates von Kos verfasste als einer der ersten Ärzte der Antike eine umfassende Krankheits- und Gesundheitslehre, in der Krankheit auf einem unausgeglichenen Verhältnis der vier Körpersäfte beruhte (Humoralpathologie). Auch seine Gesundheitslehre (Diätetik) beruht letztendlich auf der Wiederherstellung eines Gleichgewichts z.B. zwischen Schlafen und Wachen und zwischen Arbeit und Ruhe. Der Gedanke, dass Krankheit durch eine fehlende Balance oder irgendein Ungleichgewicht entsteht, hat sich bis heute in vielen stresstheoretischen Modellen erhalten. Gesundheit ergibt sich innerhalb dieser Vorstellung immer aus einer Art Homöostase, die entweder für die Zustände im Körperinneren oder für den Ausgleich von inneren und äußeren Anforderungen behauptet wird (Hurrelmann 2006). Damit sind aber immer auch Redeweisen verbunden, die moralisierend und normierend das Gleichgewicht mit dem erstrebenswert ‚Guten‘ verbinden und das Ungleichgewicht als das deviante ‚Schlechte‘ bezeichnen. Sündendiskurs Eine ganz andere Vorstellung von Gut und Böse entwickelte sich mit dem Aufkommen des Christentums in Europa. Etwa ab dem 4. Jahrhundert nach Chr. wurde das gesamte wissenschaftliche Denken unter die Aufsicht der kirchlichen Lehrmeinung gestellt. Die Medizin als unabhängige Wissenschaft, wie sie sich in der Antike entwickelt hatte, war etwa ab dem 8. Jahrhundert im christlich geprägten Europa nicht mehr aufzufinden. Krankheitsdiskurse waren im christlichen Deutungshorizont stets mit Redeweisen von einem Körper verbunden, der ohnehin mit dem Verfall und der Sünde im diesseitigen Leben einherging. Krankheit selbst war in diesen Vorstellungen das Ergebnis eines verfehlten, sündigen Lebens. Der Mensch konnte zu keinem Zeitpunkt sicher sein, ob er wegen seiner begangenen und zusätzlich angeborenen, ererbten 224 Gesundheit und Krankheit als Diskurs Sünde jemals wieder vor Gott Gnade finden konnte. Auch wenn die Religion heute an Bedeutung verloren hat, so hat sich die Metapher der Sünde jedoch gehalten: Wir finden sie z.B. in Form der ‚Ernährungssünde‘ oder als ‚Sündensteuer‘ auf ungesund geltende Nahrung- und Genussmittel. Kosmologiediskurs Die diätetischen Lehrsätze des Hippokrates gelangten über die islamische Welt irgendwann wieder zurück an die neu gegründeten freien europäischen Universitäten, die etwa ab dem 12. Jahrhundert zu der vorherrschenden kirchlichen Lehrmeinung immer stärker auf Distanz zu gehen versuchten. Ein gutes Beispiel für diesen neu erstarkten medizinischen Diskurs ist das sogenannte Pestgutachten, das Phillip VI. von Frankreich 1348 bei den Magistern der medizinischen Fakultät der Universität von Paris in Auftrag gab. Hier wurden alte antike Vorstellungen von einem Menschen wieder aufgenommen, der eingebunden ist in kosmologische Wirkzusammenhänge: „Sagen wir also, daß die erste und entfernte Ursache dieser Seuche eine himmlische Konstellation war und ist. Im Jahre des Herrn 1345 war nämlich eine maximale Konjunktion der drei oberen Planeten […]. Diese Konjunktion zeigt mit anderen Konjunktionen und früheren Eklipsen als gegenwärtige Ursache der tödlichen Verdorbenheit die uns umgebene Luft […]. Denn Jupiter, ein warmer und feuchter Planet, hat von der Erde und dem Wasser üble Dämpfe aufsteigen lassen. Mars aber, weil er unmäßig warm und trocken ist, hat die aufgestiegenen Dämpfe angezündet“ (zit. n. Schwalb 1990: 45). Interessanterweise hatten die Gutachter erst am Ende ihres Gutachtens dann doch noch in Aussicht gestellt, dass man in Bezug auf die Pest auch von einem ‚göttlichen Willen‘ ausgehen könne. Aber auch fast 200 Jahre nach diesem Gutachten findet man in der Krankheitslehre des Paracelsus (ca. 1493-1541) immer noch die Vorstellung eines ‚göttlichen‘ Einflusses auf die Krankheit. Auch heute sind kosmologisch ausgerichtete Gesundheitsvorstellungen keineswegs verschwunden, sondern finden sich z.B. im Rahmen von Horoskopie oder Esoterik. Krankheit als soziale Konstruktion von Wirklichkeit 225 Maschinendiskurs Mit dem immer selbstbewussteren Auftreten der Wissenschaften gegenüber der kirchlichen Lehrtradition begann im 16. Jahrhundert vor allem ein naturwissenschaftliches mechanisches Denken alle anderen wissenschaftlichen Diskurse zu durchdringen. Ein gutes Beispiel dafür ist René Descartes (1596-1650), der in seinen Schriften leidenschaftlich von der Klarheit der mathematischen Logik schwärmte und als einer der Ersten den menschlichen Körper als eine Art Maschine bzw. als ein Uhrwerk beschrieb. Etwa zu selben Zeit gelang es der Medizin, eine ganze Reihe von Vorgängen im menschlichen Körper durch physikalische Gesetze zu erklären. So markierten z.B. am Ende des 18. Jahrhunderts die dampfgetriebenen Wasserpumpen den entscheidenden Anfang der industriellen Revolution. Parallel dazu etablierten sich innerhalb der Medizin Metaphern und Erklärungsmuster, die sich bis heute in unserem Verständnis über den menschlichen Körper wiederfinden lassen. Seither sind die Beschreibungen des Inneren des menschlichen Körpers angelehnt an Metaphern aus der Physik (Pumpe, Motor, Versorgungsleitung, elektrische Kabel, Datenspeicher, Kommunikationssystem etc.). Alle Versuche, darauf hinzuweisen, dass es sich hierbei nur um Metaphern handele, änderten nichts an der Tatsache, dass die Medizin diese Metaphern gerne aufnahm, um Krankheitsursachen als physikalische bzw. chemische Vorgänge zu beschreiben. Dies führte letztendlich zu dem berühmten Zitat des französischen Chirurgen René Leriche: „Will man die Krankheit definieren, muss man den Menschen aus ihr verbannen. […]. Bei der Krankheit ist der Mensch im Grunde das Unwichtigste“ (Leriche 1936 zit. n. Canguilhem 2013: 88). Maschinenmäßige Vorstellungen von Gesundheit finden wir heute z.B. in Form der ‚Energiebilanz‘, die eine eindeutige Korrelation von Energieaufnahme und -verbrauch nahelegt. Vitalismusdiskurs Nicht alle Mediziner wollten dem mechanistischen Diskurs folgen und betonten, dass zu dem Leben des Menschen auch seine Seele dazugehöre und diese auch als Krankheitsursache infrage kommen könne. Für Georg Ernst Stahl (1695-1735) bestand der Mensch nämlich nicht einfach nur 226 Gesundheit und Krankheit als Diskurs aus physikalischen und chemischen Vorgängen, sondern die Seele war für ihn der Antrieb, der das Leben eines Menschen überhaupt erst ausmachte. In Schottland entwarf der Arzt John Brown (1735-1788) eine erste neurologische Krankheitslehre. Seiner Meinung nach waren es die inneren und äußeren Reize des Lebens, die den Menschen überfordern und krank machen können. Rückblickend könnte man sagen, dass sich die Medizin „stets in Wellen entwickelt hat. Sie hat immer auf den jeweiligen Zeitgeist reagiert und sich zuweilen von den Denkparadigmen der Zeit treiben lassen“ (Maio 2017: 118). Besonders der Streit zu Beginn des 19. Jahrhunderts zwischen den Miasmen-Theoretikern (Krankheit entsteht durch schlechte Luft) und den (sich später durchsetzenden) Kontagien-Theoretikern (Krankheit entsteht durch kleine Teilchen) zeigt in der Rückschau, dass die Medizin immer auch bereit war, „ein bestimmtes Paradigma zu verabsolutieren und alle konkurrierenden Erklärungsmodelle für überholt zu erklären“ (ebd. S. 118). Der Schädlingsdiskurs Aus diskurstheoretischer Sicht sind nun aber vor allem jene sprachlichen Begriffsbildungen von besonderer Bedeutung, die aus den Wechselwirkungen zwischen den jeweiligen gesellschaftlichen Entwicklungen und dem medizinischen Denken entstanden sind. Das krankheitsdefinierende Bemühen der Medizin fand zu keinem Zeitpunkt in einem ‚luftleeren‘ Raum statt, sondern mitten in gesellschaftlichen Diskursen. Erst rückblickend wird deutlich, dass mal die kulturellen Praxen der Gesellschaft das medizinische Denken zu bestimmen versuchten und ein anderes Mal die Metaphern der Medizin sich in die Rede- und Handlungsweisen der Gesellschaft einzuschreiben begannen. Nur so ist zu verstehen, wie sich der bakteriologische Diskurs der Medizin am Ende des 19. und mit Beginn des 20. Jahrhunderts in die Beschreibungen eines ‚Volkskörpers‘ einschleichen konnte, der vor der Invasion durch ‚schädliche‘ Elemente geschützt werden musste. Hier griff ein politischer Diskurs die Begrifflichkeit einer medizinischen Disziplin auf („Durchseuchung des Volks- Köpers“), um damit bevölkerungspolitische Maßnahmen legitimieren zu können, die im politischen Programm der arischen, großdeutschen Ideologie angestrebt waren - also Menschen wie „Schädlinge“ zu bekämpfen und entsprechend massenhaft zu ermorden. Anhand dieses Diskurses Krankheit als soziale Konstruktion von Wirklichkeit 227 haben Phillip Sarasin et al. (2007) gezeigt, wie medizinische Vorstellungen der „Schädlingsbekämpfung“ in einem anderen Zusammenhang solange sprachlich wiederholt wurden, bis die diskursiven Praxen der Medizin wie selbstverständlich auch für den Holocaust herangezogen werden konnten (vgl. auch Bauman 2012; Urban 2014: 135ff.). Jeder Versuch, Krankheit oder Gesundheit in irgendeiner Weise zu definieren, hatte und hat individuelle und gesellschaftliche Folgen. Ob wir heute von einem ‚Hexenschuss‘ sprechen oder gegen Krebs ‚in den Krieg ziehen‘ stets müssen wir uns fragen, welche Diskurse diesem metaphorischen Sprechen eigentlich vorausgegangen sind. Dem sogenannten ‚Hexenschuss‘ ging vor einigen hundert Jahren z.B. die Vorstellung eines Schadenszaubers voraus, bei dem überwiegend Frauen unter den Verdacht gestellt wurden, eine Krankheit herbeizaubern zu können. Während wir es heute als eine besonders schützenswerte moderne Errungenschaft ansehen, dass diese Zeiten mit ihren tödlichen Folgen für die betroffenen Frauen überwunden sind, und wir den akuten Rückenschmerz heute anders erklären, so rechtfertigt die Metapher eines Krieges gegen den Krebs heute eine ganze Reihe entsprechender Maßnahmen: Hat sich die Metapher vom Krieg erst einmal etabliert, dann beginnt dieser Diskurs auch alle Folgen zu rechtfertigen, die Menschen gewohnt sind mit einem Krieg zu assoziieren (Verstümmelungen, Amputationen, Traumatisierungen, Kollateralschäden, chemische Kampfstoffe etc.). Aber auch der unbedingte Gehorsam gegenüber ‚Behandlungsregimen‘ gehört ebenso zu diesem Diskurs wie die Vorstellung von einen Feind, der sich ‚invasiv‘ in unserem Körper auszubreiten versucht. Wenn die Begriffe Gesundheit und Krankheit nun aber tatsächlich zu unterschiedlichen Zeiten mit recht unterschiedlichen Redeweisen bildgewaltig diskursiv hergestellt werden, dann sind diese Begriffe möglicherweise tatsächlich nur „inhaltsleere Worthülsen, die sich aus vorgegebenen Blickrichtungen jeweils neu füllen“ (Labisch 1992: 17). Das hieße aber auch, jeder Krankheitsdefinition mit Skepsis zu begegnen und danach zu fragen, welche alternativen Diskurse bei der gegenwärtigen Definition ausgeschlossen wurden, und warum diese ‚eine‘ Definition als die gegenwärtig einzige gilt. Susan Sonntag ermahnt uns in diesem Zusammenhang davon auszugehen, 228 Gesundheit und Krankheit als Diskurs „daß Krankheit keine Metapher ist und daß die ehrlichste Weise, sich mit ihr auseinanderzusetzen - und die gesündeste Weise, krank zu sein -, darin besteht, sich so weit wie möglich von metaphorischem Denken zu lösen, ihm größtmöglichen Widerstand entgegenzusetzen“ (Sonntag 2005: 9). 8.4 Der Gesundheitsdiskurs Wie verhält es sich nun mit dem Begriff der Gesundheit? Ist Gesundheit tatsächlich auch solch eine „leere Worthülse“ (Labisch 1992), in die man alles Mögliche hinein packen kann? Wir hatten bereits zu Beginn dieses Buches davon gesprochen, dass sich für die Definition des Begriffs Gesundheit tatsächlich die Schwierigkeit ergibt, dass wir es gewohnt sind, über Gesundheit gar nicht direkt reden zu können. Weil Gesundheit in unserem Diskurs immer als der ‚Rest‘ erscheint, der übrigbleibt, wenn alle Krankheiten ausgeschlossen worden sind, ist Krankheit und nicht Gesundheit hier in der Tat immer der entscheidende, erzählerische Referenzwert. Gesundheit kommt in solch einer Vorstellung immer nur als etwas vor, das ganz unspektakulär irgendwie da ist, wenn Krankheit nicht mehr anwesend ist, weshalb es auch für den Mediziner in Sachen Gesundheit im Grunde nichts zu tun gibt (Luhmann 2005: 179). Insofern verwundert es auch nicht, dass der Medizinhistoriker Cornelius Borck beim Durchsuchen der Schlagwortverzeichnisse medizinischer Lehrbücher den Begriff Gesundheit gar nicht finden konnte und daher schlussfolgerte: „Gesundheit ist kein Gegenstand der heutigen Medizin“ (Borck 2016: 69). Gleichwohl aber müssen wir uns um unsere Gesundheit Sorgen machen, denn „wer über Gesundheit redet, redet stets über ihre Gefährdungen“ (Nassehi 2013: 2). Zugleich müssen wir uns im Krankheitsfall darum sorgen, dass unsere Gesundheit wiederhergestellt wird. Aber wird wirklich Gesundheit wiederhergestellt? Ernst Bloch hatte hier eine Vermutung, die auch für den Gesundheitsbegriff von einer gesellschaftlich sehr ambivalenten Konstruktion ausgeht: Der Gesundheitsdiskurs 229 „Gesundheit wiederherstellen, heißt in Wahrheit den Kranken zu jener Art von Gesundheit bringen, die in der jeweiligen Gesellschaft die jeweils anerkannte ist, ja in der Gesellschaft selbst erst gebildet wurde […] Gesundheit ist in der kapitalistischen Gesellschaft Erwerbsfähigkeit, unter Griechen war sie Genussfähigkeit, im Mittelalter Glaubensfähigkeit“ (Bloch 1959: 539). Die Medizin wäre demnach zwar immer noch eine Wissenschaft, die sich mit Krankheit beschäftigt, doch mit Blick auf ihre Funktion wäre sie nur eine bestimmte Sozialtechnologie, die der Gesellschaft dabei hilft, das wiederherzustellen, was die jeweilige Gesellschaft gerade für erstrebenswert hält. Wir hatten bereits bei Rudolph Virchow gesehen, dass er Medizin eigentlich auch als eine soziale Wissenschaft verstehen wollte, die dabei helfen sollte, bestimmte demokratische Verhältnisse herbeizuführen. Und auch fast 100 Jahre nach Virchow findet man bei dem Schweizer Medizinsoziologen Henry E. Sigerist (1891-1957) eine ähnliche Formulierung. Für ihn konnte man gar nicht genug betonen, dass die „Medizin eine soziale Wissenschaft“ ist, die den Menschen dabei helfen soll, sie zu „nützlichen Mitgliedern der Gesellschaft“ (Sigerist 1946: 127) zu machen. Diese Idee wird zehn Jahre später von dem USamerikanischen Soziologen Talcott Parsons aufgenommen und mit einer Definition von Gesundheit versehen, die Gesundheit mit Blick auf ihre Funktion innerhalb der Gesellschaft beschreibt: „Die Gesundheit ist offenbar eine der funktionalen Vorbedingungen eines jeden sozialen Systems. Fast alle Definitionen zählen sie zu den funktionalen Bedürfnissen des einzelnen Mitgliedes einer Gesellschaft, so dass ein zu niedriges Niveau der Gesundheit und ein zu häufiges Auftreten von Krankheiten dysfunktional im Hinblick auf das Funktionieren eines sozialen Systems sind; das zunächst deswegen, weil Krankheit die Erfüllung sozialer Rollen unmöglich macht“ (Parsons 1958: 10). Einige Jahre später wiederholte Parsons die bereits von Ernst Bloch geäußerte Vermutung, dass körperliche Gesundheit im Grunde nur ein „Zustand optimaler Fähigkeit zur wirksamen Erfüllung von für wertvoll gehaltenen Aufgaben [ist]“ (Parsons 1972: 60). Damit wird deutlich, dass diese ‚Aufgaben‘ eben nur von dieser Gesellschaft für wertvoll gehalten werden und eine andere Gesellschaft zu einer anderen Zeit - wie Ernst Bloch es annahm - zu ganz anderen Schlüssen kommen könnte. Aber 230 Gesundheit und Krankheit als Diskurs noch etwas fällt an Parsons Definition auf: Das therapeutische Bemühen der Medizin und auch die Vorhaben von Gesundheitsförderung und Prävention sind gar nicht in erster Linie an irgendeiner Gesundheit des Individuums interessiert, sondern daran, dass der Einzelne in einem sozialen Sinn wieder „rollenfähig“ (Bär 2016: 119) wird. Jede soziale Gemeinschaft kennt bestimmte soziale Rollen und knüpft mehr oder weniger unausgesprochen auch Erwartungen an diese Rollen. Da der Begriff der Gesundheit, wie wir oben gesehen haben, ohnehin eher schwach determiniert ist, kann er leicht von der gegenwärtigen Gesellschaft als ‚Leistungsfähigkeit‘ begriffen werden. Nun hatte die Weltgesundheitsorganisation (WHO) aber bereits 1946 eine Definition von Gesundheit angeboten, in der gar nicht von Leistungsfähigkeit die Rede war. Zugleich wollte die WHO mit ihrer Definition ebenfalls auch der Vorstellung entgegentreten, Gesundheit wäre irgendein ‚Rest‘, der rechnerisch übrigbleibt, wenn alle ‚Gebrechen‘ abgezogen werden. Dementsprechend formulierten die damals zuständigen Personen: „Die an dieser Verfassung beteiligten Staaten erklären in Übereinstimmung mit der Satzung der Vereinten Nationen, dass die folgenden Grundsätze für das Glück aller Völker, für ihre harmonischen Beziehungen und ihre Sicherheit grundlegend sind: Die Gesundheit ist ein Zustand des vollständigen körperlichen, geistigen und sozialen Wohlergehens und nicht nur das Fehlen von Krankheit oder Gebrechen. Der Besitz des bestmöglichen Gesundheitszustandes bildet eines der Grundrechte jedes menschlichen Wesens, ohne Unterschied der Rasse, der Religion, der politischen Anschauung und der wirtschaftlichen oder sozialen Stellung. Die Gesundheit aller Völker ist eine Grundbedingung für den Weltfrieden und die Sicherheit; sie hängt von der engsten Zusammenarbeit der Einzelnen und der Staaten ab“ (WHO 1946). Für die WHO war es zu dem damaligen Zeitpunkt wichtig, von einer umfassenden Definition auszugehen, die alles Körperliche, Geistige und Soziale mit einschließen sollte. Allerdings ist es den Gesundheitswissenschaften bis heute nicht wirklich gelungen, diese drei Bereiche in ihren Wechselwirkungen hinreichend zu verstehen und daraus erfolgversprechende Interventionskonzepte abzuleiten. Vielmehr verstellt auch heute noch der Rückzug der Krankheits- und Gesundheitsdefinitionen auf das Körperliche, das zudem mit naturwissenschaftlichen Mitteln als eine Zusammenfassung ・ 231 eindeutig vorhersagbare Objektivität beschrieben wird, den Blick auf das Geistige und Soziale, das nicht materieller Natur und für die Beobachtenden entsprechend schwer zu bestimmen ist. Zusammenfassung Diskurse sind Systeme des Denkens und Sprechens, die das Was und Wie unserer Wahrnehmung prägen und damit den Bereich des Sag-, Denk- und Lebbaren abstecken. Auf diese Weise ‚produzieren‘ Diskurse nicht nur materielle Tatsachen, abstrakte Begriffe und bestimmte Handlungen, sondern auch gesellschaftliche Verhältnisse. Diskurse erzeugen Ordnung und realisieren ihre Steuerungs- und Kontrollfunktion dadurch, dass sie dazu in der Lage sind, alternative Diskurse praktisch auszuschließen. Solche Ausschließungen realisieren sich durch Verbote, Grenzziehungen und den ‚Willen zur Wahrheit‘. Definitionen von Krankheiten sind diskursiv erzeugte Konstruktionen und mithin Abstraktionen. Gerade der historisch differente Umgang der Medizin mit Krankheiten und ihre wechselnden Erklärungsversuche zeigen, dass Krankheiten in jeder Gesellschaft unterschiedlich existieren sowie verschieden definiert und versorgt werden. Auch für Gesundheit gibt es viele unterschiedliche Definitionen, eine eindeutige Definition gibt es hingegen nicht. Die unterschiedlichen Definitionen und Vorstellungen von Gesundheit verweisen dabei in der Regel auch auf die je spezifischen Interessen und Bedürfnisse derjenigen, die die entsprechende Definition plausibel machen und diskursiv durchsetzen wollen. 232 Gesundheit und Krankheit als Diskurs Literatur Badura, B., Greiner, W., Rixgens, P., Ueberle, M. & Behr, M. (2013). Sozialkapital: Grundlagen von Gesundheit und Unternehmenserfolg. Berlin: Springer-Verlag. Bär, S. (2016). Soziologie und Gesundheitsförderung. Einführung für Studium und Praxis. Weinheim und Basel: Beltz Juventa. Bauch, J. (2004). Krankheit und Gesundheit als gesellschaftliche Konstruktion. Gesundheits- und medizinsoziologische Schriften 1979-2003. Konstanz: Hartung-Gorre Verlag. Bauman, Z. (2005). Moderne und Ambivalenz. Hamburg: Hamburger Edition HIS. Bauman, Z. (2012). Dialektik der Ordnung. 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Frankfurt a.M.: Suhrkamp. 9 Körper- und geschlechtersoziologische Perspektiven auf Gesundheit Lehrziele In diesem Kapitel erfahren Sie … warum der Mensch einerseits sein Körper ist und andererseits seinen Körper hat; warum der Körper gleichermaßen Produkt und Produzent von Gesellschaft und Kultur ist; warum es gerade aus körpersoziologischer Perspektive zu kurz greift, Gesundheit vor allem unter biologisch-körperlichen Aspekten zu betrachten; warum man zwischen Sex und Gender unterscheidet und was man unter Doing Gender versteht; inwieweit Geschlechterrollen mit Blick auf den Umgang mit Gesundheit und Krankheit von Bedeutung sind. Körper und Gesundheit scheinen auf den ersten Blick zwei Themenbereiche zu sein, die unmittelbar zusammengehören. Betrachtet man allerdings die Gesundheitswissenschaften einerseits und die Körpersoziologie andererseits, dann stellt man schnell fest, dass die zunächst augenscheinliche Nähe der beiden Begriffe in diesen Wissenschaftsbereichen so nicht besteht. Zum einen bedienen sich die Gesundheitswissenschaften und Public Health allenfalls ausnahmsweise körpersoziologischer Ansätze, was insofern erstaunt, weil es ja immerhin menschliche Körper sind, die erkranken, die abgetastet, behandelt, gepflegt und geheilt werden, deren Gesundheit gefördert und deren Erkrankung vorgebeugt wird und die schließlich - am Ende des Lebens - sterben müssen. Andererseits machen körpersoziologische Arbeiten Gesundheit nur selten explizit zu 238 Körper- und geschlechtersoziologische Perspektiven auf Gesundheit ihrem Thema: In dem jüngst erschienen, zweibändigen „Handbuch Körpersoziologie“ (mit insgesamt ca. 900 Seiten) finden sich in den Titeln der Beiträge zwar Begriffe wie Genetik, Geschlecht, Sexualität, Bewegung, Sport, Altern, Schönheit und Attraktivität - Gesundheit sucht man dort allerdings vergebens (vgl. Gugutzer et al. 2017a, 2017b). Im vorliegenden Buch haben wir u.a. in → Kap. 3 kurz auf den Körper Bezug genommen. Dort war vom Habitus die Rede, der für Bourdieu (1982: 307f.) bedeutet, dass sich die schichtspezifischen Umgangsformen und Vorlieben, der Lebensstil und die Sprechweise, der Geschmack und die Gewohnheiten des Denkens, Fühlens und Handelns gewissermaßen von Geburt an in den menschlichen Körper einschreiben. Allgemeiner formuliert: „Der Leib ist Teil der Sozialwelt - die Sozialwelt Teil des Leibes“ (Bourdieu & Wacquant 1996: 41). Insofern kann man sagen: Unser körperliches Sein und Verhalten, aber auch unsere körperlichen Bedürfnisse sind immer auch Ergebnis und Ausdruck unserer sozialen und kulturellen Herkunft und unserer gesellschaftlichen Position. Solche Wechselwirkungen zwischen Gesellschaft und Körper sind gerade auch für die Gesundheitswissenschaften bedeutsam, weil auf diese Weise deutlich wird, dass der menschliche Körper (ebenso wie die Gesundheit) nicht nur ein biologisches, sondern immer auch ein sozial und kulturell geprägtes Phänomen ist. Beginnen wollen wir unsere Überlegungen aber mit der Frage, was man unter Körper zu verstehen hat. 9.1 Körper sein und Körper haben Die Frage, was der Körper sei, wird in der Soziologie recht unterschiedlich beantwortet. Eine wichtige Differenzierung stammt dabei von dem Philosophen Helmuth Plessner (1892-1985), der nach dem Verhältnis des Menschen zu seinem Körper fragte. Für Plessner (1975) hat dieses Verhältnis zwei Ausprägungen oder Dimensionen, die man zwar analytisch trennen kann, die aber zugleich immer miteinander verwoben sind: Zum einen hat der Mensch seinen Körper und zum anderen ist der Mensch sein Körper - auf diese beiden Weisen ist dem Menschen sein Körper gegeben. Wie muss man das verstehen? Der Mensch ist sein biologischer Körper (Skelett, Organe, Arme, Beine, Sinnesorgane, Hormone etc.). Er ist sein lebendiger Leib, mit dem er Körper sein und Körper haben 239 spürt und den er spürt, der ihm Hunger, Durst und Schmerzen, aber auch Lust, Genuss und andere angenehme Befindlichkeiten bereitet, der müde wird, der altert usw. Dieses leibliche Körper-Sein, so Gugutzer (2015: 13), binde den Menschen an das Hier und Jetzt und mache es ihm unmöglich, gleichzeitig hier und woanders zu sein. Zugleich habe der Mensch seinen Körper aber auch, und zwar in dem Sinne, dass er zu sich selbst in Distanz treten und seinen Körper gewissermaßen zum Gegenstand oder auch zum Werkzeug machen könne: Zum einen könne er sich selbst reflektieren, zum anderen „auf seinen Körper wie auf andere Dingkörper zugreifen und ihn instrumentell oder expressiv nutzen, wobei das Humanspezifische darin besteht, dass der Mensch um dieses Können weiß“ (Gugutzer 2015: 14). Während uns aber das Körper-Sein bzw. unser Leib von Geburt an (und im Grunde schon davor) gegeben ist, muss das Körper-Haben (also die instrumentelle und expressive Nutzung des Körpers bzw. kulturspezifischer Körperpraktiken) im Rahmen der Sozialisation gelernt und angeeignet werden: Wir lernen zu gehen und zu sprechen, zu spucken und die Nase zu schnauben, uns zu waschen, zu kleiden und zu ernähren, mit Hammer und Zange zu arbeiten, Computer und Handy zu benutzen, Schmerzen zu ertragen und Nasenbluten zu stillen, Volleyball zu spielen und Kanu zu fahren usw. Alles das können wir nicht, wenn wir zur Welt kommen, sondern müssen es uns aneignen, und zwar in der spezifischen Kultur und Gesellschaft, in die wir hineingeboren wurden. Insofern ist der menschliche Körper „einerseits Teil der Natur und als solcher deren Gesetzen unterworfen […]. Andererseits aber unterscheidet sich die Art und Weise, wie diese natürliche Seite des Körpers wahrgenommen, bewertet und gelebt wird, je nach Epoche, Kultur und Gesellschaft“ (Gugutzer 2015: 8). Dabei kann die Unterscheidung von Körper-Haben und Körper-Sein bzw. zwischen Körper und Leib immer nur eine analytische sein, denn im praktischen Leben sind dem Menschen Körper und Leib „ein unaufhebbarer Doppelaspekt seiner menschlichen Existenz, eine Einheit in der Zweiheit“ (Gugutzer 2015: 14). Das heißt, Körper und Leib sind immer miteinander verbunden, so dass der Mensch in seinem Alltagshandeln stets als „Körperleib“ (Villa 2007: 10) verstanden werden muss. Das bedeutet aber zugleich, dass nicht nur der Körper, sondern auch der Leib bzw. das leibliche Spüren kulturell geprägt ist. Zwar sei das leibliche 240 Körper- und geschlechtersoziologische Perspektiven auf Gesundheit Spüren, so Paula-Irene Villa (2007: 10), „radikal subjektiv“, weil man es nur für sich selbst empfinden könne; sobald man es anderen Menschen mitteile, erfolge dies mittels der Sprache und damit nicht mehr im gleichen Modus. „Zugleich aber ist die leibliche Ebene keine Wirklichkeit jenseits der sozialen Konstitution - auch das leibliche Spüren wird von Sozialisationsprozessen geprägt. Sozialisations- und Lernprozesse beinhalten nämlich immer auch die Aneignung bzw. Auseinandersetzung mit Körperwissen, das heißt mit den intersubjektiv geteilten Chiffren für unsere gefühlten Erfahrungen (wie etwa die Bewertungen schön, gesund, krank, angenehm, schmerzhaft usw.)“ (Villa 2007: 10). Für das Nachdenken über Gesundheit und Krankheit und mithin für die Gesundheitswissenschaften ist die analytische Unterscheidung zwischen Körper und Leib vor allem auch deswegen bedeutsam, weil sie zugleich auf die unhintergehbare Verschränkung von natürlichem und kulturell geprägtem Körper verweist. Ein körpersoziologisch orientiertes Nachdenken über Gesundheit und Krankheit muss daher in Rechnung stellen, dass weder körperliche Beschwerden und Erkrankungen noch körperliche Gesundheit, Geburt oder Tod ausschließlich als natürliche oder biologische Tatsachen zu behandeln sind. Vielmehr sind diese Phänomene stets eingebettet in entsprechende Diskurse und Wissensbestände, die sich insgesamt als Körperwissen fassen lassen. 9.2 Wissen über den Körper und Wissen des Körpers In Gesellschaften existieren ganz unterschiedliche Formen von Körperwissen. Mit Reiner Keller und Michael Meuser (2011: 9f.) lassen sich dabei mindestens die folgenden fünf Wissensformen unterscheiden: [1] Zunächst gibt es, erstens, das Wissen, das wir als Individuen im Laufe unseres Lebens über unseren eigenen Körper erwerben, das heißt Wissen über das, was uns gut tut und uns Lust bereitet, aber auch was uns schadet und Schmerzen verursacht, über Verletzungen und Heilungsprozesse, über die Veränderungen des Körpers und seiner Leistungsfähigkeit im Lebenslauf, über die „körperlichen ‚Neigungen zur Eigensinnigkeit‘ und [die] mehr oder weniger erfolgreichen Stra- Wissen über den Körper und Wissen des Körpers 241 tegien zur Überlistung der eigenen Körperlichkeit“ (Keller & Meuser 2011: 9) usw. [2] Dieses leibliche Wissen ist eingebettet in eine zweite Form des Körperwissens, nämlich das gesellschaftliche, kulturell tradierte Körperwissen, das wir im Rahmen der Sozialisation und im Kontext unserer alltäglichen Handlungspraxen aufnehmen und uns aneignen. [3] Neben diesem kulturell-alltäglichen Wissen wiederum existieren, drittens, Formen von Spezialwissen, die Keller & Meuser auch als verallgemeinertes, objektiviertes Körperwissen bezeichnen: Dabei handelt es sich nicht nur um das Wissen von Heilern, Hebammen und Medizinerinnen, sondern auch um die Wissensbestände verschiedener Institutionen, die ebenfalls auf den Körper zugreifen, wie z.B. die Polizei, das Militär oder der Sport, aber auch die Krankenversicherungen oder andere Unternehmen, die Körperdaten über so genannte Gesundheits- und Fitness-Apps erheben: „In modernen Gesellschaften konstruieren die wissenschaftliche Medizin bzw. die verschiedenen Naturwissenschaften, aber auch unterschiedlich interessierte Organisationen, ein umfangreiches, permanent in Veränderung begriffenes Wissen über menschliche Körperlichkeit, zu unterschiedlichsten Zwecken: Erkenntnis, Fürsorge, Heilung, Therapie, Enhancement […] oder einfach nur: Gewinn“ (Keller & Meuser 2011: 9). [4] Vor allem das Enhancement, also die Verbesserung und Optimierung körperlicher Zustände durch entsprechende Körpertechniken bildet einen vierten Bereich von Körperwissen, auf den wir im folgenden → Kap. 9.3 noch gesondert eingehen werden. [5] Neben diesen vier Formen von Körperwissen, die sich vor allem auf ein Wissen über den Körper beziehen, existiert für Keller & Meuser (2011: 10) als fünfte Wissensform auch noch ein Wissen des Körpers. Dazu zählen all jene Körpertechniken oder -handlungen, die ablaufen, ohne dass wir über sie nachdenken müssten oder sie reflektieren würden, also z.B. routinisierte oder habitualisierte, man könnte sagen: selbstverständliche körperliche Handlungsabläufe. 242 Körper- und geschlechtersoziologische Perspektiven auf Gesundheit „Ein grundlegendes Beispiel dafür sind neben den körperlichen Basismechanismen des Gehens, Greifens, Fühlens usw. sicherlich reflexartige Körperreaktionen mit schützender Funktion: die Veränderung der Pupillen bei Helligkeit, das Abstützen durch die Hände beim Fallen, Intuition und Gespür, das richtige Händchen und dergleichen mehr“ (Keller & Meuser 2011: 10). Diese unterschiedlichen Formen des Wissens über den Körper und des Körpers bilden das, was Keller & Meuser „das komplexe Gespinst gesellschaftlicher Körperwissensverhältnisse“ (ebd.) nennen. Dabei wird davon ausgegangen, dass das Wissen über den Körper und das Wissen des Körpers in einem wechselseitigen Bedingungsverhältnis zueinander stehen: Zum einen geht das kulturelle und gesellschaftliche Wissen über den Körper auch in das Wissen des Körpers ein, wird also vom Individuum inkorporiert (also einverleibt). Zum anderen prägt aber auch das Wissen des Körpers, indem es kommuniziert wird und in Interaktionen zur Anwendung kommt, auch die Wissensbestände über den Körper: Beides, so formuliert Hubert Knoblauch (2012: 110), „die Inkorporation ebenso wie die (wenn man so sagen darf) Exkorporation machen den Körper zum Kulturkörper: zum kultivierten und gleichzeitig zum kulturschaffenden Körper“. Der Körper ist somit gleichermaßen Produkt und Produzent von Gesellschaft und Kultur: Er ist Produzent von Gesellschaft, weil alles menschliche Handeln immer auch körperliches Handeln ist und insofern zur Konstruktion sozialer Wirklichkeit beiträgt. Und er ist Produkt der Gesellschaft, weil der Umgang mit dem Körper, die ihn betreffenden Bilder und Wissensbestände, aber auch das Spüren des Körpers von gesellschaftlichen Strukturen und Normen, Ideen und Technologien mitbestimmt wird: „Wie ich mich spüre, gibt mir das Wissen vor, das ich vom Körper habe. In modernen Gesellschaften ist es vor allem (natur-)wissenschaftliches, und hierbei wiederum besonders medizinisches Wissen, das unsere Leiberfahrungen prägt. Weil ich weiß, dass ich einen hohen Cholesterinwert habe, schmeckt mir fettiges Essen nicht mehr, habe ich Schuldgefühle, wenn ich doch welches esse, oder steigt meine Lust auf fettiges Essen, gerade weil ich es nicht zu mir nehmen sollte“ (Gugutzer 2015: 22). Wissen über den Körper und Wissen des Körpers 243 Das Wissen über den Körper beeinflusst also unsere Leiberfahrungen und unser leibliches Spüren, was gerade auch im Kontext von Gesundheit und Krankheit bedeutsam zu sein scheint. Wie stark der vermeintlich ‚natürliche‘ Körper dabei von gesellschaftlichen und sozialen Wissensbeständen beeinflusst ist, zeigt z.B. der so genannte Placeboeffekt: Dieser liegt vor, wenn die Gabe einer Medizin (z.B. einer Tablette) eine therapeutische Wirkung beim Patienten erzielt, obwohl diese Tablette gar keinen Wirkstoff enthalten hat. Es entsteht also eine körperliche Wirkung, die nicht auf einen Wirkstoff zurückzuführen ist, sondern darauf, dass der Patientenkörper die Wirkung gewissermaßen weiß und erwartet, weil er eine bestimmte kulturelle Vorstellung vom Sinn und Gebrauch sowie der Wirkung von Tabletten entwickelt hat. Ähnlich verhält es sich mit dem ‚Nocebo-Effekt‘: Hierbei wird die Nebenwirkung eines Medikamentes oder einer Behandlung gerade dadurch erzeugt, dass im Beipackzettel oder im Kontext eines ärztlichen Aufklärungsgespräches über das mögliche Auftreten dieser Nebenwirkung informiert wird: Die ‚körperliche‘ Nebenwirkung ist also im Wesentlichen das Resultat einer entsprechenden Erwartungshaltung (Zech et al. 2015). Ein anderes, besonders anschauliches Beispiel für den Einfluss von Wirkungswissen auf das körperliche Spüren und Wahrnehmen lieferte in den 1970er-Jahren eine Untersuchung des US-amerikanischen Psychologen Gordon Alan Marlatt (1978). Der Wissenschaftler hatte eine Gruppe von Studierenden gebeten, in sozialer Umgebung Alkohol zu trinken und im Anschluss einen Fragebogen auszufüllen. Dabei wussten alle Teilnehmenden, dass nur die Hälfte von ihnen ihren Wodka-Tonic mit Alkohol bekommen würde. Zugleich wurde aber der Hälfte derjenigen, die tatsächlich Alkohol bekamen, gesagt, sie erhielten keinen Alkohol, und der Hälfte jener, die keinen Alkohol erhielten, wurde mitgeteilt, dass sie Alkohol bekommen würden. Nach einigen Drinks zeigten sich Unterschiede in der Wirkung, die aber vor allem davon abzuhängen schienen, welche Informationen die Studierenden erhalten hatten: Studierende, die lediglich glaubten, Alkohol erhalten zu haben, benahmen sich ebenso ungehemmt und fröhlich und zeigten einen vergleichbaren Verlust der motorischen Kontrolle wie diejenigen Studierenden, die tatsächlich Alkohol getrunken hatten und hierüber auch informiert waren. Die Studierenden hingegen, denen mitgeteilt worden war, alkoholfreie Getränke 244 Körper- und geschlechtersoziologische Perspektiven auf Gesundheit erhalten zu haben, berichteten übereinstimmend, sie hätten keine Wirkung verspürt, obwohl die Hälfte dieser Personen tatsächlich Wodka- Tonic getrunken hatte (Blätter 2007: 90). Die Wirkung der Getränke war also vor allem durch das Wissen und die Erwartungen der Beteiligten geprägt, der Alkohol als psychoaktive Substanz scheint dabei eine untergeordnete Rolle gespielt zu haben. Vergleichbare Phänomene werden auch hinsichtlich einer ‚Suchtkrankheit‘ konstatiert. So bezeichnet z.B. Craig Reinarman (2005: 34 ff.) „Sucht als interaktionale Errungenschaft“: ‚Abhängige‘ würden von Ratgebern, Therapeuten usw. stets dazu angehalten, ihr Leben und Verhalten im Lichte des Deutungsmusters ‚Sucht als Krankheit‘ zu interpretieren. Deshalb seien Darstellungen, die ‚Süchtige‘ über ihr Handeln und ihre Art des Drogenkonsums abgäben, nicht ungezwungene, objektive Beschreibungen einer eindeutigen Realität, sondern Ergebnis eines Prozesses, „in dem Abhängige wieder und wieder ihre neu wiederhergestellte Lebensgeschichte erzählen gemäß der grammatischen Regeln des Krankheitsdiskurses (bzw. Suchtdiskurses; d. A.), den sie gelernt haben“ (Reinarman 2005: 35). Wie deutlich sich solcherlei Diskurse verkörperlichen können, zeigt auch eine Beobachtung von Norman E. Zinberg aus den 1970er-Jahren, nach der sich die Entzugserscheinungen bei ‚heroinabhängigen‘ US-amerikanischen Soldaten in Vietnam sehr stark, aber in spezifischer Weise unterschieden: Während sich die von den Soldaten beschriebenen Entzugserscheinungen von Stationierungseinheit zu Stationierungseinheit unterschieden, stimmten sie innerhalb der jeweiligen Einheit überein. Die Männer inkorporierten also gleichsam das Wissen, wie ein Entzug in den jeweiligen Einheiten auszusehen hatte und verkörperten ihn dann entsprechend (Schmidt-Semisch & Dollinger 2017: 133). Diese Beispiele aus dem Bereich der ‚Sucht‘ sind für eine Soziologie der Gesundheit insofern besonders interessant, weil es sich dabei um Phänomene handelt, die im Kontext medizinischer Diskurse zwar regelhaft auf körperlich-biologische und pharmakologische Prozesse zurückgeführt werden, die diese Phänomene allerdings nicht hinreichend erklären können. Eine Soziologie der Gesundheit hätte danach zu fragen, wie sich ‚Sucht‘ über Experten-, Medien- und Alltagsdiskurse in die Körper einschreibt und durch einen Komplex an Handlungen und Deutungen reproduziert wird. Im Anschluss an den oben angesprochen „Kulturkör- Körperbilder - Köperideale - Körperkult 245 per“-Ansatz von Knoblauch (2012) könnte man hier von einem „Suchtkörper“ sprechen, an dessen dinglicher Gestaltung „eine ganze Kultur beteiligt ist: Sie ist nicht nur daran beteiligt, was in den Körper an Wissen eingeht. Sie ist auch daran beteiligt, was der Körper zum Ausdruck bringt und kommuniziert. Und schließlich bildet sie den Rahmen dessen, wie der Körper selbst behandelt wird“ (Knoblauch 2012: 110). Diese Wechselwirkungen betreffen nun keineswegs nur den ‚Suchtkörper‘, sondern in je spezifischer Weise alle von Krankheitsdiskursen betroffene Körper: den adipösen und den allergischen Körper, den ADHS- Körper gleichermaßen wie den AIDS-Körper, den von Rheuma oder Krebs befallen Körper, den diabetischen und den demenziellen Körper, den gehandicapten Körper, den Körper im Rollstuhl usw. Wie sich diese Wechselwirkungen gestalten, auf welche Normen und Werte die entsprechenden Diskurse Bezug nehmen, mit welchen Bildern und Metaphern sie arbeiten usw. ist dabei kulturell und historisch höchst unterschiedlich. Dies wiederum betrifft aber nicht nur die Vorstellungen vom kranken Körper, sondern ebenso auch die Bilder und Ideale des gesunden Körpers, der den Menschen in den vergangenen Jahrzehnten immer wichtiger geworden zu sein scheint. 9.3 Körperbilder - Köperideale - Körperkult Wir haben gesehen, dass Krankeitsdiskurse jene Körper prägen, die von ihnen betroffen sind. Das gleiche gilt auch für Bilder vom ‚gesunden‘, vom ‚guten‘ oder ‚richtigen‘ Körper: Körperbilder und Körperideale sind dabei einerseits mit historisch wandelbaren Vorstellungen von Gesundheit und Krankheit, Schönheit und Attraktivität, Stärke und Schwäche usw. verbunden, andererseits aber auch mit unterschiedlichen Konzepten des Körpers. In → Kap. 1 hatten wir von der Entstehung der Soziologie gesprochen, die zu Beginn des 19. Jahrhunderts und damit zu einer Zeit erfolgte, als es zu tiefgreifenden sozialen Veränderungen und Verunsicherungen des gesellschaftlichen Zusammenlebens gekommen war. Mit Thomas Schwietring (2011: 129) hatten wir in diesen Entwicklungen vor allem einen intellektuellen Umbruch gesehen, mit dem eine neue Sicht auf die vertraute Wirklichkeit und damit auch ein neues Menschen- 246 Körper- und geschlechtersoziologische Perspektiven auf Gesundheit bild entstand, also eine neue Vorstellung vom Menschen und seinem Verhältnis zur Welt: Von nun an war es nicht mehr Gott, der die Welt und die in ihr herrschende Ordnung erschaffen hatte, sondern es ist der Mensch, der die Welt immer wieder neu erschaffen und gestalten muss. Und dieses neue Denken betrifft auch den menschlichen Körper: „Der gesunde Körper wird im Zuge des Rationalisierungsprozesses nicht länger als gottgewolltes Faktum hingenommen, sondern zu einer Sache der Gestaltung, zu einem durch rationale, diätetische Lebensführung erlangbaren Gut. In Folge einer fortschreitenden ‚Individualisierung des Körpers‘ […] muss sich das Individuum seiner Gesundheit und seines Körpers zunehmend selbst annehmen“ (Schroer & Wilde 2016: 260). Zu Beginn des 21. Jahrhunderts hat diese Individualisierung des Körpers solche Formen angenommen, dass die Entwicklung und Erscheinung des Körpers auf eine Weise in der Verantwortung der Subjekte liegt, dass ihnen nicht nur die körperlichen ‚Erfolge‘, sondern auch alle vermeintlichen „Unzulänglichkeiten des Körpers als individuelles Versagen zugerechnet werden“ (Schroer 2012: 20; → hierzu auch die Ausführungen in Kap. 7). Dieser Konzeptualisierung des Körpers entsprechen die Subjekte, indem sie bereitwillig auf eine unüberschaubare Vielzahl an Körperpraxen zurückgreifen, die ihnen von unterschiedlichen Anbietern offeriert werden: Das Spektrum reicht dabei u.a. vom Joggen um den See, Yoga in der Mittagspause oder Wellness nach Feierabend über verschiedene Formen von Diäten und Extremsportarten bis hin zu Neuro- Enhancement, Schönheitsoperationen oder der Einnahme von Potenz-, Aufputsch- oder Dopingmitteln. Rund um das Thema Körper und Gesundheit, so Schroer (2012: 20), sei ein gewaltiger Markt entstanden, wobei dieser Körperboom mittlerweile eine komplette Industrie finanziere. Aber auch wenn dieser durchökonomisierte Körperboom ein enormes und unüberschaubares Ausmaß angenommen hat, so lassen sich mit Gugutzer (2016) diese vielfältigen Körperpraxen doch idealtypisch in drei große Bereiche unterscheiden, „die das breite Sinnangebot des gegenwärtigen Körperkults“ (ebd.: 143) systematisieren. Gugutzer unterscheidet dabei die drei Typen: [1] Body-Styling, [2] Body-Tuning und [3] Body-Caring, wobei er jeweils den Sinnkomplex, das Körperkonzept und das entsprechende Identitätsprojekt herausarbeitet. Körperbilder - Köperideale - Körperkult 247 [1] Beim Body-Styling handelt es sich um einen zentralen Typus des Körperkultes, bei dem die entsprechenden Körperpraktiken insbesondere auf Schönheit bzw. Verschönerung zielen: „Der dominante Sinnkomplex, auf den die individuellen und sozialen Handlungen hier ausgerichtet sind, ist Ästhetik“ (ebd.). Die entsprechenden Körperpraktiken reichen vom Färben der Haare, der Wimpern, der Fingernägel etc. über Tätowierungen und Piercings, Haarentfernungen und Haartransplantationen bis hin zu Schlankheitsdiäten und den diversen chirurgischen Möglichkeiten der Körperverschönerung, der Body- Modification oder auch der „Ethnochirurgie“ (Reuter 2017: 93). Das dahinterliegende Körperkonzept, so Gugutzer, sei „die Vorstellung vom Körper als einem Werk bzw. einem Kunstwerk, das durch selbst- oder fremdgeleistete Arbeit geschaffen wird, mitunter geradezu neu erschaffen wird. Der Körper fungiert im Typus body-styling als bloßes Material, das bearbeitet wird, um einem ästhetischen Ideal zu entsprechen“ (Gugutzer 2016: 144). Der Körper werde hier sehr deutlich nicht als Schicksal betrachtet, sondern als ein mach- und gestaltbares Objekt. Weil dabei jede Körperthematisierung zugleich immer eine Selbstthematisierung sei, entspreche die ästhetisch motivierte Gestaltung des eigenen Körpers zugleich einer Gestaltung des eigenen Selbst und sei mithin als Identitätsarbeit zu verstehen. [2] Beim Body-Tuning geht es hingegen nicht um Schönheit, sondern um Potenz und eine Verbesserung und Steigerung der körperlichen Funktionalität und Leistungsfähigkeit, wobei Gugutzer (2016: 145) als die wichtigsten Handlungsfelder Sport und Sexualität benennt. Die typischen Körperpraktiken sind hierbei technologischpharmakologische, die auf die Manipulation des gesunden Körpers zielen. Neben der eigentlichen sportlichen bzw. körperlichen Betätigung bzw. dem Training reichen sie von der Einnahme von Nahrungsergänzungsmitteln oder Eiweißpräparaten über Aufputsch-, Schmerz- und Dopingmittel bis hin zu Neuro-Enhancement (dem sog. Hirndoping) oder der Einnahme von Viagra etc. Das Körperkonzept, so Gugutzer (2016: 145f.), sei hier das der Maschine: Dazu gehöre die Vorstellung, dass der Körper zu funktionieren habe und, sobald er nicht mehr funktioniere, dass er repariert, ausgebessert, 248 Körper- und geschlechtersoziologische Perspektiven auf Gesundheit wiederhergestellt werden könne. „Der Maschinenköper hat leistungsfähig zu sein, sollte seine Leistung nachlassen, kann mit legalen und manchmal illegalen Mitteln und Methoden nachgeholfen werden, bis sie wieder stimmt“ (ebd.). Das dahinter stehende, subjektive Ziel dieser Körperpraktiken sei Macht bzw. ein Identitätsentwurf der Selbstermächtigung, wobei das Machtgefühl aus dem zweifelsfrei sichtbaren und spürbaren Erfolg resultiere. [3] Der dritte Typus ist das von Gugutzer (2016: 147) so genannte Body- Caring, bei dem es vor allem um solche Körperpraktiken geht, „die in einem umfassenden Sinne dem subjektiven Gesundheitszustand und Wohlbefinden dienlich sind.“ Auch wenn damit eine Vielzahl an Handlungsfeldern angesprochen sei, so seien die bevorzugten Bereiche doch gleichwohl Ernährung, Sport, Wellness und Spiritualität. Dabei zielten die entsprechenden gesundheitsförderlichen Praktiken vor allem auf Sorgsamkeit, Bewusstheit und Ganzheitlichkeit. Das Körperkonzept fokussiert daher auch nicht den gestaltbaren Körper, sondern den spürenden und spürbaren Leib: „So zielen Bewegungs- und Ernährungspraktiken auf das subjektive Empfinden, gesund und fit zu sein (statt schön und potent), diverse Meditations- und Achtsamkeitspraktiken sollen Gefühle von Authentizität, Zufriedenheit oder Glück hervorrufen, Wellnesspraktiken rücken das sinnliche Sich- Empfinden und Wohlfühlen ins Zentrum“ (Gugutzer 2016: 147). Hinter all dem stehe, so Gugutzer (2016: 148), ein Identitätsentwurf, der den Leib zum Medium der Selbstsorge macht und der der „Leiblichkeit des Daseins insgesamt eine hohe Wertschätzung“ beimesse. Wie bereits gesagt, handelt es sich bei Body-Styling, -Tuning und -Caring um idealtypisch zu unterscheidende Bereiche bzw. Motivationen von Körperpraktiken, die sich mit Blick auf konkrete Personen keineswegs gegenseitig ausschließen, sondern sich in unterschiedlichen Kombinationen und Gewichtungen je individuell ergänzen. Dabei machen die Beispiele deutlich, dass der gestaltbare und eigenverantwortlich zu gestaltende Körper heute eng mit der Identität, aber auch der Selbstmächtigkeit des Subjektes verknüpft ist. Die auf den Körper bezogenen Anstrengungen der Gestaltung und Kontrolle, so Schroer (2012: 21f.), hätten dabei durchaus auch etwas mit „dem erlahmenden Glauben an den Einfluss Körperbilder - Köperideale - Körperkult 249 des Individuums auf die Gestaltung und Veränderungsmöglichkeit von politischen und wirtschaftlichen Verhältnissen zu tun.“ Insofern sei der Körper so etwas wie der letzte Fluchtpunkt, der das subjektive Erleben mangelnder Beeinflussbarkeit gesellschaftlicher Makrophänomene zu kompensieren vermag, weil seine Gestaltbarkeit zumindest zeitweise ein Gefühl der Kontrolle über das eigene Leben und die eigene Gesundheit vermitteln könne. Allerdings sollte der Begriff der Gesundheit auch in diesem Zusammenhang differenziert betrachtet werden, denn die Arbeit am Körper fällt selbstverständlich nicht in jedem Fall mit der Gesundheit des Körpers zusammen. Insofern macht es Sinn, sich noch einmal zu vergegenwärtigen, dass bei Gesundheit mindestens die drei Dimensionen: körperliches, geistiges und soziales Wohlergehen (WHO 1946) zu unterscheiden sind. Diese Differenzierung scheint uns vor allem auch mit Blick auf die o.g. Körperpraktiken bedeutsam: Wenn ich z.B. meinen Körper im Rahmen von Body-Tuning mit Schmerz- oder Dopingmitteln zu Höchstleistungen treibe, dann kann sich dies auf meine körperliche Gesundheit durchaus negativ auswirken; zugleich aber kann das daraus resultierende Gefühl der Selbstermächtigung meine geistige bzw. seelische Gesundheit erheblich steigern. Wenn sich eine afroamerikanische Frau im Sinne von Body-Styling die Haare mit einem chemischen Relaxer glättet und ihre Haut mit einem Bleichmittel aufhellt, dann schädigt sie wahrscheinlich ihr Haar und ihre Haut, aber die aufgrund der Glättung und Bleichung erwartete erhöhte soziale Anerkennung steigert möglicherweise Aspekte ihrer psychischen und sozialen Gesundheit. Umgekehrt steigert eine im Sinne von Body-Caring strikte Befolgung von Regeln einer ‚gesunden Ernährung‘ möglicherweise die körperliche Gesundheit, beeinträchtigt aber zugleich die soziale Gesundheit, weil Freundinnen und Freunde zumindest das gemeinsame Essen mit dieser Person meiden. Man kann diese Ambivalenzen und Widersprüche auch in der oben vorgestellten Terminologie von Körper und Leib verdeutlichen: Vieles, was dem Körper vermeintlich schadet (z.B. fettes Essen, Zigarettenrauchen, Alkohol- und Drogenkonsum oder mangelnde Bewegung), kann der spürende Leib vor dem Hintergrund seines kulturellen Wissens sowie seiner leiblichen und biographischen Erfahrungen durchaus als angenehm empfinden. Und umgekehrt kann das, was vermeintlich zur körperlichen Gesundheit beiträgt (also etwa viel Bewegung, ‚gesunde Ernäh- 250 Körper- und geschlechtersoziologische Perspektiven auf Gesundheit rung‘, Vorsorgeuntersuchungen oder der Verzicht auf psychoaktive Substanzen), vom spürenden Leib als unangenehm oder gar bedrohlich, vielleicht auch einfach als egal empfunden werden. Diese Beispiele verweisen darauf, dass solcherlei Körperpraktiken zwar durch kulturelle Wissensbestände, Körperbilder und Köperideale geprägt sind, dass diese sich aber immer auch an den eigenen Prioritäten und Gesundheitszielen der handelnden Subjekte brechen. Diese Prioritäten und Gesundheitsziele mögen uns nicht immer gefallen; betrachten wir aber selbstreflexiv unsere eigenen Biographien, dann wissen wir auch, dass wir die unterschiedlichen Dimensionen von Gesundheit (körperlichphysische, psychische, soziale und spirituelle) zu unterschiedlichen Zeiten in unserem Leben ganz unterschiedlich gewichten - und dass bestimmte Dimensionen von Gesundheit manchmal einfach auch nicht wichtig genug sind. Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, welches Körperkonzept bzw. welches Körperideal die Gesundheitswissenschaften oder auch Public Health verfolgen, also jene wissenschaftlichen Disziplinen, die in anwendungsorientierter Ausrichtung u.a. in die Lebens- und Körperwelten von Menschen intervenieren, um Gesundheit zu fördern und Krankheiten vorzubeugen. An welchen Dimensionen (körperlich, psychisch, sozial) und an welchen Parametern bemessen sie, ob eine Intervention oder Maßnahme gesundheitsförderlich ist oder nicht? Noch immer setzen die meisten gesundheitsförderlichen und präventiven Gesundheitsinterventionen auf der Ebene des Verhaltens an, also bei körperlichen Praktiken wie z.B. Bewegung, Alkoholkonsum, Rauchen, Stessbewältigung oder auch Ernährung. Gerade bei Interventionen für eine ‚gesunde Ernährung‘ zeigt sich allerdings, dass diese meist mit Regeln arbeiten, deren Einhaltung für einen gesunden Zustand des Organismus sorgen soll: Regeln dieser Art finden sich in vielfältigen Ausführungen in Zeitschriften, Ernährungsratgebern oder auch im Internet. Auch die Deutsche Gesellschaft für Ernährung (DGE 2017) bietet auf ihrer Homepage ein entsprechendes Regelwerk: „Vollwertig essen und trinken nach den 10 Regeln der DGE“. Dabei handelt es sich in aller Regel um Gebrauchsanweisungen für eine wie auch immer körperlich-biologisch ‚gesunde‘ respektive ‚richtige‘ Zusammensetzung der Nahrungsbestandteile. Das Körperkonzept dieser Ernährungsinterventionen ist also sehr einseitig auf den biologischen Körper ausgerichtet; leibliche, biographische, Sex und Gender 251 symbolische und soziale Aspekte des Essens und der Essenden bleiben hingegen ausgeklammert. In diesem Sinne regte z.B. Lotte Rose einen Perspektivenwechsel an: Zielführender sei es möglicherweise, „Essen mehr als bisher aus der Perspektive der Essenden zu betrachten, genauer aufzunehmen, welche emotionale und soziale Bedeutung das Essen bei den Zielgruppen hat, den individuellen und kollektiven Geschichten des Essens Aufmerksamkeit zu schenken, statt Normen von außen einzuführen“ (Rose 2008: 240). Auch an diesem Beispiel zeigt sich, das gerade aus einer körpersoziologischen Perspektive deutlich wird, dass eine Fokussierung auf biologischkörperliche Aspekte von Gesundheit zu kurz greift. Das gleiche gilt auch für das Verständnis und die Vorstellungen vom Geschlecht, denen wir uns im folgenden Kapitel zuwenden. 9.4 Sex und Gender Wir hatten oben mit Gugutzer (2015: 8) konstatiert, dass der menschliche Körper zwar einerseits Teil der Natur und deren Gesetzen unterworfen sei, dass sich aber andererseits die Art und Weise, wie diese natürliche Seite des Körpers wahrgenommen, bewertet und gelebt werde, je nach Kultur und Gesellschaft unterscheide. Eine vergleichbare Unterscheidung kennt auch die Geschlechterforschung, wenn sie aus analytischen Gründen zwischen Sex und Gender unterscheidet: Als Sex gilt dabei das biologische Geschlecht, das uns im Sinne von Anatomie, hormonellen und physiologischen Besonderheiten etc. gewissermaßen mit der Geburt ‚natürlich‘ gegeben ist. Unter Gender hingegen versteht man die kulturellen und sozialen Deutungen des Sex, also das soziale Geschlecht oder auch die Geschlechtsrolle. Für den feministischen Diskurs war diese Unterscheidung von besonderer Bedeutung, weil so gezeigt werden konnte, dass die soziale Ungleichbehandlung von Männern und Frauen nicht auf biologisch-natürlichen Unterschieden beruht, sondern auf die spezifischen sozialen und kulturellen Konstrukte von Männlichkeit und Weiblichkeit verweist. Zugleich konnte damit auch das je konkrete Verhältnis der Geschlechter zueinander als gesellschaftlich-kulturell bedingt und mithin als kontingent und damit gestalt- und veränderbar betrachtet werden. 252 Körper- und geschlechtersoziologische Perspektiven auf Gesundheit Allerdings wird diese Unterscheidung in Sex und Gender durchaus auch kritisiert, weil mit ihr weiterhin ein Teil der Geschlechterdifferenz biologisch verortet wird. Regine Gildemeister und Angelika Wetterer (1992: 206) sprechen in diesem Zusammenhang von einem „bloß verlagerten Biologismus“ (vgl. auch Villa 2011: 69ff.). Um auch diesen Biologismus zu umgehen, haben Candace West und Don Zimmerman bereits 1987 den Ansatz des Doing Gender entwickelt, der neben Sex und Gender auch noch den Begriff der Sex Category unterscheidet: Sex ist in diesem Zusammenhang die Zuschreibung eines körperlichen Geschlechts bei der Geburt, und zwar anhand von Kriterien (z.B. Genitalien oder Chomosomen), die allerdings nicht als objektive, sondern vielmehr als sozial vereinbarte Kriterien für die Geschlechterzuordnung angesehen werden. Auch die Sex Category beschreibt die soziale Zuordnung zu einem der beiden Geschlechter, allerdings geht es hierbei um die immer wieder erforderliche Zuordnung im Alltag: Diese Klassifikation muss dabei allerdings jener bei der Geburt nicht entsprechen, womit das Theoriemodell vor allem auch dem Phänomen der Transsexualität Rechnung trägt. Gender schließlich bezeichnet die alltägliche, situationsadäquate Dar- und Herstellung dieser Sex Category im Rahmen von Interaktionsprozessen (West & Zimmerman 1987: 127). Wie man sieht, kommen diese drei Kategorien ohne biologische bzw. natürliche Vorgaben aus: „Die wechselseitige reflexive Beziehung zwischen diesen Dimensionen eröffnet gleichzeitig aber einen Weg, Natur als kulturell gedeutete in die soziale Konstruktion von Geschlecht hineinzuholen. Sie bewahrt vor dem Missverständnis, Geschlecht sei etwas, was ein Individuum ‚hat‘ und das im alltäglichen Handeln nur seinen Ausdruck findet“ (Gildemeister 2010: 138). Aber auch wenn es mit diesem Modell gelang, biologische Aspekte zu umgehen, so blieb es doch keineswegs unwidersprochen. Kritisiert wurde, dass das Modell weiterhin von einer objektiv gegebenen Zweigeschlechtlichkeit ausgehe, die etwa Judith Butler (1991) als ‚Zwangsheterosexualität‘ bezeichnet. Damit meint sie die herrschende Norm, normalerweise heterosexuell zu sein, sowie die damit verbundene Pathologisierung oder Markierung anderer Sexualitäten, also etwa der Homo-, Trans- oder Intersexualität (→ hierzu auch Kap. 5.7), als anders. Alle Formen der Sexualität, die nicht dem gesellschaftlichen Ideal der Reproduktion als der vermeintlich natürlichen Funktion von Sexualität entsprächen, Sex und Gender 253 würden zu Anomalien erklärt. Für Butler hingegen ist die Zweigeschlechtlichkeit selbst ein Konstrukt, und die daraus resultierende, als ‚natürlich‘ erachtete „Heterosexualität im Dienste der Reproduktion der Gattung keineswegs eine notwendige Konsequenz“ (Villa 2012: 70). Aber auch wenn die Zweigeschlechtlichkeit diskursiv erzeugt sein sollte, so ändert dies doch nichts daran, dass sie uns gleichwohl wie Natur vorkommt und sich die Subjekte - mehr oder weniger bewusst - in aller Regel auf die Geschlechterrollen von Mann und Frau beziehen - und dies im Grunde auch dann, wenn sie sich von diesen Rollen abzugrenzen versuchen. Der Ansatz des Doing Gender bleibt daher analytisch auch durchaus gewinnbringend, weil er genau diese Prozesse in den Blick nimmt und Geschlecht nicht mehr als quasi natürlichen Ausgangspunkt für Unterscheidungen im menschlichen Handeln, Verhalten und Erleben betrachtet, sondern als das Ergebnis komplexer sozialer Prozesse. Zwar seien es, so West & Zimmerman (1987: 126), durchaus auch die Individuen selbst, die das Geschlecht hervorbringen, aber dieses Tun sei immer situativ eingebettet und würde in der virtuellen oder realen Gegenwart anderer vollzogen, bei denen wir wiederum bestimmte Erwartungen vermuteten. Im diesem Sinne verweist Doing Gender darauf, dass wir uns in unserem Handeln, Verhalten und Erleben an einem kulturellen Wissen darüber orientieren, wie man sich als Mann oder Frau zu verhalten hat, und daran, was von anderen wiederum als männliches bzw. weibliches Verhalten erwartet und gedeutet wird. „Wer sich mit Doing Gender beschäftigt“, so Helga Kotthoff (2002: 2), „will beschreiben, wie sich Menschen performativ als männlich oder weiblich zu erkennen geben und mittels welcher Verfahren das so gestaltete kulturelle Geschlecht im Alltag relevant gesetzt wird“. Das bedeutet zugleich, dass nicht ein vermeintlich natürlicher Unterschied der Geschlechter deren unterschiedliche Bedeutungen konstituiert, sondern dass über die unterschiedlichen Bedeutungen die Geschlechterdifferenz hergestellt wird: „Dieser ‚Zirkel der Selbstbezüglichkeit‘ funktioniert eben dadurch, dass wir diese Klassifikation in der ‚Natur‘ oder der Biologie verankern (‚naturalisieren‘). Der Vorgang der sozialen Konstruktion wird damit unsichtbar und tritt uns im Ergebnis als so hochgradig selbstverständlich entgegen, dass schon die Frage nach dem Herstellungsmodus i.d.R. Irritationen auslöst“ (Gildemeister 2010: 137). 254 Körper- und geschlechtersoziologische Perspektiven auf Gesundheit Doing Gender ist also die (inter-)aktive Hervorbringung eines Verhaltens, das einerseits als männliches bzw. weibliches Verhalten gemeint ist und das andererseits von einer Interaktionspartnerin oder auch von einem Publikum als ‚männliches oder weibliches Verhalten‘ erwartet, erlebt und interpretiert wird (und auch interpretiert werden soll). Geschlecht ist also in dieser Perspektive nicht ein Merkmal von Personen als vielmehr ein Merkmal sozialer Situationen bzw. Interaktionen und verweist auf ein kulturell tief verwurzeltes Wissen zur Differenz der Geschlechter, das durch das konkrete Handeln aller Beteiligten permanent aktualisiert und reproduziert wird. Aber diese Vorstellungen von Männlichkeit und Weiblichkeit prägen nicht nur unser (inter-)aktives Verhalten, sondern bedingen zugleich die gesellschaftliche Geschlechterordnung, die z.B. die soziale Partizipation oder auch den Zugang zu bestimmten gesellschaftlichen Bereichen, Aufgaben und Rechten mehr oder weniger explizit mit Verweis auf spezifische Geschlechtscharakteristika regelt. Vor diesem Hintergrund werden Weiblichkeits- und Männlichkeitsbilder dann aber auch für zahlreiche Aspekte von Gesundheit und Krankheit relevant. Diesen Aspekten werden wir uns nun exemplarisch zuwenden. 9.5 Gesundheit und Geschlecht Die Bezüge zwischen Gesundheit und Geschlecht sind so vielfältig, dass wir uns an dieser Stelle im Wesentlichen auf zwei Aspekte beschränken wollen, nämlich einerseits auf die unterschiedliche Lebenserwartung von Männern und Frauen und andererseits auf die genderspezifischen Unterschiede mit Blick auf gesundheitsrelevantes Verhalten sowie die gesundheitliche Versorgung. Ein bemerkenswerter Unterschied zwischen Männern und Frauen besteht darin, dass Männer in nahezu allen Ländern der Welt eine niedrigere Lebenserwartung haben als Frauen. Auf den ersten Blick liegt es nahe, für diese Differenz zwischen den Geschlechtern biologische Ursachen verantwortlich zu machen. Allerdings unterscheidet sich die Differenz in der Lebenserwartung unter anderem danach, auf welches Land man gerade schaut: Sie beträgt z.B. in Deutschland zur Zeit knapp fünf Jahre, in Schweden sind es dagegen 3,3 und in Russland 11,6 Jahre (WHO 2017: 86ff.). Wollte man die biologische Erklärung beibehalten, würde Gesundheit und Geschlecht 255 das bedeuteten, dass die ‚biologische Differenz‘ in Russland gewissermaßen mehr als dreimal so groß wäre wie in Schweden. Da diese Annahme aber absurd erscheint, muss die unterschiedliche Differenz der Lebenserwartung zwischen den Geschlechtern in den verschiedenen Ländern wohl auf kulturelle und soziale Aspekte der Geschlechterrollen zurückgeführt werden. Untermauert wird dies noch einmal durch die so genannte Klosterstudie vom Marc Luy (2009), die die Lebenserwartung von Mönchen und Nonnen in bayerischen Klöstern mit der Lebenserwartung der Allgemeinbevölkerung vergleicht. Dabei geht Luy davon aus, dass sich bei Frauen und Männern, die in Ordensgemeinschaften leben, die nichtbiologischen Determinanten hinsichtlich des Sterberisikos am wenigsten unterscheiden würden: Denn „Nonnen und Mönche pflegen einen […] ‚einfachen Lebensstil‘ mit einem nahezu identisch geregelten Tagesablauf bezüglich des Schlafrhythmus, der Arbeitszeiten, der ausgeübten körperlichen Tätigkeiten sowie der Erholungsphasen. Darüber hinaus leben alle Klostermitglieder in sehr ähnlichen Wohnverhältnissen, ernähren sich vergleichbar und haben einen gleichartigen Zugang zu medizinischer Versorgung“ (Luy 2009: 253). Die Ergebnisse der Studie zeigen, dass Nonnen und Frauen der Allgemeinbevölkerung ungefähr die gleiche Lebenserwartung haben, während die Mönche die Männer der Allgemeinbevölkerung um 4 bis 5 Jahre überleben und damit eine nur noch geringe Differenz von etwa einem Jahr zur Lebenserwartung von Frauen aufweisen. Wenn aber nun die Differenz der Lebenserwartung von Männern und Frauen in den Klöstern so gering ist, so weist dies darauf hin, dass die erhebliche Differenz der Lebenserwartung zwischen den Geschlechtern in der Allgemeinbevölkerung nicht in erster Linie biologischer Natur sein kann. Vielmehr müssen hier vor allem auch soziale und kulturelle und mithin potenziell veränderbare Ursachen von Bedeutung sein. Insofern macht es Sinn, die genderspezifischen Unterschiede gesundheitsrelevanter Verhaltens- und Lebensweisen in den Blick zu nehmen. Wie oben bereits gesagt, hat unser Handeln, aber auch unser Behandelt- Werden in aller Regel immer auch etwas mit kulturellen Vorstellungen von Männlichkeit und Weiblichkeit zu tun. Und auch wenn manche 256 Körper- und geschlechtersoziologische Perspektiven auf Gesundheit Personen anderen Geschlechtervorstellungen oder -identitäten folgen mögen, so handeln die allermeisten Menschen doch nach wie vor im Sinne der hegemonialen Zweigeschlechtlichkeit als Mann oder als Frau. Und das hat selbstverständlich auch Auswirkungen auf das Gesundheitsverhalten, die subjektiven Bewertungen von Krankheit und Befinden sowie das entsprechende Bewältigungsverhalten. Dabei sind viele Gesundheits-, Mortalitäts- und Morbiditätsrisiken eng mit männerspezifischen Verhaltensstereotypen assoziiert (Pauli & Hornberg 2010: 632). Dies beginnt bereits in der Jugend, wenn männliche Jugendliche versuchen, über gewaltförmige Handlungen, Mutproben, exzessiven Alkohol- oder Drogengebrauch sowie andere exzessive Risikopraktiken ihre körperliche Überlegenheit und Stärke und sich selbst als ‚ganzen Mann‘ zu präsentieren. Diese Orientierung an Männlichkeitsbildern setzt sich auch im späteren Leben fort, indem Männer dann z.B. eher bereit sind, im Straßenverkehr und am Arbeitsplatz Gesundheitsrisiken mit weitreichenden Folgen auf sich zu nehmen - was aber im Übrigen auch, so Dinges (2016: 925), von ihnen erwartet werde. Zudem tendierten Männer dazu, Krankheitssymptome und Befindlichkeitsstörungen zu bagatellisieren und auszublenden, entsprechende Arztbesuche hinauszuzögern und Früherkennungsuntersuchungen deutlich weniger in Anspruch zu nehmen als Frauen (Pauli & Hornberg 2010: 632). Heino Stöver (2011: 206) führt das darauf zurück, dass Krankheit mit Schwäche assoziiert werde und nicht dem Bild vom starken, autonomen und gesunden Mann entspreche. Dies führe dazu, dass gerade diese ‚männliche Pflicht‘, stark und gesund zu sein, Männer daran hindere, sich gesund zu verhalten. Für Dinges wirkt hier u.a. das Männerbild des 19. und der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts nach: „Wurden im 19. Jahrhundert Wehrpflicht, Wahlrecht und Männlichkeit verbunden, so akzentuierte der Nationalsozialismus das soldatische Leitbild von Männlichkeit hin zu einem bisher ungekannten Härteimperativ. Die Abrichtung junger Männer auf emotionale und körperliche Gefühllosigkeit sollte ihre Funktionsfähigkeit für den Krieg gewährleisten […]. Diese Prägungen der NS-Generation wirkten nach 1945 in der Erziehung nach. Die besondere Stigmatisierung von Schwäche dürfte eine Langzeitfolge sein“ (Dinges 2016: 926). Demgegenüber sei z.B. die Depression historisch als eine typische Frauenkrankheit konstruiert worden und werde auch heute noch viel häufiger Gesundheit und Geschlecht 257 bei ihnen diagnostiziert. Gleichzeitig liege die Suizidrate bei Männern dreimal so hoch wie bei Frauen, was unter anderem wiederum auf nicht diagnostizierte Depressionen hindeuten könne (ebd.). Dieser Unterschied spiegelt sich z.B. auch in den höheren Verschreibungsraten von Psychopharmaka an Frauen wider sowie in deren höherer Inanspruchnahme von Angeboten niedergelassener Psychiater und Psychotherapeutinnen. Zwar hätten sich, so Dinges (2016: 929f.), die Unterschiede zwischen den Geschlechtern hier in den letzten Jahren durchaus verringert, was sicher auch mit einer Veränderung der Geschlechterrollen zusammenhänge, aber Verordnungen von Psychopharmaka an Frauen lägen auch heute noch gut 50 Prozent über den Verordnungen an Männer. Dies wiederum entspricht dem Befund, dass selbst bei der Angabe gleicher Beschwerden bei Männern eher organische Störungen diagnostiziert würden, während Frauen eher psychosomatische Diagnosen erhielten. Für Andrea Pauli und Claudia Hornberg (2010: 634) ist diese medikamentöse Über- und Fehlversorgung von Frauen u.a. die Folge einer umfassenden „Medikalisierung und Pathologisierung weiblicher Lebensphasen wie Pubertät, Schwangerschaft, Geburt und Klimakterium.“ Für Martin Dinges korrelieren die Medikalisierung und Pathologisierung weiblicher Lebensphasen mit den bürgerlichen Geschlechterrollen, die der Frau Schwäche und Krankheitsnähe, dem Mann hingegen Stärke und Distanz zum eigenen Körper zuschrieben: „Für die Gesundheitskompetenz von Frauen und Männern hatten die Geschlechterleitbilder des Bürgertums massive Konsequenzen. Frauen wurde Krankheit geradezu nahegelegt, indem Ärzte Menstruation, Schwangerschaft und Geburt sowie die Wechseljahre als behandlungsbedürftige Zustände definierten. So konnten Frauen ‚Unpässlichkeit‘ als Entschuldigung gegenüber gesellschaftlichen Verpflichtungen ins Feld führen. Sie durften sich beklagen, während Männer das gerade nicht tun sollten“ (Dinges 2016: 926). Die bürgerliche Rollenverteilung habe aber den Frauen nicht nur Schwäche und Krankheitsnähe zugeschrieben, sondern zugleich auch eine hohe Gesundheitskompetenz, indem sie sowohl die ‚Familienkompetenz‘ (und damit die Sorge um die Gesundheit der Kinder) als auch die ‚Ernährungskompetenz‘ bei den Frauen verortet habe. 258 Körper- und geschlechtersoziologische Perspektiven auf Gesundheit Auch wenn sich diese starren Rollenmuster in den vergangenen Jahren gelockert und auch pluralisiert haben, so muss man doch sicherlich davon ausgehen, dass sie weiterhin wirkmächtig sind. Dies zeigt sich zum einen darin, dass in den meisten nicht ärztlichen Gesundheits- und Therapieberufen, aber auch in Studiengängen wie etwa Public Health, Pflege- und Therapiewissenschaften oder Psychologie Frauen heute sehr deutlich überrepräsentiert sind. Zum anderen nehmen Frauen und insbesondere Frauen im mittleren Lebensalter Gesundheitsangebote häufiger wahr als Männer: Dies zeigt sich in einer deutlich höheren Inanspruchnahme von Vorsorge- und Früherkennungsuntersuchungen, aber auch in einer größeren Aufgeschlossenheit gegenüber Maßnahmen der Prävention und Gesundheitsförderung. Letzteres führt dazu, dass Frauen im mittleren Lebensalter in den entsprechenden Maßnahmen erheblich überrepräsentiert sind, was auch unter dem Stichwort ‚Präventionsdilemma‘ diskutiert wird (Bauer 2005). Insgesamt zeigt sich, dass das soziale Geschlecht bzw. die entsprechenden Geschlechterrollen gerade im Kontext von Gesundheit, Krankheit und Gesundheitsversorgung überaus wirkmächtig sind. Dabei haben die angeführten Beispiele noch einmal deutlich gemacht, dass es sich beim Doing Gender stets um ein interaktives, wechselseitiges Verhältnis handelt, weshalb es für Health Professionals von besonderer Bedeutung ist, entsprechende Mechanismen im Sinne einer reflexiven Professionalität im Blick zu behalten. Zusammenfassung Der Mensch ist sein lebendiger Leib, mit dem er spürt und den er spürt, der Hunger hat und Lust empfindet, der müde wird und altert usw. Zugleich hat der Mensch seinen Körper, und zwar in dem Sinne, dass er zu sich selbst in Distanz treten und seinen Körper gewissermaßen zum Gegenstand oder auch zum Werkzeug machen kann. Zusammenfassung ・ 259 Der Körper ist zugleich Produkt und Produzent von Gesellschaft: Er ist Produzent von Gesellschaft, weil alles menschliche Handeln immer auch körperliches Handeln ist und insofern zur Konstruktion sozialer Wirklichkeit beiträgt. Und er ist Produkt der Gesellschaft, weil der Umgang mit dem Körper, die ihn betreffenden Bilder und Wissensbestände, aber auch das Spüren des Körpers von gesellschaftlichen Strukturen und Normen, Ideen und Technologien mitbestimmt wird. Da der Körper auf vielfältige Art und Weise von gesellschaftlichen und kulturellen Bildern und Wissensbeständen geprägt wird, reicht es gerade aus körpersoziologischer Perspektive nicht aus, Gesundheit vor allem unter biologisch-körperlichen Aspekten zu betrachten. Mit Blick auf das Geschlecht kann man Sex (das biologische Geschlecht) und Gender (das sozial Geschlecht bzw. die Geschlechterrolle) unterscheiden. Es ist umstritten, ob es sich nicht auch beim ‚biologischen Geschlecht‘ lediglich um sozial vereinbarte Kriterien handelt, nach denen Menschen dann dem jeweiligen Geschlecht zugeordnet werden. Weniger umstritten ist hingegen, dass wir uns in unserem Handeln, Verhalten und Erleben an einem kulturellen Wissen darüber orientieren, wie man sich als Mann oder Frau zu verhalten hat, und daran, was von anderen wiederum als männliches bzw. weibliches Verhalten erwartet und gedeutet wird. Diese Prozesse bezeichnet man als Doing Gender. Gerade im Kontext von Gesundheit, Krankheit und Gesundheitsversorgung ist Doing Gender von besonderer Bedeutung. Einerseits führen Geschlechterrollen dazu, sich eher gesundheitsförderlich oder -abträglich zu verhalten. Andererseits zeigt sich das Doing Gender aber auch im unterschiedlichen Umgang mit Frauen und Männern in der gesundheitlichen Versorgung. 260 Körper- und geschlechtersoziologische Perspektiven auf Gesundheit Literatur Bauer, U. (2005). Das Präventionsdilemma. Potenziale schulischer Kompetenzförderung im Spiegel sozialer Polarisierung. Wiesbaden: VS Verlag. Blätter, A. (2007). Strukturelle Determinanten der Drogenwirkung. In: B. 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Anästhesiologie Intensivmedizin Notfallmedizin Schmerztherapie 50 (1), S. 64-69. 10 Resümee Bei Risiken und Nebenwirkungen fragen Sie ruhig auch mal die Soziologie Lehrziele In diesem Kapitel erfahren Sie … noch einmal resümierend, welche Aspekte wir in diesem Buch behandelt haben; warum es nicht gelingen kann, ‚Gesundheit‘ allgemeingültig zu bestimmen und zu definieren; warum es sich unseres Erachtens lohnt, mit einem soziologischen Blick auf Gesundheit und Krankheit zu schauen. 10.1 Resümee Zu Beginn dieses Buches hatten wir in → Kap. 1 die Entstehung der Soziologie um die Mitte des 19. Jahrhunderts beleuchtet: Die gemeinsamen Bezugspunkte der Gründungspersonen waren seinerzeit die tiefgreifenden sozialen Veränderungen (etwa Industrialisierung, Enttraditionalisierung, Säkularisierung oder die Verarmung breiter Bevölkerungsschichten), vor allem aber auch die Erfahrung und Erkenntnis, dass die soziale Welt nicht gottgegeben, sondern gestaltbar war. Diese Entwicklungen bedingten eine neue Vorstellung vom Menschen und seinem Verhältnis zur Welt und veränderten das Denken, das Wahrnehmen und das Bearbeiten gesellschaftlicher Probleme grundlegend: Von nun an, so hatten wir formuliert, ist es nicht mehr Gott, der die Welt und die in ihr herrschende Ordnung erschaffen hat, sondern es ist der Mensch, der die Welt immer wieder neu erschaffen und gestalten muss. 264 Resümee Und diese Gestaltungsaufgabe, so wird in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts immer deutlicher, betrifft auch die Bedingungen von Gesundheit und Krankheit. In → Kap. 2 haben wir nachgezeichnet, dass Ärzte wie Rudolph Virchow und Salomon Neumann Gesundheit und Krankheit zur ‚sozialen Frage‘ machten. Zugleich machte aber auch die zu jener Zeit fortschreitende numerische und statistische Erfassung der Welt deutlich, dass Gesundheit und Krankheit nur begrenzt individuell zugerechnet werden konnten: Die auf Zahlen, Wahrscheinlichkeiten und Mittelwerte gestützte Betrachtung und Interpretation gesellschaftlicher Phänomene ließ metaphysische Erklärungsversuche für Gesundheit und Krankheit in den Hintergrund treten und bezog die entsprechenden Ursachen - im Sinne von Wahrscheinlichkeiten - auf soziale Gruppen. Im Ergebnis wurde deutlich, dass unterschiedliche Bevölkerungsgruppen unterschiedlich gesund waren und eine unterschiedliche Lebenserwartung hatten. Aus diesen Erkenntnissen ging die Vorstellung einer ‚sozialen Hygiene‘ sowie eine interdisziplinär angelegte Gesundheitswissenschaft hervor, die allerdings mit Beginn des 20. Jahrhunderts zunehmend zu eugenischen und rassenhygienischen Vorstellungen in Konkurrenz geriet. Die im Namen der ‚Rassenhygiene‘ von den Nationalsozialisten begangenen Verbrechen machten es für die gesundheitspolitischen Akteure nach 1945 zunächst undenkbar, an den Begriff und die Idee der ‚Sozialen Hygiene‘ anzuknüpfen. Erst die Ottawa-Charta zur Gesundheitsförderung der WHO von 1986 eröffnete die Chance, auch in Deutschland wieder eine interdisziplinäre Gesundheitswissenschaft einzuführen, die heute sowohl an Universitäten als auch an Fachhochschulen studiert werden kann. Als Studienfächer werden z.B. angeboten: Public Health, Gesundheitskommunikation, Gesundheitspädagogik, Gesundheitsversorgung, Gesundheitsmanagement, angewandte Gesundheitswissenschaften oder auch Epidemiologie. Public Health versteht sich dabei selbst als eine anwendungsorientierte Wissenschaftsdisziplin, und es ist möglicherweise gerade dieser Anwendungsorientierung geschuldet, dass eine entsprechende Theorieentwicklung bislang nur begrenzt stattgefunden hat. So hat z.B. Uwe Bittlingmayer (2016: 34) darauf hingewiesen, „dass die Theorieentwicklung in Public Health, trotz einer nunmehr 30-jährigen Erfolgsgeschichte in Deutschland noch in den Kinderschuhen“ stecke, dass mit theoretisch relativ unbestimmten Grundbegriffen und auch insgesamt mit einer Resümee 265 schwachen sozialwissenschaftlichen Theoriebasis gearbeitet würde. Ähnliche Kritik üben z.B. auch Peter-Ernst Schnabel (2015) oder Brigitte Ruckstuhl (2011). In den vorangegangenen Kapiteln haben wir zwar keine (interdisziplinäre) Theorie der Public Health entwickelt, wie es etwa Schnabel (2015) vorschwebte, aber wir haben anhand einiger ausgesuchter soziologischer Ansätze zu zeigen versucht, wie theoretische Perspektiven auf Gesundheit aussehen und dass sie auch den Gesundheitswissenschaften und Public Health wichtige Grundlagen und Erkenntnisse liefern können. In diesem Sinne haben wir uns in → Kap. 3 zunächst der sozialen und gesundheitlichen Ungleichheit und ihren Wechselwirkungen zugewendet. Dabei wurde einerseits deutlich, dass Gesundheit und Lebenserwartung einen sehr stabilen sozialen Gradienten aufweisen, andererseits aber auch, dass soziale Ungleichheit ein für kapitalistische Gesellschaften unhintergehbares und auch gewolltes Phänomen ist. Für die anwendungsorientierte Public Health stellt sich hier die Frage, wie gesundheitliche Ungleichheit verringert werden kann in einem System, das auf soziale Ungleichheit ausgelegt ist. Dies umso mehr, als sich Interventionen zur Verhaltensmodifikation (nicht nur) mit Blick auf den Habitus als äußerst schwierig und gelegentlich auch als übergriffig und paternalistisch erweisen. In → Kap. 4 haben wir unter dem Oberbegriff der ‚Normativität‘ die Wichtigkeit sozialer Ordnung und die Bedeutung von Normen und Werten herausgestellt. Der Wert der Gesundheit ordnet sich dabei in eine Reihe anderer Werte ein, wie etwa Freiheit, Sicherheit, Menschenwürde, Meinungs- und Pressefreiheit usw., die je nach Kultur und Gesellschaft in unterschiedlichen Wertehierarchien angeordnet sind. Auch wenn Gesundheit immer wieder als das ‚höchste Gut‘ bezeichnet wird, so konnten wir doch zeigen, dass je nach gesellschaftlichem Bereich das Interesse an der Reproduktion sozialer Ungleichheit, an Wirtschaftlichkeit und Profit, an Sicherheit und Ordnung usw. deutlich höher bewertet wird als Gesundheit. Um nicht von Wertorientierungen vereinnahmt zu werden, die die eigene, z.B. gesundheitsförderliche Arbeit möglicherweise konterkarieren, oder sich dieser Vereinnahmung zumindest bewusst zu sein, ist es für die Gesundheitswissenschaften und Public Health sinnvoll und notwendig, die normative Einbettung der eigenen Profession und Arbeit beständig zu reflektieren. 266 Resümee In diesem Sinne haben wir uns in → Kap. 5 der so genannten Medikalisierung zugewendet, also der Unterstellung unterschiedlicher Problematiken unter eine medizinische Rationalität bzw. eine medizinische Denk- und Bearbeitungsweise. Wie wir gezeigt haben, kann Medikalisierung unterschiedliche Gründe haben: Dies können schlicht ökonomische Gründe sein, dass z.B. ein Pharmakonzern mehr oder neue Medikamente verkaufen will und aus diesem Grund Krankheiten geradezu erfindet; es können aber auch politische Gründe sein, etwa wenn ein gesellschaftlich schwierig zu lösendes Problem durch Formen der Pathologisierung entpolitisiert werden soll, indem man es zu einem medizinisch, also individuell zu behandelnden Problem macht; Medikalisierung und Pathologisierung können schließlich aber auch im Interesse der ‚Betroffenen‘ liegen, z.B. wenn sie dadurch einer Kriminalisierung entgehen oder die Erstattung ihrer Behandlungskosten durch die Krankenkasse erreichen können. In → Kap. 6 haben wir sodann betrachtet, wie gesundheitliche Probleme und Risiken entstehen, die von einer breiten Öffentlichkeit auch als solche wahrgenommen werden. Dabei sind wir davon ausgegangen, dass eine Soziologie gesundheitlicher Probleme und Risiken zwar nicht untersuchen kann, ob ein solches Problem ‚objektiv‘ existiert oder nicht. Sie kann aber untersuchen, wie die Prozesse der Problematisierung erfolgen. Daraus kann sie z.B. Schlüsse ziehen über die Motive und Strategien der an der Problematisierung beteiligten Akteure - für die im Übrigen die Lösung des jeweiligen Problems keineswegs immer erste Priorität hat. Für die Gesundheitswissenschaften und Public Health kann gerade diese Perspektive gewinnbringend sein: Einerseits kann sie versuchen zu verstehen, welche Interessen mit konkreten Problematisierungsversuchen verbunden sind und diesen ggf. diskursiv entgegentreten; andererseits kann Problematisierungswissen hilfreich sein, wenn es darum geht, die eigenen, normativ für richtig befundenen Problematisierungen strategisch umzusetzen. Mit Studien zur Gouvernementalität haben wir uns in → Kap. 7 befasst, wobei diese ‚Mentalität des Regierens‘ spezifischen Denk- und Bearbeitungsweisen der Realität folgt und damit wiederum auf Problematisierungen verweist. Eine wichtige Rolle spielt hierbei seit etlichen Jahren die neoliberale Denk- und Bearbeitungsweise oder auch Rationalität, mit der die Idee des Marktes zum organisierenden und regulierenden Prinzip des Resümee 267 Staates und die Unternehmerin zum Leitbild zeitgenössischer Subjektivität wird. Auf Gesundheit bezogen bedeutet dies ein Menschenbild, wonach die Subjekte die Manager und Unternehmerinnen ihrer eigenen Gesundheit sind, die alle die Fähigkeit besitzen, sich gesundheitsgerecht zu verhalten, und die deshalb auch für sich selbst verantwortlich sind. Dies wiederum verschiebt nicht nur Gesundheit, sondern auch Krankheit in den eigenen Verantwortungsbereich. Auf diese Weise verliert Krankheit zunehmend ihre entlastende Funktion: An die Stelle der von Talcott Parsons beschriebenen Rolle des ‚passiven Patienten‘, der zwar durch die Medizin bevormundet wird, zugleich aber von der Erfüllung seiner gesellschaftlichen Rollen entbunden ist, rückt im neoliberalen Diskurs das aktive, unternehmerische Subjekt, das für seine Gesundheit und Krankheit selbst verantwortlich ist. Der diskursiven Verfasstheit der sozialen Welt haben wir uns in → Kap. 8 zugewendet. Diskurse haben wir dabei verstanden als Systeme des Denkens und Sprechens, die das Was und Wie unserer Wahrnehmung prägen und vor deren Hintergrund wir dann die Phänomene deuten, die uns im Alltag oder auch in der professionellen Praxis begegnen. Wir haben aufgezeigt, dass Diskurse ausgesprochen wirkmächtig sind, weil sie die Fähigkeit haben, andere Bedeutungen geradezu undenkbar zu machen: „Sie wirken präreflexiv, aber umso mächtiger, weil sie das Denken strukturiert haben, bevor wir überhaupt anfangen zu denken“ (Villa 2012: 23). Insofern determinieren Diskurse zwar Wirklichkeit, indem sie die Wahrnehmung der Subjekte lenken, zugleich sind diese Subjekte aber immer auch Produzentinnen des Diskurses. Dabei reproduzieren und verfestigen sie diese Wirklichkeit aber nicht nur, sondern es besteht potenziell immer auch die Möglichkeit der Veränderung (was nicht zuletzt z.B. die Veränderungen in den Bereichen der Homo-, Trans- und Intersexualität oder auch des ‚Wahnsinns‘ zeigen). Zugleich wurde aber auch deutlich, wie sehr sich Gesundheits- und Krankheitsdiskurse kulturell unterscheiden und sich über die Zeit verändern. Abschließend haben wir uns in → Kap. 9 mit jenem Phänomen befasst, das beim Reden über Gesundheit und vor allem beim Behandeln von Krankheit im Grunde immer im Mittelpunkt steht: die Dualität von Körper und Leib. Dabei wurde unter anderem deutlich, dass Körper und Leib immer gleichermaßen Produkt und Produzent von Gesellschaft sind und dass sie auf vielfältige Weise von kulturellen Bildern und Wis- 268 Resümee sensbeständen mitbestimmt werden - weshalb es aus körpersoziologischer Perspektive als nicht ausreichend erscheint, Gesundheit vor allem unter biologisch-körperlichen Aspekten zu betrachten. Ähnliches gilt auch für die Geschlechter: Auch sie werden im Sinne von Geschlechterrollen sozial hergestellt und reproduziert, weshalb im Kontext von Gesundheit, Krankheit und Gesundheitsversorgung vor allem auch das Doing Gender besondere Beachtung finden sollte. Insgesamt kann man sagen, dass die behandelten Aspekte und Problematiken zeigen, dass Gesundheit und Krankheit nur verstanden werden können, wenn man einerseits die sozialen und psychosozialen Wechselwirkungen von Gesundheit und Gesellschaft in Rechnung stellt, und wenn man andererseits Gesundheit und Krankheit ganz grundsätzlich als Ergebnis gesellschaftlicher bzw. diskursiver Aushandlungsprozesse versteht. Vor diesem Hintergrund stellt sich dann abschließend die Frage, was wir unter Gesundheit denn nun eigentlich verstehen wollen oder überhaupt verstehen können. 10.2 Was ist denn nun Gesundheit? Im Verlaufe der vorangegangenen Kapitel haben wir eine Vielzahl an Aussagen zu und Definitionen von Gesundheit aufgegriffen. Diese reichten unter anderem von der funktionalistischen Perspektive Talcott Parsons, für den Gesundheit insbesondere die Erfüllung gesellschaftlicher Rollen bedeutete, über das ‚Leben im Schweigen der Organe‘ (René Leriche) und Antonovskys Kohärenzgefühl bis hin zur Definition der WHO (1946), wonach Gesundheit „der Zustand des völligen körperlichen, psychischen und sozialen Wohlbefindens […] und nicht nur das Freisein von Krankheit und Gebrechen“ ist. Insofern gibt es, wie es Brigitte Ruckstuhl auf den Punkt bringt, bei der Gesundheit keinen Konsens: „Eine konsensuale Definition von Gesundheit fehlt […] bis heute. Es bestehen Erklärungen, wie Gesundheit entsteht, was zu Gesundheit beiträgt, nicht aber, was unter Gesundheit verstanden wird/ zu verstehen ist […] Gesundheit ist heute zwar ein populärer Begriff, dies verschleiert aber eher die Tatsache, dass im Gesundheitssystem nach wie vor Krankheit und nicht Gesundheit im Fokus steht“ (Ruckstuhl 2011: 226). Was ist denn nun Gesundheit? 269 Die mehr oder weniger offiziellen oder wissenschaftlichen Definitionen werden zudem von den Individuen mit ihren subjektiven Gesundheitsvorstellungen und -zielen ergänzt, kombiniert und abgeändert. Bedenkt man überdies die unüberschaubare Vielzahl unterschiedlicher Lebensentwürfe und Handlungsprioritäten sowie die zahlreichen Möglichkeiten, diese wiederum zu klassifizieren, erweist sich der populäre Begriff der Gesundheit zunächst vor allem als Zuschreibung für bestimmte Zustände, Bereiche oder Verhaltensweisen: ‚Gesund‘ ist das, was Menschen als ‚gesund‘ bezeichnen. Dabei markiert das Adjektiv ‚gesund‘ zunehmend vor allem das, was von den jeweiligen Akteuren als erwünscht, ‚gut‘ oder ‚richtig‘ angesehen wird: eine ‚gesunde‘ Ernährung oder ein ‚gesundes‘ Frühstück, eine ‚gesunde‘ Schule und ‚gesunde‘ Schuhe, eine ‚gesunde‘ Lebensweise, ein ‚gesundes‘ Körpergewicht, ein ‚gesunder‘ Betrieb, eine ‚gesunde‘ Demokratie usw. Mit dem Adjektiv ‚gesund‘ erfolgt aber nicht nur eine Bewertung von Zuständen, Bereichen oder Verhaltensweisen, sondern die Begriffe ‚Gesundheit‘ und ‚gesund‘ enthalten immer auch Botschaften, Vorstellungen und Vorschriften, die weit über sie selbst hinausreichen. Im Rekurs auf Laclau & Mouffe (2012) kann man ‚Gesundheit‘ oder ‚gesund‘ daher (allgemeiner) als Sinnzuweisung verstehen, mit der eine Unterscheidung getroffen, also eine Differenz gesetzt wird, indem zwischen ‚gesund‘ und ‚nicht gesund‘ unterschieden wird. In → Kap. 8 hatten wir über diskursiv erzeugte Grenzziehungen gesprochen: In diesem Sinne können auch Gesundheitsdiskurse als Orte betrachtet werden, an denen über den Grenzverlauf zwischen ‚gesund‘ und ‚ungesund‘ verhandelt wird und damit auch über die Legitimität und Qualität der jeweiligen Umwelteinflüsse, Zustände, Verhaltensweisen usw. Das wiederum bedeutet: Gesundheitsdiskurse legen nicht nur fest, was bzw. wer ‚gesund‘ ist, sondern immer auch das, was ‚ungesund‘ bzw. wer ‚nicht gesund‘ ist. Damit verhandeln sie zugleich auch, was erwünschte, konforme Verhaltensweisen sind bzw. wie ein ‚richtiges‘ und ‚gutes Leben‘ auszusehen hat. Indem sie dies tun, produzieren Gesundheitsdiskurse genau das, was sie zugleich als vermeintlich gegeben voraussetzen, nämlich eine spezifische Qualität von ‚gesunden‘ im Vergleich zu ‚ungesunden‘ Dingen, Zuständen, Verhaltensweisen etc. Das heißt, sie unterstellen, es bestehe die Möglichkeit, den Verlauf der Grenze ‚eindeutig‘ zu beschreiben, obwohl genau dieser Verlauf der zentrale Verhandlungsgegenstand von Gesund- 270 Resümee heitsdiskursen ist (etwa wenn darüber gestritten wird, ab welchem BMI ein Gesundheitsrisiko einsetzt, ob ‚Burn-out‘ ein eigenes Krankheitsbild ist, inwiefern Cannabis gesundheitsschädlich ist, ob und wie lange Traurigkeit eine ‚gesunde‘ Emotion ist, bei welchen pränatalen Befunden eine Abtreibung auch nach dem 3. Schwangerschaftsmonat noch zulässig ist usw.). So gesehen sind die Vorstellungen und Definitionen von ‚gesunden‘ und ‚ungesunden‘ Dingen, Umwelteinflüssen und Verhaltensweisen und damit auch die Vorstellungen davon, wo die Grenze zwischen ‚gesund‘ und ‚ungesund‘ verläuft, zwangsläufig keine allgemeingültigen Vorstellungen. Es handelt sich vielmehr um partikulare Vorstellungen, also Vorstellungen bestimmter Personen oder Gruppen. Dies betrifft wissenschaftliche Dispute ebenso wie Berichte in den Massenmedien, Gespräche in der Schule, im Betrieb, in der Familie usw., aber auch Wahlprogramme, Informationsflyer, Präventions- und Aufklärungskampagnen etc. Indem sich in allen diesen diskursiven Zusammenhängen ganz unterschiedliche (partikulare) Grenzziehungen und Forderungen zur Herstellung von Gesundheit finden, wird ‚Gesundheit‘ zu einem Begriff, der zugleich vieles und (beinahe) nichts aussagt: In den Worten von Ernesto Laclau (2010: 65ff.) wird Gesundheit zu einem leeren Signifikanten, weil das, was er bezeichnet, einerseits bedeutungsarm und andererseits mit zu viel Bedeutung aufgeladen ist. Bedeutungsarm ist der Signifikant ‚Gesundheit‘, weil er nicht eindeutig (‚objektiv‘), sondern immer nur partikular gefüllt werden kann. Mit zu viel Bedeutung aufgeladen ist der Signifikant der ‚Gesundheit‘, weil er zahlreiche partikulare Bedeutungsinhalte über ‚Gesundheit‘ und ‚Krankheit‘ transportiert, die ihn gewissermaßen mit zu viel Sinn ausstatten: So sprechen ganz unterschiedliche Disziplinen, Professionen und Institutionen in ihrer je spezifischen Art und vor dem Hintergrund ihrer je spezifischen Interessen von Gesundheit. Und auch von den Massenmedien, in der Politik, im Alltag etc. wird Gesundheit auf vielfältige Art und Weise thematisiert. Kurz gesagt: Durch die Vervielfältigung der als ‚gesund‘ bezeichneten Dinge, Umwelteinflüsse, Verhaltensweisen etc. entleert sich der Überschneidungsbereich all dieser Vorstellungen zunehmend, das heißt je mehr Definitionen von Gesundheit es gibt und je mehr Dinge, Zustände, Umwelteinflüsse, Verhaltensweisen usw. als ‚gesund‘ bezeichnet werden, umso kleiner wird der Überscheidungsbereich. Was ist denn nun Gesundheit? 271 In diesem Zusammenhang kann man sich durchaus die Frage stellen, inwieweit die WHO mit ihrem Motto der ‚Health in all Policies‘, also der Maxime, Gesundheit in allen Politikbereichen zu verankern, diese ‚Entleerung‘ durch eine ‚Vergesundheitlichung der Gesellschaft‘ vorantreibt. Und Ähnliches gilt möglicherweise auch für die Gesundheitswissenschaften: Auch wenn unter anderem die Kritik an Medikalisierung und an der Dominanz der Medizin Gründe waren, die in Deutschland zur Wiedereinführung der Gesundheitswissenschaften und von Public Health Ende der 1980er-Jahre geführt haben, so sind doch auch diese Disziplinen heute nicht gegen ähnliche Tendenzen gefeit: Die Gesundheitswissenschaften und Public Health sind in diesem Kontext aufgefordert, die auch von ihnen verfolgte ‚Heath in all Policies‘-Strategie daraufhin zu reflektieren, ob es sich bei dieser expansiven Vergesundheitlichung nicht um so etwas wie eine Medikalisierung 2.0 handeln könnte - um eine Entwicklung, die alle Bereiche der Selbstsorge, des sozialen Zusammenlebens sowie der Politik einem gesundheitlichen Imperativ unterstellt (Lupton 1995). Dabei kann man, wie etwa Ilona Kickbusch und Susanne Hartung dies tun, eine solche Entwicklung durchaus positiv bewerten: „Gesundheit sperrt sich immer mehr gegen medizinische Eingrenzungs- und Definitionsversuche, ja, sie schöpft ihre Kraft aus der Ungenauigkeit und Grenzenlosigkeit sowie aus der subjektiven Erfahrbarkeit. Je umfassender die Gesundheitsdefinition, umso mehr Gebiete der Gesellschaft und des individuellen Handelns werden durch und über Gesundheit definiert“ (Kickbusch & Hartung 2014: 20). So gesehen ermöglicht es gerade die Entleerung des Signifikanten der ‚Gesundheit‘, dass sich die unterschiedlichsten Personen, Parteien und Professionen, Disziplinen und Dienstleistungen, Institutionen und Unternehmen mit ihren spezifischen (partikularen) Interessen und Vorstellungen auf Gesundheit beziehen können: Nahezu unabhängig davon, was man darunter gerade versteht, lässt sich mit dem Verweis auf ‚Gesundheit‘ z.B. das Image von Betrieben, Behörden, Schulen und Gefängnissen aufpolieren, lassen sich Forschungsgelder akquirieren, Wahlen gewinnen und Produkte der unterschiedlichsten Art verkaufen. Im Gegensatz zu Kickbusch & Hartung sah Peter-Ernst Schnabel diese Entwicklung bereits vor gut zehn Jahren durchaus kritisch: 272 Resümee „Kein Fernsehsender, der auf sich hält, kann heute auf sein Gesundheitsmagazin, keine Zeitung auf ihre Gesundheitsbeilage verzichten. Was in den 50er und 60er Jahren des vergangenen Jahrhunderts das Streben nach Besitz und Wohlstand war, ist für die Werbung der 80er und 90er Jahre das Streben nach einer gesunden und ästhetischen guten Figur, nach Fitness bis ins hohe Alter, nach totaler Gesundheit als allwaltendem Prinzip in jeder Lebenslage, nach Gesundheit als einer Ressource, über die bedenkenlos verfügt und die im Fall stärkerer Vernutzung wieder hergestellt werden kann. Gesundheit ist zum Traumbild, Lockmittel, zur ‚Phantasmagorie‘ moderner Gesellschaften geworden […] mit Hilfe derer sich fast alles, von der Armbanduhr über den Komfortschuh bis zum Milchriegel, von der Gefriertruhe bis zum Abenteuerurlaub, vermarkten lässt“ (Schnabel 2007: 11f.). Aber unabhängig davon, ob man mit Schnabel die Beliebigkeit von ‚Gesundheit‘ beklagen oder mit Kickbusch & Hartung gerade umgekehrt in dieser Ungenauigkeit und Grenzenlosigkeit des Gesundheitsbegriffes das Potenzial für die Ausweitung der eigenen Handlungsoptionen sehen mag, fest steht: Eine eindeutige oder gar ‚objektive‘ Definition oder Vorstellung von Gesundheit wird und kann es auch gar nicht geben - zum einen aus den o.g. ganz grundsätzlichen Erwägungen, zum anderen aber vor allem auch deshalb, weil sich die unterschiedlichen Interessen der mannigfachen Akteure zwar auf einen gemeinsamen Begriff ‚Gesundheit‘ bringen lassen, nicht aber auf eine gemeinsame Vorstellung davon, was dieser Begriff bezeichnen soll. 10.3 Vom Nutzen einer Soziologie der Gesundheit Wie aus unseren Ausführungen deutlich geworden ist, gibt es ausgesprochen vielfältige Wechselwirkungen zwischen Gesundheit bzw. Krankheit auf der einen und Gesellschaft und Kultur auf der anderen Seite. Dies beginnt bereits bei den Begriffen und Vorstellungen von Gesundheit und Krankheit, die sich historisch wandeln, in unterschiedlichen Gruppen, Milieus, Kulturen und Gesellschaften höchst verschieden ausfallen und die sich schließlich mit Blick auf die Verhaltensprioritäten und Eigensinnigkeiten der Subjekte noch einmal vervielfältigen. Wir haben aber auch gesehen, dass viele zentrale Aspekte, die Gesundheit und Krankheit bedingen, Ergebnis sozialer Prozesse sind. Soziale Prozesse, Strukturen Vom Nutzen einer Soziologie der Gesundheit 273 und Diskurse bestimmen z.B., ob gesundheitliche Probleme und Risiken auch von der Öffentlichkeit und den staatlichen Institutionen als solche anerkannt werden, welchen Rang Gesundheit in der Wertehierarchie einer Gesellschaft sowie ihren Teilbereichen einnimmt oder wie ausgeprägt der Unterschied in der Lebenserwartung zwischen Reich und Arm oder zwischen Männern und Frauen ist und wie dieser Unterschied interpretiert wird. Zugleich wurde deutlich, dass wir in unserem Denken und Handeln stets geprägt sind von entsprechenden Diskursen, in die wir hineingeboren wurden und die uns häufig zur unhinterfragten Gewohnheit geworden sind. Und diese Diskurse, ebenso wie gesellschaftliche Strukturen und Normen, Ideen und Technologien prägen nicht nur unser Denken und Handeln, sondern auch unseren Umgang mit unserem Körper, die ihn betreffenden Bilder und Wissensbestände sowie schließlich auch unser leibliches Spüren. Mit diesen und weiteren Aspekten, die Gegenstand unserer Ausführungen waren, haben wir auf verschiedene Weise versucht, deutlich zu machen, dass eine Fokussierung auf biologisch-medizinisch-körperliche Aspekte von Gesundheit zu kurz greift und dass es aus diesem Grund lohnend sein kann, Gesundheit und Krankheit in ihren vielfältigen Ausprägungen und Erscheinungsweisen einem soziologischen Blick zu unterziehen. Dabei ermöglicht das soziologische Denken gerade auch ‚Health Professionals‘ nicht nur einen gewinnbringenden (kritischen) Blick auf die Konzepte von Gesundheit und Krankheit sowie die damit verbundenen Praktiken, sondern auch auf die Interessen und Intentionen, die Rollen und Routinen, die Zwänge und Zweifel, die Verstrickungen und Vertrautheiten der eigenen Profession. Der hauptsächliche Nutzen des soziologischen Denkens, so hat Zygmunt Bauman (2000: 28f.) es formuliert, liege darin, uns aufmerksamer zu machen und unsere Mitmenschen besser zu verstehen, ihre „Sehnsüchte und Träume, ihre Schwierigkeiten und ihr Elend.“ Insofern kann der soziologische Blick auf Gesundheit gerade auch für jene anwendungsorientierten Gesundheitswissenschaften gewinnbringend sein, die mit ihren spezifischen Vorstellungen und Methoden versuchen, die ‚Gesundheit der Leute‘ zu fördern oder Krankheiten vorzubeugen. Der soziologische Blick kann hier helfen, einen Schritt zurückzutreten und die eigene Profession ein wenig aus der Distanz zu betrachten: Auf diese Weise kann es einerseits gelingen, das eigene Denken und Handeln in 274 Resümee Relation zu den Vorstellungen und Bedürfnissen jener Menschen zu setzen, die die eigene Arbeit adressieren will; andererseits wird es so möglich, die eigenen individuellen und professionellen Problemdeutungen, aber auch Verstrickungen in die kritisierten gesellschaftlichen Macht- und Ungleichheitsverhältnisse zumindest zu reflektieren. Im Kontext der Multidisziplin Public Health kann so auch eine Soziologie der Gesundheit ein wichtiger Bestandteil einer reflexiven Professionalität sein - einer Professionalität, die ihre eigenen Problemdeutungen bewusst hält, Partizipation ermöglicht und dadurch ihre eigenen Handlungsoptionen vermehrt. Zusammenfassung Gesundheit und Krankheit können nur dann umfassend verstanden werden, wenn man einerseits die sozialen und psychosozialen Wechselwirkungen von Gesundheit und Gesellschaft in Rechnung stellt und wenn man andererseits Gesundheit und Krankheit ganz grundsätzlich als Ergebnis gesellschaftlicher bzw. diskursiver Aushandlungsprozesse versteht. Eine eindeutige oder gar ‚objektive‘ Definition oder Vorstellung von Gesundheit kann es nicht geben, weil sich die unterschiedlichen Interessen der mannigfachen Akteure zwar auf einen gemeinsamen Begriff ‚Gesundheit‘ bringen lassen, nicht aber auf eine gemeinsame Vorstellung davon, was dieser Begriff bezeichnen soll. Eine Soziologie der Gesundheit kann einen wichtigen Beitrag zur reflexiven Professionalität der Gesundheitswissenschaften leisten. ・ Literatur 275 Literatur Baumann, Z. (2000). Vom Nutzen der Soziologie. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Bittlingmayer, U. (2016). Strukturorientierte Perspektiven auf Gesundheit und Krankheit. 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Aufl. Frankfurt a.M.: Campus. World Health Organization (WHO) (1946). Constitution of the World Health Organization. New York. Stichwortverzeichnis A Abtreibung 189 Abwasserversorgung 44, 50 Achtsamkeitsübungen 146 Adderall 140 Adipositasepidemie 172 Advokaten 167 Affordable Care Act 73 AIDS-Seuche 172 Alkohol 243 Alleinverdiener 72 Allgemeines Gleichstellungsgesetz (AGG) 89 Allokation 107 Alltag 99, 113, 267 Almosen 73 alternativlos 217 Altersschwäche 67 Alterungsprozesse 123 Ambivalenz 214, 219, 249 Andropause 134 Anerkennung 87, 107 Antibabypille 133 Antidiskriminierungsgesetz 89 Antipsychiatriebewegung 189 Anwaltschaft 168 Arbeiterklasse 21 Arbeitsbedingungen 19 Arbeitshäuser 190 Arbeitslosengeld 71, 200 Arbeitslosenquote 135 Arbeitslosigkeit 25 Arbeitsmedizin 19 Arbeitsschutz 41, 50 Arbeitsteilung 15 Arbeitsunfähigkeitsversicherung 135 Architektur 216 Armenhäuser 189 Armut 25 absolute 83 relative 83 Armutsschwelle 83 Arzt-Patienten- Kommunikation 26 Asylrecht 138 Ätiologiemodell 44 Attest 134 Aufenthaltsstatus 91 Aufklärungskampagnen 270 Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom (ADHS) 140 Ausgrenzung 218 Ausländerrecht 138 Autonomie 88, 143, 219 B BAföG 71 Bakteriologie 44, 46 Bedeutsamkeit 56 Bedürfnisbefriedigung 74 Befruchtung 133 Befunde, falsch positive 131 Behandlungsregime 227 Behinderung 67, 89, 133 Beipackzettel 243 278 Stichwortverzeichnis Berufsprestige 67 Berufsunfähigkeit 135 Besserungsanstalt 187 Bestrafung 103 Bevölkerung 188 Bevölkerungsgesundheit 41 Bevölkerungsgruppe 76 Bevormundung 32, 54 Bewegungen, soziale 167 Bildung 20, 116 Bildungsbürgertum 48 Bildungstitel 67, 87 Biologismus 252 Biomacht 186 biomedizinische Modelle 53 Biopolitik 188 biopsychosoziales Krankheitsmodel 55 Bisexualität 149 Bluthochdruck 128, 143 Blutzucker 128 Body-Caring 248 Body-Mass-Index (BMI) 99 Body-Modification 247 Body-Styling 247 Body-Tuning 247 Bonusprogramme 130 Bruttoinlandsprodukt (BIP) 126 bürgerlicher Staat 69 Bürgerversicherung 108 C Cannabis 150, 175 Chancengleichheit 67, 87 Chefarztbehandlung 108 Chefarzt-Visite 216 Cholera 19, 43 Cholesterin 128 Christentum 223 chronische Krankheiten 84, 89 Compliance 26, 144 Correctional Facility 187 D Dampfmaschine 15 Definitionsmacht 55, 116, 137 Deklassierung 85 demographischer Wandel 127 Demokratie 43, 71, 200 Demokratisierung 54 Depression 139, 256 Deprofessionalisierung 27 Deutungsrahmen 173 Diäten 246, 247 Diätetik 223 Differenz 89, 217, 219 Disease Mongering 171 Diskriminierung 54, 89, 91 Diskurs 209, 240, 269 Disziplinierung 32 Doing Gender 252 Social Problems 179 Dramatisierung 177 Drei-Stadien-Gesetz 17 drittes Geschlecht 149 Drogengebrauch 256 Durchseuchung 226 E Eigeninitiative 85, 143 Stichwortverzeichnis 279 Eigenverantwortung 85, 105 Eigenvorsorge 105 Einkommen 25, 67 Einkommenssteuer negative 73 Einkommensungleichheit 83 Einsamkeit 175 Elektroschock 149 Elite 88 Empfängnisverhütung 133 Empowerment 32 Energiebilanz 225 Enhancement 241 Ent-Medikalisierung 148 Entmündigung 54 Entscheidungspotenziale 160 Entsolidarisierung 111 Entstigmatisierung 138 Enttraditionalisierung 16 Epidemie 19, 75 Epidemiologie 23, 158, 160, 264 Epilepsie 222 Ernährung 248 Ernährungsinterventionen 250 Ernährungskompetenz 257 Ernährungsratgeber 250 Ernährungssünde 224 Erschöpfungsdepression 141 Erwartungen 101, 253 Erwartungshaltung 243 Erwerbsarbeit 25 Erziehung 86 Esoterik 224 Essen 251 Essensmarken (Food Stamps) 73 Ethnie 89 Ethnizität 90 Ethnochirurgie 247 Eugenik 40, 47, 48, 189 positive/ negative 40 Europäische Kommission 75 Zentralbank 75 Euthanasie 189 Existenz -minimum 66, 73 -sicherung 71 Exklusion 54 Expertengremien 200 Experten 124 Extremsportarten 246 F Fachgesellschaften 23 Familie 101 Familienkompetenz 257 Fehlversorgung 257 Feinstaub 84 Feminismus 90 Fitnesstraining 146 Flüchtlingsfluten 172 Foltern 187 Food Stamps 73 Fortpflanzung 133 Framing 173 Frauenbewegung 54 Freiheit 98, 265 Fremdführung 191 Friedensbewegung 54 Fruchtwasseruntersuchung 132 280 Stichwortverzeichnis G Ganzheitlichkeit 248 Gebärmutterhalskrebs 131 Geburt 123, 132, 220, 240, 257 Geburtsgewicht 111 Gefahr 159 Gefängnis 187 Geisteskrankheit 148, 149 Gendefekt 131 Gender 251, 252 Identity Disorder (GID) 149 Forschung 150 Genetik 40 Genussmittel 150 Gerätemedizin 131 Gerechtigkeit 98, 108 Gerechtigkeitsprinzipien 107 Gerechtigkeitstheorien 113 Geringverdiener 73 Geschlechterdifferenz 252, 253 Geschlechterordnung 254 Geschlechterrollen 255, 257 Geschlechtsumwandlung 150 Geschlechtszugehörigkeit 25 Geschmack 86 Gesetzliche Krankenkasse 107 Gestaltbarkeit der sozialen Welt 18, 30 Gesundheit, öffentliche 46 Gesundheits-Apps 101 Gesundheitsausgaben 78 Gesundheitsbegriff 228 Gesundheitsberichterstattung 188 Gesundheitsberufe 27 Gesundheitsbewegung 54, 144 Gesundheitsdaten 158 Gesundheitsdiskurs 55, 269 Gesundheitserziehung 115 gesundheitsförderliche Gesamtpolitik 169 Gesundheitsförderung 55, 59, 170 Gesundheitsförderung schulische 115 zielgruppenorientierte 26 Gesundheitsfürsorge 39 Gesundheitsgerechtigkeit 107, 112 Gesundheitsgesellschaft 105 Gesundheitskommunikation 264 Gesundheitskompetenz 257 Gesundheitsmanagement 264 Gesundheitspädagogik 264 Gesundheitspflege öffentliche 20 Gesundheitspolitik 84, 105 Gesundheitssoziologie 23 Gesundheitssystem 38 Gesundheitsverhalten 109 Gesundheitswesen 27 Gesundheitswissenschaften 39, 250, 264 Gewalt 187 Gewerbemedizin 19 Gleichheit 67 Gott 15, 45 Gouvernementalität 190, 191, 266 Gradient sozialer 265 Grenzwerte 129 Grenzziehung 212 Stichwortverzeichnis 281 Grundbedürfnisse 20, 83 Gutachten, psychologisches 137 Gutes Leben 269 Gutes Risiko 159 H Habitus 238 Handhabbarkeit 56 Handlungsfähigkeit 86 Hartz-Reformen 200 Hausfrau 72 Hautfarbe 89 Health in all Policies 59, 170, 271 Healthismus 142, 203 Herrschaftstechnologien 191 Herzkreislauferkrankungen 58, 143 Heterosexualität 253 Hexenschuss 227 Hippokrates 222 Hirndoping 247 Hochkultur 88 Homo oeconomicus 196, 202 Homöostase 223 Homosexualität 149 Hormone 239 Hormonhaushalt 134 Hormontherapie 134 Horoskopie 224 Humoralpathologie 223 Hygiene 38, 44 medizinische 46 soziale 46, 264 Hygieneerziehung 188 Hypertonie 128 I ICD 129 Ich-AG 196 Idealtypus 73 Identitätsarbeit 247 Impfprogramme 188 Industrialisierung 15, 42 Industriearbeit 42 Industriekapitalismus 15 Industrielle Revolution 67 Industrienation 51 Infektionskrankheiten 45, 46, 51 Informelle Ungleichbehandlung 90 Inkorporation 87, 242 Innovation 33 Institutionalisierung 178, 180 Interdisziplinarität 23 Internationaler Währungsfonds 75 Intersexualität 252 Intervention 32, 59, 84, 115, 160 Invalidenversicherung 136 In-vitro-Fertilisation 133 Irrenhaus 187 J Jugendkult 132 K Kaiserschnitt 132 Rate 132 Kanalisation 188 282 Stichwortverzeichnis Kapital kulturelles 87 ökonomisches 87 Kapitalismus 198 Kaufkraft 18, 74 Kinderarbeit 21, 41 Kindererziehung 72 Kindergarten 101 Kirche 16 Klassengeschmack 87 Kleinwüchsigkeit 125 Klimakterium 133, 134, 257 Klosterstudie 255 Kohärenzgefühl 56 Kokon-Modell 165 Kolonialisierung 67 Kommunikation 26, 211 Konflikte, soziale 135 Konformität 101 Konkurrenz 198 freie 69 Konstruktivismus 211 Konsumgesellschaft 146 Konsummuster 125 Kontagien 226 Kontingenz 30 Kontrolle soziale 124 Konzentrationsmangel 125 Körper 114, 187, 225, 227 Körperboom 246 Körperformen 162 Körpergewicht 128 Körperleib 239 Körperpraktiken 239, 249 Körpersäfte 223 Kraftwerksemissionen 144 Krankenhaus 132 -aufsicht 41 Krankenrolle 138 Krankenversicherung 107 Krankheitsbewältigung 24 Krankheitsdiskurs 55, 244 Krankheitsgewinn 104 Krankheitslehre 45 Krankheitstheorie 44 Krebs 53, 131, 227, 245 -vorsorge 130 Kriminalisierung 148 Kriminalität 103 kulturelles Kapital 87 Kulturkörper 245 L Laien 125, 143 Laissez-faire 198 Lärmbelastung 84 Lebenserwartung 22, 42, 77, 111, 254 Lebensstil 86 Lebenswelt 50 Leerer Signifikant 270 Legalisierung 148 Leib 239, 240 Leibeigenschaft 66 leibliches Spüren 240, 243 Leistungsfähigkeit 104, 114, 230, 247 Leistungsgesellschaft 54 Leistungsorientierung 196 Liberaler Rechtstaat 68 Liberalismus 198 Linguistische Wende (Linguistic Turn) 214 Stichwortverzeichnis 283 Lohnarbeitsverhältnis 66 Luftverschmutzung 145 M Macht 215 -analyse 186 -ausübung 185 -verhältnisse 186 -positionen 170 Mammographie 131 Manipulationen 176 Männlichkeit 255 Marihuana 150 Marktprinzip 198 Marktwirtschaft 198 Märzrevolution 20 Maschinenköper 248 Massenmedien 176, 270 Masturbation 148 Materialismus historischer 17 Media Advocacy 173 Mediale Aufmerksamkeit 160 Median 83 Medicinische Policey 41 Medienanwaltschaft 173 Meditation 146 Medizinische Soziologie 22, 23 Medizinischer Fortschritt 127 Mehrfachdiskriminierung 90 Meinungsfreiheit 98, 265 Menschenbild 16, 195, 197, 246, 267 Menschenrechte 68 Menschenwürde 265 Meritokratie 67 Metapher 222, 225, 226, 245 Methylphenidat 140 Miasmen 226 Migrationshintergrund 25 Militär 241 Mittelwert 83 Möglichkeitshorizont 197 Monotheismus 17 Moralisierung 142 Mortalität 47 Mortalitätsraten 58 Mutprobe 256 N Nachtwächterstaat 70 Nahrungsergänzungsmittel 247 Narrativ 67 National Health Service 76 Nationalsozialismus 61, 189 Nationalstaat 91 Naturzustand 201 Nebenwirkung 243 Neoliberalismus 197 Nervenheilanstalt 187 Netzwerke 88 Neuro-Enhancement 246 Nichtraucherkampagne 194 Nocebo-Effekt 243 Normalisierung 148, 150 Normalität 99, 114 Normativität 114 Normen 98 O Obamacare 73 Obdachlose 74 Objektivität 162, 215 284 Stichwortverzeichnis Öffentliche Gesundheit 40, 46, 112 Ökonomie 198 Ökonomischer Status 25 Ökonomisches Kapital 68, 87 Ökonomisierung 27 des Sozialen 198 Optimierung 203, 241 Optimierungslogik 189 Ordnung 212 Ordnungspolitik 70 Organe 239 Organisationale Kultur 178 Organisationsentwicklung 116 Orthorexie 148 Osteoporose 128, 129 Ottawa-Charta 59, 168, 264 P Pädagogik 215 Pap-Test 130 Partizipation 115, 169, 254 paternalistisch 41 Pathologisierung 148, 252, 266 Patientenkörper 243 Pauperisierung 15 Peer-Group 101 Peinliche Strafen 187 Pestgutachten 224 Pestizide 144 Pflegebedürftige 14 Pflegeberufe 14 Pflegeheim 134 Pflegeversicherung 72 Pflegewissenschaft 14 Pflicht zur Gesundheit 105 Pharmaindustrie 139, 145, 171 Pharmakonzerne 79 Placeboeffekt 243 Polizei 103, 241 Polytheismus 17 Potenzmittel 133 Prävention 55, 59, 170 Präventionspolitik 117 Presse -freiheit 98, 265 -verlage 177 Priorisierung 109, 111 Private Krankenversicherung 107 Privateigentum 198 Privilegien 66 Problem -bearbeitung 178 -bekämpfung 172 -deutung 162, 165 -karriere 165 -muster 165, 171 -wahrnehmung 165 Problematisierung 161, 162, 165, 266 Produktionsverhältnisse 17 Produktivität 188 Produktivkräfte 15, 17 Profession 32, 169, 273 Professionalisierung 27 Professionalität 33 Prohibitionspolitik 194 Protestanten 22 Psychiatrie 137 Psychiatrie-Reform 213 Psychoanalyse 148 Psychologisches Gutachten 137 Psychopharmaka 257 Stichwortverzeichnis 285 Pubertät 257 Public Health 23, 26, 31, 39, 112, 170, 188, 204, 250, 264, 271 Publikum 177 Publizität 177 R Rasse 40, 89 Rassenhygiene 40, 48, 264 Rassismus 68 Ratgeberliteratur 190, 198 Rationalität 112, 192, 195, 266 Rationierungen 110 Rauchen 98, 193 Nichtraucherkampagne 194 Recht 103 Rechtsstaatlichkeit 98 Regierung 190 Regierungstechnologien 197 Reihenuntersuchung 130 Religion 16, 89, 90 Rente 71 Reproduktion 252 Return on Investment 200, 201 Rheuma 245 Riester-Rente 72 Risiko -begriff 158 -diskurse 163 -faktoren 59, 128, 131, 144, 160, 220 -konflikte 160 -kultur 160 -logik 158 -praktiken 256 Ritalin 140 Rollenverpflichtung 104 Rollenverteilung bürgerliche 257 Rollstuhl 245 Röntgenuntersuchung 131 Routine 180 Rückenschmerz 227 S Sachleistungsprinzip 201 Säkularisierung 16 Salutogenese 56, 58 Sanktionen 103, 187 Säuglingssterblichkeit 111 Schadenszaubers 227 Schädlinge 226 Schädlingsbekämpfung 227 Schadstoffemissionen 188 Schicksal 45 Schimmelbefall 84 Schlafmangel 84 Schlechtes Risiko 159 Schönheit 247 Schönheitsideale 28 Schönheitskult 132 Schönheitsoperationen 246 Schüchternheit 125 Schuld 85, 179 Schule 101, 116 Schulmedizin 143 Schulpflicht 50, 188 Schulsystem 116 Schwangerschaft 123, 132, 257 Screening 130 Sectio 132 Selbstbefriedigung 148 Selbstbestimmung 59 286 Stichwortverzeichnis Selbstermächtigung 248 Selbstführung 191 Selbsthilfegruppen 145, 171 Selbstinszenierung 167 Selbstmord 22 Selbstsorge 248 Selbstverantwortung 147, 196 Selbstvermessung 196 Selbstverwirklichung 141, 146 Selektionsprozesse 84 Sense of Coherence 56 Setting 115, 116 Sex 251, 252 Sexualität 132, 212, 247 Sexuelle Identität 90 Leistungsfähigkeit 125 Orientierung 89 Sicherheit 98, 265 Sicherungsverwahrung 137 Sinnesorgane 239 Skelett 239 Sklaverei 66 Social Problems Work 179 Sociale Medizin 21 Sockelarbeitslosigkeit 75 Solidarität 108 Solidaritätsprinzip 72 Sorgsamkeit 248 Souveränitätsmacht 187, 188 Sozialdarwinismus 203 Soziale Bewegungen 167 Frage 42 Gerechtigkeit 108, 112 Hygiene 39, 264 Infrastruktur 72 Konflikte 73, 135 Konstruktion 180, 210, 252 Kontrolle 28, 100, 124 Ordnung 30, 99 Probleme 137, 161 Rollen 22, 101, 230 Sicherheit 71 Systeme 22 Werte 98 Sozialepidemiologie 22, 23 sozialer Frieden 70 Sozialhygiene 48 Sozialisation 86, 101, 171, 239 Sozialisationsinstanzen 101 Sozialmedizin 21 Sozialpolitik 21, 70 Sozialstaat 68, 69, 70 sozialstaatliche Leistungen 71 Sozialtechnologie 229 Sozialversicherung 50, 71 Spanische Grippe 75 Spieltheorie 202 Spiritualität 248 Sport 241, 248 Sprache 210, 214 Sprechverbote 212 Sprechweise 86 Staat 43, 145, 198 Staatsbürgerschaft 71, 91 Staatsschulden 76 Stadtreinigung 41 Startchancen 67 Statistik 43 Sterilisation 189 Steuerfinanziertes Gesundheitssystem 76 Strafen Stichwortverzeichnis 287 peinliche 187 Strafgesetzbuch (StGB) 149 Strafjustizsystem 117 Strafvollzug 103, 116 Straßenverkehr 84 Stress 84, 144 Stressoren 111 Struktur- Funktionalismus 22 Studentenbewegung 54 Subjekt 193 Subjektivität 193 Subsidiarität 71 Subventionsprinzip 73 Sucht 138, 244 -diskurs 244 -körper 245 -prävention 178 Suizidrate 76, 257 Sünde 223 Steuer 224 System der Krankenbehandlung 38 Systemtheorie 211 T Technologien des Selbst 191 Teilhabe 71 Teilzeitarbeit 72 Therapiewissenschaften 31 Tod 212, 220, 240 Tracking Devices 196 Transferzahlungen 84 Transsexualität 150 Trauer 139 Traurigkeit 125 Trinkwasserversorgung 188 Tuberkulose 44, 52 Typhus 19, 42 U Überfluss 74 Übergewicht 99, 129 Überproduktionskrise 75 Überversorgung 108, 257 Umwelt 44 -belastungen 84 -verschmutzung 145 -zerstörung 145 Unfruchtbarkeit 133 Ungleichbehandlung 90 Unsicherheit 30 soziale 141 unternehmerisches Selbst 195 Urbanisierung 15 V Verantwortungszuschreibung 161 Vergesellschaftung 86 Vergesundheitlichung 271 Verhalten, abweichendes 100 Verhaltenslenkung 190 Verhaltensprävention 86 Verhaltensstereotypen 256 Verhaltenstherapie 139 Verhältnisprävention 86 Verhütung 133 Vermögen 67 Verschreibungsraten 257 Versichertenkollektiv 108, 201 Versicherung 73, 79, 108, 159 288 Stichwortverzeichnis Versorgungskatastrophe 172 Versorgungssektoren 26 Verstehbarkeit 56 Vertrauen 99 Viagra 133, 247 Volkskörper 189, 226 Volkswirtschaft 46, 126 Vorsorgemaßnahmen 105 Vorurteile 163 W Wahlprogramme 270 Wahlrecht 91 Wahnsinn 213 Wahrheit 192, 204, 215 Wahrnehmungskokon 163 Wasserversorgung 44 Wechseljahre 133 Weiblichkeit 255 Wellness 146, 196, 248 Weltanschauung 89, 90 Welternährungsorganisation (FAO) 83 Weltgesundheitsorganisation (WHO) 38, 58, 230 Wertehierarchien 98 Wertkonflikte 98 Wertordnung 161 Wertorientierungen 98 Wettbewerb 196, 198 Wirklichkeit 218 Wirtschaftswachstum 74 Wohlbefinden 114 Wohlfahrtsstaat 71, 72, 198 Wohlstand 19, 110 Wohlstandsniveau 78 Würde 98 Z Zivilisationskrankheiten 51, 53, 58 Zivilreligion 17 Zusatzversicherungen 72 Zwangsheterosexualität 252 Zweigeschlechtlichkeit 252, 256