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Was ist Theorie?

Theoriebegriff und Dialogische Theorie in den Kultur- und Sozialwissenschaften

0116
2017
978-3-8385-4797-8
978-3-8252-4797-3
UTB 
Peter V. Zima

Was ist Theorie und welche Bedeutung haben Ideologien und Werturteile für sie? Wie könnte ein kultur- und sozialwissenschaftlicher Theoriebegriff aussehen? Die Tatsache, dass eine zweite Auflage des vorliegenden Werks zustande kam, lässt das Bedürfnis nach einer konkreten Beantwortung der Frage erkennen. Das Buch antwortet auf die oben genannten Fragen, indem es zunächst klärt, wie sich Theorien in den verschiedenen Wissenschaftsbereichen definieren lassen. Anschließend werden die wichtigsten Theoriedebatten des 20. Jahrhunderts dargestellt, aber auch kritisch bewertet. Am Schluss des Bandes steht die Zusammenführung der unterschiedlichen Ansätze im Konzept einer Dialogischen Theorie, die den Besonderheiten der Kultur - und Sozialwissenschaften Rechnung trägt.

<?page no="0"?> Peter V. Zima Was ist Theorie? 2. Auflage <?page no="1"?> utb 2 5 8 9 Eine Arbeitsgemeinschaft der Verlage Böhlau Verlag · Wien · Köln · Weimar Verlag Barbara Budrich · Opladen · Toronto facultas · Wien Wilhelm Fink · Paderborn A. Francke Verlag · Tübingen Haupt Verlag · Bern Verlag Julius Klinkhardt · Bad Heilbrunn Mohr Siebeck · Tübingen Ernst Reinhardt Verlag · München · Basel Ferdinand Schöningh · Paderborn Eugen Ulmer Verlag · Stuttgart UVK Verlagsgesellschaft · Konstanz, mit UVK / Lucius · München Vandenhoeck & Ruprecht · Göttingen · Bristol Waxmann · Münster · New York <?page no="3"?> Peter V. Zima Was ist Theorie? Theoriebegriff und Dialogische Theorie in den Kultur- und Sozialwissenschaften 2., überarbeitete Auflage A. Francke Verlag Tübingen <?page no="4"?> Peter V. Zima war bis 2012 ordentlicher Professor für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft an der Alpen-Adria-Universität Klagenfurt. Er ist seit 1998 korr. Mitglied der Österreichischen Akademie der Wissenschaften in Wien, seit 2010 Mitglied der Academia Europaea in London und seit 2014 Honorarprofessor der East China Normal University in Schanghai. In der utb-Reihe sind von ihm erschienen: Komparatistik, 1992, 2011 (2. Aufl.); Die Dekonstruktion. Einführung und Kritik, 1994, 2016 (2. Aufl.); Moderne / Postmoderne. Gesellschaft, Philosophie, Literatur, 1997, 2001 (2. Aufl.), 2014 (3. Aufl.), 2016 (4. Aufl.); Theorie des Subjekts, 2000, 2007 (2. Aufl.), 2010 (3. Aufl.), 2017 (4. Aufl.); Entfremdung. Pathologien der postmodernen Gesellschaft, 2014. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb.dnb.de abrufbar. 2., überarbeitete Auflage 2017 1. Auflage 2004 © 2017 • Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 • D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Internet: www.francke.de E-Mail: info@francke.de Printed in Germany utb-Nr. 2589 ISBN 978-3-8252-4797-3 <?page no="5"?> Inhaltsverzeichnis Vorwort ..........................................................................................ix Einleitung: Problem und Begriffsbestimmung ............................1 1. Theorie: strukturell und funktional.............................................4 2. Theorie objektbezogen .............................................................12 3. Theorie als Diskurs und die Aufgabe der Philosophie .............19 Erster Teil Der theoretische Diskurs in den Sozial- und Kulturwissenschaften: Begriffsbestimmung ...........................................25 I. Die kulturelle Bedingtheit der Theorie.................................29 1. Rationalisierungsprozesse ........................................................30 2. Kultur als Problematik: Die kulturelle Bedingtheit kultur- und sozialwissenschaftlicher Theorien.........................34 3. Zur Institutionalisierung von Theorien.....................................40 II. Die sprachliche und ideologische Bedingtheit von Theorien: Definition der Theorie als Soziolekt und Diskurs .............................................................................47 1. Sozio-linguistische Situationen, Soziolekte und Diskurse .......48 2. Ideologie und Theorie: Der Diskurs der Theorie .....................56 3. Subjektivität und Reflexion......................................................65 III. Theorie, Wissenschaft, Institution und das strong programme ...................................................................69 1. Theorie, Wissenschaft, Institution............................................70 2. Bloors und Barnes’ strong programme: Eine Kritik ................71 <?page no="6"?> vi 3. Ideologie und Naturwissenschaft: Canguilhems Alternative ...77 4. Die Besonderheit der Kultur- und Sozialwissenschaften ........80 IV. Wertfreie, falsifizierbare Theorie? Zur Beziehung von Wertfreiheit, Intersubjektivität und Falsifizierbarkeit.............................................................85 1. Wertfreiheit als diskursives Problem .......................................86 2. Falsifizierbarkeit, Intersubjektivität und Diskurs .....................90 3. Vom Kritischen Rationalismus lernen: Ausblick .....................99 V. Paradigmen in den Kultur- und Sozialwissenschaften? ....101 1. Paradigma: Versuch einer Begriffsbestimmung.....................103 2. Zur Anwendbarkeit des Paradigmabegriffs in den Kultur- und Sozialwissenschaften.......................................................106 3. Paradigmen, sozio-linguistische Situationen und Soziolekte 115 Zweiter Teil Die Einheit der Gegensätze: Prolegomena zu einer Dialogischen Theorie .............................119 VI. Zwischen Universalismus und Partikularismus: Popper und Lyotard (Kuhn, Winch) ..................................123 1. Poppers Universalismus als Kritik an Kuhns „framework“ ...124 2. Lyotards postmoderner Partikularismus als polemische Ergänzung des Kritischen Rationalismus ...............................128 3. Von der Einheit der Gegensätze zum Dialog .........................134 VII. Intersubjektivität und Aspektstruktur: Davidson und Mannheim..................................................137 1. Davidson: Subjektivität, Intersubjektivität und Sprache ........138 <?page no="7"?> vii 2. Mannheim: Ideologie und Aspektstruktur..............................143 3. Für einen reflektierenden Dialog............................................149 VIII. Realismus und Konstruktivismus: Lukács und Glasersfeld.....................................................151 1. Georg Lukács oder der konstruierte Realismus .....................152 2. Ernst von Glasersfeld oder der Zerfall der Wirklichkeit in der Postmoderne .................................................................156 3. Ein Ausweg aus der Beliebigkeit? ..........................................163 IX. System und Feld: Luhmann und Bourdieu .......................167 1. Luhmann oder die Wahrheit des Systems ..............................168 2. Bourdieu oder der Kampf um das Feld ..................................175 3. Subjektivität, Wahrheit, Dialog..............................................183 X. Intersubjektivität und Machtstruktur: Habermas und Foucault (Althusser, Pêcheux) ..................187 1. Habermas’ Intersubjektivität als Ideal und Abstraktion.........189 2. Von Foucault zu Althusser und Pêcheux: Erkenntnis als Macht ..............................................................197 3. Subjektivität und Verständigung zwischen Determinismus und Freiheit.............................................................................203 Dritter Teil Dialogische Theorie: Eine Metatheorie der Verständigung......207 XI. Kritische Theorie als Dialog: Ambivalenz und Dialektik, Nichtidentität und Alterität ...............................213 1. Ambivalenz, Paradoxie und offene Dialektik ........................214 2. Nichtidentität, Alterität und Kritik .........................................219 3. Alterität, Ambivalenz und Dialog ..........................................223 <?page no="8"?> viii XII. Subjektivität, Reflexion und Objektkonstruktion im Diskurs ..........................................................................225 1. Nichtidentität und Objektkonstruktion ...................................227 2. Objektkonstruktion als Selbstkonstruktion des Subjekts .......233 3. Der Wahrheitsanspruch der Konstruktion ..............................238 XIII. Der interdiskursive Dialog: Theorie ...............................243 1. Interdiskursive Verständigung: Einige Voraussetzungen ......245 2. Rekonstruktion, Übersetzung, Kritik......................................252 3. Interdiskursive Theoreme.......................................................259 XIV. Der interdiskursive Dialog: Praxis ..................................263 1. Formalismus und Marxismus: Das „Wie“ und das „Warum“ ..........................................................................264 2. Sprechakttheorie, Semiotik und Dekonstruktion: Wiederholung als Iterativität und Iterabilität .........................270 3. Ablehnung, Einverständnis und Mißverständnis....................274 XV. Kommunikation in fragmentierter Gesellschaft: Pluralismus, Indifferenz und Ideologie ...........................279 1. Pluralismus und Indifferenz ...................................................280 2. Die ideologischen Reaktionen und der Hermetismus der Theorie .............................................................................284 3. Wozu Dialogische Theorie? ...................................................286 Bibliographie ..............................................................................289 Personenregister ........................................................................301 <?page no="9"?> ix Vorwort zur zweiten Auflage Ausdrücke wie „soziologische Theorie“, „Kulturtheorie“ oder „Literaturtheorie“ setzen ein Theorieverständnis voraus, das kaum jemals verdeutlicht wird. Bestenfalls wird am Ende der Lektüre eines wissenschaftlichen Werks klar, was mit „Theorie“ gemeint war. Terry Eagletons kultur- und literaturwissenschaftliches Buch After Theory (2003) verabschiedet den Theoriebegriff, ohne sich mit ihm auseinanderzusetzen. Ähnliches kann von Antoine Compagnons Le Démon de la théorie (1998) gesagt werden: Mit Hilfe des sens commun soll der Theorie der „Dämon“ ausgetrieben werden. Aber was ist Theorie? Die Tatsache, daß eine zweite Auflage des vorliegenden Werks zustande kam, läßt das Bedürfnis nach einer konkreten Beantwortung dieser Frage erkennen. Dieses Bedürfnis ist insofern legitim, als sich ohne eine klare Begriffsbestimmung der „Theorie“ die Kultur- und Sozialwissenschaften nicht weiterentwickeln können. Als Orientierungshilfen wurden in der Neuauflage an einigen Stellen zusätzliche Kurzdefinitionen und Zusammenfassungen eingefügt. Vorwort zur ersten Auflage Das Wort Theorie ging aus dem altgriechischen Verb theorein hervor, das soviel wie „schauen“ oder „beobachten“ bedeutet. Theorie in diesem etymologischen Sinn wäre also ganz allgemein als „Anschauung“ oder „Beobachtung“ aufzufassen. Nun wird aber der moderne Theoriebegriff meistens viel enger gefaßt: Er bezeichnet die wissenschaftliche Erkenntnis im Unterschied zur religiösen Kontemplation oder zur künstlerischen Betrachtung. Dennoch ist der etymologische Hintergrund bedeutsam: weil er im modernen Kontext daran erinnert, daß Theorie eine besondere Art der Wahrnehmung ist, deren Besonderheit zur Sprache gebracht werden sollte. Der Ausdruck „zur Sprache bringen“ kann hier auch wörtlich verstanden werden: nämlich als Frage nach der sprachlichen Beschaffenheit von Theorien. Diese ist bisher nicht eingehend analysiert und umfassend dargestellt worden. Denn seit langem befassen sich Kultur- und Sozialwissenschaftler mit den Begriffsbestimmungen von „Kultur“, „Ideolox <?page no="10"?> gie“, „Sprache“ oder „Diskurs“, ohne eine ausführliche Diskussion des allgemeinen Theoriebegriffs in die Wege zu leiten. Noch im Jahre 1999 muß ein Philosoph zugeben, „daß für den Begriff Theorie (...) bisher kein einheitliches, wissenschaftstheoretisches Begriffsverständnis vorliegt“. Die von ihm erwähnte Minimalauffassung „besteht darin, daß Theorien in ordnender Absicht formal als Satzsysteme aufgestellt werden“. 1 Auch Jürgen Mittelstraß entscheidet sich für diese Minimalauffassung, wenn er im Zusammenhang mit „Theorie“ von einem „System von Sätzen“ 2 spricht. In der Einleitung wird sich zeigen, daß die bisherigen Theoriediskussionen über formale Definitionen dieser Art nicht hinausgelangt sind. Formale und abstrakte Kriterien für die Bewertung von Theorien wie „Widerspruchsfreiheit“, „Innovation“ und „Fruchtbarkeit“ sind einerseits unvermeidlich, weil wir ohne sie nicht auskommen, andererseits unbefriedigend, weil sie auch auf nichttheoretische Texte anwendbar sind: auf politische Reden, Zeitungsberichte und sogar Kochbücher. Auch von ihnen erwarten wir - trotz schlechter Erfahrungen - Kohärenz und Information. Es kommt hinzu, daß in allen diesen Fällen die Frage nach Innovation und Fruchtbarkeit nur schwer zu beantworten ist. Als Alternative bieten sich, sofern es um spezifisch theoretische Probleme geht, konkrete Kriterien im soziologischen und semiotischen Sinne an. In diesem Buch geht es - vor allem im Ersten Teil - darum, Theorien als sprachliche Strukturen darzustellen: als Diskurse oder semantisch-narrative Einheiten, die wesentlich mehr sind als die Summe ihrer Sätze, Aussagen oder Hypothesen. Nur wenn es gelingt, auf diskursiver Ebene über die rein formalen Definitionen von „Theorie“ hinauszugehen, kann ein Theoriebegriff vorgeschlagen werden, der dem besonderen (kulturellen, sprachlichen und ideologischen) Charakter der Kultur- und Sozialwissenschaften gerecht wird. 1 P. W. Balsinger, „Dialogische Theorie? - Methodische Konzeption! “, in: Ethik und Sozialwissenschaften 4, 1999, S. 602-603. In diesem Buch wird immer wieder auf diese Diskussion Bezug genommen, die im Jahre 1999 die Dialogische Theorie zum Gegenstand hatte: Vgl. vor allem Kap. XIII und XIV. 2 J. Mittelstraß, Die Häuser des Wissens. Wissenschaftstheoretische Studien, Frankfurt, Suhrkamp, 1998, S. 27. Zu Recht erklärt Mittelstraß: „Die Entscheidung für eine Theorie ist stets eine Entscheidung für ein System von Sätzen, nicht für einzelne Sätze.“ Aber: Wie kommt die Kohärenz eines Systems von Sätzen zustande? <?page no="11"?> xi Diskurse sind als soziologische, philosophische, geschichtswissenschaftliche oder literaturwissenschaftliche Erzählungen aufzufassen, die sich von Kultur zu Kultur, von Ideologie zu Ideologie unterscheiden können. Nicht nur die funktionalistische Soziologie, die nach dem Zweiten Weltkrieg in den USA entstand, erscheint vielen ihrer Kritiker als eine Konsensideologie, die aus einer besonderen Kultur hervorging; auch die in Europa entworfenen soziologischen Theorien erzählen die Gesellschaft im Rahmen von Diskursen, denen eine besondere Semantik und ein konkretes ideologisches Engagement eigen sind. In Frankreich stellt beispielsweise Alain Touraine die gesellschaftliche Entwicklung dar, indem er einen für den französischen Kontext charakteristischen Gegensatz zwischen der sozialen Bewegung einerseits, den Staatsapparaten und den Wirtschaftsunternehmen andererseits konstruiert. Sein ideologisches Engagement kommt immer dann zum Ausdruck, wenn er diese Entwicklung aus der Sicht der sozialen Bewegungen betrachtet. Auch Niklas Luhmanns Erzählung der sozialen Differenzierung ist keineswegs neutral, sondern wendet sich u.a. gegen Touraines handlungsorientierten Ansatz, die Kritische Theorie und marxistische Soziologien. Zugleich artikuliert sie bestimmte soziale Interessen, die in Kap. IX erläutert werden. Um der kulturellen und ideologischen Bedingtheit humanwissenschaftlicher Theorien Rechnung zu tragen, werden diese im Ersten Teil (Kap. I-II) als interessengeleitete Diskurse oder semantischnarrative Strukturen („Erzählungen“) definiert. Es zeigt sich im Anschluß an ältere und neuere Arbeiten des Autors, daß der theoretische Diskurs einerseits von seinem ideologischen (liberalen, konservativen oder feministischen) Engagement lebt, andererseits von ihm als nach Erkenntnis strebender Diskurs bedroht wird. Kultur- oder sozialwissenschaftliche Theorie kann jederzeit zu einer Ideologie verkommen, die sich monologisch der Wirklichkeit gleichsetzt. Angesichts dieser Gefahr stellt sich die Frage, wie mit einem ideologischen Engagement, das als Motivation und unverzichtbare Triebfeder einer jeden humanwissenschaftlichen Theorie innewohnt, umzugehen sei. In den Kapiteln III und IV wird deutlich, daß das von Max Weber in die Diskussion eingebrachte Wertfreiheitspostulat, an das die kritischen Rationalisten (Hans Albert, Karl R. Popper) anknüpfen, die Schwierigkeiten nicht ausräumt, weil theoretische Diskurse im kultur- und sozialwissenschaftlichen Bereich auf soziale, kulturelle <?page no="12"?> xii und wirtschaftliche Probleme (z.B. Arbeitslosigkeit, Inflation, Umweltverschmutzung) reagieren und Lösungsvorschläge machen, die per definitionem nicht wertfrei sein können. Davon zeugen ihr wertbefrachtetes Vokabular und ihre wertende Semantik. In diesem Kontext wird auch die von Popper geforderte Falsifizierbarkeit von einzelnen Aussagen und ganzen Theorien zum Problem, weil die Widerlegung einer Theorie oder einer ihrer Hypothesen nicht zwischen atomisierten Individuen erfolgt, sondern zwischen (liberalen, konservativen, feministischen) Wissenschaftlergruppen, deren theoretische Diskurse zugleich ideologische Sprachen sind. Was in einer Gruppe als „widerlegt“ oder einfach als „überholt“ gilt, kann in einer anderen Gruppe weiterhin Gültigkeit beanspruchen. Angesichts dieser Probleme scheint Poppers Forderung nach „Falsifizierbarkeit“ als Widerlegung von Theorien im kultur- und sozialwissenschaftlichen Bereich nicht erfüllbar zu sein. Als Alternative wird im Zweiten Teil im Anschluß an die Kritische Theorie (Adornos, Horkheimers) und Bachtins Hermeneutik eine dialektische und dialogische Metatheorie vorgeschlagen, die gegensätzliche theoretische Positionen zusammenführt, um sie im Rahmen einer Konfrontation zu überprüfen. Wo konträre Standpunkte aufeinandertreffen, läßt jede der beteiligten Theorien ihre Wahrheitsmomente und ihre blinden Flecken erkennen. Indem sie andere Perspektiven eröffnet, indem sie den in Frage stehenden Gegenstand ganz anders konstruiert, macht die konkurrierende Theorie Probleme sichtbar, welche die von uns bevorzugte Theorie verdeckt. Es geht also darum, theoretische Diskurse zwischen heterogenen Gruppensprachen oder Soziolekten überprüfen zu lassen. Dabei knüpft die hier entwickelte Dialogische Theorie durchaus wieder an Poppers und Hans Alberts Forderung nach kritischer Überprüfung an. Diese hat jedoch keine endgültige Widerlegung (Falsifizierung) zum Ziel, sondern eine „Erschütterung“ im Sinne von Otto Neurath. Als einer der ersten kritisierte Neurath den Formalismus von Poppers Logik der Forschung (1934) und schlug als Alternative zum Falsifizierungsprinzip die „Erschütterung“ von Theorien in der kritischen Überprüfung vor. Diese „Erschütterung“ wird hier dialogisch gedeutet: als Bloßlegung theoretischer Schwächen durch Zusammenführung gegensätzlicher (extremer) Positionen. Im Zweiten Teil werden die einander widersprechenden Theorien Poppers und Lyotards, Davidsons und Mannheims, Lukács’ und Glaxiii <?page no="13"?> sersfelds, Luhmanns und Bourdieus, Habermas’ und Foucaults aufeinander bezogen. Dabei zeigt sich, daß diese Ansätze einander nicht nur widersprechen, sondern auch ergänzen, weil die eine Theorie Probleme erkennen läßt, die von der anderen verdeckt werden. Im Dritten Teil wird die Dialogische Theorie als Metatheorie und als Fortsetzung der Kritischen Theorie Adornos und Horkheimers dargestellt, die hier eine neue (dialogische) Richtung einschlägt (Kap. XI). Statt Gesellschaftskritik und Theoriebildung in reiner Negation ausmünden zu lassen, wird der theoretische Diskurs auf die schon bei Adorno und Horkheimer so wichtigen Begriffe der Nichtidentität und der Alterität ausgerichtet. Aus dieser Begrifflichkeit geht gleichsam von selbst der Dialogbegriff hervor, der hier einerseits im Sinne von Michail M. Bachtin verwendet, andererseits jedoch auf die wissenschaftstheoretische (metatheoretische) und konstruktivistische Ebene projiziert wird. Auf dieser Ebene erscheint die Dialogische Theorie als eine Metatheorie der kritischen Prüfung und Verständigung. Eine ihrer zentralen Thesen, die aus der Kritik der Wertfreiheit (Weber) und der Falsifizierbarkeit (Popper) hervorgeht, lautet: Die Überprüfung wissenschaftlicher Hypothesen oder Theoreme, die Popper und andere kritische Rationalisten zu Recht fordern, sollte nicht nur intersubjektiv, sondern auch (und vor allem) interdiskursiv oder interkollektiv, d.h. zwischen heterogenen Wissenschaftlergruppen, stattfinden. Es geht darum, die Rede des anderen vorab mitzudenken: nicht primär aus ethischen, sondern aus erkenntnistheoretischen Gründen (Kap. XII). Diese Forderung nach interdiskursiver oder interkollektiver Kritik, die in der Zeitschrift Ethik und Sozialwissenschaften (4, 1999) selbst zum Gegenstand einer angeregten Debatte wurde, wird im XIII. und XIV. Kapitel anhand von theoretischen Diskussionen, die in der Vergangenheit zwischen ideologisch heterogenen Gruppen stattgefunden haben, konkretisiert. Die Auseinandersetzungen zwischen russischen Formalisten und Marxisten, kritischen Rationalisten und Vertretern der Kritischen Theorie („Positivismusstreit“), Sprechakttheoretikern und Dekonstruktivisten bestätigen die Vermutung, daß ein Zusammentreffen heterogener Standpunkte wesentlich ergiebiger ist als Gespräche mit Gleichgesinnten innerhalb einer Wissenschaftlergruppe. Solche Gespräche mögen sich bisweilen als fruchtbar erwiesen; in vielen Fällen bestätigen sie nur etablierte wissenschaftliche <?page no="14"?> xiv und ideologische Dogmen. Es käme darauf an, diese Dogmen dialogisch aufzubrechen. In einer Zeit ökologischer, feministischer, ethnischer und religiöser Engagements soll in diesem Buch (vor allem in den Kapiteln II und XV) die Aktualität des Ideologiebegriffs im kultur- und sozialwissenschaftlichen Bereich verdeutlicht werden. Die Großideologie als internationale Utopie mag obsolet sein; die „Kleinideologie“ ist weiterhin die treibende Kraft, die humanwissenschaftliche Theoriebildung mit Leben erfüllt. Allerdings kann sie der Theorie auch zum Verhängnis werden: als Identitätsdenken, Dualismus und Monolog. Es ist deshalb wichtig, die ambivalente Rolle der Ideologie in der Theorie zu erkennen (Kap. II und XII), um einen in den Kultur- und Sozialwissenschaften anwendbaren Theoriebegriff vorschlagen zu können. Dieser ideologiekritische Kontext verdeutlicht auch die Aktualität der Kritischen Theorie, die - in allen ihren Gestalten - von dem zugleich einfachen und einleuchtenden Gedanken ausgeht, daß das von Adorno schon in den 60er Jahren diagnostizierte Scheitern des realen Sozialismus nichts über die Richtigkeit oder Rationalität der spätkapitalistischen Verhältnisse aussagt. Wer sich weiterhin weigert, die Entmündigung der Menschen in der kommerziellen Mediengesellschaft, die Ausbeutung der Natur und der Völker sowie die fortschreitende Umwelt-, Gesundheits- und Klimazerstörung ideologisch zu ignorieren, der wird sich auch weigern, mit dem Händlergedanken vorlieb zu nehmen, daß der Markt (als „Konsum“ getarnt) Menschen einander näherbringt. Als Ursprung moderner Ambivalenzen führt er sie auch in Kriegen zusammen, die der Sicherung und Neuverteilung der immer spärlicher werdenden Ressourcen dienen. Die Binsenweisheit, daß nur konsumiert werden kann, solange gewinnbringend produziert wird, sollte Theoretiker daran hindern, die postmoderne Marktgesellschaft mit ihrer von Ideologen und Werbefachleuten konstruierten pluralistischen Fassade zu verwechseln. Die in dieser Gesellschaft praktizierte pluralistische Toleranz ist letztlich nichts anderes als das vom Gewinnstreben diktierte Ertragen des Anderen und der anderen, bis sie überflüssig, unerträglich oder unrentabel werden (Kap. XV). Dieses Buch ist ein Versuch, über diese Art von Toleranz, die auch für das beziehungslose Nebeneinander von Theorien verantwortlich ist, hinauszugelangen. <?page no="15"?> 1 Einleitung: Problem und Begriffsbestimmung In einer Zeit, in der sich nach den intensiven Methodendiskussionen der 70er und 80er Jahre Theoriemüdigkeit bemerkbar macht, in der mancherorts Theoriefeindlichkeit zum guten Ton gehört, mag es verwegen erscheinen, eine Frage aufzuwerfen, die den einen bestenfalls ein müdes Lächeln entlockt, während sie auf die anderen wie ein rotes Tuch wirkt: Was ist Theorie? Das wissen wir doch längst, werden die einen einwenden, ohne lange nachzudenken, während die anderen bedenkenlos behaupten werden, daß wir das gar nicht zu wissen brauchen. Die Praxis gibt beiden recht. Denn wollte man alle kultur- und sozialwissenschaftlichen Buchtitel anführen, in denen das Wort „Theorie“ vorkommt, ohne im Text begrifflich definiert zu werden, könnte man den Rest dieses Buches mit Titeln ausfüllen. Daß in dem von Giddens und Turner edierten Sammelband Social Theory Today (1987) 1 der Theoriebegriff zu kurz kommt, mag noch verständlich sein. Wer aber erwartet, wenigstens in Johnsons, Dandekers und Ashworths The Structure of Social Theory (1984) etwas über die sprachliche Struktur oder den logischen Aufbau von Theorien zu erfahren, der geht wieder leer aus, weil die Autoren den theoretischen Bereich nach den althergebrachten philosophischen Gesichtspunkten rekonstruieren: empiricism, subjectivism, substantialism und rationalism. 2 Dagegen ist nichts einzuwenden, zumal alle Sozialwissenschaften die alten Kontroversen zwischen Empirismus, Idealismus und Rationalismus von der Philosophie geerbt haben, aus der sie am Ende des 19. Jahrhunderts hervorgegangen sind; aber von Theoriestruktur sollte in dem Fall nicht die Rede sein. Dies gilt auch für Max Hallers Soziologische Theorie im systematisch-kritischen Vergleich (1999): Der Autor kommentiert zwar gleich zu Beginn die Vielfalt soziologischer Theorien und unterscheidet verschiedene Theorietypen, bietet aber keine verallgemeinerungsfähige Definition von Theorie an, die allen Typen gemeinsam wäre, sondern 1 Vgl. A. Giddens, J. Turner, Social Theory Today, Cambridge-Oxford, Polity- Blackwell, 1987, S. 9-10. 2 Vgl. T. Johnson, Ch. Dandeker, C. Ashworth, The Structure of Social Theory, London, Macmillan (1984), 1987, S. 19-21. <?page no="16"?> 2 läßt es bei der Feststellung bewenden, „daß der Begriff der Theoriebildung sich ganz allgemein auf den symbolischen Aspekt der menschlichen Erfahrung bezieht, im Gegensatz zur bloßen Wahrnehmung von Fakten“. 3 Doch diese Charakteristik gilt uneingeschränkt für jede Ideologie oder Religion und deckt sich nicht mit anderen Definitionen (vgl. weiter unten). Es gilt daher weiterhin Rainer Greshoffs Feststellung, „daß die Verwendungsweise des Wortes ‚Theorie‘ als uneinheitlich eingeschätzt wird“. 4 Von metatheoretischen Reflexionen dieser Art bleibt Welleks und Warrens bekannte Einführung in die Literaturwissenschaft Theory of Literature (1949) völlig unberührt, weil die Autoren zwar den Literaturbegriff definieren, den Theoriebegriff aber gleichsam als Ornament nur mitführen. 5 Ähnliches kann von Stanzels ansonsten verdienstvoller Theorie des Erzählens (1979) gesagt werden, die durchaus eine implizite Theorie enthält, sie jedoch nicht darstellt, nicht reflektiert und daher auch nicht gegen konkurrierende Entwürfe (von Genette oder Greimas) 6 abzugrenzen vermag. Wozu ist das notwendig? - könnte nun der Theorieskeptiker einwenden. Es ist notwendig, damit interessierte Leserinnen und Leser merken, daß man den Gegenstand „Erzählung“ auch anders konstruieren kann und einen Roman dann ganz anders liest als Stanzel - z.B. mit Genette oder Greimas, die ihre theoretischen Ansätze auch nicht reflexiv darstellen. 7 Dies ist nicht nur wegen des vielbeschworenen theoretischen Pluralismus wichtig, der hier ernstgenommen wird, sondern auch wegen der für jede Theorie lebenswichtigen Erkenntnis, daß 3 M. Haller, Soziologische Theorie im systematisch-kritischen Vergleich, Opladen, Leske-Budrich, 1999, S. 38. 4 R. Greshoff, „Notwendigkeit einer ‚konzeptuellen Revolution in der Soziologie‘? Kritische Überlegungen zu Luhmanns Anspruch am Beispiel von ‚doppelter Kontingenz‘“, in: Österr. Zeitschrift für Soziologie 2, 1999, S. 7. 5 R. Wellek, A. Warren, Theory of Literature, London, Peregrine Books (1963), 1968, S. 36-37. 6 Vgl. F. K. Stanzel, Theorie des Erzählens, Göttingen, Vandenhoeck-Ruprecht, 1979. 7 Vgl. T. H. Kim, Vom Aktantenmodell zur Semiotik der Leidenschaften. Eine Studie zur narrativen Semiotik von Algirdas J. Greimas, Tübingen, Narr, 2002, Kap. V: „Der erzähltheoretische Kontext: Greimas, Genette, Stanzel“. Kim stellt einen Theorienvergleich an und beurteilt Greimas’, Genettes und Stanzels Theorien im Hinblick auf ihre erzähltheoretische Leistung. <?page no="17"?> 3 es zu allen ihren Gegenständen Alternativkonstruktionen gibt (vgl. Kap. XII). Im Gegensatz zu Stanzel, der den Theoriebegriff dem common sense der Umgangssprache anvertraut, verspricht Pasternacks Theoriebildung in der Literaturwissenschaft (1975), ein Buch das mitten in der „Methodendiskussion“ erschien, eine tiefschürfende Auseinandersetzung mit dem Theoriebegriff - den der Autor allerdings gar nicht zur Sprache bringt. 8 In der „Wissenschaftstheoretischen Vorklärung“ ist von der „Paradigmaabhängigkeit der Theorien“ die Rede, und unterhalb des Titels „Materialistisch-dialektische Theorie und Literaturwissenschaft“ heißt es: „Die historisch-materialistische Wissenschaft versteht sich selbst als einen revolutionären Bruch mit der traditionellen Theorie.“ 9 Solche Sätze wird man auch in philosophischen, soziologischen und geschichtswissenschaftlichen Abhandlungen aus dieser Zeit finden. Sie lassen bohrende Frage aufkommen, ohne sie zu beantworten: Werden hier „Wissenschaft“ und „Theorie“ als Synonyme verwendet? Was ist „dialektisch“? Nicht ohne Ironie erinnert Vincent Descombes daran, daß das Wort „Dialektik“ in der französischen Philosophie der Nachkriegszeit fast ausschließlich in Begleitung von euphorischen Konnotationen auftrat, so daß die Frage nach seiner Definition fast als eine Art Affront aufgefaßt wurde. 10 Die „Sache der Dialektik“ 11 hat diese Allergie gegen Definitionen nicht gefördert; die Sache der Theorie auch nicht. Die Theorieskeptiker, die nicht so leicht zu überzeugen sind (was durchaus eine theoretische Tugend sein mag), werden angesichts di e ser 8 Zu den wenigen Ausnahmen in diesem Bereich gehören: H. Göttner, Logik der Interpretation. Analyse einer literaturwissenschaftlichen Methode unter kritischer Betrachtung der Hermeneutik, München, Fink, 1973, S. 7; dies. „Classification of Theories of Literature“, in: Communication and Cognition (Gent), 2, 1978, S. 157-161. (Göttner geht von W. Stegmüllers Modellen aus.) Sowie: J. J. A. Mooy, „Filosofie van de literatuurwetenschap“, in: ders., Idee en verbeelding. Filosofische aspecten van de literatuurbeschouwing, Assen, Van Gorcum, 1981, S. 96, wo Mooy auf den geringen prognostischen Wert literaturwissenschaftlicher Theorien sowie auf deren niedrigen „Testbarkeitsgrad“ hinweist. 9 G. Pasternack, Theoriebildung in der Literaturwissenschaft, München, Fink, 1975, S. 15. 10 V. Descombes, Le Même et l’autre. Quarante-cinq ans de philosophie française (1933-1978), Paris, Minuit, 1979, S. 22. 11 Vgl. R. Bubner, Zur Sache der Dialektik, Frankfurt, Suhrkamp, 1980. <?page no="18"?> 4 Ausführungen ihre Fragen wohl wiederholen: Wozu Theorie? Wozu eine Definition? Die Antwort mag diesmal kurz ausfallen: Weil theoría Wahrnehmung bedeutet (griech. theorein: schauen) 12 und weil alle unsere Wahrnehmungen kulturell, ideologisch und theoretisch bedingt sind, so daß es dringend notwendig erscheint, Ideologie und Theorie zu entwirren, um unsere eigenen Behauptungen besser zu verstehen. Denn wir wachsen in sozialen Situationen auf, die von ideologischen und theoretischen Sprachen beherrscht werden, die unser Denken und unsere Wahrnehmung, d.h. unsere Subjektivität, mitbestimmen. Wenn wir versuchen wollen, selbst zu denken, statt uns denken zu lassen und halb geblendet nach der Wirklichkeit zu tasten, werden wir auch erfahren wollen, was Theorie ist - und wie sie sich von Kultur, Ideologie, Sprache oder Wissenschaft unterscheidet. Gerade im wissenschaftlichen Bereich ist diese reflexive und selbstkritische Einstellung unentbehrlich: Erst ein konkreter Theoriebegriff wird es den Kultur- und Sozialwissenschaften ermöglichen, ihre Theoriebildung im gesellschaftlichen und sprachlichen Kontext zu reflektieren und in ihren Gegenständen kontingente theoretische Objektkonstruktionen zu erkennen. Denn Text, Kultur, Gesellschaft, Psyche - und Theorie - sind nur als theoretische Konstruktionen zu verstehen, deren soziale Entstehungsgeschichte stets mitbedacht werden sollte. 1. Theorie: strukturell und funktional In einem ersten Schritt mag es lohnend sein, heuristisch zwei grundsätzliche Theorieauffassungen zu unterscheiden, die sowohl in der Wissenschaftstheorie als auch in der Wissenschaftssoziologie anzutreffen sind: die strukturelle und die funktionale. Freilich handelt es sich um Idealtypen im Sinne von Max Weber, der vom Idealtypus sagt: „Er wird gewonnen durch einseitige Steigerung eines oder einiger Gesichtspunkte und durch Zusammenschluß einer Fülle von diffus und diskret, hier mehr, dort weniger, stellenweise gar nicht, vorhande- 12 Vgl. H. Kloft, „Die Theoría der Griechen. Ein Modell und drei Fallbeispiele“, in: K. L. Pfeiffer, R. Kray, K. Städtke (Hrsg.), Theorie als kulturelles Ereignis, Berlin-New York, de Gruyter, 2001, S. 49. <?page no="19"?> 5 ner Einzelerscheinungen, die sich jenen einseitig herausgehobenen Gesichtspunkten fügen, zu einem in sich einheitlichen Gedankenbilde.“ 13 Hier wird bereits deutlich, daß eine Theorie, die sich an Idealtypen orientiert, ihre Objekte konstruiert, indem sie von der empirischen Wirklichkeit mit Hilfe von Relevanzkriterien, Selektionsverfahren und Zusammenfassungen abstrahiert. Strukturelle und funktionale Auffassungen von Theorien sind insofern Idealtypen, als kaum jemand den strukturellen oder den funktionalen Aspekt völlig isoliert betrachtet. In den meisten Fällen geht es - sogar in stark formalisierten Modellen - darum, die Struktur einer Theorie im Hinblick auf ihren funktionalen (sozialen) Kontext zu erklären. Dennoch kann gezeigt werden, daß sich in wissenschaftstheoretischen Ansätzen das Augenmerk eher auf die Struktur von Theorien richtet, während wissenschaftsgeschichtliche und wissenschaftssoziologische Ansätze die Funktion von Theorien in den Vordergrund stellen. Als strukturell im umgangssprachlichen Sinne könnte man die zahlreichen Definitionen von „Theorie“ bezeichnen, auf die man in philosophischen und soziologischen Nachschlagewerken stößt: „T. bedeutet heute im Gegensatz zur bloßen (...) Empirie jede wissenschaftl[iche] Wissens-Einheit, in welcher Tatsachen und Modellvorstellungen bzw. Hypothesen zu einem Ganzen verarbeitet sind (...).“ 14 Was aber hält diese „Wissens-Einheit“ zusammen? Wie verhalten sich „Tatsachen“ zu „Hypothesen“ oder „Modellen“? Und: Wie unterscheiden sich die beiden letztgenannten voneinander? Solche Fragen bleiben offen. Über diese philosophische Kurzdarstellung geht die Definition in Grundbegriffe der Soziologie, wo „Theorie“ als „begründeter Aussagezusammenhang über bestimmte Aspekte der dem Menschen zugänglichen Wirklichkeit“ 15 erläutert wird, nicht hinaus. Anspruchsvoller und aussagekräftiger ist die Definition von „Theorie“ im Wörterbuch der Soziologie: „Eine Th[eorie] als ein System untereinander durch Ableitbarkeitsbeziehungen verbundener Aussagen u[nd] Sätze muss: (a) logisch konsistent u[nd] wider- 13 M. Weber, Soziologie, universalgeschichtliche Analysen, Politik, Stuttgart, Kröner, 1973, S. 235. 14 Philosophisches Wörterbuch, Hrsg. G. Schischkoff, Stuttgart, Kröner, 1978, S. 693. 15 B. Schäfers (Hrsg.), Grundbegriffe der Soziologie, Opladen, Leske-Budrich, 1986, S. 295. <?page no="20"?> 6 spruchslos sein; (b) informativ sein, d.h. ihre Sätze müssen so formuliert sein, dass sie einen bestimmten Realitätsbezug haben u[nd] darum an den Tatsachen überprüft werden können; (c) bestimmte Korrespondenzregeln angeben, nach denen die Operationalisierung ihrer Postulate, d.h. die Übersetzung ihrer in den Hypothesen verwendeten Grundannahmen und Begriffe in Beobachtungs- (Experiments-) Operationen ermöglicht werden kann.“ 16 Hinter diese Definition fällt die von Wenturis, Van hove und Dreier in Methodologie der Sozialwissenschaften zurück: „Bei dem Versuch, die Frage, ‚was eine Theorie sei‘, zu beantworten, kann in einer ersten Annäherung Theorie als ein (theoretisches) Ordnungsgefüge für etwas Vorgegebenes charakterisiert werden, gleichgültig was dieses Vorgegebene auch immer sein mag. Diese sehr allgemein gehaltene Feststellung kann in der Weise spezifiziert werden, daß unter einer Theorie jede Hypothese, Verallgemeinerung oder jedes Gesetz (sei es deterministisch oder statistisch) oder dessen Konjunktion verstanden wird. Darüber hinaus ist es möglich, jedem Satz den Charakter einer Theorie zuzusprechen.“ 17 Obwohl die Autoren die zuletzt zitierte Behauptung mit einem Hinweis auf Poppers Logik der Forschung (1934) zu legitimieren suchen, ist sie nicht überzeugend. Denn einzelne Sätze sind vieldeutig und nehmen erst im Diskurs (als transphrastischer, semantischnarrativer Struktur) eine konkrete Bedeutung an. Nur in Ausnahmefällen kann ein komplexer Satz, der einen theoretischen Diskurs zusammenfaßt, als „Theorie“ (als deren Kurzdarstellung) bezeichnet werden. Im übrigen muß man nicht Dekonstruktivist sein, um zu sehen, daß die Definition aus Methodologie der Sozialwissenschaften den beiden vorangegangenen Definitionen von „Theorie“ teilweise widerspricht: Während die beiden ersten Definitionen „Sätze“ und „Hypothesen“ für Bestandteile von Theorien erklären, sind Wenturis, Van hove und Dreier bereit, die Bezeichnung „Theorie“ auf „Hypothesen“, „Verallgemeinerungen“, „Gesetze“ und sogar „Sätze“ auszudehnen. 16 K.-H. Hillmann, Wörterbuch der Soziologie („Theorie“), Stuttgart, Kröner (5., vollständig überarbeitete und erweiterte Aufl.), 2007, S. 895. (Vgl. auch den Kommentar zu diesem Artikel in Kap. II.) 17 N. Wenturis, W. Van hove, V. Dreier, Methodologie der Sozialwissenschaften, Tübingen-Basel, Francke, 1992, S. 330-331. <?page no="21"?> 7 Im folgenden (vor allem in Kap. II) wird sich zeigen, daß das Problem nicht trivial ist und nicht gelöst werden kann, solange „Theorie“ nicht semiotisch als über den Satz hinausgehende, transphrastische Struktur, d.h. als Diskurs, definiert wird. Zum ersten Mal tritt dieses Problem beim frühen Karl R. Popper auf, auf den sich die Autoren von Methodologie der Sozialwissenschaften nicht zufällig berufen, wenn sie meinen, „Theorie“ und „Satz“ (gelegentlich) identifizieren zu können. Denn Popper stellt fest: „Wissenschaftliche Theorien sind allgemeine Sätze.“ 18 Für die strukturale Perspektive sind gerade seine Arbeiten charakteristisch, die hier im vierten und sechsten Kapitel eine wichtige Rolle spielen werden und in denen nicht so sehr nach dem Inhalt theoretischer Aussagen, sondern nach deren Beschaffenheit gefragt wird. Sie sollen so formuliert werden, verlangt Popper, daß sie falsifizierbar (d.h. widerlegbar) sind. Nicht die vom Wiener Kreis angestrebte Verifizierbarkeit als endgültige empirische Bestätigung soll (1934) das neue Kriterium für die Wissenschaftlichkeit einer Theorie sein, sondern deren Widerlegbarkeit: „Nun wollen wir aber doch nur ein solches System als empirisch anerkennen, das einer Nachprüfung durch die ‚Erfahrung‘ fähig ist. Diese Überlegung legt den Gedanken nahe, als Abgrenzungskriterium nicht die Verifizierbarkeit, sondern die Falsifizierbarkeit des Systems vorzuschlagen (...).“ 19 Es kommt folglich nicht auf den Inhalt theoretischer Aussagen an, sondern auf ihre formale Beschaffenheit oder ihre Struktur, die Widerlegbarkeit gewährleistet. Popper erklärt: „Ein empirisch-wissenschaftliches System muß an der Erfahrung scheitern können.“ 20 Er fügt zwei Satzbeispiele hinzu: „Den Satz: ‚Hier wird es morgen regnen oder auch nicht regnen‘ werden wir, da er nicht widerlegbar ist, nicht als empirisch bezeichnen; wohl aber den Satz: ‚Hier wird es morgen regnen‘.“ 21 Jeder, der sich schon einmal über nichtssagende Floskeln geärgert hat, die „veränderliches“ Wetter oder Gefahren im Straßenverkehr (Horoskope) prophezeien, wird Popper recht geben. Allerdings stellt sich Popper im Hinblick auf eine mögliche Falsifizierbarkeit ein axiomatisiertes System im Sinne der Physik vor, das 18 K. R. Popper, Logik der Forschung (1934), Tübingen, Mohr-Siebeck, 2002 (Jubiläumsausgabe, Nachdruck der 10. Aufl.), S. 31. 19 Ibid., S. 15. 20 Ibid. 21 Ibid. <?page no="22"?> 8 in den Kultur- oder Sozialwissenschaften kaum anwendbar ist: „Sämtliche Voraussetzungen werden in einer kleinen Anzahl von ‚Axiomen‘ (...) an die Spitze gestellt, derart, daß alle übrigen Sätze des theoretischen Systems aus ihnen durch rein logische bzw. mathematische Umformung abgeleitet werden können.“ 22 Nun haben aber die meisten kulturwissenschaftlichen Theorien eher eine „narrative“ (vgl. Kap. II) als eine formallogische oder mathematische Struktur. Es fragt sich daher, ob die Forderung nach Widerlegbarkeit oder Falsifizierbarkeit für sie gelten kann. Im vierten Kapitel soll diese Frage, die seit Otto Neurath 23 die Popper-Kritiker beschäftigt, ausführlich behandelt werden. Einseitiger, aber genauer als Popper versucht Wolfgang Stegmüller, „Theorie“ auf strukturell-mathematischer Ebene zu bestimmen: „Die mathematische Struktur einer Theorie wird untergegliedert in Strukturrahmen, Strukturkern und erweiterten Strukturkern. Eine Theorie selbst wird als ein nichtsprachliches Gebilde charakterisiert, nämlich aufgefaßt als ein geordnetes Paar, bestehend aus einem Strukturkern K und der Klasse der intendierten Anwendungen I.“ 24 Diese Definition ist einerseits ermutigend, andererseits entmutigend. Sie ist ermutigend, weil zunächst die Hoffnung geweckt wird, daß „Theorie“ hier mathematisch genau auf struktureller Ebene bestimmt werden kann; sie ist entmutigend, weil zugleich der nichtsprachliche Charakter von „Theorie“ betont wird. Stegmüllers explizite „Preisgabe des ‚statement view‘ von Theorien“ 25 , die deren sprachlichen Charakter aufhebt, so daß sie nicht mehr als „Klassen von Sätzen“ 26 verstanden werden, mag im Bereich der Naturwissenschaften den Vorteil haben, daß hier von einer Äquivalenz verschiedener Theorien gesprochen werden kann oder auch von der Reduktion einer Theorie auf eine andere: „Es soll ermöglicht werden, von der Äquivalenz verschiedener Theorien zu sprechen, die 22 Ibid., S. 41. 23 Vgl. O. Neurath, „Pseudorationalismus der Falsifikation (1935)“, in: O. Neurath, Gesammelte philosophische und methodologische Schriften, Bd. II, Hrsg. R. Haller, H. Rutte, Wien, Hölder-Pichler-Tempsky, 1981, S. 637-639. 24 W. Stegmüller, Probleme und Resultate der Wissenschaftstheorie und Analytischen Philosophie, Bd. II, Theorie und Erfahrung, Zweiter Teilband, Theorienstrukturen und Theoriendynamik, Berlin-Heidelberg-New York, Springer, 1985, S. 20. 25 Ibid., S. 141. 26 Ibid. <?page no="23"?> 9 auf ganz verschiedenen begrifflichen Apparaturen aufbauen.“ 27 Sie hat den Nachteil, daß Stegmüllers auf die Physik ausgerichtetes Konzept nicht ohne erhebliche Verzerrungen und Verluste auf kultur- und sozialwissenschaftliche Theorien anwendbar ist. Sein Versuch, dieses Konzept auf Freuds Psychoanalyse anzuwenden, zeitigt Einseitigkeiten und Mißverständnisse, weil „Verdrängung“ (die ja das Unbewußte erst hervorbringt) als sekundärer Terminus behandelt wird und weil Stegmüller andere Kernbegriffe wie Ich, Es und Überich überhaupt nicht zur Sprache bringt. Auch der narrative Charakter der Psychoanalyse und ihrer Therapien wird nicht wahrgenommen. 28 Stegmüllers ansonsten anregende Rekonstruktion von Marxens Politischer Ökonomie abstrahiert ebenfalls von deren narrativer Struktur und isoliert einen Teilbereich dieser Theorie 29 (dazu ausführlicher Kap. XIII, 2). Angesichts solcher Rekonstruktionsversuche, die bestimmte Aspekte von Theorien belichten und andere ausblenden, fragt es sich, ob von „äquivalenten“ Theorien oder Theorieteilen im kultur- und sozialwissenschaftlichen Bereich überhaupt gesprochen werden kann. Selbst wenn unter „Äquivalenz“ nicht formale Identität, sondern lediglich die „intuitive Vorstellung“ (Stegmüller) maßgeblich ist, „daß sich aus äquivalenten Theorien ‚dieselben empirischen Folgerungen herleiten‘ lassen“ 30 , bleibt die Anwendbarkeit auf die Kultur- und Sozialwissenschaften problematisch. Denn in diesem Bereich drücken Theorien - wie sich zeigen wird - individuelle und kollektive Interessen aus. Ihre Terminologien lassen sich schon deshalb nicht als äquivalent behandeln, „reduzieren“ oder auf andere Arten neutralisieren, weil sie wesentlich zur Subjektkonstitution der kommunizierenden Gruppen und Individuen beitragen. 31 Wie sehr dies der Fall ist, wie sehr Theorien zugleich Ideologien sind, läßt die funktionale Betrachtungsweise von Pierre Bourdieu er- 27 Ibid. 28 W. Stegmüller, Probleme und Resultate der Wissenschaftstheorie und Analytischen Philosophie, Bd. II, Theorie und Erfahrung, Dritter Teilband, Die Entwicklung des neuen Strukturalismus seit 1973, Berlin-Heidelberg-New York, Springer, 1986, S. 419-421. 29 Vgl. ibid., S. 432-449. 30 W. Stegmüller, Probleme und Resultate der Wissenschaftstheorie und Analytischen Philosophie, Bd. II, Theorie und Erfahrung, op. cit., S. 141. 31 Vgl. Vf., Theorie des Subjekts. Subjektivität und Identität zwischen Moderne und Postmoderne, Tübingen-Basel, Francke, 2010 (3. Aufl.), Kap. V. <?page no="24"?> 10 kennen, die im neunten Kapitel ausführlicher zur Sprache kommt. Bourdieu interessiert sich nicht primär für die Struktur (Beschaffenheit) von Theorien, sondern für deren Funktionieren im wissenschaftlichen Feld (champ scientifique), d.h. im institutionellen Kontext. In diesem Kontext, erklärt er, erfüllen sie „eine rein wissenschaftliche und eine soziale Funktion“ 32 - nämlich im Hinblick auf die Akteure, die im wissenschaftlichen Feld auftreten. Anders gesagt: Wir haben es in diesem Bereich einerseits mit Erkenntnisprozessen zu tun, andererseits mit strategischen Auseinandersetzungen, die symbolisches Kapital zum Gegenstand haben und über die Position der Akteure im champ entscheiden. Eine wissenschaftliche Entdeckung, deren Erkenntniswert niemand bestreitet, kann zugleich ein „symbolischer Mord“ („un meurtre symbolique“) 33 an einem Rivalen sein, der diese Entdeckung im Rahmen einer anderen Theorie anstrebte. „Theorie“ erscheint hier einerseits als Erkenntnisinstrument, andererseits als Strategie, die im Kampf um die Vormachtstellung im wissenschaftlichen Feld eingesetzt wird. Nicht zu Unrecht spricht Bourdieu in diesem Zusammenhang von „Ideologie“: „Anders gesagt, ich glaube, daß recht viele Arbeiten, die als ‚theoretisch‘ oder ‚methodologisch‘ bezeichnet werden, nichts als Rechtfertigungsformen von bestimmten Arten der wissenschaftlichen Kompetenz sind. Und eine Analyse des soziologischen Feldes würde zweifellos zeigen, daß eine starke Korrelation zwischen der Art von Kapital besteht, über die verschiedene Forscher verfügen, und der Art von Soziologie, die sie als die einzig legitime verteidigen.“ 34 Die Gefahr dieser funktionalen Betrachtungsweise besteht darin, daß sie sich auf die strategische Wirkung von Theorien im „Feld“ konzentriert und darüber sowohl ihre Struktur als auch ihren Erkenntniswert vergißt. Die Tatsache, daß Bourdieu diese Vergeßlichkeit seiner eigenen Theorie immer wieder dementiert 35 , sollte nicht darüber hinwegtäuschen, daß er im Gegensatz zu Popper oder Stegmüller nichts Brauchbares zur Struktur wissenschaftlicher Theorien vorgebracht hat. Wie muß eine Theorie beschaffen sein, um sich von bloßen 32 P. Bourdieu, Science de la science et réflexivité, Paris, Raisons d’agir, 2001, S. 109. 33 Ibid. 34 P. Bourdieu, Choses dites, Paris, Minuit, 1987, S. 48. 35 Vgl. P. Bourdieu, Leçon sur la leçon, Paris, Minuit, 1982, S. 54-56. <?page no="25"?> 11 Ideologien und Feldstrategien zu unterscheiden? Wie soll ihre Struktur aussehen? Vor allem die zweite Frage läßt Bourdieu offen. Schon deshalb erscheint eine klare Abgrenzung von Ideologie und Theorie (Kap. II) als unverzichtbarer Bestandteil einer brauchbaren Theorie-Definition, die sich auf die diskursive Ebene beziehen sollte. 36 Diese Ebene nimmt auch Niklas Luhmann nicht wahr, wenn er Theorien - in der sprachanalytischen Tradition verharrend - als Satzsysteme definiert: „Sie bestehen aus Aussagen (Kommunikationen) in der Form von Sätzen.“ 37 Wie aber hängen diese Sätze zusammen, und was macht eine wahre, wahrheitsfähige oder falsifizierbare Theorie aus? Nicht diese Frage beschäftigt Luhmann, der auch den von Bourdieu angesprochenen Herrschaftsfaktor innerhalb der institutionalisierten Wissenschaft ausklammert, sondern das Funktionieren von Theorien im autonomen, autopoietischen (sich selbst erzeugenden und erhaltenden) 38 Subsystem Wissenschaft, das als ganzes durch den Gegensatz von wahr/ unwahr 39 strukturiert wird. Auf die Kommunikation und Wissensproduktion innerhalb dieses Systems ist Luhmanns Augenmerk gerichtet, nicht auf die Strukturen einzelner Theorien: „Die Autopoiesis des Systems erfordert nichts anderes als die Fortsetzung der Kommunikation über Wahrheit und Unwahrheit, also die Fortsetzung der Kommunikation in diesem symbolisch generalisierten Medium.“ 40 Trotz aller Unterschiede und Gegensätze, die Luhmann von Bourdieu trennen und die im neunten Kapitel zur Sprache kommen, geht es auch bei Luhmann um die Frage, wie Kommunikation im Subsystem Wissenschaft Wissen und Wahrheit produziert. In diesem Kontext erscheinen auch der Kritische Rationalismus und Karl R. Poppers Falsifikationspostulat eher als Strategien und Funktionen im autonome n 36 Vgl. Vf., Ideologie und Theorie. Eine Diskurskritik, Tübingen, Francke, 1989, Kap. XI: „Reflexion und Diskurs“. 37 N. Luhmann, Die Wissenschaft der Gesellschaft, Frankfurt, Suhrkamp, 1990, S. 406. 38 Vgl. G. Kneer, A. Nassehi, Niklas Luhmanns Theorie sozialer Systeme, München, Fink, 1997 (3. Aufl.), S. 56: Definition von „Autopoiesis“. 39 Vgl. N. Luhmann, Die Wissenschaft der Gesellschaft, op. cit., S. 577-578. 40 Ibid., S. 285. <?page no="26"?> 12 Subsystem 41 denn als Vorschläge für die richtige - falsifizierbare, mathematisierbare oder gesellschaftskritische - Theoriestruktur. Insgesamt zeigt sich, daß die strukturellen und die funktionalen Theorieauffassungen einander im Prinzip ergänzen, bisher jedoch kaum aufeinander abgestimmt wurden. Schon deshalb erscheint es sinnvoll, in den folgenden Kapiteln die strukturellen und funktionalen Gesichtspunkte miteinander zu verknüpfen und die theoretische von der ideologischen Funktion auf diskursiver Ebene zu unterscheiden (vgl. II, 2). 2. Theorie objektbezogen Es gibt - wiederum idealtypisch betrachtet - eine dritte Möglichkeit, Theorien zu definieren und zu klassifizieren, nämlich im Hinblick auf deren Objekte oder Objektbereiche. Den Universalisten mag der Gedanke an eine ad hoc, ad obiectum konstruierte Theorie schockieren, weil er sich nicht ganz zu Unrecht sagt, daß eine gute Theorie in der Lage sein müßte, alles zu erklären. In der idealen Welt, die ihm möglicherweise vorschwebt, wäre das sicherlich der Fall. Die reale Welt sieht bekanntlich anders aus, und sogar Luhmanns eindrucksvolle Systemtheorie, die auf nahezu alle sozialen Erscheinungen - von der Wirtschaft bis zur Kunst - angewendet wird, zeitigt in Einzelbereichen bisweilen Trivialitäten, etwa wenn der Systemsoziologe in Die Kunst der Gesellschaft Argumente für die Autonomie der Kunst ins Feld führt, die russische Formalisten an der Schwelle zum 20. Jahrhundert auch ohne Systemtheorie vorgebracht haben. 42 Wie Hegels systematische Philosophie neigt diese 41 Ibid., S. 394 und S. 430. 42 Man vergleiche die folgenden Aussagen von Luhmann mit denen des russischen Formalisten B. Ejchenbaum: „Das Kunstwerk lenkt somit den Beobachter auf das Beobachten der Form hin.“ (N. Luhmann, Die Kunst der Gesellschaft, Frankfurt, Suhrkamp [1995], 1997, S. 238.) „Das Bestreben nach einer Spezifizierung der Literaturwissenschaft äußerte sich vor allem darin, daß man die ‚Form‘ als Grundproblem der Erforschung der Literatur betrachtete, eben als etwas Spezifisches - als das gewisse Etwas, ohne das es keine Kunst gibt.“ (B. Ejchenbaum „Zur Frage der ‚Formalisten‘“, in: H. Günther [Hrsg.] Marxismus und Formalismus. Dokumente einer literaturtheoretischen Kontroverse, Frankfurt-Berlin-Wien, Ullstein, 1976, S. 71-72.) Man wird sogleich einwenden, daß Luhmann die formalistische These im systemsoziologischen Kontext erklärt. <?page no="27"?> 13 Theorie dazu, das Besondere in einem begrifflichen Höhenflug dem Allgemeinen zu unterwerfen. Ähnliche Überlegungen stellt der nordamerikanische Soziologe Robert K. Merton in Social Theory and Social Structure (1949, 1968) an, wenn er der grand theory, der Systemtheorie, sein Mißtrauen ausspricht und im soziologischen Bereich für eine Theorie der mittleren Reichweite (theory of the middle range) plädiert. Er unterscheidet sie von Arbeitshypothesen der Alltagsforschung (die, wie sich hier weiter oben gezeigt hat, auch als „Theorien“ bezeichnet werden) und von „allumfassenden systematischen Anstrengungen, eine einheitliche Theorie zu entwickeln, die alle beobachteten Regelmäßigkeiten sozialen Verhaltens, sozialer Organisation und sozialen Wandels erklärt“. 43 Im Gegensatz zur großangelegten Systemtheorie soll die Theorie der mittleren Reichweite „empirische Forschung leiten“ und hat nicht die gesamte Gesellschaft, sondern nur einige ihrer Aspekte zum Gegenstand: „delimited aspects of social phenomena“. 44 Zur Verdeutlichung führt Merton Theorien der Bezugsgruppe, der sozialen Mobilität oder des Rollenkonflikts an. 45 Als besonders anschauliches Modell einer Theorie der mittleren Reichweite nennt er Emile Durkheims Studie über den Selbstmord. Bekanntlich versucht der französische Soziologe nachzuweisen, daß die Selbstmordrate keine rein individuelle, psychische Erscheinung ist, sondern mit abnehmender gesellschaftlicher Solidarität zunimmt. Sie ist aus diesem Grunde in Städten höher als auf dem Land. Eine besondere Rolle spielen die Familie (als mehr oder weniger integrierte Gemeinschaft) und der religiöse Faktor: Während die Selbstmordrate in individualistisch denkenden protestantischen Gruppierungen relativ hoch ist, ist sie in den stärker integrierten („solidarischen“) katholischen und jüdischen Gemeinschaften relativ niedrig. Merton stellt fest: „Durkheims Monographie Suicide ist möglicherweise das klassische Beispiel für die Verwendung und Entwicklung einer Theorie der mittleren Reichweite.“ 46 Das ist zweifellos richtig, aber im Hinblick auf das einzelne literarische Werk geht er über die formalistischen Arbeiten kaum hinaus. 43 R. K. Merton, Social Theory and Social Structure, New York, The Free Press, 1968 (enlarged ed.), S. 39. 44 Ibid., S. 39-40. 45 Ibid., S. 40. 46 Ibid., S. 59. <?page no="28"?> 14 Die vom anglo-amerikanischen Empirismus und von Humes Skepsis geprägte Rechtfertigung dieser Theorieauffassung lautet: Der Objektbereich soll nicht zu umfangreich sein, damit die Theorie konkret anwendbar bleibt. Aber schon Mertons Paradebeispiel läßt erkennen, daß eine objektbezogene Definition von „Theorie“ nicht unproblematisch ist. 47 Denn Durkheims bekannte Studie ist nicht unabhängig von seiner Gesellschaftstheorie zu verstehen, in der die Arbeitsteilung oder Ausdifferenzierung der Gesellschaft die mechanische, auf der Ähnlichkeit der Gruppenmitglieder basierende Solidarität durch die organische (arbeitsteilig-funktionale) Solidarität ersetzt. Diese ist keine „Solidarität“ im umgangssprachlichen Sinne, sondern wechselseitige funktionale Abhängigkeit, die das Kollektivbewußtsein als Zusammengehörigkeitsgefühl erheblich schwächt. Diese Entwicklung erklärt, weshalb der Selbstmord zu einem zentralen Phänomen der spätmodernen individualistischen Marktgesellschaft wird. 48 Kurzum: Durkheims Selbstmordstudie sollte nicht als „Theorie mittlerer Reichweite“ isoliert betrachtet werden, sondern als integraler Bestandteil seiner großangelegten Gesellschaftstheorie, die schon von seinem umfangreichen Werk über die Arbeitsteilung, De la division du travail social (1893), angekündigt wird. Es fragt sich daher, ob es Theorien mittlerer Reichweite in dieser Form überhaupt geben kann: ob sie nicht Gesellschaftstheorien implizieren, die über sie hinausgehen. Sollte dies der Fall sein, dürfte sich Theorie nicht nur an Objekten orientieren, sondern auch am Nexus von Theoriebegriff und Gesellschaftstheorie. Die Frage sollte lauten: Wie hängt ein bestimmter Theoriebegriff mit der ihm entsprechenden Gesellschaftstheorie zusammen, und wie konstruiert sich die Theorie selbst als Metatheorie? (Vgl. den letzten Abschnitt dieser Einleitung und Kap. XV.) Zu diesem Problem merkt Niklas Luhmann zu Recht an: „Nicht der Gegenstand garantiert die Einheit der Theorie, sondern die Theorie die Einheit des Gegenstandes gemäß dem Diktum, daß alles, was für 47 Eine der zahlreichen Kritiken an Mertons Theoriebegriff bringt M. Mulkay in Functionalism, Exchange and Theoretical Strategy (1971), Aldershot, Gregg Revivals, 1992, S. 220 vor: „One difficulty with the notion of middle-range theory is that it is a residual category; and residual categories are typically susceptible to further sub-division.“ 48 Vgl. Ch. Baudelot, R. Establet, Durkheim et le suicide, Paris, PUF, 1990 (3. Aufl.), S. 120-121. <?page no="29"?> 15 ein autopoietisches System Einheit ist, durch das autopoietische System Einheit ist.“ 49 Seine anti-empiristische These findet ihre Bestätigung in Mertons eigener Theoriedefinition, die eher dürftig ausfällt und den Gedanken aufkommen läßt, daß der Wissenschaftler nicht ausschließlich vom Gegenstand ausgehen sollte: „Throughout this book, the term sociological theory refers to logically interconnected sets of propositions from which empirical uniformities can be derived.“ 50 Welche Faktoren sorgen aber für die Verknüpfung dieser „sets of propositions“? Auf diskursiver Ebene undefiniert bleibt auch der Theoriebegriff eines anderen objektorientierten Ansatzes: der von Barney Glaser und Anselm Strauss im Anschluß an den nordamerikanischen Pragmatismus, den Funktionalismus (Mertons) und den Interaktionismus (Meads) entwickelten Grounded Theory. 51 Diese Theorie ist ein induktiv-hermeneutisches Verfahren, das bei der Formulierung von Hypothesen von den Tatsachen ausgeht und in einem offenen Prozeß der Theoriebildung immer wieder zu ihnen zurückkehrt. 52 Anselm Strauss und Juliet Corbin nennen vier Charakteristika der Grounded Theory: 1. Sie entspricht dem beschriebenen Phänomen; 2. sie trägt zu seinem besseren Verständnis bei; 3. ihre Aussagen sind so verallgemeinerungsfähig, daß verschiedene Varianten und Veränderungen des Phänomens erfaßt werden; 4. sie soll schließlich eine Kontrolle der hier beschriebenen Schritte ermöglichen. 53 Durch ständiges Vergleichen mit dem Phänomen in dessen Abwandlungen und Varianten wird die Theorie so lange angepaßt, bis Objektadäquatheit durch die Aufnahme aller zur Verfügung stehenden 49 N. Luhmann, Die Wissenschaft der Gesellschaft, op. cit., S. 407. 50 R. K. Merton, Social Theory and Social Structure, op. cit., S. 39. 51 Zum Entstehungszusammenhang der Grounded Theory vgl. B. Péquignot. P. Tripier, Les Fondements de la sociologie, Paris, Nathan, 2000, S. 197-198. 52 Daß es sich nicht um einen platten Empirismus, sondern um empirische Hermeneutik handelt, geht aus Uwe Flicks Bemerkungen zur Grounded Theory als qualitativer Forschung hervor: „Dabei beginnt der Forschungsprozeß nicht als Tabula rasa. Ausgangspunkt ist vielmehr ein Vor-Verständnis des zu untersuchenden Gegenstandes bzw. Feldes.“ (U. Flick, Qualitative Forschung. Theorie, Methoden, Anwendung in Psychologie und Sozialwissenschaften, Reinbek, Rowohlt, 1999 [4. Aufl.], S. 60.) 53 Vgl. A. Strauss, J. Corbin, Basics of Qualitative Research: Grounded Theory. Procedures and Techniques, London-Newbury Park, Sage, 1990, Kap. I. <?page no="30"?> 16 Informationen gegeben und die Theorie „saturiert“ ist. Die Theorie wird hier als stets offene Struktur, als Prozeß aufgefaßt: „The strategy of comparative analysis for generating theory puts a high emphasis on theory as process (...)“ 54 , schreiben Glaser und Strauss. Der Gedanke, daß Theorie ein offener Prozeß und keine geschlossene Einheit ist, entspricht durchaus den Anforderungen einer Dialogischen Theorie, die auch im Hinblick auf den Gegenstand offen sein will - weil er von anderen Theorien möglicherweise ganz anders konstruiert wird. Dieser zugleich dialogische und konstruktivistische Zusatz fehlt jedoch in der Grounded Theory, die einem mimetischen Realismus und Empirismus verhaftet bleibt, weil sie nicht vom Gedanken der Objektkonstruktion, sondern von dem der Objektadäquatheit ausgeht: „A good grounded theory“, schreibt Brian D. Haig, „is one that is: (1) inductively derived from data, (2) subjected to theoretical elaboration, and (3) judged adequate to its domain (...).“ 55 Wer aber entscheidet über die hier postulierte Adäquatheit? Wo das konstruktivistische Moment übergangen wird, fehlt auch die dialogische Ausrichtung: Eine Theorie, die nach Objektadäquatheit strebt, wird stets dazu neigen, sich monologisch mit ihrem Gegenstand zu identifizieren. Ihr fehlt die Einsicht, daß sie nur ein möglicher Diskurs ist - d.h. ihr fehlt die Definition der Theorie als Diskurs, als kontingente semantisch-narrative Anordnung. Wie die Theorie Mertons, von der sie beeinflußt wurde, verzichtet sie auf eine kritische Reflexion der gesellschaftlichen Verhältnisse, in denen sie selbst entstanden ist. Im Anschluß an diese Kritik eines objektorientierten Realismus ist festzustellen: Das theoretische Subjekt konstruiert seine Gegenstände im Rahmen seines Diskurses, den es auf empirischer Ebene und in ständiger Auseinandersetzung mit anderen Theorien überprüft und ändert. Es analysiert den sprachlichen und gesellschaftlichen Kontext, aus dem es als theoretisches Subjekt hervorgeht (vgl. Kap. XV). Überspitzt, aber ohne idealistische Absicht, ließe sich sagen: Ohne Theorie gäbe es keinen wissenschaftlichen Gegenstand: ohne Physik kein magnetisches Feld, ohne Biologie keine Doldenblütler (nur „Blumen“), ohne Psychoanalyse kein Unbewußtes, ohne Literaturwissen- 54 B. Glaser, A. Strauss, The Discovery of Grounded Theory, Chicago, Aldine, 1967, S. 32. 55 B. D. Haig, „Grounded Theory as Scientific Method“, in: Philosophy of Education 1995: http: / / www.ed.uiuc.edu/ EPS/ PES-Yearbook/ 95-docs/ haig.html, S. 1. <?page no="31"?> 17 schaft keine Erzählerperspektive und ohne Soziologie kein wissenschaftliches oder literarisches Feld (Bourdieu), keine Institution und keine Bezugsgruppen. Dennoch scheint es nicht völlig abwegig zu sein, nach der Beziehung von Theorie und Gegenstand zu fragen, um die Beschaffenheit von Theorien besser zu verstehen. 56 Seit Wilhelm Diltheys etwas dogmatischer, aber keineswegs sinnloser Unterscheidung zwischen den Geisteswissenschaften, die danach streben, soziokulturelle Zusammenhänge zu verstehen, und den Naturwissenschaften, die Erscheinungen nach dem Kausalitätsprinzip erklären 57 , wird von den einen, etwa den Angehörigen des Wiener Kreises und später der Althusser-Gruppe 58 , eine einheitswissenschaftliche Betrachtungsweise gefordert, während die anderen (Hermeneutiker, Dialektiker, Ethnomethodologen) weiterhin versuchen zu differenzieren. In letzter Zeit hat Johann August Schülein im Anschluß an diese Debatten den Vorschlag gemacht, denotative und konnotative Theorien zu unterscheiden. Diese begrifflich nicht unproblematische Abgrenzung ist wohl deshalb eingeführt worden, weil der Ausdruck „denotative Theorien“ nicht einfach den naturwissenschaftlichen Theorienkomplex meint, der Ausdruck „konnotative“ Theorien nicht mit dem Bereich der Kultur- und Sozialwissenschaften deckungsgleich ist. Dennoch geht man nicht fehl, wenn man annimmt, daß sich denotative Theorien vorwiegend auf Naturgegenstände beziehen und vom nomologischen Erkenntnisinteresse geleitet werden, während es kon- 56 Dies tut auch J. S. Coleman, wenn er in Grundlagen der Sozialtheorie, Bd. I, Handlungen und Handlungssysteme, München, Oldenbourg, 1991, S. 13 unter dem Titel „Komponenten der Theorie“ den Theoriebegriff im Hinblick auf Handlungsregeln definiert: „Eigentlich läßt sich überzeugend argumentieren, daß eine soziale Theorie - anders als eine psychologische - eine Theorie über die Auswirkung verschiedener Regeln ist, innerhalb derer Mengen von Personen agieren.“ Gut: Was aber ist eine Theorie im allgemeinen Sinne, z.B. eine sozialpsychologische? Hier wird deutlich, daß eine Definition, die sich ausschließlich am Objektbereich orientiert, nicht befriedigend ist. 57 Vgl. W. Dilthey, „Die Entstehung der Hermeneutik“, in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. V, Stuttgart, B. G. Teubner, Göttingen, Vandenhoeck-Ruprecht, 1968, S. 318-319. 58 Vgl. R. Carnap, H. Hahn, O. Neurath, „Wissenschaftliche Weltauffassung - der Wiener Kreis“, in: O. Neurath, Wissenschaftliche Weltauffassung. Sozialismus und Logischer Empirismus, Hrsg. R. Hegselmann, Frankfurt, Suhrkamp, 1979, S. 86-91 sowie L. Althusser, Lénine et la philosophie suivi de Marx et Lénine devant Hegel, Paris, Maspero, 1972, S. 52-53. <?page no="32"?> 18 notative Theorien mit sozialen, sich selbst erzeugenden („autopoietischen“) Gegenständen zu tun haben und vom Verstehen als „Mitverstehen“ geprägt sind. „Bei näherer Betrachtung“, erklärt Schülein, „wird schnell deutlich, daß nomologische und autopoietische Realität sehr unterschiedliche Anforderungen an das Symbolsystem stellen. Folgt man dieser abstrakten Unterscheidung, so läßt sich feststellen, daß nomologische Realität in einem denotativen Symbolsystem abgebildet werden kann, während autopoietische Realität in einem konnotativen Symbolsystem angemessen erfaßt wird.“ 59 „Konnotation“ meint hier anscheinend ein hermeneutisches „Mitverstehen“ sozialer Akteure und ihrer Logiken, denn unter „Theorien autopoietischer Prozesse“ versteht Schülein „Theorien der Familie, der Firma, des Managements, der Therapie, der Politik usw.“ 60 , also sozialwissenschaftliche Theorien. Zur konnotativen Theorie bemerkt er: „Sie muß sich der Eigenlogik ihres jeweiligen Themas anpassen, ohne die reflexive Distanz zu verlieren.“ 61 Für diesen Vorgang hat Anthony Giddens in den 70er Jahren die Bezeichnung „doppelte Hermeneutik“ vorgeschlagen. 62 Der linguistisch und semiotisch informierte Leser fragt sich allerdings, was dieser hermeneutische Anpassungsprozeß mit Konnotation zu tun hat, die in der Linguistik als „die registerbestimmte Sekundärbedeutung (Mitbedeutung) eines Wortes (sic), im Unterschied zu seinem sachlich-begrifflichen Inhalt, der Denotation“ 63 , definiert wird. Sicherlich wäre es sinnvoll und hilfreich gewesen, den hier verwendeten Konnotationsbegriff (wenn es denn ein Begriff sein soll) gegen den gängigen linguistisch-semiotischen Begriff genau abzugrenzen. 64 59 J. A. Schülein, Autopoietische Realität und konnotative Theorie. Über Balanceprobleme sozialwissenschaftlichen Erkennens, Weilerswist, Velbrück, 2002, S. 139. (Nun sind aber gerade die naturwissenschaftlichen Diskurse sekundäre konnotierende Systeme, während die sozialwissenschaftlichen Diskurse ohne die denotative Sprachfunktion sinnlos wären.) 60 J. A. Schülein, S. Reitze, Wissenschaftstheorie für Einsteiger, Wien, WUV Universitätsverlag, 2002, S. 196. 61 Ibid., S. 197. 62 Vgl. A. Giddens, New Rules of Sociological Method. A Positive Critique of Interpretative Sociologies, London, Hutchinson, 1976, S. 146. 63 Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie, Hrsg. A. Nünning, Stuttgart- Weimar, 2013 (5. Aufl.), S. 396-397. 64 Zu den Begriffen „Denotation“ und „Konnotation“ bemerkt Schülein: „Beide Begriffe sind Anleihen aus sprachwissenschaftlichen Diskussionen. Dabei wird <?page no="33"?> 19 Trotz der verwirrenden Terminologie bietet Schüleins objektbezogene Unterscheidung von denotativen und konnotativen Theorien einen Anhaltspunkt, weil sie erkennen läßt, daß der Theoretiker in seinen Entwürfen die Besonderheit seines Objektbereichs berücksichtigen muß, wenn seine Theorie nicht - wie Stegmüllers Formalisierung der Psychoanalyse - zu einem Prokrustesbett werden soll. Sie ist auch deshalb nützlich, weil sie zeigt, daß es zwischen dem nomologisch-denotativen und dem „autopoietisch-konnotativen“ Bereich Mischformen gibt: etwa das Klima und die biologische Evolution, die beide in zunehmendem Maße vom menschlichen Handeln mitbedingt werden. 65 Im dritten Kapitel wird ausführlicher von den Beziehungen zwischen Natur-, Kultur- und Sozialwissenschaften die Rede sein. Es wird sich zeigen, daß sich Übereinstimmungen und Unterschiede möglicherweise die Waage halten: vor allem wenn man die sprachliche und ideologische Bedingtheit der Kultur- und Sozialwissenschaften näher untersucht. Alles hängt davon ab, wie das Verhältnis zwischen den beiden Wissenschafts- und Wissenstypen aufgefaßt wird - und ob man nicht, statt ein Verhältnis zu postulieren, lieber eine Einheitswissenschaft konstruiert... 3. Theorie als Diskurs und die Aufgabe der Philosophie Es kann hier nicht darum gehen, dem zweiten Kapitel vorzugreifen und „Theorie“ als Diskurs im soziologisch-semiotischen Kontext zu ‚Denotation‘ regelmäßig und in verschiedenen Diskursen gebraucht, während ‚Konnotation‘ - so weit meine Kenntnisse reichen - nicht mit begrifflicher Schärfe und Relevanz benutzt wird.“ (Autopoietische Realität und konnotative Theorie, op. cit., S. 139.) Offensichtlich hat hier der Soziologe die Linguisten und Semiotiker unterschätzt - vor allem: L. Hjelmslev, Prolegomena zu einer Sprachtheorie, München, Hueber, 1974, S. 111: „Denotationssprache - Konnotationssprache“. Man hätte erwarten können, daß sich Schülein wenigstens mit dieser „klassischen“ Unterscheidung auseinandersetzt, zumal er mit seiner eigenen Unterscheidung etwas ganz anderes meint (aber was genau? ). Im Anschluß an Hjelmslev vgl. auch: O. Ducrot, T. Todorov, Dictionnaire encyclopédique des sciences du langage, Paris, Seuil, 1972, S. 40-41 sowie W. Nöth, Handbuch der Semiotik, Stuttgart, Metzler, 1985, S. 74-75. 65 Vgl. J. A. Schülein, S. Reitze, Wissenschaftstheorie für Einsteiger, op. cit., S. 194. <?page no="34"?> 20 definieren. Eine provisorische Begriffsbestimmung soll aber gleichsam kontrastiv zu den bisher kommentierten Definitionen vorgeschlagen werden: Theorie ist ein interessengeleiteter Diskurs, dessen semantisch-narrative Struktur von einem Aussagesubjekt im gesellschaftlichen Kontext selbstkritisch reflektiert und weiterentwickelt wird. Der Unterschied zu den hier kommentierten Definitionen besteht darin, daß ein Diskurs wesentlich mehr ist als eine Anordnung oder ein System von Sätzen, weil der Diskursbegriff ein lexikalisches Repertoire, eine Semantik und eine Makrosyntax umfaßt, die für Kohärenz bürgen. Der Zusatz „interessengeleitet“ bedeutet hier, daß sich das Aussagesubjekt, das häufig als Kollektivsubjekt (des Kritischen Rationalismus, der Kritischen Theorie, der Psychoanalyse) zu verstehen ist, nicht willkürlich für ein bestimmtes Vokabular und bestimmte semantische Differenzierungen (Klassifikationen) entscheidet, sondern in Übereinstimmung mit seinem gesellschaftlichen Standort und seinen Interessen. Die Kohärenz des theoretischen Diskurses kommt folglich durch interessengeleitete Entscheidungen des Diskurssubjekts auf lexikalischer, semantischer und (makro-)syntaktischer Ebene zustande. Wesentlich ist hier die Unterscheidung zwischen einer rein phrastischen (auf den Satz ausgerichteten) Diskurstheorie, wie sie Zellig Harris entwickelt hat 66 , und einer transphrastischen Diskurstheorie. Während Harris den Diskurs als Aufeinanderfolge von Sätzen zu verstehen sucht, gehen die transphrastischen Diskurstheorien (Greimas’, Hallidays oder Stubbs’) von dem Gedanken aus, daß ein Diskurs weitaus mehr ist als die Gesamtheit seiner Sätze: nämlich eine Erzählung mit semantischer Grundlage, die über die Bedeutung eines jeden Satzes entscheidet. 67 Für diese Bedeutung bürgen auch die ideologischen Interessen des individuell-kollektiven Aussagesubjekts, die 66 Vgl. Z. S. Harris, „Discourse Analysis“, in: Language 28, 1952. 67 Vgl. die Kommentare zu Greimas’ Semiotik in Kap. II sowie: M. A. K. Halliday, Language as Social Semiotic: The Social Interpretation of Language and Meaning, London, Edward Arnold, 1978; M. Stubbs, Discourse Analysis. The Sociolinguistic Analysis of Natural Language, Oxford, Blackwell (1983), 1994, S. 7: „It follows that the grammatical, structural units of clause or sentence are not necessarily either the most important units for language study, or the biggest (...).“ Vgl. auch G. Brown, G. Yule, Discourse Analysis, Cambridge, Univ. Press (1983), 1991, Kap. IV: „‚Staging‘ and the Representation of Discourse Structure“. <?page no="35"?> 21 Semiotiker wie Greimas vernachlässigen, die hier aber zur Sprache kommen (vgl. Kap. II). Diese Ausführungen mögen etwas abstrakt klingen; sie nehmen aber eine konkretere Gestalt an, sobald sie angewandt werden. Dabei zeigt sich, daß die semantisch-narrative Diskursstruktur von einzelnen Vokabeln oder Ausdrücken (gleichsam synekdochisch) zusammengefaßt wird. So ließe sich beispielsweise aus der Wortverbindung „Staatsmonopolkapitalismus“ der gesamte Diskurs der Marxisten-Leninisten der 70er und 80er Jahre des 20. Jahrhunderts ableiten: Der Staat muß systematisch intervenieren, um die zyklischen Krisen des Monopolkapitalismus zu bezwingen usw. Habermas’ bekannter Titel Die Moderne - ein unvollendetes Projekt (1980) zeugt von einem kritisch-theoretischen Diskurs, der in Anlehnung an Adornos und Horkheimers Kritik der Aufklärung für eine kritisch reflektierte Vollendung der Moderne plädiert. Das Erkenntnisinteresse des Aussagesubjekts ist nicht zu überhören: Es wendet sich gegen alle postmodernen Denker, die versuchen, die emanzipatorische Bewegung der Moderne zu bremsen oder gar zurückzudrängen. In Ausnahmefällen kann auch ein Satz in nuce die Struktur des Diskurses enthalten, dem er angehört. „Postmoderne ist so der Zustand, in dem die Moderne nicht mehr reklamiert werden muß, sondern realisiert wird.“ 68 Wie bei Habermas wird auch hier das Verhältnis von Moderne und Postmoderne erzählt, jedoch ganz anders bewertet: Die Postmoderne als Vielfalt und Pluralismus erscheint bei Wolfgang Welsch als Einlösung moderner Emanzipationsversprechen. Jeder der beiden Diskurse konstruiert die semantischen Einheiten „Moderne“ und „Postmoderne“ anders, und zwar im Rahmen von zwei verschiedenen, einander widersprechenden Erzählungen. Im folgenden soll deshalb versucht werden, Theorien auf metatheoretischer Ebene als Diskurse oder interessengeleitete Erzählungen zu verstehen (vgl. Kap. II). Es wird sich herausstellen, daß diese Konstruktion kultur- und sozialwissenschaftlichen Theorien noch am ehesten gerecht wird. Zugleich kommt es darauf an, eine für diese Theorien spezifischen Theoriebegriff zu entwickeln, der in den Entwurf einer Dialogischen Theorie mündet. 68 W. Welsch, Unsere postmoderne Moderne, Weinheim, VCH, 1991 (3. Aufl.), S. 36. <?page no="36"?> 22 Wie bereits angedeutet, handelt es sich um eine Metatheorie, die sich zwischen zwei Standpunkten bewegt: zwischen dem der Wissenschaftstheorie, die die Wissenschaftsentwicklung und Theoriebildung zum Gegenstand hat, und dem der Wissenschaftssoziologie, die diese Prozesse im sozialen Kontext kritisch reflektiert. Als Dialogische Theorie (vgl. Teil III) geht diese Metatheorie - wie schon in Ideologie und Theorie und in Theorie des Subjekts 69 - von der auf die Stellung des individuellen Subjekts ausgerichteten Gesellschaftskritik der Kritischen Theorie Adornos und Horkheimers aus, die sie auf soziosemiotischer Ebene weiterentwickelt. Zu dieser Weiterentwicklung gehört auch der zentrale Gedanke, daß diese Theorie nicht mehr primär auf Negativität ausgerichtet werden sollte, sondern auf den bei Adorno und Horkheimer ebenfalls fundamentalen Gedanken der Alterität: d.h. auf den Dialog mit der anderen Theorie und der anderen Subjektivität (Kap XI). Erst im Dialog wird kritische Überprüfung von Aussagen und Theoremen möglich. Das Konzept einer kritischen Metatheorie, wie es hier vertreten wird, ist durchaus schon in Adornos Philosophie der Nachkriegszeit angelegt, die einerseits auf die reflektierende Überwindung der Arbeitsteilung 70 , andererseits auf die Reflexion ihrer eigenen diskursiven Anordnung abzielt. 71 Diese Philosophie ist zugleich Diskurskritik, die über ihr Verhältnis zum Gegenstand nachdenkt, ohne in diesem Verhältnis empiristisch zu verkümmern, d.h. ohne sich ausschließlich (wie Mertons Theorie) vom Objekt bestimmen zu lassen. Dieses metatheoretische Nachdenken über den Gegenstand als Objektkonstruktion im Forschungsprozeß könnte auch als Methodologie bezeichnet werden: „M[ethodologie] ist Metatheorie des Forschungsprozesses und hat die Bewertung und Kritik seiner Ergebnisse und ihres Zustandekommens sowie Vorschläge für die Verbesserung der 69 Vgl. Vf., Ideologie und Theorie, op. cit., Kap. X sowie Vf., Theorie des Subjekts, op. cit., Kap. V. 70 Th. W. Adorno, „Wozu noch Philosophie“, in: ders., Eingriffe. Neun kritische Modelle, Frankfurt, Suhrkamp, 1971 (7. Aufl.), S. 18. 71 Vgl. A. Demirović, Der nonkonformistische Intellektuelle. Die Entwicklung der Kritischen Theorie zur Frankfurter Schule, Frankfurt, Suhrkamp, 1999, Kap. 5.4: „Die Notwendigkeit der Philosophie“. <?page no="37"?> 23 Forschungspraktiken zum Gegenstand.“ Sie befaßt sich u.a. auch mit der „Konstruktion von Theorien und ihrer Überprüfung“. 72 Der philosophischen Reflexion als kritischer Metatheorie fällt demnach die Aufgabe zu, die Arbeitsteilung soweit zu überwinden, daß sie einen zugleich philosophischen und soziosemiotischen Theoriebegriff vorschlagen kann, der die Diskussion in den Kultur- und Sozialwissenschaften vorantreibt und einen neuen Modus der Überprüfung gestattet. Der Ausdruck „Soziosemiotik“ läßt bereits das wissenschaftliche Spektrum erkennen, auf das sich die meisten Kapitel dieses Buches beziehen. Da es aus Kompetenz- und Kohärenzgründen unmöglich ist, alle kultur- und sozialwissenschaftlichen Disziplinen einzubeziehen, konzentriert sich das Buch einerseits auf die Ebene der philosophischen Reflexion, andererseits auf konkrete Probleme der Semiotik und der Literaturwissenschaft im kulturwissenschaftlichen Bereich und auf Probleme der Soziologie im sozialwissenschaftlichen Bereich. Am Rande werden auch Fächer wie Geschichtswissenschaft oder Anthropologie bzw. Ethnologie (Kap. II, V) angesprochen. Diese unvermeidlich selektive Vorgehensweise wird von der Hoffnung getragen, daß sich die hier angestellten Überlegungen auch für Disziplinen als fruchtbar erweisen, mit deren Forschungsstand der Autor nicht vertraut ist. 72 K. Lenkenau, „Methodologie“, in: B. Schäfers (Hrsg.) Grundbegriffe der Soziologie, op. cit., S. 195. „Methoden“ als Gegenstand der Methodologie wären dann konkrete Verfahren wie „Datenverarbeitung“, „Befragung“, „Beobachtung“, „Experiment“ usw. <?page no="39"?> 25 Erster Teil Der theoretische Diskurs in den Sozial- und Kulturwissenschaften: Begriffsbestimmung Da die Theorie hier allgemein als interessengeleiteter Diskurs definiert wurde, mag der Eindruck entstanden sein, daß die Argumentation auf eine Partikularisierung des Theoriebegriffs hinausläuft. Deshalb sei eingangs angemerkt, daß der Autor weder einem abstrakten Universalismus noch einem das Rationale aushöhlenden Partikularismus das Wort redet, sondern versucht, zwischen den beiden Extremen dialektisch zu vermitteln. Dabei geht es auch um das Irrationale eines rationalistischen Universalismus, den Karl R. Popper trotz aller Vorbehalte und Kritiken vom Wiener Kreis geerbt hat: um das Bagatellisieren kultureller, sprachlicher und ideologischer Besonderheiten in theoretischen Auseinandersetzungen und in der Theoriebildung. Sozial- und kulturwissenschaftliche Theorien sind jedoch fast ausschließlich sprachliche Konstrukte, und das Irrationale der verschiedenen Rationalismen (des Logischen Positivismus, des Kritischen Rationalismus und der zahlreichen Varianten der Spieltheorie im sozialwissenschaftlichen Bereich) besteht darin, daß sie sich dezisionistisch über das Partikulare hinwegsetzen. Für sie ist der Mensch ein rational denkender, kalkulierender und handelnder Einzelner, dessen kulturelle Identität als Akzidens ad acta gelegt wird. Am anderen Ende des theoretischen Spektrums wird nicht nur die Existenz eines „Universaljargons“ 73 im Sinne des frühen Wiener Kreises geleugnet, sondern auch die Möglichkeit, verschiedene gesellschaftliche Sprachen oder „Sprachspiele“ (Wittgenstein, Lyotard) miteinander zu vergleichen. Lyotard stellt diese Tendenz zu Partikularisierung und Inkommensurabiltät anschaulich dar, wenn er über die neueste französische Philosophie schreibt: „Wenn das, was als die französische Philosophie der letzten Jahre bezeichnet wird, in irgendeiner Weise postmodern war, so in dem Sinne, daß es durch die Refle- 73 Vgl. O. Neurath, „Universaljargon und Terminologie“, in: ders., Gesammelte philosophische und methodologische Schriften, Bd. II, Hrsg. R. Haller, H. Rutte, Wien, Hölder-Pichler-Tempsky, 1981, S. 902-903. <?page no="40"?> 26 xion über die Dekonstruktion (Derrida), die Unordnung des Diskurses (Foucault), das epistemologische Paradox (Serres), die Alterität und den Sinn-Effekt nomadischer Begegnungen (Deleuze) den Akzent auf die Inkommensurabilitäten setzte.“ 74 Diese incommensurabilités, wie Lyotard sagt, sind die unvereinbaren Partikularismen einer zersplitterten nachmodernen Gesellschaft. Im folgenden geht es darum, einen soziosemiotischen Theoriebegriff zu entwickeln, der den verschiedenen Partikularitäten Rechnung trägt, ohne jedoch den Anspruch der älteren und neuen Kritischen Theorie auf universelle Geltung und rationale Verständigung preiszugeben. Kurzum, es gilt, zwischen dem Besonderen und dem Allgemeinen dialektisch und dialogisch zu vermitteln (vgl. Teil II und III) und dabei Adornos Paradoxon oder Dilemma einer parataktischen (d.h. nicht-theoretischen) Theorie zu vermeiden. 75 Eine solche Vermittlung kann jedoch nicht gelingen, solange der Theoriebegriff abstrakt und unverbindlich bleibt (Theorie als „System von Aussagen oder Sätzen“), so daß er die partikularen Standpunkte und Interessen, die in Theorien auch zum Ausdruck kommen, nicht erfassen kann. Sie gelingt am ehesten dort, wo Theorie als sprachliche Struktur im semiotischen Sinne aufgefaßt wird: als ein Diskurs, der in bestimmten soziokulturellen und sprachlichen Verhältnissen entsteht und von ideologischen Interessen keineswegs frei ist. Dabei gilt es, die Ambivalenz der Ideologie nicht aus den Augen zu verlieren: Es wird sich zeigen (Kap. II), daß sie einerseits die Triebfeder der Theorie ist, andererseits deren größte Bedrohung. Das ideologische Engagement hält zwar das Erkenntnisinteresse des Theoretikers wach; es kann ihn aber auch blenden, wenn es übermächtig wird. In diesem diskursanalytischen und diskurskritischen Zusammenhang wird - in den letzten beiden Kapiteln des Ersten Teils - deutlich, weshalb die wissenschaftssoziologischen und wissenschaftshistorischen Begriffe Wertfreiheit und Paradigma in den Kultur- und Sozialwissenschaften nicht ohne weiteres anwendbar sind. Sie abstrahieren von den kulturellen Besonderheiten und den ideologischen In- 74 J.-F. Lyotard, Le Tombeau de l’intellectuel et autres papiers, Paris, Galilée, 1984, S. 85. 75 Zur Kritik an Adornos „Parataxis“ vgl. Vf., „Adorno et la crise du langage: pour une critique de la parataxis“, in: P. V. Zima, Théorie critique du discours. La discursivité entre Adorno et le postmodernisme, Paris, L’Harmattan, 2003. <?page no="41"?> 27 teressen, die sich in theoretischen Diskursen niederschlagen. Die Rede von der „Koexistenz verschiedener Paradigmen“ in Soziologie, Anthropologie oder Literaturwissenschaft sowie von der „Mehrparadigmen-Wissenschaft“ 76 zeugt von diesem Tatbestand. 76 R. L. Geiger, „Die Institutionalisierung soziologischer Paradigmen: Drei Beispiele aus der Frühzeit der französischen Soziologie“, in: W. Lepenies (Hrsg.), Geschichte der Soziologie, Bd. II, Frankfurt, Suhrkamp, 1981, S. 140. <?page no="43"?> 29 I. Die kulturelle Bedingtheit der Theorie Der Titel wirft zwei grundsätzliche Fragen auf: Was soll man sich unter „Kultur“ und was unter „Bedingtheit“ vorstellen? Gesellschaftlich und kulturell bedingt sind letztlich alle Erscheinungen, die der Mensch und nicht die Natur hervorbringt. Schon deshalb ist die These über die kulturelle Bedingtheit aller wissenschaftlichen Theorien eine Binsenweisheit, deren (zweifellos vorhandener) Wahrheitsgehalt sich in der Abstraktion auflöst. Nur wenn es gelingt, diese These zu konkretisieren und zu differenzieren, kann sie angewandt, „aktiviert“ werden. Ihre Anwendbarkeit hängt u.a. von der Art ab, wie die Begriffe „Kultur“ und „Theorie“ aufeinander bezogen werden. Sie können aber nur dann konkret aufeinander abgestimmt werden, wenn die Definition des Kulturbegriffs nicht allzu unverbindlich und abstrakt ausfällt - wie etwa bei dem Anthropologen Clyde Kluckhohn, dem es anscheinend auf eine umfassende, möglichst allgemeine Darstellung ankommt: „Der anthropologische Terminus bezeichnet die sichtbaren und unsichtbaren Aspekte der gesamten menschlichen Umwelt, die vom Menschen geschaffen wurden.“ 1 Wesentlich konkreter ist Talcott Parsons’ Definition in The Social System (1951): „Es ist eine Frage von Glaubensinhalten, von besonderen Systemen expressiver Symbole oder sogar von moralischen Wertorientierungsmustern, solange diese nur ‚Annahme‘ (‚acceptance‘) und nicht aktive Verwirklichung erfordern. Diese werden hier als kulturelle Institutionen bezeichnet.“ 2 Den kleinsten gemeinsamen Nenner drückt schließlich die von Klaus P. Hansen vorgeschlagene vorläufige Definition von „Kultur“ aus: „Sie umfaßt die Gesamtheit der Gewohnheiten eines Kollektivs.“ 3 Alle drei Begriffsbestimmungen mögen für bestimmte Zwecke geeignet sein, nicht jedoch für eine Verknüpfung von „Kultur“ mit „Theorie“, die hier allgemein und provisorisch als „interessengeleiteter Diskurs“ aufgefaßt wurde. 1 C. Kluckhohn, „The Study of Culture“, in: L. A. Coser, B. Rosenberg (Hrsg.), Sociological Theory, New York, Macmillan, 1966, S. 40. 2 T. Parsons, The Social System, London, Routledge-Kegan Paul, 1951, p. 52. 3 K. P. Hansen, Kultur und Kulturwissenschaft, Tübingen-Basel, Francke, 20 11 ( 4 . Aufl.), S. 1 5 -1 6 . <?page no="44"?> 30 Um den Kulturbegriff an den hier vorgeschlagenen Theoriebegriff anschließbar zu machen, soll Kultur im folgenden als ein Komplex von Problemen dargestellt werden: als eine sich in verbalen und nichtverbalen Zeichensystemen artikulierende sozio-historische Problematik. 4 Diese wird im nächsten Kapitel als sozio-linguistische Situation konkretisiert. Das Wort „Problematik“ drückt aus, daß es sich um eine dynamische Einheit handelt, um eine historische Konstellation von Problemen, auf die religiöse, ideologische, künstlerische und wissenschaftliche Gruppierungen und Individuen sehr unterschiedlich reagieren. Die Homogenität der Problematik besteht also in der Ähnlichkeit oder Verwandtschaft ihrer Probleme; ihre Heterogenität kommt in den oft divergierenden oder gar widersprüchlichen Reaktionen auf diese Probleme zum Ausdruck, zu denen gegenwärtig etwa die Umweltzerstörung, die Globalisierung, die Migrationsströme, die Gleichberechtigung der Frau oder die europäische Integration gehören. Der dynamische Charakter der Kultur als Problematik gewährleistet nun eine Anschließbarkeit des Theoriebegriffs an den Kulturbegriff: Als interessengeleitete Diskurse reagieren Theorien und Theorienkomplexe sehr unterschiedlich auf die Probleme einer Kultur. Da diese Probleme von Nation zu Nation, von Gesellschaft zu Gesellschaft verschieden sind, fallen auch die theoretischen Reaktionen und die Prozesse der Theoriebildung in Deutschland, Frankreich, Großbritannien oder den USA unterschiedlich aus. Daß diese Tendenz zur Partikularisierung einen gegenläufigen Trend zur kulturübergreifenden, universellen Begriffsbildung nicht ausschließt, soll im folgenden gezeigt werden. 1. Rationalisierungsprozesse Daß National- und Regionalkulturen als Problematiken keine hermetischen Systeme sind, sondern historische Konstellationen, die durch überregionale und übernationale Prozesse miteinander verbunden werden, läßt der von Max Weber untersuchte Rationalisierungsprozeß 4 Zur Definition der „Spätmoderne“ oder der „Postmoderne“ als einer kulturellen Problematik vgl. Vf., Moderne/ Postmoderne. Gesellschaft, Philosophie, Literatur, Tübingen-Basel, Francke, 2016 (4. Aufl.), Kap. I. <?page no="45"?> 31 in Europa erkennen. Es ist hier nicht der Ort, Webers Analyse im einzelnen zu kommentieren; es soll lediglich daran erinnert werden, daß die gesamte Wissenschaftsgeschichte Teil dieses Prozesses ist und daß im Hinblick auf ihn sowohl die Naturwissenschaften als auch die Sozial- und Kulturwissenschaften als „kulturell bedingt“ zu betrachten sind. Sie gehen allesamt aus einer von der Säkularisierung geprägten modernen europäischen Kultur hervor, die sich im Laufe der Jahrhunderte stetig von Mythos, Religion und Tradition entfernt, um letztlich nur noch das rationale Denken in seinen verschiedenen Formen gelten zu lassen. In der säkularisierten modernen Wissenschaftsgesellschaft geht es nicht mehr primär um die (von den Romantikern noch aufgeworfene) Frage, ob die Vernunft die soziale Entwicklung bestimmen soll, sondern um die Frage, welche Vernunft. In dieser Konstellation oder Problematik ist nahezu allen Wissenschaften - von der Physik bis zur Religionswissenschaft 5 - die Forderung nach Begriffsbestimmung, rationaler (widerspruchsfreier) Argumentation und empirischer Überprüfbarkeit gemeinsam. Diese Forderung ist nicht unabhängig von den Rationalisierungsprozessen zu verstehen, die Max Weber und seine Erben beschreiben. Sie ist ein wesentlicher Aspekt des wissenschaftlichen Fortschritts, von dem bei Weber die Rede ist: „Der wissenschaftliche Fortschritt ist ein Bruchteil, und zwar der wichtigste Bruchteil, jenes Intellektualisierungsprozesses, dem wir seit Jahrtausenden unterliegen (...).“ 6 Etwas weiter spricht Weber von der „intellektualistischen Rationalisierung durch Wissenschaft“. 7 Die Annahme, daß diese Rationalisierung die Grundlage aller modernen Wissenschaften und einer jeden wissenschaftlichen Argumentation bildet, ist sicherlich nicht abwegig. Insofern ist Jürgen Mittelstraß recht zu geben, wenn er resümierend feststellt: „So betrachtet stünde denn auch der Einsicht nichts im Wege, 5 Vgl. C. Koch, „Möglichkeiten und Grenzen der vergleichenden Religionswissenschaft“, in: P. V. Zima (Hrsg.), Vergleichende Wissenschaften, Tübingen, Narr, 2000, S. 131: „(...) Denn der Zusammenhang von zugrunde gelegtem Theoriekonzept und der damit verbundenen Methodenwahl leitet die Religionsforschung.“ 6 M. Weber, „Vom inneren Beruf zur Wissenschaft“, in: ders., Soziologie, universalgeschichtliche Analysen, Politik, Hrsg. J. Winckelmann, Stuttgart, Kröner, 1973, S. 316. 7 Ibid., S. 317. <?page no="46"?> 32 daß alle Wissenschaften Ausdruck derselben Rationalität sind, die die moderne Welt geschaffen hat.“ 8 Auf dieser Grundlage konnte Weber sein eigenes Postulat einer wertfreien oder wertungsfreien Wissenschaft rechtfertigen, einer Wissenschaft, die gegen den nicht-rationalen Kampf der Wertordnungen abgeschirmt werden sollte: „Damit ist aber behauptet“, erklärt Wolfgang Schluchter, „eine ‚freie‘ Erfahrungswissenschaft sei ein Wert, den es zu bewahren gelte, sie sei ‚wertvoll‘.“ 9 Daß diese Wissenschaft einer instrumentellen Vernunft im Sinne von Max Horkheimer 10 gehorcht, ist immer wieder betont worden. Zugleich wird sporadisch die Frage nach einer Alternativwissenschaft laut, die sich der instrumentellen ratio entzieht. Ein Philosoph wie Gernot Böhme zweifelt allerdings nicht an der modernen Vorherrschaft dieses Vernunfttyps: „Daß Wissenschaft auch anders sein kann, ist verdrängt und vergessen, und jede Erkenntnisunternehmung beeilt sich heute, sich selbst zur Wissenschaft (im Sinne des Typus neuzeitlicher Wissenschaft) zu stilisieren, um überhaupt konkurrenzfähig zu sein - man denke beispielsweise an die Psychoanalyse.“ 11 Max Webers Ideal einer wertfreien Erfahrungswissenschaft zeugt von diesem Anpassungsdruck, dem der hier vorgeschlagene Theoriebegriff Widerstand leistet. Die Frage, ob dieses Ideal nicht zugleich eine rationalistische Illusion sei, soll nicht hier, sondern im vierten Kapitel aufgeworfen werden. Es sei lediglich daran erinnert, daß Webers verstehende Soziologie als rationalistische Variante des Vernunftprozesses darstellbar ist und daß ein Weber-Kritiker wie Manfred Hennen erkennt, „daß in Wahrheit auch dieses Verstehen ein rationalistisches Konstatieren darstellt“. 12 Anders gesagt: Webers Auffassung des Rationalen ist kulturell partikular, da unauflöslich mit bestimmten Denktraditionen wie 8 J. Mittelstraß, Die Häuser des Wissens. Wissenschaftstheoretische Studien, Frankfurt, Suhrkamp, 1998, S. 133. 9 W. Schluchter, Rationalismus der Weltbeherrschung. Studien zu Max Weber, Frankfurt, Suhrkamp, 1980, S. 51. 10 Vgl. M. Horkheimer, Zur Kritik der instrumentellen Vernunft, Frankfurt, Fischer, 1974, S. 94-97. 11 G. Böhme, Alternativen der Wissenschaft, Frankfurt, Suhrkamp, 1980, S. 13. 12 M. Hennen, Krise der Rationalität - Dilemma der Soziologie. Zur kritischen Rezeption Max Webers, Stuttgart, Enke, 1976, S. 41. <?page no="47"?> 33 dem Neukantianismus der Heidelberger Schule (Rickerts, Windelbands) verflochten. Auch der Rationalisierungsprozeß ist kein Universalgesetz, das alle Kulturen gleichermaßen erfaßt, sondern - wie Weber selbst bestätigt 13 - eine Entwicklung, die von Europa ausgeht. Die Erklärungen dieser globalen kulturellen Bedingtheit des Rationalisierungsprozesses (und aller seiner Theorienkomplexe) weichen stark voneinander ab und können hier nicht en détail kommentiert werden. Es lohnt sich aber, zwei von diesen Erklärungen kurz zu vergleichen. Während C. A. van Peursen meint, daß die chinesische Rationalisierung nicht den europäischen Weg einschlug, weil Geometrie und Algebra in China „stets auf Ereignisse in der wirklichen Welt ausgerichtet waren („were always related to events in the real world“) 14 , glaubt Richard Münch, daß in China und Indien „eigengesetzlich rationalisierte Sphären“ zwar existierten, einander aber nicht - wie in Europa - durchdrangen: „Es gibt in China z.B. eine hochentwickelte Technologie und in Indien eine hochstehende, rationalisierte Philosophie und Mathematik, aber man findet weder in China noch in Indien das rationale Experiment als Wesensmerkmal moderner Wissenschaft, in dem Theorie und praktische Technologie, rationale Beweislogik und Empirie nicht getrennt sind, sondern sich gegenseitig durchdringen.“ 15 Wie sind nun diese Aussagen mit van Peursens Meinung zu vereinbaren, daß Geometrie und Algebra in China „stets auf Ereignisse der wirklichen Welt ausgerichtet waren“? Es geht hier nicht um die Beantwortung dieser Frage, sondern um die Erkenntnis, daß die Rationalisierung im Sinne von Weber kulturspezifische Erscheinungsformen annimmt und keineswegs als Universalphänomen mit globaler Gültigkeit zu betrachten ist. Im Hinblick auf die in der Einleitung angesprochene Differenz zwischen Natur- und Sozialwissenschaften mündet diese Erkenntnis in 13 Vgl. M. Weber, Die protestantische Ethik I. Eine Aufsatzsammlung, Hrsg. J. Winckelmann, Hamburg, Siebenstern, 1973 (3. Aufl.), S. 339-341. 14 C. A. van Peursen, „Rationality: European or Universal? “, in: Higher Education and Research in the Netherlands 3/ 4 , „Eurocentrism and Science“, 1982, S. 17. 15 R. Münch, Theorie des Handelns. Zur Rekonstruktion der Beiträge von Talcott Parsons, Emile Durkheim und Max Weber, Frankfurt, Suhrkamp (1982), 1988, S. 488. Zu Münchs Theorie der Interpenetration vgl. R. Münch, Die Struktur der Moderne. Grundmuster und differentielle Gestaltung des institutionellen Aufbaus der modernen Gesellschaften, Frankfurt, Suhrkamp (1984), 1992, S. 14-20. <?page no="48"?> 34 eine Paradoxie, die darin besteht, daß alle Wissenschaften zwar aus den hier skizzierten Rationalisierungsprozessen hervorgehen (Webers Soziologie ebenso wie Newtons Physik), die Naturwissenschaften jedoch allgemeingültige Theorien und Schemata hervorbringen. Dazu scheinen die Kultur- und Sozialwissenschaften nicht in der Lage zu sein. Während etwa das Periodensystem der chemischen Elemente - trotz aller kulturellen Besonderheiten des Rationalisierungsprozesses, aus dem es hervorging, - überkulturelle Geltung beanspruchen kann, können die in Europa verwendeten kunst- oder literaturgeschichtlichen Periodisierungen keineswegs auf nichteuropäische Kulturen angewendet werden. Schon die italienische Art zu periodisieren, zu klassifizieren unterscheidet sich von der deutschen, der französischen oder der englischen, und eine Bezeichnung wie „Sturm und Drang“ ist weder ins Italienische noch ins Englische zu übersetzen. 16 Wie ist das zu erklären? 2. Kultur als Problematik: Die kulturelle Bedingtheit kultur- und sozialwissenschaftlicher Theorien Es hängt ganz allgemein damit zusammen, daß Naturwissenschaftler es mit Problemen zu tun haben, deren Lösung kognitives Engagement voraussetzt, während es Kultur- und Sozialwissenschaftler mit Problemen zu tun haben, deren Lösung nicht nur kognitives, sondern auch ideologisches Engagement voraussetzt. Selbstverständlich ist in beiden Fällen Engagement eine psychische, emotionale und auch soziale Einstellung, die in beiden Wissenschaftsbereichen Dissens, Kritik und institutionellen Konflikt zeitigen kann. Während aber der Naturwissenschaftler nur seine Kollegen kritisieren kann - und nicht die Natur (auf das Wetter kann man schimpfen, aber kritisieren kann man es nicht) -, sehen sich Kultur- und Sozialwissenschaftler immer wieder zu kritischen Stellungnahmen veranlaßt, weil sie es mit sozialen Problemen (nicht bloß „Wertungen“) zu tun haben, die ohne ein implizites oder explizites politisches Engagement nicht zu lösen sind. 17 16 Vgl. Vf., Komparatistik. Einführung in die Vergleichende Literaturwissenschaft, Tübingen-Basel, Francke, 2011 (2. Aufl.), Kap. VII. 17 Zum kulturellen Kontext von Luhmanns Theorie vgl. K. L. Pfeiffer, „Theorie als kulturelles Ereignis. Modellierungen eines Themas überwiegend am Beispiel <?page no="49"?> 35 „Der Begriff der Kultur ist ein Wertbegriff“ 18 , schreibt Weber, sollte aber hinzufügen, daß er ein Wertbegriff ist, weil er Kritik auf sich zieht, provoziert. Vom historischen Materialisten sagt Walter Benjamin: „Denn was er an Kulturgütern überblickt, das ist ihm samt und sonders von einer Abkunft, die er nicht ohne Grauen bedenken kann.“ Es folgt der bekannte Satz: „Es ist niemals ein Dokument der Kultur, ohne zugleich ein solches der Barbarei zu sein.“ 19 Adornos Prismen tragen den Untertitel Kulturkritik und Gesellschaft. Eine analoge „Naturkritik“ im physikalischen, chemischen oder biologischen Sinne wäre höchstens als Witz vorstellbar. Nun mag jemand einwenden, daß Benjamin und Adorno zwar als Kulturkritiker bekannt sind, daß aber auch eine im Weberschen Sinne wertfreie Kultur- und Gesellschaftstheorie möglich sein sollte. Denn: „Weber bestand (...) nicht weniger nachdrücklich auf dem grundlegenden Unterschied zwischen ‚Wertbeziehungen‘ und ‚Werturteilen‘: wenn man z.B. sagt, etwas sei im Hinblick auf die politische Freiheit bedeutsam, dann nimmt man weder für noch gegen die politische Freiheit Stellung.“ 20 Auf den ersten Blick, der nicht der letzte sein sollte (vgl. Kap. IV), mag das richtig erscheinen, aber die Argumentationssituation ändert sich wesentlich, wenn man die Ebene des „Werturteilsstreits“ der 70er Jahre verläßt und auf die Ebene der Problematik vorstößt. Ersetzt man „Wertbeziehungen“ durch „Problembeziehungen“, so stellt man fest, daß eine neutrale oder wertfreie Einstellung nicht in Frage kommt, weil Probleme (anders als Werte) gelöst werden wollen: etwa die miteinander verwobenen Probleme der Inflation und der Arbeitslosigkeit, das Problem der kulturellen Benachteiligung bestimmter Gruppen (im Hinblick auf das kulturelle Kapital im Sinne von der Systemtheorie“, in: K. L. Pfeiffer, R. Kray, K. Städtke (Hrsg.), Theorie als kulturelles Ereignis, Berlin-New York, de Gruyter, 2001, S. 17: „Man vergißt heute leicht, wie lange und intensiv Luhmann die ‚Kopplung‘ vieler seiner Schriften (...) mit virulenten, gesellschaftlich-kulturellen, ja ‚persönlichen‘ Sachverhalten aufrechterhalten hat.“ 18 M. Weber, Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, Tübingen, Mohr- Siebeck, 1951, S. 175. 19 W. Benjamin, Zur Kritik der Gewalt und andere Aufsätze, Frankfurt, Suhrkamp, 1971 (2. Aufl.), S. 83. 20 L. Strauss, „Die Unterscheidung zwischen Tatsachen und Werten“, in: H. Albert, E. Topitsch (Hrsg.), Werturteilsstreit, Darmstadt, Wiss. Buchgesellschaft, 1979, S. 74. <?page no="50"?> 36 Bourdieu), das Problem der Benachteiligung von Künstlerinnen in den Institutionen oder das Problem der Umweltzerstörung durch Wirtschaftswachstum usw. Keines dieser Probleme ist ohne politischideologisches Engagement, d.h. rein theoretisch, zu beschreiben - geschweige denn zu lösen. Denn schon die Hypothese, daß bestimmte Gesellschaftsgruppen oder Künstlerinnen benachteiligt sind, stößt auf Gegenmeinungen, da ja das Wort „Benachteiligung“ Kritik beinhaltet - ebenso wie das Wort „Umweltzerstörung“. Nun könnte man einwenden, daß Politiker Probleme lösen sollen, während von Wissenschaftlern nur deren Beschreibung erwartet wird. Dieser Einwand ist naiv, denn Poppers Vorschlag, die holistische (hegelianisch-marxistische) Vorgehensweise durch ein pragmatisches piecemeal social engineering 21 zu ersetzen, ist ebenso eine Reaktion auf konkrete Probleme wie die meisten Gesellschafts-, Staats- oder Kunstdefinitionen. Auch der Vorschlag, „Theorie“ auf eine bestimmte Art neu zu definieren, ist nur als Problemlösungsvorschlag zu verstehen. So ist es wohl zu erklären, daß den Kultur- und Sozialwissenschaften Engagement, Kritik und Wertung eingeschrieben sind. Die feministische Soziologie, Linguistik oder Literaturwissenschaft zeugt davon ebenso wie die Kritische Theorie und der Kritische Rationalismus Poppers, dessen Falsifizierbarkeitspostulat von seiner „offenen Gesellschaft“ und seinem liberalen Kulturideal 22 nicht zu trennen ist. Dies ist einer der Gründe, weshalb Poppers Thesen vor allem in Großbritannien und den USA, wo Unternehmertum und liberale Gesinnung schon immer stark ausgeprägt waren, auf fruchtbaren Boden fielen - und nicht so sehr in Frankreich, wo man sich eher auf staatliche Interventionen verließ und die philosophische Logik eine andere Richtung einschlug als im deutschen und englischen Sprachraum. 23 21 Vgl. K. R. Popper, The Open Society and its Enemies, Bd. II, The High Tide of Prophecy: Hegel, Marx, and the Aftermath, London, Routledge and Kegan Paul (1945), 1963, S. 130. 22 Vgl. K. R. Popper, „Woran glaubt der Westen? (Gestohlen vom Autor der ‚offenen Gesellschaft‘)“, in: ders., Auf der Suche nach einer besseren Welt. Vorträge und Aufsätze aus dreißig Jahren, München, Piper, 1984, S. 236. (Ideologisch vorausgesetzt wird die Einheit des „Westens“. Aber sind Europa und Nordamerika nicht zweierlei? ) 23 Vgl. D. Lecourt, L’Ordre et les jeux. Le positivisme logique en question, Paris, Grasset, 1981, S. 23-24. <?page no="51"?> 37 Auch Luhmanns Systemtheorie ist nicht neutral oder „wertfrei“, sondern kann noch am ehesten als eine großangelegte Replik auf Marxismus, Kritische Theorie und die deutschen Debatten der 70er und 80er Jahre verstanden werden. Wenn sich der Autor von Soziale Systeme (1984) über „die erloschenen Vulkane des Marxismus“ 24 freut, so gibt er zu verstehen, daß er eine Alternative entwirft, die eine kulturelle Neuorientierung enthält und zugleich zur Lösung des Umweltproblems 25 beitragen soll. Daß seinen Lösungsvorschlägen die politische Brisanz nicht fehlt, ist bekannt. Zu Recht bemerkt Johann August Schülein zu diesem Thema: „Während beispielsweise Schrödingers Gleichungen von allen Physikern gleich verstanden werden, bleibt es offen, wie Luhmanns Theorie ‚ökologischer Kommunikation‘ genau zu verstehen ist (was sich an verschiedenen Rezensionen zeigt) und wie sie zu bewerten ist (was sich ebenfalls daran zeigt).“ 26 Während Luhmann in Deutschland im Rahmen einer von den USA nach dem Zweiten Weltkrieg übernommenen Konsensproblematik hoffen kann, mit dem Systembegriff den Marxismus und die Kritische Theorie in die Schranken zu weisen, entwickeln sich im Frankreich der Nachkriegszeit soziologische Theorien, die die Herrschaftsverhältnisse unter die Lupe nehmen und die soziale Bewegung gegen Wirtschaftssystem und Staatsbürokratie mobilisieren. Anders als Pierre Bourdieu, der mit Hilfe von Begriffen wie symbolisches Kapital, symbolische Gewalt und autorisierte Sprache (langage autorisé) zu zeigen versucht, wie bestimmte Akteure aus den umkämpften sozialen Feldern ausgeschlossen werden 27 , konzentriert sich Alain Touraine in seiner Handlungssoziologie 28 auf die soziale Bewegung als historisches Subjekt. Sein Begriff des mouvement social ist einerseits kulturell bedingt, weil er an eine anarchosyndikalistische Strömung und an den Gedanken der autogestion (Arbeiterselbstverwal- 24 N. Luhmann, Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie, Frankfurt, Suhrkamp (1984), 1987, S. 13. 25 Vgl. N. Luhmann, Ökologische Kommunikation. Kann die moderne Gesellschaft sich auf ökologische Gefährdungen einstellen? , Opladen, Westdeutscher Verlag, 1986, S. 177-179. 26 J. A. Schülein, Autopoietische Realität und konnotative Theorie. Über Balanceprobleme sozialwissenschaftlichen Erkennens, Weilerswist, Velbrück, 2002, S. 23. 27 Vgl. P. Bourdieu, Was heißt sprechen? Die Ökonomie des sprachlichen Tausches, Wien, Braumüller, 1990, Kap. II. 28 A. Touraine, Sociologie de l’action, Paris, Seuil, 1965. <?page no="52"?> 38 tung) anknüpft 29 , andererseits kultur- und gesellschaftskritisch, weil er die Bewegung als Subjekt gegen die wirtschaftlichen und staatlichen Verwaltungsapparate wendet. Daß er seine Soziologie aus der Sicht des Subjekts als Bewegung schreibt, wird immer wieder deutlich: „Das Subjekt kommt sowohl im Kampf gegen die Apparate als auch durch den Respekt des Anderen als Subjekt zustande; die soziale Bewegung ist das kollektive Handeln zur Verteidigung des Subjekts gegen die Macht der Ware, des Wirtschaftsunternehmens und des Staates.“ 30 Es überrascht kaum, daß Luhmann diese Art von Soziologie, die auf eine ganz andere soziokulturelle Problematik reagiert als seine eigene, nicht goutiert. 31 Nicht nur die Soziologie bewegt sich zwischen kritischer Wertung und einem auf Exaktheit ausgerichteten Szientismus 32 , sondern auch die Literaturwissenschaft. Betrachtet man diese Kulturwissenschaft in einem interkulturellen Kontext 33 , so stellt man alsbald fest, daß man es in den romanischen und englischsprachigen Ländern eher mit Kritik, im deutschen, niederländischen und slawischen Sprachbereich eher mit Wissenschaft zu tun hat. Während in den romanischen und englischsprachigen Ländern die Grenzen zwischen Literaturkritik (critique littéraire, critica letteraria, literary criticism) und Literaturtheorie (théorie de la littérature, teoria della letteratura, theory of literature) als wissenschaftlicher Textana- 29 Vgl. A. Touraine, Critique de la modernité, Paris, Fayard, 1992, S. 100-101. 30 Ibid., S. 331. 31 Vgl. N. Luhmann, Soziale Systeme, op. cit., S. 543 sowie ders., Die Gesellschaft der Gesellschaft, Bd. II, Frankfurt, Suhrkamp, 1997, S.1031: „Fachintern lebt diese ‚Handlungstheorie‘ von historischen Reminiszenzen (...).“ 32 Vgl. R. C. Bannister, Sociology and Scientism. The American Quest for Objectivity, 1890-1940, Chapel Hill-London, The University of North Carolina Press, 1987, Kap. VIII: „An Objective Standard“. 33 Zu diesem Thema vgl. L. Danneberg, F. Vollhardt (Hrsg.), Wie international ist die Literaturwissenschaft? Methoden und Theoriediskussion in den Literaturwissenschaften: kulturelle Besonderheiten und interkultureller Austausch am Beispiel des Interpretationsproblems (1950-1990), Stuttgart-Weimar, Metzler, 1996. Zur kulturellen Besonderheit der Theoriebildung merken L. Danneberg und J. Schönert in diesem Band an: „(...) Der Entwurf literaturgeschichtlicher Abläufe ist ebenso wie die Interpretation literarischer Werke nicht unabhängig von mehr oder weniger kulturspezifischen Theorien und Methoden.“ (S. 44.) Mit dem „Widerstand gegen Internationalisierung“ (S. 288) in der Germanistik befaßt sich in diesem Band Ch. Kambas. <?page no="53"?> 39 lyse fließend sind 34 , wird im deutschen, niederländischen und slawischen Sprachbereich die Literaturkritik als Gegenstand der Literaturwissenschaft (literatuurwetenschap, literaturovedennie) betrachtet. 35 Das heißt, daß die Trennungslinie zwischen Kritik und Wissenschaft in Mittel- und Osteuropa auf institutioneller Ebene viel schärfer gezogen wird als in den romanischen Ländern oder in den USA, wo der Dekonstruktivist Geoffrey H. Hartman den literary critic als einen literarischen Autor sui generis auffaßt, der Literatur über Literatur schreibt. 36 In diesem Zusammenhang sind auch die beiden französischen Termini psychocritique und sociocritique zu verstehen. Sie bezeichnen psychoanalytische und soziologische Ansätze, die im Rahmen der institutionalisierten critique littéraire auf den Text ausgerichtet sind und empirische Methoden eher meiden. So ist der Unterschied zwischen der sociocritique und der sociologie de la littérature (als Soziologie) zu verstehen. 37 Diese Beispiele lassen das Dilemma aller Humanwissenschaften erkennen: Im Rahmen des von Weber beschriebenen Rationalisierungsprozesses streben sie in vielen Fällen nach naturwissenschaftlicher Exaktheit und Allgemeingültigkeit; zugleich werden sie mit der Notwendigkeit konfrontiert, im Rahmen der soziokulturellen Problematik auf konkrete nationale und regionale Probleme kritisch-wertend zu reagieren. Sie haben es in jedem Land mit einer spezifischen Kommunikationssituation zu tun und mit Diskussionen, die in anderen Ländern möglicherweise überhaupt nicht stattfinden. Daß sich ihre 34 Vgl. F. Thumerel, La Critique littéraire, Paris, Armand Colin, 1998, Kap. III: „Les trois critiques“. (Es ist dort u.a. von „la critique journalistique“, „la critique universitaire“ - also „Literaturwissenschaft“ - und „la critique d’écrivain“ die Rede.) 35 Vgl. Vf., „Die Stellung der Literaturwissenschaft zwischen den Kulturen: Eine textsoziologische Betrachtung“, in: H. Foltinek, Ch. Leitgeb (Hrsg.), Literaturwissenschaft: intermedial - interdisziplinär, Wien, Verlag der Österr. Akademie der Wissenschaften, 2002. 36 Vgl. G. H. Hartman, Criticism in the Wilderness. The Study of Literature Today, New Haven-London, Yale Univ. Press, 1980, S. 4 und S. 211. 37 Vgl. Ch. Mauron, Des métaphores obsédantes au mythe personnel. Introduction à la psychocritique, Paris, Corti, 1983; E. Cros, Théorie et pratique sociocritiques, Montpellier, Etudes Sociocritiques, 1984; P. Dirkx, Sociologie de la littérature, Paris, Armand Colin, 2000, S. 88-93 sowie P. V. Zima, Manuel de sociocritique, Paris (1985), L’Harmattan, 2000. <?page no="54"?> 40 Thesen und Theoreme in dieser Situation nicht der globalen Zustimmung erfreuen können, die etwa dem chemischen Periodensystem weltweite Akzeptanz sichert, leuchtet durchaus ein. 3. Zur Institutionalisierung von Theorien Theoretische Diskurse entstehen und wirken nicht nur innerhalb von soziokulturellen Problematiken, sondern auch in Institutionen, die konkrete Aspekte dieser Problematiken sind. Bisweilen kann eine Theorie oder ein Theorienkomplex auf institutioneller Ebene eine Vormachtstellung erlangen, die sich auf die gesamte Problematik auswirkt und sie von anderen kulturellen Problematiken unterscheidet. Eines der besten und bekanntesten Beispiele stammt aus dem philosophischen Bereich. Es handelt sich um die Philosophie Benedetto Croces (1866-1952), die das kulturelle Leben Italiens in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts nachhaltig geprägt hat und deren Wirkungspotential noch immer nicht erschöpft zu sein scheint. In Anlehnung an Hegel 38 hat Croce eine idealistische Philosophie entwickelt, die in vieler Hinsicht die Standpunkte und Interessen des damaligen italienischen Bürgertums artikulierte und Schlüsselbegriffe wie „Geschichte“, „Politik“ oder „Kunst“ in Übereinstimmung mit diesen Interessen definierte. Antonio Gramscis polemische, aber durchaus realistische Darstellung läßt erkennen, wie sehr Croce die gesamte sozio-kulturelle Problematik Italiens in seinem Werk gebündelt und der institutionellen Hegemonie seines Denkens (im Sinne von Gramsci) unterworfen hat: „Croce war der Theoretiker dessen, was all diesen Gruppen und Grüppchen, Kamarillen und Mafien gemein war; der Chef eines zentralen Propagandabüros, von dem alle diese Gruppen profitierten und dessen sie sich bedienten. Er war nationaler Führer der kulturellen Bewegungen, die entstanden waren, um die alten politischen Formen wieder aufleben zu lassen.“ 39 Tatsache ist, daß Croces antifaschistische Einstellung während der Zwischenkriegszeit und in den Kriegsjahren seinen Einfluß nach dem 38 Vgl. z.B. B. Croce, Lebendiges und Totes in Hegels Philosophie, Heidelberg, Winter, 1909. 39 A. Gramsci, „Die Philosophie von Benedetto Croce“, in: ders., Philosophie der Praxis. Eine Auswahl, Frankfurt, Fischer, 1967, S. 248. <?page no="55"?> 41 Krieg noch verstärkte: Er wurde 1943 zum Neubegründer der Liberalen Partei Italiens, war deren Vorsitzender bis 1947; 1944 wurde er Minister nach dem Zusammenbruch des Faschismus. So ist es zu erklären, daß sein Idealismus nicht nur die italienische Philosophie nachhaltig beeinflußte, sondern seine Hegemoniestellung sich auch auf die Geschichtsschreibung und die Literaturwissenschaft ausdehnte. Einer der Gründe, weshalb sich die Vergleichende Literaturwissenschaft in italienischen Universitäten nur langsam durchsetzte (und noch immer einen schweren Stand hat), ist in Croces These zu suchen, daß literarische Werke einmalige Erscheinungen sind, die keinem Gattungsbegriff subsumiert werden können 40 und folglich nicht vergleichbar sind. Institutionalisierungsprozesse in anderen Kulturbereichen können zwar nicht ohne weiteres diesem „Idealfall“ einer Hegemonie angeglichen werden; es steht aber fest, daß Auguste Comtes Philosophie und Emile Durkheims Soziologie lange Zeit die französischen Diskussionen beherrschten, während die Soziologie in Deutschland von Max Webers verstehender Theorie dominiert wurde, die trotz der unübersehbaren Präsenz der Systemtheorie immer noch wirkungsmächtig ist. (Davon zeugt u.a. das in den 90er Jahren in Erfurt, der Geburtsstadt Webers, gegründete Max-Weber-Institut.) Nicht zu Unrecht spricht Paul Claval im Zusammenhang mit Comtes Positivismus von einem mythe fondateur, der sich in der französischen Universität der Revolutionszeit entfalten konnte. 41 An diesen positivistischen Mythos, aus dem das Wort sociologie hervorging, knüpften Durkheim und seine Mitarbeiter (P. Fauconnet, M. Mauss, M. Halbwachs u.a.) an. 42 Der Einfluß der Durkheim-Schule auf die französischen Nachbardisziplinen kann kaum überschätzt werden: Sie hat das Denken der Literaturwissenschaft Lansons, der Ethnologie Lévy-Bruhls und der Geschichtswissenschaft Henri Berrs in bestimmte Bahnen gelenkt, die für die französische Problematik nach Saint- Simon und Comte charakteristisch waren. Es sei hier lediglich an Lan- 40 Vgl. B. Croce, Estetica come scienza dell’espressione e linguistica generale, Bari, Laterza, 1973 (12. Aufl.), S. 41. 41 P. Claval, Les Mythes fondateurs des sciences sociales, Paris, PUF, 1980, S. 108. 42 H. Peyré, „Durkheim: The Man, his Time, and his Intellectual Background“, in: E. Durkheim u.a., Essays on Sociology and Philosophy, Hrsg. K. H. Wolf, New York, Harper and Row, 1960, S. 23-24. <?page no="56"?> 42 sons Vortrag „L’Histoire littéraire et la sociologie“ 43 erinnert, den er im Jahre 1904 auf eine Einladung Durkheims hin an der Ecole des Hautes Etudes hielt. In dieser Situation nimmt es nicht wunder, daß es an der Schwelle zum 20. Jahrhundert kaum Kontakte zwischen der deutschen und der französischen Soziologie gab. Das Wort „Soziologie“ hatte in den beiden Ländern verschiedene Bedeutungen angenommen: Während die deutschen Weberianer die Soziologie für eine verstehende Wissenschaft im Sinne der Neukantianer Windelband, Lask und Rickert 44 hielten, die sich primär am Individuum orientierte, nahmen sich die Erben Comtes vor, die sozialen Fakten auf kollektiver Ebene „als Dinge zu behandeln“ („la sociologie traite les faits comme des choses“, sagt Durkheim). 45 Das ist ein beträchtlicher Unterschied. Er ist sicherlich für den Umstand mitverantwortlich, daß Durkheim und Weber einander kaum zur Kenntnis nahmen. Edward A. Tiryakian bestätigt, daß es sich nicht um Unkenntnis, sondern um den Tatbestand des „Nicht-zur-Kenntnis-Nehmens“ handelte: „Sollte es sich tatsächlich so verhalten haben, dann ist der Nationalismus eines jeden ein Faktor, der sich unmittelbar aufdrängt. Da sich jeder mit seinem Land als Ganzem vielleicht stärker identifizierte als sonst ein Franzose oder Deutscher der Zeit (eine Widerspiegelung des gesellschaftlichen Charakters der Soziologie? ), könnten sie entgegen ihrem Bekenntnis zu dem wissenschaftlichen Kriterium der Universalität eine nationalistische Antipathie gegeneinander entwickelt haben, gerade weil jeder in dem anderen nicht nur den fähigsten Kopf der Sozialwissenschaft in seinem eigenen Land, sondern auch das repräsentative Symbol einer feindlichen Kultur sah.“ 46 Hier wird deutlich, wie sehr „Kultur“ ein wertender Begriff ist. Wahrscheinlich handelte es sich aber nicht nur um nationale Gegensätze, sondern auch um Ge- 43 Vgl. G. Lanson, „L’Histoire littéraire et la sociologie“, in: ders., Essais de méthode, de critique et d’histoire littéraire, Paris, Hachette, 1965. 44 Vgl. H. Rickert, „Die Heidelberger Tradition und Kants Kritizismus (Systematische Selbstdarstellung)“, in: ders., Philosophische Aufsätze, Tübingen, Mohr- Siebeck, 1999, S. 376-377: zum Begriff des „Verstehens“. 45 E. Durkheim, Les Règles de la méthode sociologique, Paris, PUF, 1987 (23. Aufl.), S. 73-74. 46 E. A. Tiryakian, „Ein Problem für die Wissenssoziologie: Die gegenseitige Nichtbeachtung von Emile Durkheim und Max Weber“, in: W. Lepenies (Hrsg.), Geschichte der Soziologie, Bd. IV, op. cit., S. 24. <?page no="57"?> 43 gensätze zwischen den kulturellen Problematiken und zwischen den wissenschaftlichen Sprachen, den Soziolekten (vgl. Kap. II). Die Plausibilität dieser These wird durch neuere französische Einführungen in die Soziologie, etwa durch Pierre Ansarts Les Sociologies contemporaines (1990), verstärkt. In diesem Werk kommen zwar - neben Tocqueville, Comte, Durkheim, Balandier, Bourdieu, Crozier und Touraine - Max Weber, Simmel und Schütz vor, aber die zeitgenössische deutsche und britische Soziologie ist nicht vertreten. Auch der Name Luhmann fehlt hier - ebenso wie in englischen Einführungen. Daß von Luhmanns Werk bis jetzt nur zwei oder drei Titel ins Französische übersetzt wurden, ist ein weiteres interkulturelles Faktum, das den vergleichenden Wissenschaftler interessieren wird. Frappierend ist auch das Fehlen Luhmanns und seiner „Schule“ in einer nordamerikanischen Publikation wie Global Sociology 47 von Robin Cohen und Paul Kennedy: Wäre hier Luhmanns Begriff der „Weltgesellschaft“ nicht von Bedeutung gewesen? Weshalb fehlt er? Weshalb fehlt er auch in Anthony Giddens’ umfangreicher Einführung Sociology, deren 16. Kapitel mit dem Titel „The Globalizing of Social Life“ die Frage nach Luhmanns „Weltgesellschaft“ geradezu herausfordert? 48 In dieser Hinsicht scheinen deutschsprachige Darstellungen der Soziologie eher interkulturell angelegt zu sein. 49 Es sollte daher die Zusatzhypothese aufgenommen werden, daß sich wichtige sozialwissenschaftliche Strömungen interkulturell erst im Laufe der Jahrzehnte durchsetzen - wenn überhaupt. 50 Sie wird z.B. von Raymond Boudons Buch Etudes sur les sociologues classiques (1998) bestätigt, in dem neben Max Weber auch Vilfredo Pareto, Max Scheler und Adam Smith eine wichtige Rolle spielen. In ei- 47 Vgl. R. Cohen, P. Kennedy, Global Sociology, New York, University Press (2000), 2003. 48 Vgl. A. Giddens, Sociology, Cambridge, Polity, Oxford, Blackwell (1989), 1993 (2. Aufl.), S. 527. 49 Vgl. G. Mikl-Horke, Soziologie. Historischer Kontext und soziologische Theorie-Entwürfe, München-Wien, Oldenbourg, 2001 (5. Aufl.). Die Autorin geht nicht nur auf die englischsprachige, sondern auch auf die französische Soziologie recht ausführlich ein. 50 Es fällt z.B. auf, daß in dem von J. Duvignaud edierten Sammelband Sociologie de la connaissance, Paris, Payot, 1979, die in Deutschland und Großbritannien so bekannte Wissenssoziologie Karl Mannheims völlig fehlt. <?page no="58"?> 44 nem neueren Werk setzen sich Bruno Péquignot und Pierre Tripier recht ausführlich mit Georg Simmel und Norbert Elias auseinander. 51 Es gibt aber auch Beispiele für eine rasche interkulturelle Rezeption zeitgenössischer Begriffe, Werke und Autoren. So befaßt sich etwa Patrick Peretti-Watels Sociologie du risque (2000) mit einem Problem, das in Deutschland von Ulrich Beck (Risikogesellschaft, 1986) angeschnitten wurde. 52 Hier könnte man mit Rainer Winter von einer „Transnationalisierung“ sprechen, die er selbst freilich vor allem auf die cultural studies bezieht. 53 Ist dies als ein Zeichen dafür zu werten, daß allmählich eine interkulturelle Problematik der Kultur- und Sozialwissenschaften entsteht? Es fällt schwer, diese Frage zu bejahen, zumal der Ausdruck cultural studies selbst kulturspezifisch ist und bisher weder ins Deutsche noch ins Französische adäquat übersetzt wurde. Nicht zufällig wird immer wieder die englische Bezeichnung verwendet - und eher im deutschen als im romanischen Sprachraum. Wer einen Blick auf die internationale Semiotik wirft, der wird ebenfalls geneigt sein, diese Frage zu verneinen. Denn in diesem Bereich koexistieren - wie in der Vergleichenden Literaturwissenschaft der Nachkriegszeit 54 - weiterhin zwei kulturell, philosophisch und terminologisch heterogene und in „Schulen“ institutionalisierte Traditionen: die nordamerikanische und die französisch-europäische. 55 Obwohl die von Charles Sanders Peirce und Charles William Morris entwickelte Semiotik (vgl. John Lockes semiotic) durchaus mit europäischen Philosophien wie dem Kantianismus (Peirce) und dem Wiener Kreis (Morris) liiert ist, begründet sie einen Pragmatismus, der dem cartesianischen Rationalismus Ferdinand de Saussures und seiner Nachfolger (Hjelmslevs, Greimas’) fremd ist. Die Terminologien dieser beiden Semiotiken sind nur schwer auf einen Nenner zu bringen, und der Eklektizismus von Umberto Ecos Semiotik, die eine Synthese 51 Vgl. B. Péquignot, P. Tripier, Les Fondements de la sociologie, Paris, Nathan, 2000, S. 123-125 sowie 138-143. 52 Vgl. P. Peretti-Watel, Sociologie du risque, Paris, Armand Colin, 2000, S. 74- 80, wo U. Beck ausführlich kommentiert wird. 53 Vgl. R. Winter, Die Kunst des Eigensinns. Cultural Studies als Kritik der Macht, Weilerswist, Velbrück, 2001, Kap. IV. 54 Vgl. Vf., Komparatistik, op. cit., Kap. I: „Zur Wissenschaftsgeschichte der Komparatistik“, I, 3: „Die ‚französische‘ und die ‚amerikanische‘ Schule“. 55 Vgl. W. Nöth, Handbuch der Semiotik, Stuttgart, Metzler, 1985, S. 4-6. <?page no="59"?> 45 der beiden Strömungen anstrebt, ist vor allem auf diese Schwierigkeit zurückzuführen. 56 Von einer gegenseitigen Nichtbeachtung, wie sie zwischen Weber und Durkheim beobachtet wurde, zeugen etwa Greimas’ und Courtés’ Lexikon-Artikel (1979) zu den Stichworten „Sémiologie“ und „Sémiotique“: Die Namen Peirce und Morris fehlen völlig in diesen Darstellungen, die vor allem auf Saussure und Hjelmslev gründen. Symmetrisch dazu wird in britischen und nordamerikanischen Publikationen die deutsche Semiotik häufig übergangen. 57 Hier wird deutlich, daß es zwar eine international anerkannte Mathematik, Physik oder Informatik gibt, nicht jedoch eine interkulturell gültige Semiotik, Soziologie oder Literaturwissenschaft. Wie in der Literaturwissenschaft kommt es im semiotischen Bereich ebenfalls zu einer Zersplitterung der Erkenntnisinteressen, die darauf zurückzuführen ist, daß es auch die Semiotik (z.B. als Kultursemiotik) mit sozio-kulturellen Problemen zu tun hat. Sie sieht sich immer wieder genötigt, kritisch und wertend Stellung zu beziehen. So versuchte beispielsweise Ende der 60er Jahre Julia Kristeva, eine kritische und reflexive Semiologie als Ideologiewissenschaft gegen die positivistische Neigung der - vor allem nordamerikanischen - Semiotiker zu einem „technischen Diskurs“ 58 auszuspielen. Auch dieser parti pris zeugt von der Tatsache, daß die Kultur als ein Ensemble von Problemen alle ihre Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler herausfordert. Sie können nicht umhin, sich kritisch zu äußern - und zwar in einem Diskurs, der aus einer Kultur hervorgeht und von einer Ideologie angetrieben wird. 56 Vgl. U. Eco, Trattato di semiotica generale, Mailand, Bompiani, 1975, S. 25- 28. 57 Vgl. B. Martin, F. Ringham, Dictionary of Semiotics, London-New York, Cassell, 2000, S. 168: Der Name Bense fehlt hier ebenso wie in: D. Chandler, Semiotics. The Basics, London-New York, Routledge, 2002. 58 J. Kristeva, „Semiologie als Ideologiewissenschaft“, in: P. V. Zima (Hrsg.), Textsemiotik als Ideologiekritik, Frankfurt, Suhrkamp, 1977, S. 65-66. <?page no="61"?> 47 II. Die sprachliche und ideologische Bedingtheit von Theorien: Definition der Theorie als Soziolekt und Diskurs Theorien können im sozial- und kulturwissenschaftlichen Bereich nur sprachliche Formen annehmen, weil es bisher nicht gelungen ist, historische Ereignisse, Handlungsabfolgen in Dramen oder Romanen und soziale Prozesse mit Hilfe von Formeln im naturwissenschaftlichen Sinne adäquat darzustellen. Die Verwendung von Formeln in Textlinguistik und Semiotik mag bisweilen erhellend wirken, zeitigt aber auch Trivialitäten, weil nur der Schein der Wissenschaftlichkeit im Sinne der exakten, instrumentellen Rationalität gewahrt bleibt. Statt einem szientistischen oder technizistischen Ideal der Exaktheit nachzueifern, sollten sich Vertreter der Kultur- und Sozialwissenschaften daher um eine möglichst genaue Beschreibung der sprachlichen Strukturen und Verfahren ihrer Theorien bemühen. Sie nahm sich im geschichtswissenschaftlichen Bereich schon vor längerer Zeit Werner Schiffer vor, als er in Anlehnung an den Philosophen und Kunsthistoriker Arthur C. Danto die narrativen Verfahren von Theorien untersuchte und einleitend feststellte: „Dennoch ist die Forderung, texttheoretische und textanalytische Fragestellungen in einem umfassenden Bereich sozialwissenschaftlicher Reflexion zu lokalisieren, in der gegenwärtigen Diskussion unumstritten.“ 1 Wahrscheinlich sollte man das Wort „unumstritten“ auf dieser Ebene sehr viel sparsamer verwenden. Denn obwohl die Theorie als Erzählung, als semantisch-narrative Struktur, auch von Geschichtswissenschaftlern, vor allem aber von Semiotikern, untersucht worden ist 2 , hat die von Schiffer als unumstrittenes Desiderat vorgebrachte „sozialwissen- 1 W. Schiffer, Theorien der Geschichtsschreibung und ihre erzähltheoretische Relevanz (Danto, Habermas, Baumgartner, Droysen), Stuttgart, Metzler, 1980, S. 3. Vgl. auch: F. Ankersmit, The Reality Effect of the Writing of History, Amsterdam, Noord-Hollandsche, 1989. 2 Es ist deshalb erstaunlich, daß Greimas und Courtés in Sémiotique. Dictionnaire raisonné de la théorie du langage, Paris, Hachette, 1979, S. 494-396 den Theoriebegriff nicht mit Hilfe von Greimas’ Diskursbegriff definieren. Dies geschieht eher in: A. J. Greimas, Sémiotique et sciences sociales, Paris, Seuil, 1976, S. 9-42 sowie in: E. Landowski, La Société réfléchie. Essais de sociosémiotique, Paris, Seuil, 1989, S. 74-109. <?page no="62"?> 48 schaftliche Reflexion“ auf narrativer Ebene kaum stattgefunden. Zu Recht spricht in diesem Zusammenhang Philipp Sarasin noch im Jahre 2003 von den „Abwehrreflexen“ der geschichtswissenschaftlichen „Zunft“ der Diskurstheorie gegenüber. 3 Dies ist der Grund, weshalb im folgenden an semiotische Modelle angeknüpft wird - in der Hoffnung, daß praktizierte Interdisziplinarität der Verblendung entgegenwirkt, die das arbeitsteilige Prinzip in der wissenschaftlichen Welt bisweilen bewirkt. Allerdings ist Theorie auch als sprachliche Struktur nicht konkret zu verstehen, solange sie nicht in ihrem sprachlichen, kulturellen und gesellschaftlichen Umfeld dargestellt wird, wo sie auf religiöse, philosophische und ideologische Sprachen oder Fachsprachen reagiert - ohne daß sich das Aussagesubjekt in allen Fällen seiner Reaktionen und Intentionen bewußt wäre. Schon deshalb erscheint es wichtig, die Rolle der Subjektivität im theoretischen (und ideologischen) Diskurs näher zu bestimmen. 1. Sozio-linguistische Situationen, Soziolekte und Diskurse Wo von „Bedingtheit“ die Rede ist, dort kommt leicht der Verdacht auf, daß der Autor offen oder versteckt einem Determinismus das Wort redet: daß er in diesem Fall Sapirs und Whorfs bekannte These variiert, Sprache bestimme unser Bewußtsein. Die beiden Linguisten berufen sich dabei auf das Unbewußte: „Tatsache ist, daß die ‚wirkliche Welt‘ weitgehend unbewußt auf den sprachlichen Gewohnheiten 3 Ph. Sarasin, Geschichtswissenschaft und Diskursanalyse, Frankfurt, Suhrkamp, 2003, S. 55-56. In einer seiner Thesen hebt Sarasin das wesentliche Moment der geschichtswissenschaftlichen Diskurstheorie hervor: „Die größte Herausforderung der Diskurstheorie an die Geschichtsschreibung besteht nicht darin, die Diskursivität und damit in gewissem Sinne ‚Fiktionalität‘ von vergangenen Wirklichkeiten zu denken, wie das immer wieder als Gefahr an die Wand(tafel) gemalt wird. Spannender und schwieriger ist die Frage, wo sich in all den rekonstruierbaren symbolischen Strukturen, die die soziale Wirklichkeit als wahrnehmbare hervorbringen, die Grenzen dieser Strukturen und damit das Reale zeigt, das sie konstituiert.“ (S. 59-60.) Dies ist auch eine Fragestellung der Dialogischen Theorie und eines der Ziele des theoretischen Dialogs (vgl. Kap. XIII- XIV). <?page no="63"?> 49 der Gruppe errichtet wird.“ 4 Komplementär zu dieser Behauptung verhält sich die auf Lacans Theorie des Unbewußten gegründete These Louis Althussers, die Ideologie sei unbewußt und „rufe die Individuen als Subjekte an“ 5 , d.h. mache sie zu Subjekten. Beide Thesen sind insofern selbstwidersprüchlich, als sie uns vor Augen führen, daß manche Menschen (z.B. die Autoren der beiden Thesen) durchaus in der Lage sind, über ihre Determiniertheit durch Sprache und Ideologie kritisch nachzudenken. Man mag sie als Theoretiker bezeichnen, um sie von den scheinbar spontan Lebenden zu unterscheiden, die sehr wohl in „ihrer“ Kultur, Sprache oder Ideologie aufgehen, so daß ihre Subjektivität als mehrfach überdeterminiert erscheint. Bei näherer Betrachtung wird jedoch deutlich, daß auch Theoretiker wie Sapir und Whorf, Lacan oder Althusser, die unsere sprachliche Überdeterminiertheit zum Gegenstand systematischer Analysen machen, die Selbstreflexion nicht weit genug treiben. Freilich geht es hier nicht darum, den Reflexionsprozeß über unzählige Metaebenen hinweg ins Unendliche zu steigern, sondern darum, die im vorigen Kapitel skizzierte kulturelle Problematik, in der Theorien entstehen und wirken, als sprachliche Problematik zu denken. Die Möglichkeit einer solchen Reflexion läßt den extremen Charakter der Sapir-Whorf-These erkennen und ruft eine relativierende Kritik auf den Plan: „Somit kann die starke Fassung von Whorfs Hypothese, der zufolge Sprache unser Denken bestimmt, nicht mehr ernstgenommen werden; aber eine schwache Variante, die sich auf die Erkenntnis stützt, daß kulturelle Unterschiede in den semantischen Assoziationen scheinbar gemeinsamer Begriffe zutage treten, wird gegenwärtig allgemein akzeptiert.“ 6 Nun ist die Formulierung dieser „schwachen Variante“ hier möglicherweise zu schwach geraten, weil sie nicht der Möglichkeit Rechnung trägt, daß unser Denken global von einer gesellschaftlichen und sprachlichen Situation überdeterminiert wird. 4 E. Sapir, in: B. L. Whorf, „The Relation of Habitual Thought and Behaviour to Language“, in: ders., Language, Thought and Reality, Cambridge (Mass.), The M. I. T. Press, 1956, S. 134. 5 L. Althusser, „Idéologie et appareils idéologiques d’Etat“, in: ders., Positions, Paris, Editions Sociales, 1976, S. 122. 6 C. Kramsch, Language and Culture, Oxford, Univ. Press, 1998, S. 13. <?page no="64"?> 50 Faßt man diese sozio-linguistische Situation - analog zur Kultur - wiederum als Problematik auf, d.h. als eine dynamische, sich ständig wandelnde Konstellation von Problemen, auf die Einzelpersonen und Gruppen sehr unterschiedlich reagieren, so hat man die Möglichkeit, soziokulturelle Verhältnisse als sprachliche zu beschreiben. Dabei geht es nicht um eine Reduktion sozialer Faktoren auf sprachliche, sondern um eine semiotische Darstellung der Kontexte, in denen Theorien als Diskurse entstehen und interagieren. Eine solche Darstellung ist unerläßlich, wenn man Struktur und Funktion theoretischer Diskurse verstehen will. Denn im kultur- und sozialwissenschaftlichen Bereich besteht eines der Grundprobleme dieser Diskurse darin, daß sie immer wieder Symbiosen mit religiösen, literarischen, ideologischen und naturwissenschaftlichen Gruppensprachen eingehen, um die Interessen individueller und kollektiver Subjekte auszudrücken. 7 Diese Gruppensprachen werden hier im Anschluß an Greimas, aber nicht in Übereinstimmung mit ihm 8 , als Soziolekte bezeichnet. Die sozio-linguistische Situation erscheint aus dieser Sicht als eine historisch variable Problematik, in der verwandte, unvereinbare oder verfeindete Soziolekte interagieren und dabei unterschiedlich auf zeitspezifische Probleme reagieren, um sie zu deuten und zu lösen. So betrachtet, ist kein radikaler Unterschied oder gar Gegensatz zwischen kultur- und sozialwissenschaftlichen Theorien einerseits und Ideologien oder literarischen Sprachen andererseits feststellbar. Während Max Weber an der Schwelle zum 20. Jahrhundert auf die Bürokratisierung der Gesellschaft reagiert, indem er (keineswegs wertfrei) versucht, die Rolle des Politikers und der charismatischen 7 Daß es sich hier um materielle oder „sachliche“ Interessen handelt und nicht nur um sprachliche Differenzen, versteht sich von selbst. W. F. Haug konstruiert einen überflüssigen Gegensatz, wenn er zum Entwurf der Dialogischen Theorie anmerkt: „Sind daher wissenschaftliche Schulen wirklich primär ‚Sprachkollektive‘ und nicht Sachkollektive? “ (W. F. Haug, „Möglichkeiten und Grenzen interparadigmatischer Kommunikation“, in: Ethik und Sozialwissenschaften 4, 1999, S. 619-620.) Antwort: Sie sind beides. Da hier jedoch Theorie als Diskurs dargestellt wird, rückt das Sprachkollektiv ins Zentrum der Betrachtung. Die soziosemiotische Konstruktion verflüchtigt soziale, sachliche Interessen nicht, sondern stellt sie als sprachliche Interessen dar. 8 Greimas faßt Soziolekte vorwiegend als Fachsprachen auf, nicht als Ideologien oder Theorien: Vgl. A. J. Greimas, Sémiotique et sciences sociales, op. cit., S. 53-55. <?page no="65"?> 51 Persönlichkeit aufzuwerten 9 , rechtfertigt Talcott Parsons - zumindest tendenziell - den Wertekonsens der nordamerikanischen Gesellschaft 10 , und Alain Touraine antwortet auf die Probleme der postmodernen Problematik 11 , indem er eindeutig den Standpunkt der sozialen Bewegungen einnimmt. Auch im Bereich der Literatur- und Kunstwissenschaft ist diese Art von Engagement zu beobachten: als Symbiose zwischen einer bestimmten Theorie und einer ihr entsprechenden künstlerischen Praxis. Während sich die meisten russischen Formalisten mit der futuristischen Avantgarde solidarisierten, der sie einige ihrer Schlüsselbegriffe verdankten, orientierten sich die tschechischen Strukturalisten am französisch-tschechischen Surrealismus und am Poetismus. 12 Die Ästhetik und Poetik der Tel-Quel-Gruppe um Kristeva und Sollers, der zeitweise auch Barthes und Derrida nahestanden, verdankten wiederum entscheidende Impulse dem Nouveau Roman Robbe-Grillets, Butors und Claude Simons. 13 Sowohl die soziologischen als auch die kunst- und literaturwissenschaftlichen Beispiele lassen erkennen, daß sozio-linguistische Situationen zugleich historische Problematiken sind, die sich dadurch ändern, daß bestimmte Soziolekte, die im Mittelpunkt standen und die Debatten beherrschten, weil sie auf aktuelle Probleme reagierten, allmählich an den Rand der Problematik abgedrängt und durch neue Soziolekte ersetzt werden, die neue Gruppeninteressen artikulieren, welche als Reaktionen auf neue Probleme zu verstehen sind. Diese Probleme werden in den Kultur- und Sozialwissenschaften selten gelöst, sondern zumeist durch andere Probleme abgelöst, die zusammen mit neuen Gruppierungen und Bewegungen ins Zentrum der Problematik drängen. 9 Vgl. M. Weber, „Der Beruf zur Politik“, in: ders., Soziologie, universalgeschichtliche Analysen, Politik, Hrsg. J. Winckelmann, Stuttgart, Kröner, 1973, S. 185. 10 Vgl. A. W. Gouldner, Die westliche Soziologie in der Krise, Bd. I, Reinbek, Rowohlt, 1974, S. 64-65. 11 Vgl. Vf., Theorie des Subjekts. Subjektivität und Identität zwischen Moderne und Postmoderne, Tübingen-Basel, Francke, 2010 (3. Aufl.), Kap. IV, 4: „Alain Touraines Alternative: Subjekt und Bewegung“. 12 Vgl. Vf., Literarische Ästhetik. Methoden und Modelle der Literaturwissenschaft, Tübingen-Basel, Francke, 1995 (2. Aufl. ), Kap. II und V. 13 Vgl. R. Brütting, „Ecriture“ und „texte“. Die französische Literaturtheorie „nach dem Strukturalismus“, Bonn, Bouvier, 1976. <?page no="66"?> 52 So werden etwa im Frankreich der Nachkriegszeit Phänomenologie, Surrealismus, Existentialismus und Marxismus („les trois H“, wie Descombes sagt: Hegel, Husserl, Heidegger) 14 im Übergang von der spätmodernen zur postmodernen Problematik von den Soziolekten des Strukturalismus, der Semiotik, der Psychoanalyse, des Feminismus und der Dekonstruktion (als „Poststrukturalismus“) abgelöst. In den meisten Ländern Europas kristallisieren sich im ausgehenden 20. Jahrhundert „Kultur“ und „Medien“ als zentrale Probleme heraus, an denen sich die Soziolekte der Sozial- und Kulturwissenschaften orientieren, und Begriffe wie „Literatur“, „Kunst“ oder „Ideologie“, werden diesen Problemen untergeordnet. Der Soziolekt als ideologische, wissenschaftliche, literarische, philosophische oder religiöse Gruppensprache ist hier lediglich ein theoretisches Konstrukt, das verschiedene Diskurse (als semantischnarrative Strukturen: vgl. Einleitung und Kap. XII) aufgrund ihrer gemeinsamen lexikalischen, semantischen und syntaktischen Merkmale bündelt. Das heißt, daß ein Soziolekt das lexikalische und semantische Repertoire bildet, dessen sich individuelle und kollektive Subjekte bedienen, um Diskurse hervorzubringen und um sich selbst - bewußt oder unbewußt - in diesen Diskursen zu konstituieren. Der Soziolekt als Repertoire könnte daher auch als die Gesamtheit der wirklichen und potentiellen Diskurse einer gesellschaftlichen Gruppierung definiert werden. Der psychoanalytische, marxistische, dekonstruktivistische oder feministische Soziolekt entscheidet folglich über die semantischen Relevanzkriterien, Klassifikationen (Taxonomien) und Definitionen, die dem sprechenden Subjekt einerseits zur Verfügung stehen, es andererseits zum Subjekt machen. 15 Das Subjekt erzählt mit Hilfe eines Soziolekts oder einer Synthese von Soziolekten die feministische, marxistische, psychoanalytische oder kritisch-rationalistische „Wirklichkeit“, die stets ein Konstrukt im Rahmen eines Soziolekts (einer Synthese von Soziolekten) ist. (In diesem Zusammenhang könnte der Soziolekt mit Jurij Lotman auch als sekundäres modellierendes System - vgl. Kap. XII, 1 - aufgefaßt werden: d.h. als gruppenspezifischer Sprachgebrauch, der anhand des primären Systems der natürlichen 14 Vgl. V. Descombes, Le Même et l’autre. Quarante-cinq ans de philosophie française (1933-1978), Paris, Minuit, 1979, S. 13. 15 Zur Dialektik zwischen dem Subjekt als zugrundeliegender und dem Subjekt als unterworfener Instanz vgl. Vf., Theorie des Subjekts, op. cit., Kap. I. <?page no="67"?> 53 Sprache sekundäre, abgeleitete Bedeutungen hervorbringt, die besondere Interessen artikulieren.) 16 Das ideologische oder theoretische Konstrukt kommt dadurch zustande, daß das Diskurs-Subjekt im Anschluß an bestimmte Relevanzkriterien 17 seines Soziolekts konkrete semantische Unterscheidungen vorfindet oder postuliert und anhand dieser Unterscheidungen soziokulturelle Ereignisse oder Handlungsabläufe erklärend erzählt: weshalb Frauen in wissenschaftlichen Institutionen unterrepräsentiert sind, weshalb die Sowjetunion zerfiel oder wie die soziale Differenzierung autonome, autopoietische Systeme (Luhmann) zeitigt. In allen Fällen reagiert das Subjekt auf konkrete gesellschaftliche und sprachliche Probleme: etwa auf die von Scott Lash explizit und von Jean Baudrillard implizit aufgeworfene Frage, ob nicht ein Entdifferenzierungsprozeß in der Postmoderne eingesetzt hat. 18 Der konkrete existentialistische, feministische oder marxistische Diskurs aktualisiert nicht nur bestimmte Relevanzkriterien und grundsätzliche semantische Unterscheidungen oder Gegensätze als Tiefenstrukturen, sondern auch die ihnen entsprechenden semantischen Ebenen oder Isotopien. Die Isotopie wird von Greimas und Courtés definiert als „regelmäßiges Auftreten auf syntagmatischer Achse von Klassemen, die dem Diskurs als Aussage seine Homogenität garantieren“. 19 Unter Klassem verstehen sie einen Oberbegriff, der eine Wortklasse als semantische Isotopie konstituiert. Als semantische Strukturen gewährleisten also Isotopien durch ihr begriffliches oder metaphorisches Ineinandergreifen die Kohärenz ideologischer, theoretischer oder literarischer Diskurse. Diese Kohärenz kommt jedoch nicht nur auf semantischer, sondern auch auf narrativer Ebene zustande. Denn die narrative Dynamik der Diskurse ist auf der Ebene der Aktanten zu erklären, die auf bestimmten positiv oder negativ konnotierten Isotopien auftreten und wesentlich zur Entwicklung dieser Iso- 16 Vgl. J. Lotman, Die Struktur des künstlerischen Textes, Frankfurt, Suhrkamp, 1973, S. 64. 17 Vgl. L. J. Prieto, Pertinence et pratique. Essai de sémiologie, Paris, Minuit, 1975, Kap. V: „Pertinence et idéologie“ sowie D. Sperber, D. Wilson, Relevance. Communication and Cognition, Oxford, Blackwell (1986), 1993, Kap. III, 1: „Conditions for Relevance“. 18 Vgl. S. Lash, Sociology of Postmodernism, London-New York, Routledge, 1990, S. 252 sowie J. Baudrillard, La Transparence du mal. Essai sur les phénomènes extrêmes, Paris, Galilée, 1990, S. 22-42. 19 A. J. Greimas, J. Courtés, Sémiotique, op. cit., S. 197. <?page no="68"?> 54 topien beitragen. Jürgen Link erklärt: „Die rekurrierenden Aktanten sind meistens identisch mit rekurrierenden Klassemen der zugrundeliegenden Isotopie. In diesen Aktanten tritt die Isotopie also offen an der Oberfläche des Textes in Erscheinung.“ 20 Neben den Aktanten des Aussagevorgangs (énonciation), zu denen vor allem der Sender und der Empfänger gehören, unterscheidet Greimas die folgenden Aktanten der Aussage (énoncé): den Auftraggeber (destinateur), den Gegenauftraggeber (antidestinateur), den Beauftragten (destinataire), den Gegenbeauftragten (antidestinataire), das Subjekt (sujet), das Antisubjekt (antisujet) und das Objekt (objet). Zum Subjekt und zum Antisubjekt gesellen sich symmetrisch Helfer (adjuvants) und Widersacher (opposants). 21 Zum Verhältnis von Auftraggeber und Beauftragtem (dem Subjekt) bemerkt Greimas: „Der Auftraggeber (eine gesellschaftliche Autorität, die dem Helden einen bestimmten Heilsauftrag gibt) stattet den Helden mit der Rolle des Beauftragten aus und stellt dadurch eine kontraktuelle Beziehung her, da ja vorausgesetzt wird, daß die Erfüllung des Vertrags eine Belohnung mit sich bringt (...).“ 22 Dieses Schema, in dem Aktanten des Guten gegen Aktanten des Bösen antreten, ist aus der Märchenliteratur, dem Kriminalroman oder den James-Bond-Romanen zur Genüge bekannt: James Bond z.B. wird als Subjekt von der britischen Regierung, die metonymisch die „freie Welt“ vertritt, beauftragt, einen Agenten zu besiegen, der im Auftrag des „Ostens“ oder der „Achse des Bösen“ im „Westen“ Unheil anrichten soll und auf der Isotopie des „Totalitarismus“ oder eines anderen antidemokratischen Prinzips agiert. Der Objekt-Aktant mag eine Geheimwaffe oder Geheimformel sein. Schon Umberto Eco zeigte sich in seinen Kommentaren zu Flemings James Bond-Romanen irritiert, weil der Bösewicht im Rahmen eines dualistischen Schwarz-Weiß-Schemas mit schlechten Eigenschaften und vor allem mit Schwächen ausgestattet wird, die es dem 20 J. Link, Literaturwissenschaftliche Grundbegriffe. Eine programmierte Einführung auf strukturalistischer Basis, München, Fink, 1979 (2. Aufl.), S. 76. 21 Vgl. A. J. Greimas, „Les actants, les acteurs et les figures“, in: ders., Du Sens II, Paris, Seuil, 1983, S. 49-66 sowie J. Courtés, Introduction à la sémiotique narrative et discursive, Paris, Hachette, 1976, Kap. II: „Composante syntaxique“. 22 A. J. Greimas, Du Sens, Paris, Seuil, 1970, S. 234. <?page no="69"?> 55 mit allen erforderlichen Stärken gesegneten Bond gestatten, den „freien Westen“ erfolgreich zu verteidigen. 23 Greimas nennt diese Schwächen und Stärken Modalitäten und unterscheidet u.a. virtualisierende („müssen“, „wollen“), aktualisierende („können“, „wissen“) und realisierende („tun“, „sein“) Modalitäten. 24 Der Sinn dieser Terminologie liegt auf der Hand: Um - im Märchen, im Roman, in Ideologie und Politik - etwas zu erreichen, muß ich etwas wollen, können und tun. Dies ist der Grund, weshalb es in den - zumeist dualistisch strukturierten - politischen Auseinandersetzungen so oft um Kompetenz geht: Man reklamiert alle positiven Modalitäten für sich und versucht, dem Gegner Inkompetenz, Willensschwäche, Untätigkeit nachzuweisen. Der Diskurs, der stets aus einem oder mehreren Soziolekten hervorgeht, erscheint hier also als eine semantisch-narrative Struktur mit Aktantenmodell und einer diesem Modell entsprechenden Modalitätenverteilung. 25 Man wird nun einwenden, daß ein solches Schema zwar auf Märchen, Romane oder politische Reden anwendbar sein mag, nicht aber auf wissenschaftliche Diskurse, die doch - hoffentlich - keine Helden, Widersacher, mythische Auftraggeber oder gar Schurken kennen. Schließlich sollten philosophische und wissenschaftliche Theorien wertfrei oder gar objektiv sein. Eine Lösung dieses Problems ist wohl nur empirisch, d.h. durch Textanalysen, wie sie ansatzweise im folgenden Abschnitt durchgeführt werden, herbeizuführen. 23 Vgl. U. Eco, „Erzählstrukturen bei Ian Fleming“, in: P. V. Zima (Hrsg.), Textsemiotik als Ideologiekritik, Frankfurt, Suhrkamp, 1977, S. 252-263. 24 Vgl. A. J. Greimas, „Pour une théorie des modalités“, in: ders., Du Sens II, op. cit., S. 81. 25 Daß sich diese Definition des Diskursbegriffs auf die Strukturale Semiotik stützt und nichts mit Habermas’ „Diskurs“ als Gespräch zu tun hat, dürfte klar sein. Um so erstaunlicher ist es, daß Dietrich Hoffmann in seinem Kommentar zur Dialogischen Theorie, der sich vorwiegend an Habermas orientiert, einwendet, man könne „den eindeutig besetzten Diskursbegriff [nicht] einfach okkupieren.“ (D. Hoffmann, „Dialogische Theorie - eine Methode zur Überwindung der Widersprüchlichkeit innerhalb von Wissenschaft? “, in: Ethik und Sozialwissenschaften 4, 1999, S. 622.) Ein solcher Einwand zeugt von einem drastisch eingeschränkten kulturellen und sprachlichen Horizont, der den Diskursbegriffen von Benveniste, Genette, Greimas, Halliday und Stubbs überhaupt nicht Rechnung trägt. Er veranschaulicht jedoch die kulturelle Bedingtheit des theoretischen Denkens und die Notwendigkeit eines dialogischen Ansatzes. <?page no="70"?> 56 2. Ideologie und Theorie: Der Diskurs der Theorie Keine humanwissenschaftliche Theorie ohne ideologisches Engagement: für die proletarische Revolution, die Gleichberechtigung der Frau, die Umwelt oder die liberale Gesellschaftsordnung. Dazu bemerkt Norbert Elias: „Das Problem, vor dem Menschenwissenschaftler stehen, läßt sich also nicht einfach dadurch lösen, daß sie ihre Funktion als Gruppenmitglieder zugunsten ihrer Forscherfunktion aufgeben. Sie können nicht aufhören, an den sozialen und politischen Angelegenheiten ihrer Gruppen und ihrer Zeit teilzunehmen, können nicht vermeiden, von ihnen betroffen zu werden. Ihre eigene Teilnahme, ihr Engagement ist überdies eine der Voraussetzungen für ihr Verständnis der Probleme, die sie als Wissenschaftler zu lösen haben.“ 26 Versucht man nun, diese Gedanken in die hier verwendete Sprache der Soziosemiotik oder Textsoziologie zu übertragen, so ergibt sich folgendes Bild: Alle theoretischen Soziolekte und ihre Diskurse sind ideologisch in dem Sinne, daß sie Gruppeninteressen artikulieren, die im Diskurs auf bestimmte Probleme der sozio-linguistischen Problematik reagieren. Sie reagieren auf diese Probleme, indem sie bestimmte Relevanzkriterien festlegen, die den diskursiven Tiefenstrukturen, Isotopien und Aktantenmodellen zugrunde liegen. Wie dies in der Praxis aussieht, mögen die folgenden Modellanalysen ansatzweise veranschaulichen. Das von Karl Marx und Friedrich Engels verfaßte Manifest der kommunistischen Partei (1848) durchzieht (als Tiefenstruktur) ein fundamentaler Gegensatz: der zwischen Kapital und Lohnarbeit, dem ein Gegensatz zwischen semantischen Isotopien entspricht, auf dem das Aktantenmodell gründet. Während der Subjekt-Aktant Proletariat auf den Isotopien Lohnarbeit und Revolution (zugleich Auftraggeber als „Geschichte“) agiert, bewegt sich das Antisubjekt Bourgeoisie auf der Isotopie des Kapitals (zugleich Gegenauftraggeber als „Reaktion“ oder „Anti-Geschichte“). In diesem Modell fällt den Kommunisten die Funktion des echten Helfers zu, der - im Gegensatz zu anderen Oppositionsparteien - stets „das Interesse der Gesamtbewegung“ 27 vertritt. 26 N. Elias, Engagement und Distanzierung. Arbeiten zur Wissenssoziologie, Bd. I, Frankfurt, Suhrkamp, 1983, S. 30. 27 K. Marx, Die Frühschriften. Von 1837 bis zum Manifest der kommunistischen Partei 1848, Hrsg. S. Landshut, Stuttgart, Kröner, 1971, S. 539. <?page no="71"?> 57 Das Objekt ist die „klassenlose Gesellschaft“ als neue Welt. Von den Proletariern heißt es am Ende: „Sie haben eine Welt zu gewinnen.“ 28 Wesentlich und im sozialwissenschaftlichen Kontext zu wenig beachtet ist hier die Tatsache, daß die Autoren die geschichtliche Entwicklung mit Hilfe von kollektiven Aktanten erzählen. Dem Untertitel „Bourgeois und Proletarier“ folgt unmittelbar der bekannte Satz: „Die Geschichte aller bisherigen Gesellschaft ist die Geschichte von Klassenkämpfen.“ 29 Ein Exkurs zu Georg Lukács’ Geschichte und Klassenbewußtsein (1923) zeigt, wie der Soziolekt der Marxisten durch einen neomarxistischen Diskurs im Bereich der Modalitäten weiterentwickelt wird. Bekanntlich versucht Lukács nachzuweisen, daß das Proletariat dem Bürgertum kognitiv überlegen ist, weil es auf dem Standpunkt der Totalität steht: „D.h. es ist gerade so wenig ein Zufall wie ein rein theoretisch-wissenschaftliches Problem, daß das Bürgertum theoretisch in der Unmittelbarkeit stecken bleibt, während das Proletariat darüber hinausgeht.“ 30 Nicht der hegelianische Hintergrund soll hier wichtig sein 31 , sondern die Tatsache, daß Lukács noch stärker als Marx dem Proletariat bestimmte positive Modalitäten (des Wissens, Könnens) zuspricht und dem Bürgertum als Antisubjekt abspricht. Somit unterscheidet sich sein Diskurs auf struktureller Ebene nicht wesentlich von ideologischen Diskursen der Politiker oder eines Ian Fleming, der seinen Helden mit nahezu magischen Modalitäten ausstattet. Der marxistische Intellektuelle der 20er Jahre glaubt so stark an das Proletariat, daß ihn - wie Lukács später selbst eingesteht 32 - sein ideologisches Engagement blendet. Nun könnte jemand einwenden, wir hätten ja die marxistische Mythomanie längst hinter uns gelassen und sollten uns heute an Max Webers wertungsfreier Soziologie oder an Luhmanns Systemtheorie orientieren. Bei näherem Hinsehen wird deutlich, daß diese Theorien 28 Ibid., S. 560. 29 Ibid., S. 525. 30 G. Lukács, Geschichte und Klassenbewußtsein, Darmstadt-Neuwied, Luchterhand (1968), 1975, S. 288. 31 Zum Hegelianismus von G. Lukács vgl. Vf., „Dialektik zwischen Totalität und Fragment“, in: H.-J. Schmitt (Hrsg.), Der Streit mit Georg Lukács, Frankfurt, Suhrkamp, 1978, S. 14-142. 32 Vgl. G. Lukács’ „Vorwort“ zu Geschichte und Klassenbewußtsein aus dem Jahre 1967, in: op. cit., S. 24-25. <?page no="72"?> 58 nicht weniger ideologisch, nicht weniger engagiert sind als die marxistischen. Aus ideologischen Gründen sind sie nicht im selben Maße konsensfähig wie naturwissenschaftliche Theorien. Der „strong consensus“ 33 , von dem George Couvalis im Hinblick auf die Naturwissenschaften spricht, will sich in den Kultur- und Sozialwissenschaften nicht einstellen, weil deren Semantik ideologische Interessen artikuliert. So stößt man beispielsweise in Webers Wirtschaft und Gesellschaft (1921) auf den folgenden Satz, der das charismatische Prinzip zum Gegenstand hat: „Es ist in diesem rein empirischen und wertfreien Sinn allerdings die spezifisch ‚schöpferische‘, revolutionäre Macht der Geschichte.“ 34 „Charisma“ ist in Webers Diskurs, dem eine aus der Krise des Liberalismus hervorgehende national-liberale und individualistische Ideologie zugrunde liegt 35 , eine individuelle Eigenschaft: „Charisma soll eine als außeralltäglich (...) geltende Qualität einer Persönlichkeit heißen (...).“ 36 Da man Webers verstehende Soziologie immer wieder als Antwort auf den Marxismus in der sprachlichen Problematik der Jahrhundertwende aufgefaßt hat, drängt sich ein Vergleich mit Marx’ und Engels’ Aktantenmodell geradezu auf. Dabei wird deutlich, daß Webers Erzählung nicht nur ein anderer semantischer Gegensatz, nämlich der zwischen den Isotopien „Bürokratie“ und „Charisma“, zugrunde liegt, sondern auch ein anderes Aktantenmodell, das den kollektiven Aktanten „Proletariat“ als revolutionäre Kraft - möglicherweise im Anschluß an Nietzsche, wie Mommsen meint 37 - durch den individuellen Aktanten „charismatische Persönlichkeit“ ersetzt. Eine solche Substitution kann weder als neutral noch als wertfrei im Sinne von Weber bezeichnet werden. (Was Wertfreiheit in diesem Kontext noch bedeuten kann, wird im übernächsten Kapitel erörtert.) 33 G. Couvalis, The Philosophy of Science. Science and Objectivity, London, Sage (1997), 1999, S. 150. 34 M. Weber, Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriß der verstehenden Soziologie, Tübingen, Mohr (5. Aufl.), 1976, Bd. II, S. 658. 35 Vgl. R. Bendix, Max Weber. An Intellectual Portrait, London, Methuen (1959), 1962, S. 6-7. 36 M. Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, op. cit., Bd. I, S. 140. 37 W. J. Mommsen, in: „Max Weber und die Welt von heute. Eine Diskussion mit Wilhelm Hennis, Wolfgang J. Mommsen und Pietro Rossi“, in: Ch. Gneuss, J. Kocka (Hrsg.), Max Weber. Ein Symposion, München, DTV, 1988, S. 204-205. <?page no="73"?> 59 Auch in Luhmanns Systemtheorie sind wertende semantische Unterscheidungen und die ihnen entsprechenden Aktantenmodelle ausschlaggebend. Auch hier reagiert das Diskurssubjekt sprachlich auf bestimmte Probleme - und nicht auf andere. Schon durch diese Selektion als Relevanzbestimmung ergreift es Partei. Luhmanns fundamentaler Unterscheidung von System und Umwelt entspricht ein Aktantemodell, daß sowohl kollektive als auch individuelle Aktanten (im Sinne von Marx’ Klasse oder Webers charismatischer Persönlichkeit) eliminiert. Konsequent tilgt es auch (im Gegensatz zu Weber) die Nation als nationale Gesellschaft und als kollektiven Aktanten, weil „Namen wie Italien oder Spanien in einer Theorie schon aus methodologischen Gründen nicht verwendet werden sollten“. Luhmann fügt hinzu: „Parsons hat sehr überlegt die Formulierung The System of Modern Societies als Buchtitel gewählt.“ 38 Wie schon Parsons, der von „der“ Gesellschaft sprach und die nordamerikanische meinte, neigt Luhmann dazu, sich über alle Besonderheiten hinwegzusetzen und die individuellen oder kollektiven Aktanten anderer Theorien durch den mythischen Aktanten „System“ zu ersetzen 39 , etwa wenn er schreibt: „Wenn ein beteiligtes System eine Situation als doppelkontingent erfährt, hat das Auswirkungen auf sein Verhalten.“ 40 Aber gibt es überhaupt Systeme, die etwas erfahren, sich zu etwas verhalten? Ist Gesellschaft nicht eher als ein Ensemble von „Feldern“ im Sinne von Bourdieu zu konzipieren, als eine Einheit, die von Land zu Land und von Kultur zu Kultur besonderen politischen, juristischen und sprachlichen Gesetzmäßigkeiten gehorcht? Offensichtlich glaubt Luhmann, der den Kulturbegriff relativiert, an das System, das er im Rahmen einer konservativen Konsensideologie zu erhalten sucht 41 , so wie Marx an die Klasse und Weber (wenn auch wertfrei) an das Charisma glaubten. So sind auch seine Problemlösungsvorschläge zu verstehen, die in einem Plädoyer für stärkere Irritabilität der Systeme gipfeln: 38 N. Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft, Bd. I, Frankfurt, Suhrkamp, 1997, S. 158. (Eine vergleichende Sozialwissenschaft wird dadurch unmöglich.) 39 Zur Funktion mythischer Aktanten in Luhmanns Diskurs vgl. Vf., Theorie des Subjekts, op. cit., Kap. IV, 3: „Die Liquidierung des Subjekts durch seine Allgegenwart“. 40 N. Luhmann, Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie, Frankfurt, Suhrkamp (1984), 1987, S. 169. 41 Vgl. ibid., S. 314, wo das „Ausloten von Konsensfähigkeit“ als zentrales Prinzip erscheint. <?page no="74"?> 60 „Die Irritabilität der Systeme muß verstärkt werden, was nur im Kontext ihres selbstreferentiell geschlossenen Operierens geschehen kann. Genau darauf zielt aber die Systemtheorie (...).“ 42 In diesem Vorschlag klingt nicht nur das ideologische Engagement für Systemerhaltung durch Systemoptimierung an, sondern auch die Ablehnung der Klassenkampfsowie der Bürokratie-Charisma-Modelle. Insgesamt wird hier deutlich, (a) daß ideologisches Engagement einen jeden theoretischen Diskurs antreibt und (b) daß es sich in den semantisch-narrativen Strukturen der Diskurse niederschlägt. Aus Luhmanns semantischer Unterscheidung von System und Umwelt geht ein ganz anderer Diskurs hervor als aus Habermas’ Gegensatz System/ Lebenswelt. In diesem Fall nimmt das an sich vieldeutige Wort „System“ ideologisch unvereinbare Bedeutungen an. Im Anschluß an die hier durchgeführten Kurzanalysen kann nun „Ideologie“ im allgemeinen Sinn als ein interessengeleiteter Diskurs definiert werden, der stets aus einem oder mehreren Soziolekten hervorgeht und dessen Aussagesubjekt sich dadurch konstituiert, daß es, ausgehend von bestimmten Relevanzkriterien, Klassifikationen und Isotopien, die Wirklichkeit oder einen Teil der Wirklichkeit im Rahmen eines Aktantenmodells erzählt. Diese Definition ist nicht nur auf politische, religiöse oder moralische Ideologien anwendbar, sondern auch auf alle kultur- und sozialwissenschaftlichen Theorien, die, wie sich gezeigt hat, ohne ein ideologisches Engagement nicht auskommen. Karl Mannheim würde in diesem Fall von einer „totalen Ideologie“ 43 sprechen, weil sich - semiotisch ausgedrückt - kollektive Interessen in den lexikalischen und semantischen Einheiten sowie in den Aktantenmodellen und narrativen Abläufen der Diskurse niederschlagen. Diese terminologische Situation ist insofern unbefriedigend, als wir wissen, daß sich die Diskurse von Marx, Weber und Luhmann doch erheblich von politischen Reden und propagandistischer Rhetorik unterscheiden. Sie tun es z.T. ganz bewußt. Dazu bemerkt Luhmann: „Heute sollte man eher erschrecken, wenn man im Wahlkampfstab einer politischen Partei die Äußerung hört: ‚Die Leute wollen doch nur wissen, wer die Guten und wer die Bösen sind, und das sa- 42 N. Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft, Bd. I, op. cit., S. 185. 43 Vgl. K. Mannheim, Ideologie und Utopie, Frankfurt, Schulte-Bulmke, 1978, S. 55. <?page no="75"?> 61 gen wir ihnen‘.“ 44 Offensichtlich lebt die Ideologie im negativen Sinne von einem Dualismus oder Manichäismus, der in dieser Form von jeder Theorie zumindest tendenziell abgelehnt wird. Im Anschluß an diese Überlegungen könnte „Ideologie“ nun negativ oder kritisch definiert werden: als ein Diskurs, dessen Aussagesubjekt Ambivalenzen im Rahmen von dualistischen Aktantemodellen tilgt, sich unreflektiert mit der Wirklichkeit identifiziert und dadurch einen Monolog hervorbringt, der ein dialogisches Verhältnis zu andersartigen Diskursen unmöglich macht. 45 Ideologie in diesem Sinne ist sowohl Rechtfertigungsdenken als auch Herrschaftsinstrument und „falsches Bewußtsein“. 46 Als Struktur ist sie nicht mit einem „richtigen“ oder „falschen“ Standpunkt identisch, sondern kann - wie der autoritäre Charakter - viele verschiedene, auch unvereinbare Standpunkte artikulieren. Obwohl man Luhmann, Weber und Marx weder mangelnde Reflexion noch fehlenden Sinn für Ambivalenzen vorwerfen kann, ist diese kritisch-negative Definition von „Ideologie“ (die die Definition der Ideologie im allgemeinen Sinne ergänzt) auch auf ihre Diskurse teilweise anwendbar. Sie kann auf die meisten kultur- und sozialwissenschaftlichen Theorien angewendet werden, weil die Aussagesubjekte theoretischer Diskurse dazu neigen, sich monologisch mit der Wirklichkeit zu identifizieren und zu vergessen oder zu verschweigen, daß sie von kontingenten und partikularen Standpunkten ausgehen und folglich nur kontingente Konstruktionen der Wirklichkeit hervorbringen können. So bemerkt beispielsweise Siegfried J. Schmidt zu seiner Empirischen Literaturwissenschaft, sie habe „sich als Alternative zu [allen] 44 N. Luhmann, Soziale Systeme, op. cit., S. 325. 45 Vgl. Vf., Ideologie und Theorie. Eine Diskurskritik, Tübingen, Francke, 1989, S. 55-56. 46 Daher zielt W. F. Haugs Kritik der hier vorgeschlagenen Doppeldefinition von „Ideologie“ ins Leere: „Dem entgeht, würde Adorno einwenden, die ‚Einsicht in Ideologie als gesellschaftlich falsches Bewußtsein‘ (...), zu dem er den Wertediskurs rechnet.“ (W. F. Haug, „Möglichkeiten und Grenzen der interparadigmatischen Kommunikation“, op. cit., S. 619.) Der Kritischen Theorie Adornos fehlt aber gerade die Reflexion ihres eigenen (durchaus partikularen) Wertsystems, das auf individuelle und künstlerische Autonomie, auf Kritik, Utopie und Emanzipation ausgerichtet ist. Dies ist einer der Gründe, weshalb sein Diskurs monologische und apodiktische Momente aufweist - und weshalb die Kritische Theorie hier dialogisch umgestaltet wird. <?page no="76"?> 62 anderen Varianten von Literaturwissenschaft verstanden“. 47 Monologisch-ideologische Entwürfe dieser Art gibt es seit Plato und Hegel in großer Zahl, und man geht nicht fehl mit der Behauptung, daß sie in den Kultur- und Sozialwissenschaften eher die Regel als die Ausnahme sind. Luhmann erhebt ähnliche Monopolansprüche: „Eine weitere Möglichkeit, der faulste aller Kompromisse, ist: sich auf ‚Pluralismus‘ zu einigen.“ 48 Anscheinend soll seine Systemtheorie als die einzig wissenschaftliche Gesellschaftstheorie institutionalisiert werden. Eine solche Strategie ist noch am ehesten im Rahmen von Bourdieus Theorie des wissenschaftlichen Feldes zu erklären 49 - und schon dieser eine Erklärungsversuch auf der Metaebene macht jeden Monopolanspruch zunichte. Es ist daher an der Zeit, den kritisch-theoretischen Diskurs im Gegensatz zum ideologischen Monolog zu definieren: Die Theorie ist ein von ideologischen Interessen geleiteter Diskurs, dessen Aussagesubjekt über seine Relevanzkriterien, seine semantisch-narrativen Verfahren und seine Aktantenmodelle im sozio-linguistischen Kontext nachdenkt und sie als partikulare Konstruktionen einer ambivalenten, vieldeutigen Wirklichkeit auffaßt, deren Erkenntnis den Dialog mit anderen Theorien voraussetzt. Entscheidend ist hier die selbstkritische Stellung des Aussagesubjekts (des „Erzählers“), die bei Popper, Stegmüller und Luhmann nicht erörtert wird, sowie die offene Struktur des Diskurses. Die Theorie erscheint somit als ein paradoxes Unterfangen, dessen Subjekt unablässig versucht, die eigene Ideologie (im allgemeinen Sinne) zu reflektieren und zu relativieren, ohne sie aufzugeben. Denn ein Verzicht auf das ideologische Engagement würde die Theorie dem Relativismus und der Indifferenz als Austauschbarkeit aller Wertsetzungen überantworten. 50 Eine der Schwächen der bisherigen Kri- 47 S. J. Schmidt, „Allgemeine Literaturwissenschaft - ein Entwurf und die Folgen“, in: C. Zelle (Hrsg.), Allgemeine Literaturwissenschaft. Konturen und Profile im Pluralismus, Opladen-Wiesbaden, Westdeutscher Verlag, 1999, S. 106. 48 N. Luhmann, Beobachtungen der Moderne, Opladen, Westdeutscher Verlag, 1992, S. 61. 49 Vgl. P. Bourdieu, Science de la science et réflexivité, Paris, Raisons d’agir, 2001, S. 185. 50 Zur Wechselbeziehung von Ideologie und Indifferenz vgl. Vf., Moderne/ Postmoderne. Gesellschaft, Philosophie, Literatur, Tübingen-Basel, Francke, 2016 (4. Aufl.), Kap. VI, 1 sowie das letzte Kapitel in diesem Buch. <?page no="77"?> 63 tischen Theorie besteht darin, daß sie Ideologie nur als falsches Bewußtsein kennt und ihre produktiven, kreativen Momente übergeht. So ist es wohl zu erklären, daß Adorno und Horkheimer ihr eigenes ideologisches Engagement nicht als solches reflektieren. Hier wird auch deutlich, weshalb sich manche Theoretiker in den Monolog zurückziehen: Sie versuchen, ihre (im allgemeinen Sinne) ideologische Partikularität durch einen (im kritischen Sinne) ideologischen Anspruch auf Allgemeingültigkeit zu kaschieren. Dadurch identifizieren sie die Wahrheit mit einem bestimmten Standpunkt und dessen Relevanzkriterien. Daß sich ihre Kontrahenten weigern, diesen Standpunkt einzunehmen, liegt auf der Hand. Es käme darauf an, dem „Standpunktdenken“, das vergeblich nach dem richtigen (proletarischen, konservativen, liberalen) Standort fragt, abzusagen, und Rationalität in der Struktur der Theorie anzusiedeln: im Verhältnis des Aussagesubjekts zu seinen semantischen und narrativen Verfahren. An dieser Stelle bietet sich komplementär zur strukturellen eine funktionale Unterscheidung von ideologischen und theoretischen Diskursen im Hinblick auf den Subjektbegriff an: Während die Ideologie Gruppen und Individuen zu handlungsfähigen Subjekten macht, indem sie ihnen zeigt, wo „Recht“ und „Unrecht“, „Gut“ und „Böse“ sind, läßt die von der Ambivalenz strukturierte Theorie die Einheit der Gegensätze ohne Synthese erkennen. Dadurch lädt sie zu Reflexion und Dialog ein. Sie ist selbstironisch im Sinne von Musil, „humoristisch“ im Sinne von Pirandello und Unamuno: „Denn die Reflexion, eine Frucht bitterer Erfahrung, gab dem Autor das Gefühl der Gegensätzlichkeit ein (il sentimento del contrario), das ihn sein Unrecht erkennen läßt (...).“ 51 Das bedeutet: Im theoretischen Diskurs kommt es primär darauf an, das eigene Unrecht, die eigenen blinden Flecken zu erkennen und dialogisch zu beseitigen. Daß dieses Streben nach Erkenntnis mit dem Wunsch nach Handlungsfähigkeit, ja mit dem Einheitsstreben des Subjekts kollidieren kann, liegt auf der Hand. Deshalb ist kritisch-theoretische Reflexion in der Politik nicht gefragt: Denn dort herrscht (verständlicherweise) der ideologische Wunsch nach Handlungsfähigkeit, welche die Subjekte 51 L. Pirandello, „L’umorismo“, in: ders., Saggi, poesie, scritti, varii, Mailand, Mondadori, 1977 (4. Aufl.), S. 103. Vgl. auch Vf., „Konstruktion und Dekonstruktion des Subjekts: Unamunos Niebla und Pirandellos Uno, nessuno e centomila“, in: Vf., Das literarische Subjekt. Zwischen Spätmoderne und Postmoderne, Tübingen, Francke, 2001, S. 164-169. <?page no="78"?> 64 blenden und im Sinne der Althusserianer dem dualistischen Schema unterwerfen kann. 52 So ist es zu erklären, daß im Jahre 1968 die Kritische Theorie von den Revoltierenden gründlich mißverstanden (ideologisiert) wurde und daß die marxistische Forderung nach einer Einheit von Theorie und Praxis der marxistischen Kritik die Spitze abbrach, indem sie durch den Ruf nach „Einheit“ den Parteimonolog legitimierte. Es kommt darauf an zu erkennen, daß dieser Monolog jeder kultur- und sozialwissenschaftlichen Theorie als Tendenz innewohnt, weil die Theorie als paradoxe Struktur ohne ideologisches Engagement nicht auskommt. 53 Die hier entworfene Theorie der Theorie, die im Dritten Teil als Dialogische Theorie weiterentwickelt wird, erhebt nicht den monologischen Anspruch, eine Alternative zu allen anderen Theorie- Auffassungen zu sein, sondern stellt sich selbst als Vermittlerin auf Metaebene und als nur mögliches Konstrukt dar, dessen Offenheit und Kontingenz zum Dialog in einer fragmentierten, pluralisierten Gesellschaft einlädt. Es ist nicht sehr ergiebig, in einer solchen Gesellschaft zum tausendsten Mal die endgültige Wahrheit zu verkünden, die dann abermals in einem der unzähligen hermetischen Soziolekte erstarrt. Es erscheint sinnvoller, ein Denken zu entwickeln, das in der Lage ist, zwischen diesen Soziolekten und den gesellschaftlichen Gruppen zu vermitteln, um wenigstens ansatzweise für Verallgemeinerungsfähigkeit zu sorgen. Im Dritten Teil wird sich zeigen, daß dieses Denken keineswegs praxisfern oder gar praxisfeindlich ist. 52 Vgl. Vf., Ideologie und Theorie, op. cit., Kap. X: „Ambivalenz und Dialektik“. 53 Leider versuchen Marxisten noch immer, den die Erkenntnis lähmenden dualistischen Monolog gegen die Kritische Theorie zu verteidigen: Vgl. I. Mészáros, The Power of Ideology, London-New York, Harvester-Wheatsheaf, 1989, S. 107. Mészáros hat nicht ganz unrecht, wenn er von „the positive power of ideology“ spricht „that could only arise out of the materially felt emancipatory need of the oppressed people.“ Aber diese positive Macht der Ideologie (als „Ideologie im allgemeinen Sinne“ s.o.), die die Menschen zeitweise zu handlungsfähigen Subjekten macht, blendet sie auch und unterwirft sie der Partei oder der bürokratischen Gewerkschaft. Der Marxist übersieht Pirandellos spätmodernes Paradoxon. <?page no="79"?> 65 3. Subjektivität und Reflexion Reflexion ist ein alter philosophischer, hermeneutischer Begriff, der von Althusser und seinen Schülern bagatellisiert wurde, weil sie fest von der ideologisch-diskursiven Überdeterminiertheit aller Subjekte überzeugt waren. Für sie war Subjektivität Überdeterminiert-Sein, Unterworfen-Sein und das Subjekt ein sub-iectum. 54 Glücklicherweise ist die Lage nicht so eindimensional, wie sie von diesen Spinozisten 55 und Lacan-Schülern dargestellt wird, und Rüdiger Bubner faßt das Programm einer kritischen Subjekttheorie knapp und klar zusammen, wenn er bemerkt: „Reflexion vermag jedem Schicksal die Spitze zu nehmen.“ 56 Man könnte hinzufügen: auch dann, wenn das Schicksal „Ideologie“, „Sprache“ oder „Unbewußtes“ heißt. Leider war bisher nicht ganz klar, was nun eigentlich reflektiert wird und von wem. Deshalb sollen hier zum Abschluß die drei Ebenen genannt werden, auf die sich die Reflexion des theoretischen Subjekts bezieht: die Ebene des Diskurses, des Soziolekts und der soziolinguistischen Situation als Problematik. Der „Diskurs als Ort der Konstruktion seines Subjekts und einzige Quelle unseres Wissens über dieses“ 57 wird dann zum Gegenstand der Reflexion, wenn das theoretische Subjekt beginnt, sich über seine lexikalische, semantische und syntaktisch-narrative Tätigkeit Rechenschaft abzulegen. Auf dieser Ebene kann es u.a. feststellen, daß sei ne Relevanzkriterien und semantischen Unterscheidungen (etwa System/ Umwelt, Systeme/ Lebenswelt oder Bewegung/ Staatsapparat) ganz andere narrative Perspektiven eröffnen als die Relevanzen und Unterscheidungen anderer Diskurse. Die Aktantenmodelle, die aus einer bestimmten Semantik hervorgehen, sind nicht ohne weiteres mit den Aktantenmodellen anderer Diskurssemantiken vergleichbar, und das theoretische Subjekt tut gut 54 Vgl. M. Pêcheux, Les Vérités de La Palice, Paris, Maspero, 1975, S. 146-147. 55 Vgl. P. Macherey, Hegel ou Spinoza, Paris, Maspero, 1979, S. 257-258, wo Spinozas Philosophie als subjektloses Denken dargestellt wird. 56 R. Bubner, „Wie wichtig ist Subjektivität? Über einige Selbstverständlichkeiten und mögliche Mißverständnisse der Gegenwart“, in: W. Hogrebe (Hrsg.), Subjektivität, München, Fink, 1998, S. 246. 57 A. J. Greimas, „Der wissenschaftliche Diskurs in den Sozialwissenschaften“, in: P. V. Zima (Hrsg.), Textsemiotik als Ideologiekritik, op. cit., S. 80. - <?page no="80"?> 66 daran, im Dialog mit anderen Theorien das eigene Aktantenmodell zu reflektieren. Dazu kam es in den bekannten Debatten der Vergangenheit, etwa im „Positivismusstreit“, nur selten oder gar nicht, und so geschah es, daß eine wichtige Verwandtschaft zwischen der Kritischen Theorie und dem Kritischen Rationalismus übersehen wurde: die Abkehr von den kollektiven Aktanten der Marxisten, die in beiden Soziolekten tendenziell vom kritisch reflektierenden Einzelnen abgelöst wurden, der freilich in der Kritischen Theorie nicht von der Verwirklichung des menschlichen Gesamtsubjekts zu trennen ist. Während dieser Kontroverse wäre es wichtig gewesen, die Anordnung des eigenen Diskurses als Essay (Horkheimer, Adorno), „in Modellen Denken“ (Adorno) oder „Parataxis“ (Adorno) im Hinblick auf einen Soziolekt zu verstehen, der nach dem Zweiten Weltkrieg in zunehmendem Maße die Autonomie des individuellen Subjekts und verwandte Wertsetzungen betonte. Zumindest in dieser Hinsicht war er mit dem kritischen Individualismus Poppers und Alberts vergleichbar. Dieser Gedanke wird im elften Kapitel (XI, 2), wo es um den Diskurs der Kritischen Theorie geht, wieder aufgegriffen. Das Nachdenken über das eigene Aktantenmodell und die diskursive Anordnung ist unvollständig, solange es nicht die theoretischen Modalitäten mitreflektiert: Was bedeuten in meiner Theorie „wollen“, „müssen“, „können“ und „wissen“? Will das Theoriesubjekt gesellschaftskritisch sein? Muß sich Theorie selbst zum Gegenstand werden? Müssen ihre Aussagen verifizierbar, falsifizierbar oder quantifizierbar sein? Muß Theorie Voraussagen oder Prognosen machen können? Ist „Zukunft“ ihr Objekt-Aktant - und in welchem Sinne? Was muß Theorie wissen, erkennen: ihre kulturelle, sprachliche, ideologische Bedingtheit - oder ihre Übertragbarkeit in eine Formelsprache? Es leuchtet ein, daß viele dieser Modalitäten unvereinbar sind, daß sie nicht alle auf einen Nenner gebracht werden können. Es ist aber wichtig, sich über die Modalitäten des eigenen theoretischen Diskurses im klaren zu sein (und über die der anderen Diskurse), bevor man die andere, die „fremde“ Theorie kritisiert oder gar „endgültig widerlegt“ - und kurz darauf erstaunt feststellt, daß sie problemlos weiterlebt, weil die Kritik ihre Absichten oder Modalitäten verfehlt hat. Die kritische Selbstreflexion sollte jedoch über den eigenen Diskurs und Soziolekt hinausgehen und - zumindest tendenziell - die gesamte sozio-linguistische Problematik in interkultureller Perspektive anvisieren. Macht man sich diese Perspektive zu eigen, so erkennt <?page no="81"?> 67 man alsbald, daß z.B. manche Aussagen über die Institutionalisierung von Theorien zu kurz greifen, weil sie unreflektiert sind. So heißt es etwa im Wörterbuch der Soziologie (5. Aufl.): „In den Sozialwissenschaften hat sich weitgehend der maßgeblich vom (...) Kritischen Rationalismus mitgeprägte empir[isch]-nomologische T[heorie]begriff durchgesetzt.“ 58 Das mag eine mögliche Meinung sein; die Meinung aller ist es sicherlich nicht, zumal sich weder Luhmann und seine Schüler noch Anthony Giddens und seine Mitarbeiter diesen Theoriebegriff zu eigen gemacht haben. Im Hinblick auf den französischen Kontext, in dem neben den einflußreichen Diskursen Bourdieus und Touraines der kritizistisch-weberianische Diskurs Raymond Boudons eine eher periphere Position einnimmt, ist diese Aussage schlicht falsch. Die Reflexion sollte schließlich die Machtverhältnisse zwischen den natürlichen Sprachen nicht aus den Augen verlieren. Gerade als Metatheoretiker oder Beobachter zweiter Ordnung (Luhmann) sollte man sich jederzeit überlegen, welche blinden Flecken entstehen, wenn man sich von einer hegemonialen Sprache - etwa dem amerikanischen Englisch - zum Subjekt machen läßt und (wie Habermas) Derrida auf Englisch und mit Hilfe amerikanischer Sekundärliteratur rezipiert 59 , oder Artikel über Greimas oder Jakobson schreibt und alle französischen bzw. russischen Debatten, die wesentlich zum Verständnis dieser beiden Autoren beitrugen, kurzerhand ausläßt. 60 Die anhand von Bibliographien nachweisbare Tatsache, daß in deutschen sozialwissenschaftlichen Publikationen zunehmend nordamerikanische und britische Arbeiten zitiert werden 61 , während in englischen Werken deutsche, französische, spanische und russische 58 K.-H. Hillmann, Wörterbuch der Soziologie, Stuttgart, Kröner (5., vollständig überarbeitete und erw. Aufl.), 2007, S. 895. 59 Vgl. J. Habermas, Der philosophische Diskurs der Moderne. Zwölf Vorlesungen, Frankfurt, Suhrkamp, 1985 (2. Aufl.), S. 212-217. 60 Vgl. die Artikel zu „Greimas“ und „Jakobson“ in: Metzler-Lexikon Literatur- und Kulturtheorie, Hrsg. A. Nünning, Stuttgart, Metzler, 2013 (5. erw. Aufl.) sowie zum französischen Diskussionsstand u.a. J.-Cl. Coquet, Sémiotique. L’Ecole de Paris, Paris, Hachette, 1982; zum russischen den Jakobson-Kongreß des Jahres 1996: Materialy meždunarodnogo kongressa 100 let R. O. Jakobson, Moskau, Rossijskij Gosudarstvennyj Gumanitarnyj Universitet, 1996. 61 Vgl. z.B. D. Berg-Schlosser, F. Müller-Rommel (Hrsg.), Vergleichende Politikwissenschaft. Ein einführendes Studienbuch, Opladen, Leske-Budrich, 1997 (3. Aufl.), S. 301-344. <?page no="82"?> 68 Titel fast völlig fehlen, ist kein neutrales Faktum. Denn durch die Rezeption bestimmter Diskurse wird theoretische Subjektivität konstituiert. Wird diese Tatsache verschwiegen oder übergangen, wird das Subjekt zum Unterworfenen einer sich verfestigenden kulturellen und ideologischen Hegemonie. Freilich ist es dem Einzelnen verwehrt, alle Diskussionen in allen Sprachen zur Kenntnis zu nehmen, und man mag es durchaus als normal - nicht jedoch als rational - empfinden, daß jeder die Diskussionen im eigenen Land und in der eigenen Sprache am intensivsten mitverfolgt. Aber zur theoretischen Offenheit, wie sie hier verstanden wird, gehört auch die bohrende Frage, ob nicht vor kurzem ein wichtiges japanisches oder koreanisches Buch zum Theoriebegriff erschienen ist, das der Autor nicht lesen kann. Theorie lebt vom Interesse für das Andere und Andersartige; sie erstarrt im Monolog. <?page no="83"?> 69 III. Theorie, Wissenschaft, Institution und das strong programme Da „Theorie“ und „Wissenschaft“ - wie sich gezeigt hat - bisweilen als Synonyme verwendet werden, wird im folgenden versucht, die beiden Begriffe gegeneinander abzugrenzen, und zwar im Hinblick auf die wissenschaftliche Institution, in der Theorien entstehen. Auf den institutionellen Bereich bezieht sich auch das strong programme der britischen Wissenschaftssoziologen Barry Barnes und David Bloor. Sie radikalisieren die Thesen über die soziale Bedingtheit des Wissens von Karl Marx und Karl Mannheim, indem sie behaupten, daß nicht nur die Kultur- und Sozialwissenschaften von sozialen Interessen gesteuert werden (wie Marx und Mannheim meinen), sondern auch die Naturwissenschaften und sogar die Mathematik. Es soll gezeigt werden, daß diese „starke“ Interpretation der „Bedingtheit“ zu allgemein und zu abstrakt geraten ist, weil sie sich über spezifische Unterschiede zwischen Natur- und Kulturwissenschaften hinwegsetzt, die in der Einleitung bereits angesprochen wurden, hier jedoch konkreter dargestellt werden sollen. Einer der Faktoren, den die Verfechter des strong programme übersehen, ist der Unterschied zwischen dem globalen Rationalisierungsprozeß, der alle Wissenschaften (wenn auch nicht im gleichen Ausmaß) der instrumentellen Vernunft unterwirft, und der unmittelbaren kulturellen und ideologischen Bedingtheit von Soziolekten und Diskursen, die nur für die Kultur- und Sozialwissenschaften eindeutig nachgewiesen werden kann. Diesen Unterschied übersieht auch Karin Knorr-Cetina, die in mancher Hinsicht an die Argumente des strong programme anknüpft. Als Alternative zu diesem Programm wird hier im dritten Abschnitt Georges Canguilhems Abgrenzung von Ideologie und wissenschaftlicher Theorie im naturwissenschaftlichen Bereich erörtert. Zum Abschluß soll die Besonderheit der Kultur- und Sozialwissenschaften auf sprachlich-diskursiver und auf funktionaler Ebene beschrieben und im Hinblick auf ideologische Interferenzen sowie das Subjekt-Objekt-Verhältnis konkretisiert werden. <?page no="84"?> 70 1. Theorie, Wissenschaft, Institution Das Problem der unterschiedlichen Institutionalisierung von Kultur- und Sozialwissenschaften in verschiedenen Ländern und Kulturbereichen ist bereits angesprochen worden. Es sollte durch das Problem der ideologischen Heterogenität dieser Wissenschaften ergänzt werden. Während sich in Naturwissenschaften wie Physik, Astronomie und Chemie Theorien ausschließlich fachlich unterscheiden, d.h. im Hinblick auf Objektkonstruktion und Methode, herrschen im kultur- und sozialwissenschaftlichen Bereich auch ideologische Differenzen und Antagonismen zwischen Theorien. Disziplinen wie Semiotik, Soziologie, Literaturwissenschaft oder Geschichtswissenschaft sind insofern heterogen, als sie sich aus theoretischen Soziolekten zusammensetzen, die zugleich ideologische Gruppesprachen sind. Feministische Literaturwissenschaft, Linguistik oder Soziologie ist keine „unzulässige Politisierung“ der wissenschaftlichen Institution oder des wissenschaftlichen Feldes, sondern verhält sich komplementär-antagonistisch zu konservativen, liberalen oder ökologischen Varianten dieser Disziplinen. Wenn sich in der Soziologie, der Anthropologie oder der Literaturwissenschaft an einer Universität zeitweise ein besonderer theoretischer Soziolekt durchsetzt, so setzt sich auch das ihm zugrundeliegende ideologische Engagement durch. Davon zeugen verschiedene Schulenbildungen wie die vom französischen Rationalismus geprägte Genfer Schule Saussures, das Frankfurter Institut für Sozialforschung, aus dem die Kritische Theorie hervorging, oder die Konstanzer Schule der Rezeptionsästhetik. Freilich sind die Naturwissenschaften ebenso konfliktträchtig wie die Soziologie oder die Literaturwissenschaft, zumal in ihrem Bereich, wie Peter Weingart ausführlich darstellt, die Finanzierung einer Forschungsrichtung (auf Kosten der anderen) eine Überlebensfrage ist. 1 Entscheidend ist jedoch, wie sich im folgenden zeigen wird, daß die hier ausgetragenen sozialen und wirtschaftlichen Konflikte nicht zu einer Ideologisierung der theoretischen Diskurse als semantischnarrativer Strukturen führen. Die Naturwissenschaften gehen zwar 1 Vgl. P. Weingart, Die Stunde der Wahrheit? Zum Verhältnis der Wissenschaft zu Politik, Wirtschaft und Medien in der Wissensgesellschaft, Weilerswist, Velbrück, 2001, S. 75-76. <?page no="85"?> 71 aus den eingangs kommentierten kulturellen Rationalisierungsprozessen hervor, sie sind aber als Diskurse ideologiefrei. Zur Verdeutlichung mag vorerst ein kurzes Beispiel genügen. Der physikalische Ausdruck magnetisches Feld ist als Metapher durchaus mit dem in Bourdieus (! ) Soziologie üblichen Ausdruck wissenschaftliches Feld vergleichbar. Die beiden metaphorischen Felder trennt jedoch ein Abgrund: Während magnetisches Feld als magnetic field transkulturelle und überideologische Gültigkeit beanspruchen kann, bleibt Bourdieus champ scientifique (oder littéraire) ein ideologischer Zankapfel, der von manchen Feministinnen durchaus goutiert wird, von so manchem Marxisten aber nicht mehr akzeptiert wird und von Weberianern oder Systemtheoretikern schon gar nicht. 2 Als Fazit bleibt festzuhalten, daß „Theorie“ und „Wissenschaft“ keineswegs Synonyme sind, weil sowohl in den Naturwissenschaften als auch in den Kultur- und Sozialwissenschaften „Wissenschaft“ der Oberbegriff ist: In beiden Bereichen konkurrieren theoretische Diskurse miteinander im Rahmen einer institutionalisierten Wissenschaft wie Physik, Soziologie oder Linguistik. Während aber in der Physik die Konkurrenz zwischen den immer noch koexistierenden Modellen Newtons und Einsteins 3 keinerlei ideologische, sondern nur technische Bedeutung hat, ist theoretische Konkurrenz in den Sozial- und Kulturwissenschaften zugleich ideologischer Konflikt, der im lexikalischen, semantischen und narrativen Bereich (vgl. Kap. II) ausgetragen wird. Es lohnt sich, das strong programme von Barnes und Bloor in diesem Licht zu betrachten. 2. Bloors und Barnes’ strong programme: Eine Kritik Das Dilemma des strong programme, das Marx’ und Mannheims These über die soziale Bedingtheit der Kultur- und Sozialwissenschaften verstärken und auf die Naturwissenschaften anwenden soll, ist in we- 2 Das meint auch A. Ryan, wenn er in The Philosophy of the Social Sciences, London, Macmillan (1970), 1980, S. 85 feststellt: „It is a good deal less plausible to suppose that Durkheim’s notion of anomie or Freud’s concept of the unconscious would even in principle yield us anything comparable to the elegance of particle mechanics.“ „Anomie“ und „Unbewußtes“ sind eben nicht ideologiefrei. 3 Die Raumfahrt arbeitet weiterhin mit Newtons Modellen. <?page no="86"?> 72 nigen Worten zusammenzufassen: Das Programm ist einerseits anregend, weil es von der plausiblen Annahme ausgeht, daß sowohl Naturals auch Kulturwissenschaften aus bestimmten Vergesellschaftungsprozessen hervorgehen und daß ein archaischer Stamm am oberen Lauf des Orinoco weder Astrophysik noch Psychoanalyse hervorzubringen im Stande ist (was durchaus ein Segen sein mag); es ist andererseits aufgrund seiner abstrakten Verallgemeinerungen zu weitmaschig, weil es nicht zwischen langfristigen Rationalisierungsprozessen und unmittelbarer ideologischer Einwirkung unterscheidet. Da sie weder einen konkreten Ideologiebegriff noch einen Diskursbegriff vorzuweisen haben, neigen Barnes und Bloor dazu, Natur- und Kulturwissenschaften über einen Leisten zu schlagen und wesentliche Unterschiede zu übersehen. Unabhängig von ihnen folgt H. M. Collins dem nachmodernen Trend zu Partikularismus und Relativismus 4 , wenn er feststellt, daß Wissenschaft heute nicht so sehr als Ort sicheren Wissens betrachtet wird, sondern als „kulturelle Tätigkeit“ („cultural activity“). 5 Barnes, Bloor und Mulkay gehen noch einige Schritte weiter und behaupten, daß es einen kausalen Nexus zwischen wissenschaftlichen Argumentationen oder Forschungsprogrammen einerseits und gesellschaftlichen Interessen andererseits gibt. So beruft sich beispielsweise David Bloor auf Studien, „die Verbindungen nachweisen zwischen wirtschaftlichen, technischen und industriellen Entwicklungen einerseits und den Inhalten wissenschaftlicher Theorien andererseits“. 6 Als Beispiel führt er die kausalen Beziehungen zwischen Wasser- und Dampftechnologien und den Inhalten thermodynamischer Theorien an („the content of theories in thermodynamics“). 7 Die Frage ist, was hier mit „content“ gemeint ist: die Gegenstände als Objektkonstruktionen, das Erkenntnisinteresse oder die Diskurssemantik? 4 Zur Definition der Postmoderne als Partikularisierung und Relativierung vgl. Vf., Moderne/ Postmoderne. Gesellschaft, Philosophie, Literatur, Tübingen- Basel, Francke, 2016 (4. Aufl.), Kap. III. 5 H. M. Collins, Changing Order. Replication and Induction in Scientific Practice, Chicago-London, The Univ. of Chicago Press (1985), 1992, S. 1. 6 D. Bloor, Knowledge and Social Imagery, Chicago-London, The Univ. of Chicago Press (1971), 1991 (2. Aufl.), S. 6. 7 Ibid. <?page no="87"?> 73 Diese entscheidende Frage läßt sich anhand der vier Punkte des strong programme, die Bloor auflistet, kaum beantworten. Die vier Punkte sind: 1. Die Wissenschaftssoziologie ist kausal angelegt, d.h. sie „hat es mit den Bedingungen zu tun, die Glaubens- oder Wissenszustände hervorbringen (bring about belief or states of knowledge)“. 2. „Sie ist unparteiisch im Hinblick auf Wahrheit und Falschheit, Vernunft oder Unvernunft, Erfolg oder Mißerfolg.“ (D.h. sie will alle diese Erscheinungen - auch das Irrationale - rational erklären.) 3. „Sie wahrt Symmetrie in ihrem Erklärungsstil. Dieselben Typen von Kausalität würden z.B. richtige und falsche Ansichten erklären.“ 4. „Sie ist reflexiv. Im Prinzip sind ihre Erklärungsmuster auch auf die Soziologie selbst anwendbar.“ 8 Bloor hat natürlich recht, wenn er gegen einige seiner Kritiker einwendet, daß kausale Erklärungen bestimmter Ansichten diese Ansichten weder bestätigen noch widerlegen. 9 Man versteht einen theoretischen Ansatz in den Sozialwissenschaften besser, wenn man ihn mit dem Ansatz konfrontiert, gegen den er sich dialogisch-polemisch (und keineswegs ideologiefrei) wendet. In diesem Fall ist es der Kritische Rationalismus 10 , zu dessen Vertretern auch Imre Lakatos gehört. Er unterscheidet interne von externen Aspekten der Wissenschaftsentwicklung. Für ihn ist die interne Eigengesetzlichkeit der Wissenschaft entscheidend, während die externen, d.h. sozialen oder politischen Einwirkungen sekundär sind. 11 Er sieht die Wissenschaftsentwicklung so ähnlich wie die russischen Formalisten die literarische Evolution: Sie ist autonom. 12 Für Lakatos gehören äußere, etwa politische Einwirkungen auf den Wissenschaftsprozeß in den Bereich des Kontingenten und des Irrationalen, wie es beispielsweise in der „deutschen Physik“ der Nationalsozialisten oder in Stalins Rolle während der Lyssenko-Affäre 13 zum Ausdruck 8 Ibid., S. 7. 9 Ibid., S. 18: Zu Recht wendet er sich gegen die These „causation implies error“. 10 Ibid., S. 20: „Popper himself sees science as an endless vista of refuted conjectures“. 11 Vgl. I. Lakatos, The Methodology of Scientific Research Programmes, Cambridge, Univ. Press (1978), 1983, S. 118-121: „Internal and External History“. 12 Es ist interessant, Lakatos’ Argumente mit denen von J. Tynjanov in „Über die literarische Evolution“, in: J. Striedter, Russischer Formalismus, München, Fink, 1969, S. 451-452 zu vergleichen. 13 Zur Lyssenko-Affaire vgl. D. Lecourt, Lyssenko. Histoire réelle d’une „science prolétarienne“, Paris, PUF (1976), 1995. <?page no="88"?> 74 kommt. Insgesamt hält er die Wissenschaftsentwicklung für einen rationalen, linearen und kumulativen Prozeß. An dieser Stelle wenden Barnes und Bloor ein, daß dieser Prozeß in Wirklichkeit durch gesellschaftliche Auseinandersetzungen und Konflikte angetrieben wird, und zwar nicht nur in Krisensituationen, die von revolutionären Erkenntnissen oder Erfindungen herbeigeführt werden, sondern auch in der Alltagsforschung. Sie berufen sich auf Harry M. Collins, um zu zeigen, „wie vernünftige Menschen ‚eine und dieselbe Erfahrung‘ als induktive Bestätigung gegensätzlicher Ansichten auffassen können“. 14 Solche Kontroversen kommen freilich in allen sozialen Bereichen, nicht nur in den Wissenschaften, vor. Bloor versucht, seine Argumentation durch Modellanalysen zu veranschaulichen: etwa anhand der Pseudoentdeckung von „N- Strahlen“ durch den französischen Physiker Blondot. Bloor zeigt u.a. daß deutsche, britische und nordamerikanische Physiker sehr schnell herausfanden, daß in Blondots Experimenten etwas nicht stimmte. Daran änderten auch Blondots Prestige als Akademiemitglied und sein Rückhalt in der französischen Wissenschaft nichts. „The lapse was a personal and psychological failure by Blondot and his compatriots. They fell short of common and standardised procedures.“ 15 Es ist nicht klar, was Bloor mit dieser Aussage bezweckt: Sollte er sagen wollen, daß auch in einer exakten Wissenschaft wie der Physik Schlamperei und Dummheit vorkommen, dann ist sein Argument trivial; sollte er aber behaupten wollen, daß die in der Physik „standardisierten Verfahren“ als soziale Fakten (was sie durchaus sind) in Frankreich aus kulturellen oder ideologischen Gründen weniger entwickelt waren als in anderen Ländern, so ist sein eigener Diskurs fragwürdig. Durch den Ausdruck „psychological failure“ stellt er sogar sein strong programme in Frage, weil er erkennen läßt, daß in der Physik zwar kontingente psychische Faktoren eine Rolle spielen, nicht jedoch kulturelle und ideologische Interferenzen, die besondere, kulturspezifische Diskurse hervorbringen. Um diese Art von Einwirkung nachweisen zu können, müßte Bloor zeigen, daß sich seit Blondots „Entdeckung“ in Frankreich eine andere Art von Physik entwickelt hat: analog zur französischen cri- 14 B. Barnes, D. Bloor, J. Henry, Scientific Knowledge. A Sociological Analysis, London, Athlone, 1996, S. 73. 15 D. Bloor, Knowledge and Social Imagery, op. cit., S. 29-30. <?page no="89"?> 75 tique littéraire, Rechtswissenschaft 16 , Semiotik oder Soziologie. In Wirklichkeit zeigt er das Gegenteil: nämlich wie Blondots Lapsus durch interkulturelle Kritik behoben wurde und wie sich die „französische“ Physik nach diesem Zwischenfall nahtlos in die internationale Physik eingliederte. Diese Feststellung gilt auch für Michael Mulkays Kommentar zum Zustand der französischen Physik zu Beginn des 19. Jahrhunderts: „(...) All the influential figures in French physics were rigidly opposed to non-corpuscular optics and (...) these men controlled the dissemination of legitimate informations in this field.“ 17 Mag sein, daß sich in neuen Bereichen der Wissenschaft - zeitweise - institutionsbedingte („feldbedingte“, Bourdieu) Argumentationsmuster durchsetzen. Aber die spätere Entwicklung zeigt, daß auch diese Anomalie behoben wurde. In den französischen Kultur- und Sozialwissenschaften hingegen macht sich noch heute Comtes Positivismus bemerkbar. Deshalb ist auch die Argumentation von Michael Mulkay zu abstrakt und verschwommen, wenn er sich vornimmt, „die Produkte der Wissenschaft als soziale Konstruktionen wie alle anderen Kulturprodukte“ 18 zu betrachten. Wenn damit gemeint ist, daß Wissenschaftler sozialisierte Subjekte sind, deren Subjektivität als Wahrnehmung aus einer bestimmten Kultur hervorgeht, so ist dagegen nichts einzuwenden. Zugleich ist das Argument aber trivial, denn es sagt nichts über die international institutionalisierten Diskurse der Naturwissenschaften (ihr Vokabular, ihre Semantik und Syntax) aus. Das Problem scheint darin zu bestehen, daß die lexikalischsemantischen Grundlagen und Aktantenmodelle naturwissenschaftlicher Diskurse jenseits von Ideologien (nicht jenseits von Kultur und Gesellschaft) sind. Semantische Gegensätze wie Pluspol und Minuspol oder Säure und Lauge sind nicht ideologisierbar, ebensowenig wie die Objekt-Aktanten naturwissenschaftlicher Diskurse: neue Legierungen, Impfstoffe oder Proteine. Unvorstellbar ist der Einwand einer Wissenschaftlergruppe, das vom konkurrierenden Team gewonnene 16 Zum spezifischen Charakter der französischen Rechtswissenschaft vgl. Ch. Autexier, „Von der Rechtsvergleichung zum rechtskulturellen Vergleich“, in: P. V. Zima (Hrsg.), Vergleichende Wissenschaften. Interdisziplinarität und Interkulturalität in den Komparatistiken, Tübingen, Narr, 2000, S. 121-125. 17 M. Mulkay, Science and the Sociology of Knowledge (1979), Aldershot, Gregg Revivals, 1992, S. 88. 18 Ibid., S. 61. <?page no="90"?> 76 Protein sei konservativ, sexistisch, subversiv oder systemerhaltend. Ein solcher Einwand wäre im Hinblick auf alle Aktantenmodelle und Objekt-Aktanten der Naturwissenschaften sinnlos und lächerlich. Erst in bezug auf sozialwissenschaftliche Objekt-Aktanten wie „klassenlose“ oder „herrschaftsfreie Gesellschaft“, „Freiheit“, „Offenheit“, „Wirtschaftswachstum“ oder „Irritabilität der Systeme“ (Luhmann) kann ein solcher Einwand sinnvoll diskutiert werden. Um Proteingewinnung - und sehr viel mehr - geht es beispielsweise in Karin Knorr-Cetinas soziologischer Studie Die Fabrikation von Erkenntnis, die Kommunikationsprozesse in naturwissenschaftlichen Laboratorien zum Gegenstand hat. Eine der Kernthesen dieser Studie, die stellenweise an das strong programme von Barnes und Bloor anknüpft, lautet, daß auch im naturwissenschaftlichen oder technischen Labor Verständnisfragen, Konsensbildung 19 , Interpretation und Interpretationskonflikt eine entscheidende Rolle in der Forschung spielen, so daß der Unterschied zwischen Natur- und Sozialwissenschaften auf sekundäre Phänomene beschränkt werden kann: „Im Vordergrund steht die Frage, ob sich die methodische Praxis der Natur- und technologischen Wissenschaften von der symbolisch-interpretativen, ‚hermeneutischen‘ Praxis der Sozialwissenschaften prinzipiell unterscheidet. Ich behaupte, daß diese Frage mit Nein zu beantworten ist.“ 20 Knorr-Cetinas Argument, „daß Interpretation und Kommunikation in demselben Ausmaß Teil technisch-naturwissenschaftlichen Handelns sind, wie sie Teil unserer Alltagsaktivitäten sind“ 21 , geht kaum über die Thesen des strong programme hinaus und ist deshalb - wie schon Bloors und Mulkays Argumente - beside the point. Selbstverständlich kommunizieren Naturwissenschaftler, interpretieren Experimente unterschiedlich, streiten sich - auch persuasiv-rhetorisch - über neue Begriffe und versuchen, einander individuell oder kollektiv aus dem wissenschaftlichen Feld zu schlagen, zumal wenn es in zunehmendem Maße um Finanzierung oder Nichtfinanzierung geht. Sie kommunizieren aber in nichtideologischen (obschon kultur- und rationalitätsbedingten) Fachsprachen. 19 Vgl. auch K. Knorr-Cetina, Wissenskulturen. Ein Vergleich naturwissenschaftlicher Wissensformen, Frankfurt, Suhrkamp, 2002, S. 350. 20 K. Knorr-Cetina, Die Fabrikation von Erkenntnis. Zur Anthropologie der Wissenschaft, Frankfurt, Suhrkamp, 1984, S. 247. 21 Ibid., S. 260. <?page no="91"?> 77 Hier zeigt sich, wie wichtig der Ideologiebegriff ist, vor allem, wenn er kontrastiv zu „Theorie“ verwendet wird. Denn nicht alles, was als gesellschaftlich bezeichnet werden kann, ist zugleich ideologisch. Die Gebrauchsanweisung neben dem Fernsprecher oder auf dem Computer ist in jeder Hinsicht ein Produkt der technisierten Gesellschaft und Kultur - aber ideologisch ist sie nicht. Dies gilt auch für die Diskurse der Naturwissenschaften: etwa für die Auswertungen von Experimenten. Diese Unterscheidung fehlt schon im strong programme. Allzu sorglos geht Bloor mit dem Ideologiebegriff um, wenn er feststellt: „(...) Theories of knowledge are, in effect, reflections of social ideologies.“ 22 Das Problemwort in diesem Satz ist „reflection“. Sicherlich schlagen sich liberal-individualistische Denkmuster in Poppers Diskurs (den Bloor kommentiert) nieder. 23 Aber wie? Da Autoren wie Bloor, Mulkay und Knorr-Cetina es versäumen, dieser Frage auf semiotischer Ebene nachzugehen, lassen sie den qualitativen Unterschied (nicht Gegensatz) zwischen naturwissenschaftlichen und kultur- oder sozialwissenschaftlichen Diskursen verschwimmen. Dieser Unterschied tritt in der Diskurssemantik zutage, die über narrative Abläufe und Aktantenmodelle entscheidet. 3. Ideologie und Naturwissenschaft: Canguilhems Alternative Der französische Philosoph und Wissenschaftstheoretiker Georges Canguilhem geht wesentlich behutsamer vor als Barnes und Bloor, weil er nicht pauschal ein Kausalverhältnis zwischen sozialen Interessen und Ereignissen in der Wissenschaft postuliert, sondern vorwissenschaftliche und wissenschaftliche Stadien in den Naturwissenschaften unterscheidet. In seinem Modell fällt die naturwissenschaftliche Ideologie mit dem vorwissenschaftlichen Stadium einer Wissenschaft zusammen. Anders als im strong programme, wo nicht klar zwischen vorwissenschaftlichen und wissenschaftlichen Entwicklungsstadien der Physik, der Biologie oder der Chemie unterschieden wird, geht es bei 22 D. Bloor, Knowledge and Social Imagery, op. cit., S. 75. 23 Vgl. A. Ryan, „Popper and Liberalism“, in: G. Currie, A. Musgrave (Hrsg.), Popper and the Human Sciences, Dordrecht-Boston-Lancaster, Nijhoff, 1985, S. 89. <?page no="92"?> 78 Canguilhem darum, im Anschluß an die Philosophie Gaston Bachelards 24 , den epistemologischen Schnitt zu finden, der im Wissenschaftsprozeß die ideologische Spreu vom wissenschaftlichen Weizen trennt: „Eine wissenschaftliche Ideologie endet dann, wenn der Ort, den sie in der Enzyklopädie des Wissens besetzt hält, von einer Disziplin eingenommen wird, die im Anwendungsbereich (opérativement) die Gültigkeit ihrer Wissenschaftlichkeitsnormen unter Beweis stellt.“ 25 Diese Entwicklung von der Vorwissenschaft zur Wissenschaft ist an sich zwar ein sozialer und kultureller Prozeß; es ist aber ein Prozeß, der zum Bruch mit der Ideologie führt. Dies ist der springende Punkt, den die strong-programme-Theoretiker übersehen, den aber Marx und Mannheim gleichsam instinktiv wahrnahmen, als sie es ablehnten, die Naturwissenschaften im ideologischen Bereich anzusiedeln. Freilich kann es wissenschaftliche Ideologien (als Pseudowissenschaften) 26 nur in einer gesellschaftlichen und sprachlichen Situation geben, in der bereits Wissenschaften im strengen Sinne institutionalisiert sind. Denn an ihnen orientieren sich die vor- oder pseudowissenschaftlichen Diskurse, um ihren Status in den Institutionen zu festigen oder um ihn überhaupt zu erlangen. „Die Existenz wissenschaftlicher Ideologien“, erklärt Canguilhem, „setzt die Parallelexistenz wissenschaftlicher Diskurse voraus und folglich auch die vollzogene Scheidung von Wissenschaft und Religion.“ 27 Es geht hier nicht nur um soziale Differenzierung im Sinne von Durkheim, Simmel und Luhmann 28 , sondern auch und vor allem um Brüche zwischen Denkformen, denn: „Was die Wissenschaft findet, 24 Vgl. G. Bachelard, La Philosophie du non, Paris, PUF (1940), 1983 (9. Aufl.), S. 8: „Der wissenschaftliche Geist kann sich nur dadurch bilden, daß er den nichtwissenschaftlichen Geist zerstört.“ Vgl. auch D. Gil, Bachelard et la culture scientifique, Paris, PUF, 1993, S. 88-93. 25 G. Canguilhem, Idéologie et rationalité dans l’histoire des sciences de la vie. Nouvelles études d’histoire et de philosophie des sciences, Paris, Vrin, 1988 (2. Aufl.), S. 39. 26 Es geht hier natürlich nicht um den Begriff der „wissenschaftlichen Ideologie“ im Sinne von Lenin. Dazu ausführlich: H.-J. Lieber, Ideologie, Paderborn, Schöningh, 1985, S. 65. 27 G. Canguilhem, Idéologie et rationalité, op. cit., S. 39. 28 Vgl. G. Simmel, Über sociale Differenzierung, Leipzig, Duncker und Humblot, 1890 sowie N. Luhmann, Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie, Frankfurt, Suhrkamp (1984), 1987, S. 325-331. <?page no="93"?> 79 ist nicht das, was die Ideologie suchte.“ 29 Die Chemie knüpft nicht an die Probleme der Alchimisten an, sondern erschließt ihren Erkenntnisbereich mit völlig neuen Fragestellungen. Dies gilt auch für die Vererbungslehre: „Was Mendel vernachlässigt, ist all das, was diejenigen interessierte, die in Wahrheit nicht seine Vorgänger sind.“ 30 Im Hinblick auf das strong programme ist eine weitere Unterscheidung von Canguilhem wichtig: die zwischen wissenschaftlicher Ideologie (idéologie scientifique) und Ideologie der Wissenschaftler (idéologie des scientifiques). Diese ist eine Ideologie, mit deren Hilfe authentische Naturwissenschaftler (Physiker, Astronomen oder Chemiker) die Funktion ihrer Wissenschaft im soziokulturellen Kontext darstellen und erklären. Canguilhem spricht hier von „philosophischen Ideologien“ („idéologies philosophiques“). 31 Hätten Barnes und Bloor diese Unterscheidung eingeführt, statt pauschal von der sozialen Bedingtheit der Naturwissenschaften zu sprechen, hätten sie möglicherweise festgestellt, daß Ideologie und wissenschaftliche Theorie im naturwissenschaftlichen Bereich trotz ihrer zahlreichen Verflechtungen durchaus zu entwirren sind. Allerdings sieht das Verhältnis von Ideologie und Theorie in diesem Bereich anders aus als in den Sozial- und Kulturwissenschaften. Während in diesen Wissenschaften jede Theorie zugleich Ideologie im allgemeinen Sinne ist, ohne schon deshalb zur Ideologie im negativkritischen Sinne oder zur Pseudowissenschaft zu verkommen, sind die Naturwissenschaften von einem klaren Bruch zwischen Ideologie und wissenschaftlicher Theorie geprägt. Freilich kann jede Naturwissenschaft auf funktionaler Ebene ideologisiert werden: etwa wenn ihre Ergebnisse für politische Zwecke und im Rahmen von politischen Diskursen gedeutet werden - oder wenn sich ein bekannter Physiker anhand von „Daten“ zur „Sicherheit“ eines Atomkraftwerks äußert. In diesem Fall spricht er aber als Ideologe, nicht als Physiker, denn „Sicherheit“ ist ein ideologischer Begriff, der mit Begriffen wie „Spannung“ oder „Stromstärke“, „Proton“ oder „Elektron“ nicht zu vergleichen ist. Im folgenden Satz aus der interdisziplinären Kristallographie ist kein Wort als „ideologisch“ oder „kulturspezifisch“ zu bezeichnen. Es 29 G. Canguilhem, Idéologie et rationalité, op. cit., S. 40. 30 Ibid., S. 41. 31 Ibid., S. 44. <?page no="94"?> 80 handelt sich hier um eine transkulturelle und ideologiefreie Fachsprache: „For all tetragonal lattice complexes the limiting complexes with cubic characteristic space-group type have been derived.“ 32 Kurzum: naturwissenschaftliche Diskurse sind nur auf funktionaler Ebene ideologisierbar, nicht jedoch ideologisch auf struktureller, auf semantischnarrativer Ebene. Ihre Sprachen sind frei von sozialen Wertungen. 4. Die Besonderheit der Kultur- und Sozialwissenschaften Als Althusser in den 60er Jahre versuchte, die von Bachelard in den Naturwissenschaften beobachteten Brüche auch in der Philosophie von Karl Marx auszumachen, brachte er lediglich eine neue szientistische Ideologie hervor. Sein Argument ist bekannt und soll hier deshalb nur knapp zusammengefaßt werden: In seinem Spätwerk, vor allem in Das Kapital, bricht Marx mit der von Fichte und Hegel inspirierten humanistischen Ideologie und begründet die Geschichte als eine mit der altgriechischen Mathematik und Galileos Physik vergleichbare exakte Wissenschaft: „le continent Histoire“. 33 Es ist hier nicht der Ort, diese Marx-Interpretation zu kommentieren oder gar zu kritisieren. 34 Der Hinweis mag genügen, daß sie sogleich als szientistische Ideologie attackiert wurde 35 - im Gegensatz zu den Lehrsätzen von Thales oder Pythagoras. Weshalb? Weil das, was Canguilhem über die wissenschaftliche Ideologie als Pseudowissenschaft sagt, auch auf Althussers Marxismus anwendbar ist: Dieser Diskurs ahmt die Sprache und die Konventionen (den Habitus, würde Bourdieu sagen) der Naturwissenschaften nach, ohne einen wissenschaftlichen Status zu erlangen, ohne von allen maßgeblichen Instanzen als Wissenschaft anerkannt zu werden. Zudem führt er eine Ideologisierung naturwissenschaftlicher Terminologie herbei. 32 E. Koch, W. Fischer, „The Cubic Limiting Complexes in the Tetragonal Lattice Complexes“, in: Zeitschrift für Kristallographie. International Journal for Structural, Physical, and Chemical Aspects of Crystalline Materials 9, 2003, S. 597. 33 L. Althusser, Lénine et la philosophie, Paris, Maspero, 1972, S. 53. 34 Eine ausführliche Kritik an Althusser findet sich in: Vf., Ideologie und Theorie. Eine Diskurskritik, Tübingen, Francke, 1989, Kap. V. 35 Vgl. H. Lefebvre, L’Idéologie structuraliste, Paris, Anthropos, 1971, S. 111- 159. <?page no="95"?> 81 Das Experiment der Althusser-Gruppe bewirkt also das Gegenteil von dem, was es bewirken sollte: Es führt uns die Ideologieanfälligkeit des Marxismus und aller anderen Kultur- und Gesellschaftstheorien vor Augen. Das Wort „Wissenschaft“ („science“) wird hier selbst zum Ideologem. In dieser Situation kann die besondere Aufgabe der Kultur- und Sozialwissenschaften nicht darin bestehen, sich pseudowissenschaftlich den „hard sciences“ 36 anzugleichen, sondern sich in Selbstreflexion zu üben. Zunächst geht es darum, die eigene Ideologie im allgemeinen Sinne selbstkritisch zu reflektieren, um der Ideologie im negativen Sinn auf theoretischer Ebene zu entgehen. Dies setzt jedoch voraus, daß das Diskurssubjekt den allgemein-ideologischen Charakter der eigenen Terminologie und Semantik erkennt - und nicht szientistisch (Althusser) und monologisch (Luhmann) kaschiert. Nur ein solches Subjekt ist in der Lage, die Instrumentalisierung aller Wissenschaften in einer postmodernen Marktgesellschaft zu erkennen, die sich zunehmend ihren eigenen Marktgesetzen unterordnet. Es geht um einen langen Prozeß, den Marx mit der lapidaren Bemerkung kommentiert: „Die ‚fremde‘ Wissenschaft wird dem Kapital einverleibt, wie fremde Arbeit.“ 37 Unabhängig von Marxens Werk stellt rund anderthalb Jahrhunderte später Peter Weingart fest: „Ähnlich wie für das Verhältnis der Wissenschaft zur Politik und zu den Medien läßt sich auch im Hinblick auf das Verhältnis zur Wirtschaft von einer engeren Kopplung sprechen.“ 38 Hier könnte auch von einer stärkeren Instrumentalisierung aller Wissenschaften die Rede sein. Eine weitere Besonderheit der Kultur- und Sozialwissenschaften besteht darin, daß sie dazu neigen, auf diesen Zustand kritisch zu reagieren und Diskurse hervorzubringen, die sich nicht instrumentalisieren lassen. Seit es die Marktgesellschaft gibt, ist dies zugleich ein Handikap oder Vorteil philosophischer Rede: Sie ist in der Optimierung der Naturbeherrschung nur begrenzt einsetzbar. Mitunter kehrt sie sich sogar gegen das Herrschaftsprinzip, indem sie - wie die 36 Daß diese Wissenschaften nicht so eindeutig, nicht so „hart“ sind, wie im Alltagsdenken angenommen wird, rechtfertigt noch keine Angleichung an die Kultur- oder Sozialwissenschaften. Vgl. Critique 661-662, Juni-Juli 2002: Sciences dures? , S. 430-431. 37 K. Marx, Das Kapital, Bd. I, Der Produktionsprozeß des Kapitals, Frankfurt- Berlin-Wien, Ullstein, 1981, S. 345. 38 P. Weingart, Die Stunde der Wahrheit? , op. cit., S. 175. <?page no="96"?> 82 Kritische Theorie - versucht, einen herrschaftsfreien Diskurs und eine mit der Natur versöhnte Subjektivität hervorzubringen. Subjektivität und Kritik sind in diesem Bereich jedoch nicht nur für theoretische Diskurse kennzeichnend, sondern auch für deren Objekte, die als Subjekte ebenfalls auf soziale Probleme reagieren, die es zu lösen gilt. Es gehört zu den vieldiskutierten Besonderheiten der Sozialwissenschaften, daß ihre Objekte zugleich Subjekte oder Ko- Subjekte sind, wie die Hermeneutiker sagen. 39 Anthony Giddens faßt dieses Verhältnis prägnant in einem Satz zusammen: „Anders als die Naturwissenschaften steht die Soziologie in einem Subjekt-Subjekt- Verhältnis zu ihrem Objektbereich, nicht in einem Subjekt-Objekt- Verhältnis.“ 40 Die Befürworter einer Einheitswissenschaft überzeugt dieses Argument nicht. Sie wenden ein, daß auch „Ko-Subjekte“ unparteiisch, objektiv-wissenschaftlich beschrieben werden können. 41 Vielen erscheint dieses Argument plausibel: Schließlich muß es möglich sein, sagen sie, die Argumente von Faschisten zu beschreiben, ohne wertend für oder gegen diese Argumente Stellung zu beziehen. Was geschieht aber, wenn es ein Kenner faschistischer und falangistischer Bewegungen mit Menschen zu tun hat, die zwar eindeutig falangistisch-faschistische Positionen vertreten, sich aber als „wahre Patrioten“ bezeichnen, um das Problem der Ausgrenzung durch andere Gruppen zu lösen? Wird er seine geschichtswissenschaftliche oder politikwissenschaftliche Terminologie kurzerhand über Bord werfen und nur noch von „wahren Patrioten“ sprechen? Eine solche Naivität würden ihm seine Kollegen kaum verzeihen. Eine kritische und wissenschaftliche Haltung kommt auch darin zum Ausdruck, daß man nicht jedes epitheton ornans der politischen Propaganda, der Werbung oder der Rhetorik für bare Münze nimmt. Ein Beispiel aus dem soziologischen Bereich sind die bekannten Feldstudien von Willmot und Young in den Londoner Arbeiterbezir- 39 Vgl. N. Mecklenburg, H. Müller, Erkenntnisinteresse und Literaturwissenschaft, Stuttgart, Kohlhammer, 1974, S. 56. 40 A. Giddens, New Rules of Sociological Method, London, Hutchinson (1976), 1986, S. 146. 41 Vgl. H. Albert, Kritische Vernunft und menschliche Praxis, Stuttgart, Reclam (1977), 1984, S. 75. Von den Sozialwissenschaften sagt Albert: „Sie können die Wertungen der analysierten Individuen und Gruppen beschreiben, erklären und voraussagen, ohne selbst Wertgehalt zu haben.“ Das können sie nicht, weil ihre Diskurse, wie sich gezeigt hat, oft mit dem Selbstverständnis der analysierten Subjekte kollidieren und dieses Selbstverständnis kritisch bewerten. <?page no="97"?> 83 ken Bethnal Green und Woodford: Während die Arbeiterfamilien in Bethnal Green sich selbst als „working class“ definieren, definieren sich die Arbeiterfamilien im teils kleinbürgerlichen Woodford mehrheitlich als „middle class“. Es versteht sich von selbst, daß die Soziologen diese Selbstklassifikation nicht einfach übernehmen, sondern sie kritisch hinterfragen. 42 Kurzum: Selbstverständnis und wissenschaftliches Fremdverstehen können auf ideologischer Ebene kollidieren. Noch konkreter begegnet man dem Argument der Universalwissenschaftler, wenn man über die hier angesprochene lexikalische Ebene hinausgeht und die semantisch-syntaktische Tätigkeit der Subjekte berücksichtigt. Als einziger Soziologe geht Bourdieu auf die semantischen Prozesse ein, die das Subjekt-Subjekt-Verhältnis in den Sozialwissenschaften prägen: „Wird der wissenschaftliche Diskurs in den Klassifizierungskämpfen aufgegriffen (sic), um deren Objektivierung er sich bemüht (...), wird er wieder Teil der Realität der Klassifizierungskämpfe: Also kann er nur kritisch distanziert oder komplizenhaft scheinen, je nach dem kritischen oder komplizenhaften Verhältnis, das der Leser selber zu der beschriebenen Realität hat.“ 43 Anders gesagt: Jede kultur- oder sozialwissenschaftliche Beschreibung unterwirft die beschriebenen Diskurse auf Metaebene ihren eigenen Klassifikationsmustern, Aktantenmodellen und narrativen Abläufen. (Deshalb ist im theoretischen Bereich die Frage nach der Metaebene so wichtig: Wer stellt wen dar und wie? ) Wenn ich die Selbstdarstellung der Befragten als „wahre Patrioten“ oder „middle class“ ablehne, weil ich sie als ideologische Tarnung durchschaue, dann verändere ich auch kritisch-wertend ihre Klassifikationen, ihre Aktantenmodelle und ihre Erzählungen, in denen sie als Helden auftreten. (Wenn es eine distanzierte Einstellung in den Sozialwissenschaften gibt, so besteht sie darin, daß ich nicht versuche, die Befragten zu diskreditieren, sondern zu erklären, weshalb sie sich einer Tarnbezeichnung bedienen usw. Aber dies hat nichts mit „Objektivität“ oder „Wertfreiheit“ zu tun, zumal schon das Wort „Tarnbezeichnung“ Kritik und Wertung beinhaltet.) 42 Vgl. M. Young, P. Willmott, Family and Kinship in East London, London (1957), Pelican, 1969, Kap. XI. 43 P. Bourdieu, Was heißt sprechen? Die Ökonomie des sprachlichen Tausches, Wien, Braumüller, 1990, S. 100. (Das frz. Wort „repris“, das Bourdieu verwendet, müßte hier mit „verwickelt werden“ wiedergegeben werden, nicht mit „aufgegriffen“. Vgl. Ce que parler veut dire, Paris, Fayard, 1982, S. 143.) <?page no="98"?> 84 Kritisch verändert wird auch der Diskurs der französischen Surrealisten in Xavière Gauthiers feministischer Studie Surréalisme et sexualité, die zeigt, daß die revolutionäre Rhetorik der Avantgarde- Bewegung ein konservatives Aktantemodell verdeckt, in dem die Frau der stets natürliche, jungfräuliche, geduldige und erduldende Objekt- Aktant ist: „So hat die von Labisse dargestellte Frau die Weichheit der Pflanzen, die bornierte Ausdauer der Bäume, ihre Geduld und ihr Verwurzeltsein, ihre Langlebigkeit und ihre blinde Vitalität.“ 44 Die Surrealisten und ihre Sympathisanten sehen das freilich anders; und es versteht sich fast von selbst, daß Marxisten oder Vertreter der Kritischen Theorie (Benjamin, Adorno) die Diskurse der Surrealisten auf ihre Art konstruieren und zugleich bewerten. „Sag mir, wie du klassifizierst, und ich sage dir, wer du bist.“ 45 Dieser Satz von Roland Barthes bezeichnet eine der Grundlagen der Subjektivität und gilt sowohl für die Subjekte als auch für die Objekte (Ko-Subjekte) der Sozial- und Kulturwissenschaften. Von diesen Objekten unterscheiden sich Naturobjekte ganz wesentlich dadurch, daß ihnen die Klassifikationen und Diskurse der Wissenschaftler gleichgültig sind. Zu Recht erinnern Barnes, Bloor und Henry daran, „daß es der Natur gleichgültig ist, wie sie klassifiziert wird“ („that nature is indifferent to how it is classified“). 46 Diese Indifferenz ihrer Objekte trennt die Naturwissenschaften von allen Kultur- und Sozialwissenschaften - rechtfertigt aber keine Dichotomie. Denn eine Forderung verbindet alle Wissenschaften: die Forderung nach Genauigkeit und Nuanciertheit, die in dem Verbot gipfelt, wesentliche Unterschiede ideologisch einzuebnen. Zusammenfassend ließe sich sagen, daß sich Kulturwissenschaften von Naturwissenschaften in folgenden vier Punkten unterscheiden: 1. Ihre Terminologien und Semantiken sind nicht ideologiefrei. 2. Indem sie versuchen, Lösungen für soziale Probleme vorzuschlagen, engagieren sie sich im Auftrag verschiedener Ideologien 3. Ihre Objekte sind zugleich Subjekte. 4. Auf das wertende Selbstverständnis dieser Subjekte reagieren Sozialwissenschaftler kritisch-wertend. 44 X. Gauthier, Surréalisme et sexualité, Paris, Gallimard, 1971, S. 121. 45 R. Barthes, Essais critiques, Paris, Seuil, 1964, S. 179. 46 B. Barnes, D. Bloor, J. Henry, Scientific Knowledge, op. cit., S. 73. <?page no="99"?> 85 IV. Wertfreie, falsifizierbare Theorie? Zur Beziehung von Wertfreiheit, Intersubjektivität und Falsifizierbarkeit Zwischen „Wertfreiheit“, „Intersubjektivität“ und „Falsifizierbarkeit“ im Sinne von Hans Albert und Karl R. Popper können enge Beziehungen aufgezeigt werden, die selten zur Sprache kommen. 1 Sie werden möglicherweise deshalb nicht näher untersucht, weil sie diejenigen, die sich auf diese Kernbegriffe des Kritischen Rationalismus berufen, in Verlegenheit bringen könnten. Die Verlegenheit rührt wohl daher, daß klar wird, in welchem Ausmaß Falsifizierbarkeit als kritische Überprüfung eine wertfreie intersubjektive Diskussion voraussetzt. Daß die Möglichkeit einer solchen Diskussion in Poppers Logik der Forschung stillschweigend vorausgesetzt wird, zeigt sich an entscheidenden Stellen dieses Werks, an denen der Autor die Falsifizierbarkeit als intersubjektives Verfahren beschreibt. Dabei betrachtet er die Sprache stets als neutrales Medium. Diese Auffassung der Sprache als eines allgemeingültigen, wertfreien Verständigungsmittels haben kritische Rationalisten wie Karl R. Popper und Hans Albert vom Positivismus des Wiener Kreises geerbt, von dem sich Popper in der Logik der Forschung (1934) ansonsten klar distanziert. Seine Kritik an den Positivisten und ihren Induktionstheorien hindert ihn jedoch nicht daran, die Sprache als eine Art „Universaljargon“ 2 im Sinne seines Wiener Zeitgenossen Otto Neurath zu behandeln und sich wie Moritz Schlick in seiner Allgemeinen Erkenntnislehre (1918) auf den Satz zu konzentrieren. 3 Wer aber - wie der Rationalist Saussure - sein Augenmerk auf das Satzsyntagma richtet, der verliert den diskursiven Zusammenhang aus den Augen und zugleich mit ihm die gesellschaftlichen Interessen und Werturteile, die sich in der semantischen Basis, in den Aktantenmo- 1 Zu diesem Problem vgl. Vf., Ideologie und Theorie. Eine Diskurskritik, Tübingen, Francke, 1989, Kap. IV, 2. 2 Vgl. O. Neurath „Universaljargon und Terminologie“, in: ders., Gesammelte philosophische und methodologische Schriften, Hrsg. R. Haller, H. Rutte, Wien, Hölder-Pichler-Tempsky, 1981, S. 911-915. 3 Vgl. M. Schlick, Allgemeine Erkenntnislehre (1918), Frankfurt, Suhrkamp, 1979, S. 437-439. <?page no="100"?> 86 dellen niederschlagen. Im folgenden soll gezeigt werden, wie dieser blinde Fleck in den Theorien des Kritischen Rationalismus den Glauben an Max Webers Wertfreiheitspostulat ermöglicht und wie dieses Postulat zur Grundlage der intersubjektiv konzipierten Falsifizierbarkeit wird. Zugleich wird sich herausstellen, daß dieser Begründungs- und Argumentationszusammenhang zerfällt, sobald die diskursive Ebene eingeführt wird, auf der sich subjektive Interessen artikulieren. 1. Wertfreiheit als diskursives Problem Wertfreiheit in den Kultur- und Sozialwissenschaften kann strenggenommen nur Distanzierung im Sinne von Norbert Elias bedeuten: kritische Distanz zur eigenen Ideologie im allgemeinen Sinne, die über die Semantik des Diskurses entscheidet. Eine solche Distanz ermöglicht nicht nur Selbstkritik, sondern auch Offenheit für die Einwände und Argumente anderer Theorien. Heute besteht kein Zweifel darüber, daß den verschiedenen Varianten des Kritischen Rationalismus eine liberal-individualistische Ideologie zugrunde liegt, die sowohl für seine Stärken als auch für seine Schwächen verantwortlich ist. 4 Nicht erst in Poppers Spätwerk und in seinen autobiographischen Schriften tritt diese Ideologie in Erscheinung, sondern schon in der Logik der Forschung, wo es gleich zu Beginn von der bevorzugten Methode heißt: „Nach unserem Vorschlag kennzeichnet es diese Methode, daß sie das zu überprüfende System in jeder Weise einer Falsifikation aussetzt; nicht die Rettung unhaltbarer Systeme ist ihr Ziel, sondern: in möglichst strengem Wettbewerb das relativ haltbarste auszuwählen.“ 5 Ersetzt man in der zweiten Satzhälfte das Wort „Systeme“ durch „Wirtschaftsformen“ oder „Betriebe“, so meint man die Stimme eines liberalen Ökonomen zu vernehmen, etwa die eines von Mises, den Hans Albert mit dem folgenden Satz zitiert: „Der Kapitalismus ist die einzig denkbare und mögliche Gestalt arbeitteilender 4 Vgl. Y. Hagiwara, „Zum Verständnis von Liberalismus bei Popper und Hayek“, in: K. Salamun (Hrsg.), Moral und Politik aus der Sicht des Kritischen Rationalismus, Amsterdam-Atlanta, Rodopi, 1991, S. 63-70. 5 K. R. Popper, Logik der Forschung (1934), Tübingen, Mohr-Siebeck, 2002 (10. Aufl., Jubiläumsausgabe), S. 16. <?page no="101"?> 87 gesellschaftlicher Wirtschaft.“ 6 Albert versucht, diese These mit Hilfe des Falsifikationsbegriffs und durch Hinweise auf den real existierenden Sozialismus zu erhärten. Nach dem Zusammenbruch dieser Gesellschaftsform scheint dies nicht mehr notwendig zu sein: Der Kapitalismus, der womöglich sein eigener fataler Gegner ist, steht ohne Konkurrenten da. Aber wo bleibt die Werturteilsfreiheit? Hans Albert, der sich ausführlicher mit ihr befaßt hat als andere Vertreter des Kritischen Rationalismus (als Popper oder Topitsch) betrachtet sie durchaus als sprachliches Problem, blendet aber die entscheidenden semantischen und diskurssemiotischen Fragen aus. Wie schon Weber 7 geht er von der Annahme aus, daß wertende Relevanzkriterien nur die Objektwahl des Wissenschaftlers tangieren, nicht die eigentliche Objektanalyse, „so daß die ganze Wertproblematik nur noch als meta-wissenschaftliches Relevanzproblem auftaucht, also in die Basis verschoben wird. Solche Wertgesichtspunkte werden dann bei der Formulierung einer sachlichen Fragestellung zum Tragen gebracht, die aber selbst einer wertfreien Behandlung zugänglich ist“. 8 „Sachlich“ wird in diesem Diskurs zu einem reinigenden Zauberwort: „Die Diskussion kann jeweils an die sachlichen Kriterien anknüpfen, die unter irgendwelchen Wertgesichtspunkten interessant sein mögen. Das kann man sprachlich dadurch zum Ausdruck bringen, daß man alle Aussagen, die hier in Frage kommen, in die deskriptive Sprache transformiert, so daß die Gefahr einer Fehlleitung in normativer Richtung vermieden wird.“ 9 Was aber sind „sachliche Kriterien“, und wie ist eine (rein) „deskriptive Sprache“ beschaffen? Das Problem wird nicht dadurch gelöst, daß Albert in einer Fußnote rät, „sachliche Kriterien für wertakzentuierte Begriffe festzusetzen“ 10 , wohl in der Hoffnung, das Ideologieproblem auf diese Art zu umgehen. 6 L. von Mises, in: H. Albert, Freiheit und Ordnung, Tübingen, Mohr-Siebeck, 1986, S. 69. 7 Vgl. M. Weber, „Die ‚Objektivität‘ sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis“ (1904), in: ders., Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, Hrsg. J. Winckelmann, Tübingen, Mohr-Siebeck, 1973, S. 152-156. 8 H. Albert, Aufklärung und Steuerung, Hamburg, Hoffmann und Campe, 1976, S. 175. Vgl. auch K. R. Popper, Conjectures and Refutations. The Growth of Scientific Knowledge, London-New York, Routledge and Kegan Paul (1963), 1972, S. 272. 9 H. Albert, Aufklärung und Steuerung, op. cit., S. 175. 10 Ibid. <?page no="102"?> 88 Die ideologischen Interessen sind aber schon im lexikalischen Repertoire und in der Semantik des Soziolekts angelegt, aus dem theoretische Diskurse hervorgehen. Wissenschaftliche „Konkurrenz“ im Sinne von Popper ist ein liberal-darwinistischer Begriff 11 , und Max Webers methodischer Individualismus, der im Rahmen des (keineswegs wertfreien) semantischen Gegensatzes Bürokratie/ Charisma funktioniert, ist als Reaktion auf die Krise der liberalen Wertordnung um 1900 zu verstehen. Diese Wertordnung verteidigt noch Albert mit seinem Wertfreiheitspostulat, das ihm hilft, alle kollektiven Faktoren und Interessen auszublenden. Mommsen argumentiert intuitiv richtig, wenn er zu bedenken gibt: „Webers große Soziologie war keineswegs völlig wertfrei; schon ihr radikal individualistischer Ansatzpunkt (...) ist nur aus der europäischen humanistischen Tradition und ihrer Wertschätzung des Individuums zu verstehen (...).“ 12 Albert zielt mit seiner Kritik daneben, wenn er einwendet: „Also: methodologischer Individualismus als Beispiel für eine angebliche Verletzung des Wertfreiheitsprinzips: In einem solchen Sinne ist allerdings auch die Naturwissenschaft nicht wertfrei! “ 13 Dieses Argument ist schlicht falsch, weil es sich über die Tatsache hinwegsetzt, daß die Semantik und die Aktantenmodelle der Naturwissenschaften im Gegensatz zu denen der Sozialwissenschaften keine ideologischen Interessen artikulieren: Kein Physiker wird Fachausdrücke wie „Stromstärke“ oder „Kernspaltung“ ablehnen; Bezeichnungen wie „strong programme“, „soziale Rolle“, „Posthistoire“ (Gehlen) oder „Charisma“ hingegen lösen immer wieder heftige Kontroversen aus. Webers individualistisches Aktantemodell, auf das sich Mommsen indirekt bezieht, ist nicht nur unter Marxisten, sondern auch unter Systemtheoretikern umstritten, weil es auf gesellschaftliche Probleme reagiert und Lösungsvorschläge beinhaltet: etwa die Stärkung des Po- 11 Zu Liberalismus und Sozialdarwinismus in der Soziologie vgl. S. Collini, Liberalism and Sociology. L. T. Hobhouse and Political Argument in England 1880- 1914, Cambridge, Univ. Press (1979), 1983, S. 3 (zu M. Weber). 12 W. J. Mommsen, in: H. Albert, Konstruktion und Kritik, Hamburg, Hoffmann und Campe, 1975 (2. Aufl.), S. 48. 13 H. Albert, Konstruktion und Kritik, op. cit., S. 48. <?page no="103"?> 89 litikers der Bürokratie gegenüber. 14 Ganz anders reagiert - auf der Aktantenebene - Luhmanns Soziologie, die schon jenseits des liberalindividualistischen Modells angesiedelt ist: Sie plädiert für eine Steigerung der „System-Irritabilität“ und versucht auf ihre Art, zur sozialen Problemlösung beizutragen - was in jeder Hinsicht legitim ist. Weniger legitim ist der Versuch, bestimmte Arten der Problemlösung als „wertfrei“ zu deklarieren. Problemlösungen stehen auch im Mittelpunkt wirtschaftswissenschaftlicher Diskussionen und Kontroversen, die stets die Optimierung des Wirtschaftssystems, einzelner Wirtschaftsbranchen oder Betriebe zum Gegenstand haben. Dies gilt auch für die Angewandte Betriebswirtschaftslehre. Wollte ein Betriebswirt einen Betrieb lediglich wertfrei beschreiben, statt kritisch-normativ vorzugehen und Sanierungsvorschläge zu machen, würde er seinen Beruf wahrscheinlich nicht lange ausüben. 15 Weit davon entfernt, rein technischer Art zu sein, enthalten seine Vorschläge oftmals soziale Wertungen, Ideologeme - und sind häufig umstritten. Schon aus diesem Grunde kann es eine „strikte Neutralität wissenschaftlicher Aussagen“ 16 im sozial- und kulturwissenschaftlichen Bereich nicht geben. Alberts Flucht in Zauberformeln wie „Sachlichkeit“ und „deskriptive Sprache“ ist nur dazu angetan, Verwirrung zu stiften. Die Lösung besteht darin, daß man den (im allgemeinen Sinne) ideologischen Charakter aller Theorien erkennt, gleichzeitig aber zu verstehen versucht, wie sich das ideologische Engagement auf die diskursive Anordnung (Semantik, Aktantenmodell) auswirkt und wie es eine Ideologisierung im negativ-kritischen Sinne bewirken kann. Das Engagement als solches sollte, wie sich in der Einleitung gezeigt hat, keineswegs unterdrückt, sondern als angebracht erkannt und anerkannt werden: solange es nicht in Ideologisierung umschlägt und die theoretische Reflexion lähmt. 14 Vgl. dazu: „Politik als Kampf - Politik als Beruf“ (eine Diskussion mit Ch. Graf von Krockow, M. R. Lepsius, H. Maier), in: Ch. Gneuss, J. Kocka (Hrsg.), Max Weber. Ein Symposion, München, DTV, 1988, S. 34. 15 Vgl. auch W. Cezanne, Allgemeine Volkswirtschaftslehre, München-Wien, Oldenbourg, 1997, S. 199-201 zur „Allokationstheorie“ und zur „Rolle des Staates in der Marktwirtschaft“. Die Frage, welche Rolle der Staat ausüben soll, ist weiterhin offen und ruft widersprüchliche Antworten auf den Plan. Es kommt hinzu, daß jede politische Partei ihre Wirtschaftsexperten beschäftigt. 16 H. Albert, Traktat über kritische Vernunft, Tübingen, Mohr-Siebeck, 1980 (4. Aufl.), S. 62. <?page no="104"?> 90 Eine solche Ideologisierung macht sich im Kritischen Rationalismus immer dann bemerkbar, wenn seine Anhänger versuchen, ihren Individualismus monologisch gegen jede Art von Kritik abzuschirmen. 17 Dabei übersehen sie die Existenz von Gruppensprachen, die kollektive Interessen und Wertungen ausdrücken, sowie von Diskursen, die über einzelne Sätze hinausgehen und dadurch solche Interessen individuell konkretisieren. Thomas S. Kuhn hat nicht ganz unrecht, wenn er zu Poppers Erkenntnislogik bemerkt: „Statt einer Logik hat uns Sir Karl eine Ideologie gegeben (...).“ 18 Im folgenden wird sich zeigen, daß intersubjektive Überprüfung und Widerlegung („Falsifizierung“) von Theorien oder Theorieteilen in den Humanwissenschaften nur vorstellbar ist, wenn man vor diesen sozialen und sprachlichen Problemen die Augen verschließt. 2. Falsifizierbarkeit, Intersubjektivität und Diskurs Hans Albert ist in jeder Hinsicht beizupflichten, wenn er feststellt: „Das Prinzip der Wertfreiheit kann (...) als Bestandteil einer methodologischen Konzeption angesehen werden, die an der Idee der freien kritischen Diskussion orientiert ist. Sie ist das Kernstück einer philosophischen Gesamtorientierung, die man als kritischen Rationalismus bezeichnen kann.“ 19 Wer dazu neigt, Poppers Kritischen Rationalismus mit dem Schlagwort „Falsifizierbakeit“ zu verknüpfen und das Wertfreiheitspostulat eher mit Max Webers verstehender Soziologie zu assoziieren, wird sich möglicherweise über diesen Versuch, die Wertfreiheit ins Zentrum der kritisch-rationalistischen Philosophie zu rücken, wundern. Die Verwunderung löst sich auf, sobald man eingesehen hat, daß das Wertfreiheitspostulat schon in Poppers Logik der Forschung die Voraussetzung für die falsifizierende, widerlegende Prüfung bildet. Im Anschluß an Kant siedelt Popper Begründungen, Einwände und Wi- 17 Vgl. H. F. Spinner, Ist der Kritische Rationalismus am Ende? Auf der Suche nach den verlorenen Maßstäben des Kritischen Rationalismus für eine offene Sozialphilosophie und kritische Sozialwissenschaft, Weinheim-Basel, Beltz, 1982, S. 85. 18 T. S. Kuhn, Die Entstehung des Neuen. Studien zur Struktur der Wissenschaftsgeschichte, Hrsg. L. Krüger, Frankfurt, Suhrkamp (1977), 1978, S. 374. 19 H. Albert, Aufklärung und Steuerung, op. cit., S. 189. <?page no="105"?> 91 derlegungen in einer wertneutralen Universalsprache an, wenn er schreibt: „Die ‚objektiven‘ Begründungen müssen grundsätzlich von jedermann nachgeprüft und eingesehen werden können.“ 20 Was für die Begründung im Kantschen Sinne gilt, gilt auch für die Widerlegung: „Wir halten nun zwar die wissenschaftlichen Theorien nicht für begründbar (verifizierbar), wohl aber für nachprüfbar. Wir werden also sagen: Die Objektivität der wissenschaftlichen Sätze liegt darin, daß sie intersubjektiv überprüfbar sein müssen.“ 21 In einem späteren Zusatz wird der Ausdruck „intersubjektive Überprüfung“ durch den Ausdruck „intersubjektive Kritik“ ersetzt und mit der „Idee der gegenseitigen rationalen Kontrolle durch kritische Diskussion“ 22 verknüpft. In den wesentlich später erschienenen Conjectures and Refutations (1963) betont Popper - im Gegensatz zu Neurath und anderen Neopositivisten des Wiener Kreises -, daß es ihm nicht um eine reine Wissenschaftssprache jenseits der Metaphysik geht. Er trägt sogar der Möglichkeit Rechnung, daß unsere wissenschaftlichen Theorien in Mythen wurzeln („originate in myths“) 23 , und wiederholt daher die These aus Logik der Forschung, daß die einzige Demarkationslinie, die wir zwischen Wissenschaft und Nichtwissenschaft ziehen können, mit Hilfe der Widerlegbarkeit zustande kommen muß: „Thus testability is the same as refutability, and can therefore likewise be taken as a criterion of demarcation.“ 24 Die Frage drängt sich auf: Wer testet oder widerlegt und in welcher Sprache? Sie soll hier weiter unten aufgegriffen werden. Denn: Beobachtung ist nicht nur, wie Popper sagt, „Beobachtung im Licht von Theorien“ 25 , sondern im Licht von theoretischen Diskursen, die zugleich ideologische Diskurse im allgemeinen Sinne sind. Daß Popper diese Problematik nicht wahrnehmen kann oder will, hängt mit drei Faktoren zusammen: mit seinem liberalen Individualismus, der kollektive Erscheinungen nicht gelten läßt, mit seinem komplementären Kantianismus, der idealistisch vom historischgesellschaftlichen Zustand der Sprache abstrahiert, und mit seiner Fixierung auf den Satz (das Satzsyntagma), die ihm den Blick auf den 20 K. R. Popper, Logik der Forschung, op. cit., S. 18. 21 Ibid. 22 Ibid. 23 K. R. Popper, Conjectures and Refutations, op. cit., S. 257. 24 Ibid., S. 256. 25 K. R. Popper, Logik der Forschung, op. cit., S. 31. <?page no="106"?> 92 transphrastischen Diskurs und den Soziolekt verstellt 26 , auf das, was Halliday als „the sociosemantic nature of discourse“ 27 bezeichnet. Dadurch kann Sprache neutralisiert, als scheinbar „wertfrei“ dargestellt werden. Es ist erstaunlich, wie oft das Wort „Satz“ in den Vorarbeiten zur Logik der Forschung (Die beiden Grundprobleme der Erkenntnistheorie) und im Hauptwerk selbst vorkommt. Die Widerlegung einer Theorie erfolgt durch Sätze als „Basissätze“, wiederholt Popper noch im Jahre 1978: „Unter der empirischen Widerlegbarkeit oder Falsifizierbarkeit einer Theorie verstehe ich die Existenz von Beobachtungssätzen (‚Basissätzen‘, ‚Prüfsätzen‘), deren Wahrheit die Theorie widerlegen, also als falsch nachweisen würde.“ 28 Durch diese Fixierung der Argumentation auf den Satz verschwindet der Diskurs als kollektives Konstrukt, das Subjektivität und Interesse artikuliert, aus dem Blickfeld. Dieses Problem tritt schon in Poppers schwankenden Definitionen des Theoriebegriffs auf: „Wissenschaftliche Theorien sind allgemeine Sätze. Sie sind, wie jede Darstellung, Symbole, Zeichensysteme.“ 29 Was nun: Sätze, Darstellungen, Zeichensysteme? Etwas weiter faßt Popper auch eine transphrastische (jedoch nicht diskursive) Definition ins Auge, wenn er vom theoretischen System spricht, das sich aus einer „Anzahl von Sätzen, Axiomen“ 30 zusammensetzt. Hier geht nun „Theorie“ eindeutig über den Satz hinaus. Poppers Beispiele für falsifizierbare Aussagen bleiben allerdings auf die Satzform beschränkt: „Es gibt keine weißen Raben“. „Es gibt kein perpetuum mobile“. „Es gibt keine elektrische Ladung, die nicht ein ganzzahliges Vielfaches des elektrischen Elementarquantums wäre.“ 31 Hier wird klar, daß die sprachliche Ebene der Überprüfung nicht nur durch die Ausrichtung auf den Satz, sondern komplementär dazu durch die Ausrichtung auf die Naturwissenschaften oder den alltäglichen common sense neutralisiert wird. Denn die Überprüfung der 26 Vgl. Vf., Ideologie und Theorie, op. cit., S. 147-148. 27 M. A. K. Halliday, Language as Social Semiotic. The Social Interpretation of Language and Meaning, London, Edward Arnold, 1978, S. 128. 28 K. R. Popper, Die beiden Grundprobleme der Erkenntnistheorie, Hrsg. E. Hansen, Tübingen, Mohr-Siebeck, 1994, S. XXVI. 29 K. R. Popper, Logik der Forschung, op. cit., S. 31. 30 Ibid., S. 41. 31 Ibid., S. 39. <?page no="107"?> 93 hier zitierten Sätze kann tatsächlich jederzeit ideologiefrei erfolgen. Jeder, der weiß, was ein Rabe oder ein perpetuum mobile ist, kann, sobald er einen weißen Raben oder ein perpetuum mobile entdeckt, die entsprechende Aussage widerlegen. Die Möglichkeit zu widerlegen, zu „falsifizieren“ nimmt drastisch ab, sobald man es mit Sätzen zu tun hat, die eindeutig bestimmten kultur- oder sozialwissenschaftlichen Soziolekten und Diskursen zugeordnet werden können: „Es gibt kein Unbewußtes ohne Verdrängung.“ „Es gibt keine moderne Gesellschaft ohne einen Gegensatz zwischen Bürokratie und Politik.“ „Es gibt keinen Kapitalismus ohne zyklische Krisen.“ „Es gibt keine Gesellschaft ohne Literatur.“ Die ersten drei Sätze, die recht eindeutig den Soziolekten der Psychoanalyse, der verstehenden Soziologie M. Webers und des Marxismus zuzuordnen sind, mögen zwar - rein formal betrachtet - falsifizierbar sein; in der Praxis erweisen sie sich jedoch als unwiderlegbar. Der Grund ist leicht anzugeben: Sie stehen synekdochisch für Diskurse, die als semantisch-narrative Strukturen aus besonderen Soziolekten hervorgehen, die nicht jederzeit, nicht von allen vernunftbegabten Individuen intersubjektiv überprüft werden können, weil viele dieser Individuen in Wirklichkeit Gruppen angehören und Gruppensprachen sprechen, die mit den hier zitierten Diskursen unvereinbar sind. Während Psychoanalytiker, viele Feministinnen und Vertreter der Kritischen Theorie den Satz „Es gibt kein Unbewußtes ohne Verdrängung“ akzeptieren, wird er von den meisten kritischen Rationalisten, Vertretern der empirischen Psychologie und der Systemtheorie abgelehnt. Auf den kritischen Rationalisten wird seine falsifizierbare Form nicht den geringsten Eindruck machen, weil ihm das Vokabular, die Semantik und die narrativen Abläufe des gesamten psychoanalytischen Soziolekts suspekt sind. Dies gilt natürlich auch für analoge Sätze aus dem Marxismus. Zum Problem des Soziolekts und seiner interessengeleiteten theoretischen Diskurse gesellt sich hier das Problem der Deutung im Diskurs: Wann kann von „zyklischen Krisen des Kapitalismus“ die Rede sein? Was der Marxist als „zyklische Krise“ definiert, weil er stets das „letzte Gefecht“ im Hinterkopf hat, faßt der Keynes- oder Hayek- Schüler als „Rezession“ auf, die mit oder ohne Staatsintervention zu bewältigen ist. Jeder Diskurs konstruiert seine Objekte anders - und zwar in Übereinstimmung mit den Relevanzkriterien und semantischen Grundlagen (Isotopien) seines Soziolekts. <?page no="108"?> 94 Daher kann auch die scheinbar falsifizierbare Aussage „Es gibt keine Gesellschaft ohne Literatur“ nur zu endlosen und ergebnislosen Diskussionen führen. Denn „Literatur“ ist als wertfreie, neutrale Bezeichnung, die alle schriftlichen und oralen Traditionen adäquat erfaßt, unvorstellbar. In diesem Bereich stehen einander Autonomieästhetiken, Kanons oder Stilistiken und engagierte, politische oder postmoderne Poetiken der Entdifferenzierung 32 unversöhnlich gegenüber. Popper, der in seinen Auseinandersetzungen mit Kuhn (vgl. Kap. V) den Gedanken an sprachliche, weltanschauliche oder ideologische frameworks (noetische Rahmenbedingungen) abgelehnt hat, würde sicherlich auch die hier verwendeten Begriffe „Soziolekt“ und „Diskurs“ als irrationale Mythen zurückweisen. Er würde sie zweifellos im Bereich des von Hans Albert kritisierten „Kollektivsubjektivismus“ 33 ansiedeln. Dennoch faßt er schon in der Logik der Forschung die Möglichkeit ins Auge, daß die von ihm vorgeschlagene intersubjektive Kritik auf individueller Grundlage und in wertfreier Sprache scheitern könnte: „Sollte eines Tages zwischen wissenschaftlichen Beobachtern über Basissätze keine Einigung zu erzielen sein, so würde das bedeuten, daß die Sprache als intersubjektives Verständigungsmittel versagt. Durch eine solche Sprachverwirrung wäre die Tätigkeit des Forschers ad absurdum geführt; wir müßten unsere Arbeit am Turmbau der Wissenschaft einstellen.“ 34 Popper beschreibt hier treffend die Situation in den Kultur- und Sozialwissenschaften, in denen das Prinzip der Intersubjektivität nur mit Einschränkungen gilt, weil es vom Prinzip der Interkollektivität oder Interdiskursivität, d.h. von den Beziehungen zwischen Soziolekten, überlagert wird. In diesem Bereich sind Beziehungen zwischen individuellen Subjekten zugleich Beziehungen zwischen Gruppen und ideologischtheoretischen Soziolekten, die den Einzelnen erst zum Subjekt machen. Anders gesagt: Die Subjekte können nicht ideologiefrei beobachten und argumentieren, weil sie ihre Sprache und Subjektivität 32 Zur Postmoderne als Poetik der „Entdifferenzierung“ vgl. S. Lash, Sociology of Postmodernism, London-New York, Routledge, 1990, S. 11-15. 33 H. Albert, Kritische Vernunft und menschliche Praxis. Mit einer autobiographischen Einleitung, Stuttgart, Reclam, 1977, S. 117. 34 K. R. Popper, Logik der Forschung, op. cit., S. 70. <?page no="109"?> 95 den Soziolekten verdanken - die sie jedoch kritisch reflektieren und verändern können. Ein Vertreter des Kritischen Rationalismus, der das Prinzip der Falsifizierbarkeit verteidigen will, hat nun zwei Argumentationsmöglichkeiten: Er kann behaupten, daß dieses Prinzip (mit Einschränkungen im Hinblick auf die „Grade der Prüfbarkeit“, Popper) 35 nur in den Naturwissenschaften gilt. Er kann diese relativ sichere Position auch aufgeben und behaupten, daß es auch auf die Kultur- und Sozialwissenschaften anwendbar ist. Hier ist nur die zweite Argumentation von Interesse, weil es um die Kultur- und Sozialwissenschaften geht und weil die kritischen Rationalisten sie sich zu eigen gemacht haben. So wirft beispielsweise Popper in The Open Society and its Enemies (1945) Mannheims Wissenssoziologie vor, die intersubjektive Überprüfung von Aussagen durch den Begriff der „totalen Ideologie“ zu blockieren, und schließt: „Der einzige Weg, der den Sozialwissenschaften offensteht, besteht darin, alles verbale Feuerwerk zu vergessen und die praktischen Probleme unserer Zeit mit Hilfe jener theoretischen Methoden zu behandeln, die im Grunde allen Wissenschaften gemeinsam sind: mit Hilfe der Methode von Versuch und Irrtum, der Methode der Erfindung von Hypothesen, die sich praktisch überprüfen lassen, und mit Hilfe ihrer praktischen Überprüfung.“ 36 Was Popper hier als „verbales Feuerwerk“ rationalistisch bagatellisiert, ist die individuelle und kollektive Subjektivität selbst, die ohne Soziolekte und Diskurse nicht entstehen könnte. Wir können nur Ansichten äußern, weil wir in bestimmten sozio-linguistischen Kontexten sozialisiert wurden, uns von diesen Kontexten kritisch distanzieren, in neue hineinwachsen und so unsere Subjektivität entfalten. Ein subjektloses, kontextfreies (soziolekt- und diskursunabhängiges) Sprechen gibt es nicht. In diesem Sinne ist jede Diskussion ein Gespräch zwischen Subjekten, deren Identität weitgehend mit ihren Diskursen und Soziolekten übereinstimmt. 37 Der Rationalist kann sich über diese Subjektivität nur hinwegsetzen, weil er sich auf ideologiefreie Sätze aus dem naturwissen- 35 Vgl. ibid., S. 77. 36 K. R. Popper, Falsche Propheten. Hegel, Marx und die Folgen, Bern-München, Francke, 1958, S. 272-273. 37 Vgl. Vf., Theorie des Subjekts. Subjektivität und Identität zwischen Moderne und Postmoderne, Tübingen-Basel, Francke, 2010 (3. Aufl.), Kap. I, 1, c. <?page no="110"?> 96 schaftlichen Bereich konzentriert, die in jedem Diskurs (unabhängig von allen Ideologien) vorkommen könnten. Ganz recht: Es gibt kein perpetuum mobile. Diese Feststellung werden Feministinnen, Marxisten und Luhmann-Schüler achselzuckend bestätigen, weil sie in ihren Augen völlig neutral ist. In der Logik der Forschung geht Popper allerdings um einen Schritt weiter, wenn er das Falsifikationsprinzip auf „Ereignisse“ ausdehnt: „Anstatt von den durch die Theorie verbotenen Basissätzen zu sprechen, können wir dann auch sagen, daß die Theorie gewisse Ereignisse verbietet, d.h. durch das Eintreffen solcher Ereignisse falsifiziert wird.“ 38 Man muß kein Anhänger von Deleuze 39 sein, um den problematischen Charakter des Ereignisbegriffs zu erkennen: Wann ist ein Erdbeben ein Erdbeben, ein Staatsstreich ein Staatsstreich, ein Verbrechen ein Verbrechen? Popper dehnt den Bereich des Falsifizierbaren noch weiter aus, wenn er - ungeachtet der selbstkritischen Bemerkung, der Ausdruck „Ereignis“ sei vage 40 - fordert, „daß eine falsifizierbare Theorie nicht nur ein Ereignis verbietet, sondern immer mindestens einen Vorgang (....)“. 41 In den Kultur- und Sozialwissenschaften läuft diese Forderung darauf hinaus, daß ganze narrative Sequenzen mit Aktantenmodellen widerlegt werden sollten. So könnte beispielsweise ein Leninist versuchen, die These, „die Unmöglichkeit des Sozialismus sei durch das Scheitern der Sowjetunion bewiesen worden“, mit einem Hinweis auf das kommunistische China zu widerlegen. Ein liberaler Politikwissenschaftler oder Soziologe könnte diesen Hinweis wiederum als ein Eigentor des Leninisten interpretieren und den Vormarsch des Kapitalismus in der Volksrepublik geltend machen. Der Leninist könnte freilich antworten, daß China ein besonders effizientes Modell des Sozialismus entwickelt hat, in dem Plan und Markt von der Partei aufeinander abgestimmt werden usw. Nicht die stark vereinfachten Inhalte sind hier wichtig, sondern der Umstand, daß „Ereignisse“ und „Vorgänge“ narrative Konstruktionen sind, die jeder Diskurs auf seine Art (aber nicht beliebig) gestalten kann, weil die Wirklichkeit vieldeutig, interpretierbar, konstruierbar ist. Schon deshalb sind Versuche, ganze 38 K. R. Popper, Logik der Forschung, op. cit., S. 55. 39 Zu G. Deleuzes Ereignisbegriff vgl. F. Zourabichvili, Deleuze. Une philosophie de l’événement, Paris, PUF, 1994, S. 92. 40 K. R. Popper, Logik der Forschung, op. cit., S. 56. 41 Ibid., S. 57. <?page no="111"?> 97 „Vorgänge“ in falsifizierender Absicht auf Theorien zu beziehen, zum Scheitern verurteilt. Daher wagt sich auch Imre Lakatos auf theoretisches Glatteis, wenn er in seiner konstruktiven Kritik an Popper vorschlägt, wir sollten nicht einzelne Theoreme oder Theorien, sondern Theorie-Serien, d.h. ganze wissenschaftliche Forschungsprogramme, die freilich stets narrative Programme oder komplexe Erzählstrukturen sind, überprüfen: „First, I claim that the typical descriptive unit of great scientific achievements is not an isolated hypothesis but rather a research programme.“ 42 Er fügt hinzu: „Sophisticated falsificationism thus shifts the problem of how to appraise theories to the problem of how to appraise series of theories.“ 43 Hier gilt jedoch: Je größer die kritisierten Einheiten, desto problematischer wird das Poppersche Unternehmen. Schließlich fällt Lakatos’ Argumentation mit der ideologischen Position des Kritischen Rationalismus zusammen: Psychoanalyse und Marxismus erscheinen als „degenerierende“, der Kritische Rationalismus und einige naturwissenschaftliche Theorien hingegen als „progressive“ Forschungsprogramme - quod erat demonstrandum. Insofern hat Andrew Sayer recht, wenn er vom Falsifizierbarkeitsprinzip sagt, „daß es unmöglich ist, es zu praktizieren“. 44 Diese Kritik erinnert an Otto Neuraths skeptische Bemerkungen zur Logik der Forschung aus dem Jahre 1935: „Wo Popper an die Stelle der ‚Verifikation‘ die ‚Bewährung‘ einer Theorie treten läßt, lassen wir an die Stelle der ‚Falsifizierung‘ die ‚Erschütterung‘ einer Theorie treten (...).“ 45 Nun ist aber die „Erschütterung“ einer Theorie keine „bescheidene Widerlegung“, sondern etwa ganz anderes: Ermessenssache. Dies gilt auch für den von Russell Keat und John Urry vorgeschlagenen Kompromißausdruck „reasonable abandonment“ 46 , der das Problem einfach auf eine höhere Abstraktionsebene verlagert: Wann 42 I. Lakatos, The Methodology of Scientific Research Programmes, Cambridge, Univ. Press (1978), 1983, S. 4. 43 Ibid., S. 34. 44 A. Sayer, Method in Social Science. A Realist Approach, London, Hutchinson, 1984, S. 205. 45 O. Neurath, „Pseudorationalismus der Falsifikation (1935)“, in: ders., Gesammelte philosophische und methodologische Schriften, Bd. II, op. cit., S. 638. 46 R. Keat, J. Urry, Social Theory as Science, London-Boston, Routledge und Kegan Paul, 1982 (2. Aufl.), S. 48. <?page no="112"?> 98 ist etwas „vernünftig“, „reasonable“? Denn ob mein Glaube an eine Theorie erschüttert ist oder nicht, hängt auch von politischen und wirtschaftlichen Faktoren ab: vom Zusammenbruch des realen Sozialismus, der den Marxismus erschüttert, oder von einer größeren Umweltkrise, die sogar den Glauben an den Liberalismus oder die wirtschaftswissenschaftlichen Wachstumstheorien erschüttern kann. Auf diese Schwachstelle in Poppers Ansatz bezieht sich die wichtige und im deutschen wie im englischen Sprachraum (aus kulturellen Gründen) vernachlässigte Studie von Jean-Claude Passeron: Le Raisonnement sociologique. L’espace non-poppérien du raisonnement naturel (1991). Auch Passeron nimmt die Form der von Popper als falsifizierbar deklarierten Aussagen aufs Korn und zeigt, daß es in den Sozialwissenschaften diese Form nicht geben kann: „Die empirische Überprüfung einer theoretischen Aussage kann in der Soziologie niemals die logische Form einer ‚Widerlegung‘ (‚Falsifizierung‘) im Popperschen Sinne annehmen.“ 47 Der Grund ist die sprachliche Heterogenität der Sozialwissenschaften, die im Gegensatz zu den künstlichen Sprachen der Naturwissenschaften die Heterogenität der natürlichen Sprache als Alltagssprache reproduzieren: „Zwischen Gruppen, die in verschiedenen Sprachen über die Welt sprechen, entscheidet der empirische Beweis nichts (...).“ 48 Anders gesagt: Die Sozialwissenschaften können nicht durch künstliche Sprachen gegen Interessen und Wertungen, welche die natürliche Sprache polarisieren, abgeschirmt werden. Dies bedeutet zugleich, daß sich die Sprachen der Sozialwissenschaften stets auf besondere historische Situationen („séries de configurations historiques singulières“) 49 beziehen und schon deshalb nicht nach rein logischen, allgemeingültigen Regeln überprüft werden können. In dem hier entworfenen Zusammenhang könnte man sagen, daß die Regeln sich von sozio-linguistischer Situation zu sozio-linguistischer Situation und von Soziolekt zu Soziolekt ändern. Als Alternative schlägt Passeron ein für die Sozialwissenschaften adäquates interpretatives und exemplifizierendes Verfahren vor, dem die empirische Forschung keineswegs fremd ist. Es verpflichtet zu 47 J.-Cl. Passeron, Le Raisonnement sociologique. L’espace non-poppérien du raisonnement naturel, Paris, Nathan, 1991, S. 359. 48 Ibid., S. 361. 49 Ibid., S. 377. <?page no="113"?> 99 einer „Vervielfachung empirischer Untersuchungen, die miteinander durch interpretative Kohärenz verknüpft werden“. 50 Insgesamt wendet sich Passeron gegen Poppers rationalistischen Universalismus, den in einem anderen Zusammenhang auch die Soziologen Bruno Péquignot und Pierre Tripier kritisieren 51 , und der sich über die Tatsache hinwegsetzt, daß die Sozialwissenschaften jenseits naturwissenschaftlicher Gesetzmäßigkeiten sind. 52 Denn in der Gesellschaftsgeschichte wiederholt sich nichts, so daß auch keine allgemeingültigen Experimente „unter identischen Bedingungen“ wiederholt werden können. 3. Vom Kritischen Rationalismus lernen: Ausblick Daß der Kritische Rationalismus aus dialektischer, hermeneutischer oder systemtheoretischer Sicht kritisiert wird, ist nicht neu. Neu wäre der Versuch, aus den Erfahrungen von Poppers Philosophie zu lernen, um die Kritische Theorie, um die es hier geht, weiterzuentwickeln. Daß nicht eine Synthese angestrebt wird, die nur eklektischen und widersprüchlichen Charakter haben könnte, versteht sich fast von selbst. Vielmehr kommt es darauf an, im Vorgriff auf den Dritten Teil dieses Buches die am Ende der Einleitung angekündigte Ausrichtung der 50 Ibid., S. 390. 51 Vgl. B. Péquignot, P. Tripier, Les Fondements de la sociologie, Paris, Nathan, 2000, S. 212. 52 Das eingangs schon erwähnte Problem besteht darin, daß sich die meisten Wissenschaftstheoretiker primär an den Naturwissenschaften orientieren und die Eigengesetzlichkeit der Kultur- und Sozialwissenschaften entweder ignorieren oder leugnen. Dies gilt interkulturell für so verschiedene Denker wie K. R. Popper und T. S. Kuhn als auch für N. R. Hansons Patterns of Scientific Discovery, Cambridge, Univ. Press, 1958, für seinen Aufsatz „Leverrier: The Zenith and Nadir of Newtonian Mechanics“, in: Isis 53, 1962, als auch für einen kroatischen Theoretiker wie I. Supek. Vgl. dazu: J. Lelas, Teorije razvoja znanosti, Zagreb, ArTresor Naklada, 2000, S. 31: „Wir wollen auch daran erinnern, daß bei uns Anfang der siebziger Jahre I. Supek auf der Grundlage einer guten Kenntnis der Wissenschaft, vor allem der Physik und ihrer Geschichte, die Idee einer Wissenschaftsentwicklung als Genealogie der Naturwissenschaften vorbrachte.“ (Vgl. I. Supek, Teorija spoznaje, Zagreb, Graficki Zavod Hrvatske, 1974, Kap. „Rodoslovlje znanosti“ [„Die Genealogie der Wissenschaft“], S. 192.) <?page no="114"?> 100 Kritischen Theorie auf Alterität und Dialog zu präzisieren. Dies scheint mit Hilfe von Poppers Theorie möglich zu sein. Zu ihr bemerkt Günter Witschel: „Objektivität wird nach Popper nicht durch den Standort des Wissenschaftlers bewirkt, sondern auf sozialem Wege durch ‚gegenseitige Kritik‘, ‚freundlich-feindliche Arbeitsteilung‘, durch ‚Zusammenarbeit‘ und auch ‚Gegeneinanderarbeit‘.“ 53 Diese Darstellung ist zugleich eine Teilansicht des hier vorgeschlagenen theoretischen Dialogs. Denn es geht nicht mehr darum, wie in den Hermeneutiken von Apel und Habermas, eine Letztbegründung der Theorie in der „idealen Sprechsituation“ oder in einem anderen Fundament zu suchen, sondern darum, in ständiger Auseinandersetzung mit dem Anderen, mit der anderen Theorie, neue Erkenntnisse hervorzubringen. Übernommen wird also Poppers Forderung nach einer kritischen Überprüfung im Dialog. Die Ausrichtung auf das Andere folgt auch dem dialektischen Prinzip, daß erst die Vereinigung der Gegensätze, der Extreme (ohne Synthese) ein zuverlässiges Bild des untersuchten Phänomens abgibt. Es geht hier um eine offene Totalität und um einen unabschließbaren Dialog im Sinne von Bachtin. 53 G. Witschel, Wertvorstellung im Werk Karl R. Poppers, Bonn, Bouvier, 1977 (2. Aufl.), S. 61. <?page no="115"?> 101 V. Paradigmen in den Kultur- und Sozialwissenschaften? Als schillernder Begriff der neueren Wissenschaftsgeschichte war das Wort „Paradigma“ für eine steile Karriere in den Kultur- und Sozialwissenschaften geradezu prädestiniert, weil es Einzelpersonen und Gruppen die Möglichkeit bot, „neue Paradigmen“ zu entfalten. Daß es sich um einen schillernden Begriff handelt, steht fest, seit Margaret Masterman in ihrem bekannten Aufsatz 21 verschiedene Bedeutungen dieses Wortes in Kuhns The Structure of Scientific Revolutions (1962) ausfindig gemacht hat. 1 In den Humanwissenschaften eröffnet ein solches Wort ungeahnte und verlockende Perspektiven - ähnlich wie Bachelards „epistemologischer Schnitt“, Foucaults „Episteme“ oder Poppers „Falsifikation“. Obwohl Kuhn in seinem vieldiskutierten Werk den Paradigmabegriff fast ausschließlich auf die naturwissenschaftliche Entwicklung anwendet, deutet er an verschiedenen Stellen 2 an, daß er eine Anwendung auf den kultur- und sozialwissenschaftlichen Bereich nicht ausschließt. Diese Andeutungen griffen Philosophen, Literaturwissenschaftler, Ethnologen und Soziologen dankbar auf und richteten in ihren Disziplinen unzählige „neue Paradigmen“ ein, von denen die meisten heute noch die Funktion haben, den Erfolg im wissenschaftlichen Feld zu garantieren oder zu beschleunigen. Denn wer kann es sich schon leisten, ein von angesehenen Wissenschaftlern und ihren Weggefährten lautstark propagiertes „Paradigma“ schlicht zu ignorieren? Erst wenn sich die Paradigmengründungen häufen, regt sich der Verdacht, daß etwas nicht stimmt. Was stimmt in diesem Fall nicht? Die Übertragung eines Begriffs, der im naturwissenschaftlichen Bereich gewonnen wurde, in den Bereich der Kultur- und Sozialwissenschaften, wo er häufig als Synonym für „Ideologie“, „Theorie“, „Weltanschauung“, „Vorbild“ oder „Modell“ verwendet wird. Wenn sich fast alle an dieser Diskussion Betei- 1 Vgl. M. Masterman, „The Nature of a Paradigm“, in: I. Lakatos, A. Musgrave (Hrsg.), Criticism and the Growth of Knowledge, Cambridge, Univ. Press, 1970, S. 61-65. 2 Vgl. T. S. Kuhn, Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen, Frankfurt, Suhrkamp, 1976 (2. Aufl.), S. 30 und S. 133. <?page no="116"?> 102 ligten einig sind, daß Newtons Physik ein Paradigma im Sinne von Kuhn darstellt, dann können Shakespeares Dramen kein Paradigma in diesem Sinne sein 3 - und Astrid Lindgrens Pippi Langstrumpf auch nicht. 4 Es kann in dem Fall auch kein „Autonomieparadigma“ 5 im rechtswissenschaftlichen oder sozialwissenschaftlichen Sinne geben, weil „individuelle Autonomie“ als Ideologem integraler Bestandteil liberal-individualistischer und anderer Ideologien ist, die weder Paradigmen sind noch zu einem übergeordneten Paradigma gebündelt werden können. Denn wenn „Paradigma“ zu einem Synonym für „Modell“, „Vorbild“, „Urbild“ oder „Wesen“ wird - wie z.B. in Edgar Morins Buch Le Paradigme perdu: la nature humaine 6 -, dann verliert es die Aussagekraft, die ihm Kuhn trotz aller Polysemien, die er in Kauf nahm, gab. Im folgenden gilt es daher, die Anwendbarkeit des Paradigmabegriffs auf die Kultur- und Sozialwissenschaften grundsätzlich in Frage zu stellen und am Ende des Kapitels Alternativen vorzuschlagen. Daß eine solche Kritik von Humanwissenschaftlern, die terminologische Phantasie bevorzugen, nicht goutiert wird, ist verständlich. Der Kritiker hat jedoch keine captatio benevolentiae im Sinn, sondern eine Klärung der Terminologie. 3 Vgl. N. Gratzl, H. Leitgeb, „Was ist ein wissenschaftliches Paradigma? Zur Explikation des Paradigmabegriffes“, in: Forschungsmitteilungen des Spezialforschungsbereiches FO 12 der Universität Salzburg „Theorien und Paradigmenpluralismus in den Wissenschaften. Rivalität, Ausschluß oder Kooperation“, Ausgabe 23, Dezember 2001, S. 21. - Die meisten Teilnehmer an diesem Forschungsprojekt gehen von der These aus, daß der Paradigmabegriff in den Kultur- und Sozialwissenschaften anwendbar ist. Diese Hypothese kann durchaus fruchtbar sein, weil sie die Möglichkeiten und Grenzen der Anwendung erkennen läßt. Der Autor dankt den Salzburger Kollegen Justin Stagl und Paul Weingartner für wertvolle Hinweise und die Zusendung wichtiger Publikationen. 4 Vgl. A. Surmatz, Pippi Langstrump als Paradigma. Die deutsche Rezeption Astrid Lindgrens und ihr internationaler Kontext, Tübingen-Basel, Francke, 2003. 5 Vgl. J. Leyrer, E. Morscher, A. Siegetsleitner, „Der Datenschutz als Anwendungsbereich des Autonomieparadigmas“, in: Forschungsmitteilungen des SFB FO 12, op. cit., Ausgabe 26, Mai, 2002, S. 4. Die dort erwähnte „Anerkennung der Autonomie der Person“ ist Bestandteil der liberal-individualistischen Ideologie, die in die europäischen und amerikanischen Rechtssysteme Eingang fand, jedoch eindeutig kulturspezifisch ist. 6 Vgl. E. Morin, Le Paradigme perdu: la nature humaine, Paris, Seuil (1973), 1979. <?page no="117"?> 103 1. Paradigma: Versuch einer Begriffsbestimmung Es wäre sicherlich unerquicklich, alle von Masterman aufgezeigten Bedeutungen des Wortes „paradigm“ (griech. paradigma: Beispiel, Vorbild) in Kuhns Text aufzuzählen. Um das Schillern des beliebten Begriffs zu veranschaulichen, mag es genügen, einige zu nennen: „a universally recognized scientific achievement“, „a myth“, „a ‚philosophy‘ or constellation of questions“, „a textbook“, „a whole tradition“, „a successful metaphysical speculation“ usw. 7 Angesichts dieser Aufzählung mag sich die Frage nach der Brauchbarkeit des Begriffs oder gar nach Kuhns theoretischer Kompetenz stellen. Es erscheint deshalb ratsam, konstruktiv statt dekonstruktivistisch 8 vorzugehen und nach einer Definition Ausschau zu halten, die Kuhns Gesamtargumentation entspricht. Eine solche Vorgehensweise ist nicht nur fairer, sondern auch theoretisch ergiebiger. Repräsentativ scheint die folgende Definition zu sein: „Ein Paradigma ist das, was den Mitgliedern einer wissenschaftlichen Gemeinschaft gemeinsam ist, und umgekehrt besteht eine wissenschaftliche Gemeinschaft aus Menschen, die ein Paradigma teilen.“ 9 Diese tautologische Begriffsbestimmung wurde häufig beanstandet und von Kuhn später revidiert. 10 Problematisch ist jedoch nicht so sehr die Tautologie, sondern „das (...), was gemeinsam ist“. Was ist es genau? Spätere Definitionen Kuhns lassen erkennen, daß es die Sprache ist. In Die Entstehung des Neuen wird „Paradigma“ schon wesentlich konkreter als „Sondersprache“ aufgefaßt: „Ein Bindeglied zwischen den Mitgliedern jeder wissenschaftlichen Gemeinschaft und gleichzeitig ein Unterscheidungsmerkmal gegenüber den Mitgliedern anderer, 7 M. Masterman, „The Nature of a Paradigm“, in: I. Lakatos, A. Musgrave (Hrsg.), Criticism and the Growth of Knowledge, op. cit., S. 61-63. 8 Angesichts von so zahlreichen Sinnverschiebungen innerhalb von Kuhns Text stellt sich die dekonstruktivistische Frage, ob Wiederholung eines Wortzeichens nicht stets mit Sinnverschiebungen einhergeht. Vgl. Vf., Die Dekonstruktion. Einführung und Kritik, Tübingen-Basel, Francke, 2016 (2. e rw. Aufl.), S. 51-66 (zu Masterman und Kuhn: S. 62) sowie Kap. XIV in diesem Buch. 9 T. S. Kuhn, Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen, op. cit., S. 187. 10 Vgl. T. S. Kuhn, „Reflections on my Critics“, in: I. Lakatos, A. Musgrave (Hrsg.), Criticism and the Growth of Knowledge, op. cit., S. 276-277. <?page no="118"?> 104 scheinbar gleichartiger Gruppen ist der Besitz einer gemeinsamen (Sonder-)Sprache.“ 11 In dem hier konstruierten Kontext könnte man auch sagen: Ein Paradigma im Sinne von Kuhn ist ein Soziolekt. Diese Übersetzung ins Semiotische wäre fast überflüssig, wenn nicht sogleich der entscheidende Zusatz folgte: Es ist ein fachsprachlicher und kein ideologischer Soziolekt. Ideologisch oder metaphysisch sind die Soziolekte der Naturwissenschaftler im vorwissenschaftlichen Stadium einer Disziplin (vgl. G. Canguilhem in Kap. III, 3). Zur Entwicklung der Lichttheorie schreibt Kuhn: „Es gab vielmehr eine Anzahl miteinander streitender Schulen und Zweigschulen, von denen die meisten sich für die eine oder andere Variante der Epikureischen, Aristotelischen oder Platonischen Theorie einsetzten.“ 12 Er fügt hinzu: „Jede der entsprechenden Schulen leitete ihre Stärke von ihrer Beziehung zu einer bestimmten Metaphysik her (...).“ 13 In dieser Phase ihrer Entwicklung war die Optik, wie Kuhn sagt, „keine rechte Wissenschaft“. 14 Es handelt sich hier offenkundig um das vorwissenschaftliche bzw. vorparadigmatische Stadium oder Schema der physikalischen Optik, deren wissenschaftliche Entwicklung erst mit Newton einsetzte. „Es ist jedoch nicht das Entwicklungsschema, das die physikalische Optik nach Newton übernahm und das wir heute von anderen Naturwissenschaften kennen.“ 15 Diese Argumente weisen eine frappierende Ähnlichkeit mit den Argumenten Canguilhems auf. Es sei daran erinnert, daß Canguilhem das ideologische Vorstadium einer Naturwissenschaft als „wissenschaftliche Ideologie“ auffaßt, die auf ganz andere Probleme ausgerichtet ist als die Wissenschaft, die sie später ersetzt. Man könnte in diesem Zusammenhang mit George Kouvalis von einer „vorparadigmatischen Phase“ sprechen, die von „starken Meinungsverschiedenheiten über Grundfragen der Theorie“ 16 geprägt ist. Die neue, wissen- 11 T. S. Kuhn, Die Entstehung des Neuen. Studien zur Struktur der Wissenschaftsgeschichte, Frankfurt, Suhrkamp (1977), 1978, S. 44. 12 T. S. Kuhn, Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen, op. cit., S. 27. 13 Ibid., S. 27-28. 14 Ibid., S. 28. 15 Ibid. 16 G. Kouvalis, The Philosophy of Science. Science and Objectivity, London, Sage (1997), 1999, S. 92. <?page no="119"?> 105 schaftliche Problemkonstellation, wie sie von Canguilhem beschrieben wird, entspricht dem, was Kuhn als Paradigma bezeichnet. Im Anschluß an diese Betrachtungen könnte der Paradigmabegriff in Übereinstimmung mit den Grundintentionen von Kuhns Werk wie folgt definiert werden: Ein interkulturell anerkannter und ideologiefreier fachsprachlicher Soziolekt, der intersubjektiv und experimentell testbare und anwendbare Lösungen innerhalb einer universellen Wissenschaftlergemeinschaft ermöglicht. Anders gesagt: Es ist ein Soziolekt, der in bestimmten Entwicklungsphasen einer Naturwissenschaft (oder einer Wissenschaft wie der Informatik) von allen Vertretern dieser Wissenschaft auf der ganzen Welt gesprochen, verstanden und von keiner Wissenschaftlergruppe als pseudowissenschaftlich oder ideologisch abgelehnt wird. (Die Allgemeingültigkeit des Soziolekts sollte aber auf keinen Fall mit „Konfliktfreiheit“ oder „Harmonie“ verwechselt werden.) Es ist aufschlußreich zu beobachten, daß der hier betonte Universalcharakter des fachsprachlichen Soziolekts von Albert Einstein im Zusammenhang mit Newtons Physik bestätigt wird. Von ihr sagt er: „(...) Sie bildete bis zum Ende des 19. Jhs. Das Programm jeglichen theoretisch-physikalischen Forschens. Alles physikalische Geschehen sollte zurückgeführt werden auf Massen, die Newtons Bewegungsgesetzen unterworfen sind.“ 17 Diesen Universalcharakter bestätigt auch Barry Barnes, wenn er von der „universal acceptance throughout a scientific field“ 18 spricht. Die auf einem Paradigma gründende Normalwissenschaft (normal science, Kuhn) setzt den hier beschriebenen sprachlichen Universalismus voraus. Denn die Normalwissenschaft ist relativ homogen und hält sich, wie Kuhn sagt, „die Philosophie vom Leibe“ 19 , d.h. auch alle ideologischen Interferenzen. Wichtig ist, daß auch die Anomalien, die wissenschaftliche Revolutionen (als Paradigmenwechsel) auslösen, als solche im Rahmen des allgemeingültigen Paradigmas erkannt werden: „Eine Anomalie stellt 17 A. Einstein, Mein Weltbild, Frankfurt, Ullstein, 1970, S. 154. (Zitiert nach: N. Gratzl, A. Leitgeb, Was ist ein wissenschaftliches Paradigma? “, in: Forschungsmitteilungen, SFB, FO 12, op. cit., S. 40.) 18 B. Barnes, T. S. Kuhn and Social Science, New York, Columbia Univ. Press, 1982, S. 17. 19 T. S. Kuhn, Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen, op. cit., S. 101. <?page no="120"?> 106 sich nur vor dem durch das Paradigma gelieferten Hintergrund ein.“ 20 Dies bedeutet, daß es ohne den paradigmatischen Universaljargon auch keine feststellbaren Anomalien und Revolutionen geben könnte. Im Anschluß an diese Überlegungen kann nun behauptet werden, daß jedes Paradigma zwar ein Soziolekt (eine „Sondersprache“, Kuhn), nicht aber jeder Soziolekt ein Paradigma ist. „Soziolekt“ ist der allgemeinere Begriff. Eine nationalistische, liberale oder konservative Ideologie ist durchaus als Soziolekt zu verstehen, nicht jedoch als Paradigma: denn sie wird nur von ihren Anhängern gesprochen und verstanden und von allen anderen abgelehnt oder ignoriert. Sie ist partikular und in Extremfällen auf eine Gruppe von Gläubigen oder Fanatikern eingeschränkt. Solche Extremfälle kommen zwar in den Kultur- und Sozialwissenschaften selten vor; aber die theoretischen Soziolekte (Sondersprachen), welche die Substanz dieser Wissenschaften bilden, sind insofern kulturell und ideologisch bedingt, d.h. nicht „paradigmenfähig“, als sie nie universelle Geltung erlangen. Die Sprache der Luhmannschen Systemtheorie wird im deutschen Sprachraum von vielen Sozialwissenschaftlern gesprochen, von noch mehr Menschen (teilweise) verstanden und oft abgelehnt. In den englischsprachigen und romanischen Ländern wird sie viel seltener gesprochen - und noch seltener verstanden. Ein Vergleich mit der weltweit anerkannten Quantenmechanik oder der Kristallographie verdeutlicht die Partikularität dieses soziologischen Soziolekts. Die zahlreichen Bemühungen, Kuhns Paradigmabegriff im Bereich der Kultur- und Sozialwissenschaften anzuwenden, versteht man noch am ehesten, wenn man sich Definitionen und Anwendungsversuche aus diesem Bereich vornimmt. Es wird sich zeigen, daß vor allem die Definitionen wesentliche Elemente der hier (im Anschluß an Kuhn) vorgeschlagenen Begriffsbestimmung auslassen. 2. Zur Anwendbarkeit des Paradigmabegriffs in den Kultur- und Sozialwissenschaften Zur vielfältigen Anwendung des Paradigmabegriffs in den Kultur- und Sozialwissenschaften kam es, wie eingangs bereits angedeutet, aufgrund einiger Hinweise in Die Struktur wissenschaftlicher Revolutio- 20 Ibid., S. 77. <?page no="121"?> 107 nen und Die Entstehung des Neuen. Im letztgenannten Buch spricht Kuhn von paradigmatischen Konsensbildungen in der Optik am Ende des 17. Jahrhunderts, in der Chemie im 18. Jahrhundert und in „Teilen der Biologie (...) nach dem ersten Drittel des 19. Jahrhunderts“. 21 Er fügt hinzu: „Das jetzige Jahrhundert scheint durch einen ersten Konsens in Teilen einiger Sozialwissenschaften gekennzeichnet zu sein.“ 22 Es gibt - außer einigen direkten Hinweisen auf die Sozialwissenschaften - noch einen zweiten Grund, weshalb sich Kultur- und Sozialwissenschaftler ermutigt fühlten, den Paradigmabegriff für ihre Disziplinen fruchtbar zu machen. Kuhn weist zu Recht darauf hin, daß die Naturwissenschaften nicht so monolithisch sind, wie es einige seiner Darstellungen von Paradigmen und Normalwissenschaften vermuten lassen könnten. Zunächst erscheint es möglich, ein und dasselbe Paradigma unterschiedlich aufzufassen: „Kurz gesagt, obwohl die Quantenmechanik (...) für viele wissenschaftliche Gruppen ein Paradigma ist, ist sie doch nicht für alle dasselbe Paradigma.“ 23 Das heißt aber, daß das Paradigma, das Bedeutungen konstituieren soll, auf Metaebene selbst gedeutet werden kann. Diese Metaebene bleibt bei Kuhn undefiniert. In den Naturwissenschaften kann es jedoch in revolutionären Stadien auch zu einer Koexistenz rivalisierender Paradigmen kommen: etwa des Newtonschen mit dem Einsteinschen Paradigma in der Physik. 24 Diese Neigung zum Paradigmenpluralismus verstärken andere Aussagen Kuhns: „Die bloße Existenz der Wissenschaft hängt davon ab, daß die Vollmacht, zwischen Paradigmata zu wählen, den Mitgliedern einer besonderen Gemeinschaft übertragen ist.“ 25 Kuhn scheint sich zu widersprechen, wenn er anderenorts behauptet: „Hierbei geht die Entwicklung von einem Konsens zum nächsten, und gewöhnlich gibt es keinen Wettstreit zwischen verschiedenen Ansätzen.“ 26 Sollte dies der Fall sein, könnte der „Normalwissenschaftler“ nicht zwischen rivalisierenden Paradigmen wählen. Eine Wahl in diesem Sinne hätten Wissenschaftler nur im revolutionären Stadium, wenn ein normalwissenschaftlicher Konsens aufgrund von sich häu- 21 T. S. Kuhn, Die Entstehung des Neuen, op. cit., S. 315. 22 Ibid. 23 T. S. Kuhn, Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen, op. cit., S. 64. 24 Ibid., S. 111. 25 Ibid., S. 179. 26 T. S. Kuhn, Die Entstehung des Neuen, op. cit. S. 316. <?page no="122"?> 108 fenden Anomalien zerfällt und ein neues, konkurrierendes Paradigma konkrete Konturen annimmt. Von diesem Stadium sagt Kuhn, es komme in der wissenschaftlichen Tradition „verhältnismäßig selten“ 27 vor. Mag sein, daß Kultur- und Sozialwissenschaftler die zuletzt zitierten Textstellen übersahen oder unterbewerteten, als sie beschlossen, sich Kuhns Begriff anzueignen. Fest steht, daß sie sich mehrheitlich auf den „Paradigmenpluralismus“ und die „Koexistenz rivalisierender Paradigmen“ festlegten und dabei die Aussagen Kuhns privilegierten, die die Anwendung dieses Begriffs auf ihre Disziplinen zu rechtfertigen schienen. Kurt Bayertz erklärt es so: „Obwohl auch die Darstellung Kuhns ganz auf die Naturwissenschaften zugeschnitten ist, scheint sie dennoch weit eher auf die Sozial- und Kulturwissenschaften übertragbar zu sein, weil sie nicht so eng an der formalen Logik und an einer Unterscheidung zwischen Wissenschaft und Philosophie (‚Metaphysik‘) orientiert ist, einer Unterscheidung, die in diesen Disziplinen faktisch kaum durchgeführt werden kann.“ 28 Der Vergleich von Kuhns und Canguilhems wissenschaftsgeschichtlichen Ansätzen hat allerdings erkennen lassen, daß Kuhn - ebenso wie der französische Theoretiker - vorwissenschaftliche („metaphysische“) und wissenschaftliche Entwicklungsstadien unterscheidet. Das eigentliche Problem, das der zeitgenössischen Anwendung des Paradigmabegriffs auf die Kultur- und Sozialwissenschaften zugrunde liegt, ist auf die weiterhin problematischen Definitionen dieses Begriffs zurückzuführen. Gerhard Schurz ist zweifellos beizupflichten, wenn er sich gegen eine Identifizierung von „Paradigma“ und „Weltanschauung“ wendet. 29 Die von ihm vorgeschlagene Definition - „Paradigma als kognitives System“ - ist wesentlich konkreter, zumal er vier Komponenten unterscheidet: die theoretische Komponente (Theoriekern, Gesetzeshypothesen, Modellvorstellungen); die empiri- 27 Ibid., S. 310. 28 K. Bayertz, Wissenschaftstheorie und Paradigmabegriff, Stuttgart, Metzler, 1981, S. 16-17. 29 G. Schurz, „Koexistenzweisen rivalisierender Paradigmen. Eine begriffsklärende und problemtypologisierende Studie“, in: G. Schurz, P. Weingartner (Hrsg.), Koexistenz rivalisierender Paradigmen. Eine post-kuhnsche Bestandsaufnahme zur Struktur gegenwärtiger Wissenschaft, Opladen-Wiesbaden, Westdeutscher Verlag, 1998, S. 9. <?page no="123"?> 109 sche Komponente (Musterbeispiele); die methodologische Komponente (Regeln und Devisen, Epistemologie bzw. erkenntnistheoretische Annahmen, normative Annahmen) und schließlich die programmatische Komponente (Forschungsprogramm). 30 Vergleicht man diese recht komplexe Definition mit der hier vorgeschlagenen Begriffsbestimmung, so fällt auf, daß bei Schurz die interkulturell geltende, ideologiefreie Sprache (als fachsprachlicher Soziolekt) fehlt. Dadurch wird es möglich, den Paradigmabegriff nicht nur auf Newtons Physik, die behavioristische Lerntheorie und Darwins Evolutionstheorie anzuwenden, sondern auch auf Freuds Psychoanalyse. 31 Nun ist aber die Sprache der Psychoanalyse - im Gegensatz zu der einer Naturwissenschaft wie der Physik - weder interkulturell gültig noch ideologiefrei. 32 Noch zu Freuds Lebzeiten entstanden zwei psychoanalytische Soziolekte, die vor allem auf der Ebene der Aktantenmodelle vom Soziolekt der Freudianer wesentlich abwichen: die Psychoanalysen Carl Gustav Jungs und Wilhelm Reichs. Einer der entscheidenden Unterschiede zwischen den drei Modellen besteht - etwas verkürzt ausgedrückt - darin, daß Jung und Reich in völlig verschiedenen Kontexten kollektive Aktanten (das kollektive Unbewußte, Jung; die Klasse im Sinne des Marxismus, Reich) einführten, die Freud und seine Getreuen nicht akzeptieren konnten. Mit anderen Worten: Freuds Psychoanalyse ist ein ideologischtheoretischer Soziolekt, der aus der Krise des mitteleuropäischen Wertsystems hervorgeht (parallel zu den Werken Svevos, Musils, Schnitzlers und Brochs) 33 und kein Paradigma im Sinne der Newtonschen Physik. Könnte man von der Psychoanalyse, Einstein paraphrasierend, behaupten, daß sie „das Programm jeglichen theoretisch-psychologischen Forschens“ bildete? Eine solche Aussage wird durch die Existenz von Wilhelm Wundts Psychologie widerlegt. Es ist außerdem unmöglich, die von Jung und Reich begründeten Soziolekte in dieses Programm einzufügen, zumal sich Reichs theoretischer Dis- 30 Ibid., S. 10-11. 31 Ibid., S. 13. 32 Vgl. dazu aus feministischer Sicht: J. Mitchell, Psychoanalyse und Feminismus. Freud, Reich, Laing und die Frauenbewegung, Frankfurt, Suhrkamp, 1976. 33 Vgl. Vf., Roman und Ideologie. Zur Sozialgeschichte des modernen Romans, München, Fink (1986) 1999, Kap. IV und V. <?page no="124"?> 110 kurs - vor allem auf narrativer Ebene - zeitweise dem marxistischen unterordnete. 34 Gratzl und Leitgeb liefern ihre ursprünglich recht präzise Begriffsbestimmung vollends der Unbestimmtheit aus, wenn sie als Beispiel für „Paradigma im allgemeinsten Sinne“ 35 Shakespeares Dramen anführen: „Shakespeares Dramen sind ein Paradigma i. a. S. für (die Erstellung von) Dramen relativ zu einer bestimmten Gruppe von Dramatikern im 18. Jh. (...).“ 36 Diese Aussage mag für England und Deutschland gelten; sie gilt sicherlich nicht für Frankreich, wo trotz aller Neuerungen (etwa Voltaires) der Klassizismus des 17. Jahrhunderts nachwirkt. 37 Daher ist auch die Behauptung fragwürdig, die die Autoren dem zitierten Satz folgen lassen: „Die Gruppe von Dramatikern ist eine menschliche Gemeinschaft im 18. Jh.“ 38 Soziologisch und interkulturell betrachtet ist es sicherlich keine Gemeinschaft, weil sich die spanischen und französischen Dramatiker des 18. Jahrhunderts von den englischen und deutschen radikal unterscheiden. Mit Newtons Physik ist dieses „Paradigma“ sicherlich nicht zu vergleichen: Seiner Sprache fehlt die interkulturelle und transideologische Verallgemeinerungsfähigkeit. Die tschechischen Strukturalisten würden in diesem Fall genauer und realitätsnäher von einer „ästhetischen Norm“ 39 sprechen. In diesem Zusammenhang kritisiert Kurt Bayertz ganz zu Recht die überaus großzügige Handhabung des Paradigmabegriffs durch einige Literaturwissenschaftler, die Musterbeispiele der Interpretation (Diltheys Goethe-Interpretation, Engels’ Balzac-Kommentar) zu Paradigmen erheben: „Bei einer solchen Interpretation wird allerdings die entscheidende Funktion, die dem Paradigma nach Kuhns Auffassung 34 Vgl. Y. Buin, L’Œuvre européenne de Reich, Paris, Editions Universitaires, 1972, S. 95-98 sowie: C. Castilla del Pino, Psicoanálisis y Marxismo, Madrid, Alianza Editorial (1969), 1981, Kap. II C: „La axiología comparada de Marx y Freud“. 35 N. Gratzl, H. Leitgeb, „Was ist ein wissenschaftliches Paradigma? “, in: Forschungsmitteilungen, SFB FO 12, op. cit., S. 20. 36 Ibid., S. 21. 37 Vgl. Ph. Van Tieghem, Les Grandes doctrines littéraires en France, Paris, PUF, 1968, S. 124, wo von einer „fidélité de Voltaire à Racine“ die Rede ist. 38 N. Gratzl, H. Leitgeb, „Was ist ein wissenschaftliches Paradigma? “, in: Forschungsmitteilungen, SFB, FO 12, op. cit., S. 21. 39 Vgl. J. Mukařovský, „Probleme der ästhetischen Norm“, in: P. V. Zima (Hrsg.), Textsemiotik als Ideologiekritik, Frankfurt, Suhrkamp, 1977, S. 174. <?page no="125"?> 111 in den reifen Naturwissenschaften zukommt, unterschlagen: es ist die Funktion der Vereinheitlichung der auf einem bestimmten Forschungsgebiet tätigen Wissenschaftler.“ 40 Vorsichtshalber sollte man hinzufügen, daß diese Vereinheitlichung nur durch einen verallgemeinerungsfähigen Sprachgebrauch zu erreichen ist: durch einen Ideologie- und Kulturgrenzen überschreitenden Soziolekt. Die hier vorgebrachte Hypothese, daß in den Kultur- und Sozialwissenschaften kulturelle Bedingtheit und ideologische Interferenz eine Paradigmenbildung im Sinne der Physik oder der Kristallographie verhindern, wird auch durch den Aufsatz „Rivalisierende Paradigmen im Fach Geographie“ von Gerhart Arnreiter und Peter Weichhart bestätigt. Gerhard Schurz kündigt diesen Aufsatz mit der Bemerkung an: „Um 1969 gab es in der deutschsprachigen Geographie eine Wende (...).“ 41 Diese Wende hatte eine Ablösung der Landschaftsgeographie durch eine raumanalytische Geographie zur Folge. Schon der Ausdruck „deutschsprachige Geographie“ macht stutzig: Gibt es auch eine deutschsprachige Physik oder Informatik? Bedienen sich diese beiden Normalwissenschaften nicht eines längst in allen Kulturen akzeptierten englischen Universaljargons? Der Aufsatz von Arnreiter und Weichhart läßt die ideologischen Interferenzen im Fach Geographie erkennen - und zwar vor allem auf humangeographischer Ebene: Von der qualitativen und verhaltenswissenschaftlichen Wende verläuft die Entwicklung zur humanistischen Wende und von dieser zur marxistischen und feministischen Wende. 42 Daß es hier nicht um Paradigmenwechsel im Sinne von Kuhn geht, d.h. um Revolutionen, die durch interkulturell und intersubjektiv erkannte Anomalien ausgelöst werden, muß nicht eigens hervorgehoben werden. Wir haben es hier vielmehr mit ideologischen Auseinandersetzungen zu tun, die von Wissenschaftlergruppen auf institutioneller Ebene ausgetragen werden. Dies geschieht im Rahmen einer kulturellen und sozio-linguistischen Problematik, in der bestimmte Gruppen danach streben, ihren Interessen und ihrem Soziolekt zu institutioneller Dominanz zu 40 K. Bayertz, Wissenschaftstheorie und Paradigmabegriff, op. cit., S. 110. 41 G. Schurz, „Koexistenz rivalisierender Paradigmen“, in: G. Schurz, P. Weingartner (Hrsg.), Koexistenz rivalisierender Paradigmen, op. cit., S. 42. 42 G. Arnreiter, P. Weichhart, „Rivalisierende Paradigmen im Fach Geographie“, in: G. Schurz, P. Weingartner (Hrsg.), Koexistenz rivalisierender Paradigmen, op. cit., S. 57-71. <?page no="126"?> 112 verhelfen. Ist ihre Strategie erfolgreich, so mag eine Zeitlang der Eindruck eines Paradigmenwechsels vorherrschen; in Wirklichkeit ist es jedoch einer Gruppe gelungen, mit ihrem ideologisch-theoretischen Soziolekt ins Zentrum der Problematik vorzurücken und die anderen Soziolekte zeitweise an die Peripherie abzudrängen. Daß diese Strategie und ihre Ergebnisse auf eine kulturelle oder sozio-linguistische Problematik beschränkt bleiben, läßt die folgende Darstellung von Gerhard Arnreiter und Peter Weichhart erkennen, in der betont wird, „daß praktisch zur gleichen Zeit, zu der in der deutschsprachigen Geographie der Paradigmenwechsel vom Landschaftskonzept und der idiographischen Länderkunde zur positivistisch orientierten Raumtheorie stattfand, im englischen Sprachraum mindestens drei voll entwickelte Paradigmengruppen nebeneinander koexistierten und miteinander konkurrierten“. 43 Wichtig ist ferner, daß die Autoren kein normalwissenschaftliches Stadium in der Entwicklung der neueren deutschen Geographie ausmachen können, denn sie bemerken: „Eine eigentliche ‚normalwissenschaftliche Phase‘ im Sinne Kuhns, in der die Optionen des Paradigmas in der empirischen Forschungspraxis hätten umgesetzt werden können, konnte somit im deutschen Sprachraum gar nicht stattfinden.“ 44 In diesem Sprachraum konkurrierten schließlich Vertreter der „Landschaftsgeographie“ mit Vertretern „verhaltenswissenschaftlicher“, „emanzipatorischer“ und anderer „Paradigmen“. 45 Was die Autoren uns nicht mitteilen, ist die Tatsache, daß in diesem Fall von einem Paradigma als stabiler Normalwissenschaft, d.h. als interkulturell und universell akzeptierter „Sondersprache“ im Sinne von Kuhn und Einstein, nicht die Rede sein kann. Dafür teilen sie uns - malgré eux - mit, daß es auch in der (Human-)Geographie keine Paradigmen, sondern nur rivalisierende ideologisch-theoretische Soziolekte gibt, deren Konstellation von der gesamtkulturellen Problematik geprägt wird. Freilich kann es, wie schon angedeutet, geschehen, daß sich in einer Sozialwissenschaft zeitweise ein theoretischer Soziolekt durchsetzt, dessen Hegemonie der Bildung eines Paradigmas zum Verwechseln ähnlich sieht. So kann der Ethnologe Justin Stagl von „Mali- 43 Ibid., S. 64. 44 Ibid. 45 Ibid., S. 65. <?page no="127"?> 113 nowskis Paradigma“ in der Ethnologie oder sozialen Anthropologie sprechen: „In der Zeit vom Ende des Erstes Weltkrieges bis zur ‚Entkolonialisierung‘ (ca. 1920 - ca. 1960), die wegen der Fülle und Qualität des gesammelten Materials als die ‚klassische Phase‘ (...) der Ethnologie gelten kann, hat diese Kombination aus holistischer Feldforschung und modellbildender Theorie die Ethnologie beherrscht. Ich nenne sie im folgenden Malinowskis Paradigma.“ 46 Am Ende des Artikels stellt sich allerdings heraus, daß dieses Paradigma zugleich (oder eigentlich? ) eine Ideologie war: „Der heroische Szientismus des Malinowskischen Paradigmas, wie immer ihm auch einzelne Ethnographen nachgestrebt haben, für die Ethnologenzunft erfüllte er die Funktion einer Ideologie, die ihr den Ausbau ihrer Stellung in der akademischen Welt ermöglichte.“ 47 Das Schlüsselwort hier ist : „Szientismus“. In der Physik, der Kristallographie oder der Chemie kann es keinen Szientismus geben, sondern nur Wissenschaft und Nichtwissenschaft. Der Szientismus ist mit dem vergleichbar, was Canguilhem als „wissenschaftliche Ideologie“ bezeichnet, als „Vorwissenschaft“, die nach Wissenschaftlichkeit strebt oder exakte Wissenschaftlichkeit vortäuscht, um sich im wissenschaftlichen Feld durchzusetzen. Robert C. Bannister zeigt in seinem Buch Sociology and Scientism, welche Rolle diese von Positivismus und Darwinismus zehrende szientistische Ideologie im Bemühen der „founding fathers“ der nordamerikanischen Soziologie spielte, die Forschung auf Tatsachen („hard facts“) auszurichten. 48 Wenn nun S. N. Eisenstadt und M. Curelaru im Anschluß an Kuhn versuchen, in der Soziologie teils komplementäre, teils rivalisierende Paradigmen darzustellen, so beschreiben sie in Wirklichkeit ideologisch-theoretische Komplexe. Die „individualistic“, „sociologistic“, „cultural or culturalistic“ und „environmental paradigms“, die sie in 46 J. Stagl, „Malinowskis Paradigma“, in: W. Schmied-Kowarzik, J. Stagl (Hrsg.), Grundfragen der Ethnologie. Beiträge zur gegenwärtigen Theorie-Diskussion, Berlin, Dietrich Reimer Verlag, 1993, S. 97. Vgl. auch Stagls schöne Studie A History of Curiosity. The Theory of Travel 1550-1800, Chur, Harwood Academic Publishers, 1995, S. 233-242: zum interkulturellen Kontext der Bezeichnungen „Anthropologie“ und „Ethnologie“. 47 Ibid., S. 103. 48 Vgl. R. C. Bannister, Sociology and Scientism. The American Quest for Objectivity, 1880-1940, Chapel Hill-London, The University of North Carolina Press, 1987, Kap. VII: „The Authority of Fact“. <?page no="128"?> 114 Anlehnung an Pitirim Sorokin unterscheiden, sind alles andere als allgemein akzeptierte Universalsprachen. 49 Es kommt hinzu, daß der ideologische Impuls in Eisenstadts und Curelarus eigenem Diskurs spätestens dann zutage tritt, wenn sie das Marxsche Modell zu den geschlossenen Systemen zählen und die Entwicklung der Soziologie auf narrativer Ebene als einen Öffnungsprozeß konstruieren, in dem Max Webers Ansatz als Katalysator fungiert: „The greatest ‚opener‘ of the closed system approach, of course, was Weber.“ 50 Das unscheinbare „of course“ zeugt von einem ideologischen Monolog, der Ernst Blochs Auffassung der Marxschen Dialektik als einer revolutionären Öffnung von Hegels System überhaupt nicht Rechnung trägt. 51 Das Ergebnis dieser Überlegungen kann in wenigen Worten zusammengefaßt werden: In den Kultur- und Sozialwissenschaften haben wir es nicht mit Paradigmen im Sinne von Kuhn (d.h. mit Universalsprachen), sondern mit stets partikularen ideologisch-theoretischen Soziolekten zu tun. Dies bedeutet keineswegs, daß diese Wissenschaften vorparadigmatisch oder pseudowissenschaftlich sind. Es bedeutet, daß sie nichtparadigmatisch sind, weil sie, wie sich im zweiten Kapitel gezeigt hat, von den sie motivierenden Ideologien (im allgemeinen Sinne) leben. Naturwissenschaftliche Paradigmen hingegen sind wertfreie, verallgemeinerungsfähige Fachsprachen, deren Termini (Atom, Molekül, Protein, Gen) zwar durchaus aus sozialen Rationalisierungsprozessen hervorgehen (vgl. Kap. I), jedoch nicht auf Ideologeme reduzierbar sind. Die „deutsche Physik“ der Nationalsozialisten war eine Schimäre, und es wird daher auch keine marxistische oder feministische Physik geben. 52 49 Vgl. S. N. Eisenstadt, M. Curelaru, The Form of Sociology - Paradigms and Crises, New York-London, John Wiley and Sons, 1976, S. 85. 50 Ibid., S. 103. 51 Vgl. E. Bloch, „Hegel und die Gewalt des Systems“, in: ders., Über Methode und System bei Hegel, Frankfurt, Suhrkamp, 1975 (2. Aufl.), S. 83. 52 Dies bedeutet natürlich nicht, daß Physiker keine ökologischen, feministischen oder „egalitären“ Überlegungen zur Funktion oder Didaktik der Physik anstellen können. Aber dies hat nichts mit ihren wissenschaftlichen Diskursen oder Terminologien zu tun. <?page no="129"?> 115 3. Paradigmen, sozio-linguistische Situationen und Soziolekte Wenn Wolfgang Stegmüller meint, daß es möglich sein sollte, die von Kuhn postulierte Inkommensurabilität der Paradigmen 53 durch eine formale Reduktion der schwächeren auf die aussagekräftigere Theorie zu überwinden, so läßt er lediglich erkennen, daß der Bezugspunkt der gesamten Paradigmadiskussion die Naturwissenschaften sind. Bekanntlich geht es ihm u.a. darum, Kuhns Paradigmentheorie mit einer kumulativ-rationalen Auffassung der Wissenschaftsentwicklung zu versöhnen: „Wenn nämlich eine verdrängende Theorie ‚alle Leistungen der verdrängten Theorie übernimmt‘ und darüber hinaus weitere erbringt, so kann man trotz der ‚Unvergleichbarkeit‘ der beiden Theorien (lies: der Verschiedenartigkeit der Strukturkerne) von einer Akkumulation des Wissens über die revolutionären Phasen hinweg sprechen.“ 54 Dieser Gedanke, „daß die verdrängte Theorie auf die Ersatztheorie reduzierbar ist“ 55 , ist zweifellos plausibel, solange es - wie in den Naturwissenschaften oder der Informatik - eine Ebene ideologiefreier Intersubjektivität gibt, auf der „Leistung“ im Hinblick auf einen Konsens (der anfänglichen Dissens nicht ausschließt) beurteilt werden kann. Im zweiten Kapitel hat sich gezeigt, daß es in den Kultur- und Sozialwissenschaften eine solche Ebene nicht gibt, weil sich hier ideologisch-theoretische Subjektivität im Diskurs und im Soziolekt artikuliert, so daß eine ideologiefreie Intersubjektivität nicht möglich ist. Hier gilt, was Kuhn von der interparadigmatischen Kommunikation sagt: „Jede Gruppe verwendet ihr eigenes Paradigma zur Verteidigung eben dieses Paradigmas.“ 56 Wollte man die Kommunikation in den Humanwissenschaften knapp darstellen, könnte man in diesem Satz das Wort „Paradigma“ durch das Wort „Soziolekt“ ersetzen. Dies ist ansonsten nicht möglich, weil „Soziolekt“ - wie sich gezeigt hat - der allgemeinere Begriff ist, der auch ideologische sowie ideologisch-theoretische Sprachen umfaßt. Im Gegensatz zu naturwis- 53 Vgl. T. S. Kuhn, Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen, op. cit., S. 106. 54 W. Stegmüller, Probleme und Resultate der Wissenschaftstheorie und Analytischen Philosophie, Bd. II, Theorie und Erfahrung, Zweiter Teilband, Theoriestrukturen und Theoriedynamik (2. Aufl.), Berlin-Heidelberg-New York, Springer, 1985, S. 291. 55 Ibid., S. 284. 56 T. S. Kuhn, Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen, op. cit., S. 106. <?page no="130"?> 116 senschaftlichen Paradigmen, die zumindest prinzipiell auf komplexere und leistungsstärkere Paradigmen reduziert werden können, sind sozialwissenschaftliche Soziolekte nicht reduzierbar, weil ein ideologisches Engagement nicht auf ein anderes zurückzuführen ist. So kann im sozialwissenschaftlichen Bereich eine feministische Theorie nicht auf eine kritisch-rationalistische oder eine marxistische reduziert werden, weil sie in dem Fall aufhört, eine feministische Theorie zu sein. (Daß es zahlreiche Möglichkeiten gibt, Theorien zu kombinieren, ist bekannt: vgl. Teil III.) Da Intersubjektivität in den Humanwissenschaften problematisch ist, weil die Sprecher eines Soziolekts die Kriterien ihrer Gruppensprache anwenden, um andere Soziolekte und ihre eigenen Diskurse zu beurteilen, ist es auch nicht ohne weiteres möglich, die Leistung einer Theorie oder eines „Paradigmas“ wertfrei und für alle verbindlich zu beurteilen. Während Luhmann und seine Schüler meinen, ein theoretisches System entwickelt zu haben, das aussagekräftiger und leistungsstärker ist als das Max Webers, erklärt Rainer Greshoff am Ende einer luziden und detaillierten Untersuchung, „daß das, was mit Luhmanns Konzepten zu erfassen ist, auch mit Webers Konzepten erfaßt werden kann - und mehr“. 57 Daß die Anhänger Luhmanns hier Dissens anmelden würden, braucht kaum erwähnt zu werden. Dieser Dissens hängt damit zusammen, daß Kultur- und Sozialwissenschaften äußerst selten (vgl. Stagl zu Malinowski) von nur einem Soziolekt beherrscht werden. Dies ist der Grund, weshalb eine Wissenschaft wie die Soziologie, die Anthropologie oder die Semiotik weder als Paradigma noch als Soziolekt, sondern nur als ein Zusammenwirken rivalisierender Soziolekte zu beschreiben ist: als ein Ausschnitt oder Modell der jeweiligen sozio-linguistischen Situation. Arnreiters und Weicherts Darstellung der Geographie läuft, wie sich gezeigt hat, auf eine Beschreibung rivalisierender Soziolekte und sich wandelnder sozio-linguistischer Situationen hinaus. Daß diese Situationen zugleich Problematiken im Sinne des ersten Kapitels sind, wird bei dem Romanisten Hans Robert Jauß deutlich, der meint, daß ein Paradigmenwechsel in der Literaturwissenschaft 57 R. Greshoff, Die theoretischen Konzeptionen des Sozialen von Max Weber und Niklas Luhmann im Vergleich, Opladen-Wiesbaden, Westdeutscher Verlag, 1999, S. 313. <?page no="131"?> 117 dann fällig ist, „wenn ein Paradigma mit seiner methodischen Axiomatik nicht mehr das zu leisten vermag, was von der Literaturwissenschaft stets zu fordern ist“. 58 Was aber fordert Jauß von dieser Disziplin? Eine Abkehr von der werkimmanenten Interpretation und vom produktionsorientierten Marxismus sowie eine Hinwendung zur Leserschaft und zur historischen Rezeption. An der theoretischen Bedeutung der Leserinstanz für die Literaturgeschichte ist nicht zu zweifeln. Ebenso wichtig ist aber die ideologische Bedeutung der deutschen Rezeptionsästhetik um 1968 und in den 70er Jahren: Sie sollte im literaturwissenschaftlichen Feld durch Rückgriff auf die autochtone hermeneutische Tradition ein Gegengewicht zum Marxismus und zur Kritischen Theorie schaffen. Auch ihre Vertreter erkannten in Kuhns „Paradigma“ eine willkommene ideologische Tarnung und eine erfolgversprechende institutionelle Strategie. 59 58 H. R. Jauß, „Paradigmawechsel in der Literaturwissenschaft“, in: Linguistische Berichte 3, 1969, S. 54. 59 Vgl. Vf., „‚Rezeption‘ und ‚Produktion‘ als ideologische Begriffe“, in: ders., Kritik der Literatursoziologie, Frankfurt, Suhrkamp, 1978, S. 88-89. <?page no="133"?> 119 Zweiter Teil Die Einheit der Gegensätze: Prolegomena zu einer Dialogischen Theorie Daß sich die Extreme berühren, ist eine alte Lebensweisheit, die in der Philosophie systematisch erforscht wurde und in Hegels Dialektik zur wichtigsten Triebfeder der Erkenntnis aufrückte. Die hier aufgeworfene Frage, welchen Erkenntniswert die Vereinigung der Extreme, der gegensätzlichen Erkenntnispositionen hat, geht zwar von Hegels grundsätzlicher Überlegung aus, „daß das sich Widersprechende sich nicht in Null, in das abstrakte Nichts auflöst“ 1 ; die vorgeschlagenen Lösungen meiden aber die synthetisierende Bewegung der Hegelschen Dialektik, die ebenfalls in der Wissenschaft der Logik zum Ausdruck kommt, wenn Hegel von der bestimmten Negation sagt: „Sie ist ein neuer Begriff, aber der höhere, reichere Begriff als der vorhergehende; denn sie ist um dessen Negation oder Entgegengesetztes reicher geworden, enthält ihn also, aber auch mehr als ihn, und ist die Einheit seiner und seines Entgegengesetzten.“ 2 Eine solche Einheit, die Hegels „System der Begriffe“ 3 zugrunde liegt, wurde schon im 19. Jahrhundert von den Junghegelianern in Frage gestellt 4 und in der Kritischen Theorie Horkheimers und Adornos zugunsten einer offenen, negativen Dialektik endgültig preisgegeben. Bekannt ist Adornos lapidare Feststellung: „Auch im Äußersten ist Negation der Negation keine Positivität.“ 5 Der Widerspruch soll nicht hegelianisch aufgehoben, nicht systematisch gebändigt, nicht im Rahmen eines monologischen Diskurses synthetisiert werden, dessen Subjekt sich mit der Wirklichkeit identisch wähnt. Auch im folgenden geht es nicht darum, Gegensätze in einer höheren Einheit aufzuheben, sondern darum, ihr Zusammentreffen dialo- 1 G. W. F. Hegel, Wissenschaft der Logik, Bd. I, Frankfurt, Suhrkamp, 1969, S. 49. 2 Ibid. 3 Ibid. 4 Vgl. z. B. F. Th. Vischer, Kritische Gänge, Bd. IV, Hrsg. R. Vischer, München, Meyer und Jessen, 1922, S. 482. 5 Th. W. Adorno, Negative Dialektik, Frankfurt, Suhrkamp, 1966, S. 383. <?page no="134"?> 120 gisch zu deuten: und zwar als Möglichkeit, zwei entgegengesetzte Perspektiven aufeinander zu beziehen, in der Hoffnung, die blinden Flecken der einen im Lichte der anderen erscheinen zu lassen. Es gilt weiterhin, durch das Abschreiten der Extreme das Ganze im Auge zu behalten, ohne es jedoch hegelianisch abzuschließen. 6 Dabei soll die Negativität der Kritischen Theorie als Nichtidentität von Subjekt und Objekt auf das Andere, auf Alterität ausgerichtet werden (vgl. Teil III). Nur wenn das Diskurssubjekt erkennt, daß seine Objekte Konstruktionen sind, d.h. nicht mit der Wirklichkeit identisch, wird es sich den Gegenargumenten und Alternativkonstruktionen des anderen öffnen. Es wird dem ideologischen Monolog absagen, sobald es merkt, daß es dieser Monolog daran hindert, Neues zu erkennen und Erfahrungen zu machen: „Denken braucht nicht an seiner eigenen Gesetzlichkeit sich genug sein zu lassen; es vermag gegen sich selbst zu denken, ohne sich preiszugeben; wäre eine Definition von Dialektik möglich, so wäre das als eine solche vorzuschlagen.“ 7 „Gegen sich selbst denken, ohne sich preiszugeben“, ohne mit dem Relativismus zu liebäugeln: So verfährt eine dialektische und Dialogische Theorie, die extreme Positionen aufeinander bezieht, um die Begrenztheit einer jeden Position und ihre eigene Begrenztheit zu erkennen - und um dem beziehungslosen Nebeneinander von Theorien ein Ende zu bereiten. 8 Aus diesem Verfahren des Gegen-Sich- Selbst-Denkens geht hier im Dritten Teil eine auf Selbstreflexion und Dialog ausgerichtete Kritische Theorie hervor, die ein wesentliches Moment des ihr konträren Kritischen Rationalismus aufnimmt: die kritische Überprüfung, die jede Art von Letztbegründung ersetzt. Der dialektische Gedanke an eine Zusammenführung der Extreme um der Erkenntnis willen steht am Anfang des Denkens, aus dem später die Kritische Theorie hervorging. Er findet sich in Walter Benja- 6 Damit sind Heinrich Bußhoffs Fragen beantwortet: „Erfaßt die dialogische Theorie die für die Kritische Theorie zentrale Kategorie der Totalität bzw. des Ganzen? Worin besteht das Ganze? Etwa im Erkenntnisprozeß? “ (H. Bußhoff, „Dialogische Theorie: Bedingung für Erkenntnisfortschritt in den Sozialwissenschaften? “ in: Ethik und Sozialwissenschaften 4, 1999, S. 607.) 7 Th. W. Adorno, Negative Dialektik, op. cit., S. 142. 8 Th. W. Adorno, Eingriffe. Neun kritische Modelle, Frankfurt, Suhrkamp, 1971 (7. Aufl.), S. 21: „Dialektik ist kein dritter Standpunkt sondern der Versuch, durch immanente Kritik philosophische Standpunkte über sich und über die Willkür des Standpunktdenkens hinauszubringen.“ Einer dialogischen Deutung dieses Satzes scheint nichts im Wege zu stehen. <?page no="135"?> 121 mins Trauerspiel-Buch, wo es heißt: „Die Darstellung einer Idee kann unter keinen Umständen als geglückt betrachtet werden, solange virtuell der Kreis der in ihr möglichen Extreme nicht abgeschritten ist.“ 9 Es geht hier zweifellos um eine dialektische Totalität; nicht jedoch um ein geschlossenes Ganzes im Sinne von Hegel, sondern um eine offene Einheit, die in den Dialog mündet. 10 Wo die Extreme einander berühren, nimmt es nicht wunder, daß sich Benjamins Gedanke in abgewandelter Form bei einem zeitgenössischen Autor wiederfindet, den kaum jemand in einem Atemzug mit dem Essayisten Walter Benjamin nennen würde: beim Systematiker Niklas Luhmann. Dem Soziologen geht es „um Feststellung von Gleichheiten an etwas, was zunächst als ungleich erscheint“. 11 Er erklärt: „Spezifisch wissenschaftliche Theorieleistungen liegen nur dann vor, wenn die Abstraktion der Vergleichsgesichtspunkte so vorangetrieben wird, daß auch evident Ungleiches verglichen werden kann (...).“ 12 Luhmann geht es primär darum, den im System erscheinenden gemeinsamen Nenner disparater Größen zu finden. Im Gegensatz dazu soll im folgenden kontrastiv verglichen werden, damit Theorien einander wechselseitig erhellen. Freilich läuft die hier eingeschlagene Argumentationsrichtung nicht auf eine umstandslose Gleichsetzung hinaus, wie oberflächliche Betrachter vermuten könnten, sondern auf eine mehrdimensionale Darstellung, die den verglichenen Größen mehr Relief verleiht. In allen Kapiteln des Zweiten Teils gilt es, die Extreme des Theorie-Gedankens oder des theoretischen Denkens abzustecken, das bald aus universalistischer, bald aus partikularistischer, aus realistischer und konstruktivistischer, individualistischer und kollektivistischer Sicht betrachtet wird: nicht nur damit jede Sichtweise ihre Schwachstellen preisgibt, sondern damit klar wird, wie sehr die gegensätzlichen Perspektiven einander ergänzen und erklären. In allen Fällen geht es um Theorien, die das Problem der Verständigung, vor allem aber der theoretischen Verständigung und Theoriebildung, anvisieren. 9 W. Benjamin, Ursprung des deutschen Trauerspiels, Frankfurt, Suhrkamp (1963), 1972, S. 31. 10 Auch diese Ausführungen können auf H. Bußhoffs Fragen (vgl. Anm. 5) bezogen werden. 11 N. Luhmann, Die Wissenschaft der Gesellschaft, Frankfurt, Suhrkamp, 1990, S. 409. 12 Ibid., S. 409-410. <?page no="136"?> 122 Es gilt zugleich, an die dialogischen Elemente in der Dialektik Walter Benjamins, vor allem aber an die Dialogizität in Adornos Essayismus und in seiner Negativen Dialektik anzuknüpfen, um die Kritische Theorie als Dialogische Theorie weiterzuentwickeln. Adornos Essayismus muß nicht in Mimesis und Parataxis münden, sondern kann ohne Verzerrung seiner Grundintentionen auch auf Alterität und Dialogizität im Sinne von Bachtin ausgerichtet werden. 13 13 Vgl. Vf., Essay/ Essayismus. Zum theoretischen Potenzial des Essays: Von Montaigne bis zur Postmoderne, Würzburg, Königshausen und Neumann, 2012, insbesondere Kap. VI: „Der Essay als Theorie und Utopie: Von Lukács zu Adorno“. Vor allem in diesem Kapitel wird die Affinität zwischen Adornos essayistischer Schreibweise und der Dialogizität als Ausrichtung auf die Alterität und das fremde Wort hervorgehoben. <?page no="137"?> 123 VI. Zwischen Universalismus und Partikularismus: Popper und Lyotard (Kuhn, Winch) Es geht hier nicht darum, Universalismus und Partikularismus, Poppers und Lyotards Theorien in einer Synthese zu kombinieren, sondern darum, die Wahrheitsmomente beider Ansätze durch einen kontrastiven Vergleich hervortreten zu lassen. Es soll gezeigt werden, daß die sich widersprechenden Theorien einander auch ergänzen, weil die eine die Defizite der anderen aufdeckt. Sicherlich ist Popper zuzustimmen, wenn er - in einer rationalistisch-analytischen Tradition stehend - behauptet, es sei „logisch unmöglich, daß von zwei unvereinbaren Theorien beide wahr sind“. 1 Vermutlich würde er im vorliegenden Fall einwenden, daß Universalismus und Partikularismus nicht auf einen Nenner zu bringen sind: Entweder wir verfügen über eine universell verstandene und gesprochene Sprache, oder wir sind in partikularen, einander ausschließenden Sprachsystemen („frameworks“, sagt Popper) gefangen und können uns nicht verständigen. Tertium non datur. Dennoch scheint es eine dritte Möglichkeit zu geben: nämlich die eines dialektischen Abschreitens der Extreme, das uns die Interdependenz von Universalismus und Partikularismus vor Augen führt. Diese hängt mit dem Umstand zusammen, daß das Streben nach Allgemeingültigkeit der schlechten Abstraktion verfällt, solange sich das Diskurssubjekt weigert, die gesellschaftlichen und sprachlichen Besonderheiten, die sich ihm in den Weg stellen, gleichsam mitzudenken. Ein konkreter Universalismus, der sich nicht abstrakt-rationalistisch über das Besondere hinwegsetzt, kann nur ein Denken sein, das Lyotards (Adornos, Baumans, Winchs) Einwände gegen das rationalistische und hegelianische Einheitsstreben der Moderne ernst nimmt - ohne jedoch einem postmodernen Partikularismus zu verfallen. Die prinzipielle Allgemeingültigkeit von Denken, Begrifflichkeit und Kritik soll nicht preisgegeben werden. Von einer systematischen Überwindung der gegensätzlichen Positionen im Sinne von Hegel kann hier insofern nicht gesprochen wer- 1 K. R. Popper, „Über Wissen und Nichtwissen“, in: ders., Auf der Suche nach einer besseren Welt. Vorträge und Aufsätze aus dreißig Jahren, München- Zürich, Piper, 1984, S. 49. <?page no="138"?> 124 den, als der im Dritten Teil vorgeschlagene dialogische Ansatz keine synthetisierende Wahrheit jenseits der Extreme ist, sondern ein offener Erkenntnisprozeß im Sinne von Bachtin. Durch die Zusammenführung der Gegensätze sind Erkenntnisse als Wahrheitsmomente zu haben, nicht jedoch die eine statische Wahrheit im metaphysischen Sinne. Der Erkenntnisprozeß ist, wie schon Popper und Schlick wußten 2 , unabschließbar. In diesen einleitenden Bemerkungen werden Vertreter der Kritischen Theorie zweifellos eines ihrer Hauptanliegen wiedererkannt haben: die Versöhnung des Besonderen mit dem Allgemeinen. Sie soll jedoch nicht (wie bei Adorno) mit Hilfe von Mimesis, Essay und Parataxis zustande kommen, sondern durch eine konsequente Ausrichtung auf Alterität und Dialog, die der Kritischen Theorie Adornos und Horkheimers keineswegs fremd ist. Sie kommt sogar in ihrem mimetischen Essayismus zum Ausdruck. Die Frage, weshalb hier gerade Poppers und Lyotards Diskurse aufeinander bezogen werden, ist in einem Satz zu beantworten: Diese Diskurse korrigieren einander an entscheidenden Stellen, die zugleich ihre größten Schwachstellen sind. 1. Poppers Universalismus als Kritik an Kuhns „framework“ Im vorigen Kapitel wurde Kuhn eher als ein Universalist dargestellt, der das Paradigma als einen zeitweise allgemeingültigen Sprachgebrauch auffaßt. Die Tatsache, daß der Paradigmabegriff zugleich auch die Grenzen der Vernunft absteckt und dadurch verschiedene miteinander unvereinbare Vernunftarten entstehen läßt, kam weniger zur Geltung. Auf sie konzentriert sich aber Poppers Kritik. Die Argumente, die Popper gegen Kuhn vorbringt, könnte er auch gegen Lyotard ins Feld führen: Es geht ihm primär darum, den Partikularismus Kuhns zu widerlegen, der in dem Grundgedanken von The Structure of Scientific Revolutions zum Ausdruck kommt, daß jedes Paradigma eine besondere Rationalität darstellt, die mit der Rationalität anderer Paradigmen unvereinbar ist. Im Extremfall sind Paradigmen inkommensurabel. 2 Vgl. M. Schlick, Allgemeine Erkenntnislehre (1918), Frankfurt, Suhrkamp, 1979, S. 405. <?page no="139"?> 125 Vor allem dieser Extremfall ist Popper ein Dorn im Auge, und er versucht immer wieder nachzuweisen, daß die Paradigmen als „frameworks“ oder Rahmenbedingungen „Mythen“ sind, die sich bei rationaler Betrachtung auflösen. Als Kantianer argumentiert er zugleich rationalistisch und individualistisch, wenn er sich mit ungebrochenem Optimismus für die Überwindung des noetischen „Rahmens“ einsetzt: „I do admit that at any moment we are prisoners caught in the framework of our theories; our expectations; our past experiences; our language. But we are prisoners in a Pickwickian sense: if we try, we can break out of our framework at any time. Admittedly, we shall find ourselves again in a framework, but it will be a better and roomier one; and we can at any moment break out of it again.“ 3 Obwohl Popper den Gedanken des Wiener Kreises an eine einheitliche Universalsprache (im Sinne von Carnap und Neurath) ablehnt 4 , hält er dennoch an der kantianischen Vorstellung fest, daß die Umgangssprache ein allgemeingültiges Verständigungsmittel ist, das es uns letztlich gestattet, alle sprachlichen Hürden zu überwinden. Es ist sicherlich kein Zufall, daß er sich im Anschluß an die oben zitierten Sätze auf das Verhältnis zwischen natürlichen Sprachen beruft, um nachzuweisen, daß Vergleichbarkeit und Übersetzbarkeit stets möglich sind. Er schließt seine Betrachtung mit der Feststellung, daß es zahlreiche Hopi und Chinesen gibt, die das Englische tadellos beherrschen. In „The Myth of the Framework“ erklärt er im Anschluß an einen Kommentar zu Benjamin Lee Whorfs Sprachtheorie (vgl. Kap. II), daß „die meisten Sprachen anscheinend ineinander übersetzt werden können“. 5 Dabei setzt er sich universalistisch über die unübersetzbaren Reste 6 hinweg, die die Subjektivität der Sprecher entscheidend prägen können und die dafür sorgen, daß auch Übersetzungen theore- 3 K. R. Popper, „Normal Science and its Dangers“, in: I. Lakatos, A. Musgrave (Hrsg.), Criticism and the Growth of Knowledge, Cambridge, Univ. Press (1970), 1982, S. 56. 4 Vgl. K. R. Popper, Conjectures and Refutations. The Growth of Scientific Knowledge, London, Routledge & Kegan Paul (1963), 1972, S. 269. 5 K. R. Popper, „The Myth of the Framework“, in: E. Freeman (Hrsg.), The Abdication of Philosophy. Philosophy and the Public Good. Essays in Honour of P. A. Schilpp, La Salle (Illinois), Open Court, The Library of Living Philosophers, 1976, S. 37. 6 Vgl. Vf., „Der Unfaßbare Rest. Übersetzung zwischen Dekonstruktion und Semiotik“, in: J. Strutz, P. V. Zima (Hrsg.), Literarische Polyphonie, Tübingen, Narr, 1996, S. 26-29. <?page no="140"?> 126 tischer (philosophischer, wissenschaftlicher) Texte durch Sinnverschiebungen Mißverständnisse zeitigen. Daß diese rationalistische Argumentation schließlich in der These gipfelt, daß auch Paradigmen im Sinne von Kuhn vergleichbar und übersetzbar sind, überrascht kaum noch. In Poppers Perspektive erscheinen Newtons und Einsteins physikalische Theorien nicht als inkommensurable Paradigmen, sondern als durchaus vergleichbar und vereinbar: „(...) It follows from Einstein’s theory that Newton’s theory is an excellent approximation.“ 7 Nun hängt sehr viel davon ab, wie man als Theoretiker den Gegenstand „Sprache“, „Diskurs“ oder „Theorie“ konstruiert: Konstruiert man ihn universalistisch und betont dabei die Inhaltsebene der Signifikate (im Sinne von Hjelmslev) 8 , dann läuft die Argumentation in den meisten Fällen auf Verstehbarkeit und Verständigung hinaus; konstruiert man ihn partikularistisch und hebt mit Derrida die Ausdrucksebene der Signifikanten hervor, läuft die Argumentation zumeist auf Unübersetzbarkeit und scheiternde Verständigung hinaus. 9 Popper konstruiert universalistisch und übersieht dabei zweierlei: die grundsätzliche Unübersetzbarkeit theoretisch-ideologischer Soziolekte ineinander und die Tatsache, daß die miteinander kommunizierenden Individuen durch ihre Ideologien-Theorien zu Subjekten gemacht werden. Selbst wenn man diese Erkenntnis nicht deterministisch deutet, weil es prinzipiell immer möglich ist, den eigenen ideologischen Diskurs kritisch zu reflektieren oder gar aufzugeben, wird man verstehen, daß eine feministische Soziologin sich weigern wird, ihren Diskurs in einen kritisch-rationalistischen oder marxistischen „übersetzen“ zu lassen. Denn eine Übertragung dieser Art würde ihre Interessen und ihre Subjektivität negieren. Die Soziolekte des Feminismus, des Kritischen Rationalismus und des Marxismus sind zwar nicht inkommensurabel, weil sie miteinander verglichen und im Extremfall sogar kombiniert werden können; 7 K. R. Popper, „Normal Science and its Dangers“, in: I. Lakatos, A. Musgrave (Hrsg.), Criticism and the Growth of Knowledge, op. cit., S. 57. 8 Vgl. L. Hjelmslev, Prolegomena zu einer Sprachtheorie, München, Hueber, 1974, S. 59. 9 Vgl. Vf., Die Dekonstruktion. Einführung und Kritik, Tübingen-Basel, Francke, 2016 (2. Aufl.), S. 91-98. <?page no="141"?> 127 aber ineinander übersetzbar sind sie nicht. Denn Übersetzung geht von einem - wenn auch problematischen 10 - Äquivalenzbegriff aus. Nun mag es eine approximative Äquivalenz zwischen natürlichen Sprachen geben 11 ; zwischen ideologischen und ideologisch-theoretischen Sprachen gibt es sie nicht. In dieser Hinsicht ist Poppers Vergleich von „frameworks“ mit natürlichen Sprachen irreführend. Die Subjektivität der Chinesin wird nicht grundsätzlich dadurch in Frage gestellt, daß sie Englisch spricht (höchstens eingeschränkt). Von der Feministin kann man aber nicht erwarten, daß sie sich der Sprache des Marxismus oder des Kritischen Rationalismus „bedient“: Täte sie es, gäbe sie ihre Subjektivität auf. Während in den natürlichen Sprachen prinzipiell alle Ideologien ausdrückbar sind (obwohl sie, wie die maoistische Variante des Marxismus zeigt, stets einen kulturellen und sprachlichen Wandel durchmachen), verhalten sich ideologische Soziolekte hermetisch zueinander, weil sie partikulare Interessen ausdrücken, die per definitionem nicht übersetzbar sind. Es grenzt daher an Naivität, wenn Popper den Marxisten und Freudianern der Zwischenkriegszeit vorwirft, in ihren „frameworks“ zu verharren: „Ich meine Leute wie die Marxisten, die Freudianer und die Adlerianer. Keiner von ihnen konnte in seinem Glauben an eine Weltanschauung erschüttert werden (...).“ 12 Denn diese Kritik wendet sich gegen Popper selbst, der Zeit seines Lebens an einem liberalen Individualismus 13 festhielt, der ihn stets daran hinderte, kollektive Faktoren, Gruppensprachen oder Paradigmen im Sinne von Kuhn wahrzunehmen. Es überrascht daher kaum, daß ihn ausgerechnet sein soziologisch und in Kollektivbegriffen denkender Kontrahent Kuhn an seine eigene Ideologie erinnert: „Statt einer Logik hat uns Sir Karl eine Ideologie 10 Vgl. B. Hatim, I. Mason, Discourses and the Translator, London-New York, Longman, 1990, S. 8. 11 Vgl. R. Stolze, Übersetzungstheorien. Eine Einführung, Tübingen, Narr, 1994, Kap. V: „Übersetzungswissenschaft im Zeichen der Äquivalenzdiskussion“; sowie: J. Munday, Introducing Translation Studies. Theories and Applications, London-New York, 2001, Kap. III: „Equivalence and Equivalent Effect“. 12 K. R. Popper, „The Myth of the Framework“, in: E. Freeman (Hrsg.), The Abdication of Philosophy, op. cit., S. 39 . 13 Vgl. A. Ryan, „Popper and Liberalism“, in: G. Currie, A. Musgrave (Hrsg.), Popper and the Human Sciences, Dordrecht-Boston-Lancaster, Nijhoff, 1985, S. 89-91. <?page no="142"?> 128 gegeben; statt methodologischer Regeln hat er uns mit Verfahrensvorschriften versehen.“ 14 Der Ideologiebegriff, der hier im Sinne der im zweiten Kapitel definierten „allgemeinen Ideologie“ verwendet wird, schließt jedoch eine verallgemeinerungsfähige „Logik der Forschung“ keineswegs aus - wie sich im zwölften Kapitel zeigen wird. In einem ideologisch-theoretischen Soziolekt vertritt die Theorie das universalistische Moment, das über das Partikulare der Ideologie (im allgemeinen Sinn) hinausgeht. Es käme darauf an, die Dialektik zwischen ideologischem Partikularismus und theoretischem Universalismus im theoretischen Diskurs zu erkennen. Popper stellt sich dieser Aufgabe nicht, sondern leugnet das Partikulare, indem er es als „Mythos“ bezeichnet. Seinen Universalismus legitimiert er nicht nur durch Individualismus und Kantianismus, sondern auch durch eine Ausrichtung seines Diskurses auf die Naturwissenschaften, die auf sprachlicher Ebene keine ideologischen Interferenzen kennen. Es nimmt daher nicht wunder, daß er keine „frameworks“ im psychoanalytischen oder marxistischen Sinne in der Physik entdecken kann: „(...) Ich konnte nichts dergleichen in den Diskussionen der Physiker über Einsteins Allgemeine Theorie entdecken, obwohl diese damals Gegenstand hitziger Debatten war.“ 15 Die Naturwissenschaft ist jenseits der ideologischen Partikularismen, die Popper nur wahrnimmt, um sich abstrakt-rationalistisch über sie hinwegzusetzen - statt seinen eigenen liberal-individualistischen Partikularismus zu reflektieren. 2. Lyotards postmoderner Partikularismus als polemische Ergänzung des Kritischen Rationalismus Schon Bachtin erkannte den polemischen Charakter des Dialogs, der darin besteht, daß die Stimme des Erzählers oder Helden durch eine konkurrierende Stimme relativiert wird. 16 Lyotards postmodernes Spätwerk relativiert nicht nur den eigenen marxistischen Diskurs der 14 T. S. Kuhn, Die Entstehung des Neuen. Studien zur Struktur der Wissenschaftsgeschichte, Hrsg. L. Krüger, Frankfurt, Suhrkamp 1977, S. 374. 15 K. R. Popper, „The Myth of the Framework“, in: E. Freeman (Hrsg.), The Abdication of Philosophy, op. cit., S. 39. 16 Vgl. M. M. Bachtin, Probleme der Poetik Dostoevskijs, München, Hanser, 1971, S. 39. <?page no="143"?> 129 70er Jahre, sondern stellt den gesamten modernen Universalismus in Frage: sowohl den rationalistischen als auch den hegelianisch-marxistischen. Seine Kritik der Moderne faßt der postmoderne Soziologe Zygmunt Bauman knapp zusammen, wenn er bemerkt: „Der Kampf gegen das Lokale, das Unregelmäßige und das Spontane war unbarmherzig“. 17 Von Popper wird dieser Kampf für die Universalvernunft fortgesetzt, wenn er sich in „The Myth of the Framework“ gegen den relativistischen „Irrationalismus“ wendet, der die eine Wahrheit in lokale Wahrheiten zerfallen läßt. 18 Lyotard dreht den Spieß um, wenn er, in adornianischer Tradition stehend, Habermas und seine Schüler daran erinnert, daß „die Rationalität (... ) nur vernünftig [ist], wenn sie zugesteht, daß die Vernunft vielfältig ist“ („que la raison est multiple“). 19 Gegen diesen Gedanken wendet sich aber Popper in seiner Kritik an Kuhn und am „framework“: Für ihn gibt es nur die Vernunft schlechthin, die in der falsifizierbaren Theorie eine konkrete Gestalt annimmt. Nun könnten Lyotard-Kenner einwenden, daß der postmoderne Denker und der kritische Rationalist nicht zu vergleichen sind, weil sich Lyotards Argumente nicht auf den theoretischen Diskurs beziehen, sondern auf alle Formen des Sprachgebrauchs: die politischen, die juristischen, die moralischen usw. „Meine Gesprächspartner“, bemerkt Lyotard, „verstehen langue oder language oft im Sinne eines Idioms, einer Theorie, also einer Kultur. Ich will diese Auffassungen gern akzeptieren, allerdings mit Ausnahme der Bedeutung im Sinne von Theorie.“ 20 Anschließend erklärt er, weshalb er die Theorie (die er nicht weiter definiert) nicht als Sprache im Sinne von langue oder language betrachtet: „weil die Theorie ganz und gar zum kognitiven Genre gehört“. 21 Diese exklusive Auffassung der Theorie als Kognition jenseits von Sprache veranlaßt ihn, Kuhns These über die „Inkommensurabilität von wissenschaftlichen Paradigmen“ abzulehnen. 22 17 Z. Bauman, Postmodern Ethics, Oxford, Blackwell, 1993, S. 135. 18 K. R. Popper, „The Myth of the Framework“, in: E. Freeman (Hrsg.), The Abdication of Philosophy, op. cit., S. 23. 19 J.-F. Lyotard, Postmoderne Moralitäten, Wien, Passagen, 1998, S. 117. (Moralités postmodernes, Paris, Galilée, 1993, S. 115.) 20 Ibid., S. 120-121. 21 Ibid., S. 121. 22 Ibid. <?page no="144"?> 130 Diese Ablehnung von Kuhns Partikularismus wird nur diejenigen überraschen, die den besonderen Charakter von Lyotards Klassifikation der Diskursgattungen („genres de discours“) nicht wahrnehmen. Ihm ist es im Gegensatz zu Kuhn nicht um verschiedene Arten der Wissenschaft und der Wissenschaftsausübung zu tun, sondern um die Unvereinbarkeit von juristischen, ethischen, ästhetischen und kognitiven Sprachformen. Diese Sprachen („langages“) erscheinen ihm als heterogen; die Sprache der Wissenschaft hingegen hält er für homogen. Deshalb spricht er auch in La Condition postmoderne vom „Sprachspiel der Wissenschaft“, das „die Wahrheit seiner Aussagen wünscht“ („que le jeu de langage de la science veuille la vérité de ses énoncés“). 23 Mit diesen Aussagen setzt er sich jedoch über die Heterogenität der Wissenschaft, die er als „kognitive Gattung“ oder „Sprachspiel“ auffaßt, hinweg. Das heißt, daß sein Partikularismus ganz anderer Art ist als der Kuhns: Er geht von einer anderen Auffassung der Sprache aus und gründet auf einer anderen Klassifikation der Sprachformen. Mit Kuhn stimmt Lyotard jedoch in der Ablehnung von Poppers Universalvernunft überein, die vor allem in der Kernthese zutage tritt, daß „die Durchdringung eines Genres durch ein anderes, nämlich der Ethik und des Rechts durch das Kognitive im aristotelischen Sinne der Dialektik“ 24 , ein Unrecht darstellt: ein tort, wie der Philosoph sagt. Denn diese Diskursarten sind (als „frameworks“) heterogen, argumentieren nach inkommensurablen Kriterien und werden durch einen Widerstreit (im Sinne von Kant) oder différend getrennt. 25 Jeder Versuch, diesen Widerstreit durch den Appell an eine universell geltende Metasprache zu schlichten und in einen Rechtsstreit (litige) zu verwandeln, setzt sich über die Heterogenität der miteinander kollidierenden Diskursarten hinweg und verursacht einen tort. 26 Der différend kommt dadurch zustande, daß das Anliegen der „klagenden Gruppe“ 23 J.-F. Lyotard, Das postmoderne Wissen. Ein Bericht, Graz-Wien, Böhlau- Passagen, 1986, S. 88. (La Condition postmoderne. Rapport sur le savoir, Paris, Minuit, 1979, S. 49.) 24 J.-F. Lyotard, Postmoderne Moralitäten, op. cit., S. 123. (Die Formulierung im frz. Original ist viel schärfer: Dort ist von „l’invasion d’un genre par un autre“ und nicht von „Durchdringung“ die Rede: Moralités postmodernes, Paris, Galilée, 1993, S. 121.) 25 Vgl. I. Kant, Kritik der Urteilskraft, Stuttgart, Reclam, 1971, S. 156. 26 Vgl. G. Warmer, K. Gloy, Lyotard. Darstellung und Kritik seines Sprachbegriffs, Aachen, Ein-Fach-Verlag, 1995, S. 26-27. <?page no="145"?> 131 (etwa der „Arbeitskraft“, der „force de travail“, Lyotard) nicht in der Sprache der anderen Gruppe (des „Kapitals“, Lyotard“) 27 ausdrückbar ist. Was Lyotard zunächst von den Sprachspielen und später von den Diskursgattungen sagt, erinnert an Kuhns Kommentare zu den Paradigmen: „Die Prüfung der Sprachspiele konstatiert und bekräftigt, wie die Kritik der Vermögen, die Trennung der Sprache von sich selbst. Die Sprache ist ohne Einheit, es gibt nur Sprachinseln, jede wird von einer anderen Ordnung beherrscht, keine kann in eine andere übersetzt werden.“ 28 Sieht man einen Augenblick von der Tatsache ab, daß sich diese Darstellung nicht auf Wissenschaftssprachen, sondern auf politische, ethische, ästhetische oder religiöse Sprachspiele oder Diskursgattungen bezieht, so finden wir hier wieder Kuhns Szenario des radikalen Partikularismus vor. Wir haben es wieder mit hermetischen Systemen zu tun, die nicht ineinander zu übersetzen sind. Das Paradoxon der Philosophie besteht darin, daß sich der kritische Rationalist Popper immer wieder auf Kant beruft, etwa wenn er sein Denken „als eine Vervollständigung der kritischen Philosophie Kants“ 29 bezeichnet, während Lyotard von Kants Kritik der Urteilskraft ausgeht, um die Heterogenität des Denkens und der Sprache plausibel zu machen. Hier zeigt sich nicht nur, daß auch philosophische Werke vieldeutig und interpretierbar sind, sondern daß sie zugleich bestimmte Konstanten aufweisen, die in verschiedenen Epochen unterschiedlich aktualisiert werden. In diesem Fall geht es um Kants „Trennungen“ von Subjekt und Objekt, Vernunft und Einbildungskraft, Begriff und Schönheit. Diese Trennungen, die Hegel im Anschluß an Fichte aufzuheben suchte, werden von Lyotards postmoderner Kritik akzentuiert, ja überbetont. Dagegen wird Hegels Denken der dialektischen Vermittlung und Vereinheitlichung in der Postmoderne als metaphysisch abgewertet (z.T. im Anschluß an Adorno). 30 Lyotards Verteidigung des Partikularen - der besonderen Kultur oder Sprache - richtet sich eindeutig gegen die globalisierende Ver- 27 J.-F. Lyotard, Der Widerstreit, München, Fink, 1989 (2. Aufl.), S. 28. (Le Différend, Paris, Minuit, 1983, S. 25.) 28 J.-F. Lyotard, Grabmal des Intellektuellen, Graz-Wien, Böhlau-Passagen, 1985, S. 70. 29 K. R. Popper, Auf der Suche nach einer besseren Welt, op. cit., S. 60. 30 Vgl. J.-F. Lyotard, Der Widerstreit, op. cit., S. 152-157. <?page no="146"?> 132 einheitlichung der Gesellschaften und Kulturen durch das Kapital: „Der Widerstreit zwischen Satz-Regelsystemen oder Diskursarten wird vom Gerichtshof des Kapitalismus für unerheblich erachtet.“ 31 Am Ende von Le Différend heißt es mit aller Deutlichkeit: „Das einzige unüberwindliche Hindernis, auf das die Hegemonie des ökonomischen Diskurses stößt, liegt in der Heterogenität der Satz-Regelsysteme und Diskursarten (...).“ 32 Lyotard überschreitet allerdings immer wieder die von ihm gezogenen Grenzen zwischen den Sprachspielen oder Diskursgattungen, wenn er politische und wirtschaftliche, ethische und ästhetische Aussagen miteinander verkettet: wenn er in den 70er Jahren Freuds und Marx’, in den 80er Jahren Kants und Wittgensteins Diskurse zu einem postmodernen Denken verschmelzen läßt, zu dessen Markenzeichen mittlerweile der Eklektizismus gehört. Stellenweise kann man sich nicht des Eindrucks erwehren, daß Lyotard um jeden Preis trennen möchte, was zusammengehört, etwa wenn er von der „Durchdringung (invasion) eines Genres durch ein anderes, nämlich der Ethik und des Rechts durch das Kognitive“ (s.o.), spricht. Sind Ethik und Recht ohne das Kognitive, ohne Reflexion durch Philosophie und Rechtswissenschaft, überhaupt möglich? Wie sähen eine Rechtsprechung und eine Rechtswissenschaft ohne das Kognitive aus? Lyotard setzt sich - wie an anderer Stelle bereits angemerkt - über die Tatsache hinweg, daß Soziolekte als Fachsprachen oder ideologische Sprachen nie homogene Welten oder fensterlose Monaden sind, sondern Produkte einer sozio-linguistischen Situation, in der die meisten Gruppensprachen intertextuell (dialogisch-polemisch) miteinander verflochten sind. Reine Diskursgattungen, die klar gegen andere Diskursgattungen abgrenzbar wären, kommen kaum vor. Jeder Soziolekt ist eine - oftmals labil geschichtete - Synthese von mehr oder weniger heterogenen Diskursen. Diese Tatsache stellt Lyotards eigenes Werk am anschaulichsten dar, weil es nahezu alle Diskurse der 60er, 70er und 80er Jahre dialogisch-kritisch miteinander verknüpft - ohne allzu viele torts zu verursachen. Von diesem Spannungsverhältnis zwischen dem Besonderen und dem Allgemeinen ist auch Peter Winchs Buch The Idea of a Social 31 Ibid., S. 293. 32 Ibid., S. 299. <?page no="147"?> 133 Science and its Relation to Philosophy (1958, 1990) geprägt. Winch, der sich wie Lyotard auf Wittgensteins „Sprachspiele“ beruft, kann insofern als Vorbote des postmodernen Partikularismus gelesen werden, als er vor allem dem Rationalisten Vilfredo Pareto vorwirft, das magische Denken den Kriterien der wissenschaftlichen Rede zu unterwerfen: „Andererseits läuft jeder Versuch, das Magische (magic) im Rahmen der wissenschaftlichen Tätigkeit zu verstehen, wie Pareto es tut, auf ein Mißverstehen hinaus.“ 33 Hier könnte von einem tort im Sinne von Lyotard die Rede sein: Das magische Denken ist eben ein völlig anderes „Satz-Regelsystem“ als die rationalistische Wissenschaft Paretos. Die beiden Systeme sind inkommensurabel. In diesem Kontext nimmt es nicht wunder, wenn Winch - lange vor der Popper-Kuhn-Kontroverse - dem kritischen Rationalisten vorwirft, er betrachte soziale Institutionen lediglich als Konstruktionen des Theoretikers und nehme das sich in ihnen artikulierende Kollektivbewußtsein nicht ernst. „Die Denkweisen, die Institutionen verkörpern“ 34 , erklärt er, „sind Teil der Wirklichkeit und können nicht dem wissenschaftlichen Diskurs assimiliert werden.“ 35 Sie sind autonome Lebensweisen und „Diskursgattungen“, würde Lyotard ergänzen, die nicht in der Rationalität der Wissenschaft aufgehen. Im Hinblick auf das Verhältnis von Universalismus und Partikularismus scheint im Rückblick vor allem Winchs Vorwort zur zweiten Auflage (1990) wichtig zu sein. Denn in diesem Vorwort versucht er, die partikularistische Tendenz, die seine Abhandlung aus dem Jahre 1958 durchzieht, abzuschwächen. Obwohl verschiedene soziale Seinsmodi wie Moral, Religion und Wissenschaft autonom sind, überschneiden sie sich zugleich, ja gehen ineinander über: „Verschiedene Aspekte des gesellschaftlichen Lebens ‚überschneiden‘ sich nicht nur: sie sind dermaßen miteinander verflochten, daß der eine unabhängig von den anderen nicht einmal zu verstehen ist.“ 36 33 P. Winch, The Idea of a Social Science and its Relation to Philosophy, London, Routledge (1958), 1990 (2. Aufl.), S. 100. 34 Ibid., S. 127. 35 Vgl. auch P. Winchs Aufsatz „Popper and Scientific Method in the Social Sciences“, in: P. A. Schilpp (Hrsg.), The Philosophy of Karl Popper, La Salle (Illinois), Open Court, The Library of Living Philosophers (Book II), 1967, S. 902: „As against this, it is important to point out that standards of rationality are involved in traditions of behaviour and that they may be in mutual conflict.“ 36 Ibid., S. XV-XVI. <?page no="148"?> 134 Es ist wohl kein Zufall, daß diese Selbstkritik weitgehend mit den hier gegen Lyotard vorgebrachten Argumenten übereinstimmt. Soziolekte gehen aus einer sozio-linguistischen Situation hervor, und die meisten von ihnen weisen intertextuelle Bezüge auf: So ist beispielsweise die Terminologie der formalistischen und strukturalistischen Literaturwissenschaft nicht von der Praxis der futuristischen oder surrealistischen Avantgarde zu trennen. Robert C. Bannister deckt wiederum die Bedeutung des nordamerikanischen Protestantismus für die Entwicklung der positivistischen Soziologie auf: Es geht um „die Strategie, Wissenschaft im Rahmen der amerikanischen protestantischen Kultur zu legitimieren“. 37 Die „Sprachspiele“ oder Soziolekte sind keine Monaden; im Gegenteil, sie bedingen und durchdringen einander wechselseitig. Schon deshalb können ihre Diskurse trotz aller Übersetzungsprobleme nicht inkommensurabel sein. 3. Von der Einheit der Gegensätze zum Dialog An Poppers eingangs schon zitiertem Diktum, es sei „logisch unmöglich, daß von zwei unvereinbaren Theorien beide wahr sind“, ist, rein formal betrachtet, nichts auszusetzen. Einander widersprechende Behauptungen wie „die Erde ist flach“ und „die Erde ist ein sphärisches Gebilde“ können tatsächlich nicht beide richtig sein. Komplexe Theorien der Sprache und der Gesellschaft lassen sich allerdings nicht so leicht in „richtige“ und „falsche“ einteilen. Das Problem besteht darin, daß ein theoretischer Diskurs aufgrund seiner Taxonomien und Aktantenmodelle gerade die Wahrheitsmomente erkennen läßt, die der konkurrierende Diskurs mit seinen semantischen und narrativen Verfahren verdeckt. Peter Winchs späte Selbstkritik zeigt, worum es geht: Sobald das Aussagesubjekt aus einem Unterschied einen Gegensatz oder gar eine Inkommensurabilität macht, schlägt sein Diskurs eine andere Richtung ein. Aus der „Überlappung“ („overlapping“) wird Trennung, aus der Trennung Unvereinbarkeit usw. Winch zeigt aber, daß dieser semantische Prozeß umkehrbar ist, weil das Diskurssubjekt von der Trennung zur 37 R. C. Bannister, Sociology and Scientism. The American Quest for Objectivity, Chapel Hill-London, The University of North Carolina Press, 1987, S. 19. <?page no="149"?> 135 Überlappung zurückkehren kann. Wir haben es hier folglich mit Fragen der Relevanz und der Konstruktion zu tun. Auch Lyotard relativiert bisweilen seinen Partikularismus, etwa wenn er im Anschluß an Donald Davidson die Übersetzbarkeit besonderer Denkschemata ineinander zugesteht: „Aber die Annahme eines solchen Schemas verbietet, daß diese Entität anders als mit Hilfe eines Schemas beschrieben werden könnte. Damit erweist sich diese Annahme als in sich aporetisch. Und wie soll ich wissen, ob mein Gesprächspartner über ein anderes Schema als ich verfügt, wenn ich es nicht wenigstens in meine Sprache übersetzen kann? “ 38 Solche Überlegungen stellen allerdings auch Lyotards Thesen über den „Widerstreit“ und die „Inkommensurabilität“ von Diskursgattungen in Frage, weil alle „Diskursgattungen“ eine gemeinsame Sprache voraussetzen: nämlich die natürliche Sprache, aus der sie hervorgehen (vgl. Teil III). Schon deshalb erscheint es sinnvoll, die Gegensätze als extreme Standpunkte aufeinander zu beziehen: Sie werden auf der Metaebene als Teilansichten erkennbar, die nur dann die theoretische (dialogische) Erkenntnis fördern, wenn man sie gleichzeitig berücksichtigt. Auf Poppers und Lyotards Theorien angewandt bedeutet dies, daß der Universalismus ohne den Partikularismus abstrakt und irrational wird, während der Partikularismus ohne den Universalismus zu Irrationalismus und Relativismus führt. Poppers These, daß Vernunft per definitionem ungeteilt und universell ist, kann niemand widersprechen, der an einer kritischen Theorie der Gesellschaft (im Sinne des Kritischen Rationalismus oder der Frankfurter Schule) festhält. Ebenso gültig scheint jedoch Lyotards von Adorno geerbte These zu sein, daß eine Vernunft, die das Partikulare abstrakt negiert, unvernünftig wird. Poppers eigener Diskurs wird irrational, weil sein rationalistisches Diskurssubjekt nicht in der Lage ist, die Auswirkungen seines liberal-individualistischen Soziolekts auf den Kritischen Rationalismus zu reflektieren. Kuhn aber, der skeptische Beobachter dieses Rationalismus, stellt fest, daß Sir Karl seine Methode aus einer Ideologie abgeleitet hat (s.o.). Erst im Dialog wird die Ideologie sichtbar, die nicht vorab als die Ideologie des anderen, sondern als die eigene aufgefaßt werden sollte. (In diesem Fall wäre es der ambivalente, selbstkritische Individualismus der Kritischen Theorie: vgl. Kap. XI.) Der Dialog selbst gerät je- 38 J.-F. Lyotard, Postmoderne Moralitäten, op. cit., S. 117. <?page no="150"?> 136 doch durch die dialektische Zusammenführung der Gegensätze in Bewegung: dadurch, daß der Sinn für das Gegensätzliche geweckt wird, den Pirandello „humoristisch“ als „il sentimento del contrario“ 39 bezeichnet. Der Dialektik fällt hier die Aufgabe zu, den Selbstzweifel und die Selbstironie der Gesprächspartner zu wecken und jedem von ihnen vor Augen zu führen, wie sehr seine Wahrheit eine Teilwahrheit ist, die der Ergänzung durch ihr Gegenteil bedarf. Dieses Verfahren ist zwar in der antiken Sophistik entstanden, es muß aber weder im Sophismus noch im Relativismus ausmünden. Dazu notiert Adorno in Minima Moralia: „Vor Mißbrauch wird gewarnt. - Die Dialektik ist in der Sophistik entsprungen, ein Verfahren der Diskussion, um dogmatische Behauptungen zu erschüttern (...). Aber sie war als Mittel, Recht zu behalten, von Anbeginn auch eines zur Herrschaft, formale Technik der Apologie unbekümmert um den Inhalt, dienstbar denen, die zahlen konnten: das Prinzip, stets und mit Erfolg den Spieß umzudrehen. Ihre Wahrheit oder Unwahrheit steht daher nicht bei der Methode als solcher, sondern bei ihrer Intention im historischen Prozeß.“ 40 Worin besteht nun die Intention des von der dialektischen Zusammenführung der Extreme angetriebenen Dialogs „im historischen Prozeß“? Er soll den theoretischen Diskurs vor der Verkrustung im ideologischen Monolog, im Dogma bewahren und ihn zugleich für das Andere, Andersartige offenhalten. In dieser Hinsicht kann das dialogische Denken als das Gegenteil der Hegelschen Dialektik aufgefaßt werden, die, wie Bloch zeigt 41 , auf den systematischen Abschluß zustrebt. Der Kritische Rationalismus ist nur nützlich und wahr, wenn sein Gegenteil mitgedacht wird. Dies gilt auch für Lyotards Theorie des Widerstreits, die nur sinnvoll bleibt, wenn der Universalanspruch der Vernunft nicht preisgegeben wird. 39 L. Pirandello, „L’umorismo“, in: ders., Saggi, poesie, scritti varii, Mailand, Mondadori, 1977 (4. Aufl.), S. 156. 40 Th. W. Adorno, Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben, Frankfurt, Suhrkamp (1951), 1970, S. 330. 41 E. Bloch, Über Methode und System bei Hegel, Frankfurt, Suhrkamp, 1975 (2. Aufl.), S. 82-83. <?page no="151"?> 137 VII. Intersubjektivität und Aspektstruktur: Davidson und Mannheim Die Bedeutung von „Intersubjektivität“ im Sinne einer intersubjektiv testbaren Wahrnehmung der Wirklichkeit nimmt mit dem Zweifel an den zahlreichen Abbildtheorien der Erkenntnis zu. Wo diese Theorien als Überreste eines naiven Realismus verabschiedet werden - etwa bei Rorty 1 -, dort wächst die Zuversicht, daß die intersubjektive Überprüfung unserer Wahrnehmungen zum neuen Wahrheitskriterium werden könnte. Seit Edmund Husserls transzendentaler Phänomenologie 2 wird der Gegenstand „als Gegenstand einer gemeinsamen, intersubjektiv zugänglichen Welt aufgefaßt“ 3 und nicht als Abbild im realistischmimetischen Sinne. Dieser Gedanke hat sich nicht nur im Kritischen Rationalismus (vgl. Kap. IV), sondern auch in Jürgen Habermas’ Auffassung einer intersubjektiv geteilten Lebenswelt durchgesetzt, die einerseits aus Husserls Phänomenologie, andererseits aus Meads Interaktionismus und der angloamerikanischen Sprechakttheorie hervorgeht. Auch einige Vertreter des Radikalen Konstruktivismus verwenden den Begriff der Intersubjektivität 4 , ohne zu erläutern, was sie sich genau unter Subjektivität vorstellen und wie individuelle oder kollektive Subjekte auf diskursiver Ebene interagieren. Die Legitimierung des Begriffs durch verschiedene Soziolekte im englischen und deutschen Kulturbereich (in der französischsprachigen Welt wird er weitaus seltener verwendet) hat zur Folge, daß er als Gemeinplatz der Erkenntnis- oder Wissenschaftstheorie kaum kritisch reflektiert wird. 1 Vgl. R. Rorty, Solidarität oder Objektivität. Drei philosophische Essays, Stuttgart, Reclam, 1988, S. 23. 2 Vgl. E. Husserl, Zur Phänomenologie der Intersubjektivität. Texte aus dem Nachlaß, Teil I (1905-1920), II (1921-1928) und III (1929-1935), Hrsg. I. Kern, Den Haag, Nijhoff, 1973. 3 S. Rinofner-Kreidl, Edmund Husserl. Zeitlichkeit und Intentionalität, Freiburg- München, Alber, 2000, S. 523. 4 Vgl. S. J. Schmidt, „Der Radikale Konstruktivismus: Ein neues Paradigma im interdisziplinären Diskurs“, in: S. J. Schmidt (Hrsg.), Der Diskurs des Radikalen Konstruktivismus, Frankfurt, Suhrkamp, 1987, S. 43. <?page no="152"?> 138 Deshalb wird im folgenden seine Verwendung bei Donald Davidson näher betrachtet und auf Karl Mannheims wissenssoziologischen Begriff der Aspektstruktur bezogen. Der Vergleich soll in Erscheinung treten lassen, was Davidsons Ansatz schon im Vorfeld ausblendet und was Mannheim mit seinen Lösungsvorschlägen auf der Ebene der „freischwebenden Intellektuellen“ verdeckt: die Unhintergehbarkeit ideologischer Sprachen. Die von den beiden Denkern angestrebte Verständigung zwischen verschiedenen Subjekten scheint zwar grundsätzlich möglich zu sein, jedoch nicht unter den von Davidson und Mannheim - letztlich idealisierten - Bedingungen. Intersubjektivität und Aspektstruktur gehören insofern zusammen, als Mannheims Argument, daß jedes Einzelsubjekt in einem kollektiven Kontext, in einer kollektiven Aspektstruktur steht, plausibel erscheint. Indem sich Davidson über die Existenz von Kollektivsubjekten und Aspektstrukturen als conceptual schemes hinwegsetzt, kann er Intersubjektivität als einen relativ unproblematischen Vorgang darstellen. Darin ist er dem Rationalisten Popper nicht unähnlich, von dem ihn jedoch die Voraussetzung einer allen Einzelsubjekten gemeinsamen Wertordnung trennt. Mannheim wiederum unterscheidet sich vom postmodernen Philosophen Lyotard u.a. dadurch, daß er nach einer Überwindung der von ihm entdeckten Partikularitäten und Verständigungshindernisse strebt. 1. Davidson: Subjektivität, Intersubjektivität und Sprache Anders als Popper, der die von ihm kritisierten frameworks (im Sinne von Kuhns Paradigmen) mit natürlichen Sprachen vergleicht und anschließend als „Mythen“ verabschiedet, setzt sich Davidson mit der Übersetzbarkeit von Begriffssystemen als conceptual schemes auseinander. Er neigt allerdings dazu, diese Schemata in einem individualistischen und universalistischen Diskurs aufzulösen. So kann Allen Hance behaupten, für Davidson sei die Idee eines conceptual scheme „nichts als ein weiteres Dogma des Empirismus“ („the idea of a conceptual scheme is but one more dogma of empiricism“). 5 Wie argumentiert nun Davidson? 5 A. Hance, „Pragmatism as Naturalized Hegelianism: Overcoming Transcendental Philosophy? “, in: H. J. Saatkamp (Hrsg.), Rorty and Pragmatism. The Phi- <?page no="153"?> 139 Gegen den Linguisten Whorf wendet er ein, daß dieser zwar behauptet, die Sprache der Hopi-Indianer und das Englische seien inkommensurabel, zugleich aber Hopi-Sätze auf Englisch kommentiert. Sein Einwand gegen Kuhn hat einen analogen Charakter: „Kuhn erklärt auf brillante Art, wie die Welt vor der [wissenschaftlichen] Revolution war und verwendet dabei - was sonst? - unsere nachrevolutionäre Sprache.“ 6 Diese universalistische Argumentation setzt er fort und läßt sie in einer impliziten Konsens-Theorie der Gesellschaft ausmünden: Die einzige Möglichkeit, Verständigungsprobleme zu lösen, erklärt er, besteht darin, „daß wir von einer allgemeinen Übereinstimmung in Glaubensfragen ausgehen“ („to assume general agreement on beliefs“). 7 Auch Dissens betrachtet er als in einen globalen Konsens („agreement“) eingebettet. Von seinem Konsens-Begriff ableitbar ist seine Auffassung dessen, was er als charity bezeichnet. Bekanntlich hängt die Richtung eines Diskurses, ja sogar das Telos, auf das er sich zubewegt, der Objekt-Aktant, von seinen Relevanzkriterien ab: von der normativen Antwort auf die Frage, was in der Gesellschaft wichtig, entscheidend oder relevant ist. Für Davidson scheint dies der Konsens zu sein, und eine der Modalitäten (möglicherweise die wichtigste), die es uns gestattet, diesen Konsens in Fragen der Erkenntnis wie auch in anderen Fragen herbeizuführen, ist die charity. Aus deutscher oder französischer Sicht scheint dieses Wort erklärungsbedürftig zu sein. Es macht stutzig, weil Davidson es zwar nicht definiert, aber so apodiktisch darauf besteht, daß sich beim Leser der Verdacht regt, auf eine diskursive Schwachstelle gestoßen zu sein. Da charity vieldeutig und schwer zu übersetzen ist, sei das Original wiedergegeben: „Since charity is not an option, but a condition of having a workable theory, it is meaningless to suggest that we might fall into massive error by endorsing it.“ 8 Das Diskurssubjekt geht hier so weit, daß es versucht, den schillernden Begriff gegen Kritik zu immunisieren. Es ist „sinnlos“ („meaningless“), einen Fehler auch nur zu vermuten. Schließlich losopher Responds to his Critics, Nashville-London, Vanderbilt Univ. Press, 1995, S. 103. 6 D. Davidson, Inquiries into Truth and Interpretation, Oxford, Clarendon Press, 1984, S. 184. 7 Ibid., S. 196. 8 Ibid., S. 197. <?page no="154"?> 140 erscheint charity als gottgewolltes Schicksal, dem sich die Sterblichen nicht entziehen können: „Charity is forced upon us; whether we like it or not, if we want to understand others, we must count them right in most matters. If we can produce a theory that reconciles charity and the formal conditions of a theory, we have done all that could be done to ensure communication. Nothing more is possible, and nothing more is needed.“ 9 Wenn wir andere verstehen wollen, müssen wir ihnen, nach Davidson, in den „meisten Angelegenheiten“ recht geben. Das vorsichtige Wörtchen „most“ läßt noch eine Rückzugsoption offen für den Fall, daß jemand in naiver, aber konsequenter Radikalität diese Aussagen auch auf Diskurse des Nationalsozialismus, des Faschismus oder des Leninismus anwendet: Nächstenliebe für alle - um der Verständigung willen. Aber was bedeutet charity eigentlich? Das lateinische Wort caritas meint u.a. Hochachtung, Liebe, Nächstenliebe, und in verschiedenen deutschen Wörterbüchern werden folgende Übersetzungen für charity angeboten: „Nächstenliebe“, „Wohltätigkeit“, „Güte“, „Milde“, „Nachsicht“ (andere Bedeutungen wie „Almosen“ oder „Wohlfahrtseinrichtung“ kommen hier nicht in Frage). Im Italienischen (carità) steht die Bedeutung Nächstenliebe an erster Stelle, während im Französischen die christlich-theologische Bedeutung dominiert: „la charité chrétienne“, „l’amour du prochain en vue de Dieu“. 10 Die Nächstenliebe steht an zweiter Stelle. Davidson selbst faßt charity nicht nur als Nächstenliebe auf, sondern konkret (im Anschluß an Quine) als den guten Willen des Hörers, seine eigenen Wahrheitskriterien („standards of truth“) 11 in die „Sätze“ des Sprechers hineinzuprojizieren. Daß diese hermeneutische Projektion zu Mißverständnissen und Vereinnahmungsversuchen, d.h. zu différends im Sinne von Lyotard, führen kann, wird von Davidson nicht bedacht. Dieser Exkurs in den lexikalischen Bereich ist alles andere als eine unnötige Steigerung der Komplexität: Denn er zeigt, daß es möglicherweise doch „begriffliche Rahmen“ oder „conceptual schemes“ gibt, die eine interkulturelle Verwendung des Wortes charity zumindest erschweren. So ist es kaum vorstellbar, daß sich jemand wie Lyotard auf 9 Ibid. 10 Le Petit Robert. Dictionnaire alphabétique et analogique de la langue française (par P. Robert), Paris, SNL, 1976, S. 261. 11 D. Davidson, Subjective, Intersubjective, Objective, Oxford, Univ. Press, 2001, S. 148. <?page no="155"?> 141 die charité berufen könnte, um den Widerstreit als différend zu überwinden. Auch im deutschen Sprachbereich werden sich Philosophen hüten, das von humanistischen Diskursen arg strapazierte Wort „Nächstenliebe“ in Diskussionen über Theoriebildung und Verständigung einzusetzen. Insgesamt erscheint charity bei Davidson als ein Analogon zu Habermas’ idealer Sprechsituation: Wie diese muß sie in jedem Kommunikationsprozeß vorausgesetzt, unterstellt werden. Nun setzt theoretische und andere Kommunikation aber keineswegs Nächstenliebe voraus. Obwohl charity - ebenso wie Kants „guter Wille“ - durchaus eine Voraussetzung für Fremdverstehen und Verständigung bildet, muß sie keineswegs dominieren. (So kann jemand z.B. eine religiöse oder politische Einstellung verabscheuen, weil er sie nur zu gut versteht, während er eine andere Einstellung liebend bewundern kann, weil er sie mißversteht.) Zu den anderen Voraussetzungen gehören in einer von Konflikten zerrissenen Gesellschaft: psychisch-soziale Ambivalenz, politisches Interesse, Mißtrauen und Kritik. Im vorliegenden Fall richtet sich Kritik gegen den Versuch, Sprache und Gesellschaft als von Konsens geprägte Welten darzustellen, in denen sich atomisierte und von Nächstenliebe beseelte Individuen verständigen. Denn Davidsons Auffassung der Intersubjektivität läßt genau diese Konsens-Ideologie erkennen, die auch den nordamerikanischen Funktionalismus beherrscht und eine vorwiegend rechtfertigende Funktion erfüllt. 12 Davidsons Definition von „Subjektivität“ läßt keine Verständigungshindernisse zwischen Einzelsubjekten erkennen, deren Gedanken einerseits privat sind („thoughts are private“), andererseits öffentlich („thought is necessarily part of a common public world“). 13 Die Darstellung von Subjektivität gipfelt bei ihm in einer Welt- und Wahrheitsauffassung, die auf Konsens zielt: „Nicht nur können die anderen erfahren, was wir denken, indem sie auf die kausalen Abhängigkeiten achten, die unseren Gedanken ihre Inhalte geben, sondern die Möglichkeit zu denken als solche setzt gemeinsame Wahrheits- 12 Vgl. A. W. Gouldner, Die westliche Soziologie in der Krise, Bd. I, Reinbek, Rowohlt, 1974, S. 403-405. Vom Funktionalismus heißt es dort auf S. 406: „Der heutige Funktionalismus präsentiert sich gern als politisch und ideologisch neutral. Er versteht sich selbst als über der Politik und der Parteilichkeit schwebend und insoweit als ‚wertfrei‘.“ 13 D. Davidson, Subjective, Intersubjective, Objective, op. cit., S. 52. <?page no="156"?> 142 und Objektivitätskriterien voraus.“ 14 Es wird sich zeigen, daß gerade dieser Gedanke von Mannheim radikal in Frage gestellt wird. Davidson aber scheint in einer Welt zu leben und zu schreiben, an der Tocqueville, Marx und Mannheim spurlos vorbeigegangen sind. Anders als Popper, der die Versuche des Wieners Kreises, einen „Universaljargon“ zu entwerfen, mit Skepsis betrachtet (vgl. Kap. VI, 1), knüpft er an Neuraths Universalismus an, um Intersubjektivität zu definieren: „Sprache ist ihrem Wesen nach, wie Neurath hervorhob, intersubjektiv; was die Wörter eines anderen in einem bestimmten Fall bedeuten, ist etwas, was wir im Prinzip anhand von öffentlichen Angaben erfahren können.“ 15 Wie sollen wir uns aber verhalten, wenn jemand (z.B. ein Leninist) mit „Wahrheit“ oder „Freiheit“ das genaue Gegenteil von dem meint, was wir uns vorstellen, weil er einen anderen Soziolekt spricht? Davidson läßt diese Frage gar nicht aufkommen. Anders als der Antirealist Rorty, der nur die Ebene intersubjektiver Verständigung gelten läßt und die „wirkliche Welt“ 16 ausklammert, stellt sich Davidson den Erkenntnisprozeß als ein Dreiecksverhältnis von Sprecher, Hörer und Welt vor: „two creatures, and each creature with common features of the world“. 17 Für die Gemeinsamkeiten bürgen der „Kontext einer gemeinsamen Welt“ 18 und eine „gemeinsame Sprache“. 19 Ausdrücke wie common und sharing dominieren in Davidsons Diskurs, der schließlich nicht nur eine gemeinsame Welt, sondern (wie schon der Funktionalismus von Parsons und Merton) auch ein gemeinsames Wertsystem postuliert: „Die Gedanken der anderen nachvollziehen setzt voraus, daß ich mit ihnen in derselben Welt lebe und viele ihrer Reaktionen auf deren wesentliche Merkmale, auch auf deren Werte (values), teile.“ 20 Auch die Einstellung zu Wertsetzungen und Werten erscheint hier als intersubjektives Faktum jenseits aller sprachlichen und ideologischen Konflikte. 14 Ibid. 15 Ibid., S. 174. 16 F. B. Farrell, „Rorty and Antirealism“, in: H. J. Saatkamp (Hrsg.), Rorty and Pragmatism, op. cit., S. 161: „Rorty and the Loss of the World“. 17 D. Davidson, Subjective, Intersubjective, Objective, op. cit., S. 212. 18 Ibid., S. 190. 19 Ibid., S. 210. 20 Ibid., S. 220. <?page no="157"?> 143 Eine solche Auffassung von Sprache, Gesellschaft und Subjektivität ist nur möglich, wenn die Konstitution der Subjekte in Soziolekten und Diskursen ausgeblendet wird. Dieser „blinde Fleck“ in Davidsons Sprachphilosophie ist wiederum auf die Ausrichtung seines Diskurses auf den Satz (als phrastisches Syntagma) zurückzuführen: Wo ausschließlich von „Sätzen“ 21 oder „sentences“ 22 die Rede ist, wird der Diskurs als transphrastische, semantisch-narrative Struktur mit Aussagesubjekt und Aktantemodell gar nicht wahrgenommen. Daher kann auch individuelle Subjektivität als diskursiver, narrativer Prozeß nicht beobachtet werden. Daß in dieser Situation auch kollektive Sprachen, die die Grundlage individueller Subjektkonstitutionen bilden, nicht wahrnehmbar sind, ist naheliegend. Auf sie konzentriert sich aber Mannheims Wissenssoziologie, die gerade die Aspekte des Erkenntnisprozesses beleuchtet, die bei Davidson im Dunkeln bleiben. 2. Mannheim: Ideologie und Aspektstruktur Im Gegensatz zu Davidson, der wie Rorty dem im Individualismus verankerten nordamerikanischen Pragmatismus folgt, knüpft Karl (Károly) Mannheim an den von Hegels Hermeneutik und vom Marxismus geprägten Budapester „Sonntagskreis“ an. Nicht zu Unrecht meint Eva Karádi, in den verschiedenen Positionen des Kreises (Lukács’, Mannheims, Arnold Hausers) Spuren einer „antiliberalen Entfremdungstheorie“ 23 zu erkennen. Daß diese Theorie, die nach einer Überwindung des liberalen Individualismus strebt, einen besonderen Spürsinn für den kollektiven Faktor entwickelt, nimmt nicht wunder. Was Mannheim in seiner Rezension von Lukács’ Geschichte und Klassenbewußtsein als „Seins- 21 Vgl. D. Davidson, „Subjektiv, intersubjektiv, objektiv“, in: Dialektik und Dialog. Rede von Donald Davidson anläßlich der Verleihung des Hegel-Preises 1992, Frankfurt, Suhrkamp, 1993, S. 74-75: „Im Grunde ordnet er jedem der Sätze des Sprechers einen seiner eigenen Sätze zu.“ (Solange der Diskurs ausgeklammert wird, bleibt diese Vorgehensweise abstrakt-naiv.) 22 Vgl. D. Davidson, Inquiries into Truth and Interpretation, op. cit., S. 193 und ders., Subjective, Intersubjective, Objective, op. cit., S. 88-89. 23 E. Karádi, „Einleitung“, in: E. Karádi, E. Vezér (Hrsg.), Georg Lukács, Karl Mannheim und der Sonntagskreis, Frankfurt, Sendler, 1985, S. 18. <?page no="158"?> 144 verbundenheit des Denkens“ 24 , konkreter als „Aspektstruktur“ bezeichnet, könnte auch mit den von Popper, Davidson und Kuhn eingeführten Begriffen framework, conceptual scheme oder Paradigma umschrieben werden. Freilich kann nur von einer Umschreibung die Rede sein, weil diese Begriffe keine Synonyme sind. Dennoch geht es in allen Fällen um den vom jungen Mannheim vorgebrachten Gedanken, daß Denken, auch theoretisches Denken, gruppenspezifischen Charakter hat. Schon deshalb kann theoretische Verständigung nicht als Angelegenheit atomisierter Individuen aufgefaßt werden. Das Kollektiv ist gedanklich und sprachlich im Individuum präsent, so daß auch individuelle Äußerungen einem Gruppenbewußtsein zugerechnet werden können: „Ist aber das jeweilige Bewußtsein des Individuums von Erlebnisschemata durchwirkt, die auch dann funktionieren, wenn die zu diesen Schemata gehörige Gruppe nicht leibhaftig gegenwärtig ist, so ist die Zurechnung gewisser Ideen zu gewissen Gruppen auch dann erlaubt (...).“ 25 Dieser Gedanke entspricht in mancher Hinsicht nicht nur Lukács’ Begriff des Klassenbewußtseins (vgl. Kap. VIII), sondern auch Lucien Goldmanns Begriff der Weltanschauung oder vision du monde, der ebenfalls ein „zugerechnetes Bewußtsein“ (als „conscience possible“) 26 meint, also eine Konstruktion im idealtypischen Sinne und nicht das empirische Bewußtsein des Einzelnen. Denn das Einzelbewußtsein muß nicht immer alle Komponenten des Gruppenbewußtseins verwirklichen. Dieses Bewußtsein selbst ist historisch, weil es sich der wandelnden ideologischen Konstellation anpaßt: „Die Ideologien der konservativen Schichten (ihre Zielsetzungen, ihr politisches Bekenntnis usw.) ändern sich je nach der Gesamtkonstellation, in der sich diese Ideologien bewähren müssen.“ 27 Wir haben es also im Falle von „Liberalismus“ oder „Konservatismus“ mit sich wandelnden Strukturen 24 K. Mannheim, „Über Geschichte und Klassenbewußtsein“, in: E. Karádi, E. Vezér (Hrsg.), Georg Lukács, Karl Mannheim und der Sonntagskreis, op. cit., S. 300. 25 K. Mannheim, Strukturen des Denkens, Hrsg. D. Kettler, V. Meja, N. Stehr, Frankfurt, Suhrkamp, 1980, S. 81. 26 Vgl. L. Goldmann, Sciences humaines et philosophie, Paris, Gonthier, 1966, S. 124-125. 27 K. Mannheim, Konservatismus. Ein Beitrag zur Soziologie des Wissens, Hrsg. D. Kettler, V. Meja, N. Stehr, Frankfurt, Suhrkamp, 1984, S. 59. <?page no="159"?> 145 zu tun, deren Rekonstruktionen bei Collini, Baglioni 28 oder Mannheim lediglich Momentaufnahmen historischer Prozesse sind. Dennoch haben wir Strukturen vor uns, die dem individuellen Denken und Sprechen vorgegeben sind: vorgegeben im Sinne von Pêcheux’ interdiscours 29 oder von P. Henry préconstruit. 30 Das kollektive Subjekt ist Bestandteil unserer individuellen Subjektivität: „Das Kollektivsubjekt in uns reicht genausoweit, als es in unserem Gesamtbewußtsein gemeinschaftlich gebundene, im konjunktiven Erfahrungsraum gesammelte Wissensgehalte gibt.“ 31 Individuelle Subjektivität geht jedoch über diese gesellschaftliche Bedingtheit, die Mannheim erwähnt, hinaus, weil der Einzelne auch Bewußtsein im allgemeinen Sinne („Bewußtsein überhaupt“, sagt Mannheim) 32 und zugleich ein „persönliches Subjekt“ 33 ist. Diese zusätzlichen Komponenten, die über das Gruppenspezifische hinausweisen, erklären, wie Reflexion, die Mannheim in diesem Kontext nicht erwähnt, möglich ist: Das Einzelsubjekt kann Horizonte jenseits seines Kollektivs ins Auge fassen; es kann auch verschiedene kollektive Weltanschauungen oder Aspektstrukturen, wie Mannheim sagt 34 , aufeinander beziehen, kombinieren oder relativieren. Mannheim redet keinem kollektivistischen Determinismus das Wort, sondern ermöglicht einen Reflexionsprozeß, der die verschiedenen Ideologien oder Aspektstrukturen zum Gegenstand macht, indem er sie gleichsam „von außen“ (wie Foucault sagen würde) 35 darstellt. Auf dieser Ebene ist er mit dem Soziologen Ilja Srubar durchaus als Vorläufer einer postmodernen Reflexion und Kritik der métarécits aufzufassen: „In dieser Perspektive steht natürlich an der Stelle der ‚großen Erzählung‘ vor allem die ‚Religion‘, wir werden jedoch se- 28 Vgl. G. Baglioni, L’ideologia della borghesia industriale nell’Italia liberale, Turin, Einaudi, 1974 und S. Collini, Liberalism and Sociology. L. T. Hobhouse and Political Argument in England 1880-1914, Cambridge, Univ. Press (1979), 1983. 29 Vgl. M. Pêcheux, Les Vérités de La Palice, Paris, Maspero, 1975, S. 152. 30 Vgl. P. Henry, „Constructions relatives et articulations discursives“, in: Langages 37, 1975. 31 K. Mannheim, Strukturen des Denkens, op. cit., S. 239-240. 32 Ibid., S. 240. 33 Ibid. 34 Vgl. K. Mannheim, Ideologie und Utopie, Frankfurt, Schulte-Bulmke, 1978 (6. Aufl.), S. 231-234. 35 Vgl. M. Foucault, La Pensée du dehors, Paris, Fata Morgana, 1986. <?page no="160"?> 146 hen, daß in Mannheims Konzept auch säkulare Metadiskurse die Position reflexiv überholter ‚métarécits‘ einnehmen.“ Srubar fügt hinzu, „daß das in den Ansätzen von Lyotard, Bauman und Beck sich präsentierende Vorwärtstasten der postmodernen Fragestellung in Mannheims Denken bereits weit entfaltet ist“. 36 Worin besteht nun genau Mannheims Vorwegnahme der Nachmoderne? Sie ist in der Erkenntnis zu suchen, daß die Fragmentierung der Gesellschaft und der mit ihr einhergehende „Zerfall der Werte“ 37 alle Bewußtseinsformen, Ideologien und Aspektstrukturen relativieren, „pluralisieren“. In diesem Kontext, in dem kein einheitliches Wertsystem vorausgesetzt werden kann, ist Verständigung nicht mehr als Kommunikation zwischen atomisierten Individuen denkbar, sondern nur als Vermittlungsversuch zwischen ideologischen Gruppen und ihren Aspektstrukturen oder Weltanschauungen. Der entscheidende Unterschied zwischen Popper und Davidson auf der einen Seite und Lyotard und Mannheim auf der anderen besteht in den gegensätzlichen Einschätzungen dieser gesellschaftlichen und sprachlichen Situation. Während Popper und Davidson meinen, daß die kollektiven Rahmenbedingungen (frameworks oder conceptual schemes) keine Rolle spielen oder leicht zu überwinden sind, weil letztlich doch alle an dieselben Begriffe glauben, erkennen Mannheim und Lyotard in ihnen die Hindernisse, auf die Kommunikationsversuche in einer fragmentierten Postmoderne immer wieder stoßen. Während sich Lyotard aber keine dialogische Lösung des Widerstreits oder différend vorstellen kann (aus seiner Sicht gibt es nur die Möglichkeit, vom „Widerstreit zu zeugen“, „témoigner du différend“) 38 , versucht Mannheim sehr wohl, die verschiedenen kollektiven Erkenntnissysteme oder Aspektstrukturen aufeinander zu beziehen. Als einer der ersten nimmt er - parallel zur Durkheim-Schule 39 - das Problem der Übersetzbarkeit verschiedener Aspektstrukturen in- 36 I. Srubar, „Mannheim und die Postmodernen“, in: M. Endreß (Hrsg.), Karl Mannheims Analyse der Moderne, Opladen, Leske und Budrich, 2000, S. 359 und S. 361. 37 Vgl. H. Broch, Die Schlafwandler. Eine Romantrilogie (1931-1932), Frankfurt, Suhrkamp, 1978, S. 496-498. 38 P.-J. Labarrière (Hrsg.), Témoigner du différend. Quand phraser ne se peut. Autour de Jean-François Lyotard, Paris, Osiris, 1989. 39 Vgl. den Aufsatz von M. Halbwachs, „La Psychologie collective du raisonnement (1938)“, in: ders., Classes sociales et morphologie, Paris, Minuit, 1972, S. 150. <?page no="161"?> 147 einander in Angriff. Dabei erscheinen Max Webers, Karl R. Poppers und Donald Davidsons Objektivität und Intersubjektivität in einem neuen Licht: „Im Falle des seinsverbundenen Denkens wird Objektivität nur etwas Anderes und Neues bedeuten: a) einmal die Tatsache, daß sofern man im selben System, in derselben Aspektstruktur steht, man gerade auf Grund der Einheitlichkeit der vorgegebenen Begriffs- und Kategorialapparatur mit Hilfe einer hier möglichen eindeutigen Diskutierbarkeit zu eindeutigen Ergebnissen kommen kann und alles davon Abweichende als Irrtum auszumerzen in der Lage ist, b) daß wenn man aber in verschiedenen Aspektstrukturen steht, die ‚Objektivität‘ nur auf Umwegen herstellbar ist, indem man nämlich hier das in beiden Aspektstrukturen richtig, aber verschieden Gesehene aus der Strukturdifferenz der beiden Sichtmodi zu verstehen bestrebt ist und sich um eine Formel der Umrechenbarkeit und Übersetzbarkeit dieser verschiedenen perspektivischen Sichten ineinander bemüht.“ 40 Zu Recht spricht Eckart Huke-Didier in diesem Zusammenhang von „einer im Kern konsensuellen Wahrheitstheorie“. 41 Anders als in dem hier vorgeschlagenen Modell (vgl. Teil III) wird bei Mannheim das Problem der Subjektivität, die ja in den Aspektstrukturen (Soziolekten und Diskursen) entsteht, nicht zur Sprache gebracht. Mannheim setzt seine Argumentation mit der Redewendung „hat man aber eine solche Formel sozusagen für die Umrechnungskontrolle herausgearbeitet“ 42 , fort und verdeckt mit dem Wörtchen „man“ das Subjektproblem. Denn auf semiotischer Ebene stellt sich die Frage nach der sprachlichen Beschaffenheit dieses „man“: Welcher Aspektstruktur, welchem Soziolekt gehört es an, und wie stellt es die „Umrechenbarkeit“ oder „Übersetzbarkeit“ der heterogenen Strukturen dar? Da Mannheim diese Frage auf sprachlicher Ebene nicht aufwirft, kann er eine Lösung des Problems ins Auge fassen, die immer wieder Kritiker auf den Plan ruft: die freischwebenden Intellektuellen, die schon im Konservatismus-Buch als Erben der Aufklärung für Unabhängigkeit bürgen sollten 43 , und die er indirekt mit dem Wertfreiheits- 40 K. Mannheim, Ideologie und Utopie, op. cit., S. 258. 41 E. Huke-Didier, Die Wissenssoziologie Karl Mannheims in der Interpretation durch die Kritische Theorie - Kritik einer Kritik, Frankfurt-Bern-New York, Lang, 1985, S. 334. 42 K. Mannheim, Ideologie und Utopie, op. cit., S. 258. 43 Vgl. K. Mannheim, Konservatismus, op. cit., S. 144-145. <?page no="162"?> 148 postulat assoziiert. 44 „Jene nicht eindeutig festgelegte, relativ klassenlose Schicht“, erklärt Mannheim, „ist (in Alfred Webers Terminologie gesprochen) die sozial freischwebende Intelligenz.“ 45 Es ist hier nicht der Ort, alle Argumente zusammenzutragen, die vor allem von Marxisten und Vertretern der Kritischen Theorie gegen diesen Vorschlag ins Feld geführt wurden. 46 Kurt Lenk bemerkt aus marxistischer Sicht: „Die Berufung auf die freischwebende Intelligenz als den Träger der neuen Synthese bleibt abstrakt, weil Geschichte als unendlicher Prozeß und deren Sinneinheit als bloße ‚Utopie‘ erscheinen.“ 47 Die Abstraktion dieses Konzepts hängt mit wesentlich konkreteren Faktoren zusammen: mit der Tatsache, daß die Intellektuellen als Gruppe selbst ideologisch und sprachlich heterogen sind. Sie sprechen nicht einen Soziolekt, sondern viele verschiedene, miteinander kollidierende ideologische Soziolekte, die unvereinbare Subjektivitäten entstehen lassen. Indem er sich über dieses Problem hinwegsetzt, bestätigt Mannheim Poppers und Davidsons Konsensdenken, das er auf ideologischer Ebene radikal in Frage stellt, auf höherer Ebene: auf der Ebene der Intellektuellen. Die Intellektuellen sind jedoch alles andere als freischwebend: Sie sind in den meisten Fällen für die Hervorbringung der miteinander rivalisierenden ideologischen Sprachen verantwortlich. Hegel, Croce und Gramsci, Marx, Lenin und Trotzki, Maurras, Déroulède und Alfred Rosenberg waren Intellektuelle. Es verhält sich gerade umgekehrt, als Mannheim es darstellt: Die Intellektuellen sind für die Zersplitterung der Gesellschaft in konkurrierende Weltanschauungen, Ideologien oder Aspektstrukturen mitverantwortlich. 44 Vgl. K. Mannheim, Strukturen des Denkens, op. cit., S. 275-276. 45 K. Mannheim, Ideologie und Utopie, op. cit., S. 135. 46 Vgl. V. Meja, N. Stehr (Hrsg.), Der Streit um die Wissenssoziologie, 2 Bde.: Die Entwicklung der deutschen Wissenssoziologie sowie Rezeption und Kritik der Wissenssoziologie, Frankfurt, Suhrkamp, 1982. 47 K. Lenk, Marx in der Wissenssoziologie, Lüneburg, Dietrich zu Klampen Verlag, 1986 (2. Aufl.), S. 50. <?page no="163"?> 149 3. Für einen reflektierenden Dialog Das Aufeinandertreffen von Davidsons karitativer Theorie der Verständigung und Mannheims Theorie der Aspektstrukturen läßt zweierlei erkennen: daß jede Theorie die Wirklichkeit anders konstruiert, und daß konkurrierende theoretische Konstruktionen einander einerseits in Frage stellen, andererseits ergänzen. Dies bedeutet, daß Konsens und Dissens einander keineswegs ausschließen, weil erst die Dialektik von Zustimmung und Ablehnung einen echten Erkenntnisprozeß auslöst. „Die Sprache des Romans“, schreibt Bachtin, „ist ein System von Sprachen, die einander dialogisch beleuchten.“ 48 Auf den hier konstruierten theoretischen Dialog angewandt, kann dieser Satz auch folgendes bedeuten: Mannheims Diskurs läßt die Hindernisse und Hürden erkennen, die Davidson umgeht, statt sie zu nehmen. Wie Hermann Brochs „polyhistorischer Roman“ 49 führt uns die im Budapester „Sonntagskreis“ verwurzelte Wissenssoziologie den Zerfall des gesellschaftlichen Wertsystems vor Augen: die ideologische, fachsprachliche und rhetorische Zerrissenheit unserer Welt. Sie ist auch als antizipierende Polemik gegen Davidsons Charity-Gedanken zu lesen: als radikale Kritik an einem Versuch, dort Einheit zu diagnostizieren, wo Hermetismus, Abschottung und Konflikt vorherrschen. Davidson scheint nicht zu verstehen, daß es nicht nur religiöse und politische, sondern auch theoretische Sekten gibt: „Man kann ja oft beobachten, daß je enger eine konjunktiv erkennende Gemeinschaft ist, desto sektiererischer ihre Sprache wird; daß sich in ihr eine eigene Terminologie ausbildet, in der die Worte der weiteren Sprachgemeinschaft immer weniger verständlich werden (...).“ 50 Wer sich die Konsequenzen dieser sprachlichen Sektenbildung vor Augen führt, der wird kaum Davidsons Zuversicht teilen, daß uns in dieser Situation charity aus irgendeiner Befangenheit erlöst. 48 M. M. Bachtin, Probleme der Poetik Dostoevskijs, München, Hanser, 1971, S. 306. 49 Vgl. H. Broch, Schriften zur Literatur II. Theorie, Frankfurt, Suhrkamp, 1975, S. 115. Zum Vergleich von Hermann Brochs und Karl Mannheims Gesellschaftstheorien siehe: Vf., „Irrationalität und Totalität bei Broch, Lukács und Mannheim“, in: K. Amann, H. Lengauer (Hrsg.), Österreich und der Große Krieg, Wien, Verlag Christian Brandstätter, 1989. 50 K. Mannheim, Strukturen des Denkens, op. cit., S. 218. <?page no="164"?> 150 Macht man sich nun Davidsons Perspektive zu eigen, um die Wissenssoziologie gleichsam „von außen“ zu betrachten, so wird man kaum die ironische Feststellung vermeiden können, daß Mannheims theoretische Anstrengungen schließlich dorthin führen, wo Davidson seine Argumentation beginnen läßt: zur karitativen Überwindung der conceptual schemes oder Aspektstrukturen durch die (hoffentlich) freischwebenden Intellektuellen. Diese sollen leisten, was bei Davidson alle Denker guten Willens vorab können - auch ohne freischwebend zu sein. Der steinige Umweg über die kollidierenden Aspektstrukturen scheint also umsonst gewesen zu sein. Er war nicht umsonst. Denn der hier angestellte Vergleich zeigt, daß Aspektstrukturen, frameworks oder Ideologien alles andere als Schimären sind, die sich bei gründlicher Analyse (Davidsons, Poppers) auflösen. Schimärenhaft ist allenfalls der Davidson und Mannheim gemeinsame Gedanke, daß irgend jemand außerhalb der Schemata, Aspektstrukturen oder Soziolekte stehen könnte. Dieser Gedanke konnte nur deshalb aufkommen, weil beide Autoren die sprachliche Konstitution individueller Subjektivität in der Gruppensprache vernachlässigen. Obwohl Mannheim, wie sich gezeigt hat, dieses Problem durchaus anschneidet, löst er es nicht. Vor allem bezieht er es nicht auf die - nur scheinbar - freischwebenden Intellektuellen, die sich in Wirklichkeit keineswegs über die Aspektstrukturen erheben können, die sie zu Subjekten machen. Ich kann mich zwar von meiner Aspektstruktur und meiner Subjektivität reflexiv und selbstkritisch distanzieren, aber ich kann sie nicht aufgeben, ohne mich selbst als Subjekt in Frage zu stellen, ohne „ein anderer“ zu werden. Wenn es einen sinnvollen theoretischen Dialog geben soll, so wird er nicht jenseits der Soziolekte und Subjekte stattfinden, sondern nur zwischen ihnen: in der realen sozio-linguistischen Situation. Ein solcher Dialog wird weder einen „karitativen“ noch einen „wertfreien“ Charakter haben: Er wird notgedrungen polemisch 51 sein. Seinen Erkenntniswert wird das nicht schmälern. 51 „Polemisch“ bedeutet hier weder unfair noch rhetorisch, noch sophistisch. <?page no="165"?> 151 VIII. Realismus und Konstruktivismus: Lukács und Glasersfeld Auch in diesem Fall scheinen sich die Extreme zumindest in einem Punkt zu berühren: in der oft impliziten Annahme, daß die Frage nach richtiger Erkenntnis mit der Existenz eines gesamtgesellschaftlichen Subjekts oder einer „Gemeinschaft der Beobachter“ zusammenhängt. Im folgenden geht es auch um die Existenz oder Nichtexistenz dieser Gemeinschaft und um ihre Funktion im Erkenntnisprozeß. Ernst von Glasersfeld, der die Existenz einer solchen Gemeinschaft nicht mehr voraussetzen kann oder will, geht stillschweigend vom Zustand einer pluralen oder fragmentierten Gesellschaft aus und redet einem Radikalen Konstruktivismus das Wort, der die Objektivität der Erkenntnistheorie konsequent durch die Konstruktion ersetzt. 1 In einer historischen und sprachlichen Situation, in der wir weder die göttliche noch eine gesamtgesellschaftliche Perspektive einnehmen können, müssen wir uns mit der Koexistenz konkurrierender Einzelkonstruktionen abfinden. Die traditionelle Erkenntnistheorie, welche die Erkennbarkeit der Realität voraussetzt, soll Glasersfeld zufolge - in Anlehnung an Vico und Kant 2 - durch eine konstruktivistische Theorie ersetzt werden. Da sich Georg Lukács nicht auf eine heillos zerrissene Gesellschaft bezieht, sondern auf die Möglichkeit, daß das Proletariat als gesamtgesellschaftliches Subjekt den historischen Klassenantagonismus in der klassenlosen Gesellschaft überwindet, kann er - in Übereinstimmung mit Hegel und Marx - von der grundsätzlichen Erkennbarkeit der einen Realität ausgehen. Im folgenden geht es nicht um die Frage, ob Glasersfelds Radikaler Konstruktivismus der 80er und 90er Jahre dem Totalitätsdenken von Geschichte und Klassenbewußtsein (1923), das Lukács selbst- 1 Vgl. E. von Glasersfeld, Konstruktivismus statt Erkenntnistheorie, Hrsg. W. Dörfler, J. Mitterer, Klagenfurt, Drava, 1998. 2 Vgl. E. von Glasersfeld, „Einführung in den Radikalen Konstruktivismus“, in: P. Watzlawick (Hrsg.), Die erfundene Wirklichkeit. Wie wissen wir, was wir zu wissen glauben? Beiträge zum Konstruktivismus, München, Piper, 1985 (3. Aufl.), S. 26. <?page no="166"?> 152 kritisch revidiert hat 3 , vorzuziehen sei, sondern um ein dialogisches Verständnis beider Positionen durch deren Verknüpfung. Zu diesem Verständnis sei in historischer Perspektive noch angemerkt, daß der Radikale Konstruktivismus in einer philosophischen und literarischen Spätmoderne verwurzelt ist, die sich - bei Nietzsche, Musil, Valéry oder Adorno - von Hegels Totalitätsdenken ausdrücklich distanziert hat 4 und später allmählich in die Postmoderne Rortys und Lyotards übergeht. Georg Lukács’ Welt hingegen ist in vieler Hinsicht noch die moderne Ära Hegels. Seinem Plädoyer für einen literarischen Realismus, der im Typus und im Typischen Hegels Kategorie der Totalität verpflichtet ist, entspricht sein Festhalten an einem erkenntnistheoretischen Realismus, der mit Fichte und Hegel auf der Möglichkeit beharrt, Kants „Ding an sich“, d.h. die Wirklichkeit als solche, zu erkennen. Soviel idealistische Zuversicht, die angesichts der unzähligen Kritiken 5 ihre autoritären Züge kaum noch kaschieren kann, mag heute als ein Anachronismus anmuten. Dieser soll aber erkennen lassen, was auf erkenntnistheoretischer Ebene verlorenging, und was weiterhin - auch im Radikalen Konstruktivismus - fehlt: der Archimedische Punkt, von dem aus Theorien beurteilt, überprüft werden könnten. 1. Georg Lukács oder der konstruierte Realismus Selbst wenn man keinen radikalen, sondern einen gemäßigten Konstruktivismus vertritt (was hier der Fall ist), wird man jede Theorie als eine diskursive oder semantisch-narrative Konstruktion und nicht als richtiges oder falsches Abbild der Wirklichkeit auffassen. Insofern er- 3 Vgl. G. Lukács’ „Vorwort (1967)“, zu G. Lukács, Geschichte und Klassenbewußtsein. Studien über marxistische Dialektik (1923), Darmstadt-Neuwied, Luchterhand (1968), 1975, S. 21-22. 4 Zum konstruktivistischen Bewußtsein der Spätmoderne (des Modernismus) vgl. Vf., Das literarische Subjekt. Zwischen Spätmoderne und Postmoderne, Tübingen-Basel, Frankce, 2001, Kap. VII: „Konstruktion und Dekonstruktion des Subjekts: Unamunos Niebla und Pirandellos Uno, nessuno e centomila“. 5 Die Kritiken an Hegels „Identitätsdenken“ sind zahlreich, beginnen im Junghegelianismus und nehmen bei Adorno und Lyotard radikale Formen an. <?page no="167"?> 153 scheint es lohnend, den hegelianischen Diskurs des jungen Lukács aus konstruktivistischer Sicht zu betrachten. In Geschichte und Klassenbewußtsein kommt das Wort „konstruiert“ zwar vor, wird jedoch nur beiläufig verwendet und erinnert an einen freudianischen lapsus linguae, der Verdrängtes zum Vorschein bringt. Die Dialektik wird dort gegen die bürgerlichen Wissenschaftsauffassungen verteidigt: „Diese dialektische Totalitätsbetrachtung, die sich scheinbar so stark von der unmittelbaren Wirklichkeit entfernt, die die Wirklichkeit scheinbar so ‚unwissenschaftlich‘ konstruiert, ist in Wahrheit die einzige Methode, die Wirklichkeit gedanklich zu reproduzieren und zu erfassen.“ 6 Sicherlich würde auch der ältere Lukács keine Fehlleistung zugeben, sondern geltend machen, daß er in dieser Passage das Wort „konstruiert“ gerade den Gegnern des dialektischen Denkens in den Mund legt. Er würde weiterhin auf der „realistischen“ Wiedergabe der Wirklichkeit durch die Dialektik beharren. Das hätte auch Hegel getan. Von ihm sagt John E. Smith im Zusammenhang mit der Hegelschen Kritik an Kants „Subjektivismus“ und an seiner These, daß wir das „Ding an sich“ nicht zu erkennen in der Lage sind: „In dieser Hinsicht war Hegel ein konsequenter Realist: Was wir erkennen, sind die Dinge selbst, ihre Eigenschaften, Einheiten und Beziehungen.“ 7 Ausgehend von der Erkennbarkeit des Realen, wirft Hegel Kant seinen Dualismus vor, sein Stehenbleiben bei der Erscheinung: „Die Kantische Philosophie ist theoretisch die methodisch gemachte Aufklärung, nämlich, daß nichts Wahres, sondern nur die Erscheinung gewußt werden könne.“ 8 Es wird sich zeigen, daß ein radikaler Konstruktivist wie Glasersfeld gerade an diesen „Subjektivismus“ Kants anknüpft. Bei Hegel selbst tritt das verdrängte konstruktivistische Moment zutage, etwa wenn es in der Wissenschaft der Logik von der bestimmten Negation heißt: „Sie ist ein neuer Begriff, aber der höhere, reichere Begriff als der vorhergehende; denn sie ist um dessen Negation oder Entgegengesetztes reicher geworden, enthält ihn also, aber auch 6 G. Lukács, Geschichte und Klassenbewußtsein, op. cit., S. 71. 7 J. E. Smith, „Hegel’s Critique of Kant“, in: J. J. O’Malley, K. W. Algozin, F. G. Weiss (Hrsg.), Hegel and the History of Philosophy. Proceedings of the 1972 Hegel Society of America Conference, Den Haag, Nijhoff, 1974, S. 118. 8 G. W. F. Hegel, Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie, Bd. III, Frankfurt, Suhrkamp, 1996 (3. Aufl.), S. 333. <?page no="168"?> 154 mehr als ihn, und ist die Einheit seiner und seines Entgegengesetzten. - In diesem Wege hat sich das System der Begriffe überhaupt zu bilden - und in unaufhaltsamem, reinem, von außen nichts hereinnehmendem Gange sich zu vollenden.“ 9 Das System erscheint hier nicht nur als autonomer, autopoietischer Prozeß, sondern als ein jenseits aller Realität angesiedeltes Konstrukt. Den Umstand, daß er trotz dieser Abgehobenheit vom Realen nie an der Wirklichkeit seines Systems zweifeln mußte, verdankt Hegel einer diskursiven Instanz (einem Aktanten im Sinne von Greimas), die im Diskurs selbst die Realitätsgarantie abgibt: dem Weltgeist. Dazu bemerkt Lukács: „Das ‚Wir‘, das er zu finden vermochte, ist bekanntlich der Weltgeist, oder besser gesagt seine konkreten Gestalten, die einzelnen Volksgeister.“ 10 Hätte Lukács an dieser Stelle statt „finden“ - mit Glasersfeld und Heinz von Foerster 11 - „erfinden“ gesagt, hätte er seine marxistische Kritik an Hegel in einen konstruktivistischen Diskurs überleiten können, der Hegels Konstruktionsmechanismen bloßgelegt und die postulierte Einheit von Subjekt und Objekt Lügen gestraft hätte. Sein Hinweis auf Hegels Weltgeist ermöglicht indessen eine Bloßlegung seiner eigenen Konstruktionsverfahren, die ebenfalls auf eine Einheit von Subjekt und Objekt, von Denken und Sein hinauslaufen. Denn auch Lukács beruft sich auf eine diskursive Instanz, die als Kollektivaktant für Wahrheit und Wirklichkeitssinn bürgt: auf das Proletariat als Subjekt der Geschichte. Dieses ist das „Wir“, das Kollektiv, das nicht nur als Bezugsgruppe und Bezugspunkt des marxistischen Philosophen auftritt, sondern zugleich die notwendigen Garantien für wahre, unverzerrte Erkenntnis abgibt. Es kann diese Garantien abgeben, weil es in Lukács’ (wie auch in Marx’) Diskurs mit bestimmten Modalitäten ausgestattet wird: als Klasse, die den Klassenantagonismus aufheben und die menschliche Totalität verwirklichen wird. Im Gegensatz zum Bürgertum, das seine Herrschaft „im Interesse einer Minorität“ 12 ausübt, ver- 9 G. W. F. Hegel, Wissenschaft der Logik, Bd. I, Frankfurt, Suhrkamp, 1969, S. 49. 10 G. Lukács, Geschichte und Klassenbewußtsein, op. cit., S. 263. 11 Vgl. H. von Foerster, E. von Glasersfeld, Wie wir uns erfinden. Eine Autobiographie des radikalen Konstruktivismus, Heidelberg, Carl-Auer-Systeme Verlag, 1999, S. 122-123. 12 G. Lukács, Geschichte und Klassenbewußtsein, op. cit., S. 148. <?page no="169"?> 155 körpert das Proletariat „die Gesellschaft als konkrete Totalität“. 13 Daher kann Lukács vom „wahren Klassenbewußtsein des Proletariats“ 14 sprechen. Im Gegensatz zum Proletariat steht das Bürgertum nicht nur für „minoritäres“ Denken, sondern auch für extreme Spezialisierung und Zerstückelung. Ähnlich wie Hermann Broch 15 führt Lukács den Irrationalismus des Bürgertums auf die Grenzen und Schranken zurück, welche die „rationalistischen Teilsysteme“ 16 der bürgerlichen Gesellschaft gegeneinander abschotten. Während das Bürgertum „in der Unmittelbarkeit stecken bleibt“ 17 , garantiert das proletarische Bewußtsein die der Wirklichkeit „adäquate“, weil auf das Ganze, die Hegelsche Totalität, ausgerichtete Erkenntnis: „Freilich ist die Erkenntnis, die sich vom Standpunkt des Proletariats ergibt, die objektiv wissenschaftlich höhere; liegt doch in ihr methodisch die Auflösung jener Probleme, um die die größten Denker der bürgerlichen Epoche vergeblich gerungen haben, sachlich die adäquate geschichtliche Erkenntnis des Kapitalismus, die für das bürgerliche Denken unerreichbar bleiben muß.“ 18 Hier treten zwei wesentliche Aspekte von Lukács’ Realismus zutage: Es gibt verschiedene historische Stufen des Denkens, und die proletarische ist in diesem Fall die höhere; die proletarische Denkform ist der (kapitalistischen) Wirklichkeit adäquater als die bürgerliche. Im Anschluß an diese Betrachtungen sind zwei Argumente möglich. Es kann mit Lukács’ Kritikern der Zwischenkriegszeit behauptet werden, daß Geschichte und Klassenbewußtsein eine idealistische, hegelianische Konstruktion ist, die (semiotisch gesehen) dadurch zustande kommt, daß das Aussagesubjekt die Arbeiterklasse als „Proletariat“ zu einem mythischen Aktanten stilisiert, den es mit phantastischen Modalitäten kognitiver Art ausstattet. Das komplementäre Argument lautet, daß diese Konstruktion nicht einfach als Hirngespinst eines einsamen Intellektuellen zu deuten ist, weil sie durch die Präsenz einer (scheinbar) revolutionären Arbeiterklasse in der Gesellschaft der Zwischenkriegszeit ermöglicht wurde. 13 Ibid., S. 125. 14 Ibid., S. 169. 15 Vgl. H. Broch, Die Schlafwandler, Frankfurt, Suhrkamp, 1978, S. 498. 16 G. Lukács, Geschichte und Klassenbewußtsein, op. cit., S. 309. 17 Ibid., S. 288. 18 Ibid. <?page no="170"?> 156 Sie legitimierte den Glauben des Intellektuellen an ein „Wir“, das als Menschheit wahre Erkenntnis oder Erkenntnis einer allen gemeinsamen Wirklichkeit garantieren konnte. Wo dieses „Wir“ als gemeinsame Erkenntnisgrundlage verschwindet, dort stellt sich der Zweifel an der „Wirklichkeit“ gleichsam von selbst ein. Nun kann man freilich einwenden, daß dieses „Wir“ bei Lukács und Hegel ein Mythos und ein nostalgieerfüllter Anachronismus war. Das ist insofern richtig, als auch in mythischen (archaischen) Gesellschaften Zweifel an der „Wirklichkeit“ oder an der „Wahrheit“ („Adäquatheit“) der Wahrnehmung nicht aufkommen können: weil die Wahrheit der Wahrnehmung von dem allen gemeinsamen Mythos verbürgt wird. Wo die letzten Reste des mythischen Denkens zerfallen (z.B. in der Spätmoderne), dort scheint sich konstruktivistisches Bewußtsein in seinen vielen Varianten als die einzig mögliche Lösung anzubieten. Dennoch sollte Lukács’ (Hegels) Lösungsversuch nicht vorschnell in den Bereich eines überwundenen archaischen Denkens relegiert werden. Denn es wird sich zeigen, daß die Frage nach dem Verhältnis von „Wir“ und Wirklichkeitserkenntnis auch im Radikalen Konstruktivismus nicht verstummen will - ebensowenig wie die Frage nach der Konstruktion in Lukács’ und Hegels Diskursen, die sich stillschweigend-monologisch mit der Wirklichkeit identifizieren. 19 2. Ernst von Glasersfeld oder der Zerfall der Wirklichkeit in der Postmoderne Solange man den philosophischen Bereich, den Bereich der „philosophischen Evolution“, würden die russischen Formalisten sagen, nicht verläßt, fällt es nicht schwer, den grundsätzlichen Unterschied zwischen dem Marxisten Lukács und einem radikalen Konstruktivisten wie Ernst von Galsersfeld zu erklären. Während Lukács im Anschluß an Hegel die Realität als solche, als Totalität, für erkennbar hält und in Kants unerkennbarem „Ding an sich“ das Relikt eines überholten Ra- 19 Zur Kritik des „Identitätsdenkens“ (als Ideologie) vgl. Th. W. Adorno, Negative Dialektik, Frankfurt, Suhrkamp, 1966, S. 396 sowie Vf., Ideologie und Theorie. Eine Diskurskritik, Tübingen, Francke, 1989, Kap. II. <?page no="171"?> 157 tionalismus zu erkennen meint, zeigt Glasersfeld mit Kant die Grenzen der Erkenntnis auf. Die von Glasersfeld aufgeworfene Kernfrage des Konstruktivismus lautet, „wie es dazu kommt, daß wir in unserer Erlebniswelt eine Struktur suchen und auch finden können, die nicht eine Spiegelung der Wirklichkeit ist“. 20 Der radikale Konstruktivist meint, Ansätze zu einer Antwort auf diese Frage bei Giambattista Vico und Kant zu finden: „Wie Vico schon 1710 bemerkt hat, ist das Wort factum das Partizip der Vergangenheit des lateinischen Wortes facere, ‚machen‘. Dies ließ ihn das erkenntnistheoretische Prinzip formulieren, daß Menschen nur das erkennen können, was Menschen selbst gemacht und also aus Elementen zusammengesetzt haben, die ihnen zugänglich waren.“ 21 Erkenntnis ist folglich ein zugleich subjektiver und konstruktiver Vorgang. Um Mißverständnisse zu vermeiden sei hinzugefügt, daß hier nicht die Erkennbarkeit von Naturobjekten, die ja kein Menschenwerk sind, negiert wird; aber Naturwissenschaftler können solche Objekte nur als ihre eigenen Konstrukte erkennen und nicht „an sich“: das Licht als Partikel oder Welle, das Wasser als H 2 O usw. In Übereinstimmung mit Kant behauptet auch ein radikaler Konstruktivist wie Humberto Maturana, daß unsere Erkenntnis nur subjektiv sein kann: „Man erklärt nämlich nicht das Universum oder die Realität, sondern lediglich die Kohärenzen der eigenen Erfahrung.“ 22 Wie weiß man aber, daß die Kohärenzen der eigenen Erfahrung besser sind als die konkurrierenden Kohärenzen der anderen - unserer Gesprächspartner oder Kritiker? Spätestens hier wird deutlich, daß es nicht genügt, die Frage nach dem Unterschied zwischen Lukács und Glasersfeld, zwischen Hegelianismus und Konstruktivismus mit einem Hinweis auf die gegensätzlichen Positionen Kants und Hegels zu klären. Es erscheint notwendig, weiter auszuholen und den gesellschaftlichen Kontext einzubeziehen. 20 E. von Glasersfeld, „Einführung in den radikalen Konstruktivismus“, in: P. Watzlawick (Hrsg.), Die erfundene Wirklichkeit, op. cit., S. 26. 21 E. von Glasersfeld, Radikaler Konstruktivismus. Ideen, Ergebnisse, Probleme, Frankfurt, Suhrkamp, 1996, S. 188. 22 H. Maturana, Was ist erkennen? Die Welt entsteht im Auge des Betrachters, München, Piper 1994, Goldmann 2001, S. 53. <?page no="172"?> 158 Er kam schon im Zusammenhang mit Lukács’ Erkenntnistheorie zur Sprache, deren Realismus aus der revolutionären Zuversicht des Hegelianers und Marxisten abgeleitet wurde: aus der (imaginären) Gemeinschaft des radikalen Intellektuellen mit dem Proletariat. Nach dem Scheitern der Revolution („auch dort, wo sie gelang“, Adorno), nach dem Übergang in eine pluralisierte und fragmentarische Postmoderne ist keine Gemeinschaft dieser Art mehr vorstellbar. Bei Glasersfeld erscheinen sowohl Gesellschaft als auch Sprache als zerfallene Welten. Den social constructionists wirft er vor, von shared meanings zu sprechen: „Das ist sehr irreführend. (...) Da gibt es nicht eine Bedeutung, die außen, unabhängig vom Sprecher oder Hörer, dasteht, an der beide teilhaben. Sondern da ist die Bedeutung, die der eine hat, und die des anderen.“ 23 Glasersfeld schneidet ein postmodernes Problem par excellence an, wenn er die sich widersprechenden Bedeutungen von Wörtern und Symbolen kommentiert. Für ihn gibt es keine Gemeinsamkeit auf sprachlicher (semantischer) Ebene: „Es ist meine Erfahrung, daß die Vorstellung, Wörter/ Symbole hätten feste Bedeutungen, die von allen Sprachbenutzern geteilt werden, in jedem Gespräch zusammenbricht, das eine Interaktion auf der Ebene der Begriffe verlangt, also in jedem Gespräch, das über den schlichten Austausch beruhigender, vertrauter Laute hinausgeht.“ 24 Diese Bemerkungen klingen noch radikaler, als was Lyotard über die Paralogie und den Widerstreit zu sagen hat. Sie sind mit dem Sprachuniversalismus, den Popper gegen die Framework-Theoretiker ins Feld führt, unvereinbar. Komplementär zum Gedanken an eine allgemeingültige Sprache verabschiedet Glasersfeld den Gedanken des kritischen Rationalisten, „daß die fortgesetzte Folge von Falsifikation und neuer Hypothese eine Annäherung an die ontische Welt bedeutet“. 25 Diese beiden Gedanken hängen insofern zusammen, als das Postulat einer gemeinsamen Sprachwelt die Hoffnung auf eine gemeinsame Erkenntnis der Wirklichkeit legitimiert. Wo der rationalistische Diskurs von einem unbestimmten „Wir“ - in welcher Gestalt auch immer - ausgeht, dort kann es auch einen kritischen und skeptischen Realismus geben, der zwar Hegels und Lu- 23 E. von Glasersfeld, Radikaler Konstruktivismus, op. cit., S. 353. 24 Ibid., S. 182. 25 E. von Glasersfeld, „Abschied von der Objektivität“, in: P. Watzlawick, P. Krieg (Hrsg.), Das Auge des Betrachters. Beiträge zum Konstruktivismus, München, Piper, 1991, S. 29. <?page no="173"?> 159 kács’ Identität von Subjekt und Objekt, von Diskurs und Wirklichkeit verwirft, an der grundsätzlichen Erkennbarkeit der Realität jedoch nicht zweifelt. Bei Ernst von Glasersfeld, der die Realität als „unnahbaren ontologischen Bereich“ 26 von einer dem Denken und Handeln zugänglichen Wirklichkeit unterscheidet, kommt dieser Zweifel auf, weil er einem radikalen Individualismus und Pluralismus das Wort redet, der tendenziell die Möglichkeit von Kommunikation in Frage stellt - wie sich weiter oben gezeigt hat. Die Existenz von überindividuellen, kollektiven Faktoren (im Sinne von Durkheim, Marx oder Bourdieu) wird von Glasersfeld systematisch in Abrede gestellt. Auch in dieser Hinsicht erscheint er als Antipode Lukács’: „Die Analyse sozialer Phänomene kann nur dann erfolgreich sein, wenn sie sich vollkommen der Tatsache bewußt bleibt, daß der Verstand, der viable Begriffe und Schemas konstruiert, unter allen Umständen der Verstand eines Individuums ist. Auch ‚die anderen‘ und ‚die Gesellschaft‘ sind daher Begriffe, die von Individuen auf der Grundlage ihrer eigenen subjektiven Erfahrungen konstruiert werden.“ 27 Es fragt sich allerdings, wie ein Verstand, der in der Lage ist, Begriffe zu konstruieren, ohne Sozialisierungsprozesse in gesellschaftlichen Strukturen und Institutionen überhaupt zustande kommen soll. Definiert Saussure die Sprache nicht als „kollektive Gewohnheit“, als „ensemble des habitudes collectives“? 28 Glasersfeld verstrickt sich in Widersprüche, wenn er einerseits von der Unvereinbarkeit, andererseits von der Vereinbarkeit individueller Begriffssysteme spricht. Von den Menschen sagt er: „Auch wenn sie die gleichen Wörter benutzen wie wir, scheint das Netzwerk der Begriffe, das sie in ihrem Kopf haben, unvereinbar zu sein mit dem, was wir selbst aufgebaut haben.“ 29 An anderer Stelle möchte er das Unvereinbare doch wieder versöhnen: „Die Begriffsstrukturen, die man als Kenntnis und Wissen bezeichnet, sind subjektiv, nicht nur in dem Sinn, daß jedes Individuum sie für sich aufbauen muß, sondern auch weil Begriffsstrukturen eines einzelnen nicht mit jenen anderer verglichen werden können. Das heißt jedoch nicht, daß sie innerhalb 26 E. von Glasersfeld, Wege des Wissens. Konstruktivistische Erkundungen durch unser Denken, Heidelberg, Carl-Auer-Systeme Verlag, 1997, S. 47. 27 E. von Glasersfeld, Radikaler Konstruktivismus, op. cit., S. 199. 28 F. de Saussure, Cours de linguistique générale, Paris, Payot, 1972, S. 197. 29 E. von Glasersfeld, Radikaler Konstruktivismus, op. cit., S. 199. <?page no="174"?> 160 einer Gesellschaft nicht doch weitgehend miteinander vereinbar sind.“ 30 Was nun: unvereinbar oder vereinbar? Scheinbar unbedeutende Redewendungen wie „scheint“ und „weitgehend“ drücken eine gewisse Ratlosigkeit aus. Sie rührt unter anderem daher, daß Glasersfeld alle kollektiven Faktoren, die individuelle Subjektivität ermöglichen (wie Institution, Gruppe oder Soziolekt), ausblendet und daher über die Begriffsstrukturen des Einzelnen nichts Konkretes zu sagen vermag. Dies führt dazu, daß er über die Vereinbarkeit oder Unvereinbarkeit dieser Strukturen nur abstrakt spekulieren kann. Konkret, d.h. im sozialen Kontext betrachtet, stellt sich das Problem wie folgt dar: Individuelle Subjektivität geht aus Sozialisierungsprozessen in Institutionen, Gruppen und Soziolekten hervor, und Kommunikation (Intersubjektivität) innerhalb eines Soziolekts ist ganz anders beschaffen als Kommunikation zwischen Soziolekten. Während sich Vertreter des Liberalismus schnell einig sind, „daß sich Leistung lohnt“, werden Feministinnen einhellig die Diagnose bestätigen, daß Frauen in Wirtschaft und Wissenschaft trotz Leistung benachteiligt werden. Zwischen dem liberalen und dem feministischen Soziolekt kann es daher zu Verständigungsproblemen kommen, z.B. weil das Wort „Gerechtigkeit“ jeder Gruppe etwas anderes bedeutet. Ergebnis: Innerhalb eines Soziolekts herrscht meistens Vereinbarkeit, während zwischen Soziolekten Unvereinbarkeit vorherrschen kann - aber nicht muß. Da Glasersfeld im Gegensatz zum Universalisten Popper sprachliche Heterogenität, ja Inkommensurabilität auf individueller Ebene postuliert, opfert er das spätmoderne „Wir“ der kritischen Rationalisten einer postmodernen Segmentierung, die an Lyotards „Widerstreit“ erinnert. Der konstruktivistische Widerstreit spielt sich jedoch nicht zwischen „Satzregelsystemen“ oder „Diskursgattungen“ ab, sondern zwischen atomisierten Individuen. Diese sollen bei Glasersfeld aber trotz aller Differenzen und Widersprüche kommunizieren können. Denn der Konstruktivist beruft sich - wie Popper - auf Intersubjektivität: „Im konstruktivistischen Modell sind ‚die Anderen‘ nun eben das, was es dem kognitiven Subjekt ermöglicht, eine höhere, intersubjektive Wirklichkeit aufzu- 30 E. von Glasersfeld, Konstruktivismus statt Erkenntnistheorie, op. cit., S. 37. <?page no="175"?> 161 bauen.“ 31 Wie sollen aber die anderen im Erkenntnisprozeß des Einzelnen irgend etwas ermöglichen, wenn die „begrifflichen Netzwerke“ verschiedener Individuen unvereinbar sind (oder zu sein scheinen: s.o.)? Wie soll intersubjektive Verständigung zustande kommen, wenn die Vorstellung von einer gemeinsamen Sprache „in jedem Gespräch zusammenbricht“ (s.o.)? Trotz aller fundamentalen Gegensätze, die den modernen Liberalismus vom modernen Marxismus trennen, sind sich Popper und Lukács in einem Punkt einig: Wahre Erkenntnis setzt langfristig universelle Zustimmung voraus. Während bei Popper diese Zustimmung eher negativen Charakter hat und sich auf die intersubjektive Überprüfung von Theorien oder Aussagen bezieht, hat sie bei Lukács historischen Charakter: Der jenseits des Klassenantagonismus verwirklichten Menschheit wird die wahre Erkenntnis zuteil. Nicht zufällig bezeichnet Lukács die Bourgeoisie (im Anschluß an Marx) als „Minorität“ 32 : Als Minderheit kann sie nicht für das Ganze sprechen, für die „Menschheit als Einheit“ 33 , wie Agnes Heller später sagen wird. Glasersfelds Problem besteht darin, daß er sich zwar - wie Popper und Davidson - für das intersubjektive Prinzip stark macht, andererseits aber den Agnostizismus so weit treibt, daß er auf den Wahrheitsbegriff verzichtet 34 und an der Einheit und Allgemeingültigkeit der Sprache zweifelt. Er ersetzt „Wahrheit“ durch „intersubjektive Viabilität“: „Die Tatsache allerdings, daß ein Individuum die Bestätigung durch andere Menschen benötigt, um intersubjektive Viabilität von Denk- und Handlungsweisen zu erreichen, macht es logisch notwendig, die anderen als autonome Konstrukteure anzuerkennen.“ 35 Er meint, wir sollten die Denkweisen und Tricks, die wir selbst anwenden, mit denen der anderen vergleichen: „Dadurch werden die Denkweise und die Tricks gewissermaßen intersubjektiv, und das ist eine höhere Ebene der Gangbarkeit oder der Viabilität, als wenn ich nur sage, ich benütze das, aber ich weiß nicht, ob das auch für jemand anderen Gültigkeit hat.“ 36 Das ist zweifellos richtig; es fragt sich nur, 31 E. von Glasersfeld, Wege des Wissens, op. cit., S. 59. 32 Vgl. G. Lukács, Geschichte und Klassenbewußtsein, op. cit., S. 148. 33 Vgl. A. Heller, Philosophie des linken Radikalismus. Ein Bekenntnis zur Philosophie, Hamburg, VSA-Verlag, 1978, S. 132. 34 Vgl. E. von Glasersfeld, Wege des Wissens, op. cit., S. 166. 35 E. von Glasersfeld, Radikaler Konstruktivismus, op. cit., S. 208-209. 36 E. von Glasersfeld, Konstruktivismus statt Erkenntnistheorie, op. cit., S. 67. <?page no="176"?> 162 wie diese höhere Ebene jemals erreicht werden soll, wenn die „begrifflichen Netzwerke“ der Gesprächspartner unvereinbar sind, wie Glasersfeld selbst sagt. Der Widerspruch besteht in diesem Fall darin, daß die intersubjektive Gemeinsamkeit, die es strenggenommen nicht mehr gibt, doch wieder beschworen wird. So ist es zu erklären, daß Glasersfeld die individuellen Sprachen oder Begriffssysteme bald als unvereinbar, bald als vereinbar betrachtet. Denn an anderer Stelle heißt es: „Dadurch bekommt man zwar keine Bedeutungsgleichheit, aber ein Anpassen der individuellen Bedeutungen so, daß sie sich weitgehend überdecken.“ 37 Eine solche (teilweise) Übereinstimmung ist wohl unerläßlich, wenn man weiterhin an der Intersubjektivität festhalten will. Aber kommt sie auch zustande? Das ist bei Glaserfeld äußerst ungewiß. Da er alle kollektiven Faktoren individualistisch ausblendet, nimmt er im individuellen Sprachgebrauch auch nicht die Gruppensprachen oder „Aspektstrukturen“ im Sinne von Mannheim (Kap. VII) wahr, die Intersubjektivität innerhalb der Gruppe ermöglichen und mit Hilfe der habitude collective (Saussure) der natürlichen Sprache ineinander übersetzt werden könnten. (Das Kollektive trennt nicht nur; es verbindet auch.) Das Problem der Übersetzbarkeit kommt bei ihm aber nicht vor. Im Rahmen des hier dargestellten Widerspruchs oszilliert er zwischen dem Pol der Vergleichbarkeit und dem Pol der Nichtvergleichbarkeit individueller Begriffssysteme, die alle als beliebig und austauschbar erscheinen. Dieses Oszillieren ist ein Symptom dessen, was Lukács als die „Atomisierung des Individuums“ 38 im Kapitalismus bezeichnet hat. In der Postmoderne nimmt diese Atomisierung extreme Formen an. Zum Abschluß sei angemerkt, daß Glasersfelds Ausdruck „intersubjektive Viabilität“ nicht nur die Existenz einer wirklichen Welt (die der Konstruktivist nicht leugnet) voraussetzt, sondern auch eine bestimmte Beschaffenheit dieser Welt behauptet: nicht nur weil das Wort „Viabilität“ Spuren des Realismus aufweist (lat. via = Weg), sondern auch deshalb, weil sich intersubjektive Verständigung in diesem Fall nur auf den „Verlauf des Weges“ (das „Wie“ der Welt) beziehen kann. 37 Ibid., S. 100. 38 G. Lukács, Geschichte und Klassenbewußtsein, op. cit., S. 182. <?page no="177"?> 163 3. Ein Ausweg aus der Beliebigkeit? Nicht alle Varianten des Radikalen Konstruktivismus sind so radikalindividualistisch wie Glasersfelds Ansatz. Die Biologen Maturana und Varela, die weder für kollektivistische noch für soziologische Argumentationen bekannt sind, gehen nicht von isolierten Individuen aus, sondern sprechen von einer „Gemeinschaft der Beobachter“ und von der „Aufstellung eines Systems von Konzepten, das fähig ist, das zu erklärende Phänomen in einer für die Gemeinschaft der Beobachter annehmbaren Weise zu erzeugen (...)“. 39 Es ist allerdings von der „Gemeinschaft der Beobachter“ allgemein die Rede, nicht von einer spezifischen Gemeinschaft, die sich von anderen Gemeinschaften gesellschaftlich oder sprachlich unterscheiden könnte. Im vorigen Kapitel hat sich jedoch im Zusammenhang mit Mannheims Wissenssoziologie gezeigt, wie prekär es ist, von einer (kulturell, ideologisch, sprachlich) homogenen Erkenntnisgemeinschaft auszugehen: Was für die eine Gruppe annehmbar ist, kann für die andere schon fragwürdig oder gar unannehmbar sein. Auch bei anderen Anhängern des Radikalen Konstruktivismus erscheint das gemeinschaftliche „Wir“ als problematisches Postulat. So stellt beispielsweise Siegfried J. Schmidt in Übereinstimmung mit Maturana und Glasersfeld fest, daß der Radikale Konstruktivismus keine Möglichkeit bietet, „in einem korrespondenztheoretischen Sinne zwischen Wahrheit oder Falschheit von Aussagen über ‚die Wirklichkeit‘ zu unterscheiden“. Die konstruktivistische Alternative scheint klar vorgezeichnet zu sein: „Vielmehr orientiert er (...) empirische Forschung radikal um auf die Frage, wie nützlich die neuen kognitiven Orientierungsrahmen für uns sind; was wir damit denken und tun können; wie sich die damit eröffneten neuen Denk- und Handlungsmöglichkeiten auf die Erreichbarkeit unserer Ziele und die Erfüllbarkeit unserer Wünsche auswirken (...).“ 40 Dies alles klingt recht plausibel, solange man die scheinbar nebensächlichen Wörtchen „wir“ und „uns“ überhört. In Wirklichkeit bilden 39 H. Maturana, F. Varela, Der Baum der Erkenntnis. Die biologischen Wurzeln menschlichen Erkennens, Bern-München, Scherz Verlag-Goldmann, 1987, S. 34. 40 S. J. Schmidt, „Der Radikale Konstruktivismus: Ein neues Paradigma im interdisziplinären Diskurs“, in: S. J. Schmidt (Hrsg.), Der Diskurs des Radikalen Konstruktivismus, Frankfurt, Suhrkamp, 1987, S. 41. <?page no="178"?> 164 sie die Grundlage der hier dargebotenen Gedankenkonstruktion: Wer sind „wir“? Wer denkt, entscheidet und handelt? Wer entscheidet über die Nützlichkeit einer Theorie oder einer theoretischen Position? Die „kognitiven Orientierungsrahmen“, die radikale Konstruktivisten für nützlich halten, werden von kritischen Rationalisten, Marxisten, Feministinnen oder Dekonstruktivisten möglicherweise als schädlich abgelehnt. Wir haben es also im Falle von Schmidt - wie schon bei Maturana und Varela - mit einem mythischen „Wir“-Aktanten zu tun, der dazu angetan ist, einen möglicherweise autoritären Monolog zu legitimieren: nach dem Motto „Wir wissen ja alle, was nützlich, vernünftig, normal ist“. Hier wird in zerfallener Gesellschaft Konsens vorgetäuscht, wo keiner ist. Es wird uns suggeriert, daß auch wir diesem mythischen „Wir“ angehören. Dies erinnert an Lukács’ diskursiven Trick, den historischen Ort des mythischen Aktanten „Proletariat“ mit dem real existierenden Aktanten „Partei“ zu besetzen - mit unabsehbaren Folgen für den Marxismus. Einige Kritiker des Radikalen Konstruktivismus haben recht bald erkannt, daß sich dieser Theorienkomplex auf keine homogene Erkenntnisgemeinschaft stützen kann: Schmidts „Wir“ ist leer - ebenso wie Maturanas und Varelas „Gemeinschaft der Beobachter“ (ohne deshalb diskursiv folgenlos zu sein). Zur Testbarkeit von Theorien im Konstruktivismus bemerkt Josef Mitterer: „Wer bestimmt, ob unsere Konstruktionen nichtviabel sind? - Die Realität oder eine (andere) Theorie über die Realität? Der Konstruktivismus würde an Konsequenz gewinnen, wenn er sich für die zweite Variante entscheidet.“ 41 Glasersfeld hat vermutlich für diese Variante optiert. Leider löst sie das Problem der intersubjektiven Verallgemeinerungsfähigkeit nicht. Denn wo zwei Theorien einander unversöhnlich gegenüberstehen, dort ist guter Rat teuer; dort entscheiden schließlich Wertsetzungen oder Glaubenssätze. André Kukla, der allerdings andere Varianten des Konstruktivismus kommentiert, faßt das Problem prägnant zusammen: „Die konstruktivistische These lautet, daß wissenschaftliche Gegenstände durch den ausgehandelten Sieg (victory) der Theorie konstituiert werden, die sie aufstellt. Aber in dem Fall sollten die von besiegten (defeated) Theorien aufgestellten Ge- 41 J. Mitterer, Die Flucht aus der Beliebigkeit, Frankfurt, Fischer, 2001 (2. Aufl.), S. 123-124. <?page no="179"?> 165 genstände gar nicht existieren. Dennoch glauben Wissenschaftler weiterhin an die von abgestorbenen Theorien aufgestellten Entitäten. Somit scheitert die konstruktivistische Darstellung, wenn es darum geht, die gängige wissenschaftliche Praxis zu erklären.“ 42 Kukla spricht von „defunct theories“ oder „abgestorbenen Theorien“; aber schon das ist problematisch, weil sich sogleich die Frage aufdrängt, wer über den „Tod“ von Theorien entscheidet. Für Imre Lakatos (vgl. Kap. IV) mögen Marxismus und Psychoanalyse tot sein; für andere ist der Kritische Rationalismus „am Ende“ - oder gar der Konstruktivismus. 43 Wer entscheidet? Wer spricht? Und: Cui bono? Angesichts des Zerfalls unserer Gesellschaft in zahlreiche rivalisierende ideologisch-theoretische Gruppen und Soziolekte erscheint es wenig sinnvoll, weiterhin mythische Kollektive wie Lukács’ „Proletariat“, Mannheims „freischwebende Intelligenz“, Maturanas und Varelas „Gemeinschaft der Beobachter“ oder Schmidts unbestimmtes „Wir“ einzusetzen - in der vagen Hoffnung, daß es schließlich doch zu einem Konsens kommt. An die Stelle einer abstrakten Intersubjektivität, die eine nicht mehr existierende Gemeinschaft von Individuen voraussetzt, soll der theoretische (interkollektive) Dialog treten: Die systematische Verknüpfung gegensätzlicher theoretischer Positionen ersetzt die Suche nach dem Archimedischen Punkt der homogenen „Beobachtergemeinschaft“ (oder der „freischwebenden Intellektuellen“). Die dialektische Zusammenführung der Extreme soll die verschiedenen Theorien veranlassen, ihre Wahrheitsmomente, ihre blinden Flecken und ihre Unwahrheiten preiszugeben. Die Dialogische Theorie, die als Metatheorie für diese Zusammenführung sorgt, verfährt nach Heinz von Foersters Motto: „Dialog = sich mit den Augen eines Anderen sehen.“ 44 42 A. Kukla, Social Constructivism and the Philosophy of Science, London-New York, Routledge, 2000, S. 51. 43 Vgl. H. J. Wendel, „Wie erfunden ist die Wirklichkeit? “, in: Delfin 2, 1989, S. 88. 44 H. von Foerster in: M. Ceruti, „Der Mythos der Allwissenheit und das Auge des Betrachters“, in: P. Watzlawick, P. Krieg (Hrsg.), Das Auge des Betrachters, op. cit., S. 31. <?page no="181"?> 167 IX. System und Feld: Luhmann und Bourdieu Ein Vergleich von Niklas Luhmanns Systembegriff mit dem Feldbegriff Pierre Bourdieus bietet sich insofern an 1 , als es sich in beiden Fällen um Termini handelt, die Prozesse sozialer Differenzierung bezeichnen. Auf den ersten Blick scheinen sich die beiden Soziologen einig zu sein, daß der Differenzierungsprozeß autonome Bereiche hervorbringt, deren Eigengesetzlichkeit ihrer funktionalen Einmaligkeit entspricht. Religion kann nicht durch Wissenschaft und diese nicht durch Religion, Politik oder Kunst ersetzt werden. Eine solche These wird ohne weiteres von einem säkularisierten und an der Arbeitsteilung geschulten common sense des modernen oder postmodernen Alltagsbewußtseins nachvollzogen. Bourdieu selbst wurde auf die Affinitäten, die seine Soziologie der Felder mit Luhmanns Systemtheorie verbinden, angesprochen und hob - wie nicht anders zu erwarten war - die Differenzen und das Trennende hervor. Im Gegensatz zu Althussers Apparat (appareil) und Luhmanns System sei das von ihm konstruierte Feld weder ein organischer noch ein funktionalistischer, sondern ein historischer Begriff, der Machtverhältnisse und Machtkämpfe beschreiben soll: „Das Feld ist ein Ort des Kräftemessens - und nicht nur des Sinnes -, d.h. der Kämpfe, die auf eine Umgestaltung hinauslaufen; es ist folglich ein Ort des ständigen Wandels.“ 2 Anders als Luhmanns System sei es keine „immanente Selbstentfaltung der Struktur“. 3 Es ist nicht ganz klar, auf welche Arbeiten Luhmanns sich Bourdieu, der den Bielefelder Soziologen nur in seinen neuesten Publikationen erwähnt, bezieht. Im folgenden steht der Wahrheitsbegriff im Mittelpunkt, und es werden sowohl frappierende Übereinstimmungen als auch Gegensätze zwischen der System- und der Feldtheorie in Erscheinung treten. Es wird sich zeigen, daß beide Soziologen die strukturellen Faktoren (System, Feld) in den Vordergrund stellen und die Rolle der individuellen 1 Vgl. C. Bohn, Habitus und Kontext. Ein kritischer Beitrag zur Sozialtheorie Bourdieus, Opladen, Westdeutscher Verlag, 1991, S. 136-139 sowie A. Nassehi, G. Nollmann (Hrsg.), Bourdieu und Luhmann. Ein Theorienvergleich, Frankfurt, Suhrkamp, 2004, S. 158-159. 2 P. Bourdieu (mit L. J. D. Wacquant), Réponses. Pour une anthropologie réflexive, Paris, Seuil, 1992, S. 79. 3 Ibid., S. 80. <?page no="182"?> 168 Subjekte entweder völlig ausblenden ( wie Luhmann) oder vernachlässigen (wie Bourdieu). Wissenschaftliche Wissensproduktion erscheint beiden letztlich - wie übrigens auch Althusser - als ein Prozeß ohne Subjekt. Wahrheit als „Wahrheitsproduktion“ (Luhmann) wird vom Wissenschaftssystem oder vom champ scientifique hervorgebracht. Der Diskurs als Struktur, in der sich das theoretische Aussagesubjekt konstituiert und über seine Theoriebildung kritisch nachdenkt, ist sowohl für Luhmann als auch für Bourdieu inexistent. Beide betrachten Sprache vorwiegend funktional: als Kommunikationsmittel oder als Mittel der Machtausübung. Es wird sich jedoch zeigen, daß die Gegensätze zwischen den beiden soziologischen Positionen weitaus größer und aufschlußreicher sind, als sie von Bourdieu skizziert werden. Während sich Luhmann ein geschlossenes, autopoietisches Wissenschaftssystem vorstellt, das unabhängig von heteronomen Einflüssen Wahrheit hervorbringt, ist Bourdieus wissenschaftliches Feld eine offene, umkämpfte Struktur, die gegen heteronome Einwirkungen keineswegs abgeschirmt werden kann. Vor allem die Sozialwissenschaften erscheinen ihm als ein fremdbestimmter, den Gesetzen anderer Felder unterliegender Bereich. Insgesamt soll hier deutlich werden, daß Bourdieus funktionale Betrachtungsweise, die auf den ersten Blick an Luhmanns Systemtheorie erinnern mag, zugleich eine Umkehrung dieser Theorie ist. Eine Frage, die in den beiden wissenschaftssoziologischen Theorien, die sich vorwiegend an den Naturwissenschaften orientieren, vernachlässigt wird, soll hier im Mittelpunkt stehen: die Frage nach der Autonomie oder Heteronomie der Sozialwissenschaften. 1. Luhmann oder die Wahrheit des Systems Luhmanns Theorie des Wissenschaftssystems geht aus seiner umfassenden Theorie der gesellschaftlichen Differenzierung hervor. In der modernen Gesellschaft entsteht „seit der Aufklärung, seit dem Beginn der Thematisierung der Moderne“ 4 , parallel zu anderen ausdifferenzierten Systemen wie Kunst, Recht oder Wirtschaft, das Wissenschaftssystem, das auf dem Prinzip der „Beobachtung zweiter Ord- 4 N. Luhmann, Die Wissenschaft der Gesellschaft, Frankfurt, Suhrkamp, 1990, S. 668. <?page no="183"?> 169 nung“ gründet. Die Forscher, die bestimmte Ereignisse oder Prozesse beobachten, werden selbst beobachtet: „Das Wissenschaftssystem stellt sich dadurch auf Beobachtung zweiter Ordnung um, daß es jede Art von Verkündungsautorität für Wahrheiten abbaut und durch das Medium der Publikationen ersetzt. Publikationen werden, was immer die Erkenntnisgrundlagen, so ausgearbeitet, daß der beanspruchte Erkenntnisgewinn beobachtet werden kann, also beobachtet werden kann, wie beobachtet worden ist.“ 5 Diese Selbstbeobachtung des Systems ist zugleich das „Selbstverständnis der Wissenschaft“ und eine „Reflexionsleistung“. 6 Die Tatsache, daß das Wissenschaftssystem hier zum Subjekt-Aktanten wird, der „sich umstellt“, der „beobachtet“, ist nicht unerheblich, weil sie die Frage aufkommen läßt, wer nun genau beobachtet. Entscheidend ist, daß „Wahrheit“ in diesem Kontext alle ontologischen und metaphysischen Bedeutungen verliert und zum Bestandteil eines Systemkodes wird, der auf dem Gegensatz wahr/ unwahr gründet. Dieser funktionale Gegensatz wird von Luhmann analog zu den kodifizierten Gegensätzen des Wirtschaftssystems (zahlen/ nicht zahlen) oder des politischen Systems (Macht/ Nicht-Macht) betrachtet. Der „Differenzcode wahr/ unwahr“ 7 ist nicht einfach ein Element oder Aspekt des Wissenschaftssystems, sondern für dieses konstitutiv: „Die (autopoietisch reproduzierte) Einheit dieses Systems liegt in der Differenz von wahr und unwahr (nicht im Wissen schlechthin).“ 8 Der Wahrheitsbegriff nimmt hier einen sowohl unpersönlichen als auch subjektlosen Charakter an. Wahrheitsfindung und Wahrheit im wissenschaftlichen System können weder Individuen noch Gruppen zugerechnet werden. Das System als solches entscheidet über Wahrheit oder Nicht-Wahrheit: „Von Wahrheit spricht man nur, wenn die Selektion der Information keinem der Beteiligten zugerechnet wird.“ 9 Dies bedeutet, daß es keine „privilegierten Wahrheitspositionen“ 10 geben kann: weder Personen noch Gegenstände, noch Aussagen (wahre 5 N. Luhmann, Beobachtungen der Moderne, Opladen, Westdeutscher Verlag, 1992, S. 119. 6 N. Luhmann, Die Wissenschaft der Gesellschaft, op. cit., S. 704. 7 Ibid., S. 170. 8 Ibid., S. 172. 9 N. Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft, Bd. I, Frankfurt, Suhrkamp, 1997, S. 339. 10 N. Luhmann, Die Wissenschaft der Gesellschaft, op. cit., S. 198. <?page no="184"?> 170 Sätze), noch Grundbegriffe: „Was immer als Wahrheit zählt, ist im System selbst konstituiert (...).“ 11 Dies ist auch der Grund, weshalb nach Luhmann „das Medium Wahrheit keine unterschiedlichen Meinungen toleriert“. 12 Das heißt, daß das System als solches Wahrheit produziert - analog zum Wirtschaftssystem, das über Zahlungen Geld zirkulieren läßt, oder zum politischen System, das Macht generiert. In diesem Zusammenhang erscheint es nicht als Zufall, wenn Luhmann von der „Zirkulation der Wahrheit im System“ 13 spricht und die Wahrheit als Medium mit dem Geld vergleicht. 14 Luhmanns Wahrheit ist insofern objektiv und universell, als sie vom System selbst, d.h. unabhängig von partikularen Standpunkten, hervorgebracht wird. Diese Art, Wahrheitsproduktion aufzufassen, bedeutet keineswegs, daß Luhmanns Theorie Begriffe wie Konflikt und Kritik nicht kennt. Aber analog zum Wahrheitsbegriff bezeichnen sie nicht Positionen von Wissenschaftlergruppen, sondern Systemfunktionen, die auf den Gegensatz wahr/ unwahr ausgerichtet sind: „Umgekehrt ist im Falle der Wahrheit, weil hier der Code Geltung auf universelle Anerkennung durch jedermann stützt (oder zumindest so symbolisiert), jede Kommunikation auf Kritik, also Ablehnung, also Konflikt angewiesen. (...) Jeder Erkenntnisgewinn impliziert Kritik.“ 15 Diese Überlegungen gehen logisch aus Luhmanns Auffassung des Wissenschaftssystems hervor: Ohne Konflikt und Kritik kann die Wahrheit als Weizen nicht von der Spreu der falschen Erkenntnisse getrennt werden. (Der Soziologe wird sich jedoch fragen, weshalb dieser Trennungsmechanismus, der von Luhmann so plausibel beschrieben wird, in den Sozialwissenschaften nicht so recht in Gang kommen will. Davon soll später ausführlicher die Rede sein.) Es liegt auch in der Logik dieser Theorie, daß sie sowohl Mannheims Frage nach der Standortgebundenheit des Wissens als auch Poppers Frage nach der kritischen Überprüfung von Aussagen auf der Systemebene beantwortet. Ausgehend von der These, daß es „keine kontextunabhängige Entscheidung zwischen unterschiedlichen Gel- 11 Ibid. 12 N. Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft, Bd. I, op. cit., S. 339. 13 N. Luhmann, Die Wissenschaft der Gesellschaft, op. cit., S. 204. 14 Ibid., S. 253. 15 N. Luhmann, Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie, Frankfurt, Suhrkamp (1984), 1987, S. 513. <?page no="185"?> 171 tungsansprüchen, also auch keine kontextunabhängige Bewertung wissenschaftlichen Fortschritts“ 16 gibt, entwirft Luhmann seine Alternative im Systembereich: „Was statt dessen angeboten werden kann, ist eine rekursiv arrangierte Beobachtung des Beobachtens, ein Kontextieren von Kontexten, ein Unterscheiden von Unterscheidungen, also eine Kybernetik des Beobachtens zweiter Ordnung.“ 17 Die Geltungsansprüche werden also nicht von einer privilegierten, übergeordneten Instanz, sondern im Wissenschaftssystem selbst entschieden. Auf diskursiver Ebene fällt auf, daß der Archimedische Punkt, den Popper mit dem vernunftbegabten Individuum, Lukács mit dem Proletariat und Mannheim mit der freischwebenden Intelligenz besetzten, von Luhmann mit dem kybernetisch operierenden System besetzt wird. Es ist wohl kein Zufall, daß Bourdieu sein Feld mit Gott vergleicht (s. weiter unten). Seit dem von Nietzsche verkündeten „Tod Gottes“ versucht der Mensch, eine Perspektive zu finden, die jenseits aller Perspektiven wäre. Allerdings wird bei näherem Hinsehen jedesmal deutlich, daß die neue Perspektive allenfalls ein Götze ist, der nicht hält, was er verspricht. Luhmanns systematische Wissenschaftssoziologie tritt mit dem Versprechen an, das Funktionieren der Wissenschaft besser, genauer und umfassender zu erklären als bisherige Wissenschaftstheorien. 18 Paradoxerweise treten ihre Schwachstellen gerade dann in Erscheinung, wenn sie auf ihren eigenen Bereich, nämlich auf die Sozialwissenschaften, angewandt wird. Solange die Systemtheorie nur die Entwicklung der Naturwissenschaften, die sie immer wieder zur Sprache bringt 19 , erhellen soll, fehlt es ihr nicht an Plausibilität: Physiker, die meinten, im Atom das letzte unteilbare Element gefunden zu haben, wurden auf experimentellem Wege eines Besseren belehrt; Wissenschaftler, die Asbest für gesundheitlich unbedenklich erklärten, mußten ihre Ansichten als „unwahr“ im Sinne von Luhmann revidieren usw. Fast täglich werden in den Naturwissenschaften tradierte Ansichten auf diese Art im System zu Fall gebracht. 16 N. Luhmann, Die Wissenschaft der Gesellschaft, op. cit., S. 667. 17 Ibid., S. 668. 18 Vgl. ibid., S. 62-63. 19 Vgl. Ibid., S. 8. <?page no="186"?> 172 In den Kultur- und Sozialwissenschaften hingegen finden wir eine ganz andere Situation vor, die Luhmann selbst, der immer wieder am Fortschritt in diesem Bereich zweifelt, beschreibt. Zu Max Webers Theorie der europäischen Moderne merkt er an: „Da das nie überboten, sondern allenfalls mit neuen Daten wiederholt worden ist, steht die Soziologie noch heute unter dem Zauber dieses Gedankenexperiments.“ 20 Auch Widerlegbarkeit scheint keine Eigenschaft soziologischer Theorien zu sein. Von Parsons’ Systemtheorie heißt es bei Luhmann: „Die Parsonssche Theorie ist selten angemessen begriffen und nie angemessen widerlegt worden.“ 21 Wenn das der Fall ist, dann erscheint die Frage berechtigt, welche Funktion „Kritik“ in Luhmanns Wissenschaftssystem bisher erfüllt hat und noch erfüllen kann. Wenn sie im Bereich der Sozialwissenschaften nicht zwischen „wahr“ und „unwahr“ entscheiden (krinein), d.h. unwahre Behauptungen nicht widerlegen kann, ist sie als Kommunikationsmedium wertlos. Ist es möglich, daß an Parsons’ Theorie - ein halbes Jahrhundert nach Erscheinen von The Social System (1951) - alles „wahr“ ist? Sollte nicht alles wahr sein, stellt sich sogleich die Frage, was sich als falsch erwiesen hat und warum. Tritt Luhmann selbst nicht mit dem Anspruch an, mit seiner Systemtheorie über Max Weber und Parsons hinauszugehen? Wie kann nun ein Soziologe wie Rainer Greshoff (vgl. Kap. V, 3) diesem Anspruch mit der Feststellung begegnen, mit Webers Konzepten könne all das erfaßt werden, was Luhmann zu erfassen sucht - „und mehr“? Luhmanns eigener Ansatz löst endlose Diskussionen zwischen Befürwortern und Gegnern aus, ohne daß im Wissenschaftssystem (aber wo ist es eigentlich? ) auch nur ein Theorem dieser Soziologie für alle verbindlich als „wahr“ oder „unwahr“ bezeichnet werden könnte. Was für die einen „wahr“ ist, ist für die anderen „unwahr“. Dies gilt selbstverständlich auch für Max Weber, Parsons, Simmel und Durkheim. In den Sozialwissenschaften scheint Kritik unabschließbar zu sein. Analog zum Gegensatz wahr/ unwahr, der den Kode des Wissenschaftssystems strukturiert, stellt Luhmann für den technischen Bereich den Gegensatz heil/ kaputt auf. Nun könnte man vermuten, daß ein Wissenschaftssystem, daß nicht in der Lage ist, im Rahmen des 20 Ibid., S. 702. 21 Ibid., S. 240. <?page no="187"?> 173 Gegensatzes wahr/ unwahr und anhand des Mediums Kritik zwischen wahren und unwahren sozialwissenschaftlichen Aussagen (Theorien) zu unterscheiden, „kaputt“ ist. Es ist nicht kaputt; aber Luhmanns Darstellung des Systems ist - vor allem im Hinblick auf die Kultur- und Sozialwissenschaften - fragwürdig oder gar unbrauchbar. Dies kann durch ein relativ einfaches Beispiel veranschaulicht werden, das Luhmann selbst in einem seiner letzten Interviews anführt. Er meint, daß soziale Differenzierung Unterscheidungen nach Geschlechts- oder Rassenmerkmalen überflüssig macht, und erklärt, daß es in der Wissenschaft unerheblich ist, ob jemand Mann oder Frau, Afrikaner oder Chinese ist, weil eine Erfindung nur im Hinblick auf den Gegensatz von wahr und unwahr geprüft wird: „Die Frage ist, ob die Erfindung oder Entdeckung ‚wahr‘ ist oder nicht, und das gilt natürlich auch für die Wirtschaft.“ 22 Hier wird deutlich, wie sehr sich Luhmann (ähnlich wie Bourdieu, Popper und Kuhn) an den Naturwissenschaften orientiert. In den Kultur- und Sozialwissenschaften gibt es kaum Erfindungen, und es erscheint hier auch waghalsig, eine „Entdeckung“ (Glasersfeld würde ganz zu Recht eher von „Konstruktion“ sprechen) als „wahr“ oder „unwahr“ zu bezeichnen. Eine Soziologin wird unter umständen entdecken, daß sich weibliche Subjektivität im wissenschaftlichen Diskurs anders konstituiert als männliche. Selbst wenn es ein (homogenes) Wissenschaftssystem gäbe, so könnte es im Hinblick auf diese Entdeckung oder „Entdeckung“ nicht entscheiden, ob sie „wahr“ oder „unwahr“ sei. Denn die feministische Soziologie ist ein Soziolekt oder ein Ensemble von Soziolekten, das von den einen akzeptiert und von den anderen abgelehnt oder ignoriert wird. Luhmann hat die ideologische Kontextabhängigkeit wissenschaftlicher Bewertung nicht überwunden, sondern systematisch verdrängt. Das Wissenschaftssystem ist - sofern es existiert - ein sozialer und sprachlicher Raum, in dem ideologisch-theoretische Gruppen mit ihren Soziolekten gegeneinander antreten. Sie sind die kritischen Instanzen - und nicht das System. Bourdieu, der alles andere als ein Subjekttheoretiker ist, spricht ganz zu Recht von „Kollektivsubjekten“, von „sujets collectifs“ 23 , die einander im „Feld“ gegen- 22 N. Luhmann, in: W. Rasch, Niklas Luhmann’s Modernity. The Paradoxes of Differentiation, Stanford, Univ. Press, 2000, S. 199. 23 P. Bourdieu, Science de la science et réflexivité, Paris, Raisons d’agir, 2001, S. 139. <?page no="188"?> 174 überstehen. Es gibt nur die Beurteilung des Subjekts durch andere Subjekte. Jeder Versuch, Subjektivität systematisch zu umgehen, führt dazu, daß über „Wahrheit“ oder „Nicht-Wahrheit“ sozialwissenschaftlicher Theorien nichts ausgesagt wird. 24 Die Defizite von Luhmanns Theorie werden nicht „im System“ erkennbar, sondern in der dialektischen und dialogischen Konfrontation mit ihrem Anderen. Zu diesen Defiziten gehört auch die „autopoietische“ Trennung der einzelnen Systeme voneinander, die sich an der konstruktivistischen Hirnforschung orientiert. Sie wird vor allem in letzter Zeit kritisch kommentiert. So zeigt beispielsweise Thomas Schwinn, daß „soziale Integration (...) eine Strukturdimension mit einer Eigengesetzlichkeit [ist], die nicht einfach aus dem Differenzierungsprinzip abgeleitet werden kann (...)“. 25 Sie geht in der Interaktion der Systeme nicht auf. Komplementär dazu zeigt Rainer Greshoff, daß Luhmanns Diskurs dunkle Stellen zeitigt, wenn es gilt, psychische Systeme (Bewußtseinssysteme) gegen soziale Systeme als Kommunikationssysteme autopoietisch abzugrenzen. 26 Ähnliche Abgrenzungsprobleme treten zwischen dem Wissenschaftssystem und den Systemen „Politik“ und „Wirtschaft“ auf. Im Zusammenhang mit Bourdieu (und Baudrillard) 27 stellt sich die Frage, ob nicht ein neuer Entdifferenzierungsprozeß zu beobachten ist, in dessen Verlauf die Vorherrschaft der Religion im Mittelalter und der „Primat des Politischen“ im realen Sozialismus, auf den Luhmann selbst zu sprechen kommt 28 , durch eine Vorherrschaft der Wirtschaft im Spätkapitalismus abgelöst werden. Sollte das der Fall sein, könnte 24 Zur Position des Subjekts im theoretischen Diskurs vgl. Vf., Theorie des Subjekts. Subjektivität und Identität zwischen Moderne und Postmoderne, Tübingen-Basel, Francke, 201 7 ( 4 . Aufl.), Kap. I, 1 (d). 25 Th. Schwinn, „Differenzierung und soziale Integration. Wider eine systemtheoretisch halbierte Soziologie“, in: H.-J. Giegel, U. Schimank (Hrsg.), Beobachter der Moderne. Beiträge zu Niklas Luhmanns „Die Gesellschaft der Gesellschaft“, Frankfurt, Suhrkamp (2001), 2003, S. 231. 26 Vgl. R. Greshoff, „Kommunikation als subjekthaftes Handlungsgeschehen - behindern ‚traditionelle‘ Konzepte eine ‚genaue begriffliche Bestimmung des Gegenstandes Gesellschaft‘? “, in: H.-J. Giegel, U. Schimank (Hrsg.), Beobachter der Moderne, op. cit., S. 78-79. 27 Vgl. auch, was J. Baudrillard zur Entdifferenzierung der Gesellschaft und zur Vereinnahmung ihrer verschiedenen Sphären durch die Wirtschaft zu sagen hat: J. Baudrillard, La Transparence du Mal. Essai sur les phénomènes extrêmes, Paris, Galilée, 1990, S. 11-50. 28 Vgl. N. Luhmann, in: W. Rasch, Niklas Luhmann’s Modernity, op. cit., S. 204. <?page no="189"?> 175 man mit einem Gesprächspartner Luhmanns von einer Instrumentalisierung der anderen Systeme (also auch der Wissenschaft) durch die Wirtschaft sprechen: „Aber eben weil sie diese Systeme braucht, determiniert sie diese Systeme; sie determiniert ihren Funktionsmodus.“ 29 Hier zeigt sich, wie fragwürdig die von Luhmann postulierte Analogie zwischen biologischen Organen (etwa dem Gehirn) und sozialen Systemen ist. Denn die Autopoiesis des Gehirns ist mit der schwach ausgebildeten Autonomie der Institution Wissenschaft kaum zu vergleichen. Es gehört zweifellos zu Bourdieus Verdiensten, die heteronomen Einwirkungen auf den Wissenschaftsbereich nicht herunterzuspielen. 2. Bourdieu oder der Kampf um das Feld Wollte man Bourdieus Feldtheorie der Systemtheorie Luhmanns in funktionaler Perspektive angleichen, so könnte man die Autonomie der Felder (champs) hervorheben. Jedes Feld gehorcht eigenen Gesetzen, und es ist unmöglich, in einem der Felder - etwa in der Kunst - zu reüssieren, indem man nach den Gesetzen und Regeln eines Nachbarfeldes - etwa der Religion oder der Wissenschaft - handelt. Jedes Feld setzt die subjektive 30 Aneignung eines Habitus 31 voraus, der nicht nur die Fertigkeiten und den Wissensvorrat des Wissenschaftlers, Künstlers oder Experten meint, sondern auch sein gesellschaftliches Auftreten, seine affektive Einstellung usw. Zudem wird die Autonomie eines Feldes durch die Zirkulation einer bestimmten Art von Kapital gewährleistet: „Von einem spezifischen Kapital sprechen bedeutet, daß das Kapital in bezug auf ein bestimmtes Feld Gültigkeit besitzt, daß es innerhalb der Grenzen eines Feldes gilt, und daß es nur unter besonderen Bedingungen in eine andere Art von Kapital 29 W. Rasch, in: ibid., S. 207. 30 Vgl. A. Accardo, Ph. Corcuff, La Sociologie de Bourdieu. Textes choisis et commentés, Bordeaux, Le Mascaret, 1986, S. 14. 31 Den Habitus-Begriff übernimmt Bourdieu von dem Kunsthistoriker E. Panofsky. Vgl. P. Bourdieu, Zur Soziologie der symbolischen Formen, Frankfurt, Suhrkamp, 1970, Kap. IV: „Der Habitus als Vermittlung zwischen Struktur und Praxis“ sowie Choses dites, Paris, Minuit, 1987, S. 23. <?page no="190"?> 176 konvertiert werden kann.“ 32 Das heißt, daß die Autonomie eines Feldes weitgehend mit dem spezifischen Charakter des im Feld geltenden Kapitals übereinstimmt. Es fällt auf, daß Luhmanns Kommunikationsbegriff hier tendenziell durch den Kapitalbegriff, der zugleich ein Machtbegriff ist, ersetzt wird. 33 Bourdieu, der sich außer auf das Werk von Marx auch auf die Symboltheorie Paul Cassirers stützt 34 , unterscheidet vier Arten von Kapital: das wirtschaftliche Kapital in seinen verschiedenen Ausprägungen, das kulturelle Kapital, das vor allem Wissensvorräte und Fertigkeiten meint, das soziale Kapital, das aus gesellschaftlichen Beziehungen und Mitgliedschaften besteht, und schließlich das symbolische Kapital als eine Form, die andere Arten des Kapitals annehmen können, sobald sie gesellschaftlich erkannt und anerkannt werden. 35 Entscheidend ist, daß jede Art von Kapital spezifisch ist, eigenen Zirkulationsgesetzen gehorcht und nicht auf andere Arten des Kapitals reduziert werden kann: Symbolisches Kapital (etwa akademische Titel) ist im Prinzip 36 nicht käuflich - ebensowenig wie der Habitus des Künstlers, Wissenschaftlers oder Journalisten. Dennoch ist Bourdieu weit davon entfernt, die Felder - analog zu Luhmanns autopoietischen Systemen - als gegeneinander abgeschottete Kommunikationsbereiche aufzufassen, die alle Kommunikate in die eigenen sprachlichen Kodes übersetzen müssen, um auf andere Systeme reagieren zu können. 37 Die Felder „Wissenschaft“, „Politik“ oder „Medien“ verstehen sehr wohl die Sprache der Wirtschaft, die sich gegenwärtig immer lauter zu Wort meldet (vgl. weiter unten). Es 32 P. Bourdieu, Questions de sociologie, Paris, Minuit, 1980, S. 114. 33 Vgl. dazu C. Bohn, Habitus und Kontext, op. cit., S. 96: „Was ist nun das Soziale, das mit dem Machtbegriff eingeführt ist? Das Grundparadigma des Sozialen ist für Bourdieu konfliktreiches Marktgeschehen; die sich daraus ergebenden Modi des Sozialen: Tausch, Kampf und Konkurrenz.“ 34 Vgl. z. B. P. Bourdieu (mit L. J. D. Wacquant), Réponses, op. cit., S. 72. 35 Vgl. C. Calhoun, „Habitus, Field and Capital: The Question of Historical Specificity“, in: C. Calhoun, E. LiPuma, M. Postone (Hrsg.), Bourdieu. Critical Perspectives, Cambridge-Oxford, Polity-Blackwell, 1993, S. 70. 36 Jedoch nicht immer. W. Kemp beschreibt den Titelhandel in den USA und zeigt zugleich, wie die akademische Welt vom Wirtschaftsprinzip (zahlen/ nicht zahlen) vereinnahmt wird: W. Kemp, „Wo Rudi Rüssel einen Lehrstuhl hat. Ein Besuch beim Titelhandel“, in: J. Wertheimer, P. V. Zima (Hrsg.), Strategien der Verdummung. Infantilisierung in der Fun-Gesellschaft, München, Beck, 2001. 37 Vgl. N. Luhmann, Soziale Systeme, op. cit., S. 245. <?page no="191"?> 177 kommt hinzu, daß alle Formen von Kapital, auch die sozialen oder kulturellen, über den Zeitfaktor 38 ineinander konvertiert werden können: Wirtschaftliches Kapital kann die Aneignung von sozialem und kulturellem Kapital erheblich begünstigen, und kulturelles oder soziales Kapital kann, sofern es geschickt eingesetzt wird, zur Vermehrung des wirtschaftlichen Kapitals beitragen. Dieser Auffassung der Konvertibilität von Kapitalformen liegt einerseits die dialektische Kategorie der Vermittlung zugrunde, die Bourdieu von Hegel und Marx übernimmt, andererseits die postmoderne Erkenntnis, daß die zeitgenössische Gesellschaft immer mehr zu einer Wirtschaftsgesellschaft wird, in welcher der Ökonomie die Rolle der Dominanten zufällt, die im Feudalismus die Religion und im realen Sozialismus (zumindest in dessen stalinistischer Phase) die Politik innehatten. 39 Bourdieu stellt zwar diesen Funktionswandel der Dominanten so nicht dar, aber seine letzten Publikationen lassen recht eindeutig eine Vereinnahmung des gesamten intellektuellen Feldes durch die Wirtschaft erkennen. In Contre-feux 2 meint er gar, die gegenwärtige „Liberalisierung“ könnte „den ökonomischen Determinanten einen fatalen Zugriff ermöglichen“ („conférer une emprise fatale aux déterminismes économiques“). 40 Als gefährlichstes Instrument dieser Vereinnahmung erscheinen ihm die „heteronomen Intellektuellen“, die Kunst und Wissenschaft in den Medien zu Markte tragen: „Wenn es mir unerläßlich scheint, diese heteronomen Intellektuellen zu bekämpfen, so deswegen, weil sie das Trojanische Pferd sind, durch das die Heteronomie, das heißt die Gesetze des Kommerzes, der Ökonomie, in das Feld Einzug halten.“ 41 Von einer autopoietischen Autonomie oder Eigengesetzlichkeit im Sinne von Luhmann kann hier nicht die Rede sein. Bei Luhmann kommen weder heteronome Intellektuelle noch Trojanische Pferde vor: Sein konstruktivistisches Denken ist (wie das Glasersfelds: vgl. Kap. VIII, 2) Kants analytischer Trennung, nicht Hegels dialektischer Vermittlung, verpflichtet. An anderer Stelle wird klar, daß es in Bourdieus Soziologie verschiedene Autonomiegrade gibt. Nicht alle Felder sind gleich autonom 38 Vgl. A. Accardo, Ph. Corcuff, La Sociologie de Bourdieu, op. cit., S. 93. 39 Vgl. O. Šik, Plan und Markt im Sozialismus, Wien, Molden, 1965, S. 22-24. 40 P. Bourdieu, Contre-feux 2, Paris, Raisons d’agir, 2001, S. 57. 41 P. Bourdieu, Über das Fernsehen, Frankfurt, Suhrkamp, 1998, S. 90. <?page no="192"?> 178 im Hinblick auf Wirtschaft, Politik und Medien: „Ein sehr autonomes Feld (un champ très autonome), das der Mathematik zum Beispiel, ist ein Feld, in dem die Produzenten nur ihre Konkurrenten zu Kunden haben, Leute, die an ihrer Stelle die Entdeckung hätten machen können, die sie ihnen bekanntgeben. (Mein Traum ist, daß es in der Soziologie auch so zuginge; leider mischt sich da jeder ein. Jeder glaubt, etwas davon zu verstehen, und Herr Peyrefitte will mir Lektionen in Soziologie erteilen. Und warum auch nicht, werden Sie mir sagen, wo er doch Soziologen und Historiker findet, die bereit sind, mit ihm zu diskutieren - im Fernsehen...)“ 42 Es lohnt sich, diese Passage näher zu betrachten: nicht nur weil hier eine Abstufung der Feldautonomien postuliert wird, sondern auch deshalb, weil der Soziologe zugibt, daß er von einer Autonomie im Sinne der Mathematik (und der Naturwissenschaften) nur träumen kann. Diesen Traum teilt er mit Luhmann und zahlreichen anderen Sozialwissenschaftlern, denen weiterhin das Modell der „exakten Wissenschaften“ vorschwebt. Im Unterschied zu diesen Wissenschaftlern ist jedoch Bourdieu bereit, die Sonderstellung der Soziologie und der Sozialwissenschaften zu analysieren. Im Gegensatz zu den Naturwissenschaftlern sind die Sozialwissenschaftler ständig in die gesellschaftlichen Kämpfe um die „Wahrheit über die soziale Welt“ („vérité sur le monde social“) 43 verstrickt. Aus Bourdieus Sicht besteht der „intellektualistische Irrtum“ 44 darin, einen Standort über diesen Kämpfen zu suchen. Eine „intellektualistische“ Soziologie versucht, „die Wahrheit über diese Welt auszusprechen und über die gegensätzlichen Einstellungen zu ihr“. 45 Hier tritt nicht nur Mannheims Problem der „freischwebenden Intellektuellen“ abermals in den Vordergrund, sondern auch Luhmanns Problem eines autonomen Wissenschaftssystems, das wie ein Automat über „wahr“ und „unwahr“ entscheidet (wenn auch über Einzelkritiken). Bei Bourdieu scheint es zunächst diesen autonomen Standort als Archimedischen Punkt nicht zu geben. In seinen Vorträgen über Wissenschaftssoziologie, die er in den Jahren 2000 und 2001 am Collège de France hielt, orientiert er sich wie Luhmann an der Entwicklung der Naturwissenschaften und be- 42 Ibid., S. 88. 43 P. Bourdieu, Choses dites, op. cit., S. 114. 44 Ibid. 45 Ibid. <?page no="193"?> 179 dauert abermals die schwach ausgeprägte Autonomie der Sozialwissenschaften: „Man kann sich fragen, weshalb die Sozialwissenschaften soviel Mühe haben, ihre Autonomie anerkennen zu lassen, weshalb es so schwierig ist, eine Entdeckung außerhalb und sogar innerhalb des Feldes durchzusetzen.“ 46 Weit davon entfernt, Niklas Luhmanns kritischen Gegensatz wahr/ unwahr als unproblematisch vorauszusetzen, stellt Bourdieu ihn in Frage. Vom wissenschaftlichen Feld der Sozialwissenschaften sagt er: „Mit Fakten kollidierende oder unvereinbare Aussagen haben dort mehr Chancen, sich zu erhalten und sogar zu gedeihen als in den wirklich autonomen wissenschaftlichen Feldern (...).“ 47 Verblüffend ist seine Erklärung dieser Heteronomie: Die weniger erfolgreichen, die „dominierten“ Wissenschaftler („les dominés scientifiquement“) 48 sind eher für politische oder wirtschaftliche (mediale) Heteronomien anfällig und unterwerfen sich häufig einer „plebiszitären Logik“. In der Mediengesellschaft mag diese Art von Heteronomie durchaus eine Rolle spielen. Sie ist jedoch nicht der Hauptgrund für die andersartige Entwicklung der Sozial- und Kulturwissenschaften, die Bourdieu hier zur Sprache bringt. Der Hauptgrund ist die ständige Gegenwart des ideologisch-politischen Faktors in den Diskursen dieser Wissenschaften, die Bourdieu als semantisch-narrative Strukturen nicht analysiert. 49 Die Heteronomie ist ihnen nicht äußerlich, sondern wohnt ihnen inne (vgl. Kap. II). Indem Bourdieu die Heteronomie in (dys-)funktionalen Faktoren des Feldes vermutet, statt sie in der Semantik der Sozialwissenschaften zu suchen, nähert er sich wieder Luhmanns funktionaler Perspektive an, in der Heteronomien (etwa Korruption) als zu korrigierende Fehler erscheinen. Zugleich muß er aber zugeben, daß die Sozialwissenschaften de facto ein eigenes Feld neben den Naturwissenschaften bilden, dessen Autonomie zweifelhaft ist. Dem Zweifel setzt er auch seine eigene Einteilung der Gesellschaft in Felder aus, wenn er z.B. von einem „champ universitaire“, 46 P. Bourdieu, Science de la science et réflexivité, op. cit., S. 170. 47 Ibid., S. 171. 48 Ibid. 49 Vgl. P. Bourdieu, Was heißt sprechen. Die Ökonomie des sprachlichen Tausches, Wien, Braumüller, 1990, Kap. II: „Sprache und symbolische Macht“. Es geht hier um Institutionalisierung und Wirkung von Diskursen, nicht um ihre Struktur. <?page no="194"?> 180 einem „universitären Feld“ 50 , und an anderen Stellen gar von einem „champ linguistique“, einem „sprachlichen Feld“ 51 , von einem „champ de production idéologique“ („Feld der ideologischen Produktion“) und einem „champ de la lutte des classes“ („Feld des Klassenkampfes“) 52 spricht. Überschneiden sich diese Felder nicht mit dem der Wissenschaft? Wenn ja, wie sieht diese Überschneidung konkret aus? Welche Folgen hat sie für die verschiedenen Felder und ihre Differenzierung oder Interaktion? Wo verläuft z.B. die Grenze zwischen dem universitären und dem wissenschaftlichen Feld? Ähnliche Fragen kommen auf, wenn Bourdieu in Les Règles de l’art bald vom champ littéraire, bald vom champ artistique 53 spricht. Gehorcht die Oper den Gesetzen des literarischen oder des musikalischen Feldes? Sind die „Regeln“, die für die Oper oder den Film gelten, auch auf die Malerei anwendbar? Gehorcht der Film überhaupt den „Regeln der Kunst“ - oder schon den Regeln des Medienfeldes? Wo sind die Grenzen? Es hilft wenig, daß Bourdieu von „dynamischen Grenzen“ spricht und seine Felder in „Unterfelder“ (souschamps) einteilt. 54 Für die Definition des wissenschaftlichen Feldes sind diese Fragen nicht unerheblich, denn sie gipfeln in der Kernfrage: Gibt es überhaupt ein wissenschaftliches Feld, auf dem sich Physik und Psychoanalyse, Kristallographie und Soziologie nach denselben oder vergleichbaren Regeln entfalten? Diese Fragen richten sich natürlich auch an Luhmanns Begriff des Wissenschaftssystems (oder des Kunstsystems) der Heterogenes zusammenzwingt. Anders als Luhmann trägt Bourdieu wenigstens der strategischen Heterogenität des wissenschaftlichen Feldes Rechnung. Es erscheint ihm nicht einfach als Kommunikationssystem, sondern als „strukturiertes Kräftefeld“ („champ de forces doté d’une structure“) und zugleich als „ein Feld des Kampfes für die Erhaltung oder Umgestaltung dieses Kräftefeldes“. 55 In diesem Kampf geht es darum, sich mit Hilfe 50 P. Bourdieu, Homo academicus, Paris, Minuit, 1984, S. 211. 51 P. Bourdieu, Langage et pouvoir symbolique, Paris, Seuil, 2001, S. 88. 52 Ibid., S. 209. 53 Vgl. P. Bourdieu, Les Règles de l’art. Genèse et structure du champ littéraire, Paris, Seuil, 1992, S. 170 und S. 399. 54 Vgl. P. Bourdieu (mit L. J. D. Wacquant), Réponses, op. cit., S. 80. 55 P. Bourdieu, Science de la science et réflexivité, op. cit., S. 69. <?page no="195"?> 181 von geeigneten Strategien größtmögliche Mengen von wissenschaftlichem und symbolischem Kapital zu sichern. „Kritik“ und „Wahrheit“ erscheinen Bourdieu - anders als Luhmann - zugleich als strategische Begriffe, denen stets Machtansprüche innewohnen. Schon der Kapitalbegriff drückt aus, daß es hier nicht einfach um Kompetenz und Performanz im Sinne von Chomsky geht, sondern um Machtfaktoren. Die Gesellschaft ist eben nicht nur horizontal differenziert, wie Luhmann meint, sondern auch vertikal hierarchisiert. Der Ausdruck „symbolische Gewalt“ 56 , der auch auf das wissenschaftliche Feld anwendbar ist, weil es neben Kommunikationsprozessen auch Prozesse der Exkommunikation kennt, gibt zu verstehen, daß es hier nicht einfach um Verständigung und „konstruktive Kritik“ geht. Es wäre jedoch ein Irrtum, Begriffe wie „Kritik“ und „Wahrheit“ auf reine Strategie, reine Instrumentalität zu reduzieren. Bourdieu spricht zu Recht von den zwei Gesichtern dieser Strategien („stratégies bifaces“): „Sie haben eine reine, rein wissenschaftliche Funktion und eine soziale Funktion im Feld (...).“ 57 Bourdieu behauptet also keineswegs, daß Wissenschaft als reine Strategie auf eine „Funktion im Feld“ reduzierbar ist. Im Gegenteil, in seinen letzten Vorträgen zur Wissenschaftssoziologie trifft er sich wieder mit Luhmann: und zwar in dem Gedanken, daß nicht Einzelpersonen und Gruppen, nicht die an den Kämpfen und Kommunikationen beteiligten Subjekte für Wahrheit sorgen, sondern das Feld als solches. Die gegensätzlichen, miteinander kollidierenden Interessen bürgen für den unparteiischen, universellen Charakter der Wahrheit: „Eine Wahrheit, die die Prüfung durch die Diskussion im Feld bestanden hat, wo gegensätzliche Interessen, ja sogar entgegengesetzte Machtstrategien, wegen ihr aneinander gerieten, bleibt von der Tatsache unberührt, daß diejenigen, die sie entdeckt haben, ein Interesse daran hatten, sie zu entdecken.“ 58 56 Vgl. P. Bourdieu, „Sur le pouvoir symbolique“, in: ders., Langage et pouvoir symbolique, op. cit., S. 206 sowie B. Krais, „Gender and Symbolic Violence: Female Oppression in the Light of Pierre Bourdieu’s Theory of Social Practice“, in: C. Calhoun et al. (Hrsg.), Bourdieu. Critical Perspectives, op. cit., S. 168-173. 57 P. Bourdieu, Science de la science et réflexivité, op. cit., S. 109. 58 Ibid., S. 164-165. <?page no="196"?> 182 Die konfliktgeladene Heterogenität des Feldes bürgt also für den unpersönlichen, verallgemeinerungsfähigen Charakter wissenschaftlicher Erkenntnis. Schließlich erscheint das Feld als Statthalter Gottes: als Betrachter ohne Standort, als „géométral de toutes les perspectives“ 59 , als Vereinheitlichung aller Perspektiven. Eine Überschrift aus Choses dites, „Objectiver le sujet objectivant“ 60 , erinnert an Luhmanns „Beobachter zweiten Grades“. Wie bei Luhmann besetzt bei Bourdieu das wissenschaftliche Feld den Archimedischen Punkt, den Lukács’ Proletariat und Mannheims freischwebende Intelligenz einnahmen. Doch anders als Luhmann, der auf den „alteuropäischen“ Subjektbegriff verzichtet 61 , beruft sich Bourdieu weiterhin auf den wissenschaftstheoretischen Gemeinplatz der Intersubjektivität. Die Wahrheit des Feldes kommt letztlich auf intersubjektivem Wege zustande: „Die Objektivität ist ein intersubjektives Produkt des wissenschaftlichen Feldes (...).“ 62 Bourdieu spricht von einem „accord intersubjectif dans le champ“. 63 Wie in Luhmanns System ist hier Wahrheit also nicht als „unmittelbare Wiedergabe der Wirklichkeit“ 64 aufzufassen, sondern konstruktivistisch: als gemeinsames Konstrukt, als Ergebnis konkurrierender Feldstrategien. Nicht wirklich durchdacht ist hier der Begriff der Subjektivität: Wenn es eine Übereinstimmung als „accord“ gibt, dann ist sie ohne subjektive Reflexion und Verantwortung nicht vorstellbar. Dies bedeutet aber, daß theoretische Überprüfung nicht abstrakt im Feld zustande kommt, sondern zwischen individuellen und kollektiven Subjekten, zwischen jenen „sujets collectifs“, von denen bei Bourdieu auch die Rede ist. In Leçon sur la leçon, seiner Antrittsvorlesung am Collège de France (1982), in der er über den institutionalisierten Vortrag nachdenkt, stellt Bourdieu den Soziologen als kritische und reflektierende Instanz dar, welche die Funktion der Soziologie im Feld betrachtet und kritisiert. Er soll sich für seine „Freiheit der Institution gegen- 59 Ibid., S. 222. 60 P. Bourdieu, Choses dites, op. cit., S. 112. 61 Vgl. N. Luhmann, Soziale Systeme, op. cit., S. 111. 62 P. Bourdieu, Science de la science et réflexivité, op. cit., S. 163. 63 Ibid. 64 Ibid., S. 151. <?page no="197"?> 183 über“ 65 einsetzen. Nun sind aber Kritik und Freiheit nur dort möglich, wo ein autonomes Subjekt das Geschehen im Feld mit kritischer Distanz beobachtet, statt in ihm aufzugehen. Ein solches Subjekt wird nicht mit dem an Hegels „List der Vernunft“ gemahnenden Gedanken vorliebnehmen, das Feld als Summe aller Konflikte und Querelen werde schon für Wahrheit sorgen. (Tatsächlich spricht der Hegel- Kenner Bourdieu von einer „ruse de la raison scientifique“, von einer „List der wissenschaftlichen Vernunft“.) 66 Der hier hervortretende Widerspruch in Bourdieus Wissenschaftssoziologie, ein Widerspruch zwischen Feldautonomie und subjektiver Autonomie, hängt mit dem bei ihm latenten Gegensatz zwischen dem Willen zur Gesellschaftskritik (der bei Luhmann fehlt) und einer funktionalen Betrachtungsweise zusammen, die (wie bei Luhmann) zu Systematisierung und Entsubjektivierung tendiert. In dieser Hinsicht hat Richard Jenkins durchaus recht, wenn er im Zusammenhang mit Bourdieu von einem „objectivist point of view“ 67 spricht und ihm „his inability to cope with subjectivity“ 68 zum Vorwurf macht. Es käme darauf an, Bourdieus Theorie der Felder ernst zu nehmen, ohne die Subjekte an den Feldrand abzudrängen. 3. Subjektivität, Wahrheit, Dialog Der Vergleich von Luhmanns Systemtheorie mit Bourdieus Feldtheorie zeigt: (a) daß die Einteilung der Gesellschaft in Systeme und Felder trotz aller Erkenntnismomente, die sie zeitigt, wegen der zahlreichen Überlappungen und Interferenzen problematisch ist; (b) daß die Homogenität des wissenschaftlichen Systems oder Feldes alles andere als selbstverständlich ist; (c) daß ohne die Darstellung der subjektiven Instanzen und ihrer Sprachen die Dynamik der Kultur- und Sozialwissenschaften nicht zu verstehen ist. Obwohl eine systematische Gliederung der Gesellschaft ihre Vorteile haben mag, weil sie auf die Frage antwortet, wie Kunst, Wissenschaft, Wirtschaft oder Recht funktionieren, vernachlässigt sie Übergangserscheinungen, die zwischen den Systemen entstehen - oder 65 P. Bourdieu, Leçon sur la leçon, Paris, Minuit, 1982, S. 55. 66 P. Bourdieu, Science de la science et réflexivité, op. cit., S. 152. 67 R. Jenkins, Pierre Bourdieu, London-New York, Routledge, 1992, S. 91. 68 Ibid., S. 97. <?page no="198"?> 184 kann sie nicht erklären. Es ist zweifellos Bourdieus Verdienst, mit dem Feldbegriff nicht nur die Differenzierung, sondern auch die Entdifferenzierung zu beschreiben, die Luhmann bestenfalls als Anomalie verstehen kann. So spricht Richard Jenkins von „herrschenden Feldern“ („dominant fields“), die „auf schwächere Felder einwirken und deren Abläufe strukturieren“. 69 Ein solcher Gedanke kann in Luhmanns Differenzierungstheorie („das Wirtschaftssystem strukturiert die Politik oder die Kunst“) gar nicht aufkommen, weil er die Autopoiesis radikal in Frage stellt. Indem Bourdieu aber das Feld heteronomen Einflüssen öffnet, stellt er es wiederum als theoretische Konstruktion in Frage. Wenn sich herausstellt, daß die Filmproduktion vorwiegend kommerziellen und nicht künstlerischen Gesetzen gehorcht, hat man zwei Möglichkeiten: entweder die Filmindustrie (sowie Teile der Literatur, der Malerei und der Musik) aus dem künstlerischen Feld auszugliedern oder festzustellen, daß die Kunst als „schwaches Feld“ zunehmend vom „starken“ wirtschaftlichen Feld beherrscht wird. In dem Fall wird man möglicherweise mit Baudrillard von einer „transesthétique“ 70 sprechen - oder mit Hegel vom „Ende der Kunst“. Jedenfalls verschwimmen dann die Grenzen von Luhmanns Kunstsystem. Das Wissenschaftssystem löst sich, wie sich gezeigt hat (und damit ist der zweite Punkt angesprochen), bei Bourdieu selbst schon auf. Wenn er davon träumt, daß es im soziologischen Feld einst so zugehen könnte wie im mathematischen (s.o.), so läßt er Zweifel an einem homogenen wissenschaftlichen Feld aufkommen. Wenn er an anderer Stelle von einer „Kontaminierung der wissenschaftlichen Ordnung durch die Prinzipien der politischen Ordnung und der Demokratie“ 71 spricht, so verstärkt er diese Zweifel noch. Sie werden von Luhmanns Systemtheorie keineswegs ausgeräumt. Im Gegenteil, sein Gegensatz von „wahr“ und „unwahr“, in dessen Rahmen sich wissenschaftliche Kritik und wissenschaftliche Selektionsverfahren bewegen sollen, läßt die Kultur- und Sozialwissenschaften aus dem Wissenschaftssystem ausscheiden, weil ihre wichtigsten Thesen weder wahr noch unwahr sind. Luhmanns eigene Thesen 69 Ibid., S. 86. 70 J. Baudrillard, La Transparence du Mal, op. cit., S. 22-27. 71 P. Bourdieu, Science de la science et réflexivité, op. cit., S. 145. <?page no="199"?> 185 belegen dieses Argument: Sie werden von den einen für wahr, von den anderen für unwahr gehalten. Darin gleichen sie allen anderen soziologischen Theorien, auch der Feldtheorie Bourdieus. Kein System, kein Feld vermag eindeutig die Frage nach der Wahrheit oder Unwahrheit von Luhmanns oder Bourdieus Ansatz zu beantworten. 72 Die hier durchgeführte dialogische Konfrontation ist eher dazu angetan, Stärken und Schwächen hervortreten zu lassen als bestehende monologisch-systematische Diskurse, die auf Widerlegung oder Rechtfertigung aus sind. Damit ist der dritte Punkt angesprochen: Es scheint nicht sinnvoll zu sein, die Kultur- und Sozialwissenschaften einem einheitswissenschaftlichen System oder Feld zu subsumieren und so zu tun, als würden sie sich mit der Zeit - gleichsam von selbst - den hard sciences angleichen. Eine solche Einstellung ist ideologisch (im restriktivnegativen Sinne), weil sie dem Nachdenken über den ideologischen Charakter der Humanwissenschaften einen Riegel vorschiebt und die heutige Hegemonie der Naturwissenschaften in den Institutionen utilitaristisch festschreibt. Die Ideologie im allgemeinen Sinne (als Wertsetzung und politisches Engagement) ist im sozialwissenschaftlichen Bereich jedoch kein Makel, sondern Voraussetzung für kreative Erkenntnis. Insofern zeugt auch Bourdieus Wort „Kontaminierung“ von einem undurchschauten sozio-linguistischen Zusammenhang. Das liberale Engagement Poppers oder Glasersfelds, das revolutionäre Engagement eines Georg Lukács und die feministische Kritik einer Juliet Mitchell an Freuds Psychoanalyse haben neue Erkenntnisse gezeitigt, die ohne das ideologische parti pris ausgeblieben wären. Dieses ist aber eine subjektive Attitüde und integraler Bestandteil individueller und kollektiver Subjektivität. Deshalb kann es im sozialwissenschaftlichen Bereich keine Wahrheiten jenseits der Subjekte geben: Wahrheiten des Systems oder des Feldes. Wahrheitsfindung kann nur zwischen selbstbewußten und kritischen Subjekten angesiedelt werden, die nicht ausschließlich individuellen Charakter haben, sondern sich stets in Soziolekten und Diskursen artikulieren. Zwischen ihnen findet der theoretische Dialog statt, der hier an die Stelle des Systems und des Feldes tritt. 72 Vgl. H. Gripp-Hagelstange, Niklas Luhmann. Eine Einführung, München, Fink, 1997 (2. Aufl.), S. 142-146: „Fragen und Zweifel“. <?page no="201"?> 187 X. Intersubjektivität und Machtstruktur: Habermas und Foucault (Althusser, Pêcheux) Daß sich Habermas’ und Foucaults Theorien antithetisch zueinander verhalten, geht nicht nur aus Habermas’ bekanntem Aufsatz über den französischen Philosophen hervor 1 , sondern auch und vor allem aus den konträren Fragestellungen, die ihren Werken zugrunde liegen. Während Habermas schon in seinem Frühwerk nach der Möglichkeit unverzerrter, herrschaftsfreier Kommunikation fragt 2 , stellt Foucault spätestens seit Folie et déraison (1961) zwischenmenschliche Kommunikation als ein durch Machtsrukturen vermitteltes Geschehen dar. Aus seinem vielzitiertes Diktum „La Torture, c’est la raison“ („Vernunft ist Folter“) 3 sind nicht nur Kritik und Anklage herauszuhören, sondern auch der Gedanke, daß menschliche Vernunft zutiefst in die Machtverhältnisse verstrickt ist, die sie als Herrschaftsinstrument zugleich ermöglicht. Insofern ist Foucault durchaus als Geistesverwandter Adornos und Horkheimers zu lesen, die sich in der Dialektik der Aufklärung (1944/ 47) vornahmen, nicht nur eine Geschichte des Subjekts, sondern zugleich auch eine Geschichte der Vernunft zu schreiben. Trotz der unterschiedlichen erkenntnistheoretischen Voraussetzungen, die sie von Foucault trennen, sind sich die Autoren dieses Werks mit ihm einig, daß die aufgeklärte rationalistische Vernunft mit Herrschaftsanspruch und Naturbeherrschung verflochten ist. Angesichts dieser Konvergenz nimmt es nicht wunder, daß Foucault in vorgerücktem Alter bedauert, die Kritische Theorie nicht früher kennengelernt zu haben. 4 Von einer solchen Konvergenz kann im Hinblick auf Habermas und Foucault nicht mehr die Rede sein, weil Habermas meint, im 1 Vgl. J. Habermas, „Vernunftkritische Entlarvung der Humanwissenschaften: Foucault“, in: ders., Der philosophische Diskurs der Moderne. Zwölf Vorlesungen, Frankfurt, Suhrkamp, 1985 (2. Aufl.). 2 Vgl. J. Habermas, Theorie und Praxis. Sozialphilosophische Studien (1963), Frankfurt, Suhrkamp, 1972, S. 42-43. 3 M. Foucault, „La Torture, c’est la raison“, in: ders., Dits et écrits, Bd. III, Paris, Gallimard, 1994, S. 390. 4 M. Foucault, „Structuralisme et poststructuralisme“, in: ders., Dits et écrits, Bd. IV, op. cit., S. 439. <?page no="202"?> 188 Rahmen von einer an Kant, Husserl und Mead anknüpfenden Transzendental- oder Universalpragmatik eine ideale Kommunikationssituation rekonstruieren zu können, die jenseits aller Macht- und Herrschaftsverhältnisse ist. Sie wohnt aber insofern jeder Kommunikationssituation inne, als sie von allen Kommunikationsteilnehmern stets „unterstellt“ wird. Die Möglichkeit einer solchen Unterstellung erscheint problematisch, wenn etwas ganz anderes vorausgesetzt wird: die Unterwerfung der kommunizierenden Subjekte unter Machtstrukturen, die sie zu Subjekten machen. Bei Foucault, Althusser und Pêcheux ist der gesamte Kommunikationszusammenhang machtvermittelt. In einer solchen Situation kann es eine freie und unverzerrte Intersubjektivität, wie sie sich Habermas vorstellt, nicht geben: weil nicht Verständigung von „Freien und Gleichen“ 5 , sondern Herrschaft oder Festschreibung von Herrschaft zur Voraussetzung und zum Telos von Kommunikation wird. Wenn Louis Althussers an Foucault und Lacan anknüpfende These zutrifft, daß die Ideologie die Individuen als Subjekte anruft 6 (also sie zu Subjekten macht), dann kann es keine unverzerrte Intersubjektivität im Sinne von Habermas geben. Macht man sich zudem Michel Pêcheux’ Gedanken zu eigen, daß der herrschende Interdiskurs alle Kommunikation durchzieht, dann wird intersubjektive Verständigung zu einer eitlen Schimäre - ebenso wie der hier vorgeschlagene Dialog zwischen theoretischen Diskursen. Im folgenden soll gezeigt werden, daß es aus dem dilemmaartigen Gegensatz ideale Intersubjektivität/ machtvermittelte Unterwerfung der Subjekte einen reflexiven Ausweg gibt. Foucaults eigenes Werk läßt die Möglichkeit erkennen, die sich dem reflektierenden Subjekt bietet, die Strukturen, die es zum Subjekt machen, kritisch zu zerlegen. Eine solche Kritik als Selbstkritik ist die Grundvoraussetzung für Autonomie und für Verständigung unter realen Bedingungen, wie sie hier angepeilt werden. 5 J. Habermas, Erläuterungen zur Diskursethik, Frankfurt, Suhrkamp, 1992 (2. Aufl.), S. 154. 6 Vgl. L. Althusser, Ideologie und ideologische Staatsapparate. Aufsätze zur marxistischen Theorie. Positionen, Hamburg-Berlin, VSA, 1977, S. 140. <?page no="203"?> 189 1. Habermas’ Intersubjektivität als Ideal und Abstraktion Trotz seiner Kritik an der Subjektphilosophie, die vom Subjekt- Objekt-Verhältnis ausgeht, und der er auch die Kritische Theorie Horkheimers und Adornos zurechnet, verabschiedet Habermas den Subjektbegriff nicht. Vielmehr überführt er ihn in eine Theorie der Intersubjektivität, die er als Theorie des kommunikativen Handelns weiterentwickelt. Insofern ist Louis Quéré recht zu geben, der ihn gegen Kritiker verteidigt, die behaupten, er habe den Subjektbegriff getilgt: „Im Gegenteil, Habermas versucht, gerade die Gedanken der Autonomie, der Verantwortung und des Selbstbewußtseins, die die moderne Auffassung der Subjektivität ausmachen, neu zu formulieren, indem er das Reflexionsmodell zugunsten eines konsequent konzipierten Kommunikationsmodells verabschiedet (...).“ 7 Dies ist grundsätzlich richtig; allerdings sollte hinzugefügt werden, daß Habermas auch die Selbstreflexion der Subjekte beibehält. 8 Die Tatsache, daß er am Subjektbegriff festhält, ist hier deshalb von Bedeutung, weil sich zeigen wird, daß seine Theorie der intersubjektiven Verständigung am Subjektbegriff scheitert. Daß es sich um eine Kommunikationstheorie handelt, die auch auf wissenschaftliche Kommunikation angewandt werden soll, zeigen zahlreiche Passagen in Habermas’ Werk, aus denen hervorgeht, daß seine Theorie des kommunikativen Handelns zwischen den Segmenten der zerfallenen nachmodernen Gesellschaft vermitteln will. Habermas ist um eine neue „Theorie der Rationalität“ 9 bemüht und sieht den Philosoph in der „Rolle eines Interpreten, der zwischen den Expertenkulturen von Wissenschaft und Technik, Recht und Moral einerseits, der kommunikativen Alltagspraxis andererseits vermittelt (...).“ 10 Die Annahme, daß die Theorie des kommunikativen Handelns 7 L. Quéré, „Vers une anthropologie alternative. Pour les sciences sociales? “, in: Ch. Bouchindhomme, R. Rochlitz (Hrsg.), Habermas, la raison, la critique, Paris, Les Editions du Cerf, 1996, S. 128. 8 Vgl. J. Habermas, Erläuterungen zur Diskursethik, op. cit., S. 17: Der Diskurs als klärendes Gespräch, das „problematische Geltungsansprüche“ zum Gegenstand hat, wird dort als reflexiver Prozeß aufgefaßt. 9 J. Habermas, Nachmetaphysisches Denken. Philosophische Aufsätze, Frankfurt, Suhrkamp, 1997 (2. Aufl.), S. 46. 10 Ibid. <?page no="204"?> 190 auch im wissenschaftstheoretischen Bereich anwendbar sein soll, ist mithin legitim. Denn gerade in der theoretischen Kommunikation sollte man erwarten können, daß sich ausschließlich die „Autorität des besseren Arguments“ 11 , wie Habermas sagt, durchsetzt. Wie sieht nun Habermas’ intersubjektive Verständigung aus? Sie geht von zwei komplementären Grundsätzen aus: Universalismus und Abstraktion. Sie sind insofern komplementär, als Allgemeingültigkeit von Verständigungs- und Geltungsregeln nur dann erreicht werden kann, wenn von den Besonderheiten der beteiligten Subjekte abstrahiert wird. Im Hinblick auf eine „multikulturelle“ Gesellschaft heißt es in Erläuterungen zur Diskursethik: „Und je größer diese Vielfalt, eine um so abstraktere Gestalt müssen die Regeln und Prinzipien annehmen, welche die Integrität und gleichberechtigte Koexistenz der füreinander immer fremder werdenden, auf Differenz und Andersheit beharrenden Subjekte und Lebensweisen schützen.“ 12 Der Kerngedanke dieser Passage ist klar und plausibel: Je größer die Unterschiede zwischen den Beteiligten, desto höher muß das Abstraktionsniveau sein, auf dem sich ein gemeinsamer Nenner der Verständigung herauskristallisiert. In gewisser Hinsicht kehrt Habermas Lyotards Argumentation (vgl. Kap. VI) um: Gerade weil der Widerstreit (différend) zunimmt, sollte man ihn nicht partikularistisch festschreiben („témoigner du différend“), sondern versuchen, ihn universalistisch zu überwinden. Darin trifft er sich mit Kant, Popper und den Liberalen. Er selbst stellt die Diskursethik im Spannungsfeld zwischen einem Kantischen Individualismus und einem von Hegels „Individualisierung als Vergesellschaftung“ 13 beeinflußten Kommunitarismus dar. Bei näherer Betrachtung zeigt sich allerdings, daß Habermas Kant wesentlich näher steht als Hegel, weil er in seinen Definitionen von Lebenswelt, idealer Sprechsituation und Intersubjektivität systematisch von der Wirklichkeit abstrahiert, um verallgemeinern zu können. Sein Denken reproduziert in vieler Hinsicht das Trennungsdenken Kants und negiert konsequent Hegels dialektische Kategorie der Vermittlung. Das Ergebnis ist eine Kantische Konfrontation von Ideal und 11 J. Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns, Bd. II, Zur Kritik der funktionalistischen Vernunft, Frankfurt, Suhrkamp, 1981, S. 218. 12 J. Habermas, Erläuterungen zur Diskursethik, op. cit., S. 202. 13 Ibid., S. 203. <?page no="205"?> 191 Wirklichkeit und eine abstrakte Negation des Subjekts als soziolinguistischer Subjektivität. Um die Theorie des kommunikativen Handelns zu verstehen, ist es wichtig, zwei elementare Unterscheidungen im Auge zu behalten, die Habermas immer wieder oberflächlichen Kritikern, die sie nicht wahrnehmen, vor Augen führt: den Unterschied zwischen formalpragmatischer („idealer“) und soziologischer („realer“) Lebenswelt 14 und den komplementären Unterschied zwischen idealer und realer Sprechsituation. Vom formalpragmatischen Begriff der Lebenswelt sagt Habermas: „Er bildet einen Komplementärbegriff zum kommunikativen Handeln.“ 15 Das heißt, daß er intersubjektive Kommunikation im Hinblick auf eine idealisierte, formalpragmatische Lebenswelt und auf eine ideale Sprechsituation definiert. Daß es sich um verallgemeinernde Abstraktionen handelt, zeigt sich immer dann, wenn Habermas die verallgemeinerungsfähigen Aspekte der Lebenswelt und der idealen Sprechsituation hervorhebt. Da die „ideale Sprechsituation“ den Lebensweltbegriff voraussetzt, soll dieser nun näher betrachtet werden. Er stammt von Edmund Husserl und Alfred Schütz 16 und soll in der Theorie des kommunikativen Handelns sprachlich-kulturelle Gemeinsamkeit und Verallgemeinerungsfähigkeit gewährleisten. Als Grundlage der Verständigung erscheint die formalpragmatische (nicht die real-gesellschaftliche oder soziologische) Lebenswelt zugleich als Garantie für gemeinsame Verständnisvoraussetzungen. Von den „kommunikativ Handelnden“ sagt Habermas: „Die Strukturen der Lebenswelt legen die Formen der Intersubjektivität möglicher Verständigung fest. Ihnen verdanken die Kommunikationsteilnehmer die extramundane Stellung gegenüber dem Innerweltlichen, über das sie sich verständigen können. Die Lebenswelt ist gleichsam der transzendentale Ort, an dem sich Sprecher und Hörer begegnen; wo sie reziprok 14 J. Habermas, „Entgegnung“, in: A. Honneth, H. Joas (Hrsg.), Kommunikatives Handeln. Beiträge zu Jürgen Habermas’ „Theorie des kommunikativen Handelns“, Frankfurt, Suhrkamp, 1986, S. 372. 15 J. Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns, Bd. II, op. cit., S. 182. 16 Vgl. E. Husserl, Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie, Hrsg. W. Biemel, Den Haag, Nijhoff, 1962, S. 105- 193: Dritter Teil: „Der Weg in die phänomenologische Transzendentalphilosophie in der Rückfrage von der vorgegebenen Lebenswelt aus“ sowie A. Schütz, Das Problem der Relevanz, Frankfurt, Suhrkamp (1971), 1982, S. 179-187: „Die Dimensionen der Lebenswelt“. <?page no="206"?> 192 den Anspruch erheben können, daß ihre Äußerungen mit der Welt (der objektiven, der sozialen oder der subjektiven Welt) zusammenpassen; und wo sie diese Geltungsansprüche kritisieren und bestätigen, ihren Dissens austragen und Einverständnis erzielen können.“ 17 Kurz darauf ist wieder von einer „gemeinsamen Lebenswelt“ die Rede, die „für Verständigung als solche konstitutiv ist“. 18 Hier kommt der Gedanke auf, daß „der transzendentale Ort“ der formalpragmatischen Lebenswelt eine utopische Konstruktion ist (ou topos = kein Ort), die bei Habermas eine ähnliche Funktion erfüllt wie das Sein bei Heidegger, das Proletariat bei Lukács und die freischwebenden Intellektuellen bei Mannheim. 19 Es geht darum, einen Archimedischen Punkt zu finden, von dem aus über die soziale Welt der Interessen, Konflikte und Machtkämpfe gesprochen werden kann, ohne in deren Antagonismen verstrickt zu sein. Ausgehend von einem „internen Zusammenhang zwischen Strukturen der Lebenswelt und Strukturen des sprachlichen Weltbildes“ 20 , entwirft Habermas eine „ideale Sprechsituation“, die in jeder realen Kommunikationssituation vorausgesetzt werden muß. Er stellt sich vor, „daß Argumentationsteilnehmer gemeinsam so etwas wie eine ideale Sprechsituation unterstellen“ 21 , und fährt fort: „Die ideale Sprechsituation soll dadurch bestimmt sein, daß jeder Konsens, der unter ihren Bedingungen erzielt werden kann, per se als vernünftiger Konsens gelten darf. Meine These heißt: Der Vorgriff auf eine ideale Sprechsituation gibt allein Gewähr dafür, daß wir mit einem faktisch erzielten Konsensus den Anspruch des vernünftigen Konsenses verbinden dürfen (...).“ 22 Wie der formalpragmatische Begriff der Lebenswelt schließt die „ideale Sprechsituation“ eine „systematische Verzerrung der Kommunikation aus“. 23 Nur unter solchen gegen reale Handlungszwänge abgeschirmten Bedingungen, meint Habermas, herrsche „der eigentüm- 17 J. Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns, Bd. II, op. cit., S. 192. 18 Ibid. 19 Zum Vergleich von Habermas’ idealer Sprechsituation mit Mannheims freischwebenden Intellektuellen vgl. Vf., Ideologie und Theorie. Eine Diskurskritik, Tübingen, Francke, 1989, Kap. III. 20 J. Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns, Bd. II, op. cit., S. 190. 21 J. Habermas, Vorstudien und Ergänzungen zur Theorie des kommunikativen Handelns, Frankfurt, Suhrkamp, 1986 (2. Aufl.), S. 118. 22 Ibid. 23 Ibid., S. 119. <?page no="207"?> 193 lich zwanglose Zwang des besseren Arguments“. 24 Freilich drängt sich die Frage auf, wer in einer solchen Situation über die Qualität von Argumenten zu befinden hat. Argumente, die der eine „überzeugend“ findet, mag ein anderer als „absurd“ zurückweisen. Um dieser Alltagsrealität zu entgehen, stellt sich Habermas ein „reines kommunikatives Handeln“ 25 vor, das u.a. folgende Aspekte aufweist: „effektive Gleichheit der Chancen bei der Wahrnehmung der Dialogrollen“, „universale Austauschbarkeit der Dialogrollen“ 26 oder, wie es an anderer Stelle heißt: „Austauschbarkeit der Teilnehmerperspektiven“. 27 Um die „intersubjektiv geteilte Überlieferung“ 28 der Lebenswelt zu konsolidieren, schreibt er den Kommunizierenden eine homogene Sprache vor. Im Anschluß an R. Alexy fordert er beispielsweise: „Verschiedene Sprecher dürfen den gleichen Ausdruck nicht mit verschiedenen Bedeutungen benutzen.“ 29 Nun muß man kein fanatischer Dekonstruktivist sein, um hier eine Absurdität zu vermuten. Hat nicht Margaret Masterman gezeigt, daß sogar ein und derselbe Sprecher (nämlich Thomas S. Kuhn: vgl., Kap. V) in einem und demselben Text das Wort „Paradigma“ mit 21 verschiedenen Bedeutungen benutzt? Wie soll es gelingen, verschiedene Sprecher auf eine Bedeutung festzulegen? Dies kann offensichtlich nur gelingen, wenn man so systematisch von der realen Subjektivität der Kommunizierenden abstrahiert, daß sie sich zu reinen, denkenden Subjekten im Sinne von Kant oder Fichte verflüchtigen. Um einen Einbruch der Wirklichkeit in die ideale Sprechsituation vorab auszuschließen, fordert Habermas „institutionelle Vorkehrungen, um unvermeidliche empirische Beschränkungen und vermeidbare externe und interne Einwirkungen soweit zu neutralisieren, daß die von den Argumentationsteilnehmern immer schon vorausgesetzten idealisierten Bedingungen wenigstens in hinreichender Annäherung erfüllt werden können“. 30 Das Schlüsselwort 24 Ibid. 25 Ibid., S. 120. 26 Ibid. 27 J. Habermas, Erläuterungen zur Diskursethik, op. cit., S. 155. 28 J. Habermas, Moralbewußtsein und kommunikatives Handeln, Frankfurt, Suhrkamp, 1983, S. 78. 29 Ibid., S. 97. 30 Ibid., S. 102. <?page no="208"?> 194 in dieser Passage ist: „neutralisieren“. Aber sind abstrahierte, neutralisierte und idealisierte Subjekte noch als Subjekte zu bezeichnen? Habermas könnte man entgegenhalten, was Max Stirner im Zusammenhang mit Hegel (und Fichte) schreibt: „Das ‚absolute Denken‘ ist dasjenige Denken, welches vergißt, daß es mein Denken ist, daß Ich denke und daß es nur durch Mich ist.“ 31 Dieser materialistische Einwand ist deshalb entscheidend, weil nicht die „ideale Sprechsituation“ die Grundvoraussetzung intersubjektiver Kommunikation bildet (Hans Albert weist in seiner Kritik an Karl-Otto Apel überzeugend nach, daß dies nicht der Fall ist) 32 , sondern individuelle Subjektivität, die stets gesellschaftlich und sprachlich vermittelt ist und im Diskurs als semantisch-narrativer Struktur zum Ausdruck kommt. In keiner denkbaren Situation können individuelle Subjekte von ihrer diskursiven (semantisch-narrativen) und gesellschaftlichen Identität abstrahieren, ohne ihre Existenz aufzugeben. Freilich kann Habermas den Diskurs in diesem Sinn (es ist hier nicht vom Diskurs als Metagespräch in seinem Sinne die Rede) 33 nicht wahrnehmen, weil er die ideale Sprechsituation auf Austins und Searles Sprechakttheorie gründet. Diese Theorie konzentriert sich aber auf den Satz und verliert so die transphrastische Diskursstruktur, die Subjektivität konstituiert, aus dem Blickfeld. Habermas selbst faßt im Anschluß an Austin und Searle den Sprechakt als pragmatische Form des Satzes auf: „Ein Sprechakt erzeugt die Bedingungen dafür, daß ein Satz in einer Äußerung verwendet werden kann; aber gleichzeitig hat er selbst die Form eines Satzes.“ 34 Konstative oder performative Sprechakte (z.B. „Ich ver- 31 M. Stirner, Der Einzige und sein Eigentum, Stuttgart, Reclam, 1972, S. 381- 382. 32 Vgl. H. Albert, Transzendentale Träumereien. Karl-Otto Apels Sprachspiele und sein hermeneutischer Gott, Hamburg, Hoffmann und Campe, 1975, S. 136- 137. 33 Vgl. J. Habermas, Vorstudien und Ergänzungen zur Theorie des kommunikativen Handelns, op. cit., S. 122. Im Diskurs, erklärt dort Habermas, „werden problematisierte Geltungsansprüche zum Thema gemacht“. Im vorliegenden Fall ist Diskurs kein Gespräch, sondern eine semantisch-narrative Struktur mit Aktantenmodell. 34 J. Habermas, „Vorbereitende Bemerkungen zu einer Theorie der kommunikativen Kompetenz“, in: J. Habermas, N. Luhmann, Theorie der Gesellschaft oder Sozialtechnologie - Was leistet die Systemforschung? , Frankfurt, Suhrkamp (1971), 1982, S. 103. <?page no="209"?> 195 spreche, morgen zu kommen.“) haben jedoch in den meisten Fällen einen neutralen, unpersönlichen Charakter und sind nicht für besondere Diskurse und Subjektivitäten spezifisch. Dies ist der Grund, weshalb Habermas die gesamte „ideale Sprechsituation“ aus der Sicht der Sprechakttheorie betrachtet. Auf diese Art kann er sowohl die Kommunikate als auch die teilnehmenden Subjektivitäten auf kultureller, religiöser und ideologischer Ebene neutralisieren 35 : „Wenn wir nun die Sprechakte in der vorgeschlagenen Weise als Kommunikativa, Konstativa, Repräsentativa und Regulativa ordnen, zeigt sich, daß sie und genau sie die zureichenden Kommunikationsmittel für den Entwurf der idealen Sprechsituation sind.“ 36 Damit ist individuelle Subjektivität, die sich in Soziolekten und im Diskurs als transphrastischer, semantisch-narrativer Struktur bildet, aus der idealen Sprechsituation ausgeschlossen. 37 Wenn wir jedoch von Junghegelianern wie Stirner, von Marx und Nietzsche etwas gelernt haben, dann werden wir in jeder Kommunikationssituation diese zugleich gesellschaftliche und sprachliche Subjektivität des Einzelnen zur Grundvoraussetzung machen - statt von ihr idealistisch zu abstrahieren. Tun wir dies, dann können wir aber die ideale Sprechsituation, die diese Subjektivität kantianisch negiert 38 , nicht mehr voraussetzen. Wird die materielle, sozio-linguistische Subjektivität der Gesprächspartner zum Ausgangspunkt gemacht, dann erscheint auch der von Habermas geforderte Tausch der Gesprächsrollen (s.o.) nicht 35 Zur ausführlicheren Kritik an diesem Neutralisierungsversuch vgl. Vf., Ideologie und Theorie, op. cit., S. 107-123. 36 J. Habermas, „Vorbereitende Bemerkungen zu einer Theorie der kommunikativen Kompetenz“, in: J. Habermas, N. Luhmann, Theorie der Gesellschaft, op. cit., S. 122. 37 Tatsächlich zeigt sich, daß Habermas vom Konfliktcharakter der Gesellschaft abstrahiert und den Sozialisationsprozeß auf intersubjektiven Konsens ausrichtet: „Sprach- und handlungsfähige Subjekte werden vielmehr als Individuen allein dadurch konstituiert, daß sie als Mitglieder einer jeweils besonderen Sprachgemeinschaft in eine intersubjektiv geteilte Lebenswelt hineinwachsen.“ (Erläuterungen zur Diskursethik, op. cit., S. 15.) In der Gesellschaft kommen aber zahlreiche miteinander rivalisierende Sprachgemeinschaften (Gruppen, Soziolekte) vor, und ihre Konflikte können in den Sozialisierungsprozeß des Einzelnen eindringen und ihn erheblichen Spannungen aussetzen. 38 Zur Negation der realen Subjektivität bei Descartes, Kant und Fichte vgl. Vf., Theorie des Subjekts. Subjektivität und Identität zwischen Moderne und Postmoderne, Tübingen, Francke, 201 7 ( 4 . Aufl.), Kap. II, 1. <?page no="210"?> 196 mehr sinnvoll: Wie soll eine Feministin mit einem kritischen Rationalisten oder einem Systemtheoretiker die Rollen tauschen, ohne ihre Subjektivität aufzugeben? Die von Habermas geforderte „Austauschbarkeit der Teilnehmerperspektiven“ (s.o.) ist ebenso unmöglich wie die Austauschbarkeit der diskursiven Subjektivitäten. In diesem Fall wird auch die Forderung hinfällig, „verschiedene Sprecher dürfen den gleichen Ausdruck nicht mit verschiedenen Bedeutungen benutzen“ (s.o.). Denn der kritische Rationalist wird das Wort „Ideologie“ stets mit anderen Bedeutungen versehen als der Befürworter der Kritischen Theorie. Aber gerade deshalb ist er für ihn als Gesprächspartner interessant. Mit jemandem, der den selben Ideologiebegriff verwendet wie ich, brauche ich mich nicht über Ideologie zu unterhalten. Auch der „Zwang des besseren Arguments“ wird problematisch, weil in jedem Diskurs oder Soziolekt ein anderes Argument als „besser“ eingestuft wird. Im Anschluß an diese Überlegungen muß die von Habermas geforderte „kooperative Wahrheitssuche“ 39 in die Erkenntnis münden, daß jeder die Wahrheit anders konstruiert. (Sowohl der „Positivismusstreit“ als auch Habermas’ Diskussionen mit Luhmann lassen erkennen, daß dies der Fall ist.) Habermas versucht, durch die Einführung der formalpragmatischen Lebenswelt und der idealen Sprechsituation Ideologien, Machtfaktoren und Strategien aus der Kommunikationssituation zu verbannen. Zugleich mit diesen Faktoren beseitigt er aber die individuelle Subjektivität. Dadurch verkommt seine Intersubjektivität zu einem sterilen und repressiven Unterfangen. Zu Recht bemerkt William Rasch zu den kommunizierenden Subjekten bei Habermas: „Ihre kommunikative Argumentation reduziert lediglich die Vielfalt der Überzeugungen, so daß das Ziel ihres Gesprächs - der Universalkonsens - letztlich darin besteht, daß es keine abweichenden Meinungen gibt.“ 40 Frappierend ist die Nähe dieser repressiven Utopie zu den von Foucault beschriebenen Herrschaftsverhältnissen. Habermas’ auf Verständigung und Universalkonsens ausgerichtete Kommunikationstheorie bewirkt letztlich, daß bestimmte Partikularismen (etwa der Prag- 39 J. Habermas, Erläuterungen zur Diskursethik, op. cit., S. 154. 40 W. Rasch, Niklas Luhmann’s Modernity. The Paradoxes of Differentiation, Stanford, Univ. Press, 2000, S. 32. <?page no="211"?> 197 matismus der anglo-amerikanischen Sprechakttheorie) einen Universalstatus erhalten. Wie die meisten Idealismen läuft sein Ideal auf eine Universalisierung des Partikularen hinaus. Habermas, der beteuert, das Andere einbeziehen zu wollen 41 , hat es mit bewundernswertem Raffinement aus seiner scheinbar herrschaftsfreien Utopie der Verständigung vertrieben. Aber zwischenmenschliche Kommunikation (auch die theoretische) gleicht einem Spiel: Sie kombiniert spielerische und affektive Momente mit dem Streben nach Erkenntnis, Macht und strategischem Vorteil. 42 Eines der besten Beispiele ist wohl die Liebe, in der Egoismus und Altruismus, Strategie und Solidarität kaum zu entwirren sind. Wenn sie sagt „ich liebe dich“, dann meint sie sicherlich etwa anderes als er. Wer wollte die beiden schon daran hindern, das Wort Liebe „mit verschiedenen Bedeutungen“ zu benutzen? Sie werden sich auch ohne die vom Philosophen vorgeschriebene Monosemie verständigen. Möglicherweise gilt das sogar für Wissenschaftler. 2. Von Foucault zu Althusser und Pêcheux: Erkenntnis als Macht Eines verbindet Michel Foucault mit Max Stirner: das Beharren auf dem Besonderen, ja auf dem Materiellen und Körperlichen dem Ideellen gegenüber. Nicht zufällig betont er die „technischen und strategischen“ 43 Aspekte der Machtausübung. Während Habermas versucht, die kommunizierenden Subjekte aus den Zwangslagen des Alltags freizusetzen, um sie zu einer (scheinbar) zwanglosen Kommunikation zu befähigen, setzt Foucault den machtvermittelten Charakter von 41 Vgl. J. Habermas, Die Einbeziehung des Anderen, Frankfurt, Suhrkamp, 1997 (2. Aufl.), S. 56. 42 Es kommt hinzu, daß auch strategisches Handeln den Willen zur Verständigung keineswegs ausschließt, wie J. Alexander richtig bemerkt: „Ebensowenig beinhalten Konflikt und Strategie notwendig einen Mangel an Verständigung.“ (J. Alexander, „Habermas’ neue Kritische Theorie: Anspruch und Probleme“, in: A. Honneth, H. Joas [Hrsg.], Kommunikatives Handeln. Beiträge zu Jürgen Habermas’ „Theorie des kommunikativen Handelns“, Frankfurt, Suhrkamp, 1986, S. 95.) Davon zeugen sowohl die eingehaltenen als auch die nicht eingehaltenen Verträge der Großmächte. 43 M. Foucault, „Les Rapports de pouvoir passent à l’intérieur des corps“, in: ders., Dits et écrits, Bd. III, Paris, Gallimard, 1994, S. 229. <?page no="212"?> 198 Subjektivität und Kommunikation voraus - und nicht herrschaftsfreie Kommunikationsverhältnisse. Das individuelle Subjekt ist für ihn primär Unterworfenes: subiectum. In dieser Hinsicht ist er durchaus als Geistesverwandter Horkheimers und Adornos zu verstehen, die lange vor ihm (in der Dialektik der Aufklärung) die Selbstunterwerfung des Subjekts unter seine eigenen Herrschaftsmechanismen beschrieben. In der Negativen Dialektik erscheint die idealistische Verherrlichung subjektiver Autonomie als ideologische Überheblichkeit: „Das Ichprinzip imitiert sein Negat. Nicht ist, wie der Idealismus über die Jahrtausende es einübte, obiectum subiectum; wohl jedoch subiectum obiectum.“ 44 Foucault stellt das Objektwerden der Subjekte anschaulicher dar als alle bisherigen Philosophen und läßt - gleichsam en passant - erkennen, wie schwer zwanglose Intersubjektivität im Sinne von Popper, Davidson oder Habermas zu verwirklichen ist. Habermas hat richtig erkannt, daß für Foucault gesellschaftliche Kommunikation stets machtvermittelt ist: „Und die Humanwissenschaften interessieren ihn von Anbeginn nur als Medien, die in der Moderne den unheimlichen Prozeß dieser Vergesellschaftung, nämlich die Vermachtung konkreter, leibvermittelter Interaktionen verstärken und vorantreiben.“ 45 Die naive Frage, wie bei Foucault Intersubjektivität möglich ist, d.h. wie sich Subjekte verständigen, läßt nur eine ironische Antwort zu: als Objekte der Verwaltung. In dieser Situation ist ein genuiner intersubjektiver Dialog unvorstellbar, und Habermas stellt zu Recht fest, „daß die Abtötung dialogischer Beziehungen die monologisch in sich gekehrten Subjekte füreinander zu Objekten, und nur zu Objekten macht“. 46 Insofern mag auch seine Feststellung richtig sein, daß Foucault „‚Macht‘ zum transzendental-historistischen Grundbegriff einer vernunftkritischen Geschichtsschreibung“ 47 erhebt. So betrachtet erscheint Foucaults Philosophie als Gegenentwurf zu Habermas’ transzendentalem Postulat einer idealen Sprechsituation, die in jeder Kommunikation vorauszusetzen sei. Foucault setzt nicht das Ideal, sondern die (scheinbar) realen Machtverhältnisse voraus. 44 Th. W. Adorno, Negative Dialektik, Frankfurt, Suhrkamp, 1966, S. 179. 45 J. Habermas, Der philosophische Diskurs der Moderne, op. cit., S. 285. 46 Ibid., S. 289. 47 Ibid., S. 298. <?page no="213"?> 199 In der Vernunft als solcher erblickt er ein Resultat der Machtausübung, die wiederum Erkenntnis hervorbringen kann und keineswegs mit Verblendung gleichgesetzt wird. In Surveiller et punir (1975) scheint er Jürgen Habermas antworten zu wollen, wenn er sich gegen eine ganze philosophische Tradition wendet, die auf dem Gedanken gründet, daß Macht und Erkenntnis unvereinbar seien. In Foucaults Kritik an dieser Tradition sind die junghegelianischen und nietzscheanischen Töne nicht zu überhören: „Möglicherweise sollte man auch auf eine ganze Tradition verzichten, die uns glauben macht, daß es nur dort Wissen geben kann, wo die Machtverhältnisse suspendiert werden, und daß sich Wissen nur jenseits von Machtvorgaben, Machtforderungen und Machtinteressen entfalten kann.“ 48 Weit davon entfernt, ausschließlich wahnsinnig zu machen oder zu blenden, bringt Macht auch Wissen hervor. Die zahlreichen Verflechtungen von Strategie und Wissenschaft veranschaulichen diese These. Das Wissen, das so entsteht, ist jedoch nicht das moderne Universalwissen, nach dem Kant, Popper und Habermas streben, sondern ein partikularisiertes Fachwissen im Sinne einer pluralisierten und fragmentierten Postmoderne. Foucaults Vernunft hat - ähnlich wie die Thomas S. Kuhns - lokalen, zeitlich begrenzten Charakter. Man fühlt sich an Kuhns Paradigmentheorie erinnert, wenn man in Naissance de la clinique liest: „Bedeutsame Wahrnehmung innerhalb der Welt der Klinik in ihrer ersten Ausprägung unterscheidet sich also epistemologisch von der durch die anatomische Methode veränderten Wahrnehmung.“ 49 Jede der beiden Wahrnehmungsweisen stellt metonymisch eine andere wissenschaftliche Episteme dar, die wesentliche Merkmale des Kuhnschen Paradigmas aufweist: Sie ist ein geschlossenes Regelsystem, das die Anwendung anderer Regelsysteme ausschließt. Tatsächlich kommt es bei Foucault - ähnlich wie bei Kuhn - zu einer Zersplitterung der Vernunft durch epistemologische Einschnitte, die verschiedene, miteinander unvereinbare Denkweisen gegeneinander abgrenzen. Alle diese Denkweisen erscheinen Foucault als machtvermittelt, als instrumentalisiert. Deshalb spricht er auch von der „Herrschaft der Vernunft“ („domination de la raison“). 50 (Allerdings 48 M. Foucault, Surveiller et punir, Paris, Gallimard, 1975, S. 36. 49 M. Foucault, Naissance de la clinique, Paris, PUF, 1994 (4. Aufl.), S. 164. 50 M. Foucault, „Structuralisme et poststructuralisme“, in: ders., Dits et écrits, Bd. IV, Paris, Gallimard, 1994, S. 438. <?page no="214"?> 200 gibt er keine konkreten Gruppen oder Klassen an, die das Wissen oder die Vernunft für ihre Zwecke einsetzen würden.) Die Wahrheit selbst wird von ihm als kontingenter Faktor dargestellt, der an eine historische Episteme (an ein Paradigma, würde Kuhn sagen) gebunden ist. Dazu bemerkt Gilles Deleuze: „Es existiert kein Wahrheitsmodell, das nicht auf einen Typus von Macht wiese, kein Wissen und keine Wissenschaft, die nicht Ausdruck oder stillschweigende Voraussetzung einer sich entfaltenden Macht wären.“ 51 Hier wird auch der Gegensatz zu Kuhn deutlich: Während der Wissenschaftshistoriker den Paradigmenwechsel auf Anomalien im alten Paradigma und auf die Emergenz konkurrierender Paradigmen zurückführt, ist Foucault genötigt, den Zusammenbruch einer Episteme mit dem Machtschwund zu erklären. 52 Besonders charakteristisch für diese Auffassung sind zwei Passagen aus dem bekannten Aufsatz über Nietzsche, der als eine postmodern-junghegelianische und nietzscheanische Replik auf Habermas’ Universalpragmatik gelesen werden könnte. In einem ersten Schritt wird dort die historische Möglichkeit einer machtfreien, universellen Verständigung geleugnet: „Die Menschheit schreitet nicht langsam von Kampf zu Kampf um eine universelle Reziprozität fort, deren Regeln ein für allemal an die Stelle des Krieges treten werden; sie durchdringt mit jeder ihrer Gewalttaten ein Regelsystem und bewegt sich dergestalt von Herrschaft zu Herrschaft.“ 53 Obwohl Habermas seine herrschaftsfreie Kommunikation nicht als Telos der Geschichte, sondern als transzendentale Voraussetzung einer jeden Kommunikation begreift, trifft Foucaults Argumentation auch seinen idealistischen Entwurf. Im Machtkampf um die Regelsysteme des Denkens meint Foucault, den eigentlichen Motor der Geschichte zu erkennen: „Das große Spiel der Geschichte läuft auf die Frage hinaus, wer sich der 51 G. Deleuze, Foucault, Frankfurt, Suhrkamp, 1987, S. 59. 52 Vgl. auch J. Piaget, Le Structuralisme, Paris, PUF, 1974, S. 114. Piaget wirft dort Foucault vor, er habe keine Theorie der Entwicklung und könne nicht erklären, weshalb eine alte Episteme von einer neuen abgelöst wird. Dieser Vorwurf ist nur teilweise berechtigt, weil Foucault in seinen größeren Arbeiten (z.B. in Les Mots et les choses) den Übergang von einer Episteme zur nächsten tatsächlich nicht erklärt. Dennoch findet man in seinem Werk - vor allem in Dits et écrits - Spuren einer solchen Erklärung. 53 M. Foucault, „Nietzsche, la généalogie, l’histoire“, in: ders., Dits et écrits, Bd. II, Paris, Gallimard, 1994, S. 145. <?page no="215"?> 201 Regeln bemächtigt, wer diejenigen verdrängt, die sich ihrer bedienen, wer sich zu tarnen versteht, um sie zu pervertieren, sie gegen ihren Sinn einzusetzen und gegen diejenigen zu wenden, die sie durchgesetzt haben (...).“ 54 Vernunft und Erkenntnis erscheinen hier einerseits als machtabhängige Funktionen, andererseits als einmalige und partikulare Konstellationen, die eine Zeitlang gelten, um dann für immer zu verschwinden. Wird die Entwicklung menschlicher Erkenntnis so aufgefaßt, wird jedes Plädoyer für Verallgemeinerungsfähigkeit und universelle Verständigung zu einer vergeblichen idealistischen Liebesmüh, die vorab dazu verurteilt ist, an der Wirklichkeit zu scheitern. Wo Erkenntnis an besondere Machtstrukturen gebunden wird, dort treten die Einzelsubjekte als einem Machtapparat unterworfene Instanzen auf, die per definitionem außerstande sind, sich über ihre gesellschaftlichen und sprachlichen Verhältnisse zu erheben. In Surveiller et punir wird das Individuum gar als „fiktives Atom einer ‚ideologischen‘ Darstellung der Gesellschaft“ 55 definiert. Es nimmt daher nicht wunder, daß Althusser im Anschluß an Foucault, Freud und Lacan 56 Subjektivität als einen Effekt der Ideologie und der „ideologischen Staatsapparate“ auffassen kann. Das individuelle Subjekt ist nur scheinbar frei oder autonom; in Wirklichkeit ist es - wie bei Foucault - das Produkt einer spezifischen Machtausübung. Es erscheint primär als Unterworfenes im Sinne des juristischen Subjekts. Dies ist der Grund, weshalb Althusser die ideologische Form der Subjektivität von der juristischen ableitet: „tirée de la catégorie juridique de ‚sujet de droit‘“. 57 Das Ergebnis dieser Überlegungen ist seine bekannte These: „Die Ideologie ruft die Individuen als Subjekte an.“ 58 Sie bedeutet, daß Individuen im Verlauf ihrer Sozialisation im Rahmen bestimmter Machtapparate (wie Staat, Kirche oder Schule) zu dem gemacht werden, was sie sind: zu Subjekten, zu Unterworfenen. Beim konkreten Individuum sieht das so aus: „Wenn es an Gott glaubt, so geht es in 54 Ibid. 55 M. Foucault, Surveiller et punir, op. cit., S. 227. 56 Vgl. L. Althusser, „Freud et Lacan“, in: ders., Positions, Paris, Editions Sociales, 1976, S. 32. 57 L. Althusser, Philosophie et philosophie spontanée des savants (1967), Paris, Maspero, 1974, S. 94. 58 L. Althusser, Ideologie und ideologische Staatsapparate, op. cit., S. 140. <?page no="216"?> 202 die Kirche, um an der Messe teilzunehmen, kniet nieder, betet, beichtet, tut Buße (...). Wenn es an die Pflicht glaubt, so wird es ein entsprechendes Verhalten an den Tag legen, das sich in gewisse rituelle, ‚den guten Sitten entsprechende‘ Praxen einfügt. Wenn es an die Gerechtigkeit glaubt, so wird es sich den Regeln des Rechts ohne Widerspruch fügen (...).“ 59 Althusser betont immer wieder, daß diese Formen der Unterwerfung nicht bewußt sind, und daß das Subjekt stets meint, aus freien Stücken zu handeln. Er vergleicht die Ideologie mit dem Unbewußten der Freudschen Psychoanalyse und behauptet von beiden, sie seien ewig: „Die Ideologie ist ewig, ebenso wie das Unbewußte ewig ist.“ 60 Die Tatsache, daß die Ideologie (z.B. als politische Ideologie) eine moderne Erscheinung ist, die es im Feudalismus in dieser Form nicht gegeben hat, und daß die Religion als Ideologie nicht zu verstehen ist, scheint Althusser nicht zu beschäftigen. 61 Die „Ewigkeit“ der Ideologie bedeutet aber, daß diese in allen Fällen vorauszusetzen ist - wie Freuds Unbewußtes -, und daß es folglich keine intersubjektive Kommunikation ohne Ideologie geben kann. Die Idee einer herrschaftsfreien Verständigung im Sinne von Habermas scheitert an Althussers These, daß Subjektivität stets ideologisch, d.h. machtproduziert ist. Als solche muß sie aber in jedem Gespräch unterstellt werden - und nicht die „ideale Sprechsituation“. Angesichts solcher Argumente nimmt es nicht wunder, daß Althusser den Subjektbegriff aus dem wissenschaftlichen Erkenntnisprozeß, in dem „das Subjekt nicht die Rolle spielt, die es zu spielen glaubt, sondern die, welche ihm der Mechanismus des Prozesses diktiert“ 62 , ausschließt: „Jeder wissenschaftliche Diskurs ist per definitionem ein Diskurs ohne Subjekt, und es gibt ein ‚Subjekt der Wissenschaft‘ nur in einer Ideologie der Wissenschaft.“ 63 Hier trifft sich Althusser im Rahmen einer postmodernen Problematik, die den Subjektbegriff peripher werden läßt, mit dem Systemtheoretiker Luhmann. Wie Luhmann faßt er Subjektivität als hu- 59 Ibid., S. 137-138. 60 Ibid., S. 133. 61 Zur Unterscheidung von Religion und Ideologie vgl. Vf., Ideologie und Theorie, op. cit., Kap. I, 2. 62 L. Althusser, E. Balibar, Das Kapital lesen, Bd. I, Reinbek, Rowohlt, 1972, S. 31. 63 L. Althusser, Ideologie und ideologische Staatsapparate, op. cit., S. 141. <?page no="217"?> 203 manistisches Ideologem auf. Insofern ist er radikaler als Bourdieu, der nicht nur den Subjektbegriff weiterhin verwendet, sondern auch den abgeleiteten Begriff der Intersubjektivität. Diese ist im Kreise der Althusserianer buchstäblich undenkbar und wird von Michel Pêcheux (implizit) durch den von Foucaults Machttheorie des Wissens inspirierten Begriff des Interdiskurses 64 ersetzt. Dieser Begriff ist eine Umkehrung von Habermas’ Vorstellung der herrschaftsfreien Kommunikation, weil er auf dem Gedanken gründet, daß sich individuelle Subjekte im Rahmen eines herrschenden Diskurses verständigen: „Wir wollen diese ‚komplexe Totalität mit einer Dominanten‘ der diskursiven Formationen Interdiskurs nennen (...).“ 65 Der Interdiskurs als sprachliche Gestalt der herrschenden Ideologie und als Vermittler zwischen allen diskursiven Formationen ist folglich die machtvermittelte Konstellation, in der „intersubjektive Verständigung“ stattfindet. Diese ist alles andere als spontan oder frei: Man versteht einander, weil man von einer und derselben Struktur beherrscht wird. Das ist freilich das genaue Gegenteil von dem, was sich der Aufklärer Habermas unter herrschaftsfreier Kommunikation vorstellt. Es fragt sich allerdings, ob sein präskriptives Modell nicht eine Art Interdiskurs ist, der seinen subjektkonstituierenden Machtanspruch dezent verschweigt. Sollte das der Fall sein, hätten wir es abermals mit einer beunruhigenden Dialektik der Aufklärung zu tun, die versucht, dem Partikularen zur Allgemeingültigkeit zu verhelfen. 3. Subjektivität und Verständigung zwischen Determinismus und Freiheit Der Kommentar zu dem hier angestellten Vergleich zwischen einem idealistischen Modell der Freiheit und einem materialistischen Modell der Überdeteremination kann recht knapp ausfallen. Während die idealistische Universalpragmatik vergißt, daß Subjektivität und Intersubjektivität stets materiell (gesellschaftlich, sprachlich) bedingt sind, 64 Dieser Begriff sollte nicht mit dem hier vorgeschlagenen Konzept eines interdiskursiven Dialogs verwechselt werden, der die Herrschaft eines homogenen Interdiskurses ausschließt und zudem die Fähigkeit relativ autonomer Subjekte voraussetzt, ihre Diskurse selbstkritisch zu reflektieren. 65 M. Pêcheux, Les Vérités de La Palice, Paris, Maspero, 1975, S. 146. <?page no="218"?> 204 verdrängt der materialistische Determinismus Foucaults und Althussers das aktive Moment der Subjektivität: die Fähigkeit zu Selbstreflexion und Kritik, die Fähigkeit des Menschen, die ihn determinierenden Umstände zu verändern. Sowohl im Hinblick auf Foucaults als auch im Hinblick auf Althussers Theorien der Subjektivität und der Kommunikation gilt, was Marx in seiner dritten These über Feuerbach schreibt: „Die materialistische Lehre von der Veränderung der Umstände und der Erziehung vergißt, daß die Umstände von den Menschen verändert und der Erzieher selbst erzogen werden muß.“ 66 Marx meint freilich die Veränderung der Verhältnisse durch die revolutionäre Klasse; aber sein Versuch, das aktive Moment des Idealismus mit dem passiven Moment des mechanischen Materialismus in Einklang zu bringen, kann im Bereich des Individuums und der Gruppe wiederholt werden. Althusser und Foucault selbst stellen in ihren Schriften anschaulich dar, wie kritische Reflexion der uns bedingenden Umstände möglich ist. Während uns Althussers Theorie der „ideologischen Anrufung“ in die Lage versetzt, unsere eigene Determiniertheit in einem neuen Licht kritisch zu überdenken, macht Foucaults Archäologie des Wissens den Nexus von Macht und Wissen durchschaubar: vor allem den Umstand, daß Macht nicht nur blendet, sondern neben instrumentellem auch kritisches Wissen hervorbringt. In diesem Kontext macht sich Foucault für einen Kampf gegen die Macht („lutte contre le pouvoir“) 67 stark, und Deleuze kommentiert: „Die Theorie ist von Natur aus gegen die Macht.“ 68 Dies meint auch Habermas, wenn er den anderen Foucault darstellt, den Aufklärer und Kritiker: „Während aber Foucault bisher diesen Willen zum Wissen in den modernen Machtformationen nur aufgespürt hatte, um ihn zu denunzieren, zeigt er ihn jetzt in einem völlig anderen Licht: als den bewahrenswerten und erneuerungsbedürftigen kritischen Impuls, der sein eigenes Denken mit den Anfängen der 66 K. Marx, Die Frühschriften. Von 1837 bis zum Manifest der kommunistischen Partei 1848, Hrsg. S. Landshut, Stuttgart, Kröner, 1971, S. 339-340. 67 M. Foucault, „Les Intellectuels et le pouvoir“ (Gespräch mit Gilles Deleuze), in: ders., Dits et écrits, Bd. II, Paris, Gallimard, 1994, S. 308. 68 G. Deleuze, in: M. Foucault, „Les Intellectuels et le pouvoir“, op. cit., S. 309. <?page no="219"?> 205 Moderne verbindet.“ 69 Demnach muß es auch ein Denken jenseits der instrumentellen und ideologischen Manipulation geben. Ein solches Denken wird beides voraussetzen: sowohl die soziale und sprachliche Bedingtheit der kommunizierenden Subjekte als auch den Willen, sich kritisch und selbstkritisch zu verständigen, der, wenn nicht allen, so doch den wissenschaftlichen Gesprächen innewohnt. Er wohnt ihnen nicht deshalb inne, weil eine ideale Sprechsituation „kontrafaktisch unterstellt“ werden muß, sondern weil Gesprächsbereitschaft und vor allem Erkenntnisdrang aus institutionellen Gründen vorausgesetzt werden können. Für den theoretischen Dialog sind Althussers und Foucaults Arbeiten deshalb wesentlich, weil sie zeigen, welche Determinanten der eigenen Subjektivität reflektiert werden müssen, wenn das Gespräch nicht zu einem Taubstummendialog (im Sinne des „Positivismusstreits“ der 60er Jahre) verkommen soll. Intersubjektivität ist nur als Interdiskursivität sinnvoll: d.h. nur unter der Bedingung, daß sich alle Gesprächsteilnehmer ihrer gesellschaftlichen und sprachlichen Determiniertheit in Sozialisationsprozessen so weit bewußt sind, daß sie nicht auf abstrakt-naive Art von der Möglichkeit einer spontanen Verständigung ausgehen. Louis Althussers Einwand, eine solche Reflexion gehe nicht über den ideologischen Bereich hinaus, sollte man mit dem Hinweis auf seine eigene marxistische Wissenschaft ohne Subjekt begegnen: Sie hat weder in der Philosophie noch in den Sozialwissenschaften allgemein akzeptierte (d.h. transkulturelle und transideologische) Wahrheiten gezeitigt. Darin ist sie dem subjektlosen Wissenschaftssystem Luhmanns nicht unähnlich: Dessen Dichotomie wahr/ unwahr hat im Bereich der Kultur- und Sozialwissenschaften bisher keine allgemein verbindliche Entscheidung von größerer Tragweite ermöglicht. 69 J. Habermas, „Mit dem Pfeil ins Herz der Gegenwart. Zu Foucaults Vorlesung über Kants Was ist Aufklärung“, in: ders., Die Neue Unübersichtlichkeit, Frankfurt, Suhrkamp, 1985, S. 131. <?page no="221"?> 207 Dritter Teil Dialogische Theorie: Eine Metatheorie der wissenschaftlichen Verständigung Zu welchen Ergebnissen haben nun die Prolegomena des Zweiten Teils geführt? Sie haben erkennen lassen, daß die Extreme einander nicht nur berühren, sondern auch relativieren und korrigieren, und daß es sich schon deshalb lohnt, heterogene theoretische Ansätze dialogisch aufeinander zu beziehen. Es zeigt sich nämlich, daß es jede Wahrheit mindestens doppelt gibt, und daß man daher gut beraten ist, auch die Kehrseite der Medaille im Auge zu behalten. Luhmanns zweifellos wahre Erkenntnis, daß der Prozeß der sozialen Differenzierung autonome Sphären entstehen läßt, die durch Eigendynamik und Eigengesetzlichkeit geprägt sind, sollte durch Bourdieus Gegenwahrheit ergänzt werden, daß die zeitgenössische Gesellschaft von einem heteronomen Prozeß der Entdifferenzierung erfaßt wird, der die Vereinnahmung einer Sphäre durch eine andere (vor allem durch die Wirtschaft) zur Folge haben kann. Eine Gegenüberstellung von Luhmanns und Bourdieus Ansätzen wirkt ähnlich wie Derridas Textcollage Glas, in der Hegels Texte parallel zum rebellischen und avantgardistischen Diskurs Jean Genets gelesen werden: Während Hegels Philosophie ihre blinden Flecken preisgibt, erscheint das avantgardistische Experiment in einem neuen Licht. Dies gilt auch für die Zusammenführung von Habermas’ und Foucaults (Althussers, Pêcheux’) Denkmodellen: Foucaults und Althussers These, daß versprachlichte Machtkonstellationen und Ideologien Individuen zu Subjekten, zu Unterworfenen machen, stellt Habermas’ freischwebende Intersubjektivität grundsätzlich in Frage. Sie zeigt, daß man möglicherweise etwas ganz anderes voraussetzen muß als die „ideale Sprechsituation“: nämlich die ideologische Konstitution der scheinbar freien Subjekte im Prozeß der Intersubjektivität. Zu dieser Wahrheit gesellt sich jedoch kontrapunktisch Habermas’ Erkenntnis, daß letztlich auch Foucault seinen Vernunftbegriff kritisch gegen die Macht wendet - und damit (wie Althusser) den autonomen und aufklärenden Charakter des Denkens zutage treten läßt. <?page no="222"?> 208 Im Anschluß an diese Überlegungen, die die Einbeziehung des Anderen ernst nehmen, um den Monolog des Einen aufzubrechen, soll in den folgenden Kapiteln die Kritische Theorie Adornos und Horkheimers nicht auf Essayismus und Parataxis, sondern auf Alterität und Dialog ausgerichtet werden. Dadurch wird ein in der Dialektik der Aufklärung und der Negativen Dialektik angelegtes theoretisches Potential ausgeschöpft, das die Begründer der Kritischen Theorie eher vernachlässigt haben. Indem er sein Augenmerk vor allem auf die diskursive Anordnung der Theorie, auf Essay, Modell und Parataxis, richtete, brach Adorno alle Brücken ab, die noch die frühe Kritische Theorie mit den Sozialwissenschaften verbanden. 1 In dieser Hinsicht sind Habermas’ Einwände gegen die Kritische Theorie der Nachkriegszeit berechtigt. Zu Recht hebt er sowohl die kritischen als auch die emanzipatorischen Aspekte der Sozialwissenschaften hervor, die Adorno und Horkheimer nicht wahrnahmen. 2 Dennoch stellt die hier entworfene Dialogische Theorie eine Art Umkehrung von Habermas’ Modell dar: Sie geht nicht von der idealen, sondern von der realen Sprechsituation aus. Dies bedeutet, daß sie all das wieder einschließt, was Habermas mit Hilfe seiner transzendentalen Definitionen von Lebenswelt und Sprechsituation sorgfältig ausgegrenzt hat. Die Auseinandersetzung mit dem anderen ist jedoch nur dann sinnvoll, wenn er als der kulturell, sprachlich und ideologisch Andersartige zugelassen wird. Sie verliert ihren Sinn, wenn von der Alterität des anderen systematisch abstrahiert wird. Aus wissenschaftstheoretischer Sicht mag eine solche Ausrichtung auf das Andersartige allerdings als eine wenig plausible hermeneutische Vorentscheidung, als ein nicht hinterfragtes Postulat erscheinen. „Dialogische Theorie? - Methodische Konzeption! “ 3 - schlägt Philipp W. Balsinger in einem Dialog, der wirklich stattgefunden hat, vor. Die lapidare Antwort enthält jedoch nur scheinbar die herbeigewünschte Alternative, weil der Kritiker seine methodische Konzeption monologisch mit Paul Lorenzens Konstruktivismus identifiziert, der weder auf kultureller noch auf ideologisch-theoretischer Ebene verallgemei- 1 Vgl. H. Dubiel, Wissenschaftsorganisation und politische Erfahrung. Studien zur frühen Kritischen Theorie, Frankfurt, Suhrkamp, 1978, S. 81-84. 2 Vgl. J. Habermas, Der philosophische Diskurs der Moderne. Zwölf Vorlesungen, Frankfurt, Suhrkamp, 1985 (2. Aufl.), S. 137-138. 3 Vgl. P. W. Balsinger, „Dialogische Theorie? - Methodische Konzeption! “, in: Ethik und Sozialwissenschaften 4, 1999, S. 604. <?page no="223"?> 209 nerungsfähig ist. Seine Kritik zeigt, weshalb eine Metatheorie des kultur- und sozialwissenschaftlichen Dialogs notwendig ist: Sie soll monologische Festlegungen auf einen Theorien- oder Methodenkomplex verhindern und für Aufgeschlossenheit dem Andersartigen gegenüber sorgen. Diese Offenheit für das Andere kann zwar nicht ohne weiteres zur Voraussetzung aller Kommunikation gemacht werden (ebensowenig wie Habermas’ herrschaftsfreie Kommunikation). Sie ist hier aber nicht als Letztbegründung im Sinne von Hans Alberts Kritik am Münchhausen-Trilemma 4 gedacht, sondern als heuristisch-empirisches Postulat, welches auf der Überlegung gründet, daß individuelle und kollektive Subjektivität nur auf dialogischem Wege zustande kommt. Ohne die anderen hätte sich unsere Subjektivität nicht bilden können. 5 Dies ist ein Gemeinplatz der modernen Hermeneutik, der Soziolinguistik und der Sozialpsychologie: „Identität entsteht in einem dialogischen Prozeß (...)“ 6 , stellt beispielsweise der Sozialpsychologe Heiner Keupp fest. Dies bedeutet aber zugleich, daß sich unsere wissenschaftliche Subjektivität ohne die anderen nicht entwickeln kann. Auch das Subjekt der Theorie braucht „die Kraft des befreienden, infragestellenden, innovativen und nichtantizipierbaren Gesprächs“ 7 , wie Hans-Herbert Kögler es ausdrückt. Es sucht einerseits zwar Zuspruch und Zustimmung, um sicher zu sein, daß es nicht Irrlichtern oder Wahnvorstellungen folgt; es sucht aber auch, sofern es lernfähig ist und auf neue Erfahrungen Wert legt, die „Erschütterung des Eigenvertrauten durch Fremderfahrenes“. 8 Diese ist es, die den zeitgenössischen wissenschaftstheoretischen Debatten (seit dem „Positivismus“-Streit) am meisten fehlt. Schon die Bezeichnung „Positivismus“ läßt vermuten, daß die Vertreter der Kritischen Theorie nicht bereit waren, die Positivismus-Kritik der kritischen Rationalisten zur Kenntnis zu nehmen. 4 Vgl. H. Albert, Traktat über kritische Vernunft, Tübingen, Mohr-Siebeck, 1980 (4. Aufl.), S. 11-15. 5 Vgl. Vf., Theorie des Subjekts. Subjektivität und Identität zwischen Moderne und Postmoderne, Tübingen-Basel, Francke, 20 17 (4. Aufl.) , Kap. V. 6 H. Keupp, „Diskursarena Identität: Lernprozesse in der Identitätsforschung“, in: H. Keupp, R. Höfer (Hrsg.), Identitätsarbeit heute. Klassische und aktuelle Perspektiven in der Identitätsforschung, Frankfurt, Suhrkamp, 1997, S. 13. 7 H. H. Kögler, Die Macht des Dialogs. Kritische Hermeneutik nach Gadamer, Foucault und Rorty, Stuttgart, Metzler, 1992, S. 7. 8 Ibid., S. 12. <?page no="224"?> 210 Vom Kritischen Rationalismus übernimmt der hier vorgeschlagene dialogische Ansatz das Prinzip der kritischen Überprüfung, welches das der Letztbegründung ersetzen soll. Es wird jedoch in zwei wesentlichen Punkten modifiziert: Die Überprüfung findet nicht zwischen isolierten Einzelsubjekten statt, sondern direkt oder indirekt zwischen Gruppen und ihren Soziolekten, die in den Argumenten der Einzelsubjekte stets gegenwärtig sind. Insofern hat Bourdieu recht, wenn er die Wissenschaftler als „sujets collectifs“, als „Kollektivsubjekte“ 9 auffaßt und nicht als „Einzelgenies“. Der zweite Unterschied besteht in der Aufgabe des Falsifizierbarkeitspostulats zugunsten des (von Otto Neurath so bezeichneten) Postulats der „Erschütterung“. Die dialektische Zusammenführung einander widersprechender Theorien und die Überprüfung einer Theorie im heterogenen Milieu (z.B. der Systemtheorie im Kritischen Rationalismus) können bestenfalls eine Erschütterung der beteiligten Theorien zur Folge haben; nicht ihre endgültige Widerlegung. Der Einwand gegen die hier vorgebrachten Argumente liegt auf der Hand: Letztlich wird doch eine soziosemiotische und diskurskritische Variante der Kritischen Theorie als Metatheorie und Grundlage des Dialogs vorgeschlagen. Die Antwort auf diesen Einwand erscheint ebenso plausibel wie er selbst: Ohne eine besondere (partikulare) Metatheorie ist der Dialog nicht durchführbar. Für die Wahl der Kritischen Theorie spricht jedoch auf diskursiver Ebene ihr Eintreten für Nichtidentität mit dem Objekt und für Alterität, d.h. ihr antimonologischer Charakter, der nicht in Absichtserklärungen, sondern in der Diskursstruktur selbst angelegt ist. So ist es zu erklären, daß der hier vorgeschlagene Dialog zwischen heterogenen Theorien, niemandem zumutet, daß er seine eigene theoretische Identität preisgibt oder einschränkt. Im Gegenteil: Erwartet wird, daß jeder seinen Ansatz konsequent vertritt und von seinem Standort aus Kritik übt, um der Stimme des Anderen Gehör zu verschaffen. Diese Kriterien gelten nicht nur für den lebendigen zeitgenössischen Dialog, der jede wissenschaftliche Tagung prägt. Sie liegen auch der Beurteilung vergangener Diskussionen - z.B. des „Positivismusstreits“ oder der Marxismus-Formalismus-Debatte - zugrunde, 9 P. Bourdieu, Science de la science et réflexivité, Paris, Raisons d’agir, 2001, S. 139. <?page no="225"?> 211 die hier in einem neuen Licht erscheinen: nicht nur als historische Ereignisse, sondern als Vereinigungen gegensätzlicher Positionen im Sinne des Zweiten Teils. Sie gelten selbstverständlich auch für den in diesem Teil praktizierten Theorievergleich, der von den zeitgenössischen Diskussionen nicht zu trennen ist und der das dialektische Sowohl-als-Auch dem ideologischen Entweder-Oder vorzieht. Freilich wäre es zugleich vermessen und naiv zu glauben, daß diese Argumente für alle Kultur- und Sozialwissenschaftler akzeptabel sind. Eher dürfte sie das negative Argument überzeugen, daß das beziehungslose Nebeneinander zahlloser monologischer Ansätze, die einander ignorieren oder befehden, für alle Beteiligten unbefriedigend ist. 10 Wer sich diese negative Diagnose zu eigen machen kann, wird sich für das hier vorgeschlagene kritisch-theoretische Modell möglicherweise doch interessieren, weil es Probleme erkennen läßt, über die er sich nicht hinwegsetzten kann, solange er die eigene Zeitdiagnose ernst nimmt. 10 Vgl. dazu: M. Amstutz, A. Fischer-Lescano (Hrsg.), Kritische Systemtheorie. Zur Evolution einer normativen Theorie, Bielefeld, Transcript, 2013, S. 44-45. <?page no="227"?> 213 XI. Kritische Theorie als Dialog: Ambivalenz und Dialektik, Nichtidentität und Alterität Die Kritische Theorie Adornos und Horkheimers, um die es hier geht, wurde in den 70er und 80er Jahren des vorigen Jahrhunderts intensiv kommentiert. 1 In letzter Zeit ist es still um sie geworden; einige behaupten sogar, ihr intellektuelles Potential sei erschöpft. 2 Andere wiederum versuchen, sie postmodern zu aktualisieren, indem sie - nicht zu Unrecht - daran erinnern, daß Benjamin, Adorno und Horkheimer das Partikulare gegen den repressiven Universalismus der Rationalisten und Hegelianer verteidigten. 3 Im folgenden wird nicht versucht, der Kritischen Theorie eine postmoderne Wende in diesem Sinne zu geben. Vielmehr soll gezeigt werden, daß Habermas von einer recht einseitigen Einschätzung der Lage ausgeht, wenn er behauptet, daß ein Hinausgehen über Adorno in den „Poststrukturalismus“ mündet: „Wenn man Adornos Negative Dialektik und Ästhetische Theorie ernstnimmt und sich auch nur einen Schritt von dieser Beckettschen Szene entfernen will, dann muß man so etwas wie ein Poststrukturalist werden.“ 4 Adornos negative Dialektik ist jedoch nicht auf die ästhetische Negativität Becketts reduzierbar und die Theorie des kommunikativen Handelns nicht der einzige Ausweg aus der von Habermas konstruierten Beckettschen Szene. Das Hauptanliegen dieses Kapitels ist es zu zeigen, (a) daß Adorno und Horkheimer in ihrer Kritik an Rationalismus und Hegelianismus eine offene Dialektik der Nichtidentität begründen, die den identifizierenden („realistischen“) Monolog sprengt und konstruktivistische Momente enthält; (b) daß die Kritik des Identitätsdenkens 1 Vgl. dazu: A. Schmidt, Zur Idee der Kritischen Theorie, München, Hanser, 1974; M. Jay, Dialektische Phantasie. Die Geschichte der Frankfurter Schule und des Instituts für Sozialforschung 1923-1950, Frankfurt, Fischer, 1976; R. Wiggershaus, Die Frankfurter Schule. Geschichte. Theoretische Entwicklung. Politische Bedeutung, München, DTV, 1989 (2. Aufl.). 2 Vgl. „Aus der Tagespresse“, in: Information Philosophie 5, 2000, S. 49. 3 Vgl. S. Best, D. Kellner, Postmodern Theory. Critical Interrogations, London, Macmillan, 1991, S. 225: „Adorno’s Proto-Postmodern Theory“. 4 J. Habermas, „Dialektik der Rationalisierung“, in: ders., Die Neue Unübersichtlichkeit, Frankfurt, Suhrkamp, 1985, S. 172. <?page no="228"?> 214 eine selbstreflexive Öffnung zum Besonderen und Andersartigen mit sich bringt, (c) die den theoretischen Dialog ermöglicht. Zugleich geht es darum, den im zweiten Kapitel provisorisch definierten Theoriebegriff aus der dialogisch und soziosemiotisch umgedeuteten Kritischen Theorie abzuleiten und als Grundlage der Dialogischen Theorie weiterzuentwickeln. Eine solche Ableitung soll erkennen lassen, daß philosophische Termini wie „Negativität“ und „Nichtidentität“ semiotische und diskurskritische Aspekte aufweisen, die bislang vernachlässigt wurden. 5 Erst auf semiotischer Ebene werden jedoch die Möglichkeiten erkennbar, die sich einer kritischen Theorie der Gesellschaft bieten, die weder im „Poststrukturalismus“ noch in einer idealisierten Intersubjektivität im Sinne von Apel oder Habermas ausmünden muß. Als Dialogische Theorie, die sich an den realen Kommunikationsverhältnissen, d.h. an Diskursen, Soziolekten und den sie strukturierenden Gruppeninteressen orientiert, findet die Kritische Theorie - allerdings in einer neuen Gestalt - ihre materialistische Grundlage wieder, die ihr in den idealistischen Hermeneutiken abhanden kam. 1. Ambivalenz, Paradoxie und offene Dialektik Die Kritische Theorie Adornos und Horkheimers ist ein nachhegelianisches und nachmarxistisches Denken, das bei der Einheit der Gegensätze ohne Synthese stehen bleibt. Darin unterscheidet es sich von Hegels systematischer Dialektik der Aufhebung, von der Pierre Macherey zu Recht sagt: „Den Widerspruch denken bedeutet, ihn aufzuheben, denn ‚man kann nicht beim Widerspruch stehen bleiben‘.“ 6 Die negative Dialektik Adornos, die auch Walter Benjamins „Geschichtsphilosophischen Thesen“ 7 verpflichtet ist, in denen Fortschritt und Katastrophe eine Einheit bilden, stellt insofern eine Rückkehr zu den junghegelianischen Kritiken an Hegel dar, als sie der synthetisierenden Bewegung der Hegelschen Aufhebung absagt und beim Widerspruch verharrt. 5 Vgl. Vf., Ideologie und Theorie. Eine Diskurskritik, Tübingen, Francke, 1989, Kap. VI und X. 6 P. Macherey, Hegel ou Spinoza, Paris, Maspero, 1979, S. 253. 7 Vgl. W. Benjamin, „Geschichtsphilosophische Thesen“, in: ders., Kritik der Gewalt und andere Aufsätze, Frankfurt, Suhrkamp, 1971 (2. Aufl.), S. 80-85. <?page no="229"?> 215 Im Zusammenhang mit Adornos Philosophie könnte man wiederholen, was Ewald Volhard über den Hegel-Schüler und Hegel-Kritiker Friedrich Theodor Vischer schreibt: „Vischers Bestreben war stets, das kontradiktorische Entweder-Oder durch das noch viel mehr kontradiktorische Sowohl-Als-auch zu ersetzen.“ 8 Parallel zu den Junghegelianern plädiert auch Proudhon, ein Zeitgenosse Baudelaires und Vischers, für die Unaufhebbarkeit der Antinomie: „Die Antinomie löst sich nicht auf; das ist der grundsätzliche Irrtum der gesamten Hegelschen Philosophie.“ 9 Auch Adornos Spätwerk gehorcht diesem negativ-dialektischen Prinzip des antinomischen Sowohl-Als-auch, das eine extreme Ambivalenz zeitigt, die für die gesamte philosophische und literarische Spätmoderne kennzeichnend ist. Wie Nietzsche, der als Erbe der Junghegelianer 10 „die Traurigkeit des tiefsten Glücks“ 11 kannte und die Ansicht vertrat, „daß jenes Stück Welt, welches wir kennen - ich meine unsre menschliche Vernunft -, nicht allzu vernünftig ist“ 12 , wie Charles Baudelaire, der behauptete, „der Aberglaube sei der Speicher aller Wahrheit“ 13 , führt Adorno das sich Widersprechende dialektisch zusammen, ohne es hegelianisch in Synthesen zu versöhnen. Das Ergebnis ist eine spätmoderne Ambivalenz, deren Erkenntniswert darin besteht, daß sie die von Ideologie, common sense und Alltagsdenken dogmatisierten Trennungen überwindet und zeigt, wie sehr Subjekt und Objekt, Wahrheit und Unwahrheit, Allgemeines und Be- 8 E. Volhard, Zwischen Hegel und Nietzsche. Der Ästhetiker Friedrich Theodor Vischer, Frankfurt, Klostermann, 1932, S. 197. 9 P. J. Proudhon zitiert nach G. Gurvitch, Dialectique et sociologie, Paris, Flammarion, 1962, S. 130. Dazu bemerkt Gurvitch: „A la dialectique hégélienne, Proudhon en oppose une autre: la sienne. Il ne s’agit pas seulement d’une dialectique antinomique, négative, antithétique, qui rejette toute synthèse. Il s’agit d’une méthode dialectique qui se propose de rechercher la diversité dans tous ses détails.“ (S. 131) Frappierend ist hier die Nähe zu den Junghegelianern und zu Adorno. 10 Vgl. K. Löwith, Von Hegel zu Nietzsche. Der revolutionäre Bruch im Denken des 19. Jahrhunderts, Hamburg, Meiner, 1986 (9. Aufl.), Kap. II: „Althegelianer, Junghegelianer, Neuhegelianer“. 11 F. Nietzsche, „Die fröhliche Wissenschaft“, in: ders., Werke, Bd. III, München, Hanser, Hrsg. K. Schlechta, 1980, S. 145. 12 F. Nietzsche, „Menschliches, Allzumenschliches“, in: ders., Werke, Bd. II, op. cit., S. 873. 13 Ch. Baudelaire, „Mon cœur mis à nu“, in: ders., Œuvres complètes, Bd. I, Paris, Gallimard, Bibl. de la Pléiade, 1975, S. 678. <?page no="230"?> 216 sonderes, Ideologie und Wissenschaft zusammenhängen, einander bedingen. In dieser Ambivalenz, die Adorno mit spätmodernen Schriftstellern wie Proust, Kafka, Musil und Pirandello verbindet 14 , kommen sowohl Krise als auch Kritik zum Ausdruck. Denn einerseits zeugt die Ambivalenz als unaufhebbare Einheit der Gegensätze von der Unmöglichkeit des (Hegelschen) Systems und seiner Wahrheit, des „absoluten Wissens“ 15 ; andererseits ist sie ein kritisches Instrument, das es spätmodernen (modernistischen) Denkern gestattet, die dogmatisierten Wahrheiten des Idealismus zu zerlegen. Diese Kritik wirkt im postmodernen und dekonstruktivistischen Denken nach, dessen Vertreter ebenfalls beim Widerspruch stehenbleiben, ihn allerdings destruktiv deuten: als Sinnzerfall und Negation aller Wahrheit, auch des ästhetischen Wahrheitsgehalts im Sinne von Adorno. 16 Anders als sie will Adorno weder auf den Wahrheitsbegriff noch auf den Theoriebegriff verzichten, sondern läßt die extreme Ambivalenz, die aus der Zusammenführung der Gegensätze hervorgeht, in die Paradoxie münden. Auch in diesem Punkt trifft er sich mit modernistischen Schriftstellern wie Kafka oder Musil, von denen der eine seinen Protagonisten vor dem Eingang ins „Gesetz“, den man eigens für ihn offengehalten hatte, sterben läßt, während der andere sich vornimmt, einen unmöglichen Roman zu schreiben: „? Paradoxon: den Roman schreiben, den man nicht schreiben kann.“ 17 Wie diese Autoren strebt Adorno nach wahrer Erkenntnis; wie sie nimmt er aber die Paradoxien in Kauf, die einem solchen Streben in der Spätmoderne anhaften. Im Hinblick auf die Verquickung von Hegels Systemdenken mit dem Herrschaftsprinzip fällt seine Diagnose ähnlich aus wie die Musils: „Philosophen sind Gewalttäter, die keine Armee zur Verfügung 14 Zur Ambivalenz als Einheit der Gegensätze bei Pirandello vgl. L. Pirandello, „L’umorismo“, in: ders., Saggi, poesie, scritti varii, Mailand, Mondadori, 1977, (4. Aufl.) S. 156, wo vom „sentimento del contrario“ als „Bewußtsein vom Widerspruch“ die Rede ist. 15 G. W. F. Hegel, Wissenschaft der Logik, Bd. I, Frankfurt, Suhrkamp, 1969, S. 42. 16 Vgl. in diesem Zusammenhang, was P. de Man zum Widerspruch im Sinne von Nietzsche schreibt: P. de Man, Allegorien des Lesens, Frankfurt, Suhrkamp, 1988, S. 158-159. 17 R. Musil, „Aphorismen“, in: ders., Gesammelte Werke, Bd. VII, Reinbek, Rowohlt, 1978, S. 826. <?page no="231"?> 217 haben und sich deshalb die Welt in der Weise unterwerfen, daß sie sie in ein System sperren.“ 18 Aber gibt es eine Alternative zum System? Adorno antwortet - wie Musil, der einen essayistischen Roman ins Auge faßt - mit einem Paradox: mit dem Entwurf einer nichttheoretischen Theorie, die dem Einmaligen, dem Besonderen Rechnung trägt. Daß es sich um ein paradoxes Vorhaben handelt, ist den Herausgebern der postum erschienenen Ästhetischen Theorie nicht entgangen: „Eine Theorie jedoch, die am individuum ineffabile sich entzündet, am Unwiederholbaren, Nichtbegrifflichen wiedergutmachen möchte, was identifizierendes Denken ihm zufügte, gerät notwendig in Konflikt mit der Abstraktheit, zu der sie als Theorie doch genötigt ist.“ 19 Das hier umrissene Problem faßt Adorno knapp und klar in einem Satz zusammen: „Ratio ohne Mimesis negiert sich selbst.“ 20 Das Problem ist insofern schwer lösbar, als sich das mimetische Prinzip, das in diesem Fall die Theorie als Trägerin der Vernunft retten soll, der begrifflichen Definition entzieht. Das Paradox, das sich hier abzeichnet, erinnert an die letzte Szene in Kafkas Parabel „Vor dem Gesetz“: Die künstlerische Mimesis als Retterin der Theorie in der Not bleibt aus dem begrifflich-theoretischen Bereich ausgeschlossen. 21 Vergleichbare Paradoxien treten in Adornos Analysen der Subjektivität auf: Es gilt, das untergehende Subjekt zu retten, weil „heute die Spur des Menschlichen einzig am Individuum als dem untergehenden zu haften scheint“. 22 Daniel Kipfer faßt das Paradoxon knapp zusammen: „Das liquidierte Individuum ist in diesem Theorieansatz die einzige Instanz, welche der Liquidation des Individuellen widerstehen kann.“ 23 Es wäre wohl möglich, Adornos Diskurs der Nachkriegszeit in seiner Gesamtheit als eine von Paradoxien durchwirkte Struktur zu beschreiben und zu verstehen. Denn selbst der Ausdruck „negative 18 R. Musil, „Der Mann ohne Eigenschaften“, in: ders., Gesammelte Werke, Bd. I, op. cit., S. 253. 19 G. Adorno, R. Tiedemann, „Editorisches Nachwort“, in: Th. W. Adorno, Ästhetische Theorie, Frankfurt, Suhrkamp, 1970, S. 541-542. 20 Th. W. Adorno, Ästhetische Theorie, op. cit., S. 489. 21 Zur Nichtbegrifflichkeit der Mimesis bei Adorno vgl. W. M. Lüdke, Anmerkungen zu einer „Logik des Zerfalls“: Adorno-Beckett, Frankfurt, Suhrkamp, 1981, S. 68. 22 Th. W. Adorno, Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben, Frankfurt, Suhrkamp (1951), 1970, S. 198. 23 D. Kipfer, Individualität nach Adorno, Tübingen-Basel, Francke, 1999, S. 82. <?page no="232"?> 218 Dialektik“ wirkt paradox, wenn Dialektik mit Hegel und Marx als ein begrifflich-ontologisches und zugleich historisches Fortschreiten zu immer höheren Stadien aufgefaßt wird. „Wie für Hegel“, bemerkt Predrag Grujić, „so ist auch für den dialektischen Materialismus die Negativität nicht das Prinzip der Destruktion, sondern der Perfektion.“ 24 Auch für Adorno ist Dialektik (anders als für die Dekonstruktivisten) 25 kein destruktives Prinzip. Aber seine negative Variante lädt als Dialektik im Stillstand zu Reflexion, Selbstreflexion und Kritik ein: „Dialektik ist das Selbstbewußtsein des objektiven Verblendungszusammenhangs, nicht bereits diesem entronnen.“ 26 Dialektik erscheint hier als Einsicht in die negativen Zustände, nicht als deren Apologie im System. An dieser Stelle der Argumentation gabelt sich der Weg der negativen Dialektik, weil zwei Fortsetzungen denkbar sind: Die eine führt zu der These, „das Ganze [sei] das Unwahre“ 27 , die andere mündet in die Erkenntnis, daß die Sprengung des Hegelschen Identitätsdenkens konstruktivistische und dialogische Perspektiven eröffnet. Beide gehen von der Nichtidentität zwischen Subjekt und Objekt aus. Während aber die Behauptung von der Unwahrheit des Ganzen die Dialektik an die ästhetische Utopie der Kunst heranführt, knüpft die hier vorgeschlagene Alternative an den Gedanken der Nichtidentität an, um zu zeigen, daß er auch die Alterität des Objekts und des anderen Subjekts sichtbar macht. Wo der monologisch-systematische Diskurs, der sich mit der Wirklichkeit identisch wähnt, zerfällt, dort wird der andere in seiner Andersheit wahrnehmbar und lädt zum Dialog ein. Zugleich wird deutlich, daß alle Darstellungen der Wirklichkeit Konstruktionen sind, die zum Gegenstand einer dialogischen Überprüfung gemacht werden können. 24 P. Grujić, Hegel und die Sowjetphilosophie der Gegenwart, Bern-München, Francke, 1969, S. 64. 25 Zum Widerspruch in der Dekonstruktion vgl. Vf., Die Dekonstruktion. Einführung und Kritik, Tübingen-Basel, Francke, 2016 (2. Aufl.), S. 148-154.. 26 Th. W. Adorno, Negative Dialektik, Frankfurt, Suhrkamp, 1966, S. 396. 27 Th. W. Adorno, Minima Moralia, op. cit., S. 57. <?page no="233"?> 219 2. Nichtidentität, Alterität und Kritik Freilich sind diese Gedankengänge schon in der Kritischen Theorie Horkheimers und Adornos angelegt. So bemerkt beispielsweise Horkheimer zu dem seit den Junghegelianern zerfallenden Identitätsanspruch der Hegelschen Dialektik: „Wenn Wissen und Gegenstand, Denken und gedachte Wirklichkeit sich nicht im Fortgang ihrer Bestimmung als identisch erweisen, wenn das Denken immer so, wie es empirisch erscheint, nämlich als Denken bestimmter Einzelmenschen zu begreifen ist, dann muß es seinen absoluten Anspruch preisgeben und der wissenschaftlichen Erkenntnis des Besonderen den Platz räumen.“ 28 Nicht zufällig spricht Horkheimer hier - in einem Aufsatz, der 1932 erschien - von der „wissenschaftlichen Erkenntnis“. Aber schon in der 1947 veröffentlichten Dialektik der Aufklärung wird deutlich, daß der Statthalter dieses Besonderen sowohl bei Horkheimer als auch bei Adorno die Kunst als mimetische Annäherung an die Natur ist. 29 Dazu heißt es in der Negativen Dialektik: „Der philosophische Begriff läßt nicht ab von der Sehnsucht, welche die Kunst als begriffslose beseelt (...).“ 30 In der Ästhetischen Theorie nimmt schließlich die künstlerische Mimesis die Stelle des Besonderen und Nichtidentischen ein, das sich sogar dem philosophischen Naturbegriff entzieht: „Die Natur, deren imago Kunst nachhängt, ist noch gar nicht; wahr an der Kunst ein Nichtseiendes. Es geht ihr auf in jenem Anderen, für das die identitätssetzende Vernunft, die es zu Material reduzierte, das Wort Natur hat.“ 31 Das Andere als das Besondere und Nichtidentische erscheint hier als das herbeigesehnte Abwesende, das noch nicht ist und sich nur in den Andeutungen der Kunst bisweilen kundtut. Die Öffnung der Dialektik und die Ausrichtung des Denkens auf das Andere sollen nicht nur den Identitätszwang auflösen, sondern auch subjektive Erfahrung ermöglichen. Wie sehr die Möglichkeit von Erfahrung, die zu den zentralen Themen von Adornos Denken 28 M. Horkheimer, Anfänge der bürgerlichen Geschichtsphilosophie. Hegel und das Problem der Metaphysik. Montaigne und die Funktion der Skepsis, Frankfurt, Fischer, 1971, S. 89. 29 M. Horkheimer, Th. W. Adorno, Dialektik der Aufklärung, Amsterdam, Querido, 1947, S. 29-31. 30 Th. W. Adorno, Negative Dialektik, op. cit., S. 25. 31 Th. W. Adorno, Ästhetische Theorie, op. cit., S. 198. <?page no="234"?> 220 gehört, mit Ambivalenz und Offenheit zusammenhängt, wird in der Ästhetischen Theorie deutlich, wo Adorno Kritik an der Kunstfremdheit modernefeindlicher Kunsttheorien übt, die das Ambivalente bekämpfen, weil es sich ihren Definitionen entzieht: „Die in Rede stehende Haltung ist die der ‚intolerance of ambiguity‘, Unduldsamkeit gegen das Ambivalente, nicht säuberlich Subsumierbare; am Ende gegen Erfahrung selbst.“ 32 Wichtig ist hier die Verknüpfung von Ambivalenz, Offenheit und Erfahrung: Das Andere, welches sich der eindeutigen Definition des monologisch-identifizierenden Diskurses entzieht, ist nur in einem offenen Diskurs erfahrbar. Dieses Andere muß aber nicht die Kunst sein, die im kultur- und sozialwissenschaftlichen Bereich als Bezugspunkt des Denkens kaum in Frage kommt. Es kann auch der andere sein: jedoch nicht im Sinne von Habermas, d.h. als ein von allen sozialen und psychischen Besonderheiten gesäuberter Kommunikationsteilnehmer, sondern als die „fremde Stimme“ 33 im Sinne von Bachtin, als der Stellvertreter des Anderen, des Fremden. Hätten Horkheimer und Adorno jemals die Möglichkeit ins Auge gefaßt, ihre Kritische Theorie dialogisch weiterzudenken, so hätten sie sie möglicherweise als offene Theorie, die sich an der „fremden Stimme“ orientiert, weiterentwickelt. Denn die Kritik des identifizierenden Denkens enthält eine Kritik am monologischen Diskurs, der nicht nur ein geschlossenes System im Sinne von Hegel ist, sondern mit seinen monologischen Gesten auch den Anspruch erhebt, mit der Wirklichkeit identisch zu sein. An einigen Stellen von Adornos Werk (vor allem in den postum veröffentlichten Vorlesungen) zeigt sich, daß der Autor die Nichtidentität von Subjekt und Objekt, von Sache und Begriff tatsächlich als „Offenheit“ auffaßt; jedoch nicht als Offenheit der anderen oder fremden Stimme gegenüber, sondern als Aufgeschlossenheit für Erfahrung, für das Empirische als solches: „ (...) Während in Wahrheit - es will mir immer mehr so scheinen - nur das was widerlegt, nur das was auch enttäuscht werden kann, was auch falsch sein kann, jenes Offene ist, von dem ich Ihnen gesprochen habe, das heißt jenes ist, auf das es überhaupt ankäme. Im Begriff der Offenheit als des nicht be- 32 Ibid., S. 176. 33 M. M. Bachtin, Probleme der Poetik Dostoevskijs, München, Hanser, 1971, S. 106. <?page no="235"?> 221 reits unter der Identität des Begriffs Subsumierten liegt ja jene Möglichkeit des Enttäuschtwerdens drin.“ 34 Etwas später spricht er von einer „Affinität zum Empirismus“ 35 , die noch am ehesten im Zusammenhang mit seiner Theorie der Erfahrung zu verstehen ist. In den zitierten Sätzen wird jedoch auch eine ganz andere Affinität erkennbar, die Adorno selbst möglicherweise nicht goutiert hätte: die Affinität zum Kritischen Rationalismus und zu seinem Postulat der kritischen Überprüfung durch den anderen. Denn Adornos kurze Darstellung des offenen Denkens, das auf Widerlegbarkeit und „Enttäuschung“ ausgerichtet ist, scheint von Poppers und Hans Alberts Fallibilismus gar nicht so weit entfernt zu sein. Wenn das „Offene“ das ist, „was auch falsch sein kann“, so enthält es den Gedanken der Falsifizierbarkeit im weitesten Sinne, im Sinne der Widerlegbarkeit. Das „Enttäuschtwerden“, von dem Adorno spricht, muß sich ja nicht ausschließlich auf Tatsachen und Ereignisse beziehen: Auch der andere kann uns mit seinen Argumenten - buchstäblich - ent-täuschen. Freilich kann es hier nicht darum gehen, aus einigen Bemerkungen Adornos Poppers oder Lakatos’ Theorien der Falsifizierbarkeit abzuleiten. Denn es versteht sich von selbst, daß Adornos Dialektik nicht die deduktive Argumentationslogik Poppers enthält. Die Affinität, von der hier die Rede ist, ist auf einer anderen Ebene angesiedelt: auf der Ebene der Hegel-Kritik und der Erkenntnistheorie. Obwohl sich Poppers Kritik an Hegel vorwiegend aus Vereinfachungen und Verzerrungen zusammensetzt, visiert sie - wie die Horkheimers und Adornos - das Identitätspostulat und die Geschlossenheit des Systems an. 36 Als Alternative schlägt Popper die im vierten Kapitel dargestellte Theorie der Offenheit und Widerlegbarkeit (als Falsifizierbarkeit) vor. Er stimmt mit Adorno in dem wesentlichen Gedanken überein, daß ein geschlossenes System, das sich monologisch mit der Wirklichkeit identifiziert, keine Erfahrung zuläßt - und kein offenes Gespräch über die Gültigkeit von Hypothesen. Es ist hier nicht der Ort, Adornos und Horkheimers Argumente gegen den Kritischen Rationalismus (den sie als „Neopositivismus“ 34 Th. W. Adorno, Metaphysik. Begriff und Probleme, Frankfurt, Suhrkamp, 1998, S. 220. 35 Ibid. 36 Vgl. K. R. Popper, The Open Society and its Enemies, Bd. II, The High Tide of Prophecy: Hegel, Marx, and the Aftermath, London, Routledge and Kegan Paul (1945), 1962, S. 41-42. <?page no="236"?> 222 bezeichnen und zur Naturbeherrschung des instrumentellen Denkens in Beziehung setzen) 37 zu wiederholen. Auf sie kommt es in diesem Kontext nicht an, sondern auf den Gedanken, daß zwei ideologisch heterogene Theorien in einem entscheidenden Punkt übereinstimmen: nämlich in ihrer Forderung nach einem offenen theoretischen Diskurs, der Prüfung, Widerlegung und Erfahrung ermöglicht. Diese Übereinstimmung ist z.T. auf den selbstkritischen Individualismus zurückzuführen, der sowohl der Kritischen Theorie als auch dem Kritischen Rationalismus zugrunde liegt und der während des „Positivismusstreits“ kaum zur Sprache kam. Beide Theorienkomplexe sind (trotz ihrer unvereinbaren Einschätzungen des modernen Liberalismus) auf individuelle Autonomie und Kritik ausgerichtet. In dieser Hinsicht ist Adornos und Horkheimers Philosophie der Nachkriegszeit, keineswegs - wie Habermas meint - auf Gedeih und Verderb mit der Kunst (als Mimesis oder „Beckettscher Szene“) liiert, sondern als Ausgangspunkt für eine dialogische Metatheorie der Kultur- und Sozialwissenschaften besonders gut geeignet - sofern sie im Hinblick auf Alterität und Dialog umgedeutet wird. In dem hier konstruierten Zusammenhang scheint sie zu diesem Zweck besser geeignet zu sein als der Kritische Rationalismus und Habermas’ idealistisch revidierte Kritische Theorie, weil sie der Andersheit des anderen Rechnung trägt. Während sich sowohl Popper als auch Habermas eine Intersubjektivität vorstellen, die von allen frameworks, d.h. von der kulturellen, sprachlichen und ideologischen Bedingtheit der Subjekte, abstrahiert, ist eine Dialogische Theorie im Sinne von Adorno und Horkheimer auf individuelle Autonomie, Alterität, Heterogenität und Fremdheit ausgerichtet. Als solche kann sie mit Hilfe des anderen „die konkrete Möglichkeit, es anders zu machen“ 38 , ins Auge fassen. 37 Th. W. Adorno, „Zur Logik der Sozialwissenschaften“, in: Th. W. Adorno et al., Der Positivismusstreit in der deutschen Soziologie, Darmstadt-Neuwied, Luchterhand (1969), 1972, S. 138-139. 38 Th. W. Adorno, Zur Lehre von der Geschichte und von der Freiheit, Frankfurt, Suhrkamp, 2001, S. 100. <?page no="237"?> 223 3. Alterität, Ambivalenz und Dialog Welche Erkenntnisfunktion kommt dem Anderen, dem Fremden in einer wissenschaftlichen Diskussion zu? Zunächst zerstört es die von uns gehegte Illusion, unser Diskurs (als semantisch-narrative Struktur) sei mit der Wirklichkeit identisch. Zugleich erinnert es uns an die Tatsache, daß die Wirklichkeit ambivalent ist und von jedem anders rekonstruiert wird (vgl. Kap. XII). Schließlich konfrontiert es uns mit der Frage, ob die fremde Alternativkonstruktion nicht besser, d.h. zusammenhängender, komplexer und nuancierter sei als unsere eigene. Dieser Frage können wir nicht ausweichen. Freilich bietet sich uns immer die Möglichkeit, auf sie mit einer (stets ideologischen) Rechtfertigung zu reagieren, um nachzuweisen, daß unsere Konstruktion die beste ist. Auf die Dauer wird uns dieses rechtfertigende, theoriefremde Verhalten aber nicht befriedigen, und wir werden versuchen, unsere Ansichten ganz oder teilweise zu revidieren. Alterität erscheint hier also als Katalysator im Prozeß der Selbstkritik und der Selbsterkenntnis. Ohne die Stimme des anderen käme dieser Prozeß nie in Gang. Bachtin, der Theoretiker der Ambivalenz und der Alterität, hat die Vielstimmigkeit und die Rolle der fremden Stimme bei Dostoevskij untersucht. Zu den kritisch-theoretischen Schriften des russischen Romanciers bemerkt er: „Viele Artikel Dostoevskijs sind so aufgebaut. Überall bahnt sich sein Gedanke den Weg durch ein Labyrinth von Stimmen, Halbstimmen, fremden Stimmen und fremden Gebärden.“ 39 Bachtin fährt fort: „Denken bedeutet für ihn, zu fragen und zuzuhören, Einstellungen zu erproben, die einen miteinander zu verbinden, andere zu entlarven. Es muß unterstrichen werden, daß in der Welt Dostoevskijs auch die Zustimmung ihren dialogischen Charakter bewahrt, d.h. daß es nie zu einer Verschmelzung der Stimmen und Wahrheiten zu einer unpersönlichen Wahrheit kommt, wie es in der monologischen Welt geschieht.“ 40 In der Ablehnung einer „Verschmelzung der Stimmen“, die sowohl Dostoevskijs als auch Bachtins Werk prägt, kommt ein spätmodernes Denken der Ambivalenz zum Ausdruck, das bei der Einheit der Gegensätze ohne Synthese verharrt. Es ist ein zugleich nachhegelianisches und junghegelianisches Denken, das wie die Kritische Theorie 39 M. M. Bachtin, Probleme der Poetik Dostoevskijs, op. cit., S. 106. 40 Ibid., S. 107. <?page no="238"?> 224 Adornos und Horkheimers den Hegelschen und marxistischen Monolog ablehnt, der sich auf autoritäre Art der Wirklichkeit gleichsetzt. 41 Bachtins Kritik des Monologs in einer dialogischen Perspektive ergänzt also Adornos und Horkheimers Kritik des Hegelschen Identitätsdenkens: Denn der Monolog, der die Stimme des anderen vorab ausschließt, ist als ein Aspekt des identifizierenden Diskurses aufzufassen, der seit Fichte und Hegel nichts außerhalb seiner selbst duldet. Gegen diesen Diskurs, der jede Art von Alterität negiert, haben Adorno und Horkheimer die Kritische Theorie, Bachtin die Theorie des polyphonen Romans entworfen. Die einander ergänzenden Hegelkritiken dieser Autoren und der Ursprung ihrer Theorien in der junghegelianischen Problematik lassen eine Verknüpfung der Kritischen Theorie mit der Dialogizität Bachtins sinnvoll erscheinen. Im ersten Abschnitt dieses Kapitels sollte gezeigt werden, daß Alterität und Dialogizität in den Diskursen Adornos und Horkheimers selbst angelegt sind. Insofern bietet sich eine Erneuerung der Kritischen Theorie im Sinne einer Metatheorie des Dialogs als Alternative zur Negativität der Kunst an, die ebenfalls - wie sich gezeigt hat - aus der Nichtidentität ableitbar ist. Entscheidend ist dabei der Gedanke, daß Bachtins Dialog auf die Andersartigkeit des anderen ausgerichtet ist und nicht - wie Habermas’ Theorie des kommunikativen Handelns - auf dessen Neutralisierung durch eine normative Sprechakttheorie, die zusammen mit dem Diskurs die Subjektivität tilgt. Auf die Erfahrung der Andersartigkeit kommt es jedoch in den drei - in der Einleitung erwähnten - Dialogmodellen an: im Theorievergleich, in der historischen Debatte, die im neuen Kontext aktualisiert wird, und in den heute stattfindenden wissenschaftlichen Diskussionen. In allen drei Fällen geht es darum, mit Hilfe der fremden Stimme die kulturelle, ideologische und theoretische Doxa zu durchbrechen, um Erfahrung und Erkenntnis zu ermöglichen. 41 Vgl. H. Günther, Die Verstaatlichung der Literatur. Entstehung und Funktionsweise des sozialistisch-realistischen Kanons in der sowjetischen Literatur der 30er Jahre, Stuttgart, Metzler, 1984, Kap. VI: „Michail Bachtins theoretische Alternative zum sozialistischen Realismus“ sowie Vf., Literarische Ästhetik. Methoden und Modelle der Literaturwissenschaft, Tübingen-Basel, Francke, 1995 (2. Aufl.), Kap. III: „Michail Bachtins ‚junghegelianische‘ Ästhetik“. <?page no="239"?> 225 XII. Subjektivität, Reflexion und Objektkonstruktion im Diskurs Dieses Kapitel ist nicht nur eine Fortsetzung des elften, sondern knüpft zugleich an das zweite an, in dem die Theorie als interessengeleiteter Diskurs mit Aussagesubjekt und Aktantenmodell definiert wurde. Obwohl es in den Kultur- und Sozialwissenschaften weder möglich noch sinnvoll erscheint, Ideologie und Theorie dualistisch voneinander zu trennen, weil sich ideologische Interessen in den lexikalischen und semantischen Schichten des Diskurses niederschlagen und auch in seiner narrativen Struktur zum Ausdruck kommen, kann sich das Diskurssubjekt der Ideologie im negativen Sinne durch Reflexion entziehen. Reflexion ist insofern ein kritisches Moment, als sie Ideologie in deren Kontingenz und Ambivalenz erscheinen läßt: als nur mögliche und partikulare, nicht verallgemeinerungsfähige Grundlage des Denkens, die einerseits ein fruchtbares politisches Engagement ermöglicht, andererseits aber den theoretischen Diskurs mit Sterilität bedroht. Denn einerseits kommt Theorie ohne bestimmte liberale, konservative oder feministische Wertsetzungen nicht aus, weil sie direkt oder indirekt stets auf soziale und kulturelle Probleme reagiert, die es zu lösen gilt; andererseits erkennt das Subjekt der Theorie die Gefahr, daß die Kontingenz und die Partikularität dieser Wertsetzungen übersehen werden, so daß das notwendige ideologische Engagement einen Monolog hervorbringt, der sich der Wirklichkeit gleichsetzt. Dieses hegelianische Identitätsdenken wurde von Adorno und Horkheimer, indirekt auch von Bachtin, kritisiert. Während die Autoren der Kritischen Theorie die Nichtidentität von Subjekt und Objekt, von Diskurs und Wirklichkeit betonen, relativiert Bachtin den autoritären Monolog durch die Vielstimmigkeit des Romans, den er als kritische Gattung rekonstruiert. Trotz der zahlreichen Unterschiede, die die Frankfurter Theoretiker von Bachtin trennen (und die vor allem in der Einschätzung der Volkskultur in Erscheinung treten), konvergieren die Kritiken des Identitätsdenkens und des Monologs in einem Gedanken, der bei allen drei Denkern implizit bleibt: in dem Gedanken, daß die in den Kultur- und Sozialwissenschaften dargestellten Gegenstände nicht mehr oder weniger wirklichkeitsgetreue Beschreibungen, sondern Konstruktionen sind. <?page no="240"?> 226 In diesem Punkt treffen sich Bachtin und die kritischen Theoretiker mit den radikalen Konstruktivisten, die, wie sich im achten Kapitel gezeigt hat, alle Vorstellungen von einem realistischen, der Wirklichkeit entsprechenden Diskurs ablehnen. Während also die ideologiekritischen Theorien Bachtins, Adornos und Horkheimers einen impliziten Konstruktivismus enthalten, enthalten die konstruktivistischen Theorien Glasersfelds oder Heinz von Foersters ein implizites Nichtidentitätspostulat. Diese Koinzidenz in einem wesentlichen Punkt ist - erkenntnistheoretisch betrachtet - weder Zufall noch Rätsel, weil sich sowohl die Vertreter der Kritischen Theorie als auch die des Radikalen Konstruktivismus auf Kant berufen, um zu zeigen, daß die Wirklichkeit als solche, als Kantisches „Ding an sich“, nicht erkennbar ist - wie Hegel in seiner Kritik an Kant meinte (vgl. Kap. VIII und XI). Der Gegensatz zwischen Kritischer Theorie und Radikalem Konstruktivismus tritt im Zusammenhang mit dem Wahrheitsbegriff zutage. Ein radikaler Konstruktivist wie Ernst von Glasersfeld definiert Wahrheit funktional-pragmatisch als „Viabilität“: „Der Konstruktivismus will den Wahrheitsbegriff durch den Begriff der Viabilität - das ist etwa die Gangbarkeit oder die Tragbarkeit - ersetzen.“ 1 In diesem Kontext überrascht es kaum, daß Glasersfeld die Wissenschaft als instrumentales Denken versteht: „Die Wissenschaft ist doch rein instrumental.“ 2 Im Gegensatz dazu hält die hier als Dialogische Theorie konzipierte Kritische Theorie am Wahrheitsbegriff fest, weil sie es ablehnt, Theorie von der sozialen Problemlösungsfrage und von der Frage nach der richtigen Gesellschaft zu trennen. Dies ist der Grund, weshalb sie soziale und kulturelle Probleme stets als dialogische Probleme auffaßt: Die kultur- und sozialwissenschaftliche Theorie bezieht sich auf „Vorkonstruiertes“, d.h. auf Konstruktionen von Individuen und Gruppen, die Interessen ausdrücken. Sie kann deshalb nicht neutral, sondern nur kritisch reagieren - und zwar im Hinblick auf ihre Wahrheitsvorstellung. Im folgenden geht es darum, den Konstruktionsbegriff der Dialogischen Theorie in ständiger Auseinandersetzung mit dem Radikalen Konstruktivismus zu präzisieren. 1 E. von Glasersfeld, Konstruktivismus statt Erkenntnistheorie, Klagenfurt, Drava, 1998, S. 43. 2 E. von Glasersfeld, Radikaler Konstruktivismus, Frankfurt, Suhrkamp, 1996, S. 330. <?page no="241"?> 227 1. Nichtidentität und Objektkonstruktion Der erste, der den Konstruktivismus aus der Ideologiekritik ableitete, war wohl der Semiotiker Luis J. Prieto. Er wandte sich gegen ein „naturalistisches“ Denken, das sich als „natürlicher“ (d.h. unreflektierter) Diskurs mit der Wirklichkeit monologisch identifiziert: „Die Erkenntnis einer materiellen Realität ist ideologisch, wenn das Subjekt die Grenzen und die Identität des Objektes, zu dem diese Realität für es geworden ist, als in der Realität selbst befindlich betrachtet, d.h. wenn das Subjekt der Realität selbst die Idee zuspricht, die es aus ihr konstruiert hat. Das Subjekt einer ideologischen Erkenntnis ist sich dann dieser Konstruktion nicht bewußt (...).“ 3 In Pertinence et pratique (1975) konkretisiert Prieto seinen Subjektbegriff durch den Hinweis, daß das Subjekt stets „einer sozialen Gruppe angehört“ („sujet faisant partie d’un groupe social“). 4 Prietos Gedankengang ist deshalb wichtig, weil er die hier anvisierte partielle Übereinstimmung von Kritischer Theorie und Radikalem Konstruktivismus vorwegnimmt, ohne die beiden theoretischen Strömungen zu nennen. Er zeigt, daß eine ideologiekritische Semiotik gleichsam von selbst in konstruktivistisches Denken übergeht. Eine solche Semiotik ist jedoch eher mit der Kritischen Theorie als mit dem Radikalen Konstruktivismus verwandt, weil sie die kollektiven Faktoren, die individuelle Subjektivität ausmachen, nicht einfach ausklammert (wie Glasersfeld: vgl. Kap. VIII, 2), und weil sie der Gesellschaftskritik verpflichtet bleibt. Mit der Kritischen Theorie und dem Radikalen Konstruktivismus verbindet diese Semiotik ein Kerngedanke, der auch hier grundlegend ist: nämlich daß das reflektierende Diskurssubjekt für die ideologiekritischen und theoretischen Verfahren verantwortlich ist. Dieser Gedanke sollte all diejenigen nachdenklich stimmen, die den Konstruktivismus (zusammen mit der Systemtheorie) als Zeugen anrufen, wenn es gilt, den Subjektbegriff als obsolet zu verabschieden. Vom Subjekt sagt aber Glasersfeld, es spiele „die zentrale Rolle des Konstruk- 3 L. J. Prieto, „Entwurf einer allgemeinen Semiologie“, in: Zeitschrift für Semiotik 1, 1979, S. 263. 4 L. J. Prieto, Pertinence et pratique. Essai de sémiologie, Paris, Minuit, 1975, S. 148. <?page no="242"?> 228 teurs“. 5 Wie sieht nun diese Rolle im soziosemiotischen Kontext konkret aus? Im Anschluß an die ersten beiden Kapitel dieses Buches läßt sich sagen, daß das Subjekt, welches individuellen oder kollektiven Charakter haben kann, seine Objekte auf drei komplementären Ebenen konstruiert: (a) auf der Ebene der natürlichen Sprache (des Deutschen, des Spanischen oder des Englischen), die allen kultur- und sozialwissenschaftlichen Sprachen zugrunde liegt; (b) auf der Ebene eines Soziolekts oder mehrerer Soziolekte, die als Fachsprachen (Soziologien, Semiotiken, Literaturwissenschaften) stets mit ideologischen Sprachen verquickt sind; (c) schließlich auf der Ebene des Diskurses, d.h. eines Idiolekts 6 , der als individuelle Aktualisierung und Weiterentwicklung der Soziolekte aufgefaßt werden kann. Diese Überlegungen sollen erkennen lassen, daß das Subjekt der Theorie einerseits überdeterminiert, andererseits frei ist, und daß sowohl Sartres Existentialismus, der nur die Freiheit gelten läßt, als auch einige strukturalistische Theorien, die nur die Überdeterminierung wahrnehmen, einseitig sind. 7 Das Subjekt ist überdeterminiert, weil es als Individuum 8 in eine natürliche Sprache hineingeboren und in dieser Sprache sozialisiert, d.h. „zum Subjekt gemacht“ wird (im Sinne von Althusser). Es wird später im Rahmen von sekundären Sozialisationsprozessen von ideologisch-wissenschaftlichen Soziolekten (wie Kritischer Rationalismus oder Kritische Theorie) zum theoretischen Subjekt gemacht. Es kann aber auf diskursiver Ebene durch Reflexion und kreative Kombination über die Sprachen und Kulturen, die es als Subjekt konstituieren, hinausgehen. Darin ist es dem literarischen Subjekt nicht unähnlich. Ein Semiotiker wie Jurij M. Lotman versucht zu zeigen, wie sekundäre modellierende Systeme der Religion, der Ideologie, der Lite- 5 E. von Glasersfeld, Wege des Wissens. Konstruktivistische Erkundungen durch unser Denken, Heidelberg, Carl-Auer-Systeme Verlag, 1997, S. 45. 6 Zum Begriff des Idiolekts vgl. U. Eco, Einführung in die Semiotik, München, Fink, 1972, S. 151-157: „Der Idiolekt des Werks“. 7 Vgl. Vf., Theorie des Subjekts. Subjektivität und Identität zwischen Moderne und Postmoderne, Tübingen-Basel, Francke, 201 7 ( 4 . Aufl.), Kap. V, 1. 8 Wie schon in der Theorie des Subjekts wird hier zwischen Individualität und Subjektivität unterschieden: Das Individuum ist die physisch-psychische Einheit ohne gesellschaftlich-sprachliche Identitätsbildung (z.B. das Kleinkind als Infans). Das Subjekt ist das - stets vorläufige Ergebnis - dieser Identitätsbildung: Vgl. Theorie des Subjekts, op. cit., Kap. I, 1, c. <?page no="243"?> 229 ratur oder der Wissenschaft aus dem primären modellierenden System der natürlichen Sprache hervorgehen. Zum künstlerischen Zeichensystem bemerkt er: „Das sekundäre modellierende System des künstlerischen Typus konstruiert sein eigenes System von Denotaten, das keine Kopie, sondern ein Modell der Welt der Denotate in allgemeinsprachlicher Bedeutung darstellt.“ 9 Zwei Aspekte dieser Darstellung sind hier wichtig: das konstruktivistische Moment und das aktive Moment („sein eigenes“), für das Lotman allerdings kein kreatives Subjekt, sondern das „sekundäre modellierende System“ selbst verantwortlich macht. Dieses sekundäre, vom primären System der natürlichen Sprache zugleich abgeleitete und abgehobene System ist jedoch nichts anderes als der ideologische, literarische oder wissenschaftliche Soziolekt, der von den Subjekten, die ihn sprechen, auf der Ebene der Idiolekte ständig verändert wird. Dies geschieht in einer sozio-linguistischen Situation oder Problematik, in der verschiedene Soziolekte von individuellen oder kollektiven Subjekten gegeneinander ausgespielt oder miteinander verknüpft werden. In diesem Kontext kommen auch Objektkonstruktionen im Rahmen von Soziolekten und Diskursen als sekundären modellierenden Systemen zustande. Während die Soziolekte als Gruppensprachen, die Interessen artikulieren, darüber entscheiden, welche Begriffe und semantische Gegensätze relevant sind, also die Relevanzkriterien (vgl. Kap. II, 1) festlegen, aktualisieren und konkretisieren die individuellen Diskurse diese kollektive Semantik in narrativer Form und ändern, erneuern sie. Die Objektkonstruktion weist mithin drei Aspekte auf: einen lexikalischen, einen semantischen und einen syntaktischnarrativen. Zunächst ist die Frage wichtig, für welches Vokabular sich das Diskurssubjekt entscheidet. In der Soziologie etwa bieten sich verschiedene, z.T. unvereinbare Soziolekte an, wenn es gilt, die gesellschaftliche Entwicklung zu erklären. Entscheide ich mich für eine Variante der Spieltheorie, so kann ich bestimmte Ereignisse und Entwicklungen mit Hilfe von individuellen, kollektiven oder abstrakten Aktanten beschreiben und erklären, weil die auswählenden Subjekte Einzelpersonen, Organisationen oder Systeme sein können. Optiere 9 J. Lotman, Die Struktur des künstlerischen Textes, Frankfurt, Suhrkamp, 1973, S. 81. <?page no="244"?> 230 ich hingegen auf lexikalischer Ebene für Luhmanns Systembegriff, so gehe ich gleichzeitig vom semantischen Gegensatz System/ Umwelt aus und beschreibe soziale Prozesse mit Hilfe von abstrakten oder mythischen Aktanten 10 : d.h. Systemen, die etwas ermöglichen, bewirken oder verhindern. Für kollektive und abstrakte Aktanten entscheide ich mich, wenn ich beschließe, daß Alain Touraines Begriff der sozialen Bewegung relevant ist, weil er im semantischen Gegensatz zu Staatsapparat, Wirtschaftsunternehmen usw. steht. 11 In allen Fällen leiten ideologische Wertungen das für die Konstruktion verantwortliche Erkenntnisinteresse des Subjekts. Dies lassen sowohl politikwissenschaftliche als auch zeitgeschichtliche Objektkonstruktionen erkennen. Man kann sowohl den Falkland- oder Malwinen-Krieg zwischen Argentinien und Großbritannien (1982) als auch den zweiten Irak-Krieg (2003) im Rahmen des semantischen Gegensatzes Demokratie/ Diktatur erzählen und erklären. Obwohl dieser Gegensatz nicht irrelevant ist, bringt er eine dualistische Konstruktion und ein dualistisches Aktantenmodell (Held/ Antiheld) hervor, die von ideologischer Naivität zeugen. Erst wenn er von dem komplementären Gegensatz Kolonialisierung/ Entkolonialisierung überlagert wird, läßt das Objekt die Ambivalenzen und Widersprüche erkennen, die eine offene Diskussion fördern. Dies gilt auch für die Kriege Napoleons, in denen revolutionäre Emanzipation und imperialer Anspruch kaum zu entwirren sind. 12 In allen diesen Fällen drängt sich die Frage auf, was hier noch als Tatsache oder Faktum bezeichnet werden kann. Setzt sich die Gesellschaft tatsächlich aus Systemen, Institutionen oder Bewegungen zusammen? Zum Konstruktivismus in der Soziologie im Sinne von Latour und Woolgar bemerkt André Kukla: „It is not only beliefs that are socially constructed - it’s scientific facts.“ 13 10 Zum Begriff des mythischen Aktanten vgl. Vf., Theorie des Subjekts, op. cit., I, 1, b, im Zusammenhang mit Luhmann, Kap. IV, 3. 11 Vgl. A. Touraine, Critique de la modernité, Paris, Fayard, 1992, S. 111-126. 12 Vgl. dazu H. White, „Vergangenheit konstruieren“, in: H. R. Fischer, S. J. Schmidt (Hrsg.), Wirklichkeit und Welterzeugung, Heidelberg, Carl-Auer- Systeme Verlag, 2000, S. 338: „Die Wahrheit ist - und ich meine das bloß bildlich, nicht wörtlich -, daß alle Bilder der Vergangenheit ‚dialektisch‘ sind, voll der Aporien und Paradoxien jeder Abbildung.“ 13 A. Kukla, Social Constructivism and the Philosophy of Science, London-New York, Routledge, 2000, S. 9. <?page no="245"?> 231 Diese Meinung vertritt auch ein radikaler Konstruktivist wie Ernst von Glasersfeld, wenn er feststellt: „Empirische Fakten sind aus der Sicht des Konstruktivismus auf Regelmäßigkeiten in der Erfahrung eines Subjekts gegründete Konstrukte. Sie bleiben so lange viabel, wie sie ihre Nützlichkeit bewahren und zur Verwirklichung von Zielen dienen.“ 14 Hier drängt sich - wie schon im achten Kapitel - die Frage nach der Konsensfähigkeit auf: Welches Subjekt konstruiert, und wer definiert Viabilität, Nützlichkeit und Ziele? Was dem einen als „viabel“ und nützlich erscheint, mag einem anderen unsinnig oder gar schädlich vorkommen. In dem hier konstruierten Zusammenhang wird vor allem das als Tatsache erscheinen, was in allen oder den meisten wissenschaftlichen Gruppen und Soziolekten als akzeptabel definiert wird. Zugleich wird deutlich, daß im wissenschaftlichen Bereich verschiedenen Objektkonstruktionen verschiedene „Realitätsgrade“ zukommen, weil das Akzeptanzniveau stark fluktuieren kann. So erfreuen sich physikalische Konstrukte wie Atom, Elektron oder magnetisches Feld einer ungleich höheren interkulturellen und überideologischen Akzeptanz als Freuds oder Lacans Konstrukt des Unbewußten oder Bourdieus Konstrukt des wissenschaftlichen Feldes, das mit Luhmanns Wissenschaftssystem konkurrieren muß. Im Extremfall könnte man behaupten, daß die physikalischen Konstrukte einen ganz anderen sozialen Status haben als die kultur- und sozialwissenschaftlichen und mit diesen nicht zu vergleichen sind. Dieser Umstand hängt zweifellos mit den kulturellen und ideologischen Interferenzen auf dem Gebiet der Kultur- und Sozialwissenschaften zusammen (vgl. Kap. I und II). Dennoch gibt es auch in diesem Bereich konsensfähige Fakten, die nicht von Konstruktionsprozessen in besonderen theoretischen Soziolekten abhängen. Im Gegensatz zu dem nordamerikanischen Literaturwissenschaftler Stanley Fish, der die Existenz von Texteigenschaften und Textkonstanten leugnet und wie Maturana 15 den Leser als Beobachter für die gesamte Textstruktur verantwortlich macht 16 , sollte man die vom Autor vorkonstruierten und vorgegebenen Strukturen in 14 E. von Glasersfeld, Radikaler Konstruktivismus, op. cit., S. 210. 15 Vgl. H. Maturana, Was ist erkennen? Die Welt entsteht im Auge des Betrachters, München, Goldmann, 2001, S. 58. 16 Vgl. S. Fish, Doing What Comes Naturally, Oxford, Clarendon Press, 1989, S. 77. Zu einer Kritik an Fish vgl. Vf., The Philosophy of Modern Literary Theory, London, Athlone, 1999, S. 75-80. <?page no="246"?> 232 Erinnerung rufen. Die These lautet: Konstruktionen beziehen sich sowohl in den Naturwissenschaften als auch in den Kultur- und Sozialwissenschaften auf Vorstrukturiertes. Der Unterschied zwischen den beiden Wissenschaftstypen besteht darin, daß Naturobjekte subjektlos sind, während das Vorkonstruierte der Sozialwissenschaften stets eine subjektive Tätigkeit voraussetzt. Ein einfaches Beispiel ist Albert Camus’ bekannter Roman L’Etranger, der in der Originalfassung und in verschiedenen Übersetzungen in zwei Teile gegliedert ist. 17 Diese vorgegebene Struktur kann von keinem Leser geleugnet werden - ebensowenig wie der den Roman strukturierende semantische Gegensatz zwischen Wasser und Sonne, die Leben und Tod symbolisieren. 18 Ähnliche binäre Strukturen findet der Politikwissenschaftler vor, wenn er sich mit Volksvertretungen befaßt, die sich aus zwei Kammern zusammensetzen: aus Bundestag und Bundesrat, House of Commons und House of Lords oder Assemblée und Senat. Auch die (veränderliche) Anzahl der Abgeordneten und die Regeln, nach denen sie handeln, sind unabhängig von Konstruktionsprozessen in politikwissenschaftlichen Soziolekten bestimmbar. Sie sind vorkonstruiert wie die binäre Romanstruktur von L’Etranger. Die radikal-konstruktivistische Behauptung, alles werde vom Beobachter erfunden oder konstruiert, gründet daher auf einer terminologischen Nachlässigkeit oder auf einem Mißbrauch des Verbs „konstruieren“. „Die Umwelt, so wie wir sie wahrnehmen, ist unsere Erfindung“ 19 , schreibt Heinz von Foerster. Dies trifft nur zum Teil zu: Meine Gehaltsskala ist vorkonstruiert und (leider) nicht meine Erfindung. Sicherlich können die binären Strukturen des Romans von Literaturwissenschaftlern zu verschiedenen, auch gegensätzlichen Objektkonstruktionen verarbeitet werden, so wie die Organisationsstrukturen eines Parlaments von Juristen und Politikwissenschaftlern sehr unterschiedlich gedeutet werden können, weil sowohl im literarischen Text als auch in der institutionellen 17 Vgl. A. Camus, L’Etranger, Paris, Gallimard (1942), 1957, S. 5 und S. 91 sowie A. Camus, Der Fremde, Reinbek, Rowohlt, 1961, S. 5 und S. 63. 18 Dazu vgl. Vf., Literarische Ästhetik. Methoden und Modelle der Literaturwissenschaft, Tübingen-Basel, Francke, 1995 (2. Aufl.), Kap. IX. 19 H. von Foerster, „Das Konstruieren einer Wirklichkeit“, in: P. Watzlawick (Hrsg.), Die Erfundene Wirklichkeit. Wie wissen wir, was wir zu wissen glauben? Beiträge zum Konstruktivismus, München, Piper, 1985 (3. Aufl.), S. 40. <?page no="247"?> 233 Wirklichkeit Widersprüche und Vieldeutigkeiten auftreten. Aber die Grundstrukturen finden sie als vorkonstruierte vor. Wer behauptet, Camus’ Roman bestehe „in Wahrheit“ aus drei oder vier Teilen, der muß seine Objektkonstruktion im Hinblick auf die von allen wahrgenommene Zweiteilung erst plausibel machen. Dies gilt auch für den Politikwissenschaftler, der behauptet, das britische System sei „im Grunde“ ein Ein-Kammer-System. Nicht alles ist also gleichermaßen konstruiert oder „erfunden“, und der Konstruktivismus kommt ohne Wirklichkeitsannahmen 20 nicht aus: „Denn wer eine bewußtseinsunabhängige Existenz der Wirklichkeit konzediert, muß sich fragen lassen, ob er dies tun kann, ohne gleichzeitig eine Strukturiertheit dessen, was da existiert, zu unterstellen.“ 21 Was bisher gesagt wurde, sollte diese These von Winfried Franzen plausibel machen: Unsere Objektkonstruktionen setzen nicht nur eine Wirklichkeit voraus, sie setzen auch voraus, daß diese Wirklichkeit irgendwie beschaffen, d.h. vorkonstruiert ist. Auch die Konstruktivisten sagen letztlich etwas über die Beschaffenheit der Wirklichkeit aus, wenn sie von Hindernissen sprechen, an denen theoretische Modelle scheitern können. Der auf die Wirklichkeit deutende Begriff der „Viabilität“ („Gangbarkeit“), der im achten Kapitel zur Sprache kam, bestätigt das. Dies ist der Grund, weshalb Dialogische Theorie, wie sich im letzten Teil dieses Kapitels zeigen wird, konstruktivistische mit realistischen Annahmen verbindet. 2. Objektkonstruktion als Selbstkonstruktion des Subjekts Das Subjekt der Theorie konstruiert nicht nur seine Objekte; es konstruiert zugleich sich selbst. Anders als in den Naturwissenschaften, deren Subjekte es mit organischer oder anorganischer Natur zu tun haben, findet die Selbstkonstruktion des Subjekts in den Kultur- und Sozialwissenschaften in permanenter Auseinandersetzung mit anderen Subjekten statt: im Rahmen einer „doppelten Hermeneutik“ im Sinne 20 Vgl. H. J. Wendel, „Wie erfunden ist die Wirklichkeit? “, in: Delfin 2, 1989, S. 85. 21 W. Franzen, „Totgesagte leben länger: Beyond Realism and Anti-Realism: Realism“, in: Forum für Philosophie Bad Homburg (Hrsg.), Realismus und Antirealismus, Frankfurt, Suhrkamp, 1992, S. 43. <?page no="248"?> 234 von Anthony Giddens, von der im dritten Kapitel die Rede war (vgl. Kap. III, 3). Lange vor Giddens stellte bereits Michail M. Bachtin im Anschluß an Dilthey und die deutsche Hermeneutik diese Auseinandersetzung zwischen dem Subjekt und seinen Subjekt-Objekten anschaulich dar: „Der gesamte methodologische Apparat der Mathematik und der Naturwissenschaften ist auf die Beherrschung eines dinglichen, stimmlosen Objekts ausgerichtet, das sich nicht im Wort offenbart, das nichts von sich selbst mitteilt. (...) Im Unterschied zur Mathematik und zu den Naturwissenschaften stellt sich in den Geisteswissenschaften die Aufgabe der Wiederherstellung, Wiedergabe und Interpretation fremder Wörter (...).“ 22 Dies bedeutet konkret, daß jede Kultur- oder Sozialwissenschaft per definitionem eine dialogische Wissenschaft ist, weil sie es stets mit dem „fremden Wort“ zu tun hat. Die Auseinandersetzung mit ihm findet jedoch auf zwei Ebenen statt, von denen die eine in diesem Kapitel untersucht wird, die andere in den nächsten beiden Kapiteln. Die erste Ebene ist die der Objektkonstruktion, die aus dem Dialog mit einem fremden Subjekt hervorgeht; auf der zweiten Ebene wird diese Objektkonstruktion zum Gegenstand einer kritischen Überprüfung, die wiederum „fremde Stimmen“ auf den Plan ruft. Auf dieser Ebene können das theoretische Subjekt und seine Konstruktionen selbst zu Gegenständen von Analyse und Kritik werden. Oft wird diese Kritik dialogisch-polemisch erwidert: etwa in Form von Repliken auf Rezensionen usw. Im folgenden geht es um die Ebene der Objektkonstruktion, auf der sich das theoretische Subjekt selbst konstruiert. Daß die Objektkonstruktion zugleich eine Selbstkonstruktion des Subjekts ist, fiel bereits Deleuze und Guattari im philosophischen Zusammenhang auf. Sie sprechen von „begrifflichen Personen“, von „personnages conceptuels“ 23 und meinen Nietzsches Begriff der „Macht“, Platos „Idee“, Hegels „Aufhebung“, Marx’ „Klasse“ oder Heideggers „Sein“. Ihnen erscheint die ganze Philosophie als ein Prozeß der Selbsterschaffung des Philosophen, in dessen Verlauf interessante Begriffs-Gestalten ins Leben gerufen werden: „Die Philosophie besteht nicht im Wissen; nicht die Wahrheit leitet die Philosophie, 22 M. M. Bachtin, Die Ästhetik des Wortes, Hrsg. R. Grübel, Frankfurt, Suhrkamp, 1979, S. 237. 23 G. Deleuze, F. Guattari, Qu’est-ce que la philosophie? , Paris, Minuit, 1991, S. 60. <?page no="249"?> 235 sondern es sind Kategorien wie die des Interessanten, des Bemerkenswerten, des Bedeutenden, die über Erfolg oder Mißerfolg entscheiden.“ 24 In dieser nietzscheanischen Darstellung wird die Philosophie im postmodernen Kontext soweit partikularisiert und personalisiert, daß sie sich vom Roman, der interessante Gestalten auftreten läßt, kaum noch unterscheidet. Doch Philosophie ist sehr wohl Wissen und will auch intersubjektiv und interdiskursiv testbares Wissen sein: vor allem, wenn sie als Wissenschaftsphilosophie aufgefaßt wird. Trotzdem haben Deleuze und Guattari nicht völlig unrecht. Denn auch in der Wissenschaftsphilosophie, der Soziologie und der Literaturwissenschaft zeigt sich immer wieder, daß bestimmte Schlüsselbegriffe nicht von den Diskursen einzelner theoretischer Subjekte zu trennen sind. Während Begriffspaare wie „Gemeinschaft und Gesellschaft“, „mechanische und organische Solidarität“ mit den Soziologien Tönnies’ und Durkheims assoziiert werden, kann das vieldeutige Wort „System“ kaum verwendet werden, solange es nicht „im Sinne von“ Easton, Parsons, Luhmann oder Habermas definiert wird. Sobald man es aber mit einem dieser Namen verknüpft, nimmt es die Bedeutung eines Diskurses und im weiteren Sinne eines Soziolekts (z.B. des nordamerikanischen Funktionalismus) an. Es ist folglich an die Subjektivität eines Autors (d.h. an einen Idiolekt) und eines Kollektivs als Soziolekt gebunden. Zugleich ist diese Subjektivität nur in diskursiver Form wahrnehmbar: als semantisch-narrative Struktur, die auf bestimmten Relevanzkriterien gründet. Während Luhmann seine Subjektivität - und die seiner Gruppe - dadurch begründet, daß er den semantischen Gegensatz System/ Umwelt für relevant erklärt, konstruiert Habermas seine Subjektivität und seinen Idiolekt, indem er vom Gegensatz System/ Lebenswelt ausgeht. Zugleich begründet er einen Soziolekt als Gruppensprache. Das theoretische Subjekt, das sich als Anthropologe, Soziologe oder Literaturwissenschaftler definiert, steht mithin in einer gesellschaftlichen und sprachlichen Situation, in der nahezu alle Begriffe ideologisch-theoretisch besetzt sind. Fast alle gehören Soziolekten als sekundären modellierenden Systemen an, die bestimmte Gruppeninteressen artikulieren und andere ausschließen. 24 Ibid., S. 80. <?page no="250"?> 236 In dieser Situation hat das theoretische Subjekt drei Möglichkeiten: Es kann sich und seine Interessen mit einer der zahlreichen Gruppensprachen identifizieren; es kann versuchen, zwei oder mehrere Soziolekte (z.B. Dekonstruktion, Psychoanalyse, Feminismus) zu kombinieren; es kann versuchen, anhand von noch nicht theoretisch besetzten Wörtern der natürlichen Sprache ein eigenes modellierendes System als Idiolekt zu konstruieren. In vielen Fällen kommt es zu einer zeitlich und räumlich gestaffelten Synthese dieser drei Möglichkeiten. Es leuchtet jedoch ein, daß die dritte Möglichkeit nur nach längerer und gründlicher Auseinandersetzung mit den „fremden Wörtern“ ins Auge gefaßt werden kann. Das heißt aber, daß sich der Theoretiker in allen Fällen als theoretisches Subjekt nur in einem offenen Dialog mit anderen Subjekten, die zugleich seine Objekte sind, bilden kann. Erst die Auseinandersetzung mit Durkheim oder Max Weber, Popper oder Kuhn gestattet es dem Subjekt, seinen Diskurs zu entwickeln, mit Popper über Popper hinauszugelangen und eigene Vorschläge zur kritischen Überprüfung von Theorien zu machen. Hier wird ein bisher vernachlässigter Aspekt der theoretischen Subjektbildung sichtbar: Die Subjektivität der anderen, die (anfangs) „fremden Wörter“ werden zum integralen Bestandteil der eigenen Subjektivität. Dies gilt nicht nur für die Theorie (Poppers, Kuhns), die man sich teilweise aneignet (man konstruiert „seinen Popper“, „seinen Kuhn“), um über sie hinausgehen zu können. Es gilt auch für literarische Werke, gesellschaftliche Erscheinungen oder historische Ereignisse, die man im eigenen Diskurs, d.h. mit Hilfe bestimmter semantischer und narrativer Verfahren, rekonstruiert. Sie gehen nicht einfach als Objekte in den theoretischen Diskurs ein, sondern tragen als Subjekt-Objekte wesentlich zur Konstruktion dieses Diskurses bei. Wer sich als Literaturwissenschaftler vorwiegend mit Literaturen des Mittelalters befaßt, wird dazu neigen, die gesamte Literatur aus der Sicht des Mediävisten zu betrachten. Der Altphilologe wird wiederum gern darauf hinweisen, daß es bestimmte als modern apostrophierte Erscheinungen bereits in der Antike gab. Der Soziologe wird schließlich dazu neigen, archaische Gesellschaften mit Hilfe von modernen Kategorien zu erklären, und dadurch den Unmut des Anthropologen wecken. In allen diesen Fällen wird deutlich, daß der Diskurs, in dem sich theoretische Subjektivität konstituiert, auch von „seinen“ Objekten als Objektkonstruktionen geprägt wird. Man könnte sogar <?page no="251"?> 237 behaupten, daß diese Subjektivität in ihren Objektkonstruktionen zustande kommt. Dies ist wohl der Grund, weshalb sich individuelle Wissenschaftler und Wissenschaftlergruppen mit ihren Objektkonstruktionen so stark identifizieren. Wer einen Roman, einen archaischen Mythos oder eine soziale Erscheinung interpretiert, rekonstruiert hat, identifiziert sich mit seiner Konstruktion, die in seine Subjektivität eingeht und daher narzißtisch besetzt ist. Nicht nur Marx identifizierte sich mit „seinem“ Proletariat; auch Alain Touraine identifiziert sich mit „seiner“ sozialen Bewegung, die er als Soziologe stärken möchte, die allerdings mit der sozialen Bewegung im Sinne von Giddens oder Ulrich Beck keineswegs identisch ist. 25 Und es wäre naiv anzunehmen, daß Habermas’ Lebensweltbegriff und Luhmanns Systembegriff nicht affektiv besetzt sind: Man braucht die Texte dieser Autoren nur aufmerksam zu lesen. So kommt es schließlich zu einer Teilidentität von Subjekt und Objekt, das zugleich Ko-Subjekt ist, weil es zum Mitstreiter in den Institutionen oder im „wissenschaftlichen Feld“ werden kann. Don Quijote ließ sich vom Ritterroman betören, und nicht wenige Literaturwissenschaftler identifizieren sich wie er mit ihren Lieblingsautoren oder mit ganzen Strömungen wie Romantik oder Surrealismus. Für den theoretischen Dialog bedeutet dies zweierlei: Einerseits wird im Gespräch über eine Objektkonstruktion das dialogische Prinzip lediglich erweitert, weil nun eine dritte (oder weitere) subjektive Instanz als kritische Instanz hinzukommt. Andererseits kann Verständigung dadurch erschwert werden, daß sich das theoretische Subjekt mit seiner Objektkonstruktion - der „eigentlichen“ Bedeutung des Mallarmé-Gedichts 26 , der sozialen Bewegung, der Frauenbewegung oder einem polynesischen Stamm - narzißtisch identifiziert. Das Ko- 25 Vgl. A. Touraine, Pourrons-nous vivre ensemble? Egaux et différents, Paris, Fayard, 1997, S. 134-139. 26 Vgl. S. Agosti, Lecture de „Prose pour des Esseintes“ et de quelques autres poèmes de Mallarmé, Chambéry, Ed. Comp’Act, 1998, S. 136. Von Mallarmés Gedichten sagt Agosti: „Ils n’ont qu’un seul sens, et très précis, qu’il s’agit justement de déceler (...).“ <?page no="252"?> 238 Subjekt kann in solchen Fällen die Funktion des Ich-Ideals 27 im psychoanalytischen Sinn erfüllen. In einer solchen Situation kann Kritik eine narzißtische Kränkung verursachen und die Diskussion blockieren. Es ist deshalb wichtig, auch auf dieser Ebene die Prinzipien der Nichtidentität und der Reflexion im Auge zu behalten. Sie können die Selbstironie des Subjekts wecken, die suggeriert, daß es in jedem Fall auch anders geht. Auch sie ist im Begriff der Konstruktion enthalten. 3. Der Wahrheitsanspruch der Konstruktion Es stellt sich weiterhin die Frage nach dem Wahrheitsanspruch der Objektkonstruktion: eine Frage, die nicht einfach mit Hinweisen auf „Viabilität“ oder „Nützlichkeit für uns“ beantwortet werden kann, weil sie sogleich die komplementäre Frage aufwirft, wer die „Viabilität“ beurteilt und wer mit „uns“ gemeint ist. Es ist die Frage nach der Verallgemeinerungsfähigkeit von Theorien, Theoremen und Konstruktionen, die nur in einem interdiskursiven Dialog zwischen Wissenschaftlergruppen beantwortet werden kann. Sie ist Gegenstand der nächsten beiden Kapitel. Ein solcher Dialog, der auf der Einheit der Gegensätze gründet, setzt jedoch eine realistische und eine konstruktivistische Annahme voraus. Zum Abschluß soll gezeigt werden, daß diese beiden Annahmen einander ergänzen, weil die eine uns hilft, die Scylla der Beliebigkeit zu meiden, während die andere uns vor der Charybdis des Identitätsdenkens und des Monologs bewahrt. Daß der in der Kritischen Theorie Adornos und Horkheimers implizite Konstruktivismus ein Ausweg aus dem Identitätsdenken und dem Monolog ist, wurde bereits erwähnt. Erst wenn das reflektierende Subjekt erkennt, daß seine Objekte nur mögliche, kontingente (aber nicht willkürliche) Konstruktionen sind und nicht Abbilder der Wirklichkeit, verzichtet es auf die monologische Identifikation und wird dialogfähig. In diesem und im zweiten Kapitel sollte u.a. die Frage beantwortet werden, was genau reflektiert wird: nämlich das Zustandekommen 27 Zum Begriff des Ich-Ideals vgl. J. Laplanche, J.-B. Pontalis, Das Vokabular der Psychoanalyse, Frankfurt, Suhrkamp, 1973, S. 202-205. <?page no="253"?> 239 von Objektkonstruktionen in einem bestimmten Soziolekt und (konkret) in dem vom Aussagesubjekt entwickelten Diskurs. Daß nicht jede Aussage, jedes Wort vom sprechenden oder diskutierenden Subjekt zugleich reflektiert und erläutert werden kann, hat Manfred Füllsack zu Recht angemerkt. 28 Aber nur ein theoretisches Subjekt, das sich dieser genetischen Aspekte seiner Objektkonstruktionen und seiner eigenen Entstehungsgeschichte in diesen Konstruktionen bewußt ist, kann auf einen fruchtbaren Dialog mit anderen theoretischen Subjekten hoffen. Es kann hoffen, seine eigene kulturelle und ideologische Bedingtheit - und die Bedingtheit der anderen - zur Sprache zu bringen, um die von Norbert Elias geforderte „Distanzierung“ (vgl. Kap. II, 2) zu bewerkstelligen. Ohne eine solche Distanzierung, die allen Gesprächsteilnehmern abverlangt werden muß, ist ein Dialog kaum möglich. Nur wenn eine Distanzierung des Aussagesubjekts zu seiner eigenen lexikalischen, semantischen und narrativen Tätigkeit zustande kommt, kann sein Wahrheitsanspruch dialogisch-kritisch überprüft werden. Eine kritische Überprüfung wird dadurch erheblich erschwert oder blockiert, daß ein Aussagesubjekt sich weigert, die diskursiven Mechanismen, die am Zustandekommen seiner Objektkonstruktion und seiner eigenen Subjektivität maßgeblich beteiligt sind, reflexiv bloßzulegen. Der einer Objektkonstruktion innewohnende Wahrheitsanspruch ist schließlich nur dann überprüfbar, wenn angenommen werden kann, daß es nicht nur eine von den Diskussionspartnern unabhängige Wirklichkeit gibt, sondern daß sie auch irgendwie beschaffen, strukturiert ist. Um es wieder mit Winfried Franzen zu sagen: „Die Unabhängigkeit des Daßseins der Wirklichkeit pflanzt sich vielmehr in eine gewisse Unabhängigkeit ihres Soseins fort.“ 29 Die latent realistische Vo- 28 Vgl. M. Füllsack, „Die ‚Selbstkonstruktion‘ des Diskurses. Zu den Bedingungen der Möglichkeit einer ‚Dialogischen Theorie‘“, in: Ethik und Sozialwissenschaften 4, 1999, S. 615: „Denn keine Verständigung, die ein Zeichen hervorbringt oder es zum Thema hat (sich also über das Zeichen, über seine Brauchbarkeit etc. verständigt), kann sich bereits gleichzeitig über die in ihr selbst verwendeten Zeichen verständigen.“ Vgl. auch M. Füllsack, Auf- und Abklärung. Grundlegung einer Ökonomie gesellschaftlicher Problemlösungskapazitäten, Aachen, Shaker Verlag, 2003, S. 344-345. 29 W. Franzen, „Totgesagte leben länger“, in: Forum für Philosophie Bad Homburg (Hrsg.), Realismus und Antirealismus, op. cit., S. 43. <?page no="254"?> 240 kabel „Viabilität“ deutet dies bereits an (vgl. weiter oben und Kap. VIII). Es genügt nicht, Wahrheitsansprüche von Objektkonstruktionen intersubjektiv oder, wie hier vorgeschlagen wird, interdiskursiv zwischen Gruppen zu überprüfen; die Überprüfung muß sich auch an Fakten orientieren können. Tatsache ist nicht nur, wie Franzen richtig bemerkt, „daß Kupfer Strom leitet“ 30 , sondern auch, daß Wasser Feuer löscht (lange vor dem Auftreten menschlicher Beobachter auf Erden), daß das Dritte Reich im Jahre 1945 unterging und die Sowjetunion im Jahre 1991 zerfiel. Freilich können diese (z.T. von Menschen herbeigeführten) Ereignisse sehr unterschiedlich im Rahmen von besonderen semantischnarrativen Strukturen mit erklärendem Charakter konstruiert, nicht jedoch geleugnet werden. Sie sind als Ereignisse auch nicht mit historischen Konstruktionen im eigentlichen Sinne wie „das Ende der Moderne“, „der Beginn der Postmoderne“ oder Gehlens „Ende der Geschichte“ als „Posthistoire“ zu vergleichen. Wer „das Ende der Sowjetunion“ und „das Ende der Moderne“ gleichermaßen als Konstruktionen bezeichnet, mißbraucht den Schlüsselbegriff des Konstruktivismus. Während das Ende der UdSSR in den Augen aller Beobachter - der Historiker, Politikwissenschaftler und Laien - zu dem gehört, was in der Welt „der Fall ist“, gehört „das Ende der Moderne“ keineswegs dazu. Wenn schon ein factum wie „das Ende der UdSSR“ als Konstruktion (als von Menschen Gemachtes) aufgefaßt wird, dann muß wenigstens klargemacht werden, daß es sich um eine Konstruktion mit Realitätswert handelt, die allgemeingültig ist und „out-there-ness“- Charakter für alle Beteiligten hat, wie André Kukla sagt: „For if constructions are real (and if relativism is abjured), they must have outthere-ness for everybody.“ 31 „Das Ende der Moderne“ hat diese „outthere-ness“ (ein „Da-Draußen-Sein“ als Tatsache) keineswegs - ebensowenig wie Gehlens „Posthistoire“. Daher ist es prekär, mit Maturana Begriffe wie „Falsifizierbarkeit“, „Verifizierbarkeit“ oder „Bestätigung“ pauschal abzulehnen, nur weil sie sich auf eine „transzendentale Realität unabhängig von dem, 30 Ibid., S. 37. 31 A. Kukla, Social Constructivism and the Philosophy of Science, op. cit., S. 95. <?page no="255"?> 241 was der Beobachter tut“ 32 , beziehen. Denn eine solche Argumentation mündet in den von Kukla erwähnten Relativismus: Wahr ist in diesem Fall das, was zu einem bestimmten Zeitpunkt von einer Wissenschaftlergruppe für wahr gehalten wird. Es kommt dann zu dem von Maturana vorgeführten Zirkelschluß, „daß wissenschaftliche Erklärungen und Behauptungen nur in der Gemeinschaft jener Beobachter universell gültig sind, die das Kriterium der Validierung wissenschaftlicher Erklärungen als das Kriterium der Validierung ihrer Erklärungen akzeptieren“. 33 Es fragt sich, ob das Wort „universell“ hier nicht fehl am Platze ist: Was nur innerhalb von einer Gruppe gilt, kann kaum als „universell gültig“ bezeichnet werden. Dieses Problem stellt Ernst von Glasersfeld anschaulich dar, und seine Bedenken könnten als eine ungewollte Replik auf Maturana gelesen werden: „Es ist sehr schwer, da klar zu machen, daß eine Viabilität, die sich nur innerhalb einer bestimmten Gruppe aufweisen läßt, nur eine sehr schwache Viabiltät ist. Eigentlich müßte sie allgemein gültig sein.“ 34 Dieser Gedanke bildet nun den Ausgangspunkt der Dialogischen Theorie, die Wahrheitsansprüche von Theorien und ihren Objektkonstruktionen nicht nur innerhalb von Wissenschaftlergruppen (d.h. intersubjektiv), sondern auch zwischen Wissenschaftlergruppen und ihren heterogenen Diskursen (d.h. interdiskursiv) überprüfen lassen möchte. 32 H. Maturana, „Wissenschaft und Alltag: Die Ontologie wissenschaftlicher Erklärungen“, in: P. Watzlawick, P. Krieg (Hrsg.), Das Auge des Betrachters. Beiträge zum Konstruktivismus, München, Piper, 1991, S. 187. 33 Ibid., S. 190. 34 E. von Glasersfeld, Konstruktivismus statt Erkenntnistheorie, op. cit., S. 93. <?page no="257"?> 243 XIII. Der interdiskursive Dialog: Theorie Der Wille zum Dialog zwischen Vertretern verschiedener wissenschaftlicher Theorien 1 kann nicht - analog zur „idealen Sprechsituation“ - in allen Fällen unterstellt werden, weil der Dialog in realen Sprachverhältnissen stattfindet, die nicht nur vom Willen zur Verständigung mit dem Andersdenkenden geprägt sind, sondern auch von der Ablehnung des Andersartigen. Es kommt hinzu, daß diese Ablehnung auch dort latent wirken kann, wo nach außen hin Dialogbereitschaft bekundet wird. Dies gilt sowohl für die Diskussion zwischen Einzelpersonen, die während einer Tagung oder im Anschluß an einen Vortrag stattfindet, als auch für sporadisch unterbrochene Langzeitdebatten zwischen Formalisten und Marxisten, Semiotikern und Dekonstruktivisten oder Systemtheoretikern und Weberianern. Es gilt auch für Theorievergleiche, die durchaus dem dialogischen Bereich angehören, aber nicht immer ausgewogen sind. Parteinahmen und Einseitigkeiten sind nie ganz zu vermeiden (auch hier nicht). Denn der ideologische Faktor, der für Engagement und Motivation sorgt, stärkt zugleich die Neigung, das Eigene aufzuwerten und das Andere verzerrend abzuwerten. Kritiker des dialogischen Denkens könnten nun polemisch einwenden, daß jede theoretische Diskussion an der narzißtischen Neigung der Teilnehmer scheitern wird, das Eigene zu rühmen. Zum Glück haben sie nur teilweise recht, weil auch gegenläufige Tendenzen erkennbar sind: Der Dialog ist ein ambivalentes Unternehmen, das stets zwischen Egozentrik und Alterität oszilliert und nicht auf einen der beiden Pole reduziert werden kann. 1 Es geht hier ausschließlich um den Dialog zwischen wissenschaftlichen Theorien und nicht - wie Hans Nicklas vermutet - „auch [um] Auseinandersetzungen zwischen ethnischen, kulturellen oder religiösen Denkgemeinschaften“. (Vgl. H. Nicklas, „Die dialogische Theorie: Eine Baustelle“, in: Ethik und Sozialwissenschaften 4, 1999, S. 637.) Denn in den Auseinandersetzungen zwischen religiösen und ideologischen Gruppen geht es nicht primär um Kritik, Erkenntnis und Wahrheit, sondern um politischen Anspruch und gesellschaftliche Anerkennung. Dies schließt nicht aus, daß theoretische Reflexion und Dialogizität auch solchen Gruppen zugute kommen können. Der Praxisbezug der Theorie ist auch auf dieser Ebene bedeutsam - zumal ein Dialog zwischen monologisch strukturierten Ideologien kaum möglich ist. Hier ist bestenfalls „Koexistenz“ denkbar. <?page no="258"?> 244 Daß Ego stets Alter voraussetzt, weil sich Subjektivität ohne den anderen gar nicht bilden kann, ist in der Einleitung zum Dritten Teil bereits angedeutet worden. Wenn aber Alterität für die Entwicklung der eigenen (theoretischen) Subjektivität unverzichtbar ist, kann auch theoretische Neugier, die in wissenschaftlichen Institutionen noch überall zu beobachten ist, als eine Grundvoraussetzung des Dialogs betrachtet werden. Jedem Wissenschaftler ist klar, daß er ohne diese Neugier verkümmert. Daß sie bisweilen mit Mißtrauen und Ablehnung einhergeht, gehört zur ambivalenten Struktur des Dialogs, die durchaus auch psychoanalytische Komponenten aufweisen kann. 2 Wer dieser Struktur Rechnung trägt, der wird nicht mit David Bohm einen „Schönwetter-Dialog“ fordern, der ausschließlich vom Altruismus beseelt ist: „Aber in einem Dialog versucht niemand zu gewinnen. Jeder gewinnt, wenn irgendeiner gewinnt. Hier herrscht eine andere Art von Geist. In einem Dialog versucht niemand zu punkten oder seine Ansicht durchzusetzen. Vielmehr gewinnt jeder, sooft von jemandem ein Fehler aufgedeckt wird.“ 3 Gegen den letzten Satz ist nichts einzuwenden: Möglicherweise setzt sich die Wahrheit im Dialog durch - so wie sie sich in Bourdieus „Feld“ oder in Luhmanns „System“ durchsetzt. Aber warum sollte nicht jeder Teilnehmer versuchen zu gewinnen? Nur wenn ein spielerisch-polemischer Elan den Dialog trägt, verkommt er nicht zu einer schöngeistigen Plauderei, die Geselligkeit zum Ziel hat. Der Wetteifer, der das Spiel animiert, kommt auch dem Dialog zugute. Zwischen Gruppen und ihren Soziolekten stellt sich dieser Wetteifer fast von selbst ein, weil hier verschiedene gesellschaftliche Interessen und Ideologien aufeinanderstoßen. 4 Schon deshalb ist es 2 Der psychoanalytische Begriff der Ambivalenz wird von J. Laplanche und J.-B. Pontalis in Das Vokabular der Psychoanalyse, Frankfurt, Suhrkamp, 1972, S. 55 wie folgt definiert: „Gleichzeitige Anwesenheit einander entgegengesetzter Strebungen, Haltungen und Gefühle, z.B. Liebe und Haß, in der Beziehung zu ein- und demselben Objekt.“ Diese Art von Ambivalenz fehlt in wissenschaftlichen Diskussionen keineswegs. 3 D. Bohm, On Dialogue, Hrsg. L. Nichol, London-New York, Routledge, 1996, S. 7. 4 Obwohl der kollektive Faktor im dialogischen Ansatz eine entscheidende Rolle spielt, geht es hier nicht nur, auch nicht vorrangig, um Diskussionen zwischen Gruppen, wie Erich H. Witte anzunehmen scheint, wenn er bemerkt: „Ich habe lernen müssen, daß die Gruppe mit bestem Willen nur sehr unzulänglich komplexe Probleme bearbeiten kann.“ (E. H. Witte, „Teamfähigkeit und Moderati- <?page no="259"?> 245 wichtig, daß über die soziosemiotischen Bedingungen und die „Spielregeln“ nachgedacht wird, die dem Dialog zugrunde liegen. Ohne solche Spielregeln, zu denen auch die sorgfältige Rekonstruktion der Gegenposition gehört, artet jedes theoretische Gespräch in leere Rhetorik oder Polemik aus. Wie sehr gerade ein Gespräch zwischen wissenschaftlichen Gruppen vonnöten ist, wenn es gilt, verallgemeinerungsfähige Aussagen zu formulieren, haben die am Ende des vorigen Kapitels zitierten Überlegungen Ernst von Glasersfelds gezeigt: Eine „Viabilität“, die nur von einer Gruppe erkannt und anerkannt wird, ist „nur eine sehr schwache Viabilität“. Will man die „Viabilität“ stärken, muß man über die Grenzen der eigenen Gruppe hinausgehen. Gerade dies ist aber der Sinn des interkollektiven oder interdiskursiven Dialogs. 1. Interdiskursive Verständigung: Einige Voraussetzungen Ein Dialog ist zum Scheitern verurteilt, wenn im Anschluß an Alexy und Habermas (vgl. Kap. X) gefordert wird, daß „verschiedene Sprecher (...) den gleichen Ausdruck nicht mit verschiedenen Bedeutungen benutzen“. 5 Denn schon im Diskurs eines und desselben Sprechers kann sich die Bedeutung eines Ausdrucks unmerklich wandeln. Man muß nicht Dekonstruktivist sein, um solche semantischen Verschiebungen auch bei Habermas 6 nachweisen zu können. Um so wahrscheinlicher ist es, daß ein Begriff oder Ausdruck im theoretischen Gespräch Bedeutungen annimmt, die mehr oder weniger stark voneinander abweichen. Zum Dialog im allgemeinsten Sinne bemerkt David Bohm ganz zu Recht: „Wenn jemand in einem solchen Dialog etwas sagt, so antworon in den Sozialwissenschaften beim theoretischen Diskurs“, in: Ethik und Sozialwissenschaften 4, 1999, S. 655.) Der kollektive Faktor, um den es hier geht, kommt auch in Diskussionen zwischen Einzelpersonen zum Tragen, von denen die eine z.B. die Sprache des Kritischen Rationalismus spricht, während die andere eine feministische Variante der Psychoanalyse vertritt. Das Problem der „Teamfähigkeit“ steht hier daher nicht im Vordergrund. 5 J. Habermas, Moralbewußtsein und kommunikatives Handeln, Frankfurt, Suhrkamp, 1983, S. 97. 6 Vgl. J. Habermas’ Verwendung des Wortes „System“ in: Theorie des kommunikativen Handelns, Bd. II, Zur Kritik der funktionalistischen Vernunft, Frankfurt, Suhrkamp, 1981, S. 457-464. <?page no="260"?> 246 tet der andere im allgemeinen nicht mit genau derselben Bedeutung, die dem ersten Sprecher vorschwebt. Vielmehr sind die Bedeutungen nur ähnlich und nicht identisch.“ 7 Möglicherweise ist in solchen Fällen semantische Identität auf Dauer gar nicht zu wahren, weil sich die Kommunikationssituation der Gesprächspartner ständig ändert: nicht nur aus pragmatischen Gründen (man lernt einander besser kennen, es bilden sich Gruppen und Koalitionen usw.), sondern auch auf semantischer Ebene. Jedes Gespräch, auch das Selbstgespräch, hat eine kumulative semantische Wirkung in dem Sinne, daß die Begriffe, die durchgehend verwendet werden, am Ende eine etwas andere Bedeutung haben als am Anfang. Der Autor eines Textes kann durch ständige Revision erreichen, daß sich dieser Bedeutungswandel in Grenzen hält, auf ein Minimum beschränkt bleibt. In Diskussionen mit mehreren Teilnehmern, vor allem in Debatten, die sich über Jahre erstrecken, sind semantische Verschiebungen nicht so leicht einzudämmen. Die Diskussionen über den Paradigmabegriff, der - wie sich im fünften Kapitel gezeigt hat - schon bei Kuhn mehr als 21 Bedeutungen annimmt, haben diesen Begriff vollends „entsemantisiert“. Möglicherweise ist aber in Dialogen die vorab fixierte semantische Identität eines Begriffs oder Ausdrucks gar nicht wünschenswert, weil es ja in solchen Fällen bald um genauere Begriffsbestimmung, bald um interdisziplinäre Erweiterung von Bedeutungen geht (vgl. Abschn. 3). Angesichts solcher Erkenntnisse könnte man versucht sein, den theoretischen Dialog mit Skepsis zu betrachten. Hat sich nicht schon im ersten Kapitel gezeigt, daß Theorien sowohl kulturell als auch sprachlich bedingt sind, d.h. daß eine Theorie ihre Besonderheit einer Kultur und einer natürlichen Sprache verdankt? Sind Theorien nicht zudem Soziolekte, Gruppensprachen, die in einer besonderen soziolinguistischen Situation spezifische gesellschaftliche Interessen und Erkenntnisinteressen ausdrücken? Es kommt hinzu, daß jeder einzelne Wissenschaftler in einer solchen Situation zwar von einem oder mehreren Soziolekten ausgeht, diese aber in seinem besonderen Diskurs (als Idiolekt) konkretisiert und zugleich verändert. So trägt jeder neue Diskurs zur Umgestaltung der gesamten sprachlichen Situation bei. 7 D. Bohm, On Dialogue, op. cit., S. 2. <?page no="261"?> 247 Lakatos spricht zwar den Soziolekt des Kritischen Rationalismus, entwickelt aber einen Diskurs, der sich erheblich von dem Poppers, Hans Alberts oder Ernst Topitschs unterscheidet. Habermas’ Diskurs ist nicht der Adornos oder Horkheimers. Soll es zu einem fruchtbaren Dialog kommen, ist es wichtig, daß die Beteiligten alle diese Faktoren reflektieren und sich zudem über die ideologischen Interferenzen in den partizipierenden Diskursen im klaren sind. Die Frage lautet: Welche Ideologien als Wertsysteme liegen den Diskursen zugrunde und wie treten sie in Erscheinung? Es gilt, außer der lexikalischen und der semantischen Ebene zwei Ebenen des Diskurses im Auge zu behalten: die des Aussagesubjekts und des Aussagevorgangs (énonciation, Greimas) und die der Aussage (énoncé), die von den im Diskurs handelnden Aktanten konstituiert wird. Beide Ebenen sind in der Semantik des Diskurses verankert. Auf der ersten Ebene zeigt sich recht bald, ob das Diskurssubjekt bereit und in der Lage ist, seine ideologischen Wertsetzungen selbstkritisch zu relativieren und seine Objekte als Konstruktionen darzustellen, oder ob es sich monologisch mit der Wirklichkeit identifiziert und den Konstruktionsvorgang ausblendet. In diesem Fall können die Gesprächspartner nur mit konstruktivistischer Ideologiekritik als Diskurskritik reagieren, um der Reflexion und dem Dialog zum Durchbruch zu verhelfen (vgl. Kap. II und XII). Auf der zweiten Ebene stehen die Aktantenmodelle und Modalitäten der verschiedenen Diskurse im Mittelpunkt. Denn sie sind für die Vergleichbarkeit der Diskurse von Bedeutung. Hätte jemand in der ersten Phase des „Positivismusstreits“ die Frage nach den Aktantenmodellen der Kritischen Theorie und des Kritischen Rationalismus aufgeworfen, wäre bald einiges klar geworden, was bis zuletzt im Dunkeln blieb: nämlich daß die Diskurse beider Gruppen gesellschaftliche Entwicklung und Theoriebildung mit Hilfe von individuellen Aktanten erklären. Auf dieser Ebene wäre es möglich gewesen, die erste provisorische Übereinstimmung in dem Gedanken zu finden, daß der autonome Einzelne für Kritik verantwortlich ist. Zugleich hätte sich jedoch gezeigt, daß dieser Einzelne im Kritischen Rationalismus das liberale Individuum ist, während er in der Kritischen Theorie (ob Philosoph oder Künstler) als Statthalter eines verschwundenen Kollektivaktanten auftritt: des revolutionären Proletariats. Dies hat weitreichende Folgen für die divergierenden Gesellschaftstheorien der beiden Gruppen, die von verschiedenen Modalitäten ausgehen: Während die <?page no="262"?> 248 Kritische Theorie eine Überwindung des Kapitalismus will, fragt der Kritische Rationalismus nach den Korrektur- und Anpassungsmöglichkeiten dieses Systems. Die Frage nach der Beschaffenheit der Aktantenmodelle ist auch für die Kommunikation zwischen grundverschiedenen Diskursen wichtig. Denn es hat wenig Sinn, Freuds Psychoanalyse und den Marxismus, Max Webers verstehende Soziologie und Luhmanns Systemtheorie aufeinander zu beziehen, ohne nach der Vergleichbarkeit der Aktantenmodelle und der Modalitäten zu fragen, die von einer historisch einmaligen sozio-linguistischen Situation oder Problematik zeugen (vgl. Kap. I-II). Während Freuds Diskurs individuelle Aktanten (wie Mutter, Vater, Kind) in infraindividuelle Aktanten (Ich, Es, Überich) gliedert, konzentriert sich der Marxismus auf überindividuelle, kollektive Aktanten als Klassen. Jede Auseinandersetzung zwischen diesen beiden Theorienkomplexen müßte den Unterschieden auf der Aktantenebene Rechnung tragen und nach entsprechenden Unterschieden im Bereich der Modalitäten Ausschau halten. Denn das „Wollen“, „Wissen“ und „Können“ der einen Theorie werden in der anderen Theorie unter Umständen ganz oder teilweise fehlen. So will etwa Freuds Psychoanalyse (im Unterschied zum Marxismus und zu Jungs Tiefenpsychologie) vornehmlich individuelles und nicht kollektives Handeln erklären. Solche Unterschiede werden durch hastige „poststrukturalistische“ Vergleiche verdeckt, wie sie etwa Ernesto Laclau anstellt, wenn er meint, in beiden Fällen drehe sich alles um „the logic of the signifier as a logic of unevenness and dislocation“. 8 Anders als der Kritische Rationalismus und die Kritische Theorie, die auf der Aktantenebene sehr wohl verwandt sind (s.o.), sind verstehende Soziologie und Systemtheorie auf aktantieller Ebene extrem heterogen. Außerdem wollen sie im Bereich der Modalitäten ganz verschiedene Erscheinungen erklären und verschiedene Probleme lösen. Rainer Greshoff verwendet den Aktantebegriff zwar nicht, ist sich jedoch dieses diskursiv-narrativen Unterschiedes zwischen Weber und Luhmann durchaus bewußt, wenn er anmerkt: „Mit handlungstheoretischen Grundlegungen von Soziologie verbindet Luhmann weiter den Kritikpunkt der Subjektbezogenheit, genauer der ‚Subjektbelaste - 8 E. Laclau, „Psychoanalysis and Marxism“, in: Critical Inquiry 13, 1987, S. 333. t <?page no="263"?> 249 heit‘.“ 9 Ihm ist klar, daß es sich um ein andersartiges Aktantenmodell handelt: „Dagegen gebraucht Luhmann immer wieder ‚Kompaktformulierungen‘ wie ‚die Kommunikation/ das System macht etwas/ stellt etwas her‘.“ 10 Hier wird deutlich, wie nützlich Tesnières und Greimas’ Begriff des Aktanten ist: Er ermöglicht eine Diskurstypologie auf aktantieller Ebene. Diskurse erscheinen nun als semiotische Schemata, die soziale Prozesse mit Hilfe von individuellen, infraindividuellen, supraindividuellen (kollektiven), abstrakten und mythischen Aktanten konstruieren, d.h. erzählen. Sowohl im psychoanalytischen als auch im systemtheoretischen Bereich besteht die Gefahr, daß infraindividuelle (Ich, Es, Überich) oder abstrakte Aktanten (Systeme) zu mythischen Instanzen werden, deren Absichten und Handlungen - d.h. narrative Programme im Sinne von Greimas 11 - nicht empirisch fundiert sind. Die Wahrnehmung dieser Gefahr setzt jedoch die Rekonstruktion des theoretischen Diskurses als Aktantenmodell und narrative Struktur voraus. Zu dieser Rekonstruktion gehört auch die des Soziolekts, aus dem ein theoretischer Diskurs und seine Aktanten hervorgehen. Im Falle von Freud und Weber ist eine liberal-individualistische Gruppensprache für den Individualismus der Aktantenmodelle verantwortlich. Sie liegt auch den kritisch-rationalistischen Aktantenmodellen zugrunde, wie sich im sechsten Kapitel gezeigt hat. Dagegen ist Luhmanns Diskurs in einem ganz anderen Soziolekt verankert: in der Sprache nachmoderner Manager, die das Konkurrenzprinzip des liberalen Unternehmertums durch das Kooperations- und Kommunikationsprinzip eines „management of innovation“ 12 , wie Burns und Stalker sagen, ersetzen. 9 R. Greshoff, Die theoretischen Konzeptionen des Sozialen von Max Weber und Niklas Luhmann im Vergleich, Opladen-Wiesbaden, Westdeutscher Verlag, 1999, S. 34. 10 R. Greshoff, „Lassen sich die Konzepte von Max Weber und Niklas Luhmann unter dem Aspekt ‚Struktur und Ereignis‘ miteinander vermitteln? “ in: R. Greshoff, G. Kneer (Hrsg.), Struktur und Ereignis in theorievergleichender Perspektive. Ein diskursives Buchprojekt, Opladen-Wiesbaden, Westdeutscher Verlag, 1999, S. 43. 11 Zum Begriff des narrativen Programms vgl. A. J. Greimas, Maupassant. La sémiotique du texte: exercices pratiques, Paris, Seuil, 1976, S. 48-61. 12 Vgl. T. Burns, G. M. Stalker, The Management of Innovation, London, Pergamon Press, 1961. <?page no="264"?> 250 Luhmann selbst scheint diese Hypothese zu bestätigen. Während in Soziale Systeme „Konkurrenz“ als ein Begriff „des 18. und 19. Jahrhunderts“ 13 aufgefaßt wird, erfahren wir in Die Wirtschaft der Gesellschaft, „daß Konkurrenz kein System sein kann, weil sie ihrem Wesen nach nicht in Direktiven für Kommunikation umgesetzt, nicht durch Interaktion implementiert werden kann“. 14 Tendenziell wird in diesem Diskurs also „Konkurrenz“ (als liberaler Begriff) durch „Kommunikation“ ersetzt. Es ist nun eines der Charakteristika des neuen Managements, so wie es von Burns und Stalker beschrieben wird, daß es Konkurrenz, Autorität und individuelle Verantwortung (d.h. ein vertikales oder hierarchisches System) durch Teamarbeit und Kommunikation ersetzt. Man versteht Luhmann nicht konkret, solange man sein diskursives Aktantenmodell nicht auf diesen relativ neuen Soziolekt bezieht. Die hier skizzierten Diskurse, Aktantenmodelle und Soziolekte sind so heterogen 15 , daß Kommunikation zwischen ihnen fast ausgeschlossen zu sein scheint. Selbst wenn man auf die Synonymie von Ausdrücken verzichtet, ist es äußerst schwierig, „Kritik“ im Sinne der Kritischen Theorie mit „Kritik“ im Sinne des Kritischen Rationalis- 13 N. Luhmann, Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie, Frankfurt, Suhrkamp (1984), 1987, S. 524. 14 N. Luhmann, Die Wirtschaft der Gesellschaft, Frankfurt, Suhrkamp (1988), 1994, S. 101. 15 Matthias von Saldern wirft eine wichtige erkenntnistheoretische Frage auf, wenn er bemerkt: „Ein Kernproblem scheint zu sein, wer oder was denn eigentlich bestimmen kann, ob Gruppensprachen heterogen oder homogen sind.“ (M. von Saldern, „Auch Sozialwissenschaftler/ innen sind nur Menschen“, in: Ethik und Sozialwissenschaften 4, 1999, S. 643.) Die Antwort lautet: Vokabular, Semantik und narrative Syntax (Aktantenmodell) - sowie die ideologischen Positionen der Theoretiker. Webers „verstehende Soziologie“ und Luhmanns Systemtheorie sind u.a. deshalb sprachlich heterogen, weil sie von grundverschiedenen Aktantenmodellen ausgehen. Sie sind auch ideologisch heterogen, weil sie sich an zwei unvereinbaren Gesellschaftsmodellen orientieren. Homogenität und Heterogenität sind also semiotische und soziologische Begriffe. Daß sie nicht unproblematisch sind, wissen alle Kulturwissenschaftler, die sich mit den Paradoxien des Klassifizierens befaßt haben: Der Europäer mag China, der Chinese Europa für eine kulturelle Einheit halten. Wird diese makroskopische durch eine mikroskopische Betrachtung abgelöst, stellt sich alsbald heraus, daß nicht einmal Bayern eine Einheit bildet, weil Franken doch eine andere Welt ist... Man sollte weder makroskopisch noch mikroskopisch übertreiben: Während Hegel und Luhmann makroskopisch übertreiben, übertreiben Derrida und von Saldern mikroskopisch. <?page no="265"?> 251 mus zu vergleichen; ähnliches gilt für Habermas’ Begriffe „System“ und „Kommunikation“ und die ihnen (scheinbar) entsprechenden Termini bei Luhmann. Wie sich gezeigt hat, geht aus dem semantischen Gegensatz System/ Lebenswelt ein ganz anderer Diskurs (mit einem völlig anderen Aktantenmodell) hervor als aus dem Gegensatz System/ Umwelt. Die lexikalischen Repertoires und die Semantiken der Diskurse, die den Aktantenmodellen zugrunde liegen, sind heterogen. Es stellt sich daher die Frage, ob die Diskurse und Soziolekte überhaupt aufeinander bezogen werden können - und wenn ja, wie. Diese Frage kann im Anschluß an das vorige Kapitel und die Semiotik Lotmans beantwortet werden: Diskurse und Soziolekte sind als sekundäre modellierende Systeme in das primäre modellierende System der natürlichen Sprache eingebettet und können stets auf dieses primäre System bezogen und in jedem Dialog expliziert werden. Das Problem, das hier auftritt, könnte ironisch als Paradoxon gedeutet werden: Die sekundären Systeme (Soziolekte und Diskurse), die mühsam von der natürlichen Sprache abgelöst wurden, damit eine relativ klare Begrifflichkeit entsteht, die nicht länger von den Polysemien der Alltagssprache verdunkelt wird, sollen wieder in die Umgangssprache übertragen werden. Es handelt sich jedoch um ein Scheinparadoxon: erstens, weil die sekundären Systeme nicht in der natürlichen Sprache aufgelöst, sondern nur erläutert werden sollen (dies zeigen alle Fachwörterbücher, in denen Fachausdrücke umgangssprachlich kommentiert werden); zweitens, weil die sekundären Systeme aus dem primären hervorgegangen sind. Dieses symbiotische Verhältnis zwischen den theoretischen Sprachen als sekundären Systemen und der natürlichen Sprache tritt klar zutage, sobald man die ideologischen Interferenzen im Kritischen Rationalismus und in Luhmanns Systemtheorie näher betrachtet: Während der Kritische Rationalismus aus einem liberal-individualistischen Soziolekt hervorgeht, ist die Systemtheorie auch als ideologische Reaktion auf diesen Soziolekt zu verstehen, den sie im Namen des neuen Managements und seines Soziolekts in Frage stellt. Die beiden Soziolekte gehören aber als Ideologien zum sprachlichen Alltag, sind also von der natürlichen Sprache nicht zu trennen. Nichts anderes aber meint Gadamer, wenn er feststellt: „Die ‚Sprachspiele‘ der Wissenschaft bleiben auf die Metasprache, die die <?page no="266"?> 252 Muttersprache darstellt, bezogen.“ 16 Dieser Satz zeigt einerseits, daß die Terminologie der Semiotik präziser ist, weil der Ausdruck „sekundäres modellierendes System“ erkennen läßt, wie die wissenschaftliche Theorie auf die natürliche Sprache als Muttersprache bezogen wird: nämlich genetisch. Er zeigt andererseits, daß es immer wieder zu frappierenden Übereinstimmungen zwischen heterogenen Diskursen (hier zwischen Hermeneutik und Semiotik) kommt, die im letzten Abschnitt dieses Kapitels zur Sprache kommen. 2. Rekonstruktion, Übersetzung, Kritik Kritik steht hier an letzter Stelle, weil es nicht sinnvoll ist, eine Theorie zu kritisieren, bevor man nicht ihren gesellschaftlichen und sprachlichen Kontext rekonstruiert hat. Zu Recht bemerkt Maturana: „Ein Gespräch kommt nur zustande, falls man bereits ist, den Verständnishintergrund eines anderen zu akzeptieren.“ 17 Im vorigen Abschnitt wurden deshalb einige Faktoren untersucht, die diesen „Verständnishintergrund“ ausmachen: die Ideologie (im allgemeinen Sinne), der Soziolekt, aus dem ein besonderer theoretischer Diskurs hervorgeht, und dessen Aktantenmodell. Im folgenden geht es um die eigentlichen Anliegen des Dialogs: die Rekonstruktion des fremden Diskurses, seine Übersetzung und seine Kritik. Wenn es um Verständigung geht, wirft „Rekonstruktion“ weitere Fragen auf, die im vorigen Abschnitt nicht behandelt wurden. Wer rekonstruiert, und in welche Sprache übersetzt er den ihm fremden Diskurs? Die Frage deutet bereits an, daß Rekonstruktion und Übersetzung kaum voneinander zu trennen sind: Indem ich rekonstruiere, übersetze ich den fremden Diskurs in meine eigene (mir vertraute) Sprache. In diesem Kontext kann man zwei Arten der Rekonstruktion als Übersetzung unterscheiden: die Übersetzung in die natürliche Sprache als primäres modellierendes System, die vor allem dem Nachvollzug 16 H.-G. Gadamer, „Rhetorik, Hermeneutik und Ideologiekritik. Metakritische Erörterungen zu Wahrheit und Methode“, in: K.-O. Apel et al., Hermeneutik und Ideologiekritik, Frankfurt, Suhrkamp (1971), 1980, S. 79. 17 H. Maturana, Was ist erkennen? Die Welt entsteht im Auge des Betrachters, München, Piper, 1994, Goldmann 2001, S. 180. <?page no="267"?> 253 des fremden Diskurses dient, und die Übersetzung in den eigenen Diskurs. Die erste Art von Rekonstruktion ist für Nachschlagewerke oder Wörterbücher charakteristisch. So wird beispielsweise der „Aktant“ von Greimas und Courtés wie folgt definiert (zitiert wird nur der erste Satz des Artikels): „Der Aktant kann als derjenige aufgefaßt werden, der den Akt vollzieht oder erleidet, unabhängig von allen anderen Determinanten.“ 18 Dieser Satz als Kurzdefinition hat in jeder Hinsicht umgangssprachlichen Charakter, weil er keine Fachtermini der Strukturalen Semiotik enthält. Dies gilt auch für die Teildefinition von „Verdrängung“ aus dem Vokabular der Psychoanalyse von Laplanche und Pontalis: „Im eigentlichen Sinne: Operation, wodurch das Subjekt versucht, mit einem Trieb zusammenhängende Vorstellungen (Gedanken, Bilder, Erinnerungen) in das Unbewußte zurückzustoßen oder dort festzuhalten.“ 19 Außer dem Wort „Subjekt“, das als Fachterminus im psychoanalytischen Sinne aufzufassen ist, enthält auch diese Passage keine Fachtermini, sondern hat umgangssprachlichen Charakter. Diese Überlegungen sollen nicht nur zeigen, wie Rekonstruktion als umgangssprachliche Übersetzung konkret aussieht, sondern sollen zugleich die These plausibel machen, die am Ende des vorigen Abschnitts aufgestellt wurde: daß umgangssprachliche Rekonstruktionen theoretischer Diskurse - trotz einiger Schwierigkeiten, die immer wieder auftreten, - prinzipiell möglich sind. Für den theoretischen Dialog ist das nicht unwichtig, weil er von der Möglichkeit lebt, die sekundären Systeme im Rahmen des primären Systems zu erläutern (nicht zu reduzieren). Die zweite Rekonstruktionsmöglichkeit ist die teilweise oder vollständige Übertragung des fremden Diskurses in den eigenen. Daß es hier zu Auslassungen, Verkürzungen und Verzerrungen kommen kann, die beim Gesprächspartner Irritationen hervorrufen, versteht sich fast von selbst. Denn jeder theoretische Diskurs setzt sich als sekundäres modellierendes System aus einem bestimmten Vokabular, einer Semantik und einem Aktantenmodell zusammen, die per definitionem nicht in anderen Modellen aufgehen. Gingen sie in ihnen auf, 18 A. J. Greimas, J. Courtés, Sémiotique. Dictionnaire raisonné de la théorie du langage, Paris, Hachette, 1979, S. 3. 19 J. Laplanche, J.-B. Pontalis, Das Vokabular der Psychoanalyse, op. cit., S. 582. <?page no="268"?> 254 könnten sie auf sie reduziert werden (im Sinne von Stegmüller) und wären überflüssig. Ein Gebot des theoretischen Dialogs lautet daher, den fremden Diskurs möglichst so zu rekonstruieren, daß sich das andere Diskurssubjekt in der Rekonstruktion erkennt und sie im Optimalfall Schritt für Schritt nachvollziehen kann. Dazu bemerkt Habermas: „Für einen Autor ist es immer wieder irritierend zu sehen, wie einigermaßen differenzierte Gedanken in der politischen, sogar in der wissenschaftlichen und der literarischen Öffentlichkeit nicht nur selektiv aufgenommen und tendenziös verstümmelt, sondern oft genug in ihr bares Gegenteil verkehrt werden.“ 20 Sieht man von böser Absicht oder fehlender Kompetenz ab, so bleibt das strukturelle Problem, daß eine Rekonstruktion der fremden Theorie im eigenen Diskurs nicht nur Verkürzungen mit sich bringt, sondern häufig auch ein tort oder „Unrecht“ im Sinne von Lyotard (vgl. Kap. VI) zeitigt. Hier wurden vor allem im Zweiten Teil Theorien in einem soziosemiotischen Kontext, d.h. als semantisch-narrative Strukturen mit Aktantenmodell, ansatzweise rekonstruiert. Auch diese Vorgehensweise mag Verzerrungen mit sich bringen, etwa wenn eine Theorie wie die von Habermas den Diskurs als Erzählung nicht kennt und die semiotische Terminologie (aus welchen Gründen auch immer) nicht zulassen will. Verzerrungen können auch dort auftreten, wo versucht wird, hermeneutische oder dialektische Theorien wie Freuds Psychoanalyse oder Marx’ Politische Ökonomie in einem logisch-mathematischen Kontext zu rekonstruieren und zugleich in eine logische Formelsprache zu übertragen. Dabei bleiben ihre Modalitäten - vor allem ihr „Wollen“ und „Können“ - oft unberücksichtigt: Wollen diese Diskurse überhaupt formalisierbar sein? Wenn sich z.B. Wolfgang Stegmüller vornimmt, die Psychoanalyse im Rahmen seines mathematischen Strukturalismus zu rekonstruieren (vgl. Einleitung), so stellt sich die Frage, ob nicht ein struktural-mathematisches Modell an die Stelle einer (auch) hermeneutisch verfahrenden Psychoanalyse tritt. Dazu bemerkt Stegmüller: „Wenn es darüber hinaus gelingen sollte, mit Hilfe eben dieses Begriffsapparates sogar Theorien zu rekonstruieren, deren Wissenschaftscharakter bis heute umstritten blieb, so hätte der strukturalistische Ansatz damit 20 J. Habermas, Die Neue Unübersichtlichkeit, Frankfurt, Suhrkamp, 1985, S. 165. <?page no="269"?> 255 eine weitere Bewährungsprobe bestanden.“ 21 An dieser Stelle drängt sich allerdings die Frage auf, wer sich nun bewähren soll: die Psychoanalyse mit Hilfe des strukturalistischen Ansatzes oder umgekehrt. Bemerkenswert ist in diesem Fall, daß die Freudsche Theorie im logisch-mathematischen Kontext, d.h. im fremden Soziolekt, gar nicht so schlecht abschneidet: „Selbst die vorliegende vereinfachende Skizze genügt also, um den Vorwurf, es handle sich bei der Theorie von Freud um ein pseudowissenschaftliches Unterfangen, in Frage zu stellen.“ 22 Einen Psychoanalytiker, der sich als exakter und empirischer Wissenschaftler versteht 23 , kann eine solche Diagnose nur freuen. Die Tatsache, daß Stegmüller die Verdrängung nicht zu den psychoanalytischen Grundbegriffen zählt 24 und das psychoanalytische Aktantenmodell (Ich-Es-Überich/ Kultur-Überich) ganz ausläßt, wird ihn jedoch skeptisch stimmen: Läuft hier die Konfrontation mit dem Anderen nicht auf eine Reduktion hinaus? Diese Frage stellt sich auch dem Marxisten oder Marx-Leser, dem Stegmüller den Vorschlag macht, „bei einem Rekonstruktionsversuch der Kapital- und Werttheorie von Marx ‚so zu tun, als handle es sich um das Werk eines Nationalökonomen‘ (...).“ 25 Dieser Versuch bringt schließlich eine szientistische Deutung hervor, die Marx dem Physiker Newton annähert 26 und die antihumanistischen Althusserianer (trotz aller Abweichungen von ihrem eigenen Modell) mit Genugtuung erfüllen könnte: „Außer Betracht bleiben könnte dagegen die von all diesen theoretischen Aspekten zu trennende praktisch-religiöse Komponente, nämlich der Humanismus von Marx.“ 27 Damit entfällt aber der Objekt-Aktant des Marxschen Modells: die „klassenlose Gesell- 21 W. Stegmüller, Probleme und Resultate der Wissenschaftstheorie und Analytischen Philosophie, Bd. II, Theorie und Erfahrung, Dritter Teilband, Die Entwicklung des neuen Strukturalismus seit 1973, Berlin-Heidelberg-New York, 1986, S. 414. 22 Ibid., S. 432. 23 Vgl. dazu „Psychoanalysis as an Empirical, Interdisciplinary Science“, Internationales Symposium der Österr. Akademie der Wissenschaften, Wien 22.-24. November 2002. 24 W. Stegmüller, Probleme und Resultate der Wissenschaftstheorie und Analytischen Philosophie, Bd. II, Theorie und Erfahrung, Dritter Teilband, op. cit., S. 421. 25 Ibid., S. 433. 26 Vgl. ibid., S. 434. 27 Ibid., S. 448. <?page no="270"?> 256 schaft“. Zugleich verschwindet dessen Grundmodalität: die radikale Kapitalismuskritik, die auf eine Überwindung der menschlichen Entfremdung und der bestehenden sozialen Verhältnisse zielt. Stegmüllers Rekonstruktionen, verdeutlichen aber, wie wichtig der Dialog zwischen heterogenen Diskursen und ihren Soziolekten sein kann: Das Andere wird nicht in allen Fällen in Frage gestellt oder gar negiert; es kann auch in einem völlig neuen Kontext und unter neuen Vorzeichen (teilweise) bestätigt werden. In dieser Perspektive sollen hier im letzten Abschnitt die „interdiskursiven Theoreme“ betrachtet werden, die zwischen heterogenen Sprachen und ihren Gruppen entstehen können. Im interdiskursiven Dialog geht es jedoch nicht primär darum, die eigenen Hypothesen und Objektkonstruktionen von den anderen bestätigen zu lassen, sondern darum, Theorien und ihre Konstruktionen einer kritischen Prüfung auszusetzen. Zu diesem Zweck wurden hier immer wieder gegensätzliche Positionen aufeinander bezogen. Der Dialog zwischen ihnen ist eine permanente Dialektik von Konsens und Dissens, Übereinstimmung und Abweichung, Übersetzbarkeit und Nichtübersetzbarkeit. 28 Diese Dialektik hat Paul Lorenzen in einem ganz anderen Kontext dargestellt. Er geht von drei Fällen aus: Im ersten Fall sind bestimmte lexikalische oder semantische Einheiten des anderen Soziolekts (Lorenzen spricht von „Orthosprachen“ 28 In seinen Kommentaren zur Dialogischen Theorie hat Rob T. P. Wiche versucht, diesen Vorgang in Etappen einzuteilen und zu formalisieren: „Es gibt zwei Parteien, die bereit sind, über ein sozialwissenschaftliches Problem miteinander zu diskutieren, wobei feststeht, daß sie sich über die Lösung nicht einig sind. Weiterhin gibt es einen Diskussionsleiter. 2. Die Parteien sind einverstanden mit den Prinzipien der dialogischen Theorie. (...) 3. Partei 1 faßt das Problem, worüber Uneinigkeit besteht, zusammen. 4. Der Diskussionsleiter fragt, ob Partei 2 mit dieser Zusammenfassung zufrieden ist. Wenn das nicht der Fall ist, wird Partei 2 gebeten, ihre Version des Problems zu geben. Dieser Prozeß wiederholt sich, bis beide Parteien sich über die Formulierung des Problems einig sind. Wenn es am Ende keine Übereinstimmung gibt, kann es auch keine weitere Diskussion geben. 5. Partei 1 gibt ihre Lösung des Problems 6. Partei 2 gibt an, welche die starken und schwachen Punkte dieser Lösung sind. (...)“ (R. T. P. Wiche, „Dialogische Theorie und dialogische Praxis“, in: Ethik und Sozialwissenschaften 4, 1999, S. 654.) Adorno und Horkheimer hätte diese Art von Formalisierung sicherlich mißfallen. Sie hätten jedoch zahlreiche Mißverständnisse vermieden, wenn sie sich im „Positivismusstreit“ für diese Vorgehensweise entschieden hätten - und für die hier vorgeschlagene Rekonstruktion auf diskursiver (aktantieller) Ebene. <?page no="271"?> 257 und ihren Beziehungen) in die eigene Sprache übersetzbar, so daß eine teilweise Rekonstruktion im eigenen Diskurs möglich ist. Im zweiten Fall stellt man fest, daß die Sprache des anderen „gewisse Termini (also begriffliche Unterscheidungen) hat, die dem eigenen systematischen Nachdenken bisher entgangen waren“. 29 In diesem Fall ist keine Übersetzung möglich, wohl aber eine Erweiterung des eigenen Diskurses im lexikalischen und semantischen Bereich. Ein Beispiel ist die Erweiterung der Kritischen Theorie um den Begriff der „Konstruktion“, der im Dialog mit dem Radikalen Konstruktivismus gewonnen wurde, der aber auch aus dem der Kritischen Theorie eigenen Nichtidentitätspostulat ableitbar ist. Es zeigt sich hier, wie eine Theorie im Dialog mit dem Anderen erweitert werden kann und zugleich neue Wege einschlägt. Am anregendsten ist der von Paul Lorenzen genannte dritte Fall: „(...) Der Versuch einer Übersetzung in die eigene Orthosprache oder deren Erweiterung durch Termini des Textes [kann] zu Widersprüchen führen. Dann müssen das eigene Denken und die Resultate des Autors noch einmal systematisch überprüft werden.“ 30 Dies ist eine Kurzdarstellung dessen, was hier vor allem im Zweiten Teil praktiziert wurde: eine Zusammenführung gegensätzlicher Standpunkte, die eine kritische und selbstkritische Überprüfung ermöglicht. In ständiger Auseinandersetzung mit dem Kritischen Rationalismus und dem Radikalen Konstruktivismus wurde die Kritische Theorie nicht „falsifiziert“ (ebensowenig wie die Psychoanalyse oder der Marxismus bei Stegmüller), sondern erfuhr eine „Erschütterung“ im Sinne von Neurath. Im Dialog erwies es sich als sinnvoll, Negativität als Nichtidentität kritisch zu betrachten und in eine konstruktivistische Dialogizität überzuleiten. Diese Art von kritischer „Erschütterung“ erfahren alle theoretischen Positionen, die auf ihre Gegenpositionen bezogen werden (im Vergleich oder im Gespräch). Ihre Vertreter werden dazu angehalten, sich mit den Augen des anderen zu betrachten. So zeigt etwa die Konfrontation von Popper und Lyotard, daß der eine so manche Erklärung schuldig bleibt, weil er sich über das Partikulare hinwegsetzt, während der andere es verabsolutiert und dadurch den seiner Theorie innewoh- 29 P. Lorenzen, Konstruktive Wissenschaftstheorie, Frankfurt, Suhrkamp, 1974, S. 118. 30 Ibid. <?page no="272"?> 258 nenden Universalanspruch Lügen straft. Die Zusammenführung der Diskurse Lukács’ und Glaserfelds wiederum zeigt, daß Lukács seine erkenntnistheoretischen Ansprüche nur mit Hilfe eines mythischen Aktanten (des Proletariats) geltend machen kann, während Glaserfelds Forderung nach einer allgemeingültigen „Viabilität“ ohne diesen oder einen analogen Aktanten kaum zu erfüllen ist. Schließlich läßt das hier inszenierte Geistergespräch zwischen Bourdieu und Luhmann erkennen, daß sowohl das „System“ als auch das „Feld“ heteronomen Interferenzen ausgesetzt sind, welche die Autonomie dieser Bereiche und die sie definierenden Begriffe in Zweifel ziehen. Zugleich wirft es jedoch die Frage auf, ob wissenschaftliche Wahrheit nicht doch anonym im System oder Feld produziert wird und ob der hier verwendete Subjektbegriff nicht den Ausblick auf diesen Produktionsprozeß verstellt. In erster Linie kommt es also darauf an, direkte oder indirekte Konfrontationen herbeizuführen, die alle Beteiligten dazu anhalten, ihre Diskurse und Konstruktionen gleichsam „von außen“, d.h. mit den Augen des anderen, zu betrachten. Eine solche Verfremdung des Eigenen läuft selten auf eine Widerlegung im Sinne von Poppers „Falsifikation“ hinaus; sie kann aber wesentliche Schwachstellen der betroffenen Theorien erkennen lassen. Als „Erschütterung“ im Sinne von Neurath ist sie eine sinnvolle Alternative zur „Falsifikation“, die zumeist nur in einem Soziolekt bestätigt wird, während andere Wissenschaftlergruppen sie als Extremismus oder Irrtum zurückweisen und die „falsifizierte“ Theorie weiterhin gelten lassen. 31 Hier spielen ideologische Faktoren und Wertur- 31 Michael Schmid argumentiert an der Dialogischen Theorie vorbei, wenn er einwendet: „M. E. führt Zima wissenschaftliche Diskussionen auf Abwege, wenn er der Subjektivität der Gelehrten eine methodologische Bedeutung verleiht, statt die normative Forderung nach der Produktion von wahren (aber natürlich nicht: gewissen) Theorien zu verteidigen.“ (M. Schmid, „Sozialwissenschaftliche Theoriebildung und Dialogische Theorie. Oder: Brauchen die Sozialwissenschaften einen ideologischen Diskurs? “, in: Ethik und Sozialwissenschaften 4, 1999, S. 646.) Das Problem besteht ja gerade darin, daß die von nahezu allen Wissenschaftlern erhobene Forderung nach „wahren Theorien“ in jeder Wissenschaftlergruppe anders aufgefaßt und anders erfüllt wird - und zwar in Übereinstimmung mit subjektiven (individuellen, kollektiven) Interessen, die Schmid anscheinend nicht wahrnimmt. Damit kehren wir zum metaphysischen Nullpunkt zurück: zur idealistischen Frage nach theoretischer Wahrheit. Noch ein Zusatz: Die Sozialwissenschaften „brauchen“ keinen ideologischen „Diskurs“ - sie haben ihn schon. (Auch Günter Endruweit mißversteht die Dialogische Theorie, wenn er ihr vorwirft, sie stelle „verbalisierende Bemühungen <?page no="273"?> 259 teile eine Rolle, die (wie Max Weber wußte) nicht zu widerlegen sind. Obwohl sie das Falsifikationsprinzip nicht aufnimmt, weil es vor allem in den Kultur- und Sozialwissenschaften kaum anwendbar ist, bleibt die Dialogische Theorie dem von Popper und Bachelard 32 eingeführten negativen Prinzip verpflichtet, weil die Ausrichtung auf das Andere stets eine „Erschütterung“ der eigenen Glaubenssätze mit sich bringt. Das dialogische Denken ist also stets ein Gegen-sich-selbst- Denken, das auf die Präsenz des anderen ausgerichtet ist. Im letzten Abschnitt und im nächsten Kapitel soll gezeigt werden, daß dieses Denken nicht nur Kritik und „Erschütterung“ hervorbringt, sondern auch Wahrheitsmomente, die es zu bewahren gilt. 33 3. Interdiskursive Theoreme Der Gedanke, der hier zum Abschluß entwickelt werden soll, kann in wenigen Worten zusammengefaßt werden: Theoreme, die zwischen heterogenen Gruppensprachen zustande kommen, haben einen anderen, allgemeineren Status als Theoreme, die nur innerhalb von einer Wissenschaftlergruppe konsensfähig sind. Wieder geht es um das von der Sozialwissenschaftler um einander“ in den Mittelpunkt der wissenschaftlichen Problematik, statt sich der objektorientierten Forschung zu widmen. Dabei geht er von der Vorstellung einer homogenen scientific community aus, die „ein Objekt“ analysiert. Das von ihm übergangene Problem besteht darin, daß die scientific community ideologisch heterogen ist und daß ein Objekt wie „Religion“ oder „Kunst“ auf viele widersprüchliche Arten konstruiert werden kann. Deshalb ist der subjektive Faktor wichtig - und der Dialog zwischen Subjekten. [G. Endruweit, „Regeln für interdisziplinäre Forschung statt einer Theorie des Holzwegs“, in: Ethik und Sozialwissenschaften 4, 1999, S. 614.]) 32 Vgl. G. Bachelard, La Philosophie du non, Paris, PUF (1940) 1983, S. 32: „Il n’y a qu’un moyen de faire avancer la science, c’est de donner tort à la science déjà constituée (...).“ 33 In seinen Kommentaren zur Dialogischen Theorie schreibt Erich H. Witte: „Der Gegenstand der Diskussion scheint mir weniger die Theoriebildung zu sein als vielmehr die Theorieprüfung.“ (E. H. Witte, „Teamfähigkeit und Moderation in den Sozialwissenschaften beim theoretischen Diskurs“, in: Ethik und Sozialwissenschaften 4, 1999, S. 655.) Der Grundgedanke, der im Zweiten und Dritten Teil dieses Buches entwickelt wird, ist „Theoriebildung durch interdiskursive Theorieprüfung“. Zu den Ergebnissen gehören die „interdiskursiven Theoreme“. <?page no="274"?> 260 Glasersfeld formulierte Desiderat, daß „Viabilität“ über die Grenzen einer Gruppe hinausgehen soll. Als erstes soll das (im allgemeinsten Sinne) konstruktivistische Theorem betrachtet werden, dem zufolge unsere Theorien Wirklichkeit nicht mimetisch wiedergeben, sondern konstruieren. Dieses Theorem ist nicht nur in verschiedenen Varianten des Konstruktivismus, sondern, wie sich gezeigt hat, auch in der Kritischen Theorie und in Prietos Semiotik verankert. Es könnte in aller Kürze so formuliert werden: „Die Wirklichkeit als wissenschaftliches Objekt ist stets ein Konstrukt des Theoretikers.“ Freilich nimmt dieses Theorem innerhalb des Radikalen Konstruktivismus (der anderen Konstruktivismen), der Kritischen Theorie und der Semiotik (Prietos) verschiedene Bedeutungen kann, so daß eine strenge Synonymie nie gegeben ist (s.o.). Es mag sich in allen drei Fällen gegen Hegels Identitätsdenken richten. In der Kritischen Theorie und in der Semiotik Prietos wird es jedoch auch auf die ideologischen und kollektiven Faktoren bezogen, die beim Zustandekommen der Objektkonstruktion eine Rolle spielen. Ein radikaler Konstruktivist und Individualist wie Glaserfeld wird diese Faktoren möglicherweise nicht gelten lassen. Statt dessen wird er u.U. - mit Maturana - neurobiologische Faktoren in die Diskussion einbringen wollen. Doch gerade das ist der Sinn des interdiskursiven Dialogs: den Satz „Die Wirklichkeit als wissenschaftliches Objekt ist stets ein Konstrukt des Theoretikers“ in möglichst vielen Diskursen und Soziolekten bedeuten zu lassen. Völlige Synonymie oder semantische Übereinstimmung würde den Dialog zur Sterilität verurteilen. Er lebt von einer begrenzten, kontrollierbaren Polysemie, von einer „equivalence in difference“ 34 , wie Roman Jakobson im Zusammenhang mit der Linguistik der Übersetzung sagt. So wäre das Hauptanliegen einer interdisziplinären Tagung, die diesen Satz zum Gegenstand hätte, ihn in möglichst vielen Kontexten zu konkretisieren: philosophisch, semiotisch, soziologisch, biologisch. Der dabei auftretende Dissens, der weiter oben schon skizziert wurde, ist alles andere als ein Nachteil. Vielmehr garantiert er die Heterogenität der Standpunkte und die Offenheit des Dialogs. Er sorgt dafür, daß der erreichte Konsens nicht zu einer Doxa erstarrt - wie so 34 R. Jakobson, „On Linguistic Aspects of Translation“, in: L. Venuti (Hrsg.), The Translation Studies Reader, London-New York, Routledge, 2001, S. 114. <?page no="275"?> 261 mancher Konsens innerhalb eines Soziolekts. Im interdiskursiven oder interkollektiven Dialog halten Konsens und Dissens einander die Waage, und der letztere verhindert jede Form von selbstzufriedener Dogmatisierung im Rahmen einer Ideologie. Ein anderes interdiskursives Theorem, das der Intention dieses Buches widerspricht, könnte wie folgt formuliert werden: „Wissenschaftliche Wahrheit ist weder subjektiv noch intersubjektiv, sondern das Produkt anonymer Verfahren, die im System (Luhmann), Feld (Bourdieu) oder im wissenschaftlichen Prozeß (Althusser) ablaufen.“ An der ideologisch-theoretischen Heterogenität der hier beteiligten Ansätze ist kaum Zweifel möglich: Der Gegensatz zwischen Luhmann und Bourdieu wurde im neunten Kapitel ausführlich kommentiert; außerdem ist bekannt, daß sich Luhmann immer wieder vom Marxismus und Bourdieu von Althussers Variante des historischen Materialismus distanziert haben. 35 Das Theorem hat also interdiskursiven Charakter und sollte ernstgenommen werden. Dennoch ist es nicht über jeden Zweifel erhaben - ebensowenig wie das konstruktivistische Theorem. Ein Einwand liegt auf der Hand: Sowohl Luhmann als auch Bourdieu und Althusser orientieren sich in ihren Wissenschaftstheorien vorwiegend an den Naturwissenschaften, in denen ideologische und subjektive Faktoren (wie sich im dritten Kapitel gezeigt hat) kaum eine Rolle spielen. In den Naturwissenschaften sind im lexikalischen und semantischen Bereich keine ideologischen Interferenzen nachweisbar. Befürworter des Theorems müßten zeigen, daß dies auch in den Kultur- und Sozialwissenschaften der Fall ist. Das dürfte ihnen schwerfallen, weil hier die „kollektiven Subjekte“ 36 , von denen bei Bourdieu die Rede ist, als ideologische Instanzen eine entscheidende Rolle spielen. Die provisorische Schlußfolgerung müßte daher lauten, daß dieses interdiskursive Theorem eher auf die Naturwissenschaften als auf die Kultur- und Sozialwissenschaften anwendbar ist. Doch sollte man nicht allzu bereitwillig mit diesem Urteil vorliebnehmen. Es könnte sich herausstellen, daß auch in den Kultur- und Sozialwissenschaften Erkenntnisprozesse anonymer sind als bisher angenommen wurde. Daher erscheint es sinnvoll, das Theorem auch in diesem Bereich zu 35 Vgl. z.B. P. Bourdieu, Was heißt sprechen? Die Ökonomie des sprachlichen Tausches, Wien, Braumüller, 1990, Kap. III, 2. 36 Vgl. P. Bourdieu, Science de la science et réflexivité, Paris, Raisons d’agir, 2001, S. 139. <?page no="276"?> 262 testen - und weiterhin zu versuchen, nach Robert Musils selbstironischem Rezept gegen sich selbst zu denken: „Unterhalten wir uns ein wenig mit uns selbst Herr Musil. Sie haben also Tage, wo sie die Künstler nicht lieben? “ 37 Es mag auch Tage geben, an denen man die Theoretiker nicht liebt und das ganze theoretische Unternehmen „von außen“ beargwöhnt. 37 R. Musil, Aus den Tagebüchern, Frankfurt, Suhrkamp, 1971, S. 31. <?page no="277"?> 263 XIV. Der interdiskursive Dialog: Praxis Zu der Frage nach den Voraussetzungen und Möglichkeiten des theoretischen Dialogs, die bisher im Mittelpunkt stand, gesellt sich die Frage: „Wozu? “ Sie ist nicht als Konzession an eine Zeit zu verstehen, die sogar das Denken nach utilitaristischen Gesichtspunkten beurteilt, sondern als Versuch, den theoretischen Dialog zu konkretisieren: zu zeigen, daß er neue Fragestellungen und Begriffe zeitigt, die es uns gestatten, unsere Objekte mehrdimensional und präziser zu konstruieren. Im wesentlichen geht es hier um zwei Debatten, von denen die eine als historisch zu bezeichnen ist, während die andere noch nicht als abgeschlossen gelten kann und im zweiten Abschnitt dieses Kapitels durch einen Theorievergleich ergänzt und erweitert wird. Es geht weder im ersten noch im zweiten Fall darum, die Debatte als solche in allen Einzelheiten darzustellen, sondern darum, das zentrale Problem zu umreißen, die gegensätzlichen Positionen zu bestimmen und die Ergebnisse auf ihre Bedeutung für die wissenschaftliche Praxis hin zu befragen. Während die Formalismus-Marxismus-Debatte, die hier an erster Stelle steht, vor allem für die Literatur- und Kunstwissenschaft von Bedeutung ist, betrifft die Auseinandersetzung zwischen Derrida und der anglo-amerikanischen Sprechakttheorie alle Kultur- und Sozialwissenschaften, weil sie die Bedeutung der Wiederholung für die Eindeutigkeit bzw. Mehrdeutigkeit von Aussagen und Begriffen analysiert. Das mitunter sehr polemisch geführte Gespräch zwischen Jacques Derrida und John R. Searle wird hier durch eine Konfrontation zwischen Derridas Dekonstruktion und Greimas’ Strukturaler Semiotik ergänzt, und zwar im Hinblick auf zwei zentrale Begriffe, die einander dialogisch-dialektisch ergänzen: Iterativität und Iterabilität. Obwohl in dem hier entworfenen Zusammenhang das Wort „Praxis“ vor allem die Anwendbarkeit solcher Begriffe in wissenschaftlichen Arbeiten und künftigen Debatten meint, bezieht es sich auch auf den Ablauf theoretischer Diskussionen. Wie der „Positivismusstreit“, der im letzten Abschnitt noch einmal zur Sprache kommt, werden solche Diskussionen immer wieder von Mißverständnissen, sinnentstellenden Wiedergaben und Polemiken behindert. Deshalb ist die im vorigen Kapitel erörterte Frage nach der Rekon- <?page no="278"?> 264 struktion von Theoremen und Theorien wichtig: Denn ohne eine vom Gesprächspartner nachvollziehbare, kontextbezogene Rekonstruktion ist kein vernünftiger Dialog denkbar. Behindert werden Diskussionen freilich auch durch ideologische Interferenzen, die in den Kultur- und Sozialwissenschaften jedoch nicht zu vermeiden sind, weil es in diesem Bereich ohne ideologische Impulse kaum Theorien gäbe. Ausdrücke wie „ökologische Betrachtungsweise der Sprache“ 1 , „feministische Soziologie oder Linguistik“ oder „marxistische Literaturwissenschaft“ zeugen von diesem Tatbestand. Die Ambivalenz der Ideologie tritt immer dann zutage, wenn das ideologische Engagement den theoretischen Verständigungsprozeß blockiert. Die Debatte zwischen russischen Formalisten und Marxisten, die vornehmlich in den 20er Jahren des vorigen Jahrhunderts stattfand, stellt dieses Problem anschaulich dar. 1. Formalismus und Marxismus: Das „Wie“ und das „Warum“ Die formale Methode (formalnyj metod), wie die Formalisten vor allen Mißverständnissen und Entstellungen ihren Ansatz nannten, entstand in einer sozio-linguistischen Problematik, in der es galt, zwei etablierte Denkrichtungen in der Literaturwissenschaft und Literaturkritik herauszufordern: einen z.T. metaphysisch fundierten Symbolismus und einen auf historische und biographische Tatsachen oder Kausalzusammenhänge ausgerichteten Positivismus. Vor allem in ihren Auseinandersetzungen mit den Symbolisten konnten sich die Formalisten auf ihre avantgardistischen Weggefährten, die Futuristen, stützen: „Das verbindende Element zwischen den Futuristen und den Erforschern der poetischen Sprache war neben der allgemeinen (...) Grundstimmung, ihr Feindbild: die Symbolisten.“ 2 Stärker als die französischen Symbolisten (Leconte de Lisle, Verlaine) stellten die russischen Symbolisten die Suche nach dem Mysterium in den Mittelpunkt ihres Schaffens. Dieser Suche setzten Formalisten und Futuristen eine „materielle“ Ästhetik der Innovation 1 Vgl. A. Fill, Wörter zu Pflugscharen. Versuch einer Ökologie der Sprache, Wien, Böhlau, 1987, S. 9. 2 W. Raible, „Roman Jakobson oder ‚Auf der Wasserscheide zwischen Linguistik und Poetik‘“, in: R. Jakobson, Aufsätze zur Linguistik und Poetik, München, Nymphenburger Verlagshandlung, 1974, S. 9-10. <?page no="279"?> 265 und Verfremdung entgegen. Ihnen ging es nicht darum, dem Geheimnis hinter den Erscheinungen nachzuspüren, sondern um die Befreiung der vieldeutigen poetischen Sprache von den Klischees des Alltags, der Religion und der Ideologie. Diese Befreiung war nur im Rahmen einer Autonomieästhetik durchführbar, die alle positivistischen Versuche ausschloß, das Kunstwerk genetisch aus der Künstlerbiographie abzuleiten oder es als psychologisch-biographisches Dokument zu monosemieren. Demnach wäre die formale Methode im Rahmen einer soziolinguistischen Problematik zu rekonstruieren, in der die Soziolekte des Futurismus, des Symbolismus, des Positivismus und des Marxismus zusammenwirkten. Da sich die Formalisten in diesem Kontext sowohl gegen die metaphysischen Deutungen der Symbolisten als auch gegen die positivistischen Reduktions- und Monosemierungsversuche wandten, ist es nicht verwunderlich, daß sie sich für eine Autonomieästhetik im Sinne von Kant entschieden: d.h. für eine Ästhetik, die eine Übersetzung des Kunstwerks (des Schönen, Kant) ins Begriffliche ablehnt. Wie Kant sind die Vertreter der formalen Methode der Ansicht, daß das Schöne „ohne Begriff“ gefällt, und daß Kunst nicht Ideen ausdrücken, sondern, wie Šklovskij sagt, „neues Sehen“ ermöglichen soll: „Ziel des Bildes ist nicht die Annäherung seiner Bedeutung an unser Verständnis, sondern die Herstellung einer besonderen Wahrnehmung des Gegenstandes, so daß er ‚gesehen‘ wird, und nicht ‚wiedererkannt‘.“ 3 Es geht also auch darum, die Phantasie des Betrachters von den Fesseln der Alltagskommunikation zu befreien. Dazu bemerkt Ewa Thompson: „Obwohl Šklovskij möglicherweise nicht mit Kants Konzept in dessen Originalfassung vertraut war, argumentiert er in Übereinstimmung mit Kant.“ 4 Die Ausrichtung der Methode auf Kants Theorem „ohne Begriff“ läßt die Frage nach der formalen Beschaffenheit des Kunstwerks, nach dem „Wie“ in den Mittelpunkt der formalen Ästhetik rücken. Die Titel einiger formalistischer Aufsätze enthalten diese Frage nach dem „Wie“: „Wie Gogols Mantel gemacht ist“ (B. Ejchenbaum), „Wie der Don Quijote gemacht ist“ (V. Šklovskij). 3 V. Šklovskij, „Die Kunst als Verfahren“, in: J. Striedter (Hrsg.), Russischer Formalismus, München, Fink, 1969, S. 25. 4 E. M. Thompson, Russian Formalism and Anglo-American New Criticism. A Comparative Study, Den Haag, Mouton, 1971, S. 68. <?page no="280"?> 266 Daß diese Fragestellung Einseitigkeiten zeitigt, weil sie historische und gesellschaftliche Faktoren (zumindest tendenziell) ausblendet, läßt ein vielzitierter Satz Šklovskijs erkennen: „Eine neue Form entsteht nicht, um einen neuen Inhalt auszudrücken, sondern um eine alte Form abzulösen, die ihren Charakter als künstlerische Form bereits verloren hat.“ 5 Für die Rekonstruktion des formalistischen Modells ist - außer dem literarischen und ästhetischen - auch der soziale und ideologische Kontext wichtig. Als Theoretiker, die (intuitiv) von Kant ausgehen und einen idealisierten Betrachter (das neue Sehen) zum Ausgangspunkt ihrer Diskurse machen, argumentieren die Formalisten im Rahmen eines individualistischen Aktantenmodells, das in mancher Hinsicht mit den kantianischen Modellen der kritischen Rationalisten und radikalen Konstruktivisten übereinstimmt und kollektive Faktoren ausklammert. In der nachrevolutionären sprachlichen Situation der 20er Jahre geraten sie dadurch in einen unüberbrückbaren Gegensatz zu russischen Marxisten wie Lev Trockij und Anatolij V. Lunačarskij, die im Rahmen eines kollektiven Aktantenmodells und einer stark vereinfachten hegelianischen Ästhetik argumentieren. Sie nehmen nicht den Standpunkt des idealisierten Einzellesers oder Betrachters ein, sondern den des historischen Produzenten, der im Klassenkampf eindeutig Partei ergreift. Mit Hegel räumen sie zwar ein, daß Kunst nicht unser begriffliches Vermögen, sondern unsere Sinne anspricht, setzen sich jedoch mit Hegel über das Kantsche „Ohne Begriff“ hinweg: Letztlich erscheint ihnen Kunst als in begriffliches Denken übertragbar, als monosemierbar. Charakteristisch für die Debatte der 20er Jahre ist u.a. die Tatsache, daß weder die ästhetischen Modelle noch die Diskurse der beiden Theorienkomplexe rekonstruiert wurden. In ihren Kritiken gingen die Marxisten stillschweigend von ihren hegelianischen Prämissen aus, ohne sich um die kantianischen und avantgardistischen 6 Prä- 5 V. Šklovskij, „Der Zusammenhang zwischen den Verfahren der Sujetfügung und den allgemeinen Stilverfahren“, in: J. Striedter (Hrsg.), Russischer Formalismus, op. cit., S. 51. 6 Zum Widerspruch zwischen kantianischen und avantgardistischen Theoremen im Formalismus vgl. Vf., „Formalismus und Strukturalismus zwischen Autonomie und Engagement“, in: W. F. Schwarz (Hrsg.), Prager Schule: Kontinuität <?page no="281"?> 267 missen der Formalisten zu sorgen. Im Mittelpunkt ihrer Argumentationen steht Hegels Definition der Kunst als „sinnliches Scheinen der Idee“. So bemerkt beispielsweise Bucharin: „Wesentlich für die Kunst ist der emotionale Charakter des Materials.“ 7 Und Lunačarskij konkretisiert diesen im wesentlichen hegelianischen Gedanken, wenn er in einem kritischen Kommentar zum „Formalismus in der Kunstwissenschaft“ (1924) erklärt: „Wie muß die Idee in der Kunst aussehen, um, ohne nur abstrakter Gedanke zu sein, dem ideologischen Bereich zuzugehören? - Es ist evident, daß sie den Charakter des Gefühls tragen muß.“ 8 Es ist auch evident, daß sich diese Fragestellung mit der formalistischen kaum berührt, weil Lunačarskij Gedanken und Gefühle miteinander vermitteln will, ohne sich um die Beschaffenheit der Werke, um ihr „Wie“ zu kümmern. Ejchenbaum hebt aber das „Wie“ hervor und bezeichnet die Formalisten als „Spezifizierer“: „Wir sind keine ‚Formalisten‘, sondern, wenn Sie so wollen, Spezifizierer.“ 9 Das „Wie“ der formalen Methode bezieht sich also auf das Spezifische der Kunst und des einzelnen Kunstwerks: auf etwas, das die Marxisten mit ihren Fragen nach dem ideellen „Gehalt“ und dem „Warum“ verdecken. Daß dieses „Warum“ die marxistische Ästhetik in ihrer russischen Variante beherrscht, zeigt Trockijs apodiktische Behauptung: „Aber nur der Marxismus ist fähig zu erklären, warum und woher in einer gegebenen Epoche eine bestimmte Richtung in der Kunst entstanden ist (...).“ 10 Gerade diese genetische Frage, die keineswegs trivial ist, wird jedoch von dem „Spezifizierer“ Boris Ejchenbaum explizit ausgeklammert: „Die Frage der Genese literarischer Erscheinungen (ihre Verbindung mit Fakten der Umwelt und der Ökonomie, mit der indi- und Wandel. Arbeiten zur Literaturästhetik und Poetik der Narration, Frankfurt, Vervuert, 1997, S. 306-309. 7 N. I. Bucharin, „Über die Formale Methode in der Kunst“ (Stenogramm einer Rede gehalten in der Diskussion ‚Kunst und Revolution‘ am 13. März 1925), in: H. Günther (Hrsg.), Marxismus und Formalismus. Dokumente einer literaturtheoretischen Kontroverse, Frankfurt-Berlin-Wien, Ullstein, 1976, S. 64. 8 A. V. Lunačarskij, „Der Formalismus in der Kunstwissenschaft“, in: H. Günther (Hrsg.), Marxismus und Formalismus, op. cit., S. 89. 9 B. M. Ejchenbaum, „Zur Frage der Formalisten (Überblick und Antwort)“, in: H. Günther (Hrsg.), Marxismus und Formalismus, op. cit., S. 72. 10 L. Trotzki, Literatur und Revolution, München, DTV, 1972, S. 149. <?page no="282"?> 268 viduellen Psychologie oder Physiologie des Autors usw. ohne Ende) wird bewußt zurückgewiesen (...).“ 11 Diese Zurückweisung trug nicht gerade zur Verständigung zwischen Formalisten und Marxisten bei, deren Dialog außerdem durch grobe ideologische Vereinfachungen und die repressive Politik der Marxisten-Leninisten erheblich erschwert wurde. Unter solchen Bedingungen war eine Rekonstruktion der ästhetischen, ideologischen und diskursiven Prämissen der beiden Bewegungen kaum möglich. Im Anschluß an solche Überlegungen drängt sich die Frage auf, welche Bedeutung ein gescheiterter Dialog dieser Art für ein besseres Verständnis der Kunst haben kann. Die Antwort kann recht knapp ausfallen: Durch das Aufeinandertreffen zweier ideologisch heterogener Positionen kamen zwei scheinbar unvereinbare, in Wirklichkeit aber komplementäre Fragen auf - die formale Frage nach dem „Wie“ und die genetische Frage nach dem „Warum“. Die Auseinandersetzung zwischen Formalisten und Marxisten erwies sich - nachträglich - als außerordentlich fruchtbar, zumal schon Zeitgenossen der Formalisten versuchten, diese Fragen aufeinander zu beziehen und methodisch zu kombinieren. So steht in Pavel Medvedevs Buch Die formale Methode in der Literaturwissenschaft (einer Kritik am Formalismus) die doppelte Frage nach dem „Warum“ des „Wie“ im Mittelpunkt: „Mit einem Wort, der Formalismus kann nicht konzedieren, daß ein äußerlicher sozialer Faktor, der auf Literatur einwirkt, zum inneren Faktor der Literatur selbst werden kann, zu einem Faktor ihrer immanenten Entwicklung.“ 12 Es geht hier um das dialektische Problem der Vermittlung: Die sprachlichen, religiösen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Probleme wohnen dem literarischen Text inne. Sie sind nicht mechanisch als äußere Einflüsse zu verstehen. Medvedev, Bachtin und Vološinov waren unter den ersten, die versuchten, die literarische und künstlerische Form als gesellschaftliches Faktum zu verstehen und das „Wie“ mit dem „Warum“ zu vermitteln. Für Bachtin sind die Vielstimmigkeit des Romans und seine Erzählstruktur aus dem in der Volkskultur verankerten Karnevalsge- 11 B. Ejchenbaum, „Zur Frage der Formalisten“, in: H. Günther (Hrsg.), Marxismus und Formalismus, op. cit., S. 77-78. 12 P. N. Medvedev, Die formale Methode in der Literaturwissenschaft (1928), Hrsg. H. Glück, Stuttgart, Metzler, 1976, S. 89. <?page no="283"?> 269 schehen ableitbar. Die Sprachformen, denen die Aufmerksamkeit der Formalisten galt, sind zugleich gesellschaftliche und gesellschaftskritische Formen. 13 Das interdiskursive Theorem könnte in diesem Fall lauten: „Die Form als Verfahren ist selbst gesellschaftlich.“ Diese Gedankengänge, die von der Einheit der Gegensätze, von der Einheit des „Wie“ und des „Warum“, ausgehen, fielen in Westeuropa und Nordamerika auf fruchtbaren Boden und wurden in Großbritannien von Tony Bennett 14 , in Frankreich von Edmond Cros und Julia Kristeva weiterentwickelt. Ohne den formalistisch-marxistischen Dialog 15 hätte weder Cros seine Theorie der „Ideoseme“ 16 entwerfen noch Kristeva ihre psychoanalytisch fundierte Soziosemiotik auf Mallarmé und Lautréamont anwenden können. 17 Zu Recht bemerkt William Garrett Walton zur Formalismus-Marxismus-Debatte: „Jede der beiden Schulen bot eine Methodologie für einen Teil des Problems an, doch jede wies große blinde Flecken auf.“ 18 Im Dialog als Diskussion oder Theorievergleich geht es darum, diese blinden Flecken durch die „Erschütterung“ beider Modelle in Erscheinung treten zu lassen und zu beseitigen. Dabei können neue Theorien entstehen, die umfassender und nuancierter sind als die ursprünglichen Ansätze. Möglicherweise ist das als Fortschritt zu deuten. 13 Vgl. M. M. Bachtin, „Rabelais und Gogol. Die Wortkunst und die Lachkultur des Volkes“, in: ders., Die Ästhetik des Wortes, Hrsg. R. Grübel, Frankfurt, Suhrkamp, 1979, S. 345-347. 14 Vgl. T. Bennett, Formalism and Marxism, London-New York, Routledge (1979), 1989, Kap. VIII: „Work in Progress“. 15 Dieser Dialog war auch für die vom Vf. entwickelte Textsoziologie als Soziosemiotik, auf der dieses Buch teilweise gründet, von entscheidender Bedeutung. Vgl. Vf., Textsoziologie. Einführung und Kritik, Stuttgart, Metzler, 1980 sowie Manuel de sociocritique, Paris (1985), L’Harmattan, 2000. 16 Vgl. E. Cros, De l’engendrement des formes, Montpellier, Etudes Sociocritiques, 1990, S. 50. 17 Vgl. J. Kristeva, La Révolution du langage poétique. L’avant-garde à la fin du XIX e siècle: Lautréamont et Mallarmé, Paris, Seuil, 1974, S. 214. 18 W. G. Walton, „V. N. Voloshinov: A Marriage of Formalism and Marxism“, in: P. V. Zima (Hrsg.), Semiotics and Dialectics. Ideology and the Text, Amsterdam, Benjamins, 1981, S. 51. <?page no="284"?> 270 2. Sprechakttheorie, Semiotik und Dekonstruktion: Wiederholung als Iterativität und Iterabilität Die Kontroverse, die in den 70er und 80er Jahren zwischen der Sprechakttheorie John L. Austins und John R. Searles einerseits und Derridas Dekonstruktion andererseits stattfand, mündet hier in einen Theorievergleich, der auf Greimas’ semiotischen Begriff der Iterativität ausgedehnt wird. Dies geschieht nicht, um die Komplexität einer ohnehin schwierigen Debatte ins Unermeßliche zu steigern, sondern um die beiden konträren Begriffe Iterativität (Greimas) und Iterabilität (Derrida), die sich symmetrisch zueinander verhalten, zusammenzuführen. Die Debatte ist für jede Art von Theoriebildung von Bedeutung, weil sie auch Probleme der semantischen Wiederholung und der theoretischen Reflexion berührt. Es geht hier in allen drei Fällen um die für alle Theorien wesentliche Frage nach der Möglichkeit einer eindeutigen Bedeutungszuordnung und nach der Identität von Bedeutung in der Wiederholung. Während die Sprechakttheorie Austins und Searles mit der (ansonsten stark von ihr abweichenden) Greimasschen Semiotik in der Annahme übereinstimmt, daß die Wiederholung einer sprachlichen Einheit deren Identität nicht grundsätzlich in Frage stellt, behauptet Derrida, daß Wiederholung stets Sinnverschiebungen mit sich bringt, so daß die Identität der wiederholten Einheit nicht gewahrt bleibt. Auch in diesem Fall erscheint es notwendig, das in den Debatten Versäumte nachzuholen, und die philosophisch-ideologischen Hintergründe der beiden Ausgangspositionen in aller Knappheit darzustellen. Während die Sprachakttheorie von einem individualistischen Rationalismus im Sinne von Carnap, Frege und Russell ausgeht, der weder an der Definierbarkeit von Begriffen noch an der eindeutigen Bestimmbarkeit von Aussagen zweifelt, radikalisiert Derrida Nietzsches Theorie der Tropen und stellt dadurch die Begrifflichkeit als solche in Frage. Im Gegensatz zu Austin und Searle, die weiterhin an der Vorstellung von einem autonomen Subjekt festhalten, das für eine eindeutige Intentionalität verantwortlich gemacht werden kann, dekonstruiert Derrida die individuelle Subjektivität zusammen mit deren Intentionalität und deren Sprechakten. Den Streit mit Searle löste ein Vortrag aus, den Derrida unter dem Titel „Signature, événement, contexte“ im Jahre 1971 in Montreal hielt. Das Thema der Tagung war: „La Communication“. In seiner ra- <?page no="285"?> 271 dikalen Kritik an der Sprechakttheorie Austins stellt Derrida - zumindest implizit - die Möglichkeit von Kommunikation in Frage. Er tut es, indem er in Übereinstimmung mit seiner Philosophie 19 die Sinngegenwart als présence du sens für illusorisch erklärt. Dabei zweifelt er auch an der von Austin postulierten Unterscheidung zwischen ernstgemeinten und nicht ernstgemeinten Sprechakten, die eine stabile, mit sich selbst identische Intentionalität voraussetzt. Derrida erscheint sie als eine Schimäre, weil, wie Austin und Searle selbst zugeben, Sprechakte immer in offenen Kontexten auftreten, deren einziges a priori die Wiederholung als Sinnverschiebung ist, die das zersetzt, was Searle als „meaning“ bezeichnet. „Understanding a sentence is knowing its meaning“ 20 , schreibt er in Speech Acts. Komplementär dazu heißt es in Searles Replik, die Austins Ansatz in Schutz nimmt: „Insofern als der Autor sagt, was er sagen will, drückt der Text seine Intentionen aus.“ 21 Deren Bedeutung ist aber kontextabhängig. Dazu bemerkt Derrida im Zusammenhang mit Austins Sprechakttheorie: „Damit sich ein Kontext in dem von Austin geforderten Sinne erschöpfend bestimmen läßt, ist es zumindest notwendig, daß die bewußte Intention sich selbst und den anderen vollkommen gegenwärtig und wirklich transparent sei, da sie ein bestimmender Mittelpunkt des Kontextes ist.“ 22 Da dieser Kontext jedoch offen, unabschließbar ist und sich nicht erschöpfend bestimmen läßt 23 , kann eine „vollkommen gegenwärtige“ und „wirklich transparente“ Intention in keinem Sprechakt ausgedrückt werden, zumal der offene Kontext eine Wiederholung mit Sinnverschiebung voraussetzt. Diese Art von Wiederholung nennt Derrida itérabilité (Iterabilität). In Limited Inc., einer langen Auseinandersetzung mit Searles Replik, erklärt er: „Die Iterabilität verändert und kontaminiert auf parasitäre Art gerade das, was sie identifiziert und wiederholt; sie bewirkt, daß man (immer schon, auch) etwas anderes sagen will, als man sagen 19 Vgl. J. Derrida, Die Stimme und das Phänomen, Frankfurt, Suhrkamp, 1979, S. 13. 20 J. R. Searle, Speech Acts. An Essay in the Philosophy of Language, Cambridge, Univ. Press (1969), 1977, S. 48. 21 J. R. Searle, „Reiterating the Differences. A Reply to Derrida“, in: Glyph 1, 1977, S. 202. 22 J. Derrida, Randgänge der Philosophie, Wien, Passagen, 1988, S. 311. 23 Vgl. J. Derrida, Limited Inc., Paris, Galilée, 1990, S. 253. <?page no="286"?> 272 will, etwas anderes sagt, als man sagt und sagen möchte, etwas anderes versteht... usw.“ 24 Die Iterabilität erscheint hier als ein Prozeß, der die Textkohärenz zerfallen läßt. Diesem dekonstruktivistischen Argument, das alles andere als obskur ist, fehlt es nicht an analytischer Plausibilität. In fast jedem theoretischen Gespräch kommt es zu nicht intendierten Sinnverschiebungen, von denen Redewendungen wie „Wenn ich Sie richtig verstanden habe...“ - „Das wollte ich damit nicht gesagt haben...“ usw. zeugen. Zu den Ergebnissen dieser Sinnverschiebung als Iterabilität gehören auch die 21 Bedeutungen des Wortes „Paradigma“ („possibly more, not less“, M. Masterman), die im fünften Kapitel kommentiert wurden. Daß Kuhns Paradigma-Begriff schließlich restlos dem Prozeß der Iterabilität überantwortet wurde, bis er bei Pipi Langstrumpf anlangte, wurde dort ebenfalls gezeigt. Hier drängt sich die Frage auf, ob Iterabilität nicht allen Kommunikationssituationen zugrunde liegt, eine unversiegbare Quelle von Mißverständnissen bildet und alle Gespräche - vom Positivismusstreit bis zur Derrida-Searle-Debatte - vorab zum Scheitern verurteilt. Sie ist sicherlich ein ernstzunehmender Faktor, zumal wenn ihre zersetzende Wirkung durch Rhetorik und Polemik potenziert wird. Schon der Titel Limited Inc., den Derrida seiner Replik in Buchform gab, läßt Zweifel an seiner Bereitschaft aufkommen, auf die Argumente der Gegenseite einzugehen: Nur weil sich J. R. Searle auf H. Dreyfus und D. Searle beruft, mit denen er Derridas Einwände gegen die Sprechakttheorie (sinnvollerweise) diskutiert hat, meint der Dekonstruktivist, es mit einem anonymen Gesprächspartner zu tun zu haben, und schreibt Searle als Sarl (Société à responsabilité limitée, d.h. Gesellschaft mit beschränkter Haftung oder Limited Inc.). Solche Verfahren mögen der Leserbelustigung dienen; ein vernünftiges Gespräch behindern sie eher. Zum Glück ist die dekonstruktivistische Iterabilität nicht der Weisheit letzter Schluß. Denn Searles pragmatische Behauptung, ein Text drücke unter normalen Verhältnissen die Intention seines Autors aus (s.o.), wird nicht nur von unserer Alltagserfahrung bestätigt, in der lokutionäre, illokutionäre und perlokutionäre Sprechakte gewöhnlich unsere Erwartungen erfüllen, sondern auch von Greimas’ Strukturaler Semiotik. In dieser Theorie wird mit dem Isotopiebegriff der Gegen- 24 Ibid., S. 120. <?page no="287"?> 273 begriff zur „Iterabilität“ geprägt und in etymologischer Übereinstimmung mit dem untersuchten Phänomen (iter = Weg, iterare = wiederholen) als Iterativität bezeichnet: „Die Iterativität ist die Reproduktion auf syntagmatischer Achse von identischen oder vergleichbaren Größen, die sich auf derselben Analyseebene befinden.“ 25 Komplementär dazu wird der Begriff der semantischen Isotopie definiert als „Wiederholtes Auftreten (itérativité) von Klassemen auf syntagmatischer Achse, das die Homogenität des Diskurses gewährleistet“. 26 In diesen Definitionen wird die Wiederholbarkeit des Identischen offenbar vorausgesetzt. Vorausgesetzt wird zugleich, daß die Wiederholung nicht zur Sinnverschiebung und zum Zerfall der Textkohärenz führt, sondern, im Gegenteil, den Sinnzusammenhang stärkt. Dieser kommt dadurch zustande, daß verschiedene sich wiederholende Wörter als Sememe einen gemeinsamen Oberbegriff als Klassem aufweisen. So ist ein einfacher Satz wie „Der Schüler ißt“ (Greimas’ Beispiel) kohärent, weil die Wörter „Schüler“ und „essen“ das gemeinsame Klassem „menschlich“ aufweisen. Analog dazu ist Searles Satz „Understanding a sentence is knowing its meaning“ kohärent, weil die wichtigsten Wörter dieses Satzes das Klassem „kognitiv“ enthalten. Nun könnte Derridas Kritik dort einhaken, wo Greimas’ Definition der „Iterativität“ eine Schwachstelle aufweist: nämlich bei dem Ausdruck „von identischen oder vergleichbaren Größen“. Identisch oder vergleichbar? Was vergleichbar ist, ist eben nicht mehr identisch, und die latente Konzession an die Sinnverschiebung innerhalb der semiotischen Definition läßt erkennen, wie sehr die Iterabilität der strukturalen Semantik selbst innewohnt. Dieses Argument ist nicht von der Hand zu weisen, weil es zeigt, wie unzertrennlich „Iterabilität“ und „Iterativität“ sind. 27 Der theoretische Spieß läßt sich jedoch - ohne sophistische Absicht - leicht umdrehen: Wenn sich Derrida im Verlauf der Debatte immer wieder gegen Mißverständnisse wehrt und sich bemüht, die 25 A. J. Greimas, J. Courtés, Sémiotique. Dictionnaire raisonné de la théorie du langage, Paris, Hachette, 1979, S. 199. 26 Ibid., S. 197. 27 Eine weiterführende Diskussion zum Gegensatz von „Iterativität“ und „Iterabilität“ fand in den 90er Jahren statt: Der unzitierbare Text. Ein Gespräch, initiiert von Peter V. Zima und herausgegeben von Alexander Schwarz, Tausch, Bd. 10, Bern-Berlin-Paris, Lang, 1997. Darin vor allem O. Keller, „Wiederholung als Äquivalenz und das Problem der Totalisierung“. <?page no="288"?> 274 Bedeutung von „Iterabilität“ zu erläutern 28 , so zeigt er - malgré lui -, daß er sich doch auf die rationalistischen Postulate von Identität und Kohärenz verläßt. Gäbe es diese Identität des Gesagten in der Wiederholung nicht, gäbe es nur Iterabilität - und folglich kein Mißverständnis. Mißverständnisse können nur dort auftreten, wo konstante und wiederholbare Bedeutungen vorausgesetzt werden. Sie werden auch von Derrida vorausgesetzt, der auf Mißverständnisse besonders empfindlich reagiert. 29 Das Ergebnis dieser Debatte und des anschließend durchgeführten Theorievergleichs kann als interdiskursives Theorem in einem Satz zusammengefaßt werden: „Iterativität als Wiederholung des Identischen, als sinnkonstituierender Prozeß und Iterabilität als Sinnverschiebung und Sinnzerfall sind komplementäre Aspekte menschlicher Rede und Verständigung.“ Die Bedeutung dieses Theorems für die Praxis des Dialogs liegt auf der Hand: Es zeigt, wie wichtig die Rekonstruktion einer Theorie und ihres Kontextes ist, wenn es gilt, einen Begriff wie „Wiederholung“, der in der Dekonstruktion etwas ganz anderes bedeutet als in der Sprechakttheorie oder der Strukturalen Semiotik, konkret zu verstehen. Zugleich verdeutlicht es, weshalb in einer Diskussion, in der heterogene Sprachen aufeinandertreffen, Iterabilität nicht zu vermeiden ist: Sobald ein Begriff, der einem bestimmten Diskurs (Soziolekt) angehört, von Sprechern andersgearteter Diskurse aufgegriffen wird, kommt es zu einer Sinnverschiebung. Gegen dieses semantische Abgleiten hilft nur eines: die Rekonstruktion der ursprünglichen Bedeutung oder eine Resemantisierung des Begriffs durch eine gemeinsame Neudefinition. Beide Prozesse laufen auf der Ebene der semantischen Wiederholung ab, und der eine schließt den anderen nicht aus. 3. Ablehnung, Einverständnis und Mißverständnis Sowohl die Formalismus-Marxismus-Debatte als auch die Diskussionen, die zwischen Derrida und Searle stattfanden, verdeutlichen, was im vorigen Kapitel mit „Erschütterung“ einer Theorie gemeint ist. Eine Theorie als objektkonstruierender Diskurs wird erschüttert, wenn 28 Vgl. J. Derrida, Limited Inc., op. cit., S. 215-216. 29 Vgl. ibid., S. 257-258. <?page no="289"?> 275 sie mit konkurrierenden Diskursen kollidiert, die „dasselbe“ Objekt anders konstruieren. Nun könnte ein Konstruktivist, der die Realität mit Skepsis betrachtet, einwenden, daß es sich eben nicht um dasselbe Objekt handelt, weil die „Kunst“ der Formalisten etwas ganz anderes ist als die „Kunst“ der Marxisten und weil „Iterabilität“ etwas bezeichnet, was mit „Iterativität“ (im Sinne von Greimas) nichts zu tun hat. Daß dies nicht der Fall ist, wird in den Debatten deutlich, deren Teilnehmer sich keineswegs einer Illusion hingeben, wenn sie meinen, es mit demselben Phänomen zu tun zu haben. Sowohl die Formalisten als auch die Marxisten beziehen sich auf die Erscheinung „Kunst“ - nur konstruieren sie sie unterschiedlich. Sowohl Derrida als auch Searle und Greimas haben es mit der Wiederholung als semantisch-pragmatischer Erscheinung zu tun; nur konstruieren sie sie in völlig verschiedenen Kontexten. Die Tatsache, daß die einen die Konstruktionen der anderen ablehnen, zeigt, daß solche Konstruktionen einseitig sein können, weil sie in relativ homogenen Soziolekten und ihren monologischen Diskursen zustande kommen. Erst der dialogische Zusammenstoß der heterogenen Sprachen bewirkt eine „Erschütterung“ der Theorien und läßt ihre Einseitigkeiten und blinden Flecken zutage treten. Diese „Erschütterung“ wird durch die Ablehnung eines theoretischen Diskurses im fremden Soziolekt verursacht. Die Betroffenen nehmen sie nicht sofort wahr oder wollen sie nicht wahrhaben. Im Falle der Formalismus-Marxismus-Debatte wurde sie erst viel später registriert, als in den 60er und 70er Jahren des 20. Jahrhunderts die Einseitigkeiten des Formalismus und des literaturwissenschaftlichen Marxismus sichtbar wurden. Ein Dialog zwischen Greimas’ Strukturaler Semiotik und Derridas Dekonstruktion hat möglicherweise gerade erst begonnen. Der Theorievergleich zeigt aber, vor allem wenn er im Kontext der Searle- Derrida-Debatte angestellt wird, daß es auch in diesem Fall zu erheblichen Erschütterungen kommt, weil Greimas’ Ausdruck „von identischen oder vergleichbaren Größen“ auch als Verlegenheitsgeste zu deuten ist, und weil Derrida in seinem Plädoyer für eine „Diskussionsethik“ sehr wohl von der Möglichkeit ausgeht, Bedeutungen zu fixieren und in neuen Kontexten zu wiederholen: etwa wenn er behauptet, eine bestimmte „Definition des Dekonstruktivisten [bei Searle <?page no="290"?> 276 sei] falsch“ („cette définition du déconstructionniste est fausse“). 30 Wenn es eine falsche Definition des Dekonstruktivisten gibt, muß es auch eine richtige geben, die fixierbar und wiederholbar ist. Bisweilen lassen die Rechtfertigungsversuche, die eine Ablehnung im fremden Soziolekt hervorruft, erst recht die Schwachstellen einer Theorie erkennen. Doch wer erkennt diese Schwachstellen? Die Antwort muß wohl lauten: Nur der Theoretiker, der über genügend theoretische Neugier und Selbstironie verfügt, um auf eine voreilige Parteinahme zu verzichten und um bereit zu sein, auch die eigene Theorie einer dialogischen Kritik auszusetzen. Diese Kritik setzt freilich voraus, daß die Gesprächspartner nicht von klischeeartigen Mißverständnissen ausgehen, die sich einer Annäherung an die fremde Position vorab in den Weg stellen. Zu solchen Mißverständnissen gehört die Bezeichnung „Formalismus“, die sich über alle (mitunter sehr fruchtbaren) Versuche der Formalisten hinwegsetzt, Literatur und Kunst im gesellschaftlichen Kontext zu deuten. 31 Mißverständnisse dieser Art verstellten auch Derrida und Searle die Aussicht auf den Gegenstand. Davon zeugt u.a. Searles Satz: „Derrida’s Austin is unrecognizable.“ 32 Ähnlich reagiert Hans Albert in seinem „Kleinen verwunderten Nachwort“ zum „Positivismusstreit“. Zu Adornos (fehlender) Rekonstruktion des Kritischen Rationalismus bemerkt er: „Er suggeriert dem Leser die Identität oder zumindest die nahe Verwandtschaft der für diese Diskussion in erster Linie in Betracht kommenden gegnerischen Auffassung in den relevanten Hinsichten mit einem kruden Positivismus, wie er teilweise im sozialwissenschaftlichen Forschungsbetrieb etabliert sein mag, oder mit dem logischen Positivismus der 20er oder 30er Jahre, und läßt dann seine Einwände gegen diese Auffassungen hören, ohne dabei die Stellung des kritischen Rationalismus ausreichend klar zu machen und zu berücksichtigen.“ 33 Diese grobe Reduktion der Gegenposition überrascht nicht, wenn man sich Adornos Satz vergegenwärtigt: „Skepsis gebührt dem Dis- 30 Ibid., S. 270. 31 Vgl. z.B. J. Tynjanov, „Das literarische Faktum“, in: J. Striedter (Hrsg.), Russischer Formalismus, op. cit. 32 J. R. Searle, in: J. Derrida, Limited, Inc., op. cit. S. 83. 33 H. Albert, „Kleines verwundertes Nachwort zu einer großen Einleitung“, in: Th. W. Adorno et al., Der Positivismusstreit in der deutschen Soziologie, Darmstadt-Neuwied, Luchterhand, 1984 (11. Aufl.), S. 336. <?page no="291"?> 277 kussionsspiel.“ 34 Aus diesem Satz ist nicht nur eine Ablehnung des Dialogs (und der kommunikativen Vernunft) herauszuhören, sondern auch der Wille, sich notfalls monologisch-ideologisch über die Argumente der Gegenseite hinwegzusetzen. Leider macht sich dieser Wille in Adornos Diskurs immer wieder bemerkbar, u.a. in seinen Kommentaren zu Heidegger, die Derrida zu Recht beanstandet. 35 Dennoch kommt Adornos Reduktion des Kritischen Rationalismus auf „Positivismus“ auch überraschend, weil man erwartet, daß ein Vertreter der Kritischen Theorie dem Besonderen, dem Anderen mehr Respekt zollt. Anscheinend sind das Besondere und die Alterität in Adornos Diskurs - trotz Essay, Modell und Parataxis - nicht so gut aufgehoben wie in einer Dialogischen Theorie, in der die konsensfähige Rekonstruktion der Gegenposition zu einem der Hauptanliegen wird. Dies ist einer der Gründe, weshalb in diesem Buch vorgeschlagen wurde, die Kritische Theorie in eine Dialogische Theorie überzuleiten, und zwar durch eine konsequente Weiterentwicklung von drei ihrer Kerngedanken: Nichtidentität, Partikularität und Alterität. Daß Nichtidentität als Negativität die Kritische Theorie mit dem Kritischen Rationalismus verbindet, muß Adorno geahnt haben, als er während des „Positivismusstreits“ zu Poppers Position bemerkte: „Indem er die Objektivität der Wissenschaft mit der der kritischen Methode identifiziert, erhebt er diese zum Organon der Wahrheit. Kein Dialektiker heute hätte mehr zu verlangen.“ 36 Diese Sätze zeigen, wie sehr ein scheinbares Einverständnis Mißverständnisse verdecken kann. Sie zeigen auch, wie notwendig es in einer Diskussion ist, die beteiligten Positionen im Kontext zu rekonstruieren. Sicherlich verbindet das Postulat der Nichtidentität den Kritischen Rationalismus mit der Kritischen Theorie: In beiden Fällen geht es darum, alle ideologischen und hegelianischen Versuche des Diskurses, sich mit der Wirklichkeit zu identifizieren, zu verhindern. Hier hört jedoch die Gemeinsamkeit auf, denn unter „Negativität“ stellt sich Popper etwas ganz anderes vor als die Dialektiker: nämlich die Widerlegbarkeit einer Theorie und die Möglichkeit ihres Scheiterns während 34 Th. W. Adorno, „Zur Logik der Sozialwissenschaften“, in: Th. W. Adorno et al., Der Positivismusstreit, op. cit., S. 133. 35 Vgl. J. Derrida, Positionen, Graz-Wien, Böhlau-Passagen, 1986, S. 112. 36 Th. W. Adorno, „Zur Logik der Sozialwissenschaften“, in: Th. W. Adorno et al., Der Positivismusstreit, op. cit., S. 134. <?page no="292"?> 278 einer Überprüfung. Die Erkenntnis, daß das Postulat der Widerlegbarkeit oder Falsifizierbarkeit die Nichtidentität von Diskurs und Wirklichkeit voraussetzt, führt wieder zurück zum gemeinsamen Ausgangspunkt. In allen drei Debatten, die hier näher betrachtet wurden, wird deutlich, wie wichtig die im vorigen Kapitel beschriebene doppelte Rekonstruktion der Gegenposition ist: in der Umgangssprache und in der eigenen theoretischen Sprache. Im Optimalfall werden diese beiden Rekonstruktionen miteinander verglichen, aufeinander abgestimmt und genetisch auf den Entstehungszusammenhang (vgl. Kap. XIII) bezogen. Daß sie nie identisch sein können, versteht sich von selbst. Sie können einander jedoch wechselseitig erhellen und dadurch den Dialog fördern. In keiner der drei Debatten sind Rekonstruktionen dieser Art vorgenommen worden. Der unvoreingenommene Beobachter hat bisweilen den Eindruck, daß es den meisten Beteiligten vorrangig um die Rechtfertigung des eigenen Denkmusters zu tun war. Das Rechtfertigungsdenken als identifizierender und monologischer Diskurs ist jedoch immer ideologisch im kritisch-negativen Sinn. Schon deshalb ist es in den Kultur- und Sozialwissenschaften nicht möglich, das theoretische Anliegen unabhängig vom ideologischen Engagement zu verstehen. <?page no="293"?> 279 XV. Kommunikation in fragmentierter Gesellschaft: Pluralismus, Indifferenz und Ideologie Als im Jahre 1999 die Dialogische Theorie selbst zum Gegenstand einer Diskussion wurde, deutete sie der Komparatist Friedmar Apel als einen „Vorschlag zur Güte“. 1 Auf den Autor mochte diese Auffassung zunächst sympathisch wirken, zumal er nie die Absicht hatte, Vorschläge zur Bosheit oder Böswilligkeit zu machen, die alle Verständigungsversuche vorab zum Scheitern verurteilen würden. Dennoch ist sie unbefriedigend, weil sie Wesentliches ausläßt. Wesentlich ist die der Dialogischen Theorie zugrundeliegende Frage, die als roter Faden diese Abhandlung durchzieht: Wie können Theoretiker und Theoretikergruppen in einer kulturell und sprachlich heterogenen Welt miteinander reden? Die Antwort kann nun lauten: Indem sie ihre theoretischen und ideologischen Diskurse in deren Wechselbeziehung reflektieren und auf die sozio-linguistische Situation, in der sie sich zusammen mit ihren Gesprächspartnern befinden, beziehen. Das ist kein Vorschlag zur Güte, sondern ein Vorschlag zu semiotischer Reflexion, Rekonstruktion und Kritik. Es ist zugleich ein Vorschlag, die wissenschaftliche Neugier so weit zu treiben, daß sich der Theoretiker seines Wahrheitsanspruchs vergewissert, indem er ihn durch das ganz Andere, das ihm Fremde, 1 F. Apel, „Dialogische Theorie und Kanalbauwesen“, in: Ethik und Sozialwissenschaften 4, 1999, S. 597. Das Mißverständnis, der Dialogischen Theorie liege eine ethische Absicht zugrunde, gibt in verschiedenen Kommentaren den Ton an: Vgl. G. Hauck, „Peter Zimas Traum von der moralischen Wissenschaft und der natürlichen Sprache“, in: Ethik und Sozialwissenschaften 4, 1999, S. 616-617. Auch der linguistische Ausdruck „natürliche Sprache“, der sich auf J. Lotmans „primäres modellierendes System“ (Kap. XII, 1) bezieht, fällt hier einem Mißverständnis zum Opfer. Vgl. auch: D. J. Krieger, „Wissenschaft als Kommunikation“, in: Ethik und Sozialwissenschaften 4, 1999, S. 627: „Das Anliegen einer dialogischen Theorie scheint vollends gegen die Differenzierungstendenz des heutigen Wissenschaftssystems zu laufen und verlangt demnach anders begründet zu werden als durch den aufklärerischen Appell an die Selbstkritik.“ Während der erste Teil des Satzes (leider) eine völlig richtige Diagnose enthält, setzt sich an seinem Ende ein Mißverständnis durch: Es geht primär um Selbst- und Fremdverständnis - um die Analyse des eigenen und des fremden Diskurses (und Soziolekts). Kurzum: Es geht um Erkenntnis, um Neugier. <?page no="294"?> 280 überprüfen läßt. Wollte man den hier entwickelten Ansatz auf einen einfachen Vorschlag im Sinne von Apel reduzieren, so könnte man eher von einem „Vorschlag zur Neugier“ sprechen. Doch Neugier, so mag man einwenden, scheint ja reichlich vorhanden zu sein. Gerade das ist aber keineswegs sicher, vor allem dann nicht, wenn es um eine Art von Neugier geht, die kulturelle, sprachliche und ideologische Schranken überwinden soll, um das Fremde zu entdecken und sich selbst gleichzeitig in Frage stellen, „erschüttern“ zu lassen. Denn in den stark pluralisierten Gesellschaften der Nachmoderne, in denen nach außen hin Toleranz herrscht, muß auch mit einer Gleichgültigkeit gerechnet werden, die in Intoleranz und ideologischen Dualismus umschlagen kann. Daß der Toleranz auch Ablehnung innewohnt, wußte bereits Goethe: „Toleranz sollte eigentlich nur eine vorübergehende Gesinnung sein: sie muß zur Anerkennung führen. Dulden heißt beleidigen.“ 2 Es lohnt sich daher, den Nexus von Pluralismus, Toleranz und Ideologie näher zu betrachten und auf das Problem des theoretischen Dialogs zu beziehen. 1. Pluralismus und Indifferenz Die postmoderne Gesellschaft wird immer wieder als pluralistische Ordnung aufgefaßt, in der „die Moderne nicht mehr reklamiert werden muß, sondern realisiert wird“. 3 Dieser Betrachtungsweise fehlt es nicht an Plausibilität, vor allem wenn man sich auf die europäische politische Szene konzentriert, die nicht mehr - wie noch in der Zwischenkriegszeit - von autoritären oder totalitären Bewegungen und Parteien dominiert wird, die der demokratischen Ordnung feindlich gesinnt sind. Nach dem Zusammenbruch der faschistischen, nationalsozialistischen und kommunistischen Diktaturen scheint die pluralistische Demokratie in Europa (oder zumindest in der EU) etabliert zu sein. „Pluralismus“ und „Toleranz“ sind jedoch Erscheinungen der Marktgesellschaft, die seit ihrer Entstehung im Spätmittelalter und in 2 J. W. Goethe, Maximen und Reflexionen, München, DTV (Gesamtausgabe 21), 1968 (2. Aufl.), S. 103. 3 W. Welsch, Unsere postmoderne Moderne, Weinheim, VCH, 1991 (3. Aufl.), S. 36. <?page no="295"?> 281 der Renaissance 4 vom Grundprinzip der Indifferenz als Austauschbarkeit von kulturellen Wertsetzungen (nicht als Gleichgültigkeit) beherrscht wird. Der Händler fragt nicht nach der Herkunft der Waren und der Kunden: Ihm kommt es auf den Tauschwert und den im Tauschvorgang erzielten Gewinn an. Die religiöse, politische oder ästhetische Gesinnung der Kunden ist indifferent oder austauschbar, weil sie sich auf den für den Händler wesentlichen Vorgang nicht auswirkt (oder nicht auswirken soll). Der paradoxe Satz „Der Kunde hat immer recht“ zeugt von dieser Indifferenz als Austauschbarkeit von Wertsetzungen: Er hat recht, weil er zahlt, und solange er zahlt, ist seine Meinung irrelevant. Kein am Gewinn direkt oder indirekt beteiligter Verkäufer wird dem Kunden vom Kauf eines teuren Anzugs abraten, nur weil er selbst ihn häßlich findet. In vielen Fällen wird er seine ästhetische Überzeugung verleugnen und den in seinen Augen häßlichen Anzug anpreisen. In der Ambivalenz seiner Rhetorik und Gestik verdeckt der Tauschwert den ästhetischen Wert. Hat sich einmal dieses Tauschprinzip in allen sozialen Bereichen durchgesetzt, wird der Tauschwert zwar nicht, wie Baudrillard meint, zum allein herrschenden und daher nicht mehr benennbaren Wert 5 , aber es wird zunehmend schwierig, den Gebrauchswert zu erkennen und den wahren Wert vom Warenwert zu unterscheiden. 6 Wer gegenwärtig einen Beststeller mit ästhetischen oder politischen Argumenten kritisiert, setzt sich bald (vor allem als Schriftsteller) dem Verdacht aus, lediglich den eigenen nagenden Neid zu rechtfertigen. Oft lautet in solchen Fällen das Pseudoargument: „Jedem gefällt eben etwa anderes.“ Dieses Argument bestätigt die faktische Austauschbarkeit aller Wertsetzungen in einer hochentwickelten Marktgesellschaft. Zugleich 4 Zur Geschichte der Toleranz vgl. die Sondernummer von Etudes littéraires 1-2, 2000: La Tolérance, Hrsg. J.-P. Barbe, J. Pigeaud; darin vor allem die Beiträge von: A. Michel, „A propos de l’Edit de Nantes: la tradition latine et la tolérance“, S. 31-33 sowie von E. Pommier, „Diabolisation, tolérance, glorification? La Renaissance et la sculpture antique“, S. 62-67. 5 Vgl. J. Baudrillard, L’Echange impossible, Paris, Galilée, 1999, S. 14-15. 6 Vgl. W. F. Haug, Kritik der Warenästhetik, Frankfurt, Suhrkamp, 1976 (5. Aufl.), S. 64. Haug ergänzt die von Marcuse und (in einem ganz anderen Zusammenhang) von Baudrillard beschriebene Eindimensionalität, wenn er von der Welt sagt: „Eine andere, als die von den Waren gelieferte, steht schon bald nicht mehr zur Verfügung.“ (Er unterscheidet sich vorteilhaft vom späten Baudrillard, weil er nicht auf Gesellschaftskritik verzichtet.) <?page no="296"?> 282 läßt es die marktbedingte Indifferenz als Kehrseite des gepriesenen Pluralismus erscheinen. Das Andere wird achselzuckend zur Kenntnis genommen: Es mag seine Daseinsberechtigung haben, die jedoch niemand beweisen kann. Von diesem Pluralismus als Indifferenz zeugt eine in den 70er Jahren durchgeführte Rezeptionsuntersuchung, deren Autoren sich vornahmen, der Frage „Was ist guter Stil? “ auf empirischer Ebene nachzugehen. Das Ergebnis faßt Eberhard Frey zusammen: „Die Leserreaktionen haben uns mehrere komplexe Antworten auf die Frage ‚Was ist guter Stil? ‘ gegeben. Zunächst können wir sagen, das hängt ganz davon ab, an welche Leserschaft ein Buch gerichtet ist.“ 7 Hier werden viele einwenden, daß sich diese Art von Geschmackspluralismus in der Kunst, deren Kanon längst zerfallen ist, noch rechtfertigen läßt - nicht jedoch in der Wissenschaft. Das ist nun nicht ganz sicher. In der Literaturwissenschaft, die bisweilen doch eine Wissenschaft sein möchte, hat beispielsweise Stanley Fish versucht, die „richtige“ oder „akzeptable“ Textbedeutung mit rein rhetorischen Mitteln zu begründen. In seinem Spätwerk leugnet er die Existenz von Texteigenschaften und behauptet, die gesamte Textbedeutung sei im Leser angelegt. 8 Danach geht er über den einzelnen Leser hinaus und versucht, die Bedeutungszuordnung in der Interpretationsgemeinschaft (als „interpretive community“) zu verankern: „Tatsächlich sind es die Interpretationsgemeinschaften und nicht der Text oder der Leser, die Bedeutungen hervorbringen und für das Auftreten von formalen Eigenschaften verantwortlich sind.“ 9 Wir haben es hier mit einer radikal-konstruktivistischen Auffassung zu tun, die auf dem Gedanken gründet, daß über die Wirklichkeit, d.h. über den Text selbst, nichts ausgesagt werden kann. Im Gegensatz zu Glasersfeld zerbricht sich Fish jedoch nicht den Kopf über die Gültigkeit der Argumente einer Interpretationsgemeinschaft in anderen, konkurrierenden Gemeinschaften (vgl. Kap.VIII, 2). Er versucht, das Problem rhetorisch zu lösen: „(...) Ich nahm das Recht in Anspruch, das jeder andere auch hat, für eine bestimmte Les- 7 E. Frey, „Was ist guter Stil? “, in: P. U. Hohendahl (Hrsg.), Sozialgeschichte und Wirkungsästhetik, Frankfurt, Athenäum-Fischer, 1974, S. 160. 8 Vgl. S. Fish, Doing What Comes Naturally, Oxford, Clarendon Press, 1989, S. 77. 9 S. Fish, Is There a Text in this Class? The Authority of Interpretive Communities, Cambridge (Mass.)-London, Harvard Univ. Press, 1982 (2. Aufl.), S. 14. <?page no="297"?> 283 art zu plädieren, die, wenn sie einmal akzeptiert würde, wenigstens eine Zeitlang die wahre wäre. Kurzum, ich rettete die Allgemeingültigkeit, indem ich ihr einen rhetorischen Charakter gab.“ 10 Von theoretischer Allgemeingültigkeit sollte hier nicht die Rede sein: eher von einem fragwürdigen Versuch, die anderen rhetorisch zu überreden, zu betören. Zugleich wird deutlich, daß postmoderne Autoren wie Stanley Fish den Gedanken an allgemeingültige, interkulturell und transideologisch anerkannte theoretische Erkenntnisse aufgegeben haben. Sie begnügen sich offenbar mit dem Versuch, die Angehörigen ihrer Gruppe zeitweise zu überreden. Diese extreme Partikularisierung des Denkens stimmt nicht nur mit dem radikalen Pluralismus der Postmoderne überein, sondern zeugt auch von der sich durchsetzenden Herrschaft der Indifferenz. Wenn jede Bedeutungskonstruktion aus den partikularen Interessen einer Interpretationsgemeinschaft hervorgeht und an diese Interessen gebunden bleibt, zumal sie nicht am realen Gegenstand überprüfbar ist, sind alle Konstruktionen im Prinzip gleich gültig und folglich indifferent, austauschbar. In diesem Fall bietet sich am ehesten die Lösung an, die den eignen individuellen und kollektiven Narzißmus befriedigt: Glaubt an die von mir propagierte Deutung. Nicht die Wahrheit setzt sich durch, sondern die wirksamere Rhetorik. Im politischen Bereich muß sich die von Fish vorgeschlagene rhetorische Lösung theoretischer Probleme verheerend auswirken: Die oftmals unentwirrbaren Argumente von Wirtschaftsexperten, Politikern und Journalisten werden irrelevant, sobald es einem Medienmagnaten gelingt, die Öffentlichkeit mit wirkungsmächtiger Rhetorik auf seine Seite zu ziehen. Was im literary criticism, der möglicherweise doch keine Wissenschaft sein will (vgl. Kap. I, 2), lediglich unseriös klingt, wird in der Politik zu einer ernsten Gefahr für die Demokratie. Denn in einer Gesellschaft, in der sich nicht das bessere wirtschaftliche oder politische Argument durchsetzt, sondern die effizientere Rhetorik, wird der demokratische Entscheidungsprozeß grundsätzlich in Frage gestellt. Mittelfristig könnte sich zeigen, daß das Indifferenzprinzip, das alle Standpunkte als austauschbar erscheinen läßt, mit einer auf Information, Rationalität und Legalität gegründeten Demokratie unvereinbar ist. 10 Ibid., S. 16. <?page no="298"?> 284 2. Die ideologischen Reaktionen und der Hermetismus der Theorie Als austauschbar erscheinen die verschiedenen religiösen, ideologischen und theoretischen Standpunkte nur dem unvoreingenommenen Beobachter, dem Wechselwähler oder dem eher gleichgültigen Konsumenten, den nur der Preisanstieg und das Sonderangebot erregen. Die ideologisch-theoretischen Interpretationsgemeinschaften selbst sind keineswegs gleichgültig: Sie sind von der eigenen Wahrheit durchaus überzeugt und wollen keinesfalls mit konkurrierenden Gruppen verwechselt werden, die sie mit Mißtrauen oder gar mit Abneigung betrachten. Während Lyotard alles unternimmt, um sich von postmodernen Autoren wie Jencks und Oliva abzugrenzen 11 , verteidigen Gruppen von Semiotikern, Psychoanalytikern oder Soziologen ihre unverwechselbaren theoretischen (und ideologischen) Anliegen, die von den Konkurrenten ironisch kommentiert werden. Greimas stellt diese gesellschaftliche und sprachliche Situation anschaulich dar: „Die Geschichte des Turmbaus zu Babel wiederholt sich: Die Vielzahl der Diskurse, die sich wechselseitig durchdringen und umschlingen, von denen ein jeder seine Wahrheitskriterien hat, die terrorisierende oder verächtliche Konnotationen mit sich führen, kann nur eine Situation der Entfremdung durch die Sprache hervorbringen, die bestenfalls in einer Ära des Unglaubens ausmündet.“ 12 Deutlich treten in dieser Passage die ideologischen Reaktionen der Diskurse auf die Indifferenz als Austauschbarkeit der Werte zutage. Zugleich nimmt Goethes Maxime „Dulden heißt beleidigen“ eine neue Bedeutung im nachmodernen Kontext an: Das tolerante, aber beziehungslosen Nebeneinander theoretischer Diskurse im Pluralismus kann unversehens in erbitterten Konflikt umschlagen, der auch mit ideologischen Mitteln ausgetragen wird. Dem Gegner werden dann - wie in den Auseinandersetzungen zwischen Formalisten und Marxisten - eine kontrarevolutionäre Gesinnung oder Konservativismus, Sexismus und eine technokratische Einstellung vorgeworfen. Die „terrorisierenden oder verächtlichen Konnotationen“, von denen Greimas spricht, sind häufige Begeleiterscheinungen solcher diskursiver Verfahren. 11 Vgl. J.-F. Lyotard, Das Inhumane, Wien, Passagen, 1989, S. 307. 12 A. J. Greimas, Du Sens II. Essais sémiotiques, Paris, Seuil, 1983, S. 109. <?page no="299"?> 285 Dies ist insofern nicht verwunderlich, als die Interpretationsgemeinschaften, von denen bei Fish die Rede ist, sowohl von ihren theoretisch-ideologischen Überzeugungen zusammengehalten werden als auch von dem Antagonismus, der sie von anderen Gruppen trennt. Gelänge es einer Wissenschaftlergruppe, ihren Thesen zu einer globalen, interkulturellen Allgemeingültigkeit zu verhelfen, so würde sie in kürzester Zeit aufhören, als Gruppe zu existieren. Sie verdankt ihre Existenz einem polarisierten Pluralismus, dessen grundsätzliche Indifferenz immer wieder ideologische Reaktionen hervorruft. Diese Reaktionen richten sich nicht nur gegen die Rivalen, sondern gegen das Indifferenzprinzip als solches: „Ihr denkt zwar, daß wir nicht viel anders sind als die anderen, aber ihr irrt euch; unsere Theorie ist wissenschaftlich.“ Dieser Anspruch klingt nicht nur in zahlreichen theoretischen Soziolekten von Marx bis Luhmann, sondern auch in den (liberalen, konservativen, sozialistischen usw.) Sprachen der Parteien an: Keine von ihnen wird zugeben, daß sie nur eine Teilwahrheit verkündet, besondere Gruppen und deren Interessen vertritt und folglich eine partikulare Position einnimmt. Sie beansprucht (oft implizit) die ganze Wahrheit, die absolute Mehrheit, die Totalität - und gerät dadurch in Widerspruch zu ihrer Selbstdefinition als Partei, als pars. Auf diese maßlosen Ansprüche reagiert sowohl die wissenschaftliche als auch die politische Öffentlichkeit mit relativierender Skepsis, mit Ironie und dem von Greimas erwähnten „Unglauben“ („incroyance“). Dieser Unglaube ist aber ein Aspekt der Indifferenz, die durch die monologischen Ansprüche der einander befehdenden und disqualifizierenden wissenschaftlichen und politischen Gruppierungen nur verstärkt wird. Anders gesagt: Die ideologischen Reaktionen auf die marktbedingte Indifferenz steigern diese nur. Dieser Prozeß führt jedoch nicht zu einem „Ende der Ideologien“ (Aron, Bell), sondern zu einem sich verschärfenden Gegensatz von Indifferenz und Ideologie, der sich häufig in Gewaltanwendungen entlädt - wie etwa die Kämpfe der Anti-Globalisierungsbewegungen zeigen. In dieser Situation wird sich das Aussagesubjekt der Dialogischen Theorie weder auf den Standpunkt der Indifferenz noch auf den der dualistischen Ideologie stellen, sondern versuchen, die hier beschriebene Dialektik zwischen Indifferenz und Ideologie konsequent auszutragen. Es verleugnet das allgemein-ideologische, partikulare Moment seines Diskurses (hier: den Standpunkt der Kritischen Theorie) kei- <?page no="300"?> 286 neswegs, reflektiert es aber und setzt es der Kritik aus. Denn es ist sich der doppelten Gefahr bewußt, die von der Ideologie und der Indifferenz ausgeht: Wer (wie Lenin) einseitig für eine „wissenschaftliche“ Ideologie 13 Partei ergreift, zerstört die Theorie durch Ideologisierung; wer (wie Fish) der Indifferenz das Wort redet, zerstört die Theorie durch Relativismus als Austauschbarkeit aller Positionen. Das kritische Subjekt bannt beide Gefahren, indem es die Extreme - Indifferenz und Ideologie, Fish und Lenin - dialektisch miteinander verknüpft. Es denkt gegen sich selbst, ohne sich aufzugeben. 3. Wozu Dialogische Theorie? Im Anschluß an diese Diagnose kann nun in aller Knappheit die Frage nach dem Sinn der hier entworfenen Dialogischen Theorie beantwortet werden. Nach dem bisher Gesagten mag es einleuchten, daß alles, was den hier beschriebenen polarisierten Pluralismus festschreibt und durch neue monologische Entwürfe noch verstärkt, die Kultur- und Sozialwissenschaften nur in Verruf bringen kann. Denn anders als die Naturwissenschaften, die ihre Hypothesen und Theorien in Experimenten testen und in der Praxis anwenden, so daß sich auch Laien von ihrem Nutzen überzeugen können, können die Kultur- und Sozialwissenschaften ihre praktische Bedeutung oder „gesellschaftliche Relevanz“ vor allem im Bereich der Theoriebildung nur selten plausibel machen. In den Sozialwissenschaften wird in vielen Fällen empirische, praxisorientierte Forschung jenseits von theoretischer Reflexion betrieben. 14 Analog dazu meinen Philologen, literarische Texte auch ohne theoretische Vorkenntnisse analysieren zu können. In dieser Situation soll Dialogische Theorie (als Metatheorie der Verständigung) das beziehungslose Nebeneinander von Diskursen in ein dialogisches Miteinander verwandeln, welches das theoretische Potential der Kultur- und Sozialwissenschaften ausschöpft. Statt einander monologisch zu ignorieren, sollten Wissenschaftlergruppen in 13 Zur Kritik an V. I. Lenins Konzept des „wissenschaftlichen Sozialismus“ und zu seiner positiven Definition der Ideologie vgl. H.-J. Lieber, Ideologie. Eine historisch-systematische Einführung, Paderborn, Schöningh, 1985, S. 65. 14 Vgl. J. C. Alexander, „The Centrality of the Classics“, in: A. Giddens, J. Turner (Hrsg.), Social Theory Today, Oxford, Polity, 1987, darin vor allem: „The Empiricist Challenge to the Centrality of the Classics“, S. 12-16. <?page no="301"?> 287 diesem Bereich die Interdiskursivität entdecken, um ihre eigenen Theorien besser zu verstehen und mit Hilfe der fremden Rede verbessern und vervollständigen zu können. In seinem Kommentar zur Dialogischen Theorie schreibt Heinrich Bußhoff: „Zima geht es darum, die ‚Kommunikation zwischen heterogenen Gruppen‘ in den Sozialwissenschaften nicht nur zu ermöglichen, sondern diese Gruppen zu einem Dialog zu zwingen.“ 15 Es handelt sich leider um eines der zahlreichen Mißverständnisse, die diese Diskussion aus dem Jahre 1999 belastet haben. Nach dem bisher Gesagten mag klargeworden sein, daß man weder den Einzelnen noch die Gruppe zum Dialog zwingen kann. Die Dialogische Theorie macht konkrete Vorschläge zur Verbesserung des wissenschaftlichen Erkenntnisprozesses durch Ausrichtung auf das andere, das fremde Wort, wie Bachtin sagen würde. Sie gründet nicht auf Zwängen, sondern - im Gegenteil - auf dem freien Willen des Einzelnen, sich von den Soziolekten, in denen er sozialisiert wurde, zu emanzipieren und aus wissenschaftlicher Neugier in der Fremde nach neuen Anregungen zu suchen. Wer sich aus ideologischen und psychischen Gründen dem Dialog verschließt, den wird niemand dazu bringen können, Neugier zu entwickeln. Ebensogut könnte man versuchen, jemandem, der seekrank wird, sobald er das wogende Meer erblickt, eine Kreuzfahrt schmackhaft zu machen. Ein Einwand, der seinerzeit nicht gegen die Dialogische Theorie vorgebracht wurde, den man aber hätte geltend machen können, lautet: „Es handelt sich doch wieder um einen durchaus monologischen Entwurf auf Metaebene, der alles andere als verallgemeinerungsfähig ist.“ Diese Kritik ist einerseits sinnlos, andererseits verständlich. Sie ist sinnlos wie jede Binsenweisheit, weil in den Kultur- und Sozialwissenschaften jeder Diskurs als semantisch-narrative Struktur kulturell, sprachlich und ideologisch bedingt und folglich partikular ist. Soll man vor dieser Tatsache die Waffen strecken und auf Verständigung, auf Diskussion verzichten? Sie ist verständlich, weil der hier vorgeschlagene metatheoretische Ansatz längst nicht von allen akzeptiert wird. Dennoch hofft der Autor, daß er durch die dialogische Ausrichtung seines Diskurses Fragen aufgeworfen hat, die sehr vielen ver- 15 H. Bußhoff, „Dialogische Theorie: Bedingung für Erkenntnisfortschritt in den Sozialwissenschaften? “, in: Ethik und Sozialwissenschaften 4, 1999, S. 607. <?page no="302"?> 288 schiedenen Theorien in den Kultur- und Sozialwissenschaften gemeinsam sind, so daß auch Dissidenten und Kritiker, von denen Theorie als Prozeß lebt, hier einige ihrer Probleme wiederfinden. Daß sie versuchen werden, sie anders zu lösen, liegt auf der Hand - und wird von der Dialogischen Theorie, der das „letzte Wort“ fremd ist, sogar angeregt. Es ist jedoch unwahrscheinlich, daß sie grundlegende Probleme, die hier angeschnitten wurden, z.B. den interkollektiven Charakter der Verständigung, die Selbstreflexion des Subjekts, die Rekonstruktion des fremden Diskurses im Kontext und den ideologischen Faktor in der Sprache, werden umgehen können. Auf das Erkennen dieser Probleme kommt es jedoch an und auf den gemeinsamen Willen, sie zu lösen: vor allem im Interesse der Kultur- und Sozialwissenschaften, die der wachsenden Gefahr ausgesetzt sind, ihren wissenschaftlichen Status in den Institutionen zu verlieren und zu „Unterhaltungswissenschaften“ degradiert zu werden. Um dieser fatalen Tendenz entgegenzuwirken, hat der Autor an entscheidenden Stellen versucht, das kritisch-dialogische Potential der Theorie zu aktivieren. <?page no="303"?> 289 Bibliographie (In diese Bibliographie wurden ausschließlich zitierte Titel aufgenommen, die für die Theoriebildung und die Wissenschaftstheorie von Bedeutung sind.) Accardo, A., Corcuff, Ph., La Sociologie de Bourdieu. Textes choisis et commentés, Bordeaux, Le Mascaret, 1986. Adorno, Th. W., Negative Dialektik, Frankfurt, Suhrkamp, 1966. Adorno, Th. W., „Wozu noch Philosophie“, in: ders., Eingriffe. Neun kritische Modelle, Frankfurt, Suhrkamp, 1971 (7. Aufl.). Adorno, Th. 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Zum theoretischen Potenzial des Essays: Von Montaigne bis zur Postmoderne, Würzburg, Königshausen und Neumann, 2012. Zima, P. V., Moderne/ Postmoderne. Gesellschaft, Philosophie, Literatur, Tübingen- Basel, Francke, 2016 (4. Aufl.). <?page no="315"?> 301 Personenregister Accardo, A. 175, 177 Adorno, G. 217 Adorno, Th. W. xii-xiv, 21-22, 26, 35, 66, 84, 119-120, 122- 124, 131, 135-136, 152, 156, 158, 187, 189, 198, 208, 213- 222, 224-226, 238, 247, 256, 276-277 Agosti, S. 237 Albert, H. xi-xii, 35, 66, 82, 85- 90, 94, 194, 209, 221, 247, 276 Alexander, J. C. 197, 286 Alexy, R. 193, 245 Algozin, K. W. 153 Althusser, L. 17, 49, 65, 80-81, 167-168, 187-188, 201-202, 204-205, 207, 228, 261 Amann, K. 149 Amstutz, M. 211 Ankersmit, F. 47 Ansart, P. 43 Apel, F. 279-280 Apel, K.-O. 100, 194, 214, 252, 279-280 Arnreiter, G. 111-112, 116 Aron, R. 285 Ashworth, C. 1 Austin, J. L. 194, 197, 270-271, 276 Autexier, Ch. 75 Bachelard, G. 78, 80, 101, 259 Bachtin, M. M. xii-xiii, 100, 122, 128, 149, 220, 223-226, 234, 268-269, 287 Baglioni, G. 145 Balandier, G. 43 Balsinger, P. W. ix, 208 Balzac, H. de 110 Bannister, R. C. 38, 113, 134 Barbe, J.-P. 281 Barnes, B. 69, 71-72, 74, 76-77, 79, 84, 105 Barthes, R. 51, 84 Baudelaire, Ch. 215 Baudelot, Ch. 14 Baudrillard, J. 53, 174, 184, 281 Bauman, Z. 123, 129, 146 Bayertz, K. 108, 110-111 Beck, U. 44, 146, 237, 285 Beckett, S. 213 Bell, D. 285 Bendix, R. 58 Benjamin, W. 121-122, 213-214 Bennett, T. 269 Benveniste, E. 55 Berg-Schlosser, D. 67 Berr, H. 41 Best, S. 213 Biemel, W. 191 Bloch, E. 114, 136 Blondlot, R. 74-75 Bloor, D. 69, 71-74, 76-77, 79, 84 Bohm, D. 244-246 Böhme, G. 32 Bohn, C. 167, 176 Bouchindhomme, Ch. 189 Boudon, R. 43, 67 Bourdieu, P. xiii, 9-11, 17, 36-37, 43, 59, 62, 67, 71, 80, 83, 159, 167-168, 171, 173, 175-185, 203, 207, 210, 231, 244, 258, 261 Broch, H. 109, 146, 149, 155 Brown, G. 20 Brütting, R. 51 Bubner, R. 3-4, 65 <?page no="316"?> 302 Bucharin, N. I. 267 Buin, Y. 110 Burns, T. 249-250 Bußhoff, H. 120-121, 287 Butor, M. 51 Calhoun, C. 176, 181 Camus, A. 232-233 Canguilhem, G. 69, 77-80, 104- 105, 108, 113 Carnap, R. 17, 125, 270 Cassirer, P. 176 Castilla del Pino, C. 170 Ceruti, M. 165 Cezanne, W. 89 Chandler, D. 45 Chomsky, N. 181 Claval, P. 41 Cohen, R. 43 Coleman, J. S. 17 Collini, S. 88, 145 Collins, H. M. 72, 74 Comte A. 41-43, 75 Compagnon, A., ix Coquet, J.-Cl. 67 Corbin, J. 15 Corcuff, Ph. 175, 177 Courtés, J. 45, 47, 53, 253, 273 Couvalis, G. 58, 104 Croce, B. 40-41, 148 Cros, E. 39, 269 Crozier, M. 43 Curelaru, M. 113-114 Currie, G. 77, 127 Dandeker, Ch. 1 Danneberg, L. 38 Danto, A. C. 47 Davidson, D. xii, 135, 138-144, 146-150, 161, 198 Deleuze, G. 26, 96, 200, 204, 234-235 Demirović, A. 22 Déroulède, P. 148 Derrida, J. 26, 51, 67, 126, 207, 263, 270-277 Descartes, R. 195 Descombes, V. 3-4, 52 Dilthey, W. 17, 110, 234 Dirkx, P. 39 Dörfler, W. 151 Dostoevskij, F. M. 223 Dreier, V. 6-7 Dreyfus, H. 272 Dubiel, H. 208 Ducrot, O. 19 Durkheim, E. 13-14, 41-43, 45, 78, 146, 159, 172, 235-236 Duvignaud, J. 43 Eagleton, T., ix Easton, D. 235 Eco, U. 44-45, 54-55, 228 Einstein, A. 71, 105, 109, 126, 128 Eisenstadt, S. N. 113-114 Ejchenbaum, B. 12, 265, 267-268 Elias, N. 44, 56, 86, 239 Endreß, M. 146 Endruweit, G. 258-259 Engels, F. 56, 58, 110 Establet, R. 14 Farrell, F. B. 142 Fauconnet, P. 41 Feuerbach, L. 204 Fichte, J. G. 80, 131, 152, 193- 195, 224 Fill, A. 264 Fischer, H. R. 230 Fischer, W. 80 Fischer-Lescano, A. 211 Fish, S. 231, 282-283, 285-286 Flick, U. 15 Foerster, H. von 154, 165, 226, 232 <?page no="317"?> 303 Foltinek, H. 39 Foucault, M. xiii, 26, 101, 145, 187-188, 196-201, 203-204, 207 Franzen, W. 233, 239-240 Freeman, E. 125, 127-129 Frege, G. 270 Freud, S. 9, 109, 132, 185, 201- 202, 231, 248-249, 254-255 Frey, E. 282 Füllsack, M. 239 Gadamer, H.-G. 251-252 Galilei, G. 80 Gauthier, X. 84 Gehlen, A. 88, 240 Geiger, R. L. 27 Genet, J. 207 Genette, G. 2-3, 55 Giddens, A. 1, 18, 67, 82, 234, 237, 286 Giegel, H.-J. 174 Glaser, B. 15-16 Glasersfeld, E. von xii, 151, 154, 156-163, 173, 185, 226-228, 231, 241, 245, 258, 260, 282 Gloy, K. 130 Glück, H. 268 Gneuss, Ch. 58, 89 Goethe, J. W. 110, 280, 284 Goldmann, L. 144 Göttner, H. 3 Gouldner, A. W. 51, 141 Gramsci, A. 40, 148 Gratzl, N. 102, 105, 110 Greimas, A. J. 2, 20-21, 44-45, 47, 50, 53-55, 65, 67, 154, 247, 249, 253, 263, 270, 272-273, 275, 284 Greshoff, R. 2, 116, 172, 174, 248-249 Gripp-Hagelstange, H. 185 Grübel, R. 234, 269 Grujić, P. 218 Guattari, F. 234-235 Günther, H. 12, 224, 267-268 Gurvitch, G. 215 Habermas, J. xiii, 21, 60, 67, 100, 129, 137, 187-200, 203-205, 207-209, 213-214, 222, 224, 235, 237, 245, 247, 251, 254 Hagiwara, Y. 86 Hahn, H. 17 Haig, B. D. 16 Halbwachs, M. 41, 146 Haller, M. 1-2 Haller, R. 8, 25, 85 Halliday, M. A. K. 20, 55, 92 Hance, A. 138 Hansen, E. 92 Hansen, K. P. 29 Hanson, N. R. 99 Harris, Z. S. 20 Hartmann, G. H. 39 Hatim, B. 127 Hauck, G. 279 Haug, W. F. 50, 61, 281 Hauser, A. 143 Hayek, F. A. von 93 Hegel, G. W. F. 12, 52, 80, 119, 121, 123, 131, 143, 148, 152- 154, 156-158, 177, 183-184, 190, 194, 207, 214-216, 218, 221, 224, 226, 234, 250, 260, 266-267 Heidegger, M. 52, 192, 234, 277 Heller, A. 161 Hennen, M. 32 Henry, J. 74, 84 Henry, P. 145 Hillmann, K.-H. 6, 67 Hjelmslev, L. 19, 44-45, 126 Höfer, R. 209 Hoffmann, D. 55 Hogrebe, W. 65 Hohendahl, P. U. 282 <?page no="318"?> 304 Honneth, A. 191, 197 Horkheimer, M. xii-xiii, 21-22, 32, 66, 119, 124, 187, 189, 198, 208, 213-214, 219-222, 224- 226, 238, 247, 256 Huke-Didier, E. 147 Hume, D. 14 Husserl, E. 52, 137, 188, 191 Jakobson, R. 67, 260, 264 Jauß, H. R. 116-117 Jay, M. 213 Jencks, Ch. 284 Jenkins, R. 183-184 Joas, H. 191, 197 Johnson, T. 1 Jung, C. G. 109, 248 Kafka, F. 216-217 Kambas, C. H. 38 Kant, I. 90, 130-132, 141, 151, 153, 156-157, 188, 190, 193, 195, 199, 226, 265-266 Karádi, E. 143-144 Keat, R. 97 Keller, O. 273 Kellner, D. 213 Kemp, W. 176 Kennedy, P. 43 Kern, I. 137 Kettler, D. 144 Keupp, H. 209 Keynes, J. M. 93 Kim, T. H. 2 Kipfer, D. 217 Kloft, H. 4 Kluckhohn, C. 29 Kneer, G. 11, 249 Knorr-Cetina, K. 69, 76-77 Koch, C. 31 Koch, E. 80 Kocka, J. 58, 89 Kögler, H. H. 209 Krais, B. 181 Kramsch, C. 49 Kray, R. 4, 35 Krieg, P. 158, 165, 241 Krieger, D. J. 279 Kristeva, J. 45, 51, 269 Krüger, L. 90, 128 Kuhn, T. S. 90, 94, 99, 101, 103- 108, 110, 112-115, 117, 124, 126-131, 133, 135, 138-139, 144, 173, 193, 199, 236, 246, 272 Kukla, A. 164-165, 230, 240-241 Labarrière, P.-J. 146 Lacan, J. 49, 65, 188, 201, 231 Laclau, E. 248 Lakatos, I. 73, 97, 101, 103, 126, 165, 221, 247 Landowski, E. 47 Landshut, S. 56, 204 Lanson, G. 41-42 Laplanche, J. 238, 244, 253 Lash, S. 53, 94 Lask, E. 42 Latour, B. 230 Lautréamont 269 Leconte de Lisle, Ch. M. R. 264 Lecourt, D. 36, 73 Lefebvre, H. 80 Leitgeb, C. H. 39 Leitgeb, H. 102, 105, 110 Lelas, J. 99 Lengauer, H. 149 Lenkenau, K. 23 Lenin, V. I. 78, 148, 286 Lenk, K. 148 Lepenies, W. 27, 42 Lévy-Bruhl, L. 41 Leyrer, J. 102 Lieber, H.-J. 78, 286 Lindgren, A. 102 Link, J. 54 <?page no="319"?> 305 LiPuma, E. 176 Locke, J. 44 Lorenzen, P. 208, 256-257 Lotman, J. 53, 228-229, 251, 279 Löwith, K. 215 Lüdke, W. M. 217 Luhmann, N. xi, xiii, 11-12, 14- 15, 26, 37-38, 43, 53, 57, 59-62, 67, 78, 81, 89, 96, 116, 121, 167-184, 194-196, 202, 207, 230, 235, 237, 244, 248-251, 258, 261, 285 Lukács, G. xii, 57, 143-144, 151- 159, 161-162, 164-165, 171, 182, 185, 192, 258 Lunačarskij, A. V. 266-267 Lyotard, J.-F. xii, 25, 123-124, 128-136, 138, 140, 146, 152, 158, 160, 190, 254, 257, 284 Macherey, P. 65, 214 Malinowski, B. 112-113, 116 Mallarmé, S. 269 Man, P. de 216 Mannheim, K. xii, 43, 60, 69, 71, 78, 95, 138, 142-150, 162-163, 165, 170-171, 178, 182, 192 Marcuse, H. 281 Martin, B. 45 Marx, K. 9, 56-61, 69, 71, 78, 80- 81, 96, 132, 142, 148, 154, 159, 161, 176-177, 195, 204, 218, 234, 237, 254-255, 285 Mason, I. 127 Masterman, M. 101, 103, 193, 272 Maturana, H. 157, 163-165, 231, 240-241, 252, 260 Maurras, Ch. 148 Mauron, Ch. 39 Mauss, M. 41 Mead, G. H. 15, 137, 188 Mecklenburg, N. 82 Medvedev, P. N. 268 Meja, V. 144, 148 Merton, R. K. 13-16, 22, 142 Mészáros, I. 64 Michel, A. 281 Mikl-Horke, G. 43 Mises, L. von 86-87 Mitchell, J. 109, 185 Mittelstraß, J. x, 31-32 Mitterer, J. 151, 164 Mommsen, W. J. 58, 88 Mooy, J. J. A. 3 Morin, E. 102 Morris, Ch. W. 44-45 Morscher, E. 102 Mukařovský, J. 110 Mulkay, M. 14, 72, 75-77 Müller, H. 82 Müller-Rommel, F. 67 Münch, R. 33 Munday, J. 127 Musgrave, A. 77, 101, 103, 126- 127 Musil, R. 63, 109, 152, 216-217, 262 Nassehi, A. 11, 167 Neurath, O. xii, 8, 17, 25, 85, 91, 97, 125, 142, 210, 257-258 Newton, I. 34, 71, 102, 104-105, 109-110, 126, 255 Nichol, L. 244 Nicklas, H. 243 Nietzsche, F. 152, 195, 200, 215- 216, 234, 270 Nollmann, G. 167 Nöth, W. 44 Nünning, A. 18, 67 Oliva, B. 284 O’Malley, J. J. 153 Panofsky, E. 175 <?page no="320"?> 306 Pareto, V. 43, 133 Parsons, T. 29, 51, 59, 142, 172, 235 Passeron, J.-Cl. 98-99 Pasternak, P. 3 Pêcheux, M. 65, 145, 187-188, 203, 207 Peirce, Ch. S. 44-45 Péquignot, B. 15, 44, 99 Peretti-Watel, P. 44 Peursen, C. A. van 33 Peyré, H. 41 Pfeiffer, K. L. 4, 34-35 Piaget, J. 200 Pigeaud, J. 281 Pirandello, L. 63, 136, 216 Plato 234 Pommier, E. 281 Pontalis, J.-B. 238, 244, 253 Popper, K. R. xi-xiii, 6-8, 10-11, 25, 36, 62, 66, 77, 85-92, 94- 101, 123-125, 127-131, 133- 135, 138, 142, 144, 146-148, 150, 158, 160-161, 170-171, 173, 185, 190, 198-199, 221- 222, 236, 247, 257-259, 277 Postone, M. 176 Prieto, L. J. 53, 227, 260 Proudhon, P. J. 215 Proust, M. 216 Pythagoras 80 Quéré, L. 189 Raible, W. 264 Rasch, W. 173-175, 196 Reich, W. 109 Reitze, S. 19 Rickert, H. 33, 42 Ringham, F. 45 Rinofner-Kreidl, S. 137 Robbe-Grillet, A. 51 Rochlitz, R. 189 Rorty, R. 137, 142-143, 152 Rosenberg, B. 29, 148 Russell, B. 270 Rutte, H. 8, 25, 85 Ryan, A. 71, 77, 127 Saatkamp, H. J. 138, 142 Saint-Simon, Cl. H. 41 Saldern, M. von 250 Sapir, E. 49 Sarasin, Ph. 48 Sartre, J.-P. 228 Saussure, F. de 45, 70, 85, 159, 162 Sayer, A. 97 Schäfers, B. 5 Scheler, M. 43 Schiffer, W. 47 Schilpp, P. A. 133 Schimank, U. 174 Schischkoff, G. 5 Schlechta, K. 215 Schlick, M. 84, 124 Schluchter, W. 32 Schmid, M. 258 Schmidt, A. 213 Schmidt, S. J. 61-62, 137, 163- 165, 213, 230 Schmied-Kowarzik, W. 113 Schnitzler, A. 109 Schönert, J. 38 Schülein, J. A. 17-19, 37 Schurz, G. 108-109, 111 Schütz, A. 43, 191 Schwarz, A. 266 Schwinn, Th. 174 Searle, D. 272 Searle, J. R. 194, 263, 270-276 Serres, M. 26 Shakespeare, W. 102, 110 Siegetsleitner, A. 102 Šik, O. 177 Simmel, G. 43-44, 78, 172 <?page no="321"?> 307 Simon, Cl. 51 Šklovskij, V. 265-266 Smith, A. 43 Smith, J. E. 153 Sollers, Ph. 51 Sorokin, P. 114 Sperber, D. 53 Spinner, H. F. 90 Srubar, I. 145-146 Städtke, K. 4, 35 Stagl, J. 112-113, 116 Stalker, G. M. 249-250 Stanzel, F. K. 2 Stegmüller, W. 8-10, 19, 62, 115, 254-257 Stehr, N. 144, 148 Stirner, M. 194-195, 197 Stolze, R. 127 Strauss, A. 15-16, 291 Strauss, L. 35 Striedter, J. 73, 265-266, 276 Strutz, J. 125 Stubbs, M. 20, 55 Supek, I. 99 Surmatz, A. 102 Svevo, I. 109 Tesnière, L. 249 Thales 80 Thieghem, Ph. van 110 Thompson, E. M. 265 Thumerel, F. 39 Tiedemann, R. 217 Tiryakian, E. A. 62 Tocqueville, A. de 43, 142 Todorov, T. 19 Tönnies, F. 235 Topitsch, E. 35, 87, 247 Touraine, A. xi, 37-38, 43, 51, 67, 230, 237 Tripier, P. 15, 44, 99 Trotzki, L. 148, 266-267 Turner, J. 1, 286 Tynjanov, J. 73, 276 Unamuno, M. de 63 Urry, J. 97 Valéry, P. 152 Van hove, W. 6 Varela, F. 163-165 Venuti, L. 260 Verlaine, P. 264 Vezér, E. 143, 144 Vico, G. 151, 157 Vischer, F. Th. 119, 215 Vischer, R. 119 Volhard, E. 215 Vollhardt, F. 38 Vološinov, V. N. 268-269 Voltaire, F. M. 110 Wacquant, L. J. D. 167, 176, 180 Walton, W. G. 269 Warmer, G. 130 Warren, A. 2 Watzlawick, P. 151, 157-158, 165, 232, 241 Weber, A. 148 Weber, M. xi-xiii, 4-5, 30-35, 39, 41, 43, 45, 50-51, 57-61, 86-90, 93, 114, 116, 147, 172, 236, 248, 249-250, 259 Weichhart, P. 111-112, 116 Weingart, P. 70, 81 Weingartner, P. 108, 111 Weiss, F. G. 153 Wellek, R. 2 Welsch, W. 21, 280 Wendel, H. J. 165, 233 Wenturis, N. 6-7 Wertheimer, J. 176 White, H. 230 Whorf, B. L. 49, 125, 139 Wiche, R. T. P. 256 Wiggershaus, R. 213 Willmot, P. 82-83 <?page no="322"?> 308 Wilson, D. 53 Winch, P. 123, 132-134 Winckelmann, J. 31, 87 Windelband, W. 33, 42 Winter, R. 44 Witschel, G. 100 Witte, E. H. 244, 259 Wittgenstein, L. 132-133 Wolf, K. H. 41 Woolgar, S. 230 Wundt, W. 109 Young, M. 82-83 Yule, G. 20 Zelle, C. 62 Zima, P. V. 26, 31, 45, 65, 75, 110, 125, 176, 269, 287 Zourabichvili, F. 96 <?page no="329"?> Dies ist ein utb-Band aus dem A. Francke Verlag. utb ist eine Kooperation von Verlagen mit einem gemeinsamen Ziel: Lehrbücher und Lernmedien für das erfolgreiche Studium zu veröffentlichen. ,! 7ID8C5-cehjhd! ISBN 978-3-8252-4797-3 Was ist Theorie und welche Bedeutung haben Ideologien und Werturteile für sie? Wie könnte ein kultur- und sozialwissenschaftlicher Theoriebegriff aussehen? Die Tatsache, dass eine zweite Auflage des vorliegenden Werks zustande kam, lässt das Bedürfnis nach einer konkreten Beantwortung der Frage erkennen. Das Buch antwortet auf die oben genannten Fragen, indem es zunächst klärt, wie sich Theorien in den verschiedenen Wissenschaftsbereichen definieren lassen. Anschließend werden die wichtigsten Theoriedebatten des 20. Jahrhunderts dargestellt, aber auch kritisch bewertet. Am Schluss des Bandes steht die Zusammenführung der unterschiedlichen Ansätze im Konzept einer Dialogischen Theorie, die den Besonderheiten der Kultur- und Sozialwissenschaften Rechnung trägt. Soziologie | Kulturwissenschaften utb-shop.de QR-Code für mehr Infos und Bewertungen zu diesem Titel