Interkulturelle Kommunikation
UTB M
0612
2017
978-3-8385-4815-9
978-3-8252-4815-4
UTB
Hans Jürgen Heringer
Interkulturelle Kompetenz gehört zu den Grundfertigkeiten und Schlüsselqualifikationen in der Wirtschaft, in internationalen Beziehungen, im schulischen Alltag. Heringers Standardwerk vermittelt linguistische Grundlagen interkultureller Kommunikation und Basiswissen. Es stellt die Aspekte detailliert dar, die für erfolgreiches interkulturelles Kommunizieren wesentlich sind, und führt kritisch ein in Bedeutung und Funktionsweisen von Kulturstandards, Stereotypen und Critical Incidents.
"Heringers Band ist eine hilfreiche Einführung ins Thema und gleichzeitig eine, die optisch ansprechend und unterhaltsam seine Leser an die Materie heranführt, immer darum bemüht, ein ausgewogenes und kritisches Bild zu schaffen." - Fremdsprachen und Hochschule
"Eine intensive Auseinandersetzung mit diesem - verständlich geschriebenen und lesenswerten - Buch trägt sicher dazu bei, in neuen Situationen inter- aber auch intrakultureller Kommunikation spontan adäquat zu reagieren." - Schule 271 (2015)
"... im wirklichen Sinne ein Lehrbuch mit starken Visualisierungsversuchen und einer Sprache, mit der Lernende etwas anfangen können." - Germanistik 46,3/4 (2005)
"Ein interessantes Buch mit vielfältigen Anregungen" - DaF 2006
"Zusammenfassend ist diese klar gegliederte und informative Darstellung zum Thema "Interkulturelle Kommunikation eine sehr gelungene." - Fremdsprachen und Hochschule 73 (2005)
"... eine gelungene Kombination aus sprachphilosophischen und kommunikationstheoretischen Grundlagen sowie aus (inter-)kulturellen Erfahrungswerten" - Zeitschrift für interkulturelles Philosophieren 2005
<?page no="0"?> Hans Jürgen Heringer Interkulturelle Kommunikation 5. Auflage <?page no="1"?> Eine Arbeitsgemeinschaft der Verlage Böhlau Verlag · Wien · Köln · Weimar Verlag Barbara Budrich · Opladen · Toronto facultas · Wien Wilhelm Fink · Paderborn A. Francke Verlag · Tübingen Haupt Verlag · Bern Verlag Julius Klinkhardt · Bad Heilbrunn Mohr Siebeck · Tübingen Ernst Reinhardt Verlag · München · Basel Ferdinand Schöningh · Paderborn Eugen Ulmer Verlag · Stuttgart UVK Verlagsgesellschaft · Konstanz, mit UVK / Lucius · München Vandenhoeck & Ruprecht · Göttingen · Bristol Waxmann · Münster · New York utb 0000 UTB (M) Impressum_17.indd 1 08.11.16 14: 37 u t b 2 5 5 0 <?page no="2"?> Hans Jürgen Heringer lehrte Deutsch als Zweit spra che an den Universitäten Heidelberg, Tübingen und Augsburg. Prof. (em.) Dr. <?page no="3"?> Hans Jürgen Heringer Interkulturelle Kommunikation Grundlagen und Konzepte 5., durchgesehene Auflage A. Francke Verlag Tübingen <?page no="4"?> Umschlagabbildung: Hans Jürgen Heringer Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb.dnb.de abrufbar. 5., durchgesehene Auflage 2017 4., überarbeitete und erweiterte Auflage 2014 3., durchgesehene Auflage 2010 2., durchgesehene Auflage 2007 1. Auflage 2004 © 2017 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Gedruckt auf säurefreiem und alterungsbeständigem Werkdruckpapier. Internet: www.francke.de E-Mail: info@francke.de Satz: Monika Duldner, Augsburg Einbandgestaltung: Atelier Reichert, Stuttgart Printed in Germany utb-Nr. 2550 ISBN 978-3-8252-4815-4 <?page no="5"?> Inhalt Vorwort zur 4. Auflage ...................................................... 7 1 Grundlagen der Kommunikation ............................ 9 1.1 Definition „Kommunikation“ .................................. 10 1.2 Kommunikationsmodelle ........................................ 13 1.3 Axiome der Kommunikation ................................... 18 1.4 Der frame „Kommunikation“ ................................. 23 2 Sprechen und Verstehen .......................................... 27 2.1 Was sind Zeichen? ................................................. 28 2.2 Was ist Bedeutung? ............................................... 36 2.3 Was heißt Verstehen? ............................................ 48 3 Was ist Konversation? ............................................... 53 3.1 Gesprächsanalyse ................................................... 54 3.2 Sprechakttheorie ................................................... 62 3.3 Logic and Conversation ......................................... 72 4 Nonverbale Kommunikation ................................... 83 4.1 Gestik ..................................................................... 85 4.2 Mimik und so weiter .............................................. 92 4.3 Paraverbales .......................................................... 97 5 Sprache und Kultur ................................................. 107 5.1 Was ist Kultur? ..................................................... 108 5.2 Was ist Sprache? .................................................. 112 5.3 Worauf basieren Sprache wie Kultur? ................. 126 6 Kultur erfassen ........................................................ 129 6.1 Aufbau des Wissens ............................................. 130 6.2 Kulturelle Differenzen ......................................... 141 6.3 Interkulturell im Inland ...................................... 159 7 Kultur in Sprache ................................................... 165 7.1 Was sind Hotspots? .............................................. 166 7.2 Was ist ein Hotword? ........................................... 181 7.3 Somatismen ......................................................... 185 8 Kulturstandards und Stereotypen ....................... 189 8.1 Kulturstandards .................................................. 190 8.2 Was sind Stereotypen? ......................................... 203 8.3 Relativismus ........................................................ 212 Vorwort zur 5. Auflage ...................................................... 8 <?page no="6"?> 66 Inhalt 9 Critical Incidents ..................................................... 219 9.1 Was sind Critical Incidents? ................................. 224 9.2 Die Interkulturelle Trainingspraxis ..................... 228 9.3 Didaktische Formate ............................................. 232 9.4 Narrativik oder story telling ................................ 242 10 Ein Projekt: Stereotypen im Internet ................. 247 Literatur ....................................................................... 251 Nachweise .................................................................... 256 <?page no="7"?> Vorwort zur 4. Auflage Nach zehn Jahren ein eigenes Buch akribisch wieder lesen und verbessern, das ist ein Unterfangen. Mir ist dabei deutlich geworden, dass manche Passagen vielleicht etwas zu ausf ührlich geraten sind, andere etwas dünn. Sollte es jedem Autor so gehen? Was die Interkulturelle Kommunikation betrifft, fiel mir wieder auf, dass sie ein bisschen so ist, wie Karl Valentin es vom Starnberger See sagte: Lang und kurz, breit und schmal, seicht und tief. So habe ich mich auch darin wiedererkannt, dass ich einmal Vieles darstelle, dann aber kritisch befrage, und vor allem, dass der Fokus immer wieder gesetzt wird auf den praktischen Nutzen, darauf, wie ein Leser die Erkenntnisse für seine eigene Kommunikation nutzen könnte. Zu dem Buch gibt es nun einige Rezensionen. Da wird der Autor zum Dialogpartner und kann viel lernen. Er sieht den unsichtbaren Leser und mag lernen, wie der liest. Jeder ist anders - und vor allem anders als der Autor. So kann ich auch nicht alles Monierte akzeptieren. Zum Beispiel nicht, wenn ein wohlgesinnter Rezensent in puristischem Geist moniert, es kämen im Text so viele englische Wörter vor, für die es auch deutsche Pendants gebe. Da denke ich, dass Lernerleser durchaus Anschluss finden sollten an die internationale Diskussion und den üblichen wohldefinierten Wortgebrauch - vielleicht sogar an den Jargon. Insgesamt wurde in einigen Rezensionen gelobt, dass hier auch die Sprache und die Kommunikation überhaupt gebührend behandelt werden. Das erscheint mir nach wie vor nötig, weil interkulturelle Kommunikation eben auch und vor allem Kommunikation ist. Und auch weil die meisten Beiträge zum Thema von Psychologen geleistet wurden, die auf dem sprachlichen Auge mehr oder weniger blind waren. Da geht es weitestg ehend um interkulturelle Kommunikation ohne Sprache - wirklich ein Unding. Es gibt allerdings die didaktische Schwierigkeit, dass es so viele Sprachen gibt, dass gerade Sprachnot ein Charakteristikum Interkultureller Kommunikation bleibt. Ich übergebe euch dieses Büchelchen als einen Spiegel um hinein nach euch und nicht als eine Lorgnette um dadurch und nach Andern zu sehen. Georg Christoph Lichtenberg <?page no="8"?> 88 Dieses Gleichnis gilt aber nach wie vor: In der Interkulturellen Kommunikation ist man im Nachen auf hoher See. Navigation gibt es da wenig. Gefahren aber genug. Da lauert als Scylla: Der naive Optimismus, dass mit gutem Willen auch die Interkulturelle Kommunikation funktioniert. Schließlich sind wir doch alle Menschen. Und auf der anderen Seite Charybdis, die insinuiert, dass man sich eben gut vorbereiten muss und möglichst viel über fremde Kulturen wissen sollte. Das ist sicherlich nicht schlecht, aber im Sturm versagt oft genug das Navigationssystem. Dann muss man spontan gut reagieren auf neue, unberechenbare Situationen. Sonst gerät man eben doch in die Fangarme der Scylla oder geht im tiefen Strudel der Charybdis unter. Ja, und selbst wenn man dieses Abenteuer bestanden hat, ist man noch nicht der Gefahr der Stereotypisierung entronnen. Wir modeln uns die Anderen doch nach unserem Bilde. Um nochmal Lichtenberg zu bemühen: „Gott schuf den Menschen nach seinem Bilde, das heißt vermutlich, der Mensch schuf Gott nach dem seinigen.“ Oder gar nach seinem Bild von Gott? Und von sich? Herrsching, im Februar 2014 Hans Jürgen Heringer Die aktuelle Auflage wurde durchgesehen und enthält kleine Retuschen und Auffrischungen. Ergänzend zum Buch können Sie zum Training, zur Wiederholung und zur Vertiefung eine von mir entwickelte App verwenden. Sie bietet Ihnen wesentliche Inhalte in Form von Multiple Choice-Fragen. Mehr dazu erfahren Sie auf meiner Homepage unter http: / / heringer.net/ seite4.html. Herrsching, im März 2017 Vorwort Vorwort zur 5. Auflage Hans Jürgen Heringer <?page no="9"?> 99 Ought we to begin by giving a set of precise definitions? Friedrich Waismann 1 Grundlagen der Kommunikation Was menschliche Kommunikation ist und wie menschliche Kommunikation funktioniert, wissen wir alle. Wir können es einfach, es ist für uns alltägliche Praxis. Kommunikation ist Teil der Naturgeschichte des Menschen. Von einer wissenschaftlichen Untersuchung erhofft man sich, dass sie uns weitere Aufschlüsse bringt, dass wir genaueres und systematisches Wissen über unsere Kommunikation gewinnen, vielleicht auch ihre allgemeinen Prinzipien erkennen. Und wir hoffen natürlich, dass dieses Wissen wieder praktisch greifen wird, dass wir reflektierter und einfach besser kommunizieren werden, wenn wir dieses Wissen haben. Üblicherweise fängt eine Untersuchung an mit einem Vorbegriff des untersuchten Phänomens. Diesen Vorbegriff will man aber gerade modifizieren, man will ihn mit Details füllen, mit neuen Erkenntnissen. Und manchmal sogar ganz verwerfen? Einiges - denken wir - werden wir aber nicht verwerfen. Sonst hätten wir vielleicht am Ende etwas Anderes untersucht: Zur menschlichen Kommunikation gehören immer mindestens zwei. Es gibt Einen, der aktiv etwas produziert, und einen Anderen, der passiv rezipiert oder besser gesagt: versteht. Diese Rollen können wechseln. In der menschlichen Kommunikation verwenden wir Zeichen. Die Wörter sind uns allerdings so vertraut, dass wir sie nicht ohne Weiteres für Zeichen halten. Um sie als Zeichen zu erkennen, bedarf es systematisierender Reflexion. Zeichen haben Bedeutung. Der Witz der Zeichenverwendung besteht in ihrer Indirektheit. Nicht mehr die Dinge, sondern eine Art Ersatz wird in der Kommunikation verwendet. Eine wissenschaftliche Untersuchung endet in einer Darstellung. Die Darstellung kann aus verbalem Text, aus Zahlenwerk, Statistiken, aus Grafiken usw. bestehen. Grafische Darstellungen werden auch als Modelle bezeichnet, wenngleich der Modellbegriff sich hierin nicht erschöpft. Ein Modell sollte so etwas sein wie die Übertragung eines Konzepts aus einem anderen Bereich. Ob das Modell passt, ist eine andere Frage. Sie kann nur entschieden werden im Vergleich mit anderen wissenschaftlichen Darstellungen oder über Verifikation, fehlschlagende Verifikation oder Falsifikation. <?page no="10"?> 1100 Viele Wissenschaftler beginnen die Untersuchung eines Gegenstands damit, dass sie ihn definieren. Das ist natürlich schwer möglich, wenn sie ihn noch nicht genau kennen; diesen Zweck soll ja die Untersuchung erst erfüllen. So werden sich also Gegenstand und Definition im Laufe der Untersuchung verändern, je mehr Erkenntnisse wir gewinnen. Den Gegenstand, das Phänomen, allerdings sollte es einfach geben; Wissenschaftler können es nicht definieren oder bestimmen. Damit sind wir bei einem ersten Problem: Das Verb definieren hat keinen einheitlichen Gebrauch in der Wissenschaft. Es wird öfter im Sinne von herausfinden, was etwas eigentlich ist, aber meistens im Sinn von festlegen, was etwas sein soll verwendet. So spricht man z.B. recht ambivalent davon, dass in einem Wörterbuch die Definition eines Wortes stehe. Aber ist es die Aufgabe eines normalen Wörterbuchs irgend etwas von der Bedeutung festzulegen? Sollte das Wörterbuch nicht eher die Bedeutung darstellen, so wie sie ist? Ein weit verbreiteter Gebrauch des Verbs definieren in der Wissenschaft konzentriert sich nicht auf den Gegenstand, sondern auf die Sprache, in der die Untersuchung oder die Theorie formuliert wird. Und da ist es ein rationaler Anspruch, dass die Theoriesprache, insbesondere ihre Termini, wohldefiniert sein müssen. Mathematiker und Logiker verlangen, dass alle ihre Termini wohldefiniert sind. In weicheren Theorien wird hierauf weniger Wert gelegt. Hier gibt es die Hoffnung, dass die Termini auch umgangssprachlich verständlich seien. Dies scheint vernünftig, weil es oft um allgemein menschliche Probleme geht, die vielleicht nur in der Umgangssprache formulierbar sind. Daraus folgt: Termini sollten nicht willkürlich definiert werden, sondern im Zusammenhang des Lebens und ihrer normalen Verwendung. Hier liegt ein Konflikt. Es gibt wissenschaftlich etablierte und begründete Kriterien für Theorien und Termini. Dazu gehören vor allem Präzision und Kohärenz. Präzision ist gefordert, damit Theorien sich als falsch erweisen können, damit man sie falsifizieren kann. Kohärenz ist gefordert, damit man die Theorie auf Konsistenz überprüfen kann, damit man über ihre Hypothesen rational argumentieren kann. Wie und ob dies mit umgangssprachlicher Formulierung zu bewältigen ist, bleibt umstritten. Am Anfang Definition? Natürlich ist auch im logischen Verfahren das Problem, dass man vielleicht nicht genügend über die Sache weiß, bevor man die Theorie aufgestellt hat. Oder anders ausgedrückt: Wenn ich bestimmte Termini in der und der Weise gebrauche, ohne vorher zu wissen, was sie darstellen sollen, kann die ganze Theorie doch leicht schief laufen. Darum sehe man das Ganze eher als einen Prozess. Wann kann man definieren? 1.1 Definition „Kommunikation“ 1 Grundlagen der Kommunikation <?page no="11"?> 1111 Definition „Kommunikation“ 1.1 Die Güte oder Brauchbarkeit meiner Termini ist bestimmt durch die Güte der Theorie, die ich darstelle. So werde ich eben im Laufe des Prozesses auch meine Termini erproben, neue Erkenntnisse in ihre Definition einfließen lassen. Gerade so wird es sich mit dem Terminus Kommunikation verhalten. Kommunikation ist vielfach untersucht worden und vielfach definiert worden. Nicht alle Definitionen werden dabei im Verlauf methodischer Untersuchungen entstanden sein. Bei vielen könnte es eher so gedacht sein, dass Definierer das Wesen der Kommunikation vorführen oder bestimmen wollten - und das vielleicht sogar so getan haben -, indem sie einfach darüber nachgedacht haben, was für sie das Bestimmende an Kommunikation ist. Das ist weit verbreitet. Schauen wir uns Produkte unterschiedlicher Verfahren an. Hier haben wir ein Beispiel für eine festlegende Definition. Die Autorin kann sich auf eine Tradition stützen, aber wir können nicht ohne Weiteres erkennen, worin die Fruchtbarkeit dieser Definition bestehen sollte. Erhebt sich nicht der Verdacht, dass die Gleichbehandlung solch Verschiedenen zu unrealistischen Ergebnissen führt? Oder wird gerade diese Zusammenschau kreativ und fruchtbar? Normative Definition Wesentlich offener und zugleich spezifischer ist die folgende Definition. Offene Definition Mit dem Wort Kommunikation bezeichne ich jede Art von Verständigung zwischen Lebewesen und Lebewesen Lebewesen und Maschine (von Menschen oder Maschinen hergestellten Gebilden) Maschine und Maschine (Payer 2001: www.payer.de/ cmc/ cmcs01.htm) Das Wort Kommunikation wird in sehr vielfältiger Weise verwendet. Wenn man will, kann man jedwede Form der Beeinflussung eines Systems durch ein anderes Kommunikation nennen; dann kommunizieren Röhren, Tiere, Gehirnzellen und dergleichen. Man kann jedwedes Ereignis, das interpretativ nutzbar ist, Kommunikation nennen; dann ist ein Kinnhaken ebenso kommunikativ wie das Tragen keiner Krawatte oder wie Grashalme, die sich im Wind bewegen. Ich will das Wort Kommunikation, wie es in der Linguistik und Sprachphilosophie weitgehend üblich ist, in einer sehr eingeschränkten Bedeutung verwenden. <?page no="12"?> 1122 Rudi Keller *1942 ist Linguist. Seine Forschungsschwerpunkte: • Sprachwandel • Zeichentheorie • Unternehmenskommunikation Seine Theorie des Sprachwandels etabliert den Prozess der Unsichtbaren Hand als das wesentliche Erklärungsprinzip. Die Metamorphose der Zeichen ist ein wichtiger Gesichtspunkt ihrer Genese. Die Entgegennahme einer Nachricht von einem Sender, der den gleichen Zeichensatz zur Informationsübertragung benutzt wie der Empfänger. (Umstätter: www.ib.hu-berlin.de/ ~wumsta/ wistru/ definitions/ Allerdings stellen sich auch hier noch Fragen, wie etwa: Was ist „intentionales Verhalten“? Was besagt „auf offene Weise“? Was sind „Zeichen im weitesten Sinne“? Die folgende Definition wirkt vor dem Hintergrund der Keller‘schen Definition leicht befremdlich. Defizitäre Definition Kommunikation soll jedes intentionale Verhalten genannt werden, das in der Absicht vollzogen wird, dem Andern auf offene Weise etwas zu erkennen zu geben. Kommunizieren in dem hier relevanten Sinne heißt Mitmenschen beeinflussen, und zwar dadurch, dass man dem Andern mittels Zeichen (im weitesten Sinne) zu erkennen gibt, wozu man ihn bringen möchte, in der Hoffnung, dass diese Erkenntnis für den Andern ein Grund sein möge, sich in der gewünschten Weise beeinflussen zu lassen. (Keller 1994: 104) 1 Grundlagen der Kommunikation Ist Kommunikation eine so einseitige Angelegenheit? Betrifft Kommunikation nicht wenigstens beide Beteiligte? Die Übertragung einer fremden Betrachtungsweise und das technische Vokabular haben derartigen Auffassungen zu großer Popularität verholfen. Wie weit diese Betrachtungsweise trägt, bleibt zu prüfen. <?page no="13"?> 1133 1.2 Kommunikationsmodelle Die Übernahme technischer Darstellungen der Nachrichten- Übertragung führte zum Sender-Empfänger-Modell der Kommunikation. Dabei wird das ursprüngliche technische Modell von Shannon/ Weaver mehr oder weniger stark abgewandelt. Menschliche Kommunikation wird gefasst als Abfolge von Nachrichtenübermittlung zwischen Person A und B. Die Kommunikationspartner nehmen dabei abwechselnd die Rolle von Sender und Empfänger ein, ähnlich der Abfolge beim Sprechfunk, bei dem die Beteiligten wählen müssen zwischen Senden und Empfangen. Im Sender geht es von einer Intention zu einem Bedeutungsvorrat, vielleicht das, was kommuniziert werden soll. Dieses wird kodiert anhand des verbalen und non-verbalen Zeichenvorrats, der dem Sender zur Verfügung steht. Die Enkodierung des Gemeinten in der Person des Senders erlaubt anschließend die interpersonelle Übertragung als Nachricht oder Botschaft auf verschiedenen Kanälen (akustisch, optisch, taktil). Beim Empfänger wird dann die so übermittelte Zeichensequenz (Botschaft/ Nachricht) aufgrund des eigenen Zeichenvorrats dekodiert und in Bedeutungssequenzen übersetzt, die vom Empfänger wiederum als Botschaft des Senders verstanden werden. Indem der Empfänger nun auf diese so verstandene Bedeutung reagiert, wird er selbst zum Sender, der Andere zum Empfänger usw. Sender- Empfänger- Modell Kommunikationsmodelle 1.2 Zeichenvorrat Bedeutungsvorrat IInnt teennt tiioonn Bedeutungsvorrat Zeichenvorrat VVeerrssttäännddnniiss Zeichenvorrat Zeichensequenz Empfänger Bedeutungsvorrat Bedeutungssequenz Zeichen-Bedeutung-Zuordnung Sender Bedeutung-Zeichen-Zuordnung Bedeutungsvorrat Bedeutungssequenz Zeichenvorrat Zeichensequenz Störung Nachricht VVeerrssttäännddnniiss <?page no="14"?> 1144 Sollte die Darstellung nur von der Dignität des Terminus leben? Kode Es gibt noch mehr Fragen: Was ist eigentlich eine Bedeutungssequenz? Gibt es sowas? Oder sind nicht erst die Zeichen (und nicht vorsprachlich gefasste Bedeutungen) sequenziell kombinierbar? Wie enkodiert man? Wieso haben die beiden eigentlich den gleichen Zeichenvorrat und gleiche Kodierungsverfahren? Was steckt hinter der Idee der Störung? Sowas wie im Fernsehen, wenn das Bild mal flackert? Wenn damit erfasst sein soll, dass nicht immer genau das ankommt, was abgeschickt wurde, dann muss man sagen: Das ist der Normalfall in der Kommunikation. Es als Störung anzusehen geht von einem unrealistischen und unbegründbaren Ideal aus. All diese Fragen werden uns noch beschäftigen. Die harmonische Idee, die Intention gehe im Verständnis auf und werde eigentlich nur durch äußere Störungen gefährdet, entspricht in keiner Weise menschlicher Kommunikation. Menschliche Kommunikation ist immer riskant. Die Störungen kommen nicht von außen, wie Gewitter, die unsere Leitungen stören. Nein, es ist gerade der Normalfall, dass das, was wir sagen wollen, anders verstanden wird, als wir es meinen. Entscheidend ist immer das Verstehen. Das Verstehen, der verstehende Partner bestimmt sozusagen, was gesagt wurde. Die Darstellung ist recht ärmlich: Situation, Wahrnehmung, Wissen fehlen ganz. Und sie ist in Jargon befangen. Die Rede von Sender und Empfänger passt nicht so recht auf das, was wir in der Kommunikation tun. Es ist irgendwie eine fremdartige Sicht von außen. So etwas kennen oder erleben wir selbst nicht. Das Modell baut auf die Ideologie, dass Denken vor Sprache sei und sozusagen primär. Es gebe einen Bedeutungsvorrat, aus dem geschöpft wird, die einzelnen Bedeutungen würden dann sprachlich kodiert. Aber was genau sind sie vorher? Und wenn sie nicht auch schon sprachlich wären, dann könnte man sie nicht kodieren. Zum Kodieren gehört ein Kode. Was sollte hier der Kode sein? Normalerweise besteht ein Kode aus zwei Zeichensätzen, deren Elemente einander eineindeutig zugeordnet sind. 1 Grundlagen der Kommunikation Zeichensatz 1 a b c d e f g ... Zeichensatz 2 ... <?page no="15"?> 1155 Ein frühes und bekanntes Kommunikationsmodell ist das Organonmodell von Karl Bühler. Bühler geht aus von Platons Ausspruch, die Sprache sei ein organum. Darin „sind drei Relationsfundamente aufgezählt: einer - dem Andern - über die Dinge“. (Bühler 1969: 94) Man zeichne ein Schema auf ein Blatt Papier, drei Punkte wie zu einem Dreieck gruppiert, einen vierten in die Mitte und fange an darüber nachzudenken, was dies Schema zu symbolisieren imstande ist. Der vierte Punkt in der Mitte symbolisiert das zu untersuchende organum, welches offenbar zu allen drei Fundamenten an den Ecken in irgendeiner Relation stehen muss […] Wir ziehen gestrichelte Linien von dem Zentrum zu den Eckpunkten unseres Schemas und überlegen, was diese gestrichelten Linien symbolisieren. (Bühler 1969: 94) In der Tradition wurde Bühler wie Platon einseitig gedeutet: organum wurde windschief als Werkzeug deklariert. Es könnte aber ebenso gut Organ sein und damit an eine evolutionär denkende Sprachauffassung anschließen. Bühler spricht in diesem Zusammenhang jedenfalls auch von Organ und er zieht zum Vergleich das menschliche Auge heran. Wie dem auch sei: In einem Punkt ist die Werkzeug-Idee nicht adäquat. Sprache ist nichts, was zu einem Zweck gemacht wurde, Sprache ist funktional entstanden und auch die kommunikativen Zwecke sind evolutionär entstanden. Wenn Menschen die Sprache als Werkzeug konzipiert hätten, dann hätten sie schon vorgängig einen Zweck gefasst haben müssen. Aber sollte es vor der Kommunikation die Idee der Kommunikation gegeben haben? Diese Einführung erinnert an das Vorgehen eines Kindes, das etwas aufs Papier kritzelt und die Erwachsenen fragt, was es geschrieben hat. Es ist aber klar, dass sie einer didaktischen Tradition verpflichtet ist. Vielleicht entspringt sie einer Vorlesung. Also fragen Sie sich auch, was die Linien symbolisieren? Nun, der eine produziert Äußerungen, der Andere rezipiert und die Äußerung hat einen Bezug zur Welt. Bühler differenziert das Modell weiter, er entwickelt sozusagen aus dem Strukturmodell ein Modell, das die Funktionen des Zeichens und Aspekte der Kommunikation darstellt. Nicht mehr nur der Aspekt der Darstellung von Realität, sondern auch die Sprecher und ihre Beziehung werden einbezogen. Organon- Modell Kommunikationsmodelle 1.2 einer organum der Andere die Dinge <?page no="16"?> 1166 „Der Kreis in der Mitte symbolisiert das konkrete Schallphänomen. […] Das Dreieck [ = das Zeichen] umschließt in einer Hinsicht weniger als der Kreis (Prinzip der abstraktiven Relevanz). In anderer Richtung wieder greift es über den Kreis hinaus, um anzudeuten, dass das sinnlich Gegebene stets eine apperzeptive Ergänzung erfährt. Die Linienscharen symbolisieren die semantischen Funktionen des Sprachzeichens. Es ist Symbol kraft seiner Zuordnung zu Gegenständen und Sachverhalten, Anzeichen (Indicium) kraft seiner Abhängigkeit vom Sender, dessen Innerlichkeit es ausdrückt, und Signal kraft seines Appells an den Hörer.“ (Bühler 1969: 116) Innovativ hieran ist die Betonung der Ausdrucksfunktion und der Appellfunktion. Die Ausdrucksfunktion umfasst auch Stimme und Gestik-Mimik. Aber auf eine exakte Appellfunktion ist nach Bühler alles zugerüstet. Dafür gibt er ein schönes Beispiel. Z Appell Darstellung Empfänger Ausdruck Gegenstände und Sachverhalte Sender Ein Bonner Student soll einmal, so geht die Fama, im Wettkampf das schimpftüchtigste Marktweib mit den Namen des griechischen und hebräischen Alphabetes allein („Sie Alpha! Sie Beta! “ usw.) zum Schweigen und Weinen gebracht haben. Eine psychologisch glaubwürdige Geschichte, weil beim Schimpfen wie in der Musik fast alles auf den Ton ankommt. Die drei Funktionen 1 Grundlagen der Kommunikation Z <?page no="17"?> 1177 Insgesamt scheinen die klassischen Kommunikationsmodelle vielen plausibel, weil sie einer allgemein verbreiteten Auffassung von Kommunikation verpflichtet sind. Diese Auffassung lässt sich charakterisieren als das Transportmodell der Kommunikation: Von mir zu dir. Eine Person A hat die Intention, einer anderen Person B etwas mitzuteilen. Dieses Etwas fasst A in Worte (kodiert es) und äußert diese Worte entweder lautlich oder schriftlich. Die Person B vernimmt die Laute oder liest die Buchstaben und entnimmt ihren Sinn (dekodiert sie). Was vorher im Kopf von A nur war (die wolkige Intention) ist danach auch im Kopf von B. - Aber vielleicht ist es auch nur die halbe Wolke. Das Modell krankt vor allem an zweierlei: Sinn wird überhaupt nicht transportiert. A produziert nur Laute oder Schriftzeichen. Wie kommt also der Sinn von A zu B? Der Sinn oder die Intention von A wäre doch nur in beider Köpfe. Wie wäre denn festzustellen, was im Kopf von A ist oder war und was dann im Kopf von B ist? Und wie könnte man feststellen, dass beides (ungefähr) gleich ist? Das Transportmodell stellt menschliche Kommunikation nicht adäquat dar. Anregung Transportmodell Es gibt noch weitere mehr oder weniger technisch orientierte Kommunikationsmodelle. Recherchieren Sie. Suchen Sie mindestens zwei weitere Modelle. • Welche Einwände werden gegen diese Modelle erhoben? • Welche Probleme sehen Sie? Kommunikationsmodelle 1.2 <?page no="18"?> 1188 Bühler hatte die Idee, grundlegende Eigenschaften der menschlichen Sprache und Kommunikation herauszuarbeiten. Er nannte sein Buch „Axiomatik der Sprachwissenschaften“. Mit der Rede von Axiomen machte er Anleihen bei den angesehenen exakten Wissenschaften wie Logik und Mathematik. Wir sollten diese Redeweise metaphorisch verstehen. Ein entscheidender Fortschritt war aber, die an der Kommunikation Beteiligten von vornherein in die Untersuchung einzubeziehen. Wir können das der psychologischen Sichtweise gutschreiben. Fünf Grundsätze der Kommunikation hat in gleicher Tradition die Forschergruppe um Paul Watzlawick aus Untersuchungen gestörter oder pathogener Kommunikation und aus ethnografischem Fallmaterial gewonnen. Auch sie haben ihre Ergebnisse in Axiomen der Kommunikation zusammengefasst, die mittlerweile Klassiker der Kommunikationsliteratur sind. (Watzlawick 1969) 1.3 Axiome der Kommunikation Man kann nicht nicht kommunizieren. Menschliche Kommunikation vollzieht sich digital und analog. Kommunikationsabläufe sind entweder symmetrisch oder komplementär. Interpunktion bedingt Kommunikationsablauf. Beziehung bestimmt inhaltliche Bedeutung. Paul Watzlawick 1921- 2007 Psychopathologe und Psychotherapeut Vertreter eines kommunikativen Ansatzes in der Therapie Bekannt ist W. besonders durch seine populären und lebendigen Publikationen wie Anleitung zum Unglücklichsein , 1983. 1 Grundlagen der Kommunikation <?page no="19"?> 1199 1. Axiom Man kann nicht nicht kommunizieren. Das Axiom verweist uns darauf, dass alles, was wir tun, gedeutet wird. Sogar Nichtstun wird gedeutet, wenn es als Unterlassung oder als Absicht verstanden wird. Wenn ich also nichts tue, kann ein Partner dies als Unterlassung deuten - und das könnte ein Missverständnis sein. Solcher Art Schweigen kann natürlich leicht missverstanden werden, weil Schweigen öfter als Zustimmung genommen wird. Man kann einfach nichts tun und schweigen. „Ich warte, bis der Andere gesprochen hat.“ Man kann aber auch vielsagend schweigen. „Ich bin nicht einverstanden, widerspreche aber meinem Gesprächspartner nicht.“ Es kommt auf den Kontext an, was Schweigen ist und was es bedeutet. Besonders in der interkulturellen Kommunikation können hier Probleme auftreten, weil es kulturell verschiedene Ausführungsbestimmungen dafür gibt, was als Schweigen zählt und als was Schweigen zählt. Während in der deutschen Kultur eine Gesprächspause ab 20 Sekunden peinlich zu werden beginnt, gelten für andere Kulturen andere Regeln. Deutungen über unterlassene Handlungen sind im interkulturellen Kontext noch riskanter als in der eigenen Kultur. Unterlassungen zu deuten setzt sehr viel Wissen über Konvention und Kultur voraus. Schweigen, Nicht-in-die-Augen-Schauen, erwartungswidriges Nichtstun usw. können kulturell sehr unterschiedlich gedeutet werden, oft gegenläufig zur deutschen Deutung. Im Grund ist das Axiom etwas windschief; es scheint einer einseitigen, hörerorientierten Auffassung von Kommunikation anzuhängen. Schweigen bleibt doch eigentlich Nichtstun. Und wer nicht handelt, der kommuniziert nicht. Wir müssen zwar als Sprecher akzeptieren, dass unsere Akte von den Partnern gedeutet werden. Das bedeutet aber noch lange nicht, dass etwas, was so und so gedeutet wird, auch so und so gemeint war. Das sprechende Individuum kann nicht für jede Deutung verantwortlich gemacht werden. Verstehende tragen Mitverantwortung, vielleicht sogar die Hauptverantwortung. Nur: Als Sprecher sollte ich mir Gedanken machen, wie ich verstanden werden könnte. Denn ich will ja, dass der Hörer das versteht, was ich sagen will, und nicht allzu viel hinzutut. Axiome der Kommunikation 1.3 Der britische Professor Lord Acton war Ende des 19. Jahrhunderts Abgeordneter im englischen Parlament. Nach einigen Jahren wurde er gefragt, warum er beständig schweige. Er antwortete, dass er mit niemanden übereinstimme, so wie auch mit ihm niemand übereinstimme. Beispiel Schweigen <?page no="20"?> 2200 Beziehung bestimmt inhaltliche Bedeutung. Das Axiom basiert auf der Unterscheidung von Inhaltsaspekt und Beziehungsaspekt. Es soll darauf verweisen, dass in der Kommunikation nicht nur der sachliche Gehalt eine Rolle spielt, sondern stets auch mitschwingt, wie die Beziehung zwischen den beiden Partnern gesehen und bestimmt wird. Die Unterscheidung wird verbunden mit der Behauptung, die Beziehung bestimme die Kommunikation zwischen Gesprächspartnern. Auch dies gilt nicht generell, es ist kulturspezifisch: Während in der deutschen Kultur die Sachorientierung sehr hoch geschätzt werde und die Beziehung zwischen den Kommunikationspartnern als Gestaltungsaufgabe nur untergeordnete Bedeutung habe, sei es in anderen Kulturen selbstverständlich, zunächst die Entwicklung der Beziehung in den Mittelpunkt der Kommunikation zu stellen. „Wie soll ich mit jemand einen Vertrag schließen, wenn wir uns nicht kennen? Das Wichtigste ist eine gute Beziehung - dann sind schwierige Sachfragen schnell und gut zu lösen.“ Interpunktion bedingt Kommunikationsablauf. Das Axiom fokussiert auf die Sequenzierung der Kommunikation und darauf, dass die Partner den Verlauf unterschiedlich segmentieren und ordnen. Daraus entstehen Missverständnisse. Margaret Mead hat in einer berühmt gewordenen Studie die Missverständnisse beim Flirt zwischen britischen Krankenschwestern und amerikanischen Soldaten während des zweiten Weltkrieges untersucht. Verwirrend für beide Seiten war offensichtlich die Frage, was an welcher Stelle Küssen bedeutet. 2. Axiom 3. Axiom Deutsche Verwaltungsmitarbeiter erleben es häufig als lästig oder als Ablenkungsmanöver, wenn Angehörige beziehungsorientierter Kulturen nicht gleich zur Sache kommen. In deutschen Behörden, wie überhaupt in beruflichen und zielorientierten Kontakten, gilt das oft als Zeitverschwendung, macht deutsche Gesprächspartner ungeduldig. Aber es gibt auch diese Erfahrung: Wenn keine kooperative Arbeitsbeziehung zwischen Mitarbeiter und Klient entwickelt ist, wird für die Fallbearbeitung insgesamt mehr Zeit, Energie und Nerven verbraucht, als dies durch eine Anfangsinvestition zur Entwicklung einer guten Beziehung der Fall wäre. In der britischen Kultur kam damals Küssen erst sehr spät in der Schrittfolge, kurz vor der Einwilligung zum Geschlechtsverkehr; für Amerikaner hingegen war Küssen eine wenig verpflichtende Handlung am Beziehungsbeginn. Wenn nun ein amerikanischer Soldat schon nach kurzer 1 Grundlagen der Kommunikation <?page no="21"?> 2211 Hinsichtlich der Bedeutung der Reihenfolge von Sprechhandlungen und Themen lassen sich unmittelbar Bezüge zu interkulturellen Situationen herstellen. Die Fragen, wer darf ein Gespräch beginnen, was soll zuerst und was erst am Schluss gesagt werden, sind in unterschiedlichen Kulturen unterschiedlich geregelt. Menschliche Kommunikation vollzieht sich digital und analog. Das Axiom bezieht sich auf das Medium der Kommunikation. Es ist zu exemplifizieren am Unterschied von verbaler und nonverbaler Kommunikation. In verbaler Kommunikation verwenden wir Wörter, die distinkt sind, für die wir diskrete Muster der Wahrnehmung besitzen. Verbale Kommunikation gilt als digital. In nonverbaler Kommunikation ist viel mehr Spiel, sie ist analog. Nehmen wir das Beispiel Lächeln. 4. Axiom Zeit seine Krankenschwestern-Bekanntschaft zu küssen versuchte, war dies für die britische Frau sehr ungewöhnlich, und amerikanische Soldaten gerieten in den Ruf, draufgängerisch und wenig sensibel zu sein. Wenn eine britische Frau dem Drängen zum Küssen nachgab, bedeutete dies für sie nach ihren kulturellen Normen, dass sie dann auch zum nächsten Schritt bereit wäre. Die schnelle Bereitwilligkeit zum Sex wiederum verstörte die amerikanischen Männer, die britische Frauen aufgrund dieser Erfahrung als leicht rumzukriegen und schamlos werteten. Wenn jemand lächelt in unserer Gegenwart, kann das als freundlich, falsch, verlegen, verlogen, triumphierend, wissend, amüsiert, ironisch usw. zählen - je nach Ausführung und Annahmen über den Partner. In interkulturellen Situationen entstehen hier besonders häufig Missverständnisse: Gestik, Mimik, Bewegungen, der Ausdruck von Gefühlen sind in vielen Gesellschaften spezifisch ausgeprägt und in traditionalistischen Kulturen stark normiert. Mit dem Axiom wird die Bedeutsamkeit und gleichzeitig die Vieldeutigkeit der nonverbalen Ebene für die Kommunikation betont, insbesondere für die Beziehungsebene. Die Frage der Übersetzbarkeit von der analogen in die digitale Modalität erweist sich als kritische Stelle in der Kommunikation. Was darf in einer Kultur verbal expliziert werden, was muss nonverbal bleiben? Es liegt nahe für Deutsche, wenn man sich nicht sicher ist, was die Andere nonverbal eigentlich sagen will, einfach zu fragen: „Wie meinen Sie das jetzt? Ist Ihnen das nicht recht? “ Dies kann aber interkulturell als schwerer Normverstoß erlebt werden. Axiome der Kommunikation 1.3 <?page no="22"?> 2222 Deutsche neigen zur Explizitheit und zum Ausdiskutieren, was ihnen wiederum in manchen Kulturen den Ruf einträgt, indezent, derb oder unhöflich zu sein. Aber muss man nicht einfach drüber reden? Sollte man damit nicht Verständigung schaffen, Konflikte auf höherer Ebene lösen? Der Empfehlung „Metakommunikation als Lösung für Kommunikationsprobleme“ zu folgen kann im interkulturellen Kontext riskant werden. Kommunikationsabläufe sind entweder symmetrisch oder komplementär. Das Axiom behandelt die Beziehung der Beteiligten und Arten der Wechselseitigkeit: Symmetrie und Komplementarität. In symmetrischer Kommunikation sind die Handlungsmöglichkeiten der Partner gleich verteilt. Beide sind bestrebt, keine Ungleichheiten und unterschiedliche kommunikative Rechte aufkommen zu lassen. In komplementärer Kommunikation ergänzen sich die Handlungsmöglichkeiten der Partner. Dabei kann die Asymmetrie in verschiedenen Positionen manifest werden: Ein Partner nimmt die überlegene Stellung ein, der andere die entsprechende inferiore. Das muss nicht bewusste Dominanz sein. Die positive, auf Gleichheit beruhende Form symmetrischer Beziehung könnte als ein Ideal proklamiert werden. Für eine utopische Gesellschaft war das verbreitet. Realiter zeigt sich, auch bei der Begegnung von Partnern aus unterschiedlichen Kulturen, dass im Hintergrund häufig die Frage verhandelt wird: Wer bestimmt? Wer ist mehr wert? Die Asymmetrie kann zu destruktiven Entwicklungen in interkulturellen Begegnungen führen bis hin zu internationalen Konflikten, zu einem Prozess gegenseitiger Eskalation. Zu beobachten sind solche Prozesse häufiger, wenn die Beteiligten sich jeweils von der anderen Seite nicht respektiert fühlen oder selbst dominant auftreten - oder als Dominanz beanspruchend wahrgenommen werden. Die Beziehungen verschlechtern sich zusehends, es kommt ein eisiges Klima auf: Die Störung der Kommunikation impliziert Misstrauen und das Verwerfen der Selbstdefinition des Partners (Watzlawick 1969: 104). Wenn z.B. das Verhalten des Individuums A in der betreffenden Kultur für dominant gehalten wird und als kulturbedingtes Verhalten von B darauf Unterwerfung erwartet wird, so ist es wahrscheinlich, dass diese Unterwerfung ein erneutes Dominanzverhalten auslöst, das seinerseits wieder Unterwerfung fordert. So etwas kann sich also aufschaukeln und verfestigen, dann aber auch zum Problem werden. 5. Axiom 1 Grundlagen der Kommunikation <?page no="23"?> 2233 1.4 Der frame „Kommunikation“ Im Zuge des Kognitivismus ist es üblich geworden, Phänomene über ihre (ausgedachte) mentale Repräsentation zu erfassen. So kann etwa Kommunikation in einer sog. Szene oder in einem frame dargestellt werden, der uns die wesentlichen Aspekte bietet. Wann wird kommuniziert? • Wie weit reicht für die Teilnehmer die relevante Zeit? • Was bedeutet das für die Teilnehmer? • Wie weit beziehen sie den Zeithorizont ein? Wo wird kommuniziert? • Wie weit konzipieren die Teilnehmer den Raum? • Welche Räumlichkeit? • Welche räumliche Anordnung der Teilnehmer? • In welchem Abstand, in welcher Position befinden sie sich? • Sind die Teilnehmer kopräsent oder nicht? Kommunikatives Szenario Beteiligte Wie viel Beteiligte gibt es? • Nur zwei? • Mehrere? • Gibt es Parteien oder Koalitionen? Welche Rollen schreiben sich die Partner im Gespräch zu? • Mann? Frau? • Freund? Feind? • Alt? Jung? Der frame „Kommunikation“ 1.4 11. . WWaannnn uun ndd wwoo? ? [[SSzzeennaarriioo]] 22. . WWeerr? ? [[BBeetteeiilliiggttee]] 33. . WWoorrüüb beerr? ? [[TTooppiikk]] 66. . WWoommi itt? ? [[MMeeddiiuum m] ] 55. . WWiiee? ? [[MMoodduus s]] 44. . WWoozzuu? ? [[IInntteennttiioonn]] KKoommmmuunniikkaattiioonn <?page no="24"?> 2244 Von wem wird welche Beteiligung erwartet? Was wissen die Teilnehmer voneinander? In welcher Beziehung sehen sich die Teilnehmer? • Symmetrisch? Asymmetrisch? • Tun beide das Gleiche, dürfen beide das Gleiche tun? • Fühlen sich beide jeweils vom Partner respektiert? • Tritt ein Partner dominant auf oder wird sein Auftreten so empfunden? Die Rollenzuschreibungen der Partner sind nicht starr, sie ändern sich dynamisch in der Kommunikation. Jeder Akt kann in Bezug auf die Beziehung gedeutet werden und kann auch so intendiert sein. Worüber wird gesprochen? Worum geht es? • Wird von allen Partnern das Gleiche als Topik gesehen? • War das Topik vor dem Zusammenkommen klar? Findet ein Wechsel des Topiks statt? Gibt es eine Ordnung der Topiks? • Gibt es übliche Sequenzen von Topiks? • Ist eine Struktur von Subtopiks zu erkennen? Was sagt man und was besser nicht? (Tabu) Ein Topik wird vordergründig recht allgemein benannt. Es ist aber schon innerlich differenziert und vielleicht gar nicht als ein einziges Topik bestimmbar. Mehr als bei anderen Komponenten der Kommunikation gehen wir gern davon aus, dass von Anfang an feststünde, worum es geht, worüber kommuniziert wird. Mehr als bei anderen Komponenten kann diese Annahme gefährlich werden. Worum es eigentlich geht, ist prozessual, dynamisch. Es wird im Prozess bestimmt, verändert, implizit ausgehandelt. Oft genug weiß man nicht, worauf die Partnerin hinaus will. Es gibt konventionelle Topikstrukturen, die den Beteiligten bekannt sein mögen oder nicht. Für unser Verstehen spielt es offensichtlich eine zentrale Rolle, an welcher Stelle in der Rede etwas gesagt wird. Westliche Kulturen stellen beispielsweise das Wichtige an den Anfang, asiatische Kulturen bauen ihre Rede so auf, dass das Wichtige später kommt. (Scollon/ Scollon 1995: 2) Im Schriftlichen gibt es unterschiedliche Textformen mit unterschiedlichen Abfolgen, ebenso wie unterschiedliche Formen der Argumentation: logisierende, rhetorische, assoziative, die hiermit allerdings schon im Lichte einer Kultur charakterisiert sind. Topik 1 Grundlagen der Kommunikation Beteiligte <?page no="25"?> 2255 Was ist das Ziel des Ganzen? • Ist das Ziel klar oder vorgegeben? • Wie entwickelt sich das Ziel? Welche Ziele haben die Teilnehmer? • Welches Ziel ist ihnen gemeinsam? • Welche Ziele sind unterschiedlich? • Akzeptieren die Partner ihre wechselseitigen Ziele? Geht es um Kooperation oder geht es um Kompetition? Hier gibt es Probleme analog zum Topik. Es mag von Anfang an ein Grobziel geben, darin gibt es aber Feinziele und Etappen zum Grobziel. Vor allem ist zu differenzieren: das gemeinsame Ziel und die individuellen Ziele. Intention Wie wird kommuniziert: Was ist verbal, was nonverbal? Wie wird etwas gesagt? • Direkt oder indirekt? • In welcher Sprache: Muttersprache oder Fremdsprache? • In welchem Stil? Wie ist die Kommunikation strukturiert? • Wer hat welche turns? • Wie funktioniert das turn taking? • Gibt es eine vorgegebene Sequenzierung? Wie oft direkt und wie oft indirekt gesprochen wird und bei welcher Gelegenheit, ist von Kultur zu Kultur unterschiedlich geregelt. Ostasiatischen Kulturen spricht man einen hohen Grad an Indirektheit zu; Indirektheit sei im Chinesischen typisch. Man stellt eine Frage und will damit einen Hinweis geben. Man verweist auf die Unangemessenheit der Kleidung, indem man sich nach dem körperlichen Wohlbefinden erkundigt. Man „zeigt auf einen Hirsch und nennt ihn Pferd“ - wie eine chinesische Redensart besagt. Den Zusammenhang zwischen Pferd und Hirsch muss der Adressat selbst herstellen. Dahinter steht das Prinzip des Gesichtwahrens und der Harmonie. Das Gesicht zu wahren ist ein allgegenwärtiger Imperativ der Kommunikation. Westlichen Kulturen spricht man einen hohen Grad an Direktheit zu. Individualismus und Wahrhaftigkeit gelten als wichtige Werte der Kommunikation. Dennoch sind auch wir oft genug indirekt und wir haben eine ganze Palette indirekter Ausdrucksweisen, vor allem im höflichen Umgang. Geht das wirklich so weit, wie Goethe meinte: Im Deutschen lügt man, wenn man höflich ist? Modus Der frame „Kommunikation“ 1.4 <?page no="26"?> 2266 Welches Medium findet Verwendung? • Schrift (optisch)? • Gesprochene Sprache (akustisch)? • Körpersprache (gestisch, mimisch, taktil)? Ist das Medium digital oder analog? Werden technische Hilfsmittel oder Sekundärmedien verwendet? • Telefon? • Chat? • Projektor? Beamer? Sinn ohne Medium gibt es nicht. Medium ist das, worin sich Sinn manifestiert. In diesem Sinn ist der klassische Medienbegriff hier fehl am Platze, geht er doch davon aus, ein vorgängig existierender Sinn werde medial so oder so gefasst. In der Regel werden für die Differenzierung des Mediums die rezeptiven Sinnesorgane zugrunde gelegt. Man spricht auch von Kanälen. Gesprochene Sprache wird dann dem akustischen Kanal, Mimik und Gestik dem optischen Kanal zugerechnet. Kanaldiskrepanzen bringen Probleme: Wenn ein Gesprächspartner etwas Trauriges erzählt und dabei lacht, was dann? Für den asiatischen Raum, wo man darauf bedacht ist, dass der Partner sein Gesicht wahren kann, gelte es als völlig normal, wenn man (in einer bestimmten Weise) lächelt in Gesprächssituationen, in denen man etwas Belastendes berichtet, aber auch, wenn man mit dem, was der Andere äußert, nicht einverstanden ist. Dies führt häufig zu Fehlinterpretationen durch westliche Gesprächspartner, die von der Annahme ihrer eigenen Kultur geleitet sind: Lächeln = Freude, Zustimmung usw. Medium 1 Grundlagen der Kommunikation <?page no="27"?> 27 2 Sprechen und Verstehen • Welche Arten von Zeichen gibt es? • Wie verstehen wir sie? • Wie kommen sie zu ihrer Bedeutung? Wenn wir den Schlüssel nicht kennen, können wir sie nicht verstehen. Wir wissen nicht einmal, ob es Zeichen sind oder Bilder. Steht in der Mitte der Grafik der Rest eines „Schiffe versenken“? Oder ist es eine Botschaft an extraterrestrische Wesen? Handelt es sich links unten um das verfremdete, uns vertraute Kreuz? Und erzählt das oben rechts gar eine Geschichte? Culture depends on symbolic structure. Culture is learned sign behavior. Raimo Anttila Wir seien von Zeichen umstellt, sagen Semiotiker. Und da haben sie Recht. Zeichen sprechen nicht direkt zu uns. Sie haben ihren eigenen Gebrauch und von daher ihre Bedeutung. <?page no="28"?> 2288 Eine gängige und alte Antwort auf die Frage, was Zeichen sind, lautet: Aliquid stat pro aliquo. Etwas steht für etwas Anderes, ein X für ein Y. Das Wort Katze steht für eine Katze. Repräsentationsmodell Ein Kritikpunkt war, dass etwa das Wort Katze ja für jede Katze stehen könne, dass damit gar keine eins-zu-eins-Beziehung existiere. Es müsse also etwas Anderes sein, was dem Wort entspreche. Der Ausweg war, dass die Beziehung zwischen dem Zeichen und dem Ding nicht mehr so direkt zu sehen sei, sondern indirekter: Das Wort ruft eine Vorstellung in den sprechenden Individuen hervor. Eine der Ausformungen dieser Vorstellungstheorie wird festgehalten im sogenannten semiotischen Dreieck (nach Ogden/ Richards 1923: 6). Einwände Die Beziehung zwischen X und Y sei demnach nur indirekt, sie sei vermittelt über eine Vorstellung. Das ist aber eher eine Verschlimmbesserung. Dieses Modell wird gepflegt durch die Jahrhunderte. Es wird kritisiert und es hat verschiedene Ausformungen erlebt. 2.1 Was sind Zeichen? Gegen das Modell der Repräsentation sind weitere Einwände vorzubringen und vorgebracht worden. Bei vielen unserer Wörter führt die Annahme, sie stünden für Dinge oder Vorstellungen, nicht weit. Welche Vorstellung ist verbunden mit Wörtern wie ähnlich, wichtig, und, nichts? Wie erreicht man oder wie kommt es, dass Kinder im Spracherwerb diese Verbindungen lernen? Wie kommt ein Partner auf meine Vorstellung von Y, wenn ich das Wort X verwende? Und vor allem: Wie können wir feststellen, dass unsere Vorstellungen gleich sind? Wie stellt man fest, dass z.B. zwei Wörter synonym sind, also mit den gleichen Vorstellungen verbunden? Eine weitere Schwäche dieses Ansatzes ist, dass er voraussetzt, dass es X und Y gibt und dass beides unabhängig voneinander fassbar sei. Wie das aber gehen soll, ist unklar. 2 Sprechen und Verstehen XX YY KKaattzzee VVoorrsstteelllluunngg XX YY <?page no="29"?> 2299 Funktionales Zeichenmodell Was ein sprachliches Zeichen zeichenhaft macht, ist die Tatsache, dass ein geregelter Gebrauch ihm kommunikative Funktion verleiht. Es spielt seine Rolle im Spiel des Kommunizierens. Dies ist, auf einen kurzen Nenner gebracht, die Zeichenauffassung Wittgensteins. Sein Ansatz wird auch als Gebrauchstheorie der Bedeutung bezeichnet. Gebrauch ist hierbei durchaus vage zu verstehen: Einmal als aktuelle Verwendung und dann sozusagen als die Summe aller bisherigen oder dem Sprecher bekannten Verwendungen. Wittgensteins berühmte Formulierung lautet: „Man kann für eine große Klasse von Fällen der Benützung des Wortes „Bedeutung“ - wenn auch nicht für alle Fälle seiner Benützung - dieses Wort so erklären: die Bedeutung eines Wortes ist sein Gebrauch in der Sprache“ (Wittgenstein 1967: 43). Gebrauchstheorie Ein konträrer Ansatz zum Repräsentationsmodell ist das funktionale Zeichenmodell. Es ist eher genetisch orientiert und daran, wie Zeichen entstehen in menschlicher Kommunikation und wie sie sich wandeln. Es fokussiert nicht so sehr darauf, wofür ein Zeichen steht, sondern was es zu einem Zeichen macht. Auch hier unterscheidet man zwei Aspekte des Zeichens: den Aspekt der Manifestation und den Aspekt der Wirkung, des Effekts, der Funktion. Das Zeichen etabliert sich im Verlauf der Kommunikation. Seine Bedeutung ist das, was es uns ermöglicht, in der Kommunikation dies oder jenes mit ihm zu erreichen. VVoorrtteeiillee ddeerr GGeebbrraauucchhsstthheeoorriiee 1. Die Sprache wird in den Zusammenhang des gesamten menschlichen Handelns gestellt, weil der Gebrauch eben dieses Handeln ist. 2. Die Sprache wird nicht als Zeichensystem angesehen, das unabhängig von Sprechern und sozialen Gruppen existiert. 3. Mit dem Gebrauch kommt die Möglichkeit der Entstehung, der Veränderung und des Erwerbs der Bedeutung in den Blick. 4. Die Bedeutung ist nichts Geheimnisvolles. So wie ich den Gebrauch des Turms im Schachspiel lernen kann, und zwar mehr oder weniger gut, so kann ich den Gebrauch eines Wortes lernen. 5. So, wie man überprüfen kann, wie weit jemand den Gebrauch des Turms beherrscht, kann man überprüfen, ob er die Bedeutung eines Wortes beherrscht, ohne ihm in den Kopf schauen zu müssen. 6. Bedeutungen lassen sich formulieren, ohne erfundene Entitäten wie Vorstellungen, Begriffe, semantische Merkmale und dergleichen. Was sind Zeichen? 2.1 <?page no="30"?> 3300 Potenzial Ausdruck Bedeutung Realisierung Manifestation/ Okkurrenz Deutung/ Sinn Unterscheiden In der funktionalen Zeichentheorie ist nicht vorausgesetzt, dass ein Zeichen zwei Seiten habe. Doch können wir durchaus zwei konstitutive Aspekte erkennen: Die Manifestation und das Muster für die Manifestation, den Sinn, den wir damit vermitteln, und die Bedeutung, die uns das erlaubt. Eine weitere Unterscheidung ist: Das Zeichen als Muster, als Einheit der Sprache (langue) und sein Bedeutungspotenzial, das uns ermöglicht, dies oder jenes mit ihm zu meinen, die Verwendung des Zeichens in der Kommunikation (parole) und der Sinn in der jeweiligen Situation. Terminologisch wäre darum so differenzieren: Im Saussureschen Zeichenmodell unterscheidet man Ausdruck und Inhalt. Beide sind konventionell miteinander verbunden, beide existieren nicht unabhängig von einer Sprache. Sie existieren nur qua Zeichen, also in einer Sprache und durch eine Sprache. Beide Seiten wie das ganze Zeichen sind Schematisierungen. Der Ausdruck ist nicht das physikalische Lautereignis, der Inhalt ist nicht das je Gemeinte (Saussure 2013: 1095). Die Schemata sind konventionell; sie haben ihr individuelles Pendant, insofern sie im sprachlichen Wissen einzelner Individuen sind. Ludwig Wittgenstein 1889 - 1951 Wird von vielen als bedeutendster Philosoph des 20. Jahrhunderts gesehen. Im Zentrum seiner Philosophie stand die Sprache. Allerdings nicht, weil er sich als Sprachphilosoph gesehen hätte, sondern aufgrund der Überzeugung: Alles wird in Sprache ausgetragen. Er selbst publizierte sehr wenig. Tractatus Logico- Philosophicus , 1922. Aber der Nachlass ist immens. Posthum veröffentlicht Philosophische Untersuchungen, 1953. Ferdinand de Saussure 1857 - 1913 Wird als Begründer der modernen Linguistik betrachtet. In seinen Grundfragen der allgemeinen Sprachwissenschaft entwickelt er eine allgemeine Theorie der Sprache als Zeichensystem und die Methode zur strukturellen Analyse. Mit seinem Namen verbunden sind wichtige Dichotomien: • Langue vs. parole • Synchronie vs. Diachronie • Signifiant vs. signifié 2 Sprechen und Verstehen <?page no="31"?> 3311 Was aber macht ein Zeichen zum Zeichen? Oder wie gelingt es, mit dem Zeichen Sinn zu vermitteln? Nach dem Prinzip der Autopoiese wird der Verstehende irgendwie den Sinn erzeugen und der Sprechende muss davon ausgehen, dass dem Verstehenden das gelingt. Der Verstehende deutet, er erschließt den Sinn. Dazu muss er aus dem geäußerten Zeichen, aus der Manifestation, seine Schlüsse ziehen, um zu verstehen. Das klingt allerdings etwas zu aktivistisch, denn so viel Arbeit haben wir damit nicht. Um die aktivistischen Anklänge zu vermeiden, verwenden wir für diesen Vorgang die Kunstwörter inferieren und Inferenz. Selbstverständlich inferiert der Verstehende nicht im luftleeren Raum. Er tut dies auf der Basis seiner aktuellen Wahrnehmung, seines aktivierten Wissens und des Kontexts. All dies wird sozusagen mit verrechnet. Und nur wenn das Resultat, das Verstehen, in diesen Zusammenhang passt, wird der Verstehende sich zufrieden geben. Deutung von Zeichen Für die Deutung verwenden Verstehende drei Verfahren: 1. Symptomische Inferenz 2. Ikonische Inferenz 3. Symbolische Inferenz Entsprechend können wir drei Typen von Zeichen unterscheiden: Symptome, Ikone und Symbole. Drei Typen Das Symptom basiert auf kausalen Zusammenhängen. Wer etwas als Symptom wertet, schließt auf der Basis eines kausalen Zusammenhangs: Wenn jemand Masern hat, bekommt er Flecken; so sind die Flecken ein Zeichen, ein Symptom für Masern. Wo Rauch ist, ist auch Feuer. Wir werten den Rauch als Symptom für Feuer - landläufig könnte man auch sagen, ein Zeichen für Feuer. Es ist ein Zusammenhang, der auf Welterfahrung beruht. Symptome sind im strengen Sinn vielleicht gar keine Zeichen. Zum einen können wir sie nicht direkt und willentlich erzeugen. Zum andern sind sie nicht eigentlich kommunikativ. Sie werden eben nicht zum Zweck der Kommunikation verwendet. Die Grenze zu bloßen kausalen Folgen besteht eigentlich nur in der Nutzung: Öfter scheint die Folge für uns im Vergleich zur Ursache so viel weniger wichtig, dass wir ihr keinen eigenen Wert zusprechen, sondern sie nur als Zeichen für die uns eigentlich wichtigere Ursache nehmen. Symptome sind in keinem Sinn arbiträr oder willkürlich. Das heißt, der Zusammenhang beider Zeichenaspekte ist fest und natürlich. Symptome Was sind Zeichen? 2.1 <?page no="32"?> 3322 2 Sprechen und Verstehen Ein Ikon basiert auf dem Zusammenhang der Ähnlichkeit. Ikonische Inferenz verwendet die Ähnlichkeit, um von der Manifestation auf das Intendierte zu kommen. Wer etwas als Ikon wertet, erkennt Ähnlichkeiten zwischen dem Zeichen und dem, was es vermitteln soll. Ikone haben durchaus Züge von Arbitrarität, weil nämlich die Wahrnehmung und Feststellung der Ähnlichkeit selbst konventionell geregelt sein kann, ja vielleicht immer konventionell geregelt ist. Was als ähnlich gilt oder wahr genommen wird, ist bereits wieder kulturell bedingt. Wer etwa dieses Zeichen sieht und darauf schließt, dass bedeutet werde schleudern, der macht sich die Ähnlichkeit zu nutze. Er inferiert ikonisch. Allerdings ein Lehrbeispiel! Wer war so blöd? Die Sambesis, der Experte oder der Erzähler? Vielleicht wurde der Experte auf den Arm genommen. Dennoch: Ikone müssen nicht so weit universal sein, wie oft angenommen. In China finden wir schon in Bahnhöfen andere Ikone. Was sagt das große I einem Chinesen? Oder Ihnen dieses Schild? Hierzu ein Fall, der aus Sambia berichtet wird. Ein Gesundheitsexperte hielt in einem sambischen Dorf einen Vortrag, um über die Gefahren zu informieren, die durch die Tsetse-Fliege drohen. Der Experte beherrschte die Landessprache nicht, er sprach Englisch und musste übersetzt werden. Zur Veranschaulichung verwendete er ein großes Demonstrationsmodell der Fliege. Die Sambesis meinten hinterher: „Es mag alles stimmen, was Sie über diese Fliege sagen. Aber das betrifft uns nicht. Unsere sind viel kleiner.“ Entweder man kennt das Ikon oder man muss Hypothesen aus der Situation gewinnen. Ikone Das Symbol basiert auf dem Zusammenhang der Präzedenz und Konvention. Symbolische Inferenz macht sich frühere gelungene Deutungen zunutze. Wem es gelungen ist, einmal mit dem geäußerten Zeichen einen bestimmten Sinn zu verbinden, und wer dies als gelungen erlebt hat, der wird das Zeichen auf diese Präzedenz hin nächstes Mal wieder so deuten und verwenden. Symbole <?page no="33"?> 3333 Was sind Zeichen? 2.1 Symbole sind arbiträre Zeichen ohne natürlichen Zusammenhang von X und Y. Aber sie sind nicht deutbar auf der Basis der Arbitrarität. Denn die wäre nichtssagend und würde keine Inferenz gestatten. Das Individuum basiert seine Inferenz auf seiner Erfahrung, auf Präzedenz. Es geht davon aus, dass das Zeichen X jetzt so gebraucht wird wie früher. Dem sprechenden Individuum genügt als Kriterium, dass e den intendierten kommunikativen Erfolg hat (oder glaubt zu haben). Dem verstehenden Individuum genügt, dass die Deutung, die Inferenz passt. Menschliche Kommunikation beruht auf der Verwendung von Symbolen. Es genügt nicht, dass mein Partner mein Gähnen als ein Zeichen der Müdigkeit deutet. Damit das Gähnen symbolisch wird, muss mein Partner davon ausgehen, dass ich gähne, um ihm etwas zu verstehen zu geben. Und vor allem muss ich es in der Absicht getan haben, dass mein Partner dies erkennt. Denn nur dann kann ich davon ausgehen, dass er mich versteht. In dieser Struktur liegt der Knackpunkt menschlicher Kommunikation, in dieser Struktur ist das eigentlich Intersubjektive aufgehoben. Kommunikation basiert auf gegens eitigen Erwartungen und Annahmen. Kommunikation basiert auf reziprokem Wissen. Das reziproke Wissen darf nicht als irgendwie objektiv gesichertes Wissen verstanden werden. Es ist vielmehr Glaubwissen. Es muss auch nicht so sein, dass dieses Wissen geteilt wird in dem Sinn, dass die Partner das Gleiche glauben, dann könnten wir uns nie verstehen. Es genügt für mich völlig, wenn ich weiß oder zu wissen glaube, was mein Partner glaubt usw. Die Inferenz auf der Basis von Präzedenz bleibt natürlich nicht individuell und subjektiv. Ein Individuum wird ja auch davon ausgehen, dass der Partner genau dies meint, was es versteht. Das heißt: Durch den Rekurs auf das reziproke Wissen basiert die Inferenz nicht mehr nur auf Präzedenz, sondern auf einer Konvention, auf einer als gemeinsam unterstellten Tradition. Falls Ihnen diese Definition zu umständlich erscheint, bedenken Sie, dass Konventionen immer sozial und gruppenspezifisch sind. Konvention Eine Verhaltensregularität R von Mitgliedern einer Gruppe G, die an einer wied erholt auftretenden Situation S beteiligt sind, ist genau dann eine Konvention, wenn es wahr ist und wenn es in G zum gemeinsamen Wissen gehört, dass bei jedem Auftreten von S unter Mitgliedern von G (1) jeder R folgt; (2) jeder von jedem Andern erwartet, dass er R folgt; (3) jeder es vorzieht, R zu folgen, sofern auch die übrigen es tun, weil S ein Koordinationsproblem ist und die allseitige Befolgung von R in S ein koordinatives Gleichgewicht ergibt. (Lewis 1975: 79) Definition s <?page no="34"?> 3344 2 Sprechen und Verstehen Es gibt Spielarten der drei Zeichentypen und es gibt Übergänge zwischen den verschiedenen Typen (Keller 1995: 176), die auch phylogenetisch wichtig sind. Übergangsbedingungen vom Symptom zum Ikon wären etwa: X wird absichtlich erzeugt. Es wird vom Verstehenden erkannt, dass X absichtlich erzeugt wurde. Beispielsweise mag der Ausruf „au“ eine kausale Reaktion auf einen plötzlichen Schmerz gewesen sein, also ein Symptom. Wenn ihn jemand absichtlich äußerte und das vom Partner erkannt wurde, konnte er als symbolisches Zeichen verstanden werden. Durch Wiederholung und Verbreitung konnte so daraus das deutsche Wort au werden, das durchaus ein Symbol ist, weshalb etwa seine Äquivalente in anderen Sprachen auch anders lauten, etwa ow oder aïe. Auch in der Realisierung ist oft unbestimmt, ob ein Symptom oder ein Symbol vorliegt. Lachen etwa mag einfach eine Folge von Wohlbefinden sein, es mag aber auch als kommunikativ gedacht sein, um etwas zu verstehen zu geben. Metamorphosen Symptome können zu Symbolen werden, wenn sie konventionalisiert sind. In Spanien irgendwo, in einem ganz kleinen Dorf - wo, weiß ich nicht mehr - gibt es eine Fischerkneipe und da gibt es Sardinen vom Grill. Wir waren zu viert essen und da hat uns der Wirt vier Plastikteller hingestellt und einen großen Teller mit den Sardinen drauf. Jeder hat sich also mit den Händen die Fische genommen und gegessen. Nachdem der Teller leer war, brachte er den nächsten Teller. Da haben wir uns gefreut, dass noch ein Teller kommt und haben den auch aufgegessen. Und irgendwann kam dann noch ein Teller und wir haben überhaupt nicht gewusst, wie wir jetzt das noch verkraften können. Also drei Teller waren für vier Leute okay, aber danach haben wir echt nicht gewusst: Wie sollten wir dem jetzt klar machen, dass wir einfach total satt waren? Die Lösung ist ganz einfach: Man muss einfach den letzten Fisch liegen lassen. Dann weiß der Wirt, dass die Gesellschaft satt ist, und bringt nichts mehr. Aber solange man aufisst, ist das für ihn ein Zeichen dafür, dass man noch etwas will. Natürlich ginge das nicht endlos weiter. Ein Ausweg ist in diesem kulturellen Verfahren gewiss vorgesehen. Bemerkenswert an diesem Beispiel ist, dass man gezwungen ist, auf dieses Zeichen einzugehen: Entweder man isst den letzten Fisch oder nicht. Beides hat etwas zu sagen. <?page no="35"?> 3355 Was sind Zeichen? 2.1 Hieroglyphen? Die Geschichte der Hieroglyphen und ihrer Entzifferung ist ein Exempel der Zeichenmetamorphose. In der Historie sehen wir, was passiert, wenn man Zeichen nicht deuten kann. Die ägyptischen Obelisken in Rom zeigten ja ständig Hieroglyphen; verstanden hat sie wohl niemand mehr, nur vermutet, es seien wundersame Figuren. Die Sinnvermutung hat diverse Quellen, sie entspringt wohl: • der Gebrauchssituation, manifest in den imposanten Steinen, • der sorgfältigen Ausführung der Figuren, • der Wiederholung und dem Arrangement der Zeichen. Wenn es Zeichen waren, dann waren sie doch unverständlich und geheimnisvoll. Daher die Vermutung, dies sei beabsichtigt. Eine ganze Tradition ihrer Verwendung und Deutung: Mythische, okkulte Zeichen und ihre Adaptation in Astrologie und in Esoterik. Wenn wir etwas nicht verstehen, fragen auch wir uns vor alten Überlieferungen: Ist das ikonische Zeichnung oder konventionalisierte Schrift? So wie rechts oben in unserer Eröffnungsgrafik. Anregung Die Hieroglyphen sind ikonisch, hat man lange gedacht und sich die Zähne an ihrer Entzifferung ausgebissen. Den entscheidenden Schritt tat erst Champollion. Er sah, dass Hieroglyphen nicht ikonische, sondern gemischte Zeichen sind. Eine ikonische, aber effiziente Schrift musste sich so erweitern: • Ikonisch sind vorderhand Gegenstände darstellbar. Von daher müssen etwa Verben über Assoziationen und Metaphern dargestellt werden. Ein Auge also für Auge, aber auch für sehen. • Vom Dargestellten zum Wortlaut. Saliente Phoneme des Wortes werden zur Bedeutung des Zeichens. So hätte das Bein für / b/ stehen können, wenn das Wort mit b angefangen hätte. Darum können Hieroglyphen für Phoneme, Phonemkombinationen und Silben stehen. • In der Verwendung ergibt sich Stilisierung durch Abschleifung und kommunikative Ökonomie in Schreibgewohnheiten. • Das Gemisch aus ikonisch und phonetisch bringt nicht den vollen Kode, grammatische Phänomene sind nicht darstellbar. Darum wurde der Plural etwa durch drei Striche dargestellt und für feminin gab es ein eigenes, nicht ikonisches Zeichen. Mischzeichen In der Entwicklung der Hieroglyphen zeigt sich die Freiheit der Konventionalisierung: Manche Ikone wurden gespiegelt in der Symbolwerdung. Warum wohl? <?page no="36"?> 3366 2.2 Was ist Bedeutung? Allen Zeichenmodellen ist gemeinsam, dass ein Zeichen einerseits eine äußere Form, einen Ausdruck, eine Manifestation habe und andrerseits einen Inhalt, eine Bedeutung. Die Bedeutung ist das Potenzial des Zeichens, in der jeweiligen Realisierung etwas zu verstehen zu geben. Sie ist auch das Potenzial, das uns überhaupt gestattet, in der Verwendung dies oder jenes zu meinen. Dieses Potenzial entsteht in Kommunikation, ganz entsprechend dem genetischen Modell sprachlicher Zeichen. Eine Bedeutung ist eine lange Geschichte. Denn der Gebrauch eines Wortes in der Sprache ist eine sehr lange Geschichte. Und um davon wenigstens etwas zu erfassen, braucht es wenigstens eine short story. Nur die pedantische Beschreibung bringt Einsichten in die Sprache und ihren tatsächlichen Gebrauch. Nur die detaillierte Darstellung des Gebrauchs offenbart die konstitutive Rolle eines Wortes für die Kultur und für die Weltansicht. Die übliche Annahme, dass Wörter eine Bedeutung haben, wird oft überzogen windschief gedeutet. Letztlich kann es doch in der Phylogenese nicht so einfach gewesen sein, wie Antal es im sprachlichen Alltag sieht. Language the product of speech If we use the words according to their meaning, the meaning precedes the use of the word, just as the use of language presupposes knowledge of that language. (Antal 1963: 51) Natürlich kommen wir ohne die Bedeutung nicht weit, wir kommen im Gebrauch aber doch über die Bedeutung hinaus. Sonst wären Sprachwandel und Sprachentstehung nicht möglich. Was immer Sprache auch sei, sie war nicht vor der Kommunikation da. Die Sprache hat mit der Kommunikation angefangen, sich in und mit der Kommunikation entwickelt. Konventionelle Kommunikation via Bedeutung muss erklärt werden auf der Basis vorkonventioneller Kommunikation. In diesem Sinn sind die Äußerungen primär. But, as theorists, we know nothing of human language unless we understand human speech. (Strawson 1971: 189) Das Gleiche wie für die Phylogenese gilt übrigens für die Ontogenese. Ontogenese ist bestes Beispiel dafür, dass es nicht mit Bedeutungen anfängt. Der Lerner kann seine Kompetenz nur ausbilden in Kommunikation, auf der Grundlage von Äußerungen. Ontogenese 2 Sprechen und Verstehen <?page no="37"?> 3377 Was ist Bedeutung? 2.2 Als Kind lernt man die Reaktionen kennen auf bestimmte Kommunikationsversuche. Ja, man lernt sogar, dass etwas als Kommunikationsversuch verstanden wird. Die Reaktionen, die passen, werden individuell als regulär verarbeitet. Da man immer mehr und mit immer mehr Individuen kommuniziert, wächst die Koordinationsbreite der vermuteten Regularität oder des autopoietisch erzeugten Sinns. Muss man anfangs alle Reaktionen als sakrosankt hinnehmen - man lernt ja erst, wie das Ganze geht -, so kann man später schon leichte Abweichungen tolerieren und letztlich sogar ignorieren. Man lernt, sie jeweiligen Individuen zuzuschreiben, ohne am Funktionieren des ganzen Unternehmens zu zweifeln. Das semantische Wissen eines Individuums wird im Spracherwerb aufgebaut (und wahrscheinlich nie abgeschlossen). Das Individuum muss sein Wissen gewinnen aus Kommunikationen, also aus Untermengen verwendeter Zeichen und aus den entsprechenden Situationen. Das Wissen wird kaum darin bestehen, dass alle Äußerungen und Situationen im Gedächtnis bleiben. Es findet eine Schematisierung oder Verdichtung statt. Wie dies aussieht, wissen wir nicht. Die Rede von Abstraktion ist ein wenig sagender Behelf. Die genetische Auffassung der Bedeutung ist verbunden mit der Gebrauchstheorie der Bedeutung. Sie räumt auf mit antiquierten Bedeutungsauffassungen. Sie ist zum Beispiel gerichtet gegen die Idee, es gebe eine sprachfreie Welt, die für Bedeutungen bestimmend sei, es gebe ein Reich der Bedeutungen in Unabhängigkeit von den Zeichen, es gebe Bedeutungen als identifizierbare Gegenstände, es gebe Bedeutungen ohne die Sprecher, die Zeichen verwenden. Bedeutung als Gebrauch Wittgenstein hat den Slogan nicht nur geprägt, sondern auch seinen Geist bestimmt. Er reflektiert nicht auf der sozusagen ontologischen Ebene der Bedeutung, sondern etwas weiter oben über die Möglichkeiten, Bedeutungen zu erfassen und zu beschreiben. Darum heißt es bei ihm: „Die Bedeutung des Wortes ist das, was die Erklärung der Bedeutung erklärt.“ D.h.: willst du den Gebrauch des Wortes „Bedeutung“ verstehen, so sieh nach, was man „Erklärung der Bedeutung“ nennt. (Wittgenstein 1967: 560) <?page no="38"?> 3388 2 Sprechen und Verstehen Sprache und Welt Wittgenstein behandelt in diesem Zusammenhang besonders die Tatsache, dass unser Sprechen von Regeln geleitet sei. Insofern ist eine Variante seines Slogans nicht ganz schief: Die Bedeutung eines Wortes ist die Regel seines Gebrauchs. Diese Variante verkennt aber, dass Gebrauch im gleichen Sinn vage ist. Der Gebrauch ist einerseits Usus, Gewohnheit, andererseits die tatsächliche Äußerung, das historische Kommunikationsereignis sozusagen. Damit macht es nicht unbesehen Sinn, den Gebrauch zu verkürzen, von bestimmten Aspekten des Gebrauchs abzusehen und sie in der Betrachtung zu vernachlässigen. Vielmehr ist der Gebrauch dann eigentlich alles, was je mit einem Wort getan oder erreicht wurde. Jede Begrenzung, jede Fokussierung und jede Abgrenzung im Gebrauch und in der Historie eines Worts muss gerechtfertigt werden. Und sie kann eigentlich nur für bestimmte praktische Zwecke gerechtfertigt werden. So möchte man zum Beispiel in einem Wörterbuch eher einen kurzen praktischen Hinweis auf die Verwendung eines Wortes. Oft begnügt man sich mit einem Scheinäquivalent. Unterschiede merkt man im Gebrauch. Lange Zeit waren Linguisten bestrebt, eine Grenze zu ziehen zwischen dem sogenannten sprachlichen Wissen und dem sachlichen oder enzyklopädischen Wissen (analog: sprachliche Bedeutung und Sachbedeutung). Sensitiv waren besonders die Substantive (möglicherweise auch Verben und Adjektive). Das Bemühen bestand letztlich darin, einen je konstanten Kern als Bedeutung aufzufassen, eine flexiblere Peripherie als Sachwissen. Die Rechtfertigungen der Unterscheidung gleiten schnell ab: Sie diskutieren Wörter wie Hund, Tiger, Löwe und fragen gleich, welche Eigenschaften der Spezies notwendig zukommen oder wie der Begriff Löwe zu definieren, abzugrenzen oder dergleichen sei. Kein Wort mehr von den Wörtern und deren Verwendung. Hinzu kommt schnell noch die Idee, es sei erstrebenwert die Spezies oder den Begriff, das Konzept so zu charakterisieren, dass es von allen andern unterschieden sei. Aber warum so ärmlich? Tatsächlich ist es eine andere Fragestellung, wie das Wort gehen verwendet wird und was bei seiner Verwendung verstanden wird, als was beim Gehen vor sich geht, welche Muskeln und Nerven aktiviert werden usw. Dies heißt aber nicht, dass zum Verstehen nicht Wissen über die Vorgänge (über die Welt) gehöre. Was wäre, wenn Experten entdecken würden, dass man zum Gehen die Füße gar nicht braucht? So etwas geht nur über lange, lange Zeit - und da hätte sich gewiss die Bedeutung von gehen geändert. Im übrigen haben Uhren keine Füße. <?page no="39"?> 3399 An Sprache gebunden Die wissenschaftliche Wahrheit ist es nicht, was die Bedeutung ausmacht. Sonst gäbe es keine Bedeutung. Wenn die Bedeutung der Zeichen das ist, was den Sprechern Kommunikation und Verstehen ermöglicht, dann ist es abstrus anzunehmen, nur einige Experten kennten die wahre Bedeutung. Das hieße, dass all die Anderen sich gar nicht recht verstehen könnten und dass unsere Vorfahren sich über weite Strecken nicht verstanden hätten. Ja, da unsere Kenntnis der Wahrheit bekanntlich nicht sicher oder abgeschlossen ist, könnten wir uns jetzt und in Zukunft nicht verstehen. Die Elemente der Bedeutung ergeben sich aus den Elementen, die für das Verstehen wichtig, relevant usw. sind. Das sind aber nicht immer die gleichen und nicht einmal ein fester Grundstock. Wörterbücher suggerieren uns, es gebe äquivalente Wörter in verschiedenen Sprachen. Das gilt aber nur mit einem groben Körnchen Salz. Wir können zwar den Sinn einer Verwendung mehr oder weniger gut übersetzen. Aber dass zwei Wörter äquivalent seien, erscheint nach der Genese von Bedeutungen absurd. Sowohl was die Stichwortäquivalenzen betrifft als auch die einzelnen Verwendungsweisen und Beispiele, die ein Wörterbuch uns bietet, sind sie eher der Stoff, mit dem wir uns dann vorläufige eigene Hypothesen über den Gebrauch bilden können. Mit den Wörtern Freund, friend, amigo sind ganz unterschiedliche kulturelle Tatsachen verknüpft. In USA ist man schnell ein friend, in Deutschland hat man mit Freundschaft eine tiefere Beziehung so heißt es und für sowas wie Amigotum haben wir das Lehnwort. Genauer und empirisch fundiert können wir heutezutage zeigen, in welch unterschiedlichen Zusammenhängen Wörter in verschiedenen Sprachen stehen. Korpusbasierte Untersuchungen eruieren die unterschiedlichen Kookkurrenzen eines Wortes in großen Korpora. Darüber hinaus kann man anschauliche Darstellungen dieser Zusammenhänge entwickeln. Neben den Sterndarstellungen, die Affinitäten durch Distanz oder Nähe zum Kernwort darstellen, sind vor allem Wordles Mittel der Anschauung. Sie sind automatisch zu generieren und zeigen die Wichtigkeit durch die Schriftgröße. Was größer erscheint ist affiner zum Kernwort. Ein Chilene, der nach dem universitären Sprachkurs die Prüfung ablegen sollte, konnte nicht verstehen, warum der Lektor auf seine Hinweise, dass er doch sein amigo sei, nicht reagierte, sondern normal weiterprüfte. Nach Auffassung des Chilenen hätte sein amigo ihn mit leichten Fragen durch die Prüfung lotsen müssen (sonst wäre er kein amigo) oder ihm vorher die Freundschaft kündigen müssen. So fühlte er sich verraten. Was ist Bedeutung? 2.2 <?page no="40"?> 4400 2 Sprechen und Verstehen An Sprache gebunden Im Vergleich von Freund und friend sieht man auf Anhieb Ähnlichkeiten und Unterschiede. Die Qualifizierung als guter oder bester Freund, als alter und als enger wie der Zusammenhang mit Familie findet sich hier wie dort. Bemerkenswert ist aber, dass im Englischen der Kollege/ Kollegin und der Nachbar auftauchen. Das können wir unterschiedlich deuten: Ist es in England üblicher, zu seinen Nachbarn und Kollegen ein freundschaftliches Verhältnis zu pflegen? Oder ist es ein Anzeichen dafür, dass Freundschaften nicht so tief gehen? Im Vergleich zeigt sich, dass derartige Fragen nicht sehr sinnvoll sind. Denn was wäre der gemeinsame Maßstab der Tiefe? Ziemlich anders sieht es dann auch im Spanischen aus. Mit den deutschen Übersetzungstipps sehen wir nach meiner Ansicht ein Umfeld, das geprägt ist durch die Anrede in Briefen, die in dieser Form im Deutschen eher selten ist. <?page no="41"?> 4411 Was ist Bedeutung? 2.2 Überall sollte man sich vor dem Universalismus hüten. So ist es üblich, Gefühle als universal anzusehen, stillschweigend. Das weithin übliche psychologische Supervokabular setzt die Universalien einfach voraus. Denn nur so kann von Identität über Kulturen und Sprachen hinweg die Rede sein. Die Interdependenz von Individuen und Geschichte, von Individuum und Kultur wird in solchen Ansätzen ignoriert. Die Annahme, Ausdruck und physiologische Reaktionen bei Gefühlen seien weitgehend genetisch bestimmt, wird auf Darwin zurückgeführt. Danach kann man bei Affen und Menschen etwa ähnliche Gesichtsausdrücke in bestimmten Situationen erkennen. Aber wir erkennen nur Parallelen im Ausdruck und ein bisschen im Verhalten. Von da schließen wir aufs Erleben. Welche Kriterien könnte es geben, dass Tiere solche Gefühle haben? Wittgenstein: „Wenn ein Löwe sprechen könnte, wir könnten ihn nicht verstehen“. Universa l ismus <?page no="42"?> 4422 2 Sprechen und Verstehen Universelles? Das gültige Kriterium ist eines der Kommunikation. Universell orientierte Untersuchungen beginnen etwa mit einer englischen Auswahl joy, sadness, fear, anger und dann wird übersetzt. Wenn ich einen Japaner befragen will nach seinen emotionalen Erlebnissen, muss ich ihn auf Japanisch fragen. Wenn es aber keine Ausdrücke mit gleicher Bedeutung gibt, und die gibt es natürlich nicht, was bekomme ich dann? Interkulturell verstehendes Vorgehen setzt eine Analyse der Kultur und der Sprache voraus. Halbherzig erscheint uns die Vorstellung, „dass Sprache und Kultur etc. die Bewertung von Emotionen determinieren“ (Schmidt- Atzert 1980: 48), sodass die Bewertungen umso unterschiedlicher ausfielen, je unterschiedlicher die Kulturen sind. Nein, die Gefühle selbst sind verschieden. So ist schon die Begründungsidee verdächtig. Sie klingt ja so, als sei Kultur irgendwie etwas, das seine Ausformungen z.B. bei den Gefühlen bestimme. Eine Kultur besteht aber genau aus diesen Dingen, etwa welche Gefühle etabliert sind und wie sie beschaffen sind. Wie steht es mit der Trauer in Indien, falls es so etwas gibt, im Unterschied zu Deutschland oder Europa? Nur wenn man schon das Gemeinsame als Trauer voraussetzt, kann man so reden. „Natürlich haben die anderen Menschen die gleichen Gefühle wie wir.“ Nur: Wir sind es, die das annehmen. Es ist ein Aspekt der Rolle von Gefühlen bei uns, ein Aspekt der Bedeutung von Gefühl. Ich hoffe, es wird dem deutschen Wörterbuch gelingen, durch eine Reihe ausgewählter Belege darzutun, welcher Sinn in dem Wort eingeschlossen ist, wie er immer verschieden hervorbricht, anders gerichtet, anders beleuchtet, aber nie völlig erschöpft wird: der volle Gehalt lässt sich durch keine Definition erklären. (Grimm 1847/ 1953: 811) Nuancen Die Verwendungen eines Wortes sind einander ähnlich, familienähnlich, wie Wittgenstein es nannte. Die Frage, ob allen Verwendungen etwas gemeinsam sei, kann nur dadurch beantwortet werden, dass man zeigt, was jeweils. Aber warum soll das allen Gemeinsame gerade so interessant sein? Sind die Einzelheiten, die vielen Details und Nuancen nicht viel interessanter? Für das Erlernen der Bedeutung scheint ein Gemeinsames wichtig, weil wir die Fähigkeit haben, manchmal aus dem Gemeinsamen auf die Nuancen zu kommen. Weil wir die Fähigkeit haben, aus dem Gemeinsamen die feinen Nuancen zu erschließen. Beim Lernen bekommen wir aber erst einmal irgendeine Verwendung, und wir müssen aus der erstbesten Verwendung schon ein Gemeinsames setzen; nicht gleich das Gemeinsame. <?page no="43"?> 4433 Was ist Bedeutung? 2.2 Vagheit Die Offenheit und Vagheit der Bedeutung zeigt sich in mehrerlei Hinsicht. Zuerst einmal gibt es kontextgebundene Wörter, deren Sinn kontextuell stark variiert. Hierzu gehören alle Pronomen: (1) Er war interkulturell sehr erfolgreich. Kontextlos denkt man hier, mit dem Pronomen er sei wohl ein männliches, menschliches Wesen gemeint. Im Kontext mag das aber so aussehen: (2) Das ist der erste Roman dieser Art. Er war interkulturell sehr erfolgreich. (3) Dieser Fisch wird erst seit einiger Zeit gezüchtet. Er war interkulturell sehr erfolgreich. (4) Unser Freund schrieb seinen ersten Roman. Er war interkulturell sehr erfolgreich. Diese Varianz gehört zur Bedeutung des Pronomens. Wir haben selten Probleme damit. Es sei denn, der Bezug ist nicht so ganz klar, wie es etwa in (4) der Fall ist. Eine andere Art der Offenheit liegt in der Genese der Wortbedeutung. Nicht alle Sprecher einer Sprache sind mit den selben Verwendungen vertraut. Darum kann die volle Bedeutung von Sprecher zu Sprecher, von Gruppe zu Gruppe variieren. Gewöhnlich funktioniert die Kommunikation trotzdem, weil es vielleicht einen gemeinsamen Kern gibt und die Verstehenskriterien nicht so anspruchsvoll und scharf sind. Ein Beispiel bietet das Verb lügen. So ziemlich alle Sprecher des Deutschen scheinen sich darin einig, dass, wer lügt, etwas sagt, das nicht stimmt. Für Kinder erschöpft sich die Bedeutung darin. Sie zeihen Erwachsene der Lüge, wenn irgendwas Gesagtes nicht eingetroffen ist. So werden es vielleicht auch manche Erwachsene sehen. Ein entscheidender Zusatz wäre aber, dass der Sprecher auch nicht geglaubt hat, was er gesagt hat. Die klassische Lügendefinition: eines auf der Zunge, ein Anderes im Herzen. In kritischen Fällen kann es aber zu Konflikten zwischen beiden Kriterien kommen. Es könnte sich herausstellen, dass stimmt, womit einer gelogen hat. Er hat fälschlich geglaubt, es stimme nicht. Ist das Lüge? Oder der Sprecher glaubt nicht, was er sagt, und es stimmt auch nicht, er geht aber davon aus, dass der Partner ihm nicht glaubt, was er sagt. Der glaubt ihm aber. Ist das Lüge? Ist die Bedeutung nicht so plastisch, dass sie all diese Verwendungen unterstützt? Plastische Bedeutung <?page no="44"?> 4444 2 Sprechen und Verstehen Offenheit und Vagheit können wir demonstrieren an dem Wort Familie. In einem dickeren Wörterbuch wird der Eindruck erweckt, als sei das Wort mehrdeutig: 1. Gemeinschaft der Eltern und ihrer Kinder 2. Gruppe aller miteinander verwandten Personen Zum ersten Punkt erkennen wir mit wenig Überlegung, dass es hier Probleme gibt: Was ist, wenn keine Kinder da sind? Geht es nur um blutsverwandte Kinder? Was sind Eltern? Ein gleichgeschlechtliches Paar? Beim zweiten Punkt haben wir ähnliche Probleme. Sie stören aber die Kommunikation in der Regel nicht. Geht es zum Beispiel um ein Familientreffen, so denken wir vielleicht eher an den Fall 2. Aber wir würden auch den Fall 1 akzeptieren. Es sind also nicht zwei Bedeutungen, und ob 1 oder 2 gemeint ist, kann uns schlicht egal sein. Wenn es relevant wird, kommen wir schon drauf - oder auch nicht. Und wer ist der Familienvorstand? Oder was ist Familienbesitz? Was ist eine Familie? Spektakulär sind Fälle, in denen der Sinn kippt, wo wir sagen, ein Wort sei mehrdeutig. Kippen ist zu verstehen als Aspektwechsel, wie Wittgenstein ihn am Hasen-Enten-Kopf demonstrierte: Eine ruhende Ente auf dem Rücken oder ein sitzender Hase? Solcherlei Kippen gibt es lexikalisch, syntaktisch und textuell: (1) Kauf dir ein neues Schloss. (2) Ich schreib das Wort rot. (3) Auch du auch du auch du wirst langsam eingehn an lohnstreifen und lügen reich, stark erniedrigt (Enzensberger) Stellt man sich die Bedeutung eines Worts als seinen semantischen Hof vor, in dem sich Züge, Kriterien, also andere Ausdrücke, mehr oder weniger eng um den Kern herum lagern, so wird einerseits erklärbar, wieso verschiedene Tiefen des Verstehens möglich sind und wieso bei der Vagheit der Wörter nicht ständig Missverständnisse auftreten. Je nach dem Zustand des gemeinsamen Wissens werden verschiedene Sprecher bestimmte Regionen des Hofes aktivieren, und entsprechend tief wird ihr Verständnis sein. Vagheit ist Stärke <?page no="45"?> 4455 Was ist Bedeutung? 2.2 Wir halten unsere Kriterien des Verstehens entsprechend flexibel. Bei einem Partner, der nur allgemeines Wissen mit uns gemeinsam hat, erwarten wir nur normale Verstehenstiefe. Die Vagheit der Bedeutung wird oft kritisch als Unzulänglichkeit der Sprache gebrandmarkt. Aber Vagheit ist eine der Stärken unserer Sprache: Vagheit ist eine notwendige Konsequenz der Bedeutungsgenese. Vagheit ist Grundlage für die flexible Zuschreibung von Sinn. Vagheit ist die Basis dafür, dass Neues gesagt werden kann. Vagheit ist Voraussetzung für Adaptation und den Wandel der Sprache. Um zu verstehen, muss einem etwas einfallen und vielleicht etwas auffallen. Das kommt aus dem semantischen Hof. Man kann ihn partiell erfassen über die assoziative Bedeutung, die allerdings in der Linguistik und der Sprachphilosophie nicht recht ästimiert wird. Die assoziative Bedeutung beruhe nicht auf einer allgemeinen Regularität. Insofern sie nicht regulär sei, sei sie eher subjektiv. Zum Beispiel könne man gegenüber einem Sprecher die entsprechenden Komponenten des Gesagten nicht einklagen. Aber erstens sind Assoziationen durchaus nicht subjektiv. Es wurden sogar entsprechende Normbücher erarbeitet (Postman/ Keppel 1970). Und zweitens ist doch die Frage, welche semantischen Regularitäten überhaupt regulär sind in dem Sinn, dass sie für alle Sprecher und immer gelten. Hier wird nur an eine fiktive sprachliche Homogenität appelliert (von der wir natürlich als Sprecher alle überzeugt sein müssen). Im übrigen scheint es nur ein kultureller Usus, dass intrinsische Bedeutungszüge einklagbar seien. Man kann sich durchaus vorstellen, dass in einer Kultur assoziative Verbindungen verbindlicher wären als inferenzielle. Um eine solche Kultur zu finden, brauchen wir nicht weit zu gehen. Assoziative Bedeutung Unterwegs in Ghana hört man auf Schritt und Tritt Musik - meist sogenannte high-life-music. Mir gefiel diese Musik sehr gut; ich empfand sie leicht und beschwingt, recht warm, lebensfroh und spielerisch. In Gesprächen mit afrikanischen Freunden versuchte ich, meine Wahrnehmung in Worte zu fassen, und ich beschrieb diese Musik als akustische Sonne - ein Bild, das europäische Bekannte als eine treffende Metapher bezeichnet hatten. Die Ghanaer hingegen schwiegen zu meinem mit Begeisterung vorgetragenen Vergleich, bis mich einer fragte: „Warum findest du, dass diese Musik wie Sonne ist? Die Sonne ist doch hart und unbarmherzig, sie verbrennt und zerstört das Leben - man muss sich vor ihr schützen! Unsere Musik ist ganz anders! “ <?page no="46"?> 4466 2 Sprechen und Verstehen Untersuchungen der assoziativen Bedeutung gibt es für verschiedene Sprachen. Es wurden auch schon interkulturelle Unterschiede ermittelt (Szalay/ Deese 1978). Ergebnisse werden normalerweise in Listen gegeben, man kann sie auch graphisch darstellen. So zeigen sich wichtige Unterschiede bei vordergründig äquivalenten Wörtern. Assos interkulturell Tatsächlich taugt die assoziative Methode, um kulturelle Unterschiede ans Tageslicht zu bringen. Dies zeigen die folgenden Sterne nach Daten von Szalay/ Deese (1978) eindrucksvoll. ? ? ? ? ? ? ? ? verbrannt Durst Schatten hart Dürre unbarmherzig Schaden angenehm Licht Meer hell wohlig warm Urlaub SSoonnn ne e Hunger Armut Bettler arm Mahlzeit Nahrung Brot Geld hhuunnggrriigg durstig hhuunnggrriigg Hunger Magen arm essen Nahrung Leute Schmerz Nahrung Armut Reis arm Leute Bettler gekochter Reis Geld hhuunnggrriigg <?page no="47"?> 4477 Was ist Bedeutung? 2.2 Die Sterne zeigen, welche Assoziationen überhaupt frequent und wichtig sind. Je näher ein Satellit beim Kern steht, umso schneller und häufiger wurde er assoziiert, umso mehr - können wir annehmen - hat er mit der Bedeutung des Wortes zu tun. Einige Assoziationen kommen in allen Sternen vor, sind aber unterschiedlich nah. Andere sind ganz spezifisch und sagen recht viel über die Kultur, über unterschiedliche Speisen und wohl auch über den Hunger in dem Land. Ein Problem hierbei ist natürlich, dass alles übersetzt ist. Was eigentlich assoziiert wurde, verschließt sich uns. Aber die Bedeutung der jeweiligen Stimuli sind natürlich nicht Lexikon- Äquivalenzen. Die jeweilige Bedeutung zeigt sich gerade in den Assoziationen. Fazit Anregung Ausdeutung Die drei Sterne zu „hungrig“ wurden erhoben in Korea, Kolumbien und Nordamerika. Überlegen Sie: Welchen Stern würden Sie welcher Kultur zuordnen, und besonders, an welchen Indizien würden Sie das festmachen. Es ist auch immer wichtig, Ihre Folgerungen auszuformulieren. Die Sterndarstellung erinnert an Cluster, die man selbst erzeugt als Erzählvorlagen. Und tatsächlich könnte man sie auch so verwenden und eine Art short story dazu verfassen. Vielleicht so: So ginge die Ghana-story gewiss nicht. Wir müssen uns darüber im Klaren bleiben: Es gibt keine einheitliche Auffassung darüber, was eine Bedeutung ist. Es gibt keine Einigkeit darüber, was die Bedeutung irgendeines Wortes ist. Es gibt keine Klarheit darüber, wie die semantische Darstellung eines Wortes aussehen sollte oder gar aussieht. Es gibt keine Methoden, die uns verlässlich die Bedeutung eines Worts gewinnen ließen. Ich liege im Urlaub in südlicher Sonne. Das warme Meer reizt zum Schwimmen. Die Landschaft liegt im hellen Licht vor mir. Angenehm spür ich die Sonne auf dem Rücken, ein wohliges Gefühl umfängt mich. <?page no="48"?> 4488 2 Sprechen und Verstehen Zur sprachlichen Verständigung gehören bekanntlich wenigstens zwei: ein Sprecher und mindestens ein Hörer. Der Sprecher will etwas sagen, der Hörer will verstehen, was der Sprecher sagt. (Dies sind nicht-sexus-sensitive Rollenbeschreibungen.) Typisch ist auch, dass diese Gesprächsrollen wechseln können. Wer jetzt Sprecher ist, kann gleich darauf Hörer sein und umgekehrt. Als Sprachteilhaber haben wir darum beides gelernt: Wir können Äußerungen, Sätze, Texte produzieren, und wir können sie verstehen oder rezipieren. Verstehen erscheint uns natürlicher und unproblematischer, weil wir beim Verstehen selten Mühe haben. Es stellt sich eben ein - oder auch nicht. Verstehen ist so leicht, dass wir es sogar unseren Hunden unterstellen. Wieso halten wir trotzdem die Ansicht für normal, dass es beim Spracherwerb besonders darum gehe, sprechen zu lernen, also die aktive Kompetenz zu entwickeln? Verstehen ist primär 2.3 Was heißt Verstehen? Was ist unter Verstehen zu verstehen? Taugt der Begriff als Terminus einer wissenschaftlichen Theorie? Ist er nicht allzu vielschichtig und mit allerlei theoretischen Reflexionen imprägniert? Hier einige gängige Verwendungsweisen des Wortes verstehen: verstehen, was jemand meint (seine Intentionen erkennen), einen Text verstehen (seinen Sinn erfassen), einen Satz verstehen (seine Bedeutung verstehen), ein Wort verstehen (wissen, was es heißt), eine Sprache verstehen (sie können), eine Handlung verstehen, eine (z.B. eine physikalische) Theorie verstehen, ein Phänomen verstehen (seine Ursachen kennen), einen Menschen verstehen (Verständnis für ihn haben). Zentral erscheint der erste Aspekt, insofern er den eigentlichen Sinn menschlicher Verständigung charakterisiert und insofern er jeder Entwicklung anderer Verstehensfähigkeiten vorangeht. Verstehensbegriffe Wie ist das Verhältnis bei Ihnen? Was glauben Sie, wie viel mehr deutsche Wörter Sie verstehen, als Sie verwenden? Verstehen Sie das Wort Hain? Und verwenden Sie es auch? Sprache lernen fängt mit dem Verstehen an, weil wir als Kind beim Spracherwerb erst einmal - zumindest ungefähr - verstehen müssen, was Andere sagen. Ein Kind lernt die Sätze von den Erwachsenen, darum muss es sie zuerst verstehen - um es einmal angemessen zweideutig zu sagen. Anregung <?page no="49"?> 4499 Was heißt Verstehen? 2.3 Intentionen erfassen muss logisch unabhängig sein von konventionellen Zeichen. Man kann ja bekanntlich verstehen, was jemand meint, ohne dass man seine Worte genau versteht. Nur darum ist die Phylogenese der menschlichen Sprache möglich. Die Deutung geht über die Bedeutung hinaus. Verstehen, was gemeint ist Für den Verstehenden ist das entscheidende Kriterium, zu verstehen, was der Autor, sein Partner, gemeint hat. Verstehen ist kein frei schwebendes Ratespiel mit Texten, wo es etwa darum geht, schöne Deutungen zu finden. Verstehen ist Teil der Kommunikation, und da geht es immer darum, den Andern zu verstehen. Aber wie kann man die Intention des Partners denn herausbekommen? Nur durch Kommunikation und Verstehen. So ist die Intention also kein Kriterium, kein Maßstab für das Verstehen? Natürlich nicht. Wer Verstehen notwendig versteht als Verstehen, was der Partner gemeint hat, der erhebt einen kommunikativen Anspruch für sich. Er verweist nicht auf ein Kriterium außerhalb der Kommunikation. Verstehen, was der Partner gemeint hat, setzt dem Verstehen auch eine sinnvolle Grenze. Sicher kann ich gute Intuitionen darüber haben, warum jemand dies oder jenes sagt. Ich kann sozusagen seinen Motiven nachgehen, seiner Lebensgeschichte gar und damit den Partner vielleicht besser verstehen. Aber verstehe ich so auch besser, was er gemeint hat? Möglich ist das. Und da gehört es eben zum Verstehen dazu. Aber etwas verstehen, was der Partner gar nicht gemeint hat, setzt einen wesentlich anderen, nämlich einen nicht kommunikativen Verstehensbegriff voraus. Er scheint oft eine Rolle zu spielen beim Interesse an der Körpersprache, die uns dann etwas verraten soll, was der Sprecher nicht kundtun wollte. Soll das Kommunikation sein? Wenn wir verstanden haben, bleibt immer die Frage, was wir verstanden haben. Gibt es dafür ein Kriterium, ein Kriterium des guten, des richtigen Verstehens? Jeder Text lässt eine unbestimmte Zahl von Verständnissen zu. Explikationen solcher Verständnisse sind selbst wieder Texte, die zwar methodische Vorteile bieten, da sie weiteren Untersuchungen zugänglich sind. Aber letztlich sind all die einzelnen Verständnisse nicht explizierbar, weil sich jede Explikation selbst wieder der Urfrage gegenübersieht: Wie wird sie verstanden? Ein Kriterium des Verstehens? Hermeneutische Überlegungen haben auch ausgesprochen, wodurch die unterschiedlichen Verständnisse zustande kommen: Ein Text, ein Zeichen ist ja kein Objektivgebilde, kein Zeichen für sich, sondern Zeichen und verständlich immer nur für bestimmte Individuen. <?page no="50"?> 5500 2 Sprechen und Verstehen Der Verstehenshorizont ist Grundlage des Verstehens. Und dieser Verstehenshorizont ist natürlich gerade das, was neuere linguistische Theorien explizieren wollen. Sie gehen zwar meistens nicht so weit, die regelhafte Homogenität des Zeichens aufzulösen, aber sie zeigen doch, wie sich die Welt im Kopf der Kommunikationspartner auf das jeweilige Verständnis auswirkt. Zur Beurteilung dessen, was wir überhaupt verstehen, gibt es kein vorgängiges allgemeines Kriterium, das zu bewerten gestattet, ob ein Verständnis gut oder schlecht, falsch oder richtig ist. Alles bleibt eigentlich in der Schwebe. Ein gutes - wenn auch nicht letztes - Kriterium des Verstehens ist, dass Sie mit einem Verständnis zufrieden sind, dass es für Sie passt, und vor allem, dass es keine weiteren Probleme aufwirft. Natürlich ist es richtig, dass Hörer je nach Wissen und Erkennen der Situation einen Text unterschiedlich verstehen. Das ist ja gerade, was das hermeneutische Grundprinzip besagt. Aber daraus folgt nicht, dass sie dies alles aktiv oder gar bewusst tun. Und dass wir als Hörer jeweils das notwendige Glaubwissen schaffen, ist fern jeder vernünftigen Überlegung. Stehendes, episodisches wie laufendes Wissen sind sozusagen der Boden, auf den der Textsamen fällt. Wenn ich bestimmte scripts oder frames kenne, so werden sie sich automatisch abspielen in meinem Verstehen. Natürlich kann es sein, dass ich Alternativen aus dem gemeinsamen Wissen durchnehme und das sich daraus ergebende Verständnis gegen ein anderes abwäge, dass ich sozusagen hypothetisch verschiedene Möglichkeiten des Verständnisses durchspiele. Aber das geschieht, wenn ich rekonstruiere, wenn ich zweifle, wenn ich unsicher bin, also gerade dann, wenn sich mir kein befriedigendes Verständnis einstellt. Dann interpretiere ich. Es ist zum Beispiel die Tätigkeit, die ich als Linguist dauernd pflege und von deren Art jede theoretische Behandlung von Textbedeutungen sein sollte. Aber ein Hörerleser, der dies ständig täte, wäre ein armer psychopathischer Tropf. Was wir tun können Vergessen wir nicht: Ziel des Interpretierens ist ein Verständnis, und auch dieses Verständnis wird sich einstellen. So wie ich möglicherweise durch Handeln die Bedingungen dafür herstellen kann, dass ich mich wohl fühle, so kann ich handeln, um bessere Bedingungen für mein Verstehen herzustellen. Dies kann zur Folge haben, dass sich ein besseres Verständnis einstellt. Nur, ob und welches, weiß vorher niemand. <?page no="51"?> 5511 Was heißt Verstehen? 2.3 Verstehen ist unmittelbar Wir sollten dabei bleiben, dass jeweils das Verstehen viel direkter ist, ohne Reflexion passiert. Und man muss wohl davon ausgehen, dass es Verstehen gibt, das der Verstehende so nicht explizieren kann, ja das so gar nicht explizierbar ist. Vielleicht liegt da eine gewisse Grenze des Verstehens, weil wir dieses Verstehen doch als ganz subjektiv ansehen. In dieser Sache wähnen wir auch Wittgenstein auf unsrer Seite, dem es ja zuerst einmal darum ging, was Verstehen nicht ist. Und da waren seine beiden wesentlichen Einsichten: Verstehen ist kein Interpretieren als ..., und es ist kein psychischer Prozess. Kein Interpretieren als ... ist das Verstehen, weil man beim Verstehen nicht etwa einen Satz entschlüsseln muss, sozusagen einen andern an seine Stelle setzen muss. Bedürfte jeder Satz in diesem Sinn einer Interpretation, so könnte kein Satz direkt, ohne einen Zusatz verstanden werden. Aber das ist absurd. Die Auffassung des Verstehens als psychischer Prozess ist irreführend. Fragt man etwa naiv nach den Kennzeichen dieses Vorgangs, so findet man eben die wesentlichen Kennzeichen eines Vorgangs nicht, und man schließt, „dass das Wesentliche des Vorgangs etwas bisher Unentdecktes, schwer Erfassbares“ sein müsse. Man kommt auf das Okkulte des Verstehens, in Wittgensteins Verständnis eine typische philosophische Verhexung unseres Verstands. Wenn Verstehen entscheidendes Kriterium menschlicher Kommunikation ist, dann wäre es erstaunlich, wenn es nicht kommunikativ behandelt und verhandelt würde. Kommunikation führt ja nicht immer mit einem Schlag zum Erfolg. Und darum ist auch die Sache mit den einseitigen Überlegungen nicht zu Ende. Verstehen verbessert sich im Verlauf der Kommunikation und wir versuchen Nicht-Verstehen auszuräumen, wenn wir uns dessen überhaupt bewusst werden. Am Verständnis arbeiten So sind die Beispiele der kommunikativen Verstehensarbeit Legion. Im dynamischen Prozess verwenden wir Methoden, um das Verständnis zu verbessern. Dies gilt vor allem im Gespräch mit Nicht-Muttersprachlern. Solche Methoden sind: Hervorheben der relevanten Elemente Wiederholungen Reformulierungen Formulierungsvorschläge Verstehensabsichernde Nachfragen („Verstehen Sie? “) Übersetzungen Rückgriffe auf die Muttersprache <?page no="52"?> 5522 2 Sprechen und Verstehen Muttersprachliche Sprecherin: Angela (A), nicht-muttersprachliche Sprecherin: Frau S. (S) 01 03 05 07 09 11 13 15 17 19 21 23 25 27 29 S: A: S: A: S: A: S: A: S: A: S: A: S: A: S: caffè? ja bitte. das ist ja wirklich sehr schön hier auf dem balkon. balkon, ja. sie haben ja früher woanders gewohnt, oder? also ich meine eine andere wohnung, in der sie gewohnt haben, früher als sie noch nicht hier waren. verstehen sie? nicht hier. ja , als o je tzt w oh nen s ie h ier u nd v orh er haben sie in einer anderen straße gewohnt, woanders, verstehen sie? anderes ja, ahornestraße, andere seite wie heißt die straße? verstehen sie? den namen von der straße. also jetzt hier das ist die eschenhofstraße und die andere straße wie heißt die? anderes ahornestraße wie? ahornestraach ahorner straße, ja das ist ja gleich dort drüben, und gefällt es ihnen hier gut? äh, wohnen sie hier gerne. es ist ja eine sehr schöne wohnung, verstehen sie? ja wohnung gut, balkon gut, kinder au, kinder. ja die daniela kommt jetzt dann bestimmt gleich wieder und ihr sohn, wo ist der? ihr sohn ist in der arbeit oder? ja, sohn arbeit, äh spät kommt. Anregung Dies ist ein Beispiel interkultureller Kommunikation. Erkennen Sie Methoden der kommunikativen Verstehensarbeit in dem Transkript? <?page no="53"?> 5533 Was heißt Verstehen? 2.3 3 Was ist Konversation? Konversation klingt recht gewählt. Es ist ein Terminus der conversation analysis, die Alltagsdialoge oder Gespräche analysiert. Ihre wichtigsten Gesichtspunkte sind: Die Analyse geht über den Satz hinaus. Sprache wird im Gebrauch, in der sozialen Praxis untersucht. Alle Aspekte sind im Blick ohne methodische Einschränkung. Ansätze zur Analyse längerer Gesprächsfolgen finden sich in der Gesprächsforschung, in der Dialoganalyse, der Diskursanalyse, der Sprechakttheorie und der Textlinguistik. Alle diese Theorien nähren sich aus verschiedenen Traditionen und verfolgen verschiedene methodische Ansätze. Empirische Grundlage sind jedoch meist authentische Gespräche, face-to-face-Interaktion. Jeder, der eine Zeitlang auf dem redlichen Forschen verharrt, muss seine Methode irgendeinmal umändern. Goethe, Maximen SSpprreecchheerr wweecchhsseellnn SSpprreecchheerr wweecchhsseellnn nniicchhtt DDiisskkuurrssttyyppeenn Beteiligte nicht gleichberechtigt Verhör Interview Befragung Prüfung Beteiligte gleichberechtigt Ziele gleich Diskussion Konferenz tete à tete Klatsch Unterhaltung Ziele ungleich Verhandlung Disput Streit Aushandeln Verlautbarung Gemeinsames Gebet Chor Reportage DDiisskkuurrssttyyppeenn <?page no="54"?> 5544 3 Was ist Konversation? Dies ist die Transkription eines einfachen Gesprächs. Strukturelle Merkmale sind nicht berücksichtigt. Allerdings sind ein paar Fragezeichen eingefügt. 3.1 Gesprächsanalyse guten morgen morgen johanna hast du gut geschlafen? o ja es ging mit tablette oder ohne? ohne ohne hast du nämlich vergessen gell? ja du bräuchst nämlich gar keine ich glaub meine uhr is stehen geblieben können wir hier mal n bissel anmachen? das können wir nicht nein geht die richtig deine küchenuhr? die geht wohl richtig vielleicht drei minuten vor wohin hat der papa geschrieben? ach nach berlin so also noch einmal hör mal soll ich ... nich holen? okay so ... notwendig eigentlich hätt ich ... dir schmeckts heut nich so gut hier mach auf danke is ja wieder blöd mit m wetter ich muss laufen na gottseidank is viel gesünder Strukturierte Darstellung AAA BBB guten morgen o ja es ging ohne ja ich glaub meine uhr is stehen geblieben können wir hier mal n bissel anmachen? geht die richtig deine küchenuhr? wohin hat der papa geschrieben? GERÄUSCHE WIE VON KOHLEN- SCHAUFELN okay morgen johanna hast du gut geschlafen? mit tablette oder ohne? ohne hast du nämlich vergessen gell? du bräuchst nämlich gar keine das können wir nicht nein die geht wohl richtig vielleicht drei minuten vor ach nach berlin so also noch einmal hör mal soll ich ... nich holen? so Technische Voraussetzung für die akribische Analyse von Konversationen war die Konservierung der ephemeren Gespräche. Die Analyse beginnt mit Aufzeichnungen, Ton- und Videoaufnahmen und arbeitet mit Transkriptionen dieser Daten. Unser Beispieldialog ist zwar etwas geglättet, er zeigt aber, dass schon die sprachliche Form nicht den schriftsprachlichen Normen entspricht. Die Spontaneität führt zu Abbrüchen, grammatischen Umschwüngen, syntaktischen Anomalien. Das sind typische Phänomene gesprochener Sprache. <?page no="55"?> 5555 Gesprächsanalyse 3.1 Durch normale Verschriftlichung gehen die phonetischen und prosodischen Eigenheiten verloren. In akribischen Transkripten versucht man möglichst viel dieser Erscheinungen festzuhalten. Durch ihre Zielsetzung, tatsächliche Gespräche zu untersuchen und damit primäre Daten der sozialen Welt zu gewinnen, konzentrierte sich die Analyse auf das Vorkommende. Das Regelhafte stand erst an zweiter Stelle; es sollte ja das Ergebnis der Untersuchungen sein. Und das Theoretische, die Zusammenschau sollte erst ganz am Ende stehen. Von daher erstaunt es auch nicht, dass Forscher anderer Traditionen den Konversationsanalytikern immer wieder vorwarfen, sie seien nicht explizit genug hinsichtlich ihrer Termini und theoretischen Grundlagen. Und überhaupt laufe das Ganze nicht auf eine stringente Theorie hinaus. Dem können Konversationsanalytiker zu Recht entgegenhalten, die Theoretiker seien so beschäftigt damit, voreilig Regularitäten zu formulieren - die sie meist durch Introspektion gewinnen -, dass sie die Realität nicht kennen. Empirische Forschung verlangt aber empirische Daten als Grundlage und als produktiven Ausgangspunkt. Nur so kann Neues in den Blick kommen. Der turn Grundeinheit der Konversationsanalyse ist der turn oder der Gesprächsbeitrag, eine neue linguistische Einheit. Obwohl ein Gespräch natürlich aus Sprechakten besteht, untersucht die Konversationsanalyse nicht Sprechakte als reguläre Muster im Sinn der Sprechakttheorie und ebenso wenig einfach Äußerungen im weitesten Sinn. Im Fokus steht der reale Verlauf. Von einer theoretisch abgesicherten sprechhandlungstheoretischen Verlaufsanalyse wäre ja zu fordern, dass jeder in der Beschreibung verwendete Ausdruck für eine sprachliche Handlung durch eine vollständige Charakterisierung des betreffenden Sprechakts abgesichert ist und dass darüber hinaus der Sprechakt selbst in einer Systematik lokalisiert ist. Und dennoch haben Gespräche eine eigene innere Struktur, wie die weiteren Forschungen zeigen. Ein turn ist weder identisch mit einem Satz noch einer Äußerung noch mit einem Sprechakt. Er wird wesentlich mitbestimmt durch den Partner und alle möglichen äußeren Umstände. The reason that conversations do not have an inner structure in the sense that speech acts do is not (as is sometimes claimed) because conversations involve two or more people, but because conversations as such lack a particular purpose or point. Each illocutionary act has an illocutionary point, and it is in virtue of that point that it is an act of that type. (Searle 1992: 20) <?page no="56"?> 5566 3 Was ist Konversation? Ein turn findet sich im Gegensatz zu einem Satz oder einem Sprechakt als ein reales Segment, als eine reale Äußerung in einem realen Gespräch. Er beginnt mit dem Einsatz eines Sprechers, endet, wenn der aufhört, in der Regel, wenn ein anderer Sprecher anfängt. Irgendwann hört ein Sprecher immer auf, ein anderer beginnt. Das klingt also eher willkürlich und trivial - und scheint es auch zu sein. In dem Gründungsaufsatz (Sacks/ Schegloff/ Jefferson 1974: 701) heißt es noch lapidar: „Turn size is not fixed, but varies.“ Das stimmt, gibt aber keine Antwort auf die Frage nach einer regulären Bestimmung des turns. Diese Frage war denn auch ein erster Forschungsschwerpunkt für das Verständnis des Gesprächsmanagements. Wie kommt es, dass Sprecher im Gespräch bei aller Unbestimmtheit normalerweise geordnete Übergaben und Wechsel bewerkstelligen? Sollte das nicht doch irgendwie geregelt sein? Die Antwort gibt die Theorie des sog. turn taking. Sie erweist die lineare Struktur des Gesprächs als ein gegliedertes und organisiertes, auf Koordination basiertes System. Als Voraussetzung für einen möglichen Sprecherwechsel werden Übergangspunkte, sog. transition relevant places (TRPs) gesehen. An solchen Stellen ist prinzipiell ein glatter Wechsel möglich. TRPs markieren also potenzielle turn-Wechsel, ein Wechsel muss aber nicht stattfinden. Traditionell sind erst einmal naheliegende TRPs: Satzeinschnitte Phraseneinschnitte semantische Kriterien: Vollständigkeit des Sprechakts, Vollständigkeit der Proposition, Valenzframes-Abschlüsse, Rhema als thematischer Abschluss In neuerer Zeit sind besonders Intonationsmerkmale untersucht worden (Senken der Stimme). Andere paraverbale Mittel sind Zögern, Pausen. Hinzu kommen nonverbale Mittel: Haltung (Hinwendung), Gestik, Mimik, vor allem der Blick. TRPs Der Sprecherwechsel ist ein Koordinationsproblem. Die Sprecher selbst regeln den Sprecherwechsel aktiv. Sie halten sich dabei weitgehend an das Kooperationsprinzip. Für die Beteiligten geht es darum, wie der Dialog aufrecht erhalten und weitergeführt wird, wie man mit den Themen umgeht, wie man in einen Dialog hineinkommt und wen man wie hineinlässt. <?page no="57"?> 5577 Gesprächsanalyse 3.1 Man unterscheidet: 1. Fremdwahl: A gibt den turn frei, sie signalisiert dem B diesen Wunsch an einem TRP: Mit Stimme und Intonation • Dehnung eines Vokals oder eines Schwa • Glottisschlag • pitch • abnehmende Lautstärke • stereotype tags (Interjektionen, Partikel, Wendungen: nicht wahr, ne, nicht, ja) Mit Gestik, Mimik • Abbruch des Blickkontakts • Blick • hinweisende Gesten Konventionell • Ende des Erstglieds eines adjacency pairs • Inhaltlicher Abschluss 2. Selbstwahl: An einem TRP steigt ein neuer Sprecher ein. Einklinken (ja aber, na gut, ach ja, ja) Selbstkorrektur 3. turn-Behauptung Schneller sprechen Wichtig wird öfter auch als inhaltliches Kriterium die Frage, ob ein Topik als abgeschlossen gesehen wird. Adjacency pairs Gewisse Hilfen für den Sprecherwechsel bieten auch die sog. adjacency pairs wie Gruß - Gegengruß, Einladung - Akzeptieren, Verabschiedung - Verabschiedung. Adjacency pairs • folgen einander, • sind nicht umkehrbar, • bilden eine inhaltliche Einheit, • sind von verschiedenen Sprechern produziert, • haben einen konventionellen inhaltlichen Zusammenhang. Außer pairs gibt es auch mehrgliedrige Abfolgen: Fragen - Antworten - Nachfragen Fragen - Antworten - Frage wiederholen <?page no="58"?> 5588 3 Was ist Konversation? Adjacency pairs sind nicht formal bestimmt. Es sind Deutungsmuster, die Verstehen manifest werden lassen. By an adjacently produced second, a speaker can show that he understood [...] and that he is willing to go along with that. (Schegloff/ Sacks 1973: 297) Adjacency pairs können durch einen Einschub, beispielsweise eine Zwischenfrage, eine Klärungsfrage getrennt sein. Das geht normalerweise ohne Probleme in der Kommunikation: A: Darf ich eintreten? B: Haben Sie eine Karte? A: Ja, hier. B: Bitteschön. Glatter turn-Wechsel A B C Synchrones Sprechen A B C Dies muss nicht immer eine Unterbrechung sein. Unterbrechen ist ein signifikanter Akt, der beispielsweise voraussetzt, dass B nicht berechtigt war, dass A sich gestört fühlt usw. Ein objektives Kriterium für Unterbrechen gibt es nicht. Simultanstart A B C Frühstarts A B C Ohne Behinderung Fehlstart A B C Aufgeben von B Reale turn- Wechsel <?page no="59"?> 5599 Gesprächsanalyse 3.1 Die Wichtigkeit des kooperativen Verlaufs von Gesprächen und der Koordinierung zeigt sich darin, dass wir in der Sprache bereits ein einschlägiges Vokabular hierfür ausgebildet haben. • ausreden lassen • unterbrechen • fertig sein • dran sein • dran kommen Konversation wird auch als turn-taking-game bezeichnet. Zwar wird bisweilen gedacht, das Spiel sei universal. Die Ausführung variiert aber interkulturell signifikant. Hier gibt es etwa ein Problem zwischen Amerikanern und athabaskischen Indianern. Athabasker machen leicht längere Pausen als Amerikaner. Was wird im Gespräch zwischen ihnen passieren? Wir kennen das individuell: Bei der kleinsten Pause springt jemand ein und erobert den turn. Ein Amerikaner hält das für normal, der Athabasker hat ein Problem. Es gibt bei uns die Forderung, nicht zu unterbrechen. Sie basiert irgendwie auf einer normativen Grundannahme, dass wer gerade spricht, das Recht habe zu bestimmen. Das ist eine übergeneralisierte Norm für Kinder. Gelungenes und vom Partner akzeptiertes Unterbrechen ist sogar ein Kriterium für ein gutes Verstehen. Es zeigt, dass das turn taking klappt, und dies zeugt von einem weitgehenden Verständigtsein in kommunikativen Gewohnheiten und Vorwissen. Gelungenes turn taking ist ein Indiz für gelungene kommunikative Kooperation. Unterbrechungen werden natürlich gedeutet. Und es gibt kulturelle Standards dafür, was als Unterbrechung zählt und wie Unterbrechungen zu verstehen sind. Koordination Während meines ersten Spanienaufenthaltes wurde ich von Bekannten zu einem Abendessen eingeladen. Wir saßen gemütlich beisammen und unterhielten uns angeregt über Gott und die Welt. Als Deutsche wartete ich natürlich höflich ab, bis einer der Gesprächspartner zu Ende gesprochen hatte und tat dann meine Meinung zu diesem Thema kund. Doch ich wurde ständig unterbrochen und mit der Zeit überkam mich das Gefühl, unhöflichen und schlecht erzogenen Personen gegenüber zu sitzen. Mir wurde erst später bewusst, dass man in ihrer Kultur, und somit auch in ihrer Sprache, dem Gesprächspartner durch Unterbrechungen sein Interesse zeigt. Meinen Bekannten ging es nicht anders. Sie wussten nicht, was sie von mir halten sollten, und waren sich nicht im Klaren darüber, ob mich nun ihre Erzählungen langweilen oder ich sie vielleicht gar nicht verstehe. Unterbrechen <?page no="60"?> 6600 3 Was ist Konversation? Im Fokus der Konversationsanalyse standen zwei weitere Themenkreise: • openings und closings: Beginne und Beendigungspassagen (Schegloff 1968; Schegloff/ Sacks 1973), • repairs: Behebung kommunikativer Störungen und Sinnaushandlung. Hier wurden wiederkehrende Phänomene beschrieben: Beginnfloskeln, Anhängsel, Neuanfänge, Vervollständigungen, Wiederholungen, Behebung kommunikativer Störungen, Markierung neuer Themen usw. Intrakulturell gibt es Standards für den Beginn und das Beenden eines Gesprächs. Es gibt formelhafte Wendungen. Aber es ist immer die Frage, wie weit Partnervorschläge akzeptiert werden. Interkulturell besteht so etwas eigentlich nicht. Alles, was intrakulturell selbstverständlich geregelt ist, kann zum Problem werden: Wer spricht zuerst, wer beendet das Gespräch, wer ist als Nächster dran? Probleme können in dieser Hinsicht schon früh anfangen. So wird berichtet, dass im Zusammentreffen von Amerikanern und Athabaskern schon zu Beginn Probleme auftreten, weil die Athabasker, bevor sie zu sprechen beginnen, erst eine gute Beziehung etablieren wollen, die Amerikaner aber sofort zu ihrem Anliegen kommen. Somit führen die Amerikaner am Beginn das Topik ein und bestimmen es damit fürs Erste in ihrem Sinn. Es gibt in der Interkulturellen Kommunikation wie auch sonst Konstellationen, die nicht im Sinne beider Seiten auflösbar sind. Das gegenseitige Verständnis ist unabdingbar. Emanuel A. Schegloff *1937 Amerikanischer Soziolinguist, einer der führenden Vertreter der conversation analysis, Mitbegründer der Ethnomethodologie. Schegloff befasste sich mit vielen Aspekten von Gesprächen, vor allem auch Telefongesprächen: Eröffnungen, Unterbrechungen, Überlappungen, repairs, in neuerer Zeit auch mit gestörter Kommunikation. Athabasker resignieren oft und machen sich ein Bild vom Amerikaner. Was würden Sie als Athabasker tun, um Ihre Absichten und Gewohnheiten zu realisieren? Sehen Sie eine Lösung des Problems? Anregung <?page no="61"?> 6611 Gesprächsanalyse 3.1 When people do not share these linguistic conventions, the kind of minor misunderstanding which would hardly bother people with similar conventions become dangerous because the very means that you use to repair a misunderstanding or an error are themselves misunderstood. So you may be wanting to repair a situation and you’re really making it worse. - You see, it’s this cumulative effect in an inter-ethnic conversation which is so difficult and damaging. (Gumperz 1982: 48) Metakommunikative Äußerungen können als Mittel der Sprecherwechselregelung und der thematischen Verknüpfung dienen; mit ihnen können sich die Sprecher über Inhalt und Absicht ihrer Redebeiträge verständigen, ihr Verständnis von eigenen oder fremden kommunikativen Akten mitteilen. Aber solche Mittel sind eben auch kommunikative Mittel und unterliegen allen Problemen der Kommunikation. Meta- Kommunikation repairs Metakommunikativ können sich die Sprecher über Inhalt und Absicht ihrer Redebeiträge verständigen, über den Sprecherwechsel und das Topik, ihr Verständnis von eigenen oder fremden kommunikativen Akten klären. Aber Vorsicht: Anregung Metakommunikativ ist zum Beispiel die Regel, dass man nicht unterbrechen soll. Wie fühlen Sie sich, wenn ein Sprecher Sie darauf hinweist und beansprucht, dass er weiterreden darf? Wie reagieren Sie? Hatten Sie nicht gute Gründe zu unterbrechen? <?page no="62"?> 6622 Pit Meister Anja Lindt aber sie sind doch heute abend da mhm dann wollt ich ihnen eine introduction auf den tageslichtprojektor geben sie kennen den ja auch ja eben herr Noll hat darum gebeten sachen an die wand zu werfen das steht schon oben heute abend bin ich wieder da tageslichtprojektor nö ich kenn das ding so ganz vage das biest steht dann aber schon oben ich muss mich noch entschuldigen ich nehme an der konferenz nicht teil Zuerst einmal haben die beiden Beteiligten Einiges geäußert: Sätze, Wörter, Laute. Dies könnten wir weiter analysieren und genauer beschreiben. Aber es gibt mehr Handlungen: Pit stellt wohl am Anfang eine Frage und Anja antwortet ihm, sie bejaht die Frage und behauptet oder verspricht, dass sie wieder da ist. In ihrer darauf folgenden Äußerung fragt sie (verunsichert? ) zurück, um nach Pits Bestätigung eine verneinende Antwort zu geben. Worauf? Pit hat ja eigentlich keine weitere Frage gestellt, sondern etwas behauptet. Aber mit dieser Behauptung hat er offenbar indirekt eine Frage ausgesprochen. In einer typischen Sprechsituation mit einem Sprecher, einem Hörer und einer Äußerung des Sprechers gibt es viele Arten von charakteristischen Akten, die mit der Äußerung des Sprechers verbunden sind. Der Sprecher wird in spezifischer Weise Gaumen und Zunge bewegen und Geräusche erzeugen [...] und er wird auch Akte vollziehen, die zur Klasse derjenigen Akte gehören, welche die Tatsache berücksichtigen, dass man Feststellungen trifft, Fragen stellt, Befehle erteilt, Berichte gibt, Grüße und Warnungen ausspricht. (Searle 1996: 143) 3.2 Sprechakttheorie Es ist üblich, Sprechen und Handeln als zweierlei zu betrachten. Geflügelte Worte wie „Der Worte sind genug gewechselt, nun lasst uns endlich Taten sehn“ belegen das. Aber wer spricht, handelt auch, und zwar in recht komplexer Weise. Was geschieht 3 Was ist Konversation? <?page no="63"?> 6633 Sprechakttheorie 3.2 Die komplexe Handlungsstruktur des Sprechens zu untersuchen ist Ziel und Aufgabe der Sprechakttheorie. Ihre Kerneinheit sind die Sprechakte. Ihre Grundthese wird von Searle formuliert. Es ist nicht, wie dies allgemein angenommen wurde, das Symbol oder das Wort oder der Satz oder gar das Zeichen für das Symbol oder das Wort oder der Satz, was die Einheit der sprachlichen Kommunikation ausmacht, sondern vielmehr ist es die Produktion des Zeichens im Vollzug des Sprechaktes. (Searle 1996: 143) Mit diesem Ansatz wird das sprachliche Handeln in den Fokus genommen. Sprachliche Einheiten wie Satz, Wort usw. werden in ihrer Funktion in Sprechakten betrachtet und letztlich definiert. Die Sprechakttheorie hat ihren Ursprung in der sprachanalytischen Philosophie. Sie ist verbunden mit den Namen Wittgenstein, Austin und Searle. John Rogers Searle *1932 einer der bedeutendsten amerikanischen Philosophen der Gegenwart. Er erweiterte und systematisierte Austins Sprechakttheorie. In neuerer Zeit befasst er sich mit den Grundlagen des Kognitivismus. Searle entwickelte: • eine Taxonomie illokutionärer Akte, die großen Einfluss auf die Linguistik hatte, • die „Netzwerk-Hintergrund-Hypothese“ als Grundlage einer intentionalistischen Bedeutungstheorie. Im Zentrum der Sprechakttheorie steht der Handlungsaspekt sprachlicher Äußerungen. Den Gegenstand bilden die Fragen: • In welchem Sinne kann man davon sprechen, dass mit sprachlichen Äußerungen Handlungen vollzogen werden? • Wovon hängt es ab und wie kann man feststellen, welche Handlungen mit solchen Äußerungen vollzogen werden? • Was ist die Struktur solcher Handlungen und wie lassen sie sich systematisieren? Gegenstand der Sprechakttheorie Ziele <?page no="64"?> 6644 Die Sprechakttheorie ist nicht nur ein Beitrag zur Klärung der Frage, was der Gebrauch einer Äußerung ist, sie ist Teil einer systematischen Rekonstruktion der Auffassung, die Bedeutung sprachlicher Äußerungen bestehe in ihrem Gebrauch. Ausgangspunkt der Sprechakttheorie sind spektakuläre Fälle, in denen die sprachliche Handlung die gesamte Handlung ausmacht: (1) Ich taufe dieses Schiff auf den Namen „Queen Elizabeth“. (2) Ich muss mich entschuldigen. (3) Ich wette 50 Euro, dass du das nicht schaffst. Mit den Äußerungen (1) - (3) wird nicht beschrieben, was getan wird, es wird auch nicht festgestellt, dass man ein Schiff tauft, sich entschuldigt, um 50 Euro wettet. Mit dem Äußern dieser Sätze (unter geeigneten Umständen) wird der Akt vollzogen: Man tauft ein Schiff, man entschuldigt sich, man wettet. Formen wie (1) - (3) heißen auch Performative, die entsprechenden Äußerungen performative Akte. Allgemein sehen Performative so aus: (4) Ich X-e (dir) (hiermit), dass ... Während bei feststellenden Äußerungen die Frage nach der Wahrheit oder Falschheit im Vordergrund steht, ist für performative Äußerungen die relevante Beurteilungsdimension die des Gelingens, des Glückens oder Nicht-Glückens. Performative Damit die sprachliche Handlung gelingt, müssen entsprechende Bedingungen erfüllt sein. Allgemeine Bedingungen, die für einen erfolgreichen Vollzug sprachlicher Handlungen notwendig sind: 1. Es muss eine Konvention geben, kraft derer wir mit der Äußerung bestimmter Wörter eine bestimmte Handlung ausführen können. 2. Der Konvention muss unter den richtigen Umständen gefolgt werden. (Mit ich befehle kann nur befehlen, wer in der passenden Machtposition ist.) 3. Das von der Konvention geforderte Vorgehen muss korrekt ausgeführt werden. Die Prozedur muss vollständig sein. (Zum Wetten gehören mindestens zwei.) Allgemeine Bedingungen Damit wir mit Äußerungen Handlungen vollziehen können, müssen sie nicht unbedingt die Form der Beispiele (1) - (3) besitzen. Das Versprechen, morgen zu kommen, kann man nicht nur mit dem Äußern von (5) abgeben, man kann auch einfach (6) äußern: 3 Was ist Konversation? <?page no="65"?> 6655 Sprechakttheorie 3.2 Die Beschreibung eines Handlungsmusters besteht aus: 1. der Angabe der Bedingungen, unter denen man nach dem Muster handeln kann, 2. der Angabe des Handlungszwecks, den das Muster hat, 3. der Angabe der Handlungsmittel, der Äußerungsformen, die konventionell zur Realisierung des Musters dienen. Handlungsmuster Nehmen wir als Beispiel: A möchte von B eine Auskunft. 1. A geht davon aus, dass B die Auskunft geben kann, dass er das Notwendige weiß, dass er bereit ist usw. 2. A möchte wissen, ob X, möchte es von B erfahren usw. 3. A könnte zum Beispiel äußern: Können Sie mir sagen, ... oder Wo bitte ist … (5) Ich verspreche dir, dass ich morgen komme. (6) Morgen komme ich. So sind performative Äußerungen auch keineswegs häufig in der Kommunikation. Viel häufiger wird nach dem Vollzug mit den entsprechenden Verben über Sprechakte berichtet, wird wiedergegeben, was jemand sprachlich getan hat oder getan haben soll. (7) Du hast mir doch versprochen, pünktlich zu sein. Solche Wiedergaben sind an Deutungen der Handlung geknüpft, die später auch strittig sein mögen. Sprachliche Handlungen haben wie alle Handlungen eine innere Struktur. Sie sind erzeugt. Ich kann ein Versprechen abgeben, indem ich äußere Ich komme. Diese indem-Relation zeigt den inneren Aufbau des Sprechakts. Sprechakte werden demgemäß wie allgemeine Handlungsmuster beschrieben. Verschiedene sprachliche Akte weisen oft gemeinsame Züge auf. Betrachten wir etwa Äußerungen der folgenden Sätze: (8) Wird John den Raum verlassen? (9) John wird den Raum verlassen. (10) John, verlass den Raum! Mit dem Äußern eines jeden Satzes bezieht sich der Sprecher auf eine bestimmte Person John und schreibt dieser zu, dass sie den Raum verlässt. Diese Zuschreibung ist der propositionale Akt. Die Proposition dient dem Ausdruck dieses Aktes, sie wird formuliert in dem dass-Satz „dass John den Raum verlässt“. Der gleiche propositionale Akt ist in den drei Beispielen jeweils eingebettet in einen anderen Akt. Dieser ist der illokutionäre Akt, etwa fragen, behaupten, auffordern, ganz in Entsprechung zu den Satzarten. Searle belässt es bei einer Aufzählung ohne genauere Definition. Binnenstruktur <?page no="66"?> 6666 Übrigens: Nicht alle illokutionären Akte haben einen propositionalen Gehalt, z.B. enthalten einfache Ausrufe wie Hurra! oder Au! keine Proposition. In ihnen wird weder auf etwas referiert noch irgendetwas prädiziert. Sie sind dem reinen Ausdrucksverhalten zuzuordnen. Einige der mit illokutionären Akten verbundenen deutschen Verben und Verbphrasen sind: feststellen, behaupten, beschreiben, warnen, bemerken, kommentieren, befehlen, bestellen, fordern, kritisieren, sich entschuldigen, bewerten, bejahen, willkommen heißen, versprechen, Zustimmung äußern, Bedauern äußern. In der Sprechakttheorie wurde sehr viel Mühe darauf verwendet, die Sprechakte als universal nachzuweisen. Das ist für Philosophen verständlich. Es scheint aber klar, dass ihre genaue Bestimmung an die Verben gebunden sein muss, die zu ihrer Benennung und Klassifikation dienen. Und diese Verben sind wiederum an Sprache und damit an Kultur gebunden. Man kann Sprechakte allgemein strukturieren: 1. Der Äußerungsakt umfasst die Äußerung von Wörtern, Morphemen und Sätzen. 2. Der propositionale Akt umfasst die unvollständigen, nur zusammen mit illokutionären Akten vollziehbaren Sprechakte der Referenz und Prädikation. 3. Der illokutionäre Akt ist gekennzeichnet durch das, was der Sprecher kommunikativ erreichen will. Aufbau des Sprechakts Man vollzieht einen illokutionären Akt, indem man einen propositionalen Akt mit den Teilakten des Referierens und des Prädizierens vollzieht, indem man etwas äußert. Ganz links in der Erzeugung steht oft noch ein perlokutionärer Akt. Dabei geht es um die Wirkungen, die der Sprechakt beim Partner hervorruft. Durch den illokutionären Akt des Warnens kann der Sprecher den Hörer erschrecken, durch den Akt des Aufforderns ihn dazu bringen, etwas zu tun, durch Vorbringen eines Arguments Sie überzeugen usw. Der perlokutionäre Akt ist nur gelungen, wenn der Effekt eingetreten ist. Anregung Versuchen Sie einmal Folgendes. Stellen Sie eine Liste mit voll äquivalenten Verben für feststellen in anderen Sprachen her. Überprüfen Sie stets, ob das Verb jeweils in alle Kontexte passt. 3 Was ist Konversation? PPeerrllookkuuttiioonn IIllllookkuuttiioonn RReeffeerreennzz PPrrooppoossiittiioonnaalleerr AAkktt PPrrääddiikkaattiioonn ÄÄuußßeerruunnggssaakktt <?page no="67"?> 6677 Sprechakttheorie 3.2 Die Bedingungen für das Gelingen hat Searle weiter spezifiziert. Bedingungen 1. Normale Eingabe- und Ausgabebedingungen Sie gewährleisten, dass die allgemeinsten Bedingungen für sinnvolles Sprechen sowie für Verstehen erfüllt sind. 2. Bedingungen des propositionalen Gehalts Hier wird die Proposition entsprechend dem jeweiligen illokutionären Akt charakterisiert. Beim Versprechen z.B. muss es sich um einen künftigen Akt des Sprechers handeln. 3. Einleitungsbedingungen Der Akt muss sinnvoll sein. Man kann nicht sinnvoll jemanden zu etwas auffordern, das er bereits tut. Bei Aufforderungen z.B. muss der Aufgeforderte in der Lage sein, die Handlung zu tun, zumindest muss der Sprecher dies annehmen. 4. Aufrichtigkeitsbedingung Die Beteiligten müssen es ernst meinen. Wer etwas behauptet, muss es auch glauben; wer etwas fragt, sollte es nicht schon wissen. Beim Versprechen muss A die Absicht haben den Akt auszuführen und muss glauben, dass es ihm möglich ist. 5. Wesentliche Bedingung Sie spezifiziert, worin die Natur des illokutionären Akts besteht. Bei Versprechen z.B. besteht sie in der Absicht, sich zur Ausführung einer bestimmten Handlung zu verpflichten. 6. Bedeutungstheoretische Bedingung Sie gewährleistet, dass die hervorgebrachte Äußerung aufgrund von Konventionen als Vollzug des jeweiligen illokutionären Akts gilt. <?page no="68"?> 6688 Der Unterscheidung von Sprechakttypen liegen zwölf explizite Kriterien zugrunde. Die wichtigsten sind: • Unterschiede im illokutionären Zweck. So gewinnt man etwa einen Typ von Akten, mit denen versucht wird, den Hörer dazu zu bringen, etwas zu tun. • Unterschiede in der Anpassungsrichtung zwischen Sprechen und Welt. Beim Versprechen soll die Welt mit den geäußerten Worten in Übereinstimmung gebracht werden. Beim Behaupten sollen umgekehrt die Worte mit der Welt übereinstimmen. • Unterschiede in den ausgedrückten psychischen Zuständen. Explizite Kriterien In der Anwendung der Kriterien ergibt sich diese Klassifikation. Klassifikation 3 Was ist Konversation? Repräsentativa wie behaupten, feststellen, informieren, beschreiben In einem repräsentativen Sprechakt teilt der Sprecher dem Hörer mit, dass etwas der Fall ist, dass er eine Proposition für wahr hält. Prototyp eines repräsentativen Sprechakts ist die Aussage. Entsprechend sollen die Worte mit der Welt in Übereinstimmung sein. Direktiva wie befehlen, auffordern, verbieten, erlauben, raten In einem direktiven Sprechakt versucht der Sprecher, den Hörer dazu zu bringen, etwas Bestimmtes zu tun. Prototypen sind die Frage und die Aufforderung. Die Welt ist mit der Äußerung in Übereinstimmung zu bringen; der ausgedrückte psychische Zustand ist ein Wunsch. Kommissiva wie versprechen, ankündigen, schwören, drohen Im kommissiven Sprechakt verpflichtet sich der Sprecher selbst zu einer künftigen Handlung. Prototyp ist das Versprechen. So ist die Welt mit der Äußerung in Übereinstimmung zu bringen; der ausgedrückte psychische Zustand ist eine Absicht. <?page no="69"?> 6699 Sprechakttheorie 3.2 Expressiva wie danken, gratulieren, klagen, sich entschuldigen Die Deutung und Identifikation von Sprechakten ist nicht vollständig an sprachlichen Zeichen festzumachen. Sie wird mitbestimmt durch Kontext und gemeinsames Wissen. Spektakuläres Beispiel hierfür sind indirekte Sprechakte. In einem indirekten Sprechakt wird eine Äußerungsform, die normal einem bestimmten Typ zuzuordnen ist, noch einem anderen Typ zugeordnet. (11) Kannst du mir das Salz reichen? Dies ist nur vordergründig eine Frage. Vielmehr wird die Äußerung im Normalfall als Bitte verstanden. Es handelt sich also um zwei illokutionäre Akte: Deklarativa wie kapitulieren, den Krieg erklären, urteilen, kündigen Unsere Kommunikation ist voller indirekter Sprechakte. Üblich sind sie vor allem für Aufforderungen: (12) Ihr Fax ist da. (12) Vielleicht können Sie nun etwas entspannen. (13) Wir brauchen mehr Wasser. So wäre (12) deutbar als Aufforderung, das Fax zu lesen oder zu holen; (13) als sanfter Vorschlag und (14) als Planungsanlass. Aber wie gelingt es, solche Äußerungen richtig, also indirekt zu verstehen? Indirekte Sprechakte In deklarativen Sprechakten schafft der Sprecher durch seine Worte einen neuen Sachverhalt. Wie die Taufe sind diese Sprechakte meist performativ und an die Existenz von Institutionen gebunden (z.B. Gericht, Kirche, Regierung). In einem expressiven Sprechakt gibt der Sprecher seinem psychischen Zustand bezüglich eines Sachverhalts Ausdruck. Beispiele sind die Danksagung und die Gratulation. Es gibt keine Anpassungsrichtung zwischen Wort und Welt. bbiitttteenn ffrraaggeenn ääuußßeerrnn <?page no="70"?> 7700 3 Was ist Konversation? Gricesches Räsonnement 1. A hat mir eine Frage gestellt. 2. Ich erkenne nicht die Relevanz einer ja-nein-Antwort für A. 3. Ich gehe davon aus, dass A weiß , dass ich das Salz reichen kann. 4. Ich vermute deshalb, A bezweckt etwas Anderes. 5. Was hat As Frage zu tun mit dem, was A eigentlich will? 6. Wir sind beim Essen. Was hat A hier mit dem Salz? Braucht A Salz? 7. Ich vermute, A möchte Salz und, da A mich fragt, das Salz von mir. 8. Warum sagt A das indirekt? 9. A möchte höflich bitten. Die zentralen Punkte einer solchen Rekonstruktion sind: • der Nachweis, dass es außer dem vordergründigen illokutionären Zweck einen weiteren Zweck der Äußerung gibt, • die Strategie oder Inferenz, mit der man herausfindet, worin der weitere illokutionäre Zweck besteht. Indirektheit lässt den Beteiligten einen größeren Spielraum: • Unerwünschte Verpflichtungen könnten umgangen werden. • Der mögliche Rekurs auf Status oder Berechtigung des illokutionären Akts kann vermieden oder verschleiert werden. • Ein Anschein von Unverbindlichkeit kann erweckt werden. • Höflichkeit kann insinuiert werden. Die Rekonstruktion dient nur der Erklärung. In realer Kommunikation wird der Partner nicht reflektieren, die Verfahren werden schnell zur Routine. Und so wird auch die Grenze zwischen direkt und indirekt verschwimmen. Die Unterschiede der Kulturen bezüglich direkt und indirekt werden gewöhnlich für groß erklärt. Folgendes wird berichtet von einem Treffen des japanischen Premier Sato Eisaku mit dem amerikanischen Präsidenten Nixon. Es ging darum, eine Lösung zu finden in der schwierigen Frage der japanischen Textilexporte in die USA. Die Exporte haben viele Nixon- Wähler irritiert und Nixon wies Sato auf die Probleme hin. Sato antwortete: zensho shimasu. Was wörtlich so viel heißen soll wie: Ich kümmere mich darum, so gut ich kann. Für Nixon hieß das: Ich kümmere mich darum. Und er glaubte, dass Sato das Problem lösen werde. Für Sato war das allerdings nur eine höfliche Form, das Thema zu beenden. Wie Sprecher in indirekten Sprechakten dem Hörer mehr kommunizieren als sie in der Äußerung overt zu sagen scheinen, erklärt ein Gricesches Räsonnement, das auf gemeinsames Wissen und auf Rationalitätsannahmen der Beteiligten Bezug nimmt. Ein kurz gefasstes Räsonnement rekonstruiert etwa die indirekte Deutung von Kannst du mir das Salz reichen? <?page no="71"?> 7711 Sprechakttheorie 3.2 Norm angreifen Akzeptieren Vorwurfssequenz Entschuldigen Vorwerfen Widerlegen Bestreiten Beweisen Sprechakte werden fast nie isoliert vollzogen, sondern bilden stets Teil eines Kommunikationsablaufs und sind darin situiert. Eine Kommunikation besteht meist in einer Folge von Sprechakten. In der Entwicklung der Sprechakttheorie finden so auch Sequenzen von Sprechakten besondere Beachtung, Sequenzen, deren Elemente regulär aufeinander bezogen sind. Dabei ist zwischen zwei großen Klassen von Sprechakten zu unterscheiden: • initiative Sprechakte (wie die Frage), die eine Sequenz eröffnen, • reaktive Sprechakte (wie die Entschuldigung), die eine Sequenz abschließen oder innerhalb einer Sequenz vorkommen. Zweigliedrige Sequenzen sind: fragen - antworten, behaupten - widersprechen; mehrgliedrig wäre Beschuldigung - Entschuldigung - Akzeptieren der Entschuldigung. So kann man Muster für mögliche Kommunikationen und Verläufe skizzieren. Die Grundannahmen der Sprechakttheorie fassen wir zusammen: • Sprechen muss als Handeln analysiert werden. Die Sprachtheorie ist Teil einer allgemeinen Handlungstheorie. • Die Einheit sprachlicher Kommunikation ist der Sprechakt. • Sprachliches Handeln ist regelgeleitet. • Für die korrekte Ausführung eines Sprechakts lassen sich explizit Bedingungen angeben. • Die sprachliche Handlung eines Sprechers ist innerlich strukturiert. Allgemein ist zu unterscheiden: der lokutionäre Akt, der illokutionäre Akt und unter Umständen der perlokutionäre Akt. • Die illokutionäre Rolle einer Äußerung kann man festmachen an bestimmten sprachlichen Elementen oder Indikatoren. In der Anwendung ist besonders zu achten auf folgende Aspekte: • Welche Arten Sprechakte führt A aus, welche B? • Welche Arten Sprechakte sind an A gerichtet, welche an B? • Wie lang sind die Sprechaktsequenzen (oder turns in Zahl der Wortformen) von A, wie lang die von B? In interkultureller Kommunikation kommen Fragen hinzu? • Gibt es die gleichen Akte? • Welche Abwandlungen und Unterschiede gibt es? Fazit <?page no="72"?> 7722 Eine große linguistische Entdeckung sind die Griceschen Maximen. Sie haben uns das Funktionieren menschlicher Kommunikation besser verstehen lassen, sie haben die kommunikative Analyse entscheidend verbessert. Es ist verblüffend, dass es so lange dauerte, bis sie entdeckt wurden. Der Grund mag ihre Selbstverständlichkeit sein. Gerade das Selbstverständliche, das Grundlegende unserer Kommunikation ist uns besonders schwer zugänglich. Es ist sozusagen das Natürliche. Grice geht davon aus, dass menschliche Kommunikation ein vernünftiges und kooperatives Unternehmen ist, wenngleich er zugesteht, dass es andere Formen der Kommunikation geben mag (Grice 1967: II 11). Als Basis gilt Grice das Kooperationsprinzip, aus dem speziellere Maximen abzuleiten sind. Kooperationsprinzip und Maximen 3.3 Logic and Conversation Mache deinen Beitrag zu einem Gespräch so, wie der akzeptierte Zweck oder die Richtung des Gesprächs es verlangt an der Stelle, wo du ihn machst. (Grice 1967: II7) 1. Quantität: Sei informativ! Mache deinen Beitrag so informativ wie notwendig; sage nicht mehr und nicht weniger. 2. Qualität: Sei wahrhaftig! Sag nichts, was du für falsch hältst oder wofür du keine gute Rechtfertigung hast. 3. Relation/ Beziehung: Sei relevant! Geh auf deinen Partner ein, sage ihm nur, wovon du annehmen kannst, dass es für ihn wichtig ist. 4. Art und Weise: Sei klar! Sprich verständlich und vermeide Vagheiten, fasse dich kurz (ohne Umschweife) und sprich geordnet. In der Nachfolge von Grice wurden die Maximen abgewandelt und knackiger formuliert. Die Wirkung der Maximen erkennt man am besten an Beispielen. Die Beurteilung der Beispiele verlangt allerdings einen frischen Blick aus einer gewissen Distanz, weil die kommunikativen Maximen unsere Deutung unbewusst und als Routinen stützen. 3 Was ist Konversation? <?page no="73"?> 7733 Logic and Conversation 3.3 Beispiel: Wiederholen Besuch in Korea Jemand sagt zu mir: „Ich komme morgen um 10 Uhr“. Dies ist eine einfache behauptende Ankündigung. Eine Stunde später sagt er das Gleiche nochmal. Jetzt ist es ein anderer Akt, weil nicht mehr im gleichen Sinn relevant. Ich werde ihn vielleicht als eine Erinnerung auffassen, wenn ich davon ausgehe, dass wir beide wissen, dass das Gleiche schon gesagt wurde. Oder ich werde mich wundern, dass der Andere meint, ich wisse das nicht mehr. Hält er mich für doof? Oder ich erkenne, dass es für den Andern besonders wichtig ist, dass ich weiß, dass er morgen um 10 kommt. Am anderen Tag um 9 Uhr ruft der Partner mich an und sagt mir noch einmal das Gleiche. Jetzt werde ich den Akt nicht einmal wie die erste Wiederholung verstehen können. Es ist fast eine Störung oder gar Beleidigung, wenn ich davon ausgehe, dass er meint, dies sei meinetwegen angebracht. Oder aber ich nehme an, der Partner sei etwas schusselig oder sowas. Wenn man Glück hat oder geübt ist, fällt einem etwas auf. Normal kommen uns die Deutungen und wir folgen den Maximen ohne Aufmerksamkeit, Überlegung oder Bewusstheit. Das enigmatische Beispiel ist also ein Sonderfall, von einem bewussten Schreiber geschrieben, aber für unseren Zweck nützlich. Parkplatz Auf der Fahrt durch die südfranzösischen Dörfer bekamen die deutschen Urlauber F. und B. Appetit. Der kleine Laden in der Kurve mit dem vielversprechenden Hähnchengrill kam da genau richtig. Vor der Bankfiliale gegenüber fanden die beiden auch sofort eine Parkmöglichkeit. Gerade als sie aussteigen, kommt ein jüngerer Mann auf sie zu und bemerkt in akzentfreiem Deutsch: „Zweihundert Meter weiter ist ein Parkplatz“. Dann geht er weiter. Beispiel: Enigma DDaass QQ--PPrri innzziipp ((QQuuaalliittäätt)) Sag so viel, du sagen kannst. Der Sprecher sagt alles Relevante, was er weiß. So schließt der Hörer aus: Einige hatten warme Kleidung. (Nicht alle …) DDaass II--PPrri innzziipp ( (I Innffoorrmmaattiivviittäätt)) Sag nur so viel, wie es braucht, um verstanden zu werden. Alles, was gesagt wird, ist wichtig. „Kannst du das machen? “ B weiß, dass A weiß, dass B das machen kann. Naheliegend: A bittet mich, … DDaass MM--PPrriinnzziipp ((MMooddaalliittäätt)) Sprich möglichst normal. Alles, was nicht normal ist, ist markiert. X tötete Y vs. X killte Y. Knackiger <?page no="74"?> 7744 Eine Deutung? Für Routinefälle haben wir internalisierte Grice-Räsonnements. Wenn man uns aber so etwas erzählt, fangen wir an zu deuten. Wir gehen davon aus, dass die rätselhafte Bemerkung relevant war und kramen in unserem Bewusstsein oder schauen in der Umgebung. Relevant ist dabei nicht so zu verstehen, dass die Bemerkung für eine der beteiligten Parteien nützlich sein müsse, sondern nur in dem Sinn, dass die Bemerkung kommunikativ berechtigt war, weil es etwas zu sagen gab. Warum wird gesagt, dass die beiden vor der Bankfiliale parkten? Wahrscheinlich, weil der Schreiber meinte, dies habe etwas mit der Deutung zu tun. War der Warner (war es überhaupt eine Warnung? ) ein Bankangestellter und konnte deshalb so gut Deutsch? War die Bemerkung also ein Hinweis, dass dies ein Kundenparkplatz war, der nicht für die leidigen Grillbesucher gedacht war? Oder war der akzentfrei Deutsch Sprechende ein Passant, der den beiden Ärger ersparen wollte, weil die Bankleute Fremdparker ungern sahen? Oder vielleicht auch ein Tourist, der schon seine Erlebnisse hatte? Und was hat es mit der Erwähnung der Kurve auf sich? Erschien dem Erzähler dieser Parkplatz vielleicht gefährlich? Wir müssen unsere Indizien aus dem Text eruieren, oder wir müssen wild in unserer Erfahrung suchen, um Deutungsmöglichkeiten zu finden. Die Beteiligten haben noch den Vorteil, dass sie in der Situation etwas entdecken können. Sie könnten das Ganze systematisch absuchen. Aber immer bleiben sie im Rahmen der Relevanzannahme. Denn ohne Relevanz wäre die Bemerkung einfach Unsinn, ein Deutungsversuch würde sich nicht lohnen. Und auch die weiteren Indizien müssen relevant sein, und zwar relevant für eine plausible Gesamtdeutung. Unsere beiden verbessern ihre Situation übrigens nicht prinzipiell, wenn sie bei dem jungen Mann nachfragen. Sie bekommen vielleicht mehr Daten, aber auch die wollen gedeutet sein. Das Analoge gilt für uns, die wir uns mit dem kargen Text begnügen müssen. Daten gibt es massenhaft, wir brauchen relevante Daten. Relevant sind sie aber nur für eine Deutung. Die Relevanz einer Äußerung ist sozusagen die Kehrseite der Annahme, dass sie sinnvoll ist. Wenn sie keine Relevanz hat, dann macht sie keinen Sinn. Darum müssen wir in unseren Deutungen immer davon ausgehen, dass Äußerungen relevant sind. Sonst gibt es nichts zu deuten. Das Kooperationsprinzip ist übergeordnet, es ist der Anfang, aus dem die Maximen sich herleiten lassen. Der Status des Kooperationsprinzips wie der Maximen ist umstritten. Diskutiert werden vor allem drei Ansichten: 3 Was ist Konversation? <?page no="75"?> 7755 Logic and Conversation 3.3 1. Die Maximen sind eine Art ethischer Postulate, an die sich zu halten nicht nur vernünftig ist, sondern auch ethisch angezeigt. In diesem Sinn definieren die Maximen eine ideale Kommunikation, die wir erreichen sollten und sicher partiell auch erreichen. Nach dieser Auffassung ist ein Verstoß gegen Maximen ohne Weiteres möglich, aber ethisch nicht zu billigen. 2. Maximen sind eine Art sprachlicher Regeln, die üblicherweise befolgt werden. Mit dem Spracherwerb wird man in sie hineinsozialisiert wie in andere Sprachregeln. Man befolgt sie dann blind. Sie sind unbewusste, wertfreie, aber bewährte Verfahren der Deutung, und davon abgeleitet auch des sprachlichen Handelns. Nach dieser Auffassung ist Abweichung von Maximen zwar möglich, aber eher schwierig, weil sie uns nicht bewusst sind. Die Abweichung wird als Art Lapsus angesehen. 3. Die Maximen definieren die Grundprinzipien menschlicher Kommunikation, die wir selbstverständlich befolgen, um zu unseren Deutungen zu gelangen. Die Maximen begrenzen das, was wir Kommunikation nennen; sie sind definitorisch oder grammatisch (im Wittgensteinschen Sinn). Ein Verstoß ist nicht möglich; er macht keinen Sinn, weil der Partner den Scheinverstoß in seine Deutung inkorporiert. Status der Maximen Wichtiger erscheint, wie die Maximen eigentlich im Detail zu verstehen sind. Und auch hier herrscht bis jetzt noch keineswegs Klarheit. Dieser Mangel zeigt sich schön in einem Artikel über das Kooperationsprinzip (Sarangi/ Slembrouck 1992). Hier wird gegen die Gültigkeit des Kooperationsprinzips argumentiert: Es sei unrealistisch. Die beiden Autoren verstehen das Kooperationsprinzip offenbar so: Seien A und B zwei Kommunikationspartner. A hat ein Ziel, B hat ein Ziel, und diese Ziele seien identisch, darum beiden gemeinsam. Wie sollte aber mein Partner mein Ziel haben können? Klingt das nicht schon von der Logik her etwas komisch? Zum Beispiel, ich möchte, dass mein Partner mir zehn Euro leiht. Sollte dann das Ziel meines Partners sein, dass er mir zehn Euro leiht? Auch das klingt etwas komisch. Vor allem, wenn das so wäre, dann bräuchten wir überhaupt nicht zu kommunizieren. Ein gemeinsames Ziel? First, we wish to abandon a notion of „cooperation as goal sharing” as an overarching presumptive feature in interactions. In reality, it makes more sense to talk about goal „sharing”, goal „adoption”, goal „imposition”, goal „resistance”, etc. (Sarangi/ Slembrouck 1992: 138) <?page no="76"?> 7766 Der doofe Grice Müsste Grice nicht irgendwo anders gelebt haben als auf dieser Welt, wenn er sein Kooperationsprinzip so gemeint hätte? Sollte seine Formulierung so naiv zu verstehen sein, dass sie unter Anderem folgende Implikationen enthält: Die Kommunikationspartner haben je nur ein Ziel. Ihr jeweiliges Ziel ist ihnen wechselseitig bekannt. Ihre Ziele sind identisch. Ihre Ziele bleiben konstant in der Kommunikation. Ihre Ziele sind von beiden akzeptiert. Dies alles wäre logisch kaum vorstellbar. Woher sollte ich dein Ziel kennen? Und wie sollten wir ein gemeinsames, von beiden akzeptiertes Ziel in unsrer Kommunikation verfolgen? Müssten wir das nicht vorher geklärt haben? Und wie denn, wenn nicht durch Kommunikation? Wir stünden vor einem Regress. Das gemeinsame Ziel einer Kommunikation muss man erfassen, es liegt auf einer anderen Ebene. Wenn etwa zwei miteinander argumentieren, möchte vielleicht jeder Recht behalten. Das sind entgegengesetzte Ziele. Jeder kann aber nur Recht behalten, wenn er auf einer höheren Ebene kooperiert: Jeder muss verständlich reden, jeder muss beim Thema bleiben, muss auf die Argumente des Andern eingehen. Sonst kann er nie das Spiel gewinnen, nie in einem echten Sinne Recht behalten, also sein eigenes Ziel gar nicht realisieren. Oder: Wenn ich jemanden auf der Straße nach der Uhrzeit frage, haben wir wohl erst mal kein gemeinsames Ziel. Ich will wissen, wie viel Uhr es ist, und mein Partner wird von vornherein keine Ziele einbringen. Er wird erfassen, was ich will, und wenn er sich auf die Kommunikation einlässt, wird dieses Ziel nicht unser gemeinsames. Er könnte sich ja noch verweigern. Das gemeinsame Ziel liegt auch hier auf einer anderen Ebene. Wir wollen diese angefangene Kommunikation vernünftig abschließen, wollen uns verstehen oder auch - wenn der Partner mitspielt -, dass mein Wunsch erfüllt wird. Das ergibt sich trivial aus der Tatsache, dass wir die Kommunikation eingehen. Gemeinsam ist, dass die Kommunikation stattfindet und gelingt. Ein Kriterium des Gelingens ist nicht festgelegt. In der Kommunikation kann jeder andere Ziele anstreben, der Gefragte kann einfach nett sein wollen oder hilfsbereit. Aber auch wenn er sagt, er weiß nicht, wie viel Uhr es ist, war er kooperativ. Mehr konnte er nicht tun. Eine Schwierigkeit mit der Kooperation ist, dass viele sie im Zusammenhang mit Hilfsbereitschaft usw. sehen. Aber in der Kommunikation kann man durchaus eigene Ziele verfolgen und zugleich kooperativ sein. Altruismus ist nicht gefordert. Das gemeinsame Ziel 3 Was ist Konversation? <?page no="77"?> 7777 Logic and Conversation 3.3 Auch die anderen Maximen liegen auf einer eigenen Ebene. Die Maxime der Informativität könnte man etwa so explizieren: Sei informativ, weil dein Partner davon ausgeht, dass du informativ bist, weil du davon ausgehst, dass dein Partner davon ausgeht, dass du informativ bist. Sprechen ist ein kooperatives Gesamtunternehmen, weil es erst mal allein gar nicht geht und weil der Sprecher will, dass der Hörer ihn versteht, und weil der ihn tatsächlich auch verstehen will. Die Kooperation der beiden liegt darin, dass sie zu diesem Zweck sozusagen von koordinierten Handlungen ausgehen müssen. Die grundlegende Kooperation bildet den äußersten Rahmen jeder Kommunikation. Erst innerhalb dieses Rahmens ist kommunikative Kompetition möglich. Ich kann mich gut nur mit jemandem streiten oder auseinandersetzen, der mich auch versteht. Also werde ich dies prinzipiell so tun, dass er mich versteht, und mich insofern ans Kooperationsprinzip halten. Sogar der Lügner wird sich daran halten. Auch er sagt etwas, was der Belogene versteht, ja er wird sich sogar auf sein Opfer einstellen, weil er ja dafür sorgen muss, dass die Lüge plausibel für es erscheint. Nur dann wird es sie glauben. Also: Kommunikation ist ein Gemisch kooperativer und kompetitiver Zielsetzungen. Aber die äußere Grenze ist Kooperation, sie besteht in gemeinsamen Konventionen und gemeinsamem Wissen. Zum besseren Verständnis der Maximen sollten wir zwei Dinge behalten: 1. Das Gricesche Kooperationsprinzip wird öfter kritisiert, weil es davon ausgehe, es gäbe ein akzeptiertes Ziel der jeweiligen Kommunikation. Es ist aber zu bedenken, dass es nur davon ausgeht, dass jeder der Partner davon ausgeht, es gebe ein solches Ziel (Grice 1967: II 6). Was zu sagen relevant ist, ist natürlich nicht auf geheimnisvolle Weise vorbestimmt. Es ist eher eine Art Eintrittsbedingung, dass die Partner erst einmal davon ausgehen, dass sie gleiche Relevanzkriterien anwenden. Ob etwas Gesagtes relevant ist und in welchem Sinn, klärt sich erst in der Kommunikation. Der Sprecherschreiber kann unterschiedliche Betonungen in puncto Relevanz vornehmen. Er kann bei einer Kundgabe davon ausgehen, dass etwas relevant ist, was in erster Linie ihn selbst betrifft. Relevant könnte es sein, weil er will, dass der Partner das weiß; auf so viel Vorschuss des Partners dürfen wir vertrauen. Er kann aber auch annehmen, das Gesagte sei in erster Linie für seinen Partner relevant. Die Lehre Der äußere Rahmen <?page no="78"?> 7788 Der Hörerleser muss also nicht gleich darauf abheben, dass das Gesagte für ihn relevant sei. Er toleriert durchaus, dass der Sprecherschreiber erst einmal davon ausgeht, das Gesagte sei überhaupt relevant. Wenn er mit der Zeit die Relevanz nicht sieht, wird er vielleicht die Kommunikation abbrechen oder abklingen lassen. So kann sich auch im Zuge der Kommunikation langsam ändern, was die Partner jeweils für relevant halten. Ich halte für relevant, was ich glaube, was du für relevant hältst. 2. Gricesche Maximen könnten in verschiedener Hinsicht erweitert werden. Grice selbst hat darauf hingewiesen, dass sie nach seiner Meinung ins allgemeine Handeln hinüberreichen (Grice 1967: II 9). Für die Kommunikation wäre eine andere Erweiterung nötig, auf die Grice auch schon aufmerksam gemacht hat (Harnish 1976: 342). Von Behauptungsakten wären sie zu erweitern auf andere sprachliche Tätigkeiten und Ausdrucksverhalten. Maximen gelten ausnahmslos. Sind die Maximen also universal? Wie bestimmte syntaktische Prinzipien oder Sprachlernprinzipien zur Ausstattung des Menschen zählen, so könnte man das für die Maximen annehmen. Sie wären dann nicht nur der harte Felsgrund einer Kultur, sondern genetisch vorprogrammiert, so weit menschliche Kommunikation genetisch hinterlegt ist. Aber sind die Maximen wirklich in diesem Sinn universal? Gelten sie tatsächlich immer und überall? Im Zuge neuronaler Basierung menschlicher Fähigkeiten haben Spiegelneuronen Aufsehen erregt. Sie sollen ermöglichen, dass wir die Perspektive Anderer einnehmen können. Sie seien dafür verantwortlich, dass wir Handlungen Anderer mental nach- oder mitvollziehen, sogar dass wir automatisch mitlachen, wenn eine andere Person zu lachen beginnt. Mit den Spiegelneuronen werden Empathie, reziprokes Verhalten, Sprache und Kultur in Zusammenhang gebracht. Nach unserem Verständnis bestimmen die Maximen die Idee der Kommunikation, sie sind aus dem Witz dieses Spiels abgeleitet. Sie stecken sozusagen die Grenzen unseres Verstehens ab. Wir unterstellen sie dem Partner in einer hypothetischen Antizipation. Mehr geht prinzipiell nicht, und darum sind auch Verstöße schwer möglich. Aber gibt es nicht Gegenbeispiele? Höflichkeit zum Beispiel. Höflichkeit besteht meist darin, mehr Worte zu machen als eigentlich nötig. Ist Höflichkeit also ein Verstoß gegen die Relevanzmaxime? Wird in Kulturen mit ausgeprägtem Höflichkeitssystem und hoher Höflichkeitsnorm ständig gegen die Relevanzmaxime verstoßen? Nein, irrelevant und uninformativ ist der Höfliche nur vordergründig. Das eigentliche Verständnis - die Höflichkeitsdeutung - ergibt sich nur auf der Folie der Relevanzmaxime. Universalien 3 Was ist Konversation? <?page no="79"?> 7799 Logic and Conversation 3.3 Ich weiß, dass nach der Relevanzmaxime eigentlich weniger genügen würde; genau das ist ein Grund, die Äußerung als höflich zu verstehen. Die Relevanzmaxime ermöglicht erst die Deutung als Höflichkeit. Dazu genügt allerdings nicht die Relevanzmaxime allein. Entscheidend ist auch, dass man weiß, was es heißt, höflich zu sein, das man die Regeln kennt, nach denen etwas als höflich gilt. Gerade die kulturspezifischen Regeln und Ausführungsbestimmungen ermöglichen es, prolixes Verhalten als höflich zu verstehen. Aber auch nichts sagen kann als höflich verstanden werden. Diese Ausführungsbestimmungen mögen unterschiedlich sein, aber die Relevanzmaxime selbst wird davon nicht tangiert. Eine generelle Ausführungsbestimmung kann sich etwa ergeben, wenn in einer Kultur klar ist, dass, wer meint, er habe etwas Relevantes zu sagen, natürlich davon ausgeht, dass er in dieser Hinsicht dem Partner überlegen ist, da er etwas weiß oder besser weiß, was der Partner nicht weiß. Gibt es aber in dieser Kultur eine Image schonende Norm, dass man seine Überlegenheit nicht offenbar werden lässt, so wird das natürlich dazu führen, dass Sprecher nicht dazu neigen, Konversationen zu eröffnen, dass sie sogar zurückhaltend sein werden mit Informationen. Aber auch dies tangiert die Relevanzmaxime nicht. Humor und Witz spielen öfter mit den Maximen. Dabei geht es darum, dass eine Äußerung vordergründig das Eine sagt, aber hintergründig einen anderen Sinn hat. Dadurch entsteht der Witz, der Aha-Effekt. Paradoxe oder allein schon inkonsistente Ausdrucksweisen sind für den Rezipienten gute Indizien dafür, dass etwas nicht vordergründig gemeint ist, wenn er eben unterstellt, dass der Partner gut und rational kommuniziert und auch annimmt, dass der Rezipient davon ausgeht. Man ist als Rezipient vielleicht unsicher, ob die Äußerungen ernst gemeint sind oder nur eher witzig vorführen sollen, was es mit stereotypen Äußerungen auf sich hat. Wenn also eine Äußerung offenkundig verstößt gegen das, was für wahr gehalten wird, dann nehmen wir an, es sei etwas Anderes gemeint, als gesagt wird. Damit wissen wir aber noch nicht, was gemeint war. Gegenbeispiele? Humor und Witz Ich mag keine Verallgemeinerungen, aber im Allgemeinen mag ich dieses Volk nicht. Ich mag Chinesen überhaupt nicht. Aber alle, die ich kenne, finde ich sehr nett. <?page no="80"?> 8800 Spiel mit Prinzipien Scheinverstöße gegen das Q-Prinzip können auch milder sein: Wie erkennt man einen Koreaner beim Begräbnis? - Er ist der Einzige mit einem Geschenk. Hier wird es erst mal um die Übertreibung gehen, vielleicht ein erstes Anzeichen. Damit weiß man natürlich noch nicht, was der Witz sein soll. Dazu muss das Implizite erfasst werden, etwa das Stereotyp „Koreaner schenken bei allen möglichen Gelegenheiten unnützes Zeug“. Das kann witzig sein für den, der Bescheid weiß. Grundsätzlich scheinen die meisten Witze zu verstoßen gegen das Q-Prinzip. Sie sind in dem Sinn unterinformativ, dass das Eigentliche implizit bleibt. Man muss drauf kommen, um den Witz zu verstehen und so zu seinem Lacher zu kommen. Er: „Schatz, ich mache dich zur glücklichsten Frau der ganzen Welt! “ - „Ich werde dich vermissen.“ Einschlägig für das Implizite und das Q-Prinzip sind Sparwitze: Steht ein Manta vor der Uni. Aber besonders das M-Prinzip wird für Witze gern ausgeschlachtet. Einen Scheinverstoß gegen die Maxime haben wir bei allen Zweideutigkeiten. Im Normalfall sollte der reflektierte Sprecher suchen - um klar zu sein - Zweideutigkeiten zu vermeiden. Hier aber macht er sie sich reflektiert zu nutze. Darum gibt es in Witzen serienweise Ambiguitäten und oft Polysemien. Solche Witze sind meist schwer oder gar nicht in andere Sprachen übertragbar. Darum eignen sie sich schwer im interkulturellen Zusammenhang. Hierher gehört auch das übliche Spiel mit Idiomen. Ein Ehemann erwischt seine Frau mit einem Schwarzafrikaner im Bett. „Jetzt hab ichs Schwarz auf Weiß! “, schreit er. Im Spiel mit Ambiguität wird nicht gegen das I-Prinzip verstoßen. Der Witz liegt nämlich genau darin, den doppelten Sinn zu erfassen und nicht zu vereindeutigen: Alles bleibt in der Schwebe. Das Implizite ist in interkultureller Kommunikation besonders heikel. Darum wird empfohlen, da keine Witze zu machen. Aber wo bleibt dann die Würze und wo die Normalität? Gravierender soll ein anderes Beispiel erscheinen: Keenan hat darauf hingewiesen, dass Malagasy-Sprecher eher die Maxime verfolgen, ihre Redebeiträge uninformativ zu machen, indem sie etwa auf Fragen mit Disjunktionen antworten oder bei Handlungsdarstellungen den Täter weglassen (Keenan 1976). Die Folgerung klingt so unwahrscheinlich, dass man eine genaue Analyse möchte, eine Antwort auf die Frage: Wie geht dieses Spiel eigentlich? Man könnte sich vorstellen, dass eine Alternative in der Disjunktion einen schon bekannten Wahrheitswert hat, so dass der Hörer seine Schlüsse ziehen kann. Und den Handelnden machen auch wir oft genug nicht dingfest („Bomben fallen“). 3 Was ist Konversation? <?page no="81"?> 8811 Logic and Conversation 3.3 Der ständige Verstoß gegen die Maximen übersteigt meine Vorstellungskraft. Was ich mir höchstens vorstellen kann: Hier gilt ein anderer Maßstab dafür, was als informativ zählt. Das Korea-Beispiel zeigt, wie schnell wir bei der Hand sind, Handlungen als partnerspezifisch und idiosynkratisch zu sehen. Vielleicht werden Verabredungen in Korea etwas anders getroffen. Gäbe es zum Beispiel den Usus, dass Verabredungen von einem Partner nochmal ratifiziert werden müssen, vielleicht vom Initiator oder besser vom Nicht-Initiator, so erschiene das Handeln des koreanischen Partners in einem anderen Licht. Nur ist damit natürlich die Informativitätsmaxime nicht außer Kraft. Um darauf zu kommen, muss ich gerade auf Basis der Informativitätsmaxime räsonieren. Nehmen Sie an, Sie kommen in eine Kultur, wo es üblicher ist, die Bitten eines Gastes zu erfüllen als in Ihrer eigenen Kultur. Das könnte daran liegen, dass in jener Kultur eine Norm N 1 gilt, die besagt: Man soll 1 Bitten eines Gastes erfüllen. In Ihrer Kultur gälte dagegen N 2 : Man soll 2 Bitten eines Gastes erfüllen. N 1 sei stärker als N 2 , das entsprechende soll 1 der stärkere Modaloperator. Was wird passieren? Im einfachsten Fall - wenn Sie nicht wissen, dass N 1 in jener Kultur gilt -, werden Sie nach Ihren Relevanzkriterien Ihre Bitten äußern und sich vielleicht wundern, dass sie so oft erfüllt werden. Sie werden diese Menschen für besonders nett halten. Ihre Partner werden auch von ihren eigenen Relevanzkriterien ausgehen und den Eindruck gewinnen, Sie seien ein fordernder Mensch. Das heißt: Beide Partner arbeiten auf der Relevanzmaxime und den ihnen bekannten Ausführungsbestimmungen. Sie richten ihre Deutung entsprechend ein. Nun können Sie sich leicht die Varianten dieses Gedankenexperiments vorstellen. Sie wissen vielleicht etwas über N 1 oder Ihr Partner weiß etwas über N 2 . Einer von Ihnen weiß, dass der Partner Bescheid weiß usw. Alle Kombinationen sind denkbar und kommen vor. Nehmen wir an, dass Sie bemerkt haben, dass dort N 1 gilt. Sie werden nun - da Ihre Intentionen sich nicht geändert haben, da Sie die Wichtigkeit Ihrer Bitten nicht anders einschätzen - weniger Bitten äußern. Sie werden vorsichtiger, und Sie werden nur die wichtigeren Bitten äußern. Das ist von Ihrer Seite völlig korrekt gehandelt. Aber dennoch liegt kein vollständiges Verstehen vor. Ihr Partner wird Ihr Verhalten auf der Basis seiner Norm für völlig normal und unauffällig halten. Er weiß aber nichts von Ihrer Norm und erfasst darum einen entscheidenden Punkt Ihres Handelns nicht, dass Sie nämlich auf ihn eingehen, seine Norm berücksichtigen, kurzum kooperativ sind. Das ist zwar noch kein Missverständnis, es kann sich aber zu einem solchen auswachsen. Ein Gedankenexperiment <?page no="82"?> 8822 Fazit Anregung Sie hören den Vortrag eines Wissenschaftlers, der aus einem Land kommt, dessen Sprecher nach Ihrer Meinung wenig kommunikative Zurückhaltung zeigen, die oft vorlaut sind und aggressiv diskutieren. Der Vortragende spricht über Dinge, von denen Sie oft mehr verstehen, ja er sagt sogar Falsches. Sollen Sie ihm in der Diskussion offen widersprechen? Oder sollen Sie schweigen? Würden Sie redend nicht sein Gesicht verletzen? Und indem Sie das tun, vielleicht auch Ihres? Aber er will offenbar hart diskutieren, er stellt sein Image zur Disposition - in Ihrem Verständnis. Geht es doch nur um Ihr eigenes? So gibt es viele Begründungen und Überlegungen. Aber all die entsprechenden Akte denken Sie auf dem Hintergrund der Relevanzmaxime und geltender Ausführungsbestimmungen, all die entsprechenden Akte können auch nur so verstanden werden. Die Unterschiede zwischen Kulturen und Personen sind oft groß, aber im Licht der Grundprinzipien nur vordergründig. Sie betreffen nicht Maximen - so unsere These -, sondern nur Ausführungsnormen. Wir alle sind Menschen, und wir haben die gleichen Fähigkeiten zu verstehen, kooperativ zu sein. Wenn wir uns wirklich bemühen, auch lange Wege zu gehen, werden wir uns verstehen. Wir müssen nur richtig zuhören, schauen und offen sein. Und wir sollten die Andern nicht für dümmer halten als uns selbst. Dann können wir vielleicht auch jenen Zustand erreichen, den Adorno in den Minima Moralia den nennt, „in dem man ohne Angst verschieden sein kann“. Denken Sie sich nun folgenden Fall: Sie kennen die Kultur Ihres Partners und deren N 1 . Ihr Partner kennt N 2 . Sie handeln nach N 1 . Ihr Partner glaubt, dass Sie nach N 2 handeln. Wie wird der Partner Sie dann einschätzen? Noch ein Gedankenexperiment 3 Was ist Konversation? <?page no="83"?> 8833 4 Nonverbale Kommunikation Nonverbale Kommunikation wird in diversen Disziplinen untersucht. Viele Behauptungen basieren da auf Erfahrungen und common sense. Eine brauchbare Methodologie wurde nicht entwickelt. Statt dessen finden sich wilde Behauptungen wie die, dass das meiste in unserer Kommunikation nonverbal stattfände. Da wäre interessant, wie man die Anteile methodisch zu fassen kriegt. Noch interessanter könnte es werden, wenn man in der Übersetzung oder Explikation nicht nur den Weg vom Nonverbalen zum Verbalen ginge. So sollte man mal die beiden letzten Sätze hier nonverbal ausdrücken. Das Experiment bringt Heilung. Bei der Gestik geht es um Bewegungen der Hände, Finger und Arme (auch des Kopfes). Öfter gibt es eine deutende Beschreibung für die ganze Geste wie „den Vogel zeigen“. Wir haben auch deutende Beschreibungen einzelner Aspekte: • offen vs. geschlossen • weit vs. eng • einladend vs. abweisend Auch Tempo und Zahl der Gesten werden gedeutet. Gesten können für Emotionalität, für Engagement sprechen. Die spezielle Art und Weise der Gestik wie auch Anzahl und Intensität sehen wir schon als stark kulturabhängig. So heißt es, dass Italiener mehr mit den Händen reden als Deutschsprachige oder als Nordlichter. Japaner - heißt es - lecken sich über die Fingerspitzen und streichen sich über eine Augenbraue, um zu signalisieren, dass sie jemanden für einen Lügner halten. Bei der Mimik geht es um das Spiel der Gesichtsmuskeln, besonders um Bewegungen der Mund-Nasenpartie, der Augenbrauen und der Stirnpartie. Für die Mimik haben wir ähnliche Beschreibungsmerkmale wie für die Gestik: • offen vs. verschlossen • freundlich vs. böse • angespannt vs. locker Die Mimik nehmen wir als Anzeichen der Gemütsverfassung und der Einstellung zum Partner. Interkulturell gibt es unterschiedliche mimische Ideale. Japaner - heißt es - bevorzugen in der Öffentlichkeit das Pokergesicht, im Privaten ein mattes Lächeln. Gestik Mimik Der Körper ist der Handschuh der Seele. Samy Molcho <?page no="84"?> 8844 4 Nonverbale Kommunikation Augen sind das Wichtigste im Gesicht. Augen sind der Spiegel der Seele, heißt es. Ein Blick kann sein: • offen und freundlich • konzentriert • unruhig, hin und her • ausweichend • interessiert vs. desinteressiert • ironisch Der Blick dient dem Partnerbezug. Mit dem Blick kann man Sympathie und Antipathie zeigen, Zuneigung, Misstrauen oder Einverständnis ausdrücken. Kommunikativ relevant sind Häufigkeit, Dauer und Intensität des Blickkontakts. Der Blickkontakt ist bei der Organisation des Sprecherwechsels wichtig. Interkulturelle Unterschiede: Anderswo schaut man sich vielleicht nicht so oft in die Augen, eher auf den Hals. In Japan lernen Kinder nicht in die Augen, nur auf die Nase des Partners zu schauen. Der Blick in die Augen gilt als fordernd und aggressiv. Einem Vorgesetzten schaut man nur ganz kurz in die Augen. Frauen schlagen die Augen nieder. Das mag als unterwürfig gedeutet werden. Blick Die Körperhaltung betrifft das Gesamtbild, insbesondere auch die Haltung von Kopf und Rumpf, von Armen und Beinen. Deutende Beschreibungen sind etwa: • schlaff vs. gespannt • fett ausladend vs. zusammengekrümmt Die Körperhaltung wird als Ausdruck der Stimmung und des Befindens gewertet. Oft wird die Körperhaltung sogar als Anzeichen für Charaktermerkmale genommen. Wichtig ist die Hinwendung zum Gesprächspartner oder die Abwendung. Man kann so signalisieren, ob man sich als dabei oder eher als draußen definiert, ob man präsent ist (zum Beispiel breit und ausladend dasitzt) oder keine zentrale Rolle spielt und sich entsprechend optisch dünn macht. In der sog. Proxemik geht es um die Distanz zwischen Partnern und ihre Anordnung in Gesprächen. Wichtige Kriterien sind: • in der Runde vs. paarweise • nah vs. auf Distanz • locker arrangiert vs. zentriert • eng vs. weit In der körperlichen Nähe oder Distanz zwischen Gesprächspartnern zeige sich (ikonisch) Nähe oder Distanz der Beziehung. Auch hier gibt es große kulturelle Differenzen. Araber und Südamerikaner kommen sich näher als Europäer. Und dennoch ist nah eben nah, auch wenn der Abstand verschieden ist. Kulturell ist der Maßstab verschieden und ebenso, was als nah gilt. Körperhaltung Proxemik <?page no="85"?> 8855 Gestik 4.1 4.1 Gestik Gesten sind Bewegungen der Arme, Hände und Finger, die absichtlich gemacht werden und eine kommunikative Rolle spielen. Einige Gesten sind konventionell. Vom Gang aus winkte der japanische Student zu einer amerikanischen Lehrerin, die im Zimmer saß. Die Lehrerin winkte zurück und sagte freundlich „Auf Wiedersehen“. Der Student schaute leicht verwirrt und gestikulierte weiter. Ich konnte der Lehrerin erklären, dass der Student zu schüchtern war, um in ihr Zimmer einzutreten, und sie dazu bewegen wollte, heraus in den Gang zu kommen. Die Gesten hier oben haben mit dem Zählen und dem Zahlenzeigen zu tun. In der rechten Abbildung ist versucht, die Bewegung zu zeigen: Einmal durch Überblendung und zusätzlich mit dem Pfeil. Und was es mit den folgenden auf sich hat, können Sie vielleicht selbst herausbekommen. Eindeutig sind die meisten nicht. Sie haben etwas zu tun mit gut und schlecht oder klein. Aber wann macht man sie und wem gegenüber? Wichtig bei den Darstellungen ist auch: Von welcher Seite sieht sie wer? Die zweite wird so vom Partner gesehen, die erste sieht man selbst. Winken? Anregung Die japanische Auf-und-Ab-Bewegung der Finger, mit der Innenhand nach unten, so als wolle man greifen, heißt so viel wie „Komm her“. Sie gleicht sehr der Geste, die in Mitteleuropa und Nordamerika so viel heißen kann wie „Auf Wiedersehen“. Allerdings ist diese Geste in ähnlicher Ausführung auf der Welt verbreitet. Es gibt sie auch in Spanien, etwa. Gesten machen wir mit den Händen. Sie sind Bewegungen. Mehr oder weniger konventionalisierte erkennen wir aber auch in stehenden Bildern. <?page no="86"?> 8866 4 Nonverbale Kommunikation Zahlen zeigen mag sprachbegleitend oder isoliert vorkommen. Zahlen zeigen scheint weitgehend ikonisch. Aber es ist schon ein Gemisch aus Ikonismus und Konventionalität. Von daher gibt es interessante kulturelle Unterschiede. Fängt man mit dem Daumen an oder mit dem Zeigefinger? Oder gar mit dem kleinen Finger? Was bedeutet die ganze Faust? Im Deutschen geht es gewöhnlich so: Der Verlauf Beginn (meist) rechte Hand, leichte Faust, Handrücken zum Partner, Daumen gestreckt = 1, Finger nacheinander aufklappen, Handinnenfläche zu sich selbst, Zeigefinger = 2, Mittelfinger = 3, Ringfinger = 4, kleiner Finger = 5, weiter linke Hand, analoge Prozedur bis 10, rechte Hand wird irrelevant. Anders schon amerikanisch: Beginn (meist) linke Hand, leichte Faust, Handinnenfläche zum Partner, Zeigefinger nach oben gestreckt = 1, Finger nacheinander aufklappen, Mittelfinger = 2, Ringfinger = 3, kleiner Finger = 4, zuletzt Daumen = 5, weiter rechte Hand, analoge Prozedur bis 10, linke Hand wird weiter gezeigt. Amerikanisch <?page no="87"?> 8877 Gestik 4.1 Anregung Lassen Sie Menschen verschiedener Kulturen vorzählen und beschreiben Sie die verschiedenen Vorgehensweisen: • Prinzipielle Unterschiede • Details (welche Finger, wie, in welcher Reihenfolge) Japaner können alle Zahlen mit einer Hand zeigen. Sicher erkennen Sie, dass hier ein anderes Grundprinzip befolgt wird. Japaner klappen die gezählten Finger weg. Und noch anders auf Chinesisch. Hier liegen andere ikonische Prinzipien zugrunde. Öfter werden Zahlzeichen nachgebildet, mit einer Hand. Die letzten beiden Bilder zeigen Alternativen. Chinesisch Japanisch <?page no="88"?> 8888 4 Nonverbale Kommunikation Die kommunikativen Erscheinungen, die in diesem Kapitel behandelt sind, werden gemeinhin als analogisch angesehen, und sie sind es auch weitgehend. Auch wenn wir konventionalisierte Gesten als diskret, also als digital ansehen würden wie vokale Äußerungen, wären sie intern nicht strukturiert wie sprachliche Äußerungen, etwa in layern wie Phonem - Lexem - Satz. In der Erforschung interkultureller Kommunikation nimmt die nonverbale oder analogische Kommunikation einen großen Raum ein. Ihr kommt besondere Wichtigkeit zu, weil es hier häufig zu Missverständnissen kommt. Gründe dafür sind vor allem: In reduzierter sprachlicher Kommunikation kommt etwa der gestischen Kommunikation ein höherer Stellenwert zu. Gestische und mimische Kommunikation werden weitgehend für natürlich und universell gehalten. Sie sind es aber nicht. Allerdings halten wir die Gewichtung angeblicher Anteile nonverbaler Kommunikation für überzogen. Sie scheint eher darauf zurückzuführen, dass viele Psychologen, Anthropologen und Ethnologen sich mit interkultureller Kommunikation befasst haben und zu wenig Linguisten. Völlig aus der Luft gegriffen sind aber Behauptungen wie die nonverbale Kommunikation mache 70% der Kommunikation aus. Da sollte man erst erklären, wie man Kommunikation misst und in Zahlen fasst. Solche Absurditäten braucht es nicht, um die Wichtigkeit nonverbaler Kommunikation zu beweisen. Diskrete, sprachliche Kommunikation ist der bei weitem effektivste, differenzierteste und klarste Modus menschlicher Kommunikation. Gesten sind in den meisten Fällen nur sprechbegleitend und pantomimisch. So sind sie weitgehend ikonisch. Stellenwert Ein Reisender kommt nach einer Nachtfahrt auf dem Busbahnhof in Istanbul an. Er sucht nach einem Bus zum Flughafen. Der erste Busfahrer, den er fragt, nickt bedächtig mit dem Kopf. Zufrieden steigt er ein. Ihm wird jedoch durch die anderen Mitfahrer bedeutet, dass der Bus nicht zum Flughafen fährt. Zu müde, um sich über den Fahrer zu ärgern, steigt er aus und versucht sein Glück noch einige Male in anderen Bussen, immer mit dem gleichen Erfolg. Schließlich fährt er mit einem Taxi. Das Beispiel soll exemplifizieren, dass im Türkischen Kopfnicken als Verneinung gilt. Allerdings, ob die zwei so blöd waren, dürfen wir zu Recht bezweifeln. Wieso sollen die Mitreisenden alles gerafft haben. Und wer ist der allwissende Erzähler? Übrigens ist es ein globales interkulturelles Gerücht, Kopfnicken gelte im Türkischen als Verneinung. Denn Kopfnicken ist nicht gleich Kopfnicken. Es kommt drauf an, wie es ausgeführt wird. Auch Nonverbales kann man nach eigenem Muster fehldeuten. <?page no="89"?> 8899 Gestik 4.1 Analog vs. digital Verbreitet ist die Unterscheidung in analogische und digitale Kommunikation. Die Idee dahinter ist, im ersten Fall sei das Medium analog, im zweiten Fall sei es digital. Ein Beispiel für die Unterscheidung finden wir in Schallplatten: Die guten alten Schelllackplatten sind analogisch. Die Tonspur ist eine verkleinerte Abbildung der physikalischen Ton-Ereignisse, die wieder abgetastet werden kann und dabei 1-zu-1 umgesetzt wird in physikalische Töne. Verluste treten vor allem durch das Maß der Verkleinerung (die Auflösung) auf und durch Mängel des Abbilds und des Wiedergabegeräts. Digitale Schallplatten erfassen die physikalische Erscheinung in Zahlen (digits) und letztlich binär in einer Folge von 0 und 1. Es geht dem eine Art Übersetzung voraus, in der das physikalische Ereignis strukturiert wird, die Struktur wird anschließend in Zahlen festgehalten, die rückübersetzt werden in Töne. Verbunden mit der Unterscheidung analogisch und digital ist darum auch die Unterscheidung in kontinuierlich und diskret. Analogische Abbildung kann sozusagen das Kontinuum abbilden, digitale Abbildung setzt eine diskrete Struktur voraus. Analogital! Nicht das token ist diskret. Die Diskretheit der Äußerung erzeugen wir in normaler Kommunikation, indem wir Wahrnehmungsmuster oder mentale Muster auf sie anwenden. Die Muster, die wir anwenden, können dabei mehr oder weniger deutlich, klar und scharf sein. Sie sind erworben und beruhen auf Konvention und Tradition. Hierbei können auch äußere Faktoren mitspielen. So ist die Diskretierung des Lautstroms abgesichert durch die Schreibung. Welcher Buchstabe (also grosso modo, welches Phonem) einem Segment zuzuordnen ist, lernen Kinder im Erstlese- und Erstschreibunterricht. Dadurch erst erscheint es uns selbstverständlich, den Lautstrom als diskret und diskontinuierlich anzusehen. Etwas Überlegung zeigt, dass bei der Unterscheidung in analogisch und digital im kommunikativen Bereich nicht eigentlich das Vorkommen, das kommunikative Ereignis gemeint sein kann. Die Äußerung eines Satzes, die im Allgemeinen als Beispiel für digitale Kommunikation gilt, ist nicht diskret. Wenn wir sie etwa aufzeichnen und optisch darstellen, erkennen wir keine Einschnitte, keine Grenzen, sondern ein analoges Kontinuum, natürlich entsprechend der Auflösung. Selbst die Stille setzt kontinuierlich ein. <?page no="90"?> 9900 4 Nonverbale Kommunikation Festzuhalten ist: Nicht das kommunikative Ereignis ist analogisch oder digital: Wir nehmen es als analogisch oder diskret wahr. Wenn ein Individuum ein Muster für die Wahrnehmung und für die Strukturierung des Ereignisses besitzt, bedeutet das noch nicht, dass dies auch durch eine Konvention abgesichert ist. Bei Sprache allerdings handelt es sich um Symbole, die konventionell gedeutet werden und damit im Rahmen der Konvention sicherer sind. Bei anderen Zeichen mag das anders sein. Aus der symbolischen Basierung folgt beispielsweise, dass das gleiche Ereignis erstens individuell unterschiedlich gedeutet werden kann, aber zweitens auch auf Basis unterschiedlicher Konventionen. Dies gilt für lautliche Ereignisse wie für andere. So ist ein deutsches / a/ kein englisches, weil eben das Lautkontinuum sprachlich und damit konventionell anders strukturiert wird. Auch eine gestische Bewegung kann in einer Kultur konventionell sein und etwas Bestimmtes bedeuten, in einer anderen aber nicht. Ja, die oberflächlich gleiche gestische Bewegung kann in verschiedenen Kulturen Unterschiedliches bedeuten, gerade so wie Ei, I und ahi. Konvention zählt In der Behandlung von Gestik ist es verbreitet, den Gesten, den Zeichen also, eine fixe Bedeutung zuzuschreiben, ganz in Entsprechung zu dem statischen Zeichenmodell. Der Gebrauch und die Gebrauchssituation bleiben außen vor. So heißt es, dass in Bulgarien Kopfnicken so viel wie „nein“ bedeute, ganz wie im Türkischen. Eine genauere Betrachtung bringt ans Licht, dass Nicken unterschiedlich ausgeführt werden kann und auch für ja verwendet wird, insbesondere dass die bulgarische Übersetzung von Kopfnicken auch heißt Jasagen. Es lohnt sich immer zu eruieren, was vokabularisiert ist in einer Sprache. Dann erkennt man, was wichtig und richtig ist. Nur eine genaue Beschreibung des Gebrauchs bringt uns weiter. Unterscheiden die beiden Versionen sich in der Intensität des Jasagens? Werden beide bei verschiedenen Gelegenheiten verwendet, in verschiedenen Partnerkonstellationen? Spielt eine Rolle, wie oft man den Kopf schüttelt, wie schnell, wie intensiv? Nach welcher Seite fängt man an? Spielt das eine Rolle? Auch hier wird sich die Gebrauchstheorie als überlegen erweisen. Gesten müssen in ihren Verwendungszusammenhängen und differenziert beschrieben werden. Der statischen Auffassung entgehen die wesentlichen Aspekte. <?page no="91"?> 9911 Gestik 4.1 Trittbrettfahrer Die sog. analogische Kommunikation ist oft keine Kommunikation im echten Sinn. Die Sprecher produzieren nonverbale Äußerungen nicht unbedingt bewusst oder in kommunikativer Absicht. Es geht viel mehr um den Rezeptionsaspekt, wie was gedeutet wird. Oft hat der Sprecher das so und so Gedeutete gar nicht gemacht. Es sind für den Deutenden nur Anzeichen. In vielen Fällen sind diese Art von Zeichen auch nicht konventionell. Das meiste ist sprechbegleitend und nicht unbedingt selbständig kommunikativ. Es mag der Rhythmisierung dienen, es können gar kleine begleitende pantomimische Darstellungen sein. Darum kann es auch zu widersprüchlichen Verständnissen und Botschaften kommen (double bind). Etwa: Einladen mit abwehrender Handbewegung „Es geht mir gut“ mit säuerlicher Miene Zustimmung in mürrischem Ton Anregung Öfter wird angenommen, dass gestische Sprache zum Beispiel in der Evolution der vokalen vorausging. Entsprechende Theorien sind eher der Sparte adventure science zuzuordnen. Was wären genau die Selektionsvorteile gestischer Kommunikation gewesen? Wie könnte sie entstanden sein? Ein anderes Beispiel für die statische Auffassung ist die Behauptung, in Italien werde die auffällige Geste auf dem Foto verwendet, um jemanden als betrogenen Ehemann (cornuto) zu diffamieren, sei also extrem beleidigend. Tatsächlich ist es aber, jedenfalls heutzutage, meist eine Scherzgeste. Man stellt sich beim Fotografieren etwa hinter einen Mann und zeigt mit dieser Geste, dass er gehörnt ist. Spaßeshalber. <?page no="92"?> 9922 Mimik wird gemacht, wenigstens partiell, aber der Produzent hat es da schon schwieriger als mit der Gestik. Er sieht ja nicht, was er tut. Er lernt den kommunikativen Effekt nur über die Reaktionen der Partner kennen, erfährt sie allerdings eher unreflektiert. Auch hier haben wir es mit weitgehender Einseitigkeit zu tun. Mimik wie Gestik sind Ereignisse in der Zeit. Es gibt sehr schnelle, kurze und unauffällige Gesichtsbewegungen, die kommunikativ verwertet werden. In Bildern haben wir sie nur eingefroren. Aber auch nach stehenden Bildern schreiben wir kommunikative Absichten und gar stehende Eigenschaften zu. 4.2 Mimik und so weiter Porträts Anregung Assoziieren sie nacheinander zu jedem einzelnen Bild. Schreiben Sie die Einfälle auf. 4 Nonverbale Kommunikation <?page no="93"?> 9933 Mimik und so weiter 4.2 Unsere Körperhaltung ist uns vielleicht noch weniger bewusst als die Mimik. Aber auch sie wird gedeutet. Wir nehmen als Deuter einfach alles, egal ob intendiert oder nicht. Körperlicher Ausdruck ist nach einer naiven Ansicht genetisch hinterlegt und somit natürlich. Daraus wird gefolgert: universal, verlässlich. Es heißt: „Der Körper lügt nicht“. Aber er spricht auch nicht! Schauspieltraining und Brustvergrößerung werden von diesen Gläubigen ignoriert. Wie würden Sie die Haltungen charakterisieren? Erfinden Sie je eine passende Sprechblase. Anregung Körperhaltung <?page no="94"?> 9944 4 Nonverbale Kommunikation Was passt? angespannt - aufrecht - aufreizend - breitbeinig - entspannt - freundlich - gespannt - in Pose - lässig - locker - nachdenklich - offen - schlaff - sexy - sittsam - züchtig Vielleicht starten Sie eine kleine Befragung bei Menschen unterschiedlicher Herkunft. Sitzen Anregung <?page no="95"?> 9955 Mimik und so weiter 4.2 Wenn man Kommunikation sehr weit fasst, kann man auch körperliche Berührungen und die Rolle des Körpers einbeziehen. Interkulturell gibt es hier jedenfalls spektakuläre Unterschiede. Fasst man sich in der Konversation an oder ist das verpö nt? Wie nahe kommt man sich bei der Begrüßung? Welche körperlichen Kontakte? Küssen sich Männer und umarmen sie sich? Wir zeigen die Unterschiede zwischen Amerika und Japan in Bezug darauf, welche Körperstellen von wem gewöhnlich berührt werden oder welche die Probanden gewöhnlich problemlos zu berühren glauben. Natürlich lassen wir Sex außen vor. Er wird in interkulturellen Trainings mit Fleiß ignoriert. Warum? Weil er besonders heikel ist - bei uns. Eher tabu aber auch anderswo. (nach Barnlund 1975) Taktile Kommunika tion? Japanisch USA FreundIn DifSex FreundIn GlSex FreundIn DifSex FreundIn GlSex Japanisch USA Mutter Vater Mutter Vater <?page no="96"?> 9966 4 Nonverbale Kommunikation Nonverbal - wozu? Die Attraktivität und Behandlung nonverbaler Kommunikation beruht vermutlich vor allem darauf, dass sie sonst weitestgehend unbewusst verläuft, und vielleicht auch auf dem verbreiteten Schnüffelwunsch, etwas herauszubekommen, was eigentlich gar nicht kommuniziert wird. Wieso kommunizieren wir überhaupt nonverbal? Wieso deuten wir das Nonverbale? Die Differenziertheit oder der kommunikative Effekt beantworten die Frage nicht: Die nonverbalen Ausdrucksmittel sind gegenüber den sprachlichen absolut ärmlich oder gar nicht recht zu fassen. Vielleicht tun wir es deshalb: • Nonverbale Kommunikation ist begleitend. Sie läuft neben der verbalen Kommunikation her. So kann sie ständigen Feedback geben und zur Gesprächsorganisation ausgewertet werden. Da sie in einem anderen Medium läuft, können Parallelbotschaften, auch widersprechende (double bind) übermittelt werden. • Das Nonverbale ist nicht Topik. Es läuft und bleibt nebenbei. Es wird zwar gewertet, soll aber in der Regel nicht thematisiert werden. Darum ist es selten strittig. Die eigenen Deutungen auszusprechen kann sogar zur Zerstörung der Kommunikation führen. (Mundgeruch! ) • Das Nonverbale ist nicht vollständig konventionalisiert. Deutende haben Spielraum. • Das Nonverbale bleibt diffus. Man legt sich nicht fest und kann nicht festgelegt werden. • Nonverbales wird als ikonisch gesehen und damit für einfacher zu verstehen gehalten. • Nonverbales halten wir für echter, weil es als weniger arbiträr gilt. Da es eher natürlich scheint, wird es für wahrhaftiger genommen. • Weil Nonverbales als weitgehend ikonisch angesehen wird, gilt es als direkter. Dies wird gestützt dadurch, dass nur in face-to-face-Kommunikation das Nonverbale seine Rolle spielt. Darum ist auch das Gestikulieren am Telefon nicht für den Partner gedacht, vielleicht einfach nur Gewohnheit oder als Hilfe für einen selbst, um zum Beispiel eindringlicher zu reden. • Nonverbale Kommunikation ist besonders zuständig für Gefühle, also für etwas, was sonst oft als unausdrückbar deklariert wird. <?page no="97"?> 9977 Paraverbales 4.3 4.3 Paraverbales Neulich wollte ich in einem dänischen Möbelgeschäft etwas kaufen und an der Kasse per VISA zahlen. Beim Öffnen der Brieftasche stelle ich fest: „Oh Gott, jetzt hab ich meine VISA nicht dabei! “ Darauf sagt der dänische Verkäufer, der mich bislang zuvorkommend bedient hatte, nur „Jaja“. Aber er sagt das so komisch, mit fallender Betonung, so als wolle er sagen: „Jaja, ich seh schon, erst die dicken Sachen aussuchen, und wenn‘s dann ans Bezahlen geht ...“ Kein Wunder, dass ich etwas in Verlegenheit gerate. „Tut mir wirklich leid. Gestern hatte ich sie noch in der Brieftasche. Aber ich fahr sofort heim, hol die Karte und bin gleich wieder da“, versuche ich mich zu rechtfertigen. Wieder dasselbe „Jaja“, so als würde ich sowieso nicht wiederkommen. Jetzt bin ich sauer. Möchte ich als so unseriöser Kunde gesehen werden? Was nimmt sich der Verkäufer heraus, sich so überheblich zu benehmen? Was ist fallende Betonung und was hat sie zu bedeuten? Eine lehrreiche Geschichte hat John Gumperz dokumentiert und analysiert. Eine pakistanische Bedienung, die in dem Selbstbedienungsrestaurant für höhere Bedienstete des Flughafens Heathrow bei London arbeitet, muss bei manchen Speisen nachfragen, ob die Gäste noch Soße dazu haben wollen. Dazu sagt sie ganz einfach nur „Soße“ („gravy“). Einige der Kunden beschweren sich schon nach kurzer Zeit über die Frau, die - ja typisch für diese asiatischen Einwanderer - total unhöflich sei. Der Frau wird die Beschwerde weitergegeben. Sie versteht die Welt nicht. Sie weiß nicht, was an ihrem Verhalten unhöflich ist. Sie kann ihr Verhalten nicht ändern. Auch ob die Gäste noch Soße zum Essen haben wollen, fragt sie in der gewohnten Weise. Wieder gehen Beschwerden ein. Die Gewerkschaft greift ein. Ein gespanntes Betriebsklima ist die Folge. Fallende Betonung Worin besteht die gewohnte Weise? Ein Akzent? Das Englisch vieler asiatischer Immigranten hat Konventionen, die für Engländer geradezu das Gegenteil ihrer Erwartungen vermitteln. So geht bei Fragen die Betonung zum Ende hin nach unten. Im England-Englischen wird aber eine Intonation nach oben erwartet. Dies entspricht der höflichen Nachfrage. Aber die pakistanische Bedienung spricht den Satz nach ihrer Konvention gleichfalls höflich aus. Für die englischen Bediensteten klingt es wie eine ultimative Aufforderung, Soße zu nehmen: „Nun nehmen Sie schon die Soße! “ Typisch pakistanisch <?page no="98"?> 9988 4 Nonverbale Kommunikation Sprachliche Äußerungen sind moduliert durch paraverbale Phänomene. Paraverbale Merkmale fassen wir in Prosodie, Intonation, Stimmlage, Stimmfärbung, Tempo, Rhythmus, Akzent, Intensität, Tonhöhe, Lautstärke usw. Sie sind nie autonom, sondern Huckepack-Phänomene, die sich vokalen Äußerungen aufpfropfen und sie modulieren. Diese Zeichen sind bei jeder vokalen Äußerung dabei, wir können sie nicht umgehen. Darum sind die meisten auch keine echten kommunikativen Zeichen, aber sie können gedeutet werden und wir deuten sie. So ist es wichtig, ein Bewusstsein dafür zu bekommen, wie wir das tun und was daraus resultiert. Grundlage dafür sind folgende Erkenntnisse: In den meisten Fällen haben wir es beim Paraverbalen mit analogischen, nicht diskreten Zeichen zu tun. Sie werden als Symptome gedeutet. Konventionalisiert ist allerdings die Frage-Intonation im Deutschen oder die Töne in sog. Tonsprachen. Viel Paraverbales ist genetisch bedingt; es ist einfach gegeben und nicht unter unsrer Kontrolle. Frauen sprechen gewöhnlich mit höherer Stimme als Männer. Wir wissen, dass dies eigentlich nicht kommunikativ ist. Und trotzdem wird es gedeutet. Das kann weit gehen. So ist bekannt, dass weibliche Politikerinnen lernen mit tieferer Stimme zu sprechen, um nicht zickig oder wie immer zu wirken. Viel Paraverbales ist individuell und persönlich. Manche Leute sprechen habituell lauter als andere. Das mag bedingt sein durch Körperbau oder durch familiären Usus oder was immer. Auch das wird gedeutet und beispielsweise öfter als Charaktereigenschaft genommen: ein lauter Mensch. Paraverbales kann unterschiedlich etabliert sein in unterschiedlichen Kulturen und es kann kulturell unterschiedlich gedeutet werden. Paraverbales kann schließlich kommunikativ intendiert und symbolisch verwendet werden. Dazu muss es nicht vollständig konventionell sein. Ein cleverer Produzent kann symptomisch zu Deutendes auch intentional produzieren. Paraverbales Als Akzent bezeichnen wir üblicherweise ein paraverbales Konglomerat. Unter Akzent fassen wir insbesondere eine Sprechweise mit Relikten anderer Varietäten oder Sprachen. In der Linguistik unterscheidet man terminologisiert Wortakzent und Satzakzent. Der feste Akzent ist bloße Routine, kommunikativ nicht weiter nutzbar. So hat das Deutsche fest den Wortakzent am Anfang. Er kann höchstens Wort differenzierend genutzt werden: úmfahren vs. umfáhren. Dies ist zwar kommunikativ relevant, aber festgelegt und konventionalisiert. Akzent <?page no="99"?> 9999 Paraverbales 4.3 Kommunikative Freiheit und Intention beginnen beim Satzakzent. Es ist charakteristisch, dass die übliche Beschreibung der Akzentuierung schon deutend ist: Man sagt, A hat das Wort X betont und meint damit nicht rein das Akustische, sondern auch das, was es leistet. Akustisch wird akzentuiert durch größere Intensität (Stress), durch leicht höhere oder längere Aussprache. Normalerweise sagt man, der Akzent liege auf einem Wort, wenngleich der Träger in der Regel nur ein Morphem oder eine Silbe ist. Die Kernfrage ist: Was hat es zu bedeuten, dass A den Akzent auf X legt? Der Akzent ist doch kommunikativ ein äußerst ärmliches Zeichen. Er ist nur ein Hinweis für den Partner, den er mit seinem Wissen deuten muss. Die Leistung der Akzentuierung ist, dass an der akzentuierten Stelle irgendwas Besonderes ist. Der Sprecher gibt so einen Hinweis, dass der Partner hier besondere Deutungsarbeit zu leisten hat. Möglicherweise steckt hier die wichtigste Information oder es wird hier etwas korrigiert oder bekräftigt (in der Wiederholung zum Beispiel) oder es sollte ein Gegenteil eingesetzt werden. Es gibt einen großen Spielraum für die Deutung. Das betonte der in „Es heißt nicht dér Bar“ ist so zu deuten, dass ein anderes Artikelwort hergehört. In Frage kommen vielleicht die oder das. Dies muss man natürlich wissen. Das betonte der in „Es war nicht dér haarige Mann“ ist so zu deuten, dass es ein andrer haariger Mann war. Hingegen wäre „Es war nicht der háarige Mann“ so zu deuten, dass es einer ohne Haare war. Hier sind die nötigen Inferenzen der Deutenden noch einigermaßen üblich, in anderen Fällen kann mehr Deutungsarbeit zu leisten sein. Der Rhythmus der Rede ist vor allem bestimmt durch Tempo und durch Pausen. Was aber ist eine Pause? Was ist der Unterschied zur Stille? Und was bedeutet die Pause? Ein wichtiges Kriterium ist sicher, dass in einer Pause kein Laut produziert wird, allerdings innerhalb eines Lautstroms. Nur, ein bloßer Einschnitt zwischen Wörtern ist noch keine Pause. Die Pause entsteht erst, wenn das Aussetzen eine bestimmte Länge hat (in Millisekunden? ) und dies als Besonderheit wahrgenommen wird. So gilt es denn auch zu unterscheiden: segmentierende Mikropausen zwischen Wörtern, als normal angesehene Atempausen, Staupausen, ein Glottisschlag und gefüllte Pausen (mit „äh“ und „öh“). Stille wird gedeutet als Pause. Pausen sind wichtig für den turn- Wechsel. Und da zeigt sich öfter, dass die Beteiligten sich nicht einig sind, was eine Pause ist, wie lange Stille dazu nötig ist. Hektiker nutzen den kurzen Moment der Stille, um hineinzuspringen. Rhythmus <?page no="100"?> 110000 4 Nonverbale Kommunikation US-amerikanische Forscher haben herausgefunden, dass die Feedback-Signale schwarzer und weißer Amerikaner teilweise differieren. Dies führt zu Missverständnissen: Weiße Beamte missdeuten die Verstehenssignale schwarzer Klienten und sagen alles doppelt - wie Herr Walther. Die Reaktion ist Ablehnung, weil sich die Klienten infantilisiert fühlen. Als Deutsche können Sie leicht als aggressiv wirken, wenn Sie dem Partner keine Zeit lassen. Dies ist ein gängiges Vorurteil über Deutsche. Tina muss des Öfteren mit ihrem russischen Geschäftskollegen Kolja telefonieren. Kolja spricht sehr gut Deutsch, aber dennoch ist für Tina jedes Gespräch mit ihm eine Tortur. Sie sagt: Kolja redet monoton, ununterbrochen und findet kein Ende. Tinas Ansätze, ins Gespräch zu kommen, scheitern regelmäßig. Und wenn sie durch Reinreden endlich zu Wort kommt, ist sie sich nicht sicher, ob sie ihren Kollegen Kolja vielleicht beleidigt hat. Auf die Dauer, meint Tina, kann das jedenfalls für eine gute Geschäftsbeziehung zum Problem werden. Unterbrechen - aber wie? Pause Als Herr Walther für seine Firma nach Helsinki reist, ist er gut vorbereitet. Er hat die finnische Geschichte und Nationalkultur studiert, er kann ein paar Floskeln in Finnisch sagen und freut sich schon auf die Sauna. Die Gesprächspartner können hervorragend Deutsch. Herr Walther ist sich allerdings nicht immer sicher, ob seine finnischen Kollegen ihn verstehen. Er muss alles doppelt sagen. Immer wenn er meint, er habe sich klar und deutlich ausgedrückt, folgt keine Reaktion. Doch die Kommentare der finnischen Kollegen zeugen durchaus von Sachverstand. Herr Walther kann das nicht verstehen. Er scheint den größten Teil der Zeit zu reden, seine finnischen Kollegen hören ihm nur zu. Wie kann so ein Vertrag zustande kommen? Herr Walther, daheim keineswegs als Vielredner bekannt, weiß nicht, was er falsch macht. Eine Pause ist sozusagen ein Moment der Stille in der Kommunikation. Aber kurze Momente der Stille gibt es dauernd. Sie werden gar nicht wahrgenommen. Wie lang aber ist so ein kurzer Moment? Und wann beginnt er zur Pause zu werden? Und dann noch die Frage: Wie ist die Pause zu verstehen? Braucht der Partner eine Denkpause und soll ich sie ihm lassen? Oder sollen beide Partner nachdenken? Oder will der Sprecher den turn abgeben? All dies, wie lang eine Mikropause dauert, wann sie zur Pause wird, wie Pausen zu verstehen sind, ist kulturell unterschiedlich geregelt und kann so zu Missverständnissen führen. Der folgende Critical Incident könnte zu deuten sein auf dem Hintergrund unterschiedlicher Konventionen für Pausen, ihre Dauer und ihre Bedeutung. <?page no="101"?> 110011 Paraverbales 4.3 Mit einer Stimme ... Ich bin relativ oft in Italien. Bei meinem ersten Aufenthalt war ich bei einer sizilianischen Familie. Da hab ich mich gewundert, warum die sich fortwährend anschreien. Und später mit meinem Freund. Da haben wir das wieder erlebt. Die waren so laut. Wir haben ständig Streiten gehört. Und erst als wir reingehört haben, was sie reden, wurde uns klar, dass die sich ganz normal unterhalten haben. Aber für uns mit einer Stimme, in einer Lautstärke und in einem Tonfall, als ob sie streiten. Wie fassen wir Tonfall und Stimme? Für Tonfall und Stimme verwenden wir öfter charakterisierende Adjektive. Und für Stimme gibt es auffallend viel mehr. Vokabular abgrundtief singend unbekümmert belehrend salbungsvoll ruhig fragend gepresst TToonnffaallll brüllend tröstend SSttiimmmmee leise rau laut dunkel bebend aufgeregt zitternd zart weich warnend vibrierend tief stockend sonor schwach schrill scharf sanft klingend flüsternd hart heiser hell ruhig durchdringend eindringlich einschmeichelnd erhoben fest klar <?page no="102"?> 110022 4 Nonverbale Kommunikation Paraverbales Deuten Wer vokale Sprache analysieren und deuten will, muss prosodische Merkmale hören und deuten können, sollte aber auch gegen unvorsichtige Deutung geimpft sein. In Transkriptionen wird dazu eine Notation nötig sein, so wird das vage Analogische digital gefasst und manifest diskutierbar. Uns wird es vor allem um das nötige Beschreibungsvokabular und mögliche Missverständnisse gehen. Verbreitet sind zu schlichte Deutungen. Eine wichtige Erkenntnis ist, dass unsere Deutungen und Beschreibungen sich nicht auf je ein Kriterium stützen, sondern dass wir gedeutete Angaben machen, die verschiedene akustische Phänomene zusammenstricken. Und die Deutungen gehen wesentlich auf symptomische Inferenzen. Wir deuten das Paraverbale häufig als Anzeichen der Emotion, der Stimmung. All dies ist gefährlich. Wichtig bleibt der Gebrauch: Kontext und Situation. Wir • verwenden unser Vokabular, • gehen aus von unserem Standard, • haben unsere Deutung. Vielleicht kulturell, aber auch persönlich. Ande re Kulturen sehen und hören da anders, haben andere Hinblicke. laut aggressiv wütend leise schüchtern verlegen schnell Furcht leise laut Ärger Freude langsam laut Trauer Verachtung Langeweile leise <?page no="103"?> 110033 Paraverbales 4.3 Differenzen In transkribierten Wiedergaben werden die Probleme des angemessenen Hörens und Deutens sichtbar. Das zeigen unterschiedliche Wiedergaben der gleichen Tonaufnahme durch verschiedene Transkribenten. Sie haben offenbar nicht nur andere Notationsgewohnheiten, sondern auch Unterschiedliches gehört. Zu diesen einfachen Transkriptionen stellen sich viele Fragen: Was genau geben die Satzzeichen wieder? Was ist eine Pause? Wie lange dauert sie? Was soll sie bedeuten? Was ist der Unterschied zwischen den Charakterisierungen „zögernd“ und „gedrückt“? Wie weit kann man in normaler Orthographie das Phonetische erfassen? Sagt jemand „äh“ oder „eh“ oder „ääh“ oder „ää“ oder was? Was heißt Betonung? Was heißt verbunden? Und so weiter. Fragen über Fragen Intonation wird metaphorisch charakterisiert mit steigend vs. fallend. Dem liegt ein metaphorisches Bewegungsbild zugrunde, das wir in Intonationskurven darstellen. Aspekt: Intonation R: ä h, äh + Dieser, dieser + Satz(t) + + + ist äh, äh, äh + + komplexer oder D: Ja klar ((fallend)) R: eh + diesa diesa + Satzt ++ ist eh ((zögernd)) komplexa oder D: Ja, klar R: Ä äh, dieser & dieser Satzt ++ ist ähh ((gedrückt)) + komplexer, oder? D: Na klar! R: komplexa Legende: + = Pause fett = Betonung Legende: +, ++ = Pausen Legende: + = Pause; & = verbunden fallend steigend gleichbleibend steigend-fallend fallend-steigend <?page no="104"?> 110044 4 Nonverbale Kommunikation Laut und leise sind relative Adjektive, sie charakterisieren relativ. Im Vergleich mit dem Geräusch eines Düsenjägers könnte die menschliche Stimme nie laut sein. Darum ist der Bezugsbereich in der Kommunikation erst einmal die menschliche Stimme. Aber auch in diesem Bereich ist laut noch relativ: • Was als laut zählt, kann einem kulturell unterschiedlichen Standard unterliegen. • Was als laut zählt, kann einem persönlichen, individuellen Standard des Produzenten oder Rezipien ten unterliegen. • Das mag der Standard des Produzenten oder des Rezipienten sein. • Was als laut zählt, kann relativ zu anderen Segmenten des Lautstroms einer Äußerung gehört werden. Analog verhält es sich mit schnell vs. langsam. Steigende Intonation - so heißt es - signalisiert Offenheit, Unabgeschlossenheit. Das ist aber durchaus vage: Möglicherweise will der Sprecher selbst weiterführen oder er will, dass der Partner verv ollständigen möge. Im Deutschen werden Formen der Intonation konventionell genutzt. Die verschiedenen Satzarten sind von unterschiedlichen Intonationskurven begleitet und werden dadurch unterschieden. Die Frageintonation ist so dominant, dass sie uns sogar Aussagesätze mit Frageintonation als Fragen deuten lässt. Wichtig für das Deuten ist ein Beschreibungsvokabular und seine einigermaßen gesicherte Verwendung. Da erkennen wir, was für wichtig gehalten wird und wie es gedeutet wird. Meistens verwenden wir Adjektive zur Beschreibung. Seltener Verben: (1) Darauf erhob sie ihre Stimme. (2) Seine Stimme klang recht gut. (3) Seine Stimme überschlug sich. Häufig sind es auch Partizipien von Verben: (4) Mit gehobener Stimme ... (5) Da sprach sie stockend ... Dagegen sind Akte wie husten, hüsteln, lachen, schniefen, seufzen nicht paraverbal. Strukturiertes Vokabular Frage Aussage Befehl <?page no="105"?> 110055 Paraverbales 4.3 Der methodischen Hygiene könnte es dienen, das Vokabular nach folgenden Kriterien zu sichten: Ist das Beschreibungsmittel eher objektiv auf das Akustische ausgerichtet oder stärker mit Deutung imprägniert? Worauf zielt die Deutung: eher auf den Akt oder die Person, ihren Charakter oder ihre Gefühlslage? crescendo - decrescendo - dunkel - fallend - hell - hoch - langsam - laut - leise - rau - schnell - steigend - still - tief abgrundtief - aus vollem Mund - bebend - brüllend - dröhnend - dumpf - durchdringend - erhoben - fest - flüsternd - fragend - gedämpft - gellend - gepresst - hart - heiser - klar - klingend - lauthals - sanft - scharf - schnaubend - schnaufend - schrill - schwach - singend - sonor - stockend - stöhnend - überschlagend - verbunden - vibrierend - voll - weich - weinerlich - wohlklingend - zart - zitternd - zittrig - zögernd abweisend - aggressiv - anzüglich - belehrend - bittend - eindringlich - einschmeichelnd - fragend - herausfordernd - höflich - höhnisch - ironisch - salbungsvoll - schnippisch - spitz - tröstend - verbindlich - warnend - zärtlich - zweifelnd - zynisch aggressiv - ängstlich - argwöhnisch - aufgebracht - aufgeregt - bang - bedächtig - beherrscht - belustigt - besonnen - besorgt - distanziert - empört - erstaunt - frostig - gefasst - gekränkt - gelassen - hektisch - interessiert - kalt - kühl - misstrauisch - ruhig - schüchtern - unbekümmert - unsicher - verbittert - vorsichtig - würdevoll Akustisch Akustisch spezifiziert Akt modifizierend Person zugeschrieben Gehen Sie die Charakteristika einzeln durch. • Welche Metaphorik wird verwendet? • Wie oder wie weit sind bei den Akt modifizierenden die Merkmale wahrnehmbar? • Sind alle wahrnehmbar? Anregung <?page no="106"?> 110066 4 Nonverbale Kommunikation Fazit In der Konversation wirken Verbales, Nonverbales und Paraverbales zusammen Über die Anteile sollte man nicht streiten. Von der Differenziertheit her gesehen aber steht das Verbale absolut im Vordergrund. Das gilt wegen der unvergleichlichen Differenziertheit und trotz der Fragilität des Verstehens. Die verschiedenen Aspekte können einander stützen, sich verstärken, nebeneinander herlaufen oder sich widersprechen. • Nonverbale und paraverbale Merkmale sind kontinuierlich und weitgehend nicht konventionalisiert. Die Beschreibung ist darum nur in Skalen möglich, die Stärke und Ausprägung höchstens per Einschätzung numerisch zu erfassen. • Die Trennung der einzelnen Merkmale ist oft schwierig: Gestik ist mit Körperbewegung verbunden, Blick mit Kopfbewegung. Lautstärke ist mit Gesichtsausdruck und mit Mund- und Atembewegung verbunden usw. • Tempo, Pausen, Lautstärke und Gesten sind dominant für das turn-taking. • Blick, Kopfbewegung, Körperbewegung sind nicht so relevant für den turn-Wechsel. Oft sind sie auch ambig bis vage. Zum Beispiel kann die Zuwendung des Blicks heißen, dass man aufmerksam zuhört, aber auch, dass man den turn möchte. Den turn bekommt man nur, wenn man auf der Skala ein ganzes Stück höher liegt als der Sprechende. Und der Sprechende legt im Allgemeinen nach. <?page no="107"?> 110077 Culture is in language, and language is loaded with culture. Michael Agar 5 Sprache und Kultur Das Kaleidoskop der Definitionen TThhaatt wwhhoollee cco ommpplleexx wwhhiicchh iinncclluuddeess kknnoowwlleeddggee" bbeelliieeffss" aarrtt" mmoorraallss" llaawwss" ccuussttoommss" aanndd aannyy ootthheerr ccaappaabbiilliittiieess aanndd hhaabbiittss aaccqquuiirreedd bbyy mmaann aass aa mmeemmbbeerr ooff ssoocci ieettyy TTyylloorr 11887711 TThhee ccoolllleeccttiivvee pprrooggrraammmmiinngg ooff tthhee mmiinndd wwhhiicch h ddiissttiinngguuiisshheess tthhee mmeemmbbeerrss ooff oonnee hhuummaann ggrroouupp ffrroomm aannootthheerr HHooffsstteeddee 11998800 TTrraannssmmiitttteedd ppaatttteerrnnss ooff vvaalluueess" iiddeeaass aanndd ootthheerr ssyym mbboolliicc ssyysstteemmss tthhaatt sshhaappee bbeehhaavviioouurr KKrrooeebbeerr/ / KKlluucckkhhoohhnn 11995522 VVaalluueess" bbeelliieeffss aanndd eexxppeecc- ttaattiioonnss tthhaatt mmeemmbbeerrss ccoommee ttoo sshhaarree vvaann MMaaaanneenn/ / SScchheeiinn 11997799 TThhee mmaann--mmaaddee ppaarrtt ooff tthhee hhuummaann eevviirroonnmmeenntt HHeerrsskkoovviittss 11994488 <?page no="108"?> 110088 5 Sprache und Kultur 5.1 Was ist Kultur? Zwei Aspekte Tradition Riten Spiritualität Weltreligion Judentum Okzident jahrhundertealt Religion Ethnie Kulturkreis Nationalität Glaubensrichtung Vermischung Herkunft Schmelztiegel Verständigung Völkerverständigung multikulturell Toleranz vorurteilsfrei Miteinander institutionalisiert zivilisiert Musiktradition Kulturraum Hochkultur außereuropäisch Staat Weltkultur orientalisch ostasiatisch Mentalität Denkweise Lebensweise Lebensgewohnheit Eigenheit näherbringen Vielfalt fremden kulturell Bewahrung Wertegemeinschaft Selbstbehauptung soziokulturell Assimilation Respektierung Popkultur Volkskunst Kulturgeschichte Stilelement Folklore Kunstmusik ethnologisch Philosophie Lebensart Volkskultur Kulturerbe Brauchtum Jugendkultur Esskultur dörflich Lebensform Zivilisation Wertvorstellung Alltagskultur Unternehmenskultur Musikkultur Wohnkultur Massenkultur Kunst Themenbereich Ökologie Didaktik Lifestyle Heimatkunde interkulturell Geselligkeit Urbanität Baukultur Freizeitgestaltung Wechselbeziehung Natur Frauenrecht Sport Bildung Gesundheit Wirtschaft Jugend Finanzen Umweltschutz Stadtentwicklung Was meinen wir, wenn wir von Kultur reden? Sicher haben wir den Gegensatz im Sinn: Kultur vs. Natur. Aber beide sind nicht so leicht zu trennen. Unberührte natürliche Natur finden wir in unseren Breiten wohl kaum, überall schon Kultivierung. Auch bei Menschen können wir die Anteile so leicht nicht bestimmen. Man möchte gern unterscheiden zwischen nature und nurture, also dem, was natürlich und angeboren ist, und dem, was kulturell erworben, ansozialisiert ist. Wie schwierig das wird, kommt hoch in der Diskussion zum Verhältnis von Mann und Frau, von männlich und weiblich, wo man öfter die Tendenz findet, alles Natürliche müsse überwunden werden. Aber was ist natürlich und was nur kulturell, nur menschengemacht? Die Antwort ist selbst schon kulturbedingt. In der Rede von Kultur kann man zwei Aspekte unterscheiden: Kultur als Hochkultur, positiv bewertet. Kultur bei Anderen, im Plural, nicht unbedingt positiv. Im Umfeld von Kultur tummelt sich allerhand. <?page no="109"?> 110099 Was ist Kultur? 5.1 Eine Definition Dieses Bild kann uns in der Annahme bestätigen, dass Kultur innerlich hochstrukturiert, keinesfalls irgendwie homogen ist. Für eine wissenschaftliche Betrachtung wünschen sich viele eine Definition des Gegenstands. Das sollten wir nicht überbewerten. Es gibt viele Definitionen von Kultur, und viele sind brauchbar. Goodenough weiß offenbar, dass es auf einen Schlag nicht geht. Er bringt noch weitere Aspekte ins Spiel. Wir werden dieses Definitionsspiel noch etwas fortsetzen müssen. A society’s culture consists of whatever it is one has to know or believe in order to operate in a manner acceptable to its members, and to do so in any role that they accept for any one of themselves. (Goodenough 1964: 36) Culture, being what people have to learn or distinct from their biological heritage, must consist of the end product of learning: knowledge, in a most general, if relative, sense of the term. By this definition, we should note that culture is not a material phenomenon; it does not consist of things, people, behavior, or emotions. It is rather an organization of these things. It is the forms of things that people have in mind, their models of perceiving, relating, and otherwise interpreting them. As such, the things people say or do, their social arrangements and events, are products or by-products of their culture as they apply it to the task of perceiving and dealing with their circumstances. To one who knows their culture, these things and events are also signs signifying the cultural forms and models of which they are material representations. (Goodenough 1964: 36) Noch eine Ward H. Goodenough 1919-2013 Professor für Anthropologie. Wird bewertet als „one of the giants of immediate post-World War II anthropology.“ Im Zentrum seiner Forschung stand der Zusammenhang von Kultur, Sprache und Gesellschaft. Bekannt sind seine Arbeiten über Verwandtschaftsbeziehungen. Schwerpunkt verschiedene Inselgruppen im Pazifik. Property, Kin, and Community on Truk (1951) Ein Trukesisch-englisches Wörterbuch <?page no="110"?> 111100 5 Sprache und Kultur Eine Kultur ist eine Lebensform. Kultur ist ein Objekt besonderer Art. Wie Sprache ist sie eine menschliche Institution, die auf gemeinsamem Wissen basiert. Kultur ist entstanden, sie ist geworden in gemeinsamem menschlichen Handeln. Nicht, dass sie gewollt wurde. Sie ist vielmehr ein Produkt der Unsichtbaren Hand. Sie ist ein Potenzial für gemeinsames sinnträchtiges Handeln. Aber das Potenzial zeigt sich nur in der Performanz, im Vollzug. Und es ist entstanden über Performanz. Potenzial Potenzial Pe Perfor rformanz manz MMaanniif feessttaattiio onn/ / Prod Produkt ukt Wissen Haltungen Sprache Sitten und Gebräuche Werte Realisierung Aktivierung Handlung Artefakte Literatur Musik Kunstwerke Bauten Eine Kultur stellt ein Ensemble von in symbolischem Handeln manifestierten Wissensbeständen dar, die sich in den verschiedenen soziohistorischen Domänen und Entwicklungsphasen einer Gesellschaft unterscheiden oder für diese Domänen spezifisch sind, die aber durch den Bezug auf die gleiche Gesellschaft einen mehr oder weniger gemeinsamen Kern an Weltbildern, Wertvorstellungen, Denkweisen, Normen und Konventionen aufweisen und die sich deshalb - vor allem aus der homogenisierenden Perspektive von außen - als solche einer bestimmten Kultur darstellen. (Knapp/ Knapp-Potthoff 1990: 65) Grundlegend ist die Unterscheidung von natürlichen und kulturellen Tatsachen. Das Natürliche ist allen Menschen gemeinsam, evolutionär entstanden und genetisch hinterlegt. Das Kulturelle wird erworben, ist im gemeinsamen Handeln entstanden. Ein anderer Aspekt: Es geht nicht um Objekte, sondern um Wissen. Das ist etwas überzogen, weil sich in den Produkten der kulturelle Sinn manifestiert. In die Köpfe können wir nicht so leicht schauen; wir müssen die Produkte und die Handlungen verstehen und so den Sinn erschließen. Ein besonders wichtiger Aspekt: Kultur ist ein soziales Gebilde. Zwar tragen Einzelne dazu bei, alle Einzelnen. Aber alle stehen schon in kultureller Tradition. Sie sind nicht frei im Schaffen von Neuem. So ist Kultur uns Menschen selbstverständlich, im Handeln nicht bewusst. Wir folgen ihr eher automatisch. Sie ist eine secunda natura. Bewusst wird sie uns, wenn wir mit einer anderen Kultur in Berührung kommen. Dann beginnen wir vielleicht zu vergleichen und stellen unsere Gewohnheiten in Frage. noch mehr Unser Vorschlag <?page no="111"?> 111111 Was ist Kultur? 5.1 Meine Kultur ist die Logik, mit deren Hilfe ich die Welt ordne. Diese Logik habe ich nach und nach erlernt vom Augenblick meiner Geburt an, und zwar durch die Gesten, die Worte und die Zuwendung derer, die mich umgaben; durch ihren Blickkontakt, den Ton ihrer Stimmen; durch die Geräusche, die Farben, die Gerüche, den Körperkontakt; durch die Art und Weise wie ich erzogen wurde, belohnt, bestraft, gehalten, berührt, gewaschen, gefüttert; durch die Geschichten, die man mir erzählte, die Bücher, die ich las, durch die Lieder, die ich sang; auf der Straße, in der Schule, beim Spielen; durch die Beziehungen der Menschen untereinander, die ich beobachtete, durch die Urteile, die ich hörte, durch die Ästhetik, die überall verkörpert war, in allen Dingen sogar bis in meinen Schlaf hinein und in die Träume, die ich zu träumen und nachzuerzählen lernte. Ich lernte diese Logik zu atmen und zu vergessen, dass ich sie erlernt hatte. Ich fand sie natürlich. (Carroll 1987) Ein bisschen schöne Prosa Kulturanalyse ist nur deshalb notwendig, weil meine Kultur nicht die einzige auf der Welt ist. Sobald es zum Kontakt mit einer anderen Kultur kommt (was zu allen Zeiten der Fall war), gibt es auch ein Konfliktpotenzial. Denn wenn ich jemandem aus einer Kultur begegne, die von meiner eigenen verschieden ist, dann verhalte ich mich in einer für mich natürlichen Weise, während sich der oder die Andere so verhält, wie es für ihn oder für sie natürlich ist. Das einzige Problem besteht nun darin, dass unsere „natürlichen“ Weisen nicht übereinstimmen. Trotzdem geht es die meiste Zeit gut, weil die Tatsache, dass unsere „Wahrheiten“ nicht dieselben sind, nicht unbedingt zum Konflikt führt. Das Problem zeigt sich tatsächlich nur im Konfliktfall. Aber solange es das Wesen einer Wahrheit ausmacht, dass sie selbsterklärend ist und nicht hinterfragt werden muss, werde ich nicht das Unwohlsein oder die Verletzung, die ich in einer Konfliktsituation spüre, auf eine falsche Interpretation meinerseits zurückführen. (Carroll 1987) Fortsetzung folgt Wie wichtig sind diese definitorischen Kriterien für Sie? Stellen Sie eine Rangfolge her: Vergeben Sie Punkte von 1 bis 10. im Gegensatz zu Natur O kollektives Wissen O nicht materiell O erworben oder gelernt O flexibel und wandelbar O nicht homogen O entsteht historisch O einer Gruppe gemeinsam O Sinn, Symbol, Zeichen O Konvention O Anregung Kriterien für Kultur <?page no="112"?> 111122 5 Sprache und Kultur 5.2 Was ist Sprache? Die Titelfrage scheint eher ungewöhnlich. Schließlich wissen wir doch alle, was Sprache ist. Wir alle können und kennen eine oder mehrere Sprachen. Die folgenden Definitionen sind darum eher Zusammenfassungen von Untersuchungskonzepten und Untersuchungsergebnissen. Sie können uns dazu dienen, Einsichten in bestimmte Aspekte menschlicher Sprachen zu gewinnen. Und sie können Sie anregen, immer weiter zu fragen. Language is a purely human and non-instinctive method of communicating ideas, emotions and desires by means of a system of voluntarily produced symbols. (Sapir 1921: 8) [Sprache ist] die Institution, mit deren Hilfe Menschen miteinander kommunizieren und unter Verwendung gewohnheitsmäßig benutzter, oralauditiver, willkürlicher Symbole in Interaktion treten. (Hall 1968) Sprachen sind Symbolsysteme, die fast ganz auf reiner oder willkürlicher Konvention beruhen. (Robins 1979) The totality of utterances that can be made in a speech-community is the language of that speech-community. (Bloomfield 1933: 153) Die Gesamtheit der Sätze ist die Sprache. (Wittgenstein TLP, 4.001) Die beiden letzten Definitionen unterscheiden sich in einem wesentlichen Punkt. Während Bloomfield auf das Potenzial aus ist („can be made“), ist Wittgenstein in diesem Punkt neutral. Wittgensteins Definition und die nachfolgende von Chomsky scheinen auf den ersten Blick äquivalent. Aber Definitionen sind nie abgeschlossen. Hier kommt es darauf an, wie der Satzbegriff weiter expliziert wird. Für Wittgenstein gehört zum Satz auch seine Verwendung, seine Funktion. Darum trifft die Kritik von Lyons auf ihn jedenfalls nicht zu. From now on I will consider a language to be a set (finite or infinite) of sentences, each finite in length and constructed out of a finite set of elements. (Chomsky 1957: 13) Wichtige Definitionen <?page no="113"?> 111133 Was ist Sprache? 5.2 [The definition] says nothing about the communicative function of either natural or non-natural languages; it says nothing about the symbolic nature of the elements or sequences of them. Its purpose is to focus attention upon the purely structural properties of languages and to suggest that these properties can be investigated from a mathematically precise point of view. It is Chomsky’s major contribution to linguistics to have given particular emphasis to what he calls the structuredependence of the processes whereby sentences are constructed in natural languages and to have formulated a general theory of grammar which is based upon a particular definition of this property. (Lyons 1981: 7) Der Mensch und seine Sprache Sprache ist die Grundlage menschlicher Kommunikation. Sprache gehört zur Natur, zur Grundausstattung des Menschen, sie ist sein Definiens. Seit alters definiert man den Menschen als animale loquens, das sprechende Tier. Wir gewinnen zwar immer mehr Erkenntnisse über die Fähigkeiten von Tieren und sprechen öfter auch von Tiersprachen (etwa der Bienen und dergleichen), aber etwas der menschlichen Sprache Vergleichbares besitzen Tiere nicht. Darum ist der Schritt zur Sprachfähigkeit und zum Sprachbesitz in der Evolution als der entscheidende zu sehen. Die Sprache als Medium zu bezeichnen ist schief, weil es keine äquivalente Ausdrucksmöglichkeit gibt. Der Mensch schwimmt in der Sprache wie der Fisch im Wasser. Er würde sie erst richtig bemerken, wenn er hinausgeworfen würde. Das aber geht nicht. Fassung der Welt Weil wir keinen Standpunkt außerhalb der Sprache einnehmen können, bewegt auch die Frage: Wie verhält sich Sprache zur Wirklichkeit? Die Angst ist alt, dass Sprache und Sprechen uns in die Irre leiten, dass sie uns nicht die Welt erschließen, sondern verhüllen. Da haben wir schon früh das Lamento Heraklits, dass jedes Wort den bezeichneten Gegenstand beschränke und verfälsche. Sprache treibe ein Possenspiel mit den Menschen, gaukele ihnen etwas vor, wo nichts ist oder etwas Anderes ist. Das zieht sich als Topos durch die Geschichte: von den griechischen Sophisten bis zu einem Höhepunkt bei den Empiristen und den Aufklärern. Bacon in seiner Idolenlehre warnt uns, die Wörter könnten der Vernunft schwer zu schaffen machen. Eigentlich sollten sie ihr dienen, beherrschen sie aber allzu oft. Berkeley fand unser Wissen durch die Wörter so verunstaltet, dass er sich fragen musste, ob die Sprache nicht mehr zur Behinderung als zur Beflügelung des Geistes beigetragen habe. Darum solle man so wenig Sprache wie möglich benutzen, die Ideen nackt und bar sprechen lassen. Denn wenn man den Vorhang der Sprache wegziehe, seien die Früchte der Erkenntnis mit Händen zu greifen. <?page no="114"?> 111144 5 Sprache und Kultur Sprache als soziale Institution Sprache und Wirklichkeit Weder bestimmt die Sprache die Wirklichkeit im kruden Sinn noch haben beide nichts miteinander zu tun. Wer entscheiden will, ob der Tritt gegen einen Stein wehtut, muss wissen, was ein Stein ist. Das hat ja wohl Einiges zu tun mit der Frage, was das Wort Stein bedeutet. Denn wie sollte der die Frage entscheiden, der das Wort nicht kennt? Wer die Sprache als soziale Institution begreifen will, muss sie begreifen als etwas, was im Sprechen und in einer Tradition entstanden ist. Darum erschließt sich uns das Wesen der Sprache und der Zusammenhang von Sprechen und Sprache am besten in genetischen Überlegungen. Daniel Defoe hat diese Angst vor der Macht der Sprache lesenswert verspottet mit seinen Professoren, die zur Kommunikation statt Wörtern einen Sack voll Dinge mit sich herumschleppen. Heutige Sprachkritiker tragen derlei aber noch auf den Lippen. DDiiee SSpprraacchhee hhaatt ddeenn BBeezzuugg zzu urr WWiirrkklliicchhkkeeiitt vveerrlloorreenn.. Mauthner 1923 DDiiee S Spprraacchhee ssppiieeggeelltt nniicchhtt eeiinnee oobbjjeekkttiivvee „„RReeaalliittäätt" ssoonnddeerrnn sscchhaafffftt ssiiee.. Edelmann 1976 RReeaalliittäätt uunndd S Sp prra acchhee kkllaaffffeenn a auusseeiinnaannddeerr.. Maier 1982 WWoorrttee ssiinndd ddaazzuu ddaa" DDiinn-ggee zzuu bbeez zeeiicchhnneen n.. SSiiee ssoolllleen n ssaaggeen n" wwaass iisstt; ; uunndd ssooffeerrnn iihhnneen n ddaass ggeel liinnggtt" ssaaggeenn ssiiee ddiiee WWaahhrrhheei itt.. Kuhn 1975 SSoo v viieell u un ndd wweellcchhee SSpprraacchhee eeiinneerr s spprriicchhtt" ssoo vviieell uunndd s soollcchhee W Weelltt ooddeerr N Naattuur r iisstt iihhmm eerr-sscchhlloosssseenn.. Sternberger 1957 <?page no="115"?> 111155 Was ist Sprache? 5.2 Eine genetische Erklärung der Sprache muss zeigen, wie durch einfachste Formen der Verständigung mit der Zeit eine Sprache entstehen konnte und wie nach den gleichen Prinzipien diese Sprache stets im Wandel bleibt. Die Erklärung kann nicht stehen bleiben bei der Ansicht, Sprache sei ein festes System aus Wörtern und der Grammatik, die regelt, wie die Wörter zu Sätzen zusammenzufügen sind. Unser Sprechen bestünde nach dieser Ansicht darin, dass wir von festgeschriebenen Wörtern und Regeln Gebrauch machen. Dieser Primat der Sprache übersteht die genetische Erklärung nicht, weil er nichts Plausibles zur Entstehung der Sprache beitragen kann, vielmehr immer schon Sprache voraussetzt. Sie genetisch begreifen Die genetische Betrachtung können wir noch einmal durchspielen am Spracherwerb des Kindes (Ontogenese) und an der Entstehung der Sprache überhaupt. Ein Kind lernt die Sprache über das Sprechen. Sicherlich sind ihm einige sprachliche Fähigkeiten angeboren, insbesondere die, eine x-beliebige Sprache zu lernen; das können Lebewesen anderer Spezies nicht. Aber ohne sprachlichen Kontakt lernt es keine Sprache. Das Sprechen liefert erst die Daten für das Lernen der Sprache. Das Kind muss aus diesen Daten das Nötige entnehmen, um kognitive Schemata auszubilden, die ihm gestatten, • selbst sprachliche Äußerungen zu erzeugen, • neue sprachliche Daten zu deuten, • neue sprachliche Bildungen intentional zu verwenden. Alle sprachlichen Daten erhält das lernende Kind im sozialen Kontakt und im Zusammenhang mit dem sozialen Handeln. Ja, es ist sogar so, dass seine ersten sprachlichen Handlungen überwiegend dazu dienen, die Handlungen anderer zu steuern oder hervorzurufen. Ihr Sinn besteht gerade darin. Wenn das kleine Kind nur schreit, schmatzt oder „nam, nam” sagt, stets deuten wir das so, dass es etwas von uns will; und das Kind lernt auch schnell, dass wir das so deuten. Im sozialen Kontakt lernt es, was man mit einer Äußerung bewirken und meinen kann. Logisch gesehen kann das nicht so zugehen, wie landläufig angenommen wird, dass das Kind eine Intention hat und dann lernt, wie es diese verbalisieren kann. Das ist undenkbar, weil eine einsame Intention - falls es so etwas gibt - nicht kommunizierbar wäre. Im Spracherwerb spielt das Verstehen die primäre Rolle. Ein Kind lernt, was seine - anfänglich willkürlichen, zufälligen - Äußerungen sozial bewirken, wie sie nach dem etablierten Standard aufgenommen und verstanden werden. Das heißt: Es lernt, was man mit einer Äußerung meinen kann, aufgrund dessen, wie die Erwachsenen auf sie reagieren. <?page no="116"?> 111166 5 Sprache und Kultur Und noch grundlegender: Ein Kind muss ja aus der Unsumme unstrukturierter Lautäußerungen erst einmal jene herausfiltern, die überhaupt in unserem Sprechen etwas gelten, sozusagen sprachlich geformt sind. Für diese muss es dann entsprechende kognitive Schemata ausbilden, die ihm Verständnis und eigene Anwendung in neuen Fällen gestatten. Alles in der Schwebe In der Herausbildung eines sprachlichen Schemas gibt es wenig Sicherheit, wenigstens gibt es kein hartes Verifikationskriterium. Einerseits kann das Kind ja nicht diskutieren, ob seine Hypothese korrekt ist. Es erfährt seine Sprache sozusagen immer von innen. Mehr steht ihm nicht zur Verfügung, zum Beispiel keine Alternative, keine Wahl, keine Beurteilung von außen. Andererseits sind die Reaktionen auf seine eigenen Äußerungen wie auch seine Reaktionen auf Erwachsenen-Äußerungen nicht ausdefiniert, sondern in gewissem Sinn unterbestimmt. Solange die jeweilige Äußerung ihren Zweck erfüllt, solange die jeweilige Verständigung klappt, genügt die eigene Hypothese. Mehr erfährt das lernende Kind nicht. Mehr erfahren wir übrigens alle nicht. Darum ist es auch möglich, dass wir vor allem bei selteneren Wörtern leicht abweichende, idiosynkratische Hypothesen ihrer Bedeutung haben und dass wir das erst spät, vielleicht nie bemerken. Kennen Sie das Wort sintemal? Wie würden Sie es verwenden? Als Adverb oder als Konjunktion? Eher wie (1) oder wie (2)? (1) Die Sprachauffassungen waren sintemal verschieden. (2) Die Welt sah anders aus, sintemal die Sprache anders war. Eine Art Abrichtung Ein Kind nimmt die Äußerungen der Erwachsenen anfangs als bedingungslose Vorbilder. Ihre Bedeutung kann es nur erfassen, wenn es keine Zweifel hat an der Richtigkeit, der Aufrichtigkeit und an der Wahrheit der Äußerungen. Die geäußerten Sätze sind ihm eher wie Definitionen, deren Wahrheit vorausgesetzt ist. Nur so kann es zur Kenntnis der Bedeutung kommen. Wenn das Kind selbst produktiv spricht, wird es bei Fehlern ohne Argumentation darauf verwiesen, wie es richtig heißen muss. Es erfährt also Sprache zwanghaft, weil es auf die Regeln verpflichtet wird, und zwar ohne Diskussion irgendwelcher Alternativen. Auf seine neugierigen Fragen erhält es letztlich nur die Antwort: „So geht das.“ „So ist das eben! “ Darum hat die Einführung in die Sprache auch etwas von Dressur. Sprachliche Konventionen sind ein absoluter Zwang, so absolut, dass es uns allen natürlich erscheinen muss, wie geredet wird. Die Sprache als zweite Natur ist etwas, „was jenseits von berechtigt und unberechtigt liegt.“ (Wittgenstein 1970: 359) <?page no="117"?> 111177 Was ist Sprache? 5.2 Ein Kind vollzieht in seinem Spracherwerb eine Art Entstehung der Sprache nach, aber mit einem entscheidenden Unterschied. Im Spracherwerb geht es darum, individuell eine Sprache herauszubilden, die sozial schon existiert. Es geht darum zu erkennen, wie Äußerungen nach bereits existierenden Schemata wirken. In der Sprachentstehung überhaupt, in der Phylogenese, gibt es diese Schemata noch nicht. Sie müssen sich erst sozial herausbilden. Sprachentstehung und Sprachentwicklung sind in diesem Sinne wesentlich kreativer als der Spracherwerb. Das gilt vor allem auch deshalb, weil an der Sprachentwicklung so viele beteiligt sind, die ihre beschränkten Ziele und ihre Klugheit einbringen. Ontogenese = Phylogenese? Während wir für die Ontogenese der Sprache über verlässliche empirische Daten verfügen, können wir über den Ursprung der Sprache und die Entstehung einer Sprache nur spekulieren. Die ersten Anfänge rekonstruieren wir in begrifflichen Überlegungen über den allgemeinen Charakter der Sprache, in Gedankenexperimenten, die wir allerdings mit Kenntnissen über den Sprachwandel absichern. Wie bei der Ontogenese sehen wir die Anfänge der Sprache im Sprechen. Die Annahme, dass irgendwann einmal die ganze Sprache eingeführt wurde, vielleicht über eine Art contrat social, läuft nämlich in eine logische Aporie, wie Quine sie karikiert hat (Lewis 1975: IX): Als Kind habe er sich die Vereinbarung so vorgestellt, als habe sich einmal ein Gremium von Ratsherren zusammengesetzt, wie von Rembrandt gemalt an einem Tisch aufgereiht, und habe dereinst festgelegt und verordnet, wie wir sprechen könnten. Die Frage ist aber, welche Sprache diese weisen Herren dabei gesprochen und wie sie uns Sprachlosen ihre weisen Entscheidungen kundgetan haben. Entstehung der Sprache Die Anfänge menschlicher Sprache bleiben Gedankenexperimenten oder begrifflicher Spekulation vorbehalten, in der wir etwa die Schritte der Zeichenentwicklung rekonstruieren: Von einfachen Anzeichen oder Symptomen (wie Schreckensschreien und Lustäußerungen), die kausal gedeutet wurden als die Folgen bestimmter innerer Zustände, über willentlich produzierte Signale (wie Lockrufe und simulierende Gesten) hin zu den eigentlichen sprachlichen Zeichen, Symbolen, die zwar noch eine natürliche Basis haben mögen, deren Wirkung aber wesentlich darauf beruhte, dass sie zum Zwecke des Verstandenwerdens produziert wurden und damit der Partner ihre intentionale Erzeugung erfasste. Dies ist auch ein Weg der Metamorphose von Zeichen. Ihr Gebrauch ist also über das gemeinsame Wissen der Partner gesichert und beruht damit auf einer einfachen sozialen Konvention. Spekulation als Methode <?page no="118"?> 111188 5 Sprache und Kultur Die Was-ist-Frage können wir hier nicht erschöpfend abhandeln. Wir legen den Fokus auf die hervorstechende und effektive Eigenschaft der Sprache, dass nämlich sie kreativ oder produktiv ist: Wir machen in der Sprache unendlichen Gebrauch von endlichen Mitteln. Dies zieht sich als Leitmotiv durch diese Darstellung. Jede Sprache hat zwei Aspekte: Der eine ist, dass von der Sprache persönlicher Gebrauch gemacht wird durch die Sprachteilhaber. Der andere ist, dass die Sprache als eine Institution anzusehen ist, die in Tradition und Kommunikation entstanden ist und dem Einfluss des Individuums entzogen. An der deutschen Sprache kann ich nichts ändern - und Sie auch nicht. Die Strukturierung menschlicher Sprachen ist ein Wunderwerk kultureller Evolution. 1. Basis sind etwa 30 bis 50 Phoneme, die keine Zeichen sind, nur Elemente für Zeichen liefern. 2. In regulärer Kombination mit Redundanzen werden tausende Morpheme, also echte Sprachzeichen erzeugt. 3. Morpheme werden zu unüberschaubar vielen Sätzen gefügt. 4. Sätze werden koordiniert zu uniken Texten. Unendlicher Gebrauch von endlichen Mitteln SSt trruukkttuurreellllee KKoom mpplleexxiittäätt mmeennsscchhlliicchheerr SSp prraacchheenn EEnnggiinnee: : PPhho onne em m--EErrzzeeuugguunngg EEnnggiinnee: : SSyynnttaaxx EEnng giinne e: : WWoorrttbbiilldduunngg Inventar: Phonematische Merkmale Inventar: Phonemsystem Offene Menge: Sätze Inventar: Lexeme und Morpheme Offene Menge: Wörter <?page no="119"?> 111199 Was ist Sprache? 5.2 Das Prinzip „kleines Inventar + Engine zur Erzeugung weiterer Einheiten“ ist verantwortlich für die Kreativität wie auch für die schwer überschaubaren Dimensionen menschlicher Sprachen. Da schon die Länge eines Lexems offen ist, könnte das Lexeminventar, das Lexikon einer Sprache schon unendlich viele Einheiten enthalten. Die Beschränktheit des menschlichen Gedächtnisses und kommunikative Notwendigkeit schöpfen das nicht aus. Nur was kommunikativ relevant ist und öfter wiederkehrt, wird lexikalisiert. Dennoch umfasst ein Lexeminventar vielleicht zwischen 10 4 und 10 5 Lexemketten. Das Lexikon ist intern strukturiert. In einem Wortfeld zum Beispiel sind die Lexeme distinktiv angelegt oder es gibt Hierarchien von Lexemen. Eine andere Strukturierung ist die assoziative. Lexikon als Inventar Auch das Lexikon ist produktiv. Während man früher annahm, es enthalte starr die Lexeme mit ihrer jeweiligen Bedeutung, erkennt man zunehmend regelhafte Teile des Lexikons. Oft werden Lexeme sozusagen nicht in ihrer Grundbedeutung verwendet, sondern abgewandelt über Lexikonregeln. Dafür gibt es einige Inferenzverfahren. (1) Hast du Goethe gelesen? (Person für Produkt) (2) Die Handschriften sind verbrannt. (Fähigkeit für Produkt) (3) Ich lasse mir nicht den Mund verbieten. (Teil für Ganzes) (4) Wer kennt sie nicht, die Sprache der Liebe? (Metapher) (5) Dieses Zeichen bezeichnet ein Verbot. (Subjektschub) Lexikonregeln GGrroobbddaarrsstteelllluunngg WWoorrttffeelldd FFa ammiil liie e AAsss so ozzi iaattiioonneenn zzu u MMu uttt te er r Verwandtschaft Schwester Eltern Mutter Vater Kind Großvater Großmutter Mama Papa Sohn Opa Oma Tochter Vetter Cousine Bruder Familie leiblich werdend Tochter Sohn Liebe Vater gut verheiratet alleinerziehend gebären lächeln Kind MMuutttteerr <?page no="120"?> 112200 5 Sprache und Kultur Eine weitere kreative Eigenschaft der Sprache ist die Möglichkeit, Ausdrücke zu übertragen, also nicht wörtlich zu verwenden. So sei Vater in (6) wörtlich, in (7) nicht wörtlich verwendet: (6) War dein Vater auch im Krieg? (7) Der Krieg ist der Vater aller Dinge. Die Unterscheidung beruht auf der Idee, dass manche Verwendungsweisen primär oder sicherer oder üblicher oder naheliegender seien. Und analog, dass die wörtliche Verwendung leichter zu verstehen sei. Selbstverständlich ist es schwierig, wenn nicht unmöglich, diese Unterscheidung zu begründen und im Einzelfall gesichert anzuwenden. Vielleicht ist die wörtliche Verwendung nur ein Konstrukt, das sich dadurch auszeichnet, dass, wer sie kennt, leichter auf die anderen Verwendungen kommt, umgekehrt aber nicht. Über das Verstehen kann die Unterscheidung jedenfalls nicht gerechtfertigt werden. Gerade im Fall vieler Idiome ist das nichtwörtliche Verständnis primär (etwas auf der hohen Kante haben), auf das wörtliche muss man erst mal kommen, um beispielsweise manche Sprachspielereien zu verstehen. Wichtiger scheint uns aber der Gedanke, dass - wenngleich viele nicht-wörtliche Verwendungsweisen etabliert sind - wir als Sprecher ausgehend von der üblichen, der wörtlichen Verwendung neue übertragene Verwendungen ad hoc schaffen können und damit auch verstanden werden. Das ist kreative Leistung. Praktisch wird es öfter nützlich sein, von metaphorisch oder auch von indirekt zu reden, wenngleich es letztlich nicht fundiert werden kann. Man sollte sich aber dessen bewusst sein. Übertragene Verwendung Das Lexikon einer Sprache enthält die Lexeme auf Vorrat. Man unterscheidet dabei öfter Morpheme (mit rein grammatischer Funktion wie -en, -er) und eigentliche Lexeme mit voller Bedeutung (wie geh-, Kind). In der Kommunikation werden Lexeme linear verbunden zu größeren Einheiten. Aus den möglichen Kombinationen eines Lexems ergibt sich dessen syntaktische Kategorie. Das gesamte Lexikon zerfällt so in Untermengen gleicher syntaktischer Kategorie (oder Wortart). Eine erste Kombination ergibt erst einmal das Wort, das aus mehreren Lexemen bestehen kann. Diese Produktion leistet die Wortbildung. (8) Sprache - Spracherwerb - Zweitspracherwerb - Zweitspracherwerbshypothese Mit dieser Engine enthält das Lexikon schon wenigstens 10 6 Einheiten. Kombinatorik: Wort <?page no="121"?> 112211 Was ist Sprache? 5.2 Spektakulärer ist die Verknüpfung von Lexemen oder Wörtern zu Sätzen, die die genuine Einheit der Kommunikation darstellen. Diese Produktion leistet die Syntax. (9) Mit dem Erwerb einer zweiten Sprache ist das Eintauchen in eine zweite Kultur verbunden. Die Syntax ist die Engine, die aus einer abgeschlossenen Menge von Lexemen eine unendliche Menge von Sätzen erzeugt. Dies ist vor allem möglich, weil die syntaktischen Regeln rekursiv sind: Auf jeden Output können die Regeln möglicherweise wieder angewendet werden. Das kann man sich klar machen, indem man syntaktisch einfache Sätze bildet und sie dann seriell mit und verbindet. Hier ist keine prinzipielle Beschränkung vorgegeben, wann man aufhören müsste. Die Syntax ist das Beispiel par excellence für die Produktivität der Sprache. Sie repräsentiert das Prinzip „Inventar + erzeugende Engine“ am eindrucksvollsten. Kombinatorik: Syntax Ein Text ist die Grundeinheit der Kommunikation. Er besteht aus einer Sequenz einfacher und komplexer Sätze und hat eine eigene Struktur. Der Text wird wesentlich bestimmt durch Kohärenz. Die Kohärenz ist allerdings nicht etwas, was dem Text sozusagen objektiv anhaftet; sie entsteht erst in einem Verständnis. Mit seiner Verstehenskompetenz nutzt der Sprecher zur Kohärenzherstellung alle möglichen Komponenten des Wissens: grammatisches Wissen, lexikalisches Wissen und Weltwissen. Auf dieser Basis haben wir Hypothesen über den kohärenten Text, die uns auch gestatten einen Lückentext aufzufüllen, so dass er kohärent wird. Text Was aber macht ein Zeichen zum Zeichen? Oder wie gelingt es, mit dem Zeichen Sinn zu vermitteln? Nach de_ Prinzip de_ Autopoiese wi__ der Verste_____ irgendwie de_ Sinn erze____ und de_ Sprechende mu__ davon ausg____, dass de_ Verstehenden das gelingt. Der ___________ deutet, er erschließt den Sinn. Dazu muss er aus dem geäußerten Zei____, aus der Manife_______, seine Schlüsse ziehen, um zu verstehen. Eine weitere Art der Kreativität menschlicher Sprachen beruht auf der Unterscheidung von Bedeutung und Sinn, von Potenzial und Realisierung. Sprachliche Zeichen sind Types, also Muster für die Realisierung und sie werden als Tokens realisiert. Sinn und Bedeutung <?page no="122"?> 112222 5 Sprache und Kultur Die Unterscheidung von Type und Token basiert darauf, dass Sprache immer Realisierungen nach dem gleichen Schema vorsieht. Die Realisierungen sind zwar physikalisch alle verschieden, aber gleich im Hinblick auf das Schema. Okkurrenzen hingegen sind keine Realisierungen. Okkurrenzen basieren auf der Eigenschaft eines Schemas, an verschiedenen Stellen realisierbar zu sein. Okkurrenzen sind sozusagen schematische Positionen, an denen ein Schema realisierbar ist, also Schema-Wiederholungen. (Hingegen sind Tokens Realisierungswiederholungen.) Die Zeichen, die Lexeme, sind Hypothesen darüber, was man mit ihnen kommunikativ erreichen kann. In der konkreten Realisierung kommen aber alle Komponenten der einmaligen historischen Situation hinzu, wie die Beteiligten sie wahrnehmen. So kann der jeweilige Sinn über die Bedeutung hinausgehen. Sprache ist in diesem Sinn offen, und nur diese Offenheit macht ihre Genese und den Wandel möglich. type token Okkurrenz Aus unseren Überlegungen fließen einige Folgerungen für das sprachliche Leben: Sprache existiert nicht ohne Sprecher und nicht außerhalb der Sprecher; sie ist nur von Sprechers Gnaden. Alles in der Sprache ist historisch, auf Tradition gebaut und ständig im Wandel. Ein Produkt kultureller Evolution. Eine Sprache ist kein homogenes Gebilde. Sie ist zwar ein Maßstab für die Sprecher, aber durchaus kein starrer oder sicherer Maßstab. Das Individuum hat keine Möglichkeit (und kein Interesse daran), die Sprache zu ändern. Es ist ihr unterworfen. Ja, die ganze Sprachgemeinschaft kann willentlich nichts ändern (weil sie sich nicht koordinieren kann zum Beispiel). Die Sprache führt ein Eigenleben, losgelöst von der Natur, „une machine qui marcherait toujours“ (de Saussure 1974: 192e). Um sprachliche Handlungen zu verstehen, brauchen wir Wissen über die Welt. Wir verstehen uns, so weit das Wissen gemeinsam ist in dem Sinn, dass wir voneinander wissen, was wir wissen. Fazit <?page no="123"?> 112233 Was ist Sprache? 5.2 Vokalität Eigenschaften menschlicher Sprache Menschliche Sprache ist primär Lautsprache. Ein Sprecher produziert mit den Sprechorganen Laute, die auf akustischem Weg zum Hörer gelangen und von ihm mit den Ohren aufgenommen werden. Konventionelle Zeichensprachen wie die der Gehörlosen sind zwar voll taugliche Sprachen, aber Ausnahmen. Die schriftliche Fixierung von Äußerungen ist sekundär, wenngleich schriftliche Kommunikation in vielen Kulturen einen hohen Stellenwert hat. Stereophonie Die Lautäußerungen breiten sich als Schallwellen nach allen Seiten aus. Sie können also im gesamten Schallraum gehört werden. Der Hörer kann aber stereophon hören und die Quelle identifizieren, weil er wahrnehmen kann, aus welcher Richtung der Schall kommt. Ephemerität Die Lautäußerung ist vergänglich. Sie schwindet sofort. Darum kann ihr auch sogleich eine weitere folgen. Um die Flüchtigkeit zu umgehen sind Hilfsmittel wie Verschriftlichung, elektronische Konservierung nötig. Und in menschlicher Kommunikation wurden sie entwickelt. Spezialisierung Der Mensch besitzt spezialisierte Organe für die Sprachproduktion: Kehlkopf, Lippen, Zunge sind adaptiert für diesen Zweck. Auch das Gehirn entwickelte sich im Verlauf der Evolution so, dass ein spezifisches Sprachzentrum entstand. Ebenso ist die Sprache selbst und ihre Zeichen spezialisiert auf bestimmte Funktionen und Situationen. Verfügbarkeit Die Produktion sprachlicher Zeichen ist dem menschlichen Willen unterworfen. Sprachzeichen sind nicht wie Anzeichen irgendwelche kausalen Folgen von irgendwas. Sie können willentlich und mit Absicht erzeugt werden. Nur so kann ein Sprecher mitteilen, was er mitteilen will. Diskretheit Das Kontinuum lautlicher Äußerungen wird von den Sprachteilhabern segmentiert in Phoneme zum Beispiel. Sie erkennen bedeutungsrelevante Segmente nach mentalen Mustern, die sie erlernt haben. Es sind die Muster, die die Sprache konstituieren. Diese Muster sind sauber unterschieden und nicht kontinuierlich. <?page no="124"?> 112244 5 Sprache und Kultur Eine Sprache ist in mehreren Ebenen strukturiert: Phonologisch, lexikalisch und syntaktisch. Auf allen Ebenen herrscht das Prinzip: beschränkte Anzahl von Elementen und Erzeugung größerer, komplexer Einheiten. Das macht Sprachen besonders effektiv: Unendlicher Gebrauch von endlichen Mitteln. Komplexität Menschliche Sprachen basieren auf Zeichen und dem Gebrauch von Zeichen. Sprachliche Zeichen sind intern hoch strukturiert und können zu strukturierten Superzeichen gefügt werden. Die kommunikativen Funktionen werden erfüllt durch die Verwendung von Zeichen, die eine eigene Bedeutung haben. Der Hörer erschließt den Sinn durch symbolische Inferenz. Symbolizität Der Symbolcharakter sprachlicher Zeichen impliziert, dass sie nicht naturgegeben oder universal sind. Ein Gegenstand kann in verschiedenen Sprachen deshalb unterschiedlich gefasst und benannt werden. Selbst ikonische Zeichen sind arbiträr, weil die Ähnlichkeitsbeziehung kulturgebunden ist. Die Loslösung des Zeichens vom Bezeichneten ermöglicht die Vielfalt der Sprachen: Alles kann für alles verwendet werden. Arbitrarität Sprachliche Symbole sind nur verständlich durch symbolische Inferenz. Die Sprecher stützen sich hierbei auf Präzedenz und Konvention. Die Bedeutung eines sprachlichen Zeichens kann deshalb als Konvention aufgefasst werden. Sprache ist ein Produkt der kulturellen Evolution. Konventionalität Sprache ist dem Menschen nicht angeboren. Das würde auch ihrem konventionellen Charakter widersprechen. Angeboren ist nur die Fähigkeit, jede beliebige Sprache zu erwerben und zu erlernen. Die Sprache wird in kultureller Tradition von Generation zu Generation weitergegeben. Erwerb <?page no="125"?> 112255 Was ist Sprache? 5.2 Sprache ist reflexiv. Das heißt, mit Sprache kann über Sprache geredet werden. So können Formulierungen, ja die Sprache selbst thematisiert und diskutiert werden. Nur dadurch ist Linguistik möglich. Reflexivität Sprecher können über Dinge reden, die in der Situation nicht zugegen sind, seien sie anderswo oder zu einer anderen Zeit existent. Und sie können über vergangene und künftige Zeiten reden. Wir nehmen an, dass Tiere im Gegensatz dazu nur das Hier und Jetzt wahrnehmen. Menschen können sogar über Inexistentes reden. Situationsentbunden Menschliche Sprachen sind produktiv und kreativ. Wir können in der Sprache alles Mögliche sagen und wir können vor allem Neues, vorher nie Gesagtes sagen und verstehen. Diese Eigenschaft manifestiert sich in mehreren Qualitäten. Sie ermöglicht, Neues in der Sprache auszudrücken und den Sprachwandel. Produktivität Zur menschlichen Kommunikation gehören mindestens zwei, je ein Sprecher und je ein Hörer. Jeder Sprachteilhaber kann dabei wechselnd beide Rollen einnehmen. Seine sprachliche Kompetenz besteht in Sprechen und Verstehen. Rollenwechsel Alle Eigenschaften menschlicher Sprachen sind evolutionär entstanden. Sie müssen sich bewährt haben. Überlegen Sie bei einzelnen: Was könnte jeweils der Vorteil gegenüber anderen Möglichkeiten gewesen sein? Beispielsweise können akustische Zeichen rundum wahrgenommen werden. Für Warnrufe etwa ein großer Vorteil. Bei optischen Zeichen muss der Zeichengeber schon im Gesichtsfeld, oft sogar im Fokus des Rezipienten sein. Anregung Monitoring Ein Sprecher hört sich immer auch selbst sprechen. Er hat dadurch die Möglichkeit, ständig zu kontrollieren, was er gesagt hat, gegebenenfalls auch zu korrigieren. Das ermöglicht Selbst-Repair wie durch den Partner initiierten Repair. <?page no="126"?> 112266 5 Sprache und Kultur Sprache wie Kultur beruhen auf Konventionen und auf Tradition. Es ist klar, dass die Sprecher Konventionen nicht per Verabredung einführen können, weil sie die nötige Sprache nicht haben und weil ihnen die Konvention eher unbewusst bleiben mag. Wir denken uns das Ganze darum so: Anfänglich wird die Bedeutung der Äußerung nicht durch Sprache und Konvention gesichert. Der Sprecher ist auf ein ad-hoc- Verständnis angewiesen, und er muss seine Äußerung partner- und situationsbezogen gestalten. Dazu wird er natürlich jene Äußerung wählen, von der er annimmt, dass der Partner sie in seinem Sinn verstehen kann. Wenn dies mit einer Äußerung einmal gelungen ist, so ist das der beste Grund, in analoger Situation wieder eine Äußerung dieser Form zu wählen. Eine Präzedenz hat sich gebildet und, insofern dies beide wissen und voneinander wissen, ist es eine soziale Gewohnheit, eine Konvention dieser beiden geworden. Anschließend muss sich die Kenntnis der beiden verbreiten, damit es nicht eine Art private Konvention bleibt. Dabei ist im Prinzip egal ist, wie die Äußerung lautlich gebildet ist und in welchem Sinn sie verwendet wird. Es kommt nur darauf an, dass der Partner in entsprechender Situation so handeln würde und darum annimmt, dass der Sprecher so gehandelt hat. Dabei mögen ihn gewisse Präzedenzen stützen und den Erfolg sicherer machen. Sprache wie Kultur Unsichtbare Hand Konventionen sind Lösungen sozialer Koordinationsprobleme. Sie sind das Produkt gemeinsamer Handlungen vieler Individuen über einen langen Zeitraum hinweg. Sie werden nicht von diesen Individuen intentional geschaffen, sie entstehen als Produkt der Wechselwirkung, die die Individuen aufeinander ausüben. Unsere einfache Erklärung des Zusammenhangs von Sprechen und Sprache, von Handeln und den Konventionen unseres Handelns hat demgemäß die typische Form einer Erklärung mit der Unsichtbaren Hand (Ullmann-Margalit 1978). Das Schema einer solchen Erklärung hat drei Komponenten, die Entwicklungsschritte darstellen. 5.3 Worauf basieren Sprache wie Kultur? 1. Darstellung der einzelnen Handlungen der Individuen, ihrer Motive, Zielsetzungen, ihres Erfolgs, insbesondere Interaktion und Verständigungshandlungen, Sprechen. 2. Darstellung des kumulativen oder selektiven Prozesses, der die individuellen Handlungen zu einer nicht-intendierten Resultante verwebt, hier: Bildung von Präzedenzen, Koordination. 3. Darstellung der Resultante und ihrer Struktur, hier: Konvention, Sprache. <?page no="127"?> 112277 Worauf basieren Sprache wie Kultur? 5.3 Eine solche Erklärung erklärt komplexe Strukturen als das nichtintendierte, ungeplante Ergebnis individueller Handlungen, als ein „product of human action, but not the execution of any human design“ (Ferguson 1923). Zwar mögen die Individuen in ihren Handlungen jeweils kurz reichende Absichten verfolgen (z. B. Verstandenwerden), sie beabsichtigen aber nicht, das Produkt (die Konvention) zu schaffen, und schaffen es in diesem Sinne auch nicht. Unsichtbare-Hand-Erklärungen können kreative Werke besonders gut erklären. Jede intentionale Erklärung eines kreativen Werks würde sozusagen in der Fassung der Intention schon das Ergebnis voraussetzen. Der kreativ Wirkende, der X schafft, muss ja die Absicht gehabt haben, X zu schaffen; also war X nicht absolut neu. Dagegen kann die Unsichtbare Hand etwas schaffen, was wir erst verstehen, nachdem es entstanden ist. Erklärungen mit der Unsichtbaren Hand taugen für viele soziale Institutionen, so zum Beispiel für die Entstehung von Werten, insbesondere des Geldes (Menger 1883: 172). Ni par intention ni par nature Wörter wie Werte Grundlage des Tauschhandels ist, dass ein Individuum A etwas, sagen wir X, besitzt und dieses X nicht braucht. Es tauscht es gegen ein Y, das es braucht. Sein Partner B hat hingegen Y und braucht X. So werden beide mit einem Tausch zufrieden sein. Stellt man sich eine Gesellschaft mit Tauschhandel vor, so wird derjenige öfter in einer schlechten Situation sein, der Xe besitzt, die nicht so gefragt sind, dafür aber ein gefragtes Y haben möchte. Für ihn wird es nun schon interessant sein, wenn er nicht ein Y eintauscht, sondern ein Z, das er zwar nicht braucht, das ihn aber dem Y näherbringt, insofern es leichter gegen Y eintauschbar ist als sein X. Wer so verfährt, wird auf lange Sicht wirtschaftlich erfolgreicher sein. Die Andern werden es merken und ihm gleichtun. Die Zs sind hier offenbar keine reinen Tauschgegenstände mehr, sondern Werte, bestimmt durch ihre Rolle im Tauschspiel. Bedenkt man nun noch, dass in der Praxis des Spiels die Erfahrung bald lehren wird, dass die Zs möglichst haltbar, gut teilbar, leicht transportierbar, gut absetzbar sein sollten, so sieht man sie zu Geld werden. Das Geld ist entstanden, ohne dass es erfunden oder absichtlich geschaffen wurde und ohne dass es naturgegeben war oder dass es vorher einen Begriff des Geldes gegeben hätte. Die beteiligten Individuen hatten nicht die Erfindung des Geldes im Sinn. Sie haben nur Tauschhandel betrieben und sind dabei auf bessere Strategien gekommen. Indem sie so handelten, ergab sich aber, dass bestimmte Waren zu Geld wurden und dass der gesamte Charakter des Handels sich änderte. <?page no="128"?> 112288 5 Sprache und Kultur Da die handelnden Individuen das Produkt der Unsichtbaren Hand nicht intendieren, kann es sogar in eigenartigem Widerspruch stehen zu ihren kurz reichenden Absichten, wie es etwa im berühmten Mandevilleschen Paradox zum Ausdruck kommt, das Glück und Wohlfahrt der Nation erklärt als Produkt des egoistischen Strebens und der Laster ihrer Bürger. Die Bürger schaffen allgemeinen Wohlstand, obwohl sie das gar nicht beabsichtigen, sondern nur ihrem eigenen, auch egoistischen Interesse nachgehen. So kümmert die deutsche Sprache auch nur wenige Sprachteilhaber, aber alle tragen täglich bei zu ihrem Wandel. Entstehung und Wandel der Sprache sind ein Fall kultureller Evolution. Immer wieder werden in Einzelversuchen Ideen und Verfahren ausgewählt, die sich für den Sprecher bewährt haben, weil sie verstanden wurden und Erfolg hatten, die der Sprecher darum wiederholt und die Partner übernehmen. Hingegen finden Ideen und Verfahren, die sich nicht bewähren, einfach keine Nachfolge; sie werden nicht als Präzedenzen akzeptiert. Die Güte einer sprachlichen Lösung bestimmt sich dabei nicht individuell, sondern sozial. Sie muss wenigstens beim jeweiligen Partner Erfolg haben, und letzten Endes bei allen Sprechern, die die Lösung akzeptieren. Den Stau will keiner der Produzenten Außerhalb der Menschen Die Sprache ergibt sich als das unreflektierte Ergebnis spezifischer individueller Bestrebungen, „le résultat incessant de l‘action sociale, imposé hors de tout choix“ (de Saussure 1974: 35b), aus Millionen kleinster Lösungen, die aufeinander aufbauen und kumuliert werden. Das alles hat eine Komplexität, die kein Mensch überblicken oder antizipieren könnte, geschweige denn in rationaler Überlegung vorplanen oder beurteilen, was beispielsweise manch einen verführte, einen göttlichen Schöpfer zu postulieren. So ist ein Art Dämonisierung der Sprache nicht verwunderlich, weil die Sprache uns leitet, aber unserem Einfluss und unserem Willen entzogen bleibt. Die Sprache ist für uns Menschen wie für den Fisch das Wasser. Wir bewegen uns in ihr ganz selbstverständlich. Wir befolgen ihre Konventionen eher automatisch. Wir können sprechen und sprachlich handeln, ohne dass wir die Konventionen formulieren können, nach denen wir handeln. Wir sind orientiert auf den Inhalt, auf die Welt. Mehr zählt uns, was wir sagen wollen, als wodurch wir es sagen. Und haben wir zu einzelnen Formulierungen noch Alternativen, so haben wir zur gesamten Sprache keine. Schweigen können wir nur kurze Zeit. Der Fisch bemerkt das Wasser, wenn er draußen ist. Aber wir können zwar über Sprache reden, und damit bleiben wir - weil wir reden - doch innerhalb der Sprache. „Alles wird in der Sprache ausgetragen“ (Wittgenstein). <?page no="129"?> 112299 All communication is interpersonal communication and can never be intercultural communication. Scollon/ Scollon 6 Kultur erfassen Employer: Are you confident in performing the duties of a file clerk? Korean: Yes, I am. I have a B.A. degree from Seoul University. My family is known to be good one, and I have been getting whatever I want from everybody. Employer: But have you ever worked in a filing department in any company? Korean: Yes, I can. I can type, drive and have a B.A. degree from the best university in Korea. Employer: Can you order things alphabetically? Korean: I learned English for six years in high school and four years at college. I used to be the best student in those days. In diesem Dialog kommt es offenkundig zu einem Missverständnis. Da beide Partner Englisch sprechen, ist das Missverständnis wohl nicht ganz direkt auf die sprachlichen Ausdrücke zurückzuführen, vorausgesetzt die beiden verwenden die Ausdrücke in etwa gleich. Allerdings wird das Missverständnis doch kommunikativ irgendwie manifest. Es gelingt wohl nicht ganz, die Antworten des Koreaners zu verstehen. Aber warum? Einschlägiges Wissen und vor allem Differenzen im kulturell vorausgesetzten Wissen spielen die Hauptrolle in Problemen interkultureller Kommunikation. Darum ist es so wichtig zu erkennen, wie das Wissen in unsere Kommunikation eingreift, ja wie Wissen überhaupt erst Kommunikation ermöglicht und welches Wissen Kommunikationspartner stillschweigend voraussetzen. Wie ist unser Wissen aufgebaut? Wie greift es in der Kommunikation? Wie kann man interkulturelle Differenzen im Wissen erfassen? Kann man sie systematisieren? Gar in generellen Dimensionen fassen? Es gibt viele Systematisierungsversuche. Sie sehen das Ganze meist von außen, scheinbar objektiv und vom Standpunkt des Beobachters. Für alle stellt sich in erster Linie die Frage, wie generelle und abstrakte Schematisierungen wieder heruntergebrochen werden sollen in persönlicher Kommunikation. <?page no="130"?> 113300 6 Kultur erfassen 6.1 Aufbau des Wissens Wann haben die eigentlich geheiratet? Wann war das? In Rom damals. Der beiden kurzer Dialog zeigt, wie selbstverständlich wir Wissen beim Partner voraussetzen und wie selbstverständlich wir damit umgehen, wenn das Wissen nicht vorhanden ist. Die beiden Grundgrößen des Verstehens sind: der Text und die Welt im Kopf der Sprachteilhaber. Um zu verstehen, was jemand meint, und um den Sinn des Gesagten zu fassen, muss man die Bedeutung der Sätze verstehen, aber man muss auch über die Bedeutung hinaus gehen. Die langue-autorisierte Bedeutung ist nur ein Aspekt, der zum Verstehen beiträgt. Und wenn man es recht überlegt, ist sie eigentlich nur eine Versteinerung aus dem, was früher und öfter im Gebrauch der Zeichen gemeint war. Andererseits ist das Verstehen, was jemand meint, ohne zu verstehen, was er sagt und was seine Sätze bedeuten, oft vage und undifferenziert. Verstehen ohne Sprache bleibt rudimentär. Sprachliche Zeichen sind das entscheidende Mittel, um einen Partner zu verstehen. Der Text allein enthält noch kein Verständnis. Er ist totes Material, das erst durch das Wissen der Sprachteilhaber zum Zeichen mit Sinn wird. Jedes Zeichen ist nur Zeichen per Lizenz des gemeinsamen Wissens. Im Verstehen trifft der Text auf die Fähigkeiten und das Wissen des Hörers, und daraus entwickelt sich ein Verständnis. Das gemeinsame Wissen hat wenigstens vier Komponenten. Lexikalisches Wissen besteht in der Kenntnis der Bedeutung der Lexeme. Die subjektive Bedeutung ist ein mentales Konstrukt aus Verwendungen, die dem Sprachteilhaber bekannt geworden sind. Dazu gehört nicht nur, welche Bedeutung die Lexeme in Isolation haben, sondern auch, in welchen Konstruktionen und Sätzen sie verwendbar sind und welche ihrer möglichen Bedeutungen als Sinn jeweils realisiert ist. Über die Bedeutung hinaus LLeexikalisches Wissen xikalisches Wissen GGra rammatisches Wissen mmatisches Wissen WWeellttwwiisssseenn KKoonntteextwissen xtwissen Komponenten des Wissens <?page no="131"?> 113311 Aufbau des Wissens 6.1 Komponenten des Wissens Grammatisches Wissen besteht in der Kenntnis der Regeln, die charakterisieren, welche Wortkombinationen zulässig sind und wie sie zu verstehen sind. Hierzu gehören die Analyse der Wortformen, die Abfolge der Zeichen im Satz und die Beziehungen zwischen ihnen. Weltwissen ist Wissen über die Welt, allerdings nicht nur im engeren Sinn der physikalischen Welt, des Sach- und Fachwissens, sondern auch der sozialen Welt: Wissen über Kultur, soziale Gepflogenheiten, Wertsysteme und Normen. Im Weltwissen werden öfter Faktenwissen (Know that), Norm- und Handlungswissen (Know how) unterschieden. Man sollte sich das aber nicht unabhängig voneinander denken. Sinnvoll handeln kann man nur, wenn man weiß, was es ist, was man tut. Kontextwissen ist laufendes Wissen. Es nährt sich aus Kontext und Sprechsituation. Wie das Wort links jeweils zu verstehen ist, wissen wir, weil wir uns in der Sprechsituation mit unserem Partner als orientiert ansehen. Und was danach heißt, wissen wir nur, wenn wir den Kontext kennen und einen darin angegebenen Zeitpunkt, auf den sich das Wort relativ bezieht. Das laufende Kontextwissen ist ständig in Veränderung und ständig auf der Höhe der Kommunikation. Was jetzt links ist, kann gleich darauf rechts sein, wenn die Partner sich bewegen. Zu diesen vier Komponenten gesellt sich eine fünfte, die wir eher als universal und nicht an eine einzelne Sprache gebunden ansehen. Es sind allgemeine Grundsätze der Griceschen Art und Strategien der Kommunikation und des Verstehens überhaupt. So verhalten wir uns etwa grundsätzlich kooperativ: Wir nehmen an, dass unser Partner etwas Sinnvolles sagt. Wir gehen davon aus, dass er zusammenhängend redet. Wir wählen nicht so leicht Deutungen von Texten, die widersprüchlich sind - es sei denn, wir sind rechthaberisch. Die Komponenten wirken gemeinsam, mal hat die eine den Vorrang, mal die andere. So mag der Hörer einmal sein Weltwissen ändern aufgrund von Deutungen, dann aber wird er vielleicht die Deutung aufgrund des Weltwissens ändern. Auch sollte uns die Struktur des Wissens nicht zu der Annahme verführen, die verschiedenen Komponenten würden im Verstehen schön der Reihe nach abgearbeitet. So wie Kaskaden: erst das Wahrnehmen, dann das Deuten, erst die grammatische Dekodierung, dann das Verstehen. Es spricht Einiges dafür, dass diese Teilprozesse zusammenwirken, teils synchron ablaufen können, teils sukzessiv und teils chaotisch ineinander greifend. <?page no="132"?> 113322 6 Kultur erfassen Arten des Wissens wurden spezifiziert in kognitiven Theorien des Gedächtnisses. Das Gedächtnis ist als dynamisches System konzipiert. Gewöhnlich wird unterschieden zwischen Langzeitgedächtnis und Kurzzeitgedächtnis. Im Langzeitgedächtnis werden dauerhaft Informationen gespeichert, die aber leider - oder gottseidank - auch dem Vergessen anheim fallen können. Das Langzeitgedächtnis wird gefüttert durchs Kurzzeitgedächtnis, das Informationen nur für kurze Zeit und in beschränkter Menge speichere und dann sofort upgedatet werde. Was die Definition betrifft, gehen die Meinungen allerdings auseinander. Das Kurzzeitgedächtnis wird gefüttert durch aktuelle Wahrnehmung: sprachliche Äußerungen, Bildwahrnehmung, Situationswahrnehmung usw. Aber es muss auch aus dem Langzeitgedächtnis gefüttert werden, denn da sind die nötigen Muster abgelegt. Regeln, Muster und Präzedenzen, die wir für die Deutung aktualisieren, kommen aus dem Langzeitgedächtnis. Auch wenn einem etwas einfällt, dürfte das aus dem Langzeitgedächtnis kommen. So muss es also ein Vor und Zurück, ein Hin und Her geben. Dieses Hin und Her ist ausschlaggebend für das Verstehen. Nur was einem einfällt, was im Wissen aktiviert wird, kann in die Deutung eingehen. Darum ist es so wichtig, zu trainieren, dass einem für die Deutung das Richtige auf- und einfällt. Zum inneren Aufbau des Wissens konkurrieren zwei Modelle. Nach dem propositionalen Modell sind im Wissen Propositionen gespeichert, die durch logische und sonstige Relationen verbunden sind. So sind in der folgenden Skizze die 1er-Verbindungen Oberbegriffe, die 2er-Verbindung steht für „hat die Eigenschaft“. LZG und KZG FFiisscchh HHaaiiffiisscchh kann beißen ist gefährlich ist gelb kann singen kann fliegen hat Federn atmet frisst hat Flossen kann schwimmen Collins & Quillian Modell Modelle des Wissens TTiieerr VVooggeell FFiisscchh KKaannaarriieennvvooggeell HHaaiiffiisscchh 11 11 22 22 22 22 22 22 22 11 11 22 22 22 <?page no="133"?> 113333 Aufbau des Wissens 6.1 Nach diesem Modell wäre das kulturelle Wissen eines Individuums als strukturierte Menge semantischer Aussagen zu sehen, die bei Bedarf abgerufen und inferenziell verrechnet werden. Das konnexionistische Modell hingegen geht davon aus, dass Gedächtniseinheiten assoziativ in einem Netzwerk verknüpft sind. Gedächtniseinheiten können einzelne Wörter, semantische Merkmale und dergleichen sein. Assoziationen sind nicht rein individuell. Sprecher der gleichen Sprache assoziieren weitgehend analog. Ein Netzwerk zeigt die Verbindungen und assoziative Nähe. Das Wissen der Kommunikationspartner ist nie identisch, das Gegenteil wäre lebensgeschichtlich undenkbar. Es könnte sich höchstens partiell überlappen. In der Kommunikation spielt aber Wissen in diesem Sinn keine Rolle. Entscheidend ist das gemeinsame Wissen im Sinn eines reziproken Wissens. Gemeinsames Wissen Semantisches Netzwerk LLi ieebbee Schmerz weinen unglücklich gebrochene Unglück sterben Mitleid schmerzlich tot Tod leiden Leid chronisch SScchhmmeerrzz heftig Kopf vermissen spüren Mensch tief Tod Leid Frau unerträglich Freude Verlust Angst empfinden Gefühl Herz groß <?page no="134"?> 113344 6 Kultur erfassen Wir exemplifizieren das am Beispiel des Lügens, indem wir das Zusammenspiel von Äußerung, Wissen und Deutung zeigen. Das Lügen ist ein komplexer Akt, der bestimmt ist durch das Eingreifen des reziproken Wissens der Partner. Was wir als Dritte glauben, spielt dabei keine Rolle. Besonders, ob wir X glauben oder nicht, ist egal. Und Wahrheit spielt überhaupt keine Rolle. In der sophistizierten Betrachtung des Lügens müssen wir Stufen des gemeinsamen Wissens erklimmen. Kinder bleiben meist bei der ersten Stufe. Für sie ist sogar jede Aussage, die sich als falsch erweist oder nicht eintrifft eine Lüge. Ähnliches berichtet Eve Danziger vom Volk der Mopan Maya in Belize, für die es nicht darauf ankomme, was der Sprecher glaubt (Danziger 2010). Was nicht stimmt, ist tus. Ob wir da von Lüge sprechen sollten, wie Danziger es fortwährend tut? Eher bräuchte man eine genaue Analyse, wie das in dieser Kultur funktioniert. Insgesamt scheinen für die Mopan Intentionen eine geringere Rolle zu spielen. Die Höhe einer Bestrafung richtet sich nur nach dem angerichteten Schaden. Reinwaschungen wie „Ich habe es nicht gewollt“ greifen nicht. Aber Geschichten werden erzählt, die für uns fiction sind. Sind sie für die Mopan tus? Nein, sie sind zwar den Umgang mit Medien nicht gewohnt, aber, wenn Tiere in ihren Geschichten sprechen, so heißt es: Früher konnten sie das. Auch das allgemein als kulturspezifisch eingestufte Wissen greift nur in dieser komplexen Stufung ein. Darum ist es in der riskanten Interkulturellen Kommunikation immer angezeigt, sich über das Partnerwissen Gedanken zu machen. Die Reziprozität, die wir sonst leichtsinnig übergehen, steht hier ständig in Frage. A glaubt, dass nicht X. B glaubt, dass X. Ist das eine Lüge? - Man weiß nicht. B glaubte vorher X nicht, B glaubt nun X. Ist das eine Lüge? - Wahrscheinlich. B glaubte vorher schon X. Ist das eine Lüge? - Vielleicht, vielleicht auch nicht. A glaubt, dass nicht X. A glaubt, dass B X glauben wird. A glaubt, dass nicht X. A glaubt, dass B X nicht glaubt. A glaubt, dass B X glauben wird. X. B glaubte vorher X nicht. B glaubt nun X. Ist das eine Lüge? - Ja. X. X. <?page no="135"?> 113355 Aufbau des Wissens 6.1 Der Wissensturm Das gemeinsame Wissen hat eine Turmstruktur. Alles scheint problemlos. Beide haben die gleichen Ziele, die Interessen kollidieren nicht. Dies ist die naive Betrachtungsweise der sogenannten Fakten. Grit wird Amris Äußerung als ehrlichen und plausiblen Vorschlag verstehen und zustimmen. Eine geradlinige und heile Welt. Die Frage ist, ob die Geschichte in dieser einfachen Form je vorkommt. Hat sie nicht entscheidende Lücken? Wir sehen: Die Geschichte 1 ist nicht alles. Es gibt auf der zweiten Turmstufe Alternativen, die für das Verständnis und eine mögliche Lösung entscheidend würden. Amris Vorschlag wird nämlich nur auf der Grundlage eines Missverständnisses akzeptiert: Grit wird Amris Vorschlag für einen Verzicht halten, er ist aber im Sinn gemeinsamer Interessen gedacht. Wie sie nach dieser Deutung reagieren würde, ist eine andere Frage. Grit und der Nigerianer Amri sind schon länger zusammen. Für eine Heirat sollte Grit Muslima werden. Als sie sich deshalb trennen will, merkt Grit, dass sie schwanger ist. B1: Amri will Grit nicht heiraten. A1: Grit will Amri nicht heiraten. Amri sagt: „Wir werden nicht heiraten.“ GGe esscchhiicchhttee 11 Grit und der Nigerianer Amri sind schon länger zusammen. Für eine Heirat sollte Grit Muslima werden. Als sie sich deshalb trennen will, merkt Grit, dass sie schwanger ist. B1: Amri will Grit nicht heiraten. A1: Grit will Amri nicht heiraten. B2: Amri glaubt, Grit wolle ihn nicht heiraten. A2: Grit glaubt, Amri wolle sie heiraten. GGeesscchhiic chhttee 22 <?page no="136"?> 113366 6 Kultur erfassen Harmonisch stellen wir uns die Lösung der Geschichte 3 vor, wo das Gegenteil von A2 gilt. Also: A1: Grit will Amri nicht heiraten. A2: Grit glaubt, Amri wolle sie nicht heiraten. B1: Amri will Grit nicht heiraten. B2: Amri glaubt, Grit wolle ihn nicht heiraten. Sie ist ein Gegenstück zur unvollständigen Geschichte 1. In Geschichte 2 wird Grit jedenfalls je nach ihrer Einstellung gegenüber solchen Verzichten auch anders reagieren. Sie könnte z.B. „Doch“ sagen, was wiederum für Amri erstaunlich sein dürfte. Denn warum sollte sie heiraten, wo sie nicht will? Ihm zuliebe? Aber er will ja auch nicht. Wir sind bei der dritten Stufe. Auch hier liegt die Unstimmigkeit bei Bedingung B1 und B3. Gemeinsames Wissen bezüglich A1 und B1 besteht auch hier nicht. Es hakt eben zwischen Stufe 1 und 3. Nur wenn auf allen Stufen Koordination besteht, ist volles Verstehen gesichert. Eine andere Frage ist allerdings, auf welche Stufe wir jeweils klettern oder klettern müssen, um uns wirklich zu verstehen. Normalerweise klettern wir in der Kommunikation nicht so viele Stufen hinauf. Wir denken, dass weiter oben alles stimmt. Drei Stufen sind allerdings unabdingbare Voraussetzung für menschliche Kommunikation, wenn es kritisch wird. In Notfällen und bei Neurotikern geht es auch höher hinauf. Grit und der Nigerianer Amri sind schon länger zusammen. Für eine Heirat sollte Grit Muslima werden. Als sie sich deshalb trennen will, merkt Grit, dass sie schwanger ist. B1: Amri will Grit nicht heiraten. A1: Grit will Amri nicht heiraten. B2: Amri glaubt, Grit wolle ihn nicht heiraten. A2: Grit glaubt, Amri wolle sie heiraten. B3: Amri glaubt, Grit glaube, Amri wolle sie heiraten. A3: Grit glaubt, Amri glaube, sie wolle ihn nicht heiraten. GGeesscchhiicchhttee 44 <?page no="137"?> 113377 Aufbau des Wissens 6.1 Verständnisse werden durch alle Ebenen des gemeinsamen Wissens affiziert. Insbesondere entstehen Missverständnisse durch Disharmonien auf verschiedenen Ebenen. Wenn wir das Verstehen auf der Basis des gemeinsamen Wissens rekonstruieren, schaffen wir eine reichere Erklärung. Die Herrschaft des gemeinsamen Wissens ist total. Keiner kommt über sein Wissen hinaus. Nichts Interessantes ist explizit. Der Sinn ist per se implizit. Unser Wissen manifestiert sich in Erwartungen: Erwartungen, was Partner tun werden, Erwartungen, wie alles weitergeht, Erwartungen, wie eine Äußerung oder ein Satz fortzusetzen ist. Was glauben Sie, wie der folgende Kurzdialog zu ergänzen wäre? Wenn wir in Gesprächen nicht ganz folgen können, vermuten wir viel - und haben Erfolg damit. Unsere Erwartungen basieren auf unserem Wissen. Damit Kommunikation glatt funktioniert, aktivieren wir ständig Erwartungen. Wenn unsere Erwartungen nicht koordiniert sind, gibt es Probleme. Bisweilen antizipieren wir strategisch, was der Partner tun wird. Antizipation: kooperativ Wohin geben Sie die neuen? Überlegen Sie sich drei Lösungen. Antizipation: kompetitiv Welche Überlegungen stellen Sie an? Welche Anweisung geben Sie dem Personal für das Nachfüllen? Sie nutzen mit Ihrer Partnerin gemeinsam einen Tiefkühlschrank. Sehr gern essen Sie eingefrorenes Putengeschnetzeltes (Igitt! ). Die Packung zeigt kein Verfallsdatum (Sauerei! ). Heute haben Sie zwei Packungen gekauft. Im Tiefkühlschrank sehen Sie, dass es noch zwei ältere Packungen gibt. Sie wollen natürlich - damit sie zuerst verbraucht werden -, dass ohne Worte klar ist, welches die älteren sind. (Man weiß ja nie! ) Antizipation aber sie sind doch heute Abend da heute _____ bin ___ wieder da Sie leiten einen Supermarkt. Sie verkaufen auch verpackte Frischpasta, natürlich mit Verfallsdatum. Die Regale sollten stets gut gefüllt sein, darum wird täglich nachgelegt. Natürlich sollen die älteren Packungen zuerst verkauft werden. Erwartungen <?page no="138"?> 113388 6 Kultur erfassen Wir sehen Wissen in Frames und Skripts strukturiert: Unter einem Frame oder Rahmen wird gewöhnlich eine kohärente Wissensstruktur für eine Situation verstanden, die in dem Sinn verallgemeinert ist, dass sie Leerstellen oder Slots enthält, die erst im speziellen Fall gefüllt werden. Unter einem Skript wird gewöhnlich eine kohärente Wissensstruktur für einen Handlungsablauf verstanden mit Slots, die im speziellen Fall gefüllt werden. Auf ein Stichwort aus dem Frame oder Skript aktivieren wir weite Teile der Wissensstruktur, halten sie aufgewärmt parat, um sie zur Deutung zu nutzen. Der kaufen-Frame ist assoziiert mit dem deutschen Verb. Er hat sechs Slots. Andere Verben aus dem Wortfeld wie das neusprachliche holen haben eine andere Frame-Struktur, in der nicht diese Slots belegt sein müssen. Die Frames sind weitgehend verbal gebunden und differieren interkulturell beträchtlich. Ein Skript hat die Form eines Flussdiagramms für den möglichen Handlungsablauf mit verzweigenden Alternativen und Rücksprüngen bei * oder #. Beim Telefonieren ist der Ablauf nicht ganz fest geregelt, aber es gibt einen Standardverlauf. In einer Variante treten eher Probleme auf. Feste, fast rituelle Skripts gibt es etwa für die Heilige Messe oder auch für folkloristische Feiern. Auch Skripts können interkulturell erheblich differieren. So ist kulturspezifisch das TaekWanDo mit festen Figuren wie „Chon-Ji mean“ und symbolischer Bedeutung „Himmel und Erde“. Wissensstrukturen kaufen-Frame Telefonieren- Skript In Quellt exten zu „Deutschlands Colonialbestrebungen“ ist über Neger zu lesen: „Haben sie genug Geld verdient, um eine Frau zu kaufen, so kehren sie in ihre Heimath zurück.“ Und auch Albert Schweitzer schreibt davon, dass sie Xanthippe-Weiber möglichst weit weg verkaufen. Worin könnte sich dieser kaufen-Frame unterscheiden? ZZaahhlluunnggsswweeiissee ZZ KKääuuffeerr AA OOrrtt OO WWaarree XX PPrreeiiss YY VVeerrkkääuuffeerr BB @@ BBuussiinneessss <?page no="139"?> 113399 Aufbau des Wissens 6.1 Telefon klingelt. A hebt ab. * A grüßt. „Hallo“ A identifiziert sich. „Bohrer“ Wenn keine Antwort, zurück zu * Verhandlung A bestätigt. „Ok.“ #A Abschied „Bis dann“ B Abschied „Tschüs“ B identifiziert sich. „Ingrid“ B grüßt. „Hallo“ A begrüßt B. „Hallo, Ingrid“ A Grund des Anrufs B Frage nach dem Grund des Anrufs Eventuell zurück zu # Beide legen auf. Telefon klingelt. A hebt ab. Wenn keine Antwort, zurück zu * Verhandlung * A meldet sich. „Hallo“ B grüßt. „Hallo“ B fragt nach Identität. „Dr. Bohrer? “ „Ja, bitte“. Er ist bei Hausbesuchen. <?page no="140"?> 114400 6 Kultur erfassen Einkaufen funktionierte vor nicht allzu langer Zeit noch nicht so, wie dieses Skript es darstellt. Aber nicht nur historisch wandeln sich Skripts. Sie sind kulturell verschieden und da noch regional. So wird es in Bogotà anders zugehen als in den hohen Bergen, im Dorf anders als in der Großstadt. K geht zum Supermarkt K nimmt Einkaufswagen (ab jetzt: Einkaufswagen ist bei K) K geht durch Sperre *K geht zum Regal K schaut Ware an K entscheidet sich, X zu nehmen K legt X in Einkaufswagen (beliebig oft wiederholen) Wenn gewünschte Ware nicht vorhanden, zurück zu * K geht zur Kasse K schaut, wo kürzeste Warteschlange ist K überlegt, wo K sich anstellt K legt Waren auf Förderband V tippt Preise in Kasse V sagt K Summe V gibt K Kassenzettel K gibt V Geld V legt Geld in Kasse V gibt K Wechselgeld K legt Waren in Einkaufswagen K geht zu Verpackungstisch K legt Ware in Tasche K schiebt Einkaufswagen zu Depot (im Supermarkt) K geht zu Parkplatz K legt Ware in Auto K schiebt Einkaufswagen zu Depot (auf Parkplatz) Skript: Einkaufen SSkkrriipptt vvoonn FF.. BBuucckk: : EEiinnkkaauuffeenn iimm SSuuppeerrmmaarrkktt <?page no="141"?> 114411 Kulturelle Differenzen 6.2 6.2 Kulturelle Differenzen Wenn über Menschen verschiedener Herkunft gesprochen wird, dann sind kulturelle Zuschreibungen an der Tagesordnung. Aber in welchem Sinn und wie weit repräsentiert ein Deutscher deutsche Kultur, ein Chinese chinesische Kultur? Haben wir es zuerst nicht immer mit Personen zu tun? Ja sicher. Aber die Individuen sind doch geprägt durch: Tradition und Gedächtnis (Normen, Ideologien) Sozialisation (Enkulturation, Identität, persönliche Erfahrung) Kommunikation (Diskursverhalten, Kommunikationsziele) Soziale Organisation (Verwandtschaft, Selbstwahrnehmung, Selbstbild) In interkulturellen Interaktionen haben viele Individuen Erfahrungen gesammelt, die auch mehr oder weniger systematisiert erfasst werden können - allerdings mit Fehlerrisiko. Für eine systematische Betrachtung kann man auf einzelne Aspekte fokussieren. Kunst Literatur Persönlichkeit Wahrnehmung Zeiterleben Raumerleben Institutionen Rechtssystem Werte Ideale Mythen Kleidung Sprache Kommunikation Nahrung Essen Denken Wissen Verhaltensmuster Nonverbale Kommunikation Arbeit Soziale Beziehungen Religion Weltansicht Foki <?page no="142"?> 114422 6 Kultur erfassen Skalen Wie erfasst man nun das Wissen zu diesen Aspekten? Einzelne Aspekte können wir in polaren Skalen angeordnet denken. So wurden etwa die folgenden Aspekte häufiger zu Grunde gelegt und an einzelnen Kulturen festgemacht. Man fragt sich natürlich, was zwischen diesen Polen liegt und wie sie selektiv und graduiert Kulturen charakterisieren sollen. Ist das nicht recht grob? Polare Differenzen Weg als Ziel VV EERRLLAAUUFFSSOORRIIEENNTTIIEERRTT öffentliche Anerkennung Konformität ÖÖ FFFFEENNTTLLIICCHH Harmonie mit Natur Gesellschaft Schönheit HH AAR RM MOONNIIEE KK OONNKKUURRRREENNZZ Ausbeutung der Natur Dominanz Nützlichkeit Ergebnis als Ziel ZZ IIEELLOORRIIEENNTTIIEERRTT Selbstbestimmtheit Ich-Erfahrung Eigenverantwortung II NNDDIIVVIIDDUUAALLIISSMMUUSS Integration in Netzwerken Wir-Gefühl, Schutz KK OOLLLLEEKKTTIIVVIISSMMUUSS Intimität Grenzziehung PP RRIIVVAATT <?page no="143"?> 114433 Kulturelle Differenzen 6.2 Wer Ordnung schaffen will im Kulturvergleich muss wohl generalisieren. Mischungen und Details gehen da unter. Aber kann man mit allgemeinen Aussagen wie im Reiseführer weiterkommen? Sie sind mehr für eine Art Typologie oder Taxonomie der Kulturen gedacht. Wie ihre Kenntnis uns in Interkultureller Kommunikation weiterbringen könnte, bleibt unklar. Vor dem Hintergrund der Komplexität des Wissens, die der Kognitivsmus ans Licht brachte, und der Differenziertheit der Wirkung des gestuften gemeinsamen Wissens wird die praktische Anwendung schwierig. Nutzen? Partizipation Transparenz DD EEMMOOKKRRAATTIISSCCHH Hintergrundwissen öfter expliziert Inhalte im Vordergrund HH IIGGHH CC OONNTTEEXXTT Zeit ist seriell Handlungen nacheinander MM OONNOOCCHHRROONN Hintergrundwissen implizit Beziehung im Vordergrund LL OOWW CC OONNTTEEXXT T Hierarchien Unterordnung AA UUTTOOKKRRAATTIISSCCHH nostalgisch pessimistisch geduldig VV EERRGGAANNGGEENNHHEEIITT innovativ erfolgsorientiert planerisch ZZ UUKKUUNNF FTT Zeit ist synchron mehrere Handlungen gleichzeitig PP OOLLYYCCHHRROONN <?page no="144"?> 114444 6 Kultur erfassen mehr intellektuell, objektiv mehr emotional, subjektiv eher abstrakt orientiert mehr konkret orientiert eher auf Rationalität mehr auf Erfahrung wissenschaftsorientiert imaginativ und musisch Augenmerk auf Effizienz Augenmerk auf soziale Beziehung Rechte und Pflichten, Verantwortung Liebe, Sympathie, Gastfreundschaft Selbstverwirklichung Selbstkontrolle Disziplin Freiheit eigene Person, Individuum Gruppe, Familie, Sippe ernst, ernsthaft locker, liebenswürdig fordernd, konkurrenziell harmonisch, friedfertig mehr nach außen gewandt mehr nach innen gewandt Eroberung der Natur Harmonie mit der Natur aktiv, energisch ruhig, höflich Westlich Östlich Ein weiterer Schritt der Abstraktion besteht darin, die Kriterien anzuwenden auf viele Kulturen und so generelle Typen zu generieren. All diese Versuche sehen wir im Zusammenhang bewusster oder unbewusster Komplexitätsreduktion. So könnte man Kulturen handhabbar machen, vielleicht sogar handzahm. Eine bekannte generalisierende Unterscheidung ist die in Highcontext-Kulturen und Low-context-Kulturen. Der Gedanke der polaren Merkmale in skalarer Anordnung wurde verknüpft mit eher relativen Merkmalen und dann auf bestimmte Regionen angewendet. In einer kontrastiven Untersuchung der Thai-Kultur wurden differenzierende Merkmale gegenüber westlichen Kulturen festgehalten und auf asiatische Kulturen allgemein generalisiert. Dies alles sind natürlich globale und luftige Annahmen. Aber sie kö nnen vielleicht doch unseren Blick auf den Boden, auf gewisse Gebiete lenken, die wir dann auch genauer explorieren könnten. Für unsere persönliche Kommunikation können solche Merkmale auch unseren Blick auf bestimmte Aspekte lenken, die wir für unser Verstehen nutzen könnten. Aber immer nur tentativ und wenn nötig. Kontraste Typen mehr emotional, subjektiv mehr konkret orientiert mehr auf Erfahrung imaginativ und musisch Augenmerk auf soziale Beziehung Liebe, Sympathie, Gastfreundschaft Selbstkontrolle Freiheit Gruppe, Familie, Sippe locker, liebenswürdig harmonisch, friedfertig mehr nach innen gewandt Harmonie mit der Natur ruhig, höflich <?page no="145"?> 114455 Kulturelle Differenzen 6.2 Zwischenmenschliche Beziehungen sind langlebig und tief. Zwischenmenschliche Beziehungen sind eher kurzlebig und lose. In Alltagssituationen ist die Kommunikation rasch und zügig. Kommunikation verläuft sehr explizit. Vorgesetzte fühlen sich persönlich verantwortlich für ihre Mitarbeiter. Verantwortlichkeiten liegen weitgehend beim (bürokratischen) System. Vereinbarungen und Verträge werden vorzugsweise mündlich geschlossen. Vereinbarungen und Verträge werden vorzugsweise schriftlich geschlossen. Starke Trennung zwischen Ingroup und Outgroup Keine strikte Trennung zwischen Ingroup und Outgroup Kulturell geprägtes Verhalten sitzt tief und ist schwer/ nur langsam zu ändern. Kulturell geprägtes Verhalten verändert sich leichter/ rascher. High-context cultures Low-context cultures Das soziale System verleiht Identität. (Emotionale) Abhängigkeit vom Unternehmen (Emotionelle) Unabhängigkeit vom Unternehmen Geringe Job-Mobilität Höhere Job-Mobilität Teamentscheidungen sind besser. Einzelentscheidungen sind besser. Stellenbesetzungen von innen präferiert Stellenbesetzungen von außen sind möglich. Neue Managementmethoden sind von geringem Interesse. Management möchte hinsichtl h neuer Managementmethoden up to date sein. Richtlinien werden abhängig von Situation und Beziehung angewendet. Richtlinien werden für alle gleich angewendet (Universalismus). Individuelle Initiative wird nicht gern gesehen. Individuelle Initiative gewünscht Kollektivistisch Individualistisch Kulturen werden eingeteilt in mehr individualistisch und mehr kollektivistisch orientierte. In individualistischen Kulturen stehen eher individuelle Interessen im Vordergrund, in kollektivistischen Kulturen geht es stärker ums Wohlergehen der Gemeinschaft (Hall 1976, Hofstede 1983). Was hat sich in 50 Jahren geändert? Zwischenmenschliche Beziehungen sind eher kurzlebig und lose. Kommunikation verläuft sehr explizit. Verantwortlichkeiten liegen weitgehend beim (bürokratischen) System. Vereinbarungen und Verträge werden vorzugsweise schriftlich geschlossen. Keine strikte Trennung zwischen Ingroup und Outgroup Kulturell geprägtes Verhalten verändert sich leichter/ rascher. Identität kommt nur aus dem Einzelnen. (Emotionelle) Unabhängigkeit vom Unternehmen Höhere Job-Mobilität Einzelentscheidungen sind besser. Stellenbesetzungen von außen sind möglich. Management möchte hinsichtlich neuer Managementmethoden up to date sein. Richtlinien werden für alle gleich angewendet (Universalismus). Individuelle Initiative gewünscht <?page no="146"?> 114466 6 Kultur erfassen Geert Hofstede untersuchte in einer Befragung arbeitsbezogene Wertvorstellungen bei IBM-Mitarbeitern in 40 Ländern. Er konstruierte eine noch weiter gehende Abstraktion: vier Dimensionen, in denen nationale Unterschiede erfasst werden können. Wie ungleich ist die Macht in Institutionen verteilt? Ausmaß, in dem Mitglieder einer Gesellschaft ihre Asymmetrien akzeptieren. Die Arbeitswelt ist weitgehend strukturiert über Macht: Wer hat wem was zu sagen? Wie setzt der Vorgesetzte seine Anweisungen durch? Kann der Mitarbeiter seinen Dissens mit dem Vorgesetzten ausdrücken? Wie bedroht fühlt man sich in einer ambivalenten Situation? Ausmaß der Ängstlichkeit angesichts unstrukturierter und zweideutiger Situationen. Unsicherheit kann akzeptiert werden und locker genommen werden. Oder man kann sich durch Unsicherheit bedroht fühlen. Wie wichtig ist der Einzelne, wie wichtig die Gruppe? Diese Dimension trennt vereinzelnde von zusammenhaltenden Kulturen. Sie erfasst das Verhältnis zu den Mitmenschen, zu der Mehrheit in der Gesellschaft. Wie wichtig ist eigene Leistung und Durchsetzungsvermögen? Wie wichtig Fürsorge? Maß für Leistungsstreben, Durchsetzungsvermögen, Sympathie für Stärke und Abhängigkeit der sozialen Bedeutung vom materiellen Erfolg gegenüber mehr Pflege, Fürsorge und Interesse an der sozialen Umwelt. Geert Hofstede *1928 Bekannt vor allem durch seine Studien zum Zusammenhang von Organisation und kulturellen Überzeugungen, vor allem die angesetzten Kulturdimensionen. Sie wirkten in vielen Disziplinen, besonders im Management. Viele Einzelstudien sind zusammengefasst in: Uncommon Sense About Organizations: Cases, Studies, and Field Observations , 1994 Immer wieder dargestellt Unsicherheitsbewältigung Männlichkeit Individualismus Machtstruktur <?page no="147"?> 114477 Kulturelle Differenzen 6.2 Machtdistanzwerte ausgewählter Länder nach Hofstede Niedrige Machtdistanz korreliert mit flachen Hierarchien, hohe Machtdistanz mit tief gestuften Hierarchien. Individuen in Kulturen mit hohen Machtdistanzwerten tolerieren eher große Unterschiede in der Machtverteilung. Die Ergebnisse sind vor allem fürs Management gedacht. Aber welche Folgerungen sollen wir daraus ziehen? Was genau hat das mit Kommunikation zu tun? Und was würde es für mich als Individuum bedeuten? Derartige Dimensionen und ihre Spezifizierungen sind hochriskante Abstraktionen. Die empirische Basis und die zu Grunde liegenden Kommunikationen sind unbekannt. Ebenso unbekannt bleibt die Analyse-Methode. Insofern können diese Einteilungen bestenfalls als grobe Hinweise Verwendung finden. Die Realität sieht anders aus. Außerdem ist der monokulturelle bias überall sichtbar. Grobschlächtige Unterscheidungen wie die folgende in kollektivistisch vs. individualistisch sagen im Grunde wenig. Sie sollen gewonnen und differenziert werden in Empirie und gerinnen dann zu groben Etiketten, die unsere Erkenntnis und daraus resultierendes Handeln kaum leiten können. Denn wie sollte ich im konkreten Fall damit umgehen? In empirischen Einzel- Untersuchungen derbröseln die Catchwords auch regelmäßig wieder. Dann sind die untersuchten Kulturen im Endeffekt irgendwie alle „gemischt“. 0 20 40 60 80 100 120 <?page no="148"?> 114488 6 Kultur erfassen Individualismuswerte ausgewählter Länder nach Hofstede Je höher der Individualismuswert, umso stärker die Autonomie oder ideale Autonomie des Individuums in der Gesellschaft. Individuen in Kulturen mit hohen Individualismuswerten kümmern sich mehr um sich selbst als um die Allgemeinheit, die Familie oder die Gruppe. Die Grafik zeigt eine klare Tendenz. Europäische Staaten - um die geht es ja, und nicht um Kulturen - dominieren bei den Individualismuswerten. Das klingt gut in unseren Ohren. Hingegen haben besonders südamerikanische Staaten hier niedrigere scores. Aber was bedeutetet das? Wenn Sie europäische Werte hoch ansetzen und schätzen, dann könnte es Ihnen inhaltlich ganz egal sein: Hauptsache europäisch. Sollten Sie allerdings exotische Sehnsüchte pflegen, dann wäre Südamerika etwas für Sie. Wie steht es aber mit Familie und Mitmenschen bei uns? Was suggeriert ein solches Bild? Was könnte es bedeuten, wenn der Individualismuswert in Guatemala gegen null geht? Was folgt für Sie, wenn Sie nach Costa Rica kommen? Möchten Sie jetzt in Südamerika leben? Anregung UUS SAA N Neeuusseeeella annd d I Ittaalliieenn S Scch hw we ed deenn D De euuttsscch hllaanndd S Sc ch hwweeiizz S Süüddaaffrriikka a S Sppaanni ie enn I In nddiieenn J Ja appaann I Irraann B Brra assiilli ieenn T Tüürrkke eii U Ur ruug guuaayy G Grri ie ecchheen nlla anndd P Phhiilliip pppiinneenn O Ossttaaffrriikka a M Ma allaayyssiiaa H Ho onngg K Koonngg S Siin nggaap puurr T Th haaiil laanndd S Süüddkko or r eea a P Peer ru u C Co os sttaa RR iicca a P Paakki issttaann K Koolluummb biie en n V Veenneezzu ueel laa G Gu uaatteemmaallaa <?page no="149"?> 114499 Kulturelle Differenzen 6.2 Der Index zeigt den Umfang der traditionell männlichen oder weiblichen Werte in der Gesellschaft. Stärker männlich orientierte Kulturen setzen auf Durchsetzungskraft, weiblich orientierte eher auf sanfte Verfahren - so heißt es. Überlegen Sie: Wie kommt man eigentlich auf die Bezeichnung „masculinity“ oder „Männlichkeit“? Welche kulturspezifische Brille hat man da aufgesetzt? Anregung Männlichkeitswerte ausgewählter Länder nach Hofstede 0 10 20 30 40 50 60 70 0 10 20 30 40 50 60 70 80 90 100 <?page no="150"?> 115500 6 Kultur erfassen Wie sollen sich die Werte im Einzelnen auswirken? Maskulinität zum Beispiel? NNiieeddrige riger We r Wert rt HHoohheer We r Wert rt Geringere Leistungsmotivation Geringer Arbeitsstress Beeinflussung des Privatlebens durch den Beruf nicht toleriert Theorie wird weniger akzeptiert. Weniger Arbeit statt höheres Gehalt Beziehungsorientiert „life-long employment“ bei einem Unternehmen positiv bewertet Kooperation statt Konkurrenz Starke Leistungsmotivation Hoher Arbeitsstress Beeinflussung des Privatlebens durch den Beruf toleriert Theorie wird akzeptiert. Mehr Gehalt statt weniger Arbeit Sachorientiert Aufstiegsmöglichkeiten innerhalb und außerhalb des Unternehmens gesucht Konkurrenz statt Kooperation Die weitere Ausdifferenzierung gibt uns weitere Hinweise und Infos. Und dennoch fragt man sich: Wie kommt diese Spezifizierung zustande? Was heißt: Theorie wird akzeptiert? Was heißt und bedeutet: sachorientiert? Wo würde die Differenzierung letztlich enden? Wie könnte man all dies anwenden? All dies basiert auf Deutung und Interpretation. So sprach man im Zusammenhang der masculinity sogar von einer Prinzipienethik der Männer, die verstandesorientiert sei und auf Nicht- Einmischung beruhe, und einer Fürsorgeethik der Frauen, die, von Gefühlen der Empathie und des Wohlwollens getragen, personensensitiv sei. Solche Differenzen haben vielleicht gar nicht direkt mit Sexus zu tun. Vielleicht ist es nur Ausfluss sozialer Tätigkeit. Obliegt den Männern mehr die Regelung von anonymen Beziehungen im sozialen Großverband und Kriege führen, werden sie masculinity brauchen. Fürsorgeethik ist demgegenüber die moralische Haltung, wie sie im Nahbereich und in Kleingruppen angezeigt ist. Und deshalb in vielen Kulturen historisch je nach Kultur den Frauen zugeordnet? Wenn aber all dies doch mit Sexus zu tun hat, wie und warum wurde es kulturell überformt? All die in diesem Zusammenhang eruierten Merkmale erscheinen relevant für die Beschreibung von Kulturen und man könnte sie immer weiter verfeinern. Für die persönliche Kommunikation bleibt ihr Wert jedoch ungewiss. Vielleicht könnten sie interkulturell kommunizierenden Individuen Kriterien an die Hand geben, mit denen sie in der Praxis ihre eigenen Beobachtungen schärfen können, auf die sie fokussieren können. Auf Deutung kommt es an Grund unter den Füßen <?page no="151"?> 115511 Kulturelle Differenzen 6.2 Kommunikativer orientiert ist die Funktion und Bewertung von Topiks. Was bespricht man wann mit wem? Und vor allem: Was bespricht man nicht? Ergebnisse einer kontrastiven Befragung (Barnlund 1975) Geschmack Topiks 15511 1. Essen 2. Musik 3. Literatur 4. Fernsehen & Kino 5. Partys Fremder Lockere Bekanntschaft FreundIn (ungl. Sexus) FreundIn (gl. Sexus) Vater Mutter USA 1. Essen 2. Musik 3. Literatur 4. Fernsehen & Kino 5. Partys Lockere Bekanntschaft FreundIn (ungl. Sexus) FreundIn (gl. Sexus) Vater Fremder Mutter Japan <?page no="152"?> 115522 6 Kultur erfassen Geld USA Ein Amerikaner fragt seine neue japanische Bekannte, wie viel sie verdient. Wie wird die Japanerin reagieren? Spielen Sie im Geist verschiedene Möglichkeiten durch. 1. Einkommen 2. Schulden 3. Erspartes/ Guthaben 4. Bedarf 5. Budget Lockere Bekanntschaft FreundIn (ungl. Sexus) FreundIn (gl. Sexus) Vater Fremder Mutter 1. Einkommen 2. Schulden 3. Erspartes/ Guthaben 4. Bedarf 5. Budget Lockere Bekanntschaft FreundIn (ungl. Sexus) FreundIn (gl. Sexus) Vater Fremder Mutter Japan Anregung <?page no="153"?> Anregung 1. Handicaps 2. Selbstbeherrschung 3. Sexualleben 4. Schuld/ Scham 5. Stolz Lockere Bekanntschaft FreundIn (ungl. Sexus) FreundIn (gl. Sexus) Vater Fremder Mutter 1. Handicaps 2. Selbstbeherrschung 3. Sexualleben 4. Schuld/ Scham 5. Stolz Lockere Bekanntschaft FreundIn (ungl. Sexus) FreundIn (gl. Sexus) Vater Fremder Mutter Japan USA Was halten Sie von folgender These: Die Verteilung der Topiks ist in Japan und USA im Grunde gleich. Der Unterschied: In Japan wird überhaupt weniger geredet. Persönlichkeit Kulturelle Differenzen 6.2 1 15533 <?page no="154"?> 115544 Japan 1. Schönheit des Gesichts 2. Idealaussehen 3. Körper Adäquanz 4. Krankheit 5. Sexuelle Adäquanz Lockere Bekanntschaft FreundIn (ungl. Sexus) FreundIn (gl. Sexus) Vater Fremder Mutter 1. Schönheit des Gesichts 2. Idealaussehen 3. Körper Adäquanz 4. Krankheit 5. Sexuelle Adäquanz Lockere Bekanntschaft FreundIn (ungl. Sexus) FreundIn (gl. Sexus) Vater Fremder Mutter Sie sind Amerikanerin; Sie kennen diese Grafiken. Sie möchten gern mit Ihrer neuen japanischen Freundin über ihre sexuelle Attraktivität reden. Verkneifen Sie sich das? Oder nicht? Wie wäre kommunikative Symmetrie zu wahren? Anregung USA Körper 6 Kultur erfassen <?page no="155"?> 115555 Kulturelle Differenzen 6.2 1. Religion 2. Kommunismus 3. Integration 4. Sex 5. Gesellschaft Lockere Bekanntschaft FreundIn (ungl. Sexus) FreundIn (gl. Sexus) Vater Fremder Mutter r 1. Religion 2. Kommunismus 3. Integration 4. Sex 5. Gesellschaft Lockere Bekanntschaft FreundIn (ungl. Sexus) FreundIn (gl. Sexus) Vater Fremder Mutter Alle Grafiken scheinen zu zeigen, dass Japaner weniger reden. Hängt das mit der Erhebungsmethode zusammen? Oder kann man sich vorstellen, dass eine Gesellschaft einfach mit weniger auskommt? Effektive kommuniziert? Anregung Japan USA Ansichten und Meinungen <?page no="156"?> 115566 6 Kultur erfassen Die vorgestellten Aspekte, Kontraste und Dimensionen werden sozusagen als Basiswissen der Interkulturellen Kommunikation angesehen. Sie erscheinen eher wie kulturwissenschaftliche Beschreibungen von außen in einer scheinobjektiven Beschreibungssprache. Die empirische Basis wird nicht sichtbar, bestenfalls über Befragungen, was Individuen hierzu äußern. Es bleibt immer der Blick von oben oder von außen. Eine echte Empirie müsste hingegen ausgehen von tatsächlichen interkulturellen Interaktionen, müsste sie dokumentieren, akribisch deuten und analysieren. Die einzelnen Akteure sind immer der methodische Ausgangspunkt. Von der Mikroebene zur Makroebene geht der Weg. Nur auf diesem Weg könnte man Schritt für Schritt zu haltbaren Verallgemeinerungen kommen. In welcher Sprache die zu formulieren wären ist noch eine andere Frage. Und eine noch andere Frage ist, wie dieses Wissen dann in der Kommunikation eingreifen sollte. Wenn ein fleißiger Adept sich all dies angeeignet hätte, würde er persönlich besser kommunizieren? Könnte er in der aktuellen Kommunikation so schnell sein Wissen verrechnen? Wäre das nicht ein bisschen so wie Fahrrad fahren lernen durch Lektüre? Eine didaktische Nutzung all dieser Merkmale bietet das Konzept synthetischer Kulturen (Pedersen 2007: 135). Hier geht es darum, in didaktischen Simulationen Erfahrungen zu sammeln, wie Teilhaber verschieden konstruierter Kulturen miteinander interagieren könnten. Einzelne Teams werden dazu Hofstedeschen Dimensionen zugeordnet, etwa Geringe Machtdistanz Hohe Maskulinität Hoch individualistisch Hohe Kontextualität Die Teams verhandeln Problemstellungen unterschiedlicher Art, sei es eine wirtschaftliche Transaktion, ein soziales Problem beim gemeinsamen Wohnen, ein Gemeindeentwicklungsproblem usw. Eine Reflexion beschließt die Übung: Konnten Sie die Rolle Ihrer synthetischen Kultur angemessen spielen? Sind Sie zu einer Einigung gekommen? Wie sah die Einigung aus? Haben Sie Aspekte Ihrer synthetischen Kultur real auch bei Ihnen entdeckt? Konnten Sie Gemeinsamkeiten über die Grenzen der synthetischen Kulturen finden? Skepsis Synthetische Kulturen <?page no="157"?> 115577 Kulturelle Differenzen 6.2 Wie könnte man so leicht vergleichen, wenn die Lebensansichten so verschieden sind? Der Sinn des Lebens Kulturelle Unterschiede können tiefer gehen, wie die abschließende Grafik lehrt. Sie zeigt die Ergebnisse einer vergleichenden Befragung: US-Amerikaner und Südkoreaner wurden danach befragt, was für sie der Sinn des Lebens sei, wie wichtig die einzelnen Aspekte für ihr Leben seien. Die Grafik zeigt den Stellenwert, der den Bereichen zugesprochen wurde. (Daten nach Szalay/ Deese 1978; leere Werte bedeuten, dass dies nicht genannt wurde). Im nächsten Schritt ergab sich dann noch, dass natürlich Koreaner zu Liebe auch ganz Anderes assoziieren als US-Amerikaner. Kommensurabel? 1 Liebe - Wirtschaft 1 2 Freundschaft 14 - Religion 2 3 Sex - 4 Familie 3 - Beruf 4 5 Erziehung 6 19 Gesundheit 5 6 Musik - 7 Arbeit 12 16 Heimat 7 8 Heirat 21 - Freund 8 9 Leute - - Lebensweise 9 10 Schule - - Kinder 10 11 Krieg 26 - Sozialer Kontakt 1 12 - 1 2 14 - 2 3 - 4 3 - 4 5 6 19 5 6 - 7 12 16 7 8 21 - 8 9 - - 9 10 - - 10 11 26 - 11 <?page no="158"?> 115588 6 Kultur erfassen Diese Ratschläge sind nicht auf bestimmte Wesenszüge von Kulturen ausgelegt. Sie zielen auf das kommunizierende Individuum: Sprich offen mit Fremden und Einheimischen. Schau, dass du deine Gesprächspartner verstehen lernst. Sei bescheiden. Spiel dich nicht auf. Urteile nicht vorschnell über Personen. Sei vorsichtig, wenn du Motive und Gefühle unterstellst. Sei klar im Verhandeln, aber sanft zur Person. Verallgemeinere nicht vorschnell. Sei unvoreingenommen gegenüber Werten anderer Kulturen. Rede nicht abfällig über die Anderen. All das bleibt luftig. Die Fähigkeiten müsste man sich aneignen und trainieren. Eine gewaltige Aufgabe interkultureller Didaktik. Eine ständige Gefahr in interkultureller Kommunikation ist: zu viel dem Kulturunterschied zuschreiben. Immer ist fraglich: Was gehört individuell zu der Person? Was ist eher ihrem kulturellen background zuzuschreiben? Und schließlich mag es auch um harte, eher universelle Unterschiede gehen. Da kann Kulturalismus leicht in die Irre führen. Vieles, was als interkulturelle Differenz gesehen wird, mag nämlich anders basiert sein. So berichten etwa deutsche Entwicklungshelfer aus Afrika, dass es ihnen kaum gelang, nicht ständig als Weißer und damit als Reicher gesehen zu werden. Und tatsächlich leben selbst Entwicklungshelfer dort privilegiert. Ihre Motive konnten die Einheimischen nicht sehen oder verstehen. Kulturelle Unterschiede mögen solchen harten Fakten gegenüber sekundär sein. All den vorgeführten Versuchen gegenüber sollte man stets im Sinn halten: Kultur ist nichts Abgeschlossenes. Sie ist historisch entstanden und ändert sich dauernd, ein dynamischer Prozess. Selbst die Manifestationen ändern sich, da sie anders gedeutet werden. Kultur ist flexibel. Wir sind nicht vernagelt. Wir sind es gewohnt, uns ständig auf neue, einmalige Situationen einzustellen. Kultur ist komplex. Handlungsweisen und Handlungen von Abermillionen Menschen in wenigen Worten und Wörtern zu beschreiben, erscheint hybrid. Welche Aspekte der Komplexität werden dabei geopfert? Kultur ist nichts Homogenes. Wir wissen schon, dass in unserer eigenen Kultur nicht alle gleichgeschaltet sind. Wir wissen, dass unterschiedliche Gruppierungen unterschiedliche Gewohnheiten, Ansichten und Werte haben. Oft sogar, welche. Allgemeiner Fazit Kulturalismus <?page no="159"?> 115599 Interkulturell im Inland 6.3 Hyperdiversität Kulturen sind nicht homogen. Doch das ist nicht alles. Wie immer man Kulturen benennt oder bestimmt, es gibt auf der Welt schon lange Regionen, in denen diverse Kulturen nebeneinander existieren. Reinkulturelle oder homogene Länder dürften kaum zu finden sein. Manche mögen seit Menschengedenken multikulturell sein, andere durch koloniale Eroberung, andere durch Migration. Das Schlagwort „Migrationshintergrund“ trifft nicht alles. Durch die Globalisierung findet sich in Großstädten weltweit eine Hyperdiversität. Betroffen davon sind auch die Indigenen. Wenn man in Google Trends checkt, wo am häufigsten „discrimination“ aufgerufen wird, dann sind Sydney und Melbourne ganz vorn. Sind das die Welthaupstädte der Diskriminierung? Das hat wohl gute Gründe. Einer vielleicht: In Australien - wie in anderen kolonisierten Gegenden der Welt - wurde den Indigenen von den Eroberern übel mitgespielt. Das scheint bis heute nicht ausgestanden. Die dominante europäide Kultur dominiert bis in die sozialen Details. Eades (2007) berichtet vom Fall der Aboriginee Robyn Kina, die 1988 ohne klare Beweise oder Indizien wegen Mordes zu lebenslang verurteilt wurde. Sie habe in Brisbane ihren Mann erstochen. Ob es dabei um Notwehr ging oder Mord, wurde nicht nachgewiesen. Die Wiederaufnahme brachte Folgendes ans Licht: Kinas Verteidiger kannten nicht die Art und Weise, wie Aborigines Englisch sprechen. Sie verstanden nicht, dass auf Fragen eine Pause folgt, bis geantwortet wird. Sie hielten die Angeklagte für verstockt und fanden keine Mittel der Verteidigung. Kina berichtet, die Verteidiger hätten sie gar nicht antworten lassen. Ein klassisches interkulturelles Missverständnis, besonders tragisch, weil die eigenen Verteidiger zur Verurteilung beitrugen. In einem anderen Fall wurden Aborigenes-Jugendliche vom Staatsanwalt vorgeführt, in einem harten Kreuzverhör angelsächsischer Art, mit Fangfragen, Unterstellungen, Unterbrechungen, schwer verständlichen doppelten Negationen, eben alles, womit schon anglophone Jugendliche schwer zurecht gekommen wären. Ankläger: Und du wusstest, dass du den Polizisten nicht hättest folgen müssen, nicht wahr? Jugendlicher: Nein. Ankläger: Du wusstest das nicht? Bitte lüge nicht. Etwa nicht? Etwa nicht? Jugendlicher: Ja. 6.3 Interkulturell im Inland Zwei Fälle <?page no="160"?> 116600 6 Kultur erfassen Wenn von Interkultureller Kommunikation gehandelt wird, sieht es meist so aus, als gehe es darum, dass irgendein Mensch, meist ein Deutscher, in ein fremdes Land, in eine fremde Kultur komme und mit den dortigen Menschen kommuniziert. Aber so weit muss man nicht gehen: Es gibt genug Interkultur im Inland bei uns, nicht nur, dass italienische Restaurants von Kroaten, Libanesen oder Türken betrieben werden. Hyperdiversität bringt allgemein wie in Deutschland Probleme, aber auch schönes Neues. Durch derart Zusammenleben entstehen neue sprachliche Varietäten. Kein Pidgin oder Tarzanisch, sondern sozial etablierter, geregelter Sprachgebrauch. In der Öffentlichkeit ist hier von Türkendeutsch (mit ethnisierendem label), von Kanaksprach, von Kiezdeutsch die Rede. Es geht dabei um Erscheinungen wie: sch-Laut für ich-Laut: Isch liebe disch. Präpositionslose Konstruktionen: Gehst du ALDI? Artikellose Nominalphrasen: Isch hab voll Schock. Wortstellung: Dann isch geh Kino. Isch mach dich N: Isch mach disch Messer. Akzent, Stakkato sprechen Als Konglomerat von Vorbildern und Ursachen werden angeführt: Umgehung grammatischer Hauptschwierigkeiten Interferenz artikelloser, präpositionsloser Herkunftssprachen Vereinfachte, natürliche Erwerbsfolgen Sprechsprachliche Vereinfachungen und Verschleifungen Reduktion von Funktionswörtern und grammatischen Morphemen Die variable Varietät hat sich aber hiervon gelöst und wird zum Beispiel auch von genuin deutschen Jugendlichen gesprochen (oder imitiert? ). In der Linguistik besteht noch eine gewisse Unsicherheit, wie solche Varietäten zu benennen sind. Ähnliches gilt für Versuche, Unterschiede zu begründen zwischen Code mixing, Code Crossing und Code Switching. Aber präzise Beschreibungen sind notorisch schwierig wie bei gesprochener Sprache allgemein. Ein Beispiel für Code Switching, bei dem zwischen Sprachen gesprungen wird, liefern die Mannheimer Power Girls, deren Sprachgebrauch in einem Projekt des Instituts für Deutsche Sprache untersucht und dokumentiert wurde. Code Switching kann wie im folgenden Beispiel mitten im Satz vorkommen, aber auch gegliedert nach Sätzen wie über ganze längere Passagen. Wesentlicher Anlass und Auslöser scheint öfter das jeweilige Topik. Cindark (2013) hat weitere break points ermittelt: Markierung der textuellen Binnenstruktur (neue Textsorte, neue Sequenz in der Argumentation, side sequence) Konsenshervorhebung Neue Varietät Code Switching <?page no="161"?> 116611 Interkulturell im Inland 6.3 Hyperdiversität hat weitere Folgen. Inhomogen oder hybrid wird auch als Mangel empfunden. Darum muss man sich in der hyperdiversen Gesellschaft Identität schaffen, die eine oder die andere, auch synthetische - nicht nur von außen zuschreiben lassen. Darum gibt es nicht nur die Turkish Power Girls, sondern auch die Boys dazu. Auch modische Stilisierungen gehören dazu, sogar deutsche Jungen als Kartoffeln zu bezeichnen, weil sie so uncool tanzen. Spektakuläre Folge ist Diskriminierung. Sie wird wie Stereotypen an Merkmalen festgemacht. Geschlecht, Rasse, Hautfarbe, Sprache, Religion, Herkunft, jetzt auch noch Alter. Das sind die Ankerpunkte für das staatliche Diskriminierungsverbot. Der Grund der Diskriminierung ist aber nicht die Rasse, sondern Rassismus, ist nicht Judentum, sondern Antisemitismus, ist nicht der Sexus, sondern Vorurteile gegen Frauen. Damit wird auch zurechtgerückt, dass es nicht um Eigenschaften der Opfer geht, sondern um die Diskriminierer und ihre follower. Es ist schon schwer von Staats wegen für die Vermeidung zu sorgen, im Persönlichen ist das aber unmöglich. Wie es da vor sich geht, kann hier in der Kürze nicht gezeigt werden. Es gibt aber genug, was wir als Diskriminierung ansehen und erleben. şimdik bizim okulda şimdik treppeler var yani jetzt in unserer schule sind doch so treppen ben şimdi ikinci kattayım EMEL de ich bin jetzt im zweiten stock und aşağıdaki katta bana bahıyo b yle tamam mı emel ist im unteren stockwerk und schaut mich so an okay dur dur bekle bekle halt halt warte warte ondan son oras çok bu sefer und die hat so diesmal ist das mehr doppelte oberteile angehabt tamam m böyle okay so durchsichtig biraz üstdekini kald rd böyle içini ein bisschen das obere hat sie so hochgehoben gösterdi bana (... ...) so aus scheiß böyle hat sie hat mir das darunter gezeigt yapt ben e"h sen öyle mi ben de so gemacht ich habe ich aha ist das alles tittelerimi açt m böyle kimse yoh yani auch meine titten geöffnet (Aus: Kallmeyer, W./ Keim, I./ Aslan, S./ Cindark, I. 2002) ö ı ı ı ı ı ı <?page no="162"?> 116622 6 Kultur erfassen Bei Migranten kann das ambivalente Duzen als Diskriminierung empfunden werden. Einerseits die Nähe des Du, andererseits kann es als Art von Respektlosigkeit gesehen werden. Kommunikativ interessant und überraschend ist in diesem Zusammenhang die positive Diskriminierung, die nicht als solche gedacht ist, sondern als gutmenschlich daherkommt. Den Betroffenen geht es auf die Nerven, wenn sie bei jeder Gelegenheit gefragt werden, wie sie von ihrem Vater behandelt wird, wie er es mit der Beschneidung hält, wo man Hilfe bei Migrantenproblemen bekommt. Für sie alles Scheiße in Geschenkpapier. Dagegen hilft kein Gesetz. Als Selbststilisierung kann auch das Kopftuch genommen werden und es wird vielleicht auch manchmal so verwendet. So wurde es zum Symbol der Andersartigkeit, an dem sich manche Diskussion entzündete, aber auch zur Marginalisierung als modisches Accessoire (Kühn 2008). Dass es in hyperdiversen Gesellschaften immer wieder zu clashes kommt, verwundert nicht. Der Wiener Künstler Olaf Metzel schuf die Statue „Turkish Delight“. Nach unserem Kunstverständnis ein hybrides Werk (schon der Titel schillert zwischen „Vergnügen“ und süßem Honig), das Diversität zeigte und Anlass zur Diskussion bot. So hieß es in einer ersten Deutung: Die Skulptur zeigt an einem Körper den Widerspruch von Nacktheit und Verschleierung. Die Arroganz des Okzidents, den Widerstand des Morgenlandes, so zu sein wie das Abendland. Das sagt der professionelle Kunstbetrachter. Mir würde dazu noch mehr einfallen. Als die Statue öffentlich in Wien ausgestellt wurde, sah sie alsbald aus wie in der Marginalie. Hier sind wir schnell bei der Hand, einen interkulturellen clash zu sehen. Und so wurde es auch in der Öffentlichkeit gesehen (und vom Künstler als Vorführung beabsichtigt? ). Aber es könnte auch einfach um Kunstbanausen, um Kunsthass, um Vandalismus gehen. Auch hier sollten wir fragen, ob wir das nicht voreilig an kulturellen Merkmalen festmachen, kulturalistisch und stereotypisch deuten. Sonst wäre es vielleicht - nur? - asozial, ungebildet oder rüde. Clashes Diskriminierung <?page no="163"?> 116633 Interkulturell im Inland 6.3 Im Alltag treten Kommunikationsprobleme in mehr oder weniger öffentlichen Bereichen auf. Beispiele für Gerichtsverhandlungen hatten wir aus Australien. In Deutschland kann man sie auch finden, desgleichen in der Kommunikation mit Behörden. Ein anderer recht gut untersuchter Bereich ist die Arzt-Patienten- Kommunikation. Hier sind oft Mittler notwendig. Der Mittler (öfter auch Sprachmakler genannt) ist kein reiner Übersetzer - so es den denn gibt. Er ist auch kein Mediator, der die Parteien irgendwie zu einer Einigung bringen möchte. Erstens geht es nicht um Konfliktfälle und zweitens spielt der Mittler so etwas wie den Knecht beider Partner: Er möchte dafür sorgen, dass beide sich besser, auch tiefer verstehen. Alles Andere bleibt bei den Partnern. Zu diesem tiefen Verständnis gehört das Sprachliche in seiner ganzen Tiefe, also mit den kulturellen Ingredienzien. Einige der Kriterien, die für aufgeklärte Übersetzer reklamiert werden (Spencer-Oatey/ Xing 2007), dürften auch für Mittler gelten: Ein Mittler ist eigentlich Unperson in der Kommunikation. Beachtet Verbales und Non-Verbales, bezieht auch Paraverbales ein. Versucht, das sprachliche Register zu wahren. Lässt nichts Gesagtes aus, auch Tabu-Ausdrücke und Obszönes. Korrigiert stillschweigend Fehler und Versehen (eine heikle Angelegenheit). Greift zur Not zu Erklärungen und Kommentaren. Insgesamt muss ein Mittler sensibel dafür sein, dass er letztlich das Verständnis der Adressaten nicht bestimmen kann und dass seine transferierenden Äußerungen wie alles Gesagte dem Verstehensrisiko unterliegen. Mittler sind auch in didaktischen Kontexten erwünscht. Sie können eine Hilfe für interkulturelle Lernergruppen sein, indem sie Gruppenprobleme erkennen und thematisieren, vielleicht auch lösen, gegenseitige Wahrnehmung eruieren und erklären, Beziehungen verbessern. Das wäre erst einmal als Ideal, vielleicht als Forderung zu sehen. Offenbar gibt es bisher wenig oder keine solcher Mittler und erst recht keine Ausbildung. Oft wird die Aufgabe auf natürliche Weise gelöst: Sprachkundiges Personal springt ein oder Verwandte. Zum Beispiel die Tochter, wie in der folgenden Aufzeichnung aus einer Zulassungsarbeit von Aida Hadzibegovic. Mittler <?page no="164"?> 116644 6 Kultur erfassen So erkennen wir im Beispiel, dass die Beteiligten, insbesondere die Mittlerin kein stringentes Konzept für ihre Rolle verfolgt: Arzt und Mittlerin bleiben nicht on time: Früher bekannte Tatsachen werden erwähnt, spätere Aufgaben werden angeleitet. Arzt und Mittlerin gehen aus der Übersetzung und dem Dialog in den Berichtsmodus. Der Patient kommt am wenigsten zu Wort. Das muss nicht kritisch sein, bleibt aber zu diskutieren . Arzt: Wie geht‘s heute Morgen? Mittler: Kako si danas? Wie bist du heute beieinander? Patient: Dobro je. Es ist gut. Arzt: Beschwerden, Schmerzen irgendwie? Mittler: Nein… Arzt: Wie geht‘s mit dem Laufen? Mittler: (unterbricht den Arzt) Er ist sicher auf den Beinen. Er hat Probleme rückwärts zu laufen, aber es geht viel, viel besser wirklich … Arzt: Em, das heißt Laufen, ganz normales Laufen geht jetzt? Mittler: Pogotovo kada ideš… Besonders wenn du läufst… (Patient nickt während des Zuhörens zustimmend) Arzt: O.K. Ich hab gesehen heute diesen Einbeinstand, wenn er nur auf einem Bein stehen muss, da hat er noch Probleme? Mittler: Imaš kad staneš na jednu nogu. Onu držiš sa strane. Das hast du, wenn du auf einem Bein stehst, den anderen abseits hältst. Patient: Da. Imam. Ja. Hab ich. Arzt: Merkt er selber Fortschritte? Mittler: Da li sam primječuješ da ti… Merkst du selber, dass du… Arzt: Und mit den Zuckungen von den Beinen? Mittler: I to što ti se trese noga? Und das mit dem Zucken des Beins? Patient: Jest. Ist es. Arzt: Es ist besser. Es wird weniger? Mittler: Hm. Puno manje? Viel weniger? <?page no="165"?> 116655 ... in their own terms Michael Agar 7 Kultur in Sprache Heiße Momente sind in der Interkulturellen Kommunikation an der Tagesordnung. Sei es, dass man sie bemerkt oder dass sie unbemerkt an einem vorübergehen. Sei es, dass sie mehr als sprachliches Problem wahrgenommen werden oder eher am Verhalten festgemacht. Heiße Momente sind so zahlreich, heiße Stellen so verbreitet, dass man sie nicht auf Vorrat bewältigen kann. Man kann sich nur sensibilisieren und methodisch darauf vorbereiten. Denn zuerst gilt es einmal sie zu erkennen, zu realisieren, dass ein Kommunikationsproblem vorliegt oder vorliegen könnte. <?page no="166"?> 116666 7 Kultur in Sprache 7.1 Was sind Hotspots? Michael Agar hat das Konzept der Rich Points entwickelt. Rich Points sind Stellen, an denen in der Kommunikation häufiger Probleme auftreten, „rich, with the connotations of tasty, thick, and wealthy all intended“ (Agar 1994: 100). Rich Points fallen uns besonders auf in interkultureller Kommunikation. Wenn man mit Menschen in Kontakt tritt, die einen anderen sprachlichen und kulturellen common ground haben als man selbst, wenn sozusagen zwei Kulturen aufeinander treffen und dieser Unterschied im Kontakt spürbar wird, werden Rich Points häufig sein. Sie sind aber nicht an interkulturelle Kommunikation gebunden. Sobald in einem Gespräch eine Schwierigkeit auftaucht, kann es sich um einen Rich Point handeln; sei es zwischen Mann und Frau, sei es zwischen Professorin und Studentin usw. Es mag sich um individuelles Verhalten handeln oder um irgendwelche kulturellen Muster. Das gilt es in der Regel erst herauszufinden. Es gibt Rich Points innerhalb einer Kultur, weil sie etwas Typisches enthalten, es gibt sie kontrastiv im Vergleich zweier Kulturen. Rich Points sind reich, weil sie Einsichten in Kulturen verschaffen, weil sie uns eigene Erwartungen überprüfen lehren, weil man sie kommunikativ berücksichtigen und bearbeiten kann. Beispiele für Rich Points sind etwa die Wahl des Du oder Sie im Deutschen, die für Ausländer schwer zu durchschauen ist, noch schwieriger dann, auf der Du-Sie-Klaviatur zu spielen. Oder das amerikanische date. Date ist eines jener Wörter, die man in wenigen Worten nicht erklären kann. Bei dem Versuch, das Wort einer Österreicherin zu erklären, verlor Agar sich in Ausführungen über die amerikanische Sichtweise von Männern und Frauen, ihre Beziehung zueinander. Ein weiteres Beispiel für einen Rich Point ist der österreichische oder besser Wienerische Schmäh. Agar stieß während seines Aufenthalts in Wien schon recht bald auf das Wort. Er hörte es in Gesprächen, im Fernsehen, las es in Zeitungen. Dadurch war sein Interesse geweckt. Er suchte in verschiedenen Wörterbüchern und Reiseführern nach Erklärungen. Aber auch nach diesen Recherchen hatte er keine genaue Vorstellung davon, was die Bedeutung von Schmäh ist. Er fasste den Plan, in einem Kurs am Linguistischen Institut diesen Rich Point zu behandeln. Zuvor aber besprach er das Vorhaben mit österreichischen Freunden und bat sie, Schmäh zu definieren. Da passierte etwas für einen Rich Point Typisches: Die Gefragten fingen an zu diskutieren und verstrickten sich in Meinungsverschiedenheiten. Sie konnten sich nicht einigen, was Schmäh bedeutet (Agar 1994: 101). Rich Points Schmäh <?page no="167"?> 116677 Was sind Hotspots? 7.1 Charakteristisch für Rich Points: Die Schwierigkeiten treten nicht nur im Kontakt mit anderen Kulturen auf, sondern auch in unterschiedlichen Meinungen, Erklärungen und Definitionen der Muttersprachler. Gerade das ist ein Indiz dafür, dass Rich Points reich an Kultur sind, viele verschiedene Komponenten enthalten und so unterschiedlich gesehen werden. Agar erprobte im Seminar mit den Studenten drei Verfahren, die als Elaboration eines Rich Points zu nutzen sind. Typisch Rich Point • A systematic interview in the tradition of cognitive anthropology around the concept of Schmäh. Such interviews take some similarities, like a taxonomy or the sentence diagrams [...], place the concept in the center of them, and then pose questions that represent relationships and place the answers to those questions in the appropriate slots. • An informal interview about Schmäh. Such interviews allow native speakers to discuss the concept in whatever way they choose. Methods of discourse analysis can be applied to such data to make explicit the underlying folk theory that contains the concept. • A collection of anecdotes of Schmäh use encountered in everyday life. The notes that result are like the field notes traditionally collected in participant observation. (Agar 1994: 101) Die wichtigsten Erkenntnisse zog Agar aus den informellen Interviews. Schmäh ist zuerst einmal eine allgemeine Haltung. Schmäh bezeichnet eine bestimmte Art, die Dinge zu sehen: Eine Lebensweise, die auf Ironie basiert, alles nicht so ernst nimmt. Einige Studenten gaben an, Schmäh sei eine gewisse Art, mit der Realität umzugehen, sie durch Humor leichter erträglich zu machen. Also eine Art von schwarzem Humor. Schwarzer Humor ist allerdings keine Beschreibung einer Lebenshaltung, Schmäh dagegen sehr wohl. Schmäh kann in einer bestimmten Situation ein humorvoller Kommentar sein, der allerdings thematisch an die Situation gebunden ist. Auf keinen Fall bedeutet Schmäh aber Witze erzählen. Viele betonten, dass nicht jeder Schmäh machen oder haben kann, denn dies sei eine Sache der Intelligenz und des Esprits. Schließlich konnten sich die Interviewten nicht einigen, ob Schmäh bösartig oder eher gut gemeint ist. Schmäh kann eine Lüge oder eine List sein, um sich persönliche Vorteile zu sichern. Was ist nun Schmäh? Als man Marie Antoinette davon berichtete, dass in der Revolution die hungernden Frauen nach Versailles zogen, soll sie gesagt haben: Wenn sie kein Brot haben, sollen sie doch Brioches essen. Das war verunglimpfend gegen die Kaiserin aus Österreich gedacht. Aber vielleicht war es Schmäh. <?page no="168"?> 116688 Amerikaner, die geschäftlich nach Mexiko reisen, stellen oft fest, dass da alles langsamer vor sich geht. Ein mexikanischer Freund machte Witze darüber, wie ein Amerikaner behandelt wurde, der nach Mexiko kam, um an einem Tag mehrere Termine abzuarbeiten und dabei Geschäftsabschlüsse erreichen wollte. Der Mexikaner rief „olé“ und machte die typische Torero-Bewegung. Etwas später traf Agar einen mexikanischen Anwalt, der auf dem Weg zu einem Meeting bemerkte, sie würden ein wenig capotear. Agar verstand das Wort nicht, woraufhin der Mexikaner auch diese Bewegung machte und erklärte: „Capotear [...] was what the toreadors and the matador did with the bull, waved the cape and controlled his charge and watched carefully how he behaved“ (Agar 1994: 127). Der Stierkampf als Metapher für Kontrolle, für das Umgehen mit Aggression und Direktheit. Genauso sollte in der Verhandlung verfahren werden. Schmäh ist für Agar ein Rich Point schlechthin. In ihm sind in Kultur und Geschichte tief verankerte Komponenten in einem einzigen Wort zusammengefasst. „Rich points signal where the languacultural action is“ (Agar 1994: 106). Arg schwer aufzuspüren sind sie nicht: Ein Rich Point ist wie ein Stolperstein, man fällt über ihn. Man hat einen gefunden, wenn Verstehens- und Kommunikationsprobleme auftauchen, die mangelnde Kenntnis kultureller Hintergründe offenlegen. Wie kann ich aber einen Rich Point tiefer fassen und verstehen? Wenn Sie einen Rich Point vermuten, eruieren Sie Unterschiede zur eigenen Kultur, unterschiedliche kulturelle Identitäten. Suchen Sie Verbindungen zwischen dem Rich Point und den Weltansichten, der Politik, Geschichte usw. herzustellen. Verbinden Sie die Einzelteile, könnte Sie das auf ein Kulturmuster und zu tieferem Verstehen führen. Stierkampf als Metapher Suchverfahren Michael Agar *1939 Anthropologe und Linguist Vehementer Verfechter der verstehenden Feldarbeit. Arbeitete mit Drogenabhängigen und tauchte in die Welt der Trucker ein. Meister detaillierter Beobachtung und der Zusammenschau von Sprache und Kultur. Lesenswert: Language Shock,1994 Schmäh is a view of the world that rests on the basic ironic premise that things aren’t what they seem, what they are is much worse, and all you can do is laugh it off. (Agar 1994: 104) 7 Kultur in Sprache <?page no="169"?> 116699 Was sind Hotspots? 7.1 Das Konzept der Rich Points wollen wir hier etwas deformieren, indem wir es generalisieren. Aus didaktischen Gründen möchten wir genereller heiße Stellen in der interkulturellen Kommunikation ermitteln und vorführen. Wir bezeichnen sie als Hotspots. Üblicherweise werden solche Hotspots aus Erfahrungen gewonnen und auf Vorrat beschrieben. Für den Verlauf von Gesprächen und sozialen Kontakt haben wir Einiges aus der Literatur zusammengestellt. Sie sollten es reflektiert genießen. Hotspots Begrüßen wird sprachlich, gestisch und körperlich ausgeführt. Der sprachliche Anteil wird in jeder Sprache anders lauten. Aber es ist oft auch ein anderer Sinn damit verbunden. In der Türkei grüßt man beim Betreten eines Geschäfts vielleicht mit einer Art Wunsch „hayirli isler“ „Gesunde Geschäfte“ oder beim Frisör mit „Gute Gesundheit“. In Paraguay wird bei der ersten Begegnung häufig das Grußwort „mucho gusto“ benutzt. Gesprächsbereitschaft wird im Chinesischen durch die Antwort auf die Frage „chi guo-le ma? “ („Haben Sie schon gegessen? “) bekundet. Die Antwort mit „Nein“ kann zum Abbruch des Gesprächs führen. Bekannt ist, dass das amerikanische „How do you do? “ keine direkte Antwort, sondern einen Echo-Feedback nach sich zieht. Ähnlich französisch „ça va? “ oder spanisch „Qué tal“. Am Telefon gibt es überall verschiedene Gewohnheiten. Bei uns mag es noch manchen verwirren, wenn der Angerufene am Telefon nicht seinen Namen nennt, nur „ja“ sagt. Franzosen melden sich aber mit „oui“, Italiener mit „pronto“, Spanier mit „digame“. Das kann zu anderen Fortsetzungen führen. Der körperliche Anteil kann sehr variieren. Die Hände sind aber oft wichtig. Besonders sensibel sind Händedrücke: • Gibt man die Hand oder nicht? • Die rechte oder die linke? • Wie fest, wie lange? • Wer beginnt? In Österreich sei ein Händedruck obligatorisch - sagt man - und Tschechen täten dies respektvoll - was immer das heißt. In anderen Ländern tut man dies eher nicht. Im Iran und in anderen islamischen Kulturen schüttelt Mann einer Frau nie die Hand. Malaiisch streckt der Mann beide Hände aus, streift die Partnerhände mit einer leichten Berührung und führt seine Hände dann an die eigene Brust. Das heißt: „Ich grüße dich von Herzen.“ Auf den Philippinen begrüßen sich Männer schon mal mit einem kräftigen Schlag auf den Rücken. Knüpfen eines Kontakts Begrüßen verbal Begrüßen körperlich <?page no="170"?> 117700 7 Kultur in Sprache Und weiter: Geht es mit Kopfnicken oder Verneigung? Japaner machen eine Verbeugung. Chinesen schütteln zusätzlich die Hände. Umarmung und Küsschen? Eine südamerikanische Studentin war nicht zu überzeugen, dass die für sie fehlende Umarmung bei der Begrüßung in Deutschland nicht zugleich Ausdruck von Gefühlskälte oder Mangel an Herzlichkeit sei. Einwohner der Fidschi-Inseln begrüßen sich mit einem Lächeln und hochgezogenen Brauen. Auch in anderen Kulturen genügt bei manchen Gelegenheiten minimale Mimik oder Gestik, die Außenstehende vielleicht gar nicht bemerken. Anreden und Namen Die sprachlichen Mittel und Gewohnheiten der Anrede variieren stark und können sensible Punkte sein. Die Anredepronomen, die zur Verfügung stehen, haben meist keine Äquivalente in unterschiedlichen Sprachen und die vordergründig ähnlichen haben einen anderen Gebrauch. Als Hotspot gilt das deutsche du-Sie-Ihr-System. Das mag besonders problematisch für Englischsprachige sein, weil die Sprachen sich sonst so nah sind. Dänen wie Norweger scheinen keinen Wert auf solche Förmlichkeiten zu legen, benutzen meist oder ausschließlich die „du“-Entsprechung. In vielen anderen Kulturen sind die Anredeformen noch wesentlich komplizierter als im Deutschen. Sie bilden eine Quelle interkultureller Missverständnisse. Personennamen sind in verschiedenen Kulturen unterschiedlich gebildet. Iberischer Usus ist: Familienname = Zusammensetzung aus Vater- und Mutternamen. In den spanisch-sprechenden Ländern steht der Vatername an erster Stelle; in Brasilien an zweiter. In Taiwan und jetzt auch in China wird häufig ein christlicher Name vor alle anderen gesetzt, z.B. Rudi Ho Chin. Die Verwendung in der Anrede differiert entsprechend stark. Muss man die Namen der Partner kennen und sie im Gespräch auch öfter mit Namen oder Anrede ansprechen? Kommt ein „Herr“ oder Entsprechendes dazu? Möglicherweise auch „Herr“ + Vorname. Ab wann lässt man das „Herr“ weg? Wie gehen die Leute mit Titeln um? Wird eher der Titel als Anrede benutzt (England: „Sir“, Österreich: „Herr Professor“) oder Titel mit Namen (Österreich: „Frau Magister Mayr“)? Welcher Name wird zur Anrede benutzt? Der Vatername, der Vorname, der Familienname, ein Spitzname (Japan)? Ab wann wird der Vorname verwendet? In Polen und anderswo sind Vornamen guten Freunden vorbehalten. In Finnland und USA geht man schnell zu den Vornamen. <?page no="171"?> 117711 Was sind Hotspots? 7.1 Die Vorstellung von Leuten, die sich nicht kennen, kann sehr verschieden geregelt sein. Vorstellung geht förmlich und zum Beispiel mit dem Austausch von Visitenkarten wie im fernen Osten, besonders in Japan. Für Japaner sei die Visitenkarte ein Medium zur Identifizierung, sie kläre Stellung der Person oder des Unternehmens. „Ohne Visitenkarte existieren Sie für Japaner nicht“, scheint aber doch etwas übertrieben. Mit welcher Hand wird die Visitenkarte überreicht? Mit der rechten Hand oder der linken? Die linke gilt oft als unrein, vielleicht auch die rechte. In Japan mit beiden Händen. Persönliche Fragen sind in Indonesien tabu. Als was führt man jemanden ein? Nur mit Namen, mit Titel oder Beruf? Im arabischen Raum stellt man einander weniger mit Namen vor, als dass man die wechselseitigen Beziehungen klärt: „ein Freund“, „der Bruder meiner Frau“. Vielleicht stellt man sich gar nicht vor. In Korea zum Beispiel sagt man zu einem Fremden: „Ich sehe Sie zum ersten Mal.“ Der Ältere schlägt vor, dass man sich gegenseitig vorstellt. Bei alldem ist immer zu beachten: Geht es um Etikette oder übliches Verhalten? Ist es Norm oder normal? Sich vorstellen Die Frage nach der anderen Person, ihrem Befinden ist ein besonders fehlerträchtiger Punkt (Parzivals Fehltritt, der es in der Befolgung seiner höfischen Erziehungsprinzipien verabsäumte, nach dem Leiden des Königs Anfortas zu fragen). Wonach fragt man gewöhnlich? Nach den familiären Verhältnissen zu fragen ist in England, Skandinavien, China üblich. Allerdings werden nicht alle Fragen wörtlich genommen oder extensiv verhandelt. Wonach fragt man nicht? Persönliche Fragen sind in Indonesien tabu. Nach der Zahl der Kinder, dem Alter, dem Verdienst zu fragen ist in manchen Kulturen tabu. Bei einem Araber fragt man nicht unbedingt nach dem Befinden seiner Frau. Viele Fragen werden als aufdringlich empfunden. Schweizer mögen es nicht, wenn man seine Nase in fremde Angelegenheiten steckt, und Andere auch. Man muss nur wissen, was als fremde Angelegenheit gilt. Persönliche Fragen Anregung Überlegen Sie stets: Wie kann man all diese vielen Informationen nutzen? Kann soll man sie behalten? Und könnte man sie dann ohne Weiteres anwenden? Jemanden vorstellen <?page no="172"?> 117722 7 Kultur in Sprache Einladungen Einladungen sollte man auf ihre Ernsthaftigkeit prüfen können. Handelt es sich nur um eine Art Floskel oder tatsächlich um eine Einladung in unserem Sinn? Ablehnung einer ernst gemeinten Einladung zum Essen kann als Beleidigung erlebt werden. Um welche Art Einladung handelt es sich? Eher offiziell oder mehr privat? Mit oder ohne Essen? Wann kommt man? Wann geht man? Pünktlichkeit heißt in jeder Kultur etwas Anderes. Alles ist durch Koordination geregelt. Probleme gibt es, wenn die Koordination nicht klappt. Wie lange wird es gehen? Sind Mittag- und Abendeinladungen verschieden? Großeinladungen in China haben hierarchische Sitzordnung. Bringt man Geschenke, welche? Und danach? In den USA erwartet man nach einer privaten Einladung im allgemeinen einen kurzen schriftlichen Dank an die Gastgeberin. In Haiti sollten Sie bei einem zweiten Besuch auf jeden Fall ein Geschenk mitbringen. Es muss nicht von großem Wert sein. Einladungen und Geschenke Einerseits gibt es übliche Geschenke. Andererseits sind manche weniger willkommen und viele ganz verpönt. Wichtig: Schenkt man oder nicht? Geschenke sind bei Geschäften mit Japanern obligatorisch. Im Nahen Osten werden Geschenke nicht erwartet. Was schenkt man? In arabischen Ländern ist Alkohol als Geschenk tabu und Schinken natürlich auch. Bei Japanern kommen landestypische Produkte und Whisky an. Welche Blumen sind ok? Vorsicht! Viele haben symbolische Bedeutung. Wann schenkt man? Am Beginn des Besuchs? Am Schluss? Am nächsten Tag? Wer schenkt wem? In arabischen Ländern ist ein Geschenk für die Gastgeberin nicht üblich und nicht erwünscht. In Tansania ist es üblich, dass der Gastgeber dem Gast ein Geschenk überreicht und umgekehrt. Wie und wann überreicht man das Geschenk? Überreicht man das Geschenk mit beiden Händen oder der rechten? In manchen Kulturen überreicht man dem Gastgeber ein Geschenk nie, wenn man mit ihm allein ist. Wann öffnet man die Verpackung? Sofort oder später allein? Geschenke Wenn eine Party pünktlich um 8 Uhr stattfindet, muss man dem Deutschen sagen, genau 8 Uhr; dem Spanier 7.40; dem Argentinier halb 7, aber zum Japaner muss man sagen: 5 nach 8, weil für Japaner richtig pünktlich 5 Minuten davor ist. <?page no="173"?> 117733 Was sind Hotspots? 7.1 Welche Sprache? Ein Hotspot par excellence ist das Sprachproblem. Wird die Muttersprache eines der beiden Partner gesprochen? Meistens wird man versuchen, die Sprache des Gastlands zu sprechen, so weit man sie kann. Da hat man oft Nachteile. Man kann sich persönlich in der Fremdsprache eigentlich nicht realisieren und scheitert bei schwierigen Themen. Wer seine eigene Sprache spricht, sollte die Probleme des Partners berücksichtigen. Manche Partner möchten aber auch gern Ihre Sprache sprechen (und wenn sie das nicht so recht können, wird‘s heikel). Soll man korrigieren? Meistens eher nicht. Aber sanft klären, was gemeint ist? Immer. Sprechen die Partner eine Drittsprache, die keines Muttersprache ist? Häufig dient Englisch als lingua franca. Auch da gibt es Varianten, regionale Dialekte. In Asien ist Englisch die Handelssprache. Vorsicht! Manche Wörter triefen vor Zweideutigkeit: cock (besser rooster), gay, intercourse (transaction). In Südamerika seien Sie vorsichtig mit: „Como està tu madre? “ Ist Ihr Partner sprachgewandt? Viele Afrikaner sind mehrsprachig. Neben ihrer Muttersprache beherrschen sie auch die der ehemaligen Kolonialmacht: Französisch offizielle Sprache der Elfenbeinküste, Umgangssprache im Maghreb; in Kenia, Tansania, Nigeria und Gambia spricht man Englisch und in Südafrika Englisch, Afrikaans und einige andere. Wenn in Verhandlungen eine Partei die für die andere Seite unverständliche Muttersprache spricht, kann das unfair werden. Dass Partner eine Sprache nicht verstehen, kann aber auch zum Vorteil gereichen. Aufrechterhalten eines Kontakts Ich bin Slowakin und ich empfinde mich als höflich und zuvorkommend - manchmal ein bisschen blauäugig. Vor kurzem hatte ich ein schlimmes Erlebnis: Mir ist der Bus vor der Nase weggefahren. Aber ich hatte einen Arzttermin in der nächsten Stadt. Da half meine Monatskarte unseres lokalen Verkehrsverbunds AIDs nichts: Der nächste Bus erst zwei Stunden später. Also versuche ich zum ersten Mal in meinem Leben zu trampen. Schon der erste Laster hält. Zwei Fahrer, die sich in fremder Sprache unterhalten. Mir scheint auf Türkisch. Nach ein paar Kilometern fährt der Wagen plötzlich von der Schnellstraße runter. Ich erschrecke. Und dann geht es in einen Waldweg. Ich bin wie gelähmt. Die beiden Männer fangen an zu streiten. Ich versteh nichts. Aber ich glaube, sie streiten, wer als erster drankommt. In meiner Lähmung kommt mir eine Idee: Ich zücke meine Monatskarte und zeige mit dem Finger auf den fett gedruckten Namen des Verkehrsverbunds. Nun werden die beiden blass. Ich bin gerettet! <?page no="174"?> 117744 7 Kultur in Sprache Gesprächsverlauf und Redeübernahme Der overte Ausdruck der Nicht-Zustimmung gilt in indirekten Kulturen als ungehörig. Deutsche gelten in vielen Kulturen als „hart“, weil sie schnell zur Sache kommen, mit eindeutigem Ja oder Nein antworten, wenig Verbindlichkeitsfloskeln verwenden. Nicht-Zustimmung kann verbal durch die entsprechenden Partikel schon in einer Sprache verschieden stark ausgedrückt werden: „Nein“, „Keinesfalls“, „Unter keinen Umständen“ usw. Die jeweiligen Äquivalente in verschiedenen Sprachen können aber recht unterschiedlich gebraucht werden. Zustimmung und Ablehnung mag durch differierende Gesten ausgedrückt werden. So kann Kopfschütteln „ja“ bedeuten (teilweise im Griechischen, im Bulgarischen). Hochziehen der Augenbrauen kann „Ja“ heißen (Tonga), dazu vielleicht noch eine ruckartige Aufwärtsbewegung des Kopfes. Eine ruckartige Abwärtsbewegung des Kopfes bedeutet „nein“ (Filipinos). Auch symbolische Handlungen sind hier üblich. Im türkischarabischen Sprachraum signalisiert ein über das Teeglas gelegter Löffel, dass man nichts (mehr) trinken möchte; in manchen europäischen Kulturen zeigen gekreuzte Messer und Gabel den Wunsch an, mehr zu essen, parallel gelegtes Besteck, dass man satt ist. In China ist allein das vollständig ausgetrunkene Glas Garantie dafür, dass die drei vor dem Gast stehenden Gläser für süßen Wein, Bier und harten Schnaps nicht ständig nachgefüllt werden. Die entscheidende Frage bleibt: Wird Ablehnung eher direkt oder indirekt zum Ausdruck gebracht. In Japan kann ein Lächeln, ein Nicken, selbst eine ausgesprochene Bejahung ein in Höflichkeit gehülltes „Nein“ sein. Es ist absolut unwahrscheinlich ein direktes „Nein“ zu hören, höchstens ein „Schwer zu sagen ...“ Wie verlaufen Gespräche? Wie beeinflusst man den Verlauf? Mitglieder von reaktiven Kulturen ergreifen selten die Initiative, sie hören lieber zu und machen sich erst ein Bild von Ihrer Meinung, bevor sie darauf reagieren und die eigene Meinung formulieren. Nachdem der Andere ausgeredet hat, verharrt man eine Weile in höflichem Schweigen und zeigt dadurch seinen Respekt. Beliebter Kommunikationsverlauf: Monolog - Pause - Nachdenken - Monolog. Ja und Nein sagen Oft indirekt Ich wusste schon, dass Nicken auch nein heißen kann. In Indien habe ich mich aber mal geirrt. Beim Bargaining nannte man mir den Preis von 3 Rupien. Ich nickte. Sofort wurde mir 2 angezeigt. <?page no="175"?> 117755 Was sind Hotspots? 7.1 Was gilt als Pause und was als transition relevant place? Der Sprecherwechsel kann problematisch sein und dazu führen, dass alle durcheinander reden. Problematisch ist Unterbrechen. Doch was zählt als Unterbrechen? Wann hat man unterbrochen? Empfehlenswert ist vielleicht die Unterbrechung oder den Themenwechsel explizit zu machen: „Entschuldigen Sie, dass ich unterbreche, aber ich habe nicht verstanden.“ Gesprächssteuernde Partikeln wie „mhm“, „ja“, „ah“ usw. wie körpersprachliche Handlungen, Gestik, Mimik, Lächeln usw. sind besonders anfällig für interkulturelles Missverstehen. Wie sind solche Äußerungen zu deuten? Welche Partikeln gibt es in der anderen Sprache? Wie viel solcher Art Äußerung ist üblich? Sie fallen bei Chinesen sehr knapp aus. Europäer übersehen deren parasprachliche Zeichen leicht. Interesse und Anteilnahme des Partners hält die Kommunikation am Laufen. Allerdings gibt es hier erhebliche Unterschiede über die Kulturen. Oft sind die Signale sogar konträr. Aufmerksamkeit kann durch den Blick signalisiert werden. (Vorsicht! In die Augen sehen kann heikel sein.) Umgekehrt: Japaner schließen oft die Augen, wenn sie sich auf ein Gespräch konzentrieren. Jemanden freundlich anzulächeln scheint eher universal. Wichtig aber: Welche Arten des Lächelns sind zu unterscheiden, wie wird bei welcher Gelegenheit Lächeln gedeutet? In asiatischen Ländern gibt es häufig ein Verlegenheitslächeln, das als ablehnende Antwort auf Fragen etwa genügt. Aufmerksamkeit und Anteilnahme zeigt sich in der Gesprächsbeteiligung. Schnelle Reaktionen, Reinreden (Spanien), humorvolle Nebenbemerkungen (USA, England) können willkommen sein oder verpönt. Nachfragen zeigt Interesse. Verständnisschwierigkeiten können ohne Weiteres durch Wiederholung thematisiert werden. Iraner reden gern selbst, hören aber aufmerksam zu, wenn sie glauben, dass der Gesprächspartner etwas Neues und Interessantes zu erzählen hat. (Ist das bemerkenswert? ) Stilles Zuhören gilt als höflich (Polen). Kanadier sind höfliche Zuhörer, unterbrechen Präsentationen nur selten. Österreicher erscheinen als höfliche und liebenswürdige Zuhörer, sind jedoch auch bestrebt, selbst zu reden. Sie fassen schon mal das Gehörte mit einem „Ja“ zusammen, um dann mit einem „Aber“ mit ihrer eigenen Geschichte fortzufahren. All dies mag aber von Person zu Person variieren. Und irgendwie klingt es oft trivial. TRPs Zuhören Reaktionen Zuhörgewohnheiten <?page no="176"?> 117766 7 Kultur in Sprache Man kann doch über alles reden. Das ist nicht nur interkulturell eine dumme Ansicht. Worüber kann man mit wem ohne Weiteres reden? Ist ein Thema absolut tabu? Tabuthemen sind oft Geld, Alkohol, Sex, Körperliches überhaupt (die Toilette), aktuelle Politik und Landesgeschichte, Hetero- und Autostereotype und vieles Andere. Hier entstehen wohl auch die meisten interkulturellen Peinlichkeiten. Im Nahen Osten spricht man nicht über Haustiere, besonders nicht über Hunde. In USA sollte man die Todesstrafe nicht ansprechen - heißt es. Redet man über abwesende Dritte oder eher nicht? Klatsch und Smalltalk ist nicht überall gleich und nicht überall gleich beliebt. Klatsch weckt in nördlichen Ländern negative Assoziationen und hat auch in der angelsächsischen Welt keinen guten Ruf. In vielen Ländern bildet er eine wichtige Informationsquelle für Geschäftsleute. In Spanien, Italien, Brasilien und Japan werden Fakten und Statistiken schnell durch Klatsch aktualisiert. Was sind Themen für welche Anlässe? Für Chinesen und Japaner kommt es im Gespräch vorwiegend darauf an, gemeinsam Beziehungsbestimmungen und Situationsdefinitionen zu schaffen und diese wechselseitig zu bestätigen. Welche Informationen gibt man ohne Weiteres? Wie ist zu werten, was gesagt wurde? Von Russen sagt man, sie neigen dazu, das zu sagen, was der Gesprächspartner hören will. Besser: Was sie glauben, dass der Partner hören will. Kann man explizit fragen, ob man das Thema wechseln könne? Viele dieser Art Ratschläge könnten eher interkulturelle Kommunikation verhindern. Darum sollte man sie mehr als Vorsichtsratschläge nehmen. Mit persönlicher Sensibilität kann man vielleicht doch darüber reden. Denn irgendwie sind es doch gerade die interessanten Themen. Religion wäre ein richtig heißer Hotspot. Gemeinhin wird empfohlen, über Religion nicht zu sprechen. Das ist vielleicht etwas übertrieben. Aber Religionen sind sozusagen geschlossene Systeme. Gläubige sind zu. Das Höchste, was zu erreichen wäre, ist gegenseitige Toleranz. Gemeinhin haben Gläubige auch eigene Vorstellungen von ihrer Religion. Die offizielle Lehre mag anders sein. So heißt es öfter, das Christentum sei monotheistisch, heidnische Religionen hingegen polytheistisch. Aber denken Sie an die komplexe Frage der Dreieinigkeit. Themen und Topiks Worüber? Religion? <?page no="177"?> 117777 Was sind Hotspots? 7.1 Schweigen Was Schweigen ist, kann man über die Kulturen hinweg schwer bestimmen. Längere Stille kann unterschiedlich gedeutet werden. Ist es Schweigen oder Stille? Längere Stille kann als Schweigen verstanden werden und zu Verunsicherung führen. Was bedeutet Schweigen? Amerikanische, deutsche, französische, südeuropäische und arabische Führungskräfte würden Schweigen für eine negative Reaktion halten. In Ostasien, Japan und Finnland (diesbezüglich einziges europäisches Land) ist Schweigen als Antwort absolut in Ordnung. Chinesisches Sprichwort: „Der Wissende schweigt; der Unwissende redet.“ Schweigen bedeutet, dass man zuhört und lernt. Gold? Überzeugen und überreden läuft überall anders. Vor allem ist es notorisch schwer, den Erfolg festzustellen. Der im Westen verbreitete Usus zu argumentieren ist nicht universell. Es mag als unhöflich und unangemessen gelten, anderen Menschen die eigene Meinung aufzudrängen (Finnland, Japan). Man sollte vielmehr zustimmend nicken, freundlich lächeln und Kontroversen oder Unstimmigkeiten vermeiden. Überzeugen kann man mit wortreichen Erklärungen (Italien, Südamerika), mit Argumenten (Deutsch? ), mit Appellen an die Phantasie, den strengen Gesetzen der Logik (Franzosen). Überzeugend kann man sein durch Humor und Understatement. Briten greifen häufig zu Mitteln des Humors, wenn sie Selbstkritik üben wollen oder um eine schwierige Situation zu entspannen und eine versöhnliche Stimmung zu erzeugen. Wie überzeugt man? Kritik anbringen Wer wird schon gern kritisiert? Persönliche Kritik meidet, wer Punkte machen will. Viele Kulturen sind mit Kritik nicht so schnell bei der Hand. Man schont den anderen. Gemeinsame Kritik im Einverständnis ist schon was Anderes. Oft ist schon kritisch, Widerspruch zu artikulieren. Finnen etwa sind zwar sehr offen und direkt, scheuen aber solang wie möglich jede Konfrontation und versuchen, eine Antwort zu formulieren, die der anderen Seite entgegenkommt. Manche üben gerne Selbstkritik, sind aber bei Kritik Anderer sehr empfindlich. Auch Lob kann kritisch werden. Wer lobt, maßt sich die Beurteiler-Rolle an. Man mag vielleicht kein zu großes Lob, weil man sich damit unter Druck gesetzt fühlt. Oft indirekt <?page no="178"?> 117788 7 Kultur in Sprache Sich entschuldigen Die Auffassungen von Fehlern und Fauxpas wie auch die Verpflichtung, sich dafür zu entschuldigen, sind kulturspezifisch. Hinzu kommen unterschiedliche Verhaltensweisen bei unterschiedlichem sozialen Status, innerhalb der Familie usw. Soll die Entschuldigung explizit formuliert werden? Eine Entschuldigung etwa kann ausgedrückt werden, indem man Bedauern äußert: „Es tut mir leid“, „ich bedaure“, „Verzeihung“, „ich entschuldige mich“ und entsprechende Äquivalente. Müssen Sie bei selbstverschuldeten Fehlern eine Entschuldigung deutlich aussprechen? Vielleicht ohne Rechtfertigung oder Erklärung? (Japan) Gibt es Unterschiede wie im amerikanischen Englisch zwischen „Excuse me“ und „I‘m sorry“? „Excuse me“ ist nach vorn gerichtet: Es geht um den beabsichtigten Bruch einer Verhaltensregel oder die Gefahr, eine zu brechen. „I‘m sorry“ dient der Heilung einer geschehenen Verletzung. Ähnlich italienisch „Permesso“ vs. „Scusi? “ Werden Entschuldigungen inexplizit oder nonverbal ausgedrückt? Sorry Humor beruht meist auf doppeltem Sinn. Weil Humor stark auf Implizites und Hintergrundwissen zugreift, kann er in interkulturellen Situationen heikel sein. Wenn aber eine humorvolle Bemerkung, auch ein kleiner Joke gelingt, schafft er Empathie und Gemeinsamkeit, wird zur Würze der Kommunikation. Das kann auch zur Beschleunigung eines Gesprächs dienen, wenn es durch übertriebene Förmlichkeiten verlangsamt wird. Ein Witz, der auf Interkulturelles Bezug nimmt, kann heikel sein, ist aber didaktisch erhellend. Wie wirkt Humor Humor Ein Koreaner in New York möchte im Restaurant Hühnerbrust bestellen. Er kann kein Wort Englisch. Zur Kellnerin sagt er: „Gik, gik! “ und zeigt dabei auf seine Brust (nicht ihre! ). Darauf bringt ihm die Kellnerin ein Glas Milch. Anregung Berücksichtigen Sie stets: Es handelt sich hier um Generalisierungen. Sie können sie persönlich als Anregung nutzen. Das Meiste ruht auf Erfahrung, ist nicht empirisch untersucht. Die Globalisierung hat manch liebgewordene highlights interkultureller Trainings eingeebnet oder pulverisiert. <?page no="179"?> 117799 Was sind Hotspots? 7.1 Zeiterleben Zeit wird unterschiedlich konzipiert und erlebt. Grundlegend ist, ob sie mehr Kontinuum oder scharf segmentiert ist. Feste können als Fixpunkte dienen oder aber Daten und Uhrzeiten. Das hat Konsequenzen für die Planung. Die Zeit mag schnell vergehen, dann ist sie kostbar. Oder sie mag langsam vergehen, dann hat man Zeit. Auch Zeitwörter können unterschiedlich verwendet werden. So heißt Südamerikanisch mañana eher „mal sehen.“ Wir blicken nach vorn in die Zukunft, andere Kulturen folgen einem anderen Modell. So zeigen die Aymara-Indios in den chilenischen Anden mit einer Zeigegeste, dass die Zukunft hinter ihnen liegt (http: / / sciencev1.orf.at/ science/ news/ 144833). Sie haben ihre Zeitauffassung - eigentlich sehr plausibel - anders modelliert, mehr nach dem Sehen. Die Vergangenheit hat man ja gesehen, die Zukunft aber ist das, was man nicht sehen kann, so wie wir eben hinten nicht sehen können. Auch die Assyrer sollen die Zeit so konzipiert haben, dass die Vergangenheit vor ihnen zu sehen war. Da sie also die Vergangenheit ständig vor Augen hatten, spielte sie als Orientierungspunkt eine immense Rolle. Komplimente machen Komplimente sind delikate Sprechhandlungen: Man kann damit leicht ins Fettnäpfchen treten. In Kamerun könne man einer Frau ein Kompliment machen, indem man ihr sagt, sie habe zugenommen. Das würde vielleicht anderswo nicht klappen. Aber Komplimente sind auch Schmierstoff der Beziehung. Man sollte sich versuchen. Komplimente machen ist kontrastiv gut untersucht (Chen/ Yang 2010, Neuland 2009). Wichtige Parameter: Sexus der Sprecher, ihre Beziehung, weitere Beteiligte, das Kompliment, die Reaktion. (1) K: Schöne Krawatte. Bedanken A: Danke. (2) K: Dein Kleid gefällt mir. Kommentieren: Akzeptieren A: Ich mag es auch sehr. (3) Dein Kleid gefällt mir. Kommentieren: Klein kochen A: Hab ich bei H&M gekauft. 32% der US-Amerikaner geben eine akzeptierende Antwort, für Südafrikaner liegt der Wert bei 76%. Wenn Franzosen Komplimente signifikant häufiger mit Einschränkungen annehmen als US-Amerikaner, dann heißt das nicht, dass Franzosen bescheidener sind und schon gar nicht, dass eine Französin, die so reagiert, besonders bescheiden ist. Auf jeden Fall muss der Komplimentierer vorsichtig zu Werke gehen, damit sein Kompliment ankommt. Plumpe Komplimente laufen meist nicht. Man muss viel wissen über die Kultur und über den Adressaten. <?page no="180"?> 118800 7 Kultur in Sprache Aus wiederholten Vorkommnissen und Erfahrungen können wir generellere heiße Strukturen destillieren. Kurze Sequenzen zwischen zwei Partnern können Sie im Geiste fortsetzen und allgemeinere Schlüsse ziehen. Noch weiter abstrahiert sind wiederkehrende Konstellationen. Dyaden Konstellationen A: Ihre Tochter spielt so wunderbar Klavier. A: Ja, und sie übt so fleißig. Fast Tag und Nacht. B: Ja. Das finden wir auch. Sie ist hochbegabt. B: Talent allein macht es nicht. Sie muss auch fleißig sein. Eines Tages wird sie Großes erreichen. Gespräch läuft ziemlich schief. A möchte sich indirekt über die Belästigung beklagen. B läuft über vor Begeisterung für ihre begabte Tochter. Arzt: Soll Ihr Neugeborener beschnitten werden? Mutter: Ja. Aber nur ein bisschen. Die Mutter lehnt eigentlich ab. Ein höfliches Nein. A will die Beziehung festigen. A macht sich klein. A will dem Chef Hochachtung zollen. B fühlt sich belästigt. B hält den A für unselbständig. B hält den A für inkompetent. Ein ausländischer Mitarbeiter fragt seinen Chef oft, ob er etwas so oder so machen soll. Manchmal auch, was er jetzt überhaupt tun soll. In A.s Kultur spricht man langsam und bedächtig, man sagt nur das Nötigste, macht längere Pausen. In B.s Kultur gibt man sich sehr kommunikativ, man redet viel und schnell, unterbricht leicht. A und B im Gespräch. Was wird passieren? In A.s Kultur geht man zurückhaltend in ein Gespräch. Man wartet ab, worüber der Partner reden will. In B.s Kultur setzt man bestimmte Topiks und geht davon aus, dass auch der Partner Topiks vorschlägt. A und B im Gespräch. Was wird passieren? A ist gewohnt sich selbst darzustellen, sich ins rechte Licht zu rücken. B hält es mit bescheidenem Auftreten, präsentiert sich eher zurückhaltend. A im Vorstellungsgespräch beim Personalchef B. Was wird passieren? <?page no="181"?> 118811 Was ist ein Hotword? 7.2 7.2 Was ist ein Hotword? Rich Points sind meist an Wörter gebunden, sind kristallisiert in Wörtern. Das ist notwendig so, weil alles, was relevant ist, in Worten gefasst wird. So wird es auf den Punkt gebracht, für uns leichter fassbar und darum kommunikativ besser nutzbar. Wörter, die Rich Points zusammenfassen, sind Hotwords. Das Hotword-Konzept geht aus von Agars Idee der Rich Points. Es fokussiert aber auf einzelne Wörter, die durch wichtige kulturelle Tatsachen geprägt wurden. Hotwords kondensieren ihre wesentlichen Elemente. Sie enthalten jede Menge Kultur, sind kulturell aufgeladen und heiß, weil sie brennende Fragen dieser Kultur behandeln, weil sie strittig sein mögen, weil sie kulturelle Brennpunkte benennen, weil sie aktuell sind. Es sind Wörter, deren Bedeutung in einem Wörterbuch nachzuschlagen, wenig Sinn macht. Wörterbücher sind zu karg. Um diese Wörter zu verstehen, muss man in die Kultur der Sprache eintauchen. Nur so kann man zu einem wirklichen Verstehen gelangen, nur so erwirbt man die nötige kommunikative Kompetenz. Hotwords sind Wörter, die in der Geschichte, im gesellschaftlichen Leben eine besondere Rolle spielen, Wörter, an denen Argumentationen und Emotionen hängen, positiver oder negativer Art. Natürlich geht es bei der Analyse eines Hotwords nicht um das Äußere des Worts, sondern vor allem um seinen Gebrauch, um seine Bedeutung im weitesten Sinn. Dazu braucht es eine detaillierte Analyse. Wie Wort und Welt verwoben sind, zeigt sich hieran: Gewöhnlich zeichnen Linguisten zitierte, also zu analysierende sprachliche Ausdrücke, durch Kursivsetzung aus. So macht man deutlich, dass es um das Wort geht und dass es zitierend, nicht normal verwendet wird. In der Behandlung von Hotwords hat man das Problem, dass man nicht immer so genau weiß: Soll man das Wort kursiv setzen oder nicht? (1) Agar hatte keine genaue Vorstellung davon, was Schmäh ist. (2) Er bat österreichische Freunde, Schmäh zu definieren. (3) Sie konnten sich nicht einigen, was Schmäh bedeutet. Einerseits ist hier die Rede von eben diesem Wort, andererseits geht es aber gerade um die damit verbundene Haltung und ihre Manifestationen. Auch darin wird deutlich, wie Sprache und Welt verwoben sind. Gegenüber sehen Sie als typisches Hotword des Deutschen „Heimat“ und was Deutsche dazu assoziieren. Wort und Welt <?page no="182"?> 118822 7 Kultur in Sprache Wie erkenne ich ein Hotword? Man kann folgende Kriterien für ein Hotword anführen: 1. Die Bedeutung des Worts lässt sich schwer angeben. 2. Auch Muttersprachler tun sich dabei schwer. 3. Es ist ein Wort, das für Fremde schwer zu verstehen ist. 4. Mit dem Wort sind strittige Sachverhalte verbunden. 5. Das Wort gilt den Natives als Aspekt ihrer Identität. 6. Das Wort enthält viele kulturspezifische Bedeutungszüge. 7. Um ein Hotword zu verstehen, muss man sich intensiv mit der Kultur und ihrer Geschichte auseinandersetzen. 8. Um es zu verstehen, muss man in die Zielkultur eintauchen. 9. Die Bedeutungskomponenten bilden ein kulturelles Muster. Hotword Heimat Recht Liebe Gefühl Film Dorf Deutschland heimatlos daheim Heimweh Sehnsucht Roman Stadt Land Gefühl Fremde alt Sprache zurück angestammt verlassen vertrieben zurückkehren Verbundenheit Vertriebene HHeeiimmaatt <?page no="183"?> 118833 Was ist ein Hotword? 7.2 Agars Idee, Hotwords persönlich mit dem didaktischen Clustering zu gewinnen, ist schon allgemeiner realisiert in Assoziogrammen wie im Heimatstern. Sie werden gewonnen über die Befragung vieler Probanden. Eine Weiterentwicklung ist die Auswertung von großen Sprachkorpora. Dabei werden für große Mengen von Belegen des Hotwords die nahen Kontexte ausgewertet, sodass wichtige Merkmale sichtbar werden. Statt Sterndarstellungen kann man auch Wordles erzeugen, in denen die Signifikanz durch Schriftgröße dargestellt ist. Ein Wordle für Schmäh sehen Sie hier. Als ein für Deutsche typisches Kulturem, also ein kulturelles Schem , gilt Ordnung. So können wir auch Ordnung als Hotword untersuchen. Die Korpusmethode liefert uns dieses Bild. Das Wordle zeigt das Umfeld in plausibler Form. Das wird besonders deutlich, wenn wir es mit anderen Sprachen vergleichen. Vordergründige Wortäquivalenzen wie dt. Ordnung vs. it. ordine erweisen sich dann qua Hotword als recht verschieden. a <?page no="184"?> 118844 7 Kultur in Sprache Farben haben oft symbolische Bedeutung. Bei uns ist die Wut rot, der Neid gelb usw. In China wird die Bedeutung gefestigt durch den Ritus im Schattenspiel: gelbes Gesicht → niedriger Charakter grünes Gesicht → Anmaßung rotes Gesicht → Gier weißes Gesicht → Adel und Wissen Umgekehrt können wir sehen, welche Eigenschaften Tieren in diversen Kulturen symbolisch zugeschrieben werden. Kontrast Symbolwerte Englisch dduumm mm Esel ffe eiig gee Huhn ggeewwiieefftt Schlange ffiieess Hund ggeemmeeiinn Ratte ddrreecckkiigg Schwein Deutsch Esel/ Kamel - - - Fuchs Hund - - - Schwein Französisch Esel - - - - - - Hund - - - Schwein Spanisch Esel Huhn - - - - - - - - - Schwein Arabisch Esel/ Kamel Hase Schlange Schwein/ Hund Schwein Schwein Farsi Esel - - - Fuchs Schwein - - - Hund Japanisch Esel - - - Dachs Ratte - - - Schwein Afrikaans Esel Huhn Fuchs Schwein - - - Schwein Chinesisch Esel - - - Fuchs - - - - - - - - - Capverde Esel Duck Schlange Hund - - - Schwein Italienisch Esel Hase - - - - - - Schwein Hebräisch Esel - - - - - - - - - - - - <?page no="185"?> 118855 Somatismen 7.3 7.3 Somatismen Idiome sind übertragene Redewendungen, die oft eine längere Geschichte haben, manchmal auch auf historische Episoden zurückgehen sollen. Idiome sind Janusköpfe; sie haben ein doppeltes Gesicht. Einerseits haben sie ihren eigenen Gebrauch so wie Wörter, von daher konstituiert sich auch ihre Bedeutung. Andererseits haben sie auch einen wörtlichen Sinn, von dem aus die Übertragung sich ergab. Oft kann man noch erschließen, wie die übertragene Bedeutung zustande kam. Idiome sind aber auch kulturgeladen. Ihr Verständnis zeigt kulturellen background. Beispielhaft könnten wir kulturelle Elemente destillieren. In Idiomen finden wir als Ankerwörter viele Bezeichnungen menschlicher Körperteile: Arm, Auge usw. Derartige Idiome werden Somatismen genannt. Somatismen machen bis zu 20 Prozent aller idiomatischen Wortverbindungen des Deutschen aus. Körpersprache besteht also nicht nur im Agieren mit dem Körper wie bei Gestik und Mimik. Vielmehr schreiben wir den Körperteilen auch ganz bestimmte Eigenschaften zu, die in der Sprache produktiv werden. Produktiv werden solche Attribuierungen besonders bei Übertragungen, Metaphern und Idiomen. Man spricht auch von der symbolischen Bedeutung der Körperteile. Arm Augen Bein Fuß Die Arme zeigen die Einstellung zum Gegenüber. Der Arm wird lang und ergreift etwas. Der Arm geht vom Rumpf weg. Augen stehen für sehen. Sehen ist Wissen. Sehen ist Beobachten. Augen stehen für Einsicht. Augen sind der Spiegel der Seele. Augen sind das Kostbarste. Beine stehen für laufen. Mit den Beinen steht man (im Leben). Fuß steht für Auftreten. Fuß ist unten. Hand steht für handeln. Hand steht für fassen, ergreifen. Hand steht für Kontrolle, Verantwortung. Hand steht für Besitz. Hand steht für Kontakt. Hand steht für helfen. Hand steht für Gesten. Haar ist fein. Haare sind nichts Sauberes. Graue Haare bedeuten Alter und Sorgen. Hand Haar <?page no="186"?> 118866 7 Kultur in Sprache Herz Kopf Mund Nase Ohren Herz ist der Ort der Gefühle. Im Herzen ist die Liebe. Im Herzen ist Wärme. Das Herz ist ein Gefäß. Kopf ist der Ort des Denkens, des Verstands. Der Kopf ist ein Raum. Kopf bedeutet Kontrolle. Kopf steht für Leben. Kopf ist oben. Kopf steht als Teil für den Menschen. Kopf und Herz sind sich oft nicht einig. Herz und Kopf machen den Menschen aus. Mund steht für sprechen. Mund steht für essen. Ohren stehen für hören. Ohren stehen für Aufmerksamkeit. Nase steht für riechen. Weit vorstehender Körperteil. Diese Attribuierungen sind nicht universal. Vielmehr kommen den Körperteilen in verschiedenen Kulturen verschiedene Symbolbedeutungen zu. Sie ans Licht bringen heißt zugleich ein Stück Kultur bewusst machen. So gibt es schon Unterschiede der Produktivität einzelner Körperteile in verschiedenen Kulturen. Hier kommt ein Vergleich zwischen deutschen und türkischen Somatismen. Wir sehen, dass türkische Somatismen am häufigsten Auge, Kopf, Hand und Mund enthalten, deutsche hingegen Hand, Auge, Kopf und Ohr. 0 10 20 30 40 50 60 70 Türkisch eutsch <?page no="187"?> 118877 Somatismen 7.3 Auch innere Organe können unterschiedlich konzipiert sein. Idiom Bedeutung eine durstige/ trockene Leber haben oft oder viel Durst haben, Grund zum Trinken es muss herunter von der Leber es kann nicht mehr länger verschwiegen werden frei/ frisch von der Leber reden/ sprechen ohne Umschweife, ungehemmt sagen, was man denkt jmdm. ist eine Laus über die Leber gelaufen/ gekrochen jmd. ist über etwas verärgert Leber ciğer ciğer ac ı s ı [Leberschmerz] Verlustschmerz (bei verlorenen Kindern) ciğerine işlemek [in die Leber (ein)arbeiten] einen Schmerz des Anderen spüren und Mitleid haben ciğerini delmek [die eigne Leber durchbohren] jmdn. sehr kränken ciğerini yakmak [jemandes Leber verbrennen] jmdn. sehr tief verletzen ciğeri parçalanmak [die Leber zerstückeln] sehr trauern ciğeri yanmak [seine Leber brennt] einem großen Schmerz unterliegen ciğerini okumak [seine Leber lesen] Gedanken und Gefühle eines Anderen lesen ciğeri beş para etmez [seine Leber ist keine fünf xxx wert] ein unnützer Mensch sein ciğerimin köş e si [(die) Ecke meiner Leber] Liebling, geliebtes Kind Die Leber im Deutschen hat mit Reden, Durst und Verärgerung zu tun. Im Türkischen ist sie der Sitz von schwerem Leid und Mitleid. Könnte dieses Wissen etwas zum Verständnis des folgenden Falls beitragen? <?page no="188"?> 118888 7 Kultur in Sprache Leberschmerzen Die 52jährige türkische Fabrikarbeiterin Y. kam vor 18 Jahren nach Deutschland. Sie liegt seit vier Tagen zur Beobachtung im Krankenhaus. Sie hat erst ihren Hausarzt, dann einen Internisten und einen Gynäkologen konsultiert, außerdem ließ sie sich bei ihrem letzten Aufenthalt in Istanbul von einem „berühmten Arzt“ untersuchen und medikamentös behandeln. Nach der Rückkehr ging sie drei Monate beschwerdefrei ihrer Arbeit nach. Dann fingen die Symptome wieder an, ein junger Internist veranlasste die Einweisung ins Krankenhaus. Sie klagte über Oberbauchbeschwerden, ihre Leber sei nicht in Ordnung, sie könne die körperlich beschwerliche Arbeit in der Fabrik nicht mehr ertragen. Die Untersuchung ergab keinen gravierenden Befund außer etwas zu niedrigem Blutdruck und körperlicher Auszehrung von schwerer Arbeit und sechs Geburten. Die Ärzte halten dies für ein typisches „Gastarbeiterfrauensyndrom“ mit „hypochondrischer Fixierung“. In der Türkei verschwinden die Symptome. Sie schlagen ihr vor in die Türkei zurückzukehren. jmdm. läuft die Galle über jmd. wird wütend jmdm. kommt die Galle hoch jmd. wird wütend Gift und Galle speien/ spucken cholerisch, gehässig schimpfen Galle safra atmak [Galle werfen] jmd. (schädliche Person) von sich fern halten safra bast ı rmak [die Galle drücken] ein bisschen essen, um den Hunger zu stillen safras ı kabarmak [Galle geht auf] vor Hunger Übelkeit verspüren Im Deutschen ist die Galle vorwiegend der Sitz von Wut. Im Türkischen hingegen ist vor allem der Hunger mit ihr verbunden. All diese Beispiele und Überlegungen zeigen, wie differenziert der Gebrauch sprachlicher Ausdrücke ist und wie viel Kultur in ihnen steckt. Wer wirklich eintauchen will, wer wirklich verstehen will, der muss sich mit den Details und mit Nuancen befassen. safra Vielleicht stellen Sie selbst ein paar Somatismen zusammen zu Haar und Nase, womöglich im Vergleich mit einer anderen Sprache. Anregung Idiom Bedeutung <?page no="189"?> 118899 Wenn man die Vorurteile zur Tür hinausjagt, kehren sie durchs Fenster zurück. Friedrich der Große 8 Kulturstandards und Stereotypen <?page no="190"?> 119900 7 Kulturstandards und Stereotypen Wie werden Kulturstandards ermittelt? Interkulturelles Lernen wie interkulturelles Training verfolgt diverse Lernziele. Wer die Vielfalt einer Kultur übersichtlich machen will und vielleicht lehrbar, scheint auf Vereinfachungen, Selektion und Standardisierung angewiesen. Ein Versuch dieser Art ist die Ermittlung und Beschreibung sog. Kulturstandards. Mit ihnen wird didaktisch eine Mischung aus 1. und 2. angestrebt. Individuen werden in Kulturstandards hinein sozialisiert. So werden sie ihnen selbstverständlich und müssen ihnen nicht mehr bewusst sein. In mehreren Forschungsprojekten wurden Kulturstandards ermittelt aufgrund von Interaktionen, die problematisch verlaufen sind (etwa zwischen Deutschen und Chinesen; Thomas 1991: 116). Sie wurden sozusagen induktiv gewonnen als Diagnosen der entstandenen Kommunikationsprobleme. Genaueres über das angewandte Verfahren ist allerdings nicht bekannt. Im Anschluss wurden sie angereichert mit Erkenntnissen anderer kulturwissenschaftlicher Forschungen und kulturvergleichend analysiert - was immer das heißen mag. Unklar bleibt vor allem auch, wie die zugrunde liegenden Kommunikationen verliefen. Für konversationell Orientierte wären akribische Aufzeichnungen und Interpretationen das A und O: Welche Sprache wurde gesprochen? Was resultierte daraus? Welche sprachlichen Formulierungen trugen wie zu den Problemen bei? Wie entstanden die Darstellungen der Interaktionen? Wer hat beispielsweise erzählt? Diejenigen Werte, Normen, Regeln und Einstellungen in einer Kultur, die sich gerade im zwischenmenschlichen Bereich umfassend auf Wahrnehmung, Denken, Urteilen und Handeln ihrer Mitglieder auswirken, werden als zentrale Kulturstandards bezeichnet. Kulturstandards sind also die spezifischen Spielregeln des gesellschaftlichen Lebens in einer Kultur. (Markowsky/ Thomas 1995: 7) 8.1 Kulturstandards KKnnooww tthhaatt KKnnooww hhooww 1. Deklaratives Wissen über eine Kultur 2. Deklaratives Wissen kulturkontrastiv 3. Prozedurales Wissen über eine Kultur 4. Prozedurales Wissen kulturkontrastiv <?page no="191"?> 119911 Kulturstandards 8.1 Gesicht wahren Eine ganz entscheidende Frage ist: Wie kommt man von den Einzelbeobachtungen zu Generalisierungen und wie weit ist der Homogenitätsgedanke - wie er in der Ausgangsdefinition anklingt - gerechtfertigt? Thomas eruierte und behandelte chinesische Kulturstandards: • Gesicht wahren • Soziale Harmonie • Bürokratie • Etikette • Danwei (soziale Einheit) • Humor • Guanxi (Beziehungsnetz) • List und Taktieren Wichtige dieser Standards stellen wir hier exemplarisch vor. Dabei lohnt auch ein kritischer Blick. Das Gesicht des Partners zu wahren wird manchmal als universal angesehen, aber in Nuancen unterschiedlich realisiert. Auch wir Deutsche wissen, dass man sein Gesicht nicht verlieren sollte, und damit auch, dass man das Gesicht des Anderen fast wie sein eigenes wahren sollte. Dies sei jedoch nicht identisch oder vergleichbar mit dem chinesischen „das Gesicht zu wahren“. Für Chinesen ist Gesichtserhalt tief verwurzelt in ihrer Kultur und leitendes Prinzip sozialen Handelns. Jemand, der sich gehen lässt, sich selbst und seine Gesprächspartner in Verlegenheit bringt, verliert für Chinesen sein Gesicht. Er zerstört die zwischenmenschlichen Beziehungen. Wer sich nicht unter Kontrolle hat und ausfallend reagiert, kann keine zuverlässige und vertrauensvolle Person sein. Und so führt jeder Gesichtsverlust zum Verlust von Anerkennung, Macht und Autorität. Durch abschwächende Partikeln ausgedrückte Kritik wird für chinesische Hörer durchaus nicht als abgeschwächt aufgefasst. Doch die offene Abschwächung hilft: Durch sie wird dem Kritisierten „das Gesicht gegeben“. Was für manch Deutsche als unnötiges Getue wirkt, sei für Chinesen ein fundamentaler Kulturstandard. Vielleicht ist es aber weniger prinzipiell, eine Frage der Ausführungsmaßstabs. Harmonie im sozialen Umgang ist für Chinesen von großer Bedeutung. Fragt zum Beispiel ein Lehrer seine chinesischen Schüler, ob sie alles verstanden haben, kann es sein, dass alle mit „Ja“ antworten, obwohl ihnen bewusst ist, dass sie nicht alles begriffen haben. Warum? Durch ein „Ja“ wird die gewünschte, konfliktfreie Atmosphäre geschaffen. Zudem können die Schüler dadurch die unangenehme Situation vermeiden, dem Lehrer das Gefühl zu vermitteln, sie hätten den Stoff auf Grund seiner mangelnden Lehrqualität nicht verstanden, was indirekt eine ungebührliche Kritik, wenn nicht sogar eine Beleidigung wäre. Darum fällt es fast jedem Schüler schwer einzugestehen, dass er etwas nicht verstanden hat. Als Lehrer wird man das in unserem Sinne schwer herausbekommen. Soziale Harmonie Chinesische Kulturstandards <?page no="192"?> 119922 7 Kulturstandards und Stereotypen Chinesen sind sehr höfliche Menschen. Sie sind meist überpünktlich und erwarten auch von ihrem Gegenüber Pünktlichkeit. Außerdem sind sie großzügige Gastgeber. Man sollte bei einem Essen alles probieren, jedoch immer einen Rest in der Schüssel lassen. Schlürfen und andere Geräusche beim Essen sind für Chinesen ganz normal und kein Ausfluss oder Zeichen schlechter Manieren. Sollten Sie in ein chinesisches Privathaus eingeladen werden, kommen Sie möglichst ein bisschen zu früh und verabschieden sich kurz nach dem Essen. Oft kündigen Chinesen schon gleich zu Beginn eines Treffens an, dass sie gleich wieder gehen müssen. Doch dehnen sie das Abschiednehmen oft aus und die Gastgeber begleiten Sie vielleicht sogar noch ein Stück des Weges. Die Danwei (Einheit von Familie, Arbeitseinheit usw.) war die wichtigste Organisations- und Versorgungseinheit in China. Die Einbindung des Einzelnen in die Danwei ist Teil einer auf dem Kollektivismus basierenden Philosophie. Danwei schlichtete Streitigkeiten, führte staatliche Anordnungen aus, kümmerte sich um Wohnungen, medizinische Versorgung, Tagesstätten und Kindergärten, organisierte Freizeitveranstaltungen und Ferienwohnungen und arrangierte Beerdigungen. Das Recht der Gruppe habe in China gegenüber den Rechten des Individuums klare Priorität. Dennoch möchten in den letzten Jahren immer mehr junge Chinesen ein Leben nach eigenen Vorstellungen und Wünschen. In einer Umfrage in Shanghai antworteten nur noch 6,5% der jungen Erwachsenen, dass Arbeit im Interesse der Gesellschaft ihr Lebensziel sei. Warum breitet sich der Individualismus aus? Guanxi (Beziehungsnetz) gilt als eine soziale Praxis der Chinesen, deren Verständnis man sich durch Übersetzung nur schwer annähern kann. Einen Aspekt könnte man im Deutschen wiedergeben durch „Beziehungen haben“. Beim Guanxi deckt das aber ein weites Gebiet vom Geschäftlichen bis zum Sexuellen. Ein solches Netzwerk ist in einer kollektivistischen Gesellschaft bestimmender als in einer individualistischen Gesellschaft. Im Chinesischen ist es tief verwurzelt (erste Erwähnung um 500 v. Chr.). Alle chinesischen Herrscher bis zu den Kommunisten bildeten solche Netzwerke, die von uns oft als korrupt angesehen werden. Guanxi ist dauerhaft, soll oft ein Leben lang halten. Es verpflichtet zur Hilfe und zu jemandem zu stehen. Die sozialen Beziehungen sind transitiv: A kennt den Restaurateur B, B hat als Kellner C, Cs Schwester D ist verheiratet mit E, einem Werkstattbesitzer ..... So Etikette Danwei Guanxi <?page no="193"?> 119933 Kulturstandards 8.1 gehört auch E zum Guanxi des A und A könnte deshalb sein Auto bei E pflegen lassen. Die Beziehungen zwischen Familienmitgliedern, auch den sehr entfernten Verwandten in China und Übersee, ist viel enger als alles, was wir im Westen kennen. Selbst Schulfreunde, Arbeitskollegen, Lehrer und Nachbarn sind in dem Beziehungsnetz eingebunden. Mit den Vorteilen dieses Netzes gehen natürlich auch Verpflichtungen einher. Wer wohl eingebettet ist in Guanxi, gewinnt auch Mianzi. Darum ist es wichtig, das Guanxi zu mehren, zu vergrößern, zu erweitern. Bei Gesprächen kommen Chinesen nicht direkt zur Sache. Vielmehr lassen sie sich viel Zeit, um verschiedene Strategien zu entwickeln, die darauf abzielen, eine Disharmonie zu vermeiden. Die Rolle von „Gesicht wahren“ exemplifiziert der folgende Fall, dessen Authentizität man allerdings durchaus bezweifeln darf. Im interkulturellen Lernen kann die Kenntnis fremder Kulturstandards unser Handeln beeinflussen und lenken. Wir lernen sie auf Vorrat, um unsere Partner besser zu verstehen, um uns auf sie einzustellen, auf sie einzugehen und so Probleme zu vermeiden. „Zur Vermeidung kulturell unangepassten Handelns und daraus resultierender Handlungsstörungen bedarf es einer Veränderung und Erweiterung des eigenkulturellen Orientierungssystems in Richtung auf das fremdkulturelle Orientierungssystem. [...] Dies erfordert Kenntnisse über fremde Kulturstandards. [...] Erreicht wird diese Kompetenz des interkulturellen Verstehens über den Prozess des interkulturellen Lernens“ (Thomas 1991: 115). Hierzu gibt es Trainingsprogramme. Sie verwenden kritische Erlebnisse, die im Zusammenhang mit Kulturstandards gesehen werden. Der Kulturstandard selbst dient als Diagnose (Thomas 1991: 124). Das ist griffig. Aber ist es nicht ein bisschen global? Kulturstandards bleiben - selbst wenn sie real wären - gegenüber der hohen Differenziertheit einer Kultur doch bescheiden. Sie mögen für eine erste Sensibilisierung taugen, aber Vorsicht! List und Taktieren Ein britischer Journalist schwankte zwischen dem Eindruck, besonders sarkastisch oder besonders freundlich behandelt worden zu sein, als er von einer Pekinger Zeitung das folgende Absageschreiben erhielt: „Wir haben Ihr Manuskript mit grenzenlosem Genuss gelesen. Wenn wir Ihren Beitrag veröffentlichen würden, wäre es uns in Zukunft unmöglich, eine Arbeit von geringerem Standard zu publizieren. Und da es undenkbar ist, dass wir in den nächsten tausend Jahren etwas Gleichwertiges zu sehen bekommen werden, sind wir zu unserem Bedauern gezwungen, Ihren göttlichen Aufsatz zurückzusenden. Wir bitten tausendfach um Nachsicht für unsere Uneinsichtigkeit und Furcht.“ Nutzen <?page no="194"?> 119944 7 Kulturstandards und Stereotypen Sie können sich Ihre eigene Meinung bilden, wenn Sie die folgenden deutschen Kulturstandards betrachten. Kommentare kann man sich oft schwer verkneifen. Die Standards vermischen Beobachtungen aus der kulturellen Außenperspektive mit Kommentaren und Erklärungsversuchen der Autoren. Als Lernmaterial sollen sie dem bikulturellen Know that dienen. Deutsche Kulturstandards Dies ist aus amerikanischer Perspektive gesehen. Für Amerikaner ergibt sich, dass sie selbst die Initiative ergreifen müssen, um Deutsche kennen zu lernen. Der Standard soll historisch erklärt werden mit der langwährenden Partikularisierung: Deutschland war nach dem Dreißigjährigen Krieg „in über 300 souveräne Fürstentümer aufgeteilt worden“ (Markowsky/ Thomas 1995: 35). Der größte Teil der Bevölkerung lebte in Dörfern oder in Städten, die 1000 bis 10 000 Einwohner hatten. „Man kannte sich untereinander und blieb in der Regel - oft über mehrere Generationen hinweg - am gleichen Ort“ (Markowsky/ Thomas 1995: 35). Es war also nicht notwendig, wie im Einwanderungsland USA, Umgangsformen zu entwickeln, die schnellen und unkomplizierten Kontakt ermöglichten und gleichzeitig eine einfache Beendigung des Kontakts tolerierten. Für die Deutschen war es vielmehr entscheidend, „zu den Menschen, die im selben Dorf wohnten, tragfähige, verlässliche Beziehungen aufzubauen“ (Markowsky/ Thomas 1995: 35). Ortsfestigkeit blieb weiterhin der Normalfall. Viele Deutsche bleiben auch in der Gegenwart ihr gesamtes Leben an ein und demselben Ort wohnen. Oh ja. Nach dem zweiten Weltkrieg kamen etwa 15 Mio Flüchtlinge in die Bundesrepublik. In den letzten Jahren 3,2 Mio Aussiedler. Und wie viele Migranten? Vergessen? 1. Interpersonale Distanz Anregung Betrachten Sie die deutschen Kulturstandards stets unter folgenden Gesichtspunkten: Wie reagieren Sie als Deutscher oder als Angehöriger einer anderen Kultur, der Deutsch von außen betrachten kann? Wie plausibel ist Ihnen die Darstellung, vor allem die inneren Einschränkungen mit „dennoch“, „trotzdem“, „heute“ usw.? Die anfängliche Distanziertheit und Verschlossenheit der Deutschen selbst in Bezug auf periphere Persönlichkeitsbereiche weicht nach einer längeren Phase des Kennenlernens einer überraschenden Offenheit und Zugänglichkeit selbst in Bezug auf zentrale Persönlichkeitsbereiche. <?page no="195"?> 119955 Kulturstandards 8.1 Konkret: In Gesprächen und Diskussionen - die Deutschen werden übrigens als sehr diskutierfreudig gesehen - herrscht „ein direkter und offener Ton“, der auf Amerikaner beleidigend wirken kann. Was man sagen will, ob Kritik oder einfach nur die eigene Meinung, äußert man ohne groß um den heißen Brei herumzureden. Markowsky/ Thomas erklären die Direktheit in der Kommunikation mit dem hohen Stellenwert, den Latein und Griechisch in der schulischen Ausbildung hatten. Mit der Vermittlung dieser antiken Sprachen und der zugehörigen Philosophie, so die Autoren, wurde gleichzeitig „logikorientiertes Denken“ mitgelernt. Das muss natürlich ein langer und recht indirekter Weg gewesen sein. Und der Zusammenhang zwischen Logik und Inhaltsaspekt erscheint auch nicht trivial. Während Japaner und Amerikaner das für auffällig halten, sehen Griechen die deutsche Art zu diskutieren als harmlos und wenig temperamentvoll. Der eigene kulturelle Background beeinflusst eben entscheidend die Aussage über eine Fremdkultur (bias). 3. Regelorientiertheit Es gibt für alles eine Regel, deren Einhaltung als selbstverständlich erachtet wird. (Markowsky/ Thomas 1995: 68) Das bedeutet auch, dass man bestehende Regeln kaum in Frage stellt und Regelverletzungen schnell kritisiert. Was „pedantisch, unflexibel und stur“ wirkt, macht Sinn: „In einem so dicht besiedelten Land wie Deutschland besteht auch eine starke Notwendigkeit, dass sich [...] alle an bestimmte Regeln halten.“ Es diene der Sicherung des Gemeinwohls (Markowsky/ Thomas 1995: 69). Sollte das in dichtbesiedelten asiatischen Regionen den gleichen Effekt haben? Sind auch Filipinos regelorientiert? Oder erst die Inder mit fast doppelt so hoher Bevölkerungsdichte? Historisch wird die Regelorientierung der Deutschen mit einer Einstellung begründet, die „über Jahrhunderte hinweg bezeichnend für deutsches Denken war“ (Markowsky/ Thomas 1995: 70), nämlich die Überzeugung, „der Erhalt der sozialen Ordnung hänge vom unverrückbaren Gehorsam gegenüber der bestehenden Obrigkeit ab“ (Markowsky/ Thomas 1995: 69). Der „moralisch integre Bürger“ sah es als seine Pflicht an, bestehende Regeln einzuhalten und vor allem darüber zu wachen, dass auch Andere sie einhielten. Der Inhaltsaspekt der Kommunikation hat Priorität vor dem Beziehungsaspekt. (Markowsky/ Thomas 1995: 53) 2. Direktheit interpersonaler Kommunikation <?page no="196"?> 119966 7 Kulturstandards und Stereotypen Dieses Relikt aus vergangener Zeit steht nach Markowsky/ Thomas hinter solchen Geboten wie „Sei pünktlich! “ oder: „Geh nicht bei Rot über die Ampel! “ Im Trainingsprogramm von Markowsky/ Thomas gibt es eine Situation, in der Amerikaner bei Rot die (freie) Straße überqueren und dafür von Fußgängern, die stehen bleiben, missbilligend gemustert werden. Autoritätspersonen begegnet man mit hohem Respekt, mit Zurückhaltung und Scheu. (Markowsky/ Thomas 1995: 78) 4. Autoritätsdenken Die Autoren erklären das deutsche Hierarchiegefälle am Beispiel des Verhältnisses von Professor und Student - Zielgruppe des Trainings waren amerikanische Studenten, die von zu Hause einen legereren Umgang mit Autoritätspersonen gewohnt seien. „Diese leicht untertänig anmutende Haltung der Deutschen gegenüber Autoritätspersonen“ (Markowsky/ Thomas 1995: 79) begründe sich daraus, dass Deutschland über Jahrhunderte hinweg von Königen regiert wurde, die als Herrscher von Gottes Gnaden regierten. Gehorsamkeit gegenüber dem König war Pflicht. Auch Adel, Klerus und die für den Staat arbeitenden Beamten nutzten ihre Macht über die Bevölkerung aus. Sie gewannen durch die Zersplitterung Deutschlands nach dem Dreißigjährigen Krieg besonders an Einfluss. Stimmt das historisch? Was ist, was war eigentlich Deutschland? Der Autoritätsglaube hatte zur Folge, dass die Leute sich unterordneten und Respekt vor Autoritäten zeigten. So gehorchte man beispielsweise den Beamten, weil sie für den Herrscher arbeiteten, dessen Autorität man akzeptierte. Zusätzlich wird die Dominanz des Mannes, das Patriarchat, als Faktor angeführt. Heute, so die Verfasser, stehen die Deutschen Autoritäten durchaus auch kritisch gegenüber, aber für US-Amerikaner sind „Spuren dieser jahrhundertealten Tradition [...] noch immer sichtbar“ (Markowsky/ Thomas 1995: 79). Haben US-Amerikaner so viel Wissen über deutsche Geschichte? Alles muss organisiert werden, um Unsicherheitsfaktoren zu eliminieren. (Markowsky/ Thomas 1995: 85) 5. Organisationsbedürfnis Wie schon die Regelorientierung sei das Organisationsbedürfnis aus dem Stellenwert von Latein und Griechisch im Bildungswesen zu erklären. Aus dieser Tradition entstand nach Markowsky/ Thomas auch der ausgeprägte Hang zu logischem Denken. <?page no="197"?> 119977 Kulturstandards 8.1 Und weiter: „Wer derart stark wie die Deutschen versucht, alles in eine logische Ordnung einzupassen und die Welt durch die Kraft des Gedankens zu erfassen, bemüht sich auch darum, seine Zukunft durch vorausschauendes Nachdenken kalkulierbar und damit beherrschbar zu machen“ (Markowsky/ Thomas 1995: 86). Wäre das schlecht? Sollte es so deutsch sein? Und würde man damit im Kontrast andere Menschen und Kulturen abwerten? Als Folge sieht man in Deutschland die Zukunft eher skeptisch bis pessimistisch, weil man mögliche Fehlerquellen vorhersieht. Einen gewissen Fortschrittspessimismus stellen darum auch die amerikanischen Studenten bei den Deutschen fest. Dagegen gibt es bei den befragten Japanern und Griechen hierzu keine einheitliche Meinung. Einigkeit herrscht allerdings darüber, dass die Deutschen nach einem Stundenplan leben, wie es ein Amerikaner beschreibt. Ob es nun den Tagesablauf oder das Leben selbst betrifft, alles wird geplant. Ein Grieche: „Etwas Spontanes in Deutschland gibt es nicht. Es muss alles vorher organisiert sein“ (Ludwig-Uhland-Institut 1986: 30). Im Vergleich mit den USA haben die Deutschen einfach weniger Platz, es gibt kaum Landstriche, die nicht besiedelt sind. Auf der Straße kommen Gedrängel und Enge häufiger vor, unbeabsichtigte Körperkontakte sind da nicht vermeidbar und werden deshalb nur wenig beachtet. Im Vergleich zu anderen Kulturen ist es eher umgekehrt. Aber wie verträgt sich das mit Standard 1? Folge oder Widerspruch? In den USA ist es so, dass die Bevölkerungsdichte „nur in echten Ballungszentren wie New York an europäische Verhältnisse heranreicht“ (Mog/ Althaus 1992: 44). Auch Althaus/ Mog sehen als Kontrast die europäische „Enge und Kleinräumigkeit“. Wäre das schon kulturell? Zusätzlich äußern die befragten Amerikaner, dass man nirgendwo allein sein könne, weil man überall auf Menschen treffe, sogar im Wald (Mog/ Althaus 1992: 44). Doch: Im Vergleich zu USA gibt es im deutschen Fernsehen und in der Werbung mehr Nacktheit zu sehen. Dies bestätigten Amerikaner. Andere meinten, ihre Landsleute seien verklemmter, darum sei es in den USA nicht zulässig, sich in der Öffentlichkeit oben ohne in die Sonne zu legen. Selbst Kleinkinder lässt man beim Baden nicht nackt herumlaufen. Wäre es nicht naheliegender, nackt herumzulaufen, wo man nicht so nahe aufeinander hängt? Wer ist hier inkonsequent? 6. Körperliche Nähe Die räumliche Distanz zwischen Personen in der Öffentlichkeit ist oft sehr gering. (Markowsky/ Thomas 1995: 100) <?page no="198"?> 119988 7 Kulturstandards und Stereotypen 7. Abgegrenzter Privatbereich Die Privatsphäre ist heilig und wird vor der Außenwelt geschützt. (Markowsky/ Thomas 1995: 107) Ein Amerikaner erklärt: „Die Deutschen schließen die Tür, wenn sie in ein Zimmer reingehen, um sich einen Privatraum zu schaffen“ (Ludwig-Uhland-Institut 1986: 54). Das bedeutet, dass Türen meist geschlossen sind, dass Anklopfen üblich ist. „Die Tür grenzt den eigenen Bereich gegen die Außenwelt ab und schützt vor Lärm und Lauschangriffen“ (Markowsky/ Thomas 1995: 107). Markowsky/ Thomas erklären diese Lebensweise aus den vielen Normen und Verhaltensvorschriften, die das öffentliche Leben in Deutschland prägen. Im Privatbereich entfällt dagegen die Kontrolle von außen, man kann sich entspannen. Also wollen die Deutschen die Regulierung doch wieder nicht? Zur Privatheit äußern sich auch Althaus/ Mog: Sie konstatieren in Bezug auf die heutige Bundesrepublik, dass die Betonung und Abgrenzung der Privatsphäre „auch als Antwort auf die staatlichbürokratische Durchdringung der deutschen Gesellschaft verstanden werden“ kann (Mog/ Althaus 1992: 96). Als Beispiele für die Abwehrhaltung gegenüber Interventionen des Staates in die Privatsphäre des Einzelnen führen sie die Diskussionen über den Datenschutz an und nennen die Widerstände, die es anlässlich der Volkszählung gab. Zusätzlich führen Markowsky/ Thomas wieder die Enge und die hohe Bevölkerungsdichte in Deutschland als Grund dafür an, dass man so großen Wert auf die Privatsphäre legt. Mal so, mal so. Gilt das für die Menschen? Oder nur für die arbiträre Erklärung? 8. Persönliches Eigentum Materieller Besitz ist Teil der Privatsphäre und verdient entsprechenden Respekt. (Markowsky/ Thomas 1995: 113) Während Amerikanern in erster Linie der Gebrauchswert von Gütern wichtig sei, stelle für die Deutschen Besitz „einen zusätzlichen immanenten Wert“ dar. Er „bedeutet [...] Permanenz in einer schnelllebigen Zeit“ (Markowsky/ Thomas 1995: 113). Vor fremdem Eigentum hat man Respekt, den eigenen Besitz pflegt man sorgfältig (Markowsky/ Thomas 1995: 113). Diesen Umgang mit Eigentum führen die Autoren unter Anderem darauf zurück, dass in Deutschland immer wieder schwere Kriege stattfanden, bei denen viele Menschen ihr Hab und Gut verloren. Das hätte auch die entgegengesetzte Folge haben können. <?page no="199"?> 119999 Kulturstandards 8.1 „Hausbesitz bedeutet viel [...]; der Besitz an stark affektiv besetzten Utensilien aller Art ist größer; die Möbel sind, der Etymologie zum Trotz, nahezu Immobilien“ (Mog/ Althaus 1992: 56). Auch in anderen Publikationen werden Hausbesitz und Statussymbole - etwa Autos - thematisiert. 9. Pflichtbewusstsein Bei der Erledigung übernommener Aufgaben werden Selbstkontrolle und Disziplin in hohem Maße erwartet. (Markowsky/ Thomas 1995: 119) Im deutschen Kaiserreich und vor allem im preußischen Obrigkeitsstaat war die Pflicht ein wichtiger Begriff. „Die Ansicht war weit verbreitet, dass, wenn jeder seine Rolle pflichtgemäß erfüllt, Harmonie und eine funktionierende Gesellschaft die Folge wären“ (Markowsky/ Thomas 1995: 119). War die Harmonie gestört, dann lag das an menschlichen Fehlern und Schwächen. Sie waren zu korrigieren und zu überwinden, wollte man das Gemeinwohl erhalten. Vermittelt wurde diese Einstellung über kirchliche Moralvorstellungen und durch eine autoritäre Erziehung. Heutzutage tendieren junge Leute allerdings eher zu einer „säkularisierten Arbeitseinstellung“; da hat sich in puncto Wertewandel Einiges getan. Für welche Zeit soll es also gelten? Befragte Studenten kommen bezüglich der Einstellung der Deutschen zur Arbeit auf keinen gemeinsamen Nenner. Die Meinungen über die deutsche Arbeitsmoral gehen auch innerhalb jeder Befragungsgruppe weit auseinander. Während die einen äußern, dass für die Deutschen die Arbeit nur notwendiges Übel sei, Familie und Freizeit den größeren Stellenwert hätten, erklären die anderen, dass die Arbeit den Menschen erst den Lebenssinn vermittle. Man fragt sich: Gilt der Standard also oder gilt er nicht? Wieso wird er denn formuliert und hingestellt? 10. Geschlechtsrollendifferenzierung Traditionelles Geschlechtsrollenverständnis ist noch häufig anzutreffen. (Markowsky/ Thomas 1995: 128) Nach Markowsky/ Thomas gestaltet sich der Prozess der Emanzipation in Deutschland langwieriger als in den USA. Die volle Gleichberechtigung ist noch nicht erreicht. Von wem stammt das noch? <?page no="200"?> 220000 7 Kulturstandards und Stereotypen Dies äußert sich - so die Autoren - beispielsweise darin, dass in vielen Familien die Frauen den Haushalt besorgen und den größten Teil der Kindererziehung und Kinderbetreuung übernehmen, während die Männer sich um technische Dinge kümmern und ansonsten ihre berufliche Karriere verfolgen. Die Gründe für den nur langsamen Wandel leiten die Autoren aus der Tatsache ab, dass die Frau Jahrhunderte lang dem Mann untergeordnet war, auch durch Religion gestützt. Frauen waren in vielen Bereichen, etwa in der Erbfolge, benachteiligt oder ganz ausgeschlossen. „Intellektuelle Leistungsfähigkeit wurde Frauen kaum zugetraut.“ (Markowsky/ Thomas 1995: 129). Viele Männer - so die Autoren - halten auch heute noch, bewusst oder unbewusst, an ihrer Vormachtstellung fest, wollen nicht auf die Vorteile verzichten (Markowsky/ Thomas 1995: 129). Wieder das noch und ein eminenter bias der Darsteller. Trotzdem gelten die deutschen Frauen als emanzipiert. Eine Gruppe der Amerikaner meinte, dass in Deutschland die Frauenbewegung stärker sei als in den USA. Die befragten Amerikanerinnen gaben als Grund dafür an, dass in Deutschland Frauen auch stärker diskriminiert würden und noch weniger emanzipiert seien. Viele Frauen würden ihren Beruf nach wie vor zugunsten der Kindererziehung aufgeben. Daher sei die Abhängigkeit der Frauen von ihren Männern auch größer. Das wäre eine realistische Gemengelage und schönes Beispiel für die Inhomogenität. Anregung Methodisch lohnt es sich zu den Darstellungen der Kulturstandards zu fragen: • Wie weit stimmen die faktischen Behauptungen, auch die historischen, besonders in ihrer generalisierten Form? • Wie plausibel erscheinen die historischen Erklärungsmuster, vor allem das angesetzte Ursache-Wirkungsverhältnis? • Was tut die Unsichtbare Hand? Und wie tut sie es? Alexander Thomas *1939 Psychologe Gilt als bekanntester deutscher Wissenschaftler auf dem Gebiet der Psychologie interkulturellen Handelns. Projekte in vielen Kulturregionen: USA, Frankreich, China, Korea usw. und für viele Zielgruppen: Führungskräfte in Wirtschaft und Verwaltung, Austauschprogramme für Schüler, Studenten, Dozenten <?page no="201"?> 220011 Kulturstandards 8.1 Kulturstandards wurden in Forschungsprojekten von Psychologen erhoben. Die kulturvergleichende Psychologie schließt an die Idee der Völkerpsychologie von Wilhelm Wundt an, deren Aufgabe es sei, die geistigen Erzeugnisse zu erklären, die aus der Gemeinschaft des menschlichen Lebens hervorgehen. Was die Sprache und die allgemeine Methodologie betrifft, so hat schon Herrmann Paul hier vehement opponiert. Formulierungen von Kulturstandards klingen öfter objektivistisch und naiv bezüglich ihres Deutungsgehalts. Viele sind recht global und oversimplified. Öfter erwecken die Formulierungen den Eindruck der Homogenität, wenngleich an andrer Stelle sich Lippenbekenntnisse zur Differenzierung finden. Der bias hier „wir“ und die Deutschen, da die „Anderen“ und die Ausländer schlägt öfter durch. Auch in allgemeineren Formulierungen des Kulturvergleichs wie, dass in Kulturen etwas fehlt. Gewinnung und Anwendung der Kulturstandards sind problematisch. Schon die Rede von Standard schillert zwischen dem in Sozialwissenschaften üblichen Durchschnitt und einer Norm. Wie werden die Berichte erhoben? Basis sind doch wohl deutende Berichte. Wie werden die Berichte analysiert und bewertet? Und vor allem, wie kann man die Einzelberichte und Einzelerfahrungen zusammenstricken, kondensieren und generalisieren? Und weiter: Wie kann man sie dann wieder aufs Detail anwenden? Jede Situation ist ein Einzelfall. Die Beschreibung von Kulturstandards lässt weitgehend die methodische Trennung von Sache und Beschreibung vermissen. Kulturstandards bestehen aus sozialen Regeln, aus Konventionen. Da wäre methodisch zu differenzieren: Regel und Realisierung Regel und Regelformulierung Konstitutive und strategische Regeln Regeln und Normen Bewusstes und unbewusstes Befolgen Die Grundidee für die Interkulturelle Kommunikation sei: Verbesserung durch Angleichung der Kulturstandards. Das ist natürlich nicht generell gedacht, sondern für die Individuen. Alle psychischen Prozesse vollziehen sich in den Einzelgeistern und nirgends sonst. Weder Volksgeist noch Elemente des Volksgeistes wie Kunst, Religion etc. haben eine konkrete Existenz, und folglich kann auch nichts in ihnen und zwischen ihnen vorgehen. Daher weg mit diesen Abstraktionen. (Paul 1920: 11) Kritisch Forschungsansatz Status der Kulturstandards <?page no="202"?> 220022 7 Kulturstandards und Stereotypen Chinesische Manager [...] werden die Deutschen als unhöflich, unsensibel und als Menschen ohne „Kultur“, Sitte und Anstand betrachten, die nichts zu sozialer Harmonie beitragen, sie ständig stören und einen in Verlegenheit bringen. Auf ein solches Verhalten werden sie [...] mit deutlicher Antipathie und Ablehnung reagieren. (Thomas 1991: 129) Werden sie das? Und sollen sie das nicht? Wäre das nicht imperialistisch? Warum nicht umgekehrt? Das Funktionieren Interkultureller Kommunikation fordert nicht Angleichung. Es ist auch kein Anpassungsproblem. Kommunikation und Verstehen funktionieren anders. Wir müssen gerade nicht gleich werden. Gemeinsames Wissen genügt. Mit dem Wissen ändert sich das Verständnis und das Wissen lässt dem Partner Spiel. Individuelle Anpassung und Anpassungsversuche sind oft geradezu lächerlich. Die Kultur sorgt für sich selbst. Ein Standard ist so etwas wie ein allgemeiner oder vereinbarter Maßstab. Jeder Standard homogenisiert das Inhomogene. Aber von Gruppen ist in den Formulierungen nicht die Rede. Die Darstellung suggeriert über Strecken Objektivität. Aber werden sie nicht per Selektion normativ? Stellenweise schimmert durch, dass Kulturstandards nicht nur Normen und Werte zum Gegenstand haben, sondern auch selbst normativ gedacht sind. So etwa in der Redeweise, sie könnten definiert werden. Wer definiert hier? Wie sind normative Folgerungen dieser Art einzuschätzen? Wie nahe rücken Kulturstandards den Stereotypen? Stereotypen sind individuelle Wissensstrukturen. Sie selektieren und generalisieren, kontrastieren oft das Fremde und das Eigene. Auch Kulturstandards sollen perspektivisch und vergleichend ermittelt werden. So weit sind sie Sammlungen von Stereotypen. Fremdkulturellen Spielarten der Lebensgestaltung [...] ist Wertschätzung entgegenzubringen. (Thomas 1991: 112) Es muss geprüft werden, wie das Fremde in Richtung auf das Eigene geändert werden kann. (Thomas 1991: 112) Kulturstandards sind für Gruppen, Organisationen und Nationen typische Orientierungsmaßstäbe des Wahrnehmens, Denkens und Handelns. So wie ein Standard angibt, wie ein Gegenstand normalerweise beschaffen zu sein hat, wie ein häufig vorkommendes Ereignis normalerweise abläuft, so legt ein Kulturstandard den Maßstab dafür fest, wie Mitglieder einer bestimmten Kultur sich zu verhalten haben. (Thomas 1991: 5) Kulturstandards = Stereotypen? Normativ <?page no="203"?> 220033 Was sind Stereotypen? 8.2 Bestimmt wissen Sie, was Stereotypen sind, zumindest kennen Sie welche. Hier sehen Sie das Ergebnis eines Jux-Wettbewerbs: Leute aus vier Nationen schreiben ein Buch über Elefanten. Die Buchtitel stellen sog. Nationalstereotypen aus. Erkennen Sie ein bis zwei Stereotypen in jedem Titel und die jeweiligen Nationalitäten der Verfasser? 8.2 Was sind Stereotypen? <?page no="204"?> 220044 7 Kulturstandards und Stereotypen Wir sahen folgende Stereotypen: 1. Franzosen interessieren sich besonders für die Liebe. 2. Für Spanier ist der Stierkampf soo wichtig. 3. Die Engländer sind scharf auf die Jagd. Sie fahren auch gern in die eigenen Kolonien. 4. Amis sind ganz praktisch eingestellt. Sie haben oder wollen immer das Größte und das Beste. Stereotypen werden landläufig in generalisierenden Meinungen über andere Nationalitäten oder in geschlechtsspezifischen Rollenklischees gesehen. Wer etwas als Stereotyp identifiziert, verurteilt es gewöhnlich als ungehörige Rede- und Denkweise. Aber darin selbst steckt natürlich ein Vorurteil, nämlich jenes, man könne Stereotypen von eher objektiven und richtigen Meinungen unterscheiden, und mehr noch, dass es besonders die Anderen sind, die stereotyper Denkweise anheim fallen. Demnach sind nicht nur Stereotypen nahe bei Vorurteilen, sondern die ganze Betrachtungsweise. Einen neutraleren Stereotypen-Begriff proklamierte schon in den 20er Jahren des letzten Jahrhunderts W. Lippmann. Er versteht Stereotypisierung als ein rationelles Verfahren des Individuums zur Reduktion der Komplexität seiner realen Umwelt. Die psychologische und physiologische Beschaffenheit des Menschen sei bestrebt, Wahrnehmungen und Vorstellungen in standardisierte Raster einzuordnen, ohne die eine Orientierung unmöglich wäre. Dies führt zur selektiven Wahrnehmung bestätigender Eindrücke. Nach Lippmann ist Stereotypisierung als grundlegender Wahrnehmungs- und Kategorisierungsprozess zu verstehen, ohne den eine erfolgreiche Aufarbeitung und Bewältigung unserer Umwelt nicht möglich ist. Diese Auffassung entspricht neueren Erkenntnissen des Kognitivismus. Stereotypen bilden hiernach einen wichtigen Bestandteil des kognitiven Apparats zur Verarbeitung komplexer Informationen. Was sind Stereotypen? Definition For the most part we do not first see and then define, we define first, and then see. In the great blooming, buzzing confusion of the outer world we pick out what our culture has already defined for us, and we tend to perceive that which we have picked out in the form stereotyped for us by our culture. (Lippmann 1922: 81) There is economy in this. For the attempt to see all things freshly and in detail, rather than as types and generalities, is exhausting [...] There is neither time nor opportunity for intimate acquaintance. Instead we notice a trait which marks a well known type, and fill in the rest of the picture by means of the stereotypes we carry about in our heads. (Lippmann 1922: 88) <?page no="205"?> 220055 Was sind Stereotypen? 8.2 Stereotypen sind Spezialfälle mentaler Schemata oder kognitiver Modelle. Stereotypen sind also Janusköpfe: Einerseits sind sie negativ zu sehen als Produkte des Hörensagens und übertriebener Generalisierung. Andererseits sind sie notwendige und normale mentale Muster, weil eben mentale Muster in Generalisierung entstehen und kaum zu beurteilen ist, was von Übel ist und was nicht. Aber noch in einem anderen Sinn sind Stereotypen janusköpfig. Bisher haben wir von stereotypischer Wahrnehmung und kognitiver Verarbeitung gehandelt. Hier wird deutlich, dass als Stereotypen auch Wissensstrukturen zusammen mit ihrer sprachlichen Fassung gesehen werden. Dazu könnte man eine bunte Sammlung anlegen. Eine etwas formalere und fortgeschrittene Definition lautet so: Wenn man es genauer reflektiert, könnte man den letzten Halbsatz auch weglassen. [Die Stereotypensysteme] sind ein geordnetes, mehr oder minder beständiges Weltbild.[...] Sie bieten vielleicht kein vollständiges Weltbild, aber sie sind das Bild einer möglichen Welt, auf das wir uns eingestellt haben. In dieser Welt haben Menschen und Dinge ihren wohlbekannten Platz und verhalten sich so, wie man es erwartet. (Lippmann 1964: 97) Attitudes which result in gross oversimplification of experience and in prejudgements are [...] commonly called biases, prejudices, or stereotypes. (Allport 1967: 809) Janusköpfe Ein Stereotyp ist der verbale Ausdruck einer auf soziale Gruppen oder einzelne Personen als deren Mitglieder gerichteten Überzeugung. Es hat die logische Form einer Aussage, die in ungerechtfertigt vereinfachender und generalisierender Weise, mit emotional-wertender Tendenz, einer Klasse von Personen bestimmte Eigenschaften oder Verhaltensweisen zu- oder abspricht. (Quasthoff 1973: 31) Eine Menge von Aussagen ST ist ein Stereotyp in einer Gruppe G von Mitgliedern g genau dann wenn, • die Aussagen generalisieren, • die Mehrzahl der g glauben, dass die Mehrzahl der g sie kennt und weiß, dass sie nicht ganz zutreffen. Definition <?page no="206"?> 220066 7 Kulturstandards und Stereotypen Gut hinschauen Nachdenken Die frühe Definition von Lippmann betont, dass Sehen irgendwie eine zweite Natur ist. Doch schon Goethe hat dazu erhellend gesagt: „Ich weiß, was ich sehe. Ich sehe, was ich weiß.“ Unser Sehen ist kognitiv und schemageleitet. Das kommt uns selten in den Sinn. Unser Sehen ist automatisiert, in der Regel reflektieren wir dabei nicht, ob wir richtig sehen und was unser Sehen bestimmt. Da alles so selbstverständlich läuft, glauben wir, objektiv zu sehen. Betrachten Sie dieses Bild spontan. Wo ist das Foto aufgenommen. Was glauben Sie? Nun sehen Sie genauer hin, auf Details. Reflektieren Sie dabei: Welche Kleidung tragen die Leute? Was halten Sie für kulturtypisch? Für Welche Kultur? Wie viele sind so gekleidet, wie viele so? Was könnte das besagen? Welche Waren sind im Angebot? Wo kommen sie her? Wo gehören sie hin? Welche Anteile sehen Sie bei den verschiedenen Waren? <?page no="207"?> 220077 Was sind Stereotypen? 8.2 Europa? Auflösung Möchten Sie noch ein weiteres kleines Sehexperiment? Auch in diesem Fall geht es um Hybridität und Diversität von Kulturen. Betrachten Sie dieses Bild spontan. Wo ist das Foto aufgenommen. Wo steht das stattliche Wohnhaus? Oder ist es gar kein Wohnhaus? Was glauben Sie? Steht es ◊ in Nordfrankreich ◊ in der Schweiz ◊ in Singen? Nun sehen Sie genauer hin, achten Sie auf Details: Wo baut man solches Fachwerk? Wann und wo verwendete man Buckelsteine? Passt eigentlich das Turmdächlein so richtig? Dann aber das Umfeld: Wohin passen die Bäume? Und das Türmlein im Hintergrund? Vielleicht sollte ich dies Rätsel auflösen. Das Gebäude hat zu tun mit der recht kurzen Episode Deutschlands als Colonialmacht. Tsingtao war am Beginn des 19. Jahrhunderts deutsche Kolonie in China. Ein historisches Dokument der Brutalität ist die berüchtigte Hunnen-Rede des deutschen Kaisers. Das große Gebäude war der Sitz des deutschen Gouverneurs. Es existiert noch heute als Gästehaus, in dem einst auch Mao wohnte. Außerdem stehen in der Altstadt von Tsingtao viele Gründervillen im deutschen Stil der Zeit. <?page no="208"?> 220088 7 Kulturstandards und Stereotypen Entstehung Das Entstehen von Stereotypen ist eng an Wahrnehmungsprinzipien und Begriffsbildung gebunden, an allgemeine Strategien der Ausbildung mentaler Muster. Die Verfahren hierbei sind: Kategorisierung Selektion: Einmal ist keinmal. Generalisierung: Zweimal ist immer. Stereotypisierung: Wiederholung, Petrifizierung Stereotypes Denken ist ein notwendiger Bestandteil jeglicher Erkenntnis. Stereotype Denkschemata entstehen zwangsläufig und beruhen nicht auf Unbedachtheit oder Dummheit. Die Vielfalt der Welt ist nur erfassbar, indem wir Objekte kategorisieren. Wir unterscheiden z.B. Personen in große und kleine, weiße und schwarze, dicke und dünne, unverschämte, wissbegierige, geizige oder fleißige. Manche dieser Unterscheidungen sind in der Sprache durch Wörter gesichert, andere halten wir durch Wortgruppen fest. Sie sind weniger fest. Negative Stereotypisierung geht oft einen Schritt weiter. Ein Merkmal wird weiter aufgeladen durch andere Merkmale, die weniger an der vorfindlichen Realität festzumachen sind, vielleicht stärker wertend und damit von einem Bezugsstandard abhängig sind. Zum Beispiel dick wird aufgeladen mit unsportlich oder gefräßig. Das muss nicht unrealistisch sein, es kann lebenspraktisch vernünftig sein. Die stereotype Sichtweise dient dazu, komplexe Realität zu verarbeiten. In der Kategorisierung können weitere Verfahren eine Rolle spielen. 1. Distinktion: Damit unsere Unterscheidungen nicht diffus bleiben, müssen wir gerade saliente, ins Auge springende Merkmale generalisieren, in denen sich die Dinge unterscheiden. 2. Induktion: Wir können nicht anders, als aus einer begrenzten Anzahl von Erfahrungen zu verallgemeinern. 3. Analogie: Um verschiedene Erfahrungen und Erfahrungsbereiche kognitiv zu ordnen, ist es unumgänglich, Parallelen und Entsprechungen auszuwerten. 4. Hörensagen: Da wir nicht alles überprüfen können, müssen wir uns auf das Zeugnis Anderer stützen. 5. Komplettierung: Es ist unmöglich, alles in allen Nuancen wahrzunehmen. Wir müssen auf der Basis unvollständiger Wahrnehmungen Zusammenhänge und Fehlendes ergänzen. Kategorisierung Subprozesse <?page no="209"?> 220099 Was sind Stereotypen? 8.2 Generalisierung Stereotyping is a way of thinking that does not acknowledge internal differences within a group, [...] stereotypes blind us to other, equally important aspects of a person’s character or behavior. [...] They limit our view of human activity to just one or two salient dimensions and consider those to be the whole picture. (Scollon/ Scollon 1995: 156) Stereotypisierung Ein Merkmal wird aus einer Vielzahl von Möglichkeiten selegiert und für alle Vertreter einer Kategorie geltend verabsolutiert. Diese Verabsolutierung kann man auch als Generalisierung bezeichnen. Sie geht zwangsläufig mit einer Reduktion von Alternativen einher. Jede Stereotypisierung ist an eine Generalisierung gebunden. Zur Stereotypisierung wird die Generalisierung, wenn sie widersprüchliche Evidenzen ausklammert. Es gibt also - gottseidank - Generalisierungen, die man nicht als Stereotypisierungen auffassen muss, besonders wenn sie weniger an Selektion und Reduktion gebunden sind. Stereotypisierung kann in mehrfacher Hinsicht sichtbar werden: in Verabsolutierung in dauerhafter Festschreibung im Ausblenden divergenter Deutungen Die Eigenschaften werden deutlich in Stereotypenwitzen. Stereotypen- Witze Der Himmel ist dort, wo die Briten Polizisten, die Franzosen Chefs, die Deutschen Automechaniker, die Italiener Liebhaber sind und all das von den Schweizern organisiert wird. Die Hölle ist dort, wo die Briten Chefs, die Franzosen Automechaniker, die Deutschen Polizisten, die Schweizer Liebhaber sind und alles von Italienern organisiert wird. Warum haben Neger keine Handlinien? - Sie brauchen keine, haben sowieso keine Zukunft. Was ist ein Neger? Ein Schwarzafrikaner, der gerade rausgegangen ist. Welche drei weißen Dinge hat ein Neger? Zähne, Augen und Chef. Eine italienische Reisegruppe besucht die berühmten Niagarafälle. Der Fremdenführer macht sie aufmerksam: „Meine Damen und Herren, wenn Sie für einen Moment Ihre Unterhaltung einstellen würden, könnten Sie das gewaltige Tosen und Brausen des Wasserfalls hören.“ <?page no="210"?> 221100 7 Kulturstandards und Stereotypen Kommunikative Funktion Einmal wundert man sich im nachhinein oft, warum man in einer bestimmten Unterhaltung zahlreiche Stereotype unwidersprochen hingenommen hat, obwohl man doch im Grunde die vorgetragenen Meinungen keinesfalls teilt und darüber hinaus jede Form der stereotypen Verallgemeinerung verurteilt. (Quasthoff 1973: 94) Kirsten Nazarkiewicz (1994: 51) analysierte Gruppengespräche im Rahmen einer Weiterbildungsmaßnahme der Deutschen Lufthansa zum Thema Interkulturelle Kommunikation. Herrische Afrikanerinnen 31 L: naja, wobei: ich meine wenn ihr euch überle: : cht viele von denen sind 32 Millionärinnen das erklärt doch ers mal also für mich persönlich war das oftn [............] 33 H: mhm 34 L: Schlüsselerlebnis dass die jetzt plötzlich in der ersten Klasse auftauchten ne? <Geraune> 35 und sich: ehm und eben ja und mit dem entsprechenden Geha: : be in 36 son First Class Sitz geschmissen haben hh und tatsächlich grande dame 37 raushängen ließen also passte muss ich ganz ehrlich sagen nicht in mein Bild 38 C: da gehst dann hin und darf ich ma die Bordkarte bitte sehen hahahahaha 39 L: ja logisch ne? (.)das ratterte in meinem Kopf ab <allgemeines Gelächter> 40 C: jahahahaha 41 L: Afrika Entwicklungsland arbeiten im Busch ne? mit der Banane aus=n 42 [ ] [ ] 43 C: ja ja 44 E: mhmhm [ ] 45 Y: mhmhm 46 L: Wäldern gelockt und was de so alles an Stereotypen im Kopf hast 47 L: in jedem Fall ein armes Land [ 48 E: mit unserer Entwicklungshilfe ( )First Class 49 fliegen 50 L: genau genau GENAU! HAHAHAHAHAHAHAHA als das ja? <steigernd> 51 E: hahahahaha Transkript <?page no="211"?> 221111 Was sind Stereotypen? 8.2 Stereotypen spielen ihre Rolle bei der Deutung von Situationen und Handlungen. Ihre Anwendung kann entlasten, ihre Äußerung kann Gruppenzugehörigkeit bestätigen. Häufig werden soziale Stereotypen auch ausgesprochen, um der vermuteten Erwartungshaltung einer Gruppe zu entsprechen und so Integration zu erreichen. Auch der Status der Kommunikationspartner spielt eine wichtige Rolle, wenn es darum geht, wer Stereotypen möglichst gefahrlos äußern kann. Oft sind sich die Beteiligten dessen bewusst, äußern sie augenzwinkernd, sozusagen. Stereotypen werden kommunikativ schon mal von sprachlichen Absicherungsmaßnahmen vorbereitet, weil ihr Status als ungehörige Rede den Beteiligten bewusst ist. Solche Maßnahmen sind: abschwächende hedges: irgendwo, vielleicht, son bisschen disclaimer : Ohne jetzt irgendwie wertend zu sein Berufung auf eine Autorität: Hab ich irgendwo gelesen catchwords: vorbereitend auf das eigentliche Stereotyp: Es heißt ..., die Leute sagen ... Mit diesen Vorsichtsmaßnahmen signalisiert der Sprecher, dass er um die Einseitigkeit seiner Formulierung weiß. Dies hält ihn jedoch nicht davon ab, seine Meinung explizit kund zu tun, wenn er sich der Zustimmung - und oft der Empörung - der Gesprächspartner sicher sein kann. Das Aussprechen eines Vorurteils ist dabei regelmäßig von Lachen begleitet. Es dient dazu, Intimität zu heischen und herzustellen, die vor allem bei moralisch prekären Interaktionen (wie z.B. dem Austausch von Obszönitäten) und sanktionierten Gesprächstypen (improper talk) bedeutsam ist. Ein methodisches Stereotyp ist: Stereotypen gehören ausgeräumt. Das wird auch in interkultureller Kommunikation proklamiert. Wir sollten aber einsehen, dass das nicht geht, nicht für uns selbst und schon gar nicht für Andere. Alles, was geht, ist Distanz und Reflexion. AAbbsscchhiieedd Eckhard Henscheid Der Tschech ist frech Der Prager ist mager Der Lette: der fette Der Ungar: höchstens halbgar Mongolen sind verquollen Dagegen der Neger: sehr integer Der Chinese ist böse Der Jugoslaw gar nicht brav Der Bosnier: boshaft sehr Der Eskimo ist allzeit froh (An krummen Wegen. Gedichte und Artverwandtes. 1994) Funktion und Erscheinung Fazit Absicherung <?page no="212"?> 221122 7 Kulturstandards und Stereotypen Frazers Darstellung der magischen und religiösen Anschauungen der Menschen ist unbefriedigend; sie lässt diese Anschauungen als Irrtümer erscheinen. So war also Augustinus im Irrtum, wenn er Gott auf jeder Seite der „Confessionen“ anruft. Aber [...] wenn er nicht im Irrtum war, so war es der Buddhistische Heilige [...], dessen Religion ganz andere Anschauungen zum Ausdruck bringt. [...] Es ist sehr merkwürdig, dass alle diese Gebräuche endlich sozusagen als Dummheiten dargestellt werden. Der Unsinn ist hier, dass Frazer es so darstellt, als hätten diese Völker eine vollkommen falsche (ja wahnsinnige) Vorstellung vom Laufe der Natur. Seine Erklärungen der primitiven Gebräuche sind viel roher, als der Sinn dieser Gebräuche selbst. (Wittgenstein 1967: 240) Die Temperatur? Eine eigenartige Aussage. In Celsius ist sie um die Hälfte gefallen. In Fahrenheit um wie viel? Und in Kelvin? In der einschlägigen Literatur (Argyle 2002: 90) kann man Dinge lesen wie, japanisch „hai“ heiße zwar wörtlich „ja“, zeige aber in Wirklichkeit eher Verstehen als Zustimmung an. Frage: Wie soll denn ein japanischer Ausdruck wörtlich so viel heißen wie ein deutscher? Was soll „wörtlich“ von „in Wirklichkeit“ unterscheiden? Wieso sollte man die Verwendung eines japanischen Ausdrucks in einem deutschen Wort wie Verstehen fassen können? Kann man die Verwendung eines Ausdruck überhaupt mit so globalen Etiketten wie Verstehen und Zustimmung fassen? Und was bedeutet eigentlich deutsch „ja“? Ein bisschen sind wir alle Number-one-Typen, so lange wir uns nicht der eigenen Selbstverständlichkeiten bewusst werden, so lange wir nicht den Standpunkt wechseln können, so lange wir noch zu schnell werten. Hierzu Wittgensteins Notizen, die er bei der Lektüre von Frazers Golden Bough, einem ethnologischen Standardwerk, machte. Jede Kultur ist ein autonomes, funktionales System. Ihre Verfahrensweisen haben sich sozial und evolutionär herausgebildet, und sie funktionieren. Das bedeutet nicht, dass eine Kultur sozusagen homogen oder gar konsistent sei. Widersprüche sind Teil einer Kultur. Wie sollte es anders sein, wenn an ihrer Entwicklung so viele beteiligt sind? Kulturen sind autonom 8.3 Relativismus Gestern waren es noch 30 Grad, heute sind es nur noch 15. In nur einer Nacht ist die Temperatur um die Hälfte gefallen. <?page no="213"?> 221133 Relativismus 8.3 Beim Kontrastieren sollte man davon ausgehen, dass Verfahrensweisen, die abstrus wirken, ihren Sinn haben und funktionieren. Number-one-Typen vergleichen und werten, natürlich nach ihrem Maßstab. Dagegen halten wir: Vergleichen, Unterschiede erkennen und verstehen. Es soll darum gehen, die Verfahrensweisen zu verstehen und zu analysieren, wie und warum sie funktionieren. Frühe weltweite Kulturkontakte waren weitgehend geprägt durch den Kolonialismus. Neben ökonomischen Interessen war Missionarisches Trumpf. Ein Wertungsmuster: Wurden Unterschiede sichtbar, dann griff die Defizithypothese: Die kennen das nicht, die können nicht differenzieren. Ethnozentrismus pur. Ethnozentristen laufen auch in Fallen. So wird kolportiert, Ethnologen hätten festgestellt, dass australische Indigene nicht den Zusammenhang kennten zwischen Zeugung und Geburt. Die hatten Ethnologen auf den Arm genommen ob ihrer blöden Fragen. Dagegen Relativismus: In einem berühmten Aufsatz wirft Winch die Frage auf, ob wir primitive Gesellschaften verstehen können. Er diskutiert die Frage am Beispiel der afrikanischen Azande und ihrer Kultur, die über Strecken auf Magie, Zauber und Hexerei basiere. Azande glauben, dass manche ihrer Mitmenschen Hexer sind, die bösen Einfluss auf sie nehmen. Darum befragen sie Orakel, verwenden magische Medizin, um dem Einfluss zu entgehen. Wirklich fremd? Dr. H. ist Gastdozent einer kolumbianischen Universität. Seine Kollegin Professor I. lädt ihn zu einem Gastvortrag ein. H. sagt gerne zu. Ein genauer Termin in drei Wochen mitsamt Ort und Uhrzeit wird verabredet. Sie persönlich würde ihn abholen. Weiterhin wird besprochen, was zur Vorbereitung alles nötig ist: Eine PPTX muss hergestellt werden, Einiges kopiert werden, zudem braucht H. einen Beamer. I. schreibt sich alles auf, sagt noch mal, wie sehr sie sich freue auf den Vortrag. Eine Woche vorher kommt es zu einer flüchtigen Begegnung zwischen beiden, Floskeln werden ausgetauscht. H. wundert sich irgendwie, dass seine Kollegin den Vortrag nicht erwähnt. Er spricht das bei seiner deutschen Kollegin vom DAAD an. Sie weiß auch nichts von diesem Vortrag. Wann das denn mit wem für wann verabredet worden sei? Als sie hört, dass es schon zwei Wochen her ist, lacht sie. Ja, das sei noch nicht rekonfirmiert, das müsse man doch erst noch mal verbindlich machen durch die Rückbestätigung - reconfirmación genannt. H. meint nicht recht zu hören. Noch verbindlich machen? Alles sei abgesprochen, bis ins Detail hinein. Aber es gilt erst, wenn es rekonfirmiert sei, so die deutsche Kollegin. Dr. H. reagiert konsterniert. Was würden Sie tun, wenn Sie sich vor drei Wochen mündlich verabredet haben, jemanden in 300 km Entfernung zu treffen. Anregung Ethnozentrismus <?page no="214"?> 221144 7 Kulturstandards und Stereotypen Die ethnologische Beschreibung dieses Usus geht meist so: Wir wissen ja, dass es keine Hexerei gibt, damit auch, dass dies ein Aberglaube ist. Wir wissen es vor allem, weil wir einschlägige wissenschaftliche Untersuchungen gemacht haben, auf der Basis objektiver Realität urteilen. Und diese Realität gibt es irgendwie kultur- und sprachlos, sie ist jedenfalls nicht bestimmt durch unsere Sprache oder Kultur. Dann wäre sie ja nicht objektiv. Winch hält dem entgegen: In unserer Kultur ist Gott für manche Realität, für Andere nicht. Im religiösen Gebrauch unserer Sprache ist Gottes Existenz vorgesehen. Wir alle verstehen die Rede von Gott, wenngleich vielleicht nicht in gleicher Tiefe. Eine ganz andere Frage ist, ob unsere Kultur wirklich so rational ist. Ist das nicht nur ein öffentliches Ideal? Gibt es bei uns nicht auch Magie und Hexerei? Ist uns das nicht wohlbekannt? Zumindest kennen wir es aus unserer Geschichte. So verstehen wir das und halten es für überholt. Ohne diese Kenntnisse könnten wir die Beschreibungen der Azande-Verfahren gar nicht verstehen. Und wir verstehen sie auch nur so weit. Zum Beispiel glauben wir nicht, dass diese Verfahren funktionieren. Aber bei den Azande funktionieren sie. Und vielleicht glauben sie wirklich daran. Hätten wir dann verstanden? So ist also die objektive Realität kein Maßstab zur Beurteilung, was falsch und richtig in anderen Kulturen ist. Gäbe es andere Maßstäbe? Wir könnten etwa sagen, das System der Überzeugungen müsse kohärent oder gar konsistent sein. Das wäre abstrus. Wir wissen, dass dieses Kriterium nicht einmal auf Individuen zutrifft. Wir könnten sagen, es müsse Erklärungen und Begründungen für die Überzeugungen geben, damit sie für uns verständlich werden. Aber es gibt bei den Azande Erklärungen und Begründungen. Die glauben wir auch nicht. Wir beschreiben und verstehen so etwas eben als Aberglauben. „Abergläubig“, „irrational“, „rituell“, das sind Ausdrücke in unserer Sprache, die wir hier verwenden. Wir glauben es zu kennen aus unserem eigenen Umfeld, aus unserer eigenen Geschichte. Aber sollte es wirklich das sein, was wir so bezeichnen? Kann es das sein bei genetischer Betrachtung? Wir verstehen das alles. Aber wir glauben es nicht. Verstehen wir es dann? Ja und nein. Wenn wir Handlungen verstehen oder verstehen wollen, brauchen wir Beschreibungen, unter denen wir sie fassen. Dazu verwenden wir unsere Sprache. Und damit sind wir schon auf einer Seite. Reality is not what gives language sense. What is real and what is unreal shows itself in the sense that language has. (Winch 1972: 12) Die wahre Wirklichkeit Ein anderer Maßstab? Der Maßstab <?page no="215"?> 221155 Relativismus 8.3 Was machen wir denn, wenn wir die Azande, ihre Handlungen richtig verstehen wollen? Eine lange sprachtheoretische und linguistische Diskussion befasst sich mit der Frage des Zusammenhangs von Sprache und Denken oder Sprache und Weltansicht. Die Überlegungen wurden bekannt unter dem Label sprachlicher Relativismus und sprachlicher Determinismus, womit schon thesenartig die Art des Zusammenhangs angedeutet ist. Die einschlägige Diskussion ist verbunden mit den Namen Herder, Humboldt, Sapir und Whorf. We cannot explain social behaviour independently of our norms of rationality. (Winch 1972: 28) Since it is we who want to understand the Zande category, it appears that the onus is on us to extend our understanding so as to make room for the Zande category, rather to insist on seeing it in terms of our own ready-made distinction. (Winch 1972: 37) Human beings do not live in the objective world alone, nor alone in the world of social activity as ordinarily understood, but are very much at the mercy of the particular language which has become the medium of expression for their society. It is quite an illusion to imagine that one adjusts to reality essentially without the use of solving specific problems of communication and reflection. The fact of the matter is that the „real world“ is to a large extent unconsciously built up on the language habits of the group. (Sapir 1949: 162) The particular language we speak influences the way we think about reality. We dissect nature along lines laid down by our native languages. The categories and types that we isolate from the world of phenomena we do not find there because they stare every observer in the face. (Sapir 1949: 163) Edward Sapir 1884 - 1939 Deutschstämmiger Linguist und Anthropologe, der sich in Amerika mit Sprache und Kultur indianischer Völker befasste. Er arbeitete sowohl empirisch als auch theoretisch. Beschrieb 39 Indianersprachen. War einer der frühen Verfechter des engen Zusammenhangs von Kultur und Sprache. Relativismus und Sprache <?page no="216"?> 221166 7 Kulturstandards und Stereotypen Nachweisprobleme Der Ansatz wird gewöhnlich als Sapir-Whorf-Hypothese bezeichnet. Grob besagt sie, dass unsere Sprache unser Weltbild und unser Denken bestimme, dass die Welt nicht irgendwie objektiv gegeben sei. Doch eine so einheitliche Hypothese ist das nicht. Nicht nur, dass natürlich diese beiden Forscher und alle anderen Beteiligten unterschiedliche Auffassungen im Detail vertreten. Die verschiedenen Varianten sind spektakulär anders. Es ist doch schon etwas Anderes, ob das Weltbild - was immer das sei - bestimmt wird oder das Denken (so global formuliert). Vor allem ergeben sich dramatische Unterschiede je nach Stärke des angenommenen Zusammenhangs: • Bestimmt sie es? • Determiniert sie es? • Affiziert sie es? • Spiegelt sie es wider? Und geht es um • das Denken? • die Begriffsbildung? • die Wahrnehmung? • die Weltansicht? • die Lebensform? • die Handlungsweisen? Wie immer die Hypothese sprachlicher Relativität formuliert wird, ein stringenter Nachweis ihrer Gültigkeit ist notorisch schwierig. Zuerst einmal wäre der individuelle Aspekt zu trennen vom kollektiven. Denken aber ist immer individuell. Sagt ein Sprecher: „When I talk Indian, I think differently“ oder „Wenn ich eine andere Sprache spreche, dann denke ich anders“, dann kann man das schwer widerlegen. Wie sollte man mit objektiven Untersuchungen das subjektive Empfinden widerlegen? Wie ist uns das Denken einer Person zugänglich? Sind nicht Denken und Kultur nur zugänglich über Sprache? Wie ist die generelle Struktur einer Weltansicht erkennbar? Wären wir nicht durch die Sprache begrenzt, so dass wir die Welt gar nicht von außen betrachten könnten? Eigentlich kommt es viel weniger auf das Denken an als auf Kommunikation. Von fremdem Denken weiß ich wenig; was gesagt wird, zählt. Was sprachlich manifest ist, wird stillschweigend fokussiert und ständig unbewusst angewendet. Und vor allem: In einer Sprache ist Wissen formuliert und konserviert (das eben in einer anderen Sprache nicht festgehalten wurde). In jede Formulierung geht Vorwissen ein. Das Wissen, das in einer Sprache formuliert wurde, ist vielleicht in einer anderen Sprache gar nicht formulierbar. Die Sprache existiert nicht unbeeinflusst von diesem Wissen. Die SWH <?page no="217"?> 221177 Relativismus 8.3 Beispiel Verwandtschaft Eigentlich glauben viele ganz naiv, dass die Sprache unser Denken bestimme und dass wir deshalb in der Gefahr leben, dass die Sprache uns in die Irre führe und gar manipuliere. Das sagt natürlich jemand, der glaubt, er wisse, wie die Welt beschaffen ist. Im Bezug auf den Sprachwandel ist die Argumentation oft umgekehrt. Da heißt es schon mal, dass die Sprache sich ändere, weil die Welt oder die soziale Welt sich geändert habe. Die feministische Sprachkritik scheint allerdings doch wieder darauf zu vertrauen, dass man die Situation der Frauen verbessere, wenn man im Sprachgebrauch mehr feminine Formen vorkommen lasse. Jemand hat herausgefunden, dass im Irokesischen die Default- Form der Pronomen die feminine ist und umgekehrt wie bei uns die maskulinen Formen durch Movierung gebildet werden. Das korreliere doch schön damit, dass die irokesische Gesellschaft matrilinear ist. Aber so luftig und so simpel ist der Zusammenhang nicht. Gut untersucht sind die Verwandtschaftsbezeichnungen und Verwandtschaftssysteme in verschiedenen Kulturen. Dafür gibt es unterschiedliche Beschreibungssysteme. Üblich ist die relationale Darstellung von einem Ich her als einer Generation G 0 . Von da geht es Generationen zurück und voran. Auf den ersten, oberflächlichen Blick sollte uns stutzig machen, dass es erstens weiße Felder, Lücken im Weltbild gibt und zweitens ein Wort an mehreren Stellen vorkommt. Sollte so ein Wort mehrdeutig sein? Davon kann keine Rede sein. Es wurde auch nicht nachgewiesen. Die Annahme einer Mehrdeutigkeit ist jedenfalls immer ein Problem der Beschreibung. Und wieso sollte es Lücken geben? Lücken und die Platzierung des gleichen Worts an mehreren Stellen sind bedingt durch das Beschreibungssystem, durch das zugrunde gelegte Schema. Dieses Schema beruht vor allem auf einem Vorurteil. Es ist formuliert in einer anderen Sprache und ruht auf dem Vorurteil, der genetische Zusammenhang sei passend als Maßstab, sei objektive Realität also. Offenkundig ist das bei der untersuchten Kultur anders. Vielleicht ist der wichtigste Aspekt der Verwandtschaft das Zusammenleben oder die reziproke Fürsorge, die Verpflichtungen usw. Sprache und Denken Männliches ego G +2 nana ‚grandrelative‘ G +1 egya ‚father‘ na ‚mother‘ wofa ‚maternal uncle‘ G 0 nua ‚sibling‘ akyereba ‚male‘s sister‘ G -1 ba awofasi ‚sister‘s child‘ G -2 nana ‚grandrelative‘ <?page no="218"?> 221188 7 Kulturstandards und Stereotypen Frei und doch gebunden Unsere Darstellung und Erklärung fremder Kulturen und fremder Handlungsweisen ist ein Behelf. Wir schaffen uns so ein erstes Verständnis. Das können wir nur so. Ein tieferes und besseres Verständnis ist aber erst dann gegeben, wenn wir an der Praxis teilgenommen haben, wenn wir beispielsweise fremdes Handeln im Zusammenhang mit der zugehörigen Rede erfahren und verstanden haben. Ein Individuum, das mehrere Sprachen spricht, versteht auch mehr. Ein Individuum, das mehrere Kulturen kennt, hat eine weitere kommunikative Kompetenz. Die Sprache ist eine Brille, ohne Brille sehen wir nichts. Wenn ich die eine absetze, muss ich eine andere aufsetzen. Und darum können wir nicht wissen, wie die Welt ohne Brille ausschaut. Die Sprache ist aber kein Gefängnis. Sie ist offen und wir können in ihr auch Neues formulieren. Relativismus wird schnell mit ethischen Fragen in Verbindung gebracht. Das ist gut. Da heißt es etwa, der Relativismus könne keine ausreichende Rechtfertigung für ein Handeln sein. Dass er aufgrund seiner „moralischen Blindheit“ nicht tolerierbar sei, zeige sich in Beispielen wie Kinderarbeit, Misshandlung von Arbeitern und Ähnlichem. Dass so etwas in manchen Ländern weit verbreitete Praxis ist, dürfe noch keine Rechtfertigung für multinationale Unternehmen sein, ebenfalls Kinder auszubeuten. Welches sind denn universale ethische Prinzipien, nach denen Kinder nicht arbeiten sollen? Was heißt hier arbeiten? Wenn deutsche Kinder um 6 Uhr aufstehen, 30 Stunden zur Schule gehen und nachmittags noch Hausaufgaben machen und gar Nachhilfe bekommen, ist das keine Arbeit? Und wenn dann ein Elternteil für die 30-Stunden-Woche kämpft, passt das zusammen? Provokative These einer Tagung der Katholischen Akademie: Die Menschenrechte sind eine Frucht der europäischen Aufklärung. Sie sind universal - in unseren Augen. Das aber relativiert sie überhaupt nicht. Für tiefe interkulturelle Differenzen gibt es keine Angleichung. Wir können uns aber fragen: Geht es hier um Machtstrukturen: Persönliche Macht, Staatsmacht, Erziehungsmacht? Akzeptieren oder tolerieren die Individuen das? Ich jedenfalls möchte meine ethischen Prinzipien nicht aufgeben. Oder Sie? Die einzige Lösung wäre eine persönliche: Toleranz, die eigene Überzeugung vorleben, hoffen, dass sie zum Vorbild wird. Die Menschen anderer Kulturen müssen vor der Überheblichkeit des Universalitätsanspruchs der europäischen Menschenrechtsforderung geschützt werden; sie können das europäische Denken schon vom Ansatz her nicht verstehen. <?page no="219"?> 221199 Where it doesnt itch dont scratch. 9 Critical Incidents Abend in Indonesien Familie Ahmad sitzt am Tisch und wird gleich mit dem Essen beginnen. Oma S. und Maja sind beim Abendessen anwesend. Maja studiert in Deutschland. Sie hat Semesterferien und weilt in Indonesien bei ihrer Familie. Schön wieder daheim zu sein. Ich habe vor allem dein Essen vermisst Mama. Frau Ahmad serviert das Essen. Zuerst füllt sie den Teller ihres Mannes. Aha, so sieht also ein deutsches Mädchen aus. Maja hat ihre deutsche Freundin Martina mitgebracht. Mir knurrt schon der Magen. Ich bin auch hungrig. Und das Essen sieht toll aus. Wie lange wird sie wohl bleiben? Hoffentlich wird es allen schmecken. <?page no="220"?> 222200 Als nächstes serviert sie Martina. Womit isst man das? Mit dem Löffel oder der Gabel? Dieser Abend ist ein besonderes Ereignis für Martina. Mit dem Löffel. Inzwischen sind alle Teller gefüllt. Martina ist sehr hungrig. Oooh, was macht sie denn jetzt? ! Sie will zu essen anfangen. Da sieht sie, dass Maja ihr Gesicht verzieht und legt ihren Löffel auf den Teller zurück. Herr Ahmad blickt streng zu Martina hinüber. Er kann sich nicht erklären, warum Martina das Tischgebet nicht abwartet. ? ? ? Dieses Gericht nennt man Nasi Goreng. Es ist eine indonesische Spezialität. 9 Critical Incidents <?page no="221"?> 222211 Herr Ahmad spricht das Tischgebet. Dabei sitzen die anderen mit gesenktem Blick und hören ihm zu. Bismillahirrahmanirrahim Der Herr des Hauses beginnt mit dem Essen. Wie gefällt es dir hier? Es ist sehr schön. Ich freue mich, diesen Abend bei Ihnen verbringen zu dürfen. Nur das Wetter bekommt ihr nicht. Ja, seit ich hier bin, habe ich eine Erkältung. Dabei muss ich ständig niesen. Shit, jetzt ist es wieder soweit. Was sind Critical Incidents? 9.1 <?page no="222"?> 222222 9 Critical Incidents Herr Ahmad senkt den Blick, beide Frauen schauen Martina befremdet an. Martina muss laut niesen und schnäuzt sich anschließend. Was für ein Verhalten? ! Warum starren die mich alle an? Hoffentlich wird die Erkältung bald besser. Wie gehts eigentlich deiner Familie? Dankeschön. Es geht ihr gut. Sie richten Ihnen schöne Grüße aus. Hatschi! Frau Ahmad ist über Martinas Verhalten entsetzt, sagt jedoch nichts, um nicht unhöflich zu sein. <?page no="223"?> 222233 Martina muss wieder niesen und schnäuzen. Nicht schon wieder! ! ! Das ist ja das Allerletzte ... Hab ich was falsch gemacht? Nichts. So gehen interkulturelle Erlebnisse öfter aus. Man merkt, dass irgendwas nicht stimmt. Man bekommt aber nicht unbedingt erzählt, was das Problem war. Was sind Critical Incidents? 9.1 <?page no="224"?> 222244 9 Critical Incidents Die Idee Die Darstellung und das Verständnis hochkomplexer Systeme stellt uns vor allem vor ein Problem: Wie viel des Systems müssen wir auf Vorrat kennen und darstellen, um Probleme in der Anwendung, im Prozess zu vermeiden? Wie groß also darf der Beschreibungsoverhang sein, damit das Ganze noch aktiv eingreift, ökonomisch ist? In menschengemachten Systemen, könnte man denken, sei das kein Problem, da ja der Planung eine explizite Beschreibung zugrunde liegt. So etwa im Beispiel eines militärischen Flugsystems. Aber auch hier ist der gesamte komplexe Prozess störanfällig. Zwar mögen alle Details der Maschinen bekannt sein, wo aber treten im Ablauf Fehler auf? Und erst recht in der Interdependenz von Mensch und Maschine. Im Kulturellen und in der Interkulturellen Kommunikation lassen sich viele von der Idee leiten, man könne und man müsse eine Kultur so detailliert beschreiben, dass, wer die Beschreibung kennt, mit ihr zurecht kommt, ohne anzuecken. Aber wie viel wäre das? Laufen wir mit diesem Konzept nicht in das Problem der Fraktalen Geometrie? Je tiefer wir hineingehen, umso detaillierter wird alles, umso weiter geht es. Ohne Ende? Mit exemplarischen Fallbeispielen ist ein anderes interkulturelles Lernen möglich. Lerner deuten und analysieren tatsächliche Fälle und finden selbst regelhafte Verallgemeinerungen, die sie in der Anwendung bestätigen oder verwerfen können. Damit kann diese Methode auch dem interaktiven Lernkonzept dienen. Für die Analyse und Diagnose komplexer Systeme und Abläufe entwickelte der US-Amerikaner John C. Flanagan die Critical Incident Technique CIT (Flanagan 1954). 9.1 Was sind Critical Incidents? The critical incident technique has been in formal use since World War II. It was used in studies examining flight crew selection, readiness, and performance. Fitts and Jones (1947) studied information about pilot experiences and errors in reading and interpreting aircraft instruments from eyewitness reports. Flanagan, however, used observers trained in air combat and CIT to collect data about activities in the course of work. (Jim Carpenter: http: / / medir.ohsu.edu/ ~carpentj/ cit.html) Flanagans Idee war, direkte Beobachtungen menschlichen Verhaltens zu sammeln, um damit praktische Probleme zu lösen und dafür psychologische Prinzipien auf breiter Basis zu entwickeln. Unter einem Incident verstand Flanagan „any observable human activity that is sufficiently complete in itself to permit inferences and predictions to be made about the person performing the act.“ (Flanagan 1954: 327) <?page no="225"?> 222255 Was sind Critical Incidents? 9.1 Der Erfinder und Entwickler konzentriert sich ausdrücklich auf die einzelne Person und den einzelnen Fall. So kann der Incident unterschiedliche Ursachen haben, detailliert erfasst und analysiert werden. Die Handlung, daraus resultierende Schlussfolgerungen und Vorhersagen sind historisch einmalige Ereignisse und sollten nicht voreilig generalisiert werden. Transfer auf IKK Ging es am Anfang wesentlich um den Umgang von Menschen mit Maschinen, kam bald der Gedanke auf, dieses Verfahren zu übertragen auf menschliche Interaktion. In unserem Zusammenhang ist besonders wichtig, interkulturelle Incidents mit dieser Technik zu erfassen und zu analysieren. Die Ausgangsthese dabei war, dass die Handlungsweisen verschiedener Kulturen in spezifischen Situationen differieren und dass es zu CIs kommt, wenn Teilhaber dieser Kulturen in Kontakt treten. Es entstehen Missverständnisse, Verwirrung und Konflikte. Für die Erhebung baut man auf Erfahrung und Erleben von Individuen. Ein Szenario für die interkulturelle Nutzung von CIs wäre so zu skizzieren: 1. Grundbedingung für diesen Typus von CIs ist, dass zwei Kulturen K 1 und K 2 eine Rolle spielen. 2. Erhoben werden die CIs von einem Forscher F (aus K 1 ? ). 3. Befragt werden Erlebende E aus K 1 , die Auslandserfahrung haben und ihren CI im Ausland erlebt haben. 4. Beteiligt sind Partner P aus der für E fremden Kultur K 2 und die Nutzer N aus K 1 , die aus dem CI lernen wollen. Resultat des Verfahrens kann ein CI dieser Form sein. Zugang zu den Daten An American businessman in Indonesia remains constantly upset because the Indonesians arrive late for work and seem to work halfheartedly, enjoying joviality with each other on the job. The businessman finally tells the workers to „stop playing around and get down to work“ or he will take drastic measures. A few workers quit; others deliberately work less efficiently. Direct observation is not required by CIT. The method can provide a rich information source about real users doing real tasks in production environments. (Jim Carpenter: http: / / medir.ohsu.edu/ ~carpentj/ cit.html) Dies hat man sich zunutze gemacht, um durch Befragung an Critical Incidents zu kommen. Man begann etwa mit einer Ausgangsfrage wie Salzmann in einer Untersuchung bei den Navajo: <?page no="226"?> 222266 9 Critical Incidents 4. Aus den Reaktionen werden Leitfragen oder typische Erklärungen entwickelt, die die Experten wiederum beurteilen. Man kategorisiert und systematisiert die CIs . Das gesamte Verfahren der CI-Gewinnung könnte nun in etwa folgenden Phasen verlaufen: 1. Man befragt E nach kritischen Interaktionssituationen per Interview oder in Gruppendiskussionen. Die Erzählungen werden verschriftlicht. 2. Man lässt die CIs beurteilen von muttersprachlichen Experten aus beiden Kulturen, unterzieht das Material einer eingehenden Analyse, lässt die gesammelten Incidents sichten auf Wahrscheinlichkeit und Beispielhaftigkeit. 3. Zu jedem CI geben die Experten eine eigene Erklärung. Man kontextualisiert die Analysen im allgemeinen kulturellen Zusammenhang, verbindet sie mit verwandten literarischen Szenen und kulturhistorischen Erkenntnissen. Danach werden die CIs mit Analysen versehen. Gewinnung in vier Phasen The wife of a new foreign service officer in Sierra Leone is just learning to buy in the local marketplaces. She returns from an afternoon of shopping, her feelings hurt, when owners of market booths shouted at her during their bargaining transaction. She considers this behavior insulting. The foreign service officer’s wife had not yet learned that her host culture expects and enjoys intensive bargaining. There was no intend of animosity toward her; she did not yet understand interpersonal communication in that culture in that situation. Je nach Ansatz soll ein CI unterschiedliche, auch didaktische Kriterien erfüllen: Er stellt eine typische Situation dar, in der ein Vertreter von K 1 mit einem Vertreter der Kultur K 2 in Interaktion tritt. Diese Situation ist für den Vertreter der Kultur K 1 konfliktär, rätselhaft oder ambivalent. Mit ausreichendem Wissen über K 2 kann die Situation plausibel gedeutet werden. (Fiedler/ Mitchel/ Triandis 1971: 97) Kriterien Can you think of a situation or incident involving people from the other culture [...], that you experienced or observed which resulted in some kind of difficulty, trouble, misunderstanding or left you with bad feelings or thoughts about the other group? (http: / / jaie.asu.edu/ v30/ V30S1con.htm) <?page no="227"?> 222277 Was sind Critical Incidents? 9.1 CIT als wissenschaftliche Methode Prinzipiell geht es bei CIs um Erlebnisse oder Vorfälle, die für die Beteiligten oder einen Beteiligten unerwartet oder unangenehm waren, oft wohl auch um einen Konflikt. Als problematisch wird eine Kommunikationssituation vor allem dann erlebt: Die Begegnung und der erwartete Verlauf sind für einen Partner oder für beide bedeutsam. Die Partner erleben solche unerwarteten Verläufe öfter. Die Partnerreaktionen sind mit den vertrauten kulturellen Schemata nicht mehr zu erfassen und zu verstehen. Der Partner reagiert auf die eigenen Handlungen und auf Verständigungsversuche nicht adäquat, weil er sie vielleicht nicht versteht. Der Handelnde befindet sich in einer Situation, in der er das Umfeld und sich selbst nicht mehr versteht, da die bisher eingesetzten Mittel zur Orientierung und Verhaltenssteuerung nicht mehr taugen. (nach Thomas 1991: 105) Die CIT wäre in unseren Augen eine ausgezeichnete wissenschaftliche Methode zur Erforschung Interkultureller Kommunikation. Sie könnte uns die primären Daten liefern, die Generalisierung und Stereotypisierung durch Theorien dokumentierbar und kritisierbar machen würden. It is specific: it represents important elements of tasks and does not record vague traits or general impressions. It can quickly identify system features that are particularly vulnerable, and has value in the reporting of near misses, especially in safety-critical environments. (Jim Carpenter: http: / / medir.ohsu.edu/ ~carpentj/ cit.html ) Events or incidents are self-reported, reported by colleagues in employee evaluation, through interview, or collected by observers trained in both the application’s domain and CIT methodology. Reporting may vary in frequency from single self-reports or interviews at the end of an observation period, to irregular, weekly, and daily interviews and selfreports. (Jim Carpenter: http: / / medir.ohsu.edu/ ~carpentj/ cit.html) Dies ist im Grunde angelegt und sollte vor allem gesichert sein durch das Vortraining der Erheber: Für eine seriöse Feldforschung dürften sich die Beobachter allerdings nicht auf Berichte stützen. Sie müssten vielmehr beim Incident selbst dabei sein und in direkter Beobachtung arbeiten. Wäre das überhaupt denkbar? <?page no="228"?> 222288 9 Critical Incidents Critical Incidents sind als Analysematerial und als Lernmaterial für interkulturelle Probleme beliebt. Sie sind zum Zwecke der Illustration in andere Diskussionszusammenhänge integrierbar, aber auch diskussionswürdige Beispiele aus eigenem Recht. Je nach didaktischer Absicht kann ein Critical Incident modifiziert und didaktisiert werden. Critical Incidents werden in unterschiedlichen Ansätzen interkulturellen Trainings genützt, und je nach Ausrichtung des Ansatzes ändert sich auch ihre Nutzung. Sie eignen sich für die theoretische Wissensvermittlung über eine Kultur (im Sinne des kognitiven Ansatzes) ebenso wie zum Abbau von Vorurteilen. Das Minimalziel, das allen Konzepten, CI-Programmen und CI-Methoden gemeinsam ist, kann wie folgt zusammengefasst werden: Aufgabe und Ziel interkulturellen Trainings ist es, den Teilhabern einer Kultur K 1 beizubringen, wie sie in einer Kultur K 2 oder mit Teilhabern dieser Kultur effektiv, empathisch, mit einem Minimum an Missverständnissen und dem geringsten Verlust an Autonomie interagieren können. Wie können CIs hierfür fruchtbar werden? 9.2 Die interkulturelle Trainingspraxis Nach dem Zweiten Weltkrieg entwickelten die USA verstärkte Auslandsaktivitäten in den Bereichen Politik, Wirtschaft und Militär. So entstand ein Bedarf nach Trainings, die Orientierung für den Aufenthalt in fremder Umgebung boten und „Diplomaten, Geschäftsleute, militärische Berater, Entwicklungshelfer usw. auf die Interaktion und Kommunikation mit Mitgliedern fremder Kulturen“ vorbereiteten (Dadder 1987: 69). In der Folge wurden in den USA eine Vielzahl unterschiedlicher Trainingsprogramme konzipiert, unter ihnen die Methode des Culture Assimilator. Der Culture Assimilator wurde als kulturspezifisches Trainingsprogramm 1962 von den Wissenschaftlern Fiedler, Osgood, Stolurow und Triandis an der Universität von Illinois entwickelt. Die Trainingsmethode besteht aus einer Sammlung von verschriftlichten und für die Wissensvermittlung konstruierten oder manipulierten Critical Incidents, die damit allerdings nur noch teilweise auf realen Begebenheiten basieren. Die bekannteste Nutzung von CIs in der Interkulturellen Kommunikation sind die vielen Varianten des Culture Assimilator Programms. Das Ziel dieser Trainingsform ist „to teach individuals to see situations from the perspective of members of the other culture“ (Albert 1983: 189). Der Culture Assimilator Kriterien <?page no="229"?> 222299 Die interkulturelle Trainingspraxis 9.2 Erworben werden sollen: deklaratives Wissen über die zweite Kultur Know how und Verstehen Know how für das Handling kritischer Situationen Dabei kann eher auf allgemeine Regularitäten wie Kulturstandards fokussiert werden oder auf den individuellen Fall und individuelle Konsequenzen aus seiner Betrachtung. Weil letztlich eher Sensibilisierung und nicht Assimilierung das Ziel der Methode ist, wird adäquater auch von einem Intercultural Sensitizer statt von einem Culture Assimilator gesprochen. Die didaktische Nutzung wird gewöhnlich in vier Schritten vorbereitet. 1. Man sichtet die Sammlung der Critical Incidents auf ihre Eignung für didaktische Zwecke, selegiert und systematisiert sie entsprechend dem Vorverständnis und verortet sie in der Struktur des geplanten Trainingsprogramms. 2. Man entwirft zu jedem CI ein Multiple Choice, das alternative Deutungen bietet. Die Erklärungsalternativen werden entwickelt in Zusammenarbeit mit Teilhabern von K 1 und K 2 : Sie werden befragt, warum sich ihrer Meinung nach die Personen im Incident auf diese spezielle Weise verhalten haben. Aus den Antworten werden je Critical Incident die vier plausibelsten ausgewählt. Drei sollten aus der Teilnehmerperspektive als möglich erscheinen, sind aber falsch. Der Programmkonstrukteur entscheidet also nach eigenen Kriterien, welche die richtige ist. 3. Nun wird das Feedback für den Multiple Choice entwickelt, das zusätzliche kulturelle Hintergrundinformationen zur geschilderten Situation enthält (Fiedler/ Mitchell/ Triandis 1971: 98). Zur Überprüfung der Qualität des Erarbeiteten werden Personen aus der Kultur K 2 befragt: Wie typisch oder wahrscheinlich ist die beschriebene Situation? Welche Erklärungsalternative trifft am ehesten zu? Personen aus der Anwenderkultur werden befragt, wie wichtig und relevant ihnen die beschriebene Situation für jemanden erscheint, der sich in der Zielkultur aufhalten will. 4. Die vierte Phase umfasst die Validierung und Erprobung des Programms. Items, die der didaktischen Überprüfung nicht standhalten, werden herausgenommen. Abschließend werden die Critical Incidents in eine systematische Ordnung gebracht, die eine Progression oder eine Zuordnung zu den einzelnen Lernzielen ermöglicht. <?page no="230"?> 223300 9 Critical Incidents Der Ablauf eines Sensibilisierungstrainings sieht meistens wie folgt aus: 1. Die Lerner lesen die Critical Incidents. 2. Danach wird eine Aufwärmfrage gestellt, die auch aus Sicht einer der beteiligten Personen formuliert werden kann. Die Lerner werden aufgefordert, aus den vier angebotenen plausibel klingenden Erklärungen die Antwortmöglichkeit zu wählen, die ihnen am wahrscheinlichsten erscheint, von der sie glauben, dass sie die Ursache für den geschilderten kritischen Vorfall ist. 3. In einem Lösungsteil mit den Antworten lesen die Lerner, ob sie mit ihrer Annahme richtig liegen und bekommen eine ausführliche Erklärung. 4. Liegt ein Lerner falsch, wird er auf den Text zurückverwiesen und gebeten ihn nochmals zu lesen und sich eine andere Antwortmöglichkeit auszusuchen. Komplexere Fallbeispiele, deren Lösungen zudem nicht immer eindeutig oder kulturspezifisch gesehen werden, präsentieren später Brislin/ Cushner/ Cherrie/ Yong 1986. Programmstruktur Beispiel: Thomas- Variante In einer viel verwendeten Variante wird das Training so verlaufen (nach Thomas 1991: 118). EElleemmeenntt AAuuffggaabbee FFuunnkkttiioonn/ / LLeerrnnzziieell CI Nummer1 Lesen Kennenlernen von Konfliktsituationen und fremden Verhaltensweisen Frage nach Erklärung des Verhaltens Sich in die Situation versetzen, eigene Reaktion erproben Eigenkulturelles Erklärungsmuster bewusst machen Kulturelle Sensibilisierung Bewusstwerden eigenkultureller Standards Multiple Choice: Vier Antwortalternativen Antworten lesen und auf kulturadäquaten Erklärungswert gegeneinander abwägen Erkennen der Orientierungslosigkeit im fremdkulturellen Umfeld Kennenlernen neuer Deutungsmuster <?page no="231"?> 223311 Die interkulturelle Trainingspraxis 9.2 Realisierungen Die Programme von Thomas und seinen Mitarbeitern sind stets für einzelne Kulturpaare ausgelegt und sprechen eine bestimmte Zielgruppe an, meist Manager oder Führungskräfte in der Wirtschaft wie im „China Business and Culture Assimilator“ oder Studenten, Schüler und Praktikanten wie im „Interkulturellen Orientierungstraining“ oder Amerikaner, die zu einem Studienaufenthalt nach Deutschland kommen (Markowsky/ Thomas 1995). Die Programme nehmen Bezug auf die jeweiligen Kulturstandards, orientieren sich an ihnen und propagieren sie indirekt. Antwortskala Antwortalternativen beurteilen statt eine zu favorisieren Erkennen der Ambiguität von Verhalten Erklärungen zu jeder Antwortalternative Lesen, vergleichen mit Selbsteinschätzung Kennenlernen neuer Verhaltens- und Deutungsmuster Aufforderung, eigene Handlungsstrategie zu entwickeln Eigene Handlungsstrategie entwickeln Selbständige Auseinandersetzung zur Förderung der Lernwirksamkeit Erkennen, dass Orientierung wieder möglich Handlungsstrategie Lesen mit eigener Strategie vergleichen Erkennen kulturtypischer Handlungsbarrieren und Lösungswege Kulturstandard, kulturhistorische Verankerung Lesen Kennenlernen des Kulturstandards und seiner kulturhistorischen Wurzeln Diskussion Fragen, Beispiele aus eigener Erfahrung, Problematisierung der multiplen Interpretationsmöglichkeiten Vertiefen: Aufbau einer individuellen Erklärungs- und Deutungskompetenz <?page no="232"?> 223322 9 Critical Incidents 9.3 Didaktische Formate Abend in Indonesien Lesen Sie den Text in Ruhe. Machen Sie Notizen. Überlegen Sie: Wodurch könnte die bedrückende Atmosphäre entstehen? Martina, eine Studentin aus Deutschland, macht ein Praktikum am Goethe-Institut in Indonesien. Martina wohnt bei einer einheimischen Familie. Zusammen mit ihrer Freundin ist sie bei einer sehr einflussreichen und streng gläubigen moslemischen Familie zum Essen eingeladen. Leider ist Martina erkältet, so dass sie sich während des Essens einige Male schnäuzen muss. Natürlich tut sie dies ganz dezent, indem sie sich vom Tisch abwendet. Sie bemerkt, dass die Gastgeber mit der Tochter ihrer Gastfamilie tuscheln. Sie fragt bei der Tochter nach, ob sie etwas falsch gemacht habe. Die Tochter verneint und erklärt, dass sich die Gastgeber nur nach ihrem Gesundheitszustand erkundigt hätten, und fragt Martina dann, ob sie wissen möchte, wo sich das Badezimmer befindet. Martina verneint dankend. Insgesamt empfindet sie die Atmosphäre als bedrückend. Vor allem ist da noch dieser scheußliche Schnupfen, so dass sie sich immer wieder schnäuzen muss. Martina hat den Eindruck, dass ihr nicht sehr viel Interesse entgegengebracht wird. Sie kann dafür keine andere Erklärung als die Bestätigung ihres Vorurteils finden, dass mit streng gläubigen Moslems sehr schwer auszukommen sei, weil diese wiederum ihre Vorurteile gegen Ungläubige nicht ablegen können. Was erscheint Ihnen wahrscheinlich? Erproben Sie ruhig mehrere Möglichkeiten. Martinas schlechte Stimmung überträgt sich auf die gesamte Atmosphäre. Indonesier haben große Angst vor Ansteckung. Streng gläubige Muslime können mit Ungläubigen kaum locker umgehen. Man schnäuzt sich nicht vor anderen Leuten. CI-Nutzung Multiple Choice <?page no="233"?> 223333 Indonesier haben große Angst vor Ansteckung. Sicherlich gibt es einige Hinweise, die man so deuten kann. Doch sie reichen nicht aus, Indonesiern eine besondere Ansteckungsangst zu unterstellen. Martinas schlechte Stimmung überträgt sich auf die gesamte Atmosphäre. Streng gläubige Muslime können mit Ungläubigen kaum locker umgehen. Warum hat die Familie Martina eingeladen, sie bewirtet und ist interessiert daran, wie es ihr geht, wenn sie nur als Ungläubige wahrgenommen wird? Vielleicht ist es allein für Martina schwer mit streng gläubigen Muslimen locker umzugehen. Man schnäuzt sich nicht vor anderen Leuten. Martina hat offensichtlich ein bestimmtes Bild von streng gläubigen Moslems. Ihr Vorurteil und ihr Schnupfen führen sicherlich dazu, dass sie sich nicht locker fühlt. Aber das ist kaum die ganze Geschichte. Es gibt viele Indizien, die auf eine andre Fährte weisen. Hierfür gibt es Indizien. Der Hinweis auf das Badezimmer: Wenn man sich schnäuzen muss, sollte man sich zurückziehen. Schnäuzen bei Tisch ist unhygienisch. Martina verletzt somit ein wichtiges Reinheitsgebot. Die Freundin spricht das nicht offen aus, weil es ein sehr heikles Thema berührt. Martina versteht ihr Fehlverhalten nicht, spürt aber die atmosphärische Spannung. Offene Reaktionen Didaktische Formate 9.3 <?page no="234"?> 223344 9 Critical Incidents Background In vielen Kulturen, besonders in Asien, ist das Schnäuzen vor anderen Menschen verpönt. Es rührt an bestimmten Reinheits- und Hygienevorstellungen. Es geht um Körperflüssigkeiten allgemein, also um Schweiß und andere Sekrete. Wer diese absondern muss, sollte dies unauffällig, dezent und nicht in Gegenwart Anderer machen. Es berührt die Intimsphäre der Menschen. Selbst die Vorstellung, dass ein Anwesender ein Taschentuch mit Nasensekret in seiner Hosen- oder Handtasche mit sich führt, kann Ekel erregen. Bei Geboten bzw. Verboten dieser Art handelt es sich um Regeln, die von Kind auf gelernt werden und tief verinnerlicht sind. Sie sind Teil eines verbindlichen Reinheitsstandards. An ihnen zu rütteln, kommt einer Tabuverletzung gleich. Man kann von daher auch nur schlecht über sie reden. Martina schnäuzt sich gleich mehrmals vor Anderen bei Tisch. Sie begeht einen Tabubruch und bringt damit nicht nur ihre aktuellen Gastgeber in Schwierigkeiten. Tabuverletzungen sind aber kaum verhandelbar. Über sie zu sprechen, fällt schwer. Denn Tabubrüche werden nicht als spontan begangene Fehler behandelt - diese Entschuldigung gilt nur bei Kindern und Unmündigen -, sondern fallen auf die ganze Persönlichkeit zurück. Von daher konnte auch Martinas indonesische Freundin sie nicht unbefangen instruieren. Man schnäuzt sich nicht vor Anderen wäre einem vernichtendem Urteil über ihr Verhalten gleich gekommen. Natürlich bleiben viele Fragen: Warum konnte Martina nicht vor dem Besuch darauf hingewiesen werden? Hatte sie da noch keinen Schnupfen? Welche Verfahren haben Indonesier, eine Schnupfennase nicht tropfen zu lassen? Wie lernen die Kinder in diesen Kulturen mit Körpersekreten umzugehen? In Deutschland lernen wir zu schnäuzen, anstelle des Hochziehens. Wir sagen „Gesundheit! “ beim Niesen. Aber wir haben ebenfalls Grenzen: Popeln, Hochziehen, Rülpsen, Rotzen und Furzen in der Öffentlichkeit sind verpönt. Zwingen uns diese Ausdrücke nicht schon ein distanzierendes Lächeln ab? Sind die feineren Varianten dieser Ausdrücke überhaupt verbreitet? Was wir im Mund haben, egal ob Essen oder Spucke, erweckt keinen Ekel. Aber was, wenn es vor Anderen auf unserem Teller landet? Die einen spucken ihren Schleim dezent ins Taschentuch, die Anderen laut auf den Boden. Letzteres gilt auch bei uns als ungehobelt. In China standen Spucknäpfe. Auch das war für Europäer gewöhnungsbedürftig. Viele Asiaten sind auf den öffentlichen Umgang mit dem Körper vorbereitet, wenn sie z.B. Europa besuchen. Aber ihren Ekel können sie dennoch nicht unterdrücken. Reinheitsstandards sitzen tief. Sie sind nicht einfach Teil guter Manieren, sondern Spiegel der Persönlichkeit und der Kultiviertheit. Kultureller Hintergrund <?page no="235"?> 223355 Leberschmerz Lesen Sie den Text in Ruhe. Machen Sie Notizen. Überlegen Sie: Was könnte Frau Y. fehlen? Die 52jährige türkische Fabrikarbeiterin Y. kam vor 18 Jahren nach Deutschland. Sie liegt seit vier Tagen zur Beobachtung im Krankenhaus. Sie hat erst ihren Hausarzt, dann einen Internisten und einen Gynäkologen konsultiert, außerdem ließ sie sich bei ihrem letzten Aufenthalt in Istanbul von einem „berühmten Arzt“ untersuchen und medikamentös behandeln. Nach der Rückkehr ging sie drei Monate beschwerdefrei ihrer Arbeit nach. Dann fingen die Symptome wieder an, ein junger Internist veranlasste die Einweisung ins Krankenhaus. Sie klagte über Oberbauchbeschwerden, ihre Leber sei nicht in Ordnung, sie könne die körperlich beschwerliche Arbeit in der Fabrik nicht mehr ertragen. Die Untersuchung ergab keinen gravierenden Befund, außer etwas zu niedrigem Blutdruck und körperlicher Auszehrung von schwerer Arbeit und sechs Geburten. Die Ärzte halten dies für ein typisches „Gastarbeiterfrauensyndrom“ mit „hypochondrischer Fixierung“. In der Türkei verschwinden die Symptome. Sie schlagen ihr vor in die Türkei zurückzukehren. Was erscheint Ihnen wahrscheinlich? Erproben Sie ruhig mehrere Möglichkeiten. Der Erfolg medikamentöser Behandlung beweist: ein organisches Leiden. Wäre nicht eher an eine Migranten-Renten-Neurose zu denken? Frau Y. braucht ihre türkische Heimat um gesund zu werden. Die Ärzte haben nicht ganz ernst genommen, dass es ein psychisches Problem ist. CI-Nutzung MC Didaktische Formate 9.3 <?page no="236"?> 223366 9 Critical Incidents Der Erfolg medikamentöser Behandlung beweist: ein organisches Leiden. Es ist in der Regel nicht davon auszugehen, dass eine gründliche Untersuchung in Deutschland einen positiven organischen Defekt übersieht, den ein Arzt im Heimatland - vielleicht weil er die gleiche Sprache spricht - erkennen würde. Das Nachlassen der Symptome lässt sich alternativ erklären. Bitte arbeiten Sie die Geschichte noch einmal durch und entscheiden Sie sich für eine andere Antwort. Wäre nicht eher an eine Migranten-Renten-Neurose zu denken? Eine häufige und diskriminierende Bewertung ausländischer Menschen. Sie dient wohl zur Entlastung derjenigen, die solche Aussagen treffen, weil sie mit der Komplexität des Gesundheits- und Krankheitsverhaltens von Migranten nicht vertraut sind. Der Text bietet kaum Anhaltspunkte für diese Deutung. Bitte lesen Sie die Geschichte noch einmal und entscheiden Sie sich für eine andere Antwort. Frau Y. braucht ihre türkische Heimat um gesund zu werden. Sicherlich wird Frau Y., wie viele Menschen in der Fremde, Heimweh haben und deswegen hin und wieder traurig sein. Aus der Literatur sind auch Spontanheilungen von Heimkehrern bekannt, die jahrelang an unbehandelbaren Krankheiten in der Emigration litten. In der Anamnese gibt es jedoch Hinweise für eine wahrscheinlichere Erklärung. Die Ärzte haben nicht ganz ernst genommen, dass es ein psychisches Problem ist. Diese Antwort hat hohe Plausibilität. Die Erwähnung, dass ihre Leber nicht in Ordnung sei, lässt an ein kulturspezifisches Krankheitssyndrom denken. Es verweist auf Ereignisse in ihrem Leben, die mit schwerem Leid in Verbindung stehen. Eine intensivere verbale Anamnese hätte auf lebensgeschichtliche Ereignisse aufmerksam gemacht, die in direkter Verbindung zum Ausbruch der Krankheit stehen. Offene Reaktionen <?page no="237"?> 223377 Didaktische Formate 9.3 In vielen Kulturen werden Sorge, Kummer und Schmerzen zentral auf bestimmte körperliche Organe fixiert. Viele Redewendungen zeugen von diesem Zusammenhang. Die Fixierung auf die Organe ist von Kultur zu Kultur unterschiedlich stark ausgeprägt. Im Deutschen nimmt man sich etwas zu Herzen, etwas schlägt einem auf den Magen, es geht einem an die Nieren. Im Englischen sind es die „guts“, der Magen-Darm-Trakt. Im Türkischen kommt der Leber eine besondere Funktion zu. Sie ist so etwas wie das Herz im Deutschen. Besonders aber ist die Leber zuständig für von außen zugefügtes Leid oder auch für das Mitleid mit Anderen. Die Rolle eines Organs äußert sich erst einmal in Redensarten. So ist der Leberschmerz typisch für einen Verlust, vor allem für ein verlorenes Kind. Und wenn es heißt „die Leber brennt“, so ist von einem besonders großen seelischen Schmerz die Rede. Viele rational Denkende werden vielleicht annehmen, dies hätte physisch nichts zu bedeuten. Aber in diesen Redeweisen kondensieren sich Empfindungen, und es werden entsprechende Empfindungen erzeugt. Die Psychosomatismen beruhen auf der Erfahrung von Generationen und sie steuern Erfahrungen in der Sozialisation. Background Kultureller Hintergrund <?page no="238"?> 223388 9 Critical Incidents CIs sind ein realistisches Material für Training und Lehre. Sie sind kurz und erscheinen abgeschlossen, zeigen aber schnell, dass tieferes Verständnis über den Text hinausgeht und nur im Setting möglich ist. CIs sind zwar irgendwie simulativ wie auch ihre Nutzung, dennoch aber mehr oder weniger lebensnah. CIT is most useful in the early stages of system analysis and ongoing iterative development. It is suitable to field usability evaluation. Data obtained are potentially more valuable than observations made in laboratory settings; failures and successes not seen in limited laboratory evaluation may become evident in routine use. CIT is particularly good at quick identification of a system’s problem areas. (Jim Carpenter: http: / / medir.ohsu.edu/ ~carpentj/ cit.html) Einen großen Vorteil von Critical Incidents sehen Brislin und Mitarbeiter darin, dass sie interkulturelle Begegnungen auf interessante Art und Weise darstellen: „There are named people who are trying to adjust, and it is inherently interesting to read about what happens to them“ (1986: 17). Wenn man die Geschichten bearbeitet, will man gern wissen, was passiert ist und warum es so verlief. Diverse Studien über den Assimilator zeigen, dass Nutzer, die ein Trainingsprogramm durchlaufen haben, Probleme besser meistern, die in interkulturellen Begegnungen auftreten (vgl. Cushner/ Landis 1996: 191). Aber es gibt natürlich auch Probleme mit solchen Programmen. Sie liegen vor allem in den Eigenschaften der erhobenen CIs. CIT relies upon memory, so critical incidents may be forgotten or distorted. The method requires accurate and truthful reporting making introduction of reporter bias a possibility. (Jim Carpenter: http: / / medir.ohsu.edu/ ~carpentj/ cit.html) Erlebende wie Forscher sind beide aus K 1 . Sie sind immer in der Gefahr, ihre Sicht einzubringen. Für den Erlebenden ist das mehr oder weniger notwendig so. Für den Forscher wäre eine bias control aber unerlässlich. Man fragt sich, was man da alles voraussetzt. Müssten nicht die entscheidenden Hintergründe und Erklärungen schon bekannt sein, um den CI überhaupt zu fassen? Da geht ein Teil möglichen Erkenntnisgewinns verloren. Vorzüge der CI-Methode Caveats <?page no="239"?> 223399 Didaktische Formate 9.3 Ein CI ist oft genug ein vielschichtiges Beispiel, das im Training auf einen Punkt getrimmt ist, aber andere Fragen unbeantwortet lässt. Eine der Antworten wird absolut präferiert und als die richtige hingestellt. Was ist aber der Sinn der Alternativen? Und vor allem: Wie kommen Probanden auf sie? Fern liegend dürften sie jedenfalls nicht sein. Man gewinnt jedoch öfter den Eindruck, dass die Autoren sie nur ausschließen, weil sie ihnen nicht ins Konzept, etwa den anvisierten Kulturstandard passen. Jedenfalls sind Reaktionen des Multiple Choice wie „There is no indication that this is the case“ öfter voreilig. Aus dem Text des Incidents kann man in reflektierter Interpretation durchaus etwas herauslesen, was auch verworfene Alternativen stützt. Im gesäuberten Arrangement vor allem sind oft Antwortmöglichkeiten einfach unrealistisch oder unpassend, obwohl sie von Experten auf ihre Wahrscheinlichkeit getestet sein sollten. Die Aufgabe degeneriert dann zu einem trivialen Multiple Choice, bei dem man ohne einschlägiges Wissen und ohne Verständnis zur Lösung kommt. Von Nutzen wäre eben eine genaue Textinterpretation und hierbei die akribische Unterscheidung dessen, was online im Text ist und was offline im Kopf des Nutzers. Das würde wohl auch zu weniger harten Multiple Choices führen, die mehr aufs Reflektieren des Falls lenken und auf Deutung des Nutzers, so wie etwa in unseren beiden Beispielen. In Weiterentwicklungen treten an die Stelle vorgegebener Antwortmöglichkeiten deshalb auch öfter offene Fragen. Positiv an den Trainingsprogrammen ist, dass man viele Informationen über kulturelle Unterschiede erhält. Sie bieten eine gewisse Orientierung im Dickicht der Kulturen. Fraglich bleibt allerdings, ob diese Zusatzinformationen genügen, und vor allem, ob sie adäquat und up to date sind. Auch fragt man sich öfter, wieso der Aufwand eines Incidents sich lohnt zur Erarbeitung einer einfachen Info. Im übrigen schaffen diese Informationen immer die Gefahr der Generalisierung, der Homogenisierung und Stereotypisierung. Und dies kann möglicherweise Fehldeutungen induzieren statt vor ihnen zu schützen. Scollon/ Scollon zeigen, dass und wie interkulturelle Kommunikation scheitern kann, wenn die Gesprächspartner Wissen über die Kultur des Anderen haben, aber diese Kenntnisse in der betreffenden Situation falsch anwenden: „It is often the case that one’s attempts to be culturally sensitive actually produce a second level of problem, and in those cases it is often even more difficult to realize what sort of problem it is“ (Scollon/ Scollon 1995: 124). Zusatzinfos Eindimensional <?page no="240"?> 224400 9 Critical Incidents Viele kritische Incidents sind nicht belegt und nicht überprüfbar dokumentiert. Statt den authentischen Text bekommen Nutzer wie Kritiker nur Übersetzungen und Bearbeitungen. Ein CI liegt immer vor in Form eines abgeschlossenen Textes. In ihm ist nur zu finden, was drinsteckt. So sollte einem Lerner der Unterschied bewusst werden: Was wirklich dasteht und was er deutend hinzutut. Jede reale Situation ist um ein Vielfaches komplexer, als es ein beschriebener Incident je sein könnte. All dies, was der Erlebende hätte erleben können, muss der Nutzer im Geiste auffüllen. Dieser Verstehensprozess müsste ins Programm aufgenommen und reflektiert werden. Im realen Erleben kann ein Lerner in Reflexion Neues entdecken, etwas, was ihm vorher entgangen ist, etwas, was er vergessen hat, was ihm unwichtig erschien. Darin steckt ein viel größeres Potenzial fürs interkulturelle Lernen. Ein türkischer Freund erzählte mir von seinem ersten Besuch bei Freunden in Deutschland. Man zeigte ihm sein Zimmer und sagte ihm, dass es um acht Uhr Frühstück geben werde. Er habe das nicht so genau genommen und gedacht, dass er als Gast länger schlafen könne. Am nächsten Morgen wurde er jedoch fünf vor acht Uhr durch Klopfen an der Tür geweckt und aufgefordert, sich zu tummeln. Die dargestellten Critical Incidents sind Texte. Es sind Erzählungen, oft Nacherzählungen. Erzählungen haben einen Aufbau und eine konventionelle Form. Beides ist kulturgeprägt. Beides bestimmt den manifesten CI. Er könnte etwa so erzählt sein, dass er eine Pointe, einen Höhepunkt enthält. Das könnte gefordert sein durch die Erzähltradition. Er könnte eine orientierende Einleitung und einen Moral bietenden Schluss enthalten. Er könnte in einer bestimmten Erzählsprache gehalten sein und so weiter. Erzählungen haben einen Erzähler. Der Erzähler verbindet eine Intention mit seiner Erzählung. Er möchte vom Partner Teilnahme und Rat vielleicht. Sie möchte den Fall über die Erzählung bewältigen oder klären. Er möchte sich in der Erzählung rausstreichen, der King, der Kluge sein und so weiter. Ein Nacherzähler ist nur ein weiterer Erzähler, auch wenn es ein Forscher ist. Am Anfang müsste eigentlich eine Ich- Erzählung stehen. Immer, wenn dies nicht der Fall ist, sollte man aufpassen, besonders wenn der Nacherzähler sich hinter einem objektiv klingenden Bericht versteckt. Erzählungen haben nur einen Erzähler. Andere Beteiligte bleiben stumm. So bleibt gerade ihre Perspektive im Dunkeln. Kommunikativ ist aber das gemeinsame Wissen entscheidend. Kastraten Abgeschlossenheit <?page no="241"?> 224411 Didaktische Formate 9.3 Kultur ist komplex und plastisch. Wäre nicht auch in Lernprogrammen Kultur eher nach Hotspots zu strukturieren und als etwas Dynamisches, das entsteht, wenn man handelt und mit Personen in Kontakt tritt? Sollte man nicht versuchen, den Menschen ein solches Konzept zu vermitteln? Würde man so die Teilnehmer nicht zu kompetenteren Gesprächspartnern machen, als wenn man ihnen statische Beispiele mit Multiple-Choice-Fragen vorsetzt? Viele Programme haben als Grundlage einen starren Kulturbegriff, der der Komplexität und Variabilität der Realität nicht gerecht wird. Sie vermitteln ein vereinfachtes Weltbild, in dem jedem Problem schnell und unkompliziert, glatt und fast schon automatisch die passende Lösung zukommt. Wir aber sollten versuchen mit CIs auch Ziele folgender Art anzustreben, sie entsprechend anzulegen und darauf hin methodisch zu interpretieren: In der interkulturellen Kommunikationssituation auf das eigene und das Verhalten des Gegenübers achten und vorschnelles Urteilen über den Anderen vermeiden, sensibel werden für das, was etwas noch bedeuten könnte. Vertraut sein mit Kommunikationsmethoden und Kommunikationstechniken, Kommunikation als einen Ort der Bedeutungsaushandlung wahrnehmen. Angst und Unsicherheit als Bestandteile interkultureller Begegnungen zulassen, lernen sich selbst treu zu bleiben. Sich darüber klar sein, dass Macht und Statusunterschiede auch Bestandteil interkultureller Kommunikation sind, dass kulturelle und soziale Faktoren auf das Engste verknüpft sind und Stereotypen oder Vorurteile die Kehrseite kultureller Unterschiede darstellen. Jede Situation ist spezifisch, aber sie hat auch allgemeine Züge. Sie sollten Sie aus der Distanz sehen und deuten. Alle Beispiele und Fälle hier sollten Sie als Lernbeispiele nehmen und weitertra gen. Vertrauen auf das, was Sie als allgemein menschlich sehen. Denken Sie an den Nachen auf hoher See. Ausblick - <?page no="242"?> 224422 Die Idee Narrationen sind wichtig in interkultureller Kommunikation und für die interkulturelle Kommunikation. Es geht dabei im Grund um Erzählungen. Wir wählen hier den Fachterminus, weil es nicht einfach um Erzählungen geht, sondern auch um deren methodische Auswertung. Es handelt sich nicht um authentische interkulturelle Kommunikation, sondern ähnlich wie bei CIs um Berichte Betroffener zu interkulturellen Erlebnissen und Erfahrungen aus ihrer Sicht. Die didaktische Attraktivität der Narrativik basiert auf der Natürlichkeit des Erzählens. Wir alle sind es gewohnt zu erzählen und mit den Erzählungen Anderer umzugehen. Ein weiterer Aspekt ist, dass Erzählen für den Erzähler selbst schon einen positiven Effekt haben kann: Er ordnet seine Erlebnisse, reflektiert sie dabei. Macht sie erzählbar, bringt sie in eine sinnträchtige Form. Macht sich verständlich. Versteht sich dadurch vielleicht selbst besser. Erzählen kann erleichtern, macht darum auch Spaß. Es kann sozial und interaktiv sein. Darum ist erst einmal wichtig, zu freien und spontanen Erzählungen zu kommen, die ausschließlich Werk des Erzählers sind. Sie könnten natürlich auch in Dialoge eingebettet sein. Aber elitizitierte, gesteuerte Interviews würden eine andere Art Grundlage bieten. Unter methodischen Gesichtspunkten können die Erzählungen als didaktisches Mittel dienen. Die Form mag zwar interkulturell variieren, aber sie ist doch allgemein vertraut. Auch für den deutenden Umgang mit Erzählungen haben wir sozusagen eine natürliche Kompetenz, auf der man methodisch und reflektiert weiterbauen kann. Didaktisch sind Narrationen auch deshalb attraktiv, weil sie authentisch sind - was immer das heißen möge. In jedem Fall steht ihre Authentizität zur Debatte. In interaktiven Trainings kann es sich jedenfalls um Erzählungen von Teilnehmern handeln, die auch gemeinsam bearbeitet werden können. Damit kann die Reflexion aller Beteiligten tiefer gehen. Jeder kann aus den Erlebnissen der Anderen lernen. Sie werden zu geteilten Erlebnissen. Das stärkt Verständnis allgemein, aber auch interpersonal. Es muss sich jedoch nicht immer um direkte Narrationen handeln. Reichlich Material findet sich auch mehr oder weniger anonym, etwa im Internet in Blogs und so weiter. Eine einschlägige Website: http: / / interculturalstorytelling.wordpress.com/ , woher auch die Narrationen von Heidegger und Steixner kommen. 9.4 Narrativik oder story telling Die Nutzung 9 Critical Incidents <?page no="243"?> 224433 Narrativik oder story telling 9.4 Narratio Methodisch sollte die Interpretation berücksichtigen: Trennung der persönlichen Anteile vom Generalisierbaren Eruieren der Deutungsanteile des Erzählers Hat die story einen point, der zu verallgemeinern ist ? Wie ist das Ende zu bewerten? Eine Lösung? Weitere individuelle Bearbeitungsmethoden schöpfen Anregungen aus der Textinterpretation: Slogan als Titel vergeben Alternative Fortsetzung Skizzieren oder neues Ende Aus der Sicht anderer Beteiligter erzählen Narrationen mögen mit singulären Erlebnissen, mit erlebten Episoden zu tun haben, es dürfen auch generellere Erfahrungen sein. Lehrreiches Material liefern aufbereitete und gedeutete Erzählungen. Sie ermöglichen den kritischen Blick auf die Deuter, lassen uns kontrastierend eigene Deutungen gegenüberstellen. Als ich das erste Mal nach Japan flog, wurde ich bei der Einreise aufgehalten. Es gab Probleme mit meinem Visum. Endlich - nach einer Stunde - waren sie gelöst. Aber dann beim baggage claim lief kein Band mehr. Mein Koffer war weg. Es stellte sich aber heraus, dass er gar nicht angekommen war. Er war in Osaka gelandet. Und sogar nach einer ganzen Woche war er immer noch nicht in Tokio. Mein Gastgeber riet mir, eine kurze Entschuldigung an das Flughafenbüro zu schreiben. Das fand ich empörend. Letztlich ließ ich mich doch überzeugen. Es war ja einen Versuch wert. - Und siehe da: Am andern Tag stand mein Koffer vor der Tür. In Cordoba, Argentinien war ich bei einem Kongress. Es gab ein detailliertes Programm ganz wie international üblich. Ich selbst war am Nachmittag als erster dran, um vier Uhr. Ich kam natürlich eine halbe Stunde früher, um die Gegebenheiten zu checken. War alles da, was ich brauchte? Ja. Um vier Uhr waren aber noch keine Teilnehmer da. Vielleicht haben die auch ein akademisches Viertel. Aber auch um Viertel nach vier war kein Schwein zu sehen. Na ja, ich wusste ja Einiges über südamerikanisches Zeitverständnis. So wurde das für mich zum Krisenexperiment. Endlich so 10 vor 5 trudelten die Ersten ein. Aber dann ging es ruckzuck. Um fünf war der Saal voll. Als ich auf die Uhr meines Nachbarn schaute, war es Punkt vier! Vielleicht geben Sie den beiden Narrationen je zwei knackige Titel, die den didaktischen point der story verdeutlichen. Anregung Narratio <?page no="244"?> 224444 9 Critical Incidents Narratio Bemerkenswert, dass der Erzähler - wenngleich er schon länger in Kambodscha lebte - so alarmiert war. Erklärlich durch den Angriff? Aber, dass die Lehre aus dem Vorfall wie ein interkulturelles Wunder dargestellt wird, zeugt nicht gerade von Menschenkenntnis. Es handelt sich geradezu um ein Musterbeispiel für universal menschliches Verhalten - in meinen Augen jedenfalls. Die Erzählung ist lehrreich, aber die Kommentierung erstaunlich. Die Bemerkung über die Hautfarbe zeigt gerade, dass sie doch bemerkenswert ist. Und dass sie erst am Schluss kommt, kann auch relevant sein. Der Zusatz, sie sei unerheblich, ist natürlich angelernt und fußt auf political correctness, was in diesem Fall nicht das Schlechteste ist. Ob es aber stimmt? One evening, as usual, I went back home with my girlfriend as pillion passenger on the motor bike. [...] I knew the way home - which lead us through a dark street. I didn‘t realize that suddenly a motorbike came up next to us and a guy tried to grab the bag of my girlfriend. I immediately pushed back and wanted to get some distance in between us and in a few seconds of time being entangled with the handles, we were lying on the ground below our motorbike. I realized that the wanna-be thieves had left without the handbag but people from all over the place started approaching us - we were still under the motorbike, trying to get away as we thought they‘d take whatever was left of us. Then the sudden change. One guy took care of the motorbike, another helped my girlfriend up and someone else immediately looked for some who could speak English. A Tuk-Tuk driver wanted to help out with some Tiger palm immediately and all the sudden this frightening situation turned into one of the best experiences I had in Cambodia. Manuel Heidegger, September 2013 One day it was time to learn about how to do personal descriptions. The two teachers - one Eritrean man, one British woman - sat on their desk in front of the class and encouraged the children to name differences they could make out between them. The children started naming what they saw: Gemma has long hair Jakiem´s is short. Gemma is wearing a skirt, Jakiem is wearing trousers, and so on. The teachers kept asking „What else? “ and the children got even more precise. „Jakiem has big ears, Gemma has small ears! “. They detected all sorts of differences, but nobody mentioned the skin colour - until the very end, when one child said: „Your skin is different, but this doesn‘t matter“. Apparently the difference in skin colour was a completely normal thing, something that was not worth mentioning. A short story by Margret Steixner, 13 September 2013 Narratio <?page no="245"?> 224455 Narrativik oder story telling 9.4 Wenn Sie selbst ihre Erzählungen aufschreiben und interpretieren möchten, bekommen Sie hier eine Anleitung, wie Sie verfahren könnten. Hier sollten Sie als Fall ein interkulturelles Erlebnis nehmen, zum Beispiel einen interkulturellen Konflikt, ein Missverständnis oder sonst etwa s Problematisches. 11.. Einen eigenen Fall aufnehmen Zurückversetzen, wichtige Details ins Gedächtnis zu rufen. Aufschreiben frei von der Leber weg Text nochmal durchgehen, Details hinzufügen. 22.. Den Fall entwickeln (besseres Verständnis) Wichtige Wörter markieren Schlüsselwörter suchen Welche Assoziationen kommen? Stereotype Überschrift/ Slogan Neu schreiben als stereotype Geschichte 33.. Den Zusammenhang erarbeiten Wo hat es eigentlich angefangen? Gab es früher ähnliche Fälle? Was mich bedrückt hat Was ich gern gesagt hätte 44.. Alternativen sehen Was ich getan habe oder nicht Bessere Alternativen? Was Sie jeweils gedacht haben. Was Ihr Partner gedacht hat. Selbstgespräche 55.. Die Perspektive wechseln (Hineinversetzen in Partner) Zeigt Ihr Text eine Tendenz? Werte, Motive Ihres Partners Das globale Ziel Ihres Partners/ Ihr Ziel Ein direkter Gegensatz? 66.. Auf den Punkt kommen (Art Schlussbilanz) Ist noch etwas unklar geblieben? Eine Art struktureller Konflikt? Ein ganz normaler Fall? Brief an den Partner Anleitung <?page no="246"?> 224466 9 Critical Incidents Eine Vision am Schluss Das Grundproblem wissenschaftlicher Erforschung interkultureller Kommunikation bleibt die Datenlage. Authentische Kommunikationen sind nicht in genügender Menge dokumentiert. Aber selbst wenn man ein riesiges Korpus hätte, wäre es noch eine große Arbeitsleistung, kritische Stellen zu finden und zu selegieren. Analyse und Darstellung werden so differenziert, dass sie oft nicht mehr lehrreich, sondern eher langweilig sind. Befasst sich die Forschung darum öfter mit Allgemeinheiten? Für eine wissenschaftliche Fundierung hätten wir gern: Entwicklung und Evaluation einer Erhebungsmethode Gewinnen einer Sammlung authentischer interkultureller Kommunikationen aus verschiedenen Lebensbereichen Diverse sprachliche Genres und Topiks Diverse Kulturpaare Entwicklung, Adaptation und Evaluation einer Analyse- und Interpretationsmethode Extensive Analyse und Interpretation der empirisch gewonnenen authentischen Daten Verallgemeinerung der Untersuchungsergebnisse von Kulturpaaren auf interkulturelle Kommunikation allgemein Herausarbeiten der Spezifika interkultureller Kommunikation gegenüber Kommunikation allgemein Didaktische Umsetzung Entwicklung von Lehrplänen für Trainings und Coaching Was und wozu? Aufstellung und Begründung von Lernzielen Zielgruppenorientierung Wie? Adaptation und Entwicklung von Lehr- und Lernmethoden Entwicklung von Lernmodulen Adressatenbezug, Lernergruppen Thematischer Bezug/ Bereiche Didaktische Evaluation Und dann bliebe noch: Die kulturellen Anteile bestimmen und eingrenzen Integrieren in Kommunikation allgemein, um somit dem Kulturalismus vorzubeugen So bleibt die Hoffung, dass interkulturelle Kommunikation nichts Besonderes wäre, sondern aufginge in einer allgemeinen Kommunikationstheorie und Kommunikationspraxis, dass es um allgemeine Sensibilisierung und einschlägiges Training geht. <?page no="247"?> 224477 Schwieriger, eine vorgefasste Meinung zu zertrümmern als ein Atom. Albert Einstein 10 Ein Projekt: Stereotypen im Internet Das Internet bietet uns reichlich empirisches Material. Hier bekommen Sie eine kleine Anleitung, wie Sie selbst oder mit Anderen ein Recherche-Projekt zu Stereotypen kontrastiv und aus unterschiedlicher Perspektive durchführen können. Chinesen gelten als ausgesprochen höfliche Menschen. http: / / www.china-botschaft.de/ Wenn es um Tierquälerei geht - Die Chinesen sind immer dabei. Tatsächlich, alle Chinesen haben schwarze Haare. Auf den Straßen sind um mich herum Wogen von schwarzen Köpfen. In Deutschland sagt man: Ja und Nein. Aber in China sagt man: Ja - oder: Ja, aber. Chinesen machen das äußerst smart und vollkommen rücksichtslos. GGeellbbee GGeeffaahhrr Die Chinesen machen uns platt. Die Chinesen gelten vor allem bei technischen Nachbauten als Weltmeister der Kopie. <?page no="248"?> 224488 10 Ein Projekt: Stereotypen im Internet Im Internet sieht man Meinungen und Ansichten - in Blogs vor allem -, die man sonst nicht zu Gesicht bekäme. Aber wie sollen wir das auswerten, wie bewerten? Kann man das Internet blauäugig als Datenquelle benutzen und Belege generalisieren? Sei es, wie es sei, aber die Deutschen machen d diiee bbeesstteenn AAutos utos der Welt. In der Welt werden die Deutschen als eine der ppünktlichsten ünktlichsten und ordentlichsten Nationen gesehen. http: / / www.rmf. fm/ fakty/ ? id=60755 Überall, sogar in den Bauernhöfen, springt einem die sprichwörtliche SSaauubbeerkeit rkeit in die Augen - und in die Nase. In der Tat, die Deutschen sind eine sehr saubere Nation. Ich glaube, dass die Deutschen für ihren Geiz berühmt sind, und natürlich für g gutes utes Bier Bier. http: / / www.radio.com.pl/ jedynka/ Die Deutschen gelten als f flleeiißßiigg" zzuve uverlässig, pünktlich rlässig, pünktlich und ohne Sinn für Humor. http: / / tmn. fio.ru/ works/ 41x/ 311/ Diese Deutschen machen die Sachen mit Ernst und k koommppeetteenntt, das ist nicht wie in Frankreich. http: / / bleklerat.free.fr/ livres3.html Keine andere Phrase wärmt das Herz eines Deutschen so sehr wie folgende: „Alles in Ordnung”. Und der kategorische Imperativ, der von jedem Deutschen hoch gehalten wird, klingt so: „Ordnung muss sein”. Deutsche pflegen einen sehr ddiirekten rekten Ko Komm mmunikationsstil unikationsstil und können Kritik ungeschminkt und deutlich äußern. Es mangelt ihnen an Diplomatie. <?page no="249"?> 224499 Ein Projekt: Stereotypen im Internet 10 Das Projekt hat zum Ziel, stereotype Meinungen über Deutsche und ausgesuchte Andere zu sammeln und zu kategorisieren, etwa unter sloganhaften Titeln zusammenzustellen. Was Meinungen über Deutsche betrifft, nutzen Sie alle Ihnen bekannte Sprachen. Wenn Sie im Internet recherchieren wollen, machen Sie sich zuerst mit diversen Suchmaschinen und den einschlägigen Suchstrategien vertraut. Es muss nicht immer Google sein. Aber auch für Google können manchmal Länderversionen bessere Ergebnisse bringen. Denken Sie daran: Sprache einstellen Erweiterte Suche bzw. Profisuche verwenden Achten Sie darauf: Werden Sonderzeichen ä, ü, ö, ß verarbeitet? Wird zwischen Groß- und Kleinschreibung unterschieden? Schränken Sie global ein. Offizielle Seiten sind oft uninteressant. Fruchtbar sind: Blogs Foren Schränken Sie ein auf Seiten aus Ihren sprachlichen und kulturellen Suchbereichen. Wählen Sie sich selbst zwei Sprachen und damit zwei Kulturbereiche aus, in denen Sie recherchieren wollen. Es kann Deutsch plus ein anderer sein, Sie können aber auch ohne Deutsch vorgehen. Entscheiden Sie danach, wo Ihre Interessen liegen. Für die gezielte Suche nach stereotypen Meinungen brauchen Sie passende Suchmasken. Die Suchmasken formulieren sozusagen Merkmale von Stereotypenformulierungen. Indikatoren sind: Generalisierende Artikel: der, die, alle, jeder Partikeln (Abtönungspartikeln): ja, doch, halt, eben Generalisierendes Pronomen: man Verstärker wie sehr, enorm, total, richtig In den stereotypen Äußerungen werden oft Absicherungsmaßnahmen getroffen. Der Sprecher signalisiert damit, dass er um die Einseitigkeit seiner Formulierung weiß. Absicherungsmaßnahmen sind etwa: hedges: irgendwo, vielleicht, son bisschen disclaimer: ohne jetzt irgendwie wertend zu sein Berufung auf eine Autorität: hab ich gelesen Sucheinstellungen hedging Stereo- Merkmale <?page no="250"?> 225500 10 Ein Projekt: Stereotypen im Internet Als gute deutsche Suchmasken haben sich die folgenden erwiesen. Die meisten zielen auf Generalisierung und Typisierung. Zusätzlich wird versucht, eine emotionale Komponente zu erfassen. Wenn Sie in anderen Sprachen recherchieren, müssen Sie Entsprechendes finden. Viel Spaß mit allem! Suchmasken Deutsch Xe machen Xe machen immer Xe sind Xe sind doch Xe sollen all diese Xe alle Xe alle Xe +dauernd alle Xe +doch alle Xe +immer alle Xe +ständig alle Xe machen alle Xe machen doch alle Xe machen immer alle Xe sind alle Xe sind doch alle wissen +die Xe auch alle Xe auch die Xe dauernd alle Xe dauernd die Xe der X der typische X die Xe die Xe +dauernd die Xe +doch die Xe +ständig die Xe machen die Xe machen doch die Xe machen immer die Xe sind die Xe sind +vielleicht die Xe sind bekannt die Xe sind doch die Xe sind eben die Xe sind ja diese Xe +dauernd diese Xe +doch diese Xe +ständig diese Xe machen diese Xe machen doch diese Xe machen immer diese Xe sind diese Xe sind doch ein typischer X immer alle Xe immer die Xe machen alle Xe machen die Xe machen doch alle Xe machen doch die Xe man sagt +Xe man sagt +in Japan sind alle Xe sind die Xe ständig +alle Xe ständig +die Xe typisch Xisch typisch X ODER Xe und alle Xe und die Xe <?page no="251"?> 225511 Ein Projekt: Stereotypen im Internet 10 Literatur Literaturangaben dienen mehreren Interessen. Sie zu vereinen käme der eiermilchlegenden Wollmilchsau nahe. Eine Funktion ist die verwendete Literatur zu belegen. Das ist eine Funktion der Angaben hier. In einer Einführung wird es auch sinnvoll sein, Lerner auf die grundlegende Literatur hinzuweisen. Das ist hier versucht mit der Kennzeichnung durch *. Erwünscht ist oft auch ein Überblick über die einschlägige Literatur. Das ist eher die Aufgabe einer Bibliographie. Und da ergibt sich das Problem der Schnelllebigkeit und Überholtheit. Eine mehrfach aufgelegte Bibliographie (und dennoch nicht up to date) wäre Hinnenkamp, V. (1994): Interkulturelle Kommunikation. Heidelberg Agar, M. (1994): Language Shock. Understanding the Culture of Conversation. New York * Agar, M. (1994): The intercultural frame. In: International Journal of Intercultural Relations 18, 221-237 Albert, R. D. (1983): The intercultural sensitizer or culture assimilator: A cognitive approach. Allport, G. W. (1954): The nature of prejudice. Cambridge, MA Allport, G. 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Heringers Standardwerk vermittelt linguistische Grundlagen interkultureller Kommunikation und Basiswissen. Es stellt die Aspekte detailliert dar, die für erfolgreiches interkulturelles Kommunizieren wesentlich sind, und führt kritisch ein in Bedeutung und Funktionsweisen von Kulturstandards, Stereotypen und Critical Incidents. „Eine hilfreiche Einführung ins Thema und gleichzeitig eine, die optisch ansprechend und unterhaltsam an die Materie heranführt.“ Fremdsprachen und Hochschule „Im wirklichen Sinne ein Lehrbuch mit starken Visualisierungsversuchen und einer Sprache, mit der Lernende etwas anfangen können.“ Germanistik 46,3/ 4 (2005) Sprachwissenschaft Dies ist ein utb-Band aus dem Verlag A. Francke Verlag. utb ist eine Kooperation von Verlagen mit einem gemeinsamen Ziel: Lehrbücher und Lernmedien für das erfolgreiche Studium zu veröffentlichen. utb-shop.de QR-Code für mehr Infos und Bewertungen zu diesem Titel
